WOLVERINE WAFFE X MARC CERASINI
Ins Deutsche übertragen von Firouzeh Akhavan-Zandjani
Dino
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WOLVERINE WAFFE X MARC CERASINI
Ins Deutsche übertragen von Firouzeh Akhavan-Zandjani
Dino
DAS BUCH Einst hatte der Mann, der nur unter dem Namen »Logan« bekannt ist, eine Schlüsselposition bei den kanadischen Special Forces … jetzt steht es schlecht um ihn: Alkoholismus, die Erinnerungen an eine desaströse Mission in Nord-Korea und ein dunkles Geheimnis peinigen seine Seele. Auf einer Stufe mit Kleinganoven und Herum treibern fristet er sein Dasein. Auf der Flucht vor einer Mordanklage wird er geschnappt und in einen Forschungskomplex in den ka nadischen Rockies verschleppt, nur um dort als Versuchskaninchen bei einem strenggeheimen biotechnologischen Experiment zu dienen. Unter der Regie eines brillanten und skrupellosen Wissen schaftlers muss Logan eine schmerzvolle Transformation über sich ergehen lassen, in deren Verlauf er zur Waffe X geschmiedet wird – eine erbarmungslose und unzerstörbare Kampfmaschine mit einziehbaren Stahlklauen, härter als Diamant. Doch als die Wissen schaftler versuchen, die totale Kontrolle über Logan zu erhalten, un terläuft ihnen ein Fehler: Sie rechnen nicht mit seinem unbeugsamen Willen, seinem geheimen Erbe und seiner höheren Bestimmung – und dieser Fehler hat katastrophale Folgen. Dies ist die Geburt eines modernen Frankenstein-Monsters …
DANKSAGUNGEN An erster Stelle gebührt Barry Windsor-Smith der Ruhm, Wolverine: Weapon X vor über zehn Jahren als Comic er dacht zu haben. Seine großartigen Illustrationen haben mich zu vielen der eigenwilligen Details inspiriert, und seine Geschichten waren groß genug, um ihnen auf den Grund gehen zu können. Ich danke Stan Lee, der die X-Men erschuf. Ich danke meinem Verleger, Ruwan Jayatilleke, der viele tolle Ideen aufs Tapet brachte und sich dann zurückzog, damit ich alles verdauen konnte. Ich danke meinem Bruder Vance und meiner Nichte Tia. Ich danke meinen Kumpeln Chuck, Bob, CJ, Paul und Criticus. Ich danke meiner Muse, Alice Alfonsi, die genauso in tensiv und lange an diesem Projekt gearbeitet hat wie ich. Und ich danke den Mutanten auf der ganzen Welt.
EINS Prophecy
Regen … der in schmalen Rinnsalen über schmutzige Fenster scheiben läuft. Nacht … die sich von tiefem Schwarz zu schimmern dem Grün wandelt. Eine Übelkeit erregende Färbung, die an wider lich stinkenden Eiter erinnert. Es fließt um mich herum. Doch ich ertrinke nicht. Hinter der Scheibe brummten Neonlampen. Gewundene Leucht stoffröhren. Riesige Buchstaben bildeten ein einzelnes Wort, welches in blau-weißes Licht gerahmt war: Prophecy. Das Wort schien apokalyptisch. Nein. Das stimmte nicht. Es war Teil der Apokalypse. Irgend so ein Säufer hatte ihn unten im Speise saal eingeweiht. »Die Apokalypse wird kommen«, hatte der wunderliche Kauz verkündet. »Wenn alle Geheimnisse enthüllt sind.« Keine Geheimnisse, kein Weglaufen mehr. »Die Hölle wird kommen …« Das war, was er gesagt hatte. Er begann zu erbrechen, während er sprach. Dann hörte der alte Kerl einfach auf zu atmen. Luft. Es gibt keine Luft. Trotzdem kann man atmen. Es passierte viel im Prophecy. Alte Kerle. Und nicht so alte … die einfach umfielen. Tot umfielen. Sitze in einer Falle. Als triebe ich in einem mit Wasser gefüllten Sarg. Aber nicht tot. Noch nicht … Das Wasser, das vom Himmel fiel, war so alt wie die Erde selbst. Logan beobachtete, wie es herunterströmte. Immer das gleiche
Wasser. Seit Milliarden von Jahren. Immer und immer wieder. Fische krochen daraus hervor. Auch der Mensch war daraus hervor gekrochen. Dann kroch ich hervor. Sitze in einer Falle. Ich treibe in einer Flüssigkeit. Eine widerliche Che mikalie. Kein Wasser … Dinosaurier ernährten sich von Pflanzen, tranken aus Seen. Dieser Regen war Teil dieser Seen. Die Brunnen der Dörfer. Krieger, Barba ren, Samurai. Das Wasser, das sie tranken, wurde nach oben gezo gen und ging dann wieder nieder. Das gleiche Wasser. Gefangen in einem ewigen Kreislauf. Alles, sogar die Erde, hat nur ein bestimmtes Fassungsvermögen. Ein Gewitterblitz erschütterte die Nacht. Logans Augen schimmerten durch das Glas – scharf wie die eines Raubtiers mus terten sie die Straße, welche Bruchteile von Sekunden in blendend helles Licht getaucht war. Wieder ein Blitz, der in einen Baum krachte. Die plötzlich frei gesetzte Energie hatte ihn gespalten. Es wirkte wie eine Warnung vor den Dingen, die da noch harren mochten. »Ein Unwetter naht, und es ist ein heftiges Unwetter. Ein richtig heftiges. Das, auf welches ich gewartet habe.« Die Straße. Er erinnerte sich an die Straße. Kälte bestimmte den Weg. Schwarze Wälder bei Nacht. Der hohe Norden. Endlose Wild nis. Bald würde er wieder zurück sein. Bald würde er zu Hause sein. Jetzt hinter der Scheibe: nasser Asphalt, rostige Müllcontainer, Gassen voller Graffitis, triste Mietshäuser – Leere. Sie haben mich nicht gefunden. Noch nicht. Logan wandte sich vom Fenster ab, ging über den fleckigen braunen Teppichboden. Das Zimmer war so klein wie ein Käfig, lee re Flaschen staken wie Stalagmiten aus dem Boden, bohrten sich wie Nägel in sein Hirn. Unter seinem Stiefel zerriss eine mehrere Tage alte Zeitung, die
von bedeutungslosen Ereignissen kündete. Tag für Tag. Er ließ sich auf das Sofa fallen, auf dem eine ausgebreitete Zeitung lag. Seine riesige Faust ballte sich darum, zerknüllte das Papier und schleu derte die tintenschwarzen Wörter gegen den ausgeschalteten Fernseher. Nutzlose Schlagzeilen. Tag für Tag für Tag. Ganz nah verströmte eine Flasche Gin schimmernde Versprechen. Halb leer. Nein. Halb voll. Stets dankbar goss er einen kräftigen Schluck in ein Glas. Elektrische Entladungen rissen die Nacht entzwei. Sengende Blitze durchbohren sein Gehirn. Logan zuckte entsetzt zusammen und musste würgen, als ein sal ziger Tropfen an seinem Hals herunterrann. Dann schwand der Schmerz und hinterließ nur den typisch metallischen Geschmack von Blut – ein Geschmack, den er kannte. Er berührte seine po chende Schläfe, doch da war kein Fleck. Nur Perlen salzigen Schweißes benetzten seine Fingerspitzen. Wieder schluckte er, und da war auch der metallische Geschmack verschwunden. Funktionierten seine Sinne nicht mehr? Oder weckte der Alkohol Dämonen längst vergangener Verwundungen, längst vergessener ihm angetaner Gewalt wieder zum Leben? Vergessen … »Die Apokalypse ist da. Wird allmählich Zeit, einen Brief nach Hause zu schreiben und mit jemandem Frieden zu schließen …« Frieden? Mit wem? Er erinnerte sich an die Kneipe, an ein Dutzend sich prügelnder Körper. Der übliche Nebel brennenden Teers. Die Luft hatte sich eisig angefühlt. Doch seine Muskeln unter dem Stoff waren warm genug gewesen. Er hatte die Flaschen vor sich auf dem Tresen auf gereiht – grüne Palisaden. Glaspalisaden. Seine Festung. Wird allmählich Zeit, einen Brief nach Hause zu schreiben. »Liebe Mom – du schafköpfige, unförmige, schielende Schlampe.
Habe was Neues zu berichten. Das Geheimnis ist gelüftet. Gezeich net: Dein Sohn mit den pelzigen Pranken.« Als ob er wüsste, wer seine Mutter war. Jeder hat eins, nicht wahr? Oder vielleicht auch zwei. Geheimnisse – natürlich. Logan hatte ein ziemlich Schwerwiegendes. Die Sache mit seiner Mutter war eine Last. War manchmal schwer auszuhalten. Aber er kam damit durch. Noch ein Schluck Whisky – direkt aus der Flasche. Doch er brachte kein Vergessen. Nicht einmal die durch Alkohol erzeugte Euphorie, aber auch das merkte er erst, als sie sich nicht einstellte. Dann setz ten die Empfindungen ein, als hätte er sie heraufbeschworen. Er zog an seiner Zigarre. Geknebelt. Stofffetzen. Eine malträtierte Kehle. Vielleicht hatte die Apokalypse bereits begonnen. Dieser Ort, an dem er sich versteckte, das Prophecy, war ein ehema liges Mietshaus, das von den Gläubigen in eine Zufluchtsstätte für gefallene Christen umgewandelt worden war. Einst war er ein Christ gewesen – vor langer, langer Zeit. Seine Erinnerung an deren besondere Sprache war noch frisch genug gewesen, um sich mit Lügen den Weg durch die Tür ins Innere zu bahnen. Natürlich war es eine Bruchbude. Doch das Wohnen war umsonst – für Gestrande te. Somit war er berechtigt. Warmer Whisky tropfte über Logans drahtige, rabenschwarze Stoppeln, die sein Kinn bedeckten, auf sein T-Shirt voller Schweiß flecken. Er würgte. Dann eine Stimme. Doch wer? »… genug in ihn hineingepumpt, um sogar einen Elefanten zu betäuben …« Alkohol verändert die Leitfähigkeit der Elektrolyte in den Gehirn zellen. Er erinnerte sich daran, das irgendwo gelesen zu haben – vielleicht im Rahmen seiner Ausbildung für Geheimeinsätze. Whisky setzt die Geschwindigkeit, mit der die Neuronen elektrische Impulse aussenden, herab.
»Aber ich bin nicht betrunken. Und ich will es sein … ich muss es sein …« Alkohol unterdrückt die Bildung von Hormonen, welche für ein ausgewogenes Verhältnis des Flüssigkeitshaushalts im Körper sorgen. Ohne dieses Hormon beginnen die Nieren sich aus anderen Organen Wasser zu stehlen … »Wasser zu stehlen?« Das Unwetter wütete weiter und nahm sogar noch an Heftigkeit zu. Der Regen prasselte unvermindert gegen die Fenster. Es fließt um mich herum. Doch ich ertrinke nicht. Die Folge ist, dass das Gehirn schrumpft. Logan griff wieder nach der Flasche und goss den winzigen Rest in sein Glas. Doch er hielt inne, bevor er den Drink hinunterkippte. Logan umschloss das Glas mit seiner mächtigen Faust und ließ sich auf das abgenutzte Sofa fallen. Erinnerungen an brutale Szenen zogen an ihm vorbei. Ein Streit, den er mit einem Schmalspurganovenboss gehabt hatte. Die idio tische Zurschaustellung von Tapferkeit. »Dumm. Er hätte es wissen müssen …« Es war passiert, als er mal wieder zum Ausgestoßenen wurde. Dieses Mal hatte man ihn aus der Spionageabteilung des Ka nadischen Geheimdienstes geschmissen. Der Verstoß war im Ver gleich zu dem Abscheulichen, was er im Rahmen der Pflichterfül lung schon getan hatte, banal gewesen. Aber Logan hatte gespürt, dass seine Kollegen froh gewesen waren, die rätselhafte Person in ihrer Mitte loszuwerden. Geheimnisse. Davon habe ich viele. Mehr, als ein Mensch ertragen kann. Nicht lange danach hatte Logan wieder eine Arbeit gefunden. Sein Ruf wurde zu einer zweischneidigen Klinge. Es gab eine nicht enden wollende Folge von jungen Ganoven oder müden alten Hasen, die ihn herausfordern wollten. Aber das bedeutete auch, dass neue Jobs
nie lange auf sich warten ließen. Dieses Mal war es einer von Logans ›Kollegen‹ gewesen, der ein doppeltes Spiel trieb. Logan erinnerte sich, dass jener Tag schon schlecht angefangen hatte. Er ärgerte sich, dass er zur Garage des Waffenschmugglers musste, um seinen Anteil am Gewinn abzuholen. Doch als er das höhnische Grinsen auf St. Exeters Gesicht gesehen hatte, war Logan klar gewesen, dass es noch viel schlimmer kommen würde. Der Waffenschmuggler lehnte an einer Kiste mit Splittergranaten. Sein Kaschmirpullover, die Hose von Prada und die eleganten Guc ci-Slipper passten einfach nicht zur Schrottplatzatmosphäre. »Ich hätte nicht gedacht, dass Sie den Mumm hätten, hier aufzu kreuzen, Logan. Nicht, nachdem Ihr Verbindungsmann es nicht ge schafft hatte, die Ware zu liefern.« St. Exeter strich sich das Haar mit einer perfekt manikürten Hand zurück. Logan begegnete dem kühlen Blick des Mannes. »Sie reden Scheiße, Rene. Ich weiß mit absoluter Sicherheit, dass diese LuftLuft-Raketen bereits zu Ihren ›Kunden‹ in Lateinamerika unterwegs sind.« »Vielleicht. Aber die Waffen waren von … minderer Qualität.« »Das zu erfahren, würde das Pentagon aber sehr überraschen, wenn man bedenkt, dass es sich um modernste Stinger-Raketen handelte.« Während Logan sprach, betraten zwei von St. Exeters Leibwäch tern hinter ihm die Garage. Zwei weitere Männer in ölverschmierten Overalls kletterten aus der Reparaturgrube und stellten sich seitlich von ihm auf. Immer noch mit dem höhnischen Grinsen im Gesicht sah Rene Lo gan mit Augen an, die wie schwarze, leere Löcher wirkten. »Sie werden nicht bezahlen«, stellte Logan fest. Es war keine Frage.
Plötzlich zog einer der schmierigen Affen zu Logans Linken einen Schraubenschlüssel aus seinem dreckigen Overall. Dumm. Es steckte soviel Wucht hinter Logans Hieb, dass der Kiefer knochen des Angreifers bis ins Gehirn gedrückt wurde. Man hörte nur ein Stöhnen, dann brach der Mechaniker zusammen. Logan riss das Werkzeug aus der toten Hand, ehe der Mann auf dem Boden aufschlug. Logan wich einer Kugel aus, die aus nächster Nähe abgefeuert wurde, wirbelte herum und schleuderte den Schraubenschlüssel nach dem Mann, der auf ihn geschossen hatte. Man hörte Knochen brechen, Blut spritzte und der Kopf des Schützen sackte nach hinten. Während er stürzte, fiel seine Magnum vor Logans Füße. Logan duckte sich, um nicht von einem Schuss ins Blaue getroffen zu werden, dann schnappte er sich die Waffe. Er feuerte ohne zu zielen – ein Glückstreffer. Die Kugel erwischte den zweiten Leib wächter an der Kehle. Gurgelnd fiel er auf die Knie und um klammerte krampfhaft seinen Hals, während sich eine immer größer werdende Pfütze um ihn ausbreitete. Am Ende verließ Logan das Glück. Der Letzte von Renes Leib wächtern stürzte sich auf ihn, um Logan in die Reparaturgrube zu werfen. Sie fielen beide hinein. Am Boden der tiefen Betongrube kamen sie wieder auf die Beine. Ein Schatten schob sich über sie. Logan schaute gerade rechtzeitig nach oben, um St. Exeter etwas in die Grube werfen zu sehen. »Fangen Sie auf, mon ami.« Logan fing die Granate in der Luft. Als der Leibwächter sie sah, stürzte er auf die Leiter zu. »Wo willst du hin?« Logan packte den Mann am Kragen, wirbelte ihn herum und rammte ihm die Granate in den Bauch. Keuchend klappte der Leibwächter zusammen und umklammerte
seinen Bauch, als Logan sie losließ und sich ans entgegen gesetzte Ende der Grube warf. Hitze und Blut fegten über Logan hinweg, als ihn die Wucht der gedämpften Explosion gegen die Betonwand kra chen ließ. Logan blutete aus mehreren Wunden, als er aus der Grube kroch, die zum frühen Grab des Leibwächters geworden war, nur um festzustellen, dass Rene St. Exeter den Schauplatz verlassen hatte. Logan erwischte ihn ein paar Tage später. Auf einer belebten Stra ße im Herzen Montreals kam es vor den Augen von einem Dutzend glotzender Zeugen zur letzten Begegnung. Doch das kümmerte Lo gan nicht. Einige Dinge wie zum Beispiel eine Revanche waren viel zu wichtig, um verschoben zu werden. Sogar nachdem sich seine Wut wieder gelegt hatte, verspürte Lo gan kein Bedauern – nur leichten Zorn, dass er gezwungen war, weiter zu ziehen. Er hatte vor, später am selben Abend auf einen Frachtzug aufzuspringen. Sein Ziel: der Yukon. So hoch im Norden, wie es nur ging, ganz am Rande der Zivilisation. Er würde alles zu rücklassen – seinen Lotus-Seven, ein paar wertlose Besitztümer, sei ne Vergangenheit. Mit ein bisschen Glück könnte Logan noch einmal von vorn anfangen. Von vorn anfangen? »Guter Platz, um von vorn anzufangen, was?« Die Stimme – eine vertraute Stimme – hatte er vor Jahren das letzte Mal gehört. Damals, als Logan noch fürs Verteidigungsministerium gearbeitet hatte. Damals, als er für die OS-Niederlassung in Ottawa tätig gewesen war. Logan hockte in einer Ecke und schärfte sein Messer, als der Fremde sich ihm näherte. Er hatte lange genug aufgeschaut, um über die dargebotene Hand des Mannes hinwegzusehen und das Namensschild zu lesen, das an der breiten Brust befestigt war: N.
Langram. Das gequälte Kreischen von Metall auf Metall setzte wieder ein, als Logan damit fortfuhr, die Klinge seines KABAR-Messers zu schleifen. Der Mann mit dem sandfarbenen Haar ließ seine Hand zögernd sinken, dann ließ er sich auf einer Hantelbank nieder, die Logan gegenüberstand. Bis auf die beiden hielt sich niemand im Trainingsbereich auf. Es waren erst ein paar Minuten vergangen, seitdem man ihnen mitge teilt hatte, dass ihr Training vorbei wäre und ihr erster Auftrag be vorstünde. »Ich finde, es ist gut, hier wieder von vorn anzufangen beim CIS, meine ich«, fuhr N. Langram fort. »Ich bin schon an vielen Orten ge wesen, habe viele Dinge getan, legale und illegale, und ich bin froh, meine Vergangenheit zu vergessen und sie für immer zu begraben.« Langram klopfte sich aufs Knie. »Ich war überrascht, dass das Verteidigungsministerium und das CIS trotz der Dummheiten, die ich gemacht habe, entschieden haben, das Vergangene ruhen zu lassen und mir eine zweite Chance zu geben.« »Wie schön für Sie«, meinte Logan. »Bei Ihnen ist es wohl genauso, was?« Prüfend glitt Logans Finger über die Klinge. Ein Tropfen Blut trat auf seine Fingerspitze. Er saugte es weg. »Ich heiße Langram … Freunde nennen mich Neil.« Dieses Mal streckte der Mann ihm nicht seine Hand entgegen. »Logan.« »Wohl von der schweigsamen Sorte, was?« Logan ließ das Messer in seiner Hand herumwirbeln und schob es mit einer einzigen fließenden Bewegung in die Scheide. Dann verschränkte er die Arme vor der Brust und schaute in die Ferne. »Ich habe mich gefragt, warum man wohl uns beide in ein Team gesteckt hat. Sie und mich. Wir kennen uns nicht und wir haben
noch nicht einmal miteinander trainiert. Also habe ich versucht, alle Aspekte in Betracht zu ziehen …« »Zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen, Langram?« Langram, dem Logans Sarkasmus völlig entgangen war, versuch te, darauf eine Antwort zu geben. »Für diesen Einsatz gelten seltsame Rahmenbedingungen, finden Sie nicht auch?«, fing er an. »Ich meine – warum nicht ein einfacher H.A.L.O.-Sprung? Das CDM hat hunderte von Soldaten, die für Erkundungseinsätze in feindlichen Gebieten geeigneter wären. Das bedeutet, dass sie eigentlich keinen von uns brauchen. Eigentlich müssten wir für diese Art von Einsatz als überqualifiziert angesehen werden, außer die Verantwortlichen haben beschlossen, ein paar Sa chen auf die harte Tour durchzuziehen.« »Wie denn?« »Sie werden mir wohl zustimmen, dass es beim CIS – oder beim CDM – niemanden gibt, der sich mit dem HAWK-Geschirr aus kennt«, meinte Langram. Beim High Altitude Wing Kite oder kurz HAWK handelte es sich um einen speziellen ›aerodynamischen militärischen Ausrüstungs gegenstand für Einzelpersonen‹, der von der Strategie Hazard In tervention Espionage Logistics Division entwickelt worden war – und SHIELD neigte nicht dazu, jedem x-beliebigen Soldaten Unter richt in der Benutzung ihrer High-Tech-Fluganzüge zu erteilen. »Vielleicht sind die Oberbonzen beim Militär ja der Ansicht, dass der HAWK am besten geeignet ist, um in feindliches Gebiet vorzu dringen«, meinte Logan. »Mit einem HAWK kann man Geschwin digkeit und Abstiegswinkel selbst bestimmen, und wann und wo man landet. Und man kann sich verteidigen – sogar während man in der Luft ist – wenn es sein muss.« Langram nickte und stimmte damit Logans Argumenten zu. »Das weiß ich alles. Ich habe den HAWK schon mal benutzt. Und Sie an scheinend auch, Mr. Logan.«
»Ja, und?« »Vielleicht sind wir beide durch den gleichen Schlamm gekrochen«, erklärte Langram. »Oder vielleicht haben wir auch nur ein paar gemeinsame Freunde … und Feinde.« Logan schwieg. »Nicht nur von der schweigsamen Sorte, sondern auch noch verschwiegen, als gäbe es Geheimnisse, was?« Geheimnisse. Davon habe ich viele. Manchmal zu viele, um damit fertig zu werden. »Schon okay, Logan. Will meine Nase nicht in anderer Leute Angelegenheiten stecken.« »Das haben Sie bereits.« Langram nahm die Beleidigung nicht zur Kenntnis, und sie saßen sich ziemlich lange in unbehaglichem Schweigen gegenüber. »Ich kenne mich in Geographie ziemlich gut aus«, meinte Langram schließlich. »Ich meine damit die Koreanische Halbinsel. Und auch das Gebiet, in das wir sollen.« »Nett dort?« »Wenn man Nordkorea als Gefängnis sieht, dann ist das Gebiet ums Sook-Reservoir mit dem Trakt für Einzelhaft zu vergleichen, eine Zelle im Todestrakt, und die Galgen marschieren in Horden auf.« Logan zuckte mit den Achseln. »Hört sich toll an.« Langram musterte den ihm gegenübersitzenden Mann. Logan wich seinem Blick aus. »Das ist alles, was ich weiß«, fuhr Langram fort. »Und da Sie kein Fachmann für Atombomben zu sein scheinen, nehme ich an, dass Sie entweder die dortige Landessprache sprechen oder etwas über die Typen wissen, hinter denen wir her sind.« »Bis hierhin richtig.« »Und da Sie viel Erfahrung im Umgang mit Klingen haben und
kein Koreaner sind, muss ich wohl davon ausgehen, dass Sie viel über Hideki Musaki und seine Yakuza-Schläger wissen sowie über das waffenfähige Plutonium, welches von ihnen gestohlen wurde, während es zum geheimen Regierungslabor im Norden unterwegs war – wo Waffen entwickelt werden, die alle in Angst und Schre cken versetzen.« Logan nickte einmal kurz. »Ich kenne Hideki Musaki … persön lich. Aber wir sind nicht befreundet.« Langram lächelte zum ersten Mal, seitdem sie zusammen saßen. »Also sind Sie durch den Fernen Osten gezogen, was? Irgendwie habe ich das gewusst. Schon als ich Sie sah, habe ich mich an einen Ort erinnert … eine Spelunke, die Crackling' Rosa's hieß. Und an einen Mann. Ein Typ, den man in der Gegend unter dem Namen Patch kannte. Er hatte einen Hang zu Messern … genau wie Sie.« Wieder gab Logan keine Antwort. Langram schaute auf seine Uhr, dann stand er auf. »Muss gehen, Logan«, sagte er. »Aber wir werden uns in den nächsten Tagen noch häufig sehen. In der Zwischenzeit denken Sie daran, was ich über die CIS gesagt habe – dass das ein guter Ort wäre, um noch mal von vorn anzufangen. Man kann sogar seiner Vergangenheit entwischen, wenn man das will … nicht viele be kommen eine zweite Chance.« Langram wandte sich ab, um zu gehen. »He, Langram.« Diesmal stand Logan auf und sah ihm ins Gesicht. »Ich werde Ihren Rücken decken, wenn Sie meinen decken. Und wenn dieser Einsatz vorbei ist und wir beide noch am Leben sind, werde ich Ihnen einen Drink spendieren …« Noch ein Drink. Und noch einer. Doch nie genug, um Erleichterung zu verschaffen. Warte mal. Worüber hatte ich gerade nachgedacht? Wie Nebelschwaden verzogen sich die Erinnerungsfetzen an jene erste Begegnung mit Neil Langram.
Von einem schleichenden Gedächtnisschwund geschwächt, der ihn benommen über seinem Drink grübeln ließ, beobachtete Logan, wie sich die Farbe des Whiskys von einem klaren Braun in ein trübes Grün verwandelte. Übelkeit stieg in ihm auf und er schaute weg. Auf der anderen Seite der Scheibe sah man den gespenstischen Phosphorschimmer des Wortes Prophecy. Ein beißender Geruch nach Chemikalien stieg ihm in die Nase und die Federn des durchge sessenen Sofas gruben sich in sein Fleisch. Doch trotz des körperli chen Unbehagens sackte Logans Kopf nach vorne, und seine Augen schlossen sich. Der Schlaf übermannte ihn, doch Logans Träume unterschieden sich nicht von seinem Leben im Wachzustand. Er sehnte sich nach dem Entrinnen, während er lief und seine Füße sich über einen bis in alle Ewigkeit hinziehenden Abhang, der sich immer weiter in die Zukunft ausdehnte, quälten. Auf dem Gipfel empfing ihn die brum mende Neonreklametafel des Prophecy, die dort wartete, auf ihn wartete. Plötzlich wieder wach, fuhr Logan hoch und zerdrückte dabei das Glas in seiner Hand. Zähflüssiges Blut sammelte sich in seiner Handfläche, doch er spürte keine Schmerzen. Taumelnd kam Logan hoch. Plötzlich konnte er es nicht mehr aus halten. Er wollte fliehen. Er wollte fort sein, ehe er vom Schlund der Apokalypse verschlungen wurde. Er zerrte sich das Flanellhemd über die breiten Schultern und grübelte dabei darüber nach, ob seine Alpträume wohl Visionen einer möglichen Zukunft waren. Er hatte Schmerz und Knochen und Dornen gesehen. Von schrecklichem Gestank und purem Entsetzen hatte er geträumt. Von Krallenhänden … Auf der Suche nach seinen Autoschlüsseln wühlte Logan sich durch einen Stapel vergilbter Zeitungen. Da fiel ihm auf einem öl verschmierten Blatt eine Schlagzeile ins Auge: MÖRDER AUS BARMHERZIGKEIT »QUACK« ENTKOMMT
DEM FBI Unter der Überschrift gleich neben dem Text ein Schwarz-WeißRasterfoto. Das Bild zeigte einen würdevollen, bärtigen Mann mit einem langweiligen, nichts sagenden Gesicht. Das Bild und die Überschrift riefen eine vage Unruhe in Logan hervor, aber er wusste nicht warum. Während er noch versuchte, der Fäden der Erinnerung habhaft zu werden, um sie miteinander zu verbinden, lösten sie sich auch schon wie Dunstwolken in seinem immer trüber werdenden Verstand auf. Ein Blitz zuckte über den Himmel und schlug in einen weiteren Baum ein. Noch eine Warnung. Ein Unwetter naht, und es ist ein heftiges Unwetter. Ein richtig heftiges. Das, auf welches ich gewartet habe. Logan steckte Geld und Schlüssel ein. Ohne auch nur einen Blick zurückzuwerfen, verließ er das Prophecy. Die letzte Erinnerung dar an: die blinkende Neonleuchtreklame im Regen. Plötzlich saß Logan auf einem Barhocker am dreckigen Tresen einer schmuddeligen Kneipe. Durch die trüben Scheiben konnte er sehen, dass der Regen aufgehört hatte. Ein Tuch aus schmutzigem Schnee bedeckte die kaputten Straßen und Gehwege. Wann hatte es geschneit? Mit zitternden Händen griff Logan nach der Flasche, die neben ihm stand. Er schluckte und fragte sich, ob der ganze Schnaps wohl nun endlich Wirkung zeigte und zu einer Art geistigem Blackout ge führt hatte. Logan erinnerte sich nicht an die Fahrt, die ihn hierher gebracht hatte, obwohl er durch das große Fenster seinen Lotus-Seven auf dem Parkplatz stehen sah. War er erst durch Regen, dann Schnee gefahren? Waren Stunden vergangen? Oder Tage? Hatte er den Güterzug verpasst … und da mit seine einzige Chance zur Flucht?
Logan erinnerte sich nicht daran, so etwas je zuvor verspürt zu haben, aber jetzt stieg zum ersten Mal Panik in ihm auf. Ein weiterer Schluck vom Whisky linderte das Gefühl, ersetzte es aber durch Verwirrung. Logan erlangte einen Teil seiner Selbstbeherrschung zurück, in dem er seine Umgebung in Augenschein nahm – der Barkeeper, der schweigend Gläser wusch, während sein Blick an einem leise gestell ten Fernseher hing, in dem ein Fußballspiel zu sehen war. Ein wei terer Mann saß am anderen Ende der Bar und trank ruhig aus sei nem Glas. Logan schnupperte, und seine Nase krauste sich beim Ge ruch von zu viel Schnaps und kaltem Zigarettenrauch. Röhren wie Würmer. Die sich in seine Ohren, Nase, seinen Mund, sein Hirn bohren. Draußen schaltete eine einsame Ampel von Grün zu Gelb zu Rot und dann wieder zurück. Auf den Bürgersteigen waren keine Fuß gänger unterwegs, und die Uhr am schneebedeckten Kirchturm am Ende der Straße lief rückwärts. Jede einzelne Sekunde unseres Lebens reisen wir in die Zukunft, aber laut Einstein kann niemand die Zeit zurückdrehen. Das bewies, dass der alte Kauz wohl doch nicht so schlau gewesen war, wie alle dachten. In einer düsteren Ecke neben der Dartscheibe erspähte Logan drei Männer in langen Mänteln. Sie trugen Sonnenbrillen, hatten ihre Hüte tief ins Gesicht gezogen und die Drinks standen unberührt vor ihnen auf dem Tisch. Sie saßen an einer Stelle des Raumes, der in Dunkelheit getaucht war. Wartend. Beobachtend. Zeit aufzubrechen … Logan stand auf, warf ein paar Banknoten auf den Tresen und ging auf die Tür zu. Die Männer im Schatten beachteten ihn nicht … oder schienen es zumindest nicht zu tun. Dass sie sich nicht rührten, machte Logan etwas Hoffnung, aber nicht viel. Auf der Straße knirschten seine schweren Stiefel im eisigen Schnee.
Stiefel. Wie die eines Soldaten. Wie meine. Einmal war ich Soldat ge wesen. Nein, zweimal. Ich kämpfte in zwei Kriegen. Beide Kriege sind lange vorbei. Logan blickte nach unten und stellte fest, dass seine Stiefel fort waren und seine Füße nicht mehr in festem Leder steckten, sondern stattdessen in weiche Mokassins gehüllt waren. Es lag immer noch Schnee. Überall. Doch jetzt handelte es sich um eine schneeweiße, jungfräuliche Schneedecke. Der reflektierende Schnee seiner Jugend. Er hüllte Bäume ein und legte sich wie eine Daunendecke auf Fels brocken. Er glitzerte bei klirrender Kälte unter einer blassen Winter sonne. Die Kneipe, der Parkplatz, die Schattenmänner waren verschwunden. Logan stapfte allein durch einen stillen Gebirgs wald. Zu Hause? Ist es denn möglich, dass ich bereits zu Hause bin? Raureif knirschte unter seinen Fußsohlen. Die Kälte kroch durch Logans drahtigen, jugendlichen Körper bis ins Mark. Doch trotz der eisigen Luft, des sich verdunkelnden Himmels und des Schnees, der immer tiefer wurde, stapfte Logan mühsam weiter. Es war brennender Zorn, der ihn vorantrieb, eine eiskalte Wut – der irrationale Wunsch nach Rache, der Logan immer tiefer in die Wildnis vordringen ließ. Logan folgte der Fährte durch knietiefen Schnee, mühsam trieb er sich zur Eile, um seine flüchtige Beute einzuholen. Mit tauben Fingern umklammerte er seines Vaters langes Messer, bereit anzu greifen, zuzustechen, seine Beute in Stücke zu reißen. Nur eins im Sinn – zu töten. Am Rande einer felsigen Klippe, wo der Schnee vom erbarmungs losen Wind fortgeblasen worden war, endete die Fährte, der Logan gefolgt war, abrupt. Niedergeschlagen und enttäuscht musterte Lo gan den Wald. Er versuchte eine Witterung aufzunehmen, während er hoffte, seine Beute allein durch ihren Geruch aufzuspüren.
Der schneidende Wind peitschte Logans Gesicht – ein Gesicht, das von der bitteren Kälte aufgerissen und durch die Schläge aufge schürft war, die ihm von Victor Creed verabreicht worden waren. Jenem brutalen Mistkerl, den die Siedler dieser Gegend unter sei nem Blackfoot-Indianernamen kannten – Sabretooth. Ich weiß, dass Creed mich hasst. Aber ich weiß nicht warum. Noch mehr Geheimnisse, verborgener und dunkler, als der Wald, der mich umgibt. Sabretooth war vor Stunden – oder waren es Tage? – an der Tür von Logans Blockhütte aufgetaucht, wie er es jedes Jahr um diese Zeit getan hatte. Für Creeds Besuche hatte es kein logisches Muster gegeben – nur dass sie immer dann kamen, wenn Logan allein war. Logan war über die Grenze des Gehöfts von seinem Vaters ge gangen, um im Wald Feuerholz für die bevorstehenden kalten Tage und Nächte zu sammeln. Er war wieder mal allein. Sein Vater war schon seit Wochen fort, um im Norden mit Fallen auf Pelzjagd zu gehen. Zum Schutze seines Sohnes, seiner wenigen Habseligkeiten und der kostbaren Pelze, die er während der vergangenen Saison hatte sammeln können, hatte der alte Logan sein Jagdmesser und einen scharfen Husky namens Razor zurückgelassen. Mit einem schweren Bündel trockenem Brennholz auf dem Heim weg, hatte Logan bereits früh Razors wildes Gebell und das wü tende Knurren gehört, das durch die Entfernung, durch Schnee und durch die Bäume gedämpft wurde. Er hatte das Feuerholz fallen ge lassen und war so schnell er konnte zur Hütte zurückgelaufen. Razors Blut und Gehirnmasse sprenkelten bereits den Schnee, als Logan die Hütte erreichte, und der Blackfoot-Indianer bediente sich an den Pelzen, die Logans Vater zurückgelassen hatte, damit sie in der Wintersonne trockneten. Tränen der Wut vernebelten Logans Blick, als er auf das ermordete Tier starrte, während Creeds höhnischer Spott auf ihn nieder prasselte. Dann hatte sich Logan mit dem wilden Schrei eines ent fesselten Tieres auf seinen Peiniger gestürzt, war auf dessen Rücken
gelandet, hatte Creeds Gesicht zerkratzt und seine Zähne in seinen Hals geschlagen. Mit einem fast schon unmenschlichen Gebrüll hatte Sabretooth Lo gan auf den vereisten Boden geschleudert. Betäubt hatte er sich neben dem steif werdenden Körper seines Hundes im Schnee gewälzt. Während er noch darum kämpfte, nicht das Bewusstsein zu verlieren, sah Logan den Indianer über sich auf tauchen. Er hörte das Gelächter des Mannes, das ihm durch Mark und Bein ging. Er spürte die unaufhörlichen Tritte und Hiebe, die auf ihn einprasselten. Schließlich war alles um ihn her schwarz geworden, und die Dun kelheit hatte ihn verschlungen. Viel später war Logan plötzlich hochgeschreckt, sein Körper war durch die Kälte ganz starr geworden. Die Sonne hatte den Himmel überquert, der Tag ging zur Neige. Logans Erinnerung war zurück gekehrt und mit ihr eine mörderische Wut. Er war in die Hütte gerannt und hatte das Jagdmesser gegriffen, das immer auf dem Kaminsims lag. Ohne einen Gedanken an das Wetter oder das schwindende Tageslicht zu verschwenden, brach Logan auf. Er war fest entschlossen, Sabretooth zu kriegen und dem Leben seines Erzfeindes ein für alle Mal ein Ende zu setzen. Innerhalb der ersten Stunde verlor Logan Creeds Fährte, dann fand er sie wieder. Jetzt wurde die Spur von einer anderen Fährte überlagert. Der eines Bären. Es musste ein großer Bär sein, wenn man die Größe der Abdrücke berücksichtigte. Genau wie Creed be wegte sich das Tier über einen steinigen Bergpfad, um in größere Höhen zu gelangen. Minuten später, als Logan eine Anhöhe fast bewältigt hatte, erhob sich hinter einem Felsbrocken plötzlich eine dunkle Gestalt. Der Grizzly brüllte herausfordernd, und Logan wich überrascht zurück. Schwerfällig stapfte das riesige Tier auf seinen kurzen Hin terbeinen auf ihn zu. Der Grizzly wog mindestens vierhundert Pfund. Als er wieder brüllte, trafen heiße Speicheltropfen Logans
Wange. Der dampfende Atem des Tieres strich über ihn hinweg. Einen Moment lang war Logan wie gelähmt. Dann hob er sein Messer und ging mit Gebrüll zum Angriff über. Er schwang das Messer hin und her, während er sich langsam vorwärts bewegte und auf den Angriff des gewaltigen Tieres vorbereitete. Der kühne, unerwartete Schritt verwirrte den Bären. Mit erstaun ten Augen und zuckenden Ohren hielt der Bär inne – gerade außerhalb der Reichweite des Messers. Logan stand breitbeinig da und bereitete sich auf den Angriff vor. Zorn und Wut hatten sein Inneres zerfressen, und er sehnte sich da nach, auf dieses Wesen – auf irgendein Wesen – einzustechen. Nichts konnte ihm mehr Angst machen. Die Zeit schien sich endlos in die Länge zu ziehen, während sich Mensch und Tier wachsam und vorsichtig Aug in Aug gegenüber standen. Dann hörte Logan plötzlich ein Schnauben, dem ein verängstigtes Gewinsel folgte. Es kam von einer Stelle hinter dem Grizzly. Hinter dem vor ihm aufragenden Bären erspähte Logan zwei schwarze Augenpaare, die ihn unter schwer mit Schnee beladenen, tief hängenden Pinienzweigen hervor anblickten. Zwei schwarze Fellknäuel mit braunen, feuchten Schnauzen kamen aus ihrem Versteck und suchten hinter dem Rücken ihrer Mutter Schutz. Als er die hilflosen Jungen sah, ließ Logan die Klinge sinken. Ohne die wütende Mutter aus den Augen zu lassen, wich er einen Schritt zurück, dann noch einen. Der Bär schnaubte, sein Fell sträubte sich, während Logan seinen vorsichtigen Rückzug fortsetzte. Sogar in seiner rauen Welt glaubte Logan daran, dass nicht jede Bedrohung automatisch getötet werden musste.
»Geh in Frieden. Du bist nicht mein Feind, und ich bin nicht deiner«, flüsterte Logan leise, während er weiter den Bergpfad zu rückging. Die Bärin spürte Logans Absicht. Sie ließ sich auf alle Viere herab und wandte dem Menschen ihren bebenden Rücken zu. Mit ihrer Tatze trieb sie ihre Jungen voran, dann verschwanden die Bären zwischen den schneebedeckten Bäumen. Logan beobachtete den Rückzug des Tieres, dessen Pelz mit Schnee bestäubt war und dem zwei Junge zwischen den Beinen toll ten. Als der Bär nicht mehr zu sehen war, schloss Logan die Augen und lehnte sich gegen einen Baumstamm, während sein Herz von den Nachwehen des Schreckens durch die unerwartete Begegnung pochte. Als Logan die Augen wieder öffnete, fand er sich draußen vor der Kneipe wieder, mitten auf dem schneebedeckten Parkplatz. Die Nacht war noch viel kälter geworden – ungewöhnlich kalt für die Jahreszeit. Aber es bestand natürlich auch die Möglichkeit, dass Logan Wochen oder gar Monate seit seinem Aufenthalt im Prophecy verloren hatte, und nicht nur ein paar Stunden. Aber er hatte keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. Nicht wenn die Schattenmänner so dicht hinter ihm waren … Erleichterung durchfuhr ihn, als er seinen Lotus-Seven erblickte. Das Verdeck war heruntergeklappt – völlig verrückt bei diesem Wetter, auch für jemanden, der nicht wie jeder andere Hitze oder Kälte spürte. Logan fand seine Schlüssel und glitt hinters Lenkrad. Das Motorengeräusch beruhigte ihn. Doch ehe Logan den Gang einlegen konnte, tauchten aus der Dunkelheit Gestalten auf. Dann sprach ein Mann. »Mr. Logan?« Logan schaute genau in dem Moment auf, als etwas Hartes, Kaltes und Scharfes seine Schulter traf, durch Muskeln und Rippen drang
und sich in seine Lunge bohrte. Heiße Galle drang ihm in die Kehle. Keuchend versuchte Logan sich aufzurichten, als auch schon das Gift durch seinen Körper schoss, seine Kräfte erlahmen ließ und sein Denken zum Stillstand brachte. Wie einen Haufen Kleider zog man Logan aus dem Wagen. Kraft los holte er aus – doch da wurde er nur von grausamen, unsichtba ren Fäusten auf den kalten Boden geboxt. Als das starke Betäu bungsmittel endgültig wirkte, wurde er von Dunkelheit und Schmerzen verschlungen. Kurz bevor er das Bewusstsein verlor, erfasste Logan ein seltsames Gefühl der Erleichterung. Jetzt konnte er nichts mehr tun. Die Tage, an denen er geflohen, und die Nächte, in denen er sich versteckt hatte, waren vorbei. Eine Flucht war nicht mehr möglich. Die Apokalypse hatte begonnen.
ZWEI Der Bienenstock
Durch die eckigen Gläser seiner Brille, die im schwachen Licht schimmerten, beobachtete der Professor das Ärzteteam bei der Arbeit an seinem Patienten. Ein Dutzend Ärzte und Spezialisten drängten sich um einen nack ten Körper, der sich im Kokon der dicken Wände eines durch sichtigen Behälters befand. Im Innern dieses Sarges aus Plexiglas trieb die Versuchsperson ›Subject X‹ in einer grünlichen, chemischen Brühe, die aus mit Interferon angereichertem Plasma, Molekular proteinen und Zellnährstoffen sowie einer Art synthetischer Frucht wasserlösung, die vom Professor selbst entwickelt worden war, bestand. Ein paar Unzen dieser trüben Flüssigkeit waren kostbarer, als diese Labortechniker sich je vorstellen konnten. Kostbarer als ein durchschnittlicher nordamerikanischer Wolkenkratzer – und noch mehr für jene Elite, der nur ein paar wenige angehörten, welche überhaupt Sinn und Zweck des Stoffes verstand. Der Professor wurde von einem blinkenden Lämpchen auf seiner Konsole aus den Gedanken gerissen. Der Leiter des Teams in formierte ihn darüber, dass sich die komplizierte Vorbereitungspha se ihrem Ende näherte. Der Raum des Professors war genauso hermetisch abgeschlossen wie der luftdichte Sarg von Subject X – ein elektronisches Reich aus Stahl und Glas, Fiberglaskabeln und Siliziumchips. In dieser Kammer summten Computer und surrten Prozessoren. Wände aus poliertem Adamantium-Stahl reflektierten schwach die über Moni
tore laufenden Datenströme und die Reihen hoch auflösender Fernsehbildschirme. Der dürre Körper des Professors saß aufrecht auf seinem ergono mischen Thron. Die bleiche Haut spannte sich über ausgeprägten Wangenknochen. Leidenschaftslos verfolgte er die medizinischen Vorbereitungen, die auf einem großen Zentralmonitor in Echtzeit zu sehen waren. Ein leichtes Lächeln – selten bei ihm – umspielte seine Lippen, während er die Vorbereitungen des Teams beobachtete. Trotz der die Bewegung einschränkenden Schutzanzüge, der hinderlichen Helme und der sperrigen Entstauber führte das medizinische Team seine Aufgaben schnell und effizient aus – so effizient, dass Subject X schon morgen für das erste Experiment vorbereitet sein würde, lange vor dem ursprünglich angesetzten Termin. Die Vorarbeiten waren hervorragend gelaufen, befand der Professor, und seine Mitarbeiter hatten mit vorbildlicher Präzision gearbeitet. Und warum auch nicht? Hatte er sie nicht selbst ausgebildet und das höchste Maß an Professionalität, Engagement und Selbstauf opferung von jedem Einzelnen verlangt? Der Professor drückte auf einen Knopf. In einem anderen Ab schnitt der Anlage informierte ein blinkendes Licht ein zweites Ärzteteam, dass ihr Können bald gebraucht werden würde. Er steuerte alles, was innerhalb der riesigen Forschungseinrichtung ab lief, von seiner Kommandozentrale aus. Durch ständige digitale Aufzeichnungen wusste der Professor über jedes Vorkommnis Be scheid, kannte jedes Geräusch, das innerhalb dieser Mauern erzeugt wurde. Milliarden Datenbits liefen durch hunderte von Meilen von Fiber glaskabeln beim Professor zusammen – ein Informationsnetzwerk, das sich durch jeden Raum, jeden Lüftungsschlitz, jede Wand schlängelte. Wie eine Spinne hockte der Professor in seinem vernetzten Raum
und überwachte sein Reich von diesem Zentrum der weitläufigen Anlage aus. Obwohl er hinter mit verschlüsselten Zugangscodes versiegelten Türen saß, hatte er Zugriff auf alle Daten, konnte jedes Experiment beobachten und mit dem Umlegen eines Schalters oder verbal Befehle erteilen. Was ihn im Moment am meisten interessierte, war natürlich Sub ject X. Über den Monitor verfolgte der Professor die Ankunft des zweiten Ärzteteams. Eine Drucklufttür öffnete sich mit einem Zischen, und die Gruppe trat ein, um das Team zu abzulösen, welches für die Vorbereitungen zuständig gewesen war. Auch das neu eingetroffene Team trug unförmige Schutzanzüge, die nicht ihrem Schutz dienten, sondern verhindern sollten, dass Subject X kontaminiert wurde – eine notwendige Vorsichtsmaßnahme. Die Aufgabe dieses zweiten Teams bestand darin, Subject X mit unterschiedlichen biologischen Sonden zur Überwachung seiner Körperfunktionen zu versehen und gleichzeitig hohle Injektions schläuche, die in Teflon gehüllt waren, zu setzen. Diese Schläuche waren entscheidend für den Erfolg des Adamantium-Verbindungs prozesses. Die langfingrigen Hände des Professors – er fand, es waren die Hände eines Ästheten – glitten über die seinen persönlichen Bedürf nissen angepasste, ergonomische Tastatur, die nur er bedienen konnte. Plötzlich wurde das allgegenwärtige Rauschen der Entstau ber und das ständige Summen der Klimaanlage von Bruchstücken einer Unterhaltung und anderen Geräuschen aus dem Labor über tönt. Die Daten, die zuvor über die zusätzlichen Beobachtungsmonitore gelaufen waren, wurden durch Bilder von Männern in Schutzan zügen ersetzt, die sich um den schimmernden, durchsichtigen Sarg versammelt hatten. Dr. Hendry, der Teamleiter – sein Schutzanzug war mit einem breiten grünen Streifen markiert, um seinen Status kenntlich zu ma
chen – musterte Subject X durch die trübe Flüssigkeit. »Wer hat den Patienten rasiert?« Ein Mann neben Hendry hob die Hand. »Das habe ich gemacht.« »Was haben Sie benutzt – eine Geflügelschere oder was?« »Bitte?« »Sehen Sie sich den Mann doch an.« Er deutete auf die einsame Gestalt im hellen, rechteckigen Becken. Durch das Visier war die Verwirrung des Mannes zu erkennen. »Das ist aber wirklich seltsam. Ich habe ihn vor zwanzig Minuten rasiert, und er war so glatt wie ein Babypopo …« »Einen Haarschnitt könnte er auch brauchen«, meinte ein anderes Mitglied des Teams. Die Ärzte und Spezialisten stellten sich vor die Plexiglasscheibe und betrachteten stumm die Gestalt im Innern des Beckens. Der hellhäutige, männliche Körper war von Bläschen umhüllt. Sein rabenschwarzes Haar trieb wie eine Sturmwolke um seinen Kopf. Ein flexibler Beatmungsschlauch aus Stahl ringelte sich von einem fauchenden Beatmungsgerät zu einer Maske, die Nase und Mund der Versuchsperson vollständig bedeckte. Diese High-Tech-Nabel schnur enthielt auch verschiedene Sensoren und Schläuche, die die Versuchsperson mit Nährstoffen versorgte, sowie Kanülen, um Me dikamente zu verabreichen, wenn es nötig sein sollte. Die Stille wurde schließlich von einem Rollwagen durchbrochen, den eine Krankenschwester hereinschob, die die gleiche unförmige Schutzkleidung wie die anderen trug. Auf der sterilen Oberfläche des Wagens lagen mehrere chirurgische Sonden, die eher wie mittel alterliche Folterinstrumente aussahen als wie moderne medizinische Implantate. Jede einzelne schimmernde Sonde bestand aus einem hohlen, rasiermesserscharfen, rostfreien Stahlstift – einige waren fast zehn Zentimeter lang, andere nur zwischen zwei und drei Zentime ter. Am Ende jedes Stiftes waren neben einem langen, flexiblen Schlauch Drähte befestigt, die die biologischen Informationen zu
verschiedenen Überwachungsgeräten weiterleiteten. Viele der Sonden würden nur die Körperfunktionen der Ver suchsperson messen und bestimmen – Herzrhythmus, Blutdruck, Grundstoffwechsel, Körpertemperatur, Elektrolythaushalt, Atmung, Hormonhaushalt, Verdauung, Ausscheidungen und Gehirn funktionen. Andere Sonden dienten geheimnisvolleren Zwecken. Der Professor beobachtete über seinen Monitor, wie der Teamleiter mit dem Einsetzen der ersten Sonde begann. Dr. Hendry fasste in die wabernde Brühe und schob einen schmalen, sechs Zentimeter langen Stift durch ein Loch, das über dem linken Auge in die Hirn schale gebohrt worden war, direkt ins Gehirn von Subject X. Plötzlich begann sich die Versuchsperson heftig zu bewegen. Für das Ärzteteam kam es völlig unerwartet, als Subject X zu sammenzuckte, die Augen öffnete und sie offensichtlich wach an starrte. »Treten Sie zurück«, befahl Dr. Hendry, obwohl er selbst nicht von der Stelle wich. Die Augen der Versuchsperson schienen tatsächlich etwas zu se hen und wirkten wach, obwohl die Pupillen geweitet waren. Subject X versuchte auch zu sprechen, doch die Laute, die er hervorstieß, waren durch das blubbernde Atmungsgerät und die summenden Maschinen so gedämpft, dass man sie nicht verstehen konnte. »Die Wirkung des Beruhigungsmittels lässt nach.« Die Stimme des Neurologen klang missbilligend. »Wir haben genug in ihn hineingepumpt, um sogar einen Elefanten zu betäuben!«, verteidigte sich der Anästhesist. »Ich kann es auch kaum glauben, aber sehen Sie sich dieses Ge hirnwellenmuster an.« Der Neurologe trat beiseite, damit der Rest des Teams einen Blick auf den Ausdruck des Enzephalogramms werfen konnte. »Sie haben Recht.« Der Anästhesist konnte es kaum fassen. So et was hatte er noch nie gesehen. »Die Versuchsperson befindet sich
zwar noch im Dämmerzustand, aber er erlangt das Bewusstsein zu rück, trotz der Sedativa.« »Okay, ich will Thorazin. Vierhundertfünfzig Milligramm.« Dr. Hendry streckte die Hand nach der Betäubungspistole aus. Sein Assistent lud das Gerät mit einem Plastikfläschchen des starken Medikaments, dann zögerte er. »Sind Sie sich mit der Dosis sicher?«, fragte der Assistent verwirrt. »Das Thorazin wird mit seinen Gehirnfunktionen ohnehin schon schreckliche Dinge anstellen, und bei 450 mg …« Die furchtsame Stimme führte den Satz nicht zu Ende, aber was der Mann meinte, war nicht zu überhören. Das Serum würde die Versuchsperson möglicherweise umbringen. Dr. Hendry blickte durch sein Visier auf den geisterhaften Umriss der Gestalt, die im sargähnlichen Becken wild um sich schlug. Die Brust der Versuchsperson hob und senkte sich schwer, und der Kiefer mahlte hinter der Atemmaske. »Wenn er da rauskommt, wird er mit uns was ganz Schreckliches machen«, erwiderte Dr. Hendry. »Aber das ist eine gewaltige Dosis – sie reicht, um ihn umzu bringen – vielleicht …« Die Stimme des Anästhesisten klang nicht so schwach wie die des Assistenten, aber auch sie verebbte unsicher. Er hatte sich verpflichtet gefühlt, etwas zu sagen, obwohl er wusste, dass es keine Rolle spielte. Nicht, wenn Dr. Hendry die verantwort liche Person war. Der Professor beobachtete alles von seiner versiegelten Kammer aus und brummte ärgerlich, während er die Gegensprechanlage an stellte. Als er sprach, war seine scharfe Stimme sowohl im Labor als auch in den Helmen der Schutzanzüge zu hören. »Verabreichen Sie sofort das Thorazin. In der Dosis, die Dr. Hendry verordnet hat. Der Patient darf nicht aufwachen. Nicht noch einmal.« Hendry entriss seinem Assistenten die Betäubungspistole und
tauchte den Lauf in das sprudelnde Becken. Man hörte ein Zischen, und Subject X spannte sich an, als ein gewaltiger Krampf seinen Körper ergriff. Doch schon bald schlossen sich die Augen der Ver suchsperson, und Atmung und Herzfrequenz verlangsamten sich. »Er ist weg«, sagte der Neurologe. »Blutdruck normal. Herzfrequenz normal. Die Atmung ist flach, aber das Beatmungsgerät wird ausreichend Sauerstoff in seine Lunge pressen«, verkündete der Anästhesist voller Erleichterung. Dr. Hendry versuchte, mit einer ruckartigen Bewegung unter sei nem Helm den Schweiß aus seinen Augen zu schütteln. »Eine Se kunde lang dachte ich schon, wir müssten das Zyanid freisetzen.« »Dann hätten wir zumindest gewusst, wie gut diese Schutzanzüge wirklich sind«, scherzte einer. Der Versuch, die Situation mit Humor zu nehmen, entspannte die Lage etwas, aber ihr Lachen klang trotzdem gezwungen. »Verfahren fortsetzen«, befahl die Stimme des Professors. Dr. Hendry hob den Blick zur Decke, als suchte er nach den un sichtbaren Kameras, die jede Phase des Vorgangs aufzeichneten. Nachdem ihm sein Assistent eine lange Sonde in seine behand schuhte Handfläche gedrückt hatte, tauchte Hendry die Hand in die kochende Brühe und versenkte den spitzen Spieß in der Bauchhöhle der Versuchsperson. Wieder spannte sich der Körper von Subject X an, während ein Zittern all seine Muskeln erfasste. Der Professor schaltete die Sprechanlage an. »Die Hirnwellen funktionen haben erneut eine Spitze gezeigt«, sagte er, während er die Daten auf seinem persönlichen Touchscreenmonitor beobachte te. Dieses Mal trat Hendry mit den anderen einen Schritt vom Becken weg. »Was sollen wir tun, Professor?« »Ich möchte, dass Sie die Biodämpfer benutzen, um die Gehirn funktionen von Subject X zu hemmen.«
Wieder ergriff der Anästhesist das Wort. »Aber Professor, wir haben ihm bereits genug Thorazin verabreicht, um …« »… einen Elefanten zu betäuben, ja, ich weiß. Aber das Sedativum scheint ja wohl nicht besonders wirkungsvoll zu sein«, murmelte der Professor. »Wie Sie deutlich erkennen können, ist Subject X ja wohl kaum als … ruhig zu bezeichnen.« Hendry gab einem anderen Mitglied seines Teams ein Zeichen. Der Mann trat mit Gehirnsonden in der Hand vor. Der Rest des Teams zog sich etwas zurück, damit die Spezialisten genug Platz für ihre Arbeit hatten. Doch ehe die Sonden eingeführt wurden, meldete sich der Psychiater zu Wort. »Wenn Sie möchten, könnten wir den Enzephalographischen Manifestations-Monitor aktivieren. Eine Verbindung mit dem Ge hirn müsste jetzt, während die Versuchsperson nicht bei Bewusst sein ist, sehr einfach sein …« »Das wird nicht notwendig sein«, antwortete der Professor. »Die Dämpfer genügen vorerst.« Der Psychiater nahm die Antwort ohne zu diskutieren hin und machte sich an die Arbeit. »Werden Sie sich uns hier im Labor anschließen, Sir?«, fragte Hendry. »Bald, Dr. Hendry. Bald …« Nach ein paar Minuten waren alle Hirnsonden gesetzt und die Ge räte eingeschaltet. Die Werte zeigten, dass die Biodämpfer – winzige Geräte, die elektromagnetische Wellen aussandten, durch die es quasi zu einem Kurzschluss im Gehirn kam – es endlich geschafft hatten. Subject X würde vorerst nicht mehr aufwachen. Erst wenn man dies wieder wollte. »Fahren Sie fort«, sagte der Professor. Sichtlich zufrieden, dass die vorbereitenden Arbeiten jetzt wieder planmäßig weiterliefen, schaltete der Professor den Audiokanal ab. Die Videobilder ließ er jedoch weiter über die Monitore laufen.
Als er sich auf seinem Stuhl bewegte, stieß der Professor mit dem Ellbogen versehentlich gegen eine dicke Personalakte, wodurch sich ein Stapel vergilbter Zeitungsausschnitte fächerförmig auf seinem Schreibtisch ausbreitete. MÖRDER AUS BARMHERZIGKEIT »QUACK« ENTKOMMT DEM FBI lautete die reißerische Überschrift, die einen der Aus schnitte zierte. Neben der Schlagzeile war ein Schwarz-Weiß-Raster foto zu sehen, welches einen bärtigen Mann mit einem runden, fast schon engelhaften Gesicht zeigte. Die Bildunterschrift lautete: DR. ABRAHAM B. CORNELIUS JETZT AUF DER FLUCHT VOR DER JUSTIZ Mit einem müden Seufzer schob der Professor die Ausschnitte in die Akte zurück und legte sie beiseite. Nachdem er das Aufzeich nungsgerät durch einen Knopfdruck eingeschaltet hatte, welches in die Konsole integriert war, begann er mit langsamer, klarer Stimme zu diktieren. »Dies ist ein Memo an Director X zur Kenntnisnahme. Heutiges Datum …« »Ich habe mich mit Dr. Cornelius am vereinbarten Ort getroffen …« Am vereinbarten Ort? Der Professor merkte, wie er grinste. Eine lä cherliche, schönfärberische Umschreibung für das stinkende Loch in der verwahrlosten Gegend, wo der flüchtige Wissenschaftler Unterschlupf ge sucht hatte, um Verhaftung, Gefängnis und vielleicht sogar seiner Hin richtung zu entgehen. »Das Treffen war freundlich …« Wenn man die Androhung von Erpressung als freundlich bezeichnen konnte. »… und Dr. Cornelius drückte sein Interesse an unserem Projekt und dessen ehrgeizigen Zielen aus …« In Wahrheit suchte Cornelius nur verzweifelt nach einer Möglichkeit, der Bestrafung zu entgehen. In den Vereinigten Staaten gingen die
Behörden nicht zimperlich mit Mördern um – insbesondere solchen, die den Hippokratischen Eid geleistet hatten. »Dr. Cornelius hat sich mit den Einstellungsbedingungen einver standen erklärt und scheint dankbar zu sein, seine Dienste der medi zinischen Forschung zur Verfügung stellen zu dürfen …« Als ob er eine andere Wahl gehabt hätte. »Trotzdem stellt sich mir die Frage, ob Dr. Cornelius der optimale Kandidat für solch eine wichtige Position bei diesem Experiment ist. In der Vergangenheit zeigte er einen störenden Hang zu unabhän gigem Denken, wie sein Verbrechen bezeugt.« »Ich bezweifle außerdem, dass sein Fachwissen benötigt wird. Ich bin mir sicher, dass es zu keiner Gewebeabstoßung kommt, und Dr. Hendry stimmt hierin mit mir überein. Meine Verbindungstechnik wird völlig ausreichen, um Logans Skelett zu ummanteln.« Wirklich lächerlich, dass Director X Dr. Cornelius' Fähigkeiten mit meinen vergleicht. Es gibt überhaupt keine Basis für einen Vergleich. Ich bin ein Architekt des Fleisches, ein Künstler, ein Visionär. Cornelius dagegen ist nur ein erfahrener Praktiker einer einzigen Fachrichtung. Sieht denn Director X diesen Unterschied nicht? »Gewiss sind doch andere Forscher auf dem Gebiet der Immuno logie ähnlich qualifiziert und haben einen deutlich weniger … frag würdigen Hintergrund?« Der Professor schaltete das Mikrofon aus. Stirnrunzelnd überdach te er seine Erklärung noch einmal gründlich, dann fiel ihm etwas ein. Wenn ich zu vehement Einspruch erhebe, wird Director X womöglich meine Motive oder sogar meine Loyalität in Frage stellen. Vielleicht ist es besser, wohlwollend und diplomatisch zu reagieren und diesen Eindringling genauso zu akzeptieren, wie ich auch Ms. Hines akzeptiert habe. Man kann sich der beiden auch später entledigen, wenn man sie nicht mehr braucht … Am Ende zählen schließlich nur die Ergebnisse. Der Professor stellte sein Mikrofon wieder an. »Memo löschen bis ›Einstellungsbedingungen einverstanden er
klärt‹.« Das Aufzeichnungsgerät summte, während es automatisch zu rücklief. »Ich habe das Gefühl, dass Dr. Cornelius eine wertvolle Ergänzung für dieses Projekt darstellen wird«, fuhr der Professor fort. »Seine Referenzen sind beeindruckend …« Aber er ist ganz bestimmt kein Genie … »… und ich bin mir sicher, dass er in der Lage sein wird, mich in den kommenden Monaten hervorragend zu unterstützen …« Obwohl ich seine Unterstützung weder will noch brauche, egal für wie kompetent Director X diesen Mann auch halten mag. Brauchte denn Mi chelangelo Unterstützung, als er seine Version der Schöpfung an die Decke der Sixtinischen Kapelle malte? »… Das Projekt ist von seiner Vollendung noch weit entfernt, und es gibt noch viel zu tun …« Hatte denn Gott bei der Erschaffung des Universums Unterstützung oder zusätzliche Hilfe gebraucht? Ich glaube nicht. »Und natürlich hat sich auch Ms. Carol Hines, die früher für die NASA gearbeitet hat, als wertvolle Bereicherung erwiesen …« Die Frau ist annehmbar, auch wenn Director X sie mir aufgedrängt hat. Zu ihren Gunsten muss man sagen, dass Ms. Hines keiner zusätzlichen Ausbildung bedurfte und ihre Aufgaben sofort nach ihrer Einstellung in Angriff nahm. »Sie hat eine sehr gute Ausbildung bei der National Aeronautics and Space Administration genossen und ist erfahren im Einsatz der EMaM-Technologie – sie ist eine der wenigen erfahrenen Spezialis tinnen auf der Welt …« Und was noch mehr ins Gewicht fällt – die Frau ist gefügig und leicht zu steuern. Die Art Mensch, der unschätzbare Dienste leistet, ohne etwas als Gegenleistung zu erwarten. Und am Schönsten ist, dass sie keine Fragen stellt – die perfekte Drone, eine richtige Arbeiterin wie in einem Bienenstock. Eindeutig keine Königin …
»Beide sind in der Station eingetroffen und richten sich gerade ein.« Und Dr. Cornelius sollte sich am Riemen reißen, sonst ist er für mich und das Experiment nutzlos … Von Ms. Hines' Hingabe und ihren be achtlichen Fähigkeiten bin ich bereits beeindruckt. Aber meine Beurteilung von Dr. Cornelius sollte ich bis zu einem Zeitpunkt aufschieben, wenn ich den Mann bei der Arbeit erlebt habe … »Ich werde einen gesonderten Verlaufsbericht über Erfolg oder Misserfolg anfertigen, nachdem der Adamantium-Verbindungspro zess abgeschlossen ist. Bis dahin …« Der Professor fügte seine digitale Signatur hinzu, schaltete das Mi krofon aus und sank in seinen Sessel. Seine Gedanken kamen nicht zur Ruhe. Wenn Menschen doch nur genauso vorhersehbar, genauso leicht zu len ken wären wie die Elemente. Als Wissenschaftler wusste der Professor mit absoluter Sicherheit, dass das geschmolzene Adamantium, welches im Bottich im Labor unter ihm blubberte, bei einer ganz bestimmten Temperatur schmolz. Er wusste auch, dass die gleiche Substanz härter als ein Diamant sein würde, wenn sie abkühlte. Er kannte das genaue Mi schungsverhältnis der Moleküle der daraus entstehenden Le gierung. Er begriff, wie sich die verschiedenen Elemente mitein ander verbanden, und welche Struktur die Neutronen mit dem Atomkern bilden würden. Und trotzdem hatte er nicht den blasses ten Schimmer, wie eine seiner untersten Chargen seiner Einrichtung in genau der Situation reagieren würde, für die er ausgebildet worden war. Der Professor lehnte sich in seinem Kommandosessel zurück und starrte mit leerem Blick auf den flackernden Monitor. In der Zwischenzeit nahm im Labor alles seinen Fortgang. Die Techniker waren mit dem Setzen der Sonden fertig und entleerten mittlerweile den sargähnlichen Behälter. Das kostbare Nass würde in einen rostfreien Edelstahlbottich gepumpt werden, wo es ge
reinigt und für nachfolgende Verfahren gelagert werden sollte. Subject X würde die Nacht in einem sorgfältig überwachten Lagertank in einem künstlich herbeigeführten Schlaf verbringen. Seine Lebenszeichen und die Gehirnaktivität – beziehungsweise was davon vorhanden war – würde von einem Ärzteteam überwacht werden, das durch eine undurchdringliche Plexiglaswand vom Ver suchsobjekt getrennt war. Chemische Präparate, Flüssigkeit und Grundnährstoffe würden, falls notwendig, intravenös zugeführt werden. Ein weiteres blinkendes Licht auf der Konsole zeigte an, dass das Verfahren beendet war. Der Professor beobachtete, wie die Ärzte nacheinander das Labor verließen, ihre Schutzanzüge ablegten und sich über die schweißnasse Stirn wischten. Seine Konsole summte, und das müde, aristokratische Gesicht von Dr. Hendry erschien auf dem Zentralmonitor. »Die Sonden sind eingesetzt, Professor. Keine Hinweise auf eine Infektion. Keine Abstoßung zu beobachten. Die Lebenszeichen se hen alle ziemlich positiv aus.« »Sehr schön«, erwiderte der Professor. Doch der Leiter des Teams beendete die Verbindung nicht. »Sonst noch etwas, Dr. Hendry?« Der Mann auf dem Monitor räusperte sich. »Ich habe mit dem neuen Immunologen gesprochen«, begann er. Der Professor zog eine Augenbraue hoch. »Und?« »Ich bin von seiner Arbeit beeindruckt, aber nicht von dem Mann. Dr. Cornelius' theoretische Ansätze sind sehr fundiert, und er scheint eines der schwierigsten Probleme des Verbindungsprozesses gelöst zu haben …« »Ich bemerke ein Zögern in Ihrer Stimme, Dr. Hendry. Sprechen Sie ganz offen.« »Er ist ein ganz gewöhnlicher Verbrecher«, fuhr Hendry aufgeregt fort. »Er hat den ethischen Grundsätzen seines Berufes zuwiderge
handelt. Können wir uns seine Arbeit nicht zunutze machen, ohne ihn gleich einzustellen?« »Bei der Prozedur handelt es sich um ein Experiment. Vieles kann schief gehen. Da ist es besser, Cornelius hier zu haben, falls es zu unerwarteten Komplikationen kommt.« »Aber …« Der Professor unterbrach ihn. »Es liegt nicht in meiner Hand.« Hendry runzelte die Stirn. »Ich … verstehe.« »Sehr schön. Machen Sie weiter.« Ein Knopfdruck und Hendrys Gesicht verschwand, um von einer endlosen Folge von wissenschaftlichen Daten abgelöst zu werden, die über den Monitor krochen. Der ›Themenwechsel‹ erfreute den Professor. Die Gewissheit der Physik und das nachvollziehbare Arbeiten fortschritt licher Technologie sind den unvorhersagbaren menschlichen Gedanken und Verhaltensweisen eindeutig vorzuziehen. Unlogisches Denken und Verhalten und Widersprüche hatten ihn immer gestört, und der Professor sehnte sich danach, die Menschheit von nutzlosen Emotionen und zügellosen Wünschen zu befreien. Die Kontrolle des menschlichen Geistes war der Schlüssel hierzu – doch die absolute Kontrolle hatte man bisher nie erlangt. Bis zur Entwicklung des Enzephalographischen ManifestationsMonitors war es nie möglich gewesen. Bis jetzt hatte man die Möglichkeiten des EMaM noch nicht voll ausgelotet. Nicht einmal die Entwickler selbst hatten das getan. Die NASA benutzte das innovative Gerät für Trainingszwecke oder um Übungen in virtueller Realität zu erzeugen. Doch der Professor wusste, dass die Maschine noch viel mehr konnte. Sie nennen sich selbst Wissenschaftler, doch sie benehmen sich wie Kinder, die mit einer geladenen Pistole spielen, ohne das wahre Potenzial zu erkennen … »Alles ängstliche Feiglinge, der ganze Haufen …«, murmelte der
Professor. Mit dem EMaM war die Herrschaft über den menschlichen Geist in greifbare Nähe gerückt – kein Gedanke würde mehr geheim bleiben, kein Verlangen verborgen. Jede Hoffnung, jeder Traum, Angst oder Wut konnten nun beobachtet, überwacht, gesteuert, be urteilt und bewertet werden. Erinnerungen konnten ausgelöscht, Persönlichkeiten verändert, falsche Erinnerungen eingepflanzt werden, um echte Erfahrungen zu ersetzen. Nach Einschätzung des Professors war der Schöpfungsprozess der Technologie, die hinter dem Enzephalographischen ManifestationsMonitor stand, ein Beweis für die Angst, den Mangel an Phantasie und die Kurzsichtigkeit, die die gesamte wissenschaftliche Gemein schaft quälte. Brain Factory, eine Computerspielfirma in Südkalifornien, war der Wegbereiter für den ersten, primitiven EMaM, den die Firma als neuartiges Gerät auf den Markt brachte. Doch bereits in der frühen Testphase erwies sich das Gerät als zu gefährlich für menschliche Versuchspersonen. Die Behörde für Produkte und Konsumentensi cherheit schritt ein und verbot die Benutzung der EMaM-Technolo gie für Unterhaltungs- oder andere kommerzielle Zwecke. Mehrere Forscher auf dem Gebiet der Psychologie erkannten spä ter die Möglichkeiten der bahnbrechenden Technologie bei der Be handlung von mentalen Störungen. Doch statt die Gelegenheit zu ergreifen, sich dieses Forschungsgebiets anzunehmen, sprach sich der Amerikanische Rat Besorgter Psychiater gegen EMaM aus, »bis weitergehende Tests abgeschlossen« wären. Natürlich waren weitergehende Tests ohne zur Verfügung ge stellte Mittel nicht möglich, und Psychiater und Akademiker, die fürchteten, überflüssig zu werden, falls das Gerät tatsächlich die mit ihm verknüpften Erwartungen erfüllte, blockierten alle Kredite für Forschungsprojekte, die den Enzephalographischen ManifestationsMonitor einsetzten. Das war der Zeitpunkt, als Brain Factory Konkurs machte und sich
auf einen Schnäppchen-Deal mit der Regierung der Vereinigten Staaten einließ. Die Geldspritze ermöglichte Brain Factory die Entwicklung von zwei wirklich heißen Computerspielen. Im Gegenzug erhielten die CIA, SHIELD und die NASA die exklusiven Rechte an der Nutzung des Enzephalographischen ManifestationsMonitors für ›Forschungs- und Ausbildungszwecke‹. Er wusste zwar nicht, wie die CIA oder SHIELD die EMaM-Tech nologie letztendlich eingesetzt hatten, aber der Professor hatte her ausgefunden, dass die NASA die Chance auf den größten wissen schaftlichen Durchbruch in der Geschichte der Hirnforschung durch die Nutzung von EMaM als Unterrichtswerkzeug vertan hatte. Statt die Fähigkeit der Maschine zum Kontrollieren des Verstandes zu nutzen, um die volle Herrschaft über Astronauten und Wissen schaftler der NASA zu erlangen, begnügten sie sich damit, das Gerät wie einen Leitfaden für Simulationen und Trainingsübungen einzu setzen. Der Professor würde sich nicht von den gleichen Einschränkungen behindern lassen. Er hatte die feste Absicht, in den nächsten Mona ten die Möglichkeiten von EMaM an Subject X auszutesten. Es reich te nicht, den Körper des Versuchsobjekts zu verändern. Auch der Verstand musste umstrukturiert werden. Die absolute Herrschaft über Logan war das angestrebte Ziel des Professors. Er wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war. Der Professor wusste, dass der menschliche Körper gewissen Beschränkungen unterworfen war. Er wies Schwachpunkte auf. Knochen – sogar solche, die von Adamantium-Stahl umhüllt waren – waren nur bis zu einem gewissen Grad belastbar. Und auch che misch verbesserte Muskeln und Sehnen konnten immer noch er müden oder versagen. Doch ein Verstand, der auf ein tierisches Bewusstsein reduziert war – ohne Angst, Zweifel und Verlangen, ohne Erinnerung und Gefühle und unberührt von der Furcht vor der eigenen Vernichtung – würde nie ins Wanken geraten. In seiner makellosen Reinheit
würde solch ein Verstand keinen Schmerz, kein Unbehagen, keine Reue verspüren. Das überflüssige Zeug wegbrennen, die oberflächlichen Schichten von Menschlichkeit herunterreißen und das wilde, nicht vernunftbegabte Tier von der Kette lassen, das hinter der zivilisierten Fassade jedes menschli chen Wesens lauerte. Und dann werde ich aus diesem Tier Waffe X formen – das tödlichste Werkzeug des Krieges, das je geschmiedet wurde. Doch im Gegensatz zum Allerhöchsten, der der Menschheit das Leben schenkte, werde ich nicht den Fehler machen, meinem Geschöpf einen frei en Willen zuteil werden zu lassen. Waffe X wird nur ein Werkzeug sein, das alles tut, was ich verlange. Eine Erweiterung des Willens, ja. Meines eigenen.
DREI Der Wachmann
Der Mann zog seinen Lederparka enger um sich, als ein eisiger Windstoß durch die Pinien fuhr. Bei jedem Schritt knirschte der Herbstschnee unter seinen Stiefeln. Kaninchenspuren kreuzten den Pfad, und über ihm krächzte ein Raubvogel, der majestätische Kreise in der dünnen Gebirgsluft zog. Der Weg, den er genommen hatte, endete plötzlich an einer Stelle, wo es zweihundert Meter steil in die Tiefe ging. Das Wasser, das un ten im Canyon durch das Flussbett rauschte, schäumte mit blau-grü ner Gischt, und auf den laublosen, braunen Bäumen lag eine un regelmäßige Schneeschicht. In der Ferne schimmerten die schneebe deckten Gipfel der kanadischen Rockies orange und gelb in der an brechenden Dämmerung. Lange Zeit stand der Mann still am Abgrund und betrachtete den atemberaubenden Ausblick. Seine blauen Augen leuchteten in der Morgensonne, und sein Gesicht war von der kalten Luft gerötet. Zerzaustes blondes Haar schaute unter einer Wollmütze hervor und überdeckte den Mullverband, der über dem fünf Zentimeter langen Riss auf seiner Stirn lag. Zu früh wurde der friedliche Morgen von einem durchdringenden Piepsen gestört. Der Mann griff nach dem Kommunikator, der neben seinem Colt im Holster am Gürtel befestigt war. »Cutler …« »Die Spielpause ist vorbei, Cut. Sie müssen jetzt nach Hause kom men.« Cutler ignorierte den Spott. »Was steht an?«
»Deavers will Sie in seinem Büro sehen – sofort.« »Roger.« »Sieht so aus, als ob der Major einen Auftrag für Sie hat …« Cutler unterbrach die Verbindung und steckte den Kommunikator wieder ein. Er wandte der Morgendämmerung, ohne ihr noch einen letzten Blick zu gönnen, den Rücken zu und machte sich auf den Heimweg, wobei er in seine eigenen Fußstapfen trat. Durch bu schiges Gestrüpp und dichtes Piniengehölz erhaschte er einen Blick auf Stacheldraht und Elektrozäune – die ersten Hinweise auf Zivili sation. Bald darauf war er nah genug, um die gelben Schilder lesen zu können, die alle paar Meter in der Erde steckten: Betreten verboten Danger! Die Schilder waren auf Englisch und Französisch. Auf einigen standen die Warnhinweise sogar in der Sprache der Blackfoot-Sioux, die den größten Teil der einheimischen Bevölkerung dieser Region ausmachte. Keiner durfte sich dieser Anlage nähern. Nur wenige wussten überhaupt von ihrer Existenz. Cutler ging am Zaun entlang, bis er eine Sicherheitstür erreichte, an der er seine Ausweiskarte in ein Lesegerät schob und seine Ge heimnummer über die Tastatur eingab. Über seinem Kopf bestätigte ein Gerät zur Gesichtserkennung seine Identität, während ein Netz hautscanner sein rechtes Auge fotografierte. Zwei Sekunden, drei, und dann hörte Cutler das Piepen. Das Tor öffnete sich. Im Innern der Anlage waren keine Wachtposten zu sehen – nur noch mehr von den Überwachungskameras, Röntgensensoren und Magnetscannern. Als Cutler über den gefrorenen Boden ging, stieg ihm plötzlich der Geruch nach Tier aus den Pferchen in die Nase. Er hörte auch Schnauben und Gegrunze. Gott sei Dank hatten die Wöl fe, bald nachdem die Sonne aufgegangen war, ihr Geheul eingestellt. Er ging hinter den dicht stehenden Hundehütten und Käfigen aus Stahl vorbei und wandte sich dann in Richtung eines modernen Ge
bäudes aus Glas und Stahl, das auf einer kleinen Anhöhe stand. Über dem dreistöckigen Gebäude ragten kegelförmige Mikrowellen türme und Reihen von Satellitenantennen auf. Unter dem Gebäude gab es noch fünf Stockwerke voller stahlverkleideter Tunnel, Labo ratorien, Arbeitsräume und Lagerräume – sowie eine mäßig große Adamantium-Schmelzanlage im untersten Stockwerk. Das unter irdische Labyrinth war aus dem massiven Granitgestein herausge bohrt worden und erstreckte sich über den Grundriss des täuschend klein erscheinenden Gebäudes an der Oberfläche hinaus. Die Anlage war so groß, dass sie über einen eigenen Atomreaktor verfügte, der ihren Energiebedarf deckte. Als Cutler durch die Doppeltür aus Glas trat, wurde er von zwei bewaffneten Sicherheitskräften in die Mitte genommen – dieselben Männer, die er jeden Tag sah. Im Rahmen des planmäßigen Si cherheitsprotokolls überprüften sie seinen Ausweis und scannten seine Fingerabdrücke. »Haben Sie Ihren Morgenspaziergang gemacht?«, fragte einer der Wachtposten. Cutler nickte. »Bestimmt hat der Naturbursche Gedichte geschrieben. Sonnen schein, violette Erhabenheit der Berge und dieser ganze Mist«, sagte der andere. Sein Tonfall war nicht so freundlich. »Ich frage mich, wie Leute wie Cutler überhaupt an eine Klasse-Eins-Genehmigung kommen.« »Genau wie Sie, Gulford. Ich habe bei einem Wettbewerb ge wonnen.« Ein wenig später trat Cutler in Major Deavers spartanisch ein gerichtetes Büro. Der Major saß mit dem Rücken zu ihm an seinem Computer. Doch als er ihn hörte, drehte er sich herum und winkte ihn brüsk zu einem gepolsterten Stuhl. Ein ernster Ausdruck lag auf seinem Gesicht. »Ich stehe lieber«, sagte Cutler. Trotz der unterschiedlichen Dienstgrade salutierte keiner der
beiden Männer. Genau genommen gehörten sie nicht mehr den Ca nadian Defense Forces an, weshalb solche Formalitäten auch nicht erforderlich waren. »Von heute Morgen an sind Sie der Sicherheitschef«, erklärte Dea vers ihm. »Um 0830 wird Subject X aus der Zelle im Stockwerk drei ins Hauptlabor verlegt.« Cutler fluchte stumm. »Die Versuchsperson ist ruhig gestellt und für den Transport vor bereitet«, fuhr der Major fort. »Die Antikontaminationsvorschriften sind zu beachten, also tragen Sie bitte Ihren Schutzanzug. Wegen einer Waffe brauchen Sie sich keine Gedanken zu machen – Subject X ist außer Gefecht gesetzt, und Schusswaffen machen die Docs ner vös.« Deavers stand auf. Der Mann war zehn Jahre älter als Cutler und auch einen Kopf größer. Sein schwarzes Haar war weiß gesprenkelt und kurz geschoren. Das Gesicht glatt wie ein Babypopo. Sogar sein khakifarbener Overall – die vorgeschriebene Kleidung im Innern der Anlage – schien frisch gebügelt. »Und machen Sie sich ein bisschen frisch, klar, Cutler? Rasieren, kämmen, duschen. Der Professor wird heute im Labor sein und er mag es, wenn seine Leute ordentlich aussehen.« Schon im Gehen wandte sich Cutler noch einmal um. »Noch eine Sache«, sagte er. »Warum muss ich den Neuen ein arbeiten? Ich bin kein Fremdenführer.« »Weil niemand sonst dafür verfügbar ist«, erwiderte Deavers. »Die meisten Mitarbeiter sind ins Experiment eingebunden. Der Professor hat doppelte Sicherheitsvorkehrungen für den Rest des Tages ange ordnet, und Erdman ist wegen der Auseinandersetzung letzte Nacht auf dem Parkplatz immer noch im Krankenhaus …« »Ließ sich nicht ändern, Sir.« »… und Hill ist gestern Abend abtransportiert worden. Ist von einem Puma, der aus seinem Käfig ausgebrochen war, aufgeschlitzt
worden. Die Ärzte sagen, seine Überlebenschance beträgt fünfzig zu fünfzig. Aber egal, wie es ausgeht – er wird nicht so schnell wieder da sein.« Cutler sah ihn erstaunt an. »Das wusste ich nicht.« »Hören Sie«, sagte Deavers. »Agent Franks ist wirklich ein schlau er Bursche. Sie werden ihn mögen. Er ist nett und eifrig. Einer, der sich immer freiwillig anbietet. Rice hat ihn gerade in die Daten wiederherstellung und die Sicherheitsprotokolle eingewiesen, und Franks hat sich dabei gar nicht mal dumm angestellt. Zeigen Sie ihm alles, und er wird Ihnen viel abnehmen.« »Ist das alles, Sir?« »Nein. Halten Sie mir den Neuen vom Leib. Ich kann diese Pfad findertypen nicht ausstehen. Ich hab zu viel um die Ohren, um bei so einem den Babysitter zu spielen.« »Jawohl, Sir. Das ist mein Job.« Deavers kehrte Cutler den Rücken und wandte sich wieder dem Computer zu. »Hauen Sie ab!«, bellte er, ohne auch nur noch einmal in Cutlers Richtung zu schauen. Nachdem er so entlassen war, nahm Cutler eine Dusche, rasierte sich und traf sich mit Agent Franks im Bereitschaftsraum. Der Typ hatte ein jungenhaftes Gesicht und große, braune Augen. Unauffäl lig musterte er die Schnitte und Schürfwunden auf Cutlers Gesicht. Während sie sich umzogen, bombardierte Franks Cutler mit Fragen. »Stimmt es, dass der Typ, den ich ersetze, von einem Grizzly zerfleischt worden ist?« »Keine Sorge«, erwiderte Cutler mit einem leichten Lächeln. »Das ist ein paar Wochen her, bevor alle Fehler aus dem Programm, das die Tiere überwacht, ausgemerzt worden sind. Jetzt haben wir professionelle Leute für die Tiere eingestellt, sodass wir uns nicht mehr selbst um die Bären kümmern müssen …« »Gott sei Dank.«
»… nur noch um die großen Katzen.« »Katzen?« Cutlers Grinsen wurde breiter. »Sie wissen schon … Löwen. Tiger. Leoparden … Katzen halt.« »Katzen? Bären? Wer braucht denn all diese wilden Tiere und wo für?« Cutlers Grinsen verschwand. »Das werden Sie schon noch früh genug herausfinden.« Es vergingen mehrere Minuten, ohne dass einer etwas sagte, wäh rend die Männer ihre komplizierten Schutzanzüge anlegten. »Ist hier eine hohe Fluktuation?«, fragte Franks schließlich, als er seinen Helm hochhob und den Kommunikator ausprobierte. »Sie kommen und gehen«, antwortete Cutler. »Diese Anlage ist erst vor einem Jahr ihrer Bestimmung übergeben worden und die Forschung, die hier betrieben wird … tja, sagen wir mal, die wechselt immer mal die Richtung. Und wie ich vorhin schon erwähnt habe – es sind noch eine ganze Menge Fehler auszu merzen.« Franks wies auf Cutlers Verletzungen. »Und welcher ›Fehler‹ ist dafür verantwortlich?«
Vom ersten Moment an, als Cutler und seine Leute Logan hereinge bracht hatten, waren Beschwerden über den Zustand der ›Ver suchsperson‹ gekommen. Doch wegen Erdman schien sich keiner Gedanken zu machen. Er spuckte ja auch nur Blut, weil eine gebro chene Rippe seine Lunge durchbohrt hatte. Cutler und Hill hatten den bewusstlosen Logan kaum in den Glas behälter gelegt, als sich auch schon die Techniker auf ihn stürzten. Ein Mann, der einen Arztkittel trug, rasierte die Versuchsperson, während eine widerlich stinkende, antibakterielle Flüssigkeit in den Dekontaminationsbehälter gepumpt wurde. Dann begannen die
Ärzte mit den vorbereitenden Untersuchungen. Der Chefarzt schien am ärgerlichsten zu sein. »Scheint so, als wä ren Ihre Jungs ein bisschen zu enthusiastisch zu Werke gegangen«, meinte Dr. Hendry und wies erbost auf den geschwollenen Kiefer und die Abschürfungen am Hals der Versuchsperson. Er biss die Zähne wütend zusammen. Major Deavers nickte. »Er hat Widerstand geleistet, als meine Männer ihn gestern Abend hergebracht haben.« »Und da hielten Ihre Schläger es für angebracht, ihn so übel zuzu richten, oder was, Major?« Cutler, der gerade von der Krankenstation zurück war, wo man den Schnitt an seiner Stirn genäht hatte, knirschte mit den Zähnen, während er eine obszöne Bemerkung unterdrückte. »Sie mussten ihn ein bisschen fester anfassen«, erklärte Deavers und schaute dabei nicht einmal in Cutlers Richtung. Cutler drehte sich um und verließ das Labor. Es war schon schlimm genug, dass Hendry und Deavers es für richtig hielten, über ihn zu reden, als wäre er gar nicht da, als wäre er eins von den Versuchstieren, das nicht in der Lage war, einer menschlichen Un terhaltung zu folgen – obwohl er an diese Art der Behandlung eigentlich mittlerweile gewöhnt sein müsste, insbesondere von den studierten Typen, die sich in der ganzen Anlage tummelten. Aber er würde den Teufel tun und einfach stehen bleiben, während Hendry ihn einen Schläger nannte. Ich bin ein Profi, genau wie alle anderen in dieser verdammten Einrich tung. Seine militärische Ausbildung hatte mehr als zehn Jahre gedauert, und er war einer der wenigen Berufssoldaten, die sowohl mit Ge heimdienstoperationen als auch mit unkonventioneller Kriegsfüh rung vertraut waren und Erfahrung in Spezial- und in Feldeinsätzen hatten. Als ehemaliger Angehöriger von Kanadas Joint Task Force Two hatte Cutlers Militär- und Antiterrorausbildung länger gedau ert und war umfassender gewesen als der abgedroschene Unterricht
dieser intellektuellen Eierköpfe, die einen ganzen Schwanz von Titeln hinter sich herschleppten und in den Laboren von Abschnitt K, in den Cafeterias und den Schlafsälen herumliefen. Und Cutler wäre jede Wette eingegangen, dass auch sein Fachwissen wertvoller war. Besonders jetzt. Hendry und seine Quacksalberkollegen hätten ›Subject X‹ ja noch nicht einmal hier, wenn Erdman, Hill und ich nicht unseren Hals riskiert hät ten, um ihn herzubringen. Ich hätte gern mal gesehen, wie Dr. Hendry versucht, einen wie Logan mitzunehmen, ohne der kostbaren Versuchsper son dabei ein Haar zu krümmen. Um ehrlich zu sein – Erdman und Hill hatten ihm mehr als nur ein Haar gekrümmt. Sie hatten ihn fast umgebracht. Cutler berührte sei nen Stirnverband und fragte sich, wie ein ganz normaler Routine einsatz so in die Hose hatte gehen können …
An sich eine einfache Aktion: Einpacken und Mitnehmen. »Lehr buchkram«, hatte der Major es genannt. Drei Agents angesetzt auf eine einzelne Zielperson. »Schnappt ihn euch, packt ihn ein und bringt ihn her – ohne dass irgend so ein verdammter Zivilist euch dabei sieht«, hatte er gesagt. Sie hatten Logan am gestrigen Abend vor einer von der Kirche ge führten Spelunke am Stadtrand eingeholt. Sie waren ihm bis zu einer Kneipe im Ort gefolgt und hatten darin gewartet, während ihr Mann mindestens fünf Whiskys innerhalb einer Stunde herunter schüttete. Ein anderer hätte sich schon längst eine Alkoholvergiftung geholt – wenn er nicht schon vorher sturzbetrunken vom Hocker gefallen wäre. Cutler war beeindruckt gewesen, als Logan, ohne auch nur einmal zu schwanken, aufrecht über den vereisten Parkplatz ge gangen war. Als Logan in sein Auto kletterte, waren sie zur Tat geschritten. Hill hielt die Betäubungspistole. Erdman und Cutler sollten ihn sich
greifen und festhalten. Es war Hill, der das Ganze vermasselte, in dem er ihrer Zielperson ihre Anwesenheit verriet, indem er dessen Namen rief. »Mr. Logan …« Hill sagte später, als er Major Deavers Bericht erstattete, dass er einen ungehinderten Schuss hatte abgeben wollen. Du hast vielleicht, sagen wir, anderthalb Meter entfernt gestanden, dachte Cutler voller Abscheu. Was hast du denn noch für einen unge hinderten Schuss gebraucht? Logan hatte hinter dem Steuer seines Kabrios gesessen und genau in dem Moment aufgeschaut, als Hill auf den Abzug drückte. Der Pfeil traf ihn an der Schulter, als er versuchte hochzukommen. Einen Augenblick später versagten ihm die Beine und er kippte aus dem Sitz. Erdman fing Logan auf, ehe dieser auf den Asphalt knallte, dann stöhnte er unter dem Gewicht des Mannes. »Helft mir! Für so einen kleinen Mann ist er wirklich schwer.« Plötzlich öffneten sich Logans Augen und er schlug um sich. Der Hieb ließ Erdman mit zwei gebrochenen Rippen zurücktaumeln. Als er zu Boden stürzte, knallte sein Kopf auf die Erde. Mit einem Schrei stieß Logan Hill aus dem Weg, um Erdman an die Kehle zu springen. Während er auf den hilflosen Mann ein schlug, rollte sich Erdman zusammen, um die empfindlichen Organe zu schützen. »Holt ihn runter!«, brüllte er, wenn er nicht gerade schmerzerfüllt hustete. Cutler packte Logan am Haar und riss seinen Kopf zurück, sodass seine Kehle frei lag. Ein Kinnhaken und ein weiterer Hieb in die Magengrube vertrieben einen Teil des Kampfgeistes aus ihrem Ziel objekt. Als Logan zusammenklappte, beugte Cutler sich mit erhobenen Fäusten über ihn und wartete auf einen Gegenangriff oder darauf, dass das Betäubungsmittel endlich wirkte.
Er dachte, er wäre auf der Hut, doch Cutler sah den Hieb, der ihn schließlich erwischte, gar nicht kommen – er merkte nur, wie etwas in seinem Kopf explodierte und sein Blut Flecken im Schnee hinter ließ. Als Cutler zu Boden ging, kam Erdman fluchend und spuckend wieder hoch. Er sprang auf Logans Rücken und schlang seine mächtigen Arme um den Hals des Mannes. Während er die Zähne zusammenbiss, drückte Erdman zu. »Hast du ihn denn nicht mit dieser blöden Betäubungspistole ge troffen?«, knurrte er Hill zwischen zusammengepressten blutigen Lippen an. »Natürlich hab ich ihn getroffen!«, schrie Hill. »Aus kürzester Ent fernung.« Cutler kam schwankend hoch. Durch einen blutigen Nebel konnte er erkennen, dass Logan schwächer wurde – entweder durch das Be täubungsmittel oder durch Erdmans Würgegriff. Obwohl Logan schon ganz blau im Gesicht war, kämpfte er immer noch verbissen weiter. Hill hob die Betäubungspistole. Doch statt sie nachzuladen, drehte er sie um, nahm den Lauf in die Hand und schlug mit der Pistole auf den am Boden zappelnden Mann ein. »Halt!«, brüllte Cutler. »Tot ist er nutzlos.« Aber Hill war bis oben voll mit Adrenalin – er war viel zu aufge putscht, um jetzt noch aufzuhören. Er schlug wieder auf Logan ein, und der Kopf des Mannes sackte zur Seite. »Das wird dem Major nicht gefallen«, keuchte Erdman. »Er sagte, keine Körperverletzung.« »Klar«, sagte Hill. »Aber der Major hat uns nicht erzählt, was für ein zäher Mistkerl das hier sein würde!« Hill holte mit der Faust aus, doch Cutler blockte ihn ab. »Genug, Hill. Er ist hinüber.« Logan glitt auf den eisigen Boden. Er rührte sich nicht mehr.
Cutler steckte die blutbesudelte Betäubungspistole ein und wisch te sich das Blut aus den Augen. Er musterte seine Partner. Erdman war weiß wie ein Gespenst und hielt sich die Seiten, während in sei nen keuchenden Atemzügen ein Gurgeln zu hören war. Hill war vom Kampf immer noch voll nervöser Anspannung, sein Körper zuckte vor geballter Energie. Cutler versuchte ihn zu beruhigen. »Lasst uns Logan in den Van schaffen, ehe uns noch jemand sieht und nachschauen kommt.« Er und Hill trugen den erschlafften Körper zum wartenden Van. Erdman humpelte neben ihnen her und blieb immer wieder stehen, um Blut und Speichel auszuspucken. Als Erdman sprach, war seine schwache Stimme nur ein schmatzendes Keuchen. »Der hier … pass auf ihn auf, Cut … Er be deutet Ärger … Der ist viel zäher, als er aussieht. Das ist ein ganz gemeiner Mistkerl.«
»Machen wir die Anzüge druckfest«, sagte Cutler und tippte auf das Bedienfeld an seinem Handgelenk. »Sie zuerst, Franks.« Cutlers Stimme dröhnte laut im Helm des anderen Mannes, und Franks stellte die Lautstärke ein. Dann drückte er auf das Bedienfeld an seinem Handgelenk, bis winzige rote Zahlen erschienen, die von Zehn abwärts liefen. Bei Null hörte Franks ein lautes Zischen und in seinen Ohren knallte es. Der Schutzanzug schloss sich eng um seine Taille, Achseln und Schultern, als die Nahtstellen vakuumversiegelt wurden. Die Welle klaustrophobischer, erstickender Panik ging schnell vorbei, als sich das Beatmungssystem einschaltete und küh le, frische Luft seinen Helm füllte. Ehe er sich in Bewegung setzte, wartete Franks geduldig einen zweiten Countdown ab, der die In tegrität des Anzugs bestätigte. »Versiegelt«, verkündete er, als ein Lämpchen grün aufleuchtete.
Cutler versiegelte seinen eigenen Anzug, dann traten beide Männer durch eine Mylar-Quarantäneabsperrung in eine mit Ada mantium ausgekleidete Zelle. Cutler stellte Franks Subject X vor. Logan, der mit seinem frisch geschorenen Kopf kaum wiederzuer kennen war, schwamm in einer sumpfgrünen chemischen Lösung hinter den durchsichtigen Wänden des Behälters. Eine Sauerstoff maske bedeckte sein Gesicht, intravenöse Schläuche schlängelten sich an beiden Armen entlang. Sein Kopf war nicht der einzige ra sierte Körperteil – er hatte kein einziges Haar mehr am ganzen Leib. Haarfollikel waren durch hunderte von Sonden ersetzt worden, die wie Igelstacheln aus Logans Armen, Beinen, Rumpf, Kehle und Lende ragten. Lange Kupfernadeln staken neben den zugeklebten Augen in den Augenwinkeln. Noch mehr Stacheln bohrten sich in Ohren, Nase und durch Löcher, die man in Schläfen und Schädelansatz gebohrt hatte, sogar in sein Gehirn. »Mensch, der sieht ja wie ein gottverdammtes Nadelkissen aus«, meinte Franks, während er um den Behälter herumging. »Wer zum Teufel ist das eigentlich?« Cutler zögerte einen kurzen Moment. »Ein Freiwilliger«, sagte er. Franks musterte die Gestalt, die im Behälter auf und ab zuckte, dann schüttelte er den Kopf. »Es gibt auf der ganzen Welt nicht genug Geld, als dass ich mich freiwillig auf so einen Scheiß einlassen würde.« »Vielleicht hat er es nicht für Geld getan.« »Sie haben Recht«, sagte Franks. »Dieser Typ ist wahrscheinlich Soldat, genau wie wir. Vielleicht ist er ein Held oder so was – ein Astronaut vielleicht. Auf mich wirkt er wie ein Bodybuilder. Sehen Sie sich nur diese Arme und diese Brust an. Der Typ sieht wirklich zäh aus. Ein verdammter Gorilla auf Steroiden …« Auf Cutler wirkte Subject X jetzt kleiner als letzte Nacht auf dem Parkplatz. Und auch viel weniger Furcht einflößend.
Als Franks den Raum durchquerte, bemerkte er ein Team von Technikern in Laborkitteln, die durch ein Plexiglasfenster von oben all ihre Schritte beobachteten. »Wir sollen diesen Typen verlegen, nicht wahr?«, fragte Franks, während er versuchte, das Publikum zu ignorieren. »Wie wollen wir ihn denn aus diesem blöden Behälter herausholen?« »Einen was?« Cutler öffnete eine Tür in der Wand und präsentierte ihm ein rostfreies Stahlgefährt, das einem mit Waffen bestückten Golfwagen ähnelte. Der Servomotor surrte, als Cutler den Plattformwagen aus der Ladeeinheit zum blubbernden Behälter lenkte. Es dauerte mehrere Minuten, um Franks zu zeigen, wie der Platt formwagen zu bedienen war und wo die einzelnen Bestandteile des Lebenserhaltungssystems während des Transports einzustecken waren. »Ich merke, dass Sie das schon früher gemacht haben«, sagte Franks. Cutler nickte. »Unser Held hier ist also nicht der erste Freiwillige. Es gab andere …« Franks fischte im Trüben. Cutler biss nicht an. Erst wollte er den Typen besser kennen lernen, bis er ihm vertrauen konnte, dass er nicht alles ausquatschen würde. »Er ist der erste Mensch«, sagte Cutler. Franks grinste. »Das Geheimnis ist gelüftet … Das ist der Grund für all die wilden Tiere hier.« »Es reicht, Franks. Wir haben was zu erledigen.« Unter Cutlers Aufsicht fuhr Franks den Plattformwagen rückwärts unter den Behälter und aktivierte die elektromagnetischen Klammern, die ihn nicht mehr loslassen würden. Der Plattform wagen ächzte unter dem Gewicht des Behälters. Als das Fahrzeug auf den Ausgang zurumpelte, schwappte die Flüssigkeit im kris
tallenen Sarg hoch, und die Versuchsperson stieß gegen die durch sichtigen Wände. Cutler warf einen Blick auf die Digitalanzeige des Plattform wagens und stellte voller Befriedigung fest, dass die Lebens erhaltungssysteme normal arbeiteten. Dann sah er auf seine Uhr. »Ich habe zwanzig Minuten, um Subject X nach unten ins Hauptla bor zu bringen. Wir werden uns also später sehen, Franks.« »Kann ich nicht mitkommen? Wo gehen Sie hin?« »Das fällt unter die erweiterten Sicherheitsbestimmungen, über die Sie nicht verfügen. Ihre Sicherheitsgenehmigung endete beim Fahr stuhl, also kehren Sie um und folgen Sie den gelben Markierungen zurück in den Umkleideraum. Öffnen Sie keine anderen Türen. Das wäre sonst eine Verletzung der Sicherheitsprotokolle, und das wollen Sie bestimmt nicht an Ihrem ersten Tag – das macht einen schlechten Eindruck.« »Nein, Sir … will sagen, ja, Sir …« Franks wandte sich ab, um zu gehen, während eine kindliche Enttäuschung auf seinem Gesicht zu sehen war. »He, Franks. Wenn Sie sich langweilen, gehen Sie zu Major Dea vers. Bestimmt findet er was, was so ein Pfadfindertyp wie Sie ma chen kann.«
Das Hauptlabor lag ein Stockwerk über der AdamantiumSchmelzanlage in einem Gebäudeabschnitt, der fast so groß wie ein Flugzeughangar war. Normalerweise wurde nur ein kleiner Teil des großen Raumes genutzt, während der Rest dunkel war. Doch als sich die Fahrstuhltüren öffneten, wunderte sich Cutler, als er fest stellte, dass der ganze riesige Raum hell erleuchtet war. Im ge samten Labor herrschte eine hektische Betriebsamkeit wie in einem Bienenstock. Blinkende rote Lampen stachen Cutler in die Augen, als er aus
dem Fahrstuhl trat. Warnung. Zone unter Quarantäne. Bei Rotlicht alarm war es Vorschrift, dass Schutzanzüge versiegelt und vakuum dicht waren, ehe jemand vom Personal den Bereich betreten durfte. Cutler war startklar. Er trat in eine wahre Kathedrale, die mit Stahl ausgekleidet war und deren hohe Decke sich über ihm wölbte – der Raum war aus dem gewachsenen Fels herausgeschlagen worden. Mindestens fünf zig Ärzte, medizinische Assistenten, Computertechniker und ver schiedene Spezialisten, die alle die gleichen Schutzanzüge wie Cut ler trugen, tummelten sich um einen gewaltigen Behälter in der Mit te des Raumes. Der Behälter war noch leer, aber es war leicht zu erraten, wer der Ehrengast sein würde. Cutler gab Logan das Geleit und lenkte den Plattformwagen in die Mitte des Labors. Als die Mitglieder des Ärzteteams ihn sahen, stürzten sie sich wie Fans, die einen Pro minenten auf dem roten Teppich verfolgen, auf ihn. Cutler hatte seine Aufgabe als Eskorte erfüllt und wurde beiseite gedrängt. Die härtesten Ellbogen setzte dabei sein Lieblingswissen schaftler ein – Dr. Hendry, derselbe, der ihn als Schläger bezeichnet hatte und sich über Logans Zustand beschwert hatte, als sie ihn ge bracht hatten. In seiner Eile, den Zustand der Versuchsperson auf der Anzeige zu überprüfen, drang Hendrys Stimme ganz schrill durch den Kopf hörer. »Herzfrequenz, normal … Atmung ist normal … Blutdruck ist normal. Okay, Leute, lasst ihn uns zum Behälter schaffen … subi to.« Ein Team von Technikern rollte den Plattformwagen zu dem Ende des Mammutbehälters, wo sich eine wasserdichte Luke befand. Mit Hilfe eines Schleusenkanals aus Plexiglas verband das Ärzteteam den kleineren mit dem größeren Behälter. Schließlich wurde eine blubbernde grüne, biologische Brühe in den größeren Tank gepumpt. Nach ein paar Minuten war der Flüssigkeitsstand in beiden Behältnissen gleich. Als sich die Flüssig
keiten vermischten, ließen die Techniker Logan buchstäblich aus sei nem ursprünglichen Behälter in den größeren Tank fließen. Ein Spezialist quetschte sich durch eine Luke – eine saubere Leis tung, wenn man einen Schutzanzug trug – und platschte im Behälter neben dem bewusstlosen Mann. Als Erstes verband er Logans intravenöse Schläuche und das Beat mungsgerät mit dem in den größeren Behälter eingebauten System. Dann überprüfte er mit Hilfe eines tragbaren Sensorgerätes den Zu stand jeder einzelnen der hundert oder mehr Sonden, die sich in den Körper der Versuchsperson bohrten. Der Vorgang dauerte viele Mi nuten lang. Mehrere Sonden wurden markiert und dann von einem anderen Spezialisten, der sich auch in den Tank hineingequetscht hatte, ersetzt. Schließlich signalisierten sie den Ärzten, dass sie fertig waren, und kletterten wieder heraus. Die Luken wurden hinter ihnen versiegelt, und dann noch mehr von der sprudelnden grünen Flüssigkeit in den Behälter gepumpt, bis er fast bis zum Rand gefüllt war. Wäh rend die beiden Techniker auf den Umkleideraum zugingen, flitzten kleine Roboter über den polierten Metallboden und reinigten die Schmutzspur aus Chemikalien, die sie hinter sich ließen. Reihen von Computerterminals drängten sich um den riesigen Tank und summten und tickten, während ihre Systeme damit be gannen, Verbindung mit den Sonden in Logans Körper herzustellen. Plötzlich wurden die Konsolen mit Energie versorgt, und über die Monitore begannen endlose, verschlüsselte Datenströme zu laufen. Unbemerkt bewegte sich Cutler zwischen den Ärzten, Technikern und Spezialisten, als er ein paar neue Gesichter hinter der Scheibe eines Beobachtungsraumes erspähte – eine Art freischwebende Gon del, zu der Stege hinaufführten, und die in der Mitte des Labors von der hohen Decke herunterhing. Hinter der Scheibe stand ein kleiner, stämmiger Mann in mittleren Jahren mit braunem Vollbart, der durch eine dicke Brille mit wachen Augen die ›Umbettung‹ verfolgte. Seine Hände steckten tief in den
Taschen eines fleckigen Ärztekittels. Aus der Ferne las Cutler den Namen auf seinem Schildchen, das gleichzeitig die Zugangsbe rechtigung war: Dr. Abraham B. Cornelius. Der Name kam ihm bekannt vor, aber Cutler – der förmlich süchtig nach Nachrichten war – konnte ihn einfach nicht einordnen. Neben dem Mann stand eine zierliche junge Frau, die einen hell grünen Kittel trug. Obwohl sie farblos wirkte, konnte Cutler sogar aus dieser Entfernung erkennen, dass sie intelligent und eifrig war. Oder eher zwanghaft getrieben, wie die meisten intellektuellen Eierköpfe hier. Während sie auf die Tasten eines kleinen Handheld drückte, warf die Frau eine Strähne ihres glatten, braunen Haares mit einer unge duldigen Bewegung aus ihrem zarten Gesicht. Jawohl. Zwanghaft getrieben, befand Cutler. Er wandte seine Aufmerksamkeit der Decke zu, von der gerade ein zwei Tonnen schwerer Metalldeckel voll geheimnisvoller tech nologischer Errungenschaften an kräftigen Stahlketten herunterge lassen wurde. Als die schwere Abdeckung einrastete, kletterten Techniker hinauf und schlossen noch mehr Röhren, Schläuche und Sensoren an. »Der Behälter wird in fünf Sekunden versiegelt«, verkündete eine körperlose Stimme. »Vier … drei … zwei …« Mit einem lauten Zischen, das im ganzen Saal widerhallte, wurde die luftdichte Versiegelung aktiviert. »Behälter versiegelt und druckfest gemacht«, erklärte die Compu terstimme. »Luft wird abgesogen …« Der Luftzug, der entstand, als die Atmosphäre aus dem Hauptla bor abgezogen und durch saubere, gefilterte Luft ersetzt wurde, ließ Papiere durch die Gegend flattern und die Anwesenden taumeln. Die abgesaugte Luft wurde in Tanks eingeschlossen, um sie gemäß den Bestimmungen der Naturschutzbehörde zu entsorgen. Nach ein paar Minuten schalteten die blinkenden, roten Lichter
auf grün. Wieder ertönte die Stimme: »Hauptlabor dekontaminiert. Schutzanzüge dürfen geöffnet werden.« Sofort lösten alle ihre Druckverschlüsse und nahmen die Helme ab. Viele begannen sich auch der gesamten Schutzkleidung zu entle digen. Unter Seufzern der Erleichterung und festlich gestimmtem Gelächter atmete man die kühle, frische Luft ein, wischte sich den Schweiß von der Stirn oder kratzte sich an Stellen, die schon die ganze Zeit gejuckt hatten. Auch Cutler nahm Helm und Handschuhe ab und warf beides auf ein Förderband. Andere taten das Gleiche. Das Band transportierte die Sachen zu einem Aufzug, über den die kontaminierten Klei dungsstücke in einen Entkeimungsraum in einem anderen Stock werk befördert wurden. Dann rief Dr. Hendry seinen Leuten eine Ankündigung zu. »Ach tung, Gentlemen. Der Professor kommt.« Cutler hatte den berühmten Professor nie von Nahem gesehen – immer nur aus der Ferne. Neugierig drehte er sich um und beobach tete, wie der Professor ins Labor glitt. Dr. Cornelius und die unbe kannte Frau hatten ihre Kabine bereits verlassen und sich unten zu den anderen gestellt. Nun verfolgten auch sie, wie der Herr der Anlage, das Genie hinter diesem Experiment, auf sie zukam. »Wie geht es dem Patienten?«, fragte der Professor. »Man sagte mir, er hätte ein paar Verletzungen«, erwiderte Dr. Hendry stockend in ehrerbietigem Ton. »Ist er schwer beschädigt?« Hendry schüttelte den Kopf. »Kein bisschen.« »Irgendwelche tiefen Schnitte? Hautabschürfungen … Eine Leckage können wir uns nicht leisten.« »Ich verstehe«, sagte Hendry und nickte. »Wir haben ihn ziemlich gründlich zugestöpselt. Teflonpflaster um alle Sonden, Versiegelung sämtlicher Wunden. Alle Körperöffnungen der Versuchsperson – Mund, Nasenlöcher, Ohren und Anus – wurden chirurgisch ver
siegelt, und ein Katheder versperrt seine Harnwege.« Abrupt wandte sich der Professor an einen anderen. »Guten Morgen, Dr. Cornelius. Sind wir so weit, um zu beginnen?« Während die beiden sich unterhielten, merkte Cutler, dass der Professor Dr. Cornelius mit einem gewissen Respekt behandelte – eine Form der Achtung, die er offensichtlich nur ein paar wenigen vorbehielt. Dr. Hendry war einer davon. Dieser Dr. Cornelius kam nun anscheinend in den Genuss der gleichen Behandlung, was Cut ler sowohl überraschte als auch beeindruckte. Als die Unterhaltung in mehr technisches Kauderwelsch abdrifte te, richtete sich Cutlers Aufmerksamkeit auf die Frau. Sie lauschte mit verzückter Aufmerksamkeit dem Gespräch der beiden Eier köpfe, als wäre es das gesprochene Wort Gottes. Cutler scharrte mit den Füßen, damit sie ihn bemerkte, und die Frau richtete ihre waldgrünen Augen auf ihn. Er fing ihren Blick auf, nickte ihr freundlich zu und schenkte ihr ein leichtes Lächeln. Doch er musste überrascht feststellen, dass die Frau direkt durch ihn hindurch zu blicken schien, als wäre er gar nicht da. Etwas an ihrem unverwandten, fast schon leeren Blick bereitete ihm Unbe hagen. Schließlich entließ der Professor den größten Teil des Teams. »Jeder, der keinen Anteil an dieser Phase des Experiments hat, verlässt das Labor umgehend«, befahl er. Der größte Teil der Menge bewegte sich zügig auf den Fahrstuhl zu. Cutler schloss sich den Gehenden an. Während er mit den anderen nach draußen drängte, fragte er sich unwillkürlich, was der Professor und die restlichen dieser verrück ten Wissenschaftler noch mit dem armen Schwein, das in diesem Tank schwamm, vorhatten.
VIER Der Flüchtige
Jemand beobachtet mich. Ich kann den Blick spüren. Neugierig. Durch dringend … Viele Minuten lang unterdrückte Dr. Abraham B. Cornelius den Drang, sich die Stirn abzuwischen, auf der eine ganz dünne Schweißschicht lag. Genau wie auf den Stufen des Gerichts … alle diese Kameras, die auf mich gerichtet waren … die Reporter, die mich mit Fragen bombardierten … Es wurde noch feuchter. Dr. Cornelius konnte die Feuchtigkeit in seinem karamellbraunen Bart, seinem Schnurrbart, seinen Augen brauen spüren. Und am allerschlimmsten – seine Stirn war jetzt schweißnass. Deutlich zu erkennende Schweißperlen. Ist es das, was sie anstarren? Oder denken sie das Gleiche wie die Leute im Gericht, die auf ihn gezeigt und geflüstert hatten: »Das ist er. Der da. Cornelius, dieser Arzt, der seine Frau und sein Kind umgebracht hat.« Dr. Cornelius konnte es kaum mehr ertragen. Er fischte ein Ta schentuch heraus, das er immer dabei hatte – das Taschentuch, das seine Frau mit einem kleinen C in der Ecke bestickt hatte. Während er so tat, als ob seine Brille geputzt werden müsste, widmete er sich mit Feuereifer der Reinigung der Gläser, die so dick wie Flaschen böden waren, um sich dann beiläufig den Schweiß abzuwischen. Damals lagen auch Blicke auf mir. Ich konnte sie spüren. Genauso, wie ich sie jetzt spüre. Aber vielleicht stellen sie auch nur Spekulationen an. Vielleicht wissen sie nichts. Oder wenn, dann zumindest nicht alles … Cornelius steckte die Hände wieder tief in die Taschen seines zer
knitterten, weißen Laborkittels, nachdem er sein kostbares Taschen tuch verstaut hatte, und musterte dann die Gesichter der Männer und Frauen, die mit ihm zusammen in der Beobachtungskabine waren. Wer von diesen Leuten starrt mich an? Oder sehen sie mich alle an? Ich muss es wissen … Zu seiner Linken stand Carol Hines. Kein Dr. med. vor ihrem Namen oder sonst ein Titel. Doch nachdem er die hektische Ge schwindigkeit beobachtet hatte, mit der sie die letzten paar Tage ge arbeitet hatte, konnte Cornelius nur davon ausgehen, dass ihr Fach wissen für den Erfolg des Experiments sehr wichtig war. Die zierliche Ms. Hines hatte ein kleines Gesicht und trug ihr Haar in einer strengen, fast jungenhaften Fasson mit dicken, glatten Pony fransen. Man hätte sie wohl als attraktiv bezeichnen können, wenn ihr Gesicht nicht ständig zu einer ungeduldigen, unzufriedenen Miene verzogen gewesen wäre. Sie hatte nichts mit seiner großen, schlanken Frau gemein, die auch eine engagierte Wissenschaftlerin gewesen war, aber immer gern gelacht und deren Gesicht, auch wenn sie konzentriert arbeitete, immer Heiterkeit, Freude, ja sogar Vergnügen ausgestrahlt hatte. In diesem Moment waren Ms. Hines' durchdringend grüne Augen nicht auf ihn gerichtet, sondern hingen an dem großen Flüssigkris talldisplay eines Handhelds. Ohne auch nur einmal zu blinzeln, be diente sie die Tastatur mit roboterhafter Effizienz, wobei auf ihrem Gesicht ein aufgeregter Ausdruck lag. Als Dr. Cornelius Ms. Hines vor ein paar Tagen vorgestellt worden war, hatte sie ihn nur flüchtig angeschaut und seitdem auch kaum einmal in seine Richtung gesehen. Sie ist eindeutig nicht diejenige … Cornelius richtete seinen Blick auf einen Techniker, der an einem Computer in der Nähe des Fensters saß. Der Mann hatte die Augen fast kein einziges Mal von seinem Monitor abgewandt, seitdem Cor nelius eingetroffen war. Er schien wie versteinert vor den medi
zinischen Daten, die vom Labor unten auf seinen Computer flossen. Plötzlich schaute der Mann auf. Cornelius wappnete sich gegen das Erkennen, die Anklage – doch der Techniker sah an ihm vorbei auf die Wanduhr. Cornelius ließ seinen Blick zu einem anderen Techniker wei terwandern. Dieser trug Kopfhörer mit Mikrofon. Der Mann stand da und teilte seine Aufmerksamkeit zwischen zwei tickenden, digi talen Anzeigen auf seiner Konsole und den Aktivitäten auf der anderen Seite der Scheibe. Bis noch vor einem Moment war das Hauptlabor mit einem tödli chen, antiseptischen Gas gefüllt gewesen, welches für eine keim-, vi ren- und bakterienfreie Umgebung gesorgt hatte. Diese drakonische Maßnahme war angeordnet worden, um Subject X vor einer mögli chen Kontamination während der Vorbereitungs- und Transferpha se zu schützen. Jetzt wo die Versuchsperson zur Gänze in eine steri le Flüssigkeit getaucht war, wurden die giftigen Gase aus dem La bor abgesaugt. Der Techniker beobachtete die digitalen Anzeigen, die die Ge schwindigkeit und das Maß steriler Luft angaben, die in den ge waltigen Raum zurückgepumpt wurde. Der Anzeige daneben war zu entnehmen, wie viel Gift bereits abgesaugt worden war. Als beide Anzeigen grün aufleuchteten, sprach der Techniker in sein Mi krofon. »Hauptlabor werden.«
dekontaminiert.
Schutzanzüge
dürfen
geöffnet
Cornelius trat zu den anderen an die Scheibe, um nach unten zu schauen. Das erleichterte Ärzteteam war dabei, sich seiner unför migen Schutzanzüge zu entledigen und sie zusammen mit Helmen und Handschuhen auf ein schnell laufendes Förderband zu werfen. In der Gruppe erspähte Cornelius einen stämmigen, kräftig ge bauten jungen Mann mit aschblondem Haar und aufmerksamen, blauen Augen. Sein leicht gerötetes Gesicht war nach oben gewandt und der junge Mann blickte ganz unverhohlen nach oben zur Beob
achtungskabine. Er ist derjenige … derjenige, der mich angestarrt hat … Cornelius spürte eine intensive Neugier hinter dem Blick des Mannes, aber keine Andeutung von Wiedererkennen, Anklage oder Gefühl in seiner ausdrucklosen Miene. Aber er ist eine Art Polizist … nach einem Jahr auf der Flucht erkenne ich den Blick des Gesetzes, wenn ich ihn sehe. Ein FBI-Agent oder vielleicht auch ein Ex-Soldat. Vielleicht ist er auch ein privater Sicherheits angestellter. Aber definitiv keiner, der nach der Stechuhr arbeitet. Cornelius wusste, dass er Recht hatte. Ein ganzes Jahr auf der Flucht hatte ihn eine Art sechsten Sinn für diese Dinge entwickeln lassen. Plötzlich ertönte eine Alarmglocke im Innern der Kabine. »Druck wird abgelassen. Sie können jetzt ins Labor nach unten.« Hinter ihnen öffnete sich mit einem lauten Zischen eine schwere Stahlluke, und Cornelius ging mit den anderen darauf zu. Sie traten auf einen schmalen Steg aus Drahtgeflecht, der mehrere Meter lang war. Er lag fünfzig oder mehr Meter über dem Boden. Cornelius nahm noch einen leichten Geruch nach Chemikalien wahr. Er stach in seiner Nase, und er fragte sich kurz, ob das Labor auch gründlich vom giftigen Desinfektionsmittel gereinigt worden war oder ob es eine tödliche Fehlfunktion im Belüftungssystem gä be. Habe ich die Aussicht auf die Gaskammer gegen eine andere getauscht? Eine tödliche Injektion gegen eine tödliche Atmosphäre? Seine Hände, an denen die Knöchel weiß hervortraten, um klammerten die Brüstung, während Cornelius Carol Hines erst über den Steg, dann über eine steile Treppe aus Stahlgitterstufen hinunter ins Labor folgte. Als Cornelius sich so in der Gruppe aus Ärzten und Technikern fortbewegte, begann er sich wohler zu fühlen – voll in Sicht, doch verborgen in einer anonymen Menge von ernsthaften Gesichtern,
die zu sehr mit ihrer Arbeit beschäftigt waren, um ihm viel Beach tung zu schenken. Dann ertönte Dr. Hendrys Stimme wie die eines königlichen He rolds. »Achtung, Gentlemen. Der Professor kommt.« Zusammen mit allen anderen drehte sich Dr. Cornelius um, um seinen Herrn, seinen Hüter zu begrüßen, den Mann, der ihm versprochen hatte, ihn vor dem Gesetz zu schützen – so lange er sich mit Leib und Seele diesem beispiellosen Unternehmen hingab. Hoch aufgerichtet wie ein stolzer General, der seine Mannen mus tert, schritt der Professor durch die Reihen der Angestellten und be gegnete den eifrigen, respektvollen Blicken mit einer höflichen Miene, in der gleichzeitig eine gleichgültige Überheblichkeit lag. Ge legentlich blieb der Professor stehen, um sich mit einem Techniker über ein spezielles Problem zu unterhalten. Sein Gesicht blieb aus druckslos, während er der Antwort lauschte, und meist ging er einfach, ohne noch eine Bemerkung zu dem eben Gesagten zu ma chen, einfach weiter, wenn er genug gehört hatte. Der Professor war kein Freund vieler Worte. Als ich ihn kennen lernte, war es genauso. Warum begegnen ihm diese Leute mit so viel Ehrfurcht? Ich weiß, womit er mich in der Hand hat, aber was ist mit den anderen? Sind das etwa alle Freiwillige? Haben sie sich von allein bereit erklärt, an diesem bizarren Experiment teilzunehmen? Ehe er selbst ›rekrutiert‹ worden war, hatte Dr. Cornelius den Professor nur zweimal gesehen, doch beide Male hatte er sich ge rade an einem Scheideweg befunden. Die erste Begegnung hatte vor vielen Jahren stattgefunden, als Dr. Cornelius sich auf dem Höhepunkt seines beruflichen Erfolgs und seines privaten Glücks befunden hatte. Das schien jetzt so lange her zu sein … wie ein anderes Leben. Nein. Wie das Leben eines anderen Menschen … ***
Mit einem breiten Grinsen begrüßte der Dekan der medizinischen Abteilung Dr. Cornelius an der Tür und schwenkte seine Hand, als wäre er sein verlorener Bruder. Vor etwa einhundert Kollegen – einem internationalen, gemischten Publikum, das aus Cornelius' frü heren Lehrern und Kommilitonen aus Unitagen bestand – hielt er zu Cornelius' Vorstellung eine glühende Ansprache. Es war der erfreulichste Moment seiner Karriere. Die Rückkehr in seine Wahlheimat, an seine Alma Mater, um der Welt nach Jahren der Mühen und Anstrengungen seine erfolgreichen Ergebnisse zu präsentieren – Jahre, für die Cornelius nach eigener Einschätzung in gewisser Hinsicht durch die wunderschöne Frau, die aus der ersten Reihe zu ihm aufblickte, bereits entlohnt worden war. »Wir alle kennen Dr. Cornelius, den Forscher und das geschätzte Mitglied in Akademikerkreisen hier in Kanada und in den Vereinig ten Staaten, als einen revolutionären Denker im Bereich der Immu nologie«, tönte der Dekan. »Doch Abraham Cornelius' Leistungen waren hiermit nicht zu Ende. Er kehrte in seine Heimat zurück und machte seinen Abschluss in Molekularbiologie. Außerdem war er der Erste, der je auf dem Gebiet der biomedizinischen Nanotechno logie promovierte.« Inmitten von Jubel und Applaus empfand Cornelius das über schwängliche Lob des anderen als übertrieben. »An diesem bedeutsamen Tag«, fuhr der Dekan fort, »ist Dr. Cor nelius an unsere medizinische Fakultät zurückgekehrt, um uns Ein blick in eine Reihe neuer Techniken und Technologien zur Unter drückung des Immunsystems bei Transplantationen zu geben, die man früher für unmöglich gehalten hat. Es ist mir eine Ehre und ein Vergnügen, Ihnen Dr. Abraham B. Cornelius vorzustellen.« Cornelius stand auf, verneigte sich unter herzlichem Applaus und stellte sich dann vor ein internationales Publikum, das aus Spezialis ten aus den Bereichen der Transplantationschirurgie, der Neurolo gie und der bionischen Prothesen bestand, um seine Theorien
vorzustellen. »Ich glaube, dass die Gefahr von Gewebeabstoßung, die bei vielen Transplantationen auftritt, bald der Vergangenheit angehören wird …« Die nächsten fünfundachtzig Minuten stellte er mehrere nanome dizinische Geräte vor, die er entwickelt hatte – neben neuen chirur gischen Verfahren, die neue Wege bei Wiederherstellung und Aus tausch von beschädigten Organen, Muskeln und sogar Nervengewe be eröffneten. »Schon bald werden programmierbare, mikroskopisch kleine Ge räte, die man in den menschlichen Körper injiziert, gegen Infek tionen kämpfen, bösartiges Gewebe zerstören, ohne dabei gesunde Zellen zu beschädigen, und einen Kampf gegen das körpereigene Immunsystem nach Transplantationen führen.« Nach dem Ende des Vortrags strömte praktisch jeder aus dem Pu blikum auf die Bühne, um die endlosen Möglichkeiten von Corneli us' bahnbrechender Forschungsarbeit zu rühmen. Viele, so auch der Dekan der medizinischen Fakultät, drängten Cornelius, doch so bald wie möglich mit Tests an menschlichen Versuchspersonen zu beginnen. »Oh, tja, das wird warten müssen«, erklärte Cornelius dem Publi kum während einer vorher nicht geplanten Frage- und-AntwortStunde. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich für eine klinische Erpro bung schon so weit bin. Vielleicht in einem Jahr. Eher in zwei Jah ren. Ich bin immer noch dabei, meine Tierversuche zu einem Ende zu bringen. Dann werde ich meine Erkenntnisse aufeinander ab stimmen müssen, einen neuen Aufsatz schreiben, um dann hoffent lich positive Ergebnisse zu präsentieren. Natürlich ist da auch das stets gegenwärtige Problem mit den Forschungsgeldern – bezie hungsweise ihr Nichtvorhandensein.« Bei dieser Bemerkung lächelten seine Kollegen, denn sie hatten mit den gleichen Problemen zu kämpfen. Dann berührte Cornelius die Schulter der Frau, die neben ihm stand. Sie lächelte und schlang ihre
Arme um seine Taille. »Und weil sich meine ehemalige Assistentin, Dr. Madeline Vetri, gerade bereit erklärt hat, meine Frau zu werden, werde ich auch Termine für eine Hochzeit und eine Hochzeitsreise vormerken müssen. Mir wurde von der zukünftigen Braut erklärt, dass die Teil nahme an beiden Terminen zwingend vorgeschrieben sei.« Madeline lachte und piekste ihn in den Arm. Gegensätze ziehen sich an, heißt es, und Dr. Cornelius und seine Verlobte hätten nicht unterschiedlicher wirken können. Sie war Frankokanadierin, er US-Bürger mit irisch-jüdischer Herkunft. Den unscheinbaren und zur Fettleibigkeit neigenden Abraham Cornelius hätte man nie irrtümlich für einen Filmschauspieler gehalten, wäh rend Madeline Vetri mit Leichtigkeit die attraktivste Frau in jedem Raum war. Ihr langes, üppiges Haar war rabenschwarz und bildete einen krassen Gegensatz zu Cornelius' wirrem braunen Mop; sie war so schlank und groß, wie er klein und rund – sogar in flachen Schuhen war sie fast einen Kopf größer als er. Und während er von seiner Art her ruhig und zurückhaltend war – ein strenger Kritiker hätte ihn vielleicht sogar als langweilig bezeichnet – waren Ma delines Bewegungen voller Anmut und lebhafter Energie. Noch mehr Beifall und Glückwünsche folgten der frohen Ankün digung – um dann abrupt zu verstummen. Am Eingang zum Hör saal kam es plötzlich zu hektischer Betriebsamkeit. »Der Professor ist da«, murmelte jemand, und alle wandten sich um. »Herzlich willkommen, Sir …«, rief der Dekan mit einer respekt vollen Verbeugung, als der Mann, den alle den Professor nannten, den Mittelgang entlangschwebte. Man meinte Zeuge der Teilung des Roten Meeres zu werden. Ärzte, Forscher, Akademiker – alle traten in schweigender Ehrfurcht zurück, als der Professor an ihnen vorbeiging. Schließlich blieb der Mann vor Dr. Cornelius stehen. »Ich habe Ihren Aufsatz gelesen«, sagte er, ohne sich mit irgend
welchen einleitenden Floskeln aufzuhalten und ohne die Hand zum Gruß auszustrecken. Hinter den eckigen Gläsern des Professors wirkten seine Augen unlesbar und völlig ausdruckslos. »Ihre Arbeit hat Potenzial, Doktor, und ist viel versprechend für künftige wissenschaftliche Studien. Aber ich muss meinen Kollegen beipflichten …« Der kalte Blick des Professors richtete sich auf die Frau an Corneli us' Seite. »… wenn diese sagen, dass Sie sich von privaten Dingen nicht … ablenken lassen und sich voll und ganz auf klinische Versuche kon zentrieren sollten. Alles andere wäre kontraproduktiv, reine Zeitver schwendung.« Nachdem er seine Erklärung abgegeben hatte, leckte sich der Professor über die schmalen Lippen. Cornelius erinnerte diese Be wegung entfernt an ein Reptil. Er spürte, wie sich seine Verlobte, die an seiner Seite stand, ver spannte. Er drückte ihre Hand, wandte den Kopf zu ihr, um sie mit einem Blick zu beruhigen. Die Bemerkung des Professors war ärger lich – doch als Cornelius sich wieder umdrehte, um eine Entschuldi gung von ihm zu verlangen, war er schon gegangen. »Lieber Himmel, wer war denn dieser lächerliche Kauz?«, fragte Cornelius den Dekan, der ihn von den anderen wegführte, ehe er ihm darauf antwortete. Dr. Cornelius war schockiert, als er erfuhr, um wen es sich bei dem Professor handelte. Es würde ihm nicht leicht fallen, ihm die Beleidigung seiner Verlobten zu vergeben, doch gleichzeitig fühlte er sich unwillkürlich geehrt. Seine Forschung war gerade von einem der brillantesten Wissenschaftler seit Albert Einstein gebilligt worden.
»Guten Morgen, Dr. Cornelius. Ist alles bereit, damit wir anfangen
können?« Aus seinen Träumereien wieder erwacht, brachte Cornelius ein schwaches Lächeln zustande. »Guten Morgen, Professor. Ja, ich glaube, alles ist ziemlich glatt gegangen. Zumindest sah es von der Beobachtungskabine aus so aus.« Der Professor stand mit undurchdringlicher, ausdrucksloser Miene und hinter dem Rücken verschränkten Armen vor ihm. »Und Ihre Nanochips sind so weit vorbereitet, dass sie injiziert werden können?« Cornelius lenkte die Aufmerksamkeit des Professors auf den Tank. »Genau dort, Professor … in dem blauen Behälter.« Er deutete auf einen tropfenförmigen Metallbehälter, der ungefähr die Größe einer handelsüblichen Haushaltsspraydose hatte. Der Be hälter war mit einer langen Injektionsnadel ausgestattet und hing mit vielen anderen an der Decke des Tanks, in dem sich die Ver suchsperson befand. »Können wir anfangen?« »Wann immer Sie bereit sind, Professor. Die Nanochips werden si multan direkt ins Herz injiziert, sodass sich die mikroskopisch kleinen Geräte schnell im ganzen Körper verteilen. Die Chips sollten eigentlich in weniger als einer Minute mit den Knochen der Ver suchsperson verschmelzen.« Der Professor nickte nur ganz leicht, dann wandte er sich ab, um ein anderes Mitglied des Teams zu befragen. Wie Anhänger um einen siegreichen Kandidaten folgte ihm die Menge. Nur Carol Hin es blieb an seiner Seite. Das erste Mal, seitdem sie sich kennen ge lernt hatten, zeigte sie den Ansatz von Interesse für etwas, das nichts mit ihrer EMaM-Apparatur zu tun hatte. »Eine Injektion direkt ins Herz?«, fragte sie. »Was pumpen Sie da eigentlich in Subject X hinein?« »Einen Siliziumchip mit kodierter Memory – eigentlich eher meh rere Millionen davon. Jeder bildet eine mikroskopisch kleine
Kammer, die sich in die winzigen Ausbuchtungen im Knochen ein lagern. Die Kammern sind Selbstversorger und können sogar die Nährstoffe nutzen, die vom Körper aufgenommen werden, um die zu ersetzen, die eine Fehlfunktion haben oder abgenutzt sind.« »Sie wollen damit sagen, dass sie sich reproduzieren?« »Exakt.« »Ich verstehe … Und was bezwecken Sie damit?« »Nun, als Erstes soll das Skelett der Versuchsperson von Adaman tium-Stahl umhüllt werden, um die Knochenmasse zu erhöhen und deren Festigkeit zu steigern. Aber weil Knochen lebende Organis men sind – im Grunde sogar Organe, da das Knochenmark Blut pro duziert – kann man sie nicht vollständig mit Stahl umhüllen, denn dann würden die Knochen sterben und damit auch die Versuchsper son.« Carol Hines nickte. »Sie brauchen also Poren – Löcher, über die das Blut den Stahlmantel passieren kann?« »Genau.« »Und die Nanotechnologie schafft diese Poren?« »Genauer gesagt – sie ersetzt sie«, erklärte Cornelius. »Die menschlichen Knochen verfügen bereits über Poren, durch die Flüssigkeiten dringen. Meine Chips suchen nach ihnen und über nehmen ihre Funktion, sobald der Adamantium-Verbindungspro zess abgeschlossen ist.« Trotz seiner Vorbehalte gegenüber dem Projekt und seinem Miss trauen gegen den Professor stellte Cornelius mit Erstaunen fest, dass die Arbeit der letzten Tage seine alte Liebe für wissenschaftliche Forschung wieder etwas angeregt hatte. Und dass die sonst so reservierte Ms. Hines plötzlich Interesse für sein Fachgebiet entwi ckelte, tat das Seine dazu. Es war so lange her, seitdem er das Gefühl gehabt hatte, gebraucht zu werden. »Tja, ich habe da meine Zweifel«, sagte eine laute Stimme mit deutlich feindseligem Ton. »Tatsächlich befürchte ich sogar, Dr. Cor
nelius, dass Ihre Technologie mehr Schaden anrichten als Gutes tun wird. Warum sind Sie sich so sicher, dass Ihre Nanochips nicht die Integrität meiner Adamantium-Knochenummantelung schädigen wird?« Dr. Cornelius begegnete Dr. Hendrys skeptischer Miene mit einem ebenso kühlen Blick. »Aus einem Grund«, erwiderte Cornelius. »Meine Nanochips hal ten der vernichtenden Kraft von schmelzheißem Adamantium stand, weil sie dreimal so widerstandsfähig wie der Stahl selbst sind. Die Frage, die Sie also stellen sollten, Dr. Hendry, lautet: Wird Ihr Adamantium die Integrität meiner Nanotechnologie schädigen?« Hendry stand seinen Mann. »Was folgern Sie daraus?« »Ein eindeutiges Nein. Warum? Weil diese beiden sehr komplexen Vorgänge sich ergänzen …« »Ergänzen oder widersprechen?«, schnauzte Hendry ihn an. »… was bedeutet, dass die beiden Technologien trotz ihrer of fensichtlichen Unterschiede zusammenarbeiten werden, um ein Ziel zu erreichen – die Knochen der Versuchsperson praktisch unzerstör bar zu machen.« »Es beruhigt mich, dass Sie das sagen«, meinte Hendry, obwohl sein Tonfall immer noch skeptisch war. »Ein paar von uns hier in Abteilung K haben Jahre ihres Lebens diesem Projekt gewidmet. Unser einziger Wunsch ist, dass das Projekt Waffe X ein Erfolg wird.« Cornelius hob eine Augenbraue. Da war der Widerstand. Genau da. Er war der Neue, der hoch ausgezeichnete Austauschstudent aus einem fremden Land. Er war ohne Vorwarnung zu ihnen gekom men, hatte einen Koffer voller bahnbrechender Forschungsergeb nisse dabei gehabt – und sie nahmen es ihm übel. »Bestimmt verstehen Sie unsere Befürchtungen«, fuhr Hendry fort. »Schließlich wollen wir nicht, dass unsere Anstrengungen – all die harte Arbeit – durch den Einsatz einer waghalsigen, nicht getesteten
Technologie von einem … einem Neuankömmling aufs Spiel gesetzt wird.« Cornelius bemühte sich, nicht laut herauszulachen. Oh ja, ein Neu ankömmling, das konnte man wohl sagen. »Der Professor setzt größtes Vertrauen in meine Technologie«, sagte er mit ruhiger Stimme. Hendry wollte schon antworten, wurde jedoch durch die laut dröhnende Stimme aus dem Lautsprecher unterbrochen. »Der Verbindungsprozess beginnt in dreißig Minuten. Alle nehmen ihre Position ein und beginnen mit der Einleitung der vor bereitenden Prozeduren.« Dr. Hendry drehte sich rasch um und eilte davon. Dr. Cornelius hatte vorgehabt, Ms. Hines zu ihrer Workstation, die neben seiner lag, zu begleiten. Doch als er sich zu ihr umdrehte, war niemand mehr da.
Eigentlich fragte sich Cornelius, warum er überhaupt eine Worksta tion während dieses Verfahrens hatte – die noch dazu so nah bei der des Professors lag, dass ihm ganz unbehaglich dabei war. Es war, als würde man bei einem besonders strengen Lehrer in der ersten Reihe sitzen. Ist ja nicht so, als würde ich in Arbeit ersticken … Dr. Cornelius hatte gerade mal fünf Minuten gebraucht, um seinen Computer mit den biologischen Monitoren, die in den Körper der Versuchsperson eingelassen waren, zu verbinden. Jetzt würde es noch fast zwanzig Minuten dauern, ehe der Verbindungsprozess be gann, und er hatte absolut nichts mehr zu tun. Die Phase, die für Cornelius die arbeitsreichste gewesen war, hatte die Destillation der flüssigen Siliziumlösung und der chemische Pro zess eingenommen, der die Substanz kristallisierte, welche dabei half, die Programmierung auf die Moleküle zu übertragen. Wenn die Nanotechnologie erst hergestellt und vakuumversiegelt in einem
sterilen Gefäß lagerte, war Cornelius' Job im Grunde erledigt. Nach der Injektion der Nanochips waren sie jedermanns Kontrolle entzogen. Einmal im Blutstrom, würde ihre interne Program mierung die Führung übernehmen. An dem Punkt konnte Dr. Cor nelius nur noch die Vorgänge beobachten. Warum bin ich also hier? Nicht einmal der unschätzbare Dr. Hendry – die rechte Hand des Professors – hat so einen erlesenen Platz bei diesem wichtigen Experiment. Natürlich war sich Dr. Cornelius der Tatsache bewusst, dass er immer noch eine Fähigkeit besaß, die sich unter Umständen als nützlich erweisen könnte. Falls seine Nanochips vollständig versag ten, konnte er immer noch ein synthetisches Hormon, das er selbst entwickelt hatte, im Körper der Versuchsperson freisetzen. Diese Substanz würde die Nanochips ›umbringen‹, sodass sie dann über die Leber vom Körper gefiltert und später wie ein Abfallprodukt ausgeschieden wurden. Wenn das passierte, bedeutete dies das Ende des Experiments – und von Subject X. Ohne Löcher in den Knochen wird der arme Kerl sterben. Langsam, schmerzhaft wird sein Skelett ersticken, während der restliche Körper durch den Mangel an Blut vertrocknet. Aber warum sollte man über das Negative nachdenken? Cornelius hatte nie Teil dieses Forschungsprojekts sein wollen. Sei ne Absicht war es immer gewesen, der Menschheit zu helfen, Krank heiten zu heilen. Er hatte nie eine Art Superwaffe herstellen wollen. Keinen Mann in eine Killermaschine umwandeln wollen. Eine un aufhaltsame Waffe im Krieg. Ohne es selber zu merken, begann Cornelius sich die Schläfen zu reiben, als ein Kopfschmerz direkt hinter seinen Augen einsetzte. Wie zum Teufel bin ich eigentlich bei diesen Leuten gelandet? Wo ich diese Art Arbeit mache? Gefangen an diesem Ort? ***
Nach der triumphalen Konferenz an der McGill University's School of Medicine war Cornelius vollständig von seiner intensiven For schungsarbeit und natürlich auch seiner Hochzeit eingenommen ge wesen. Er hatte die unerfreuliche Begegnung mit dem Professor aus seinen Gedanken verdrängt, bis am zweiten Tag seiner Hochzeits reise eine sehr teure Flasche Taittinger's Blanc de Blanc in seiner Kabine an Bord des Kreuzfahrtschiffes Delphi abgegeben wurde. »Mit den besten Wünschen für eine glückliche Ehe«, stand auf der Karte. Unterschrieben hatte sie der Professor. Angesichts der negativen Reaktion des Mannes auf seine bevor stehende Heirat erstaunte es Cornelius, dass der Professor zu solch einer großmütigen Geste fähig war. Er erwog das Geschenk gegenüber Madeline zu erwähnen, doch die Erinnerung an das geschmacklose Verhalten des Mannes bei der Konferenz hielt ihn davon ab. Cornelius zerriss die Karte und spülte sie in der Toilette hinunter. Später am Abend feierten sie ihre Hoch zeit, indem sie die ganze Flasche Champagner leerten. Im Verlaufe dieser außergewöhnlichen Woche empfing Madeline Vetri-Cornelius ihr einziges Kind. Der Junge wurde neun Monate später geboren und wurde nach Madelines Vater, einem berühmten Architekten in seiner Heimat Quebec, auf den Namen Paul Phillip Cornelius getauft. Dann kamen die unerträglichen Qualen und der Absturz begann. Eine Krankheit, die ihm all seine Freude nahm, und der Wahnsinn, der zu Mord führte … Ein halbes Jahr später, nachdem man ihn wegen Doppelmordes angeklagt hatte, war Cornelius geflüchtet; denn dies zog er einer Ge fängniszelle oder der Begegnung mit einem Vollstrecker vor. Sein Anwalt hatte den Richter davon überzeugt, dass eine Kaution nicht nötig wäre, dass bei einem in Medizinerkreisen geschätzten Mitglied keine Fluchtgefahr bestünde. Doch Cornelius war geflohen.
Monate später, nachdem er begonnen hatte, ein, wie er meinte, an onymes Leben auf einem kleinen Wohnwagenplatz außerhalb von Syracuse, New York, zu führen, erhielt er eine Briefsendung. Sie wies weder Briefmarken noch irgendwelche Stempel auf – was be deutete, dass der schlichte braune Briefumschlag persönlich in sei nen Briefkasten gesteckt worden war, während er in der Nacht schicht im örtlichen Arzneimittelgroßlager gearbeitet hatte. Der Um schlag war an Ted Abrams adressiert – der Name, unter dem er zur Zeit lebte – doch als er in den Umschlag hineingelinst hatte, war schnell deutlich geworden, dass der unbekannte Absender seine wahre Identität kannte. Cornelius' erste Reaktion bestand darin, sich vor der Wahrheit zu verstecken. Er schleuderte den Umschlag in eine Ecke. Mit zittern den Händen kochte er sich seinen Morgenkaffee und toastete zwei Scheiben altbackenes Brot. Durch das Koffein vorübergehend ent spannt, holte er den Umschlag zurück und schüttete den ganzen In halt neben seinem Teller auf den Tisch. Es waren mehr als ein Dutzend Zeitungsausschnitte mit Artikeln von Nachrichtenagenturen, die im Laufe der letzten achtzehn Mona te gesammelt worden waren. Bei allen Artikeln ging es um das glei che Thema – der fantastische Aufstieg und steile Abstieg des Dr. Abraham B. Cornelius vom hochgeschätzten Immunologen zum flüchtigen Doppelmörder. Der Umschlag enthielt auch einen kurzen Brief, der in großen, fast kindlichen Blockbuchstaben geschrieben war:
SIE WERDEN BEOBACHTET. HEUTE ABEND UM 11 UHR MÜSSEN SIE VOR DER ZENTRALBIBLIOTHEK IN BUFFALO, NEW YORK, WARTEN. WENN SIE VERSUCHEN, VOR DIESEM TREFFEN ZU FLIEHEN, WIRD IHR GEGENWÄRTIGER AUFENT HALTSORT DEN BEHÖRDEN ZUGESPIELT WERDEN. WENN SIE NICHT ZU DEM TREFFEN ERSCHEINEN, WIRD IHR GEGEN WÄRTIGER AUFENTHALTSORT DEN BEHÖRDEN ZUGESPIELT WERDEN. WENN SIE MIT DIESEN BEDINGUNGEN EINVER STANDEN SIND, RUFEN SIE JETZT DIESE NUMMER AN. Unter die Nachricht hatte jemand mit roter Tinte eine Telefonnum mer gekritzelt. Handelt es sich um Erpressung? Aber warum wird dann nicht einfach Geld verlangt? Was ist der Grund für diesen Quatsch mit einem Geheim treff? Warum zum Teufel sollte ich wegen eines verdammten Erpressungs versuchs nach Buffalo fahren? Er starrte die Überreste seines Frühstücks an, den kalt gewordenen Kaffee, die auf dem trockenen Brot auf seinem Teller erstarrende Butter. Zögernd nahm er den Hörer und wählte die Nummer. Das Telefon klingelte nur einmal. Dann meldete sich eine männliche Stimme mit zwei Worten. »Kluge Entscheidung.« Dann wurde aufgelegt. Cornelius hieb mit der Faust auf den Tisch. Das dreiste Manöver, und dass man ihn auf so eine verächtliche Art und Weise behandelte, versetzte ihn in helle Wut. Sofort wählte er die Nummer noch einmal. Dieses Mal ertönte eine Bandansage, die erklärte, dass der An schluss nicht mehr erreichbar wäre. Er versuchte es ein zweites, ein drittes, ein viertes Mal – aber immer mit demselben Ergebnis. An diesem Nachmittag, als fahlgelbe Sonnenstrahlen durch die schmutzigen Fenster seines Wohnwagens strömten, wälzte sich Cor nelius in seinem schmalen Bett hin und her. Um fünf Uhr stand er auf. An diesem Sommernachmittag war es immer noch strahlend hell, und Cornelius erwog, sich einen zweiten Becher Kaffee zu ma
chen. Als er schließlich eine Entscheidung getroffen hatte, duschte und rasierte er sich, packte eine kleine Tasche mit dem Notwendigsten und verließ den Wohnwagen, ohne noch einmal einen Blick zurück zuwerfen. Er wurde in einer Stunde bei seinem Lagerjob erwartet, aber weder heute Abend noch sonst je würde er dort erscheinen. Cornelius wusste, dass er, egal, was bei diesem erzwungen Treffen passierte, nie nach Syracuse zurückkehren würde. Während seiner Fahrt nach Buffalo bemerkte Cornelius, dass sich am dunkler werdenden Himmel ein Unwetter zusammenbraute. Als er am Treffpunkt eintraf, hatten die Wolken ihre Schleusen geöffnet, und die Stadt nahm im strömenden Regen eine graue Färbung an. Während er im Regen unter einer Laterne wartete, hörte Cornelius vom nahe gelegenen Kirchturm die Uhr elf schlagen. Er schaute auf und sah, wie eine Gestalt durch den Regen auf ihn zukam. Corneli us fragte sich, ob das die Person war, mit der er sich treffen sollte, oder ob es sich nur um einen Passanten handelte. Vielleicht hätte mir der Mann ein Codewort oder etwas Ähnliches geben sollen, damit ich den echten Erpresser erkenne. Trotz seines Elends raffte Cornelius sich zu einem leisen Kichern auf. Ein geheimes Codewort. Wie lächerlich. Aber wäre dieses absurde Spio nagedrama damit nicht komplett? Wie sich herausstellte, war kein Codewort erforderlich. Der Mann kam direkt auf Cornelius zu und hob den Kopf. Während das Wasser von der breiten, braunen Krempe seines Hutes strömte, er kannte Cornelius die asketischen, vornehmen Gesichtszüge des Professors, dessen eckige Gläser nass von Regentropfen waren. »Professor, ich …«
»Sagen Sie nichts. Hören Sie nur gut zu. Ich habe Ihnen einen Vor schlag zu machen. Erzählen Sie mir nicht, wie dankbar Sie sind. Jetzt nicht. Und auch sonst nie. Denn was ich Ihnen anzubieten habe, ge schieht nicht aus Barmherzigkeit.« »Was wollen Sie denn von mir? Ich habe kein Geld, kein Ansehen. Was könnte ich denn überhaupt …« »Ich benötige Ihre besonderen Fähigkeiten«, unterbrach der Professor. »Das ist alles, was Sie im Moment wissen müssen.« »Aber …« »Wenn Sie meinen Vorschlag annehmen, werden Sie innerhalb von einer Stunde über die kanadische Grenze verschwinden«, fuhr der Professor fort. »Wenn Sie ihn ablehnen, können Sie gehen, wo hin Sie wollen – mit der Gewähr, dass ich Sie nicht bei den Behörden anzeigen werde. Aber denken Sie daran, Doktor, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis das FBI Sie erwischt.« Der Professor machte eine Pause, um seine Worte wirken zu lassen. »Übrigens ist es angebracht, Ihnen zu gratulieren.« Die Augen des Professors waren leer, genauso ausdruckslos, wie am ersten Tag, als Cornelius ihn kennen gelernt hatte. »Wussten Sie, dass Sie es bis auf die FBI-Liste der zehn meistgesuchten Verbrecher geschafft haben? Das ist erst gestern veröffentlicht worden.« Von dieser Nachricht hatte Cornelius bisher nichts erfahren. Allein beim Gedanken drehte sich ihm der Magen um. Der Professor beugte sich nach vorn, bis Cornelius den Atem des Mannes auf seiner Wange spürte. »Wussten Sie, dass die SyracuseAbteilung des FBI über Ihre Anwesenheit in deren Zuständigkeits bereich informiert worden ist? Sie haben den Wohnwagen, den Sie Ihr Zuhause nennen, gestürmt … ebenso wie das Lager, in dem Sie arbeiten. Wenn Sie sich nicht mit mir hier getroffen hätten, würden Sie jetzt bereits in einer Zelle sitzen.«
Cornelius spürte, wie ihm die Panik die Kehle zuschnürte. Er brauchte Luft. Der Professor bedrängte ihn, setzte ihn unter Druck. »Wie lautet Ihr Angebot?«, schnauzte er. »Ich will alle Details hö ren, ehe ich Ihren Job oder den von jemand anders annehme. Der Höchstbietende erhält den Zuschlag.« Der Professor schien von Cornelius' offensichtlichem Taktieren überrascht – es war ein Versuch, die Situation wieder zumindest einigermaßen unter Kontrolle zu bringen. Ein leichtes Lächeln spielte um seine schmalen Lippen. Im Schein der Straßenlaterne er innerte Cornelius das Grinsen des Professors an einen kalkweißen Schädel. »Na, na, Dr. Cornelius. Seien Sie nicht albern … Glauben Sie wirklich, Sie hätten in dieser Sache überhaupt eine andere Wahl?«
»Professor? Dr. Cornelius? Wir können jetzt mit dem Verfahren be ginnen.« Der Professor nickte Dr. Hendry zu, dann wandte er sich an Carol Hines. »Ist der EMaM mit dem Gehirn der Versuchsperson ver bunden?« »Die Verbindung wurde hergestellt, Professor«, erwiderte sie knapp. »Dr. MacKenzie, deaktivieren Sie die Hirndämpfer.« Der Psychiater betätigte nur einen Schalter, um die Stromzufuhr zu den Generatoren zu unterbrechen, und der stete Strom von Ultra schallwellen, die genau die Frequenz aufwiesen, um Logans Gehirn zu lähmen, stoppte abrupt. »Ich stelle einen leichten Impuls in der Gehirnaktivität der Ver suchsperson fest«, ertönte sofort die Warnung von Dr. Mac-Kenzie. »Das ist ein Fehler«, sagte Carol Hines. »Sind Sie sich dessen sicher?«, gab er zurück, während sich sein roter Haarschopf aufrichtete. »Es dürfte nicht einmal einen
Schimmer von Gehirnaktivität geben – nicht einmal Träume – oder aber die Versuchsperson wäre sogar nach der Programmierung in der Lage, an bestimmten Facetten seiner Persönlichkeit festzuhal ten.« »Es handelt sich um eine Anomalie«, beharrte Hines. »Ich habe dieses Phänomen schon früher gesehen. Auch bei Testpersonen bei der NASA gab es leichte Impulse, meist wenn ihr Schlaf unterbro chen wurde.« »Was könnte eine solche Gehirnaktivität hervorrufen?«, fragte Ma cKenzie. Hines zuckte die Achseln. »Es gibt mehrere Theorien. Es könnten zufällige elektrische Impulse im Hypothalamus sein – der Bereich des Gehirns, der die Körperfunktionen steuert – oder chemische Re aktionen in der Hirnanhangdrüse. Aber das sind natürlich nur Mut maßungen.« Dem Professor schien ihre Erklärung zu genügen, doch Dr. Ma cKenzie wirkte immer noch nicht überzeugt. »Die Wellen, die ich sah, weisen auf eine Aktivität im zerebralen Kortex hin«, beharrte der Psychiater. »Also höchstwahrscheinlich keine zufälligen elektrischen Impulse oder chemischen Reaktionen.« MacKenzie funkelte Hines, die jedoch nicht ins Wanken geriet, wütend an. Es war am Professor, eine Lösung für die verfahrene Si tuation zu finden. »Was sehen Sie jetzt auf dem Enzephalographischen Monitor, Ms. Hines? Dr. MacKenzie?« »Verbindung mit dem EMaM wurde hergestellt«, sagte Carol Hin es. »Im Moment gibt es keine Gehirnaktivität, die wir nicht kon trollieren würden.« MacKenzie zögerte, dann nickte er. »Der Bildschirm ist leer … jetzt. Vielleicht hat Ms. Hines mit ihrer Annahme Recht.« Der Professor wedelte mit der Hand. »Sehr gut. Dann machen wir weiter.«
»Stufe eins, Leute. Auf die Injektion der Nanochips vorbereiten«, sagte Dr. Hendry, ohne Cornelius aus den Augen zu lassen. Dr. Cornelius drückte eine Taste, und sein Programm erschien auf dem Bildschirm. Über die Tastatur gebeugt, gab er das Passwort ein, welches den Injektor aktivierte. M-A-D-E-L-I-N-E Auf dem Bildschirm blinkte es: PASSWORT AKZEPTIERT. Dann: INJEKTIONSPROZEDUR WIRD INITIIERT. Schließlich blinkte es auf dem Bildschirm: BEREIT ZUR INJEKTI ON. Cornelius streckte die Hand nach dem Auslöser aus, dann hielt er inne. Sein dicker Zeigefinger schwebte über dem Knopf. Ein Augenblick verging. Dann zwei. Immer noch zögerte Corneli us. Plötzlich ungeduldig erhob sich der Professor aus seinem Stuhl. »Doktor … weitermachen.« Cornelius spürte den Blick des Mannes in seinem Nacken – der ihn anstarrte … ihn ständig beobachtete – und er drückte auf den Knopf. Man hörte das Ächzen der Hydraulik im Innern des sprudelnden Behälters, und eine rasiermesserscharfe Nadel wurde wie eine Katzenkralle ausgefahren. Sie senkte sich immer weiter ab, bis die Spitze blasses Fleisch berührte. Dann drang die Spitze durch Muskeln und Knochen tief in Logans schlagendes Herz. Die Gestalt im Tank zuckte einmal zusammen, dann schlug sie in einem nicht enden wollenden Krampf um sich – eine Reaktion, mit der niemand gerechnet hatte und die ein war nendes Piepen bei einem halben Dutzend Computern auslöste. Spezialisten und Ärzte sprangen zwischen den Terminals hin und her, und das Labor war vom Klang aufgeregter Stimmen erfüllt. Dann hörte Cornelius ihn oder bildete es sich zumindest ein. Ein menschlicher Schrei, der ihm bis in die Eingeweide drang. Ein Heu
len, das den Lärm der Alarmglocken und der Schreie des Ärzte teams übertönte. Der zitternde Schrei eines von Schmerz zerrissenen Kindes, das seine ganze verständnislose Qual herauskreischte.
FÜNF Der Einsatz
Logan fiel, stürzte durch eine schwarze Leere. Ein anhaltender, kalter Wind peitschte seinen Körper und dröhnte brüllend durch seinen Kopf. Er suchte nach Erinnerungen, etwas, an dem er sich festhalten konnte. Da ist nichts. Panik wallte auf, um die Leere zu füllen. Das Unwetter hat mich. Der Wirbelsturm. Er bewegte seine Finger, dann seine Zehen, und stellte fest, dass er in einen erstickenden technologischen Kokon gehüllt war. Er hörte das rasselnde Geräusch seines eigenen Atems, der ihm unter der Sauerstoffmaske, die Nase und Mund bedeckte, entströmte. Er dreh te den Kopf – nur um gegen die Wände eines klimagesteuerten, ky bernetischen Helms zu stoßen. Auf der anderen Seite des Visors war nur Dunkelheit – und dann ein blinkender Cursor, der sich zwei Zentimeter neben seinem linken Auge bewegte. Logan sah zu, wie das Heads-up-Display die Initiierungssequenz durchlief und sich dann mit einem GPS-Satelliten in der Erdumlauf bahn verband. Zwei Sekunden später projizierte das HUD ein Kartengitter des unter ihm liegenden Terrains auf die Innenseite sei nes Visors. Logan erkannte das Gitter, die Karte, das nur allzu bekannte Ter rain, und seine Erinnerung kam kristallklar zurück. Muss mir den Kopf gestoßen haben … Während die Einsatzparameter in seinen Kopf zurückströmten, liefen die wichtigen Informationen über den Visor. Windgeschwin
digkeit, Eigengeschwindigkeit, Außentemperatur – eisige siebzig Grad unter Null – seine Geschwindigkeit und sein Abstiegswinkel, geographische Länge und Breite. Der Höhenmesser sagte Logan, dass er sich im freien Fall aus einer Höhe von 13.000 Metern befand. Irgendwo über ihm – und jetzt wahrscheinlich Meilen entfernt – war die ungekennzeichnete MC-140, aus der er abgesprungen war, mit dem letzten Tropfen Kerosin auf dem Weg zur Grenze. Wahr scheinlich waren auch mehrere nordkoreanische MIG-22 hinter dem Flugzeug her. Im Stillen wünschte Logan dem Piloten Glück beim Heimflug. Nur noch dreiundsechzig Sekunden freier Fall. Bei 6.000 Metern würden sich die Schwingen des HAWK automatisch entfalten und die Repulsoren zünden, um seinen Abstieg zu verlangsamen. Bis da hin würde Logan weiter wie ein Stein in die Tiefe stürzen. Er registrierte die Ortszeit: 0227 – mitten in der Nacht. »Terrain und Ziel«, sagte er mit einer Stimme, die trocken und rau durch den reinen Sauerstoff war, den er einatmete. Das Gitter verschob sich. Deutlich hervorgehoben und scharf sah Logan die digitalen Umrisse zerklüfteter Berge und einer schmalen Straße, die sich durch sie hindurch wand. Im Norden lag ein künstli cher See, der durch einen Damm gestaut wurde. Am Fuße des Damms eine Wasserkraftanlage, die von doppelten und dreifachen Zäunen, Wachtürmen, mehreren Holzhäusern mit Latrinen daneben – wahrscheinlich Soldatenunterkünfte – und einem Luftabwehrge schütz umgeben war. Schließlich erspähte Logan sein Angriffsziel – eine Ansammlung kreisrunder Bauwerke auf den Sandbänken eines seichten Flusses, die durch den Ablauf des Damms entstanden waren. Die drei- und vierstöckigen Gebilde schienen Treibstofftanks zu sein. Aber warum sollte einer Treibstoff in der Nähe eines Wasserkraftwerkes lagern? Das Wasser trieb die Generatoren an. Öl brauchte man keins. Noch unheilvoller waren Berichte über tote Fische, die flussabwärts getrieben waren, wo der Abfluss vom Damm in einen
größeren Strom mündete. Der JTF-4-Geheimdienst nahm an, dass eine giftige Substanz dafür verantwortlich war – ein chemischer, biologischer oder vielleicht sogar nuklearer Schadstoff. Der Geheim dienst ging davon aus, dass der Schadstoff aus dem vermeintlich harmlosen Kraftwerk stammte, und das bedeutete, dass es mehr als nur Strom erzeugte. Die Nordkoreaner produzierten hier wahr scheinlich auch Massenvernichtungswaffen. Der kanadische Ge heimdienst wollte wissen, welche Waffen das waren, und in welcher Menge sie hergestellt wurden. Das war der Grund, warum Logan und sein Partner hierher geschickt worden waren. Auf seinem Visor sah Logan über der leuchtenden Karte einen zweiten Punkt blinken. Für das menschliche Auge nicht zu er kennen, fiel nicht weit weg eine andere Gestalt durch die Nacht – Neil Langram, Logans Partner. Die beiden Männer würden in unter schiedlichen Landezonen herunterkommen und sich dann auf dem Boden treffen. Ein leiser Warnton erklang in Logans Helm, und automatisch ab solvierte er das, was er gelernt hatte. Er drückte sein Kreuz durch und warf die Arme über den Kopf, als wolle er wie ein Turm springer durch die Dunkelheit ins glitzernde Wasser unter ihm ein tauchen. Mit angespanntem Rücken streckte er Arme und Beine aus, sodass sein Körper den Buchstaben X bildete. Der zweite Warnton. Logan wappnete sich mit angespannten Muskeln gegen das, was ihn erwartete, während das HUD den Countdown anzeigte. Vier … drei … zwei … eins … Mit einem Ruck entfalteten sich die ›Flügel‹. Lederähnliche Mem branen eines reibungsarmen Materials schossen aus verborgenen Nähten unter Logans Armen, an seinem Rumpf und die Beine entlang. Flexible Rippen in diesen Flügeln füllten sich sofort mit Druckluft, sodass die Membranen Form annahmen und Tragflächen bildeten. Doch mit voller Absicht stürzte Logan weiter kopfüber in die
Tiefe, und seine Fallgeschwindigkeit verringerte sich kaum. Hätte Logan zu diesem Zeitpunkt versucht, den Auftrieb zu nutzen und seinen Sturz abzufangen, wäre das Gurtwerk des HAWK durch die Überbeanspruchung weggerissen und er in den sicheren Tod ge stürzt. Ein blinkender Cursor. Digitale Zahlen. Ein weiterer Countdown. Dann sprangen die Mark III-Repulsoren der Firma Stark Industries an. Jedes der sechs runden, wie Untertassen geformten Geräte konn te drei einsekündige Energiestöße abgeben, bis der Treibstoff aufge braucht war – das war mehr als genug, um Logans Abstieg zu brem sen. Doch als die Repulsoren einen Energiestoß abgaben, spürte Logan einen scharfen stechenden Schmerz, als würde sich ein Messer in sein Herz bohren. Er verkrampfte sich und stürzte noch schneller in die Tiefe. Ein Warnton dröhnte in seinen Ohren, und der Lärm verschmolz mit dem Heulen des Windes. Die schwarze Nacht schi en sich vor Logans Augen in ein phosphoreszierendes Grün zu verwandeln. Plötzlich schien etwas in seinem Kopf zu platzen. Ein roter Nebel aus Schmerzen breitete sich aus. Ein Stöhnen entrang sich Logans Lippen. Während der Schmerz ihn in seinem Würgegriff hielt, fragte er sich, ob der Gurt wohl eine Fehlfunktion hatte. Bald ließen die Qualen nach, und Logan war wieder in der Lage, sich zu konzentrieren. Er kämpfte darum, mit dem jetzt aerodyna mischen Ganzkörperfluganzug die Kontrolle über die wechselnden Luftströmungen zu bekommen. Nach einigen Anstrengungen schaffte er es endlich, sich in ungefähr 2.000 Metern Höhe abzu fangen. »Ziel.« Sofort begann ein voraussichtlicher Landepunkt auf dem Karten gitter zu blinken und hob eine Stelle am Hang einer kleinen Anhöhe über dem Damm und dem Wasserkraftwerk hervor. Logan war immer noch mehrere Kilometer davon entfernt. Er schaltete auf In
frarotmodus um und bekam plötzlich einen rotstichigen Panorama blick über die Landschaft, die ihn umgab. »Teleskop-Modus … Vergrößern … Vergrößern … Stop.« Sein teleskopisches Nachtsichtgerät zeigte jedes Detail der unter ihm liegenden Landschaft. Obwohl er immer noch weit entfernt war, konnte Logan Autos erkennen, die oben am Damm geparkt waren, und einen abgesicherten Zugang, den er vorher nicht be merkt hatte. Und im Tal unten am Damm konnte Logan Wachtpos ten sehen, die die Wachtürme besetzten, sowie weitere uniformierte Männer, die zu beiden Seiten des Zaunes mit Hunden auf und ab gingen. Durch eine leichte Bewegung der Arme ging er in einen Gleitsenk flug über, wobei er gelegentlich Anpassungen wegen der Schuboder Auftriebskräfte vornehmen musste, die durch die Hügel erzeugt wurden. Für Logan war dies das einzig Gute an einem Absprung mit einem HAWK-Geschirr – wie ein Vogel mit flatternden Flügeln zu fliegen … Als er sich seinem Zielpunkt näherte, wusste Logan, dass der Spaß bald zu Ende sein würde. Sein Plan sah vor, die Anlage in geringer Höhe zu überfliegen, um sich über Stärke und Art der Sicherungen zu informieren. Dann, wenn alles nach Plan abgelaufen war, würde Logan zur Landezone fliegen, unbemerkt aufsetzen, den Hügel hinuntersteigen, über den Damm ins Tal hinein, über den Zaun und ins Wasserkraftwerk hin einklettern – ohne dabei jemals auf einen Wachtposten, die Hunde, irgendwelche Tretminen oder elektronische Überwachsanlagen zu stoßen, die möglicherweise um die Anlage herum angebracht waren. »Ein Kinderspiel«, hatte Langram es genannt. Stimmt genau. Logan stellte fest, dass der andere blinkende Punkt jetzt über und
hinter ihm war – Langram war also auch auf Kurs. Logan wusste, dass sein Partner bald die Richtung ändern würde, um auf der anderen Seite des Sees zu landen. So bestand immer noch die Möglichkeit, dass einer den Auftrag erfolgreich zu Ende führte, wenn der andere gefangen oder getötet wurde. Er und Langram würden strikte Funkstille während der gesamten Operation einhalten. Sie würden sich bei den Treibstoffdepots treffen oder vielleicht auch erst an der Entnahmestelle, wenn der ganze Einsatz vorbei war. Natürlich werden wir uns gar nicht treffen, wenn es für einen von uns beiden richtig schlecht läuft. Plötzlich brachte ein starker Aufwind Logan mehrere hundert Me ter vom Kurs ab. Logan bediente die beiden Rückstoßtriebwerke über Sensoren in seinen Handschuhen und über einen Knopf in je der Handfläche, um den Windauftrieb zu kompensieren. Innerhalb von Sekunden war er wieder auf Kurs. Sein Computerkontrollsys tem übernahm die Steuerung, damit er sein Ziel nicht aus den Augen verlor. Logan staunte über die Qualität des neuen Gerätes und wie benutzerfreundlich der Nachfolger der ersten Generation von HAWK-Geschirren geworden war. Nicht wie in den schlechten alten Tagen. Logan erinnerte sich an die ersten Prototypen der High Altitude Wing Kites – Kinderdrachen, wenn man so wollte. Kraftlose Gleiter aus Leder, Segeltuch und Spandex, die sich aus dem gängigen, enganliegenden SHIELD-Kampfanzug entfalteten. Diese frühen Modelle waren nicht sehr zuverlässig gewesen, und ihnen hatte der Komfort gefehlt, den die verbesserten Versionen aufwiesen. Logan fragte sich, wie er je ohne Druckhelm, Heizeinheit, HUD, drahtlose Computersteuerung, GPS, Infrarot-Nachtsichtvisor oder sogar Re pulsoren ausgekommen war. Der aktuelle HAWK verhinderte sogar, dass man mit einem Radar aufgespürt wurde. Dadurch, dass Logan und Langram in ein nicht
magnetisches, Wellen absorbierendes Verbundmaterial gehüllt waren – eine elastische Version der Umhüllung, die man für Tarn kappenfahrzeuge verwendete – waren sie für alle Arten von elektronischen Detektoren und Hightech-Überwachungsanlagen un sichtbar. Natürlich gab es noch eine Sache, die unbedingt verbessert werden musste. Bisher hatte keiner bei SHIELD R&D eine Möglich keit ersonnen, die Landung mit einem HAWK-Geschirr zu erleich tern. Logan hatte seit Jahren keines mehr benutzt und bedauerte es jetzt, als die Erde auf ihn zugerast kam, und er begann sich zu fragen, ob er wohl noch eine weiche Landung hinbekam. »Es ist ganz leicht, mit einem HAWK zu landen. Sogar ein blinder Tattergreis bringt diesen Vogel nach unten«, hatte Nick Fury einmal zu ihm gesagt. »Nur eine Landung, bei der man sich nicht alle Knochen bricht, ist etwas schwieriger.« Ein blödes Grinsen hatte seine Lippen verzogen. Logan konnte so gar fast Furys billige Zigarren riechen. Man sollte meinen, dass ein Typ, der bis zum Hals in verdeckten Opera tionen steckt, eigentlich in der Lage sein sollte, an geschmuggelte Kubanische Havannas zu kommen. Logan konzentrierte sich auf den Anflug. Nachdem er Messungen von Wind und Abstiegswinkel vorgenommen hatte, zeigte das HUD die Flugbahn zur Landezone an. Aber zuerst wollte Logan noch den Erkundungsflug über das Kraftwerk absolvieren. Wie ein schweigendes, unsichtbares Gespenst flog Logan immer tiefer. Schließlich raste er parallel zum Horizont dahin, weniger als sechzig Meter über der Erde. Er überquerte einen Stahlzaun und schoss über einen Wachturm hinweg – tief genug, um hinein zu se hen. Er erkannte ein paar müde Wachen, Teetassen und einige Männer, die würfelten. Die Versuchung ist groß, gleich hier zu landen … Diese Typen können ja kaum die Augen offen halten. Ich könnte mich einfach fallen lassen und innerhalb von fünf Minuten herausfinden, was sich in diesen Tanks be
findet … Aber das wäre falsch. Logan hatte seine Befehle. Er sollte in den Bergen landen, seinen Anzug vergraben und zu Fuß zur Anlage hinuntergehen. Trotzdem ist es zu leicht – wo ist da der Spaß? Während er lautlos über das Wasserkraftwerk hinwegraste, be merkte er eine offen stehende Hallendoppeltür. Er sah eine Gruppe von Arbeitern, die drinnen im hellen Lichtschein herumlümmelten. Jenseits des Kraftwerks und um die Vorratstanks war es dunkel. So gar im Infrarotmodus waren einige Details, die im Schatten lagen, nicht zu erkennen. Schließlich legte Logan sich in die Kurve und steuerte auf die graue, glatte Wand des Dammes zu. Er legte den Kopf nach hinten und breitete die Arme aus, so weit er konnte, um dem Wind mehr Angriffsfläche zu bieten und aufsteigen zu können. Dann zündete er die Repulsoren. Er schoss wie eine Silvesterrakete über den Damm und drehte sich in der Luft, um dann dicht über der schwarzen Wasseroberfläche hinwegzugleiten, wobei sein schwarzer Anzug wie ein Robbenpelz im Sprühwasser glitzerte. Logan zündete die Repulsoren ein letztes Mal, ließ das Ufer hinter sich und raste den Abhang hoch. Vor ihm lag die festgelegte Lande zone – ein kahler Streifen brauner koreanischer Hügel, auf denen man die Wälder abgeholzt hatte, um Platz für ein Stromnetz zu schaffen, das noch im Bau war. Als er sich der Landezone näherte, bemerkte Logan dicke Baustümpfe, die aus der Erde ragten und mehrere gefällte Bäume, die seinen Weg blockierten. Um sich auf die Landung vorzubereiten, drückte Logan das Ge schirr nach unten, damit er langsamer wurde. Bei einer Geschwin digkeit von achtzig Kilometern pro Stunde lockerte er den Gurt, um ihn jederzeit abwerfen zu können, wenn er ein einigermaßen ebenes Stück Land entdeckte. Die Landung mit einem HAWK war ungefähr das Gleiche, wie mit einem Fallschirm aus einem Flugzeug abzuspringen. Der Unter
schied bestand darin, dass man den HAWK etwa zehn bis fünfzehn Meter über dem Boden abschnallte und den Rest tatsächlich fiel. Es war für gewöhnlich eine harte Landung, und man landete nicht immer auf den Füßen. Die meisten rollten sich zu einer Kugel zu sammen und kullerten weiter, bis sie liegen blieben. Nicht Logan. Während ihm im Visor die Höhe in Metern angezeigt wurde … 50 … 40 … 30 … 20 … hatte sich seine Geschwindigkeit auf weniger als vierzig Kilometer pro Stunde verringert. Logan warf seine Beine nach vorn und löste sich mit Schwung aus den Gurten. Die Flügel fielen in sich zusammen und schleiften wie bei einem plattgetretenen Schmetterling hinter ihm her. Er kam auf dem Boden auf, rollte sich dreimal ab und kam mit einem Sprung auf die Beine. Aber der Schwung seines Absprungs trieb ihn noch weiter voran. Logan erspähte vor sich einen umgestürzten Baum, der auf seinem Weg lag. Gerade in dem Moment, als er über das Hindernis hinwegsprang, erhob sich hinter dem Stamm die Gestalt eines … Menschen. Es war zu spät, um anzuhalten. Logan krachte in den Fremden und hörte einen erstickten Schrei. Ohne die Situation unter Kon trolle zu bekommen, wurden beide zu Boden geschleudert und roll ten in einer Staubwolke einen steilen Abhang hinunter.
Der Alarm war wieder ausgegangen. Die Ruhe war wieder herge stellt. Subject X trieb jetzt bewegungslos in der Flüssigkeit, die Krämpfe hatten nachgelassen. Techniker und Ärzte gingen im Raum umher, rekalibrierten Instrumente und starteten wichtige Compu tersysteme neu. »Wir werden ein wenig Zeit verlieren, Professor. Es lässt sich nicht vermeiden«, erklärte Dr. Hendry mit ernster Miene. »Die Techniker werden die Computer wieder hochfahren müssen, die Funktion einiger Sonden wieder herstellen. Aber für den Moment ist Subject X
stabil.« Der Professor nickte nur ganz leicht, ehe er sich zu Dr. Cornelius umwandte. »Die Nanotechnologie. Funktioniert sie?« »Der Vorgang ist abgeschlossen, die Siliziumklappen arbeiten wie die echten«, sagte Cornelius. »Man kann sie auf dem Ganzkörpe rultraschall erkennen … die winzigen schwarzen Punkte am Skelett …« Der Professor betrachtete das Bild, dann zog er eine Augenbraue hoch. »Und Sie sind sich völlig sicher, dass nicht Ihre Nanochips den Anfall bei Subject X ausgelöst haben?« »Auf keinen Fall«, erwiderte Cornelius mit mehr Überzeugung, als er je verspürt hatte. »Dann müssen wir uns an Sie wenden, Ms. Hines«, zischte der Professor. »Was für eine Theorie haben Sie? Was ist Ihrer Meinung nach schiefgegangen?« Carol Hines schluckte nervös. »Ich … ich glaube immer noch, dass wir es mit zufalligen elektrischen Impulsen im Hypothalamus zu tun haben. Dort sind die niedrigsten Instinkte des Menschen zu Hause … das Tier in uns – das ums Überleben kämpft, wenn es be droht wird.« »Poetischer Schwachsinn«, spottete Dr. MacKenzie. »Irgendwo im Gehirn hat es gefunkt. Die Versuchsperson hat sich an irgendetwas erinnert, etwas, das sich in der Vergangenheit zugetragen hat, Ge burtswehen – was auch immer.« »Auf den Monitoren war nichts Derartiges zu sehen«, beharrte Hines. »Wir haben beide die Impulsspitze gesehen«, erwiderte Ma cKenzie, »nur haben Sie das Ganze als eine Anomalie abgetan.« Der Professor hob eine Hand, um die Diskussion zu unterbrechen. »Was bedeutet das, Doktor?« MacKenzie sah den Professor an. »Dem EMaM ist es nicht ge lungen, sich vollständig mit dem Geist der Versuchsperson zu ver
binden. Es gab eine Lücke im System, einen Fehler im Programm. Ein Teil der früheren Persönlichkeit von Logan – ich wollte sagen, von der Versuchsperson – hat sich bemerkbar gemacht.« MacKenzie kehrte dem Professor den Rücken zu, um zu dem Mann im Tank zu schauen. Er klopfte an die Scheibe, als wäre es ein Aquarium. »Irgendetwas ist in seinem Kopf vorgegangen. Subject X ist nicht bereit, seine Identität aufzugeben … noch nicht«, verkündete Ma cKenzie. »Darauf wette ich mit meinem Namen.« Der Professor verschränkte die Arme hinter dem Rücken und ging im Labor umher. »Das stellt uns vor ein kleines Problem. Zwei meiner Kollegen sind nicht der Meinung, dass wir es mit einer kri tischen Phase im Waffe-X-Programm zu tun haben. Wir befinden uns in einer Sackgasse. Wie sollen wir weiter verfahren?« MacKenzie trat vor. »Ich habe alles in meiner Macht Stehende ge tan, um nicht die Kontrolle über Subject X zu verlieren. Wir hatten keine Schwierigkeiten, bis die Hirndämpfer deaktiviert wurden. Ich schlage vor, wir arbeiten mit Chemikalien weiter – Pheno-B. Erste Dosis drei Milligramm, später mehr, wenn nötig.« MacKenzie sah Carol Hines herausfordernd an. Sie hielt seinem Blick stand, dann schaute sie zum Professor. Auch er starrte sie an. »Ich werde das EMaM-Hauptmenü neu starten«, sagte sie schließ lich. »Und dann noch einmal eine ganz neue Verbindung herstellen. Es ist möglich. dass … vielleicht ist möglicherweise etwas übersehen worden.« MacKenzie, der angesichts seines Sieges ein selbstgefälliges Lä cheln zur Schau trug, wandte der Frau den Rücken zu. »Der Neustart wird ungefähr eine Stunde in Anspruch nehmen«, fuhr Carol Hines fort. »Und dann können wir es noch einmal versu chen.« »Dann also in einer Stunde«, erwiderte der Professor. Einen Augenblick später befand er sich schon im Fahrstuhl nach oben.
Nachdem der Professor fort war, trat Dr. Cornelius an Hines' Workstation und berührte ihren Arm. »Machen Sie sich nichts draus«, sagte er. »So etwas passiert … Verzögerungen … Irrtümer … Rechenfehler. Keiner ist vollkommen. Wette, solche Sachen sind bei der NASA ständig passiert.« Carol Hines tippte auf ihrer Tastatur ohne aufzuschauen. »Egal – der Professor steckte in einem Dilemma und er hat sich für MacKenzie entschieden … Sie können ihm nicht vorwerfen …« »Was kann ich ihm nicht vorwerfen?«, unterbrach sie Cornelius und schaute zu ihm auf. Ihr schmales Gesicht war unter dem strengen Haarschnitt gerötet. »Dass er der Person Glauben schenkt, die den längsten Titel hat?« Cornelius schüttelte den Kopf. »Sie haben das alles falsch verstanden, Ms. Hines. Der Professor hat sich für die Technologie entschieden, der er vertraut, nicht für den Mann. Seine Entschei dung hat nichts mit Titeln zu tun oder mit der Tatsache, dass Ma cKenzie promoviert ist. Er hat Pheno-B einfach schon früher benutzt, aber EMaM noch nie.« Er konnte sehen, dass sie ihm jetzt zuhörte und seinen Worten auf merksam lauschte. »Erinnern Sie sich daran«, fuhr er fort, »dass der Professor ursprünglich meine Nanochips für die seltsame Reaktion von Sub ject X verantwortlich machen wollte.« Mit Erleichterung stellte Cornelius fest, dass sich ihre Gesichts züge entspannten. »Und falls Sie es noch nicht bemerkt haben sollten«, flüsterte er verschwörerisch, »ein gewisser Dr. Hendry hat es auf mich abgese hen. Also brauchen Sie nicht das Gefühl zu haben, dass Sie schikaniert werden, nur weil der am Projekt beteiligte Psychiater Sie nicht mag. Ich fange allmählich an zu glauben, dass alle an diesem Projekt Beteiligten bis zum Hals in der sprichwörtlichen Scheiße sitzen.«
SECHS Das Experiment
Der Professor hob von seinem Stuhl aus eine bleiche Hand. »Lasst uns Geschichte schreiben.« Dann waren nur noch das Klappern von Tasten und laute Befehle zu hören. Wissenschaftler und Techniker hatten sich in dem riesigen Raum an die Arbeit gemacht. »Einspeisung beginnen.« Der Befehl kam von Dr. Chang, einem Metallurgen, der für seine Arbeit mit Speziallegierungen bekannt war. Chang hockte vor einem riesigen Monitor neben einer tragbaren Zwei-Wege-Pumpe, die an dem blubbernden Tank lehnte. »Einspeisung eingeleitet«, sagte der technische Assistent, der dicht hinter dem Metallurgen an einem zweiten Rechner saß. Hinter der Scheibe aus Bleiglas entwich unten aus der Pumpe zischend Dampf, während flüssiges Adamantium aus einem Behäl ter in die Zuführschläuche floss, die sich in den Behälter schlängelten, in dem sich die Versuchsperson befand. »Stabil … Adamantium-Aufspaltung steht neunundzwanzig zu eins, Sir«, warnte Dr. Chang. »Ich werde kompensieren.« Der Professor schüttelte den Kopf und zeigte auch nicht die Spur von Besorgnis. »Es wird weniger werden, kein Problem.« Chang nickte. »Einspeisen.« »Stabil …« »Einspeisen.« »Kardiotachometer?«, fragte der Professor.
Carol Hines wollte schon einen Blick auf den Herzmonitor werfen, als Dr. Hendry auch schon barsch hervorstieß: »Hoch. Höher, als wir dachten.« Der Behälter sah nun wie ein brodelnder Glaskessel aus. Die Gestalt im Tank hüpfte umher wie ein Korken in einer kochenden Flüssigkeit. Subject X würde entweder in die Wissenschaftsgeschich te eingehen oder eines flammenden Todes sterben. Dr. Cornelius beobachtete die Prozedur mit angespannter Erwartung. Im Raum roch es eher wie in einer Stahlschmelze denn wie in einem medizinischen Labor oder einem provisorischen Ope rationssaal. Der Geruch nach brennendem Metall hing in der Luft, und in den letzten paar Minuten war die Temperatur am Boden um mehrere Grad gestiegen. Die Gründe dafür waren zum einen der Be hälter am einen Ende des Raumes, der hinter einer dicken Mauer aus Bleiglas rot glühte, und zum anderen der Inhalt dieses Behälters. Darin befanden sich hunderte von Kilo geschmolzenen Adamanti um-Stahls, der unter Druck gesetzt und vorbereitet wurde, um ihn in den Körper der Versuchsperson zu pumpen. Cornelius wusste, dass Adamantium die härteste Substanz im ganzen Universum war. Die in den Vierziger Jahren des 20. Jahr hunderts von Dr. Myron MacLain, einem bei der US-Regierung angestellten Metallurgen, entwickelte Legierung war durch die Ver bindung von mehreren streng geheimen Harzen unter Zusatz der geheimnisvollen Substanz Vibranium entstanden. In flüssiger Form war Adamantium nur ungefähr acht Minuten lang formbar und das auch nur, wenn man für eine gleichbleibende Temperatur von über 800 Grad Celsius sorgte. Nach vierhundertachtzig Sekunden war es nicht mehr möglich, die Legierung mit irgendeiner anderen Sub stanz zu verbinden. Das hieß, dass auch die kleinste Unterbrechung während der kritischen Einleitphase katastrophal wäre. Um den Tank von Subject X herum überwachte das Team von Computerterminals und medizinischen Beobachtungsgeräten aus alle Einzelheiten des Prozesses. Ein Geräusch übertönte den Lärm
der surrenden Maschinen: das Piepsen der Maschine, die Herz rhythmus, Atmung, Körpertemperatur und andere Körper funktionen überwachte. Dr. Changs Hände huschten weiter über seine Tastatur. Hinter der Bleiglasscheibe löste sich die Dampfwolke auf. »Stabil …« »Einspeisen …« »Überzugprozedur einleiten … jetzt!« Die Aktivität im Tank steigerte sich um ein Vielfaches. Als gesch molzenes Metall die Zulaufschläuche füllte, überhitzte es diese. Dann wurde die thermische Energie sofort auf die Flüssigkeit im Tank übertragen. Innerhalb von Sekunden war Subject X in der bro delnden, chemischen Brühe kaum noch zu erkennen. »Stabil …« »Einspeisen.« Am Monitor verfolgte Dr. Chang, wie das geschmolzene Adaman tium in die Knochen von Subject X eindrang. Auf dem Ultraschall bild sah es so aus, als ob die geisterhaft grauweißen Knochen mit schwarzer Farbe überzogen wurden. Der Professor vergrößerte sich das gleiche Bild mehrere hundert Mal an seinem eigenen Monitor, um die Oberfläche des rechten Oberschenkelknochen zu mustern. Am Ultraschall war deutlich zu erkennen, dass die Nanochips sowohl die winzigen Löcher in den Knochen als auch die Blut- und Kapillargefäße, die in ihnen ver liefen, schützten. Cornelius sah dieselben Informationen auf seinem Monitor und verspürte eine Mischung aus Triumph und Erleichterung. Vor ein paar Jahren hätte er noch geglaubt, dass das, was er hier mit eigenen Augen sah, nicht möglich wäre. Doch allein die Vision des Professors, der gewaltige wissenschaftliche Fortschritt des Pro gramms und die schier unerschöpflichen Gelder schienen alles möglich zu machen. »Stabil …«
»Alles läuft gut, Doktor. Ich bin sehr zufrieden.« Cornelius brauchte einen Augenblick, um zu erkennen, dass der Professor mit ihm gesprochen hatte. »Einspeisung?« »Überzug?« »Stabil. Beides stabil«, erwiderte Dr. Chang und strich sich eine glänzende, schwarze Strähne aus der Stirn. Während Cornelius zusah, wurde lebendes Gewebe mit einer Me talllegierung verbunden, um den wirklich ersten bionischen Organismus der Welt zu erschaffen. Hier wurde tatsächlich Ge schichte geschrieben, und Cornelius fühlte sich veranlasst, etwas zu sagen. »Das ist ein außergewöhnliches Experiment, Professor. Ich fühle mich geehrt, dass ich Anteil daran habe.« Die schmalen Lippen des Professors kräuselten sich eher zu einem höhnischen Grinsen als zu einem Lächeln. »Natürlich haben Sie das, Cornelius.« »Kardiotachometer?« Dieses Mal war es der Metallurge, der um aktuelle Daten bat. Hendry schüttelte den Kopf. »Nicht gut … Es ist wahrscheinlich das autonome Nervensystem.« »Einspeisen.« Dr. MacKenzie sprach das erste Mal wieder, seit die Verbindungs prozedur begonnen hatte. »Setzen wir das Pheno-B hoch. Um zwei Punkte … Nein, einen. Ein bisschen mehr, und er hat nur noch Grütze statt Hirn.« »Gibt es Grund zur Sorge?« Der Professor hatte die Frage an den Psychiater gerichtet, aber es war Hendry, der antwortete. »Ich denke nicht, Professor. Sie haben Subject X wegen seines be merkenswerten Durchhaltevermögens ausgewählt. Wir haben es jetzt einfach damit zu tun, dass sein autonomes Nervensystem ange sprungen ist. Er ist ein harter Bursche – sogar wenn er bewusstlos
ist.« »Mit der Chelatbildung beginnen«, sagte Dr. Chang. Die Bläschen in der aufgewühlten Flüssigkeit um Subject X vermehrten sich, als er wild um sich zu schlagen begann und dabei immer wieder gegen die Glaswände prallte. »Was ist denn das?«, fragte der Professor scharf. »Widerstand, Sir«, antwortete MacKenzie. »Er hat sich einen der Zulaufschläuche herausgerissen!«, schrie der Metallurge. »Zufuhr zu Schlauch Neunzehn B unterbrechen, über die Ersatzschläuche A und C kompensieren.« »Wird kompensiert.« »Beibehalten.« »Verdammt … Widerstand. Noch mehr Widerstand!«, stieß Hendry angstvoll hervor. »Ausgleichen!« »Einspeisen.« »Verhindert.« »Einspeisen über den Ersatzschlauch.« »Balance bald wieder hergestellt«, verkündete der Metallurge. »Konstant … konstant … Balance hergestellt.« Das Zappeln nahm ab. Weiterhin wurde geschmolzener Stahl ins zuckende Fleisch der Versuchsperson gepumpt. »Wie stabil ist die EMaM-Verbindung?«, fragte der Professor. »Steht bei einhundert Prozent«, erwiderte Carol Hines. »Ich habe die Stromstärke erhöht, um die autonomen Nervenfunktionen der Versuchsperson zu unterdrücken. Ich denke, das hat Dr. Hendrys Problem mit dem autonomen Nervensystem behoben.« »Hendry … Autonomes Nervensystem?« Hendry schaute von seinem Bildschirm auf. »Geht zurück, Professor. Fast wieder normal.«
»Kardiotachometer, Miss Hines?« Sie zögerte mit der Antwort, denn sie war erstaunt, dass der Professor sich wieder an sie gewandt hatte. »Steigt rasch an, Sir. Die Herzfrequenz liegt bei 198 pro Minute und erhöht sich weiter.« Der Professor biss die Zähne zusammen. Die erhöhte Herz frequenz der Versuchsperson bereitete ihm Sorge. »Diagnose, Dr. Hendry?« »Sir, ich denke, die Nanotechnologie ist dafür verantwortlich …« »Jetzt machen Sie aber mal einen Punkt …«, protestierte Cornelius. Der Professor hob die Hand. »Erklären Sie das, Dr. Hendry!« »Auf dem Ultraschall erkennt man graue Flecken, die das ganze Skelett bedecken und von denen Cornelius behauptet, es seien seine Nanochips. Nun, schauen Sie sich das mal an …« Eine Vergrößerung des Herzmuskels offenbarte die gleichen, grauschwarzen Flecken im Innern aller vier Kammern. »Ich glaube, dass Dr. Cornelius' Programmierung fehlerhaft war. Die Nanochips haben den festen Herzmuskel als Knochen betrachtet – mit vorhersehbarem Ergebnis.« Cornelius war sprachlos. Kann ich mich so sehr geirrt haben? Der Professor runzelte die Stirn und sprach kurz angebunden. »Ms. Hines, würden Sie bitte die medizinische Akte und die Kran kengeschichte der Versuchsperson einsehen? Ich habe mich zwar lange genug damit beschäftigt, aber vielleicht habe ich etwas überse hen.« »Auf dem Schirm, Sir«, verkündete Hines. »Irgendwelche Angaben zu Herzanomalien?« »Keine, Sir.« Schweigend betrachtete der Professor die im Tank treibende Gestalt. Als er schließlich sprach, schwang in seinem Tonfall Reue mit. »Sie enttäuschen mich, Cornelius. Warum hatten Sie sich nicht auf diese Eventualität vorbereitet?«
Cornelius starrte die Vergrößerung an. Seine Nanochips drängten sich immer noch um die Herzklappen – und richteten weiß Gott wieviel Schaden im Herzen der Versuchsperson an – obwohl sie eigentlich schon längst nicht mehr dort sein sollen. Himmel noch mal, vor ein paar Minuten waren sie längst fort gewesen. Warum waren ein paar von ihnen wieder im Herzmuskel gelandet? »Ich dachte, ich hätte mich auf alles vorbereitet, Professor. Aber wer hätte das voraussehen können?« Der Metallurge unterbrach ihn. »Sir, die Adamantium-Absorb tionsrate sollte bei vierundzwanzig zu eins liegen …« »Natürlich.« »Sie beträgt dreiundfünfzig zu eins, Sir … und der Wert erhöht sich weiter.« Das erste Mal, seitdem Cornelius den Professor kannte, schien dieser verblüfft. Sofort verlangte er eine Erklärung von Carol Hines. »Es scheint so, als würde die stark erhöhte Herzfrequenz von Sub ject X das Adamantium mit dem Dreifachen der geschätzten Ge schwindigkeit aufnehmen«, erklärte sie. Plötzlich wurde Alarm ausgelöst und unterbrach ihre Ausfüh rungen. Dr. Hendry analysierte das Problem, ohne von seinem Bild schirm aufzuschauen. »Die Versuchsperson schlägt wieder um sich. Und es befindet sich ein Leck im Tank. Ich stelle Spuren von Adamantium fest.« »Der beschädigte Schlauch?«, äußerte sich Hines. »Nein«, sagte Hendry sofort. »Die undichten Stellen sind die Po ren der Versuchsperson. Er gibt über seine Schweißporen Adaman tium ab.« Der Professor wirkte plötzlich besorgt. »Abstoßung?« »Eher … Ausscheidung«, erwiderte Hendry. »Seine Leber, seine Lymphknoten – sie behandeln das Metall, als würde es sich um eine bakterielle Infektion oder ein Gift handeln. Ein Teil der Legierung wurde über die Haut ausgeschieden. Nicht so viel, dass man sich
Sorgen machen müsste, aber …« »Die Leberfunktion dieses Typen muss phänomenal sein«, sagte Dr. MacKenzie. »Die arbeitet so effizient, dass unser Junge hier wahrscheinlich gar nicht betrunken wird, nicht einmal, wenn er es will. Das könnte auch seine Resistenz gegen Betäubungsmittel erklä ren.« »Mein Gott! Das könnte auch eine Erklärung dafür sein, warum sich die Nanochips in seinem Herzen festgesetzt haben«, rief Cor nelius. »Erklären Sie das, Doktor«, sagte der Professor. »Die Versuchsperson hat eine phänomenale Widerstandskraft, richtig? Und wir sehen, dass auch sein Immunsystem ganz erstaun lich ist …« »Was wollen Sie damit sagen?« »Diese Chips sind nicht aus eigenem Antrieb in sein Herz ge wandert und ihre Programmierung war auch nicht fehlerhaft. Sie wurden vom Immunsystem der Versuchsperson in den Blutstrom zurückgedrängt!« Cornelius wirbelte zu Hendry herum. »Wie hoch ist die Anzahl der weißen Blutkörperchen im Herzen der Versuchsperson?« Hendry tippte etwas in den Computer ein. »Erhöht … anomal hoch, als ob …« »Als ob er gegen eine Infektion kämpfen würde.« Cornelius drehte sich zum Professor um. »Das bedeutet, dass sein Immunsystem stark genug war, um einen gewissen Prozentsatz meiner Chips zu vernichten, die jetzt wie ein Abfallprodukt über die Schweißporen ausgeschieden werden.« Der Professor überdachte die Informationen. Während seine Ge danken beschäftigt waren, schienen seine Brillengläser das Licht zu reflektieren. Dr. Cornelius sah zum Kardiotachometer und stellte fest, dass sich die Herzfrequenz stabilisiert hatte.
»Ich kann Ihnen versichern, Professor, dass es keine weiteren Pro bleme geben wird«, sagte er. »Die Herzfrequenz von Subject X kann gar nicht mehr höher gehen, sonst wäre er ja … nun ja, ein Über mensch oder so.« Der Kopf des Professors fuhr hoch, als hätte Cornelius' Beobach tung tiefen Eindruck auf ihn gemacht. Sein ohnehin schon fahles Gesicht wurde kalkweiß, und obwohl er nicht sprach, bewegte sich der Kiefer des Professors hinter den Lippen. »Wir werden bald den Ausgleichspunkt überschreiten, Sir. Wir müssen auf jedem Kanal kompensieren«, warnte Changs Assistent. Dr. Hendry war verblüfft. »So schnell?« »Erstaunlich«, sagte Cornelius. Der Techniker hielt inne und wartete auf eine Entscheidung des Professors. Aber Cornelius konnte erkennen, dass das wissenschaft liche Genie wie gelähmt war. Er war nicht in der Lage, etwas zu un ternehmen, und noch nicht einmal in der Lage zu sprechen. Cornelius trat vor. »Dann weiter einspeisen«, befahl er. »Über je den Kanal.« Dr. Hendry blinzelte, sagte jedoch nichts. Schätze, jetzt trage ich die Verantwortung – für den Augenblick zu mindest, dachte Cornelius. Und wenn das so ist, dann wollen wir die Si tuation doch mal ausreizen … bis zum Äußersten. Wenn dieser Typ Logan so viel Adamantium schlucken kann und dann gerade mal aufstößt, wozu ist er dann noch in der Lage? »Einspeisen«, bat der Techniker um Bestätigung. »Auf allen Kanälen einspeisen«, sagte Dr. Chang, während er Cor nelius einen schnellen Blick zuwarf. »Gesamteinspeisung. Auf Stufe Zwei beibehalten.« »Wodurch wird das hervorgerufen, Doktor?« Die Hand des Spre chers hieb wie eine Klaue auf Cornelius' Schulter. »Ich kann auch nur raten, Professor«, erwiderte Cornelius.
»Wir haben genug Thorazin in die Versuchsperson gepumpt, um einen Ochsen damit umzubringen, also haben wir es wohl mit mehr als nur einer eisernen Konstitution oder einer Anomalie des auto nomen Nervensystems zu tun.« »Doktor?« Carol Hines sah mit ihren grünen Augen am Professor vorbei zu Cornelius. »Ich habe da eine interessante Information für Sie.« Cornelius – mit dem Professor im Schlepptau – trat an den Computer der Frau. »Laut den Akten wurde Subject X mindestens fünfmal ange schossen und überlebte jeden Angriff. Vier Schüsse in den Rumpf, einen ins Bein. Außerdem hat er eine Reihe schwerer Verletzungen erlitten.« Cornelius zuckte die Achseln. »Zäher Kauz … Das wissen wir, Hines.« »Aber bei den Bioscans und im Ultraschall war weder äußeres noch inneres Narbengewebe zu sehen. Überhaupt keins.« »Cornelius, hatten Sie nicht gesagt, die Versuchsperson sei letzte Nacht verletzt worden?« »Ja, Professor.« Tja, eigentlich hatte Hendry das gesagt. Ich habe nur ein paar der Verletzungen gesehen. »Wo sind denn dann seine Wunden?« Das gab Cornelius zu denken. Er betrachtete die Gestalt im Tank, die in zu viele Bläschen gehüllt war, als dass man irgendwelche Ein zelheiten hätte erkennen können … nur blasses Fleisch und schwarzes Haar, das wie eine zerrissene Fahne in der Flüssigkeit trieb. »Hines, können Sie irgendwelche Angaben machen?«, fragte Cor nelius, der immer noch Logan anstarrte. »Ich kann leichte Spuren feststellen«, sagte sie. »Ein leichter Bluter guss an der Schläfe. Aber vor einer Stunde hatte er noch einen aus gerenkten Kiefer, Schnitte und Hautabschürfungen. Und jetzt ist da
absolut nichts.« Cornelius und der Professor dachten über diese Information nach, während Carol Hines ihren Bericht fortsetzte. »Es gibt einen direk ten Zusammenhang zwischen dem Phänomen und der hohen Herz frequenz. Und …« Sie zögerte. »Nun ja, ich weiß nicht, wie wichtig das ist … Es hört sich dumm an. Aber Mr. Logans Haar ist in nur zwanzig Minuten fast vollstän dig nachgewachsen. Wir haben ihn mehrere Male rasiert. Diese An omalie wurde der im Tank befindlichen synthetischen Frucht wasserlösung zugeschrieben.« Im Labor wurde es ganz still, als sich alle Blicke auf die Ver suchsperson im Tank richteten. Nur das gleichmäßige Piepsen der Geräte, die die Lebensfunktionen überwachten, durchbrach die Stille. »Wir scheinen hier gerade etwas noch nie Dagewesenes zu erleben«, erklärte Cornelius in fast schon ehrfurchtsvollem Ton. »Unser Mr. Logan ist irgendwie übermenschlich.« »Okay, ich muss das mal ganz schnell überdenken«, sagte Dr. Hendry, der zu der Gruppe getreten war. »Wenn die Wunden des Patienten jetzt verheilt sind, könnte seine Herzfrequenz wieder fallen – seien wir also darauf vorbereitet, gegebenenfalls innerhalb einer Sekunde einzugreifen. Das ist Möglichkeit Eins.« »Was, wenn die Herzfrequenz wieder ansteigt?«, fragte Hines. »Kommen wir zu Möglichkeit Zwei«, sagte Hendry. »Wenn die Herzfrequenz weiter steigt, wird entsprechend viel Noripenephrin gegeben … Aber halten Sie mich über alle Veränderungen auf dem Laufenden.« Niemand sprach mehr davon, dass man Subject X eventuell umbringen könnte, stellte Cornelius fest. Wahrscheinlich weil sich herausgestellt hat, dass nichts, was wir tun, dem Typen schaden kann oder ihn gar töten wird. Im Moment bin ich mir noch nicht einmal sicher, ob wir ihm über
haupt etwas anhaben können … »Dr. Chang, Ms. Hines? Reicht der Adamantium-Vorrat für all diese … zusätzlichen Aktivitäten?« »Er reicht bei der gegenwärtigen Geschwindigkeit, Dr. Hendry.« Hendry versetzte der Tastatur einen Stoß. »Nicht gut genug. Auf Reserve umschalten.« Carol Hines richtete ihren Blick auf den Professor. »Ich werde die Genehmigung von …« »Sie haben sie, Madam. Schalten Sie jetzt auf die AdamantiumReserve um – sofort!« Der Professor brüllte den Befehl über die Schulter, während er schon auf eine Tür zumarschierte, die in ein Ausweichlabor führte. »Professor«, rief Cornelius. »Ich brauchte Ihren Rat …« Die Tür schloss sich. Der Professor ging, ohne noch ein Wort zu sagen. Dr. Cornelius kratzte sich an seinem bärtigen Kinn. »Na, wie finden wir denn das? Da stecken wir mitten in einer Krise und er geht einfach.« Was in drei Teufels Namen konnte so wichtig sein?
Der Professor schäumte vor Wut. Dieser blöde Cornelius will meinen Rat? Hat der etwa vergessen, dass er hier ist, um Ratschläge zu erteilen, und nicht etwa entgegenzunehmen? Ich bin hier der Meister. In einem kleinen Raum abgeschieden vom Hauptlabor schloss der Professor eine schwere Luke und aktivierte die magnetischen Klammern, um den Rest der Welt auszusperren. Hinter ihm schalte te sich ein Computer automatisch ein. Er begann einen Code einzugeben, der nur ihm bekannt war, doch dann hielt er plötzlich inne. Der Professor merkte, dass seine Hände zitterten.
Absurd, so aus der Fassung zu sein, sagte er sich selbst. Seitdem ich anfing, die Fäden zu ziehen, bin ich nicht mehr so aus dem Gleichgewicht geraten. Jetzt zieht jemand anders die Fäden. Er beendete die Eingabe des Codes, wartete, bis eine abhörsichere Satellitenverbindung hergestellt war. »Sprechen Sie.« Die Stimme am anderen Ende hallte etwas und war durch ein ständiges, elektronisches Summen leicht verzerrt. »Ich bin's«, begann der Professor das Gespräch. Der Bruchteil einer Verzögerung trat ein, als die Übertragung verschlüsselt wurde. »Sie gehen ein hohes Risiko ein, indem Sie sich mit mir in Verbindung setzen.« »Ja, ich weiß. Aber ich muss Ihnen etwas mitteilen …« »Was könnte so wichtig sein, dass Sie dafür bestehende Kom munikationsvorschriften missachten?« »Das Experiment wird gerade fortgesetzt …« »Und läuft bestimmt gut, wie ich hoffe?« »Ja …« »Subject X wird also die Verbindungsprozedur überleben?« »Natürlich wird er sie überleben«, stellte der Professor fest, wäh rend seine Unruhe immer größer wurde. »Das ist ja gerade der Punkt. Sie wussten, dass Logan ein Mutant ist.« Schweigen. »Die Erkenntnis kam etwas überraschend«, fuhr der Professor mit angespannter Stimme fort. »Warum haben Sie mich nicht informiert?« »Diese Unterhaltung ist riskant, Professor. Für uns beide.« »Keiner kann mich hören. Ich befinde mich in einem hermetisch abgeschlossenen Labor.« »Sie sollten bei Ihrem Patienten sein.« »Ich kann die Prozedur am Bildschirm mitverfolgen. Ich muss dar auf bestehen, dass Sie mich bis zu Ende anhören …«
Der Professor spürte, dass der Director über seinen Anruf verärgert war, aber er musste loswerden, was er gerade erfahren hatte. »Logan ist ein Mutant. Er besitzt die übermenschliche Fähig keit, beschädigtes Gewebe zu regenerieren. Er ist damit praktisch unsterblich, und trotzdem haben Sie mich über diesen wichtigen Aspekt nicht in Kenntnis gesetzt?« »Ich war im Besitz dieser Information. Das stimmt. Aber dass Lo gan ein Mutant ist, fällt unter die Geheimhaltungsvorschriften. Nur Personen, die es wissen müssen, wird diese Information zugänglich gemacht – und Sie, Professor, mussten es nicht wissen.« »Ich sitze da mit diesem Hinterwäldler Cornelius und meinem Team und dieses, dieses Mädchen – praktisch eine Tippse – entdeckt die Wahrheit über Logan, indem sie ein paar Knöpfe auf ihrem ver dammten Computer drückt!« »Worauf wollen Sie hinaus?« »Es erweckt den Eindruck, als wüsste ich überhaupt nichts. Ich musste das Labor verlassen, um Fragen auszuweichen, die man mir unter Umständen gestellt hätte. Ich kam mir vor wie ein Narr!« Der Professor hasste sich selbst in dem Moment, als er es zugab. Seine Stimme ließ ihn wie ein weinerliches Kind erscheinen, und er fühlte sich von sich selbst abgestoßen. Der Director lachte. »Sie klingen ärgerlich, Professor.« »Ja …« Er zwang sich, seine Stimme wieder ganz ruhig klingen zu lassen. Beherrscht. »Man könnte sagen, dass ich ein wenig außer mir bin.« »Aber laut Ihrer Aussage verläuft alles nach Plan.« »Sie verstehen nicht … Ich soll diese Leute beaufsichtigen und an weisen. Aber ich kann ja noch nicht einmal die Illusion von Autori tät aufrechterhalten, wenn ich von Ihnen nicht gründlich informiert werde.« Schweigen. Der Professor versuchte, seinen Ärger in den Griff zu bekommen.
Er wusste, dass Director X die Zurschaustellung von Emotionen nicht mochte und allen Respekt verlor, wenn jemand Schwäche zeigte. Als der Professor wieder sprach, klang seine Stimme ruhig und war bar jeden Ausdrucks. »Vertrauen Sie mir etwa nicht?«, fragte er, um dann sofort zu be dauern, dass er die Frage überhaupt gestellt hatte. Verdammt! Der Professor hörte kaum hin, als die Antwort kam, denn die Er widerung des Leiters war unnötig. Natürlich vertraute Director X ihm nicht. Allein die Tatsache, dass der Director solch wichtige In formationen über die Versuchsperson zurückgehalten hatte, sprach Bände in Bezug auf Logan, auf das Experiment, auf die Prioritäten des Directors und auf die Stellung des Professors. »Ich verstehe«, sagte der Professor schließlich. »Dann habe ich noch eine letzte Frage.« »Ja?« »Gibt es da noch etwas, was ich über Experiment X nicht weiß?« Dieses Mal erhielt er keine Antwort. Der Director hatte das Gespräch beendet. *** Im Labor hatte sich der Adamantium-Verbrauch um das Dreifache erhöht. Dr. Chang hatte gemeint, dass ein Leck dafür verantwortlich sein könnte, deshalb suchten Carol Hines und Dr. Hendry auf ihren Bildschirmen nach Hinweisen darauf. »Die Kanäle sind alle intakt, Doktor, aber es fließt übermäßig viel in … warten Sie einen Moment … in die Bereiche flexor brevis – minima digiti.« Cornelius Einführungsseminare in Anatomie lagen weit zurück. »In einfacher Sprache, bitte, Ms. Hines.« »Entschuldigung. In Hände und Handgelenke, Sir.«
Cornelius stand hinter der Frau und schaute auf den Bildschirm. Er warf Hendry einen Blick zu und hoffte auf eine Antwort. Aber das knochige Gesicht und der eckige Kiefer des Mannes wirkten angespannt. Es war offensichtlich, dass auch er nicht wusste, was es mit dem Leck auf sich hatte. »Im Tank ist aber von dem so meinte Cornelius. »Weniger als gendwo muss das Adamantium seinen Handgelenken sammeln binden?«
genannten Leck nichts zu sehen«, ein Hunderttausendstel. Aber ir ja hin. Es kann sich nicht alles in – womit sollte es sich dort ver
Cornelius schüttelte den Kopf. »Wir brauchen einen Rat … Weiß irgendjemand, wo der Professor hin ist?« Er erntete leere Blicke. »Nicht? Dann rufen Sie ihn aus.« Einen Augenblick später dröhnte eine ärgerliche Stimme aus den Lautsprechern. »Cornelius? Was soll diese ganze Aufregung?« Cornelius sah sich nach einem Mikrofon um, dann sprach er: »Professor, wo sind Sie?« »Was wollen Sie, Doktor?« Cornelius erkannte, dass der Professor alles hören konnte. Dieses Labor ist offensichtlich mit einer Abhöranlage ausgestattet. In wie vielen weiteren Räumen gibt es noch Überwachungsanlagen? Werden wir gerade beobachtet? »Es ist ein neues Problem aufgetaucht«, begann Cornelius. »Könn ten Sie ins Labor zurückkommen?« »Ich bin beschäftigt … Um was für ein Problem geht es diesmal?« »Es fließt übermäßig viel Adamantium in die minima … flexor – die Hände und Handgelenke. Wir können es nicht erklären und können auch nichts dagegen tun.« Es folgte ein langes Schweigen. »Äh, Professor? Haben Sie gehört, was ich gesagt habe?«
»Natürlich.« »Nun ja, dann …« »Das ist alles Bestandteil meines Programms, Cornelius. Meinen Sie etwa, ich wüsste nicht, was ich tue?« »Nein, Sir. Natürlich nicht …« »Fahren Sie mit der Arbeit fort, und kümmern Sie sich um alles Weitere, wenn der Verbindungsprozess abgeschlossen ist.« »Dann kommen Sie also nicht ins Labor zurück?« Wieder war es lange Zeit still. Cornelius merkte, dass der Professor die Verbindung dieses Mal unterbrochen hatte. Carol Hines schaute zu Cornelius auf. »Und das Leck, Doktor?« »Es scheint nicht lebensbedrohlich zu sein und stört den Prozess auch nicht, also werden wir es einfach ignorieren. Dann bringen das jetzt mal zu Ende, okay? Wir werden in der postoperativen Untersu chungs- und Beurteilungsphase versuchen herauszufinden, was es mit dem Leck auf sich hat.« *** Als die Gegensprechanlage summte und das Geräusch durch die ganze Unterkunft dröhnte, erwachte der Mann auf der Pritsche. Cutler setzte sich auf und drückte auf den Knopf. »Cutler«, sagte er, während er sich die Augen rieb. »Ihr Pfadfinder kampiert jetzt seit mehreren Stunden vor meinem Büro«, fuhr ihn Major Deavers an. »Das war wohl Ihre Idee, was?« Cutler kicherte unterdrückt. »Wollte bloß, dass sich Agent Franks mit dem Personal und den Abläufen in der Anlage vertraut macht.« »Franks ist auf dem Weg ins Hauptlabor, um Subject X abzuholen. Treffen Sie sich dort mit ihm. Diesmal müssen Sie keine Schutzan züge tragen.« »Die Operation ist also vorbei?«
»Und der Patient hat sie anscheinend überlebt. Holen Sie ihn und bringen Sie ihn in seine neue Behausung – Labor Zwei.« Cutler nickte und drückte auf den Kopf. »Dort gibt es keine Behäl ter. Heißt das, dass der Patient nicht mehr in der Brühe schwimmt?« »Ja, endgültig. Er wird für die postoperative Beobachtung in die Hochsicherheitszelle gebracht, die mit einem Überwachungssystem der Lebensfunktionen ausgestattet ist. Ein paar von diesen Technikertypen werden sich dort mit Ihnen treffen, um ihn an alles anzuschließen.« »Okay. Ende.« Cutler stieg in seinen grünen Overall, der zur Standardausstattung der Anlage gehörte, und strich sich das Haar mit den Händen zu rück. Dann trat er aus seiner Unterkunft und fuhr mit dem Fahr stuhl nach unten zum Hauptlabor. Als sich die Türen öffneten, stellte Cutler fest, dass sich im großen Tank überhaupt keine Flüssigkeit mehr befand. Am Boden des Tanks lag ein ganzes Gewirr von Kabeln. Glitzernde, silberne Fle cken aus gehärtetem Adamantium übersäten die Innenseiten der Plexiglasscheiben wie Feenstaub. Neben dem Tank saß Subject X zusammengesunken, mit dem Kopf auf der haarigen Brust, in einem elektrischen Rollstuhl. Logan war nackt und immer noch feucht von dem chemischen Bad, dass er nach der Operation genommen hatte. Sein Haar hing in nassen Löckchen herab. Cutler sah ihn noch einmal genauer an. War er das letzte Mal, als ich ihn sah, nicht rasiert gewesen? Seltsam. Agent Franks stand neben der Versuchsperson, und ein Ausdruck des Widerwillens lag auf seinem jungen Gesicht. »Angewidert?«, fragte Cutler, als er neben den jungen Officer trat. Franks zuckte die Achseln. »Irgendwie wohl schon. Es stecken immer noch all diese Sonden und Kabel in ihm. Das muss doch wehtun.«
»Der sieht nicht so aus, als ob er viele Schmerzen verspüren würde. Der Mistkerl ist fix und fertig. Völlig weg.« »Himmel, sehen Sie mal hier«, sagte Franks. Cutler ging um den Stuhl herum und entdeckte dort dicke Kabel, die man über einen Haken hinten am Stuhl gehängt hatte. »All diese Kabel stecken immer noch in ihm drin«, sagte Franks. Cutler nickte. »Dann werden wir die Versuchsperson mal in Labor Zwei schaffen. Die Ärzte warten. Vielleicht können wir dann für heute Schluss machen.«
SIEBEN Der Mutant
Tausend Nägel bohren sich in meinen Rücken. Meine Arme. Meine Beine. Stechen. Zerfetzen. Brennen … Logan schlidderte hilflos den bröckeligen Abhang hinunter. Wurzeln und spitze Felsbrocken zerrissen seine Kleidung und schlitzten sein Fleisch auf. Lose Steine prasselten auf seinen Helm und betäubten ihn fast mit ihrem Lärm. Sein geplatzter Visor ver schoss psychodelische Lichtreflexe, die vom beschädigten HUD her rührten. In seinem zerrissenen Tarnanzug umklammerte Logan den schwarz gekleideten Fremden. Blind, taub und unfähig, den tiefen Sturz abzufangen, riskierte Lo gan es, seinen Gefangen loszulassen und sich seines nutzlosen Helms zu entledigen. Doch als er ihn losließ, klammerte sich der Fremde weiter an seinem Hals fest. Logan nestelte am Verschluss an seinem Kinn herum. Mit einem Zischen löste sich der Helm. Wäh rend Logan die Augen wegen der Wogen von Dreck, die auf ein prasselten, zusammenkniff, erkannte er eine hohe Silhouette, die in der Dunkelheit aufragte. Er griff nach dem Heft des Randall Mark I, das in seinem Gürtel steckte. Als er gegen den Baum prallte, riss er das Allzweckmesser aus der mit Klettverschluss gesicherten Scheide. Dann holte er damit aus. Ein hohler Klang ertönte, als sich die fast achtzehn Zentimeter lange Klinge tief ins Holz bohrte – dann gab es einen Ruck, der ihm fast das Heft aus der Hand gerissen hätte. Der Boden verschwand in einem Stein- und Dreckhagel unter ihm. Logans Füße baumelten
über einem Abgrund. Hundert Meter unter ihm schimmerte der von Menschenhand angelegte See bleich im Mondlicht. Logan packte das Messer mit beiden Händen, während sein Gefangener sich an ihm festhielt. Einen Moment lang hing er so, mit angespannten Muskeln, die ihrer beider Gewicht tragen mussten – Der Moment war lang genug, um zu spüren, wie ihm warmer Schweiß über den zerkratzten Rücken herunter lief. Dann zog Logan sie beide langsam auf ein Gesims hoch, das von den knorrigen Wurzeln des Baumes gebildet wurde. Als er sein Bein über den Rand schwang, krabbelte sein Gefangener über seine Schultern und auf die andere Seite des Baumes. Die dunkle Gestalt drehte sich um und half Logan das letzte Stück, dann sackte sie am Fuße des Bau mes zusammen. Keuchend lag Logan nach dieser Anstrengung, zwei Leben gerettet zu haben, auf der Seite. Als die Gestalt sich erhob, streckte Logan die Hand aus, und seine Finger schlossen sich um den Arm des Fremden. »Du. Mein Gefangener«, knurrte er in ganz passablem Koreanisch. Erstaunt stellte er fest, dass kein Widerstand geleistet wurde. Statt dessen zog sich der Fremde mit der anderen Hand die Skimaske vom Kopf. Logan sah in mandelförmige Augen, die voller Sorge waren. »Sind Sie verletzt?«, flüsterte die an seiner Seite kniende Frau. Logan erkannte ihren Akzent und zischte eine Antwort in der Muttersprache der Frau. »Onamae wa?« »Bitte kein Japanisch, Mr. Logan«, hauchte sie kaum lauter als ein Wispern. »General Koh hat in diesen Hügeln hunderte von Au diosensoren aufstellen lassen. Wenn man uns hört, dann lieber in Ih rer Sprache als in meiner. Viele von Kohs Agenten verstehen Ja panisch.« Logan grunzte und rollte sich auf den Rücken. Dann zuckte er zu sammen und setzte sich auf. Sogar im schwachen Licht konnte die Frau den dunklen Fleck auf der Stelle, wo er zusammengebrochen war, sehen.
»Sie sind verletzt … Sie bluten.« Logan schüttelte sie ab. »Geben Sie mir eine Minute, und es wird mir viel besser gehen.« In seiner Stimme klang Bitterkeit mit, und die Frau warf ihm einen neugierigen Blick zu. Ihr kleines, rundes Gesicht war in Mondlicht getaucht. Dann erhob sie sich, und Logan beobachtete sie dabei, wie sie Gurtwerk und Gürtel begutachtete, die über ihrem hübschen, haut engen Trikotanzug lagen. Die kleine, zierliche Frau hatte ganz schön viel Ausrüstung mit sich herumgeschleppt, und am Ausdruck, der auf ihren lieblichen Zügen lag, konnte man erkennen, dass sie wohl einiges davon verloren hatte. »Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet. Woher wissen Sie meinen Namen, aber ich kenne Ihren nicht?« Logan lag immer noch am Boden, als er begann, vorsichtig das Futteral der Heckler & Koch G36 zu öffnen, das um sein Bein gebunden war. Die Frau bemerkte die Bewegung und zog ihre eigene Waffe – eine schlanke, schwarze USP 45 Tactical. Ganz schön großes Spielzeug für so eine kleine Lady. Sie bemerkte seine Reaktion und der Hauch eines Lächelns legte sich auf ihre vollen Lippen. »Ich bin Agent Miko Katana, japanische Volkspolizei, Präfektur Tokio.« Logan blinzelte vor Überraschung. »Ein Cop? Sie sind ein Cop!« »Kaum die Art Cop, die Sie meinen«, erwiderte sie. »Ich bin Mit glied des Sondereinsatzkommandos.« »Trotzdem sind Sie ein Cop. Dann erklären Sie es mir jetzt mal, Officer – was in drei Teufels Namen macht ein japanischer Detective mitten in Nordkorea?« »Das Gleiche wie Sie, Mr. Logan.« »Und was soll das sein?« Während er sprach, zog Logan seine Automatik heraus und legte sie auf die Erde – weit genug weg, um etwas Vertrauen aufzubauen, aber immer noch nah genug, dass er danach greifen könnte, falls er
sie brauchte. Miko verstand die Geste und schob ihre Tac wieder in das Holster zurück. »Waffenstillstand, Mr. Logan?«, fragte sie und strich sich das glatte Haar aus dem zarten Gesicht. »Vielleicht«, erwiderte er, während er aufstand. »Aber nur, wenn Sie mir sagen, von wem Sie meine Reiseroute erfahren haben.« »Reiseroute? Wie witzig.« »Zur Sache, sonst komme ich Ihnen gleich witzig, Agent Katana«, knurrte Logan, der das gar nicht komisch fand. Miko runzelte die Stirn, dann sprach sie. »Der französische Ge heimdienst hat seit Jahren einen Maulwurf beim kanadischen Mili tär. Manchmal gibt er Informationen an das Sondereinsatzkom mando weiter. Normalerweise nichts Wichtiges. Aber vor zwei Tagen ließ uns ein Mitarbeiter der GIGN im Südpazifik einen Tipp über Ihren Einsatz zukommen und lieferte auch einige Details …« »Was für Details?« »Wir wissen, dass noch ein anderer am Einsatz beteiligt ist«, er widerte sie. »Agent Neil Langram. Wir kennen die Position Ihrer Landepunkte, den Zeitrahmen und das Ziel des Einsatzes. Wir wissen auch, wie und wo Sie wieder herausgeholt werden, wenn der Einsatz erledigt ist.« Logan dachte über ihre Geschichte nach. Die Frau könnte bluffen, aber das bezweifle ich. Die französische Croupe d'Intervention de la Gendarmerie Natio nale war eine der besten Antiterroreinheiten der Welt. Leider war die GIGN nicht immer auf derselben Seite wie die Kanadier, und es störte Logan, dass die Franzosen von seinem Einsatz erfahren und diese Information dann an Dritte weitergegeben hatten. »Was Sie mir da gerade erzählt haben, ist ein politisches Pulverfass, das nur darauf wartet, in die Luft zu gehen – wenn es denn stimmt«, zischte Logan. »Warum sollte ich lügen?«
»Warum sollten Sie die Wahrheit sagen?« »Vielleicht ist es als Geste gedacht, um Ihr Vertrauen zu gewinnen, Mr. Logan. Vielleicht weil ich Ihre Hilfe brauche.« Logan nahm seine G36, wirbelte damit in der Luft herum und steckte sie dann wieder ins Holster. »Und nun, warum sollte ich Ih nen helfen?« »Macht es Ihnen nichts aus, dass viele Leben auf dem Spiel stehen? Dass vielleicht eine ganze Nation in Gefahr ist?« »Eher nicht.« Die Miene der Frau wurde hart, und ihre kleine Hand streichelte den Griff ihrer Automatik. »Mr. Logan, es ist mir egal, wie Sie sich fühlen oder woran Sie glauben. Sie müssen mir helfen, in die Anlage zu gelangen, ehe es zu spät ist … Wenn es nicht bereits zu spät ist.«
»Abe … Abe, bitte … bitte, wach auf …« Dr. Cornelius hörte das Flehen seiner Frau, doch ihre Stimme – ge nau wie ihre Gestalt – schien geisterhaft verschwommen und sehr fern. »Es ist Paul … Er weint wieder. Sein Fieber ist so hoch. Ich habe Angst, dass er verbrennt«, klagte Madeline. »Wir müssen ihn in die Notaufnahme bringen. Wir müssen jetzt los!« Das Schluchzen seiner Frau wurde von den gequälten Schreien seines kleinen Sohnes übertönt. Plötzlich stand Cornelius, aber er bewegte sich in Zeitlupe, seine Beine kamen nicht voran, als müss ten sie durch ein ganzes Meer von Klebstoffwaten. »Ich komme!«, stöhnte er, während er sich gegen den hemmenden Sog stemmte. Aber egal, wie sehr er sich auch bemühte, wie er tobte und schrie – jeder Schritt, den Cornelius nach vorn tat, schien ihn ein kleines
Stück zurückzutragen. Sein Herz pochte so stark, dass es gegen sei ne Rippen stieß, und drohte fast zu platzen. Er verdoppelte seine Anstrengungen, doch seinen Beinen gelang es nicht, ihn zu seinem Kind zu bringen. Schließlich stürzte Cornelius durch ein ganzes Meer von mil chigem Nebel, um zum Zimmer seines Sohnes zu kommen. Die bun te Tapete glühte wie hundert Computerbildschirme vor seinen Augen. Das Spielzeug, das über der Wiege hing, sah unheilvoll ver dreht aus – lange Spitzen aus Stahl, fünfzehn Zentimeter lange sub kutane Nadeln, blutbefleckte chirurgische Sonden. Als Cornelius in die Wiege schaute, war Paul Phillip, sein Sohn, fort. Anstelle des Jungen lag Subject X, dessen Fleisch von tausenden von Stahlstacheln durchbohrt war, auf den blutigen Laken. Cornelius hörte einen Schrei und setzte sich mit einem Ruck auf. Ein Füller entglitt seiner schlaffen Hand und fiel klappernd auf den Boden. Er griff nach seiner verbogenen Brille, um sie gerade zu rücken, doch dann warf er sie auf die Tastatur vor sich. Er rieb sich den Schlaf aus den Augen und rückte vom Computer ab. Muss müder gewesen sein, als ich dachte … Bin einfach umgekippt. Die Gegensprechanlage summte nur einmal. Auf seinem Bild schirm sah Cornelius das verkniffene Gesicht eines ernsten jungen Technikers, der den Observationsraum neben Labor Zwei besetzte. Cornelius kannte den Namen des jungen Technikers nicht, der den Zustand des Patienten beobachtete, aber das spielte auch gar keine Rolle. Müde setzte sich der Doktor die Brille auf und drückte dann die Taste. »Cornelius … Status?« »Er ruht, Doktor. Aber er liegt auf dem Boden, nicht in seinem Bett.« Der Techniker drückte auf eine Taste, und der Blick in Labor Zwei füllte den Bildschirm. Cornelius sah Logan auf einem Haufen Schläuche und Kabel auf dem Boden liegen. Seine Augen waren ge
schlossen, die Brust hob und senkte sich. Dichte Körperbehaarung bedeckte Brust, Arme, Beine und Genitalien der Versuchsperson. Auf der rechten Seite von Cornelius' Bildschirm waren an einer Symbolleiste aktuelle Angaben zu Temperatur, Atmung, Blutdruck, Herzfrequenz und Elektrolyt-Haushalt der Versuchsperson abzu lesen. »In Ordnung. Gibt es etwas Ungewöhnliches?« Cornelius konnte sehen, dass der junge Mann sich wegen irgendetwas Sorgen machte, obwohl die Werte alle im normalen Bereich lagen. »Nein, Sir … außer …« Eine Komplikation? Völlig unmöglich. Die Genesung von Subject X war wirklich bemerkenswert. »Was?« »Nun ja, Sie wissen schon«, meinte der Techniker. »Sieht so aus, als ob dieser Typ wirklich viel durchgemacht hat.« »Äh, ja«, erwiderte Cornelius. Was will mir dieser Techniker sagen?, fragte sich Cornelius. Soll ich etwa ein schlechtes Gewissen wegen der Versuchsperson haben? Soll ich zu der Einsicht gelangen, dass es falsch ist, einen weiteren Menschen all diese Qualen erleiden zu lassen? Dass der Professor unmenschlich grausam ist? Dass das Waffe X-Programm ein widerlicher und schrecklicher Fehler war? »Behalten Sie ihn im Auge«, wies Cornelius den Techniker an, ehe er die Verbindung beendete. Dann brauche ich es nicht zu tun. Dr. Cornelius schaute auf die Uhr. Es ist drei Uhr morgens. Himmel. Kein Wunder, dass ich so erschöpft bin. Vielleicht sollte ich endlich schlafen gehen? Er stand auf und drückte den Rücken durch, der sich Stundenlang über die Tastatur gebeugt hatte, ehe er eingeschlafen war. Er streck te schon die Hand aus, um den Computer auszuschalten, als die Gegensprechanlage wieder summte. Cornelius unterdrückte ein Gähnen und ging ran.
»Doktor? Er ist gerade aufgewacht.« Dieses Mal klang der Techniker eindeutig nervös. »Wie sieht er aus?« »Wie durchpassiertes Apfelmus, Dr. Cornelius.« Logan erschien auf Cornelius' Bildschirm. Subject X schien noch immer in der gleichen Haltung wie zuvor auf dem Boden zu liegen, nur seine Augen waren jetzt offen und starrten mit leerem Blick an die Wand. »Bewegt er sich?« »Nein. Er guckt nur.« Sollte meinen Computer wohl besser laufen lassen, entschied Cornelius. Nur für den Fall, wenn wirklich etwas schief geht. »Okay«, sagte Cornelius zu dem jüngeren Mann. »Behalten Sie ihn im Auge. Rufen Sie mich, wenn irgendetwas passiert. Ende.« Cornelius zog seine Schuhe aus und schüttelte den Laborkittel ab, den er über seinen Stuhl warf. Dann streckte er sich immer noch voll bekleidet auf einer Pritsche aus, schob seine Brille in die Brusttasche seines Hemdes und schloss die schweren Lider. Fast sofort fiel er in einen tiefen Schlaf voller Träume …
Also, Clete. Du hast die Ergebnisse gesehen. Welche Schlussfolge rung ziehst du daraus? »Brauchst du wirklich eine zweite Meinung, Abe?« Dr. Cornelius nickte. »Ich bin Forscher. Du bist der prakti zierende Arzt. Also, wie lautet Ihre Diagnose, Doktor?« Dr. Cletus Forester zog eine Lesebrille mit dicken Gläsern aus der Tasche seines hellgrünen Laborkittels. Er hielt sie an die Augen, ohne sie zu öffnen und aufzusetzen, während er die Ergebnisse einer Reihe von Tests studierte, die er durchgeführt hatte. Leider spiegelten sie die gleichen Werte wider, die schon der Kinderarzt geliefert hatte.
»Der Anteil der weißen Blutkörperchen ist beim, äh … Patienten deutlich erhöht, selbst für ein Kind, das fünfmal älter als der Junge wäre«, begann Dr. Forester mit seinen Ausführungen. »Wenn du es nicht bereits durch deine Arbeit weißt, dann hat es dir bestimmt der Kinderarzt gesagt, dass Kinder ein mieses Immunsystem haben – weshalb sie auch ständig krank sind.« »Aber nicht Paul?« Forester schüttelte den Kopf. »Bei deinem Sohn ist es anders. Seine Antikörper sind sehr eifrige kleine Mistkerle – die bringen alles um, was in ihre Nähe kommt. Dann noch die persistente generalisierte Lymphadenitis …« »Du meinst die Schwellungen an Hals und Nacken?«, fragte Cor nelius. Forester nickte. »Und auch an der Leiste. Die Schwellungen kann man nur ertasten, aber bald wird man sie auch sehen können. Ist nur eine Frage der Zeit. Und du sagst, er hat ständig Fieber?« »Immer über 38 – aber nachts bis 39 oder 39,5«, erwiderte Corneli us. »Nächtliche Schweißausbrüche?« »Praktisch jede Nacht. Morgens sind die Laken manchmal völlig durchnässt. Mein Sohn …« Cornelius hielt inne und versuchte, seine Emotionen in den Griff zu bekommen. Als er wieder sprach, klang seine Stimme neutral. »Paul verliert so schnell an Flüssigkeit, wie ich sie in ihn hineinpum pe. Bei schweren Anfällen hängt er sogar die ganze Zeit am Tropf. Aber sogar dann ist sein Elektrolyt-Haushalt total aus dem Gleich gewicht.« »Es gibt Anzeichen für eine Bindegewebskrankheit«, fügte Fores ter hinzu. »Lupus erythematodes visceralis?«, meinte Cornelius überrascht. »Dann könnte Pauls Weinen also auf Gelenk- oder Muskel schmerzen zurückzuführen sein … Verdammt … Ich habe nie eine
Autoimmunerkrankung in Betracht gezogen.« Dr. Forester schüttelte langsam den Kopf. »Keine Autoimmuner krankung. Nicht genau das. Etwas wie eine Lupus erythematodes visceralis. Etwas, was wir noch nie gesehen haben.« Gedankenversunken rieb Cornelius sich das Kinn. »Ich habe bis her gezögert, Schmerzmittel einzusetzen, aber jetzt …« »Gib Schmerzmittel. Lindere das Leiden des Jungen«, sagte Fores ter. Cornelius schaute auf. »Aber es muss doch mehr geben, was ich tun kann … Eine Behandlung, die die Organschädigungen rückgän gig macht? Vielleicht künstliche Antikörper, die die von seinem Kör per produzierten Antikörper angreifen …« »Nun schau mal, Abe. Es tut mir Leid, dir das sagen zu müssen«, erklärte Forester. »Aber, um es ganz offen zu sagen, du greifst nach Strohhalmen. Du bist offensichtlich zum gleichen Schluss gekom men wie ich, sonst hättest du dir keine zweite Meinung eingeholt.« Cornelius sah auf, als hätte man ihn geschlagen. »Was sagst du da, Clete?« »Wir … wir wissen beide, dass es für deinen Sohn keine Aussicht auf Besserung gibt … dass es nur eine Frage der Zeit ist.« Cornelius wandte den Blick ab. »Ich habe diese Prognose nicht ak zeptiert.« »Ach, komm schon, Abel«, rief Forester. »Pauls Immunsystem bildet Antikörper, die den Zellkern angreifen. Seine DNA. RNA. Zellproteine. Die Phospholipide. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Organe so schwer beschädigt sind, dass sie ihre Arbeit einstellen … eins nach dem anderen. Vielleicht drei Monate. Vier Monate höchstens.« Hinter den dicken Gläsern brannten Cornelius' Augen. »Ich habe nicht aufgegeben. Noch nicht.« »Aber es besteht keine Aussicht auf Heilung …« »Ich werde eine finden.«
»Und wahrscheinlich wird es auch nie eine geben«, beharrte Fores ter. »Auf jeden Fall würde es Jahre dauern, vielleicht auch Jahrzehn te, um nur herauszufinden, was diesem Zustand zugrunde liegt. Und noch mehr Jahre, um eine Behandlung zu entwickeln, die das Leiden lindert, ganz zu schweigen davon, es zu heilen.« Forester legte seinen Arm um Cornelius' Schulter. Als er sprach, tat er dies als Freund und nicht als Arzt. »Abe. Hör mir zu und ak zeptiere, was ich dir zu deinem eigenen Besten sage.« »Der Patient … dein Sohn, Paul … hat nicht Jahrzehnte, noch nicht einmal Jahre. Bereite dich auf das Schlimmste vor. Trauere, wenn die Zeit gekommen ist, und führe dann dein Leben fort.«
Er hatte das Gefühl, seine Augen gerade erst geschlossen zu haben, als die Gegensprechanlage wieder summte. Cornelius wälzte sich von der Pritsche und stolperte zum Compu ter. Er drückte den Knopf und hantierte dann ungeschickt mit seiner Brille. »Doktor?« Derselbe Techniker, der jetzt außer sich wirkte. »Ja … was gibt's?« »Er bewegt sich jetzt.« »Heftig?« Der Techniker schwieg kurz. »Er hat sich gerade ein bisschen nach vorn gebeugt.« Dafür haben Sie mich aufgeweckt?, dachte Cornelius. »Junger Mann …« »Ja, Sir.« »Sie brauchen es mir nicht jedes Mal mitzuteilen, wenn der Patient sich bewegt.« »Ja, Sir … Sorry, Sir.« Der Techniker verschwand.
Das war's, entschied Cornelius. Nach zweiundzwanzig Stunden auf den Beinen brauche ich jetzt erst einmal Ruhe. Cornelius beugte sich über die Tastatur und hämmerte eine kurze Nachricht hinein, in der er dem Techniker auftrug, die nächsten zwei Stunden alle Anfragen an den Professor weiterzuleiten. Wenn der Techniker vor Ende seiner Schicht in Panik verfallen würde, würde der Professor damit wahrscheinlich fertig werden, dachte Cornelius. Doch ehe er seinen Computer herunterfahren konnte, erhielt Cor nelius einen weiteren Anruf. »Was gibt's?«, meldete er sich. »Dem Patienten geht es gut, Sir. Aber er scheint jetzt in Alarmbe reitschaft zu sein.« Cornelius war plötzlich hellwach. »Er ist ganz da?« »Er sieht die ganze Zeit seine Hände an.« »Hände?« »Ja. Die Drähte an seinen Händen.« Cornelius erinnerte sich daran, dass Dr. Hendry postoperative Bioscanner an den Händen der Versuchsperson angebracht hatte, um herauszufinden, wo das ganze Adamantium geblieben war. So wohl Hendry als auch Chang hatten befürchtet, dass Subject X die Beweglichkeit seiner Hände verlieren könnte, wenn sich zu viel Adamantium an den zarten Knochen seiner Finger ansammelte. »Ich komme besser mal rüber«, sagte Cornelius zu dem Mann. »Rufen Sie den Professor. Er soll sich dort mit mir treffen. Ende.« *** »Ich brauche ganz dringend Ihre Hilfe, Mr. Logan, sonst würde ich nicht fragen«, meinte Miko Katana. »Menschenleben stehen auf dem Spiel …«
»Das sagten Sie schon«, erwiderte Logan. »Versuchen Sie die Ge schichte jemand anderem zu verkaufen, denn ich bin nicht inter essiert.« »Bitte, Mr. Logan, hören Sie mich zu Ende an, ehe Sie urteilen.« Sie standen sich auf dem Felsüberhang gegenüber, der über dem Damm und dem künstlichen See aufragte. »Vor zwei Wochen wurde ein japanischer Forscher während eines Besuchs in Seoul entführt. Der SAT-Geheimdienst fand heraus, dass der Mann wegen des Wissens, das er besaß, von General Kohs Leu ten gekidnappt worden ist.« »Wissen über Waffen bestimmt«, meinte Logan. »Es ist kein Ge heimnis, dass die Nordkoreaner ein Atomprogramm betreiben. Ih nen fehlt nur das Beförderungssystem – Raketen und Marschflug körper. Lassen Sie mich also raten: Der vermisste Forscher ist Rake tenexperte? Eine Kanone in Telemetrie? Wollen Sie darauf hinaus?« »Ich bin nicht dazu berechtigt, über die Arbeit des Doktors Aus kunft zu geben.« »Lady, das schert mich einen Pfifferling.« »Ich erzähle Ihnen das, was Sie wissen müssen – sonst nichts.« »Also, im Grunde wollen Sie, dass ich Ihnen helfe, in diese Anlage reinzukommen – aber mehr als so einen Bockmist über irgendwel che Leute, die in Gefahr schweben, wollen Sie mir nicht erzählen. Dann, wenn wir drin sind, sollen wir irgendeinen Typen finden, der entführt worden ist, aber Sie wollen mir nicht sagen, wer er ist oder warum man ihn sich geschnappt hat. Und dann reden Sie die ganze Zeit von einem Kerl namens General Koh, der seine Finger mit im Spiel hat – doch ich habe den Namen Koh noch in keinem einzigen Geheimdienstbericht gelesen. Wer ist dieser Koh?« »General Koh ist ein japanisches Problem, dass Sie nicht weiter be trifft«, erwiderte sie steif. Ihre Antwort überraschte ihn nicht weiter. »Hör mal, Baby, ich muss schon ein bisschen mehr wissen.«
Doch Logans Forderung prallte gegen eine Mauer des Schweigens. Ein unerschütterlicher Blick war die einzige Antwort. Die Zeit lief ihm davon. Logan würde dem Zeitplan schon bald hinterherhinken – und seine Verspätung würde den Einsatz und auch Neil Langram in Gefahr bringen. »Okay, Sie haben gewonnen«, meinte Logan schließlich. »Sie dürfen mich begleiten, aber nur, weil ich mich so einsam fühle.« Und weil Ihre Leute offensichtlich über einen besseren Geheimdienst verfügen als meine. Und in der Spionage ist Wissen Macht – die Art von Macht, die einem das Leben retten konnte. »Danke, Mr. Logan. Ich verspreche, dass ich Ihren Einsatz nicht gefährden werde, auch wenn ich damit meinen eigenen in Gefahr bringe.« »Na schön.« Miko Katana griff nach einem Päckchen an ihrem Gürtel. »Ehe wir losgehen, möchte ich Sie verbinden. Sie müssen schreckliche Schmerzen haben.« Die Frau trat hinter Logan und musterte seinen blutigen Rücken. Doch als sie begann, die Wunden zu säubern, hielt sie völlig über rascht inne. »Ich … ich verstehe das nicht. Vor ein paar Minuten war Ihr Rücken noch voller Schnittwunden. Jetzt ist fast alles verheilt!« »Wie ich schon sagte«, erwiderte Logan. »Geben Sie mir ein paar Minuten, und es wird mir viel besser gehen.« »Das ist doch nicht normal«, antwortete Miko. »Stimmt. Was Sie nicht sagen.« »Aber wie machen Sie das?« »Gute Gene«, meinte Logan bitter. Miko nahm seine Erklärung ohne weiter zu fragen hin und säu berte die wenigen Wunden, die noch da waren. Als sie fertig war, riss sich Logan die Reste seines High-Tech-Anzuges herunter. Dann ließ er einen Metallbehälter aufspringen, der an seinem Gürtel befes
tigt gewesen war. Er kippte ein kleines schwarzes Bündel, das nicht größer als ein Seifenstück war, in seine rechte Hand. Während er das Bündel bearbeitete, wurde es immer größer, bis Logan es schließlich ausschüttelte. Als der enganliegende Tarnanzug gänzlich entrollt war, streifte Logan sich seine restliche Kleidung ab und zog frische an. Während er sich umzog, wandte Miko schüchtern den Blick ab. Vorsichtig kroch sie bis an den Rand der Klippe, um den Damm durch ein winziges Fernglas zu beobachten. »Was zu sehen?«, fragte Logan, während er sich seinen Gürtel wieder um die Taille band. »Alles ganz normal. Die Nordkoreaner scheinen nichts von un serer Anwesenheit zu ahnen.« »Das ist toll«, meinte Logan, während er seine G36 nahm und eine Kugel in die Kammer schob. »Denn ich habe für eine Nacht genug Überraschungen erlebt.«
ACHT Unvorhergesehene Folgen
Trotz der frühen Stunde – es dämmerte schon fast – konnte der Professor nicht schlafen. So war das schon seit frühester Kindheit. Aufrecht und wach saß er auf seinem ergonomischen Thron und war dankbar für die zeitliche Ungebundenheit seiner Befehlszentra le, in der er sich um den sonst üblichen Vierundzwanzig-StundenZyklus nicht zu kümmern brauchte und auch auf das Schlafritual verzichten konnte – zumindest, bis körperliche und geistige Er schöpfung ihn zwangen, sich zu einem traumlosen Schlummer zu rückzuziehen. Glücklicherweise passierte das immer seltener. Er staunte darüber, wie viel er in den letzten paar Monaten, in denen das Waffe-X-Pro gramm verwirklicht wurde, ohne zu schlafen geschafft hatte. Wie ungestört und kristallklar seine Denkprozesse ohne die unkon trollierten Phantasien von Träumen oder Alpträumen geworden waren. Das gesamt Waffe-X-Programm wäre ohne meine Aufopferung, meine ständige Wachsamkeit gar nicht möglich gewesen, überlegte der Professor. Alles, was ich je wollte, war Erfolg und das ist auch der Grund, warum das rücksichtslose Verhalten des Directors solch ein Verrat ist. Über den Hauptmonitor flackerten von ihm unbeachtet Bilder von Labor Zwei, in dem Subject X in postoperativer Benommenheit da hindämmerte. Die schwierige Prozedur war gut verlaufen – so gut, dass der Professor sich die medizinischen Werte nicht anzusehen brauchte, um zu wissen, dass sein Patient sich schnell und vollstän dig erholen würde.
Das hatte aber auch nie außer Frage gestanden. Der Patient war dazu bestimmt zu überleben, weil Director X die Karten gezinkt hatte, um den Erfolg sicherzustellen. Vielleicht sollte ich ihm danken … Danken, dass er das Projekt, jahrelange Arbeit, in Gefahr gebracht hat. Ihm für seine Lügen danken, seine Heimtücke. Aber Dank war unmöglich. Der Professor spürte nur eine unsägli che, brennende Wut in sich. Warum hat der Director mich von so einer wichtigen Entscheidung aus geschlossen? Warum hatte er durch eine unbekannte Karte im Spiel – einen Mutanten – ein exakt geplantes Experiment in Gefahr gebracht? Wer konnte ahnen, welche Variablen der Gleichung damit hinzugefügt worden waren? Welche Überraschungen in der DNA der Versuchsperson noch auf sie warteten? Welche unvorhergesehenen Folgen sich daraus ergeben mochten? Als Wissenschaftler wusste der Professor, dass der wichtigste Fak tor bei jedem Experiment die absolute Kontrolle über alle Aspekte war. Nichts durfte dem Zufall überlassen werden. Doch mit seiner leichtsinnigen Entscheidung hat mir der Director diese Kontrolle entrissen. Die Absicht des Professors war es gewesen, ein Verfahren zu entwickeln, bei dem Menschen in Waffen des Schreckens verwandelt wurden – der erste Schritt zur Erschaffung einer ganzen Armee von unbeseelten Übermenschen, die unter seiner strengen Kontrolle standen. Aber jetzt wusste er noch nicht einmal, ob sein Verfahren überhaupt bei Menschen funktionierte, weil man es mit einem Mutanten durchgeführt hatte. Die einzige Möglichkeit, das, was vom Projekt noch geblieben ist, zu retten, besteht darin, die Zügel noch einmal an mich zu reißen – eine Möglichkeit zu finden, meinen Willen, meine Vorstellungen vom Waffe-XProgramm wieder geltend zu machen … Das bedeutet, dass ich in der psy chologischen Konditionierungsphase von Subject X dafür sorgen muss, dass diese nur von meinen eigenen Leuten durchgeführt wird. Natürlich werde ich dafür Hendry, MacKenzie und alle anderen, die sich
meinen Ideen widersetzt haben und meine Visionen in Frage stellten, zur Seite schieben müssen. Der Professor ballte seine zitternden Hände im vergeblichen Be mühen, sie zur Ruhe zu zwingen, zu Fäusten. Aber es war ihm einfach nicht möglich. Schau mich nur an, dachte er ohne eine Spur von Selbstmitleid. Ich bin nicht einmal in der Lage, meine eigenen Reflexe unter Kontrolle zu bringen. Wie kann ich da überhaupt die Hoffnung hegen, dass mir dies beim Experiment gelingt? Bei dieser Anlage? Bei Waffe X? Das plötzliche Summen der Gegensprechanlage ließ ihn zu sammenzucken und riss ihn aus seinen konzentrierten Gedanken. Auf dem Zentralmonitor wurde der Blick auf Subject X – jetzt bei Bewusstsein – abrupt durch das ängstliche Gesicht eines sehr jungen Technikers ersetzt, dessen Augen hinter dünnen Gläsern weit auf gerissen waren. »Äh, Professor, Sir? Ich bin der Techniker aus Labor Zwei, der für die Zustandsberichte verantwortlich ist.« »Ja, worum geht's?« »Dr. Cornelius hat mich darum gebeten …« Plötzlich begann der junge Mann auf dem Bildschirm zu stammeln. »Oh Gott! Oh mein Gott!«, brüllte er mit weit auf gerissenen Augen. »Was ist los, Mann?«, rief der Professor und sprang auf. »Blut«, keuchte der Techniker. »Irgendetwas geschieht … Oh Gott. Noch mehr Blut – es spritzt aus seinen Händen!«
Hinter doppelten Scheiben aus sieben Zentimeter dickem Plexiglas tippte ein Techniker wie rasend etwas in seine Tastatur ein. Man sah, wie er den Mund aufriss, doch seine Schreie wurden von den schalldichten Wänden der Beobachtungskabine erstickt.
In Labor Zwei warf sich Subject X auf einem Gewirr aus Kabeln und Schläuchen hin und her und wand sich unter unsäglichen Schmerzen, die ihn förmlich zu zerreißen drohten. Was als leichter Schmerz in seinen Handgelenken begonnen hatte, war plötzlich zu unerträglicher Qual geworden. Logans Hände zuckten unkon trolliert, und der dicke Muskel, der seine Handgelenke umhüllte, brannte und bebte unter gequältem Fleisch. Auf seinem Bizeps, der aussah, als sei er aus Stricken gemacht, wölbten sich die Adern her vor, als wollten sie gleich platzen. Zwischen zusammengebissenen Zähnen entrang sich seinen blu tigen Lippen ein animalisches Stöhnen. Seine Arme zuckten in wilden Krämpfen, bei denen er sich ganze Reihen von Sonden aus dem Körper riss. Funken sprühten aus Monitoren, in denen es einen Kurzschluss gegeben hatte, und aus zerbrochenen Sonden. Logan fuchtelte so wild mit den Armen, dass dunkelrote Spritzer auf Wände, Decke und Plexiglasscheibe gesprüht wurden. Als er taumelnd hochkam, trat Schweiß auf Stirn und Hals und rann ihm in Strömen über den Oberkörper. Er taumelte beim ersten schwankenden Schritt, seine Gelenke brannten wie Feuer. Sein Herz hämmerte mit unmenschlicher Geschwindigkeit, Adern an Stirn, Hals und Unterarmen schwollen an und pochten. Aus Zahnfleisch und Nase trat Blut hervor. Seine Wangen waren voller Blut, als es wie Tränen aus seinen Augen strömte. Schließlich fiel Logan auf die Knie und warf den Kopf zurück. Aus seinem aufgerissenen Mund spritzte blutiger Speichel, als er unter Todesqualen losbrüllte.
»Statustechniker … Wo ist Cornelius?« Während er sprach, versuchte der Professor Bilder von Labor Zwei auf den Schirm zu bekommen, aber irgendetwas – wahrscheinlich der Anfall der Versuchsperson – hatte viele Teile des Systems zum Ausfall gebracht. Die einzige Kamera, die sich aktivieren ließ, war
rot besudelt – die Linse war voller Blutspritzer. »Oh Gott, Sir! Ich brauche Hilfe. Ich bin ganz allein hier. Für so et was bin ich nicht ausgebildet.« »Hören Sie mir zu, Mann!«, schnauzte ihn der Professor an. »Klin ken Sie mich auf Ihrem Bildschirm ein. Ich will was sehen.« »Ja … ja, Sir.« Einen Augenblick später erschien Subject X auf dem Monitor des Professors. Logan lang auf den Knien. Die herausgerissenen Sonden baumelten wie Ketten in einem Verlies von Decke und Wänden her unter. Aus hunderten von Wunden sickerte schwarzes Blut. Zerbro chene Sonden ragten wie Stacheln eines Stachelschweins aus seinem Rückgrat heraus. Trotz des schrecklichen Bildes, dass sich ihm bot, beobachtete der Professor leidenschaftslos, dass der Mund der Versuchsperson in einem nicht enden wollenden Schrei offen stand. Wie ärgerlich, dass der Ton ausgefallen ist. Ich muss daran denken, mir später die Überwachungsbänder anzuschauen … Muss mir seine Schreie anhören … Um mir ein Bild davon zu machen, wie groß seine Schmerzen waren. Die panische Stimme des Technikers unterbrach seine Gedanken. »Sir … Sollte ich reingehen und ihm helfen?« »Äh …« Reizvoller Gedanke. »Nein. Noch nicht.« »Aber er muss entsetzliche Schmerzen haben, Sir.« Der Professor lächelte. »Ja. Ich glaube, Sie haben Recht.« Auf dem Bildschirm war Logan zu sehen, der immer noch auf den Knien lag. Sein Kopf war tief auf die Brust gesunken, die Hände öff neten und schlossen sich krampfhaft. Die Versuchsperson schrie wieder und starrte ganz betäubt und voller Entsetzen auf seine Handgelenke. Plötzlich dröhnte Logans ohrenbetäubendes Gebrüll aus den Laut sprechern. Es beeindruckte den Professor, dass der ängstliche Techniker es geschafft hatte, sowohl Ton als auch Bild wieder herzu
stellen. Schnell drehte er die Lautstärke herunter, um dann wieder auf den Bildschirm zu schauen. Der Anblick versetzte ihm einen Schock. Ehrfürchtig stieß der Professor einen Schrei aus. »Schau sich einer das an!« Auf Logans Handrücken am Handgelenk begann sich das gequäl te Fleisch zu wölben und zu dehnen. Er klappte ruckartig zu sammen und riss bei dieser Bewegung die restlichen Sonden mit Fontänen von Blut heraus. Als die Schreie der Versuchsperson lauter wurden, verringerte der Professor die Lautstärke noch einmal. Gott sei Dank aber nicht so sehr, dass ihm das schmatzende Reißen ent gangen wäre, als sich drei rasiermesserscharfe Spitzen durch die Haut an der Hand des Mutanten bohrten. Über den Reservemonitor hörte der Professor den Techniker wie ein Kind kreischen. »Sie sagten, Sie seien allein in Labor Zwei, nicht wahr?«, fragte die gedämpfte Stimme. Kurzes Schweigen. »Ja, Sir.« »Ich werde ein Sicherheitsteam rufen.« Der Professor öffnete die Glashaube über dem Alarmknopf. Er hatte die feste Absicht, Major Deavers über die möglicherweise anstehende Krise zu informieren. Aber als sein Finger über dem roten Knopf schwebte, stellte der Professor fest, dass seine zuvor zittrigen Finger jetzt so ruhig wie ein Fels in der Brandung waren. »Himmel! Da kommen … Nägel … Stacheln aus ihm heraus. Di rekt aus seinen Händen! Was soll ich tun?«, keuchte der Techniker. »Bleiben Sie ganz ruhig. Hilfe ist unterwegs.« Der Professor konnte den Blick nicht von der Gestalt in Labor Zwei abwenden. Drei krallenähnliche Fortsätze – jetzt insgesamt sechs – ragten jeweils aus den Händen der Versuchsperson. Die un gefähr dreißig Zentimeter langen, leicht gebogenen und mit Ada mantium-Stahl überzogenen Krallen schienen scharf wie Klingen zu
sein. Wo kamen sie her? Wie fest sind sie im Skelett der Versuchsperson verankert? Kontrolliert er das Ausfahren seiner Krallen oder geschieht es durch einen Reflex? So viele Fragen … Eines wusste der Professor ganz sicher. Diese … Klauen … waren zweifellos für die unerträglichen Schmerzen verantwortlich, als sie hervor traten. »Himmel, Professor, noch mehr Blut. Er braucht Hilfe! Jetzt.« »Hören Sie mir zu«, befahl der Professor. »Kommen Sie … kom men Sie von der Beobachtungskabine in die Zelle des Patienten?« »Ja, Sir, das geht.« »Und Sie sind sich sicher, dass die Versuchsperson medizinische Hilfe braucht?« »Himmel, auf jeden Fall!«, antwortete der Techniker. »Dann sollten Sie reingehen und versuchen, dem armen Mann zu helfen.« Langes Schweigen. »Ja … das werde ich tun, Sir. Wenn … wenn Sie meinen.« »Ich denke, Sie sollten es tun«, meinte der Professor. »Und achten Sie darauf, dass die Sicherheitstür wirklich zu ist, wenn Sie drin sind. Nur um sicher zu gehen.« Auf dem Reservebildschirm sah der Professor den Techniker mit aschfahlem Gesicht nicken. »Guter Junge … Dann mal los.«
Dr. Cornelius schaute kurz in der Arzneiausgabe vorbei, um sich einen Becher Kaffee zu holen, ehe er sich auf den Weg nach unten zu Labor Zwei machte. Während er darauf wartete, dass der Kaffee durchlief, versuchte er sich über die Gegensprechanlage an der
Wand mit dem Überwachungsraum in Verbindung zu setzen. »Statustechniker? Hallo? Hier Cornelius. Bitte kommen …« Keine Antwort, also klingelte er noch einmal. Komm schon, du hast mich die ganze Nacht genervt. Warum gehst du jetzt nicht ran? Als auch nach dem dritten Versuch niemand ranging, begann Cor nelius sich Sorgen zu machen. Er hatte es hier mit mindestens einer Verletzung der Projektbestimmungen zu tun, wenn der Status techniker den Anruf ignorierte. Cornelius wirbelte auf dem Absatz herum und eilte ohne seinen Kaffee aus der Arzneiausgabe. Der Duft hatte zwei Angehörige des Sicherheitsteams angelockt, die für die bei Sonnenaufgang be ginnende Schicht der Außenlage zugeteilt waren. Beide trugen schusssichere Kleidung, doch nur der jüngere auch einen Helm. »Sie beide!«, sagte Cornelius barsch. »Kommen Sie mit!« »Jawohl, Sir«, erwiderte Franks forsch. »Ist was passiert, Sir?«, fragte Cutler. Cornelius zuckte die Achseln. »Könnte sein. Ich weiß nicht genau. Bleiben Sie bitte nur in der Nähe.« Die Wachmänner folgten ihm in den Fahrstuhl. Schweigend fuh ren sie nach unten ins zweite Stockwerk, wobei sich Franks und Cutler allerdings besorgte Blicke zuwarfen, als sie merkten, wo es hinging. Vor Stunden waren sie im zweiten Stock gewesen, als sie Subject X zu den Technikern gebracht hatten. Es war eindeutig, dass Dr. Cornelius sie zu Labor Zwei führte, ob wohl er vor der Sicherheitstür stehen blieb. »Der Laborarbeiter hier – wie heißt der?« »Bin mir nicht sicher, Doc«, erwiderte Cutler. »Cal oder Cole oder so was Ähnliches.« »Er ist neu, Sir. Habe ihn erst heute kennen gelernt.«, erklärte Franks.
»Neu?« Cornelius war verblüfft. »Wenn er neu ist, sollte er gar nicht in dieser Abteilung sein.« Cornelius gab den Sicherheitscode ein und betrat den Überwa chungsraum, während Cutler und Franks die Nachhut bildeten. Überrascht stellte der Doktor fest, dass der Raum leer war, und alles bis auf eine schwache Notbeleuchtung ausgestellt war. Die Bild schirme waren leer und der Geruch von Ozon und verbranntem Plastik hing in der Luft. Jenseits der Plexiglaswand lag Labor Zwei in tiefer Dunkelheit. Cornelius unterdrückte einen Fluch. »Wenn er seinen Platz ohne Erlaubnis verlassen hat, werde ich ihm das Fell über die Ohren zie hen.« Er suchte die Konsole nach einem Lichtschalter ab. Cutler fand ihn zuerst. Als das Licht anging, hörten sie einen plötzlichen Schrei, der ge nauso abrupt in einem erstickten Gurgeln endete. Auf der anderen Seite der Plexiglasscheibe lag der vermisste Techniker hingestreckt auf einem Gewirr von Schläuchen, zerbro chenen Elektroden und Drähten in der Mitte des Labors. Blut spru delte aus seiner zerfetzten Kehle. In den Augen des Mannes lag ein Flehen, und Arme und Beine zuckten, während sein Lebenssaft eine immer größere Lache bildete. Subject X stand – blutüberströmt und nackt – über sein Opfer ge beugt da, als wollte er ihm beim Sterben zusehen. Die Arme, an denen die Muskelstränge deutlich hervortraten, waren ausgebreitet. Aus blutigen Löchern in beiden Händen ragten sechs gebogene Krallen aus Adamantium-Stahl. »Gütiger Himmel! Was zum Teufel ist denn hier passiert? Das ist ja entsetzlich!«, rief Cornelius. »Er ist tot, er ist tot!«, kreischte Franks und sah weg. Nur Cutler behielt die Nerven. Er löste den Alarm aus und ak tivierte das Sicherheitssystem, das alle Türen zwischen den Stock werken versiegelte. Doch sogar durch schalldichte Wände konnten die Männer in der Kabine die Sirene hören.
Franks wich langsam zurück, als ihm die Gestalt auf der anderen Seite der Plexiglasscheibe in die Augen starrte. »Ist er das? Ist das Subject X?«, stammelte er. »Das ist Subject X!«, schrie Cornelius. »Das ist mein Patient, aber gütiger Himmel … was geschieht da mit ihm?« »Er hat den Jungen umgebracht«, sagte Cutler. »Er ist mit Blut be deckt. Er hat diese Messer benutzt, die aus seinen Händen ragen.« Hinter den dicken, runden Gläsern der Brille wurden die Augen des Wissenschaftlers ganz schmal vor Neugier. »Sie sehen wie Klau en aus.« »Er sieht wie ein tollwütiges Tier aus«, verbesserte Cutler hitzig. Franks trat vor. »Sir, wir sollten Gewehre holen und die Bestie abknallen.« »Dafür ist es zu spät«, widersprach Cornelius. »Für alles ist es zu spät.« »Sie haben Recht«, meinte Cutler. »Es ist zu spät. Dieser Mistkerl kommt gleich durch die Wand.« Cornelius stieß ein Schnauben aus. »Lächerlich. Das Plexiglas ist zehn Zentimeter dick. Er ist stark, aber …« Die durchsichtige Kunststoffwand platzte und ein Kristallhagel ging auf Cornelius, Cutler und Franks nieder. Mitten im Getöse sprang eine brüllende Gestalt in den Überwachungsraum, um sich den anderen zu stellen. Cutler hörte ein wütendes Knurren, als Sub ject X sich hinhockte und zum Absprung bereit machte.
Der Professor verfolgte das Chaos in Labor Zwei voller Freude auf seinem Zentralmonitor. Die Schreie von Cornelius und den Si cherheitskräften waren Musik in seinen Ohren. »Das ist Subject X! Aber gütiger Himmel … was geschieht da mit ihm?«
»Er hat den Jungen umgebracht … mit Blut bedeckt. Er hat diese Messer benutzt … aus seinen Händen ragen.« Die zusätzlichen Bildschirme, die um die Hauptkonsole herum standen, lieferten aktuelle Bilder von hektischer Betriebsamkeit in anderen Teilen der Anlage. In Sicherheitszone Eins eilten Major Deavers und ein Trupp seiner Schläger zum Fahrstuhl. Im For schungslabor versammelten sich Ärzte und Techniker, um sich um die Notfallversorgung von Subject X zu kümmern. »… wirken wie Klauen …« »Er sieht wie ein tollwütiges Tier aus …« »Dafür ist es zu spät. Für alles ist es zu spät …« Der Professor drückte einen Knopf und schaltete den Ton ab. Seine Hand war dabei so ruhig wie die des besten Chirurgen in seinem Team. Waffe X ist bereits ein voller Erfolg, erkannte der Professor. Die Ver suchsperson hat mehr blinde Wut in sich, als selbst ich mir vorstellen oder gar erhoffen konnte. Logans Urinstinkt … vielleicht sein einziger Instinkt … ist das Töten. Als er diesem Techniker – einem Unschuldigen, der nur sein Bestes getan hatte, um die Schmerzen der Versuchsperson zu lindern – so wild die Kehle aufgerissen hat, war Waffe X nur vom Instinkt getrieben, ungetrübt von Erbarmen oder Vernunft. Mit einem Wort, die Vorstellung der Ver suchsperson war … »Herrlich.«
»Raus hier!«, brüllte Cutler, während er sich zwischen Franks und Cornelius und den tobenden Logan warf. Franks stürzte zum Aus gang, ehe noch die letzten Stücke Plexiglas auf den Boden prasselten. Doch Cornelius stand wie erstarrt da. Seine Augen waren hinter den dicken Brillengläsern vor Erstaunen weit auf gerissen, und Logan wirbelte herum, um sich den bärtigen Wissen
schaftler vorzunehmen. Mit gutturalem Gebrüll holte Logan mit einer Klauenhand aus, um Cornelius niederzuschlagen. Doch ehe er ihm den tödlichen Schlag versetzen konnte, sprang Cutler auf seinen Rücken, schlang seine Beine um Logans Hals und packte beide Klauenhände. »Raus!«, brüllte Cutler, während er versuchte, Logan zu überwäl tigen. Wie versteinert stand Cornelius da und rührte sich nicht. Als Lo gan sich bemühte, seine hochgerissenen Arme zu befreien, spürte Cutler, dass der Wahnsinnige langsam seinem Griff entglitt. Brül lend griff Logan hinter sich und riss den Mann von seinem Rücken. Hilflos purzelte Cutler über das Computerterminal und durch die Überreste des zertrümmerten Fensters. Mit voller Wucht landete er auf dem Rücken. Er versuchte hochzukommen, aber dann sackte er zu Boden und rollte gegen den blutigen Leichnam des ermordeten Technikers. Logan näherte sich Dr. Cornelius. Von Angesicht zu Angesicht standen sie sich Aug in Aug gegenüber, und Cornelius bereitete sich auf den tödlichen Hieb vor. Er kam nie. Stattdessen gaben Logans Beine nach und er taumelte. Mit einem letzten Stöhnen sackte Logan auf den Stahlboden und rührte sich nicht mehr. Cornelius sank neben der Versuchsperson auf die Knie und berührte auf der Suche nach einem Puls das Handgelenk … um erschreckt zurückzuwei chen, als die Adamantium-Klauen eingezogen wurden und unter Falten im Fleisch der Versuchsperson verschwanden. Die Sicherheitstür wurde aufgestoßen. Mit gezogener Waffe stürzte Major Deaver herein. Ihm folgten Agent Franks und ein Team von Tierbändigern, in deren behandschuhten Händen Elektro schocker knisterten. Cornelius hob die Hand, um sie aufzuhalten, dann legte er zwei Finger an Logans Hals. »Die Versuchsperson lebt – gerade noch. Aber er hat sich das ganze Lebenserhaltungssystem herausgerissen. Wir müssen ihn sofort ins Zentrallabor schaffen, sonst verlieren wir
ihn.« Überrascht musste der Doktor mit ansehen, wie die Sicherheits kräfte ihn zur Seite stießen und Logan mit groben Händen packten. Mit den Kabeln und Schläuchen der herausgerissenen Sonden fesselten die Wächter den bewusstlosen Mann und ignorierten Cor nelius' Einwände. Schließlich entdeckte der Wissenschaftler das Schild auf Major Deavers Schutzweste. »Sie! Führen Sie das Kommando?«, schnauzte Cornelius ihn an. »Jawohl, Sir«, erwiderte Deavers barsch. Seine Stimme hallte durch den Schutzhelm mit dem durchsichtigen Gesichtsschutz. »Ich will, dass Sie Ihren Jungs Einhalt gebieten und dann Subject X zur Untersuchung ins Zentrallabor bringen. Der Zeitfaktor ist von entscheidender Bedeutung. Ohne ein Lebenserhaltungssystem hat er nicht mehr lange zu leben.« Deavers sah an Cornelius vorbei zu der zerfleischten Leiche auf dem Boden. »Was ist mit ihm?« Cornelius sah zum Techniker und senkte dann den Blick. »Da ist keine Eile nötig … er ist tot.« Deavers Augen funkelten, aber er unterdrückte eine Antwort. Dann drehte er sich zu seinen Männern um. »Legt ihn auf eine Trage und bringt den Mistkerl ins Zentrallabor«, befahl Deavers. »Bindet ihn gut fest. Und wenn er aufwacht – oder auch nur schnarcht – zieht ihm eins mit euren Elektroschockern über.« Zwei stämmige Tierbändiger warfen Logan auf eine Trage, banden ihn daran fest und schoben ihn hinaus. In der Zwischenzeit traten Major Deavers und Agent Franks ins Labor, um nach Cutler zu sehen. »Er ist bewusstlos«, bemerkte Deavers. »Aber er sieht nicht sehr mitgenommen aus.« Mit ein paar Schlägen auf die Wangen weckte Deavers Cutler. Als
der Mann die Augen öffnete, schüttelte der Major den Kopf in spöt tischem Mitgefühl. »Auf, auf, Sie Held«, sagte Deavers und streckte ihm die Hand hin. Cutler griff nach ihr, zog sich hoch und schüttelte sich, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. »Was hat mich getroffen?«, stöhn te er. »Und sehe ich so schlimm aus, wie ich mich fühle?« Major Deavers lenkte seine Aufmerksamkeit auf die Leiche, die in ihrem dunkler werdenden Blut auf dem Boden lag. »Sie sehen viel besser als der Typ dort aus.«
»Wenn ich gewusst hätte, was Sie wirklich im Sinn haben, Professor, wäre ich wahrscheinlich sehr bestürzt gewesen.« Cornelius saß im zertrümmerten Überwachungsraum zwischen Plexiglasscherben und zerschmetterten Konsolen, während er einen Becher mit lauwarmen Kaffee in seinen zitternden Händen hielt. »Möglicherweise«, sagte der Professor. »Obwohl ich das wahre Wesen des Projekts nie vor Ihnen verborgen habe. Es war eher so, dass Sie sich dafür entschieden hatten, die mehr kontroversen Aspekte des Programms nicht mit mir besprechen zu wollen. Also hatte ich das Gefühl, dass Sie noch nicht so weit waren, ein paar … unangenehme Tatsachen zu akzeptieren.« »Ich dachte, Sie versuchten eine Art Übermenschen zu erschaffen. Einen … einen Übersoldaten oder so etwas Ähnliches. Bestimmt haben Sie doch von diesem Programm in den Vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts gehört?« »Natürlich.« Cornelius führte den Becher an die Lippen und leerte ihn mit großen Schlucken. Dann wischte er sich den Mund mit dem Hemds ärmel ab und runzelte die Stirn. »Ich habe ihnen dabei geholfen, ein Monster zu erschaffen, keinen Übermenschen!« »Nein, nicht direkt ein Monster …«
»Verflucht noch mal! Es ist ein mörderisches Tier ohne Sinn und Verstand.« »Na ja, schon. Aber wir können ihn dazu bringen, sich gut zu benehmen.« Cornelius hätte beinahe gelacht. »Benehmen? Gütiger Himmel, Professor! Er hat einen unschuldigen Jungen da drinnen abge schlachtet.« Ohne selber hinzuschauen deutete er auf die dunklen Flecken auf dem Boden des jetzt leeren Labors. »Dann ging er auf mich und die beiden Männer von der Wachmannschaft los – direkt durch das ver dammte Fenster, als wäre es gar nicht da.« Mit einer für ihn untypischen Geste legte der Professor eine tröstende Hand auf die Schulter seines Kollegen. »Sie müssen große Angst ausgestanden haben, Doktor«, murmelte er besänftigend. »Sie können sich noch nicht einmal annähernd vorstellen, wie es war.« Oh doch, das tue ich, entgegnete der Professor im Stillen und senkte den Kopf, um ein ganz leichtes Lächeln zu verbergen. Und ich bin entzückt von Ihrer Reaktion. Es lässt sich nur erahnen, was jene empfinden werden, die einer fertig ausgebildeten und konditionierten Waffe X gegen überstehen! Kein Land, keine Macht kann gegen solch eine Kraft bestehen. Der Professor zog seine Hand zurück. »Aber letztendlich ist Ihnen nichts passiert, Doktor, also wollen wir das Ganze jetzt nicht überbe werten, nicht wahr?« Cornelius führte den Becher an die Lippen, merkte, dass er leer war und stellte ihn weg. »Logan hätte uns alle umbringen können. Ich habe ihm eine Se kunde lang in die Augen gesehen … Sie waren voller Hass und Zorn. Aber ich konnte nicht erkennen, ob es ein animalischer Blut durst oder Entsetzen darüber war, was wir mit ihm getan haben.« Alles, was wir ›ihm getan‹ haben, ist die ungezähmte, unkontrollierte Bestie in ihm freizusetzen, dachte der Professor. Eine Bestie, die schon
bald wie ein Zirkustier dressiert sein wird, und die auf einen kleinen Befehl hin ihre Kunststücke vollführen wird. Der Professor beobachtete, wie Cornelius aufstand, den Raum durchquerte und den Becher aus einer fast leeren Kanne nachfüllte. »Und was passierte dann, Doktor?«, fragte er, um ihn zum Weiterre den zu bewegen. »Dann kippte Subject X um, weil die Lebenserhaltungsinstrumente herausgerissen worden waren … Er brach zusammen. Diese schrecklichen Messer …« Eine außergewöhnliche Anpassung, diese Klauen, staunte der Professor insgeheim. Ein verwirrender Entwicklungssprung … »… versanken wieder in seinem Körper.« Verborgen. Tödlich. Die perfekte Waffe für Waffe X. »Ich danke Gott für das Glück, das ich hatte.« Schade, dass mir so etwas Innovatives nicht vorher eingefallen ist. Vielleicht wären wir dann besser darauf vorbereitet gewesen … Der Professor begann unruhig hin und her zu rutschen. »Nun gut, Sie haben überlebt, um alles zu berichten. Jetzt sollten wir uns über legen …« »Aber der Junge ist tot, Professor.« »Ja, wirklich tragisch. Was mag ihn dazu bewogen haben, seine Kabine zu verlassen?« Cornelius zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Er muss die Gefahr kommen gesehen haben. Trotzdem werden wir uns dafür verantworten müssen.« Der Professor runzelte die Stirn. »Warum das, Doktor?« »Na ja, die Polizei natürlich … Und was ist mit der Familie des Jungen?« »Sie wollen doch bestimmt nicht, dass die Polizei da mit hineinge zogen wird und in alles ihre Nase hineinsteckt? Unangenehme Fragen stellt? Vielleicht sogar Ihnen Fragen stellt? Nun, wenn das
geschähe, könnte ich unter Umständen nicht mehr für Ihre Si cherheit sorgen, Dr. Cornelius.« »Das spielt jetzt kaum noch eine Rolle«, erwiderte Cornelius und war selber überrascht, weil er jedes Wort so meinte. Nachdem er Zeuge von Logans Raserei geworden war, hatte sich seine Angst vor dem Gefängnis in Luft aufgelöst. Der Professor musterte seinen Kollegen. Dessen veränderte Ein stellung stürzte ihn in Verwirrung. »Und ich dachte, wir hätten Sie für uns gewonnen, Doktor, und Sie davon überzeugt, dass Sie Ihr Forscherwissen nicht vergeuden dürfen. Dass Sie von unserer uner schütterlichen Hingabe beeindruckt sind.« Cornelius senkte den Blick. »Mir reicht's.« Nein. Nicht, bis ich es befehle. Aber ein bisschen Manipulation ist jetzt offensichtlich erforderlich. Wie lästig … »Glücklicherweise glaube ich nicht, dass es notwendig ist, die Poli zei hinzuzuziehen«, meinte der Professor, ohne auf den letzten Satz des Doktors einzugehen. »Die Verwandten des Jungen können ent schädigt werden. Nennen wir es finanzielle Absicherung.« Cornelius hörte nicht zu. Er hantierte mit seinem Kaffee herum, und die bittere Brühe hinterließ Flecken auf seinem Laborkittel. Um ein Ventil für seine Ungeduld zu schaffen, pflückte der Professor die Plexiglasscherben von dem Computerbildschirm. »Do ktor, ich merke, dass Sie ein wenig befremdet zu sein scheinen. Vielleicht ist es nun an der Zeit, Sie tiefer in mein Programm einzu weihen …« Cornelius schaute auf. »Programm?« Immer erst Zuckerbrot, dann Peitsche. »Ja … aber zuerst müssen Sie mir ausdrücklich Ihr Vertrauen aus sprechen. Habe ich ihr Vertrauen, Dr. Cornelius?« Eine Sekunde lang mahlte der Kiefer des Doktors, ehe ein Ton her auskam. »Ich … ich weiß nicht. Da sind noch viele …«
»Das werde ich alles erklären.« Er ist verwirrt, stellte der Professor fest. Er sucht nach Führung … Anleitung … Jetzt die Peitsche. »Ihr Vertrauen, Doktor«, wiederholte der Professor. »Ich brauche es. Schenken Sie mir dieses Vertrauen und ich werde es annehmen.« »Na gut«, flüsterte Cornelius. »Okay, wenn Sie es wollen … Ich vertraue Ihnen.« Der Professor leckte sich über die Lippen. »Ich danke Ihnen.« »Bitte sehr, Sir.« »Sagen Sie, Doktor, sind Sie mit dem Begriff des Homo superior vertraut?« Cornelius zuckte die Achseln. »Wie bei Herrenrassen oder so ähnlich?« »In gewissem Maße. Doch nein … Ich meine Mutanten.« Der Professor unterbrach sich kurz, um den blutbefleckten Monitor wieder anzuschalten. »Mutanten sind keine Menschen, Dr. Corneli us, sie sind Homines superiores. Subject X ist kein Mensch. Sondern ein Homo superior. Schauen Sie her …« Der Professor spielte die letzten Momente im Leben des Starus technikers vor. »Was sehen Sie?« Cornelius fühlte sich abgestoßen, doch gleichzeitig trieb ihn die wissenschaftliche Neugier dazu hinzusehen. »Was glauben Sie denn?«, rief er ärgerlich. »Ich sehe eine wilde Bestie, die früher mal ein Mensch war.« »Na gut, Cornelius. Ich akzeptiere Ihre Beurteilung. Doch ich dagegen sehe einen Mann, der immer so war, dessen Unterbewusst sein jetzt nur enthüllt worden ist. Tief im Innern war er immer so. Aber unser Freund ist jetzt endlich er selbst. Darüber sollten wir uns freuen. Wir wandeln ihn um – Wir werden die Architekten von Lo gans Verstand, Körper und Seele sein.« Cornelius kratzte sich am Kinn. Das dünne Lächeln des Professors
machte ihn völlig fertig. »Das Experiment. Die Adamantium-Ver bindung. Wollen Sie etwa sagen, dass ihn das zu diesem höllischen Wesen hat mutieren lassen?« »Nein, Doktor. Sie müssen begreifen, dass dieses ›höllische Wesen‹ etwas ist, was der Patient immer war. Ein eindeutig gewalttätiges Individuum, das sich durch ein planloses Leben prügelt.« Während der Professor sich die Szene auf dem Bildschirm an schaute, die in einer endlosen Schleife wiederholt wurde, trat in sei ne Augen so etwas wie Mitleid. »Können Sie sich so ein Leben vorstellen, Cornelius? Eine endlose Folge von Tagen, die sich nur durch die Blessuren und Blutspuren der Kneipenschlägerei des letzten Abends unterscheiden. Aber un erklärlicherweise heilen die Wunden und sind verschwunden, ehe es Mittag ist und er das erste Bier trinkt …« Der Professor schüttelte den Kopf. »Wie traurig. Na ja, ich bezweifle, dass er je einen Kater hatte.« Die Gegensprechanlage summte. »Die Tests für die Diagnose sind abgeschlossen, Professor«, erstattete Dr. Hendry Bericht. »Wir werten die Ergebnisse jetzt aus. Das wird ein paar Stunden dauern. Vielleicht bis Mittag.« »Und Logan, die Versuchsperson?« »Für ihn gilt jetzt die höchste Sicherheitsstufe. Labor Fünf, Stock werk fünf. Ein Team überwacht seine Aktivitäten.« Mit seinen schmalen Händen gab der Professor etwas über seine Tastatur ein, und die mörderische Szene auf dem Bildschirm wurde von einer Live-Einstellung abgelöst, die den wachen Logan in einer Zelle zeigte, in der er sich unter den Gurten wand, die ihn von Kopf bis Fuß fesselten. »Stellen Sie sich nur vor, Dr. Cornelius«, fuhr der Professor fort. »All die Jahre hat Logan diesen … Wahnsinn ertragen. Ihn quälte ein Schicksal, das ihn von innen heraus verzehrte. Er kämpfte gegen ein Schicksal, das die Natur für ihn bestimmt hatte – ein Fluch, der
dem mittelalterlichen Volksglauben an Werwölfe ähnelte. Kennen Sie überhaupt Logans Vorgeschichte?« »Nein«, antwortete Cornelius. »Nur …« »Nur, dass er wegen dieses höchst fortschrittlichen Experiments entführt worden ist, richtig?« Cornelius nickte. »Doch das hat Sie nicht gestört?« »Ich … ich dachte, er wäre ein Verbrecher oder so etwas. Ich nahm an, dass EMaM Teil des Verfahrens sei … um Logan zu reso zialisieren. Um ihn zu einem besseren Menschen zu machen.« Der Professor warf den Kopf zurück und lachte. »Sie sind zufällig über die Wahrheit gestolpert, Doktor, denn ich habe die Absicht, Mr. Logan vollständig zu resozialisieren.« Cornelius konnte den Blick nicht vom Bildschirm abwenden, auf dem Logan zu sehen war. »Sie sprachen von seiner Vorgeschichte, Professor?« »Logan wurde Regierungsbeamter und war ideal für diesen Beruf mit seinen Gefahren geeignet. Er hatte nichts zu verlieren – noch nicht einmal sein gottverlassenes Leben.« Der Professor sah Cornelius eindringlich an. »Sie haben seine Krankenakte ja selbst gesehen, Doktor. Er wurde mehrmals ange schossen. Stiche und Schläge im Rahmen der Pflichterfüllung. Er kümmerte sich nicht um die Gefahren, denn er suchte die Ehre, fürs Vaterland zu sterben. Wie schrecklich verzweifelt muss er am Ende gewesen sein.« Auf dem Bildschirm sah man, dass es Logan gelungen war, seine Arme zu befreien. Sie beobachteten beide, wie er begann, an den di cken Kabeln zu zerren, die um seine Taille lagen. »Aber jetzt ist sein Dämon frei«, fuhr der Professor fort. »Frei ge worden durch Projekt X. Seine doppelte Identität – als gequälter Mutant und Geheimagent – wurde durch den EMaM ausgemerzt. Sie wurde vom Über-Ich verdrängt, und jetzt sind alle Urinstinkte
versammelt und freigesetzt worden. Verstehen Sie?« »Ich bin mir nicht sicher …« »Ehe er zu Wachs in unseren Händen wurde, war es ohnehin so, als hätte Logan nie existiert. Er hatte keine Familie. Sein Körper alterte nicht, er hatte keine Narben, die ihn an vergangene Fehler er innerten. Nur seine Erinnerungen sagten ihm, dass er überhaupt am Leben war, und diese Erinnerungen brachten ihm nur Schmerz und endloses Leid ein.« Der Professor rückte näher heran. »Logans Fluch bestand darin, weiter zu leben, während Freunde, Geliebte, Ehefrauen – vielleicht sogar Söhne und Töchter – vor seinen Augen alterten und starben. Können Sie sich die damit verbundene Einsamkeit vorstellen?« »Ja«, antwortete Cornelius, ohne auch nur einen Moment zu zö gern. Natürlich kannst du das, rief sich der Professor in Erinnerung, dann fuhr er fort. »Wie viele Male mag er wohl überlegt haben, Selbstmord zu bege hen? Doch sogar der Tod wurde ihm verweigert. Kein Wunder, dass er im Alkohol Vergessen suchte. Es scheint, dass Logan begriff, dass der Rückzug vom Ego – der Tod des ›Ich‹ und all seiner Erinne rungen – seine einzige Möglichkeit war, Erlösung zu finden.« »Ja, ich verstehe, Professor.« »Natürlich tun Sie das, Doktor. Und was Sie jetzt betrachten, ist ein Logan ganz ohne Widersprüche, ohne Zweifel, ohne Emotionen. Was Sie sehen, ist er die gefährlichste taktische Waffe, die je entwi ckelt wurde.« »Und dann noch die Messer in seinen Händen«, meinte Cornelius. »Reines Adamantium …« »Das sind keine Messer, Cornelius – das sind Klauen! Und Logan weiß bereits, wie er sie benutzen muss.« Während sie zusahen, fuhr Logan seine Krallen aus und durch trennte das letzte Kabel, das ihn noch an die Trage fesselte. Er setzte
sich mit vollständig ausgefahrenen Klauen auf. »Schlafen die etwa im Überwachungsraum?«, murmelte der Professor, als er den Knopf der Gegensprechanlage drückte. »Si cherheit!« »Sicherheit hier.« »Wir brauchen jetzt das Gas in Labor Fünf.« »Wir warten auf Dr. Hendrys Genehmigung …« »Sie haben meine«, rief der Professor. »Schnell! Schnell! Er steht gleich auf.« »Verstanden.« Als Logan sich von der Trage rollte, wurde er in eine Wolke aus gelbem Gas gehüllt, das aus Düsen in den Wänden, aus dem Boden und sogar aus der Decke strömte. Hustend sank er auf die Knie und keuchte, während er die Arme um die Brust schlang. »Oh Gott«, stieß Cornelius hervor. Logans Mund öffnete sich weit, und grüne Galle quoll aus seinem Hals. Mit dem Gesicht voran schlug er auf dem Boden auf, doch die zuckenden Arme und Beine sorgten schnell dafür, dass er sich auf den Rücken drehte. Schließlich schnappte Logan wie ein gestrande ter Hai nach Luft. Und während er das Bewusstsein verlor, zogen sich die Krallen langsam in sein Fleisch zurück. Cornelius sank entsetzt von dem Anblick auf einen Stuhl. »Eine notwendige Maßnahme, Doktor. Sie haben ja selbst gesehen, was passiert ist.« »Ja … aber … ich meine …« »Spucken Sie es aus, Mann. Ich bin für Vorschläge offen.« »Können wir ihn denn nicht besser behandeln? Er ist doch immer noch auch ein Mensch, nicht wahr?« Der Professor ließ sich das Gesagte durch den Kopf gehen. »In ge wisser Hinsicht, vielleicht. Aber Ihre frühere Beschreibung war treffender. ›Eine wilde Bestie‹, sagten Sie, glaube ich.«
»Ja … ich glaube schon …« »Und das ist auch der Grund, warum ich auf Sie angewiesen bin, mein lieber Doktor.« Der Professor legte seinen Arm auf die Schulter des anderen. Er hielt es für eine väterliche Geste. Doch Cornelius lief dabei ein kalter Schauer über den Rücken. Cornelius schloss die Augen, um die Bilder auf dem Monitor zu verdrängen. Doch er musste feststellen, dass sich Logans Gesicht wie ein Nachbild in sein Gehirn gebrannt hatte – als hätte er zu lange in die Sonne geschaut. »In Wahrheit ist Subject X nicht viel anders als Ihre erstaunlichen Nanochips«, murmelte der Professor. »Er wurde für einen bestimm ten Zweck erschaffen. Jetzt muss er noch umstrukturiert werden. Ausgebildet. Dann programmiert.« Cornelius öffnete die Augen. Logan schien ihm über den Bild schirm direkt in die Augen zu schauen. »Sie können das alles«, meinte der Professor. »Sie beherrschen den Umgang und die Manipulation mit solch einer wilden Kreatur, Dr. Cornelius. Das ist Ihre Berufung.«
NEUN Enthüllungen
Carol Hines fuhr die gebogene Adamantium-Klinge mit der linken Hand nach. Herrlich. Ihrer Meinung nach war das eine beispiellose Leistung. Der Professor hatte durch den Einsatz einer innovativen Technolo gie im Organismus der Versuchsperson einen völlig neuen, biolo gischen Verteidigungsmechanismus erschaffen – wobei er die Launen der natürlichen Selektion umgangen war. Erstaunlich. Sie ließ ihre großen, grünen Augen zum nächsten Röntgenbild wandern. Bei diesem handelte es sich um eine Aufnahme von der Seite. Darauf war ein geheimnisvoller Muskelknoten mit Knorpeln im Unterarm zu erkennen, der für die Verankerung der Klauen zu ständig war. Der Muskel diente auch als Scheide, in die die Klingen zurückgezogen wurden, wenn sie nicht im Einsatz waren. Ein erstaunlicher Aufbau. Die Klauen vermittelten den Eindruck, sowohl tödlich als auch wirkungsvoll im Einsatz zu sein. Allein diese Konstruktion war für Carol ein Beweis, was man erreichen konnte, wenn ein For scherteam gemeinsam mit absoluter Disziplin daran arbeitete, die Vision eines Einzelnen zu verwirklichen. Ein wahrer Triumph des Willens. Wie ein Kunstkenner ging sie von Bild zu Bild und betrachtete je des Einzelne der mehr als hundert Röntgen- und Ultraschallbilder, die die Wände des Konferenzraumes der Mediziner pflasterten. Hinter ihr strömten immer mehr Mitarbeiter, die genau wie sie dem
Ruf des Professors gefolgt waren, in den Raum, um an einem Not fall-Meeting teilzunehmen. Carol Hines blieb stehen, als ihr Blick an einem bestimmten Bild hängen blieb – eine mit dem Elektronenmikroskop aufgenommene Fotografie von der Oberfläche der unzerbrechlichen Stahlklauen der Versuchsperson. Kein Schwertmacher im alten Japan wäre in der Lage gewesen, solch eine vollkommene Klinge zu schmieden. Sogar bei einer mehr als hunderttausendfachen Vergrößerung war auf der spiegelglatten Oberfläche kein Makel, keine einzige Unebenheit zu ent decken. Und die Klauen der Versuchsperson waren zweimal so dicht wie gehärteter Stahl. Dank der Adamantium-Legierung praktisch unzerstörbar … Während die Versuchsperson bewusstlos war, hatte man eine Kunstharznachbildung von seinen Klingen angefertigt. Die Nachbil dung hing in der Mitte der ausgestellten Bilder. Carol Hines konnte dem Drang nicht widerstehen, eine der drei langen, leicht gebogenen Klingen zu berühren, wobei sie sich vor stellte, dass es sich bei den stumpfen Harzkanten um eine echte Stahllegierung handelte, die schärfer als eine Rasierklinge war. Ich hatte meine Zweifel bezüglich der Fähigkeiten des Professors, gestand Carol sich ein, besonders als er während des Verbindungspro zesses vor Panik zu erstarren schien. Aber es ist offensichtlich, dass er wirklich eine Vision hatte, wie Subject X später aussehen sollte. Und diese Vision ist jetzt umgesetzt worden … »Ziemlich bemerkenswert, was, Ms. Hines?« Sie drehte sich um und erkannte Dr. MacKenzie. »Ich hätte nie gedacht, dass so etwas möglich sein könnte«, er widerte sie, und in ihrer Stimme schwang Ehrfurcht mit. »Wenn ich ein Anhänger Freuds wäre, könnte ich in Bezug auf diesen speziellen Aspekt vieles zunichte machen.« Mac-Kenzie ki cherte, während er sich den roten Bart kratzte. Sein Gesicht wies
eine gesunde Farbe auf, sein roter Haarschopf war ungekämmt. Der Doktor war offensichtlich zusammen mit allen anderen einen großen Teil der Nacht auf gewesen. Doch der Schlafmangel hatten seinem fröhlichen Gemüt nichts anhaben können. Carol Hines schenkte MacKenzie ein zurückhaltendes Lächeln. »Und welcher Schule gehören Sie an, Doktor? Welche psycholo gische Theorie vertreten Sie?« »Während meiner goldenen Jugend lernte ich bei Alfred Adler – eine Tatsache, die Sie wahrscheinlich selbst hätten herausfinden können.« »Das soll bestimmt eine sehr geistreiche Bemerkung sein. Aber es tut mir Leid – ich verstehe den Zusammenhang nicht.« »Na ja, Ms. Hines, Adler glaubte, dass das Minderwertigkeitsge fühl und nicht so sehr der Geschlechtstrieb der Hauptantrieb der menschlichen Natur ist. Minderwertigkeitsgefühle – ob bewusst oder unbewusst, verbunden mit Verteidigungsmechanismen sind häufig der Auslöser für psychopatisches Verhalten, so Adler.« »Ich verstehe es immer noch nicht.« »Seitdem Sie hier mit Ihrer magischen Maschine aufgetaucht sind, werden meine Dienste als Psychiater nicht mehr für wichtig gehal ten. Folglich habe ich Minderwertigkeitsgefühle.« »Es tut mir Leid, aber …«, fing Ms. Hines wieder an. MacKenzie warf die Hände in die Luft. »Nein, nein, bitte entschul digen Sie sich nicht. Sie haben mich missverstanden. Ich ergebe mich bereitwillig Ihrem fachmännischen Können, Ms. Hines, und hoffe wirklich, dass Sie in nächster Zukunft all meine Verpflich tungen übernehmen. Um ehrlich zu sein, ich habe vom Professor genug. Und von Projekt X.« Nach MacKenzies unerwartetem Geständnis schwiegen beide einen Moment lang und betrachteten die Bilder, während andere an ihnen vorbeigingen. »Haben Sie eine Ahnung, warum dieses Meeting einberufen
wurde?«, fragte MacKenzie, als sie wieder mehr oder weniger allein waren. »Ich wollte Sie gerade dasselbe fragen«, erwiderte sie. »Vielleicht hat es etwas mit dem brutalen Vorfall letzte Nacht in Labor Zwei zu tun.« »Möglich …« In MacKenzies Stimme schwang eine Andeutung von Zweifel mit. Insgeheim war sich Carol Hines da auch nicht so sicher. Etwas lag in der Luft. Ein Wandel schien sich anzudeuten. Sie spürte die gleiche Anspannung, die gleiche Verwirrung, wie sie es damals bei der NASA nach dem letzten Space Shuttle-Unfall erlebt hatte – ein Ge fühlschaos gemischt mit dem Wissen, dass bestimmte Personen an Macht und Ansehen innerhalb der Organisation verloren hatten, während andere aufgestiegen waren. Für mich hatte die Schwierigkeit darin bestanden festzustellen, erinnerte sie sich, wessen Stern im Aufgehen begriffen war und wer gerade wie Weltraumschrott abstürzte. Das Chaos im Institut und die Unklarheit untergruben die ehrgeizige Verfolgung der gemeinsamen Ziele, säten Zweifel und verringerten die Produktivität. Keiner ist immun. Nicht einmal ein Wissenschaftler wie mein Vater – seine Zweifel führten zu Alkoholismus und Schlimmerem. Carol glaubte daran, dass man sich auf seine Aufgabe kon zentrieren musste, nicht auf die immer präsenten internen Macht kämpfe, die geführt wurden. Lieber eine Arbeiterin als eine Bienen königin. Lieber den Kopf einziehen, als dass er einem abgeschlagen wird – wie es ihrem Vater widerfahren war, als ein von ihm entwi ckeltes Medikament von der Arzneimittel-Zulassungsbehörde nicht genehmigt worden war. Das Trinken, die gewalttätigen Anwandlungen waren danach viel schlimmer geworden. Aber schließlich hatte das Schlagen aufgehört, als ich vierzehn oder fünfzehn war und bei ein paar Forschungswettbewerben ge wonnen hatte. Ja, die Schläge hörten auf aber nicht der Missbrauch …
Mehrere Techniker rempelten sie an, und MacKenzie und Hines begaben sich in eine ruhige Ecke, um ihre Unterhaltung fortzu setzen. »Ziemlich beeindruckend, wie Sie Logan nach dem Vorfall in der letzten Nacht wieder in die Gewalt bekommen haben«, sagte Ma cKenzie zu ihr. »Es war ganz einfach«, erwiderte sie. »Subject X ist bereits darauf konditioniert, die EMaM-Schnittstelle zu akzeptieren. Es wird mit je der Benutzung des Gerätes einfacher.« »Ich habe den gleichen, nadelförmigen Impuls in der Gehirnaktivi tät gesehen wie damals bei der ersten Verbindung – ein Hinweis auf erhöhte chemische Aktivität?« »Ich glaube nicht, dass Logan eine Reise in die Vergangenheit un ternommen hat, wenn es das ist, was Sie meinen.« »Sind Sie sicher, Ms. Hines?« »Ich glaube, dieses Thema haben wir bereits abgeklärt, Doktor.« MacKenzie grinste. Er genoss die verbale Auseinandersetzung. »Auf jeden Fall hat sich gezeigt, das Ihre Maschine, Ms. Hines, die einzige Möglichkeit ist, die Versuchsperson zu beherrschen. Medi kamente wie Thorazin und Pheno-B, Technologien wie Gehirn dämpfer und sogar K. O.-Gase haben sich alle auf lange Sicht als wirkungslos erwiesen.« »Ja. Dr. Hendry hat erwähnt, dass die Versuchsperson mit Gas außer Gefecht gesetzt wurde.« »Stimmt genau.« MacKenzie runzelte die Stirn. »Noch dazu eine gewaltige Dosis. Genug, um einen Elefanten für eine ganze Woche zu betäuben. Doch erst, als Sie Ihre Maschine anschlossen, wurde er endlich ruhig.« »Im Grunde habe ich große Zweifel, dass Subject X je wirklich in dem Sinne ›wach‹ oder bei ›Bewusstsein‹ war, wie wir die Begriffe verstehen. Sein individuelles Bewusstsein – sein Ego – ist vollstän dig gelöscht worden. Seine Erinnerung, alle Spuren seiner früheren
Persönlichkeit sind mit Stumpf und Stiel ausgerissen worden. Die Versuchsperson ist quasi ein unbeschriebenes Blatt.« »Jemand hat Labor Zwei auseinander genommen, Ms. Hines.« »Schon, doch dabei hat Subject X rein instinktiv gehandelt – er hat einfach um sich geschlagen, wie es jedes Lebewesen tun würde, dessen Überleben bedroht ist.« »Hmm. Ich frage mich, ob Logan sich bedroht fühlte …« Carol sah ihn an. »Ich habe Gerüchte gehört, dass jemand – einer der Statustechniker – verletzt worden ist. Er soll heute Morgen in ein Krankenhaus ausgeflogen worden sein. Musste auf die In tensivstation.« »Interessant …« »Sie glauben es nicht?« MacKenzie zuckte die Achseln. »Ich war heute Morgen nicht da. Ich versuche jeden Morgen ein bisschen rauszugehen – sogar wir fahlgesichtigen Akademiker brauchen ab und zu ein wenig Sonne.« Carol Hines zog eine Augenbraue hoch. »Und?« »In den letzten paar Tagen ist etwas Schnee gefallen. Mindestens zehn Zentimeter. Auf dem Hubschrauberlandeplatz lag heute Morgen noch Schnee.« Das schrille Kreischen einer Rückkopplung ertönte. Die über die Lautsprecheranlage verstärkte Stimme von Dr. Hendry rief die Mit arbeiter zur Ordnung. »Könnten bitte alle Platz nehmen? Der Professor möchte uns über einige … jüngste Entwicklungen in Kenntnis setzen.« »Entschuldigen Sie bitte, Ms. Hines«, sagte MacKenzie. »Ich muss mich meinem Mitarbeiterstab im Orchestergraben anschließen.« Das Scharren von Stuhlbeinen erfüllte den Raum, bis alle einen Platz gefunden hatten. Carol saß umgeben von leeren Stühlen allein. Trotz der postoperativen Ereignisse herrschte allgemein Zuver sicht unter den Mitarbeitern. Als der Professor ans Mikrofon trat,
wurde er von stürmischem Applaus empfangen, den er sofort abtat. Als er zu sprechen begann, standen zwei Männer neben dem Professor – Dr. Hendry zu seiner Linken und zu seiner Rechten Dr. Abraham Cornelius. »Als wir in Phase Zwei dieses Experiments übergegangen sind, habe ich es für notwendig erachtet, eine neue Beurteilung der Hauptmitarbeiter des Teams vorzunehmen und ein paar Aufgaben auf andere Kollegen zu übertragen. Diese neue Einteilung wird dau erhaft sein …« Plötzlich machte sich Unbehagen im Raum breit. Die Kollegen tauschten verwirrte Blicke und fragten sich, welche indirekten Folgen die drastischen Änderungen in der Führungsriege mit sich brachten. Nur Carol Hines wirkte völlig gelassen. Sie schien nicht sehr überrascht. »Ab heute übernimmt Dr. Cornelius die vollständige Verant wortung für die nächste Phase des Verfahrens«, verkündete der Professor. Eine kluge Wahl – die Beste, die der Professor treffen konnte, dachte sie. Hendry hatte weder die richtige Einstellung noch zeigte er wahre Hingabe dem Projekt gegenüber. Er stellte jede Idee in Frage, die nicht von ihm selbst kam und verbrachte zu viel Zeit damit, seine Sandkiste zu verteidigen, um eine gute Führungspersönlichkeit zu sein. »Dr. Hendry wird ab jetzt eine eher beratende Funktion einnehmen, ist aber nach wie vor sowohl für den allgemeinen Gesundheitszustand der Versuchsperson als auch für die künftige körperliche Form von Subject X verantwortlich.« Das Gemurmel war immer lauter geworden, bis der Professor in nehielt und darauf wartete, dass wieder völlige Ruhe einkehrte. »Dr. MacKenzie, unser leitender Psychiater, behält seine gegen wärtige Position. Aber er und seine Abteilung werden jetzt Ms. Ca rol Hines, unserer EMaM-Technikerin, unterstellt sein.« Carol blinzelte überrascht. Dann begegnete ihr Blick dem von Dr.
MacKenzie. Er warf ihr ein verschmitztes Grinsen zu und salutierte. »Diese Änderung ist für den Erfolg der psychologischen Kon ditionierung erforderlich und soll keinesfalls Dr. MacKenzies Repu tation als Arzt und seinen Anteil an diesem Experiment in Zweifel ziehen. Diese Veränderung wird nur vorgenommen, weil EMaM eine wichtige Rolle in der nächsten Phase von Projekt X spielen wird – bei der Umschulung und Reprogrammierung der Versuchsperson – und Ms. Hines ist unsere Fachfrau in dieser Technologie.« Der Professor legte eine kurze Pause ein, um seinen Blick über die ängstlichen Gesichter wandern zu lassen. »Jetzt werde ich das Feld räumen und den Vorsitz dieses Meetings an Dr. Cornelius übergeben, der die nächste Phase unseres laufenden Experiments viel detaillierter skizzieren wird …«
»Hat das Mittagessen geschmeckt, Cutler?« »Ja, Sir. Danke der Nachfrage.« Cutler stand vor dem Schreibtisch des Majors stramm. Er war in einem frischen Overall, den er sich gerade neu beschafft hatte, ins Büro seines Vorgesetzten gekommen. Er trug Overalls, weil das die einzige vorschriftsmäßige Kleidung war, die weit genug war, um sie über den Verbänden zu tragen, die um seinen Oberkörper lagen. Der Major warf einen Blick auf die Berichte in seiner Hand, dann schmiss er sie hin und legte seine Pranken auf den Tisch. »Gute Arbeit, Cutler. Sowohl Franks als auch Doktor-Wer-WeißIch sagen, dass Sie ihnen den Arsch gerettet haben. Aber Sie hätten Verstärkung anfordern sollen, ehe Sie Labor Zwei betraten, nicht erst hinterher. Das nächste Mal könnten Sie mit weit mehr als nur ein paar Stichen enden.« »Ein Dutzend Stiche, Sir. Und ich werde diesen Fehler nicht noch einmal machen.« »Nein, werden Sie nicht. Eine Woche lang werden Sie für leichte
Arbeiten eingeteilt.« »Na, na, Deavers …« »Sieben Tage. Ab heute.« »Was soll ich machen? Die Gänge schrubben?« »Sie werden alle aktuellen Sicherheitsprozeduren inspizieren, Kameras und Bewegungsmelder überprüfen, Sirenen testen und dann eine komplette Schließung der gesamten Anlage bis Mitter nacht durchführen.« »Warum soll ich denn eine Schließung durchführen, Major?« »Weil der Director eine angeordnet hat – darum. Alle Angestell ten, ohne Ausnahme. Bis auf Weiteres.« »Was ist passiert? Hat der Dritte Weltkrieg angefangen?« »Die Oberbosse sind passiert«, antwortete Deavers. »Ich habe heu te Morgen die verschlüsselte Nachricht erhalten. Vorräte kommen rein, niemand geht raus. Ende der Durchsage.« »Warum macht man mir meinen Tag kaputt?« Deavers lachte. »He, Sie sind nicht der Einzige. Rice arbeitet an einer Abschaltung aller Kommunikationsverbindungen inklusive Internet und Telefon – Sie sollten mal das Gemecker der intellektu ellen Eierköpfe hören. Und der arme Franks ist für die Außenpa trouille zugeteilt – die nächsten zehn Stunden muss er in Schnee und eisiger Kälte ausharren.« »Mann, hat der wieder Schwein«, meinte Cutler nur.
Die Gedanken liefen in einer Endlosschleife durch Cornelius' Kopf, während er schlaflos auf seiner Pritsche lag. Eine Bestie … Einst ein Mann, aber bis zu den Knochen aufgeschnitten … Jetzt ein Tier, kein Mensch mehr. Dr. Cornelius war eingeschlafen, während er den chaotisch durch einander sprechenden Stimmen lauschte, die während und nach Lo
gans gewalttätigem Anfall in Labor Zwei aufgezeichnet worden waren. Jetzt vermischten sie sich mit seinen eigenen widersprüchli chen Gedanken. Er hat zwar Klauen, aber er ist immer noch ein menschliches Wesen … Nein, nicht menschlich. Homo superior. Logan musste eine Art Übermensch sein. Bei all diesen Spitzen, die ihm in Wangen, Augenwinkel und Gehirn gebohrt worden waren. Er hätte es nicht überlebt, wenn er nicht eine Laune der Natur gewesen wäre … ein Mutant … Cornelius setzte sich auf und schaltete das Aufzeichnungsgerät aus. Er stellte fest, dass er schwer atmete, sein Herz wie rasend pochte und sein ganzer Körper in kalten Schweiß gebadet war. Er tastete nach seiner Brille, dann sah er auf die Uhr. Viertel vor Sieben … Aber morgens oder abends? In dieser verdammten Gruft kann man das nicht erkennen. Es ist Tage her, seit ich die Sonne gesehen habe … Er wälzte sich von der Pritsche und ging durch sein winziges Quartier zum Computerterminal. Neben dem schwarzen Schirm stand eine Digitaluhr, die 0647 anzeigte. »Es ist früh am Morgen«, stöhnte er. Seine Stimme hörte sich in seinen eigenen Ohren seltsam an. Weil er sich bewegt hatte, war die Deckenlampe angegangen und auch der Computer sprang an. Die Gegensprechanlage summte einen Moment später. »Cornelius hier.« »Guten Morgen, Doktor«, sagte der Statustechniker. »Der Professor bat mich, Ihnen mitzuteilen, dass er heute Morgen beim Experiment anwesend sein wird.« »Wann?« »0800 im Hauptlabor.« »Was ist mit dem HDTV-Bildschirm?« »Ist eingeschaltet. Ms. Hines geht gerade die Checkliste durch. Der
Bildschirm ist bereits mit dem EMaM verbunden. Alles sollte bereit sein.« »Danke. Ende.« Aber statt in die Cafeteria zu eilen, setzte Corneli us sich an seinen Schreibtisch und sah noch einmal die neusten Da ten von Subject X durch. Die Anzeigen sind alle in Ordnung. Keine Hinweise auf Abstoßung – Logans Immunsystem war lange genug lahmgelegt worden, um den Ver bindungsprozess durchzuführen. Jetzt hat das System sich wieder stabilisiert, und Logan hat sich in Rekordzeit erholt. Keine Nach wirkungen, keine Narben, keine Wunden – außer an den Stellen, wo unse re Sonden immer noch im Fleisch stecken. Er wühlte sich durch Seiten über Seiten, um den Bluttest zu finden, den er gestern angefordert hatte. Er entdeckte die Ergebnisse fast am Ende der Datei und überflog die Zeilen gespannt. Auf den ersten Blick ließ sich nichts Außergewöhnliches feststellen; Corneli us war enttäuscht. Logans Blut wies keinerlei Besonderheiten auf. Typ 0 negativ. Die Anzahl der weißen Blutkörperchen und der Thrombozyten lag im normalen Bereich. Blutplasma auch normal – ein bisschen viele Mineralien, aber das ließ sich wahrscheinlich auf die große Menge Adamantium zurückführen, das in ihn hineinge pumpt worden war. Alles normal … und doch kann sich Logans Blut in eine Bakterien und Gift bekämpfende Substanz verwandeln, die genauso mächtig ist wie die vom Professor hochgeschätzte Waffe X. Cornelius wollte den Bluttest schon beiseite werfen, als er etwas Ungewöhnliches an Logans weißen Blutkörperchen bemerkte. Als Immunologe wusste Cornelius, dass normale Menschen unter schiedliche Arten von weißen Blutzellen besaßen. Aber eine Art – die Granulozyten – war am häufigsten vertreten. Granulozyten waren gut fürs Töten von Bakterien, aber das war eigentlich auch schon alles, was sie konnten. Eine andere Art von weißen Blutzellen, die Lymphozyten, waren viel stärker und auch deutlich vielseitiger, obwohl es deutlich
weniger von ihnen gab. Lymphozyten töteten mehr als nur Bakteri en – sie kämpften gegen alle fremden Substanzen, auch Gift, im Kör per und arbeiteten mit dem Immunsystem zusammen gegen Infek tionen. Allerdings hatte man noch nicht ganz verstanden, wie das eigentlich funktionierte. Während die Gesamtzahl von Logans weißen Blutzellen durchaus innerhalb der Norm von ein bis zwei Prozent lag, sprengte die An zahl seiner Lymphozyten jede Tabelle. Doch nicht nur das – der Hämatologe hatte auch Abweichungen in Form und Größe von Lo gans Lymphozyten festgestellt. Sie waren größer und besaßen laut der rätselhaften Anmerkungen des Mannes »zusätzliche Strukturen, die noch nicht definiert waren«. Könnte das das Geheimnis des außergewöhnlichen Immunsystems der Versuchsperson sein?, fragte sich Cornelius. Konnte es so einfach sein? Etwas so Grundlegendes wie weiße Blutzellen? Wenn das der Fall war, könnten Impfstoffe für hunderte, nein, tausende von Krankheiten isoliert und künstlich hergestellt werden, wenn man Logans ungewöhnliches Blut gründlich untersuchte. Erst dann kam die Erkenntnis. Dies … Dies ist eine zukunftsweisende Entdeckung. So fundmental wie die Entdeckung des Penicillins. Cornelius merkte plötzlich, dass er vor Erschütterung bebte. Er riss sich seine Brille herunter und warf sie auf den Tisch. Dann be deckte er seine Augen. Guter Gott … Wenn ich vor ein paar Jahren Zugriff auf Logans Blut ge habt hätte, wäre ich in der Lage gewesen, einen Impfstoff für die Krankheit meines Sohnes herzustellen. Ich habe das Geheimnis – das Heilmittel – zu spät gefunden, als dass es noch von Nutzen sein könnte. Wenn mir Logan doch nur damals schon zur Verfügung gestanden hätte, dachte Cornelius voller Verzweiflung, wäre alles anders gekommen. Die Qualen meines Sohnes hätten ein Ende gehabt. Paul hätte ein normales Leben führen können, und meine Frau, Madeline, wäre heute noch am Leben. Als er seine Hände wieder sinken ließ, waren sie tränenfeucht.
Vielleicht waren es Tränen der Hoffnung, weil niemand je wieder wie Paul hätte leiden müssen, wäre Cornelius' Arbeit in der Vergangenheit von Erfolg gekrönt gewesen. Ja, der Professor wird sein Monster bekommen, sein Mordinstrument, seine gottverdammte Waffe X, weil ich derjenige bin, der sie für ihn er schaffen wird. Aber als Gegenleistung für meinen Anteil an diesem höllischen, widerwärtigen Experiment werde ich mir alles holen, was der Professor an Wissen und Techniken angesammelt hat. Dann werde ich Logan als Ver suchskaninchen benutzen und mich bemühen, Krankheit und Leiden der Menschheit zu lindern, ein Allheilmittel, ein Elixier, das jede Krankheit für immer heilen wird. Cornelius hoffte, dass der Zweck die Mittel heiligte …
KARDIO-DEPRESSOR, MS. HINES … Als er die Stimme durch das nächtliche Tal dröhnen hörte, verschmolz Logan mit dem Schatten einer hohen Pinie, während er Miko Katana mit sich zog. »Was ist?«, fragte sie unhörbar, indem sie nur die Lippen bewegte. Logan klopfte sich auf die Ohren, als wäre sie verrückt. Bestimmt hatte sie es doch auch gehört. Wie hatte ihr das entgehen können? Sie musterten den sie umgebenden Wald, der jetzt, wo sie den Fuß des Berges erreicht hatten, recht dicht war. Sie waren nah genug, dass Logan das Wasser riechen konnte, obwohl Damm und See hin ter dem dichten Buschwerk immer noch nicht zu sehen waren. Vorsichtig setzte Miko ihr Infrarotsichtgerät auf – Logans war zu sammen mit dem Helm kaputt gegangen – doch auch nachdem sie sich sorgfältig umgesehen hatte, konnte sie nichts entdecken. »Sorry«, flüsterte Logan so leise wie der Wind, der durch die Bäu me strich. »Dachte, ich hätte eine Stimme gehört. Vielleicht habe ich mir den Kopf doch stärker gestoßen, als ich dachte.«
»Kein Problem. Ich könnte auch eine kurze Rast gebrauchen.« Miko zog ein taschengroßes GPS-Gerät hervor. Doch bevor sie es einschalten konnte, hielt er sie davon ab. »Der Damm liegt in der Richtung – weniger als einen Kilometer entfernt«, bedeutete er ihr mit seinem Daumen. »Die Straße ist dort drüben. Vielleicht fünf hundert Meter. Dahinter kommt der See.« »Woher wissen Sie das?« »Ich bin an der Grenze zum Wilden Westen aufgewachsen. Ohne GPS. Nicht einmal mit einem Kompass. Ich hatte nur die Sonne, den Mond, die Sterne. Und meinen Instinkt.« »Ihre ›Instinkte‹ sind sehr fein ausgebildet.« Sie steckte das Gerät wieder weg. »Dann zur Straße?« »Lassen Sie uns parallel zur Straße gehen, bis wir zur Hauptdurch gangsstraße über den Damm kommen. Dann sind wir wieder im Wald und nähern uns der Anlage von unten.« Als sie sich diesmal in Bewegung setzten, übernahm Miko mit ge zogener Waffe die Vorhut. Logan ließ sie gehen. Nach meinem Patzer da oben traut sie jetzt lieber ihren eigenen Ohren, dachte er trübsinnig. Oder vielleicht will sie mir auch etwas beweisen. Mikos Tac war zwar mit einem Schalldämpfer ausgestattet, doch wenn sie tatsächlich abdrücken musste, würden sie auch noch so viele Schüsse nicht retten – man würde sie wie Imperialisten schweine jagen. Das war Logan schon früher passiert. Fünfzehn Minuten später erreichten sie die Straße – einen breiten Sandweg, der mit einer dünnen Schicht aus Öl und Teer bedeckt war, damit er nicht so staubte. Neben der Straße verlief ein Wassergraben, der tief genug war, um sich darin zu verbergen, wenn es sein musste. Auf der anderen Seite der Straße ging es steil bergab zum See, wo das Mondlicht auf dem schwarzen, sich kräuselnden Wasser schimmerte. Jenseits des Sees erhob sich ein weiterer schwarzer Gebirgszug, der genau so hoch aufragte wie der, von dem sie gerade heruntergestiegen waren.
Es gab keine Anzeichen von Verkehr auf der gewundenen Straße oder auf dem Damm dahinter. Es gab nur die Flugzeugwarnleuch ten, die in regelmäßigen Abständen oben auf den Aufbauten des Dammes blitzten. Miko wollte weiter, doch Logan hielt sie auf. »Ich nehme an, Sie denken, dass sich Ihr entführter Wissenschaft ler in dieser Anlage befindet, stimmt's?« Miko warf ihm durch glatt herabhängende Haare einen Blick zu. »Wie sagen Ihre amerikanischen Prominenten immer? Kein Kom mentar.« »Das ist Hollywood. Ich bin Kanadier.« »Ich kann es Ihnen nicht sagen, weil ich es nicht weiß, Mr. Logan«, erklärte sie. »Schön, denn wenn Sie geplant haben, ihn zu retten, dann denken Sie noch einmal darüber nach. Wenn der Typ seine Dienste nicht an Nordkorea verkauft und dann seine eigene Entführung fingiert hat …« »Undenkbar, Mr. Logan.« »… dann wäre die andere Variante, dass er nicht mit seinen Ent führern kooperiert. In diesem Falle hätten die Nordkoreaner ihn ein bisschen bearbeiten müssen … damit er die Dinge eher so wie sie sieht.« Logan legte eine kurze Pause ein, um seine Worte wirken zu lassen. »Es ist sehr wahrscheinlich, dass er – auch wenn Sie ihn finden – nicht in der Verfassung ist zu reisen. Von einem Ausbruch ganz zu schweigen.« Miko ging schweigend ein paar Schritte weiter. Dann wirbelte sie zu ihm herum. Doch als sie die Lippen schon öffnete, brachte Logan sie zum Schweigen. »Hören Sie!« Zuerst hörte sie nur das Wasser. Dann lautes Geflatter – ein gleich förmiges Geräusch, dass von den Bergen widerhallte.
»Los! Runter!«, flüsterte Logan und stieß sie in den Graben. Sie landete auf dickem Gras und in seichtem, stehenden Wasser. Logan warf sich neben ihr zu Boden. Das Pochen wurde zu einem anhaltenden Gedröhn, als der Hub schrauber über den Berggrat auf der anderen Seite des Sees stieg. Miko schaute vorsichtig über den Rand des Grabens hinweg, dann nahm sie ihr Nachtsichtgerät, um das Modell zu identifizieren. »Ein MD-500 Hubschrauber«, erklärte sie. »Nordkoreanisches Militär … Nordkoreanische Sondereinsatztruppen, um genau zu sein.« »Verdammt.« »Da hängt vorne was dran. Keine Waffe, aber …« »Runter!«, schnarrte Logan und zog sie in den Graben zurück, ge rade als ein Scheinwerfer die Dunkelheit durchschnitt. Aber der Scheinwerfer war nicht auf sie gerichtet, sondern glitt über den Abhang auf der anderen Seite. »Mir gefällt nicht, was ich da sehe«, knurrte Logan. Der Helikopter schwebte über dem Berg und versetzte die Zweige in Schwingungen, während der Scheinwerfer den Boden zwischen den Bäumen absuchte. Bald dröhnte ein zweiter Hubschrauber über den See und schloss sich der Suche an. Auf der Straße am Fuße des Berges war genauso viel los – Ein Fahrzeugkonvoi raste aus der Anlage heraus. Die Hubschrauber schwebten immer noch über der gleichen Stelle. Mehrere gepanzerte Fahrzeuge und ein russischer gepanzerter Truppentransporter rumpelten vorweg. »Langram. Sie suchen nach meinem Partner«, sagte Logan mit ernster Miene. »Ich hoffe, dass er es schafft.« Dann ertönte ein neues Geräusch – der Klang von noch mehr Ro toren – die diesmal von hinten kamen. Sie zogen die Köpfe ein, als zwei weitere Hubschrauber über den Graben donnerten, während grellweiße Lichter die Straße entlang den Boden absuchten. »Sie sind hinter uns her. So muss es sein«, sagte Logan. »Die
müssen uns aufgespürt haben, als wir heruntergekommen sind. Ich weiß zwar nicht wie, aber …« »Logan, da sind noch mehr Fahrzeuge auf der Straße!«, rief Miko. »Sie kommen aus der Anlage heraus und fahren direkt auf uns zu.«
ZEHN Trugbilder
»Kardio-Depressor, Ms. Hines.« Sie betätigte einen Schalter und schaute dann mit hellgrünen Augen zu Cornelius auf. »Aktiviert.« Vier Personen standen in der westlichen Ecke des Hauptlabors, das jetzt von einem riesigen Bildschirm beherrscht wurde, der eine ganze Wand einnahm. In der Mitte des Raumes lag Subject X nackt auf einem Technologie-›Tisch‹, der über einer ganzen Reihe von Computern und diagnostischen Geräten stand. Carol Hines saß an einem Terminal dicht neben Logans Kopf. »Ich verstehe den Grund für diese vierundzwanzigstündige Ver zögerung nicht, Doktor«, murrte der Professor. Mit den Händen in den Taschen beugte er sich über den Rand der medizinisch-diagnos tischen Röhre. Logan lag darin auf einem Bett aus Kabeln und Schläuchen. »Ms. Hines und ich sind zu dem Schluss gekommen, dass alle Konditionierungstechniken von MacKenzie wahrscheinlich fehl schlagen werden«, sagte Cornelius. »Wir haben uns dazu ent schlossen, mit dem EMaM ein anderes Verfahren einzusetzen.« »Aber MacKenzie hat Jahre gebraucht, um alle Daten zu sammenzutragen und daraus wirkungsvolle Operationstechniken zu entwickeln«, entgegnete der Professor. »Seine Daten beruhten auf menschlichen Versuchspersonen. Logan dagegen ist ein Homo superior, was den Forschungsansatz des guten Doktors etwas fragwürdig erscheinen lässt.« »Gewiss besitzt Logan das gleiche psychologische Rüstzeug wie
jeder andere. Die Psyche wird durch Erfahrung und Kon ditionierung geformt. Wahrscheinlich dachte er, er wäre ein Mensch, bis er die Wahrheit entdeckte.« Cornelius schüttelte den Kopf. »Dr. MacKenzie baute auf Gehirn chirurgie, die Abtrennung des Ammonshorns, das Verlegen neuer Leitungen in den Stirnlappen, die Durchtrennung der Hemisphären. Aber bei Logans Selbstheilungskräften könnte sich das beschädigte Hirngewebe regenerieren …« »Lächerlich!«, schnaubte der Professor. Carol Hines ergriff das Wort. »Aber Professor, bei allem schul digen Respekt, wir haben bereits festgestellt, dass Logan beschädig tes Nervengewebe regenerieren kann – was bei einem normalen, menschlichen Wesen völlig unmöglich wäre. Warum soll nicht auch eine völlige Wiederherstellung seiner Hirnfunktionen möglich sein?« »Außerdem besteht auch die Gefahr, dass es zu unerwünschten Nebenwirkungen kommt«, fügte Cornelius hinzu. »Der Hippo campus reagiert ausgesprochen sensibel auf Sauerstoffmangel. Es könnte einen epileptischen Anfall auslösen.« »Ich verstehe.« Der Professor rieb sich das Kinn. »Logan wäre keine verlässliche oder wirkungsvolle Waffe, wenn er an regelmäßig auftauchenden Anfällen leiden würde.« Cornelius nickte. »Schlimmer als das ist jedoch die Möglichkeit, dass es zu einer anterograden Amnesie kommt. Wie soll man Logan konditionieren, wenn er die Fähigkeit verloren hat, neue Erinne rungen zu speichern?« Der Blick des Professors war auf die Versuchsperson gerichtet. Cornelius spürte, dass er immer noch nicht überzeugt war. »Und dann gibt es noch andere Faktoren«, warnte Cornelius. »Die Versuchsperson ist immer noch aggressiv, obwohl das Ego entfernt wurde.« »Was ist der Grund dafür?«
»Chemische Reaktionen konnten ausgeschlossen werden. Es gibt keine Anzeichen für eine Metallvergiftung und kein schizoides che misches Ungleichgewicht, das wir feststellen könnten.« »Vielleicht hat es etwas mit Schmerzen zu tun«, meinte Carol Hin es. Beide Männer drehten sich zu ihr um. »Wenn nun der Organismus selber eine Art Erkenntnis – eine Er innerung, wenn Sie so wollen – der Schmerzen während des Ver bindungsverfahrens erlebte?« Der Professor sah sie spöttisch an. »Erinnerungen haben ihren Sitz im Gehirn, Ms. Hines, nicht in den einzelnen Zellen.« »Was auch der Grund sein mag«, erklärte Cornelius, »seine trieb haft-brutalen Anwandlungen haben sich seit Initiierung des Ada mantium-Verbindungsverfahrens über die Maßen verstärkt.« »Und diese … Behandlung wird daran etwas ändern?« »Nein, Professor. Wohl kaum«, erwiderte Cornelius. »Aber da durch wüssten wir dann wirklich, was in Stresssituationen in Lo gans Gehirn abläuft, und bekämen eine bessere Vorstellung davon, über welche Fähigkeiten er eigentlich verfügt, wie Merkfähigkeit beim Spracherwerb, Erkennen von Symbolen …« Der Professor zog die Augenbrauen zusammen. »Ich hoffe, das erweist sich nicht als Verschwendung meiner Zeit, Cornelius. Wir hätten schon längst mit der Neuausrichtung beginnen müssen. Was für einen Sinn hat so eine Waffe, wenn man sie nicht kontrollieren kann?« »Aber in gewisser Weise können wir ihn doch kontrollieren.« Cor nelius reichte dem Professor ein filigranes Headset mit Mikrofon. »Nehmen Sie das hier. Es ist eine direkte Verbindung zu seinem ze rebralen Kortex.« Der Professor griff begierig nach dem Gerät. »Damit kann ich mit ihm sprechen? Ihn steuern?« Cornelius zuckte die Achseln. »Anregen vielleicht eher. Steuern? Ich weiß nicht.«
Carol Hines drückte ein paar Knöpfe auf ihrer Tastatur. Cornelius legte mehrere Schalter um. Die Konsole des medizinischen Inkuba tors erwachte piepsend und blinkend zum Leben, als die einzelnen Körperfunktionen angezeigt wurden. Cornelius richtete die Aufmerksamkeit des Professors auf den hoch auflösenden Bildschirm, der mit kleinen Wellenlinien bedeckt war. »Ms. Hines hat die Verbindung erfolgreich hergestellt. Der EMaM nimmt eine digitale Kodierung der elektrischen Impulse in Logans Gehirn vor und wird diese dann in digitale Bilder umsetzen.« »Bemerkenswert.« »In der Tat, Professor. Wir können praktisch Logans Träume se hen«, erklärte Cornelius ihm. »Was Sie auf dem großen Bildschirm beobachten werden, steht in direktem Zusammenhang zu dem, was Sie sagen. Sagen Sie ihm, dass er isst, und möglicherweise sehen Sie dann ein brutzelndes Steak. Sagen Sie ihm, er fliegt, und vielleicht sehen Sie dann einen Vogel oder ein Flugzeug …« »Ich habe verstanden, Doktor«, unterbrach der Professor barsch, während er das Mikrofon an die Lippen hob. »Logan«, begann er im Befehlston zu sprechen. »Sie stehen unter meiner Kontrolle, Logan …« »Ja, genau so«, sagte Cornelius. »Sprechen Sie langsam und deut lich. Aber Sie sollten nicht seinen früheren Namen benutzen, Sir. In dieser Phase hat er für Subject X wahrscheinlich keinerlei Bedeu tung, und wir versuchen auch, alle früheren Bezugspunkte in sei nem Leben zu löschen.« »Ja, ganz recht«, erwiderte der Professor. »Ms. Hines, wir brauchen so bald wie möglich einen steten Strom von adrenergischen Substanzen«, warnte Cornelius sie vor. »Ist alles im System, Sir«, antwortete sie. »Ich habe es selbst pro grammiert. Im Großen und Ganzen war es recht einfach.« »Hervorragend.«
Sie schauten auf, als sie die sonore Stimme des Professors hörten. »Du bist eine wilde Bestie«, sagte er. »Du bist ein Tier, das geboren wurde, um zu dienen …« Cornelius und Ms. Hines tauschten Blicke. »Du hast einen Herrn – und das bin ich. Du wirst alles tun, was ich sage …« »Äh, Professor?« »Ja? Was ist?«, fuhr ihn der Professor an. »Wir … Wir haben noch gar nicht angefangen, Sir«, erklärte Cor nelius. »Die Verbindung wurde noch nicht aktiviert.« Der Professor verzog die schmalen Lippen. »Dann legen Sie jetzt sofort los, Doktor.« Cornelius gab Carol Hines ein Zeichen, dann ging er im Kopf die Checkliste durch. »Folge Drei von Sechs im Post-Adamantium-Zell verbindungsverfahren. Stress- und Gedächtniseindruck blockieren. Sprach- und Symbolerkennung scannen. EMaM-Verbindung in den Bildschirm einspeisen. Zweiwegekommunikation. Haben Sie alles?« »Ja.« »Machen Sie weiter, Ms. Hines …« Sie bediente die Tastatur mit fast schon maschinenähnlicher Prä zision. Cornelius trat neben den Professor, der alles mit gierigen Augen in sich aufnahm. »Bitte verzeihen Sie, wenn ich einen Vorschlag mache, Sir«, be gann er, »aber es könnte ratsam sein, der Versuchsperson während der Tests keine Anweisungen zu geben. Die Psychotechnologie ga rantiert zwar Sicherheit, wenn …« Der Professor unterbrach ihn. »Danke für Ihre Empfehlung, Do ktor. Haben Sie noch irgendwelche anderen Vorschläge?« »Nein«, erwiderte Cornelius. »Ich glaube nicht.« Plötzlich ein Knall, dann spritzten Funken aus Caraol Hines Kon sole. »Oh!«, schrie sie auf und sprang hastig davon weg. Rauch und
noch mehr Funken drangen hinter der Schutzplatte ihres Terminals hervor. Dann ein donnernder Krach – verbunden mit einem Quietschen wie bei einer hundertfach verstärkten Rückkopplung – als die elektronischen Systeme überlastet wurden und eins nach dem anderen durch einen Kurzschluss ausgeschaltet wurde. Der Professor riss sich den Kopfhörer herunter, aber der Lärm erfüllte auch das Labor. Er brüllte und hielt sich die Ohren zu. »Überlastung!«, schrie Cornelius, doch seine Stimme ging in dem Getöse unter. Aus der Feuerlöschanlage strömte Halongas, das den Kabelbrand im Computer schnell erstickte, doch der Schaden war schon ent standen. »Hines! Tun Sie was!«, schrie Cornelius. »Schalten Sie das Gerät aus.« »Das versuche ich ja«, rief sie, während sie auf die Tastatur häm merte. Endlich gelang es ihr, den Ton abzuschalten, und der ohren betäubende Lärm stoppte so abrupt, wie er begonnen hatte. Nur den schrillen Ton des Feueralarms konnte man durch die Gänge außerhalb des hermetisch abgeschlossenen Labors hallen hören. Wieder ein Knall und dann elektrisches Geknister. Dieses Mal kam es von einer Stelle hinter dem riesigen, hoch auflösenden Monitor. »Was war das?«, schrie der Professor, als der Wandbildschirm an sprang. Darauf war aufgewühlter, violetter Nebel zu sehen, der an psychodelischen Rauch erinnerte. »Und was ist das da auf dem Bild schirm?« Carol Hines warf einen Blick auf den Monitor und dann auf ihr schwelendes Terminal. »Wir haben da eine Art internes Feedback, Sir«, erstattete sie Bericht. »Die Verbindung ist …« Sie kreischte und zog ihre angesengten Finger von der Konsole weg. »Die übertragenen Bilder sind so stark, dass die Stromkreise durchschmoren«, warnte sie. Ihren Worten folgte ein weiterer Stoß
Halongas. Auf dem Wandschirm erschienen langsam drei gebogene, kalk weiße Dornen. Jedes Gebilde machte einen rohen, zackigen, un fertigen Eindruck. Mehrmals fror die digitale Anzeige des Bildes ein und brach auseinander, um dann gleich neu und diesmal schärfer neu aufgebaut zu werden. »Da stimmt irgendetwas nicht«, sagte der Professor, als er vom Monitor zurücktrat. Die Dornen wurden zu Rippen, die noch einmal ihre Gestalt änderten und zu einer Wirbelsäule, Hüftknochen, einem Schädel wurden. Dann dröhnte eine Stimme durch das Labor und rief ein einziges Wort: »SCHMERZEN!« Cornelius riss den Blick vom Bildschirm los. »Okay. Schließen Sie das. Schließen Sie alles. Wir räumen das Durcheinander auf, über prüfen die Aufbereitung der Daten und finden heraus, was zum Teufel da schief gegangen ist.« Plötzlich hallte ein unverständlicher Schrei voll ratloser Wut von den Wänden wider. »Ms. Hines, ich sagte, schließen Sie es!«, brüllte Cornelius. »Ich … ich kann nicht, Sir. Nichts reagiert mehr!« »ALLES TUT WEH … SCHMERZEN!« Auf dem Monitor war jetzt das Bild eines vollständigen Skeletts zu sehen. In dunklen Augenhöhlen glühte ein wilder Blick voller Hass. Knirschende Zähne verwandelten sich in Stacheln, die aus jedem Knochen, jeder Rippe herauszuwachsen begannen. »WAS HABEN SIE MIR ANGETAN?« »Wenn Sie den Monitor schon nicht abschalten können, würden Sie dann bitte zumindest den Ton ausmachen, damit ich mich selbst denken hören kann?« In Carol Hines' Augen stand Angst, als sie Cornelius' wütendem Blick begegnete. »Der Ton ist nicht an, Doktor. Es liegt eine Fehl funktion vor. Ich habe ihn längst abgeschaltet.«
Cutler besetzte gerade die Kommandozentrale der Sicherheitsabtei lung, als der Feueralarm im Hauptlabor im fünften Stock losging. Er riegelte das Stockwerk vom Rest der unteririschen Anlage ab, wie es das Protokoll vorschrieb. Schlüssel klapperten, als sich die feuerfeste Luke automatisch schloss, das Belüftungssystem abge schaltet wurde und die Fahrstühle nach oben fuhren, Passagiere aussteigen ließen und sich dann abschalteten. Cutler wollte gerade das Notfallteam alarmieren, als dieses sich mit ihm in Verbindung setzten. »Hier spricht Anderson. Im Hauptlabor kam es zu einem Ha longasausstoß. Die Wärmefühler zeigen an, dass das Feuer gelöscht wurde, aber es gibt noch Rauch, deshalb werde ich ein Sicherheits team losschicken.« »Wer ist bei Ihnen?« »Franks und Lynch.« »Bewaffnen Sie sich mit Betäubungsgewehren. Und auch mit Pis tolen mit scharfer Munition, schusssicheren Westen, Helmen und Visieren.« »Na, na, Cut. Ist doch nur ein Feuer, kein Krieg.« »Seien Sie sich da mal nicht so sicher«, gab Cutler zurück. »Da un ten ist wieder ein Experiment im Gange. Der Professor und sein Team arbeiten an Subject X.« Es gab eine kurze Pause, ehe Anderson wieder sprach. »Okay, bitte um sofortige Unterstützung.« Cutler grinste. »Großartig. Bin gleich unten. Ende.« Cutler war schon halb aus seinem Stuhl raus, als ihn eine feste Hand wieder hineindrückte. Eine andere griff über seine Schulter und schaltete die Gegensprechanlage wieder ein. »Hier ist Major Deavers. Hören Sie, Anderson. Ich will, dass Sie
Rice oder Wesley rufen, wenn Sie Hilfe brauchen. In der Hitze des Augenblicks hat Agent Cutler wahrscheinlich vergessen, dass er für leichte Arbeiten eingeteilt ist. Ende …« *** Wie gebannt starrte der Professor auf den Monitor. Ein grinsender Totenkopf erwiderte seinen Blick. »SCHMERZEN! WARUM SCHMERZEN?«, tobte die Stimme. »Das ist unglaublich, Cornelius«, rief der Professor, während er sich die Ohren zuhielt. »Sie müssen das beenden. Beenden Sie es jetzt!« »Ich kann nicht. Wir senden nicht. Wir empfangen.« Cornelius schaute zum Bildschirm. »Er kontrolliert die Geräte.« Dann drehte er sich um. »Hines! Können Sie Logan unter Kon trolle bringen?« Ihre grünen Augen waren weit aufgerissen, als sie den Blick von dem schrecklichen Bild auf dem Monitor abwandte, während eine Hand auf ihrem Herzen lag. »Nein, Sir, Dr. Cornelius. Ich … ich kann gar nichts tun.« Als Ms. Hines den Blick wieder auf den Bildschirm richtete, schienen die hervorquellenden Augen sie anzustarren. Ängstlich trat sie langsam von ihrer Konsole zurück und stieß dabei gegen den Untersuchungstisch. Ein kräftiger, muskulöser Arm schoss aus dem Hightech-Sar kophag. Die gebogenen Finger bildeten eine Klaue bereit zum Zupa cken. »SCHMERZ!«, brüllte Logan, während er die Hand nach Carol Hines ausstreckte. »Doktor – helfen Sie m…« Ihre in Panik hervorgestoßene Bitte riss abrupt ab, als Logans Finger sich um ihre Kehle schlossen.
Während Logan die hilflos keuchende Frau festhielt, riss er sich einen der intravenösen Schläuche aus dem Hals und starrte in Hin es' entsetztes Gesicht. »SIE! SIE HABEN MIR SCHMERZEN ZUGEFÜGT …« Ihre schmalen Finger gruben sich in Logans Hand. Ihre Nägel bra chen ab, während sie versuchte, seinen festen Griff zu lösen. Logan schüttelte sie, als sie keuchend und schluchzend um ihr Leben zu betteln begann. »Nein … Oh, nein … Oh Gott, nein …« »SCHMERZEN …« Während Cornelius nach dem Sicherheitsteam rief, kämpfte Logan gegen die Kabel, Schläuche und Fesseln, die ihn am Untersuchungs tisch festhielten. Das Geräusch der Feuersirene vermischte sich mit dem lauten Heulen des Sicherheitsalarms, sodass eine chaotische Kakophonie entstand. Plötzlich übertönte eine sehr strenge Stimme den Lärm. »Logan! Lass die Frau los, du Tier.« Es war der Professor, der sprach. Seine Augen glühten hinter den eckigen Brillengläsern. Er ist verrückt, dachte Cornelius. Er hat nicht erlebt, wozu Logan im Stande ist … »Hier spricht dein Herr und Meister. Du unterstehst meiner Kon trolle«, fuhr der Professor barsch fort. »Du bist nur von dem einzigen Wunsch beseelt, mir zu dienen! Deinem Herrn und Meister …« Ein gutturales Knurren drang aus Logans Kehle. Er starrte dem Professor in die Augen und warf die Frau wie eine Stoffpuppe bei seite. Carol lag lang hingestreckt auf dem Boden. Sie war bewusstlos oder Schlimmeres. Trotz seiner Angst fiel Cornelius neben der Frau auf die Knie und zog sie weg aus der Reichweite des tobenden Mannes. »Bleib, wo du bist!«, kreischte der Professor, als Logan sich auf
bäumte, die letzten Fesseln sprengte und Schläuche und Kabel her ausriss. Gerade als er sich vom Tisch gleiten ließ, brach das Si cherheitsteam mit Betäubungsgewehren im Anschlag durch die Tür. Ehe der Professor zurückweichen konnte, sprang Logan. Seine Finger packten ihn an der Kehle, und der Professor kämpfte vergeblich gegen Logans würgenden Griff. »Wache, betäuben Sie Logan!«, brüllte Cornelius, der Carol Hines immer noch in den Armen hielt. Doch Agent Franks zögerte. »Es könnte sein, dass wir den Professor treffen.« »Schießen Sie einfach, verdammt. SCHIESSEN SIE!«, schrie Cor nelius. Mit dem Professor immer noch im Klammergriff wirbelte Logan zu den Sicherheitskräften herum. Sein Haar stand in alle Richtungen ab und die Augen waren weit aufgerissen, als Logan laut brüllte und mit den Füßen aufstampfte, wobei er wie ein wildes Tier knurr te, das in eine Falle geraten war. Ein dritter Sicherheitsmann – Anderson – bellte einen Befehl aus dem Gang. »Feuer frei!« Die Schüsse waren nicht laut – nur ein Zischen begleitete jeden Be täubungspfeil, wenn er den Lauf verließ, und man hörte ein leises Schmatzen, wenn er traf. Die Pfeile bohrten sich in Logans Hals, Brust, Gesicht und Bauch. Doch er brach nicht zusammen. Noch mehr Schüsse wurden abgefeuert, bei denen sich Anderson nun auch mit seinem Betäubungsgewehr beteiligte. Am Ende fiel Logan völlig lautlos nach hinten in den Inkubator. Seine Beine zuck ten, als starke Nervensuppressiva in seine Blutbahnen gelangten und sich in seinem ganzen Körper verteilten. Carol Hines saß schlaff mit flatternden Lidern auf einem Stuhl. Dann hustete sie und hielt sich den Kopf mit beiden Händen. Cor nelius drehte sich zu den anderen um. »Professor«, rief er. »Alles in Ordnung mit Ihnen?«
Cornelius sah, dass der Mann taumelnd hochkam und sich dabei den Hals hielt. Sein Gesicht war gespenstisch weiß, und Cornelius hatte Angst, dass auch der Professor kurz davor stand zu sammenzubrechen. »Ich habe den Professor nicht getroffen, Sir«, stammelte Franks an Anderson gerichtet. »Das weiß ich genau.« Der Professor hustete, als sich sein Blick auf den jetzt bewusstlosen Logan richtete. »Tötet ihn!«, stieß er hervor. »Wir müssen Logan jetzt töten!« Der Professor sprang auf Franks los und versuchte, dem Agent das Be täubungsgewehr zu entreißen. »Er ist ein wildes Tier. Wir können ihn nicht kontrollieren.« Franks riss sich los, und der Professor wirbelte herum und sprang auf Anderson zu, um ihm die automatische Pistole aus dem Holster zu ziehen. »Geben Sie mir die Waffe«, verlangte der Professor und kämpfte um die Pistole. »Das geht nicht, Sir«, schrie Anderson, während er versuchte, den Mann abzuwehren, ohne ihn dabei zu verletzen. Plötzlich warf sich Cornelius zwischen die beiden Männer. »Professor, beruhigen Sie sich. Sie wissen nicht, was Sie da sagen.« Mit irrem Blick packte der Professor die Aufschläge von Cornelius' Laborkittel. »Diese Bestie hat versucht, mich umzubringen. Haben Sie das denn nicht gesehen?« »Ja. Ja, natürlich«, sagte Cornelius. »Aber Sie befinden sich gerade in einem Schockzustand – das ist alles.« Der Professor gab etwas Unverständliches von sich, und Cornelius packte ihn am Arm, um ihm Halt zu geben. »Wache«, rief Cornelius über die Schulter. »Holen Sie ein Ärzte team her. Sofort.« »Ja, Sir.« »Doktor!« Es war Carol Hines, die geschrien hatte. Sie stand neben
dem Untersuchungstisch. Cornelius eilte zu ihr hin, der Professor folgte zögernd. Voller Ehr furcht sahen sie zu, wie dünne, blutige Rinnsale aus Logans Unter armen liefen. Dann glitten die Adamantium-Klauen aus ihren Scheiden, und die blutbefleckten Silberklingen schimmerten im schwachen Licht des Labors. KLICK! Der Klang der einrastenden Klauen brachte alle zum Schweigen. »Alles in Ordnung. Er ist völlig sediert«, flüsterte Cornelius. »Das ist so eine Art zufälliger Impuls – ein Reflex. Gut, dass das nicht passiert ist, als er Sie angriff, Professor …« »Oh Gott!«, keuchte Hines. »Sehen Sie sich das an!« Logans gewalttätige Gedanken flimmerten über den Bildschirm. Das Gesicht des Professors – übersät mit blutroten Spritzern – be herrschte das Bild, das ihn mit offenem, im Schrei erstarrtem Mund, von rasiermesserscharfen Klauen durchbohrten Brillengläsern und klaffenden, blutigen Augenhöhlen zeigte. Cornelius wandte den Blick ab. »Tja«, meinte er erschöpft. »Ich glaube, für heute haben wir alle genug erlebt. Schalten Sie den Monitor aus, Ms. Hines …«
Sie zuckte zusammen, als seine Hände ihren Hals berührten. »Es tut mir Leid, wenn ich Sie erschrecke, Ms. Hines, aber ich muss die Verletzung untersuchen.« »Natürlich«, erwiderte sie, wobei sie starr nach vorn blickte, wäh rend er um sie herumging und Hals, Schultern und Rippen unter suchte. Schließlich nahm Dr. Hendry seine Hand weg. »Keine tiefer ge henden Gewebsverletzungen an Ihrem Hals. Nur ein paar blaue Fle cken. Nichts, was sich nicht durch Make-up überdecken ließe, nicht wahr?«
»Ich benutze kein Make-up.« »Ja. Ganz recht. Die Rippenprellung mag zwar schmerzen, aber es ist nichts gebrochen.« Er trat an das Waschbecken und wusch sich die Hände. Sie zog ih ren grünen Kittel hoch, um sich wieder zu bedecken. Hendry trock nete sich die Hände ab und öffnete dann einen Schrank mit Glastü ren, in dem Plastikflaschen standen. »Ich werde Ihnen ein leichtes Schmerzmittel verabreichen und ein Analgetikum zum Ab schwellen.« »Danke. Wie geht es dem Professor?« »Der hat's bequem, hoffe ich. Dr. MacKenzie kümmert sich um ihn. Sehr wahrscheinlich braucht der Professor nur Ruhe. Er ist ein Workaholic. Und wo wir gerade von Schlaf sprechen – möchten Sie etwas zum Beruhigen der Nerven haben?« »Mir geht es gut.« »Sie scheinen sich ja ganz wacker zu halten, Ms. Hines. Das muss doch ein ziemlicher Schock gewesen sein, als Subject X Sie angriff.« »Ich dachte, er würde mich umbringen … mich und den Professor.« »Und doch bezweifle ich, dass Logan diese Absicht hatte – zu mindest nicht in Ihrem Fall. Wenn er Sie hätte umbringen wollen, hätte er Ihnen den Hals mit einer Hand brechen können – so wie Sie oder ich einen Bleistift durchbrechen.« Sie sah ihn an. »Danke für den Vergleich, Doktor. Ich werde das Bild in Ehren halten.« Hendry lachte. »Sie haben ja Sinn für Humor, Ms. Hines! Wer hät te das gedacht?« Sie rutschte vom Untersuchungstisch herunter. »Kann ich jetzt ge hen?« »Erst hätte ich Ihnen gern noch eine Frage gestellt. Sie müssen sie nicht beantworten, wenn Sie nicht wollen.« Sie zog eine Augenbraue hoch, sagte jedoch nichts.
»Es ließ sich nicht vermeiden, dass ich ein paar alte Narben auf Ih rem Bauch bemerkt habe. Sie sehen nach chemischen Ver brennungen aus. Und Sie hatten auch eine Operation. Eine Operati on, die nicht in Ihrer Akte aufgeführt wird …« »Mein alter Chemiebaukasten. Als Kind neigte ich zu Unfällen.« »Ich … verstehe. Und die Operation?« »Eine Notfallblinddarmoperation, als ich vierzehn war. Ich habe wohl vergessen, sie mit anzuführen, als ich den Personalbogen aus füllte.« »Nichts, worüber man sich also Gedanken machen müsste«, er widerte Hendry. »Ich werde dieses Versehen gleich korrigieren.« »Dann kann ich jetzt gehen?« Hendry nickte. »Für ein oder zwei Tage empfehle ich Ihnen nur leichte Aufgaben. Und kalte Umschläge für die Schwellung. Wenn Sie Schlafstörungen bekommen sollten, rufen Sie mich.« Nachdem sie gegangen war, setzte Hendry sich an seinen Compu ter und rief die Personalakte von Carol Hines auf. In ihrer Kranken akte trug er die Ergebnisse der Untersuchung ein. Dann scrollte er nach unten Abschnitt ›Krankengeschichte‹. Unter ›Frühere chirur gische Eingriffe‹ löschte er das ›keine‹ und tippte dann: »Chirur gischer Eingriff im Alter von ungefähr 14 Jahren. Kaiserschnitt?«
»Sie werden gleich vom Stuhl fallen, Cutler!«, fuhr Deavers ihn an. Cutler richtete sich auf und nahm die Füße vom Terminal. Dann drehte er sich zu Deavers um. »Hat man Ihnen das bei einem Lehrgang für Mitarbeiterführung beigebracht?« »Was?« »Sich an Leute anzuschleichen.« »Ich behalte Sie im Augen, Cutler, wenn es das ist, was Sie meinen. Und ich glaube, Sie genießen diese Sache mit den leichten
Arbeiten viel zu sehr. Betrachten Sie sich wieder als voll im Dienst – von sofort an.« »Der Schlamassel im Labor letzte Nacht hat Ihnen auch einen Schrecken eingejagt, nicht wahr? Sie hätten mich doch lieber mit mischen lassen sollen.« Deavers verriegelte die Luke zur Sicherheitskommandozentrale und setzte sich dann Cutler gegenüber. »Das sehen Sie richtig, Cut. Seitdem ich Agent Hill verloren habe, geht's mit der Anlage hier bergab. Lynch und Anderson haben sich letzte Nacht wie Amateure aufgeführt, und Franks ist grasgrün im Gesicht. Der hätte fast den Professor mit dem Betäubungsgewehr erwischt, statt der wirklichen Bedrohung – Logan.« »Schade, dass ich das verpasst habe.« »Tja, den nächsten Schlamassel werden Sie nicht verpassen, denn Sie sind wieder im aktiven Dienst – als Kopf der taktischen Si cherheit.« »Ich will Hills alten Job nicht«, fuhr Cutler auf. »Warum nicht?« »Weil ich nicht wie Hill auf der Intensivstation enden will. Ich bin doch kein Idiot, Deavers!« Deavers beugte sich nach vorn und sprach so leise, dass es kaum mehr als ein Flüstern war. »Hören Sie, Cut. Das wird hier noch viel schlimmer werden, und das bald. Wir haben ein Haus voller ver rückter Wissenschaftler und ein sehr gefährliches Monster. Ich brau che Ihre Hilfe, um die Anlage einigermaßen zusammenzuhalten.« »Auf keinen Fall, Major.« »Na los, Cutler. Sie sind der Beste, den ich habe, selbst wenn Sie ein aufsässiger und aggressiver Hurensohn sind. Und auf Autorität scheinen Sie auch allergisch zu reagieren.« »Netter Anblick, wenn Sie die ›Big Boss‹-Fassade fallen lassen, Ma jor. Dadurch wirken Sie fast ein bisschen menschlich. Haben Sie es bei Rice auch mit diesen aufmunternden Worten versucht?«
»Rice ist nicht mehr mein Problem. Er ist dauerhaft in die Abtei lung für Datenkontrolle und -Sicherheit versetzt worden. Der Befehl kam von ganz oben, vom Director.« »Ich liebe die Firmenleitung.« »Wie lautet nun Ihre Entscheidung, Cutler? Werden Sie einmal das Richtige tun und aufhören, mich ständig zu nerven?« Cutler vollführte eine Drehung mit seinem Stuhl. »Ich werde diese komfortable Sicherheitskabine nur ungern verlassen, aber ich muss Ihnen die Wahrheit sagen, Deavers.« »Und die wäre?« »Sie hatten mich am Haken, als Sie mich ›Hurensohn‹ nannten. Und ich finde es ganz toll, so eine todschicke, schusssichere Weste zu tragen.« *** Nach ihrer Untersuchung eilte Carol Hines in ihr beengtes Quartier im Abschnitt der Anlage zurück, der unter dem Namen Bienenstock bekannt war. Als sie schließlich ihr Zimmer erreichte, raste ihr Herz wie wild. Sie begann sich erst wieder zu beruhigen, als sie die Tür hinter sich abgesperrt und sich auf ihrem schmalen Bett zusammengerollt hatte. Ich habe mich sehr ungeschickt verhalten, dachte sie. Dr. Hendry ist be stimmt ein fähiger Arzt, und er ahnt sicher, dass meine Narbe nicht von einer einfachen Blinddarmoperation herrührt. Sie riss sich den Kittel herunter und warf ihn in eine Ecke. Dann stellte sie sich vor den Spiegel und musterte ihre Wunden – neue und alte. Ich tue wirklich alles, um meine Vergangenheit zu vergessen – und dann verrät mich mein eigener Körper. Er ist wie eine Karte, die Fremden meine seit Ewigkeiten begrabenen Alpträume zeigt.
Im vergeblichen Versuch, die Stimmen in ihrem Kopf zum Schweigen zu bringen, die dort seit Jahren tönten, hielt sie sich die Ohren zu. »Ihre Krankengeschichte weist eine … psychische Erkrankung auf, die uns dazu zwingt, Ihren Antrag auf Ausstellung einer Unbe denklichkeitsbescheinigung für streng geheime Angelegenheiten abzulehnen und Ihnen eine Stellung im National Security Council zu verweigern. Es tut uns sehr Leid, Ms. Hines …« »Liebe Ms. Hines: Leider müssen wir Ihnen mitteilen, dass die Bundesbehörde für Luft- und Raumfahrt nur Anwärter berück sichtigt, die in bester körperlicher Verfassung sind. Ihr früherer Gesundheitszustand zwingt uns dazu, Sie von unserer Liste zu strei chen.« »Jeder, der einen Selbstmordversuch unternommen hat – und sei dies auch in einer frühen Phase der Jugend gewesen – wird die strengen Kriterien der United States Air Force Space Command wahrscheinlich nicht erfüllen …« Diese Idioten. Ich habe nie einen Selbstmordversuch unternommen. Ich war jung. Ich hatte Angst. Ich wollte nur dieses … Ding … in meinem Bauch loswerden. Ich hatte nie mir selbst etwas antun wollen … nur diesem Wesen. Doch ihre Vergangenheit hatte sie jahrelang verfolgt und ihr einen Platz innerhalb der Forschungsgemeinschaft verweigert. Und dann war es ihr endlich gelungen, einen Job bei der NASA zu bekommen. Allerdings handelte es sich um einen niedrigen Posten als Ausbil dungsexpertin, und nicht um die Stelle, nach der es ihr am meisten gelüstete – als Astronautin. Es ist ja nicht so, dass ich nicht die Intelligenz oder die Fähigkeiten hätte. Mit zwölf begann ich bereits zu studieren. Mein Vater pflegte mich seine ›kleine Wissenschaftlerin‹ zu nennen. Mein Vater hat mich auch wie etwas Besonderes behandelt. Er schlug mich nicht mehr. Er fing an, sich für meine Studien, meine Forschungs projekte zu interessieren.
Das Leben wurde erträglich, nachdem ich in der dritten Klasse meinen ersten Wissenschaftspreis mit nach Hause brachte – fast schon idyllisch, bis zu dem … Unfall ein paar Jahre später. So nannte mein Vater es. Der Unfall. Als ob niemand daran Schuld ge habt hätte. Als ob es einfach passiert wäre – wie ein Unwetter oder ein Erd beben. Aber wenn es ein Unfall war, warum gab ich mir dann die Schuld daran? Trotz ihrer Entschlossenheit spürte Carol Nässe auf ihren Wangen. Sie wischte sich die Augen mit den Handflächen ab und vergrub den Kopf in ihrem Kissen. Als sie in einen unruhigen Schlaf fiel, meinte sie die Stimme ihrer schon seit vielen Jahren toten Mutter zu hören … »Dein Vater wird ja so stolz sein«, sagte Mrs. Hines. Sie hielt das Zeugnis in der einen und den dritten Drink des Tages in der anderen Hand. »Du meine Güte. Erst vierzehn und schon ein As in Fortgeschrittener Chemie.« Wäre meine Mutter nicht bereits blau wie ein Veilchen gewesen, hätte sie vielleicht bemerkt, dass ich weiß wie Schnee war. Aber Mutter kon zentrierte sich nur auf das Stück Papier in ihrer Hand. »Kann ich jetzt in die Werkstatt?«, fragte Carol. »Erst wenn du deine Schuluniform ausgezogen hast, junge Dame – aus deiner letzten Bluse hast du mit deinen Chemieexperimenten fast die ganze Farbe herausgebrannt.« »Ja, Mutter.« Oben zog Carol ihre Sachen aus und stellte sich vor den Spiegel. Sie nahm an, dass sich ihr Bauch bereits etwas hervor wölbte – ihre Mutter hatte beim Frühstück bemerkt, dass sie zugenommen hatte. Kein schlechter Trick für jemanden, der sich praktisch jeden Morgen übergab … Nicht, dass sie zu jung gewesen wäre, um zu wissen, was mit ih rem Körper geschah. Auch wenn sie nicht gleich von Anfang an die
Wahrheit erkannt hatte, war Carol Hines doch an der Universität und wusste deshalb, wie man einer Sache auf den Grund ging. Sobald sie Gewissheit hatte, ging sie zur Bibliothek und holte sich je des Buch, das sie zu dem Thema finden konnte. Sie kannte jeden einzelnen Aspekt des biologischen Prozesses, den sie durchlief. Und sie wusste mehr, so viel mehr, weil ›Daddys kleine Wissenschaftlerin‹ sich mit der Vererbungslehre beschäftigt hatte. Sie fand heraus, dass die Wahrscheinlichkeit für Gendefekte und Erbkrankheiten stieg, wenn es bei den Eltern zu große gene tische Übereinstimmungen gab, wenn die Blutlinien zu eng verwandt waren. Dann musste man mit Mukoviszidose rechnen. Oder dem Down-Syndrom. Friedreich-Ataxie. Hämolytischer An ämie. Hämophilie. Der Gedanke, ein behindertes Kind zur Welt zu bringen, entsetzte sie. Es war doch unvorstellbar, dass Daddys kleines Mädchen, das etwas ganz Besonderes war, etwas Missgebildetes, etwas Defektes, etwas Unvoll kommenes zur Welt brachte! Daddy liebte Vollkommenheit – hatte er ihr das nicht selbst gesagt? In der Nacht, als er trank, während er ihr bei den Hausarbeiten half. Die Nacht, in der sie zu dicht neben ihm saß. Er hatte ihr immer gesagt, sie sollte Abstand halten, aber in jener Nacht hatte sie die widernatürliche Liebe ihres Vaters gespürt … Sie hatte ein Monster in ihrem Bauch. Bevor ihr Vater nach Hause kam, vor dem Abendessen mit der Fa milie, ging Carol Hines nach unten in die Werkstatt und braute et was Besonderes mit ihrem Junior-Chemielaborkasten zusammen. »Mach, was du willst, aber Säure muss immer verdünnt werden«, pflegte ihr Vater mit breitem Grinsen zu sagen. In jener Nacht in der Werkstatt mischte sie eine Säure, verzichtete aber auf das Wasser. Stattdessen probierte sie die ätzende Substanz in einem verzweifelten, fehlgeleiteten Versuch, den Gegenstand des Abscheus aus ihrem Bauch zu brennen, an sich selbst aus … Ein Summen in ihrem Kopf – die Gegensprechanlage – ließ Carol
Hines in ihrem Bett auffahren. »Hines.« »Aha, also sind Sie doch zu Hause«, meinte Dr. MacKenzie jovial. »Ich war zur Untersuchung bei Dr. Hendry. Und danach fühlte ich mich ein bisschen müde … nach allem, was heute Morgen passiert ist.« »Verständlich«, erwiderte MacKenzie. »Leider brauchen wir Sie aber. Subject X ist zwar vollständig sediert, aber die Wirkung der Medikamente lässt schnell nach. Dr. Cornelius hat versucht, mit Ih rer Maschine eine Verbindung herzustellen, aber er hat nicht Ihr Fingerspitzengefühl.« »Was ist das Problem?« »Wir haben wieder diese vertrackten Gehirnstromspitzen. Und nach allem, was heute passiert ist … na ja, Sie verstehen das Di lemma.« »Ich bin gleich da. Ende.« Noch mehr Verantwortung … Aber ich habe nie, wirklich niemals Verantwortung tragen wollen. Ich wollte immer nur meine Arbeit machen und den Kopf unten halten, damit er mir nicht abgeschlagen wird. Sie stand auf und zog einen ihrer völlig gleich aussehenden, grü nen Kittel über. Ohne einen Blick in den Spiegel zu werfen, verließ sie ihr Quartier und ging durch das Labyrinth der Gänge, die zu Lo gans Zelle führten. Während ihre Füße den Weg automatisch fanden, wanderten ihre Gedanken weiter. Ein Labyrinth … Auch diese Anlage hier wird allmählich zu einem La byrinth – genau wie die NASA. Der Professor versprach mir einen Ort, an dem die reine wissenschaftliche Forschung das oberste Ziel ist. Ein Ort ohne Meinungen, ohne engstirnige Bürokratie. Doch das waren alles Lügen gewesen. Die bürokratischen Machtkämpfe haben schon begonnen, und Dr. Hendry schnüffelt in meiner Vergangenheit herum – zweifellos auf der Su che nach Munition, mit der er meine Karriere und mich vernichten kann.
Ich frage mich, ob ich wohl das eine Labyrinth gegen ein anderes ge tauscht habe. Carol Hines fand sich nicht mehr zurecht.
ELF Beute
»Ich zähle zwei vierrädrige Panzerfahrzeuge und einen Riesenappa rat – sieht wie die billige Kopie eines sowjetischen BTR-60 aus. Acht Räder, Suchscheinwerfer, vielleicht sechs Mann mit einem Fahrer. Man kann wohl von einem Dutzend Soldaten ausgehen, die direkt auf uns zukommen.« Logan kroch in den Abwassergraben zurück und reichte Miko das Nachtsichtgerät. Hinter ihnen hallte das Gedröhn der Rotoren von den Abhängen wider, während zwei Hubschrauber das Tal mit Scheinwerfern absuchten. »Nach hinten können wir auch nicht weg. Es ist nur eine Frage der Zeit, ehe die Typen in den Hubschraubern es spitz kriegen, dass ich es bis zur Straße geschafft habe. Sie werden uns wie ein Rudel Wölfe jagen.« »Also sitzen wir in der Falle.« »Ich sitze in der Falle«, sagte Logan. »Ich wette, die wissen noch nicht einmal, dass Sie hier sind.« Im Mondlicht sah er sie die Stirn runzeln. »Warum sagen Sie das?«, fragte sie. »Weil alle undichten Stellen auf meiner Seite sind. Sie wussten von dem Einsatz. Warum dann nicht auch die Koreaner?« Mit Logans Logik konnte sie es nicht aufnehmen, und so versuchte Miko es auch gar nicht erst. »Was haben Sie vor?« »Können Sie die Lichtung auf dem Berg wieder finden, auf der wir gerastet haben?«
»Hai, mit Leichtigkeit.« »Treffen Sie sich dort in zwei Stunden mit mir.« »Aber was ist mit den Hubschraubern? Die werden doch die Berge genauso absuchen wie die Straße.« »Bis dahin werden sie schon nicht mehr nach mir suchen.« Miko schüttelte den Kopf. »Sie denken doch nicht etwa daran, sich zu ergeben?« Logan lachte. »Auf keinen Fall. Ich bin nicht verrückt. Mir ist was Besseres eingefallen. Ich werde mich von ihnen umbringen lassen.« Sie zwinkerte verwirrt. »Sind Sie wahnsinnig?« »Mir gefällt das genauso wenig wie Ihnen. Ich bin schon früher angeschossen worden – bin wirklich nicht scharf auf das Gefühl. Aber das ist die einzige Möglichkeit, die ich sehe – für uns beide.« Auf Mikos Gesicht zeichnete sich Begreifen ab. »Das ist nicht richtig. Sie könnten wirklich sterben.« »Sie haben doch gesehen, wie ich mich von dem Sturz vom Berg wieder erholt habe. Bei mir heilt alles schneller als bei jedem anderen … Menschen.« »Aber Maschinengewehre, Bajonette … Werden sie Ihnen nicht den Rest geben oder Sie gefangennehmen, wenn sie herausfinden, dass Sie noch am Leben sind?« »So nah werden sie mir gar nicht kommen. Ich werde mich ihnen zeigen, sie ein paar Schüsse abgeben lassen und dann in den See stürzen. Wenn sie morgen noch nach mir suchen, werden sie sich auf den See konzentrieren und nicht die Berge durchforsten, wo wir in Sicherheit sein werden.« »Und wie geht's weiter, wenn wir uns getroffen haben?« »Sehen Sie den Tatsachen ins Auge. Der Einsatz ist auf alle Fälle zu Ende …« Sie versuchte ihm zu widersprechen, aber er unterbrach sie. »… denn es gibt kein Überraschungsmoment mehr. Sie werden die
Wachtposten verdoppeln. Verdreifachen. Und es ist schlimmer, wenn sie es schaffen, Langram in die Finger zu bekommen. Sie werden innerhalb von ein paar Stunden die Wahrheit aus ihm her ausholen, sodass der Plan für den Abzug nicht mehr durchgeführt werden kann. Wenn das passiert, muss ich zusammen mit Ihnen hier raus.« Mikos Miene war ernst. »Können wir nicht zusammen bleiben?« »Und unser beider Leben aufs Spiel setzen?« Logan schüttelte den Kopf. »Dies ist ein viel besserer Plan.« Er warf einen kurzen Blick über den Rand des Grabens. »Sie sind weniger als eine Minute entfernt. Ducken Sie sich ganz tief in den Graben und kriechen Sie auf dem Bauch, bis Sie zu einer Stelle ge langen, wo Sie schnell zwischen den Bäumen verschwinden können.« Er wandte sich ab, um die Straße zu beobachten. »Logan … Ich …« »Wollen Sie mir noch etwas sagen?« »Viel Glück«, flüsterte Miko. Dann war sie im hohen Gras verschwunden. Das Rascheln ihrer Bewegungen wurde schon bald vom Lärm der Fahrzeuge übertönt, die über die schlechte Straße holperten. Als Logan aus dem Graben kletterte, zog er seine G36, die an sei nem Bein befestigt war. Ein Mann, der oben in der Luke des Panzers saß, richtete den Scheinwerfer vor ihm in den Graben. Logan wand te den Blick vorsichtig ab, um seine Nachtsicht nicht zu verlieren. Als der Scheinwerfer nach oben auf die Bäume gerichtet wurde, be merkte Logan, dass das Mondlicht kurz in Glas reflektiert wurde, und er lächelte. Die Schutzblenden standen offen und die kugelsi cheren Fenster waren ungeschützt. Schnell wechselte er das Maga zin.
Diese Kerle scheinen sich ja mächtig sicher zu fühlen. Aber eine Ti tankugel mit Teflonspitze müsste ihnen eigentlich den Tag versauen – und ein riesiges Loch mitten in ihre Windschutzscheibe schlagen. Doch als der achträdrige Truppenpanzer näher rumpelte, verlor Logan plötzlich die Nerven. Sein Herz pochte, ihm brach der kalte Schweiß aus, und Zweifel überkamen ihn. Während er seine Waffe entsicherte, wirkten seine Hände so unsicher, dass er möglicher weise sein Ziel verfehlen würde. Logan spürte, wie er Atemnot be kam, als er versuchte, die aufsteigende Panik zu unterdrücken. Das erste Mal seit einem Monat verspürte er den Drang, sich bis zur Besinnungslosigkeit zu betrinken, und tief in eine Flasche einzutau chen, wo er schon viel zu viele Jahre gelebt hatte. Kämpfe gegen die Angst. Schluck sie runter. Eine Kugel macht dir nichts aus, du kannst den Schmerz ertragen, sagte Logan sich selbst. Aber ein anderer Teil von ihm wollte Reißaus nehmen und wie ein Hase davonrennen, wieder in den Graben springen und auf dem Bauch wegkriechen. Er begann seine Gefühle ganz rational zu betrachten. Es ist nicht die Angst, sondern es ist das, was du daraus machst. Egal, was passiert – ich habe die Situation unter Kontrolle und ich werde nicht weglaufen. Dieser Gedanke schien ihn zu beruhigen, und Logan atmete meh rere Male langsam und tief ein, während der BTR in Reichweite rollte. Als er jetzt wieder auf seine Hände blickte, waren sie so ruhig wie die einer Statue. Der Zehn-Tonnen-Truppenpanzer war jetzt so nah, dass der Boden unter seinen Füßen bebte. Logan erkannte, dass er den beiden anderen Fahrzeugen ein bisschen zu weit voraus gefahren war – das war die Gelegenheit für ihn. Logan stieg aus dem Graben und trat mitten auf die Straße. Der Mann oben in der Luke war gerade dabei, die seitlich angren zenden Wälder zu mustern, deshalb entdeckte der Fahrer Logan als Erstes. Das Fahrzeug wurde langsamer, und der Fahrer brüllte sei nem Kameraden im Fahrzeug etwas zu.
Logan stand da und tat so, als wolle er sich ergeben, indem er die linke Hand hoch hielt. Doch der rechte Arm hing herunter und die Hand mit der G36 war hinter seinem Bein verborgen. Er ließ die rechte Schulter hängen und hoffte, dass sie denken würden, er wäre verwundet. Der Mann in der Luke schwenkte den Scheinwerfer, sodass Logan vom Strahl erfasst wurde. Dumme Idee. Du stirbst als Erstes. Logan riss den Arm hoch, und die G36 spuckte Feuer. Das Ti tangeschoss zerschmetterte den Scheinwerfer, sodass Glassplitter und Funken in alle Richtungen flogen. Der Mann hinter dem Schein werfer flog aus der Luke, als die Kugel ihn unter dem Kinn erwisch te. Sein ganzer Kopf verschwand in einer Fontäne aus Blut und Schädelknochensplittern. Die kopflose Leiche kippte wie ein Müll sack aufs Dach des BTR. Logan konnte im Licht des Armaturenbretts das bleiche, verängs tigte Gesicht des Koreaners hinter dem Steuerrad sehen. Jetzt du. Mit ausgestrecktem Arm feuerte Logan einen zweiten Schuss ab. Die Windschutzscheibe platzte in Form eines Spinnennetzes und dunkelrotes Blut spritzte dagegen. Plötzlich machte der BTR einen Satz nach vorn, weil der sich im Todeskrampf windende Fahrer aufs Gaspedal trat. Acht Reifen quietschten und gruben sich in den Boden, als das Fahrzeug nach vorn schoss, während aus dem zerschossenen Scheinwerfer Feuer schlug. Logan zögerte den entscheidenden Moment und die Bugpanze rung erwischte ihn voll, riss ihn hoch und warf ihn halb durch die jetzt zerbrochene Windschutzscheibe. Als zwei Koreaner aus der hinteren Luke taumelten, schlingerte der BTR von der Straße, knallte einen steilen Abhang hinunter und über eine niedrige Klippe. Mit laufendem Motor und durchdrehenden Rädern schlug das Fahrzeug mit einem gewaltigen Platschen im See auf.
Cutler schüttete sich kaltes Wasser ins blasse Gesicht. Seine Wangen kribbelten, während er sich die letzten Reste des Rasierschaums wegwischte. Dann sah er in den Spiegel. Mit dem Zeigefinger fuhr er die Narbe nach, die eine Augenbraue mit einer schwachen weißen Linie durchschnitt – das Ergebnis der Rauferei mit Logan in jener Nacht, als er, Erdman und Hill den Mann geschnappt hatten. Das scheint schon eine Ewigkeit her zu sein. Zeit, so wusste Cutler, verging langsamer, wenn man eingesperrt war. Die letzten sechs Wochen scheinen sich so lang auszudehnen, dass ich mich gar nicht mehr daran erinnern kann, wie es war, ehe ich in diesem Bienenstock lebte und Tag für Tag denselben beschissenen Job machte. Er fuhr mit dem Kamm durch sein feuchtes, sandfarbenes Haar – und bemerkte zum ersten Mal einen leichten, weißen Schimmer an seinen Schläfen. Er wandte sich vom Badezimmerspiegel ab und griff nach seiner Uniform. Ein Stück Papier fiel aus der Tasche und segelte auf die Erde. Cutler nahm es hoch und las, was darauf stand. Memo des Leiters an alle Angestellten Betrifft: Sicherheitsmaßnahmen Wegen Sicherheitsbedenken und mehrerer gefährlicher Expe rimente, die in Kürze in der überirdischen Anlage durchgeführt werden, werden alle Angestellten ab sofort in die Quartiere in den Stockwerken Zwei und Drei der unterirdischen Anlage verlegt. Bitte nehmen Sie zur Kenntnis, dass Sie vierundzwanzig Stunden Zeit haben zu packen und sich auf den Umzug vorzubereiten. Wenden Sie sich wegen der Zuweisung der Räume an den Quartiermeister. Dieses Memo ist vier Wochen alt. Das Ganze war vor achtundzwanzig Tagen … Sechshundertzweiundsiebzig Stunden zuvor …
Allerdings gibt es hier unten keinen Tag, keine Nacht, kein Gefühl dafür, wie die Zeit vergeht. Und alle leben so, seit die überirdischen Räumlichkei ten völlig verlassen sind. Ich glaube, ich habe die Sonne, außer wenn ich mit der Wachmannschaft oben war, seit fast einem Monat nicht mehr gesehen. Aber zumindest kann ich gelegentlich rausgehen. Anders als die Ärzte und Techniker. Die letzten fünfzehn Tage waren Doppelschichten zur Norm ge worden. Alle Forscher fuhren Dopppelschichten; die Techniker hatten eine fünfundsechzig-Stunden-Woche. Alle waren äußerst angespannt, und Cutlers Sicherheitsmannschaft hatte allein in den letzten fünf Tagen bei zwei Raufereien in der Cafeteria dazwischen gehen müssen. Und gestern hat mich dieser Seelenklempner MacKenzie doch tatsächlich davor gewarnt, dass Schlafstörungen wegen des Fehlens von natürlichem Tageslicht jetzt gehäufter auftreten würden. Cutler fragte sich, wie lange man die Leute wohl noch würde ein sperren können, bis die Disziplin zusammenbrach – oder es zu einer offenen Revolte kam. Seine düsteren Gedanken endeten, als er die Gegensprechanlage hörte. »Cutler.« »Deavers hier. In meinem Büro. In zehn Minuten.« »Okay, ich kom…« Die Leitung war bereits tot. Er zog sich an, schloss seine Tür ab und ging zum Fahrstuhl. Auf dem Weg dorthin bemerkte er, dass in einem großen Teil seines Stockwerks die indirekte Beleuchtung ausgefallen war – das dritte Mal diesen Monat. Es hätte eigentlich in Ordnung gebracht werden müssen, aber das Wartungsteam hatte zu viel zu tun. Das wurde zu mindest behauptet. Vielleicht befinden sie sich auch in einem inoffiziellen Streik. seit den Vorfällen Anfang der Woche. Aber wie dem auch sei, ich muss wohl ein paar Leuten Beine machen, damit es hier wieder ordentlich aussieht.
Cutler trat in den Fahrstuhl und fuhr zusammen mit Carol Hines hinauf ins erste Stockwerk. Sie strich sich das glatte braune Haar mit einer Hand zurück, während sie in der anderen einen PDA hielt. Ihr Gesicht war vor Konzentration ganz angespannt, und sie schaute kein einziges Mal während der ganzen Fahrt von dem Display auf. Als sich die Türen öffneten, eilte sie in Richtung Diagnoselabor da von. Er wandte sich in die entgegengesetzte Richtung, um Major Deavers Büro aufzusuchen. Cutler trat ohne anzuklopfen ein. Deavers machte ein Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen. »Die Eierköpfe wollen heute Morgen die Wölfe haben. Ich habe den Tierbändigern Bescheid gesagt, und sie stehen bereit. Jetzt habe ich Ihnen Bescheid gesagt.« »Was wollen die von uns?« »Sie tragen die Verantwortung für Subject X. Ein Zwei-MannTeam mit einem dritten Mann zur Unterstützung. Nur Betäubungs mittel. Keine scharfe Munition.« »Ich werde selbst gehen und Franks mitnehmen. Er hat sich einge arbeitet, er weiß, wie man Befehle befolgt, und normalerweise behält er einen kühlen Kopf. Lynch werde ich als dritten Mann mit nehmen.« »Was ist mit Anderson? Erdman?« »Erdman ist nicht im Dienst, und er hat sich die Ruhe verdient. Anderson ist in letzter Zeit ziemlich schluderig gewesen. Hat sich letztens fast von einem Begrenzungslaser in Scheiben schneiden lassen, weil er ›vergessen‹ hatte, ihn abzuschalten, ehe er nach draußen auf Wache ging.« Deavers runzelte die Stirn. »Bei dem Fluchtversuch am Montag hat Anderson sich aber positiv hervorgetan, indem er ihn vereitelt hat. Der Director hätte uns bei lebendigem Leib die Haut abgezogen, wenn es zu einem Sicherheitsbruch gekommen wäre.« »Anderson hatte Glück. Oder vielleicht war er auch einfach nur
sauer, weil er keinen Anteil vom Bestechungsgeld bekommen hatte.« »Für wie blöd halten uns die vom Wartungsteam eigentlich?«, fragte Deavers. »Sich den Weg in den Versorgungshubschrauber freikaufen. Als ob wir das nicht merken …« »Die konnten gar nicht mehr richtig denken. Denen fällt die Decke auf den Kopf. Dieses Eingesperrtsein ist für alle schwer zu ertragen. Ich wundere mich, dass noch nicht mehr passiert ist.« »Besonders, da wir so knapp an erfahrenem Sicherheitspersonal sind. Wir haben fünfundfünfzig bewaffnete Männer in dieser Anlage – man sollte doch meinen, dass mehr als nur acht von ihnen lernen, wie man mit der Versuchsperson umgeht.« »Fürs Protokoll – wir sind nur noch sieben, die das können. Hill ist nicht mehr da, schon vergessen?«, sagte Cutler. »Sehen wir den Tat sachen doch ins Auge, Sir. Die anderen Männer – die wollen es gar nicht lernen. Logan – Subject X – hat alle in Angst und Schrecken versetzt.« »Kann man ihnen das vorwerfen?«, meinte Deavers. »Sein Anblick jagt mir einen kalten Schauer über den Rücken. All diese Drähte und Maschinen, die aus seinem Kopf rauskommen. Dieses Ding über sei nen Augen, die Batterie um seinen Hals. Er sieht wie ein wandeln der Toter aus, wie irgend so ein Roboter-Zombie …«
Logan dachte, er wäre tot, als der BTR ihn erwischte. Die G36 flog ihm aus der Hand, schlidderte davon und wurde vom Vorderrad zerquetscht, das so groß wie ein Treckerreifen war. Als er von acht Tonnen Stahl in die Luft gehoben wurde, katapultierte ihn der Auf prall durch die zerbrochene Fensterscheibe. Dann kam das Fahrzeug von der Straße ab. Zerfetzt und aus einem Dutzend Schnittwunden blutend rollte Lo gan durch das Innere des Fahrzeugs und landete schließlich auf
dem Schoß eines kopflosen Mannes. Es handelte sich um den Fah rer, dessen Hirnmasse den Innenraum verzierte. Ganz schwach, als kämen sie aus weiter Ferne, hörte Logan panische Schreie, dann spürte er, wie frische Luft über seine Haut strich, als die Luke auf sprang. Kurz danach schlug das schwere, gepanzerte Fahrzeug auf dem See auf. Die Wucht des Aufpralls schleuderte Logan gegen das Ar maturenbrett, als auch schon ein Schwall Wasser durch das Fenster strömte. Die Wucht des Wassers traf ihn wie ein Faustschlag, und der Innenraum war innerhalb von Sekunden geflutet. Doch das eisige Wasser ließ Logan wieder zu sich kommen. Als die Flutwelle ihn traf, öffnete Logan den Mund, um tief Luft zu holen, und erstickte fast am Wasser. Beinahe wäre er wieder ohn mächtig geworden – er wollte ohnmächtig werden und sich dem wohligen Vergessen hingeben – doch dann kämpfte er gegen den selbstmörderischen Impuls an. Er zwang seine Augen dazu, sich zu öffnen und versuchte, sich zu orientieren. Die Innenbeleuchtung des Fahrzeugs, bei der das Wasser noch keinen Kurzschluss verursacht hatte, half ihm ein bisschen. Und obwohl immer noch Wasser in das schnell sinkende Fahrzeug strömte, wusste Logan, dass er rauskom men würde. Während der BTR mit der Schnauze zuerst sank, berührte ein gestiefeltes Bein Logans Schulter, und er packte zu. Seine Geisel trug ihn nach oben durch die gesamte Fahrerkabine – in den hinteren Be reich des gepanzerten Fahrzeugs.
Plötzlich durchstieß Logans Kopf die Wasseroberfläche und er hol te Luft. Dicht neben ihm im sich schnell mit Wasser füllenden Raum spuckte ein koreanischer Offizier Wasser und keuchte, während er sich über Wasser zu halten versuchte. Logan erkannte den Dienst grad des anderen an dem Signalhorn, das dieser über der rechten Schulter trug – die Nordkoreaner benutzten bei Gefechten immer noch Hornsignale, um Befehle auszugeben. Als der Mann Logan sah, brüllte er etwas Unverständliches und begann, an der Pistole in seinem Gürtel zu zerren. Ich muss ihn umgehend zum Schweigen bringen, sonst erzählt er seinen Kumpeln, dass ich noch am Leben bin. Ich darf ihn nicht davonkommen lassen. Logan packte den Mann an der Kehle und tauchte ihn unter. Das Wasser war bereits bis zum Rand der hinteren Luke gestiegen. Lo gan musste hier bald raus, sonst würde er mit dem BTR in die Tiefe gerissen werden. Draußen glitten bereits die Suchscheinwerfer über das Wasser, und Logan hörte die Männer auf der Straße nach ihren verunglück ten Kameraden rufen. Die Flucht würde nicht einfach werden. Währenddessen wehrte sich der Mann gegen Logans Griff. Er drückte den Kopf des Offiziers weiter unter Wasser, während er die rechte Hand nach seinem Kampfmesser ausstreckte und es aus sei nem Gürtel riss. Logan stach einmal zu, zweimal. Nach dem dritten Stoß wurde der Koreaner plötzlich schlaff und Logan ließ ihn los. Das Wasser blubberte ihm schon bis zum Kinn. Logan holte noch einmal tief Luft, als das Heck des Gefechtsfahrzeugs vollständig in die flüssige Dunkelheit eintauchte. Er hielt sich an der Luke fest und wartete, bis er sich zwei oder drei Meter unter der Oberfläche befand. Dann stieß er sich ab und versuchte, sich so weit wie möglich vom sinkenden Ungetüm zu entfernen, um nicht vom Sog mitgerissen zu werden. Dicht unter der Oberfläche des schwarzen Wassers schwamm er weiter, bis er den Sauerstoffmangel einfach nicht mehr aushielt. Als
Sterne vor seinen Augen zu tanzen begannen, drang Logan an die Wasseroberfläche und schnappte nach Luft. Etwa hundert Meter weiter sah er die Nordkoreaner ans Wasser laufen, um ihre Kame raden zu retten. Während er erschöpft im Wasser trieb und gierig die frische Luft einatmete, stellte Logan fest, dass es eine Strömung gab, die ihn langsam zum Damm trug. Er ließ sich auf dem Rücken treiben, bis die abgehackten Stimmen immer leiser wurden, die Schweinwerfer schwächer und sogar das Dröhnen der Hubschrauberrotoren nicht mehr ganz so laut war. Dann schwamm er ans Ufer, kroch aus dem Wasser und krabbelte die Böschung hinauf. Unbemerkt von den Sol daten überquerte er die Straße und verschwand zwischen den Bäu men. Dann lief er tiefer in den Wald hinein, bis er die Ausläufer der Berge erreichte. Als er sich schließlich sicher war, dass man ihn nicht verfolgte, ließ Logan sich hinter einem Baum auf die Erde fallen, um sich auszuruhen. Keuchend überprüfte er seinen Zustand. Auch sein zweiter Kampfanzug hing wie das Fleisch auf seinem Rücken, seine Schen kel und sein Oberkörper in Fetzen. Wahrscheinlich hatte er den ganzen Weg hoch auf den Berg eine Blutspur hinterlassen, aber er hoffte, dass die Nordkoreaner zu blöd waren, um es zu bemerken. Logan fluchte, während er ein Stück Stoff aus seinem Tarnanzug riss. Das ist schon der zweite Satz Klamotten, den ich heute Nacht verliere. Bei dieser Geschwindigkeit werde ich bis morgen früh splitterfasernackt sein. Plötzlich war ihm nach Lachen zumute. Himmel noch mal, zumindest bin ich nicht angeschossen worden. Er sah auf seine Uhr. Es waren kaum dreißig Minuten vergangen, seitdem er sich von Miko getrennt hatte. Er hatte jetzt noch neunzig Minuten Zeit, konnte einen großen Bogen um das Durcheinander auf der Straße machen und den Berg hinaufklettern, um sich mit ihr zu treffen.
Während ihm das Blut über den Körper strömte, kam Logan stöhnend und vor Nässe und Kälte zitternd auf die Beine und mach te sich auf den Weg.
Fünfzehn Minuten nach seinem Treffen mit Deavers fuhr Cutler mit Franks und Lynch zur Oberfläche hoch und ging die Stelle ab, die für das morgendliche ›Experiment‹ genutzt werden sollte. Die Sonne war gerade erst aufgegangen, ein blassgelber Ball über den Bergen. Und obwohl es kalt war und immer kälter wurde, war Franks genauso begierig wie Cutler, nach draußen zu kommen. Lynch beschwerte sich die ganze Zeit, dass er die ganze Nacht im Dienst gewesen war und er jetzt wegen des angesetzten Expe riments wieder eine weitere Acht-Stunden-Schicht vor sich hatte. Bei dem fraglichen Gelände handelte es sich um ein sanft ge welltes, schneebedecktes Stück Land innerhalb der Anlage. Ein Wäldchen mit zwei- und dreijährigen Schößlingen und ein paar schlanke, hohe Pinien standen in der Landschaft verstreut. Das ge samte Gebiet war von doppelten, vier Meter hohen Maschen drahtzäunen umgeben, die man während des Experiments unter Strom setzen würde. Die Techniker und die für den Ton zustän digen Leute hatten bereits Kameras und Mikrofone auf Stahlpfei lern, die man tief in der vereisten Boden getrieben hatte, hoch oben in den Bäumen und auf den Zaunpfosten installiert. Die drei Männer gingen den ganzen Zaun ab und überprüften alles gründlich, um sicher zu gehen, dass es keine Lücken im Zaun gab, durch die ein Wolf – oder Subject X – schlüpfen und entfliehen konnte. Sie waren etwa bis zur Hälfte gekommen, als sie an eine hohe, verriegelte Pforte gelangten, hinter der mehrere Stahlgitter zäune zu erkennen waren. Aus dem Innern des gefängnisähnlichen Labyrinths drang Geheul und das wütende Knurren eines Rudels Timberwölfe. »Was hat die denn so in Unruhe versetzt?«, fragte Lynch.
»Wir haben Rückenwind«, antwortete Cutler. »Sie können uns rie chen. Das macht sie verrückt.« »Himmel«, sagte Franks. »Warum verhalten die sich so aggressiv? Als wollten sie uns umbringen. Es klingt so, als wollten sie uns je den Augenblick zerfetzen.« »Sie haben Hunger«, erklärte Cutler. »Die sind verrückt vor Hunger. Sobald die aus ihren Käfigen raus sind, werden die über alles herfallen, das sich bewegt, egal wie groß es ist.« »Wofür zum Teufel brauchen diese Eierköpfe ausgehungerte Wöl fe?«, fragte Franks und zitterte vor Kälte. »Sie werden Subject X in die Umzäunung bringen, dann die Wölfe rauslassen und alles filmen.« Franks stieß einen Pfiff aus. »Und wofür das Ganze?« Cutler zuckte die Achseln. »Ich hab keine Ahnung«, sagte er voller Abscheu.
Miko stürzte aus ihrem Versteck hervor, als sie Logan den Abhang hochklettern sah. Sie lief zu ihm und fasste seinen Arm. »Stützen Sie sich auf mich«, flüsterte sie, und bereitwillig suchte er Halt an ihrer schmalen, aber kräftigen Schulter. Sie stolperten den Berg hoch und krochen in einen primitiven Un terschlupf, den Miko aus Pinienzweigen errichtet hatte. Im Innern entzündete sie einen chemischen Leuchtstift und half Logan, sich auf ein Lager aus Moos und Blättern zu legen. Trotz des schwachen Lichts war die Sorge auf ihrem Gesicht deut lich zu erkennen. »Ich hatte Angst, dass Sie vielleicht nie zurückkeh ren würden«, sagte sie, während sie ihm seine Kleidung abstreifte und das zweite Mal in dieser Nacht seine Wunden säuberte. »Ich sagte doch … dass ich es schaffen würde«, keuchte er und un terdrückte einen trockenen Husten. Ihre kühlen Hände fühlten sich angenehm auf seiner Haut an, doch schon bald begann er zu zittern.
»Hier, trinken Sie das«, sagte sie und schob ihm eine warme Fla sche in die Hand. Dankbar schluckte er den heißen Tee. »Tolles Ding«, meinte er und bewunderte das batteriebetriebene Heizelement der Flasche. »Sie stecken voller Überraschungen.« Sie lächelte. »Leider ist es nur Instant-Tee.« »Ich habe in meinem ganzen Leben keinen besseren getrunken.« Nach ein paar Minuten spürte Logan, dass seine Kräfte zurück kehrten. Er stützte sich auf den Ellbogen auf. Miko hockte am Ein gang der primitiven Hütte und schaute durch ihr Nachtsichtgerät. »Was sehen Sie?« »Nichts. Keiner vermutet, dass wir hier sind. Die Soldaten sind da von überzeugt, dass Sie im See gestorben sind. Sie haben mehrere Kameraden aus dem Wasser gezogen – tot und lebendig. Soweit ich das sehe, werden ein paar von ihren Männern noch vermisst.« »Ich habe meine Heckler & Koch verloren.« »Ja. Einer der Soldaten hat die Überreste Ihrer Waffe auf der Stra ße gefunden. Er hat sie mitgenommen, als sie gingen.« »Und Langram? Haben Sie irgendetwas oder irgendjemanden auf der anderen Seite des Sees gesehen?« Miko ließ das Fernrohr sinken und sah ihn an. »Sie haben Ihren Freund gefangen genommen. Soldaten haben ihn vom Berg herun tergebracht. Seine Arme waren gefesselt und sie … misshandelten ihn. Man setzte ihn in ein gepanzertes Fahrzeug und ist dann mit ihm in Richtung Damm davongefahren. Es tut mir Leid.« Eine ganze Weile gab Logan keinen Ton von sich. Seine Miene war ernst. Schließlich sagte er: »Vielleicht können wir ihn retten. Wir haben noch eine Chance. Sie denken, dass ich tot bin und von Ihnen wissen sie noch nicht einmal.« Mikos Gesichtszüge wirkten angespannt. »Aber selbst wenn wir ihn in dieser Anlage finden und es schaffen, ihn zu befreien – wo sollen wir dann hin?« »Wir verlassen die Gegend mit Ihren Leuten. Wo warten sie auf
Sie? Wurde eine bestimmte Zeit abgemacht oder müssen Sie erst Be scheid sagen, damit man Sie hier rausholt?« »Ich … ich komme hier nicht raus«, gestand sie. »Ich hatte geplant, den Ort mit Ihnen zu verlassen, nachdem ich mein Ziel erreicht hatte.« »Was sind Sie denn? Eine Kamikaze-Kriegerin oder was? Hat Ihre Regierung Sie auf einen Selbstmordeinsatz geschickt?« »Meine Regierung … Meine Vorgesetzten … wissen noch nicht einmal, dass ich hier bin. Ich habe mich selbst zu diesem Einsatz ent schlossen. Aus persönlichen Gründen.« Überrascht sah sie, dass Logan den Kopf zurückwarf und lachte, bis ihn ein Hustenanfall packte. »Alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte Miko und sprang an seine Seite. »Ich habe ein bisschen zu viel von diesem See geschluckt«, ant wortete er und spürte, wie sich eine angenehme Wärme in seinem Körper ausbreitete, als sie seinen Kopf streichelte. Als sich langsam Müdigkeit in ihm ausbreitete, kicherte Logan leise. »Noch ein widerspenstiger Zeitgenosse, genau wie ich, was? Hätte ich auch gleich draufkommen können.« Miko lächelte durch ein Gewirr von Haaren auf ihn herab. »Mr. Logan, Sie wissen ja noch nicht einmal einen Bruchteil von allem.« »Wenn es mir besser ginge, würde ich mir die ganze Geschichte erzählen lassen … Aber gerade jetzt … bin ich viel zu müde.« »Dann schlafen Sie, Logan-san. Sie brauchen die Ruhe. Sie sind ja auch nur ein Mensch.« Während sich Logans Augen schlossen, flüsterte er noch eine Er widerung. »Nur ein Mensch? Ich wünschte es mir, Miko … ich wünschte es.«
Obwohl die Sonne aufgegangen war, herrschten eisige Tempera turen, seit sie draußen unterwegs waren. Trotz des klaren Himmels blies ein arktischer Wind von Norden. Im Moment lag die Tempera tur bei ein paar Grad unter Null, und sie fiel weiter. Cutler war zwar in mehrere Schichten Unterwäsche, seine Uni form und in eine schusssichere Weste gehüllt, doch trotzdem zitterte er vor Kälte. Immer wieder pustete der Wind eisige Luft unter sei nen Helm, sodass sein Atem als Dampf vor seinem Gesicht stand. Und auch wenn er keinen Schutz gegen die Kälte bildete, wagte Cutler es doch nicht, ihn abzusetzen. Die Gefahr war zu groß. Er war mit einem langen, elektronischen Stab ausgerüstet, der am einen Ende gegabelt und am anderen mit Batterien bestückt war. Mit diesem Stab lenkte Cutler Subject X vorsichtig über die schnee bedeckte, offene Fläche in die Mitte des eingezäunten Bereichs. Der Elektrostab – von den Tierbändigern ›Mistgabel‹ genannt – dämpfte Logans Sinne, ermöglichte es jedoch, ihn auf seinen eigenen zwei Beinen überall hinzuführen, wo man wollte. »Als würde man mit einem Hund an der Leine gehen«, witzelte Lynch, als sie ihre Vorbe reitungen trafen. Cutler war sich nicht sicher, was die Ärzte in den letzten sechs Wochen mit Logan angestellt hatten. Er sah nicht so aus, als hätte man ihn einer Gehirnwäsche unterzogen – er wirkte eher hirntot. Er nahm an, dass Logans Sinne abgestumpft waren, sonst hätte er die Kälte spüren müssen, denn die ›Versuchsperson‹ ging völlig nackt durch den Schnee. Er war nur mit ›Sensorports‹ aus Teflon bedeckt, die in Brust, Hals, Arme und Oberkörper eingelassen waren, und in die man chirurgische Sonden eingeführt hatte. Während Cutler Logan zum vorgeschriebenen Punkt führte, folg ten Lynch und Franks ein paar Schritte hinter ihnen. Sie waren dar auf vorbereitet, die Versuchsperson mit Betäubungsgewehren beim ersten Anzeichen von Aufsässigkeit wieder unter Kontrolle zu bringen. Aber Logan blieb gefügig. Seine nackten Füße zog er wie ein Zombie durch den Schnee, während er wie ein Schwerverbre
cher seine Fußketten Dutzende von Kabeln und Schläuchen hinter sich herzog. »Genau hier«, sagte Lynch und grub seinen Stiefel in einen Hügel mit Schnee, der mit blauer Farbe markiert war. »Wo sind die verdammten Techniker?«, wollte Cutler wissen. »Lo gan muss doch noch angeschlossen werden.« »Da kommen sie schon«, sagte Franks. Zwei Techniker, die in schlecht sitzende Ganzkörper-Schutzan züge gehüllt waren und zu viel Gerät mit sich schleppten, machten sich sofort an die Arbeit. Sie begannen damit, die losen Kabel mit einem Computerterminal zu verbinden, der zu Logans Füßen im Schnee stand. »Was ist das denn?«, fragte Franks. Der Mann, der neben Logans Füßen kniete, schaute auf. »Diese Kiste stellt eine drahtlose Verbindung zu den Computern im Labor her, und dazu gehört auch der EMaM. Durch diese Einspeisekabel bleibt der Knabe gefügig, bis die Ärzte sich dafür entscheiden, ihn von der Leine zu lassen.« »Yeah, wenn diese Kabel herausgezogen werden – nehmt euch in Acht«, warnte der andere Techniker. »Habt ihr ihn schon mal in Aktion gesehen?«, fragte Cutler. »Wir haben nur Gerüchte gehört«, erwiderte der am Boden hockende Techniker, während er einen Stromkreis überprüfte. »Ich habe ihn erlebt«, sagte Franks. »Und ich habe vor, längst fort zu sein, wenn sie ihn freilassen.« »He, Dooley«, sagte der Mann im Schnee. »Der Cowboy hier hat Subject X in Aktion gesehen.« Franks lief rot an. Dooley drehte sich um und drückte dem Agent einen etwa handgroßen Computer in die Hand. »Was ist das?« »Die Fernbedienung für das Lösen des Einspeisekabels.
Wenn Doc Cornelius Ihnen das Stichwort gibt, drücken Sie auf diesen Knopf und das Monster ist frei.« »Mensch, warum denn ich?«, fragte Franks. »Sie sind doch der Wachmann, oder etwa nicht?« In der Zwischenzeit war der Techniker dabei, den drahtlosen Kasten zu Logans Füßen zu aktivieren und dann einen Code oben in den Zahlenblock einzugeben. »Okay, Agent Cutler«, sagte er und stand auf. »Nehmen Sie den Elektrostab weg und gehen Sie dann in Deckung.« Zögernd schaltete Cutler den Stab aus und löste die beiden Dor nen aus ihren magnetischen Verschlüssen, die in Logans Schläfen eingelassen waren. Voller Erleichterung stellte er fest, dass Logan genauso passiv reagierte wie zuvor. Von dem Moment an, als sie ihn hochgebracht bis zu dem Zeitpunkt, als sie ihn an den Kasten ange schlossen hatten, war keine Veränderung bei Logan zu bemerken gewesen. Subject X hatte nicht einmal geblinzelt und nur mit star rem Blick stur geradeaus geschaut. Das Sicherheitsteam entfernte sich langsam mit den Betäubungs gewehren im Anschlag von Subject X. Bei sechzig Metern drehten sie sich um und stürzten sich in den Betonschutzraum neben dem Wolfsgehege. Zusammengepfercht mit allerlei Kommunikationsge rät würden sie in dem engen Bunker so lange warten, bis ihre Diens te wieder gebraucht wurden. Die Techniker schlossen sich ihnen ein paar Minuten später an – nachdem alle Verbindungen überprüft, Kameras und Lautsprecher eingeschaltet und Logan letzten ›Vorbereitungen‹ unterzogen worden war. Die Techniker streiften ihre Schutzanzüge ab und nahmen ihre Plätze vor den Kommunikationskonsolen ein. Cutler und Franks schenkten sich Kaffee aus einer Thermoskanne ein und beobachteten Subject X durch einen schmalen Schlitz. Franks hielt die Fernbedienung für das Einspeisekabel in der Hand, als wäre es eine Bombe, die er am liebsten losgeworden wäre. Lynch inter essierte das Ganze nicht. Er rollte sich auf einer Bank zusammen,
um ein Nickerchen zu machen. Draußen stand die Versuchsperson stocksteif, mit leicht gegrätsch ten Beinen bis zu den Waden in dreißig Zentimeter hohem Pulverschnee. Ein Windstoß ließ Logans Haare flattern und trug den Geruch von warmem Blut ins Wolfsgehege. Fast sofort heulten die Tiere erwartungsvoll und begannen, in heller Aufregung und hohläugig vor Hunger herumzurennen.
»Erstaunliche Arbeit, Dr. Hendry!«, rief Dr. Cornelius. »Subject X hat seine Muskelmasse um ein Drittel gesteigert und mehr als ein Drittel seines Körperfetts in weniger als sechs Wochen verloren. Ihre chemische Behandlungsmethode grenzt geradezu an ein Wunder.« Dr. Hendry tat Cornelius' Kompliment mit einer Handbewegung ab und grinste. »Es war ein haariges Problem, aber man musste nur mit frischem Denken daran gehen, um eine Lösung zu finden.« Sie befanden sich im Hauptlabor neben einem Tisch, auf dem ein Büffet mit einem kontinentalen Frühstück aufgebaut war. Zwei Dutzend Ärzte, Forscher und Techniker hatten die Nacht durchge arbeitet, um sich auf das heutige wichtige Experiment vorzuberei ten. Dr. MacKenzie hatte sich darum gekümmert, dass ein Frühstück für sie vorbereitet und im Morgengrauen von der Cafeteria aufge tragen wurde. Carol Hines saß bei den beiden Ärzten, während der Becher Tee neben ihr kalt wurde. Sie achtete nicht auf die Unterhaltung der beiden, während sie die umfangreiche Programmiercheckliste, die auf ihrem Schoß lag, durchging. »Es erstaunt mich, dass Sie keine Steroide genommen haben«, meinte Cornelius zwischen zwei Bissen von seinem Käsebrot. »Nein, nein. Steroide sind denkbar ungeeignet. Mit Steroiden er zielt man nur vorübergehende Resultate, und es gibt viel zu viele Nebenwirkungen.«
»Wie haben Sie denn dann das Problem gelöst?« »Die Forscher der John Hopkins-Universität haben herausge funden, dass das Protein Myostatin das Muskelwachstum bei Men schen beschränkt. Es war recht einfach für mich, ein spezielles En zym zu entwickeln, das dieses Protein blockiert, sodass Subject X in nerhalb von Rekordzeit Muskelmasse aufbauen konnte.« Cornelius schaute unglücklich auf seinen Bauch, der weit über sei nen Gürtel hinausragte. »Mein lieber Dr. Hendry, Sie müssen mich das Zeug unbedingt mal ausprobieren lassen.« »Guten Morgen«, sagte der Professor in die Runde, der eben das Labor betrat. Dr. Cornelius wandte sich mit einem Styroporbecher mit heißem Kaffee in der Hand zu ihm um. Hines schaute von ihrer Liste auf, als der Professor auf ihren Tisch zukam. Der Professor richtete seine erste Frage an Ms. Hines. »Heute ist also der große Tag, was?« »Das hoffen wir, Sir«, erwiderte sie. »Schön, schön …« Er drehte sich um. »Dr. Cornelius. Haben Sie ir gendetwas, was ich mir anschauen soll?« Cornelius schluckte den letzten Bissen seines Brotes herunter. »Nun ja, wir glauben, dass wir das Problem mit den endokrinen Drüsen gelöst haben.« Der Professor war beeindruckt. »Wie das?« »Eine einfache Bälkchenmatrix«, mischte Dr. Hendry sich in das Gespräch ein. »Es war die ganze Zeit genau vor unserer Nase.« »Aber jetzt haben Sie es herausgefunden«, stellte der Professor fest. »Das nehmen wir an, Sir«, erwiderte Cornelius. Da er selbst kein Endokrinologe war, hielt er sich an Dr. Hendry. »Hervorragende Arbeit«, sagte der Professor. »Haben Sie bei Lo gan alle Einspeisekabel gelöst?« »Noch nicht, Sir.«
»Dann tun Sie das jetzt, Dr. Cornelius. Lassen Sie uns mit dem Ex periment beginnen.« Cornelius nickte, dann wandte er sich an den Rest des Teams. »Alle an ihre Plätze«, befahl er. »Experiment Zwei von Sechs be ginnt in zwei Minuten.« Hines setzte sich an den EMaM und entriegelte die Steuerelemente des Gerätes. Ihre Miene war ruhig und gelassen, als sie sich zu den anderen umwandte. »Ich bin soweit.« »Überwachungsmonitore bereit«, sagte Dr. Hendry. »CAT-Scan bereit!«, röhrte Dr. MacKenzie. Das Haar stand ihm wild und ungekämmt ums Gesicht. »Kameras bereit … Ton bereit«, klangen die knisternden Stimmen der Techniker aus dem Kommunikationsbunker an der Oberfläche aus dem Lautsprecher. Cornelius beugte sich über sein Terminal und schaltete sein Mikro fon ein. »Wachmann, alle Kabel lösen und aufrollen.« »Verstanden, Sir«, antwortete Franks. Auf dem HDTV-Bildschirm an der Wand erschien Logan, der un beweglich in der Mitte der verschneiten Ebene stand, als die Kabel von seinem prächtig definierten Körper abfielen. Der Professor setzte sich, ohne den Blick vom Bildschirm abzu wenden, vor den zentralen Rechner und leckte sich die Lippen. »Jetzt, Dr. Cornelius. Zeigen Sie mir, was Waffe X kann.«
ZWÖLF Raubtier
»Drei … Zwei … Eins. Startklar. Dies ist Experiment Zwei von Sechs. Verteidigung.« Dr. Cornelius hielt inne, um sich noch einmal im Labor umzu schauen. »Alles klar? Kameras? Monitore?« »Klar«, sagte Hendry. Andere Stimmen murmelten ebenfalls Be stätigungen. »Dr. Cornelius.« »Ja, Professor.« »Mr. Logan …« »Subject X«, korrigierte Dr. MacKenzie. »Subject X scheint ganz und gar von Blut bedeckt zu sein.« »Schafsblut, Sir«, erklärte Cornelius. »Der Geruch verbreitet sich schneller. Wir wollen, dass die Wölfe sehr aggressiv vorgehen.« »Ich verstehe.« Der Professor hob die Augenbrauen. »Sehr raf finiert. Wunderbar.« Lange Minuten stand die Gestalt wie ein Monolith in der Weite der eisigen Landschaft. Carol Hines merkte, dass sie, während sie dem Rauschen des Windes lauschte, das durch die Lautsprecher übertragen wurde, den Blick nicht von Subject X auf abwenden konnte. Weitere Minuten, die von den Geräuschen der tickenden Monitore und flüsternden Stimmen erfüllt waren, vergingen. Das Heulen des Windes wurde allmählich vom Heulen der Wölfe über tönt. Während die Techniker die Feineinstellung ihrer Instrumente vor
nahmen, nahm sich Cornelius eine dritte Tasse Kaffee. Die Zeit schi en sich endlos in die Länge zu ziehen, während alles überprüft und noch einmal überprüft wurde. Schließlich ergriff Carol Hines das Wort. »Seit mehr als zwanzig Minuten steht er schon bei Minusgraden da draußen. Können wir nicht endlich weitermachen?« Cornelius setzte seine Tasse ab, ohne daraus getrunken zu haben. »Wir halten uns strikt an den geplanten Ablauf, Ms. Hines.« Über die Lautsprecher war zu hören, dass sich das Wolfsgeheul verstärkte. »Werte, Dr. Hendry?« »Herzschlag, Blutdruck, alles in Ordnung.« »Vielleicht sollten wir ihn ein paar Dehnungsübungen machen lassen, damit er sich ein bisschen auflockert. Kalte Muskeln können ziemlich steif werden«, schlug der Physiotherapeut vor. »Seine Muskeln nicht«, erwiderte Hendry. »Sie sind so kon ditioniert, dass sie immer optimal einsatzbereit sind, egal wie kalt es ist oder wie lange sie nicht bewegt worden sind.« Aus den dröhnenden Lautsprechern drang jetzt schmatzendes Knurren und wütendes Gebell. Die Tiere begannen ungeduldig zu werden und begannen in ihrer Gier auf frische Beute, aufeinander loszugehen. »Kann er sie hören?«, fragte Cornelius. »Ja, Sir. Dessen bin ich mir sicher«, sagte der Tontechniker, der draußen im Bunker saß. Die Stimme war kristallklar. »Wir können die Wölfe auch bei abgeschalteten Lautsprechern durch fünfzehn Zentimeter Beton hindurch hören. Wenn Subject X sie nicht hören kann, ist er taub.« »Und doch ist kein Adrenalinanstieg zu verzeichnen … merk würdig«, murmelte Cornelius. »Überhaupt nicht merkwürdig«, erklärte der Professor. Seine Augen strahlten förmlich vor Erwartung. »Es bedeutet, dass unsere
Neuprogrammierung funktioniert hat, Dr. Cornelius. Waffe X ver spürt keine Furcht.« Cornelius blickte auf seinen Bildschirm. »Alles für das Öffnen der Tore vorbereiten.« »Verstanden«, sagte die Stimme von einem Tierbändiger, der sich im Gehege der Tiere befand. »Wann haben die Tiere das letzte Mal gegessen?«, fragte der Professor. Cornelius zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Pfleger?« »Verstanden«, erwiderte der Pfleger. »Gemäß der Liste vor unge fähr sechs Tagen, Sir.« »Meine Güte, die können mein Brot haben.« Die Bemerkung kam von einem der Techniker und erntete Geläch ter. Der Professor drehte sich in seinem Stuhl um und starrte den Missetäter böse an. »Öffnen Sie das Tor«, befahl Cornelius. Die Bilder kamen von zwei Kameras, die beide auf dem großen Bildschirm angezeigt wurden, sodass die im Labor Anwesenden gleichzeitig sahen, wie die Wölfe durch das offene Tor stürzten, und dass Logan weiterhin unbeweglich im Schnee stand. »Er reagiert nicht.« »Geben Sie ihm ein bisschen Zeit, Cornelius.« »Ich meine damit, dass kein erhöhter Blutdruck angezeigt wird, und auch der Herzschlag beschleunigt sich nicht.« Die Timberwölfe rasten über die schneebedeckte Fläche, und ihre Pfoten wirbelten große Klumpen Schnee auf. Das Alpha-Männchen lief dem Rudel mit gewaltigen Sätzen voran – ein 80 Kilogramm schweres, rotbraunes Ungetüm mit langer, schaumbedeckter Schnauze und heraushängender Zunge. Unter dem rötlichen Pelz des abgemagerten Tieres zeichneten sich drahtige Muskeln ab. »Himmel, er bewegt sich nicht«, flüsterte einer der Techniker.
»Lebt er noch?«, fragte der Professor. »Ja, natürlich!«, brüllte Cornelius. »Aber er bewegt sich nicht.« »Gütiger Gott …« Carol Hines wandte den Blick ab. Während die Wölfe vorwärts jagten, schaltete die Kamera wieder auf Einzelbildanzeige – die Tiere hatten sich der Versuchsperson jetzt so weit genähert, dass alles mit einer Kamera eingefangen werden konnten. Die Miene des Professors war ernst. Er richtete seinen strengen Blick auf Dr. Cornelius. »Haben Sie irgendwelche Informationen für mich?« Cornelius, der weiter wie gebannt auf den Bildschirm starrte, schüttelte verwirrt den Kopf. »Er … reagiert einfach nicht.« »Verdammt!« Der Professor sprang von seinem Stuhl auf und trat vor den Bildschirm. »Handelt es sich um eine physische Störung?«, fragte er. »Die Klauen vielleicht?« »Nein, das bezweifle ich.« Cornelius sah Dr. Hendry an, damit dieser es bestätigte, doch Hendry schien selbst von den Ereignissen viel zu eingenommen, um es überhaupt zu bemerken. »Wenn seine Klauen funktionstüchtig sind, warum benutzt er sie dann nicht, Doktor?«, fragte der Professor. Der Wachmann brüllte los: »Sie werden ihn in Stücke reißen!« Endlich schaute Hendry auf und begegnete Cornelius' verzweifeltem Blick. »Selbst seine Heilungskräfte werden versagen, wenn er nur noch aus Fetzen besteht«, sagte Hendry. Cornelius wirbelte zu Carol Hines herum und sah, dass diese den Blick vom Bildschirm abgewandt hatte. »Hines, tun Sie Ihre Arbeit!« Sie drehte sich wieder zum Monitor um und ihre Hände schwebten über der Tastatur. Ihr Gesicht war ganz rot. »Reaktionsbereiche aktivieren – jetzt!«, befahl Cornelius.
Carol Hines gab die neuen Daten in den Transmitter ein, drückte auf ›Senden‹ und sah dann auf den Bildschirm. Irgendwo in Logans abgestumpftem Gehirn machte ein Schalter Klick – ein chemischer Schub, der einen schlummernden Teil seines Geistes anwarf. Ein Ausstoß elektrochemischer Aktivität im linken präfrontalen Kortex stimulierte Logans Aggression, und ein Schatten von Bewusstsein flackerte hinter seinem stetigen Blick auf. Der Funken dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde – doch das ge nügte Subject X, um zu hören, zu riechen und die Gefahr zu er kennen. Aber die Wölfe hatten ihn bereits erreicht. Das Alphatier sprang den Mutanten mit einem gewaltigen Satz an, während die anderen ihn umringten. Kiefer schnappten nach Beinen und Armen und zerrten Logan zu Boden …
Geifernde, schnappende Kiefer. Heißer, widerlicher Atem. Zähne, die sich in Fleisch gruben, zogen, rissen. Wild. Logan schwamm durch ein Meer alptraumhafter Bilder und wach te um sich schlagend auf – er kämpfte gegen Phantome, die ihn an griffen. Mit einem Schrei setzte er sich auf seinem Bett aus Blättern und Moos auf. Als er die Augen öffnete, blendete ihn die Sonne, bis eine Gestalt den hellen Lichtschein abschirmte. »Wer …« Zwei Finger legten sich sanft auf seine Lippen. »Schsch, Logan. Sie sind in Sicherheit«, beruhigte ihn eine sanfte Stimme. »Miko?« »Hai.« Logan blinzelte. »Ich muss geträumt haben«, murmelte er, wäh rend sich die schrecklichen Bilder wie morgendliche Nebelschwa den auflösten. Sie starrte ihn neugierig an.
»Sehe ich morgens so schlimm aus?«, knurrte er und drehte sich weg. »Kein bisschen. Sie sehen vollkommen in Ordnung aus. Und das ist das Seltsame.« »Tja, nun ja …« »Sie sind in einen tiefen Schlaf gefallen. Ich dachte schon, dass Sie einen komatösen Schock erlitten hätten. Dann befürchtete ich, Sie seien tot«, erzählte sie mit leiser Stimme. »Doch als ich Sie im Morgenlicht betrachtete, sah ich die Wunde auf Ihrer Brust.« Mit dem Zeigefinger berührte Miko ganz vorsichtig die Stelle zwi schen seinen Brustmuskeln. »Letzte Nacht war hier eine offene, blutende Wunde. Heute Morgen ist sie wieder geschlossen. Da ist noch nicht einmal eine Narbe zu sehen.« Er sah starr geradeaus. Sie setzte sich neben ihn auf die Erde. »Je der andere wäre daran gestorben.« »Ich bin nicht jeder andere.« Sie wartete ab, ohne etwas zu sagen. Schließlich sprach er. »Haben Sie je von Mutanten gehört, Miko?« »Hai. Aber um ehrlich zu sein, habe ich nie an deren Existenz ge glaubt. Ich hielt sie nur für einen Aberglauben, so wie die angebliche Gabe, Dinge nur mit seinen Gedanken zu bewegen oder AWS …« »Sie meinen ASW. Außersinnliche Wahrnehmung.« Sie nickte. »Tja, Mutanten gibt es doch. Ich weiß es, weil ich selber ein Mu tant bin. Es ist erst ein paar Jahre her, dass ich es herausgefunden habe. Das Wissen darum hat mich verändert, aber nicht unbedingt zum Besseren.« »Aber was ist mit Ihren Fähigkeiten? Die müssen Sie doch schon lange gehabt haben?« Er sah sie an. »Ich wusste immer, dass ich anders bin – schon als Kind. Die Leute haben mich auch anders behandelt. Als wussten sie, dass mit mir irgendetwas nicht stimmte.«
»Alienation. Jeder macht so eine Phase in seiner Jugend durch.« »Aber ich bin nicht jung, Miko. Wenn ich Ihnen sagen würde, wie alt ich bin, würden Sie mir nicht glauben. Verstehen Sie es denn nicht? Ich war irgendwie anders. Ich wurde nie krank wie andere Leute, Verletzungen heilten schnell. Aber erst als ich in den Krieg zog, fand ich heraus, wie anders ich wirklich war …« »Sie sind immun gegen Krankheiten und Sie altern nicht. Was ist daran ein Problem?« »Das ist das Problem. Zuzusehen, wie jemand, den man liebt, alt wird, leidet und stirbt, während man selber immer jung bleibt … Yeah, das ist ein Problem …« Sie zuckte bei der Vorstellung förmlich zusammen. »Ich verstehe. Als würde man Vater oder Mutter beim Sterben zusehen?«, wisperte sie. »Ja. Wie ein Elternteil. Nur, dass es auch die Geliebten sind. Und sogar die Kinder, wenn man welche hat …« Er presste die geballten Fäuste gegen seine Schläfen und schloss die Augen. »Und ich weiß noch nicht einmal, warum ich anders bin. Vom Tag meiner Geburt an machte ich meiner näheren Umgebung nur Ärger. Ich verdiene diese ›Gabe‹ nicht. Warum ich?« »Wenn es keine Antwort auf eine Frage gibt, warum soll man sie dann überhaupt stellen?«, erwiderte Miko. »Aber jetzt verstehe ich.« »Wirklich? Können Sie es verstehen?«, fuhr er sie an. »Ich habe in Japan gelebt. Ich kenne Ihre Sprache, Ihre Gesellschaft, Ihre Eigen arten. Die Japaner legen Wert auf Konformität. In Ihrer Welt wäre ich noch viel mehr ein gesellschaftlicher Außenseiter gewesen. Je mand wie Sie kann das überhaupt nicht verstehen.« Miko schüttelte den Kopf. »Seien Sie sich da mal nicht so sicher, Logan-san. Ich weiß auch, wie es ist, ein Außenseiter zu sein.« »Was – sind Sie etwa in der dritten Klasse sitzen geblieben?« »Haben Sie je von den Trostfrauen gehört?«, fragte sie. »Prostituierte?«
»Nicht Prostituierte, Logan. Sklavinnen der japanischen Herren. Während des Zweiten Weltkriegs verschleppten Soldaten tausende von Frauen und benutzten sie. Meine Großmutter war eine Trostfrau, die von einem hochrangigen Offizier von ihrem Hof in Korea verschleppt und nach Tokio gebracht wurde, wo sie als seine Mätresse lebte. Meine Mutter war das Kind der beiden.« Während Miko sprach, spielte sie mit dem Ring, der an ihrem Mit telfinger steckte. »Nach dem Krieg wollten die Koreaner diese Frauen nicht zurückhaben, weil sie in ihren Augen besudelt waren. Viele hatten Kinder bekommen, die zur Hälfte Japaner waren. Mit solchen Kindern und deren Abkömmlingen will man in beiden Ländern nichts zu tun haben, nicht einmal heute in unserer aufge klärten Zeit.« Das Dröhnen eines Kampfjets, der hoch über ihnen hinwegflog, ließ sie innehalten. Das Flugzeug verschwand so schnell, wie es auf getaucht war. »Sie sagen, Sie würden die japanische Gesellschaft kennen, Logansan«, fuhr Miko fort. »Wussten Sie, dass Mischlingskinder nicht zu den besten Schulen zugelassen werden – egal wie begabt oder talentiert wir auch sein mögen? Wussten Sie, dass wir in japanischen Unternehmen auf die niedrigsten Positionen verwiesen werden – Büroangestellter oder Sekretärin – ohne jede Chance, jemals aufzu steigen?« »Deshalb sind Sie also in den öffentlichen Dienst gegangen?«, frag te Logan. »Ja. Das Sondereinsatzkommando nahm mich auf, weil ich ihnen nützlich war. Ich besaß Fähigkeiten, die sie brauchten – ich spreche Koreanisch wie ein Muttersprachler, ich könnte für eine Koreanerin durchgehen, wenn es sein muss. Bei früheren Einsätzen habe ich das getan.« »Aber jetzt befinden Sie sich nicht im Einsatz?« »Nein, Mr. Logan. Ich bin hier auf eigene Faust. Es ist etwas Persönliches.«
»Und dieses Persönliche befindet sich in dieser Anlage am Fuße des Damms?« »Hai.« »Man kann mit Sicherheit davon ausgehen, dass Langram auch dort ist.« »Letzten Abend haben Sie gesagt, Sie würden Ihren Freund retten.« »Ich will Langram hinterher. Das ist so dumm und selbstmörde risch, dass die Koreaner vielleicht darauf hereinfallen. Sie können mitkommen und Ihre persönliche Angelegenheit erledigen, solange Sie mich nicht bei der Erledigung meiner Angelegenheiten stören. Oder Sie versuchen, auf eigene Faust aus Nordkorea herauszukom men.« »Ich komme mit, Logan. Wann brechen wir auf?« »Heute Abend, nachdem es dunkel geworden ist. Wir werden eine Stunde brauchen, um über den Damm zu kommen und zwei weite re, um den Berg runterzuklettern und in die Anlage zu gelangen.« »Was machen wir bis dahin?« »Wir essen, Miko. Dann ruhen wir uns aus.« »Sie haben Hunger?«, fragte Miko. »Ja. Nach so einem Genesungskoma bin ich immer hungrig wie ein verdammter Wolf.«
»Sie fressen ihn bei lebendigem Leibe!« »Ich erhalte keine Reaktion«, schrie Cornelius. Er stieß Carol Hines zur Seite und begann auf ihre Konsole einzuhämmern. »Das hätte etwas bei ihm auslösen müssen. Wir haben es nicht geschafft.« Auf dem Bildschirm sah man eine knurrende, sich windende Masse, die den taumelnden Mutanten umschwärmte. Subject X wehrte sich nur schwach, als sich reißende Klauen und zu
schnappende Kiefer in seinen ungeschützten Bauch gruben und nach seiner Kehle schlugen. Plötzlich schaute Cornelius von der EMaM-Konsole auf. »Es dringt durch. Der Epinephrin-Wert steigt …« Der Professor trat hinter ihn. »Sechsundachtzig … Neunzig Pro zent … Fünfundneunzig …« Er klopfte mit der Hand auf Cornelius' Schulter. »Er wehrt sich!« Ein qualvolles Stöhnen drang aus den Lautsprechern. Auf dem Bildschirm sah man Logans rechten Unterarm unter der heulenden und geifernden Meute auftauchen. Das Stöhnen wurde zu einem furchterregenden Gebrüll voller Wut und Trotz. Plötzlich wichen die Wölfe mit blutbefleckten Schnauzen jaulend zurück, als drei Adamantium-Klauen aus Logans zerrissenem Fleisch sprangen. »Hören Sie sich diesen barbarischen Schrei an. Meine Herren, wir haben es geschafft!« »Ich glaube nicht, dass dieser Schrei Blutdurst ausdrückt, Professor«, meinte Dr. Cornelius. »Ich glaube, er hat Schmerzen.« Ein Schwall von Blut strömte aus den Austrittstellen der Klauen und lief an Logans ausgestreckten Armen herunter, als er taumelnd hochkam. »Ganz hervorragend.« Der Professor nickte zustimmend und rück te seine eckige Brille zurecht. »Das wird ihn nur noch wilder ma chen.« Die Wissenschaftler hörten ein jaulendes Knurren, das Logans Schrei übertönte und sie zusammenzucken ließ. Logan brach aus der Mitte der bellenden Köter hervor. Der Alpha-Wolf sprang ihm an die Kehle. Mit einem Aufwärtshaken, der das Tier durchbohrte und es über seinen Kopf hob, spaltete Logan den Rumpf des Wolfes in zwei Teile, indem er dessen Wirbelsäule mit einem Hieb durch trennte. Heißes, dampfendes Blut strömte auf Logan herab und floss ihm über Gesicht, Hals und Oberkörper. Er wich einer angreifenden
Wölfin aus und riss seinen rechten Arm zurück, um den Schädel eines weiteren Rüden zu durchbohren. Carol Hines wandte den Blick ab, als Logan ein jaulendes Weib chen aufschlitzte und dann ihren zerfetzten, zuckenden Körper in die Meute warf. Hines mied zwar das Hinschauen, doch den schrecklichen Geräuschen konnte sie nicht entkommen – Bellen, Heulen, Knurren, Jaulen und das Wimmern der leidenden, sterbenden Tiere … »Werte, Cornelius«, verlangte der Professor. »Die Herzschlagrate hat gerade den höchsten Wert der Skala über schritten, Professor. Und die hohen Werte von Adrenalin, Epine phrin und Serotonin wollen Sie auch nicht wissen. Ein unheimlich hohes Stresslevel. Er könnte ausbrennen.« »Ist das wahrscheinlich?«, fragte der Professor besorgt. »Ich weiß es nicht«, antwortete Cornelius wahrheitsgemäß. »Wenn man die Stoffwechselwerte für sich nimmt … an denen ist nichts Menschliches. Und die Verletzungen, die er bereits erlitten hat …« »Diese Verletzungen haben Logan bisher nicht langsamer werden lassen«, bemerkte MacKenzie. Eine halbes Dutzend toter Wölfe lag hingestreckt auf der Erde. Andere taten einen letzten, dampfenden Atemzug. Ein paar wenige wanden sich im glitschigen Matsch, schleppten sich trotz gebro chener Gliedmaßen durch den Schnee, den ihre heraushängenden Eingeweide gelb, braun und rot färbten. Dann erschallte ein unterdrücktes Heulen, als Logan das AlphaWeibchen mit den Klauen seiner linken Hand auf der Erde festhielt, während er das um sich schlagende Tier mit der Rechten in Stücke schnitt. Bei jedem einzelnen brutalen Hieb flogen Blut, Pelz- und Fleischstücke umher, ohne dass es zum tödlichen Hieb kam. Logan verlängerte die Qual des Tieres bewusst. »Er ist noch viel bestialischer als die Tiere, die er abschlachtet«, stellte Cornelius fest.
Der Professor strahlte. »Was für eine perfekte Wahl Logan doch war«, verkündete er mit selbstgefälliger Befriedigung. Und wie dumm von mir, am Director zu zweifeln. Carol Hines trat hinter die beiden. Ihr Blick hing wie gebannt am Bildschirm. »Professor, können wir das Ganze jetzt nicht beenden? Die Tiere retten, die noch da sind? Es ist doch nur ein sinnloses Ab schlachten.« Der Professor war von ihrem Vorschlag schockiert. »Ich denke nicht, Madam. Ich genieße das viel zu sehr. Sollen die Tiere sich doch selbst retten. Nur der Stärkste überlebt. So will es die brutale Natur.« »Professor, ich habe jetzt die Fluoreszenzanalyse und einen CATScan«, rief Dr. Hendry. »Möchten Sie sich die jetzt anschauen?« »Nennen Sie mir nur die Ergebnisse des Scans.« »Aktivität im linken präfrontalen Kortex …«, begann Dr. Ma cKenzie. »Ah ja, ich verstehe – der Teil des Gehirns, der Rache sucht«, warf der Professor ein. »Sie haben Recht, Professor«, erwiderte MacKenzie. »Es ist auch der Teil des Gehirns, der aktiv ist, wenn Menschen sich darauf vor bereiten, Hunger oder ein anderes Verlangen zu befriedigen. Hunger und Rachedurst sind eng miteinander verbunden – und scheinen verwandt zu sein.« »Und die Fluoreszenzanalyse?« »Auf dem Bildschirm«, sagte Hendry. Ein eckiger Ausschnitt der gewalttätigen Bilder auf dem Bild schirm fror ein und füllte dann den gesamten Monitor – Logans erhobener rechter Arm mit den ausgefahrenen Klauen. »Ja. Können Sie das festhalten?«, bat der Professor. Der Bildschirm leerte sich, dann erschien das gleiche Bild noch einmal – doch diesmal als Röntgenbild. Logans Klauen und Ada mantium-Knochen erschienen silberweiß; Gefäße, Sehnen und Mus
keln in Abstufungen verschiedener Grautöne. »Wir brauchen mehr Details«, beschwerte sich der Professor. »Schicken Sie das Ganze noch einmal über den Osteographen.« »Sekunde«, sagte Hendrys Assistent. Das Bild verschwamm. »Es ist mir egal, welche Hand angezeigt wird«, wies der Professor an. Plötzlich füllte das Bild von Logans klauenbewehrter rechter Hand den Bildschirm. Die Knochen erschienen immer noch silberweiß, aber Nerven, Adern, Sehnen wiesen alle unterschiedliche Farbtöne auf. Das Bild war dreidimensional, und während sie es betrachteten, veränderte Dr. Hendry die Perspektive, sodass man die Anatomie aus jedem denkbaren Winkel betrachten konnte. »Sehen Sie sich das an«, rief der Professor. »Die perfekte Synthese aus menschlicher Knochenmasse und Adamantium. Knochen, die mit dem härtesten Metall der Welt verbunden sind, im Körper eines Berserkers.« Der Professor trat auf den Bildschirm zu, als wolle er das Bild um armen. »Logan, die Waffe X. Die perfekte Kampfmaschine. Die perfekte Killermaschine!« Dr. Hendry unterbrach den Jubel des Professors. »Ich erkenne eine starke Überdrehung des Mittelhandknochens. Das könnte der Grund für die Schmerzen der Versuchsperson beim Ausfahren der Klauen sein, wie sie Dr. Cornelius angedeutet hat.« »Wie kommt das?« Carol Hines stellte die Frage. »Die Adamantium-Fortsätze scheinen ihm Beschwerden zu ver ursachen, wenn sie in Betrieb gesetzt werden«, erklärte Hendry ihr. »Ein Teil wird zweifellos durch den Schaden hervorgerufen, den die Adamantium-Prothesen verursachen, wenn sie sich durch seine Haut bohren, aber vielleicht verspürt er auch ein allgemeines Un wohlsein, wie es bei einem Kind festzustellen ist, das zahnt.« Der Professor sah Hendry an. »Sie werden das noch weiter unter suchen?«
»Ja, Professor.« »Gut. Dann bringen Sie uns jetzt aufs Schlachtfeld zurück.« Ein Piepser ertönte, und das Bild verschwand, um wieder auf die Aufzeichnung der Szene im blutigen Schnee zurückzuschalten. Auch der Ton war wieder da, obwohl das Geheul und die Schreie der Wölfe für immer verstummt waren. Logan stand mit weit gespreizten Beinen und ausgestreckten Ar men, von denen das Blut tropfte, im Mittelpunkt der blutigen Szene. »Programm vollständig«, verkündete Cornelius. »Wir scheinen all unsere Wölfe erledigt zu haben.« Carol Hines wandte sich vom Bildschirm ab. »Ein wahres Massaker. Prächtig. Diese Übung hätte nicht besser ablaufen können«, sagte der Professor. »Und man schaue sich Logan an! Ich glaube, er will noch mehr. Haben wir mehr?« »Nein«, sagte Ms. Hines angewidert. »Schade …« Dann hallte das lang gezogene Heulen eines Hundes durch das Labor. Ein angsteinflößender Laut, der den zivilisierten, gebildeten Wissenschaftlern und Forschern Schauer abergläubischer Furcht über den Rücken jagte. Ein wilder, animalischer Schrei – und doch irgendwie unheilvoll menschlich. Cornelius wirbelte zum Professor herum. »Gütiger Himmel. Er brüllt wie ein Tier.« »Aaah! Und Sie dachten, es sei nur Schmerz, der ihn zum Schreien brächte, Cornelius – aber nein.« Der Professor stand mit vor dem Gesicht geballten Fäusten da, während er Logans Bild auf dem Bild schirm anstarrte und den unterdrückten animalischen Lauten lauschte. »Die Wölfe würden aus Hunger oder vielleicht wegen des Reviers töten«, sagte der Professor, und dabei wurde seine Stimme immer lauter. »Aber dieser Mutant … diese lebende Waffe … ihn gelüstet es nach der Furcht seiner Beute. Der Geruch von Blut bereitet ihm
Genuss. Furcht ist der Schlüssel. Furcht ist das, was ihn vorantreibt.« Die schwülstige Rede des Professors endete genau wie das irr sinnige Geheul. Auf einen Schlag war es im Labor still. Der Professor drehte sich um und wandte sich diesmal an alle. »Trotz seiner anfänglichen Einwände, trotz seiner Auflehnung gegen uns, weiß ich, dass wir Logan eine große Gunst erwiesen haben«, erklärte der Professor. »Seine animalischen Bedürfnisse übersteigen seine kühnsten, primitiven Träume … Und das hat er natürlich uns zu verdanken.« Er wandte sich zu Cornelius um. »Sie können ihn jetzt abschalten, Doktor.« Cornelius kehrte an seine Konsole zurück, während Carol Hines wieder ihren Platz an der EMaM-Tastatur einnahm. Beide bereiteten ihre Systeme für die Abschaltung vor. Auf dem Bildschirm konnte man sehen, wie Logan auf die Knie fiel und leicht schwankte, als die Klauen in ihre Scheiden zurück glitten. Dann kippte er ohne einen Laut von sich zu geben mit dem Gesicht zuerst wie eine Marionette, deren Fäden durchtrennt worden waren, nach vorn in den blutigen Schnee. Seine Beine zuck ten wie im Todeskampf. Doch Logan warf sich in den Eingeweiden der Wölfe herum, bis er auf dem Rücken lag. »Wachen?«, sagte Cornelius über Funk. »Hier«, erwiderte Cutler. Seine Stimme klang angespannt, wegen dem, was sich gerade vor seinen Augen abgespielt hatte, während er im Bunker saß. »Bringen Sie Logan wieder rein.« Plötzlich trat der Professor vor. »Bitte widerrufen Sie den Befehl, Cornelius.« Cornelius fragte sich, warum man sich gerade über ihn hinwegge setzt hatte. Aber er hütete sich davor, den Befehl des Professors in Frage zu stellen. Es ist besser, wenn ich diplomatisch vorgehe. »Befehl
aufgehoben …« Dann drehte Cornelius sich um. »Verzeihung, Professor«, begann er. »Ich dachte, wir wären für heute mit allem durch.« »Sind wir auch.« »Und?« Der Professor wandte sich vom Bildschirm ab und ging auf den Ausgang zu. »Lassen Sie Logan über Nacht draußen«, rief er noch über die Schulter. »Mir gefällt der Gedanke, dass er in seinem eigenen Blut liegt. Er muss mit dem, was seinen Ruhm ausmacht, verschmelzen.« »Aber es sind fast minus dreißig Grad Celsius da draußen«, protestierte Cornelius. Der Wintertag war so kurz, dass die Sonne bereits wieder hinter den Bergen unterging. »Um so besser. Das wird ihn abhärten, nicht wahr?« Der Professor blieb an der Tür noch einmal stehen und drehte sich zu Cornelius um. »Sie können seine Vitalfunktionen doch von hier aus überwa chen, oder nicht?« »Ja, natürlich«, erwiderte Cornelius schwach. »Hervorragend. Dann haben wir ja heute viel geschafft. Ich wün sche allen noch einen schönen Abend.«
»Sie sind jetzt Gast der provisorischen Militärregierung. Obwohl Sie westliche Unterdrücker sind …« Der Professor hörte die barsche Stimme. Autoritär. Beharrlich. Voller Säbelrasseln. Stör mich jetzt nicht. Ich hab zu viel zu tun, um jetzt von alten Ge schichten abgelenkt zu werden. Er hatte die Nacht durchgearbeitet, und dann auch noch den ganzen Tag. Als es wieder Abend wurde, war er in seinen technolo gischen Bau zurückgekehrt, um sich durch unendliche Mengen von
Informationen zu arbeiten. Schlaf war ein Trugbild, eine ferne Oase, die keine Ruhe, keinen Frieden schenkte. Stattdessen saß er kerzengerade auf seinem Befehlsstuhl, wie er es seit endlosen Tagen tat. »Sobald die Befragung zu Ende ist, werden Sie beide entlassen. Weder Ihnen noch Ihrem Kind wird etwas passieren, so lange Sie … voll und ganz kooperieren.« Ärgerlich warf der Professor seine Brille auf die Konsole. Feine, rote Linien durchzogen das Weiß seiner Augen. Er rieb sie mit seinen langen, schlanken Fingern. Ich weiß, dass ich Recht habe … Furcht ist der Schlüssel. Kontrolliere Logans Furcht und du kontrollierst seine Aggression. Kon trolliere seine Aggression und du kontrollierst ihn. Und dann hast du die perfekte Killermaschine. Die perfekte Verteidigung … »Haben Sie keine Angst um Ihren Jungen … Er wird überleben, solange Sie uns zufrieden stellen. Ich habe gehört, dass er ziemlich intelligent sein soll, Ihr Sohn. Es wäre wirklich eine Schande, wenn ihm etwas zustieße … Ihnen beiden …« Verschwinden Sie. »Erst wenn ich von deiner Mutter das bekommen habe, was ich will, Junge. Erst wenn sie mich zufrieden gestellt hat …« Die Gesichter umgaben ihn wieder von allen Seiten, umringten ihn wie die Wölfe, die auf Logan losgegangen waren. Grausam. Wild. Bestialisch. Höhnisch. Und ein Gesicht, das unter allen hervortrat … Colonel Otumo. Mit acht war der Professor für sein Alter klein und zäh gewesen. Sein Vater war ein berühmter Epidemiologe, seine Mutter die Erbin eines Handelsimperiums in Vancouver. Sie waren nach Afrika ge reist, um Gutes zu tun, den Armen zu helfen, die Kranken zu heilen. Edle Gesinnung verschwendet an Wilde … Vater war irgendwo tief im Busch gewesen, um die Kinder eines
Stammes in irgendeinem abgelegenen Dorf zu impfen. Er und seine Mutter waren in der Hauptstadt geblieben, einer primitiven ehema ligen Kolonialstadt, die am Ufer eines schlammigen, afrikanischen Flusses errichtet worden war. Während sein Vater fort war, hatte ein Militärputsch das westafrikanische Land in ein blutiges Chaos ge stürzt. Bleich und verängstigt hatte er sich in jener Nacht an den Rock sei ner Mutter geklammert. Zitternd hatte er durch seine zu großen Brillengläser beobachtet, wie Panzer durch staubige Straßen rollten und Soldaten gegen unbewaffnete Männer und Frauen vorgingen. Er hörte Schüsse, sah Panik sich ausbreiten, roch brennende Reifen und den Gestank der von Fliegen bedeckten, aufgedunsenen Kör per, die in der tropischen Hitze verwesten. Mit dem Tageslicht kam das Standrecht. Polizei und Bürokraten des gestürzten Regimes wurden festgenommen und in ein Sport stadium getrieben. Erschießungskommandos arbeiteten den ganzen Tag und dann auch noch die Nacht hindurch. In jener zweiten Nacht beulte sich die dünne Tür des Hotels ein. Man hörte, wie schwere Stiefel auf Holzböden stampften, Schlösser aufgebrochen wurden, Dienstboten und Angestellte des Hotels ge schlagen und erschossen wurden. Er war in das Zimmer seiner Mut ter gelaufen, um sich in Sicherheit zu bringen. Colonel Otumo war bereits mit seinen Offizieren eingetroffen. Groß. Helle Uniform. Schneidig und geschniegelt. Ein Soldat. Vater hatte ihm immer gesagt, Soldaten wären wie Polizisten – Männer, denen man vertrauen könnte. Vor denen man Respekt hatte. Die da waren, um zu dienen und zu schützen. »Wo ist Ihr Ehemann, der westliche Arzt? … Diese Antwort reicht nicht … Warum sind Sie in unser Land gekommen? … Nein, das ist gelogen. Sie repräsentieren die kriminellen Interessen der nordame rikanischen Kolonialmächte. Es hat keinen Zweck, zu leugnen …« Anfangs hatten die Männer sich noch höflich und zivilisiert verhalten – vor allem Otumo, der Oxford-Bildung vorzuweisen
hatte, redegewandt war und sich gleichermaßen eloquent über William Blakes Gedichte, britische Geschichte, marxistische Ökono mie oder Foltermethoden unterhalten konnte. Doch nur zu bald war die freundliche Unterhaltung ins brutale Gegenteil umgeschlagen. Ein Achtjähriger hatte die Situation, die sich da vor seinen Augen abspielte, kaum begreifen können. Er wusste, dass die Soldaten grausam und laut waren, und dass seine Mutter Angst hatte und schluchzte. Als der Tag wieder in den Abend überging, nahmen die Soldaten seine Mutter mit. Sie küsste ihn zum Abschied und trug ihm auf tapfer zu sein … dass sie bald wieder für immer bei ihm sein würde. Weinend und schreiend hatte er versucht, ihr zu folgen, aber die Soldaten hatten gelacht und ihn mit ihren Gewehrkolben niederge schlagen. Danach hatte er auf dem Boden gelegen und gehört, wie aus einem anderen Teil des Gebäudes das Schluchzen seiner Mutter zu ihm drang. Schließlich hatte er ihre Schreie gehört, die die dunkle Nacht erfüllten. Währenddessen taten ihm die Soldaten … Dinge an. Dinge, die er nicht verstand. Sie taten Dinge mit seinem Körper, die so weh taten, dass er sich ganz tief in sich selbst zurückzog, bis er ganz weit weg war. Ganz allein in einer grenzenlosen Einöde. Das, was da geschah, konnte nicht geschehen, und so gab er vor, als würde er es durch ein Fernglas, eine Kamera oder durch die Augen eines anderen Menschen beobachten. Mit dem Morgen kam ein Windstoß und das Gedröhn von Rotor blättern. Die Hubschrauber sanken aus den hohen Wolken des afrikanischen Himmels herab. Männer in schwarzen Anzügen mit großen Gewehren schossen sich den Weg durchs Hotel frei. Der Sol dat, der über ihm saß, fuhr hoch, um zu fliehen, doch in dem Moment traf ihn eine Kugel ins Auge. Dann stürzten zum zweiten Mal innerhalb von vierundzwanzig Stunden Männer in den Raum. Ein Mann hob ihn vom Boden hoch. »Du bist jetzt in Sicherheit, Junge. Verstehst du mich? In Si
cherheit«, sagte er mit starkem, britischen Akzent. Der Mann nahm seine Kapuze ab. »Ich bin Soldat, mein Sohn. Ich bin hier, um deine Mutter und deinen Vater zu retten. Weißt du, wo sie sind?« Stumm zeigte er den Gang hinunter. Die Männer zogen schießend und Türen einschlagend durchs Gebäude. »Oh Gott«, keuchte einer. »Sie ist hier drin.« »Mutter!«, schrie er und stürzte sich durch den Gang. »Lasst ihn sie nicht sehen!« Aber er war viel zu entschlossen – wie ein kleines Tier quetschte er sich zwischen Giraffenbeinen hindurch – und sah sie hingestreckt auf dem Bett liegen, ehe einer ihn hochnahm und wegtrug. Im Hubschrauber saß er stumm auf seinem Platz und hörte zu, wie die britischen Soldaten über das Kommandonetz miteinander sprachen. »Warum haben sie ihr das angetan?«, flüsterte ein Soldat, als sie dachten, er würde nicht zuhören. »Warum haben sie die …« »Still! Der Junge«, zischte der Offizier. »Aber warum, Sir?« »Colonel Otumo nennt es Stammesrecht. Wenn seine Truppen einen gegnerischen Clan angreifen, dann … verstümmeln sie die Frauen in dieser Weise. So können sie nie wieder Kinder säugen oder noch mehr Kinder gebären …« »Was wird aus dem Jungen?« »Wir haben seinen Vater im Busch gefunden. Er wird später hier eintreffen. Ich nehme an, dass sie nach Kanada zurückkehren werden … es gibt keinen Grund für sie, hier zu bleiben.« Als er seinen Vater an jenem Tag sah, sagte er kein Wort. Als sie nach Kanada zurückflogen, sprach er nicht. Als er neun wurde, be mühte sein Vater sich schließlich um professionelle Hilfe. »Trotz des schrecklichen Traumas zeigt Ihr Sohn einen phänome nalen Intellekt. Er ist ein perfekter Kandidat für unsere Schule. Er ist
brillant, sein IQ gehört mit zum oberen Prozent und er ist genau im richtigen Alter, um sich Wissen ohne jede Anstrengung anzu eignen.« »Ich will nur das Beste für meinen Sohn … Er hat so viel durchge macht.« »In unserer Schule wird Ihr Sohn von Gleichgesinnten umgeben sein. Jungen von sanfter, akademischer Wesensart, die seine … In tensität verstehen werden. Das Trauma, das er erlebt hat.« Und so verfrachtete sein Vater ihn in ein Internat und heiratete sei ne Krankenschwester. In der Schule vermisste er seine Mutter, er malte Bilder von Solda ten, hängte sie über seinem Bett wie Talismane auf, um das Böse abzuwehren, hängte sie sogar an die Decke über seinem Bett. Wenn er nachts wach lag, sagte er sich, dass er eines Tages seinen eigenen Soldaten haben würde, der ihn vor allem Schlechten schützen würde. Als er größer wurde, verstärkte sich sein zurückhaltendes Wesen. Er stotterte. Er hatte vor allem Angst. Er zeigte einen Hang zu ge walttätigem Verhalten. Sein Vater fand ein anderes Internat für ihn, in das er mit vierzehn kam. Doch in der neuen Schule war man weniger … zuvorkom mend. »Großhirn, stottere für uns. Ka-ka-kannst du das t-t-tun?« Meine Peiniger. Ein Haufen Spötter in meinem Alter, die mich quälten. Schließlich traf ihn einer der älteren Jungen eines Tages allein in einem leeren Klassenraum an und berührte ihn nur. »Mein Gott. Die Polizei in der Bedford Wissenschaftsakademie! Welch eine Schande«, sagte Dekan Stanton zu seinem Vater. »Der arme Junge. Was hat mein Sohn ihm angetan?« Was ich ihm angetan habe? Ich nahm das Skalpell, das ich zum AUF SCHNEIDEN EINES IN FORMALDEHYD EINGELEGTEN FRO SCHES BENUTZT HATTE UND HACKTE IHM DAMIT INS
GESICHT – IMMER WIEDER. UND ALS ICH FERTIG WAR, SAH ICH UNTER ALL DEM BLUT, WAS ICH GETAN HATTE … WAS ICH MIT Colonel Otumos Gesicht hatte tun wollen. »Sie verstehen doch, Doktor, dass wir die ganze Sache vertuschen müssen. Der Ruf der Schule darf nicht in Mitleidenschaft gezogen werden.« »Aber das Opfer …« »Sein Vater wird es verstehen. Er ist selbst Akademiker und kennt sich mit der Schultradition aus. Aber wir müssen Ihren Sohn weg schicken – vielleicht an eine Schule in der Schweiz. Nach Bedford kann er auf keinen Fall zurückkehren. Wir können nicht zulassen, dass dieser Vorfall unser Ansehen schädigt.« »Aber was ist mit dem Opfer?« »Die Familie wird natürlich eine finanzielle Regelung verlangen. Aber ich bin mir sicher, mit dem Vermögen Ihrer Frau …« »Dem Vermögen meiner verstorbenen Frau.« »Natürlich. Ihr Vermögen wird die Ausgaben bestimmt decken.« Ich setzte meine Ausbildung unbeschadet fort. Ich hatte das Geheimnis entdeckt … den Schlüssel zur Kontrolle von Menschen. Furcht war der Schlüssel. Mit Waffe X, dem ultimativen Soldaten, halte ich den Schlüssel in meiner Hand.
»Es hat mir nicht gefallen, die ganze gottverdammte Nacht in diesem eisigen Bunker zu verbringen. Das ist mal sicher«, sagte Lynch wohl zum hundersten Mal. »Ach, Lynch, hören Sie schon auf. Ich bekomme ja Kopf schmerzen«, sagte Franks, der bereits fertig angezogen war. Aber Lynch hörte nicht auf. Er redete weiter und rieb sich den knurrenden Magen. »Stellen Sie sich das mal vor, Cutler: Drei
Schichten – das bedeutet das Zweieinhalbfache für die letzte AchtStunden-Schicht. Ich kann es gar nicht abwarten, Deavers Gesicht zu sehen, wenn ich ihm die Überstundenabrechnung vorlege.« Cutler hatte seit dem Morgengrauen sein Bestes getan, Lynch zu ignorieren, aber er war auch nur ein Mensch. »Sparen Sie sich das noch auf. Vielleicht müssen wir ja auch noch den ganzen Tag und die ganze nächste Nacht hier verbringen. Das bedeutet, kein Früh stück und kein Mittagessen – und für Sie keine Chipstüte.« »Denken Sie noch nicht einmal daran, Cutler.« Seine Stimme stieg um eine Oktave an. Cutler hatte schon den Verdacht gehabt, dass Lynch halb am Durchdrehen war, ehe sie im Bunker festgesetzt worden waren. Jetzt war er sich sicher, dass Lynch allmählich die Kontrolle über sich verlor. Das kann ich ihm noch nicht einmal vorwerfen. Nachdem man jetzt seit zwanzig Stunden in diesem Bunker festsitzt und darauf wartet, dass diese Eierköpfe endlich entscheiden, was getan werden soll. »Nun verstecken Sie Ihr geliebtes Junkfood mal nicht unter der Unterwäsche, Lynch«, sagte Cutler. »Wenn Sie noch Leckereien haben, können Sie sich doch jederzeit nach draußen wagen. Los doch, gehen Sie einfach an ihm vorbei zum Zaun. Zum Teufel, Lo gan wacht wahrscheinlich noch nicht einmal auf.« Lynch ließ sich auf die Bank plumpsen, auf der er den größten Teil der Nacht verbracht hatte. »Ich mag vielleicht Hunger haben, aber ich bin nicht verrückt, Cutler. In der Sparte weisen Sie eine viel grö ßere Begabung auf.« Cutler kehrte Lynch den Rücken zu, um durch die schmalen Seh schlitze zu schauen. Logan hatte die ganze Nacht im gefroren Blut gelegen, während die Wolfskadaver um ihn herum allmählich steif wurden. Soweit er das beurteilen konnte, war Subject X tot. Ein Segen, nach allem, was ich gesehen habe … Cutler war immer noch dabei, die sinnlose Szene, deren Zeuge er geworden war, in Gedanken zu verarbeiten. Er konnte sich nicht vorstellen, was dieses Abschlachten mit Forschung, mit Wissen zu
tun hatte – mit der Erschaffung der perfekten Waffe. Das war kein Experiment gewesen. Das hatte eher etwas mit einer Gräueltat, mit einem Massaker zu tun gehabt. Ein blutiges Schau spiel, das an eine Bärenhatz, an Stierkampf oder eine Hetzjagd er innert hatte – aber nicht an Wissenschaft. Franks musterte Cutler. Auf seinem jungen Gesicht lag ein neugie riger Ausdruck. »War er schon so, als Sie ihn herbrachten?« »Wer?« Franks machte eine Geste mit dem Kinn. »Logan. Waffe X. Es heißt, Sie und Erdman und noch ein Mann hätten ihn hergebracht. Dass er ein gesuchter Verbrecher oder so was Ähnliches war – über haupt kein Freiwilliger.« Cutler sah keinen Anlass, warum er lügen sollte. »Er war ein harter Brocken. Hat mir das hier verpasst …« Er deutete auf die Narbe, die seine Augenbraue durchschnitt und sich auf der Stirn fortsetzte. »Aber das musste wohl so kommen, wenn ich sehe, was sie ihm bis jetzt angetan haben.« Die Gegensprechanlage summte, und die Kommunikationskonso le schaltete sich ein. Einer der Techniker erhob sich aus seiner Ecke, in der er sich zusammengerollt hatte, und stieß seinen Freund an. Gähnend krabbelten beide auf ihre Plätze und legten ein paar Schalter um. Lynch stieß Franks an. »Es ist so weit, Kid. Wir gehen heim.« Knackend »Wachen?«
erwachte
die
Gegensprechanlage
zum
Leben.
»Cutler hier.« »Ich bin's, Cornelius. Bringen Sie ihn rein.« Lynch klatschte sich auf die Knie und begann sich anzuziehen. Franks und Cutler setzten ihre Helme auf. Ehe sie hinausgingen, überprüfte Cutler noch einmal den Ladestand des Elektrostabes. »Fertig?«, fragte Cutler von der Luke aus. Franks nickte mit erns ter Miene. Lynch umklammerte das Betäubungsgewehr. »Auf
geht's«, brummte er. Cutler öffnete den Riegel und trat nach draußen. Die Kälte traf ihn wie ein Faustschlag und der Wind heulte laut – drinnen hatte er gar nicht bemerkt, dass es stürmte. Franks trat als nächster nach draußen, und Lynch bildete die Nachhut, nachdem er die Luke hinter sich wieder verschlossen hatte. Die Techniker, die im Bunker blieben, schienen kaum zu be merken, dass sie gegangen waren. »Bleiben Sie etwa fünfzehn Schritt zurück, Lynch. Franks und ich werden uns ihm von beiden Seiten nähern.« »Verstanden, Sir.« Es war ein trüber Morgen, die Berge waren dunstig verhüllt. Als sie über die schneebedeckte Fläche gingen, knackte der Raureif un ter ihren schweren Stiefeln. »Himmel, sehen Sie sich das an«, flüsterte Franks. Er starrte etwas Rotes und Blutiges an, das im Schnee lag. Cutler weigerte sich hin zuschauen. Die Wölfe waren alle tot, ihre Kadaver steif gefroren. Erstarrtes Blut, glatt wie weinfarbenes Glas, bildete einen rutschigen Untergrund. Franks glitt aus, und Cutler warf ihm einen ärgerlichen Blick zu. »Keine plötzlichen Bewegungen«, brüllte er. Doch Cutler sprang gleich darauf selbst fast jäh zurück, als er Lo gans offene Augen sah. Sie waren auf den Himmel gerichtet, als würde er die Wolken betrachten. Franks und Cutler postierten sich auf beiden Seiten von ihm. Cutler hielt die Kontrollspitzen über die magnetischen Klammern in Logans Schläfen. Dann drückte er auf den Knopf. Die magne tischen Verschlüsse rasteten so laut ein, dass man es trotz des Heu len des Windes hören konnte. Er zog sachte, als würde er Zügel in der Hand halten, und Logan setzte sich auf, um sich dann auf die Knie zu hocken. Wie es das Protokoll vorschrieb, hob er daraufhin den Stab und führte ihn über den Kopf hinweg, wobei er um die Versuchsperson herumging.
Als Logan schließlich taumelnd hochkam, trat Franks mit der Leine vor und legte sie um den Hals des Mutanten. Logan blinzelte noch nicht einmal. Als Vorsichtsmaßnahme hielt Lynch das Betäu bungsgewehr immer noch auf seinen Rücken gerichtet. Cutler stieß Logan an, was den Mutanten dazu veranlasste, vor wärts zu torkeln. Er schlurfte auf den Pferch und den unterirdischen Fahrstuhl dahinter zu.
DREIZEHN Golem
»Dr. Cornelius, Sir? Entschuldigen Sie, wenn ich störe …« Der erstaunte Techniker stand mit einem Stapel Akten auf dem Arm da und starrten in stummen Entsetzen auf den zu sammengeflickten Mann, der hingestreckt auf dem Operationstisch aus Stahl lag. »Wie? Ich kann Sie nicht hören.« Cornelius schüttelte den Kopf und klopfte sich gegen die Kombination aus Maske und Visier, durch die sein Gehör beeinträchtigt war. Als der Techniker her eingekommen war, hatte der Arzt umringt von mehreren Assis tenten über Logan gebeugt dagestanden, während sein Gesicht nur ein paar Zentimeter von der Versuchsperson entfernt war. »Ich sagte, ›Entschuldigen Sie, wenn ich störe‹«, wiederholte der Techniker diesmal lauter. »Dr. Hendry wollte, dass Sie die Ergeb nisse der gestrigen Gehirnangiographie sowie die Werte des Blut gastests aus dem Diagnoselabor bekommen.« Cornelius hielt mit dem Skalpell in der Hand inne, wobei er jedoch kaum von seiner Arbeit aufschaute. »Großartig. Äh, legen Sie es einfach auf den Haufen da«, murmelte er. »Sir, äh, Dr. Hendry wollte, dass ich Ihnen sage …« »Wenn Sie nur ganz kurz warten könnten«, sagte Cornelius. Der Techniker sah zu, als der Arzt das Skalpell in den Winkel von Logans rechtem Auge bohrte und dann bis unten zur Nase einen Schnitt ausführte. Cornelius sprang zurück, als ein Strahl schwarzen Blutes fast auf sein Visier gespritzt wäre. Die klaffende Wunde ging bis auf den Knochen.
Als das Blut aus der Wunde sprudelte und eine Lache auf der gelben, rostfreien Oberfläche des Operationstisches bildete, legte ein Assistent, der einen mit Blutspritzern übersäten Kittel trug, einen kleinen Diamantbohrer in Cornelius' Hand. Mit Hilfe eines an der Decke angebrachten chirurgischen Beobach tungsgeräts, welches einen Laserpunkt projizierte, bestimmte Cor nelius den Eintrittspunkt. Er schaltete den Bohrer ein und bohrte gleich unter dem Auge ein kleines Loch in den freigelegten Schädel der Versuchsperson. Knochensplitter flogen durch die Luft und blieben an Cornelius' Visier kleben. Während ein Sirren wie beim Zahnarzt den Raum erfüllte, rollte eine leicht rosa gefärbte Träne über Logans Wange nach unten. Ein Assistent wischte sie schnell mit einem Wattebausch weg. »Vorsicht, Dr. Cornelius«, warnte Carol Hines, die ein paar Schritte entfernt am CAT-Scan-Monitor saß. »Nicht tiefer als zwei Millimeter in die Schädeldecke bohren, sonst besteht die Gefahr, dass Sie Nervenbahnen treffen.« »Fertig.« Cornelius trat zurück und schaltete das Gerät ab. Er legte den Bohrer beiseite und sah den Techniker an. »Sie hatten eine Frage?« Der Techniker nickte. »Dr. Hendry möchte gern wissen, ob Sie den Blutanomalietest bis nach Beendigung dieser Phase des Experiments verschieben könnten. Er sagt, dass er seit der völligen Absperrung nur begrenzt Leute hat, und der Hämatologe sei jetzt bereits seit drei Tagen beschäftigt …« »Ich weiß, wie lange er schon beschäftigt ist«, fuhr Cornelius ihn an. »Ich habe auch keine Lust mehr, ständig auf die Ergebnisse dieses ›Experten‹ warten zu müssen. Was meint Hendry also damit?« »Er … Dr. Hendry sagte, dass er den Hämatologen für seine eigene Arbeit brauchen würde. Er meinte, wenn Sie dem Spezialis ten sagen könnten, wonach Sie suchen, würde die Arbeit vielleicht schneller gehen.«
Während er sprach, hing der Blick des jungen Technikers die ganze Zeit an Subject X. »Wenn ich wüsste, wonach ich suche, hätte ich es längst selbst ge funden!« antwortete Cornelius hitzig. »Sir? Soll ich Dr. Hendry das sagen?« »Nein. Sagen Sie Dr. Hendry, dass er und seine Mitarbeiter nicht dafür da sind, meine Wünsche in Frage zu stellen, sondern um sie zu erfüllen. Sagen Sie ihm, dass er nicht vergessen sollte, wer hier die Verantwortung trägt.« Während der Techniker das Labor verließ, wandte sich Cornelius wütend wieder seiner Arbeit zu. Er griff nach einem langen Kupfer röhrchen, das ihm sein Assistent hinhielt. Dann sah er zu Carol Hin es. »Fertig?« »Fertig«, erwiderte sie, während sie den Winkel des Echtzeit hirnscans einstellte. »Das ist gut, Ms. Hines. Dieses Bild halten.« Cornelius' Blick war auf einen in die Wand eingelassenen Monitor gerichtet. »Ich kann die Nervenbahnen ganz deutlich sehen.« Er beugte sich wieder über Logan und schob das lange, nadel ähnliche Röhrchen mit einem einzigen sanften Stoß durch das ge rade gebohrte Loch in das Gehirn von Subject X. Cornelius trat zurück, als der Assistent mit einem Teflonfaden kam, um das Fleisch um das herausragende Rohr zu vernähen. Als das erledigt war, riss Cornelius sich die verschwitzte Maske vom Gesicht. Im Gegensatz zu seinen zwei Assistenten, die von Kopf bis Fuß in weiße Laborkleidung gehüllt waren, trug Cornelius nur eine blutige Chirurgenschürze über Hemd, Weste und Krawatte. Da durch hatte er das Gefühl, gerade einem viktorianischen Roman ent sprungen zu sein – und er selbst einem leichenschändenden Lon doner Arzt oder einem Schlachter aus dem East-End zu ähneln … »Nähen Sie ihn zusammen«, rief Cornelius seinem Assistenten noch über die Schulter zu. »Ich bin in einer Viertelstunde zurück.«
Im Gehen griff Cornelius sich noch die neuen Akten vom wacke ligen Stapel und hinterließ dabei einen blutigen Fingerabdruck auf dem Deckblatt. Er wischte sich seine klebrigen Hände an der Schürze ab und ging dann ins angrenzende Labor, wo er die Akten auf einen freien Tisch warf, um sich dann die Hände am Spülbecken zu waschen. Irgendwo im hinteren Teil seines Bewusstseins war Dr. med. Abraham B. Cornelius von der schlampigen Art, in der er die Opera tion durchgeführt hatte, angewidert. Er hatte doch tatsächlich ohne Anästhesie, ohne sterile Werkzeuge und ohne auf sterile Be dingungen zu achten operiert. Er bezweifelte, ob er überhaupt daran gedacht hatte, sich die Hände nach dem Frühstück zu waschen. Ich lege eindeutig mittelalterliche Methoden an den Tag, dachte er, aber am Ende spielt das wirklich keine Rolle. Sepsis hat keine größere Aus wirkung auf Logan als ein Mückenstich. In den vergangenen Wochen, als der Professor Cornelius und Hin es zu schnelleren Resultaten gedrängt hatte, war Cornelius ge zwungen gewesen, einige Verfahren abzukürzen. Eine der ersten Vorschriften, um die er sich nicht mehr gekümmert hatte, waren ste rile Laborbedingungen gewesen. Für solche Vorsichtsmaßnahmen werden einfach zu viele Operationen durchgeführt. Zwei diese Woche, drei in der letzten – und dabei zähle ich kleinere Eingriffe wie den, den ich gerade vorgenommen habe, gar nicht mit. Die Konditionierung und Neuprogrammierung von Waffe X waren außerdem nicht Cornelius' einziges Ziel. Er hatte sich dazu entschlossen, seine eigene kleine, private Forschung durchzuführen und das geheimnisvolle Selbstheilungsvermögen von Logans Blut zu entschlüsseln. Aber als er den letzten Bericht durchblätterte, stellte er fest, dass der Hämatologe bei der Erklärung der ›ungewöhnlichen Strukturen‹ oder den ›seltsamen Proteinen‹ in Logans Blut noch nicht weiter war als vor acht Tagen.
Das Elektronenmikroskop würde vielleicht weiterhelfen, aber Hendry hatte das Gerät mit Beschlag belegt. Ich bin mir sicher, dass er mich aus reiner Gehässigkeit von seinem kostbaren Spielzeug fernhält. Cornelius schlug die Akten zu und schob sie beiseite. Er wusste, dass er noch weniger Zeit haben würde, sich der Erforschung von Logans außergewöhnlichem Immunsystem zu widmen, wenn erst die Konditionierungsversuche begannen. Die Ausführung der Auf gaben, die ihm vom Professor übertragen wurden, beanspruchte fast seine gesamte Zeit. Vielleicht kann ich ja ein bisschen Zeit für mich selbst abzwacken und mich der wahren Arbeit mit Subject X widmen, der Sache, für die Logan wirklich erschaffen wurde … wenn dieses absurde Waffe X-Programm wieder planmäßig verläuft und der Professor Subject X zu seiner handeln den, wandelnden Killermarionette gemacht hat. Über die Lautsprecheranlage ertönte ein mit leiser Stimme gespro chener Befehl, der seine verzweifelten Gedanken unterbrach. »Dr. Cornelius, bitte melden Sie sich umgehend in Labor Sieben …«
»He, Rice! Wo wollen Sie hin?« Der Kommunikationstechniker Rice wirbelte herum und sah einen Mann, der sich ihm vom anderen Ende des Ganges, der im Dunkeln lag, näherte. »Sind Sie das, Cut?« Einen Augenblick später trat Cutler aus dem Schatten. Rice er kannte ihn und entspannte sich sichtlich. »Sie sehen so aus, als hätte Ihnen jemand einen Schrecken einge jagt, Rice. Was haben Sie vor? Fühlen Sie sich schuldig?« Rice schüttelte den Kopf. »Ich dachte erst, Sie wären der Professor. Das ist alles. Der treibt uns jetzt seit einer ganzen Woche an. Ich habe das Gefühl, der Typ schläft nie. Und wegen des großen Fern steuerungstests morgen arbeitet die ganze Kommunikationsabtei
lung in Doppelschichten, damit die Technologie auch richtig läuft. Mann, die Arbeit nervt.« »He, Ihre gute Laune vermissen wir unten in der Sicherheit«, er widerte Cutler. Während er sprach, entdeckte Cutler eine Stelle an der Stahlwand und hieb mit der Faust darauf. Das Licht sprang an und es war plötzlich so hell, dass beide Männer blinzeln mussten. »Eine Zwei-Milliarden-Dollar-Anlage, und das Licht funktioniert nicht«, sagte Rice. »Diese Bruchbude fällt bald auseinander.« »Haben Sie Anderson gesehen?« »Ja, heute Morgen, mit Subject X.« »Aha, das hatte ich mir schon gedacht«, antwortete Cutler. »Ich wollte Subject X für das Experiment um 0800 vorbereiten und stellte fest, dass seine Zelle leer war.« »Doc Cornelius rief um 0430 nach ihm. Anderson hatte gerade Dienst und brachte Logan selbst ins Labor.« »Und das ohne ausreichende Unterstützung. Außerdem hat Anderson die Verlegung nicht in der Liste oder im Dienstplan ein getragen. Das sind drei Protokollverletzungen auf einmal. Und um das Ganze noch schlimmer zu machen – bis ich Sie getroffen habe, hatte ich noch nicht einmal eine Ahnung, wo Logan sein könnte. Was sagt das über meine Eignung als Sicherheitschef aus?« Rice kicherte. »Da sind Sie wohl so gut wie der letzte Sicherheits chef.« »Lassen Sie das Deavers bloß nie zu Ohren kommen. Ich bin nur seine zweite Wahl.« »Himmel, Cut, ich hätte Sie überhaupt nicht ausgewählt.«
Der Professor betrat das Labor um 0759. Er trug einen weißen, ge stärkten Laborkittel über seinem taillierten Anzug und unter seinem Arm steckte ein Klemmbrett. Voll entspanntem Selbstvertrauen trat er an den Operationstisch.
»Wie kommen wir woran, Dr. Cornelius?« »Die Vorbereitungen am Rückgrat sind getroffen«, berichtete Cor nelius. »Jetzt müssen nur noch die Sensoren eingesetzt werden.« Der Professor sah auf die bewusstlose Versuchsperson hinunter. Logan lag flach auf dem höhenverstellbaren Operationstisch. Die Röhren, die Cornelius ins Gehirn von Subject X eingesetzt hatte, waren jetzt mit großen Einspeisekästen verbunden. Die Geräte hin gen von Logans Wangen unter den Augen herunter, die mit Chir urgengarn zugenäht worden waren. Ganze Bündel von fiber optischen Kabeln durchzogen die Haut der Versuchsperson an den Stellen, wo Logans wichtige Nervenbahnen zusammenliefen. Seine Unterarme waren nach oben gewandt und steckten mit ge öffneten Händen in Verschlüssen. In jeden Finger waren lange elektromedizinische Sonden eingebettet, die wie Antennen in die Luft ragten. Dünne fiberoptische Kabel verliefen wie ein zartes Ge spinst zwischen seinen Fingern, und dickere Kabelbündel, die mit Teflon umhüllt waren, schlängelten sich wie künstliche Adern durch die Muskeln seiner Unterarme. Weitere Kabel wurden von einer Gruppe von Technikern, die von mehreren Stabsärzten aus Dr. Hendrys Team überwacht wurden, an Logans Füßen, Knöcheln und in seinen Kniekehlen angebracht. Elektriker und Kommunikationsspezialisten bereiteten eine dreißig Pfund schwere Batterie vor und steckten sie auf einen kyberne tischen Helm aus Stahl, der drahtlos mit Carol Hines Enzephalo graphischem Manifestations-Monitor verbunden war. Der Professor klopfte auf den Mikrowellenempfänger, der an einem dicken Kabelbündel hing, welches mit dem unteren Ende von Logans Rückgrat verbunden war. »Und wie ist die Verteilung des Signals? Welche Reichweite haben wir?«, fragte er. »Ungefähr einen Radius von fünf Kilometern, Sir«, erwiderte Cor nelius. Der Professor runzelte die Stirn. »Das ist aber sehr eingeschränkt,
Doktor. Können Sie mir denn nicht mehr bieten?« »Professor, wenn man eine Marionette will, braucht man Fäden.« An Cornelius' Tonfall war deutlich zu erkennen, dass er die Phase des Experiments, bei der es um Fernsteuerung ging, für eine Verschwendung von Zeit und Energie hielt. Der unzufriedene Gesichtsausdruck des Professors verstärkte sich. »Ja … das stimmt. Ich will eine Marionette, wie Sie es auszudrücken belieben. Aber meine Planung sah ausdrücklich einen Radius von mindestens zwanzig Kilometern vor.« Cornelius nickte ungeduldig. »Das weiß ich. Aber die Batterien sind einfach zu schwer. Ich weiß überhaupt nicht, warum wir nicht beim Ein- und Ausschaltsystem geblieben sind. Da hätte das Ge wicht keine Rolle gespielt, weil wir dabei keine Batterien gebraucht hätten.« Der Professor richtete seinen kalten Blick auf seinen Kollegen. »Es wird auf meine Art gemacht, Cornelius. Ich will einen Radius von zwanzig Kilometern.« Einen Augenblick lang erwiderte Cornelius den Blick des Professors, dann gab er nach. »Okay. Laden Sie ihn voll. Ist mir doch egal. Sie können ihn in eine wandelnde Funkstation verwandeln, wenn Sie wollen.« Als Carol Hines den hitzigen Wortwechsel hörte, schaute sie von ihrem Terminal auf, um dann jedoch schnell wieder den Blick abzu wenden. »Es wurde zur Kenntnis genommen, dass Sie anderer Meinung sind, Dr. Cornelius. Aber wir wollen uns doch nicht aufregen, hm?« Der Ton des Professors triefte vor Gönnerhaftigkeit. Cornelius' Aufmerksamkeit richtete sich auf etwas anderes. »Diese Spangen halten die Schnitte nur eine bestimmte Zeit offen«, fuhr er ein Mitglied des Chirurgenteams barsch an. Der Techniker, dessen Gesicht mit einer Maske bedeckt war, nick te. »Ja, Doktor. Das sehe ich. Das Fleisch wölbt sich hier schon um
die Klammern.« »Dann arbeiten Sie schneller, Mann.« »Irgendwelche Probleme, Ms. Hines?«, fragte der Professor. »Der Computer zeigt ein Leck an, das Samen und Mark in intrazel luläre Flüssigkeiten strömen lässt.« Einer der Chirurgen fluchte. »Sie haben den Computer gehört«, sagte er zu einem Techniker. »Er läuft aus. Stopfen Sie diese Löcher und gehen Sie ein bisschen bedachter vor.« Einer der Chirurgen löste Logans Hand und legte sie flach auf den Tisch. »Ich brauche ein kurzes Stück fiberoptisches Kabel für die rechte Hand«, rief er. »Fiberoptisches Kabel, rechte Hand auf Neun«, erwiderte sein Assistent. Plötzlich stöhnte Logan. »Gütiger Gott, er kommt zu sich!«, schrie der Professor. »Werden Sie nicht nervös, Professor«, entgegnete Cornelius. »Wir müssen ihn in einem Schwebezustand halten, damit wir den Fluss in seinem Nervensystem verfolgen können. Wäre er ohnmächtig, würden einige wichtige Synapsen keine elektrischen Impulse von sich geben.« Der Professor wurde deutlich blasser. »Wollen Sie damit sagen, dass er bei Bewusstsein ist?« Logan stöhnte wieder, wobei sein Kopf auf die andere Seite rollte. »Ja, teilweise«, erklärte Cornelius. »Vielleicht ist er ein wenig zu wach. Geben Sie ihm sicherheitshalber weitere zwei Millimeter Phe no-B.« »Ja, Doktor«, antwortete ein Chirurg. Einen Augenblick später schob der Mann eine Nadel subkutan in Logans Halsschlagader. Auf einmal schien das Interesse des Professors geweckt. »Logan kann also spüren, was wir mit ihm machen, was?« Cornelius nickte mit grimmiger Miene. »Das meiste davon ja. Es
gefällt mir nicht, aber man kann nichts daran ändern. Natürlich wird Ms. Hines bald alle Erinnerungen an diese … Prozedur aus Lo gans Geist löschen. Aber im Moment … Tja, der arme Kerl leidet große Schmerzen.« Wie um Cornelius' Worte zu betonen, stöhnte Logan zweimal laut auf und es klang fast schon wie ein Schmerzensschrei. »Schmerz ist ein Grundpfeiler des Lebens, Dr. Cornelius«, erklärte der Professor. »Das bedeutet jedoch nicht, dass ich diese Maxime völlig gutheiße.« »Natürlich nicht«, murmelte Cornelius, während er diesen Aspekt seiner Arbeit zu verdrängen versuchte. Doch Logan ließ nicht zu, dass Cornelius seine Qual vergaß. Der Kopf der Versuchsperson be wegte sich von einer Seite auf die andere, während das Stöhnen nicht aufhören wollte. »Noch mal vier Millimeter Pheno-B«, befahl Cornelius. »Und ver suchen Sie ihn daran zu hindern, sich zu bewegen, sonst beschädigt er noch eine der empfindlichen Verbindungen.« Subject X begann sich schwach gegen die Klammern, die ihn hielten, zu wehren. Sein Kopf rollte zur Seite und sein Mund öffnete sich. Logan würgte, dann gab er seinen Mageninhalt von sich. Erst spritzte grüne Galle auf den Tisch, danach blutiger Speichel. »Werte, Hines?«, rief Cornelius. »Monitor für den sensorischen Kortex ist überlastet, Doktor. Es gibt keine Werte.« »Gütiger Gott … Schmerz jenseits des messbaren Bereichs.« Cor nelius beugte sich über Logans Kopf und murmelte. »Der arme Mistkerl ist endlich ohnmächtig. Ich hoffe, er findet ein wenig Frie den in seinen Träumen.«
Mistkerl … Ein wenig Frieden in seinen Träumen. Logan hörte die Stimme, als spräche jemand direkt neben seinem
Ohr. Er öffnete die Augen, aber der einzige Mensch, der gesprochen haben könnte, lag zusammengerollt neben ihm auf den Pinien zweigen und schlief tief und fest. Konnten das die Nordkoreaner sein, die sie jagten? Lieber nachschauen. Er erhob sich langsam und versuchte Miko dabei nicht zu stören. Dann kroch er zum Hütteneingang und sah nach draußen. Der Himmel war klar und wolkenlos. Die Strahlen der Spätnachmittags sonne drangen durch die dichten Pinien und bildeten schlanke Säu len aus gelbem und orangefarbenem Licht. Hie und da sangen Vögel in den Bäumen. Eine flüchtige Brise ließ die Zweige rauschen. An sonsten herrschte Stille in der sich herabsenkenden Dämmerung. Ich bin wohl allmählich am Zusammenbrechen … ich höre während des ganzen Einsatzes Stimmen … Dann als Logan angespannt lauschte, vernahm er ein anderes Ge räusch – den Klang von Motoren in der Ferne, der durch die Bäume gedämpft wurde. Er zog sich in den Unterstand zurück und schüttelte Miko sanft wach. »Da unten auf der Straße ist was los. Ich schaue mal schnell nach«, flüsterte er. »Was ist da unten los? Sind da Menschen? Autos? Woher wissen Sie das?«, fragte sie, sofort hellwach. Logan ließ eine Bekleidungsverpackung aufplatzen und bearbeite te den Stoff, bis er sich ausdehnte. Dann riss er sich die Fetzen vom Leib und schlüpfte in seinen letzten Kampfanzug. Wie die anderen lag auch dieser eng an. Er wies ein geflecktes Tarnmuster auf, das perfekt mit dem umgebenden Wald verschmolz. »Wir sollten zusammenbleiben«, riet Miko. »Nein«, antwortete er. »Ich komme besser allein voran. Ruhen Sie sich aus. Wir brechen in ein paar Stunden auf. Ich werde in dreißig Minuten oder weniger zurück sein.« Er nahm Mikos Fernrohr und reichte ihr seine letzte Pistole, eine
leichte M9 Beretta der Knight Armament Company in den USA. Die M9 war wegen ihrer Kompaktheit ideal bei einem HAWK-Ab sprung, hatte für Logans Geschmack aber nicht genug Wucht und er bevorzugte ohnehin Klingenwaffen. Logan schob das Randall Mark I-Kampfmesser in seinen Stiefel und zog aus Mikos Gürtel eine zweite Waffe mit langer Klinge, die er wie ein Schwert schwang. Ohne noch einmal zurückzublicken, schlüpfte er durch die Öffnung und war fort. Sie beobachtete, wie er blitzschnell den Abhang hinunterlief und mit den langen Schatten des verblassenden Tages verschmolz. Zwischen den Bäumen drang kein Laut mehr herauf, doch dann konnte Logan in der Ferne Motoren hören und Stimmen, die über das Wasser hallten. Er trat auf eine Lichtung, von der er die Straße und den dahinter liegenden See sehen konnte. Unten parkten ein ge panzerter Truppentransporter und zwei Laster aus chinesischer Pro duktion. Er zählte drei Männer bei den Fahrzeugen, zwölf weitere am Ufer des Sees, unter anderem ein Offizier. Ein kleines Boot mit einer Schleppangel trieb dicht am Ufer entlang. Drei Soldaten war fen immer wieder Seile mit Haken ins Wasser. Bei eingehender Beobachtung erspähte Logan Schleuderspuren auf der geteerten Straße und Reifenspuren im Sand – das war die Stelle, wo er den BTR-60 in sein nasses Grab verfrachtet hatte. Die Koreaner suchten den See nach den vermissten Soldaten ab. Das hätte Logan nicht weiter gestört, wäre da nicht eine Sache gewesen – wenn sie den toten Offizier herausfischten, würden die Koreaner er kennen, dass der Mann erstochen worden und nicht ertrunken war. Daraus würden sie möglicherweise folgern, dass Logan den Sturz überlebt hatte. Vielleicht dachten sie aber auch nur, dass er beim Kampf gestorben und sein Körper immer noch am Grunde des Sees lag. Natürlich würden die Soldaten weitersuchen. Und wenn sie Lo gans Leichnam nicht fanden, würde der Teufel los sein. Wie auch immer – die Zeit lief ihm davon. Er und Miko würden jetzt handeln müssen, ehe die Koreaner erkannten, dass sie hier
waren. Doch als Logan sich umdrehte, um den Hügel wieder hin aufzusteigen, hörte er weitere Stimmen – und sie kamen von beiden Seiten des Waldes, in dem er sich befand. Dann hörte er ein Geräusch, das ihn sofort zum Handeln trieb. Hundegebell …
Sie setzten Subject X in einen Stuhl. Mit geradem Rücken, erhobenem Kopf und flachem Atem saß er nackt da, bis auf hunderte von farbigen Kabeln, die wie Federn von seinem Körper herunterhingen. Die zugenähten Augen, die durchbohrte Nase, der zugestöpselte Mund und die Mähne aus schwarzem Haar, das wie eine Krone aussah, ließen Logan wie die Mumie eines wilden Kriegerkönigs erscheinen, den man für ein zeremonielles Begräbnis vorbereitet hatte. Eine dreißig Pfund schwere Batterie, die den mit Adamantium umhüllten, kybernetischen Helm mit Strom versorgte, hing wie ein sperriges Medaillon um seinen Hals und stand jetzt neben den Fü ßen der Versuchsperson. Wenn man sie mit den Elektroden in sei nen Schläfen und den Relais unter seinen Augen verband, würde sie über den Prozessor für virtuelle Realität im Innern des Helms alles filtern, was Logan sah, roch oder schmeckte. Der Professor stand dicht neben Subject X und überprüfte die Im plantate und das rohe, geschwollene Fleisch, das sie umgab. »Die Nähte sind also geheilt?« »Nicht alle, Professor. Aber genug, um unseren Zweck zu erfül len.« Cornelius sah auf seine Uhr. »Doch wir können auch noch ein paar Minuten warten, wenn Sie das vorziehen.« Der Professor, der die Hände hinter dem Rücken verschränkt hatte, schüttelte seinen kahlen Kopf. »Nein, nein. Lassen Sie uns weitermachen, Cornelius.« Cornelius rieb sich das Kinn. »Okay, die Kabel sind ein Problem.
Sie sind sperrig und unhandlich, können aber mit der Zeit ver ringert werden. Die Stromquelle – diese riesige Batterie – ist natür lich nur vorübergehend im Einsatz.« Er ging quer durchs Labor, um sich zum Chirurgenteam zu stellen, das sich hinter dem Fernsteuerungs-Übertragungsterminal versammelt hatte. Die eigentliche Steuerung von Logan oblag einem der Kommunikationsspezialisten – einem Techniker namens Rice, der hinter einem riesigen Steuerungspult saß. »In den nächsten Wochen werden wir versuchen, die Kisten zu verkleinern, aber ich kann nichts versprechen.« Cornelius drückte eine Taste, und auf einem der Monitore erschien eine Umgebungs karte. Über der Karte lag ein roter Kreis. »Wir sehen hier die Reichweite der Geräte innerhalb des Test feldes«, erklärte Cornelius. »Für alles, was weiter als 150 Meter ent fernt ist, brauchen wir den Helm, damit er das Signal auffängt. Die kybernetischen Schaltungen in der Stahlwölbung steigern die Reich weite um ein Vielfaches.« Der rote Kreis dehnte sich, bis er fast den ganzen Bildschirm ab deckte. Dann schaltete der Monitor sich aus, und Cornelius sah den Professor an. »Das ist, was wir Ihnen anbieten können.« »Und wie groß ist die Reichweite, Cornelius?« »Etwa fünfzehn Kilometer, Sir.« Cornelius konnte das Missfallen des Professors spüren. Aber er war viel zu müde und von der Arbeit angewidert, als dass es ihn noch gekümmert hätte. Der Professor schnaubte, dann sah er den am Terminal sitzenden Rice an. »Und diese Steuerungskonsole hier. Sie entspricht nicht meinem ursprünglichen Entwurf.« Cornelius nickte. Ein Joystick, dachte er mitleidig. Der Professor will einen gottverdammten Joystick, als wäre Logan so eine Art Videospielfi gur. »Sie wollten mehr Power, Professor«, erwiderte er müde. »Wir mussten die Schaltoberflächen abwandeln, um das zu erreichen.«
Cornelius tippte Rice leicht an. »Zeigen Sie dem Professor die An ordnung des Schaltbretts.« »Klar, mach ich«, erwiderte Rice und richtete sich auf. »Es ist ganz leicht, Sir. Diese Knöpfe basieren auf den von Ihnen gegebenen Da ten. Man drückt sie nacheinander. Vorwärts, rück …« »Und die Hebel dienen der Steuerung. Ich verstehe«, unterbrach der Professor kurz angebunden. Er ärgerte sich, dass ihn ein einfa cher Techniker in die Technologie einweisen sollte, die er im Grunde entwickelt hatte. »Demonstrieren Sie es uns bitte kurz, Rice«, wies Cornelius ihn an. »Das ist nicht nötig«, widersprach der Professor. Aber zu seinem Verdruss fuhr der unverschämte Techniker einfach fort. »Sehen Sie«, erklärte Rice, während er mit den Steuerungshebeln herumspielte. Logans Arm zuckte, dann beulte sich das Fleisch auf seinem Handrücken aus. »Man kann jede Klaue einzeln bedienen«, plapperte der Techniker weiter. »Das ist der Daumen, der schüttelt die Pflaumen …« Die erste Klaue fuhr aus. »Der hebt sie auf …« Zwei weitere Stahlklauen erschienen in einem Schwall von Blut. Der Professor schob Rice beiseite. »Ich kann mir eine Vorstellung davon machen, danke, und Ihre Sprüche sind hier völlig fehl am Platz.« »Ich … Ent-entschuldigung, Professor«, stammelte Rice. »Ich brauche ja wohl kaum eine Anleitung, wie ich mein eigenes Gerät bedienen soll.« Der Professor berührte die Knöpfe, dann legte er die Schalter um. »Ja … sehen Sie her …« Logan sprang auf, dann wankte er auf unsicheren Beinen – zwei Schritte vor, einer zurück. Bei jedem grotesken Schlurfschritt schlugen ihm die herunterhängenden Kabel gegen die Beine, und die Batterie rumpelte über den Boden.
»Cornelius, sehen Sie, wie die lebensnahen Bewegungen das Menschliche imitieren …« »Ja, ja, sehe ich …« »Und wie viel Wirkung vorsichtige Korrekturen haben …« Plötzlich wirbelte Logan so schwungvoll herum, dass die schwere Batterie ihn aus dem Gleichgewicht riss. Seine Beine verfingen sich in den Kabeln und Drähten und er purzelte wie ein Kleinkind zu Boden. Das Gelächter der Mitarbeiter ließ Cornelius zusammenzucken. Obwohl er Verständnis dafür hatte, dass sich viel Anspannung in ih nen während der vergangenen Wochen der Isolation und stunden langen Operationen aufgebaut hatte, hielt er den Heiterkeitsaus bruch jetzt für unpassend. »Ruhe!«, brüllte der Professor mit mehr Zorn und Wut, als Cor nelius je bei dem Mann gesehen hatte. »Sir, es tut mir Leid …« Der Professor drehte sich zu ihm um. »Cornelius, Ihre Mitarbeiter sind absolute Narren. Ignoranten.« Cornelius wandte sich an seinen medizinischen Mitarbeiterstab. »Okay, Jungs, das war's. Raus hier.« »Ja, verschwindet, ihr Idioten!«, fuhr der Professor sie an. »Hier wird wissenschaftliche Forschung betrieben, und da hat man mit ge bührendem Ernst bei der Sache zu sein. Ich … ich bin noch nie so beleidigt worden.« »Ich bitte Sie, Professor«, stieß Cornelius unwillkürlich schroff her vor. »Dr. Hendrys Mitarbeiter haben gute Arbeit geleistet, und Sie haben bekommen, was Sie wollten.« Bis auf Logan, der immer noch auf dem Boden lag, waren Corneli us und der Professor nun allein. Cornelius schenkte Kaffee ein. »Hier, nehmen Sie den«, drängte er und drückte den Becher in die Hand des Professors. »Und könnten wir für heute Schluss machen? Für mich sieht es fast so aus, als hätten Sie sich nicht ausgeruht, seit
dem das Waffe X-Projekt begonnen hat.« »Nein!«, fuhr der Professor auf. »Wir haben heute noch nichts ge schafft. Das Experiment ist noch nicht vorbei, Cornelius. Ich muss mich versichern, dass alles in Ordnung ist.« Cornelius warf einen Blick auf den am Boden liegenden Mann. Lo gan sah tot aus. Sogar seine Brust bewegte sich kaum merklich. Wäre nicht das ständige Piepen der Herz- und Atmungsüberwa chungsgeräte gewesen, hätte der Doktor nicht mit Sicherheit sagen können, ob überhaupt noch Leben in dem gequälten Körper war. »Er ist gesichert«, bekräftigte Cornelius ruhig. »Er ist verkabelt und ausgeschaltet. Lassen Sie es gut sein, Professor.« »Sie haben mich nicht verstanden. Ich meinte, ob ich sicher bin, Sie Idiot. Ich! Subject X hat versucht, mich zu erwürgen. Erinnern Sie sich?« »Schauen Sie«, erklärte Cornelius geduldig. »Wenn der Strom angeschaltet ist, haben Sie ihn an der Leine. Wenn er ausgeschaltet ist – wie jetzt – ist er nur totes Fleisch. Das wollten Sie, und das haben Sie bekommen.« Damit kehrte er dem Professor den Rücken zu und ging zum Aus gang. An der Tür blieb Cornelius noch einmal stehen. »Aber Sie müssen sich vergewissern, nicht wahr?«, meinte er mit einem er schöpften Seufzer. »Dann gehen Sie doch hin, Professor. Spucken Sie ihm ins Auge. Dann können Sie sich sicher sein.« Er öffnete den Riegel. »Wo wollen Sie hin?«, fragte der Professor in barschem Ton. »Für einen Tag reicht mir dieser ganze Zirkus«, erwiderte Corneli us. »Ich werde die Wachen reinschicken, damit sie hier aufräumen. Ich sehe Sie dann morgen.« Als die Tür sich wieder geschlossen hatte, blickte der Professor Subject X an. Für einen Augenblick beobachtete er, wie sich Logans Brust hob und senkte. Dann drehte der Professor seinen Kaffeebe cher um und goss den kochend heißen Inhalt in Logans nach oben
gewandtes Gesicht. Die schwarze Flüssigkeit spritzte umher und perlte ab, wobei sie rote Brandblasen hinterließ, die unter dem erbarmungslosen Blick des Professors schnell weiß und dann rosa wurden. Mit einem letzten Tritt in die Rippen der Versuchsperson kehrte der Professor Logan den Rücken und marschierte zufrieden aus dem Raum; denn jetzt wusste er, dass es sicher war. Trotz der Schmerzen und der Demütigung, die er gerade dem einst wilden und unabhängigen Logan zugefügt hatte, war der Mutant noch nicht einmal zusammengezuckt. Cornelius hat es getan, dachte der Professor triumphierend. Die Neuprogrammierung funktioniert. Jetzt besitze ich völlige Kontrolle über Waffe X …
VIERZEHN Die Jagd
»Auffangen«, zischte Logan und warf Miko das Fernglas zu. Er hatte beinahe schon die Bergkuppe erreicht, wo Miko bereits in ihrem eng anliegenden Tarnanzug mit gezogener Tac hinter einem Busch wartete. Logan war noch etwa zwanzig Meter von ihr ent fernt gewesen, als er die bellenden Hunde und Stimmen hörte. »Meine Pistole«, zischte Logan. Miko zog seine M9 aus ihrem Gürtel und warf sie ihm zu. Die Munition folgte. »Verschwinden Sie«, sagte Logan und zeigte auf den Wald hinter ihr, als er die Waffe in sein Holster schob. »Den Berg hoch und auf der anderen Seite um die Soldaten und die Hunde herum. Ich werde die Jäger, so lange ich kann, von Ihnen fernhalten, damit Sie einen Vorsprung haben.« »Aber …« »Keine Diskussion. Die Hunde haben meine Witterung bereits auf genommen. Verschwinden Sie, ehe die Sie auch noch wittern. Gehen Sie zur Anlage und dringen Sie ein. Erledigen Sie Ihre Angelegen heit und dann retten Sie Langram, wenn es möglich ist. Wenn sie mich kriegen, werde ich versuchen, von drinnen aus etwas zu tun.« Hubschraubergedröhn drang durch den Wald. Logan fluchte. Hubschrauber! Das bedeutete wohl, dass sie den to ten Offizier gefunden hatten … Miko richtete den Blick hoch, dann sah sie zu ihm. »Logan, kämpfen Sie. Ergeben Sie sich nicht.«
Er schaute über die Schulter nach hinten. Die Hunde kamen immer näher. Ihr Bellen wurde lauter und drängender. »Vielleicht habe ich keine andere Wahl. Und jetzt verschwinden Sie!« Ohne noch etwas zu sagen, drehte Miko sich um, rannte den Abhang hoch und verschwand dann zwischen den tief hängenden Ästen der Pinien. Logan sprang über den vermoderten Stamm eines umgestürzten Baumes und lief in die entgegengesetzte Richtung. Während er den Berg hinunterrannte und -sprang, entfernte er sich gleichzeitig von den Hunden und den Soldaten, die ihn verfolgten. Er wusste, dass Abhauen auf lange Sicht hoffnungslos war. Es gab nur wenig Fluchtmöglichkeiten – mitten in feindlichem Gebiet. Die Nordkoreaner hatten den Heimvorteil. Mit Hubschraubern, Suchscheinwerfern, Hunden, Soldaten und gepanzerten Fahrzeugen war es nur eine Frage der Zeit, bis die Jäger ihn einholen würden.
Während sich der Jäger auf nackten Füßen lautlos anpirschte, wurde er von einem Bewegungsmelder erfasst, und eine Kamera fo kussierte ihre Linse leise auf die Versuchsperson. Sogar in den dunkler werdenden Schatten der Abenddämmerung folgte die Kamera dem Jäger mühelos, während dieser sich an seine Beute an pirschte. »Er ist jetzt hundert Meter vom Ziel entfernt …« Cornelius wandte den Blick vom HDTV ab, um auf seine Uhr zu schauen. »Drei Minu ten, um genau zu sein.« Der Professor blickte unverwandt auf den Monitor, damit ihm ja keine Bewegung seiner Schöpfung entging. »Wirklich beeindru ckend«, murmelte er. Sein Kinn ruhte auf seinen langgliedrigen Fingern. »Versuchsperson auf Kamera Fünf«, rief ein Kameratechniker. »Auf Kamera Acht umschalten und vergrößern.«
Auf dem Bildschirm sah man Subject X jetzt groß von vorn. Bis auf die Batterien und die Mikrowellenempfänger, die um seine Taille hingen, war Logan völlig nackt. Sein Kopf dagegen war völlig von einem schimmernden kybernetischen Helm umhüllt. Die Kabel, die aus dem Kopfstück baumelten, lagen wie ein Kokon um seinen Oberkörper. Die meisten Zuführverbindungen, die Signale direkt in die Nervenbahnen der Versuchsperson sandten, waren entfernt und durch weniger hinderliche, kabellose Verbindungen ersetzt worden, die ihm mehr Bewegungsfreiheit gaben. »Neunzig Meter in drei Minuten und siebenundzwanzig Se kunden«, verkündete Cornelius. »Er geht gegen den Wind«, stellte der Professor fest. »Er hat die Witterung aufgenommen.« Trotz des unablässigen Heulens des Windes fingen die Mikrofone plötzlich das Geräusch auf, das entstand, wenn die AdamantiumKlauen aus ihren Scheiden glitten. »Klauenaustritt, rechte Hand. Leichter Blutverlust«, registrierte der Professor. »Wir brauchen dort irgendeine Art von Anschlüssen«, sagte Cor nelius. »Etwas, was den Austrittskanal offen hält. Notieren Sie das, Ms. Hines.« Die Frau schaute von ihrem EMaM-Bildschirm auf. Das Gerät lief automatisch auf maximalem Output und sandte ein vorbereitetes Si gnal an Logans Gehirn. Carol empfing nur begrenzte Informationen über die Eindrücke, die die Versuchsperson aufnahm, aber es reich te, um daraus auf seine nächsten Schritte zu schließen. »Jetzt sind es noch weniger als fünfzig Meter«, sagte Carol Hines. »Es sieht so aus, als ob die Beute sich nicht von unserer Ver suchsperson entfernt, sondern auf sie zukommt … sein Herzschlag ist beschleunigt. Adrenalinanstieg und Handwurzelausfluss …« »Klauenaustritt, linke Hand.« »Kamera Zehn, bitte …«
»Das ist es«, erklärte Cornelius. »Gehirnüberwachung ohne Un terbrechung fortsetzen. Eine zweite Chance werden wir nicht be kommen …« Carol Hines begann in das Sprachaufzeichnungsprotokoll ihres Computers zu sprechen. »Mister Logan. Einstellung … ich meine, Subject X, Einstellung Zwölf. Stimulus von Reaktion auf Beute Eins, Dauer von Null: vier Minuten und einundzwanzig Sekunden …«
Der Grizzlybär tauchte aus einem kleinen Wäldchen voll kahler Bäume auf. Er knurrte, als er sich auf seinen kurzen Hinterbeinen schwerfällig vorwärts bewegte, während die Krallen an seinen vorgestreckten Vorderpfoten drohend herausragten. Ein heißer Geiferfaden tropfte aus seinem offenen Maul, während das Tier angriffslustig brummte und schließlich wütend brüllte, als der Mensch nicht vor ihm zurückwich. Ohne die Hilfe vorprogrammierter Befehle wich Logan flink dem Hieb einer riesigen Pranke aus, wobei er sich niederhockte, um dem Schlag zu entgehen. Dann glitt er mit einer geschmeidigen Bewe gung hinter das Ungetüm, um ein paar Mal in dessen Rumpf zu stoßen. Dann tauchte Subject X wieder vor dem Bären auf, und die Ada mantium-Klingen versanken tief in den zitternden, rotbraunen Flan ken der rasenden Bestie. Der aus dem Gleichgewicht gebrachte Grizzly wirbelte herum. Lo gan sah die ungeschützte Stelle durch die Linsen des virtual-realityVisors – das Signal erging über direkte optische Nerveneingaben ans Gehirn. Logan holte mit seinem rechten Arm aus, um erneut zuzu stoßen. Die Stahlklauen drangen durch Fell, Haut, Speck und Mus keln direkt ins Herz des Tieres. Das wütende Brüllen des Bären, das aus dem blutbefleckten, auf gerissenem Maul drang, ging in einem schmatzenden Gurgeln un
ter, als er an seinem eigenen Blut erstickte. Subject X riss seinen linken Arm in einer weit ausholenden Bewe gung hoch und trennte den Kopf des Bären mit einem einzigen Hieb vom Rumpf ab. Er flog davon und landete mit blinden Augen im Schnee. Ein Schwall von Blut schoss aus der sauber durchtrennten Hals schlagader und dampfte in der kalten Luft. Der kopflose Körper schwankte, und als Logan seinen rechten Arm zurückzog, sprudelte auch an dieser Stelle das Blut. Ohne die unzerstörbaren Klauen, die ihn aufrecht gehalten hatten, stürzte der Kadaver des Grizzly vor Logan zu Boden. Subject X trat vor und beugte sich über seinen besiegten Gegner, um ihm, wenn nötig, den Todesstoß zu versetzen. Doch abgesehen von den Zuckungen im Todeskampf rührte sich der enthauptete Bär nicht mehr. Selbst das schwarze Blut hörte auf zu fließen, als das zerrissene Herz aufhörte zu schlagen. Nachdem er die programmierte Aufgabe ausgeführt hatte, blieb Logan stocksteif, mit ausgebreiteten Armen und Klauen, von denen das Blut tropfte, breitbeinig stehen, als hätte man ihn ausgeschaltet. Anhand der Daten, die Carol Hines empfing, war zu erkennen, dass Subject X in eine Art Gehirnschleife verfallen war. Dabei blieb es zwar aktiv, doch er war nicht völlig bei Bewusstsein.
»Hervorragend. Bravo!«, rief der Professor. »Eine absolut tadellose Tötung. Die Zeit ist gekommen, Cornelius. Die Waffe ist scharf ge macht und einfach vollkommen. Er ist bereit für seinen ersten Ein satz.« Das entsetzte Cornelius. Nein, dachte er voller Panik. Sie können mir Logan jetzt nicht wegnehmen. Die Erforschung seines Immunsystems wäre vorbei, ehe ich überhaupt begonnen hätte … Obwohl die Gedanken in seinem Kopf rasten, blieb Cornelius
äußerlich ruhig und brachte Argumente in einer Logik vor, die der Professor verstehen konnte. »Ich stimme Ihnen zu, dass diese Demonstration beeindruckend war, Professor. Aber die Transmitter begrenzen seine tatsächliche Reichweite … und sie sind so störend. Außerdem behindert der Helm seine Sicht …« »Dreißig Prozent auf beiden Seiten«, warf Carol Hines hilfreich ein. »… und durch die Transmission sind seine Reaktionen verzögert. Das könnte der entscheidende Bruchteil einer Sekunde in einer brenzligen Situation sein. Schlimmer als alles andere sind diese un förmigen und schweren Batterien. Jede Einzelne wiegt fast zehn Pfund, und der Mikrowellenempfänger wiegt sogar noch mehr. Alles ist so klobig und im Weg.« Carol Hines schaute auf den Bildschirm. »Soll ich seine Klauen wieder einziehen, Doktor? Oder soll ich damit warten?« »Ja, nur zu, Ms. Hines.« »Ich gebe zu, dass das Optimum noch nicht erreicht und es auch nicht genau das ist, was wir geplant hatten«, gab der Professor zu. »Aber wir können die Waffe steuern, richtig, Doktor? Ms. Hines?« Cornelius nickte. »Solange Logans Gehirn unter dem Einfluss der EMaM-Wellen steht, können wir ihn steuern«, sagte Carol Hines. Die Augenbrauen des Professors hoben sich. »Ist das eine Ein schränkung, Ms. Hines?« »Nur eine Feststellung, Sir. Der Enzephalographische Manifesta tions-Monitor ist ein wirkungsvolles Instrument, doch er muss richtig eingesetzt werden.« »Erklären Sie das näher.« »Nun ja, Professor … Der EMaM sendet Gehirnwellen in einem bestimmten Frequenzbereich aus, die die normalen Funktionen des rechten und linken frontalen Kortex des Gehirns stören.« »Und das macht Logan gefügig? Steuerbar?«
»Nicht genau, Professor. Das Gerät übernimmt in drei Phasen die Kontrolle über die Versuchsperson. In der ersten Phase deaktivieren die Wellen die rechten und linken Schläfenlappen des Gehirns. Da durch verliert die Versuchsperson sämtliche Erinnerungen und Emotionen, das Bewusstsein seiner selbst und die Fähigkeit, zwi schen realer und fiktiver Erfahrung zu unterscheiden. Obwohl es keine Auswirkungen auf das Gehör gibt, sind durch die Nähe zum Broca'schen Bereich – das Sprachzentrum des Gehirns – Logans sprachliche Fähigkeiten stark in Mitleidenschaft gezogen.« »Er braucht nicht zu sprechen, Ms. Hines. Er soll nur jagen und tö ten«, erklärte der Professor. »Ja, Sir. Im Verlauf der zweiten Phase zerstört oder unterdrückt der EMaM die tatsächlichen Erinnerungen der Versuchsperson und ersetzt sie durch falsche Erinnerungen und Erfahrungen, die wir selbst erstellen. Bei der NASA wurden die implantierten Erinne rungen als Lernhilfsmittel genutzt. Eine Art virtueller Realität, um mit Space-Shuttle-Piloten Notfallsituationen zu üben. Wir sind nie weitergegangen, weil es unter Umständen zu unvorhergesehenen Nebenwirkungen gekommen wäre.« »Keiner hat mir je etwas über Nebenwirkungen erzählt«, brummte Cornelius. »Wir sind weit jenseits dieser Phase, Doktor, deshalb ist die Frage rein akademisch. Bitte, fahren Sie fort, Ms. Hines.« »Im Falle von Waffe X werden die implantierten Erinnerungen genutzt werden, um ihn zu manipulieren, damit er an Dinge glaubt, die nicht wahr sind oder waren, wodurch sein Geist … fügsamer ge macht wird. Wir können Ängste und Paranoia manipulieren, Ra chegefühle, Zorn, Wut aktivieren …« Der Professor klopfte sich ungeduldig gegen das Kinn. »Ja, ich ver stehe, Ms. Hines. Kommen Sie auf den Punkt.« »Wir befinden uns jetzt mitten in der dritten Phase der Neukon ditionierung der Versuchsperson – der wichtigen Befehl- und Steue rungsphase – doch die psychologische Integration ist noch nicht
abgeschlossen, was bedeutet, dass wir Logan noch nicht völlig unter Kontrolle haben.« »Aber er gehorcht unseren Befehlen. Was übersehe ich?« »Sobald die dritte Phase abgeschlossen ist, wird Waffe X nicht mehr auf fremde Hilfe angewiesen sein. Er wird die EMaM-Wellen dann nicht mehr brauchen, um Befehlen Folge zu leisten, denn sein Gehirn selbst wird darauf programmiert sein, ohne die Wellen zu gehorchen. Aber im Moment braucht die Versuchsperson die Mikro wellenempfänger und die Stromquelle noch. Wenn die vom EMaMGerät erzeugten Gehirnwellen aufhören, sein Gehirn zu stimulieren, oder die Batterie ihren Dienst aufgibt oder irgendetwas kaputt geht, dann werden wir die Kontrolle über die Versuchsperson verlieren.« »Er wird in Raserei verfallen? Angreifen?« »Unwahrscheinlich, Professor. Möglicherweise macht er einfach nur dicht oder fällt in eine Gedankenschleife zurück, wie wir es je des Mal nach einer Übungseinheit beobachten. Gefahr besteht nur dann, wenn ein winziger Rest der Persönlichkeit, der Individualität die Initiierungsphase des EMaM-Einsatzes überlebt. Das kann zu einem Konflikt im ID, im Unterbewusstsein, führen, was möglicher weise Gewaltausbrüche mit sich bringt.« »Ist er denn sicher?« »Ja, Professor. Im Falle von Subject X bin ich überzeugt, dass wir seine Persönlichkeit vollständig ausgelöscht haben. Ihm ist nichts von dem Mann, der einst Logan hieß, in Erinnerung geblieben.« Während Carol Hines noch redete, rief Cornelius mit dem Sum mer im Quartier der Wachen an. »Cutler.« »Bringen Sie die Versuchsperson.« Cornelius drehte sich mit dem Stuhl und sah den Professor an. »Sie begreifen unsere Situation, Sir. Logan funktioniert aber nicht im optimalen Rahmen seiner Möglichkeiten. Noch nicht. Ich denke, mit etwas mehr psychologischer …«
Der Professor unterbrach ihn. »Nein. Kein psychologisches Sonst was mehr. Ich will jetzt Taten sehen.« »Taten? Wenn ein Grizzly abgeschlachtet und tranchiert wird – dann reicht Ihnen das noch nicht?« Der Professor zog die Augenbrauen zusammen. »Ich habe diese Waffe nicht entwickelt, um mein Leben als Jagdaufseher zu fristen, Cornelius.« »Was wollen Sie damit sagen?« Der Professor richtete seinen Blick auf den Bildschirm, wo Logan gefügig wartete, während sich die Wachleute ihm näherten. »Ich will damit sagen, dass unser Killer bereit ist.« »Aber es geht doch nicht nur um pure Schlagkraft, Professor. Ein bisschen mehr Zeit, um ein paar Fehler aus dem System zu entfer nen – um mehr bitte ich doch nicht.« »Nein. Er ist bereit«, wiederholte der Professor trotzig im Tone eines verwöhnten Kindes. »Bereit wofür?« »Für den großen Test, Doktor.« Der Professor wirbelte herum und starrte Cornelius an. »Welches ist das gefahrlichste Tier auf der ganzen Welt?« Cornelius blinzelte. »Der bengalische Tiger?« »Nein, der Mensch, natürlich.« Cornelius schaute mit grimmiger Miene auf die Steuerungskonso le. Carol Hines und der Techniker Rice lauschten gespannt der Un terhaltung, während sie so taten, als ob sie arbeiteten. »Nun ja, im Moment haben wir aber keine Menschen auf Lager«, meinte Cornelius schließlich. »Dann müssen wir uns wohl welche besorgen, oder?« Cornelius' Augen blitzten zornig auf. »Das meinen Sie ja wohl nicht im Ernst.«
»Ganz im Gegenteil, Cornelius. Ich meine es todernst.« »Mein Gott«, protestierte der Doktor entsetzt. »Wenn Sie denken, ich sitze an diesem Steuerpult und lasse Logan … das ist völliger Wahnsinn. Wissen Sie überhaupt, was Sie da sagen?« »Ich weiß immer, was ich sage, Cornelius. So muss ich keine Diskussionen ertragen.« Der Professor wandte sich ab und mar schierte auf die Tür zu. »Wir … wir haben unser Gespräch noch nicht beendet«, krächzte Cornelius. Aber der Professor war schon längst wieder in seiner eigenen Welt. Er hörte Cornelius gar nicht mehr zu. Er dachte nur noch an Waffe X und an das großartige Experiment, das er durchführen würde. »Ich bin in meinem Steuerraum«, erklärte der Professor noch, als die Tür sich hinter ihm schloss.
Logan war sich ziemlich sicher, dass Miko davongekommen war. Dieses Wissen ließ ihn weitereilen, auch als er hörte, dass sich ein zweiter Hubschrauber der Jagd anschloss. Jeder Schritt, den ich gehe, führt sie ein bisschen weiter von Miko weg … Zweimal machte Logan zeitraubende Umwege und Kehrt wendungen, um großen Lichtungen auszuweichen, auf denen er von der Luft aus gesehen werden könnte. Aus Erfahrung wusste er, dass es nach Einbruch der Dunkelheit leichter sein würde, wenn die Hubschrauber ihre Suchscheinwerfer einschalten mussten. Aber dieses ganze Gerenne ist für die Katz, wenn die Hubschrauber mit Infrarot- oder Wärmesuchgeräten ausgestattet sind. Dann werden sie mich ganz leicht finden, sobald es dunkel ist … Jetzt lief Logan erst einmal so leise er konnte, bis sein Atem und das ferne Bellen der Hunde die einzigen Geräusche waren, die er noch hören konnte. Egal, was passierte, er war entschlossen,
kämpfend unterzugehen. Warum sollte man es ihnen schließlich leicht machen? Als die fahlgelbe Sonne bereits ganz tief über dem Horizont stand, brach Logan durch eine Wand aus Pinien, die so gerade wie Telefon masten waren und deren untere Hälfte des Stammes fast überhaupt keine Äste aufwiesen. Ein Stück weiter vor ihm plätscherte das kla re, eisige Wasser eines schmalen Flusses den felsigen Abhang hinun ter in den See. Ohne langsamer zu werden, warf er sich in das seich te Wasser und zitterte am ganzen Körper, während er sich Schlamm auf Gesicht und Hände schmierte, um die Stellen zu verbergen, die durch seine Kleidung nicht getarnt waren. Er rieb sich den braunen Matsch sogar ins Haar, damit es nicht mehr glänzte. Obwohl ihm vor Einsatzbeginn ein ganz kurzer Bürstenhaarschnitt verpasst worden war, hatte er jetzt nach zwei Tagen wieder eine volle Mäh ne. Logan folgte dem Flusslauf ungefähr einen Kilometer – ein alter, aber wirkungsvoller Trick, damit die Hunde seine Fährte verlören. Er wusste, dass die Bluthunde seine Spur schnell wieder finden würden, aber er hoffte, dass sie die Suche danach aufhalten würde. Manchmal ließen sich Bluthunde auch von anderen Tieren ablenken, doch in diesen Bergen war die gesamte Tierwelt von der hungern den Bevölkerung der Gegend ausgerottet worden. Seitdem er einge troffen war, hatte Logan kein Tier gesehen, das größer als ein Vogel oder Insekt gewesen wäre. Mehr und mehr erinnerte Logan die Landschaft – braunes Gras, schräg abfallende Hügel, die zu zerklüfteten Berggipfeln anstiegen, Wälder voller kahler, hoher Pinien – an die kanadischen Rockies, wo er aufgewachsen war. Logan merkte, dass er ein ganzes Jahrhundert an Erinnerungen und Erfahrungen Revue passieren ließ, um jeden Trick zum Überleben im Wald noch einmal heraufzubeschwören, den er von dem Schwarzfußindianer, der Teil seiner Jugend ge wesen war, gelernt hatte. Als er ein felsiges Gebiet erreichte, wo er nur schwache Fußab
drücke hinterlassen würde, verließ Logan den Fluss und lief durch den Wald. Das Laub war hier dichter, deshalb achtete Logan darauf, Zweige eher zu biegen als abzubrechen, eher auf festem als auf lo ckerem Boden zu gehen und eher auf felsigem Untergrund als durch Morast. Einen Augenblick fühlte Logan sich in die Zeit zurückver setzt, als er noch ein Junge gewesen war. Die wilde Jugend, die er in einem noch wilderen Landstrich verlebt hatte. In der zunehmenden Dämmerung warf Logan einen Blick auf die fluoreszierende Kombination aus Uhr und Kompass an seinem Handgelenk. Ihr Plan hatte vorgesehen, dass Miko ungefähr jetzt am Damm vorbeischlüpfen und sich auf den Weg zur streng geheimen Anlage darunter machen sollte – wenn sie nicht in Schwierigkeiten geraten war, hieß das. Plötzlich hielt Logan inne, um dem beharrlichen Klopfen von weit entfernten Propellern zu lauschen. Zwischen den Bäumen war das Geräusch gedämpft und er konnte nicht erkennen, aus welcher Richtung es kam. Aus reinem Instinkt warf Logan sich einen Moment später auf die Erde. Aufgrund seiner Ausbildung drückte er sich in den Dreck, als in weniger als fünfzig Metern Höhe ein Hubschrauber direkt über seinen Kopf flog. So ein Mistkerl! Hab ihn noch nicht einmal kommen sehen. Der dichte Wald verbarg Logan, aber er wusste, dass dieser Wald auch Geräusche unterdrückte und verzerrte, was wiederum seinen Verfolgern zu Gute kam. Ein paar Minuten lang lag er mit klopfendem Herzen, weil man ihn beinahe erwischt hatte, auf dem Boden. Schließlich hörte Logan die Hunde verwirrt bellen. Zumindest für den Moment schienen sie seine Fährte verloren zu haben. Mit einer fließenden Rollbewegung kam Logan wieder hoch und eilte schnell zwischen den Bäumen weiter. Dieses Mal war blickte er jedes Mal nach oben, um eventuelle Verfolger zu entdecken, wenn die Zweige den Blick auf den Himmel freigaben. Doch schon bald
ging die Sonne hinter den Bergen unter, und das Tal wurde in tiefe Schatten gehüllt. Gerade als Logan dachte, dass es jetzt einfacher werden würde, drängte er sich zwischen eng stehenden Bäumen hindurch und stand plötzlich auf einer großen Lichtung. Im gleichen Moment hörte er auch schon einen aufheulenden Motor und das Gedröhn von Rotoren. Er verschwand wieder zwischen den Bäumen und spähte vorsichtig durch die Piniennadeln. Innerhalb von einer Mi nute tauchte über seinem Kopf ein MD-500 auf, dessen Suchschein werfer einen Lichtbogen durch das Zwielicht schnitt. Vom Licht schein wurden hunderte von Stümpfen beleuchtet, die einmal Bäu me gewesen waren. Ungefähr hundert Meter weiter stand mitten auf der Lichtung ein Turm aus Stahl, von dem Kabel abgingen. Die Stromkabel liefen den Hügel hinauf zu einem anderen Turm und von dort über den Hügel hinweg. Jenseits des gerodeten, öden Streifens – vielleicht drei-, vierhundert Meter weiter – gab es mehr Wald, mehr Dickicht, in dem er sich verstecken konnte. Hinter sich hörte Logan wieder die Hunde. Sie hatten seine Fährte wieder aufgenommen und holten auf. Die Mistkerle haben mich die ganze Zeit vor sich hergetrieben und mich zu dieser Lichtung gedrängt, wo ihre Scharfschützen mich aus dem Hub schrauber abknallen können. Die Kerle im Hubschrauber brauchen nur darauf zu warten, dass ich auf die Lichtung laufe. Zu dumm nur für sie, dass ich nicht so blöd bin.
Geduldig beobachtete Logan den einzelnen Hubschrauber, der immer wieder über die Lichtung flog und dabei mit dem Such scheinwerfer wirklich jeden Zentimeter Boden abdeckte. Logan nutzte ihr Licht, um sich ein Bild von der Landschaft zu machen, aber was er sah, war nicht besonders vielversprechend. Es gab keine Gräben, Senken oder Bodenwellen, wo man sich hätte verstecken können, und absolut keine Vegetation außer knöchelhohes, braunes Gras und hunderte von Baumstümpfen, die wie Grabsteine aus der Erde ragten. Von irgendwoher aus der Nacht drang das Geknatter des zweiten Hubschraubers an Logans Ohr. Hört sich so an, als würde er die Straße absuchen. Das bedeutet, dass er noch ein paar Minuten brauchen würde, bis er hier ist, wenn es Ärger gibt. Logan wusste, dass ihm die Zeit davonlief. Er musste jetzt handeln oder aber damit rechnen, dass man ihn gefangen nahm. Er sehnte sich nach der Wucht seines vertrauten Colts, als er seine Beretta zog, das Magazin überprüfte und die Waffe entsicherte. Dann kauerte er sich in ein Nest aus Piniennadeln und ignorierte das Gebell der nä herkommenden Hunde, während er darauf wartete, dass der Hub schrauber wieder ganz niedrig über ihn hinwegflog. Logans Geduld wurde ein paar Minuten später belohnt. Der MD500, dessen runde Glashaube im Mondlicht schimmerte, glitt über ihn hinweg. Ein breiter Lichtstrahl drang durch das Geäst, und Lo gan musste sich tiefer ins Laub graben, um nicht davon erfasst zu werden. Als der Hubschrauber über sein Versteck hinwegflog, sah Logan, dass zwei Männer an Bord waren – der Pilot und ein Soldat, der mit einem Scharfschützengewehr bewaffnet war. Der Scharf schütze befand sich an der offenen Tür, und ein Fuß ruhte außerhalb auf der Landekufe. Sie wollen keinen Gefangenen, erkannte Logan. Sie werden mich einfach aus der Luft abknallen. Die Hunde waren jetzt schon ganz nah. Er hatte vielleicht zehn Minuten, auf keinen Fall mehr als fünfzehn, um zu handeln, ehe die
Hunde ihn aufspüren würden. Während der Hubschrauber um die Spitze des Hügels kreiste, bevor er wieder Kurs auf die Lichtung nahm, atmete Logan mehrmals langsam und tief durch. Dann, als der Hubschrauber fast über ihm war und der Strahl des Suchscheinwerfers über den unebenen Boden tanzte, stürzte Logan aus der Deckung hervor und rannte genau in die Mitte der Lichtung …
Cutler gefiel es nicht, wie Subject X sich verhielt. Irgendetwas an der Bärenhatz war Logan unter die Haut ge gangen. Obwohl er wie ein wandelnder Toter aussah, verhielt er sich heute Nacht eindeutig nicht wie ein Zombie. Als die Wachleute Subject X fanden, hatte dieser mit zuckenden Muskeln über dem toten Grizzly gestanden. Lynch meinte, dass er wohl wegen der Kälte zitterte. Natürlich hatte er damit nicht ganz Unrecht. Logan war nackt, und es waren mehr als fünfundzwanzig Grad unter Null. Aber die Kälte hatte Subject X früher nicht gestört, deshalb verstand Cutler nicht, warum es ausgerechnet jetzt so sein sollte. Cutler erinnerten Logans plötzliche Zuckungen und seine Ticks eher an das Haustier, das er als Kind besessen hatte – ein Hund, der gezappelt und gezuckt hatte, wenn er mitten in einem tiefen Traum war. Genau in dem Moment, als Cutler seinen Elektrostab in die Steckverbindungen einführen wollte, schüttelte Logan den Kopf wie ein Pferd, das seine Mähne flattern lässt. Beim zweiten Versuch gelang es Cutler, den Stab zu verankern, und vorsichtig lenkte er Logan auf die Gehege und den Fahrstuhl zu. Aber sie waren noch keine zehn Meter gegangen, als Logan anhielt und offenbar zögerte weiterzugehen. Er hob den behelmten Kopf, als wolle er den dunkler werdenden Himmel mustern. Cutler stieß ihn an, und Logan schlurfte weiter. Aber er ging nur
zögernd, und statt die Schultern unter dem Gewicht der schweren kybernetischen Hardware hängen zu lassen, ruckte Logan sie immer wieder hin und her, als würde er aufmerksam nach etwas Ausschau halten. »Legen Sie ihm Handschellen an«, befahl Cutler. »Na, na, Cutler. Er ist doch nur ein verdammter Zombie, war …« »Ich sagte ›Legen Sie ihm Handschellen an‹, Lynch. Lassen Sie mich einen Befehl nicht zweimal geben.« »Mann, okay.« Lynch zog die Handschellen aus seinem Gürtel, legte den Ring erst um das eine Handgelenk und schloss den zwei ten dann um das andere. Logan leistete keinen Widerstand, aber Cutler hätte Logan trotzdem gern in die Augen gesehen, die unter dem schweren Adamantium-Helm völlig verborgen lagen. Doch die Handschellen schienen ihren Zweck erfüllt zu haben, denn Logan blieb auch während der ganzen Fahrt mit dem Fahr stuhl gefügig. An der Tür zu Labor Zwei wurde Cutler von Ander son gegrüßt, der auf ihn gewartet hatte und einen Ganzkörper schutzanzug trug. »Was soll die Kostümierung denn. Findet ein Ball statt?« »Befehl vom Major, Cut. Deavers will Sie in seinem Büro sehen, pronto.« »Kann der Boss denn nicht warten, bis ich Logan für die Nacht weggesperrt habe?« »Sorry, Cut. Wenn der Major ›jetzt‹ sagt, dann muss man springen. Der Professor hat uns gerade ein großes Experiment aufgehalst. Deavers sagt, dass man die ganze Nacht brauchen wird, um alles für morgen vorzubereiten.« Cutler fluchte und drückte Anderson den Elektrostab in die Hand. »Behalten Sie ihn im Auge. Logan verhält sich heute komisch.« »So komisch wie an dem Tag im Labor, als er abhauen konnte? Rice hat mir das Band mit der Aufzeichnung gezeigt – wirklich lus tig.«
»Behalten Sie ihn einfach im Auge, Anderson. Und schlampen Sie nicht.« Auf dem Weg zum Fahrstuhl nahm Cutler sich den Helm ab und fuhr sich mit der Hand durchs verschwitzte Haar. Ohne seine Schutzkleidung abzulegen, fuhr er mit dem Fahrstuhl tief in Ge danken versunken in den ersten Stock. Noch so ein verdammtes Experiment. Ich frage mich, was dieser verrück te Professor diesmal für Logan – und für uns – auf Lager hat.
Der Mann im Hubschrauber sah Logan sofort, nachdem dieser aus der Deckung lief. Der Hubschrauber machte einen Schlenker, um der Gestalt, die über die Lichtung rannte, den Weg abzuschneiden. Logan lief im Zickzack, um dem Schuss auszuweichen, der auf je den Fall kommen würde, während sein Rücken bereits in böser Erwartung kribbelte. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass man einen Treffer nie hörte. Deshalb wusste er auch, als ihm ein Über schallknall fast das Trommelfell zerriss, dass der Scharfschütze ihn verfehlt hatte, noch bevor der Baumstumpf vor ihm explodierte. Während der Hubschrauber über ihn hinwegzischte, stolperte Lo gan weiter und krachte in den zerfetzten Stumpf. Er wusste, dass der Scharfschütze bei dieser Fluggeschwindigkeit nur Gelegenheit für einen Schuss hatte. Diesen Fehler würde der Pilot nicht noch ein mal machen. Beim nächsten Anflug würde er langsam und tief fliegen, um seinem Partner Zeit zum Zielen zu geben. Als der Hubschrauber wendete und wieder auf ihn zukam, verlängerte Logan die M9, indem er sie mit beiden Händen und aus gestreckten Armen vor sich hielt, während er darauf wartete, dass er näher kam. Er atmete in abgehackten Stößen, während er gegen die aufsteigende Panik ankämpfte, die ihn fast zu überwältigen drohte, als er die Augen schloss, um durch den Scheinwerfer nicht ge blendet zu werden und seine Nachtsicht zu verlieren.
Als der MD-500 wieder gerade flog, senkte sich der Strahl, und Lo gan öffnete die Augen. Er sah, dass der Scharfschütze sich aus der Glaskuppel lehnte. Schnell berechnete er die Entfernung, dann rich tete er seine Pistole auf den Hubschrauber und feuerte rasch hinter einander drei Schüsse ab – die alle auf den Piloten zielten. Ein Funke blitzte auf, als der erste Schuss von der kugelsicheren Glashaube abprallte. Dann leuchtete es noch einmal hell auf, als das Glas einen Riss bekam. Der dritte Schuss prallte von den Rotorblät tern ab, als der Pilot einen Schlenker flog, um Logans Kugelfeuer auszuweichen. Sein Flugmanöver kam so plötzlich und unerwartet, dass es den Scharfschützen aus seinem Sitz riss. Während der Hubschrauber davontrudelte, sah Logan den Scharf schützen mit wild um sich schlagenden Armen und Beinen zu Boden stürzen. Er hörte einen lauten Aufprall, als würde ein Ast un ter seiner Schneelast brechen, als die Wirbelsäule des Scharfschützen auf einem Baumstumpf zerschmettert wurde. Das Gewehr knallte neben seinem Besitzer auf den Boden, und Logan rannte los, um es sich zu holen. Der Hubschrauberpilot musste wohl Hilfe angefordert haben, denn Logan hörte ein weiteres Motorengeräusch, das sich näherte – man konnte zwar noch nichts sehen, aber das Geräusch kam schnell näher. In der Zwischenzeit brachte der Pilot sein Fluggerät wieder unter Kontrolle und ließ den Strahl des Scheinwerfers auf der Suche nach seinem Kameraden über den Boden gleiten. Logan ließ den Hubschrauber nicht aus den Augen, als er mit dem Fuß plötzlich hängen blieb und stürzte. Als er den Kopf wieder hochnahm, hatte er den Mund voller Dreck und er schaute mitten ins Gesicht des sterbenden Scharf schützen, der wie eine zerbrochene Puppe über dem Stumpf hing. Die Augen des Mannes huschten von einer Seite zur anderen. Er gab einen gurgelnden Laut von sich, aber wegen der zerschmetterten Wirbelsäule konnte er sich nicht rühren. Logan verschwendete keine unnötige Zeit damit, ihn endgültig zu erledigen, sondern er tastete
den Boden ab, bis er fand, worüber er gestolpert war – das Scharf schützengewehr. Aber sein Zielfernrohr war zerbrochen und sein Lauf verbogen. Logan fluchte und warf die nutzlose Waffe fort. Er versteckte sich hinter dem sterbenden Mann, als der Hub schrauber wieder über seinen Kopf flog. Doch dieses Mal glitt der Strahl des Scheinwerfers über die Bäume am Waldrand – offensicht lich hatte der Pilot ihn aus den Augen verloren. Nachdem der Hub schrauber an ihm vorbeigerast war, durchsuchte Logan den Gürtel des Scharfschützen. Er fand eine Pistole aus chinesischer Herstel lung und eine hochexplosive Granate. Logan schob seine M9 ins Holster zurück und richtete jetzt die chinesische Pistole, die mehr Stoßkraft hatte, auf den zurückkeh renden Hubschrauber. Der Hubschrauber stürzte sich auf ihn herab, und der Scheinwerfer blendete ihn mit seinem hellen Strahl. Sogar mit halb geschlossenen Augen bildete das Licht ein hübsches Ziel, und Logan nahm es ins Visier. Er leerte das Magazin mit schnell aufeinander folgenden Schüssen. In einer Fontäne aus Funken und Glassplittern verlosch das Licht. Der Hubschrauber kam weiter auf ihn zu. Er flog mit ungefähr vierzig Kilometern pro Stunde in weniger als fünfzehn Metern Hö he. Logan warf die leere Pistole weg und zog den Splint der Hand granate. Als der Hubschrauber über sein Versteck donnerte, warf Logan die Granate durch die offen stehende Tür, an der der Scharf schütze gesessen hatte. Der Pilot sah sie im hohen Bogen in der Kabine landen. Während er verzweifelt versuchte, die Granate zu finden, bevor sie explo dierte, verlor er die Kontrolle über sein Fluggerät. Der Hubschrau ber drehte sich wie ein Kreisel um sich selbst, als der Mann die Bombe endlich zu fassen bekam und sie hinauswarf. Nur Zentime ter von der Landekufe entfernt ging die Granate in die Luft, und die Explosion verpasste dem Hubschrauber einen heftigen Stoß. Pech für den Piloten war nur, dass der außer Kontrolle geratene Hubschrauber zu nah an die Hochspannungsleitungen geflogen
war. Die rotierenden Blätter verfingen sich in den Stromkabeln, und der Rumpf des Hubschraubers knallte in den Turm. In einer strahlend hellen Feuerwolke explodierte der MD-500, und es regnete brennende Trümmerteile auf die flache Ebene. Die Explosion fegte über Logan hinweg, die Hitze versengte seine Haut und setzte seine Haare in Brand. Er rollte sich auf der Erde, um die Flammen zu ersticken, dann sprang er auf, als der zweite Hub schrauber dicht über die Baumspitzen flog und dann auf ihn zu raste. Das vertraute Knattern einer AK-47 begrüßte Logan. Von oben regnete es Kugeln auf ihn herab. Dem Feuer einer automatischen Waffe würde er nicht lange ausweichen können. Als der Hubschrau ber ihm den Weg abschneiden wollte, lief Logan in den Wald zu rück, auch wenn das Gebell der Hunde nun fast so laut wie der über ihm fliegende Hubschrauber war. Bei den Bäumen traf Logan plötzlich ein gleißender Lichtstrahl – ein dritter Hubschrauber war eingetroffen. Im Zickzack flüchtete Logan vor dem strahlend hellen Licht, auch als er das Knacken eines Gewehrs hörte. Er warf sich auf den Boden, während der Strahl des Suchscheinwerfers über ihn hinwegglitt und auf zwei Soldaten fiel, die mit ihren Gewehren auf ihn zielten. Logan zog seine Beretta und gab zwei schnelle Schüsse ab. Beide Männer stürzten um, während Blut aus ihren Körpern spritzte. Logan kam hoch und hechtete förmlich in den Wald hinein. Als er zwischen zwei dicken Baumstümpfen zu Boden stürzte, knallte der Kolben eines Gewehrs gegen seinen Kopf, und die Spitze eines Ba jonetts bohrte sich in seine Eingeweide. Er heulte auf, als der Mann mit dem Bajonett aus seinem Versteck trat und die Klinge tiefer in seinen Bauch drückte. Während ihn die Klinge am Boden festhielt, stürzten sich noch mehr Soldaten wie eine wilde Meute auf ihn und schlugen mit ihren Gewehren auf Logan ein. Jemand schnauzte einen wütenden Befehl, und die Soldaten zogen sich zurück. Ein Offizier beugte sich tief über Logan und brüllte ihm
koreanische Drohungen ins Gesicht. Logan täuschte Bewusstlosig keit vor, während er seine blutige Hand nach seinem Kampfmesser ausstreckte und es aus der Scheide zog. Noch einen töten, und ich werde nicht allein zur Hölle gehen … Logan holte aus und rammte dem Mann die zehn Zentimeter lange Klinge in den Hals. Das Messer blieb in seinem Adamsapfel stecken. Eine schnelle Aufwärtsbewegung, und die Arterie des Offi ziers war durchtrennt. Heißes Blut ergoss sich über Logan, als der Koreaner zusammenbrach. Danach schlugen alle – noch hemmungsloser als zuvor – auf ihn ein, bis sich gnädige Dunkelheit um Logan ausbreitete.
»Na los, Anderson, lass uns den Zombie des Professors anschnallen. Die Cafeteria schließt in zehn Minuten, und ich will noch eine heiße Mahlzeit. Heute Abend gibt's Steak mit Pommes Frites.« Mit Hilfe des Elektrostabs führte Anderson Logan zum Untersu chungsstuhl. Ohne sich die Mühe zu machen, die Arme der Ver suchsperson zu fesseln, wie es das Sicherheitsprotokoll vorschrieb, begann Anderson den kybernetischen Helm zu lösen. Lynch schaute ihm dabei neugierig zu. »Der Prof sagt, der Helm soll entfernt werden, aber die Kabelver bindungen sollen bleiben«, meinte Anderson. »Dann sollen wir also auch die Batterien anlassen?« »Ja, denke ich mal«, erwiderte Anderson, als er das Visier abnahm und die Hände nach dem Helm ausstreckte. »Und den Alarm ein stellen, richtig?« »Ich glaub schon«, sagte Lynch. »Okay, Alarm ist eingestellt.« Als der Helm abgehoben wurde, erfolgte eine plötzliche Bewusst seinsexplosion in Logans betäubtem Gehirn. Ein Gedanke flackerte durch seinen halb leeren Kopf. Noch einen töten, und ich werde nicht allein zur Hölle gehen …
*** »Ich verstehe das alles nicht, Ms. Hines.« Cornelius stand mit hochgezogenen Schultern im Labor. »Zuerst sagt man mir, dass ich im Rahmen von Experiment X eine Art Su persoldaten erschaffen soll. Dann stellt sich heraus, dass er eine Art mutiertes Tierwesen ist und dass er beim Adamantium-Ver bindungsprozess und durch die Schmerzen, die er dabei erlitt, ver rückt geworden ist …« Ein Gehirnspezialist aus Dr. MacKenzies Team, der neben Carol Hines am EMaM-Terminal arbeitete, unterbrach sein Tun und hörte zu. Cornelius, der davon nichts merkte, fuhr mit seiner Tirade fort. »Jetzt redet der Professor von der ›perfekten Killermaschine‹ und fragt ›Was ist das gefährlichste Tier?‹, als wäre dieser arme Junge so etwas wie ein Auftragskiller. Was soll diese Waffe eigentlich? Uns vor den Kommunisten schützen?« Cornelius runzelte die Stirn. »Ich wollte nie Waffen bauen. Sie wissen wahrscheinlich, dass ich praktisch zu dieser ganzen Sache er presst worden bin. Nein … wahrscheinlich wissen Sie es nicht.« Carol Hines drehte sich zu dem Spezialisten um. »Warum machen Sie jetzt nicht Ihre Kaffeepause, John?« »Aber ich habe noch Dienst bis …« »Machen Sie eine Pause, John.« Der Mann nickte, dann eilte er davon. Als er weg war, drehte Ca rol Hines sich auf ihrem Stuhl, um Cornelius anzuschauen. »Ich habe mir nie allzu große Gewissensprüfungen auferlegt«, meinte er zu ihr. »Aber ich habe eine gewisse Verantwortung gegen über der Menschheit … Und in mir steckt kein Mörder, Ms. Hines … Egal, was Sie auch gehört haben mögen. Ich bin kein Mörder. Ich bin nicht wie der Professor.«
Carol Hines sagte eine ganze Weile keinen Ton. Als sie endlich wieder sprach, klang ihre Stimme sanft, aber entschlossen. »Wenn Sie mich brauchen, Doktor, werde ich Ihnen helfen. Bei allem, was Sie vorhaben.« Cornelius öffnete schon den Mund, um zu antworten, doch da er tönte plötzlich ein schrilles Heulen. »Der Alarm!«, rief er. »Auf die Quelle richten, Ms. Hines.« Die Frau schwang herum und drückte auf den Knopf, der die Quelle anzeigen sollte. Auf dem riesigen Monitor erschien das Inne re von Labor Zwei – die Zelle von Subject X. Logan stand ohne Helm und mit ausgefahrenen Klauen da. Mit dem linken Arm holte er gerade aus, und von den Stahlklauen seines erhobenen rechten Armes hing schlaff ein toter Wärter, von dem Blut tropfte, als würde es sich um ein frisches Stück Rindfleisch handeln, das von einem Fleischerhaken hing.
FÜNFZEHN Waffe X
»Der Alarm kommt aus Labor Zwei. Es ist Mr. Logan. Er ist ausge brochen.« Carol Hines war es gelungen, die Angst aus ihrer Stimme zu hal ten, doch nicht aus ihren Augen. Sie starrte auf den Sicherheitsmoni tor und beobachtete, wie Logan seine linke Faust in den zweiten Wachmann stieß – den Körper aufspießte und seine schimmernden Klauen so weit hindurchtrieb, dass sie auf dem Rücken des Opfers wieder hervortraten, während er den Mann so träge herumschwang, als wäre er eine von einer Mistgabel aufgespießte Stoffpuppe. Cornelius stürzte sich auf die Gegensprechanlage und drückte auf den Knopf. »Professor! Professor!« »Was ist los, Cornelius?« Die Stimme des Professors war voll vom Ärger eines Vorgesetzten, der unerwartet von einem Untergebenen gestört wurde. »Sie Wahnsinniger!«, brüllte Cornelius. »›Das gefährlichste Tier‹, sagten Sie. Benutzen Sie jetzt etwa unser Sicherheitspersonal als Ver suchskaninchen? Sie sind verrückt!« »Was?« Der Professor drehte sich zu seinem eigenen Monitor um. Auf dem Bildschirm schlug Logan gerade auf die Tür ein. »Damit habe ich nichts zu tun, Cornelius. Ich habe keine Kontrolle darüber!« Der Alarm verwandelte sich in einen warnenden Heulton, der durch die ganze Anlage schallte. Cornelius schaltete die Lautsprecheranlage ein, und seine Stimme ertönte auf jedem Kanal, sodass die Warnung in jedem Stockwerk zu hören war. »An die gesamte Sicherheit in Zone Zwei. Waffe X ist
ausgebrochen.« Cutler hatte gerade die Tür zu Deavers Büro erreicht, als der Alarm ertönte. Er wirbelte herum um und rannte zum Waffenarse nal, wo er mindestens fünfzig weitere Wärter anzutreffen erwartete – die Standardvorgehensweise bei so einer Situation. »Professor«, rief Cornelius über die direkte Verbindung. »Meine Notfallabschaltung funktioniert nicht. Schalten Sie die Energie über die Bildschirmkontrollen in der Befehlszentrale aus.« »Ich versuche es, Cornelius. Mein Aus-Schalter funktioniert auch nicht. Ich glaube, Logans Batterien sind immer noch angeschlossen.« »Was ist mit Ihrer Störungssicherung passiert, Professor?« »Ich sagte doch, die funktioniert nicht. Logan hat den Helm nicht mehr auf, aber irgendein Dummkopf hat die Power Packs drange lassen. Er bewegt sich nach Lust und Laune, er ist völlig außer Kon trolle geraten und empfängt keines unserer Signale.« Auf dem Monitor des Professors war zu sehen, wie Logan die Si cherheitstür mit einer Leichtigkeit aufriss, die an einen Jaguar er innerte, der Menschenfleisch zerfetzte, wobei seine AdamantiumKlauen auch vor Stahl nicht Halt machten. Er trat durch die Trüm mer der Tür in den Gang und traf dort auf einen jungen Techniker, der gerade Geräte von einem Labor ins andere brachte. Logan holte nur einmal elegant aus, und schon lag der Mann in einer schnell größer werdenden, blutroten Lache. Zwei Wachen, die mit Betäubungsgewehren bewaffnet waren, stürmten durch den Gang. Ihre Funkgeräte knackten. »Drei Männer liegen am Boden und zwei sind aktiv. Erbitten Erlaubnis zu schießen.« »Natürlich, Mann, Schießen Sie!« Der überlegene Ton war aus der Stimme des Professors verschwunden. Jetzt schwang in ihr nur noch Panik mit. Eine an der Decke angebrachte Sicherheitskamera übertrug die Geschehnisse auf die Bildschirme von Cornelius, Carol Hines und
des Professors. Zwei Wachmänner im Vordergrund feuerten un ablässig mit Betäubungspfeilen auf Subject X. Logan verhielt sich so, als wären es nur Papierkügelchen, mit denen sich Kinder auf dem Schulhof bewerfen. Er wischte die störenden Geschosse einfach weg und ging weiter. Die Wachen wichen zurück. Erst langsam, dann immer schneller. »Sicherheit … Wir brauchen hier unten scharfe Munition. Ich wiederhole. Wir brauchen …« Mit einer einzigen fließenden Bewegung spießte Logan den ersten Wachmann auf, wobei die unzerstörbaren Klauen schusssichere Weste, Uniformstoff, Sehne und Knochen wie Papier durchdrangen. Völlig mühelos warf er den durchbohrten Kadaver über seine Schulter. Beim zweiten Wachmann schlug er das Gewehr beiseite, während seine Klauen Herz und Lunge des Mannes aufschlitzten. Die gurgelnden Schreie, die über die Lautsprecheranlage im ganzen Komplex zu hören waren, versetzten alle in Angst und Schrecken. Im Hauptlabor, wo Cornelius sich törichterweise immer noch ein redete, dass die Pfeile die Versuchsperson würden aufhalten können, verdrängte wissenschaftliches Erstaunen allmählich ihr Ent setzen, das schon fast an Hysterie grenzte. »Sir, wie konnte das passieren?«, fragte er den Professor, wobei seine Stimme sich langsam in einen respektvoll-sachlichen Ton wandelte. »Logan war vollständig angeschirrt. Wie konnte er über haupt …« »Es ist noch nicht vorbei«, unterbrach ihn Carol Hines. »Die Betäu bungsmittel scheinen nicht zu wirken.« Sie schaute von der EMaM-Konsole auf, und Cornelius begegnete ihrem Blick: Ihre Panik war wieder da, zusammen mit etwas anderem, was ganz nach Erregung aussah. Hines hatte entdeckt, dass Subject X zwar nicht mehr von den Wissenschaftlern kontrolliert, er von ihnen aber immer noch über wacht werden konnte. Ein nicht abreißender Datenstrom floss in Hines' EMaM-Konsole, die ein klares Bild von Logans Taten und sei
nen aktuellen Fähigkeiten vermittelte. Eine Sache war ihr überdeut lich – seine Gehirnaktivität, die eigentlich unterdrückt sein sollte, lief auf Hochtouren. Logan begann Empfindungen zu entwickeln. Und sobald er das volle Bewusstsein erlangt hatte, würde sogar sein Verstand messerscharf arbeiten. Cornelius schlug wütend mit der flachen Hand auf die Konsole. »Das ist Irrsinn, Professor. Können Sie nichts tun?« »Mein System reagiert nicht. Ich habe keinerlei Kontrolle über Waffe X«, wiederholte der Professor bestürzt. »Wer sonst?«, fragte Cornelius zornig. »Tja …«, murmelte der Professor. »Wer sonst?« Im verängstigten Blick des Professors zeichnete sich langsam ein geheimnisvolles Verständnis ab, ein Verständnis, in das er Cornelius nicht einweihte. »Dies ist ein Notfall«, unterbrach Major Deavers ihre Unterhaltung über die Lautsprecheranlage. Seine Stimme klang ängstlich und schrill. »Ich verliere Männer in Zone Zwei. Ich brauche Ihre Hilfe …«
Im Waffenarsenal hatten sich mittlerweile dreiunddreißig Wach männer zusammengefunden. Doch als Cutler auf sie traf, waren sie nicht dabei, sich zu bewaffnen, sondern glotzten alle auf den Si cherheitsbildschirm. Verdammte Ama teure. »Wen hat's erwischt?«, fragte er barsch. »Anderson und Lynch in Labor Zwei«, antwortete Erdman. Sein Gesicht war nur eine blasse ovale Fläche mit sorgenvollen Falten darin. »Pollock und Gage im Gang.« Cutler sah sich die Aufzeichnung noch einmal an. »Um wen handelt es sich bei der anderen Leiche?«
»Irgendein Techniker. Der arme Kerl lief der psychotischen Labor ratte über den Weg«, erklärte ihm Erdman. Cutler wandte sich an alle. »Alles fertig machen. Ich werde scharfe Munition ausgeben …« »Deavers wartet immer noch auf die Genehmigung des Professors«, unterbrach Erdman. Cutler schnaubte. »Ich scheiß auf den Mist! Ich genehmige die scharfe Munition – ich nehme kein Risiko auf mich.« Während die Männer ihre Schutzkleidung überstreiften, gab Cut ler einen langen Code in den in die Wand eingelassenen Zahlen block ein und riss die Tür zur Waffenkammer auf. Die Wachleute versammelten sich um ihn, während er das schwere Kaliber ausgab – Heckler & Koch UMP.45-Kaliber Maschinenpistolen mit Maga zinen zu fünfundzwanzig Schuss.
Auf seinem Monitor beobachtete Cornelius Logan dabei, wie dieser sich in weniger als einer Minute einen Weg durch eine luftdicht verschlossene Schleuse bahnte. Die Tür bestand aus fünf Zentimeter dickem, karbonisiertem Stahl, was leider keine Rolle spielte. »Professor«, rief Cornelius durch die Sprechanlage, »können Sie den Gang ferngesteuert versiegeln?« »Versiegeln?« Auf dem kleineren Monitor sah Cornelius, wie das verkniffene Gesicht des Professors einen teigigen Farbton annahm. »Ja. Um Logan in Zone Zwei festzusetzen.« Der Professor begann zu stottern. »Ich … ich … Hier funktioniert nichts. Und Sie … Sie haben doch gesehen, was er mit dieser Schleuse gemacht hat …« »Bitte«, kreischte Major Deavers über die Sprechanlage. »Gibt mir hier jetzt endlich einer eine Anweisung? Professor? Dr. Cornelius? Dr. Hendry? Hier bricht alles zusammen! Ende.«
»Können Sie irgendeinen Teil von Zone Zwei von Ihrer Kom mandozentrale aus schließen, Professor?«, wiederholte Cornelius und versuchte dabei, zum völlig gelähmt dasitzenden Professor durchzudringen. »Sir«, unterbrach Carol Hines. »Logan entfernt sich von Labor Zwei. Er nähert sich Zone Drei und dem Block D.« Cornelius und Hines starrten einander an. Beide dachten das Glei che – Dr. Hendry und seine Leute befanden sich in Block D. »Sicherheit! Begeben Sie sich nach D und Zone Drei«, rief Corneli us in die Gegensprechanlage. »Er steigt in den Wartungstunnel«, warnte Carol Hines als Nächs tes. Cornelius brach der Schweiß aus. »Wenn er da reingeht, kommt er überall hin. Sogar an die Oberfläche.« »Doc!« Das war Major Deavers. »Ich habe fünf Männer verloren. Wir brauchen mehr Betäubungsmittel, um mit dieser Situation fertig zu werden.« Cornelius antwortete nicht. Einen Augenblick lang nahm der verwirrende Anblick, der sich ihm auf seinem kleinen Monitor bot, seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Der Professor führte eine angeregte Unterhaltung auf einer sicheren Frequenz. Cornelius lauschte aufmerksam. Er mochte von der Unterhaltung vielleicht nur die eine Seite mitbekommen, aber er musste zuhören … »… Ist Ihnen klar, was da gerade passiert?«, fragte der Professor gerade. »Dr. Cornelius? Hier Deavers. Hören Sie mich?« Cornelius fluchte. »Ja«, sagte er zu Deavers. »Ich … äh, ich höre.« »Wir können ihn nicht ohne scharfe Munition erledigen. Verstehen Sie mich?« »Ja … ja«, sagte Cornelius, der immer noch versuchte, das Gespräch, das auf der privaten Leitung des Professors geführt wurde, zu belauschen.
»… das stimmt«, sagte der Professor eben, »das Experiment ist außer Kontrolle geraten. Er läuft Amok, würden Sie vielleicht sagen …« »Ms. Hines«, stieß Cornelius hervor, während er auf den kleinen Monitor zeigte. »Mit wem redet er da?« »Der Computer zeigt eine externe Einheit an, Sir. Eine Satelli tentransmission, die nicht zurückverfolgt werden kann. Er hat an scheinend vergessen, seine Gegensprechanlage auszuschalten. Er weiß nicht, dass wir ihn hören können.« »Genau«, fuhr der Professor fort. »Er bringt jeden um, der ihm über den Weg läuft … Aber Sie müssen wissen, dass Logan voll ver kabelt ist. Aber meine Steuerungskonsole funktioniert nicht …« »Doc! Professor!«, brüllte Deavers. »Ich sage es nochmal laut und deutlich! Sie müssen jetzt die Waffenwahl genehmigen. Ich habe zwei Männer da unten. Sie sitzen in Stockwerk Drei fest. Logan blo ckiert die Sicherheitsleiter, und sie müssen an ihm vorbei, um rauszukommen. Sie sind mit Betäubungsgewehren bewaffnet – gott verdammten Pusterohren. Sie haben nicht den Hauch einer Chance!« Cornelius richtete seinen Blick auf den Monitor, der Logan ver folgte. Die beiden Männer von der Sicherheit bewegten sich vor sichtig durch einen dunklen Zugangsschacht. Für den Wissenschaft ler sahen die beiden wie Kanalratten aus, Nager auf der Futtersuche. Und plötzliche erkannte Cornelius, dass sie auch genau das waren. Ohne Voraussicht, ohne höhere Intelligenz, nur mit der begrenzten Wahrnehmung, die ihnen durch die schwachen, batteriebetriebenen Strahlen ihrer Taschenlampen gewährt wurde, die über Wände und Decke tanzten. Ehe Cornelius einen Warnruf ausstoßen konnte, traf ein Lichtstrahl Logan, der an der Wand kauerte. Wie alle intel ligenteren Lebensformen brauchte er nicht mehr zu tun, als darauf zu warten, dass die Falle zuschnappte. In dem Moment, als die Wachen Logan sahen, legten sie nervös ihre Betäubungsgewehre an.
»Nicht schießen! Nicht schießen!«, brüllte Cornelius. »Deavers, ho len Sie Ihre Männer da raus. Jetzt!« Zu spät. Das Knallen der abgefeuerten Pfeile klang wie Spielzeug gewehre im Tunnel. Dann ertönten Schreie, die sich in schrillen Schallwellen über die metallverkleideten Wände des unterirdischen Tunnels fortsetzten, als Logan angriff. »Sicherheitszone Drei!«, brüllte Deavers. »Raus aus dem Tunnel …« Dem ersten Wachmann durchbohrte Logan den Bauch. Seine Ada mantium-Klauen drangen mit Leichtigkeit durch die schusssichere Weste und sein Fleisch. Als er die Klauen wieder herauszog, hinter ließen sie ein so großes Loch, durch das die Organe des Mannes als dampfende rosa-gelbe Masse herausströmten. Als der zweite Wachmann sich zur Flucht wandte, trennte ihm ein einziger Hieb die linke Schulter vom Rumpf ab. Der Arm zuckte noch, als er auf den Boden fiel. Halb tot kroch der hysterische Wach mann, aus dessen Schulter schwarzes Blut schoss, aus dem Sichtfeld der Kamera. Logan verfolgte ihn nicht weiter. »Oh Gott«, keuchte Deavers. »Das waren Conran und Chase.« Die Sicherheitsmänner im Waffenarsenal reagierten mit Abscheu und Wut auf das Abschlachten ihrer Kameraden. Der Professor redete in seiner Kommandozentrale weiter mit sei nem unbekannten Gesprächspartner. Er hatte immer noch nicht be merkt, dass Hines und Cornelius ihn belauschten. Sein Gemurmel war die Hintergrundmusik des Chaos, das sich in der Anlage ab spielte. »Wir verlieren unsere Sicherheitsleute ziemlich schnell …«, teilte der Professor seinem Partner auf der anderen Seite der Satellitenver bindung gerade mit. »Professor«, rief Cornelius, ihn schließlich doch unterbrechend, »Ich brauche Ihre Genehmigung, um den Männern Schießbefehl zu
geben. Hören Sie mich, Professor?« »… unter diesen Umständen … würde ich gerne fragen … ist Ihre Hand bei dieser Sache mit im Spiel?« Cornelius wandte sich an Hines. »Er hört mir nicht zu. Ich glaube, er hat den Verstand verloren.« Carol Hines antwortete nicht. »Ms. Hines?« Sie schien von dem Datenstrom in ihren EMaM wie hypnotisiert. »Carol!« Carol Hines schaute auf. Auf ihrem Gesicht lag ein hoffnungs voller Ausdruck. »Sir, ich glaube, ich habe etwas Wichtiges ge funden.«
Cutler hatte die Männer zu einer, wie er hoffte, schlagkräftigen Truppe zusammengestellt. Wegen der beengten Räumlichkeiten, in denen sie würden kämpfen müssen, hatte Cutler nur fünfzehn UMPs an diejenigen ausgegeben, die er für seine besten Männer hielt, weil sie entweder über jahrelange militärische Erfahrung verfügten oder zu den jenigen gehörten, die trotz des Chaos, das um sie herum herrschte, nicht den Kopf verloren hatten. In dieser Gruppe befand sich auch Agent Franks. »Dicht bei mir bleiben, wenn wir zuschlagen«, sagte Cutler zu Franks, als er die Waffe dem Agent in die Hand drückte. Alle anderen Wachen wurden mit kurzläufigen M14s ausgestattet – halbautomatische Waffen, die keine so hohe Schussrate wie die Maschinengewehre hatten. Cutler hielt seine Männer im Moment für viel zu nervös, um ohne Aufsicht gute Arbeit leisten zu können. Je weniger Kugeln flogen, desto geringer die Chance, dass einer von den eigenen Leuten getroffen wurde, hatte sich Cutler gedacht.
Und wie viele Kugeln werden wohl überhaupt nötig sein, um Logan zu stoppen?, überlegte Cutler. Er ist schließlich nur ein Mensch – na ja, so was Ähnliches … Dann führte Cutler seine bewaffneten und mit Schutzanzügen be kleideten Männer in den Wartungstunnel über Zone Drei. Sobald sie darin waren, ließ er seine Männer eine geschlossene Schlachtreihe bilden – eine keilförmige Formation, deren höchste Feuerkraft vorne lag. »Ich gehe an der Spitze«, erklärte Cutler und nahm sein UMP hoch. »Nein, ich übernehme die Spitze«, widersprach Erdman und trat vor. »Was ist das Problem, Erd? Kein Vertrauen zu mir?« »Ich vertraue Ihnen, Cutler. Das ist der Grund, warum ich die Spitze übernehmen möchte«, erwiderte Erdman. »Major Deavers ist unsicher und versucht, die Eierköpfe davon zu überzeugen, dass wir Waffen benutzen sollten. Aber Sie haben die Verantwortung übernommen und dafür gesorgt, dass wir uns bewaffnen – egal, was die verrückten Wissenschaftler wollen. Das macht Sie zum einzigen Anführer, den wir haben.« Dann grinste Erdman hinter seinem Visier. »Davon abgesehen, will ich noch mal auf diesen Mistkerl schießen.« Cutler gab nach und bezog Position an der rechten Flanke. »Okay. Los geht's.«
»Mr. Logan hat drei Zonen durchbrochen und befindet sich jetzt in hundert Metern Entfernung von der Kommandozentrale des Professors in Zone Drei, Block C«, sagte Carol Hines. »Himmel.« Cornelius rieb sich den Nacken. Aus jeder Pore seines Körpers trat Schweiß, und sein brauner Bart fühlte sich so an, als würde es darin vor Insekten wimmeln.
»Und das ist kein Zufall, Sir«, fuhr Hines fort. »Ich habe seine Be wegungen von seiner Zelle in Labor Zwei zurückverfolgt. Er geht völlig planvoll zu den Räumlichkeiten des Professors.« »Ich weiß nicht, Ms. Hines. Das scheint nicht logisch zu sein, wo her soll Logan denn überhaupt wissen, wo der Professor ist?« »Sie werden sich doch daran erinnern, dass er einen Bären in weniger als vier Minuten aufgespürt hat, Dr. Cornelius. Unser Mr. Logan hat eine sehr unheimliche Fähigkeit zum Aufspüren von Beu te an den Tag gelegt.« »Aber das war im Rahmen eines Experiments, Ms. Hines.« Carol Hines warf einen Blick auf den kleinen Bildschirm, auf dem der Professor zu sehen war, welcher immer noch in sein seltsames Gespräch vertieft war. »Und wer sagt, dass wir es nicht wieder mit einem Experiment zu tun haben, Sir?« »… ich verstehe, ich verstehe«, sagte der Professor eifrig. »So, wie ein Hund in die Hand beißt, die ihn füttert, was? … Ein sauberer Schnitt … nutzlosen Ballast loswerden, nicht wahr?« Cornelius schaltete die Gegensprechanlage an. »Sicherheit? Major Deavers? Holen Sie sich die großen Gewehre. Schießen Sie scharf.« »Der Professor hat also sein Okay gegeben, Doktor?«, fragte Dea vers. »Nein«, sagte Cornelius, während er Logan dabei beobachtete, wie dieser sich schnell dem Allerheiligsten des Professors näherte. »Aber es wird in seinem Sinne sein, glauben Sie mir. Und machen Sie schnell, okay? Ende.« Deavers meldete sich ab, sodass nur noch zwei Geräusche zu hö ren waren, die das Hintergrundsurren der Geräte im Labor übertön ten: das Ticken von Hines Überwachungsgerät und die murmelnde Stimme des Professors. »… da ist noch eine Sache … ich möchte Sie fragen … soll ich flie hen oder soll ich hier abwarten, während Waffe X – wie Sie es formuliert haben – nutzlosen Ballast entsorgt?«
Cornelius starrte den Verrückten auf dem Bildschirm an, der eine gepflegte Unterhaltung führte, während die ganze Anlage im Chaos versank. Noch während sein Blick auf den Bildschirm gerichtet war, wurde der Stuhl des Professors plötzlich angehoben und eine Klau enhand schlitzte von unten die Bodenstahlplatten auf. Der Professor stieß einen gellenden Schrei aus, als er sütrzte und Logan sich weiter durch Stahl und Beton arbeitete. Er suchte offen bar fieberhaft nach einer Gelegenheit, an seine verhasste Beute zu kommen. Cornelius wich entsetzt einen Schritt vom Monitor zurück. »Gü tiger Himmel. Wir müssen etwas tun.« Ms. Hines war aufgesprungen. Die Arme hatte sie um sich ge schlungen, und ihre Gesichtszüge waren angespannt. »Die Si cherheitskräfte sind fast da, Sir. Die sollten damit fertig werden.« »Aber wir sollten ihm auch helfen … oder etwa nicht?« Carol Hines konnte nicht mehr antworten. Sie begann vor Ent setzen zu schluchzen, als sie das wilde Kreischen des Professors hörte. Cornelius trat näher an sie heran, doch als er seinen Arm um ihre Schultern legen wollte, schrak sie zurück. »Fassen Sie mich nicht an! Fassen Sie mich nie, nie wieder an!«, rief sie, während sie am ganzen Körper unkontrolliert zitterte.
Die Wachleute sprangen im Stockwerk Drei aus dem Wartungs tunnel. Die Fahrstühle waren außer Betrieb gesetzt und die Treppenaufgänge gemäß den Notfallsicherheitsvorschriften abge schlossen. Glücklicherweise gab es keine unschuldigen Zivilisten, die durch die Gänge wanderten. Wenn hier irgendjemand war, dann zitterte er wahrscheinlich hinter versiegelten Türen. Doch die Sirenen heulten immer noch, und der Lärm begann sie allmählich abzulenken. »Warum schaltet niemand das verdammte Ding ab?«, beschwerte sich Altman.
»Geht nicht«, erwiderte Cutler. »Nur unser Kumpel Deavers kann den Alarm von der Kommandozentrale der Sicherheit aus abschal ten.« Über die in die Helme eingelassenen Empfänger ertönte knisternd eine Stimme. »Hier Deavers an alle Sicherheitseinheiten. Sofort im Waffenarsenal sammeln, wo schwere Waffen ausgegeben werden.« »Wenn man vom Teufel spricht«, flüsterte Altman. Erdman klopfte gegen den Kopfhörer in seinem Helm, als könne er seinen Ohren nicht trauen. Dann drehte er sich zu den hinter ihm stehenden Männern um und hob sein Heckler & Koch UMP.45Kaliber-Maschinengewehr hoch. »Das ist unser Major. Auf dem neuesten Stand – wie immer.« Ein paar der Männer lachten, aber die meisten waren viel zu ner vös dazu. Alle hatten gesehen, was Anderson und Lynch, Chase und Conran widerfahren war. Sie hatten Angst, wollten es aber nicht zugeben, vor allem nicht vor ihren Kameraden. Cutler spielte auf der rechten Flanke den Leutnant, während Erdman den Feldwe bel gab, indem er Befehle brüllte und für die Moral der Truppe sorg te. Cutler konzentrierte sich derweil auf das, was als Nächstes zu tun war. Er fand, dass jetzt ein guter Zeitpunkt war, um der ›Leitung‹ Bericht zu erstatten. »Cutler an Deavers. Bitte kommen …« Der Major reagierte, als habe er die Stimme Gottes vernommen. »Cutler! Sind Sie im Waffenarsenal?« »Ich habe gerade die Ausgabe der schweren Waffen beendet. Sir? Könnten Sie den verdammten Alarm abschalten?« »Alarm? Ach ja, klar, der Alarm.« Einen Augenblick später senkte sich Stille wie sanfter Schneefall herab. »Wo sind Sie, Cutler?«, fragte Deavers, und etwas von seiner frü heren Autorität war in seine Stimme zurückgekehrt. »Wir bewegen uns auf Stockwerk Drei zu. Sind jetzt in Zone Drei.« »Wie weit sind Sie von Block C entfernt?«
Cutler gab Erdman ein Zeichen, und der ließ alle anhalten. »Major«, antwortete Cutler im Flüsterton. »Wir befinden uns jetzt kurz vor Block C. Was ist der Stand der Dinge?« »Waffe X ist …« Deavers Antwort wurde abgeschnitten, als sie einen Schrei hörten, gefolgt vom panikerfüllten Flehen des Professors. »Helfen Sie mir! Hilfe …« »… hinter dem Professor her«, sagte Deavers. »Er ist …« Cutler drückte den Major weg. Dann schaltete er mit Hilfe eines Codes auch die Hauptübertragung von Deavers an den Rest des Trupps ab. Er blickte auf und sah, dass Erdman ihn neugierig an schaute. »Deavers ist nicht hier unten, also trägt er auch nicht mehr die Verantwortung«, sagte Cutler. »Ich befehle jetzt, wann geschossen wird.« Erdman nickte zustimmend, dann wandte er sich an die anderen. »Auf geht's.« Die Tür zur Kommandozentrale des Professors war zu, aber nicht abgeschlossen. Die zweite Tür am anderen Ende des Ganges war nur angelehnt, wie Cutler über den Bildschirm sah, der in seinen Helm eingelassen war. »Das ist es«, sagte Cutler. »Wir gehen über beide Türen gleichzei tig rein. Erdman, nehmen Sie zehn Männer mit und begeben Sie sich zum anderen Eingang. Sie haben fünfzehn Sekunden, um in Stel lung zu gehen. Los jetzt!« Während sie um die Ecke stürzten, wandte Cutler sich an den Rest. »Sie«, rief er Franks zu. »Nehmen Sie diese Männer mit und versperren Sie den Ausgang dieses Stockwerks. Wenn Waffe X uns entwischt, müssen Sie ihn erledigen.« »Aber Cut …« »Jetzt!« Franks drehte sich um und führte neun erleichterte Sicherheitsleu
te zum Fahrstuhlschacht am anderen Ende des langen Korridors. Cutler sah die zwölf Männer an, die noch bei ihm waren. »Fünf Se kunden«, flüsterte er, während er den Riegel lautlos hinunterdrück te und die Tür einen Spaltbreit öffnete. »Drei. Zwei … Eins … Los! Los! Los!« Cutler stieß mit der Schulter gegen die schwere Stahltür, die auf schwang. Mit der UMP im Anschlag sprang er über die Schwelle. Der Professor lag auf dem Boden. Sein schwerer ergonomischer Sessel, der aus der Verankerung gerissen war, lag über ihm, sodass er sich nicht rühren konnte. An der Stelle, wo Logan in den Raum eingebrochen war, gähnte ein riesiges Loch. Aus der Öffnung hin gen funkensprühende Kabel. Agent Abbot stürzte gleich hinter Cutler herein. »Wo ist der Mistkerl?«, schrie er. »Wo ist Waffe X?« Mit einem animalischen Brüllen ließ Waffe X sich direkt vor ihnen zu Boden fallen – er hatte zwischen den Heiz- und Lüftungsrohren über ihren Köpfen gewartet. »Aufpassen, Cut!«, brüllte Abbot, schob ihn beiseite und hob seine UMP. Aber Logan war schneller. Er holte aus und schlug das Ma schinengewehr aus Abbots Hand. Dann ließ er seine Rechte mit aus gefahrenen Klauen heruntersausen. Der Adamantium-Stahl schnitt durch Helm, Schädel und Gehirn und teilte den Kopf des Agents in vier saubere Scheiben – wie eine reife Wassermelone auf einem Scheidebrett. Abbots Beine knickten ein, und er stürzte schwer zu Boden. Cutler brachte sich mit einem Hechtsprung über die zuckende Leiche sei nes Kameraden in Sicherheit, als Waffe X auf ihn losging. Seine Klauen schlugen Funken auf dem Metallboden. Dann stürzte Erdman mit knatternder UMP durch die andere Tür. Mindestens drei Schüsse trafen Logans nackten Oberkörper, und aus jedem Einschussloch spritzte Blut. Aber Waffe X zuckte noch
nicht einmal zusammen, während er schon herumwirbelte, um sich seinem neusten Gegner zuzuwenden. Mit einem einzigen schnellen Hieb wurde Erdman enthauptet. Sein Kopf flog gegen die Wand, und der Körper tat noch einen letzten Schritt, bevor er umkippte. Durch die letzten Zuckungen lösten sich noch drei Schüsse, die Monitore in die Luft jagten und Computerkonsolen zerstörten. Ein anderer Wachmann, der hinter Erdman gestanden hatte, gab ebenfalls aus kürzester Entfernung drei Schüsse auf Waffe X ab und drängte ihn damit zurück. »Schafft den Professor hier raus!«, brüllte Cutler, während er wieder hochkam. Zwei Männer sprangen an ihm vorbei, dann noch ein dritter und ein vierter. Einer kniete sich neben dem Professor auf den Boden, während die anderen drei den schweren Sessel hoch stemmten und den schreienden Mann darunter hervorzogen. »Alles in Ordnung, Professor,« sagte ein Wachmann laut genug, dass man ihn im Chaos hören konnte. »Wir helfen Ihnen. Es wird alles wieder gut …« Noch mehr Schüsse fielen, verletzten Logan und zerstörten in einem Funkenregen die gesamte Kommandozentrale. »Er … er hat versucht mich umzubringen«, kreischte der Professor. Eine Kugel schlug in die Wand ein, und Mauerstücke und Putz prasselten ins Gesicht des Professors. Er heulte auf, als seine Brille herunterfiel. »Meine Brille … ich kann nichts sehen.« »Ich hab sie, Sir«, sagte der Wachmann, der sich über ihn beugte. Seine Stimme klang hohl hinter dem Visier. Der Professor setzte seine eckige Brille wieder auf, und plötzlich hörte er einen hohlen, schmatzenden Laut. Der Mann, der sich über ihn gebeugt hatte, versteifte sich, und seine Augen verdrehten sich nach oben. Er öffnete den Mund; Blut spritzte daraus hervor und be deckte die Innenseite seines Visiers. Der Wachmann sackte auf ihm zusammen. Das Gewicht seines toten Körpers und der Schutzklei dung, die er trug, erdrückten den Professor fast. Mit einer Kraft, die nur aus Verzweiflung geboren wird, stieß der
Professor die Leiche beiseite. Er streckte die Hand hoch, um die Kante seiner Steuerungskonsole zu packen. Da blitzte es einmal kurz silbern auf. Einen quälend ausgedehnten Moment lang bestand die Welt des Professors nur aus Schmerzen – plötzliche, unerträgliche, alles andere ausblendende Schmerzen. Ein Reflex riss seinen Arm zurück. Durch die Tränen, die seinen Blick verschleierten, sah er den Stumpf, aus dem Blut sprudelte. Die Hand war sauber am Gelenk abgetrennt worden. »Meine Hand!«, heulte der Professor. Doch als ihm sein eigenes Blut ins Gesicht spritzte, wurde die Qual von Wut ersetzt. »Tötet ihn! Macht ihn kalt!«, brüllte der Professor. »Zerstört Waffe X!« Starke Arme packten ihn am Oberkörper, und zwei Wachleute zo gen den Professor aus der Kommandozentrale in einen Seitengang. In der Zwischenzeit beobachtete Cutler, wie die Wachen synchron schossen, vorrückten und so Logan dazu zwangen zurückzuwei chen, bis er mit dem Rücken an der Wand stand. Aber als sie mit ih ren Maschinengewehren auf ihn zielten, um ihn endgültig zu erle digen, stürzte sich Waffe X unerwartet auf sie und schlitzte einem Wachmann, der dumm genug gewesen war, nicht zurückzuwei chen, den Bauch auf. Cutler, der sah, wie ein Mann nach dem anderen starb, stürzte sich in den Kampf, wurde aber erneut zur Seite gestoßen. Er versuchte einen Schuss auf Logan abzugeben, aber das Kampfgetümmel war zu dicht. Waffe X war vollständig von einer wimmelnden Masse kämpfender Wachleute umgeben, die sich vergeblich bemühten, ihn zu Fall zu bringen. »Ist der Professor draußen?«, brüllte Cutler. »Habt Ihr den Professor rausgeschafft? Bitte kommen. Bitte antworten. Was ist los?« »Der Professor ist in Sicherheit«, kam die Antwort. »Er ist okay.« Cutler hörte auch andere Stimmen. Gebrüllte Befehle. Schmerzens
schreie, überraschte Schreie. »Zielperson ist überall … Kein Schuss möglich … Rückzug … Zu spät … Verliere Männer … Gottverdammtes Monster …« Cutler musste mit ansehen, wie Altman von Klauen, die seinen Rumpf durchbohrt hatten, hochgehoben wurde. Logan warf den Kopf des Mannes mit so viel Wucht gegen die Decke, dass der Schutzhelm zersplitterte. Als Altman auf den Boden stürzte, war sein zerschmettertes Gesicht zu Cutler emporgewandt. Seine Nase war zur Seite gebogen, die Augen lagen schief – der Anblick er innerte an eins von Picassos Gemälden. Über ein Dutzend Treffer und doch keine Wirkung. Das ist ein hirnver branntes, sinnloses Massaker. Verflucht! Cutler drückte auf seinen Kommunikator. »Rückzug, alle. Rück zug … in den Gang …«
Agent Franks war überrascht, als sich die Fahrstuhltüren in Stock werk Drei öffneten. Dr. Cornelius und Carol Hines stürzten heraus, um zur Kommandozentrale des Professors zu eilen. »Brrr!«, rief Franks und hielt sie auf. »Sie können hier nicht durch. Da vorn findet ein Kampf statt.« Als sollten seine Worte bestätigt werden, hörten Cornelius und Hines mehrere Schüsse, Schreie und Getöse. »Verdammt«, sagte Cornelius verzweifelt. »Wollen Sie denn gar nichts tun?« »Ich habe meine Befehle«, erklärte Franks ihm mit grimmiger Miene, während er den panischen Stimmen lauschte, die über den Sprechfunk zu ihm drangen. »Rückzug … Verliere Männer … Monster … Verdammtes Massa ker …« Dann stolperte einer von den Sicherheitsleuten um die Ecke. Eine Hand presste er an die Seite, wo das Blut aus einer klaffenden
Wunde, durch die man die Rippenknochen sehen konnte, strömte. Er schaffte es kaum, mit dem anderen Arm den leichenblassen Professor zu stützen. Carol Hines und Dr. Cornelius drängten sich an Agent Franks vor bei, um den verletzten Männern zu Hilfe zu eilen. Franks und zwei Sicherheitsmänner folgten zögernd. Der Rest blieb als hinterste Verteidigungslinie zurück. Der Professor stolperte stöhnend, er krümmte sich über den Stumpf, den er gegen seinen Bauch presste, um die Blutung aufzu halten. »Versuchen Sie sich nicht zu bewegen, Professor. Und bleiben Sie ruhig«, sagte der Wachmann, dem seine eigne Verletzung unsägli che Schmerzen bereitete. »Ich verblute«, kreischte der Professor, dessen Augen vor Qual tränten. Im Allerheiligsten des Professors tobte immer noch der Kampf. Man hörte Rufe, Schreie und Schüsse. »Oberkommando, wir brauchen hier unten eine Trage, schnell!«, rief Franks. Deavers aufgeregte Stimme antwortete ihm. »Was zum Teufel geht da unten vor? Jemand hat mich aus dem Netz geworfen! Wie soll ich Befehle geben, wenn …« »Sir, wir brauchen eine Trage«, unterbrach ihn Franks. »Ist unterwegs«, ertönte die erbitterte Antwort. Agent Franks streckte die Hände nach dem Professor aus, sodass der Mann, der ihn gebracht hatte, sich gegen die Wand lehnen konn te, wo er sofort in sich zusammensank, als die Beine unter ihm nach gaben. »Die Trage kommt, Sir«, sagte Franks beruhigend zum Professor. Doch als er versuchte, ihm zu helfen, stieß der Professor ihn weg. »Ich brauche keine Trage, Sie Idiot. Meine Hand ist ab, nicht mein Bein.« »Oh, nein … Oh, Himmel«, wimmerte Carol Hines, als sie den blu
tigen Stumpf sah. Der Professor tat ein paar schwankende Schritte, dann entdeckte er seine Kollegen. »Cornelius«, keuchte er. »Helfen Sie mir. Bringen Sie mich hier raus.« Nun erblickte auch Cornelius das, was von seinem Arm übrig ge blieben war. »Verdammt – wir müssen die Blutung stoppen.« »Wir brauchen eine Aderpresse«, sagte Ms. Hines und griff nach dem verletzten Arm. »Dr. Cornelius, geben Sie mir Ihre Krawatte.« Cornelius riss sich den Schlips vom Hals, und Hines band damit den roten Stumpf ab. Franks beugte sich über den Mann, der den Professor hergebracht hatte, dann richtete er sich wieder auf und schüttelte den Kopf. »Er ist tot.« Plötzlich ertönten wieder Schüsse, und es folgte ein panischer Ruf über das Kommunikationsnetz. »Wir brauchen Unterstützung! Wir sind …« Die Stimme brach mit einem gurgelnden Schrei ab. »Wer war das?«, fragte einer der Wachleute. Franks zuckte nur mit den Achseln. »Das war nicht Cutler … Vielleicht ist er auch gefallen.« »Was sollen wir jetzt also tun, Franks?« Franks betrachtete den toten, am Boden liegenden Wachmann. Dann nahm er seine UMP hoch und sah die anderen an. »Wir haben den Befehl, Waffe X aufzuhalten, wenn es den anderen nicht gelingt. Also – auf geht's!« »Halten Sie das fest, Professor«, sagte Hines und zeigte auf die ge knotete Krawatte. »Versuchen Sie Ihre Han… Ihren Arm nach oben zu halten. Das sollte die Blutung einen Augenblick aufhalten.« »Wir müssen Sie sofort auf die Krankenstation bringen. Können Sie gehen?«, fragte Cornelius. »Ich kann sogar laufen, Cornelius«, erwiderte der Professor mit einer überraschend festen Stimme. »Bringen Sie mich nur weg von hier. Aber nicht auf die Krankenstation.« »Sir«, protestierte Carol Hines, »jemand muss sich um Sie küm
mern.« »Wir müssen zum Adamantium-Reaktor.« Der Professor drängte sich an ihnen vorbei und eilte auf den Fahrstuhl zu. »Was? Warum, Professor?«, rief Cornelius. »Weil es der einzige Ort ist, wo man vor Waffe X in Sicherheit ist.« »Aber das Sicherheitspersonal wird sich um Logan kümmern, Professor.« »Seien Sie nicht albern, Cornelius. Die haben doch überhaupt keine Chance.«
Major Deavers war ein gebrochener Mann. Ein Bürokrat ohne Auto rität, ein Offizier ohne Kommando. Von der Sicherheitszentrale aus hatte er die Monitore beobachtet und hilflos mit ansehen müssen, wie seine Männer von Waffe X abgeschlachtet wurden. Er hatte ins Mikrofon gebrüllt, obwohl er gewusst hatte, dass seine Truppen ihn nicht hören konnten – weil der verräterische Cutler oder vielleicht auch Erdman bewusst seine Transmissionen blockiert hatte. Er hatte auf die Konsole eingehäm mert, während seine Männer erst einer nach dem anderen, dann en masse starben. Aber bei all dem Schreien und Hämmern tat Deavers die eine Sa che nicht, die vielleicht etwas gebracht hätte. Er hätte nach unten ins Waffenarsenal gehen, einen Schutzanzug anziehen und sich seinen Männern an vorderster Front anschließen können. Aber er tat es nicht. Ein Manager tut so etwas einfach nicht. Das war es, was Deavers sich immer wieder sagte. Jetzt wusste er nicht, wer noch am Leben war – er vermutete le diglich, dass die meisten seiner Männer tot waren. Einige lagen im Gang in der Nähe von Labor Zwei. Und in der Kommandozentrale des Professors lagen die Leichen bis zur Decke aufgeschichtet.
»Es ist nicht meine Schuld … es war ein Aufstand … eine Meute rei.« Deavers hegte den Verdacht, dass seine Männer seine Un terhaltung mit Dr. Cornelius belauscht hatten. Vielleicht dachten sie, ich wäre unentschlossen … Aber ich habe von Anfang an gesagt, dass die schweren Waffen zum Einsatz kommen sollten. Ich kann doch nichts dafür, wenn die Chefs anderer Meinung sind … Deavers gab den Umständen die Schuld an den ersten beiden Todesfällen – Anderson oder Lynch hatten die Vorschriften verletzt; sie waren unvorsichtig geworden. Aber er hegte auch den Verdacht, dass seine Männer der Meinung waren, Conran und Chase wären gestorben, weil er – als ihr Commander – zu langsam reagiert hatte. Er hegte den Verdacht, dass seine Truppe wütend war, weil er die schweren Waffen nicht auf eigene Verantwortung ausgegeben hatte. Deavers fand diese Beurteilung unfair. Männer wie Erdman, Franks und besonders dieser Cutler … sie be greifen nicht, dass es eine Befehlskette gibt. Dass es wichtig ist, dass ein anderer die Verantwortung bei schweren Entscheidungen übernimmt. Deavers wusste, dass irgendjemand für Waffe X sehr viel Geld ausgegeben hatte. So wie er das sah, war es nicht an ihm zu ent scheiden, ob man die Versuchsperson niederknallen sollte oder nicht. Diese Art von Entscheidung musste von oben kommen, von jemandem, der mehr verdiente als er. Eines habe ich in all den Jahren gelernt – man sollte sich nie zu weit aus dem Fenster lehnen. Nicht im Gefecht, nicht in der Verwaltung. Man sollte immer Männer wie Cutler und Erdman zu den Waffen greifen und in die Gräben gehen lassen. Genau, die Kriegsgegner haben es richtig erkannt. Die besten Soldaten sind diejenigen, die nie kämpfen müssen. Ich habe meine Lektion gelernt, in Ordnung, aber Cutler hat das nie getan. Das ist der Grund, warum Cutler nie bis an die Spitze aufgestiegen ist. Deavers verzweifelte Überlegungen wurden unterbrochen, als der Kommunikationsspezialist Rice in die Kommandozentrale stürzte.
»Rice, ich bin froh, dass Sie da sind«, rief Deavers. »Ich brauche je manden, der nach unten geht und Stockwerk Drei erkundet. Die meisten …« »Tut mir Leid, Deavers. Ich nehme keine Befehle mehr von Ihnen entgegen.« Rice streckte die Hand aus und riss die Befehlskarte vom Clip an Deavers Overall. »Hey!« »Ich brauche diese Karte, um für einen wichtigen Download in den Hauptsupercomputer zu kommen.« »Warum?« »Schauen sie sich doch um, Major. Es ist hoffnungslos. Viel zu viele wichtige Daten werden verloren gehen, wenn die ganze Anlage in die Luft geht. Ich werde alles sichern und kopieren.« »Haben Sie einen Befehl dafür erhalten? Von wem? Vom Professor?« Rice schnaubte. »Befehle! Das ist das Einzige, was Ihnen wichtig ist, nicht wahr, Deavers? Okay, sagen wir, ich hätte den Befehl be kommen – von jemandem, der wichtiger ist als Sie, wichtiger als Cornelius oder sogar als der Professor …« »Vom … vom Director selbst?« »Ich habe Befehle, Deavers. Mehr brauchen Sie nicht zu wissen.« Während Deavers, der anscheinend völlig gelähmt war, zusah, öff nete Rice den Waffenschrank und holte eine Automatik heraus. Dann ging er zur Tür. »Rice!«, brüllte Deavers. »Werden Sie und der Director versuchen, diesen Schlamassel in Ordnung zu bringen?« Rice schüttelte den Kopf. »Das lässt sich nicht mehr in Ordnung bringen, Major.« Damit ging Rice und ließ Deavers allein über seine verpfuschte Karriere nachdenken.
»Sicherheit, Zone Drei, antworten«, rief Franks. Er und acht weitere Männer warteten draußen vor der Tür der Kommandozentrale und hofften auf eine Antwort von den Sicherheitsleuten, die drinnen kämpften. »Sicherheit, Zone Drei …« Eine abgehackte schmerzerfüllte Stimme drang aus Franks Funk gerät. »Sir … wir … wir sind …« Dann war die Verbindung tot. Franks warf einen Blick über die Schulter zu den anderen. »Entsi chern und anlegen. Kein Schnickschnack. Kein Umzingeln. Nur schießen und wieder abhauen. Kein Erbarmen. Konzentriert euch nur auf Logan, ignoriert alles andere … Schießt diesen Mistkerl in Stücke.« Franks schob ein Magazin mit 25 Schuss in sein UMP. »Auf drei …« Drei Sekunden später stürzten sie nach allen Seiten schießend in die Kommandozentrale und schwärmten in alle Richtungen aus. Franks hörte über sein Headset, wie seine Männer keuchten und un terdrückt aufstöhnten. Er musste sich zurückhalten, um nicht loszu schreien. Mitten im Raum wirbelte Waffe X zu ihnen herum. Die Arme hatte er weit ausgebreitet, die Klauen waren ausgefahren. Das Geschöpf hockte wie eine sprungbereite, wilde Bestie am Boden. Logan war von Kopf bis Fuß mit Blut bedeckt – und dieses Mal war es kein Schafblut. Er stand auf einem Berg von Leichen, die doppelt oder gar drei fach übereinander lagen und die Kommandozentrale förmlich mit einem Teppich aus menschlichen Überresten auskleideten. Ein paar der Wachleute zuckten und stöhnten noch, aber die meisten waren tot, und der Rest lag im Sterben. Die Wände waren nass von Blut,
das dunkel heruntertropfte. Eingeweide, zerfetzte Organe und abge trennte Gliedmaßen machten den Metallboden rutschig. Logans Augen flammten auf, als er die Männer hereinkommen sah. Er fletschte die Zähne, ohne einen Ton von sich zu geben, und trat einen Schritt vor. »Feuer! Feuer! Feuer!« Einer der Männer verlor die Fassung. Computerterminals explo dierten im Kugelhagel. Der Raum füllte sich mit Funken und dem ohrenbetäubenden Gedröhn der Feuerwaffen, die ununterbrochen abgefeuert wurden. Einen Augenblick später sprang das Brand schutzsystem an und erstickte die Wolke aus Pulverrauch in einem Nebel aus Halongas. »Ich kann nichts sehen!«, schrie jemand. »Er will an mir vorbei, Logan kom- argh!« Der Aufschrei endete, als das Helmmikrofon des Agents zusammen mit seiner Kehle durchtrennt wurde. »Aufpassen, ich …« Ein muskelbepackter, über hundert Kilo schwerer Wachmann flog aus dem Nebel und knallte gegen die Wand gegenüber. Logan schi en dafür nicht mehr Kraft aufgewendet zu haben als ein kleiner, wü tender Junge, der mit seinen Zinnsoldaten um sich wirft. »Rückzug! Rückzug!«, brüllte Franks, während er blindlings in die undurchdringliche Nebelwolke schoss. Er hörte einen Schrei, und je mand taumelte aus dem Nebel – Agent Jenkins, dessen Oberkörper von Kugeln durchlöchert war. Mit weit aufgerissenen Augen und flehentlich ausgesteckten Armen ging der Mann zu Boden. Ihm hinterher stürzte Waffe X. Franks schoss, aber er traf nicht. Dann streifte ihn ein Hieb und warf ihn zu Boden. Sein Sturz war so heftig, dass er einen Moment lang fast das Bewusstsein verlor. Als Logan an ihm vorbeirannte, versuchte Franks sich aufzurich ten, doch er stellte fest, dass seine Beine seltsam verdreht schienen. Er fragte sich, ob er mit dem Fuß irgendwo hängen geblieben war.
Doch als er an sich herunterblickte, sah er seine Beine ein paar Meter weiter weg auf dem Boden zappeln. Sie waren an der Hüfte abge trennt worden. Er fiel hilflos auf die Seite, während ein Schwall von Blut aus den Stümpfen quoll, wo einst seine Schenkel gewesen waren. Wie aus weiter Ferne hörte Franks seinen Namen. Auf der gegen überliegenden Seite der Kommandozentrale leimte Cutler keuchend an einer zerschmetterten Konsole. Sein Brustkorb war aufgerissen, sodass man seine Lunge und ein immer langsamer schlagendes Herz hinter einem Vorhang aus Blut erkennen konnte. Cutlers Lippen bewegten sich, aber seine krächzende Stimme war über Funk kaum zu hören. Während er noch darum kämpfte, nicht das Bewusstsein zu verlieren, begriff Franks endlich, was Cutler sagte und ständig wiederholte, bis er starb. »Ich habe ihn erkannt … Logan. Ich weiß, wer er ist …« Mit dem letzten Atemzug betätigte Franks das Mikrofon und erstattete Deavers Bericht. Deavers hatte die letzten fünf Minuten ständig einen Statusbericht angefordert. »Niemand mehr übrig, Sir«, röchelte Franks. Dann bemerkte er eine Bewegung neben sich. Mit dem letzten bisschen Kraft, das ihm noch geblieben war, hob Franks den Kopf und sah Waffe X, der sich über ihn beugte. Er schloss die Augen und flüsterte seine letzten Worte. »Sir … jetzt … holt er mich.«
SECHZEHN Apokalypse
»Wir sind da, Cornelius. Brechen Sie das Siegel auf. Hier werden wir sicher sein.« Cornelius zuckte die Achseln. »Ja, aber nur, wenn Sie die Strahlen verbrennung außer Acht lassen.« Der Professor führte Cornelius und Carol Hines zu einer Reihe von doppelten, mit Blei überzogenen Stahlschutztüren. Der Fahr stuhl hatte sie ins unterste Stockwerk der Anlage gebracht, wo we der Hines noch Cornelius je gewesen waren, obwohl sie schon seit Wochen in der geheimen Anlage lebten. Die Luft war stickig und roch abgestanden, die Gänge waren warm durch die Umgebungshitze der Adamantium-Schmelzanlage, die sich ein Stockwerk höher befand. Die indirekte Beleuchtung in den stahlverkleideten Korridoren reichte kaum aus, um die Dunkel heit zu vertreiben. Ozon und Industriegerüche durchzogen die un terirdischen Räume, in denen es wegen tausender automatischer Mechanismen, die immer noch in Betrieb waren, ohne Unterbre chung dröhnte und hallte. Die Türen waren mit einem schwarz-gelben Strahlungssymbol ge kennzeichnet. In großen, roten Buchstaben stand DANGER an der Tür. Der Professor, der immer noch seine Aderpresse festhielt, deu tete mit dem Kinn auf einen in die Wand eingelassenen Glaskasten. »Ms. Hines, holen Sie das Gewehr.« Während Cornelius den Code des Professors über die Tastatur ein gab und die mächtige Tür öffnete, zerbrach Hines das Glas und hob das M14 vom Gestell. Neben dem Gewehr befanden sich außerdem
zwei volle Magazine im Kasten. Auch die nahm sie heraus. »Laden Sie es, bitte.« Carol Hines schob das Magazin hinein und hielt dem Professor die Waffe hin. »Doch nicht ich, Sie Kuh. Was soll ich denn mit einem Gewehr ma chen? Geben Sie es Cornelius.« Froh, sie los zu werden, warf Hines die Waffe Cornelius förmlich entgegen. Cornelius hielt die Waffe auf Armlänge von sich weg, als wäre sie vergiftet. »Was geht hier vor, Professor? Was glauben Sie eigentlich, was ich mit diesem Gewehr tun soll?« »Es abfeuern, Doktor. Bei erster Gelegenheit …« Der Professor führte sie in den Reaktorraum und befahl Cornelius, die Schutztür zu verriegeln. Der Raum stand voller Geräte. Compu ter, Terminals, Schalt- und Umleitstationen standen an den Wänden. Digitalanzeigen aktualisierten sich laufend, sodass immer die gegen wärtige Kerntemperatur, der Druck pro Kubikmeter und andere wichtige Daten abgelesen werden konnten, während die Maschinen ihre programmierten Aufgaben versahen, ohne sich der Apokalypse bewusst zu sein, die sich in Anlage darüber vollzog. Als Hines sich dem Zentralrechner näherte, aktivierte ein einge bauter Bewegungsmelder Tastatur, Monitor und Kommunikations geräte. Sie machte sich an die Arbeit, und ein paar Sekunden später erschienen die Bilder, die von den Überwachungskameras der obe ren Stockwerke aufgenommen wurden, auf dem Bildschirm. Jetzt in Sicherheit hinter der versiegelten Schutztür wandte Cor nelius sich an den Professor. »Sie wollen also, dass ich dieses Ge wehr abfeuere, ja?« »Sie werden Logan vielleicht nicht umbringen können, aber Sie könnten die Energiepacks an seinem Gürtel wegschießen. Das sollte ihn aufhalten.« Cornelius war kein Scharfschütze. Er hatte seit seiner Highschool-
Zeit keine Waffe mehr abgefeuert. Und selbst wenn er das getan haben sollte – die ganze Theorie des Professors beruhte auf seiner trügerischen Vorstellung, dass er die Kontrolle wiedererlangen konnte. »Das ist lächerlich«, erwiderte Cornelius. »Auch wenn Logan noch am Leben sein sollte. Das System ist abgeschaltet, er kann gar nicht …« »Das System ist nicht abgeschaltet«, erklärte der Professor. »Es wird nur von anderen gesteuert.« »Von wem?«, fragte Cornelius hitzig. Der Mistkerl, mit dem du ge plauscht hast, während die Wachleute abgeschlachtet wurden? »Es steht Ihnen nicht an, das zu wissen, Cornelius.« »Sie besitzen die Frechheit, mich darum zu bitten, einen Menschen abzuknallen, aber Sie wollen mir nicht sagen, warum …« »Kommen Sie mir nicht mit Moral, Cornelius. Man sollte meinen, dass jemand, der Frau und Kind ermordet hat, ein bisschen kaltblü tiger ist.« Carol Hines keuchte hörbar auf. Cornelius drehte sich zu ihr um, aber sie starrte schon wieder konzentriert auf die Tastatur und weigerte sich, ihm in die Augen zu sehen. »Und falls Sie es vergessen haben sollten«, fuhr der Professor fort, der seine Sache vorantreiben wollte, »es ist gar nicht so lange her, dass Sie den Sicherheitsmännern selbst befohlen haben, Logan zu tö ten.« Cornelius nickte mit grimmigem Gesicht. »Das stimmt, Professor. Ich wollte Logan tot sehen, aber ich war nicht bereit, mir die Hände schmutzig zu machen, indem ich es selbst tue. Tatsache ist, dass ich kein Mörder bin. Ich hege keine Mordgelüste in meinem Herzen.« »Tja, dann sollten Sie lieber nochmal ihr Herz durchsuchen, sonst …« Stöhnend fiel der Professor auf ein Knie. Cornelius schlang sich die Waffe um die Schulter und half dem Mann auf einen Stuhl. »Sehen Sie sich an. Sie bluten ja in Strömen. Ich muss Sie ver
binden.« Der Professor hustete. Sein Gesicht war durch den Blutverlust ganz käseweiß, doch seine Augen leuchteten hell, und es lag ein bitterer Ausdruck darin. »Man sieht mich als nutzlosen Ballast an, Cornelius. Den man loswerden muss. Nur nutzloser Ballast …« »Eher eine tote Last, wenn das so weitergeht«, sagte Cornelius und entfernte die Aderpresse. Blut sickerte aus dem geronnenen Stumpf, doch Cornelius bedeckte die Verletzung schnell mit einem abge rissenen Stück Stoff von seinem Hemdenärmel. »Sie delirieren, Professor. Ihre Wunde. Sie haben einen Schock.« »Sie werden immer derselbe Narr bleiben, was, Cornelius? Wenn diese Tür Logan nicht zurückhält, werden Sie schon bald heraus finden, was ein Schock ist …« Cornelius hatte keine Lust mehr, sich von einem sterbenden Mann quälen zu lassen. »Tja, nun, ich denke, je schneller wir Sie auf die Krankenstation schaffen …« »Hines!«, brüllte der Professor. »Hören Sie mit dieser widerwärtigen Tipperei auf! Ich kann ja gar nicht mehr denken!« Carol nahm die Hände von der Tastatur. »Ja, Sir. Tut mir Leid, Sir. Der Computer zeigt an, dass Logan voll aktiv ist …« »Das weiß ich, verdammt noch mal!« »Seine Batterien sind zu achtzig Prozent aufgebraucht. Bald werden sie ihren Dienst aufgeben.« »Nicht bald genug, Ms. Hines …« »Nein, Sir. Tatsächlich befindet Logan sich ganz in der Nähe. Er ist in Tunnel Zwei und bewegt sich in diese Richtung.« Der Professor stieß Cornelius beiseite und wankte zum Terminal. »Weg mit Ihnen, Frau! Ich will da ran.« Der Professor starrte auf den Bildschirm. Cornelius hätte es nach dem großen Blutverlust nicht für möglich gehalten, aber der Mann schaffte es tatsächlich, noch etwas bleicher zu werden. »Ist dieses Terminal mit den Hauptsupercomputern verbunden?«,
fragte der Professor. »Das ist der Hauptcomputer, Sir.« Der Professor erkannte, dass sie direkt über dem Großrechner standen, der unter dem Fußboden verborgen war. »Ja, natürlich«, sagte er scharf, während er zu tippen begann. Carol Hines versuchte ihm zu helfen. »Verzeihung, Sir, aber das ist nicht der richtige Code.« Cornelius rief ihren Namen. »Hines? Lassen Sie allem seinen Lauf. Wir können nichts tun. Ich glaube, wir sind nicht mehr Teil dieses Spiels.« Als die Kommunikationseinheit schließlich piepste, sprach der Professor mit rauer Stimme. »Hier ist der Professor. Bitte antworten … melden Sie sich, bitte. Reden Sie mit mir …« Schweigen antwortete seinem Flehen. »Sind Sie überrascht, dass Logan mich nicht umgebracht hat? Warum tun Sie mir das an? Ich bin doch nicht Teil des Pöbels. Das müssen Sie doch wissen. Bitte, antworten Sie mir … Lassen Sie mich nicht hier sterben!« »Wir müssen nicht sterben, Professor«, behauptete Cornelius. »Keiner von uns. Dieses Gewehr. Ich kann es benutzen, um uns zu schützen …« Aber der Professor achtete gar nicht auf Cornelius, sondern warte te gespannt auf eine Stimme, die nie ertönte. »Ich kann die Powerpacks wegschießen. Wie Sie es gesagt haben, Professor. Das gibt Ihnen und Ms. Hines die Gelegenheit zu fliehen. Ich kann …« Das Kreischen von Metall, das über Metall schlitterte, unterbrach ihn. Dann hallte ein donnernder Knall von den Wänden des Raumes wider, als etwas Schweres auf den Boden schlug. »Was ist das?«, schrie Cornelius. Ms. Hines hielt sich die Ohren zu. »Ich glaube, Mr. Logan hat uns gefunden, Sir.«
Dann hörten sie Schritte, die durch den massiven Raum hallten. Plötzlich flackerte das Licht, und die Konsolen fielen aus. Dann wurde für einen scheinbar endlosen Moment alles dunkel, ehe die batteriebetriebenen Notfallleuchten sich automatisch einschalteten. »Der Strom ist aus!« »Dieses Geräusch da draußen«, zischte Cornelius. »Logan ist hin ter der Wand. Er kommt durch.« »Hilfe! Helfen Sie mir, bitte!«, kreischte der Professor in das abge schaltete Mikrofon. Er schlug mit der gesunden Faust auf die Computerkonsole. »Verdammt … Der Teufel soll Sie holen!« Cornelius blickte Carol Hines an. »Ich weiß nicht, mit wem er meint zu reden, und es ist mir auch egal.« Dann merkte er, dass sie unkontrolliert zitterte. »Haben Sie Angst?« »Ja, Sir. Sehr. Und Sie?« Cornelius nickte. »Ein Teil von mir stirbt vor Angst tausend Tode. Aber ein anderer Teil … Ich glaube, ich bin bereit, meine Frau end lich wiederzusehen.« Hines trat dicht neben ihn und musterte ihn eindringlich. »Was … was der Professor über Ihre Frau gesagt hat …« »Das ist nicht wahr. Es ist das, was die Polizei denkt, und das ist mir recht. Die Wahrheit ist noch viel schlimmer. Ich bin mir sicher, dass Sie es nicht wissen wollen.« »Doch, das möchte ich. Erzählen Sie es mir.« »Mein Kind wurde mit einer … Behinderung geboren. Ich suchte verzweifelt nach einem Heilmittel für die Erkrankung, aber es ge lang mir nicht – ich, ein Immunologe, war nicht in der Lage, meinen eigenen Sohn zu retten.« »Er starb?« Cornelius wandte den Blick ab. »Paul starb … langsam. Immer ein kleines Stückchen mehr. Ich arbeitete Tag und Nacht im Labor, stets auf der Suche nach einem Heilmittel, während meine Frau tag täglich mit der Qual unseres Jungen lebte … und ihn jede Minute
sah, seine Schreie hörte. Am Ende ist sie daran zerbrochen. Eines Abends kam ich aus dem Labor nach Hause und fand beide tot vor. Meine Frau hatte unseren Sohn mit irgendetwas aus meinem Medikamentenlager vergiftet und sich dann selbst umgebracht.« »Warum beschuldigte die Polizei Sie?« »Ich ließ mich von ihnen beschuldigen. Madeline war römisch-ka tholisch. Ihr Glaube, ihre Familie waren ihr wichtig … Selbstmord ist eine Todsünde, genau wie Mord. Da war es besser, wenn man mich beschuldigte. Ohne sie gab es ohnehin nichts mehr, wofür es sich gelohnt hätte zu leben …« Ein lautes Krachen unterbrach seine Erinnerungen. Irgendwo hin ter den stählernen Wänden stürzten Maschinen um. Cornelius' Finger schlossen sich fester um den kalten Lauf des automatischen Gewehrs. »Logan ist jetzt drinnen. Er muss es sein.« Carol Hines' schlanker Leib zitterte. »Hören Sie mir zu«, sagte Cornelius eindringlich. »Wenn Logan hier reinkommt, werde ich mich mit ihm befassen. Ich werde ihn erledigen, ablenken – was ich eben tun kann. Sie verschwinden von hier. Laufen Sie so schnell Sie können. Vergessen Sie den Professor – er ist bereits fort – und vergessen Sie mich.« »Aber …« »Hören Sie zu. Ich habe mein Leben gelebt und bin bereit zu sterben. Wahrscheinlich verdiene ich es sogar, wenn ich daran den ke, wobei ich dem Professor geholfen habe … bei der Verwandlung eines Menschen in ein Monster …« Wieder ertönte ein Krachen, und die Notbeleuchtung flackerte. Ein lautes, lang anhaltendes Kreischen erklang, als die Turbinen im Stockwerk über ihnen knirschend stehen blieben. »Jetzt ist der Strom gleich ganz weg«, sagte Carol Hines. »Die Tur binen für den Adamantium-Reaktor haben sich abgeschaltet.« »Das ist das Letzte, worüber wir uns Gedanken machen müssen, Ms. Hines.«
»Die Turbinen erhalten die Adamantium-Kühlung aufrecht, Do ktor. Ohne Strom bleibt nur die angereicherte Verbindung übrig. Wir müssen den Kern freisetzen, sonst geht die ganze Anlage in nerhalb der nächsten Stunde in die Luft.« Der Professor, der immer noch auf der Konsole lag, schaute auf, als er ihre Worte hörte. »Alles Ballast … alles verbrennen … alles in die Luft jagen, sodass wir alle sterben«, murmelte er. »Ja … das sollte ich tun. Alles in die Luft jagen …« Von oben tropfte eine ölige Substanz auf den kahlen Schädel des Professors. Warm und feucht, wie sie war, hielt er es erst für eine hydraulische Flüssigkeit – bis sie seine Wange herunterlief und auf die abgeschaltete Konsole tropfte. Sogar bei dem schwachen Licht im Raum erkannte der Professor Blut, wenn er es sah. Er schaute nach oben, und in dem Moment brach Waffe X durch den Lüftungsschacht über ihren Köpfen. Mit lautem Gebrüll landete Logan auf dem Boden, wo er mit schimmernden AdamantiumKlauen kauerte, sprungbereit zum Angriff auf den verblüfften Professor. Der Mann wimmerte und taumelte rückwärts, wie erstarrt vom Anblick des Wesens, an dessen Erschaffung und For mung er so lange und hart gearbeitet hatte. Seine durch chemische Zusätze vergrößerte Muskeln vibrierten, die wilde Mähne wogte, die Flanken bebten wie bei einem jagenden Löwen, als Logan die blutigen Zähne fletschte. Die Instrumente, mit denen man virtuelle Realität eingeben konnte, waren von seinem Gesicht gerissen, und nur die losen, Funken sprühenden Kabel hin gen herunter. Aus seinen Augen traten blutrote Tränen. Seine nackte Haut war voller Streifen aus teils geronnenem, teils frischem Blut. Die riesigen Batterien baumelten immer noch an seiner Taille. Bei je dem schweren Schritt hinterließ er einen blutigen Fußabdruck. »Erschießen Sie ihn! Schießen Sie! Schießen Sie!«, kreischte der Professor. »Töten Sie ihn, so lange Sie noch können.« Doch als Cornelius in Logans Augen schaute, sah er dort Schmerz, Schwäche, Verwirrung und Menschlichkeit. Waffe X hätte sie
eigentlich schon alle niedermetzeln müssen, doch Logan schien wie gelähmt, wirkte unschlüssig, zögerte offensichtlich loszuschlagen, als habe sich seine Blutgier gelegt. Cornelius senkte das Gewehr. »Schauen Sie, Professor. Er zaudert. Ich glaube, er hat genug. Er ist zu geschwächt, um anzugreifen, und er hat eine Menge Blut verloren.« »Das Blut, das Sie sehen, ist das, was er von unseren Sicherheits kräften übrig gelassen hat, Sie Idiot! Er ist darauf programmiert, uns alle zu töten. Benutzen Sie das Gewehr jetzt, wenn wir noch eine Chance haben wollen!« Cornelius entsicherte das Gewehr und hob die Mündung, wobei er aus der Hüfte zielte. Aber Waffe X wirkte immer mehr wie ein Mensch und nicht wie ein Monster, und er konnte sich nicht dazu überwinden abzudrücken. »Er rührt sich nicht, Professor. Er ist vollkommen erledigt.« »Tun Sie, was ich Ihnen sage, Cornelius!« Mit seiner gesunden Hand verpasste der Professor dem Doktor einen Faustschlag ins Gesicht. Der Hieb ließ Cornelius zu sammenzucken, sein Finger am Abzug krampfte sich unwillkürlich zusammen, sodass das M14 losging. Weil die Waffe auf vollautoma tischen Betrieb gestellt war, schoss ein Drittel des Magazins – acht Schuss – in weniger als zwei Sekunden aus dem Lauf und belegte den Raum mit einem Kugelhagel. Einige der Kugeln prallten vom Boden ab, einige schlugen in die Computer hinter Waffe X, die daraufhin in einer Explosion aus Sili zium, Plastik und Glas in die Luft gingen. Doch drei Kugeln trafen Logan im Oberkörper, durchlöcherten seine Brust und ließen ihn wie eine Marionette tanzen, bis er rücklings in die schwelenden Überreste der Computer fiel. Logan stürzte. Cornelius blinzelte, die Waffe hing schlaff in seiner Hand. »Ich … ich hab ihn erwischt. Er … er ist …« Mit einem leisen, kehligen Knurren begann Logan sich zu rühren.
Der Professor schrie. »Die Powerpacks, Cornelius! Holen Sie sich die Powerpacks, schießen Sie die Receiver weg. Schießen Sie ihm in den Kopf!« Logan, der immer noch zwischen den zerschmetterten Computern lag, hob das Kinn, dann schüttelte er den Kopf, um die Betäubung loszuwerden. Seine blutigen Lippen verzogen sich zu einem wü tenden Zähnefletschen, als er die Waffe in Cornelius' Hand sah. »Er … er ist immer noch am Leben. Das … das ist unglaublich«, stammelte Cornelius. Er war wie gelähmt. »Schießen Sie, Sie Dummkopf. Schießen Sie, ehe es zu spät ist.« Cornelius' Blick traf Logans. Hines schrie. »Sie verdammter Idiot!«, schnauzte der Professor. Mit einem einzigen Ruck wurde Cornelius von Logan durchbohrt. Die Adamantium-Klauen rissen seinen Bauch auf, durchtrennten seine Wirbelsäule und traten hinten wieder aus. Cornelius stieß nur ein Keuchen aus und krümmte sich über Logans Arm. Die Brille mit den runden Gläsern glitt von seiner Nase und fiel zu Boden, als sein Mörder ihn in die Luft hob und seinen zerrissenen Körper auf den Hauptrechner schmetterte. Ein Rest von Bewusstsein steckte noch in Cornelius, nicht mehr als ein letzter, flackernder Atemzug. Doch in dieser kurzen Sekunde verschwamm die rasende Fratze des Dämons zum Antlitz eines Engels. Er beobachtete, wie sich die wilde Mähne eines Monsters in üppiges, zart duftendes Haar verwandelte. Er konnte nun das frohe Lachen seiner Frau bis in alle Ewigkeit hören. »Idiot! Idiot!«, kreischte der Professor hysterisch, während er zum Ausgang hetzte. Die schluchzende Carol Hines folgte ihm. An der Doppeltür holte sie den Professor ein und packte ihn an seinem gesunden Arm. »Halt, Sir. Halt. Wir müssen zurück …« Der Professor stieß sie zur Seite. »Lassen Sie mich in Ruhe!« »Aber wir können ihn doch nicht so einfach zurücklassen. Wir
müssen Cornelius helfen.« Der Professor warf einen Blick über die Schulter und wäre beinahe zur Salzsäule erstarrt. Logan presste Cornelius auf den Computer hinunter und schlitzte den Doktor genüsslich auf. Stück für Stück zersäbelte er den Leichnam, wie er es auch schon mit der Wölfin ge tan hatte. »Für den kommt jede Hilfe zu spät, Sie dummes Weib. Sehen Sie denn nicht, dass er tot ist? Ich könnte ihm nicht einmal helfen, wenn ich es wollte.« Der Professor wankte durch die offene Tür. »Wo gehen wir hin?«, schrie Hines. »Ich muss zum Reaktor, also hören Sie mit dem Gejaule auf und reißen Sie sich zusammen. Ich brauche jetzt Ihre Hilfe.« Hines wischte sich die Tränen weg. Nach einem letzten Blick über die Schulter rannte sie dem Professor hinterher, um ihn einzuholen. »Ja … ja, ich bin bei Ihnen, Sir.«
Die beiden Batterien gaben fast gleichzeitig ihren Geist auf. Das größere Powerpack führte Energie durch den somato-senso rischen Kortex zur Zentralfurche von Logans Gehirn und dann oberhalb des frontalen Kortex entlang, von wo aus alle Bewegungen gesteuert wurden. Als alle Reserven aufgebraucht waren, sackte Lo gan wie ein Ballon in sich zusammen, aus dem man die Luft abge lassen hatte. Alle willkürlichen und die meisten reflektorischen Muskeln stellten ihren Dienst im gleichen Moment ein. Der Übergang war so plötzlich, als hätte man einen Schalter betä tigt. Wäre da nicht das Stammhirn gewesen – mit Thalamus, Hypo thalamus, Mittelhirn und Hypophyse – das weiterarbeitete, hätten auch Logans Lunge und Herz alle Funktionen eingestellt, und er wäre sofort gestorben. Die zweite Batterie versorgte den Mikrowellenreceiver, der über
die Anschlussstellen in den Augenhöhlen mit dem rechten und lin ken frontalen Kortex verbunden war, mit Energie. Ohne Strom gab es keine kortexdämpfenden Wellen mehr, die vom EMaM ausge sandt und in den Bereich von Logans Geist eingespeist wurden, der Gefühlen, Erinnerung und Selbstwahrnehmung vorbehalten war. Plötzlich von der hypnotischen Fessel der Maschine befreit, braus te ein psychedelischer Tsunami von ungeordneten, sich überlagern den Bildern durch Logans Gehirn – chaotische, voneinander abwei chende Gedanken und tiefe und intensive Emotionen. Nur Se kunden erlag er einem halluzinogenen Dämmerzustand, aber bei seinem hyperaktiven Geist hatte die reale Zeit ohnehin keine Bedeu tung mehr. Unter dem Ansturm der Bilder und Geräusche zuckte und stöhnte er, ohne in der Lage zu sein, die kaleidoskopartigen Eindrücke aufzunehmen oder gar zu verstehen. Bald verschmolzen die verwirrenden Wahnvorstellungen zu einem durchdringenden, hell strahlenden Lichtpunkt, der sich in seinem Kopf ausbreitete, während sein Bewusstsein klarer wurde. Logans Bewusstsein tauchte auf einer glühenden Säule strahlender Herrlichkeit, die sich in eine wirbelnde Leiter verwandelte, aus den dunklen Tiefen seiner Ohnmacht auf. Die Leiter reichte bis ins tiefste Innere seines Wesens, und auf jeder Stufe stand ein Gesicht, ein Name, eine andere Identität – und doch handelte es sich um ein und dasselbe Individuum, dieselbe Seele, die jetzt in dem gelähmten, von Schmerzen zerrissenen Körper lebte, der am Boden zuckte und Galle und Blut spuckte. Während er dort lag und auf den Tod wartete – er sehnte sich förmlich nach der Erlösung, hätte sie doch das Ende der unerträgli chen Qualen der letzten Monate bedeutet – wurde sein Gehirn von unglaublichen Visionen von Gewalt, Prunk, kriegerischen Heldenta ten und einer schimmernden Gestalt in der Mitte überflutet. Er wusste, dass der Tod ihn nicht erlösen würde, denn das war die Last, die er zu tragen hatte. Er sah all die Gestalten, die alle er waren und all die Leben, die er
geführt hatte, jede Tarnung, jede Maske, die immer nur körperliche Manifestationen waren – Manifestationen jenes ›Ich‹, das Logan war. Am Ende jeder Existenz hatte eine schlangenähnliche Häutung der äußeren Gestalt gestanden, während der Geist davongeschwebt war, um eine neue Gestalt in Besitz zu nehmen, eine neue Persön lichkeit. Und in diesem kurzen Augenblick sah und erkannte Logan sie alle. So begann die Verschmelzung seiner Vergangenheit mit der Ge schichte der Welt …
Ich bin … Eingehüllt in Pelze und ungegerbtes Leder, die Haut mit rotem Ton und Kriegsfarbe bestrichen. Ich schlug den Angriff der ANDEREN zurück – jener, die auf zwei Beinen gehen, Keulen und Speere benutzen, aber keine Menschen sind. Die grobe Steinaxt liegt schwer in meiner haarigen Hand. Ich zerschmettere Schädel wie Eier, und gierig falle ich nach der Schlacht über die Herzen meiner Feinde her, labe mich an ihnen und bade in ihrem Blut. Man nennt mich die Hand Gottes, und ich schwinge ein Bronze schwert. Mein Schild besteht aus Leder und getriebenem Blei. Ich kämpfte und starb im Wüstensand von Jerusalem, nachdem ich vom Dämonen Ba'al in einem Heiligen Krieg niedergestreckt wurde, den die Menschheit vergessen hat, obwohl er bis in alle Ewigkeit widerhallt. Hier sterbe ich mit meinem König, dem von Pfeilen durchbohrten Leonidas, als die persischen Streitwagen die spartanischen Verteidi gungslinien an dem Gebirgspass, der Thermophylen genannt wird, durchbrechen. Bei Carrhae begebe ich mich mit Cassius' Legionen auf den Rück zug und werde von den Parthern zerstückelt, die die Legionäre
durch einen Trick dazu brachten, ihre Formation aufzugeben und die dann die römischen Truppen mit ihrer Kavallerie abschlachte ten. In einer blank polierten Stahlrüstung, auf einem steigbügellosen Sattel schlage ich die Hunnen zurück, die die römische Zivilisation vernichten und die Welt in Unwissenheit und Aberglauben dunkler Zeiten stürzen wollen. Ich reite auf einem mongolischen Pony zusammen mit Dschinghis Khan in Samarkand ein. Wir hinterlassen Berge ausgebleichter Schädel und Verwüstung. Sensenmänner. Mein Kettenhemd ist verkrustet von Rost und dem Salz meines Schweißes, während ich mich mit den Tempelrittern durch die um gestürzten Mauern von Jerusalem hacke. Ich zwinge die Un gläubigen zum Schwert und befreie im Namen meines allerheiligs ten Pontifex, Papst Urban dem Zweiten, das Heilige Land. Bei Bosworth trage ich eine weiße Rose und sterbe während Lord Stanleys blutigem Vormarsch in den Sümpfen. Ich bin Kapitän der Söldner, ich belagere Magdeburg mit den römisch-katholischen Truppen von Gustavus Adolphus. Keiner konnte uns aufhalten. Die Hessen werden überwältigt und dreißig tausend protestantische Männer, Frauen und Kinder abgeschlachtet. Beide Seiten kämpfen zum Ruhm und zur Ehre Gottes. Ich kämpfe, um zu plündern. Ein Glockenspiel klimpert in der eisigen Nachtluft. Der Garten funkelt unter einer vereisten Schneedecke. Ich trage einen himmelblauen Seidenkimono. Meine Haut ist gelb. Ich tanze in den fallenden Flocken, die silberne Klinge blitzt auf, dunkles Ninja-Blut befleckt den jungfräulichen Schnee, als dunkel gekleidete Gestalten tot zu meinen Füßen hinsinken. Meinen perfekt geführten Schlägen wohnt die Poesie eines haiku des Todes inne; jeder Hieb eine Enthauptung, jeder Ausfallschritt schlitzt einen Leib auf.
Ich kämpfe für den Kaiser und meinen Shogun-Meister. Ich ziehe mit Napoleon durch die Wüste Ägyptens und die russischen Steppen. Unsere Triumphe, unsere Grausamkeiten sind legendär, der Rückzug durch eine eisige Hölle unsere Buße. Bei Veracruz erinnern wir uns an Alamo, indem wir über das Meer in Mexiko einfallen und die mexikanische Armee auf ihren eigenen Straßen vernichtend schlagen. Ich falle in einem staubigen Graben neben einem Weizenfeld in einem Ort namens Antietam. Auf den Mauern des alten Peking stehe ich Seite an Seite mit Helden, um eine Horde von chinesischen Boxern abzuwehren, die den Tod aller verhassten Ausländer wollen. Fünfundfünfzig Tage lang halten wir die Stellung – hundert USMarines, die ein zweitausendjähriges Reich verteidigen. Ich spüre, wie Holz und die anderen Materialien meines SPAD un ter den knatternden Maschinengewehren beben. Ich beobachte eine Fokker DVII dabei, wie sie in der Luft auseinander bricht. Die Trag flächen brennen, als sie um sich selbst drehend an der Westfront ab stürzt. Ich liebe ein Blackfoot-Indiandermädchen, das Silver Fox heißt. Ich begegne Hemingway in Spanien. Ich kämpfe in den Schützengräben und atme Giftgas ein. Ich springe am D-Day mit dem Fallschirm in der Normandie ab. Ich kämpfe in Malaysia, Vietnam, Korea, Laos, Kambodscha, Frankreich, Belgien, Österreich, Deutschland, Japan, Afghanistan, Algerien, Istanbul und Peking. In Jerusalem, bei Actium, in Rom, Paris, Fort Pitt, Yorktown, Moskau, Osaka, Cambrai, Flandern, Belleau Wood, Guernica, in der Sahara, Caen, Berlin, Dien Bien Phu und Hanoi. Sie alle waren ich … Ich. Der ewige Krieger. Die Hand Gottes, der Meister des Krieges. Ein unsterblicher Geist ohne Anfang und vielleicht auch ohne Ende – nur eine endlose Folge von Leid, Streit
und Schlachten. Kein Frieden, keine Ruhe. Keine Liebe, keine Fa milie, kein Zuhause. Das Schwert ist meine einzige Geliebte. Das Kriegsbanner ist mein Testament. Mit Stein und Holz, mit Bronze und Eisen, mit Stahl und Adaman tium als Werkzeuge und Waffen, führe ich das Leben eines Kriegers und erleide wohl an die tausend Mal den Tod eines Kriegers. Meine Leben paradieren an mir vorbei, und ich kann sie alle sehen. Sie sind wie schattenhafte Gestalten, die über Golgatha marschieren. Mich trafen die Speerspitze und das Beil des Scharfrichters, Schwerter schlitzten mich auf, Pfeile durchbohrten mich. Ich bin ertrunken. Ich bin verbrannt, gekreuzigt, gevierteilt worden, und ich spürte die Schlinge des Henkers um meinen Hals. Und schließlich führte all dieses Leid zu einem Ende, das nie wirklich ein Höhepunkt war, nur ein weiterer Anfang in einem end losen, ewigen Kreislauf aus Kampf und Blut – so unabwendbar wie das Aufgehen der Sonne, die Phasen des Mondes, der Lauf der Ster ne, das Fallen des Regens.
Logan erwachte wie aus einem langen Traum. Eine endlose Parade des Todes … und doch keine Erlösung. Nicht für mich … Wie Rauch lösten sich die Nebel seiner Erinnerung auf; die er schütternden Einblicke, die Enthüllung von Logans sonderbarem Ursprung und sein einzigartiges Schicksal – alles war vergessen, be graben in seinem Unterbewusstsein für einen Tag, ein Jahrhundert oder vielleicht auch für immer.
Mit blutbesudelten Händen griff Logan über sich und um klammerte die Kante der Computerkonsole. Er öffnete die Augen, doch sogar die schwache Notbeleuchtung schien ihm zu hell, zu blendend, und er musste im strahlenden Schein blinzeln. Er zog sich hoch, stand auf taumelnden Beinen und stellte fest, dass unter ihm eine Leiche lag: Ein Mann mittleren Alters mit einem rotbraunen Bart und runden Brillengläsern, die von seinem zerstörten Gesicht gerutscht waren. Die Augen waren geschlossen, als würde er sich ausruhen, und die Lippen zu einem seltsamen Halblächeln erstarrt. »Ich kenne diesen Mann. Aus einer Erinnerung … aus einem Traum … einem Traum vom Sterben …« Logans Stimme, heiser, weil er sie lange nicht benutzt hatte, brach und endete in einem Husten. Zitcernd stand er auf wackeligen Beinen da und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, als er spürte, dass funkensprühende Kabel aus seinen aufgeschlitzten Wangen ragten. Ohne viel Fe derlesen riss er sie zusammen mit den Sonden heraus, die in seinem Gehirn steckten. Ein Schwall halb geronnenen Blutes strömte hin terher. Er stöhnte vor Qual, und der Schmerz erinnerte ihn an anderes Leid, das er erst vor kurzem erlitten hatte. Wie ein Sturzbach kam die Erinnerung zurück. Gesichter, Gestalten und vertraute Stimmen erfüllten seinen Geist – diese Gestalten waren untrennbar mit seinen Qualen verbunden, ihre Stimmen waren wie mit Widerhaken verse hene Leinen, die ihm seine Seele entrissen und ihn bis ins Mark verletzt hatten. Sie hatten ihm Dinge angetan, diese Leute, Dinge, die er immer noch nicht verstand. Sie hatten ihn entführt, ihn be täubt, auseinander genommen und wieder zusammengesetzt. In sei ner Erinnerung bildeten diese Ereignisse eine unerträgliche Schleife, die sich endlos wiederholte. Und dafür werden sie bezahlen … Aber es gab ein Gesicht, das all seine Gedanken beherrschte. Ein habgieriges Gesicht, schmal, auf einem großen, dünnen Körper. Vor
nehme Gesichtszüge, ein kahler Schädel, eckige Brillengläser, durch die die Augen eines Raubvogels blickten. Seine Erinnerung an die Schmerzen … Logan wusste, dass dies das Gesicht seines Schöpfers und seines Peinigers war. Sein Gott und sein Teufel. Das Geschöpf, das ihm sei ne Menschlichkeit genommen hatte, um aus ihm eine lebendige Waffe zu schmieden. Es war angemessen, dass der Professor das nächste Opfer von Waffe X werden sollte.
SIEBZEHN Der Sturm
Carol Hines gab den Code des Professors ein und öffnete die Si cherheitstür. Er ging ihr durch ein heißes, enges Gewirr von Gängen und Lüftungsschächten zu einer Stahlzugangsrampe voran. Sie kletterten zum Kontrollzentrum der Adamantium-Schmelzanlage hinauf. Schnell erkannte sie, wo sie waren. »Professor, wenn wir den Kern herausholen könnten, wären wir in der Lage, zumindest die Anlage zu retten.« »Natürlich, Ms. Hines. Genau mein Plan. Denn was ist schließlich wichtiger als die Informationen, die wir gesammelt haben, die Auf zeichnungen über Experiment X?« Sie gingen am Kontrollraum vorbei und verließen den Korridor von einer der offenen Plattformen über dem Reaktorkernzugang. Es handelte sich um eine runde, mehrstöckige, schüsselartige Kon struktion aus schimmerndem Metall von mehr als hundert Metern Durchmesser. In der Mitte der gewaltigen Maschine befand sich in fünfzig Metern Tiefe eine mit Blei ausgekleidete und mit Adamanti um umhüllte Abgasgrube, die mit einem Stahlgitter abgedeckt war. Laufstege umgaben die gesamte Anlage, und der Professor und Ca rol Hines standen auf einem der höchsten. Fünfzig Meter über ihnen leuchtete die Decke, die voller Rohre hing, an einigen Stellen bernsteinfarben, wenn Flammenzungen her ausschlugen und Metallschlacke in die Abgasgrube spritzte. »Der Behälter zerbricht bereits, Professor. Wir müssen das Tor öff nen, sonst schmilzt die ganze Anlage.« »Ja, Ms. Hines, aber zuerst müssen wir Logan in die Abgasgrube
kriegen.« »Aber, Sir, es bleibt nicht mehr viel Zeit!« In den Augen des Professors erschien ein barbarisches Leuchten. »Ich brauche irgendeinen Lockvogel, wissen Sie. Jemand, der Logan in die Grube lockt. Verstehen Sie nicht? Er würde innerhalb von Se kunden verbrennen.« Carol Hines sah den Professor an, während sie versuchte zu ver stehen, was er sagte. »Es tut mir Leid, Sir. Ich verstehe nicht.« Der Professor ragte über ihr auf. »Ja, das ist nur zu wahr, Ms. Hin es. Es tut mir auch Leid. Wirklich Leid. Lassen Sie uns einen Augen blick lang unsere Möglichkeiten erwägen. Es ist ganz klar, was Sie tun müssen …« Carol Hines duckte sich, als ein Funkenregen durch die Metall platten über ihnen auf sie niederging. Dann hörte man ein lautes Krachen, als Teile der Rohre als orangerot geschmolzene Bälle in die Abgasgrube fielen. »Ms. Hines. Ich weiß, dass Sie lang und hart für das Experiment X gearbeitet haben …« »Ja, Sir. Danke, Sir …« »Auch für den guten Dr. Cornelius waren Sie ein wahrer Segen.« »Oh, der arme Dr. Cornelius.« Tränen sammelten sich in den Augen der Frau. »Ja. Er hat sein Leben für das Projekt geopfert … Aber ich wage zu behaupten, dass Sie das Gleiche tun würden, nicht wahr, Ms. Hines?« »Sir?« »Ihr Leben geben.« Endlich erkannte Carol die Absicht, die in den brennenden Augen des Professors lag, und sie begriff, welche Rolle ihr im letzten Akt zugewiesen werden sollte. Doch dieses Mal weigerte sie sich, frei willig ein gefügiges, willfähriges Opfer ihrer eigenen Vernichtung zu sein.
»Nein. Nein, Sir. Ich will nicht sterben.« Ihre Stimme klang sogar in für ihre eigenen Ohren überraschend fest. Der Professor heftete seinen Blick auf sie. Er war voller Hass – eine wütende, missbilligende Grimasse. Obwohl der Blick sie ängstigte, blieb Carol Hines fest und wich ihm nicht aus. »Ein Köder, Ms. Hines. Ich brauche einen Köder.« »Warum … warum wollen Sie mir wehtun, Professor?« »Weil es, meine Liebe …« Der Professor stürzte sich auf sie, womit sie nicht gerechnet hatte. Ehe sie wieder ihr Gleichgewicht gefunden hatte, taumelte Carol Hines über das Geländer. »… keine andere Möglichkeit gibt.« Sie schrie während des ganzen Sturzes, bis ihr Körper auf dem heißen Metallgitter über der Abgasgrube aufschlug. »Brechen Sie sich auf dem Weg nach unten nicht den Hals, Ms. Hines«, rief der Professor, »denn ich will, dass Sie schreien und kreischen und damit dieses geistlose Monstrum in die Grube lo cken.« Während er vor sich hin faselte, kletterte der Professor die Leiter zur Kontrollkabine hoch. Bevor er in den verglasten, schalldichten Raum trat, drehte er sich noch einmal um und rief der Frau, die er der Grube ausgeliefert hatte, einen Abschiedsgruß zu. »Na los, Hines, schreien Sie doch. Stellen Sie sich vor, wie entsetz lich das alles ist. Benutzen Sie Ihre Fantasie.« Unten über der Abgasgrube stemmte Carol Hines sich auf den Ell bogen hoch und schüttelte den Kopf, um ihre Benommenheit loszu werden. Sie versuchte aufzustehen, aber ihr Bein stand in einem seltsamen Winkel ab und würde sie nicht tragen. Als sie aufschaute, sah sie den Professor durch die Glasscheibe. Seine Lippen bewegten sich, aber sie konnte nicht hören, was er sagte. Dann hob Carol Hin es ihren Blick zur hohen Decke, wo das geschmolzene Metall in orange glühenden Zapfen herunterzutropfen begann. Sie schrie.
Der Professor sah, wie ihr Mund sich öffnete, und lachte. »So ist's recht, Ms. Hines. Bravo!« Eine elektronische Stimme unterbrach das Gefasel des Mannes. »Computersteuerung aktiviert.« »Computer, aktiviere eine Satellitenverbindung zu Director X … Code 324 Omega 99 plus.« »Aktiviert.« »Jetzt gib mir die aktuelle thermische Aufspaltung.« »Zweihundertdreißigtausend bei 70.000 Kubikmetern.« »Empfehlung ausgeben auf Grundlage dieser Zahlen.« »Spaltungstor sofort öffnen.« »Bereite die Entleerung vor und öffne mir die manuelle Steue rung.« Während er sprach, streckte der Professor die ihm gebliebene Hand nach dem manuellen Steuerhebel über seinem Kopf aus. »Steuerung offen. Entleerung beginnt …« Der Professor beugte sich zum Mikrofon. »Ich will, dass Sie sich das hier anhören«, rief er. »Ich will, dass Sie das Ende Ihrer Träume – und meiner – hören.« Auf dem Stockwerk direkt über dem Spaltungstor kam es zu einer Explosion, als eine Tür in die Luft flog. Mitten im Feuersturm stand Logan, der von Flammenzungen eingerahmt wurde. Anscheinend unberührt von dem Feuer, das um ihn loderte, trat Logan durch die Flammen, bis er die sich furchtsam duckende Frau erspähte. Mit einem kehligen Knurren sprang er auf das Geländer, um zu ihr nach unten zu schauen. »Na komm schon, nicht so ängstlich. In die Grube mit dir«, brüllte der Professor, dessen Worte von den Glaswänden gedämpft wurde. »Ich werde dich in knusprigen Speck verwandeln, du Mutanten fleischberg.« Logan hielt seine Nase schnüffelnd in die Luft, als würde er eine Falle wittern. Carol Hines wimmerte und versuchte, hoch zu kom
men, wodurch sie seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Grunzend sprang er vom Geländer herunter. In der Hocke landete er auf dem Stahlgitter direkt vor ihr. Langsam bewegte Logan sich vorwärts und pirschte sich an sie heran, während alle sechs Klauen ausgefah ren waren. Mit halbherzigen Bewegungen versuchte sie vor ihm zurückzu weichen. Carol Hines' Stimme brach, die Worte waren von Schluch zern unterbrochen. »Mr. Logan … ich weiß nicht, ob Sie mich ver stehen … ich will nicht … ich will nicht sterben.« Logans Augen waren groß und aufmerksam, aber sie gaben keinen Hinweis darauf, ob er ihre Worte verstand. »Es ist … es sind die Schmerzen, Mr. Logan … Ich kann sie nicht ertragen. Ich habe mich einmal verbrannt – mit Chemikalien – und ich habe diese Schmerzen nie vergessen …« In seiner Kabine stöhnte der Professor vor Abscheu auf. »Gütiger Himmel, Ms. Hines, betteln Sie doch nicht. Das sind die letzten Augenblicke Ihres unbedeutenden Lebens. Verschwenden Sie sie nicht mit Bitten an ein tumbes Tier. Wie lächerlich. Wie entwürdigend.« Carol Hines taumelte und brach auf dem Gitter zusammen. Doch sie versuchte nicht, wieder aufzustehen, sondern wandte den Blick ab und schützte ihren Kopf mit beiden Händen. »Ich weiß, dass Sie mich umbringen wollen«, schluchzte sie. »Aber bitte, tun Sie's schnell … bitte, ich flehe Sie an.« Ein animalisches Grollen stieg aus Logans Kehle empor, doch ge krächzte Worte verließen seinen Mund. »Ich … ich verstehe. Ich kann Sie verstehen …« Voller Hoffnung schaute Carol Hines auf. »Sie sind bedeutungslos … für mich«, murmelte Logan. Langsam drehte Logan den Kopf, bis er den Mann in der Kabine im Blickfeld hatte. »Ich will ihn …« Der Professor betätigte den Hebel, und die blinkende Digital
anzeige schaltete von Standby auf Entleeren … Über ihnen öffnete sich die glühende Stahldecke wie eine Muschelschale. Carol Hines blickte nach oben und sah ein Dutzend weiß glühender Düsen, die den Feueröffnungen einer Rakete äh nelten. Und dann öffneten sich die Düsen alle auf einmal. »Oh Gott!«, schrie sie auf. »Er hat es getan. Er hat das Spaltungstor geöffnet!« Sie rappelte sich auf, aber ihr zerschmettertes Bein hinderte sie am Weglaufen. Als sich geschmolzenes Metall und Wellen unsichtbarer Strahlung auf sie ergossen, nutzte Carol ihre letzten Sekunden auf Erden dazu, den Mann zu warnen, den sie bereitwillig gefoltert hatte, damit er sich vielleicht noch retten konnte. »Laufen Sie, Mr. Logan … Laufen Sie!« Dann spülten geschmolzenes Metall, siedende, ultrahocherhitzte Chemikalien und radioaktive Wellen über Carol Hines hinweg, und sie verschwand in einem lodernden Flammenmeer. Von irgendwoher dröhnte die elektronische Stimme des Compu ters durch die Anlage. »Ausstoß: 240.000 Megatherm bei 70.000 Kubikmetern. Gegen wärtige Durchflussrate: 700 FPS. Geschwindigkeit: 2000. Bitte bestä tigen.« Das schmerzverzerrte Gesicht des Professors leuchtete vor hämischer Freude strahlend auf. »Bestätigt«, sagte er zum Compu ter. Dann drehte er sich zum Mikrofon um. »Hier ist der Professor«, sagte er in den Satellitenkommunikator. »Experiment X ist zerstört, und ich, ICH, habe es getan. Hören Sie mich? Ich habe Sie ge schlagen, Sie verräterischer Hurenso…« »Leerung wird fortgesetzt«, unterbrach ihn der Computer, »600 FPS …« »Ich habe mich jeder Ihrer Forderungen gebeugt! Und doch haben Sie sich gegen mich gewandt …«
»Systemübersteuerung … 400 … 300 … 200. Thermische Entwick lung unbedenklich. Leerungssequenz abgebrochen.« »Was?«, brüllte der Professor. »Sie … Sie kontrollieren das Spaltungstor, nicht wahr?« »Beendigung Leerungssequenz abgeschlossen … Spaltungstor strahlungsfrei. Temperatur 407 Grad … 3-50 … 2-0-0 …« »Mein Gott«, stöhnte der Professor. »Gibt es denn nichts, was Sie nicht tun können?«
Als Carol Hines ihre letzte Warnung rief, spülten tausende von Röntgen- und Ionenstrahlen über Logan hinweg, versengten seine Haut, kochten sein Blut. Von fern hörte Logan die Todesschreie der Frau, während der Ausstoß des Spaltungstors über sie hin donnerte, und er sah ihre zarte Gestalt verschwinden, während Welle um Welle unermesslich zerstörerischer Energie freigesetzt wurde, bis auch seine Augen zu brennen begannen und seine versengten Trom melfelle sich in Asche verwandelten. Dann endlich stieß auch Logan einen schmerzerfüllten, gequälten Schrei aus und sank auf alle Viere nieder, und noch mehr Strahlung mit Spritzern geschmolzenen Metalls und großen Klumpen aus fließenden Adamantiums ergossen sich aus dem leckenden Behälter über ihm. Seine Schreie verebbten, als seine Lunge aufflammte und seine Stimmbänder verbrannten. Sein Atem war nur noch ein würgendes Keuchen. Logan wurde buchstäblich Schicht um Schicht bei lebendigem Leib gehäutet, als nacheinander Fleisch, Muskeln und Sehnen im Bruchteil einer Sekunde verkochten. Doch jede Zelle, jede Nerven bahn, die verbrannte, wurde durch neues Nervengewebe, neue Zellen ersetzt, welche durch seine unglaubliche, biologische Anders artigkeit erzeugt wurden. Wie Phönix aus der Asche beschleunigte sich dieser Prozess sogar noch, als immer mehr Röntgenstrahlen auf ihn einstürmten. Während dieser Phase von Vernichtung und Auf
bau schienen Fleisch und Muskeln von Logan förmlich zu flackern, und er wurde zu einem wandelnden Skelett aus Metall. Er ver brannte zu Asche und wurde wieder hergestellt, nur um noch ein mal zu verbrennen. Es gibt eine Affinität zwischen Strahlung und Knochengewebe, und schon eine geringe Strahlendosis von fünfundzwanzig Röntgen bewirken einen spürbaren Abfall des Lymphozytenkreislaufs – der weißen Blutkörperchen. Wird der Körper länger dieser Art Strah lung ausgesetzt, entsteht auch beim gesündesten Menschen Krebs. Für Logan bedeutete dies, dass die stark erhöhte Strahlenmenge, der er ausgesetzt war, ihn nicht nur umgehend umgebracht, sondern auch schlimmste Strahlenschäden hervorgerufen hätte, wenn er wie durch ein Wunder überlebt hätte. Doch jetzt umhüllte Adamantium sein gesamtes Skelett und schützte Logans Blut produzierendes Knochenmark wirkungsvoll vor Strahlenschäden, indem genügend Zellen am Leben blieben, welche in Logans zerrissenem Körper weiter arbeiteten und so seine außergewöhnliche Selbstheilungskräfte nach jeder neuen Wunde, nach jeder Folterung am Laufen hielten. Während reinster Schmerz durch jede einzelne Nervenbahn seines Körpers raste, kam Logan trotzig taumelnd hoch. Mit steifen, versengten Muskeln und vom Feuer brüchigen Sehnen wankte er auf die ferne Steuerungskabine zu. Aus milchweißen Augen, vor denen es durch die Hitze flimmerte, konnte Logan den Professor in seinem verglasten Käfig sitzen sehen, der mit seiner verbliebenen Hand auf einen Computer einhämmerte und gleichzeitig in ein Mi krofon sprach. Obwohl ihm jeder Schritt alles abverlangte, obwohl jede Bewegung die reinste Qual war, trieb eine noch mächtigere Pein Logan voran.
Als seine Finger durch den Strom vernichtender Energie zu nutz losen Klumpen wurden, benutzte Logan seine Adamantium-Klauen, um sich halb kletternd, halb ziehend die Metalltreppe hochzu kämpfen. Im Fenster sah er sein Spiegelbild – ein glühendes, lebendes Abbild des Hasses, das bei jedem Schritt auf Rache sann. Auf der anderen Seite der Scheibe spürte der Professor Logans Blick im Nacken. Er drehte sich um, und sah Waffe X – immer noch lebendig, immer noch hinter ihm her wie ein unnachgiebiger Pitbull, der zwar verwundet war, doch entschlossen, denjengen anzu greifen, der ihn misshandelt hatte. »Gütiger Herr im Himmel«, kreischte der Professor. »Sie stehen immer noch in Verbindung mit ihm. Sie kontrollieren eine Leiche … einen wandelnden Toten.« Mit einem lauten Krachen zerbrach die Scheibe, und die Scherben regneten in den Raum hinein. Der Professor wich zurück und hob dabei seinen blutigen Stumpf, um die rasiermesserscharfen Splitter abzuwehren, die auf ihn herabregneten. Der Professor stürzte zu Boden, als Logan breitbeinig landete und über ihm aufragte. Mit ausgefahrenen Klauen packte Logan den Mann mit schwarzen, blasenbedeckten Händen beim Kragen, und hob ihn hoch, bis sein entsetzlich zugerichtetes, rauchendes Gesicht nur noch Zentimeter von dem des Professors entfernt war. »Bin ich tot?«, fragte Logan keuchend. »Ist es das, was Sie … mir angetan haben?« Er starrte dem Professor in die Augen. Er sah Furcht darin und auch Wahnsinn. »Tot!«, stöhnte Logan wie ein gequälter Geist. »Ein wandelnder Toter – bin ich das?« Die Augen des Professors weiteten sich, und er starrte das wilde, brennende Geschöpf hasserfüllt an. Erst spie er Logan seinen Hohn ins Gesicht, dann fuchtelte er wild mit den Armen, um sich zu befreien. »Ich werde dir sagen, was du bist. Du bist ein Tier …«
Die Worte des Professors explodierten in Logans Kopf. Er schrie: »Ich bin Logan. Logan! Hören Sie mich … Ich bin ein Mensch …« Mit einer ruckartigen Bewegung riss Logan ihn hoch über seinen Kopf. »… und Sie … Sie sind ein Tier! Sie sind mein Monster!« Krachend knallte der Professor unter dem Knacken seiner splitternden Knochen auf die Konsole hinunter. Wimmernd drehte er sich von Logan weg, um die Gegensprechanlage zu drücken. »Si cherheit! Sicherheit! Helfen Sie mir«, kreischte er. »Um Gottes Willen …« Logan holte aus und trennte auch die andere Hand des Professors vom Arm ab. Als er seine Klauen zurückzog, ergoss sich ein schwa cher Strom von Blut über die Konsole. Der rote Lebenssaft sprudelte kaum, als wäre nicht mehr genug davon in dem Mann, um wirklich einen Strahl zu bilden. Weil Logan nun nicht mehr der radioaktiven Strahlung ausgesetzt war, begann sich neue Haut über rosigen, sehnigen Muskeln zu bilden. Seine Gesichtszüge waren allmählich wieder zu erkennen, obwohl das Fleisch noch Löcher und Blasen aufwies, während Haa re und Ohren verschwunden waren. Mit seinen sehnigen, fleisch losen Fäusten packte er den Professor an der Kehle und riss ihn wieder hoch. Der Mann stöhnte und versuchte sich loszureißen. Sein Versuch war nur ein schlaffer Ruck in Logans Adamantium-Griff. Der Blick des Professors wurde glasig, und er stöhnte wieder. Mit einem Schütteln brachte Logan ihn wieder in die Wirklichkeit zu rück. Als der Wissenschaftler in die Augen seines Monsters schaute, verzogen sich Logans wiederhergestellte Lippen, und er lachte. »Jetzt sind bei uns beiden die Flossen versaut, was?«, knurrte Lo gan. »Aber glauben Sie wirklich, dass wir damit … quitt sind?« Der Professor wandte den Blick ab und murmelte eine unver ständliche Antwort. »Nun, ich nicht.«
Drei helle silbrige Spitzen sprangen aus Logans Arm. Voller Ent setzen beobachtete der Professor, wie die Klauen langsam aus ihren muskelbepackten Scheiden glitten. Als sich Logans Grinsen in eine Maske der Wut und der Vergeltung wandelte, begann der Professor, hilflos und nutzlos um sich zu schlagen und sich zu winden. Dann stieß er einen lauten Schrei aus – ein langer, trauernder Schrei, in den sich Furcht, Zorn und auch Bedauern mischten. Während Logan den sich wehrenden Mann mit seiner linken Hand festhielt, stieß er dem Professor seine Klauen in die Weichtei le. Der Mann riss die Augen auf und quiekte wie ein abgestochenes Schwein. Langsam zog Logan die Klingen aus dem Körper des Mannes. Dann stieß er wieder zu. Diesmal durchbohrte er den be benden Bauch des Professors. Der Kopf des Professors sackte zur Seite, er verdrehte die Augen und hustete grünlichrote Galle aus. Logan stieß wieder zu, und noch einmal, und wieder – um Herz, Lunge, Kehle zu durchbohren. Schließlich hob Logan seinen Arm, berührte die bleiche Stirn des Professors mit den Spitzen seiner Klauen und dann stieß er die Klingen – langsam und vorsätzlich – durch den Schädel ins Gehirn. Der Professor zuckte noch einmal, und Logan ließ die Leiche auf den Boden sinken. »Jetzt sind wir quitt … Hast du das verstanden, du Mistkerl? Jetzt sind wir quitt …« Seine Wut war noch immer nicht verraucht, und Logan bückte sich, um den schlaffen Körper hochzuheben. Die Arme des Professors fielen auseinander, und die Brille saß schief auf seiner Nase, als Logan ihn durch das zerbrochene Fenster in die siedende Grube ganz tief unter ihm warf. Der Körper des Professors schlug auf das ultraheiße Spaltungstor und löste sich dampfend und zischend auf. Logan stieß einen grotesken Laut aus, der irgendwo zwischen einem Knurren und einem Lachen lag, dann wandte er dem zerbro chenen Fenster den Rücken und trat einen Schritt vorwärts. Plötzlich schien sich der ganze Raum um seine eigene Achse zu drehen. Lo
gan wurde von einer Welle der Übelkeit überrollt, und er verspürte solch einen stechenden Schmerz im Innern seines Schädels, dass er seinen Kopf mit beiden Händen umklammerte. Dann brach Logan, ohne noch einen Ton von sich zu geben, zusammen.
Das Erste, was in sein Bewusstsein drang, waren Schmerzen. Vor sichtig öffnete Logan die Lider und blinzelte mit zusammengeknif fenen, tränenden Augen in eine blendende Helligkeit. »Sachte, Kumpel. Immer mit der Ruhe«, sagte eine schroffe Stimme dicht neben ihm. Eine raue Hand berührte seine Stirn. »Ich bin's …« »Langram?« Eine Gestalt beugte sich über ihn. Ihr Schatten hielt den Schein des Deckenlichts von ihm fern. »Hätte nicht gedacht, dass Sie sich Sorgen machen, Logan.« Logan versuchte zu lächeln, aber es tat zu sehr weh. »Tatsächlich wollte ich Sie retten …« Langram legte einen Finger an die Lippen und deutete mit dem Kopf auf den Beleuchtungskörper. »Erleuchtung wird hier groß ge schrieben«, mahnte er ihn zur Vorsicht. Offensichtlich war die Zelle verwanzt und vielleicht sogar mit Überwachungskameras in der Lampe versehen. »Wir sind im Gefängnis?« »Wir sind Gefangene, wenn Sie das meinen.« »Wie haben sie Sie behandelt?«, fragte Logan, der immer noch auf dem Rücken lag. »Besser als Sie, wenn ich Sie mir anschaue. Los, wollen wir Ihnen mal hochhelfen.« Logan stützte sich auf den Ellbogen auf und musste im hellen Licht blinzeln. »Kennt man hier denn die Routine ›Lichter aus‹
nicht?« Langram warf einen Blick auf die Lampen über ihren Köpfen. »Das soll wohl so etwas wie psychologische Folter oder so sein. Er innert mich an meinen letzten Schreibtischjob. War ziemlich schrecklich damals.« Der spartanisch eingerichtete Raum bestand aus einem nackten Betonboden, Übelkeit erregenden gelben Wänden, einer hohen De cke, einer Tür. Kein Bettzeug, nur ein Blecheimer in der Ecke, der als Toilette diente. Logan überprüfte seinen Körper, spürte seine schmerzenden Beine und den aufgeschürften Oberkörper. Keine gebrochenen Knochen. Vielleicht ein oder zwei angeknackste Rippen. Ihm war komisch zu mute und er verspürte Übelkeit, also hatte er wahrscheinlich eine Gehirnerschütterung. Alles in allem also nichts, was der Rede Wert gewesen wäre. Sein Tarnanzug war zerrissen und blutig, sein Mehrzweckgürtel, sein Messer und seine Armbanduhr mit Kompass waren fort und seine Taschen leer. Logan setzte sich schließlich auf und stützte sich rückwärts mit den Armen ab. »Passen Sie auf Ihre rechte Hand auf. Ich glaube, die ist gebrochen. Die Knochen ums Handgelenk herum scheinen nicht in Ordnung zu sein.« »Mein Arm fühlt sich okay an, wenn ich bedenke, wie alles andere weh tut.« »Tja, Logan, Sie können froh sein, dass Sie keinen Spiegel haben. Dann würden Sie sich nämlich noch viel schlechter fühlen.«
Während er sprach, berührte Langram wie zufällig sein aufge schürftes Kinn, um dann mit seinem Daumen nach links zu zeigen. Logan ließ seinen Blick schweifen, während er sprach und sah, wor auf Langram deutete. Die Zelle war nicht viel mehr als ein Stahl schrank. Die Tür bestand aus Metall und wies ein kleines, ver gittertes Fenster im oberen Bereich auf. »Gemütliche Bude. Wie lange bin ich schon hier?« »Vor ein paar Stunden haben zwei koreanische Soldaten Sie her eingebracht und auf den Boden geworfen. Ich dachte schon, Sie sei en tot, aber jetzt stelle ich eine bemerkenswerte Genesung fest.« Während Langram sprach, übermittelte er Logan eine Reihe vor her abgesprochener Signale in Form scheinbar unschuldiger Handund Körperbewegungen. Ein Trick, den die meisten Angehörigen von Sondereinsatztruppen auf der ganzen Welt kannten. Während er Logan erzählte, wie man ihn bewusstlos in die Zelle geworfen hatte, ließ Langram gleichzeitig seine Finger rückwärts über sein Bein laufen – womit er ihm mitteilte, dass sie erst einmal in dieser Zelle festsaßen. Als Nächstes tat Langram so, als wolle er sich die Kehle durch schneiden, und Logan musste fast grinsen. Einsatz erfolgreich ausgeführt … Langram hatte also herausge funden, was die Koreaner im Schilde führten. Schließlich gähnte Langram und streckte sich, um dann einmal mit beiden Armen zu wedeln. Also kennen die Koreaner unsere echten Fluchtpläne nicht. Sie kennen nur den, der im Einsatzprofil stand. Wir sind schon auf halbem Wege nach Hause – sobald wir aus dieser Zelle heraus sind … Logan wollte seinem Partner von Miko Katana vom SAT erzählen: dass sie vielleicht schon im Innern der Anlage war und an ihrer Befreiung arbeitete. Aber diese Art von Information konnte man nicht weitergeben, während der Feind jedes Wort, jede Bewegung beobachtete und aufzeichnete.
Logan wollte Langram auch fragen, was er gefunden hatte – was die Nordkoreaner wirklich in dieser Anlage taten. Aber ich werde wohl auf den Abschlussbericht warten müssen … »Steckt sonst noch jemand in diesem Loch fest?« Langram schnippte mit dem rechten Zeigefinger einen imaginären Fussel von seiner Nase. »Niemand Besonderes.« Ein Gefangener … und dazu jemand, der für die Koreaner wichtig ist. Das muss dieser japanische Forscher sein, nach dem Miko sucht. »Wann gibt's hier denn was zu futtern?« »Hier …« Langram warf ihm einen kleinen Holzeimer zu. »Ich hab Ihnen was aufbewahrt.« Logan wankte beim starken Geruch von kimchi – altem, eingeleg tem Kohl – angemacht mit scharfen Gewürzen und vermischt mit dem widerlich süßen Aroma von vergammeltem Fleisch. »Danke«, sagte Logan ohne eine Spur von Ironie. Gierig schaufelte er die faulige Masse mit beiden Händen in den Mund. Eine Stunde später hörten sie ein Geräusch auf der anderen Seite der Tür. Dann klickte das Schloss. »Ho-ho, Besucher«, flüsterte Langram. Er stand schnell auf und glitt über den nackten Boden, wobei sein Rücken die Wand immer berührte. Logan folgte seinem Beispiel. Es schien ziemlich lange zu dauern, bis die Metalltür aufschwang, aber als sie schließlich offen stand, waren beide Männer überrascht. Logan verkrampfte sich. »Miko?« »Hä?«, grunzte Langram. Mit gezogener Tac stand die japanische Agentin in der Tür. Doch gerade als sie den Mund zum Sprechen öffnen wollte, heulten im ganzen Gebäude die Alarmanlagen los. »Die Überwachungsmannschaft hat sie gesehen«, brüllte Logan. »Machen wir, dass wir hier wegkommen.« »Sie kennen die Puppe?«
»Keine Zeit für lange Vorstellungen«, schrie Logan. »Raus hier!« Der Gang außerhalb der Zelle bestand aus isoliertem Beton mit mehreren Türen zu beiden Seiten. Trotz der lauten Sirene hörte Lo gan donnernde Schritte. Ein koreanischer Offizier lief um die Ecke, und Miko schoss ihm ins Auge. Sein Körper zuckte und stürzte gegen die Wand. Ehe der Soldat zu Boden sackte, riss Logan ihm die Pistole aus dem Holster. »Was ist passiert?«, übertönte Miko den Lärm. »Ich glaube, die Nordkoreaner haben Sie auf der Überwachungs kamera in unserer Zelle gesehen«, erwiderte Logan. »Tut mir Leid, Logan-san.« »Nicht nötig. Ich begann mich ohnehin bereits zu langwei…« Er unterbrach sich, um die Pistole abzufeuern. Am anderen Ende des Korridors ließ ein koreanischer Gefreiter seine AK-47 fallen und sank zu Boden. Als die Waffe auf den Betonboden knallte, stürzte Logan nach vorn, rutschte über den Boden und packte sie. Ein Kugelhagel aus automatischen Waffen prasselte auf die Wände hin ter ihm. Langram rollte sich auf den Rücken und schoss um die Ecke. Lo gan und Miko hörten ein Grunzen, und ein weiterer Soldat fiel um, während zwei weitere die Flucht ergriffen. Logans Partner schoss erneut, und die Sirene hörte plötzlich auf zu heulen. »Verdammt, ich hasse Alarmanlagen«, meinte Langram nur. Dann kam er mit einer Drehung wieder hoch und versetzte dem Ma schinengewehr des toten Mannes einen Tritt, sodass es über den glatten Boden zu Logan schlitterte. Einen Augenblick später schloss Langram sich ihnen an, und sie liefen schnell durch den schmalen Gang weiter und dann um eine Ecke. »Aufpassen!«, warnte Miko. Logan drehte sich gerade rechtzeitig um, als sich ein Mann, der ein Bajonett umklammerte, durch eine offene Tür auf ihn werfen wollte. »Nicht schon wieder«, knurrte Logan. Er schlug die Waffe beiseite,
schob den Lauf seines eigenen Maschinengewehrs dem überrasch ten Mann ins Gesicht und drückte ab. Durch die Explosion ver zierten hellrotes Blut und graue Gehirnmasse die Wände, und der Mann flog nach hinten. »Wir müssen uns beeilen«, rief Miko. »Miko!« Die Stimme klang schwach, matt. Aber die Frau blieb abrupt stehen. Sie schrie etwas auf Japanisch, und die Stimme antwortete in derselben Sprache. »Was zum Teufel geht hier vor?«, fragte Langram Logan, während sich sein Blick auf den Korridor hinter ihnen richtete. »Warum geht es nicht weiter?« »Miko ist Agent einer japanischen Sondereinsatztruppe. Sie ist hier auch im Einsatz.« Langrams Augenbrauen hoben sich erstaunt. »Ziemlich über völkert hier, was?« »Miko …« Die schwache Stimme hinter der Tür wurde lauter. »Ich bin hier«, rief die Frau und fischte einen Dietrich aus ihrer Ta sche. Logan und Langram gingen auf neben ihr in Stellung. In weniger als fünf Sekunden hatte sie die Zellentür geöffnet. Sie schwang auf, und ein widerlicher Gestank überfiel sie. Ein Japaner in mittleren Jahren lag in einer Lache seiner eigenen Ausscheidungen auf dem Boden. Die Zelle ähnelte der von Langram, doch sie war völlig verdreckt. Getrocknete Essensreste und Exkremente klebten am Boden. Der Gestank von Urin durch drang die Wände, und der Geruch von Verwesung hing in der Luft. Logan sah den Grund für die ungesunden Zustände. Arme und Beine des Mannes waren gebrochen, und die Knochen staken aus der Haut heraus. Um die Wunden herum war die Haut lila und schwarz geworden, und der Wundbrand fraß an seinen Genitalien. Trotz des schrecklichen Anblicks und des Gestanks eilte Miko in den Raum. »Vater!«, schluchzte sie, als sie an die Seite des Mannes
stürzte. Logan beobachtete die dramatische Wiedervereinigung. Ein grim miger Zug lag auf seinem Gesicht. »Wissen Sie, wer das ist?« »Ja«, antwortete Langram. »Er heißt Inoshiro Katana. Er ist Fach mann für chemische Verdichtung. Ich hörte die Offiziere über ihn reden, als sie dachten, ich sei während des Verhörs ohnmächtig ge worden.« Logan nickte. »Genauso gut können Sie mir gleich erzählen, was hier eigentlich vor sich geht, denn wir werden hier nicht lebendig rauskommen.« Während Langram redete, blickte er den Gang hinunter, in dem sich der Feind bereits versammelte, um sich auf sie zu stürzen. »Die Nordkoreaner stellen den Nervenkampfstoff Sarin her. Ich habe Tanks mit Trichlorid, Natriumfluorid, Phenylacetonnitrile gesehen …« »Warum betreiben sie es im Verborgenen?«, fragte Logan. »Die Kanggye Chemical Factory produziert doch am laufenden Band Tonnen von dem Zeug für das nordkoreanische Militär. Jeder weiß das.« »Sie arbeiten hier an einem binären Zuführungssystem. Zwei neu trale Wirkstoffe, die in einem einzigen, kleinen Behälter aufbewahrt werden. Beide Substanzen sind harmlos, verbinden sich jedoch in dem Moment, wo man sie braucht, zu Sarin. Sie versuchen so viel Gift wie möglich in einen Behälter zu quetschen, der die Größe einer Dosensuppe hat – darum ist Dr. Katana so wichtig für sie.« Donnernde Schritte ertönten vom anderen Ende des langen Korri dors. Dem Radau folgte Stimmenlärm. Man hörte das Klappern von Waffen und das Zuschnappen von Gewehrschlössern. »Sie kommen«, warnte Langram. »Wir müssen jetzt los, wenn wir noch versuchen wollen zu fliehen …« Logan sah, wie Miko ihrem Vater übers Haar strich. »Was ist mit ihm?«
Langram warf einen Blick auf den gebrochenen Mann in der Zelle. »Was meinen Sie denn? Wir können ihn nicht tragen und wir können ihn auch nicht hier zurücklassen.« »Miko«, rief Logan. »Sie kommen.« »Vater, ich kann …« »Nein, Miko. Du musst«, keuchte ihr Vater. »Aber ich kann dich hier nicht zurücklassen.« Plötzlich legte sich ein strenger Zug auf das schmerzverzerrte Gesicht des Mannes. Seine Worte waren eine Maßregelung, als hätte er es mit einem aufsässigen Jugendlichen zu tun. »Nein, du kannst mich nicht zurücklassen, Miko. Du weißt, was du zu tun hast.« »Nein, ich …« »Du musst. Für meine Ehre. Für die Ehre der Familie.« »Sie kommen!«, brüllte Langram und eröffnete das Feuer. Das donnernde Knattern der AK-47 klang ohrenbetäubend in dem engen Gang, an dessen anderem Ende mehrere braune Uniformen er schienen, die jedoch von blutigen Löchern durchbohrt niedersanken. »Handgranate«, brüllte Langram. Das Ei rollte vor Logans Füße auf den Boden, und er kickte den Sprengkörper zu seinem ursprünglichen Besitzer zurück. Einer schrie auf, dann wurden sie von der Explosion erfasst, die den Kor ridor mit erstickendem Rauch füllte. Mit klingenden Ohren spähte Logan um die Ecke. »Sie ziehen sich zurück. Das ist unsere Chance«, schrie er. »Und wohin?«, fragte Langram. Logan wies auf den Gang, durch den sie gerade gekommen waren. Die Explosion hatte eine der Türen aus den Angeln gerissen. Doch statt einer weiteren Zelle lag dahinter eine Treppenflucht. »Wo führt die hin?« »Wen interessiert das!« Logan versetzte Langram einen Tritt, da mit er sich in Bewegung setzte, und der Mann rannte durch den lee
ren Gang, während Kugeln über Wände und Boden schwirrten. Er stürzte durch die Tür, während Logan das Feuer erwiderte. Einen Augenblick später schaute Langram wieder aus der Tür heraus. »Es ist ein Ausgang!« Logan schaute in die Zelle. »Miko, wir müssen los …« Die Worte blieben ihm im Hals stecken, als er sah, wie Miko ihre Tac auf den Kopf ihres Vaters richtete. Der Mann blickte unver wandt in die Mündung. Ihre Hand zitterte nur wenig. Ehe sie ab drückte, korrigierte sie noch einmal ihre Armhaltung, dann wandte sie den Blick ab. Der Schuss ließ Logan, obwohl er ihn erwartet hatte, zusammenzucken. Durch Dr. Katanas Körper ging ein Ruck, dann lag er still da. Nachdem Miko ihre traurige Mission beendet hatte, wandte sie sich von der Leiche ab und drückte sich an Logan vorbei in den Gang. Ihre Miene war grimmig, und sie weigerte sich, seinen Blick zu erwidern. »Wo gehen wir hin?«, fragte sie. »Durch die Tür da und dann nach oben«, erwiderte Logan. Im Feuerschutzhagel stürzten er und Miko durch den Gang die Treppe hinauf.
ACHTZEHN Zusammenbruch
»Ich habe hier ein Problem«, brüllte Langram. Logan hörte oben an der Treppe eine Tür knallen. Während Miko seinen Rücken deckte, nahm Logan zwei Stufen auf einmal und jag te durch die Sicherheitstür nach draußen. Die Nacht war kühl und bedeckt, die Feuchtigkeit des Sees lag schwer in der Luft. Logan war aus einem der runden ›Brennstofflagertanks‹ mitten auf dem Feld getreten. Zwanzig oder mehr völlig gleiche Tanks standen hier her um. Doch keiner enthielt Brennstoff. Viele waren nur leere Hüllen, andere verbargen Schornsteine und Lüftungsschächte, die den un terirdischen Gängen Luft zuführten. Endlich hat der Geheimdienst mal Recht gehabt, erkannte Logan. Das Tanklager ist nur die Tarnung für eine Giftgasfabrik. Miko trat aus dem Treppenschacht und schloss die Sicherheitstür leise hinter sich. »Die Soldaten sind einfach an mir vorbei den Gang hinunter gelaufen. Ich glaube, die wissen nicht, dass wir draußen sind.« »Das werden sie früh genug herausbekommen.« Logan hörte einen Schrei und erspähte in ein paar Metern Entfer nung Langram, der in der Dunkelheit mit einem Soldaten rang. Beide Männer umklammerten das AK-47 zwischen ihnen, während sie versuchten, es dem anderen zu entreißen. Ein anderer Koreaner lag regungslos am Boden. Ehe Logan reagieren konnte, versetzte Langram dem anderen einen Tritt und man hörte einen Knochen bersten. Der nordkoreanische Soldat ging mit zerschmettertem Knie zu Boden. Langram entriss ihm das automatische Gewehr und rich
tete es auf ihn. Logan stürzte vor. Der Soldat versuchte hochzukommen, aber Lo gan zerschmetterte dem Mann den Kehlkopf mit dem Ellbogen. Der Koreaner trat mit den Stiefeln nach ihm, während er langsam er stickte. Seine Lippen bewegten sich kaum, und außer einem Gurgeln war nichts zu hören. Langram hielt den Soldaten mit dem Fuß fest, bis der Mann schweigend mit weit aufgerissenen Augen starb. Es dauerte lange neunzig Sekunden. »Bin ich froh, dass Sie es geschafft haben«, keuchte Langram außer Atem. »Haben Sie ihn erschossen?«, fragte Logan und deutete auf den anderen Toten, der am Boden lag. »Mir war die Munition ausgegangen. Hab ihm den Lauf meines Gewehrs ins Auge gestoßen.« Logan sah das AK-47 auf dem Boden liegen. Der Lauf war voller Blut. »Gut«, flüsterte er. »Dann hat uns also bisher keiner gehört …« Mit der Tac in der Hand ging Miko an den beiden Männern vor bei. Sorgfältig scannte sie das Gebiet mit ihren Nachtsichtgläsern. »Die Luft ist rein.« Langram und Logan durchsuchten die Leichen. »Ein AK-47, zwei Magazine.« »Ein 47 für mich«, sagte Langram. »Ein Magazin. Das klappt ja wirklich gut.« »Ich brauche eine Klinge«, brummte Logan. Langram warf ihm einen Stoffgurt mit einem koreanischen Ba jonett und Scheide zu. Die Klinge war so lang wie Logans Unterarm – dünn und scharf. Logan legte sich den Gurt um die Hüfte, zog das Messer und wirbelte es durch die Luft. »Das wird gehen.« »Logan, da hinten«, sagte Miko leise. Logan nahm ihr Nachtsichtgerät und erspähte sofort einen ko
reanischen gepanzerten Truppentransporter, der groß genug war, um zehn Männer zu befördern. Das Fahrzeug stand in weniger als hundert Metern Entfernung auf einer Zufahrtsstraße und wurde nur teilweise von einem Lagertank verdeckt. Die hintere Luke des ge panzerten Truppentransporters stand offen. Der Fahrer lehnte draußen an einem der sechs übergroßen Reifen und rauchte eine Zigarette. Im Schimmer der Innenbeleuchtung wirkte das Fahrzeug leer. Der schlecht eingestellte Motor übertönte im Leerlauf die Ge räusche der Nacht, und Logan konnte die Abgase riechen. Zwischen ihnen und der Straße standen mehrere Tanks, die jeder so groß wie ein kleines Haus waren. Die beste Möglichkeit, um unbemerkt hinzugelangen. »Das ist unsere Fahrkarte nach draußen,« sagte Logan und zeigte Langram das Fahrzeug. Dann an Miko gewandt: »Wie spät ist es?« Miko sah auf ihre Uhr. »0-2-40.« Langram und Logan stimmten die altmodischen Armbanduhren ab, die sie den toten Soldaten abgenommen hatten, und banden sie sich um. »Wir haben eine Stunde, neunzehn Minuten, um zum Abzugspunkt zu kommen, der vier Kilometer entfernt liegt«, er klärte Logan Miko. Sie wirkte unbeteiligt. »Werden wir das Fahrzeug da nehmen?« »Das wäre am besten, oder wir schaffen es nie bis zum Rendez vous, außer wir rennen. Ein Pave Hawk soll uns abholen, und wenn wir nicht rechtzeitig am vereinbarten Treffpunkt sind, kommen wir hier nicht mehr raus.« Sie nickte mit unbewegtem Gesicht. »Miko«, sagte Logan und trat näher an sie heran. »Ich will, dass Sie wissen, dass es mir Leid tut …« Sie unterbrach ihn. »Reden Sie nicht wieder davon. Ich habe getan, was ich tun musste, und das werde ich auch für die restliche Dauer der Aktion tun …«
»Sie werden hier rauskommen«, sagte Logan. »Mit uns. Sie werden es schaffen, genau wie wir.« »Hai.« Miko wich seinem Blick aus, aber Logan sah den Tod in ihren Augen. Er hatte diesen Ausdruck in den Gesichtern anderer ja panischer Krieger gesehen, die er gekannt hatte, wenn sie gegenein ander kämpften – die Russen, die Koreaner. Obwohl es moderne Japaner gab, die Autos und Videogeräte bauten, wusste Logan, dass für Nationalisten wie Miko der SamuraiKodex des Bushido immer noch lebendig war und immer noch großen Einfluss auf ihr Leben nahm. Miko glaubte an Ehre und Pflichterfüllung – und sie hatte es mit ihren gewagten Aktionen heu te Nacht bewiesen. Langram senkte das Nachtsichtgerät und gab es der Halbjapanerin zurück. »Der Soldat dort drüben ist eindeutig allein«, sagte er. »Vielleicht sind diese Leichen seine Kumpel, und er wartet auf sie, bis sie ihren Rundgang beendet haben. Ich würde vorschlagen, wir schleichen uns seitlich an ihn an, bevor er aufwacht und merkt, dass seine Freunde nicht mehr da sind.« Logan nickte. »Wie sieht Ihr Plan aus?« »Ihr zwei geht nach links, ich werde um den Tank da vorn herum gehen. Wir nehmen uns den Fahrer in …«, Langram schaute auf sei ne Uhr. »… vier Minuten vor. Außer ich komme zuerst dort an.« »Und wenn er nun vorher wegfährt?«, fragte Miko. »Dann winken wir zum Abschied«, sagte Langram. Dann ging er los. Miko und Logan umrundeten vorsichtig einen ›Lagertank‹ – der im Grunde nichts weiter als eine Holzhülle war – und erreichten den gepanzerten Truppentransporter genau zum richtigen Zeit punkt. Langram war schon da und wartete. Er hatte sich bereits um alles gekümmert.
»Wo ist der Fahrer?«, fragte Logan. »Auf dem Friedhof. Sehr tot«, erwiderte Langram. »Ich habe ihn in den Büschen beigesetzt.« Langram kletterte in den Truppentransporter und dann nach vorn in die Fahrerkabine, während Logan sich das Waffenarsenal vor nahm, wo er das Maschinengewehr des Fahrers fand. Ein weiteres befand sich in einem Ständer, und ein Lederbeutel mit Munition hing von einem Sitz herunter. Langram warf eine Taschenlampe und eine Schachtel mit Reiskeksen auf den Beifahrersitz, dann zog er eine in Plastik gehüllte Karte aus einer Blechkiste und entfaltete sie. »Besser als beim Auto-Club, Kumpel.« Während die Männer die Karte studierten, hockte Miko sich leise in eine Ecke und umschlang ihre Beine, während die Pistole an einer Hand herunterbaumelte. »Wir sind weniger als vier Kilometer entfernt«, sagte Logan. »Wir nehmen diese Straße, folgen ihr das Flusstal entlang, an diesem Fischerdorf vorbei bis zu den Bergen dahinter.« »Es wäre für den Hubschrauber besser, wenn er auf uns wartet«, sagte Langram, während er in den Fahrersitz sprang. Er legte den Gang ein, und der Truppentransporter fuhr mit einem Ruck auf sei nen sechs massigen Rädern an. Langram machte sofort kehrt und fuhr in die entgegen gesetzte Richtung. Logan kletterte auf den Sitz neben ihm und legte sich das Ma schinengewehr auf den Schoß. Miko hatte sich ein weiteres AK-47 umgehängt, und der Lederbeutel mit der Munition hing über ihrer Schulter. Sie setzte sich auf und sah ruhig durch die kugelsichere Scheibe auf die vor ihnen liegende Straße. »Da ist die Straße, aber auf dieser Seite der Anlage gibt es kein Tor«, sagte Logan, der zur Sicherheit noch einmal auf die Karte schaute. »Sie werden sich eins machen müssen.« »Direkt durch den Zaun«, meinte Langram. »Sie wissen, dass bei den Koreanern dadurch der Alarm ausgelöst
wird.« »Mag sein, aber ich glaube, bei denen wurde schon der Alarm aus gelöst!«, brüllte Langram, der knirschend den Gang wechselte und aufs Gaspedal trat. Durch die Stahltür eines der falschen Lagertanks direkt vor ihnen stürzte ein Dutzend Soldaten heraus. Sie wurden von einem Offizier angeführt, der eine Pistole umklammerte und aufgeregt auf das nä her kommende Fahrzeug zeigte. »Vielleicht können wir sie bluffen«, sagte Langram. Ein Schuss prallte vom gepanzerten Fahrzeug ab, dann ertönte ein Dauerkrachen, als alle Soldaten auf einmal das Feuer eröffneten. Die Kugeln prallten vom dickwandigen Truppentransporter wie Eicheln von einem Auto ab und erfüllten den beengten Innenraum mit oh renbetäubendem Lärm. »Das hat wohl gerade nicht funktioniert«, schrie Langram. »Fest halten!« Er riss das Steuer so weit herum, dass er den ersten Soldaten erwi schte, der die Straße erreichte. Zerschmettert flog der Mann in die Arme seiner Kameraden und riss sie um. Der Offizier stieß einen Pfiff aus und feuerte mit seiner Pistole auf den Truppentransporter. Die Kugel prallte, ohne irgendeinen Schaden anzurichten, vom Si cherheitsglas neben Logans Kopf ab. Dann kam der Zusammenstoß, als der Truppentransporter einen Maschendrahtzaun umlegte und über die Trümmer hinweg fuhr. Wieder erschütterte ein Ruck das Fahrzeug, der von blendenden Funken und dem Knistern von Strom begleitet wurde, als es durch den Elektrozaun raste. Langram riss das Steuer herum, und die sechs Reifen rutschten über feuchtes Gras, bevor sie holpernd auf die Teerstraße einschwenkten. Der schwere, gepanzerte Truppentransporter rumpelte davon. Langram gab Gas und fuhr sie mit der Höchstgeschwindigkeit des Fahrzeugs von vierzig Kilome tern pro Stunde ihrem Ziel entgegen. Logan sah im Rückspiegel, wie die Soldaten immer kleiner wurden. Irgendwo hinter ihnen wurde
das wütende Heulen einer anderen Sirene immer leiser. »Wir haben sie abgehängt«, sagte Langram. Logan packte sein Maschinengewehr fester. »Wer's glaubt, wird selig. Die werden innerhalb kürzester Zeit wieder hinter uns her sein.« Langram schaute seinen Partner an und war nur zum Teil über rascht, als er ein Grinsen auf Logans Gesicht sah. »Vor ein paar Stunden noch ein blutiger, zerschmetterter Haufen auf dem Zellenboden, und jetzt brennen Sie geradezu darauf, in Ak tion zu treten. Ich nehme mal an, dass die Gerüchte, die ich über Sie gehört habe, wahr sind, Logan.« Logan ignorierte seinen Partner. »Wir nähern uns dem Dorf«, sag te er. Am Horizont waren im Mondlicht dunkle Schatten auszuma chen. Minuten später rumpelten sie durch eine Geisterstadt. Die Schein werfer beleuchteten Hütten aus dunklem Holz, die alle verlassen waren. Die Türen hingen schief in den Angeln, Gras wuchs wild um die baufälligen Gebäude herum. Das Steintor am Eingang des Dorfes war umgestürzt. Im schwarzen Wasser waren Boote vertäut, von denen einige schon halb versunken waren. Zerrissene Fischer netze blähten sich träge im Wind. Ein bisschen weiter entfernt erhob sich eine große Konservenfabrik in der Dunkelheit, die völlig verwüstet war und Stück für Stück im Wasser versank. »Die Verschmutzung des Stroms durch diese Giftgasfabrik ist wirklich schlimm für die ansässige Wirtschaft gewesen«, meinte Lo gan. Langram fuhr einen Schlenker, um einem zweirädrigen Wägel chen auszuweichen, das jemand auf der Straße stehen gelassen hatte. »Zumindest gibt es hier keine gottverdammten Zivilisten, die einem in die Quere kommen.« »Hier lebt kein Mensch. Das ist Geisterland«, erklärte Miko, die weiterhin starr nach vorn schaute. »Die Anführer stellen Gift her,
während die Bevölkerung verhungert.« Logan runzelte die Stirn, während sein Blick auf dem Horizont ruhte. Miko drehte sich vom Fenster weg. Sie war in ihre eigenen, qualvollen Gedanken vertieft. Der Truppentransporter schleuderte um eine Ecke, und Langram legte einen anderen Gang ein, als es langsam bergauf ging. Sie fuh ren immer noch parallel zum Fluss. Zu ihrer Rechten war der Wald wieder dichter geworden, und die Landschaft erhob sich zu beiden Seiten zu flachen Hügeln. »Wir sind fast zu Hause«, sagte Langram. »Nur noch weniger als ein Kilometer, dann können wir diesen Müllhaufen in den Stra ßengraben fahren und zu Fuß durch den Wald laufen.« Während sie den Hügel hochfuhren, stotterte der Motor. Langram trat die Kupplung durch. »Sauf mir jetzt nicht ab, du Stück …« Eine Reihe von Flüchen folgte und verdeutlichte Langrams Meinung. »Ich kann nicht glauben, dass es so einfach ist«, meinte Logan. »Warum haben sie uns nicht verfol…« Seine Frage ging in einem lauten Krachen unter, als der Truppentransporter von einem Überschallknall erschüttert wurde, ausgelöst von einem Panzerabwehrgeschoss, das über sie hinwegs auste. »Aufpassen!«, schrie Miko. Fünfzig Meter vor ihnen ragte der eckige Umriss eines nordko reanischen Panzers auf, der mitten auf der Straße stand und von Dutzenden von Soldaten umgeben war. Hinter dem Panzer standen mehrere große Laster am Straßenrand und spien noch mehr Truppen aus. »Festhalten!«, brüllte Langram. Sie wurden hin und her geschleudert, als der Truppentransporter die Straße verließ und über unebenen, felsigen Grund auf den dich ten Wald, der vor ihnen lag, zurumpelte. »Im Wald können wir den Panzer vergessen«, rief Langram.
Seine Worte gingen fast im Lärm abbrechender Zweige unter, als ihr Fahrzeug einen jungen Baum ummähte und die Äste von mehre ren tief hängenden Pinien abriss. Logan hielt sich krampfhaft mit einer Hand am Dach fest, wäh rend er sein AK-47 mit der anderen umklammerte. Als der Truppentransporter einen steilen Abhang hochdonnerte, wobei sich die Räder durch lockere Erde wühlten, sah Logan plötzlich Feuer aus der Mündung des Panzers treten, der auf der Straße stand. Den Knall der Kanone hörte er den Bruchteil einer Sekunde später – als die große Granate bereits einen Baumstamm auf ihrem Weg durch schlug. Holzsplitter flogen durch die Luft, und Langram trat aufs Gas. Miko wurde zu Boden geschleudert, als der Truppentransporter einen Satz nach vorn machte. Er flitzte über einen Graben, wobei er auf dem feuchten, glatten Gestein ins Rutschen kam. Das Fahrzeug legte sich auf die Seite. Langram kämpfte mit dem Steuerrad, um zu verhindern, dass sie sich überschlugen. »Hab ihn wieder«, schrie er, als der Transporter wieder normal weiterfuhr. Langram konzentrierte sich aufs Fahren, während Logan und Miko sich festhielten. Keiner von ihnen hörte den dritten Schuss des gegnerischen Panzers oder sah das Mündungsfeuer. Sie spürten nur den markerschütternden Einschlag, als das Geschoss den Stahl panzer des Transporters durchschlug wie ein Stein eine Fenster scheibe. Der Truppentransporter bebte und wurde in zwei Teile gerissen. Beide Stücke stürzten mit durchdrehenden Reifen und Treibstoff spuckend den Berg hinunter.
Etwas bewegte sich in seinem Kopf. Logan merkte, dass er durch eine große Leere wirbelte.
Nein, das bin nicht ich … Ich liege hier nur einfach. Es ist die ganze Welt, die sich dreht. Er hörte ein mechanisches Klicken. Dann ein Sirren, wie wenn man eine Kassette zurückspult. Das Geräusch war irgendwie angenehm, und so lag er mit geschlossenen Augen da und lauschte dem gleichmäßigen Summen, bis es aus seinem Bewusstsein schwand. Schließlich ließ ihn ein weiteres Klicken erwachen. Logan hörte einen Piepser, und eine Frau sprach seinen Namen. »Mr. Logan … Ich weiß nicht, ob Sie mich tatsächlich verstehen können …« Er öffnete die Augen und starrte an eine Metalldecke mit schwa cher, indirekter Beleuchtung. Auf dem Boden funkelten Silizium stücke und Glasscherben. Als er aufschaute, sah er, dass das Beob achtungsfenster zerbrochen war. Es steckten immer noch einige spitze Glasstücke im Rahmen, von denen manche mit schwarzen Tropfen bespritzt waren. »… Benutzen Sie Ihre Fantasie, Ms. Hines«, dröhnte eine Stimme. »Stellen Sie sich vor, wie entsetzlich das alles ist …« Ich kann nicht denken … Muss irgendeine Party gewesen sein, und einer hat die Scheibe kaputt gemacht. Logan stand auf und schwankte auf wackeligen Beinen. Meine Sa chen sind weg, bemerkte er. Die Soldaten … Sie müssen sie mir abge nommen haben … Dann löste sich seine Erinnerung wie Dunst auf, und Logan fragte sich geistesabwesend, wer wohl ›sie‹ waren. Wie benebelt lehnte er sich gegen eine Computerkonsole und starrte seine Hände an, die voller Flecken von geronnenem Blut waren. Mein eigenes … Oder das von jemand anderem? »Er hat eine Menge Blut verloren …«, sagte die Stimme. »Ja«, knurrte Logan. »Aber ich würde wirklich gern den anderen sehen.« Die Stimmen kamen aus allen Richtungen – von den Wänden, der
Decke, den Konsolen. Sie sprachen seltsam durcheinander. Logan hörte Gesprächsfetzen, die irgendwie nicht zusammenzupassen zu schienen. »… Ballast … Bitte antworten … Logan lebt …« Trotz der Schmerzen und seiner Verwirrung musste Logan grinsen. »Darauf können Sie wetten!« »… Aber die Sicherheit kümmert sich um Logan, Professor … Ich verblute … Blutiges Massaker …« »Das wird es geben, Kumpel, wenn ich dich finde«, keuchte Lo gan. Vor allem, wenn du jetzt nicht den Mund hältst, damit ich mich wieder zurechtfinde … Logan ließ sich auf einen Stuhl fallen. Mit geschlossenen Augen und gesenktem Kopf versuchte er sich zu erinnern, wo er war und wie er dahin gekommen war. »… Mr. Logan hat eine sehr unheimliche Fähigkeit zum Aufspü ren von Beute …« »Genau, und ich bin splitterfasernackt.« »… bringt alles um, was er sieht. Er läuft Amok, würden Sie vielleicht sagen …« Logan öffnete die Augen – und sah eine abgetrennte Hand auf der Konsole vor ihm liegen. Er prallte zurück und sprang auf. »… ist Ihnen eigentlich klar, was da abgeht? Ich verliere Männer in Zone Zwei …« Argwöhnisch musterte Logan den Raum und wich langsam in eine Ecke zurück. »Wer zieht hier diese Show ab? Antworten Sie!« Neben seinem Ohr dröhnte eine Stimme aus dem Lautsprecher. »… Ballast. Man sieht mich als nutzlosen Ballast an, Cornelius …« … und da erkannte Logan, womit er es zu tun hatte. Es ist eine Aufzeichnung … eine Art Zufallswiedergabe. Keiner kon trolliert hier irgendetwas. Ich bin allein. Panik ergriff ihn. Ich muss hier raus …
»… Waffe X ist geflohen … Ich habe keine Kontrolle …« Er stürzte auf die Tür zu und rannte eine Metalltreppe hinunter zu einer anderen Plattform. Er blickte nach unten in einen tiefen Metall krater, aus dem Rauch aufstieg. Logan wandte sich von der Grube ab und entdeckte eine gesprengte Luke, deren Verschluss auf der Erde lag. Der gähnende Tunnel hinter der Öffnung führte in einen weiteren Gang. Am Ende des Korridors gabelte er sich in zwei Rich tungen. Logan blieb stehen und fragte sich, welchen Weg er ein schlagen sollte. Rauch … Der Geruch von Ozon … Summende Maschinen. Das ist eine Industrieanlage … Vielleicht auch was Militärisches … Ich mag die Armee nicht, und die Armee mag mich nicht. Ich verschwinde hier lieber, ehe man mich noch dienstverpflichtet … Er überquerte die Schwelle der herausgesprengten Tür und lief den langen Gang entlang, der voller Blutspritzer war. Dann wandte er sich nach rechts. Dieser Ort ist ein Labyrinth – oder ein Grab. Er wanderte durch einen schwach erleuchteten Gang, der mit Stahl ausgekleidet war, bis er einen Fahrstuhl erreichte. Es gab keinen Strom, und so öffneten sich die Türen nicht. Aber Logan fand schnell den Treppenaufgang. Er stieg die Treppe hoch, bis er die Schilder sah, die vor der Strahlung warnten. Das muss ein Reaktor sein … Hier muss es Menschen geben. Keiner lässt einen Reaktor weiterlaufen, wenn niemand zu Hause ist … Aber der Kontrollraum des Reaktors war verlassen, und alles lief auf automatischer Steuerung. Der Eingangsbereich schien unbe rührt, bis auf einen Bereich der Wand, der völlig zertrümmert war und schwelte. Er nahm einen Hauch von Kordit wahr. Hier wurde geschossen … Was ist hier eigentlich vorgefallen? Er sah eine Waffe auf dem Boden liegen – eine Heckler & Koch UMP. Der Lauf war verbogen. Warum ein Gewehr? Das kann keine militärische Anlage sein. Dafür ist
alles zu neu. Allein diese Computer … die Armee verfügt nicht über hoch moderne Anlagen wie diese … Könnte von SHIELD sein … vielleicht. Aber was hat Furys Bande mit mir zu schaffen? Logan schnüffelte wieder, und diesmal roch er Blut. Schließlich entdeckte er den Körper eines korpulenten Mannes mittleren Alters, der schlaff über der Konsole des Hauptcomputers lag. Magisch angezogen näherte er sich der schauerlichen Szene und blickte auf die Gestalt des toten Mannes. Er trug einen Laborkittel, der voller roter Flecken war. Die Rippen staken aus der aufgerissenen Brust heraus. Der Mann war brutal ausgenommen worden. Doch sein Gesicht strahlte Ruhe aus … Es wirkte fast hingebungsvoll, und dadurch wirkte der Gewaltakt, der ihm angetan worden war, für Logan noch schrecklicher. Er ist aufgeschlitzt worden – richtig schlimm – er hat drei Schnitte im Bauch, und dann hat man ihn ausgenommen. Brutal … sinnlos. Außer, es handelt sich um irgendeine Art von kranker Rache. Er betrachtete den Toten, die Brille, die zerbrochen auf dem Boden lag, und begann sich zu erinnern. Ich … ich kenne diesen Mann. In einer Erinnerung, in einem Traum. Einem Traum vom Sterben. Logan suchte in seinem Gehirn nach einer Identität, einem Gefühl – irgendeiner Verbindung zu diesem Mann. Doch ihm fiel nichts ein. Wer er auch sein mochte – Logan empfand keine Feindseligkeit ihm gegenüber. Er verließ den Reaktorraum und ging weiter. Ein paar Stockwerke höher fand er einen weiteren Toten. Der Mann lag mit dem Gesicht nach unten neben einem Rollwagen voller Apparaturen, der umgekippt war. Auch ihn hatte man aufge schlitzt. Seine Halsschlagader war von einer Klinge durchtrennt worden. Und auch er ist nicht das einzige Opfer. Er wusste, dass es noch mehr geben würde. Tod. Dieser Ort stinkt förmlich danach. Er hängt wie Hitze in der Luft … Aber wer hat hier alle umgebracht?
Logan hatte Angst vor der Antwort und hob seine Hände, die voll geronnenem Blut waren. Es klebt an meinem ganzen Körper, aber da sind keine Wunden … Ist es mein Blut? Muss wohl so sein … Oder habe ich diesen Kerl erstochen? Was hat er mir angetan? Diese Leiche … im Reaktorraum. Und dann diese Hand. Diese abgetrennte Hand … Eine Erinnerung flackerte auf und verlosch. Logans Glieder be gannen zu zittern, und er fiel mit dem Rücken gegen die Wand. Bin ich schließlich doch ausgeflippt? Habe ich den Verstand verloren und alle in dieser Anlage umgebracht, ohne mich jetzt noch daran zu erinnern? Er stöhnte und umklammerte seinen Kopf. Würde mich nicht überraschen … Mein alter Partner Langram hatte mich davor gewarnt, dass das früher oder später passieren würde. ›In Frie denszeiten wendet sich ein Mann des Krieges gegen sich selbst.‹ Das hat mir mal mein Partner gesagt. Er sagte auch, ich sei ein Mann des Krieges … oder sagte er ›geborener Krieger‹? Egal, warum denke ich gerade jetzt an Langram? Ist er hier irgendwo? Habe ich ihn auch umgebracht? Ich brauche einen verdammten Drink. Die aufgezeichnete Unterhaltung, die die ganze Zeit nur technisches Gefasel gewesen war, sodass er es gar nicht mehr wahrgenommen hatte, drang plötzlich wieder in Logans Bewusst sein, als eine verängstigte Stimme immer wieder seinen Namen rief. »… Mr. Logan … Mr. Logan, Sir.« Die Stimme einer Frau. »… komm schon … in die Grube mit dir …«, kreischte eine männ liche Stimme, die sich vor Emotionen fast überschlug. Plötzlich begannen Logans Unterarme zu schmerzen. Er rieb sie und spürte Muskeln, die sich unter der Haut wölbten. Ein Krampf ließ sie unnatürlich zucken. Schmerz durchfloss seine Arme. »… ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen, Sir.« Wieder die Frau. Flehend. Ein stechender Schmerz durchzuckte seine Handgelenke, und er beugte seine Hände.
»… Ich kann den Schmerz nicht ertragen«, schluchzte die Frau. Man konnte sie kaum verstehen. »Ich habe mich einmal verbrannt – mit Chemikalien … Bitte, ich flehe Sie an. Tun Sie's schnell …« Ist das Miko? Nein. Das ergibt alles keinen Sinn. Logans Finger ballten sich zur Faust, als auch schon ein rasender Schmerz von ihnen Besitz ergriff. Er starrte auf die Hände hinunter, die zu Klauen erstarrt waren. Dann floss etwas Warmes, Rotes her aus. Drei blutige Wunden erschienen wie Stigmata auf dem Rücken jeder Hand. Dann traten die Stahlklauen aus ihren Scheiden hervor, zerrissen das gequälte Fleisch und fuhren zu ihrer vollen Länge aus. Er warf den Kopf zurück und stieß ein wildes Geheul aus. »… Laufen Sie, Mr. Logan, laufen Sie!«, schrie die Frau. Einen Moment später hörte er einen Schrei und Logan wusste, dass auch sie tot war. »… Bin ich tot?« dieses Mal erkannte er die Stimme. Es war seine eigene. »… Tot? Bin ich ein wandelnder Toter?« »… Du bist ein Tier!«, kreischte eine Stimme, in der der Wahnsinn mitschwang – und plötzlich erschien das Gesicht, das zum Schrei passte, vor Logans innerem Auge. Glatze, asketische Gesichtszüge. Hohe Wangenknochen, eckige Brillengläser. Arroganz, die zu einem Ausdruck schmolz, der von Angst gekennzeichnet war. Mein Peiniger. Er muss sterben! Oder ist er bereits tot? »… ich bin Logan«, dröhnte seine eigene Stimme aus einem ver borgenen Lautsprecher. »Logan! Ich bin ein Mensch …« Fassungslos starrte er die mit Blut benetzten, silbrigen Klingen an. Sein Geist brach, als Wogen der Erinnerung alle Vernunft erstickten. Die gewalttätigen Gedanken breiteten sich immer weiter in Logans Kopf aus. Tier? Ja, ich bin ein Tier, eine Bestie und eine Maschine. Sie haben aus mir ein Ding gemacht. Logan streckte seine Arme weit von sich, wobei die silbrigen Klau
en aus seinen Handgelenken ragten. Er versuchte, eine der Klingen herauszureißen und fügte sich dabei eine klaffende Wunde zu, die bis auf den Knochen ging – und in der Wunde schimmerte unter Blut der silberne Adamantium-Stahl. Sie haben mich gefunden. Haben alles über mich herausgefunden. Haben mein Geheimnis entdeckt. Haben mich hierher gebracht. Aufgeschnitten. Sind in meinen Körper eingedrungen. »… Tier! … Du bist ein Tier …« Haben mich gequält. Mir den Verstand geraubt. Muss weg, muss weg von hier … jetzt. Logan rannte. Blindlings. Seine aufgezeichnete Stimme schallte in seinen Ohren, folterte seinen Geist mit erbarmungslosen Bildern und vorsätzlicher Folterung. Endlos. Seine Seele brannte. Ich laufe. Wie in einem Traum. Mit voller Geschwindigkeit krachte er gegen Wände, brach durch Absperrungen und sprang er über grausam zugerichtete Leichen. Aus dem Boden sprossen Stacheln, die seine Füße durchbohrten, und trotzdem rannte er weiter. Die Zeit zog sich in die Länge, und die Atmosphäre verdichtete sich. Seine Arme und Beinen waren schwer, und er wurde immer langsamer. Hinter sich hörte er das Geräusch schnappender Kiefer, wie Klauen, die über kalkige Grab steine kratzen. Etwas ist hinter mir her, folgt mir wie ein lebender Schatten. Und spürt mich anhand des Geruches meines Blutes auf. Logan lief schneller, denn er hatte Angst, das Schattenwesen würde ihn einholen, überwältigen, ersticken, wenn er anhielt oder auch nur langsamer wurde. Und ihn für immer in die Dunkelheit zerren. Ich werde nicht in der Lage sein, zu schreien oder es abzuwehren, denn es wird in mir sein … unter meiner Haut … in meinen Knochen. Logan benutzte seine schrecklichen Stahlklauen, um eine versperr te Tür einzuschlagen und dann mehrere Stufen hochzurasen, die
sich wie hundert anfühlten. Aus jeder Stufe ragte ein zackiger Sta chel, jeder Schritt bedeutete quälende Schmerzen. Als würde ein Lastentier versuchen zu rennen. Voll beladen einen steilen Berg hinauf … Während es versucht, nicht zu stolpern, nicht zu fallen. Ich halte diese Geschwindigkeit nicht mehr durch. Ich verliere an Boden, und dieses Ding … Es kommt immer näher … Er spürte, wie etwas an ihm zerrte und auch dann noch an ihm zog, als er weiter nach vom drängte. Es greift nach mir. Will mich mit Venen wie Seile packen und zurückzie hen. Sehnen wie Ketten, wie Kabel – wie die Fäden einer Marionette. Dann begann das Stachelfeld, durch das er gelaufen war, über den Boden auf seinen Körper hinaufzukriechen. Plötzlich ragten Sta cheln aus Logans Körper, genau wie aus dem Boden und den Wänden. Lang. Spitz. Schimmerndes Metall. Sie traten, ohne dass Blut geflossen wäre, aus seinen Schultern, seinem Rumpf, Hüften, Schenkeln. Lange, dünne Finger winden sich um meine Rippen … Muskeln dehnen sich, das Rückgrat biegt sich zurück … Es zerrt an mir, zieht mich in die alles verschlingende Dunkelheit zurück. Während er lief, hinterließ Logan eine blutige Spur – dunkelrote Fußspuren. Es ist mir auf den Fersen … Packt meine Schulter. Durchbohrt mich mit Stacheln. Dringt in mich ein. Heißer Atem, sengender Schmerz. Brennendes Fleisch, Knochen, die sich in flüssiges Magma verwandeln. Der faulige Gestank des Todes steigt in meine Nase, meinen Mund. Die Klauen, die bis in seinen Körper reichten, begannen an seinem Verstand zu zerren. Logans Sinne wurden schwächer. Ein elektronisches Brummen beherrschte sein Gehör. Ein blauer Mantel legte sich über seine Augen. Er kämpfte gegen den fast schon hyp notischen Einfluss, aber der blaue Nebel wurde ebenholzschwarz, und das Gewicht der Leere legte sich schwer auf sein Bewusstsein. Kann nicht fort … Muss fort. Muss bis in alle Ewigkeit rennen … Bis in alle Ewigkeit kämpfen. Mich nie der Dunkelheit ergeben. Nie dem Tier
ergeben. Ein Mensch. Kann nicht vergessen … Doch aus der Dunkelheit erhob sich der Schatten, erstickte ihn, lähmte seinen Verstand, brach seinen Willen. Logan bewegte die Lippen, stellte aber fest, dass er die Fähigkeit zu sprechen verloren hatte. Er spürte, wie sich eine eisige Wut seines Gehirns bemächtigte. Eine Wut, die nicht die seine war. Ein Hass auf alle Menschen, wie er ihn noch nie zuvor verspürt hatte. Es hat mich erwischt … Und es will Rache. Es kehrt mich von innen nach außen. Unendliche Dunkelheit. Hinter mir, um mich herum. Es ist überall. Der Schatten ist überall. Ich bin überall … Als die Leere über ihn hinwegspülte und ihm das Bewusstsein mit einer Schnelligkeit schwand, als habe man einen Schalter umgelegt, vernahm Logan eine ganz leise Stimme aus den tiefsten Tiefen sei nes Innern. »Gib nicht auf«, sagte die Stimme. Ich kann nicht weiter … Sie sind so schwer wie Blei. Wie Eisen. Die Knie geben nach … »Gib nicht auf …« Schießt wie Stahl ins Herz und bricht … »Gib nicht auf.« … unter dem Gewicht zusammen. Dem Gewicht der Bestie.
NEUNZEHN Endphase
»Das ist außergewöhnlich, nicht wahr, Cornelius?« Der Professor starrte auf den Monitor. Die Hände hatte er auf dem Rücken verschränkt. »Erstaunlich, dass Waffe X, ein so kräftiges Wesen, sich so von seinem eigenen Schatten erschüttern lässt. Die Furcht vor sich selbst treibt ihn fast in einen Nervenzusammen bruch.« Dr. Cornelius, der hinter Carol Hines stand, sah sich die Werte auf ihrem EMaM-Terminal an. Langsam wurden die Wellen, die das Ge rät erzeugte, reduziert und entließen damit Logans Gehirn aus dem Klammergriff seines mörderischen Traums. »Es ist beeindruckend, Professor. Noch beeindruckender ist jedoch immer noch, wie er sich stets erholt. Sich wehrt. Trotz allem gibt es ein Grundelement in Logans Persönlichkeit, das weiterkämpft, auch wenn keine Hoffnung zu bestehen scheint. Außenkamera, Ms. Hin es.« »Schalte um …« Das Bild auf dem HDTV verwandelte sich langsam. Das Standbild von Logans düsterer Traumlandschaft – ein Alptraum in Lila und Rot mit einer schwarzen Leere als Himmel und kalkweißen Sta cheln, die aus dem virtuellen Boden herausragten – wurde durch eine erfroren wirkende Außenaufnahme der Anlage ersetzt. Das bleiche Mondlicht schimmerte auf frisch gefallenem Schnee. Ein eisiger Wind stürmte die nahen Berge herunter und schüttelte Eiskristalle, die wie Diamantenstaub aussahen, von den weiß zuge deckten Zweigen. Am bitterkalten Nachthimmel stand keine einzige
Wolke. Zart hingetupfte Sterne und ein heller Mond durchbrachen die seidige Schwärze des Himmels. »Sie meinen also, dass er sich wieder erholt und seine Furcht und seinen Selbstekel zurückgedrängt hat, was?«, fragte der Professor und seine Miene war eine einzige höhnische Herausforderung. »Wir werden sehen, was passiert.« »Ja, das werden wir wohl, Professor. Logan steht schließlich noch, oder nicht?« Cornelius deutete auf den Bildschirm. Logan stand in Mondlicht getaucht und breitbeinig im Schnee. Die Arme hingen an seinen Seiten herab und die Klauen glänzten wie Eiszapfen an sei nen Handgelenken. Der Professor beugte sich vor und genoss den Anblick der rohen Kraft des Wesens, das er geschaffen hatte und das er jetzt kon trollierte. Auf dem Bildschirm leuchtete Logans nackte Haut bleich im Mondlicht, zu dem der rabenschwarze Haarschopf einen starken Kontrast bildete. Ausgeprägte, flache Muskeln, hart wie Beton, bildeten seine Brust, und dicke, gerippte Bänder überzogen Arme, Lenden und Schenkel. Er hockte mit gespreizten Beinen da – wie ein Moloch, der kurz davor stand zu explodieren. Logans Flanken beb ten wie bei einem aufgeregten Tier. Sein heißer Atem schwebte als feucht dampfende Wolke vor seinem Gesicht. Der Mutant stand einem weiß gestreiften Sibirischen Tiger gegen über – der völlig ausgehungert war, weil die Anweisung des Professors es so vorgesehen hatte. Mann und Tier verharrten re gungslos und ließen sich keine Sekunde aus den Augen. Die Katze fletschte das Gebiss und enthüllte unbarmherzige Reißzähne. »Logan hat nicht klein beigegeben«, sagte Cornelius. »Er hat nicht aufgegeben. Er hat noch nicht einmal seine Klauen wieder eingezo gen, als wir ihm die Fähigkeit dazu wiedergegeben haben.« Der Professor legte den Zeigefinger an die Lippen. »Schsch, Cor nelius. Er hat den Schneeleoparden entdeckt.« »Den Sibirischen Tiger, Sir.« »Ja, danke, Ms. Hines.«
Cornelius räusperte sich. »Wir hätten das besser vorbereiten können, wissen Sie.« Der Professor starrte ihn an. »Was meinen Sie damit, Doktor?« »Wenn Logan die Katze wirklich jagen müsste, ihr gegenüber tre ten müsste, um sie aus eigenem Antrieb zu töten, statt dass der Tiger einfach nur da ist und ihn bedroht … Dann wäre dieses Expe riment ein wenig aussagekräftiger, und wir könnten erkennen, ob Logans Willen irgendwie beteiligt ist.« »Stimmt«, erwiderte der Professor nachdenklich. »Da haben Sie wohl Recht. Aber trotzdem ist das Ganze ein akzeptables Szenario, wenn man es mit es jemandem zu tun hat, der nur über eine so sim ple Wahrnehmungsfähigkeit wie die Versuchsperson verfügt.« Auf dem Bildschirm konnte man sehen, wie der Tiger sein Maul aufriss. Das Knurren drang mit dem Bruchteil einer Sekunde der Verzögerung durch die Lautsprecher. Die Wildheit im Ausdruck nahm mit jeder Sekunde zu. »Bitte, synchronisieren Sie den Ton, Ms. Hines.« Das Knurren wurde zu einem kehligen Gebrüll. Obwohl der Tiger hungrig war – sehr hungrig – schien er seinem Gegner mit Vorsicht zu begegnen. Die Flanken des Tigers zitterten, und er schlug seinen Schwanz hin und her. Das Tier wich zurück und drückte sich mit angelegten Ohren flach auf den Boden. Doch auch dann setzte er nicht zum Sprung an. Am Ende war es Logan, der den ersten Schritt tat und die große Katze einen Hauch früher angriff, als diese sprang. Die Gegner prallten gegeneinander, wobei Logan seine Arme immer wieder hob und senkte, während er auf die brüllende Katze einstach. »Schauen Sie sich das an!«, schrie Cornelius. »Logan ist mitten drin. Er ist genauso wild und ungezähmt wie zuvor.« Aber der Professor schüttelte den Kopf. »Das mag vielleicht so scheinen, Doktor, doch in den letzten paar Tagen hat sich Waffe X unwiderruflich verändert. Seine Wildheit wird jetzt durch Ego und
logisches Denken gemäßigt. Das, was wir da sehen, ist nicht Wild heit, sondern Gerissenheit.« Auf dem Bildschirm konnte man sehen, wie Logan und das wilde Geschöpf wütend miteinander rangen, ohne dass einer die Oberhand gewonnen hätte. »Sehen Sie sich an, wie er kämpft, Cornelius. Jedes Zögern, ein Augenblick der Furcht, Angst oder auch nur Vorsicht – und er wäre erledigt.« »Ja, im wahrsten Sinne des Wortes«, sagte Cornelius. Logan und der Tiger rollten jetzt durch den Schnee. Die Pranken des Tigers zer rissen den Bauch des Mannes, während dieser nach der ungeschütz ten Kehle des Tieres schlug. Blutstropfen bedeckten die Kämpfenden. Der Professor seufzte. »Es war natürlich notwendig, dass Logan nichts von seinem unzerstörbaren Skelett weiß …« »Was ihm ohnehin nichts nützt, wenn ihm jemand den Bauch auf schlitzt.« »Nein, Dr. Cornelius. In dem Falle würde er die Wahrheit auf die harte Tour erfahren – und unter großen Schmerzen.« »Kamera Vier, Ms. Hines.« »Ja, Doktor. Ich schalte um …« Die Szene änderte sich und so auch der Wettkampf. Jetzt war Lo gan oben und sein Knie drückte sich in die Brust des Tigers. Das Ab schlachten begann. Schwarzes Blut befleckte den Schnee und floss bei jedem Hieb mit Logans langen Klauen in Strömen. »Er verschafft sich einen Vorteil, Professor.« »Es ist noch gar nicht so lange her, dass Waffe X einen Bären ohne einen Moment des Zögerns enthauptete. Ohne großes Gerangel«, meinte der Professor mit Bedauern. »Das nenne ich, sich einen Vor teil verschaffen.« Die schnellen Bewegungen des Tigers waren jetzt weniger heftig. Erschöpfung und Blutverlust ließen das Tier schwächer werden. Lo
gan zerfetzte es weiter mit seinen Hieben, wobei sich sein durch die Anstrengung hervorgerufenes Stöhnen mit dem schmerzerfüllten und wütenden Knurren der Katze vermischte. »Sie müssen Vertrauen haben, Professor«, sagte Cornelius. »Schau en Sie, ich setze hundert auf Logan. Was halten Sie davon?« Der Professor machte ein saures Gesicht. »Das ist kein Spiel, Cor nelius …« »Geben Sie mir eine Großaufnahme von Kamera Nummer Sechs, Ms. Hines!«, rief Cornelius. »Und wachen Sie auf, sonst verpassen wir noch die Hälfte. Ich glaube, ich habe Logans Reflexe noch nie schneller gesehen.« »Ich schalte um …« Mit neuen Kräften bäumte der Tiger sich auf und holte zu einem mächtigen Hieb mit der Vorderpfote aus. Logan wich dem Schlag gerade rechtzeitig aus, sodass die Klaue nur eine klaffende, gezackte Wunde in seine Brustmuskeln riss. Cornelius starrte den Professor an. »Und Sie wollen mir erzählen, dass dies kein Spiel ist? Wenn dieser Hieb getroffen hätte, würde Logan jetzt ohne Eingeweide dastehen und ich hätte einen Hunderter weniger.« Der Professor kicherte. »Sie begreifen es nicht, Cornelius, oder? Das war eine Finte. Sie haben Recht in Bezug auf seine Reflexe. Sie sind schneller. Und genauso der Geist unserer Versuchsperson. Waffe X hat die Katze aus der Reserve gelockt, um sie zu töten. Schauen Sie hin und lernen Sie.« »Gehen Sie dichter ran, Ms. Hines«, sagte Cornelius. Der Tiger erhob seine Vordertatze, um erneut zuzuschlagen, und gab sich dabei eine Blöße, die Logan sofort ausnutzte. Mit einem tödlichen Sprung versenkte er seine Stahlklauen so tief in der wei chen Kehle des Tieres, bis seine Faust das blutbefleckte Fell des Tieres berührte und die Spitzen der Klingen aus dem keilförmigen Kopf des toten Geschöpfes ragten.
»Ein herrlicher Schlag!«, jubelte der Professor. Das Geknurr, das die Lautsprecher die ganze Zeit übertragen hatten, endete abrupt. Als Logan ein zweites Mal zustieß und dabei seine Klauen tief ins Herz des Tigers grub, waren nur noch seine eigenen, abgehackten Atemzüge über die Lautsprecher zu hören. »Himmel! Noch ein Stoß – mitten ins Herz. Dieser Hurensohn Lo gan ist brutaler denn je!« Cornelius sah die Frau an. »Geben Sie mir die Werte, Ms. Hines … Herzschlag, Atmung, Adrenalinspiegel.« Carol Hines überprüfte die Daten, doch dann blinzelte sie vor Überraschung. »Keine Werte vorhanden, Sir. Mr. Logan ist offline. Er handelt, ohne unter dem Einfluss des EMaM zu stehen.« »Hervorragend«, meinte der Professor. »Waffe X hat seinen Auf trag ohne Hilfe unserer direkten Befehle ausgeführt. Nur unser Einfluss, seine Konditionierung und die Programmiertechniken, die wir eingesetzt haben, steuern seine Handlungen zum jetzigen Zeit punkt.« »Fantastisch!«, grinste Cornelius. »Dann ist der Einsatz wohl er folgreich beendet. Logan funktioniert autonom gemäß Ihren ursprünglichen Spezifikationen, Professor. Was sagen Sie dazu?« »Es ist wirklich bemerkenswert, Dr. Cornelius. Seine Instinkte und Reflexe sind vielleicht ein wenig nüchterner, ein bisschen vor sichtiger, aber ansonsten scheinen sie völlig unvermindert. Aber wichtiger ist, dass seine Wildheit immer noch ihresgleichen sucht.« Cornelius kicherte. »Schade, dass ich Sie nicht zu der Wette über reden konnte, was, Professor? Das wäre leicht verdientes Geld ge wesen.« Gereizt verschränkte der Professor die Arme. »Ich werde die Bril lanz unserer wissenschaftlichen Bestrebungen nicht mit Wetten besudeln, Doktor.«
Cornelius ließ sich von der Bemerkung nicht einschüchtern. Nach Monaten in dieser Anlage, nach Wochen der Isolation sah er endlich das Ende dieses widerwärtigen Experiments nahen und war bester Stimmung. Ich habe alle Blut- und Gewebeproben von Logan, die ich je brauchen werde, um meine immunologischen Experimente fortzuführen, auch lange nachdem ich diesen Ort verlassen habe, überlegte Cornelius. Doch der Professor hat in Bezug auf eine Sache Recht: Die Existenz von Waffe X wird den Lauf der Geschichte ändern. Zwar nicht als Zerstörer, wie es sich der Professor erträumt, sondern als Heiler und als Segen für die gesamte Menschheit … Auf dem HDTV konnte man sehen, wie sich Logan voller Blut, doch ungeschlagen erhob, während der Tiger leblos und vernichtet im blutbefleckten Schnee lag. Die Versuchsperson sah geradeaus in eine unergründliche Ferne. Cornelius ließ sich auf einen Stuhl sinken. »Ich glaube, Sie haben sich etwas unterschätzt, Professor«, begann er. »Dieses kleine, virtu elle Szenario von Ihnen, in das Logan versetzt wurde – wir gaben ihm die Gelegenheit zur Flucht. Aber er ist nicht weggelaufen. Statt dessen hat er sich umgedreht und uns alle brutal abgeschlachtet. Dann haben wir seine Psyche mit seiner Angst vor seinem eigenen Mutantenwesen bombardiert, aber nicht einmal das hat ihn aus der Fassung gebracht.« Eine Augenbraue des Professors erhob sich. »Und das heißt?« »Ich würde sagen, dass er Ihren letzten Test mit einer Eins bestanden hat, oder nicht?«, erwiderte Cornelius. »Ja, ja, er war ausreichend aggressiv«, antwortete der Professor. »Und doch ist es ihm nicht gelungen, Ms. Hines umzubringen. Ein Gnadenakt, der mich immer noch zweifeln lässt.« »Wir sind das mit Dr. MacKenzie in der Nachbesprechung des Ex periments durchgegangen«, erwiderte Cornelius. »Er hat Hines ver schont, weil sie ihn nie bedroht hat. Wie wir schon vermutet hatten – Logan wird nur töten, wenn man ihn bedroht oder … äh …«
»Wenn er Hunger hat?«, meinte Carol Hines. »Ja, oder wenn er Hunger hat. Und warum sollte er Ms. Hines essen wollen?«, scherzte Cornelius. »Ja, okay, Cornelius«, sagte der Professor. »Dann sollten wir dieses Experiment wohl als Erfolg betrachten – auch wenn es für mich nicht makellos ist.« Carol Hines blickte von ihrem Terminal auf. »Wenn ich das so sagen darf, Doktor, ich glaube, Mr. Logan hat Sie in der virtuellen Realität nur wegen des versehentlichen Schusses umgebracht. Unter anderen Umständen hätte er Sie wohl nicht angegriffen.« Cornelius dachte einen Augenblick darüber nach. »Da mögen Sie Recht haben, Ms. Hines …« »Hm«, brummte der Professor. »Auf jeden Fall«, fuhr Cornelius fort, »hat Waffe X … Logan … in nerhalb der Parameter der Situation, die er erlebte, eine rationale Entscheidung getroffen, und sich dabei auf ein Mindestmaß an Ver nunft verlassen, statt mit nackter Aggression zu handeln. Und das macht ihn wirklich zu einer intelligenten Waffe.« »Ich werde mir eine neue Reihe von Tests überlegen müssen und Logan für die nächste Phase an MacKenzie übergeben«, murmelte der Professor. »Lassen Sie die Wachleute Logan holen, Ms. Hines.« »Ja, Dr. Cornelius.« Sie drückte auf die Gegensprechanlage, und nach einem kurzen Knistern ertönte eine Stimme. »Cutler …« »Bitte bringen Sie die Versuchsperson nach drinnen, Agent Cutler. Subject X soll jetzt in Block D gebracht werden.«
»Ja. Block D. Verstanden, Ms. Hines … Ende.« Cutler schaltete die Gegensprechanlage aus und rieb sich die
müden Augen. Die Tür zum Waffenarsenal öffnete sich und Agent Anderson kam herein. »Was zum Teufel machen Sie hier, Anderson? Franks steht heute Morgen auf dem Dienstplan.« Anderson blieb stehen, sah seinem Boss jedoch nicht ins Gesicht. »Sie sind wohl gerade erst aus dem Bett gekommen, was, Cut?« »Ja, vor zehn Minuten. Sie hätten auch für drei Stunden ge schlafen, wenn der Professor Sie nicht für das verrückteste Expe riment, das es je gab, eingeteilt hätte. Logan ist in irgend so einer Traumwelt versunken draußen herumgelaufen. Ich dachte schon, er würde weglaufen, aber die Eierköpfe hatten ihn an der Leine. Haben ihn erst vor einer Weile abgeschaltet …« Anderson wich dem Blick des anderen Soldaten aus. Cutler be merkte es. »Was zum Teufel ist mit Ihnen los?« »Dann … dann mitbekommen?«
haben
Sie
das
mit
Franks
also
nicht
Cutler starrte ihn an. »Was ist mit Franks?« »Vor zwei Stunden. Die Wachleute haben diesen Sibirischen Tiger aus dem Käfig geholt, um ihn ins Gehege zu bringen. Der Tiger hat ihn erwischt …« »Was?« »Franks trieb das Tier aus dem Käfig, damit Logan ihn jagen konn te. Der Tiger drehte sich um und griff Franks an.« »Wie schlimm?« »Hat seinen Arm abgetrennt. Franks ist verblutet, ehe Dr. Hendry bei ihm war. Lynch wollte den Tiger erschießen, sobald er Franks angegriffen hatte, aber Major Deavers hinderte ihn daran. Sagte, der Professor würde sauer sein, wenn Waffe X nichts zu jagen hätte …« Ohne es zu merken, plumpste Cutler auf eine Bank. Er starrte die gegenüberliegende Wand an. »Deavers, dieser Mistkerl … dieser verdammte Arschkriecher.« »Der Major kann wirklich nichts dafür«, erwiderte Anderson.
»Wirklich, ich habe das Band gesehen, Cut. Es gab nichts, was ir gendwer für Franks hätte tun können.« Cutler nickte. Dann stand er auf und begann sich langsam anzu ziehen. Als er sich die schusssichere Kleidung überstreifte, begann er zu sprechen – eher mit sich selbst als mit Anderson. »Franks war in Ordnung«, sagte er. »Man konnte sich auf ihn verlassen. Er hat seine Arbeit ernst genommen, hat sich immer sehr bemüht. Jetzt ist er nur ein weiterer gottverdammter Geist, der hier umgeht.« »Na, na, Cut, nehmen Sie es nicht so schwer.« »Es nicht so schwer nehmen? Das ich nicht lache. Ich nehme gar nichts. Ich fühle nichts. Bin taub. Bin selber halb tot. Als ob ich nur ein Geist wäre, so wie alle anderen hier auch. Hier … in dieser Anlage. Die Abgeschiedenheit. Diese Isolation. Dieses kranke, ver dammte Experiment …« Anderson schaute zum an der Decke angebrachten Überwa chungsmonitor. »He, Cut … Die Wände haben Ohren.« »Ich bin nicht der Einzige, der so denkt. MacKenzie sagte mir, das die Leute allmählich durchdrehen – besonders seit der letzten Wo che. Der Professor hatte Dienst – irgendwie rund um die Uhr – und ließ die verdammte Traummaschine laufen, die sie da unten haben.« Cutler sah Anderson in die Augen. »Haben Sie auch Träume?« »Hä?« »Träume, Anderson? Oder Alpträume?« Anderson wirkte etwas zurückhaltend. »Wer hätte die nicht … an einem solchen Ort?« »Nun, ich habe geträumt. Eine Menge. Verschiedene Sachen. Letz te Nacht träumte ich von etwas, das vor langer Zeit passiert ist. Als ich im aktiven Dienst war … Corporal bei den Special Forces … in einem anderen Land …« »Himmel, Cut. Kommen Sie mir nicht mit so einem abgehobenen Zeug, und flippen Sie jetzt nicht auch noch aus. Das kann ich nicht
ab. Sie sind der Sicherheitschef. Der Fels in der Brandung, Mann. Wenn Sie überschnappen, was für eine Chance haben wir anderen denn dann noch?« Cutler versuchte die ungesunde Stimmung abzuschütteln, doch er merkte, dass das völlig unmöglich war. Er schob es der Sache mit Franks zu. In Wahrheit war er mit einem Gefühl der Beklemmung aufgewacht, als ob etwas Schlimmes geschehen würde. Oder bereits geschehen war. Vielleicht war es eine Vorahnung gewesen. Vielleicht hatte er an Franks gedacht und es noch nicht einmal gewusst. Noch ein Geist, der hier umgeht … »Vergessen Sie's, Anderson«, meinte Cutler schließlich. »Ich bin nur sauer wegen der Sache mit Franks – das ist alles.« Cutler lachte – ein bitterer, freudloser Laut – dann nahm er seinen Helm ab. »Ziehen Sie sich an und bringen wir es hinter uns.« Als sie nach draußen in die Kälte traten und ihre Elektrostäbe überprüften, erinnerte Cutler sich an jene Nacht, als er Logan end lich draußen vor der Kneipe in der heruntergekommenen Gegend der Stadt eingeholt hatte. Damals hatte er sich gefragt, wer der Kerl eigentlich war. Er wusste, dass Logan irgendeine Verbindung zum Militär oder zum militärischen Geheimdienst hatte – wie Cutler selbst, hin und wieder. Damals war Logan eine Art entbehrliches ›Paket‹ gewesen – ein Stück abgelegter militärischer Hardware, das man in etwas Neues mit vorhersagbarer militärischer Effizienz verwandeln konnte. Aber plötzlich hatte sich alles geändert. Jetzt war Logan ein wertvoller Vermögensgegenstand, und alle anderen waren überflüssig – Leute wie Hill und Franks, Anderson und Lynch. Und wie ich. Cutler konnte sich des Gedankens nicht erwehren, dass er vielleicht verdiente, was passierte. Vielleicht bekam er es jetzt zu rück, wie er Logan behandelt hatte. Mit Zins und Zinseszins.
Als sie sich durch den Schnee auf den Schauplatz des Gemetzels zubewegten, überkam Cutler das Gefühl, in der Schlinge zu stecken und in einer endlosen Schleife unsäglicher Grausamkeit festzu hängen. Das gefrorene schwarze Blut im Schnee – glatt wie Glas; das zerfetzte Tier auf der Erde, der Geruch von frisch vergossenem Blut. All das löste bei ihm ein Déjà vu aus, das Gefühl, dass er schon ein mal hier gewesen war und dies alles noch einmal erleben würde, vielleicht bis in alle Ewigkeit. Genau wie einer der Geister, die hier umgehen …
Cornelius schob die Hände in die Taschen und wippte auf den Fuß ballen. »Also, wie sieht's jetzt aus, Professor? Logan denkt, dass er Jeden innerhalb der Anlage getötet hat, nur um Sie zu kriegen – Sie, auf den sich seine Rache konzentriert.« Der Professor ging unruhig hin und her. »Ja, fahren Sie fort.« »Jetzt hat Logan durch die vom EMaM erzeugten Träume erfah ren, dass er kein Mensch ist. Er ist nicht nur ein Mutant, sondern er besitzt auch ein fast unzerstörbares Skelett, eine Technologie, die ihn noch mehr verfremdet – ihn noch mehr von seiner eigenen Menschlichkeit entfernt. Und über all das hinaus weiß er auch, dass Sie sein dunkles Geheimnis nutzbar gemacht haben, dass Sie diesen verhassten Teil seines Wesen – den Mutanten – benutzt haben und in Waffe X verwandelt haben.« »Genau«, erwiderte der Professor und sah auf den Bildschirm. »Also hatte Logan keine andere Wahl, als mich zu vernichten, nicht wahr? So wie wir dazu gezwungen sind, unsere alten Götter zu zer stören, um den Weg für neue frei zu machen. Während er seinen Schöpfer umbringt, verwandelt sich Logans einstige unschuldige Form der Wildheit in die Gerissenheit eines unbarmherzigen Killers – ein hervorragendes Beispiel für ›psychologische Übertragung‹, wie Dr. MacKenzie das nennt.« Schließlich sah der Professor den Doktor an. »Ich genieße diese Ereignisse, Cornelius.«
Cornelius nickte, bevor er den Dolch in der Wunde drehte. »Na türlich sind Sie ein bisschen auf Nummer Sicher gegangen, Professor.« »Was? Was wollen Sie damit sagen?« »Die Sache, dass Sie eigentlich für jemand anders arbeiten … ir gendeine große Macht im Hintergrund … als wären Sie eine Ma rionette oder ein Handlanger statt des Genies hinter Experiment X.« Der Professor begegnete Cornelius' Blick und wusste, dass der Mann Verdacht geschöpft hatte. »Nichts weiter als ein psycholo gischer Trick …«, murmelte der Professor. »Ein guter Trick. Erst bereiten Sie Ihre eigene Ermordung vor, aber auf dem Höhepunkt tun Sie dann so, als ob Sie vom wahren Schöpfer von Waffe X betrogen worden wären. Haben Sie versucht, für ein bisschen Widersprüchlichkeit zu sorgen – für die Möglich keit, einen Schatten des Zweifels in Logans Kopf entstehen zu lassen? Oder wollten Sie Sympathie wecken? Haben Sie Ihre Ver suchsperson auf die Probe gestellt, um zu sehen, ob er die Schluss folgerung ziehen würde, dass gar nicht Sie die wahre Bedrohung sind, dass er Sie auf die gleiche Weise verschonen sollte, wie er Ms. Hines verschont hat? Wie man es auch dreht und wendet – es ist schlau. Wirklich raffiniert.« Ein geheimnisvolles Lächeln spielte um die Lippen des Professors. »Genau, Dr. Cornelius. Alles nur ein theatralischer Trick … der hat viel über das Wesen der Versuchsperson zutage gebracht, hmm?« »Tja, alles in allem war es ein guter Tag, nicht wahr, Ms. Hines?« Aber die Frau gab keine Antwort. Gedankenverloren starrte sie stirnrunzelnd auf den Bildschirm. Man konnte die Wachleute dabei beobachten, wie sie sich dem regungslosen Mann näherten, der im Schnee hockte. »Alles in Ordnung mit Ihnen, Ms. Hines?«, fragte Cornelius. »Sie wirken angespannt.« »Ja, Hines. Sie scheinen nicht in derselben feierlichen Stimmung
wie der Doktor zu sein …« »Etwas macht mir Gedanken, das stimmt«, erwiderte Carol Hines. »Aber ich weiß nicht, ob ich darüber offen reden darf, Professor. Es handelt sich um eine als geheim eingestufte Information. Und ich habe eine Vereinbarung unterzeichnet, dass ich nicht über die Ange legenheit sprechen werde – auch nicht nach Beendigung meiner An stellung bei der NASA.« »Wenn Ihr Geheimnis unsere Arbeit hier betrifft, dann müssen Sie auf jeden Fall sprechen«, sagte der Professor nervös. Carol Hines nickte. »Ja, Sir. Da haben Sie wohl Recht …«
ZWANZIG Buße
Logan spürte, dass ihn etwas am Kopf berührte. Jemand zerrte an seiner Kleidung. Er öffnete die Augen und erblickte einen Sitz, der nur noch an einer einzigen Schraube hing. In seinem Trommelfell hallte immer noch das Echo eines schrecklichen Lärms wider, an dessen Ursache er sich nicht mehr erinnern konnte. »Logan …« Er verdrehte den Hals und sah, dass Miko neben ihm auf der Erde lag. Ihr Gesicht war voller blauer Flecken, und ein langer Me tallsplitter – wahrscheinlich ein Stück vom zertrümmerten Truppentransporter – stak in ihrer Schulter. Die Wunde um das Me tallstück herum war ausgefranst, und es sickerte Blut heraus. Er rollte sich herum und untersuchte sie. »Wo ist Langram?« »Immer noch auf seinem Sitz.« Logan schaute suchend umher und sah seinen Partner, der schlaff auf Fahrersitz zusammengesunken war. Sein Bein lag auf dem Steuerrad. Offensichtlich hatte sich das Fahrzeug überschlagen, aber Logan konnte sich nicht mehr an die genauen Umstände, die zum Unfall geführt hatten, erinnern. Schnell sprang er auf, um den Puls seines Partners zu überprüfen. »Langram lebt!« Logan hob ihn vorsichtig herunter und sah Blut aus einer Kopfver letzung sickern. Und Langrams Bein war gebrochen. Er hat Glück. Ein sauberer Bruch, keine komplizierte Fraktur, doch in nächster Zukunft wird Langram erst einmal nicht joggen gehen. Ich werde ihn wohl zum Treffpunkt tragen müssen. Miko kroch an Logans Seite und versuchte aufzustehen. »Nehmen
Sie das«, brummte Logan, riss sich das AK-47 von der Schulter und reichte es ihr. »Können Sie gehen?« »Hai.« Sie drehte sich um, doch er hielt sie fest. Und bevor sie rea gieren konnte, riss Logan ihr das Metallstück aus dem Arm. Sie wurde blass, biss sich auf die Lippen, gab aber keinen Laut von sich. »Sie sind Samurai«, erinnerte er sie auf Japanisch, womit er Miko trotz ihrer Schmerzen zum Lächeln brachte. Logan fand den ErsteHilfe-Kasten, verteilte ein Desinfektionsmittel auf der Wunde in ih rem Arm, dann legte er Mull darauf, den er mit Pflastern festklebte, damit nichts verrutschte. »Auf geht's.« Erst legte Logan sich seinen bewusstlosen Partner über die breiten Schultern, dann half er Miko beim Aufstehen. Draußen vor dem Wrack des gepanzerten Truppentransporters vibrierte der Wald vor Leben. Die Stimmen, die zu ihnen drangen, vermischten sich mit dem Rattern von Panzerketten. Suchscheinwerfer durchbohrten die Nacht und leuchteten zwischen den Bäumen hindurch – doch sie kamen nie in die Nähe der wirklichen Position von Logan und sei nen Leuten. Zumindest für eine kurze Weile hatten sie die Nordko reaner abgehängt. »In welche Richtung sollen wir gehen?« Logan musterte die Gegend, aber er konnte wegen der dichten Ve getation nur ein paar Dutzend Meter in jede Richtung schauen. Gibt es irgendeinen Teil dieses Einsatzes, der nicht nervt? »Ich brauche Ihren Kompass.« Miko hielt ihm das Gerät unter die Nase. »Nordosten«, wies Logan die Richtung. »Zwischen den Pinien dort drüben hindurch. Auf diesem Bergkamm soll sich ein flaches Plateau befinden. Wir müssten eigentlich ziemlich nah dran sein.« Logan warf einen Blick auf seine Uhr. Das Zifferblatt war zwar zerbrochen, aber die Uhr tickte immer noch. Fast zwanzig Minuten bis zur voraussichtlichen Ankunftszeit des Hubschraubers. Hoffent
lich sind wir nicht zu früh dran, sonst holen uns die Soldaten vielleicht noch vorher ein, ehe der Hubschrauber da ist. Sie hörten Stimmen, die jetzt viel näher klangen. Dann drang das Geräusch von Männern, die durch den Wald zogen, zu ihnen. »Hier hoch«, flüsterte Logan. Er stolperte eine kleine Anhöhe empor und packte einen Stamm, um sich das restliche Stück hochzu ziehen. Miko kroch den Abhang neben ihm hoch. Trotz ihrer Verletzung bewegte sie sich schnell. Der Strahl eines Suchscheinwerfers huschte plötzlich durch die Bäume und erfasste sie, als sie gerade über den Rand eines nied rigen Abhangs kletterten. Stimmen begannen zu schreien, und schon bald ertönte ein Signalhorn, was der Situation nicht ganz angemessen schien. »Kavallerie im Anmarsch«, schnaubte Logan und rannte zwischen den Bäumen hindurch. Unter einem hohen Baum stürzte Miko, und Logan wartete, damit sie ihn wieder einholte. »Ich werde sie aufhalten und Ihnen Deckung geben«, rief sie. »Nein! Kommen Sie.« »Keine Sorge. Ich werde folgen.« »Es sind zu viele. Die Soldaten werden Sie überwältigen.« Doch Miko kehrte Logan den Rücken zu und zielte mit der AK-47 auf die schemenhaften Silhouetten, die im unruhigen Strahl ihres Si gnalfeuers tanzten. Ihr Gewehr knallte, und das Leuchtspurgeschoss raste durch den in tiefer Dunkelheit liegenden Wald. Panische Schreie ertönten, und dann wurde mit sporadischem, aber wirkungslosem Gewehrfeuer geantwortet. Kugeln schwirrten durch den Wald und schlugen in Äste und Stämme. Dann schoss Miko erneut – und diesmal hörte sie nicht wieder auf. Logan hörte Schreie und das Geräusch von Kugeln, die auf Körper trafen. Logan drehte sich um. Einen Fuß vor den anderen setzend, nahm er den schwierigen Anstieg in höhere Lagen in Angriff. Hinter sich
hörte er noch mehr Schüsse – erst Gewehre, dann das unablässige Knattern von Mikos Maschinengewehr. Die Bäume dämpften das Klirren von zersplitterndem Glas und den Schrei eines sterbenden Mannes, die bis an seine Ohren drangen. Dann verlosch plötzlich einer der Suchscheinwerfer. »Gutes Mädchen«, brummte er. Obwohl sein Atem nur noch stoß weise kam und seine Muskeln allmählich erlahmten, drängte Logan unbarmherzig vorwärts. Über seine eigenen, lauten Atemzüge hin weg lauschte er auf eine Fortsetzung des Feuergefechts, aber der Wald war plötzlich still. Er riskierte einen Blick über die Schulter und sah, dass die Strahlen der Scheinwerfer den Wald viel weiter unten absuchten. Vielleicht ist Miko schon unterwegs … Vielleicht holt sie mich bald ein. Logan taumelte unter dem Gewicht seines Partners, als er den Fuß auf einen losen Felsbrocken setzte, der sich löste. Logan stolperte und stürzte. Er landete auf dem Gesicht, und Langram fiel leblos von seinen Schultern. Als Logan aufschaute und Dreck ausspuckte, stellte er fest, dass er oben am Hang angekommen war und sich ein kleines Plateau vor ihm ausbreitete. Die Landezone … Das ist sie! Logan rollte sich auf den Rücken und atmete die kühle Nachtluft ein. Mit rasendem Herzen hob er einen zittrigen Arm und warf einen Blick auf das phosphoreszierende Zifferblatt der koreanischen Armbanduhr. Noch neun Minuten … Neun Minuten, um Miko zu finden und sie herzuholen … Dann können wir alle nach Hause. Logan löste sich von Langram und kam auf die Knie hoch. Doch als er versuchte aufzustehen, trat plötzlich eine Gestalt aus der Dun kelheit und baute sich über ihm auf. Ein Stiefeltritt traf ihn mitten im Gesicht. Logan versuchte das explodierende Licht in seinem Kopf loszu werden, indem er blinzelte. Barsche Stimmen brüllten ihn an. Als Logan endlich wieder etwas sehen konnte, erblickte er überall um
sich herum Khaki-Uniformen. Nordkoreanische Soldaten. Die müssen auf uns gewartet haben. Der Einsatz war von Anfang an ein einziges Desaster gewesen … Noch mehr Befehle wurden auf Koreanisch gebrüllt. Vorsichtig kreisten die Soldaten Logan ein, wobei ihm aber niemand zu nahe kommen wollte. »Ihr kennt wohl meinen Ruf, was?«, murmelte er, während er sich deutlich der Tatsache bewusst war, dass sich das Bajonett immer noch in der Scheide an seinem Gürtel befand. »Aufstehen jetzt, aufstehen«, schrie der Offizier, der damit zweifellos seinen gesamten ausländischen Wortschatz aufgebraucht hatte. »Ja, ja, ihr habt mich.« Logan rappelte sich auf, wobei er die Hände über den Kopf hielt. Ein Soldat bewegte sich auf ihn zu, um Langram zu packen, aber Logan verjagte ihn mit einer Bewegung und seinem höhnischen Grinsen im Gesicht. »Keine Bewegung, keine Bewegung!«, kreischte der Offizier und wedelte mit seiner Pistole. Logan wog seine Chancen ab und fragte sich dabei, ob er jetzt zu schlagen oder auf eine bessere Gelegenheit warten sollte – die vielleicht gänzlich schwinden würde, wenn der Koreaner merkte, dass er immer noch bewaffnet war. Dann drangen aufgeregte Stimmen aus der Dunkelheit unterhalb der Lichtung zu ihnen her auf. Die Reihen teilten sich, und zwei Soldaten stießen eine ge schlagene und blutige Miko neben Langram zu Boden. Logan wollte zu ihr hin, wusste aber, dass es besser war, das nicht zu tun. Er bemerkte, wie Miko sich rührte und dass ihre Lider flatterten, bis sich ihr Blick endlich auf ihn richtete. Schwach ver suchte sie zu lächeln, doch stattdessen würgte sie Blut hervor. Logan sah, dass ihre Vorderzähne fehlten. »Ihr dreckigen Mistkerle.« Logans Knöchel traten weiß hervor, als
er die Fäuste ballte und den Befehlshaber mit einem Blick anstarrte, der ganz deutlich machte, dass er ihm am liebsten die Finger in die Augen gedrückt hätte. Der koreanische Offizier schien sich durch Logans Wut bestärkt zu fühlen. Er stand immer noch außer Reichweite, hob seine Pistole und zielte damit auf Mikos Kopf. »Nein.« Logans Tonfall war eine einzige Warnung. Ohne Emo tionen, sachlich. »Sie haben uns. Das genügt.« »Jetzt stirbt sie!«, schrie der Offizier. Der Schuss durchschnitt die Nacht wie eine thermonukleare Explosion. Mikos Körper zuckte zusammen, als die Hälfte ihres Kopfes weggerissen wurde. Der Knall des einzelnen Schusses und seine Wirkung ließen sogar die abgebrühten nordkoreanischen Sol daten zusammenzucken und den Blick abwenden. Logan griff an. Im Bruchteil einer Sekunde flog das Bajonett aus der Scheide in seine Hand. Logan schlug die Pistole des Offiziers beiseite. Ein wei terer Schuss löste sich aus der Waffe, der einen der umstehenden Soldaten in der Lende traf. Die Klinge wirbelte durch die Luft, und Logan versenkte sie im Kinn des Koreaners, schob sie durch den Schädel ins Gehirn. Der Offizier verdrehte die Augen und brach zusammen. Logan riss die Klinge heraus und schleuderte den Toten in die Arme der anderen Soldaten. Ein halbes Dutzend Gewehre knatterten gleichzeitig los, zerfetzten Zweige und ließen Rinde von den Bäumen absplittern. Sie verfehl ten Logan, der bereits hinter ihnen war und eine Kehle nach der anderen durchschnitt, bis die Bajonettklinge zerbrach, weil sie im di cken Schädel eines Koreaners stecken geblieben war. Unbewaffnet rannte Logan davon. Er hatte Glück, dass die Koreaner Suchscheinwerfer benutzt hatten. Keiner von ihnen konnte im Dunkeln etwas sehen. Im
Gegensatz zu Logan, der sie in ihren Khakiuniformen trotz der Dun kelheit deutlich erkennen konnte. Logan rannte auf den Wald zu, stieß dabei einen weiteren Solda ten um und zerschmetterte ihm mit dem Stiefel den Kehlkopf. Noch mehr Schüsse schwirrten um seinen Kopf. Dann erwischte eine Kugel Logan an der Schulter, und er wurde herumgewirbelt. Er stol perte eine kleine Anhöhe hinauf und stürzte in einen Busch. Blutend kroch Logan hinter einen Baum. Überall um ihn herum er klangen Stimmen. Es hörte sich an, als würden hundert Männer das Gebiet durchkämmen. Logan wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis sie den Jackpot knackten. Er dachte an den hilflosen Langram und an die tote Miko, und ein Panikanfall erstickte ihn fast. Die Kugelwunde und das Adrenalin in seinem Körper ließen seine Glieder und besonders seine Unterarme, die von stechendem Schmerz durchzuckt wurden, unkontrolliert zittern. Als er taumelnd wieder auf die Füße kam, hörte der brennende Schmerz nicht auf und wurde sogar noch schlimmer als die Schulterwunde. Logan tastete in der Dunkelheit über sein linkes Handgelenk. Un ter der Haut bewegte sich etwas. Einen Augenblick lang waren die Männer, die ihn jagten, vergessen, denn Logan sah zu, wie das Fleisch auf seinen Handrücken aufplatzte und Blut hervorschoss. Ein Stöhnen entrang sich seinen Lippen, als sechs Klauen aus glänzenden, elfen beinfarbenen Knochen aus ihren Scheiden glitten, die verborgen und bis jetzt unentdeckt unter Logans Haut gelegen hatten. Die ge bogenen, glatten Klauen maßen dreißig Zentimeter vom Ansatz bis zu ihren rasiermesserscharfen Spitzen. Ein Koreaner in der Nähe hatte Logans Schreie gehört. Er gab einen Schuss in die Bäume ab. Die Kugel traf den Stamm neben Lo gans Kopf, sodass Holz- und Kugelsplitter in seinen Schädel drangen. Logan geriet ins Wanken, als hätte man ihm einen Faust schlag versetzt. Lichter explodierten in seinem Kopf. Er taumelte
und glitt wieder zu Boden. Der Soldat sah Logans Beine hinter dem Baum hervorragen und alarmierte seinen Sergeanten. Vorsichtig näherten sich dreißig In fanteristen mit angelegten Waffen dem Gebiet …
Doch der Logan, der hinter dem Baum hervortrat, war nicht mehr der verwundete, verängstigte Mann, der noch Augenblicke zuvor dahinter gekauert hatte. Dieser Mann war fort, erstickt von einer Berserkerwut, die ihn völlig einnahm, und die seine Persönlichkeit verbrannte – und Logan in eine rachsüchtige Killermaschine verwandelte, eine rasende Gestalt mit superschnellen Reflexen und instinktiver Kampfkunst, die durch die lange Kriegserfahrung über Jahrhunderte genauso perfekt und tödlich wie seine Klauen ge worden war. Logan war nun der ultimative Krieger und über un terbewusste Verbindungen mit allen Kampfesarten vertraut, die er sich in tausend Leben und in endlosen Kriegen angeeignet hatte. Die blassweißen Klauen schimmerten im Mondlicht, als Logan sich hinkauerte und dann aus der Deckung sprang. Der Erste, der ihn sah, war der Mann, der auf ihn geschossen hatte. Der Nordko reaner sah die Klauen auch – kurz bevor sie sich in seine Augen bohrten. Und bevor er auch nur vor Schmerz wimmern konnte, fiel das Ge wehr aus der schlaffen Hand des Koreaners. Logan ließ die Waffe liegen. Die wilde Grausamkeit, die jetzt von ihm Besitz ergriffen hatte, würde nur befriedigt werden, wenn er mit seinen Klauen Kör per aufreißen und Knochen zersplittern konnte. Ein Dutzend Soldaten wirbelte herum, als Logan plötzlich vor ih nen auftauchte. Auf Logans beschleunigte Sinne wirkten ihre Bewe gungen jedoch wie in Zeitlupe. Er stürmte durch ihre Reihen, trenn te Gliedmaßen ab, schlitzte wahllos Kehlen auf. Er führte Finten aus und stach immer wieder zu, während die Soldaten, die wie gelähmt waren, sich nur halbherzig gegen die tödliche, lebende Waffe zu
verteidigen suchten, die sie abschlachtete. Gewehre knallten. Maschinengewehre knatterten. Logan konnte die Kugeln spüren, er konnte sie fast in der Dunkelheit glühen se hen, er hörte die bebenden Druckwellen und wich geschickt jeder Kugel aus. Stechend und schlagend, schlitzend und zerfetzend erle digte er zehn Männer, zwanzig Männer, während immer mehr Sol daten einstimmig brüllend aus dem Wald gestürzt kamen. Logan – ein mörderischer Moloch – watete durch ihr Blut. Verzweifelte Hände packten ihn und versuchten, ihn nach unten zu ziehen. Logan schüttelte sie ab, als wären es Zwerge. Ein hartnä ckiger, hundertzwanzig Kilo schwerer Riese in Khaki legte seine Hände um Logans Hals. Ein doppelter Aufwärtshaken hob den Mann – aufgespießt – in die Luft über Logans Kopf, und seine Ein geweide ergossen sich auf den blutüberströmten Boden. Ein Offizier versuchte, die Soldaten zu einem Erschießungskom mando zu formieren. Logan bemerkte den Plan und griff die Truppen an, bevor sie die Gelegenheit hatten, sich aufzustellen. Ein Soldat trat vor und rammte ein Gewehr mit aufgestecktem Ba jonett in Logans Bauch. Unter lautem Gebrüll enthauptete Logan den Angreifer, riss das Gewehr aus seinen Eingeweiden heraus und schleuderte es wie einen Speer fort. Das Bajonett traf einen Soldaten in der Brust und nagelte ihn an einen Baum. Ein Sprengmeister warf eine Granate in Logans Richtung. Der Sprengkörper landete im Schoß eines toten Soldaten. Logan schnappte sich die Granate, drückte sie einem anderen Mann in die Hände und warf den brüllenden Soldaten auf seine Kameraden. Durch die Explosion flogen blutige Klumpen und Knochensplitter durch die feindlichen Reihen. Noch mehr Soldaten eröffneten das Feuer vom Wald aus. Logan verzog die Lippen zu einem höhnischen Grinsen, entblößte die gefletschten Zähne und sprang wieder zwischen die Sträucher zu rück. Im Schatten des Waldes ging er um die Soldaten herum, pirschte sich von hinten an sie heran und schlachtete dann einen
nach dem anderen ab.
Der MH-60 Pave Hawk flog über die bräunliche Landschaft und schwebte dabei nur ein paar Dutzend Meter über der Erde – Armee piloten nannten dieses gefährlichste aller Manöver ›Geländeflug‹. Mit einer konstanten, computergesteuerten Höhe von fünfunddrei ßig Metern über der Erde raste der Hubschrauber über die hügelige nordkoreanische Landschaft durch die Nacht, was für einen ziem lich unruhigen Flug sorgte. Jeder Hügel, jeder hohe Baum musste beachtet werden. Mit offenen Luken und insgesamt acht Soldaten, von denen zwei an Sicherheitsleinen aus der Tür heraushingen, äh nelte der mörderische Flug der sadistischsten Achterbahnfahrt, die je erfunden worden war. Der Pave Hawk, die kanadische Abwandlung eines US-Fluggeräts, war im Grunde ein Blackhawk-Hubschrauber, der so mit Bord elektronik vollgestopft war, die einen Nachtflug über feindliches Territorium mit zweihundertfünfzig Kilometern pro Stunde möglich machte. Die geringe Höhe war notwendig, damit man nicht vom nordkoreanischen Radar erfasst wurde, der erst ab einer Höhe von fünfundsiebzig Metern Flugobjekte erfasste. Und dem Radar auszu weichen war eine Notwendigkeit, wenn das fragliche Fluggerät siebenunddreißig internationale Gesetze und sieben Verträge allein durch seine Anwesenheit im nordkoreanischen Luftraum verletzte – der Einsatz selbst war dabei noch gar nicht mitgezählt. Über die in ihre Helme eingebauten Lautsprecher vernahmen die Soldaten die Stimme des Piloten, der ihre Position durchgab. »Landezone in dreißig Sekunden …« »Achten Sie auf das Nachtsichtgerät«, warnte der Kopilot. »Diese Hügel sind voller Hochspannungsleitungen.« Einer der Soldaten, der aus der Tür hing, schaltete sein Nachtsicht gerät ein und suchte den Fluss und die parallel verlaufende Straße ab.
»Colonel Breen, Panzer auf der Straße.« Der Offizier erschien neben ihm. »Da drüben, Sir. Ein paar Laster sind auch da.« Breen starrte erst den Panzer an, dann sah er, dass sich die Laster und noch mehr Soldaten in den Wald am Fuße des Plateaus auf machten. »Colonel … Die Männer da unten sind entbehrlich. Keiner erwartet von uns zu landen, wir brauchen noch nicht einmal die Ladung an Bord zu nehmen, wenn die Nordkoreaner in Sicht sind«, warnte der Pilot. Breen runzelte die Stirn und er kniff die Augen zusammen, wäh rend er angestrengt nachdachte. Schließlich sprach der große Mann. »Sichern und laden. Wir gehen runter.« Der Pave Hawk flog eine Schleife über dem Plateau und unter nahm einen zweiten Anflug. »Ich sehe, dass unten geschossen wird. Und viele Tote …«, sagte der Mann an der Tür. Als der Hubschrauber mit der Nase herunter ging, baumelte der Späher fast vollständig aus der Tür. Mit der einen Hand hielt er sich an der Sicherheitsleine fest, die andere lag am Nachtsichtgerät, das am Helm angebracht war. Breen drückte seine Schulter. »Halten Sie die Augen offen, Corpo ral Cutler. Und halten Sie sich bereit, das Maschinengewehr zu übernehmen, wenn wir aufsetzen …« In einem anmutigen Bogen segelte der Pave dicht über die Lande zone hinweg. Cutler gab beim ersten Anflug einen automatischen Kugelhagel aus seinem Maschinengewehr ab. Überrascht stellte er fest, dass die Koreaner mit dem Wald verschmolzen, ohne das Feuer zu erwidern. »Runter, runter!«, brüllte Colonel Breen und gab dem Piloten durch Handzeichen zu verstehen, dass er landen sollte. Noch bevor der Pave Hawk richtig aufgesetzt hatte, war Corporal Cutler schon draußen auf dem Feld des Todes.
Das Plateau war mit Leichen gepflastert. Nur durch geschicktes Manövrieren gelang es dem Piloten, nicht auf ihnen zu landen. Durch Cutlers Nachtsichtgerät stellte sich ihm die ganze Szene als grünstichiger Alptraum eines Massenmords dar. Überall lagen Tote verstreut, und obwohl sie eigentlich Opfer eines Feuergefechts sein mussten, war kein einziger an Schussverletzungen gestorben. Es gab auch kaum einen Hinweis auf irgendwelche Sprengkörper – es roch nicht nach Kordit, weder war der Boden aufgewühlt, noch waren Bäume gesplittert, und es gab auch keine von Kugeln durchsiebten Körper. Und doch war praktisch jeder tote Soldat zerstückelt, ausge weidet, enthauptet und auf eine Art und Weise zugerichtet, die jen seits aller Vorstellungskraft lag. Als die anderen um Cutler herum ausschwärmten, um die Umge bung zu sichern, rief plötzlich Sergeant Mason: »Ich habe hier je manden auf dem Boden gefunden! Er ist kein Koreaner.« Breen rannte zum Sergeant und sah auf den bewusstlosen Mann hinunter, der einen zerfetzten Tarnanzug trug und dessen sand farbenes Haar sehr kurz geschnitten war. »Das ist einer von ihnen«, sagte Breen. Der Sanitäter traf einen Augenblick später ein, überprüfte den Puls und leuchtete mit einer Taschenlampe in seine Augen. Plötzlich wachte der Mann auf und schob das Licht beiseite. »Wer …« »Ganz ruhig, Soldat«, sagte Breen. »Wir holen Sie raus …« »Colonel!«, brüllte ein anderer Soldat. »Ich habe hier eine Frau ge funden, tot. Jemand hat ihr den Kopf weggepustet. Möglicherweise ist sie Koreanerin.« »Lassen Sie sie liegen«, sagte Sergeant Mason. Aber Langram hob den Kopf. »Sie ist Japanerin«, krächzte er heiser. »Bringen Sie sie auch raus.« Breen schaute Langram in die Augen. »Wo ist Ihr Partner? Wo ist …« »Colonel. Ich habe die Ladung gefunden«, rief Mason.
Cutler drehte sich neugierig zu ihm um und stieg über die Leichen hinweg, bis er an der Seite seines Sergeanten stand. Mason beugte sich über eine kniende Gestalt mit langen Haaren und einem zerfetzten Tarnanzug. Der Kopf des Mannes war zu Boden gesenkt. Cutler konnte nicht erkennen, ob er lebte oder tot war. »Ich brauche hier drüben einen Sanitäter«, rief Mason. »Wir haben nur einen Arzt«, erwiderte Cutler. »Und der ist noch mit dem anderen Typen beschäftigt.« Der Sergeant ließ seinen Blick über den Schauplatz des Massakers schweifen. »Was zum Teufel ist hier passiert?«, flüsterte er. Sein Gesicht war unter der Tarnfarbe ganz bleich geworden. Der kniende Mann war von oben bis unten mit Blut bedeckt – mit seinem eigenen und dem der anderen. Seine Arme waren teilweise aufgerissen, aus klaffenden Wunden über den Handgelenken si ckerte Blut. Mason streckte vorsichtig die Hand aus und berührte den Mann, der nicht reagierte. Dann überprüfte er seinen Puls. »Er ist okay. Ruhig … Ich verstehe das nicht. Der Mann ist in einem verheerenden Zustand, aber man bekommt fast den Ein druck, er würde schlafen, wenn man seinen Herzschlag betrachtet.« Wegen der Dunkelheit benutzte Mason seine Taschenlampe, um nach Verletzungen zu suchen. »Es hat ihn am Kopf erwischt. Schau en Sie, da stecken immer noch Holzsplitter in der Wunde. Halten Sie mal die Taschenlampe …« Mason drückte Cutler die Taschenlampe in die Hand, dann tastete er Beine und Arme des Mannes ab. »Seine Handgelenke fühlen sich komisch an, als ob sie unter Umständen gebrochen sind. Er hat wahrscheinlich einen Schock. Bleiben Sie bei ihm, Cutler, ich hole den Sanitäter.« Cutler stand ängstlich neben dem stillen Mann und schaute die Toten an, die haufenweise um ihn herum lagen. Der Gestank des vergossenen Blutes erstickte ihn fast, und Cutler drückte sich ein Ta
schentuch vor Nase und Mund. Die Bewegung schien den Mann am Boden aufgerüttelt zu haben. Er fuhr zusammen und hob dann langsam den Kopf. »Sind Sie okay?«, fragte Cutler leise. Der kniende Mann sagte nichts. Doch als er die Augen öffnete und Cutlers Blick begegnete, wich Cutler vor Entsetzen zurück. Sergeant Mason kam einen Augenblick später mit dem Sanitäter im Schlepptau zurück. »Cutler? Was ist denn mit Ihnen los?« »Dieser Typ … Der Ausdruck in seinen Augen. Wild. Als würde er mich am liebsten mit einem Blick töten. Als wäre es sein einziges Verlangen.« Inzwischen hatte der Sanitäter den Mann hochgezogen, der nun aus eigener Kraft auf den Hubschrauber zutaumelte. »Lassen Sie uns gehen, Cutler. Wir sind schon viel zu lange da. Die Koreaner können jetzt jeden Moment zurückkommen.« Aber Cutler starrte nur weiter den Mann an, dem der Sanitäter ge rade in den Hubschrauber half. »Himmel, Sarge. Wer zum Teufel ist das?« »Unsere Ladung, mein Sohn. Er ist in geheimer Mission – genau wie wir. Das ist alles, was Sie oder ich wissen müssen.« Die Antwort reichte Cutler. Um die Wahrheit zu sagen, wollte er die Identität des Mannes gar nicht wissen. Er würde lieber alles vergessen – diesen Einsatz und das Massaker. Der Ausdruck seelen loser, animalischer Wildheit, der sich in den Augen des namenlosen Mannes widergespiegelt hatte, jagte Cutler Angst ein. Er würde sich nicht mehr aus seinem Kopf vertreiben lassen.
EINUNDZWANZIG Intermezzo und Flucht
»Bitte, Ms. Hines, verraten Sie uns Ihr Geheimnis«, bat Dr. Cornelius grinsend. Der Professor runzelte ungeduldig die Stirn. »Genau. Nun reden Sie endlich.« Carol Hines blickte auf den Bildschirm, wo zwei Wachleute in Schutzanzügen gerade dabei waren, Logan mit ihren Elektrostäben an die Leine zu nehmen. Dann senkte sie den Blick und drehte ihren Stuhl herum, um die beiden anzuschauen. »Wie ich schon sagte – es geschah, als ich bei der NASA war und seit ein paar Monaten mit dem EMaM-Gerät gearbeitet hatte …« »Trainingssimulationen für Astronauten, wie ich mich erinnere«, sagte der Professor. Carol nickte. »So fing die Arbeit an. Aber nach ein paar Monaten EMaM-Training ersann Dr. Powell von der Psychologischen Abtei lung der NASA ein neues Experiment … eines, das die Reaktion der Astronauten unter Angst testen sollte.« »Was Sie nicht sagen.« Der Professor hörte noch aufmerksamer zu. »Bei dem Test sollte es sich um eine Routinesimulation eines Space Shuttle-Eintritts handeln. Allerdings sah der Testverlauf vor, dass beim Eintritt des Schiffes in die Atmosphäre mehrere Sachen schief gingen, die letztendlich zur Zerstörung des Shuttles führten. Es würde nichts geben, was der Astronaut tun könnte, um den Unfall zu verhindern. Das war der entscheidende Aspekt der Übung.« »Und die Versuchspersonen … Sie hielten die Erfahrung für real?«, fragte Cornelius.
»Natürlich. Vom Moment der Verbindung an bis zum Abschalten des EMaM glaubten die Versuchspersonen, dass alles real wäre, was passierte. Dr. Reddy, der Mission Control Chief, wurde wütend, als er her ausfand, dass der Test durchgeführt worden war. Er war verärgert, dass man ihn nicht informiert hatte. Außerdem befürchtete er nega tive psychologische Effekte, von denen einige bleibend sein könn ten. Aber Dr. Powell legte ihm gegenteilige Beweise vor. Laut Po well schienen die Astronauten durch ihre virtuelle Nahtoderfahrung gestärkt, fast ermutigt.« »Natürlich«, bestätigte Cornelius. »Sie sahen dem Tod ins Gesicht, aber überlebten – genau das gleiche Gefühl, das man nach einem Bungee-Sprung empfindet, nur um ein Vielfaches verstärkt.« »Drei Astronauten nahmen an der Simulation teil«, fuhr Hines fort. »Zwei Männer und eine Frau, alles erfahrene Space Shuttle-Pi loten. In den Wochen nach der Simulation berichtete jeder einzelne von lebhaften, wiederkehrenden Träumen. Einen Monat später starb einer der Männer bei einem Verkehrsunfall …« »Ich habe davon gelesen«, sagte Cornelius. »Frontalzusammenstoß in Florida. Irgend so ein Blödmann mit einer frisierten Karre raste in ihn hinein.« »In Wahrheit war es der Astronaut, der mit dem Tod flirtete. Er ließ es auf einem einsamen Stück Highway mit einem Jungen auf eine Konfrontation ankommen. Eine Art Mutprobe. Keiner von beiden riss das Steuer herum, also war es wohl ein Unentschieden.« Der Professor zog eine Augenbraue hoch. »Ms. Hines und Humor? Das ist gar nicht Ihre Art. Ist die Geschichte übertrieben dargestellt?« »Überhaupt nicht, Sir. Wie ich schon sagte – der Astronaut veränderte sich. Er suchte den Nervenkitzel. Die für Öffentlichkeits arbeit zuständige Abteilung der NASA vertuschte die Wahrheit.« »Und die anderen?«
»Der andere Mann wurde für die nächste Shuttle-Mission vorgese hen – in der Tat als Pilot. In den folgenden Wochen wurde er regel mäßig untersucht und überprüft, und man hielt ihn für tauglich.« »Und die Frau?« »Sechs Wochen nach der Simulation verschwand sie spurlos. Ver ließ ihren Ehemann und ein kleines Kind. Das FBI ging von einem Verbrechen aus, aber der NASA gelang es, dieses Gerücht zum Schweigen zu bringen, und gab Eheproblemen die Schuld an ihrem Verschwinden. Doch ungefähr drei Wochen später fand man sie.« »Und?« »Sie saß in Nevada im Gefängnis. Die Frau hatte sich einer Motor radbande angeschlossen. Sie hatte Drogen durch Mexiko geschmug gelt, spritzte sich Heroin und arbeitete nachts in einem Bordell in Reno … Am Ende nahm die einheimische Polizei sie fest, weil sie eine junge Frau bei einer Kneipenschlägerei erstochen hatte.« »Auf Messers Schneide leben … Der Flirt mit der Gefahr«, meinte Cornelius nachdenklich. »Und der andere Pilot?« »Das ist der seltsamste Teil der Geschichte«, erwiderte Carol. »Das war Major Wylling …« Cornelius setzte sich auf. »Der Pilot des Shuttles, das explodierte?« »Ja. Nachdem man die Black Box geborgen hatte, stellte man in einer Simulation die Ereignisse nach, die zu dem Unglück führten – und sie spiegelten exakt den vorgetäuschten Unfall in Dr. Powells Simulation wider. Ein Leck im Kühlsystem führte dazu, dass eine ätzende Flüssigkeit mit der überhitzten Treibstoffzelle in Kontakt kam. Dadurch entstand ein Riss, welcher schließlich zur tödlichen Explosion führte.« »Bestimmt ein Zufall«, spottete der Professor. »Ein Eine-Milliarde-zu-eins-Zufall laut den Computern der NASA«, erwiderte Hines. »Dr. Reddy beharrte darauf, dass die Si mulation Schuld wäre, was die anderen Wissenschaftler aber als ab surd bezeichneten. Zuerst behauptete Dr. Reddy, dass Astronaut
Wylling das System selbst irgendwie sabotiert hätte – eine sich selbst erfüllende Prophezeiung so zusagen. Aber Dr. Able, der Chef ingenieur, widersprach dieser Theorie. Er sagte, dass einige der Hauptkomponenten, die bei der Explosion eine Rolle gespielt hatten, gar nicht zugänglich und schon vor Monaten, ehe das Expe riment mit der Angst überhaupt stattgefunden hatte, versiegelt worden waren.« »Hört sich ganz nach einer akademischen Schlammschlacht an«, meinte Cornelius. »Zwischen Dr. Powells Psycho-Abteilung und Dr. Reddy und sei nen Helfern bei der Einsatzkontrolle brach ein bürokratischer Krieg aus.« »Wer gewann?« »Um seine Seite zu stärken, brachte Dr. Reddy andere Experten mit ein«, fuhr Carol Hines fort. »Physiker. Theoretiker, die im Be reich der Quantenmechanik arbeiteten. Traumpsychologen. Gehirn spezialisten. Sogar einen Parapsychologen. Das Problem wurde hin ter verschlossenen Türen diskutiert. Ich sagte als Zeugin aus, weil ich den EMaM während des Experiments bedient hatte.« Cornelius rieb sich seinen braunen Bart. »Zu welchem Schluss kamen sie?« »Sie sprachen über Werner Heisenbergs Unschärferelation, über Carl Jungs Kollektives Unbewusstes und über die Macht der Sugge stion. Ein Psychiater unterrichtete das Gremium über die Möglich keiten des Unterbewusstseins und die Eventualität einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung, ohne selbst einzugreifen. Am Ende kam die Mehrheit zu dem Schluss, dass der EMaM bei den Teilnehmern des Angst-Experiments wahrscheinlich eine prophetische Trance erzeugt hatte – eine Hypothese, wenn Sie so wollen. Eine Erfahrung, die auch das Orakel von Delphi oder die Propheten des Alten Tes taments machten.«
Vorsichtig näherte sich Cutler Waffe X mit ausgestrecktem Elektrostab. Irgendetwas stimmt mit diesem armen Schwein heute Abend nicht. Vielleicht lag es an der Art, wie Logan über dem toten Tiger stand, vielleicht daran, dass seine Augen nur halb geschlossen waren oder wie er den Kopf zur Seite gelegt hatte. Man hatte fast den Eindruck, als würde er lauschen. Die Tatsache, dass Logan seine blutigen Klauen noch nicht wieder eingezogen hatte, beunruhigte Cutler. »Behalten Sie ihn gut im Auge, Anderson«, warnte er, während sie sich näherten. Der Klang von Cutlers Stimme löste bei Logan etwas aus – vielleicht ein Schatten der Erinnerung. Plötzlich hob er den Kopf, öffnete die Augen und begegnete Cutlers Blick, der zurückzuckte, als er ihn erkannte. All die anderen Male war Logan für ihn nur Subject X gewesen, ein wandelnder Zombie mit glasigen Augen und dem schlurfenden Gang eines Schlafwandlers. Doch dieses Mal war Logan kein willen loses Opfer, kein dressiertes Tier, um das sich die Wachleute küm mern mussten. Seine Augen. Ich habe sie schon mal gesehen … Ich weiß, wer dieser Mann ist. Schneller als Cutler oder Anderson reagieren konnten, schneller, als üerhaupt menschliche Reflexe reagieren konnten, hob Logan sei ne blutigen Klauen und holte aus …
»Mein Gott, Madam! Was behaupten Sie denn da?«, rief der Professor ungläubig. »Das ist doch keine Wissenschaft, das gehört in den Bereich Zauberei und Hexerei. Oder vielleicht Wahrsagerei.« »Ich behaupte gar nichts, Professor«, sagte Carol Hines. »Ich habe diese Theorie nicht aufgestellt. Ich erzähle nur, was die Gremiums mitglieder – eine Gruppe hoch angesehener Wissenschaftler und
Forscher – daraus folgerten.« »Was ist danach passiert?«, fragte Cornelius. »Natürlich wurde die Wahrheit vor der Öffentlichkeit geheim ge halten, sogar obwohl Dr. Reddy darauf bestand, dass man die Ergebnisse der Simulation zumindest anderen Wissenschaftlern zu gänglich machen müsste. Reddy gab der Theorie einen Namen – der ›Nostradamus-Effekt‹, nach dem Propheten aus dem fünfzehnten Jahrhundert.« »Völlig absurd«, schnaubte der Professor. »Mit dieser Meinung stehen Sie nicht allein da, Professor. Dr. Po well und ein paar der anderen, darunter der NASA-Chefingenieur Dr. Able, nutzten Dr. Reddys Kompromisslosigkeit in der Sache gegen ihn. Am Ende wurde Dr. Reddy die ganze Schuld in die Schu he geschoben, der daraufhin gezwungen wurde, seinen Abschied zu nehmen.« »Das ist verständlich, Ms. Hines«, sagte der Professor. »Was für eine lächerliche Theorie. Dieser Mann war ein Narr.« »Und doch gibt es genug Hinweise, die die prophetische Wirkungsweise des EMaM-Gerätes unterstützen, zumindest für das Gros der Wissenschaftler«, erwiderte Hines. »Trotz der allgemeinen Skepsis gegenüber dem Nostradamus-Effekt setzte die NASA den Enzephalographischen Manifestations-Monitor nie wieder ein, und das Gerät wurde innerhalb eines Jahres komplett aus dem Training herausgenommen.« Cornelius kicherte. »Das ist eine tolle Lagerfeuergeschichte, Carol. Süß, wirklich süß. Als Nächstes werden Sie uns noch erzählen, dass Logan im Dunkel der Nacht zu uns kommt.« Der Doktor warf einen Blick auf den HDTV und blinzelte über rascht. »Wo ist Logan? Und wo sind die Wachleute?« Hines wirbelte mit ihrem Stuhl herum. »Sie werden wahrschein lich gerade von keiner Kamera erfasst, Sir.« »Das kann ich sehen, Ms. Hines. Würden Sie bitte die Kameraein
stellung korrigieren?« »Ich schalte um, Sir.« Die nächste Kamera war in der Nähe der Fahrstuhltüren in stalliert. Sie zeigte nichts. Und auch die Sicherheitskamera im Fahr stuhl filmte nur einen leeren Raum. Carol Hines drückte auf die Gegensprechanlage. »Sicherheit, wo ist Mr. Logan?« »Die Wachleute haben ihn, Ms. Hines.« »Wachen, bitte kommen«, rief sie. »Wachen? Hören Sie mich?« Keiner antwortete. »Schalten Sie auf Kamera Fünf zurück«, sagte Cornelius. Ms. Hines keuchte auf, als das Bild auf dem Schirm erschien. Im Vordergrund lagen die beiden Wachmänner tot, in Stücke gehackt auf der Erde. Ihre Körperteile vermischten sich mit denen des abge schlachteten Tigers. Im Hintergrund marschierte Logan gerade durch einen zerrissenen Maschendrahtzaun auf den Fahrstuhl und den unterirdischen Komplex zu. Plötzlich hallte der Alarm der Sirene in den stahlverkleideten Kor ridoren der Anlage wider. »Sicherheit!«, schrie der Professor. »Was ist los? Warum die Si rene?« »Ich bin mir nicht sicher«, antwortete Major Deavers von der Kommandozentrale aus. »Dies könnte ein Ernstfall sein«, meinte Cornelius. »Schalten Sie Logans Transponder ab, Ms. Hines. Das müsste Logan in eine Ge dankenschleife versetzen und ihn ruhigstellen.« Carol Hines gab etwas über die Tastatur ein, dann schlug sie wü tend mit der Faust auf ihr Terminal. »Keine Antwort«, rief sie. Ihre normalerweise so gleichmütige Stimme klang panisch. »Der Transponder ist von einer anderen … Quelle übernommen worden. Ich kann nichts machen.« »Sicherheit! Ich frage noch einmal: Was ist los?«, kreischte der
Professor. »Tut mir Leid, Sir«, erwiderte eine Stimme. »Hier ist der Wacht posten vor Ihrem Labor. Jemand durchbricht gerade die Sicherheits zone. Er befindet sich im Fahrstuhl und ist auf dem Weg nach unten. Das Stockwerk wurde abgeriegelt. Wir sind bewaffnet und …« Seine Worte endeten in einem schrecklichen Schrei. Über die Laut sprecher hörten Cornelius, Carol Hines und der Professor Schüsse, laute Stimmen und Schreie … Chaos. Der Professor begann zu zittern. »Keine Sorge«, flüsterte er unsi cher. »Hinter diesen Mauern sind wir in Sicherheit. Logan weiß nicht, dass wir hier sind. Er …« Ein quietschendes Knirschen unterbrach ihn. Drei Klauen – scharf wie Diamanten – begannen sich durch reinen Stahl zu arbeiten. Die Tür vom Labor bebte, dann fiel sie aus den Angeln. Logan stand mit gefletschten Zähnen auf der Türschwelle. Verzweifelt versuchte Carol Hines mithilfe des EMaM, Waffe X wieder unter ihren Befehl zu bringen. Aber während er sich ins La bor stürzte, wurde ihr die Kontrolle über die Versuchsperson entzo gen. Allerdings reichten ihre Bemühungen, um eine Verbindung mit Logans Gehirn herzustellen und seine Gedanken sichtbar zu ma chen. Auf dem HDTV-Bildschirm sah Carol ein Abbild ihrer selbst in Logans Kopf. Klein und bösartig – fast schon winzig im Vergleich zu seiner riesenhaften Gestalt. Voller Entsetzen schaute sie zu, wie ihre virtuelle Doppelgängerin mit einem Rückhandschlag von Logans Klauen enthauptet wurde – nur den Bruchteil einer Sekunde, ehe sie der tatsächliche Todesschlag ereilte. Ihr Kopf sprang in einer Fon täne von Blut von ihren Schultern. Während ihr Gehirn am Sauerstoffmangel starb, sinnierte Carol Hines noch einmal über die letzte ironische Wendung des Schicksals nach. Ich habe Recht gehabt … Ich hätte mal lieber den Kopf einziehen sollen … denn sonst wird er einem abgeschlagen …
Cornelius kam als Nächster an die Reihe. Als Logan sich auf ihn stürzte, sah der Doktor seinen virtuellen Zwilling auf dem Monitor. Dieser trug das Gewand eines mittelalterlichen Peinigers und eine Chirurgenmaske, die sein Gesicht verhüllte, während die Todesengel – mit den Gesichtern von MacKenzie, Hendry, Chang und vielen anderen – im Hintergrund zu erkennen waren. »Das ist nicht richtig«, stöhnte Cornelius im Augenblick seiner langen, grausamen Ermordung. »Ich bin Arzt … ein Heiler … Ich helfe Menschen …« Schließlich wandte Logan sich dem Professor zu. Der Wissenschaftler wich zurück. Er bettelte, flehte, winselte und heulte am Schluss auf, als Logan ihm erst die eine, dann die andere Hand abschlug. Erst kniete er, dann kroch er auf allen Vieren, wäh rend er Logan anflehte, ihm das Leben zu lassen. Kurz bevor der Tod sein barmherziges Tuch über ihn breitete, schaute der Professor noch einmal zum Monitor auf. Es war kein Genie, das er auf dem Bildschirm entdeckte, kein Ar chitekt des Fleisches. Und gewiss kein Gott. Noch nicht einmal ein Mann … Nur ein verängstigter, schluchzender kleiner Junge, der nach seiner Mutter weinte und um Gnade winselte – völlig machtlos im Angesicht eines grausamen, willkürlichen, achtlosen Schicksals.
EPILOG Das Gemetzel dauerte die ganze Nacht. Bis zum Morgen, als sich die aufgehende Sonne über die Gipfel der Berge schob, hatte Logan alle umgebracht. Carol Hines. Dr. Abraham B. Cornelius. Den Professor. Dr. Hendry und sein Ärzteteam. Dr. MacKenzie und alle seine Ex perten für Psychologie. Die Wärter. Die Wachen. Sogar die Techniker, Wartungsarbeiter und das Küchenpersonal. Irgendwann während des Massakers hatte ein Kommunikations fachmann namens Rice versucht, die Experiment X-Dateien herun terzuladen. Dabei hatte er die Aufzeichnung eingeschaltet, die wäh rend der Durchführung der Experimente entstanden war. Diese Aufzeichnung lief die ganze Nacht in einer ungeordneten Zufalls wiedergabeschleife über die Lautsprecheranlage. Als das Gemetzel zu Ende war und die streng geheime medi zinische Anlage nur noch wie ein Schlachthaus aussah, lief die Auf zeichnung einer langen Unterhaltung weiter über die hausinterne Audioanlage. Während Logan sich auf den Ausgang zubewegte, endlose Treppenfluchten emporstieg, die aus dieser Hölle hinaus und in den hellen Morgen auf die schneebedeckte Oberfläche führten, lief die Aufzeichnung weiter. »… Guten Morgen, Ms. Hines …« Dr. Cornelius. Die Stimme ble chern. »… Ich habe mich etwas gefragt, Sir«, Carol Hines. »Dürfte ich mit Ihnen darüber reden? …« »… Gewiss …« »… Ich denke immer wieder über Mr. Logan nach …« »… Tun wir das nicht alle? …«
»… und darüber, was wir tun … ehe ich hierher kam … War Mr. Logan schon da? …« »… Ich verstehe nicht, was Sie meinen, Ms. Hines …« »… Hat sich Mr. Logan freiwillig für das hier gemeldet? …« »… Äh … Nein …« »… Dann wurde er also entführt? …« »… Ich bin nicht gerade stolz darauf, aber ja, ich denke mal, das wurde er …« »… Wir tun hier etwas Böses, nicht wahr, Dr. Cornelius? … Mr. Logan wurde zu allem gezwungen …« »… Ich weiß nicht, ob man von Zwang reden kann, Ms. Hines … Hören Sie, wenn man dem Professor glauben darf, dann ist das alles vorherbestimmt. Als wäre es Logans Schicksal …« »… Aber woher will der Professor Logans Schicksal kennen, Do ktor? …« »… Um ehrlich zu sein, Ms. Hines. Das weiß ich nicht …« »… Ich sehe nur, dass er leidet … Der Professor scheint es zu genießen, Logan Schmerzen zuzufügen … Es ist wie Folter, Sir, nicht Wissenschaft …« »… Tja, wissen Sie, einige Menschen … erwartet das schlimmste Schicksal … Ich muss es wissen …« »… Oh Gott …« »He, nicht weinen, Ms. Hines … Es tut mir Leid. Diese Bemerkung über das Schicksal … Es war gemein von mir, das zu sagen …« »… Es … Es tut mir Leid, dass ich geweint habe … ich fühle mich so dumm …« »… Sehen Sie mal … Dieser arme Trottel hat ohnehin kein beson deres Leben … Er ist ein Mutant … Logan ist noch nicht einmal menschlich …« »… Aber er ist menschlich, Dr. Cornelius … Sie wollen mir doch nicht erzählen, dass Sie es nicht sehen … In seinen Augen … können
Sie es sehen … Er ist ein Mensch … ein Mensch, der in ein Monster verwandelt worden ist …« »… Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Ms. Hines … Ich halte mich an das, was der Professor sagt … Alles andere wäre mir vielleicht zu hoch …« »… Ich glaube, der Professor ist ein Lügner, Sir …« »… Vielleicht …« »… Ich wünschte, ich wäre nie in dieses Experiment hineingezo gen worden, Dr. Cornelius …« »… Ja … Ich auch … und jetzt kommen Sie schon, Ms. Hines, Kopf hoch … Es ist bald vorüber …« Als Logan ins Tageslicht trat, schlug er sein letztes Opfer nieder, einen Kommunikationsfachmann. Sterbend ließ der Techniker Computerdisketten in den Schnee fallen. Logan hinterließ einen blu tigen Fußabdruck, dann ging er weiter. Für Logan war diese letzte Tötung nichts weiter als ein nachträgli cher Einfall. Sein Blutdurst war versiegt. Müde schlurfte er durch die morgendliche Dämmerung. Innerhalb von Minuten begann es zu schneien, und ein heftiger Schneesturm tobte los. Dann erspähte Logan im Schneegestöber kurz eine Gestalt, die auf einer felsigen Anhöhe stand und von der aufgehenden Sonne eingerahmt wurde. Mit den gespreizten Beinen wirkte die Gestalt wie ein starker und stolzer Samurai, der mit dem gezogenen Schwert wie ein Geist aus sah – oder eine Erinnerung. Diese Vision – das bin ich, erkannte er. Nicht jener armselige, gefallene Mann, der er gewesen war, ehe man ihn entführt und hierher gebracht hatte. Nicht jene hirnlose Waffe, die er hatte sein sollen. Sondern jener Mann, der er vor langer Zeit gewesen war, in einem anderen Jahrhundert seines nie endenden Lebens. Ich kämpfte für die Ehre und fand Frieden beim Klang eines Windspiels und in rieselndem Schnee …
Dieser Schnee bedeckte ihn auch jetzt und klebte an seiner blutbe deckten Gestalt, legte sich auf sein Haar und hüllte sein blutiges Fleisch in jungfräuliches Weiß. Wiedergeburt … Logan durchforstete seine Erinnerung nach weiteren Spuren seiner Vergangenheit, doch so viel war verloren gegangen. Er klammerte sich an diese einzige, unverdorbene Vision aus einer Zeit, als er noch Ehre gehabt hatte. Bushido. Ein Geräusch drang in sein Bewusstsein. Das Knattern eines Ro tors. Rhythmisch, mechanisch. Ein Hubschrauber näherte sich der Anlage. Schnell und instinktiv entfernte sich Logan davon. Er lief in den Wald und tiefer in das winterliche Unwetter. Er war vor langer Zeit vom Weg abgekommen. Er hatte so lange gekämpft. Am Ende hatte er alles falsch gemacht und nur noch gegen sich selbst gekämpft … Nein. Ich werde kein Werkzeug sein … Niemandes Marionette … Und nie wieder ein hirnlose Waffe … Ich bin ein Krieger. Ein geborener Krieger. Das donnernde Knattern über ihm wurde lauter, jagte brüllend und unsichtbar über ihn hinweg und verklang, bis auch das letzte Geräusch vom Wind weggetragen wurde. Sie haben mich in diese höllische Folterkammer geschleppt. Für die Welt war ich gestorben … Sie haben mich hineingetragen, aber ich gehe hinaus … aufrecht … auf meinen zwei Beinen. Das Unwetter verstärkte sich, der eisige Wind peitschte seinen Körper, aber Logan war taub für die Wut der Elemente. Die un befleckte Brutalität der Wildnis rief nach ihm. In seinem Innern ant wortete er darauf … Ich bin Logan … Ich bin ein Mensch … der in die Wildnis geht. ENDE