C.H.GUENTER
VON ALLEN
GÖTTERN
VERLASSEN
VERLAGSUNION ERICH PABEL-ARTHUR MOEWIG KG, 7550 RASTATT
1.
Das Gebäude ...
13 downloads
263 Views
1MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
C.H.GUENTER
VON ALLEN
GÖTTERN
VERLASSEN
VERLAGSUNION ERICH PABEL-ARTHUR MOEWIG KG, 7550 RASTATT
1.
Das Gebäude im Ostberliner Stadtteil Karlshorst war ein kasernenartiger, siebenstöckiger Block, grau und kein architektonisches Meisterwerk. Aber eine Besonderheit unterschied es schon immer von allen anderen Bürosilos in der DDR. — Seit 45 Jahren wurde darin im Sommer wie im Winter, Tag und Nacht, ohne eine Sekunde Unterbrechung gearbeitet. Eine Gewitterfront verfinsterte am Spätnachmit tag dieses Herbsttages die Sonne. Nur hin und wieder drang noch ein Lichtstrahl durch ein Wol kenloch aus dem Westen herüber. Mit der Nacht kam auch das Unwetter. Ohne Paß und Passagierschein überquerte es die Grenze und tobte sich aus wie Trommelfeuer vor Beginn eines Großangriffes. In dem kasernenartigen, grauen Steinblock, der ehemaligen Zentrale des Ministeriums für Staatssi cherheit (MfS), merkte man wenig davon. Die Fenster waren dreifach verglast und das ganze Gebäude vollklimatisiert. In einem über Eck gelegenen Büro oben in der Chefetage war ein Mann ans Fenster getreten. Er sah die Blitze, die Regen böen, sah das Unwetter sich drehen und weiterzie hen. Doch er nahm es kaum wahr. Schwere Sorgen drückten ihn. Eine geheime Mission führte ihn von Moskau nach Berlin, aber er konnte sie nicht erfüllen. Der Kontakt, den er dazu brauchte, kam nicht zustande.
Der hochgewachsene, schwere Mann machte sel ten eine überflüssige Bewegung. Doch wenn er sich durch das drahtige schwarze Haar strich, wenn er seine Magenfalten massierte, wenn er ging oder wenn er sich umdrehte, war alles von militärischer exakter Schnelligkeit. Der bärenhafte Mann trat vom Fenster zum Schreibtisch, hob das Telefon ab und drückte einen der vierundzwanzig mit den Buchstaben des Alpha bets beschrifteten Knöpfe. Seine Stimme klang schnarrend und hart dazu, denn er sprach das Deutsch bedeutend schlechter als seine Muttersprache — Russisch. „Noch immer nichts?" fragte er ungeduldig. „Wir versuchen es weiter, General." „Was, zum Teufel, habt ihr bis jetzt versucht?" „In seinem Büro heißt es, er sei unterwegs." „Und bei seiner Privatnummer?" „Eine Frau, die kaum Deutsch versteht, meint ebenfalls, er sei verreist." „Seine Putzfrau", vermutete der General. „Und über Autotelefon?" „Da geht keiner dran. Vermutlich wurde es abgeschaltet." „Dann ist er mit dem Dienstwagen oder mit dem Flugzeug unterwegs. Ich muß ihn kriegen. Noch heute. Koste es, was es wolle. Vielleicht gelingt es über einen unserer Agenten in München." „Dazu ist eine Sondergenehmigung erforderlich, Genosse General." „Betrachten Sie diese als erteilt. Ich spreche mit dem Afü-West." Der General steckte sich eine russische Pappfil ter-Machorka an. Nach einem sachlich kurzen Gespräch mit dem Agentenführer-West wartete er weiter. 8
Das Gewitter zog Richtung Spreewald ab. Der Genera] ließ Tee kommen, nahm aber Wodka dazu, einen doppelten und noch einen. 20.30 Uhr. Und noch immer keine Spur von dem BND-Agenten Robert Urban, jenem Mann, den er dringender sprechen mußte als jeden anderen auf dieser Erde.
So verbindlich, wie es sich einem hohen KGBFunktionär gegenüber geziemte, meldete der II. Referent des Adjutanten von Afü-West dem Russen: „Es war schwierig, General." „Schwierig oder leicht, das interessiert mich wenig. Wo steckt er?" „Vermutlich ist er unterwegs nach Paris, Genosse General." „Ich bin nicht Ihr Genosse", zischte General Krischnin. „Und was heißt vermutlich? Ist er unterwegs nach Paris oder nicht? Wenn ja, womit und warum?" „Wegen der permanenten Nebellage mit Sicher heit weder mit dem Flugzeug noch mit dem Auto." „Sondern mit der Westsibirischen Eisenbahn", höhnte der General. „Das wird noch überprüft." „Dann überprüfen Sie gefälligst noch, welchen Zug er nahm, wie er dort zu erreichen ist, warum er nach Paris fährt, und das Ganze bis gestern, bitte." Krischnin ließ den Hörer auf die Gabel fallen, was sich anhörte, als haue er ihn drauf. Wenn man im Kessel Dampf machte, arbeitete die Maschine schneller. — Ein bewährtes LokomotivführerPrinzip.
Es dauerte nicht lange, dann strömten die Fakten geradezu. Abteilung West meldete: „Der Gesuchte nimmt den D-zwo-sechs-zwo, München ab zwanzigvierundvierzig, Paris-Est an neunsiebenunddreißig." „Hat der Zug Schlafwagen?" „Fast nur." „Einzelabteile?" „Man kann aus jedem Double ein Single machen und umgekehrt, General." „Wie kann ich ihn erreichen?" wollte der KGBGeneral endlich wissen. „Früher", erklärte der junge Mitarbeiter von AfüWest, „hatten Intercity- und Eurocity-Züge Sekre tärinnenabteile. Damals konnte man die Züge noch anrufen. Diese Einrichtung wurde abgeschafft. Jetzt geht Telefonieren nur noch in eine Richtung. Vom Zug nach draußen." Das mißfiel dem General, weshalb er ziemlich wütend wurde. „Woher wollen Sie das wissen?" „Es gehört zu unserem Aufgabenbereich." „Ich muß diesen Mann sprechen", beharrte der KGB-General, „und zwar um jeden Preis. Es geht um mehr als um Leben und Tod. Kann man ein Telegramm schicken?" „Wir erkundigen uns. Aber wie wäre es, General, wenn Sie an eine der Haltestationen einen Beauf tragten schickten?" „Wo hält der Nachtexpreß?" „Kommt darauf an, ob er über Mannheim oder Straßburg fährt." „Nein", verwarf der General den Vorschlag. „Was es zu sagen gibt, wird er nicht einmal mir abneh men, fürchte ich." „Man konnte ihn in Paris ausrufen lassen." 10
„Zu spät. Ich würde zwölf Stunden verlieren. Jede Minute ist so kostbar wie ein Diamant. Versuchen Sie irgend etwas, zum Teufel." „Vielleicht gibt es noch einen Weg, General", deutete der junge Stasi-Mann an. Dies in einem Ton, als würde er sich darüber ärgern, daß immer alles im letzten Augenblick ausgeführt wurde.
Fachleute der Eisenbahnverwaltung der DDR fan den einen Weg und waren bereit, dem Stasi Amtshilfe zu leisten. Ein Beamter rief die Bahnbetriebsleitung in Stuttgart an. Dort trug er dem Diensthabenden sein Anliegen vor. Es war eine Mischung aus Fakten, Vermutungen und Kombinationen: Einem Fahrgast im D 262 München—Paris, der in einem SingleAbteil im Schlafwagen fahre, müsse angeblich eine staatswichtige Nachricht übermittelt werden. Der Bundesbahninspektor in Stuttgart zeigte sich durchaus bereit, dem DDR-Kollegen einen Gefallen zu erweisen. Man war bemüht, zur DDR-Bahn ein gutes Verhältnis zu wahren. „Ich will über Zugbahnfunk etwas versuchen", sagte der Westdeutsche, „wenn es wirklich wichtig ist." ' „Über Funk also zum Lokführer", vermutete der Mann in Ostberlin. „Wir treten mit ihm in Sprechfunkkontakt. Der Lokführer unterrichtet dann über Lautsprecher den Fahrgast." „Geht es nicht dezenter?" „Der Schlafwagenschaffner könnte ihn wecken. Und was, bitte, soll durchgegeben werden?" 11
Der Beamte in der DDR hatte präzise Anweisun gen, gab sich aber zögernd. „Die Sache ist so brisant, daß sie keine offene Funkübermittlung verträgt." „Dann muß ich leider bedauern", sagte der Beamte in Stuttgart. „Uns würde genügen, wenn Sie ihm eine Telefon nummer nennen, die er möglichst sofort anrufen soll. Stichwort. Die ersten drei Worte aus Hamlets Monolog, dritter Akt." „Na schön." Der Stuttgarter bekam die Ostberliner Nummer. Der DDR-Kollege fragte noch: „Wie lange kann das dauern?" „Wenn er nicht betrunken ist oder eine Schlaf tablette genommen hat, dann nicht länger als eine halbe Stunde." Der Inspektor bei der Bundesbahndirektion Stuttgart leitete den Auftrag in die Wege. Dabei überlegte er: Die ersten drei Worte im Monolog von Shake speares Hamlet, wie war das doch? Dritter Akt. Der Vorhang ging auf, ein in Schwarz gekleidetes Männle stand da. Meist hob es mit künstlich erhöhter Stimme an: „Sein oder Nichtsein - das ist hier die Frage." 2. Der Kanzleramtsminister durfte nicht gestört wer den. Er sprach mit Washington. Als er fertig war, eilte er in das Büro des Regierungschefs. „Auf Botschafterebene", sagte er, „per Telex und Telefon, geht jetzt nichts mehr." 12
„Was sind die strittigen Punkte?" fragte der Kanzler mit seiner sonoren Bauchstimme. „Einmal die Situation bei den nuklearen Mittel streckenraketen, dann die neue Vorfeldstrategie, wonach man im Falle eines Angriffs aus dem Osten die Rote Armee erst am Rhein empfangen und in der Bretagne schlagen will, und um die Erhöhung der Besatzungskosten, darum geht es." Der Kanzler, schon gezeichnet von der Last der Tagesgeschäfte, hob müde den Blick. „Sie fordern das Doppelte, um die Hälfte zu kriegen. Das bekommen wir in den Griff durch tränenreiches Jammern. Aber wir müssen rüber." „Der Präsident erwartet uns in Washington."
„Wann?"
„Spätestens übermorgen."
„Streichen Sie alle Termine", ordnete der Kanz
ler an. „Die Sache ist vorrangig. Wer fährt mit?" „Schlage vor, mindestens Innen-, Verteidigungs-, Finanzminister und die Staatssekretäre. Ferner die Fachreferenten sowie ein paar Experten und Jour nalisten, die für gute PR garantieren." „Wie viele Leute insgesamt?" „Ein Troß von über hundert Leuten." „Die passen knapp in die Boeing", befürchtete der Kanzler. „Wenn wir ein wenig zusammenrücken geht's schon." Der Kanzler erteilte seine Genehmigung. „Wann also?" fragte er. „Ich stimme das mit dem Weißen Haus und dem Pentagon ab. Grob geschätzt, wird es übermorgen vormittag sein." hm. . . zweiunddreißig „Das wäre in . . . Stunden." „So etwa." 13
„Dann in Gottes Namen", sagte der Kanzler, „bereiten Sie alles vor. Ich fahre nach Hause und versuche, meiner Frau erklären, warum ich an meinem Geburtstag im Wilden Westen sein werde." „Wird schon nicht so schlimm werden", wünschte der Amtsminister, ein enger Vertrauter des Kanz lers. „Sie praktizieren nicht in allen Staaten der USA die Todesstrafe", versuchte der Kanzler zu witzeln. „Kopf ab, no Sir. Aber wie sagte schon Kaiser Maximilian der Erste zu Luthers Martin: ,Mönch lein, du gehst einen schweren Gang.'" Es war Kaiser Karl V. gewesen, aber das spielte jetzt auch keine Rolle mehr.
Wenige Stunden vor dem Abflug versammelten sich die Mitglieder der hochrangig besetzten Delegation im Amtssitz des Bundeskanzlers. Der Chef hielt eine kurze Ansprache, um seine Begleiter noch einmal zu motivieren. „Meine Herren", begann er jovial im Ton, hart in der Sache. „Spannungen zwischen den Verbünde ten gab es immer, wird es immer geben. Sie wurden stets bereinigt. Kleinere Differenzen auf Referen tenebene, mittlere Differenzen per Telefon durch die Fachminister, größere Differenzen schiebt man vor sich her, um bei den halbjährlichen NATOTagungen durch persönliche Kontakte Kompromiß lösungen zu finden. Dann gibt es noch die Mei nungsverschiedenheiten der dritten Art. Wenn es um Abrüstung, Umrüstung, Raketenabbau, langfri stige Strategien geht. Die verhandelt man auf Ebene der Regierungschefs. Dann stecken die Pre miers, die Präsidenten und die Kanzler ihre Köpfe 14
zusammen. Meist in Amerika. - Dieser Fall ist nun eingetreten. Nach Washington begeben wir uns jetzt." Der Amtsminister, höchster Reiseleiter der Repu blik, ergänzte: „Bitte herhören! Morgen, null-zwei Uhr, Abflug in Köln-Wahn. Bei jedem Wetter. Ich bitte um pünktliches Erscheinen. Danke, meine Herren."
Trotz Nebels startete die Bundeswehr-Boeing pünktlich. Bis auf den Chef des Presseamtes, der irgendwo steckengeblieben war, befand die Delega tion sich vollzählig an Bord. Kaum hatte die vierstrahlige Düsenmaschine abgehoben, begrüßte der Kapitän, ein Major der Bundeswehr, den Kanzler und die übrigen Fluggä ste. Dann erfolgte die übliche Durchsage. „Wir nehmen Direktkurs nach Washington. Unsere Flughöhe beträgt zehntausendsechshundert Meter, unsere Reisegeschwindigkeit achthundert fünfundachtzig Kilometer in der Stunde. Die Flug zeit beträgt voraussichtlich acht Stunden und vierzig Minuten. Ankunft Dulles Airport Washing ton null-sechs Uhr EAST, also amerikanischer Ostküstenzeit." Der Kapitän erwähnte auch das Wetter, das man auf der Nordatlantikroute antreffen würde. In dem separaten Konferenzraum, zu dem der hintere Teil der 707-320-C-Kabine umgebaut war, sagte der Kanzler zu seinen engsten Mitarbeitern: „Meine Herren, die Marschroute ist bekannt. Wir hören uns erst einmal an, was der Präsident fordert. Er wird sein Maximum nennen, und wir bieten unser Minimum. Er wird seine Forderungen 15
zurückschrauben, und wir bewegen uns vorsichtig auf unser Limit zu. Eine gute Verhandlungsrunde wird so enden, daß wir nicht gezwungen sind, bis an die Grenze unserer Möglichkeiten zu gehen, son dern ein Stück darunter bleiben." „Wie beim Handel mit gebrauchten Automobi len", bemerkte der Außenminister. „Nur handelt es sich leider um nagelneue Kampf panzer, Jagdflugzeuge und Mittelstreckenraketen", äußerte der stets dröge Verteidigungsminister. „Schön, einigen wir uns auf Pferdehändler." Der Kanzler gähnte ungeniert. „Meine Herren, in Wa shington bleiben uns nur wenige Stunden, um uns fit zu machen. Ich schlage vor, wir horchen für eine Runde die Matratzen ab. Müde bin ich, geh' zur Ruh, schließe meine Augen zu. Wer kann, der kann jetzt." Für den Kanzler war es leichter als für alle anderen. Er hatte eine, wenn auch winzige Schlaf kabine zur Verfügung. Die anderen mußten versu chen, mit den Liegesesseln klarzukommen. Im vorderen Teil der Kabine, wo die Referenten saßen, die Journalisten und die militärischen Experten, ging es noch ziemlich laut zu, als hinten schon das Licht gelöscht wurde. Bevor er sich zur Ruhe begab, telefonierte der Kanzler mit dem Cockpit. „Alles klar, Captain?" „Normaler Flug." „Wo sind wir jetzt?" „Westlich von sechs Grad West", meldete der Major. „Wir nähern uns der Grenze von Portugal. In zwanzig Minuten geht es auf den Atlantik hinaus." „Der Steward soll mich eine Stunde vor der Landung wecken." „Eine Stunde vor der Landung in Washington", bestätigte der Kapitän. 16
Bald wurde es auch im vorderen Teil der Kabine still. Wer nicht schlafen konnte, arbeitete Akten auf. Andere versuchten, sich mit Whisky oder Cognac müde zu trinken. Es sah aus, als würde es ein ganz normaler Flug, wie Hunderte anderer Flüge, welche die Flugbereit schaft der Bundesluftwaffe jährlich im Auftrag der Regierung durchführte. 3.
Auf der nahezu geraden Strecke durch das Rheintal von Karlsruhe bis Offenburg fuhr der Nachtexpreß die ihm erlaubte Höchstgeschwindigkeit. Verspä tungen waren auf diesen knapp siebzig Kilometern am besten einzuholen. In seinem Schlafwagen-Single-Abteil, das für einen Mann schon zu eng war und das, entspre chend der Ausstattungsstufe Bundesbahn-de-Luxe, weder über Dusche noch WC, sondern nur über eine mickrige Waschschüssel und eine Art Uriniergerät verfügte, lag der BND-Agent Robert Urban auf dem unteren Bett. Zum Glück befand sich seine Kabine zwischen den Achsen, so daß er lesen konnte, ohne ständig die Zeilen zu verlieren. Er hatte sich eine Flasche Schampus bringen lassen, hatte sie geleert und dachte nun daran, die Pflichtlektüre zu beenden. Der Paß lag beim Schlaf wagenschaffner, den Grenzübertritt würde er also gar nicht mitbekommen. Er löschte das Licht und schlummerte gerade ein, als draußen geklopft wurde. Erst dachte er, es sei nebenan. Aber dann hörte er den Schaffner: 17
„Herr Urban!"
Was, zum Teufel, will der? dachte Urban. „Eine dringende Nachricht für Sie." Urban, mit der Kommunikationstechnik von Intercity und anderen Expreßzügen vertraut, wußte, daß ein Mensch, der in so einem Zug saß, nicht erreicht werden konnte, ehe er ihn wieder verließ. - Was quasselte der Mann also? - Es sei denn, seine Kollegen, die er morgen in Paris traf, hatten einen Weg gefunden. Selbst dann konnte nicht mehr passiert sein, als daß die Konferenz von Geheimdienstexperten über neue Formen des Ter rorismus abgeblasen, vertagt oder geplatzt war. Aber warum? Vor vier Stunden in München hatte es noch geheißen, alles sei okay. „Sie irren sich auch nicht?" fragte Urban vor sichtshalber. „Sie werden gebeten, jetzt sofort jemanden anzu rufen." „Wen?" Urban öffnete die Tür einen Spalt, nahm den Zettel entgegen und machte wieder Licht. Die mehr als zehnstellige Nummer stammte nicht aus einem Telefonbuch der Bundesrepublik. Die Vorwahl gehörte zu Ostberlin. Aber was bedeutete der Zusatz: Hamlet/Monolog/3. Akt/erste Zeile? Er stand auf, faßte schon zum dunkelroten Morgenmantel, als ihm einfiel, daß die Telefonka bine meist am Ende des Großraumwagens erster Klasse war. Er mußte also an einer Menge Leute vorbei. In Schlafrock und Latschen wirkte man nicht gerade besonders angezogen. Also kleidete er sich rasch an. Nur auf die Krawatte verzichtete er.
18
Er mußte warten. Ein junger Mann telefonierte mit seiner Liebsten. Aber er hatte zuwenig Kleingeld. So wurde die Kabine schon nach wenigen Minuten frei. Urban fing an zu wählen. Der Weg war kompli ziert. Von diesem Apparat aus ging es erst über ÖbL zur nächsten Empfangsstation, von dort per Kabel zu einem Sender der Richtfunkstrecke Berlin, dann erneut über Kabel, Haupt-, Zwischen- und Unter ämter ans Ziel. Es piepste. Sofort wurde abgehoben. „Zum Teufel, endlich!" Urban erkannte die Stimme. Der Mann war, sofern man beim sowjetischen Geheimdienst KGB überhaupt Freunde haben konnte, noch sein bester. „Wenn Atheisten den Teufel anrufen", bemerkte Urban, „muß es heiß hergehen." „Du bist es." General Krischnin wirkte erleich tert. „Altes Schlitzohr, großer Absahner, abgebrüh ter Zocker." „Was willst du Kommunist?" fragte Urban. „So spät und unter diesen Umständen." „In München warst du nicht zu erreichen." „Warum belästigst du mich?" reagierte Urban rüde. Igor gegenüber war das durchaus erlaubt. „Wie geht es dir, Dynamitzki?" „Sing die Marseillaise rückwärts, und du weißt es." Der Russe änderte den Tonfall. „Dieser Anruf ist kein Scherz, sondern aus großer Not geboren." „Wo herrscht Not? An Wodka? Werden jetzt schon eure Funktionärskneipen ausgetrocknet?" „Not am Mann", betonte Krischnin. „Ihr mit eurem 10000-Agenten-Laden?" „Nur der Richtige fehlt." Urban unterdrückte ein Hohngelächter. 19
„Damit meinst du nicht etwa mich?" „Oder doch." „Bei euch stehe ich noch immer auf der Abschuß liste ganz oben, mit Dringlichkeitsstufe eins." „Die Liquidationsorder wurde von mir persönlich außer Kraft gesetzt. Zunächst für drei Monate." „Schönen Dank." Krischnin war möglicherweise betrunken, aber mit Sicherheit war es ihm bierernst, als er fortfuhr: „Kein Scherz, Dynamitzki, wir müssen dich haben." Das war, als spräche der Storch zum Frosch: Ich brauche dich. „Okay, ihr habt mich zum Fressen gern. Komm zur Sache, Igor, mein Kleingeld geht zu Ende." „Dann steig sofort aus. Sag mir, wo wir uns treffen." „Du bist verrückt." „Es geht um Leben und Tod." „Darum geht es bei Mensch, Tier oder Pflanze jede Sekunde hundertmal und irgendwann auch Bei mir. Was also soll's?" „Deine Hilfe ist wirklich die einzige Rettung. Ein Mann, der sich im Westen bewegt wie ein Fisch im Wasser, der untertauchen kann, der sich zu tarnen versteht, der zehn Sprachen spricht, der clever ist, nicht unterzukriegen, der cool handelt, wenn er weiß, was davon abhängt." „Davon gibt es auch bei euch genug." „Nur mit einem Fehler: Man riecht sie von weitem." Urban wurde jetzt sachlich. „Igor", entgegnete er. „Du weißt, wer ich bin, für wen ich arbeite, welche, um nicht von Moral oder Ideologie zu sprechen, die Fahne ist, für die ich kämpfe." 20
„Tu's für mich, tu's aus Freundschaft." „Bevor ich den Roten Stern trage, werde ich Hindupriester", beharrte Urban. Er hatte keine Ahnung, was anlag. Aber wie Krischnin sich einsetzte, das war ungewohnt. „Wir nehmen dich auch als einäugigen, schwulen Vegetarier." „Um was geht es?" drängte Urban ungeniert. Mochte man auch ihr Gespräch belauschen, es war nicht sein Problem. „Kann man mithören?" fragte der KGB-General. „Man wird." Plötzlich begann Krischnin russisch zu sprechen. Er sprach langsam und wählte einfache Worte, von denen er annahm, daß Urban sie verstand. „Ich will nichts umsonst", erklärte er. „Schlag ein. Übernimm den Job. Kein anderer kann ihn so meistern wie du. Und als Anzahlung dafür eine kochendheiße Information." Urban hustete trocken. Auf die Tour ließ er sich nicht fangen. Es gab kaum etwas, das ihn noch aufregte, das seinen Herzschlag erhöhte. Wie hatte Krischnin ihn genannt?: einen abgebrühten Zocker. „Du lieferst jetzt die Information, oder ich gehe schlafen." Urban war nahe daran einzuhängen. Die Markstücke rasselten durch, er kam kaum nach mit dem Einfüttern. „Anschlag auf die Nummer eins", ließ Krischnin es nun heraus. Die Nummer eins war im Geheimdienstjargon immer der jeweils amtierende Regierungschef. „Er ist vermutlich schon unterwegs nach Über see. In einer Bundeswehrmaschine, die auf dem Kontinent von Abfangjägern begleitet wird." „Ein Flugzeug ist leichter zu treffen als ein Mann ins Herz", gab der Russe zu bedenken. 21
„Du kriegst mich nicht auf deinen Leim." „Ich gehe lebenslänglich ins Straflager, wenn es nicht wahr ist. Bei Gott kann ich ja nicht schwören." „Schwör bei deinem Gott, schwör bei Iwan dem Schrecklichen." „Ich schwöre", sagte der Russe. „Komm zu uns an Bord, und du erfährst alles Nötige." „Wann, wie, wo, wer und was?" Den Fragen entnahm der Russe, daß Urban zumindest wankelmütig wurde. „Terroristen", deutete der Russe an. „Wo?" „Irgendwo draußen über dem Atlantik soll es passieren." Die Punkte wie und wann erübrigten sich bei nahe. Entweder hatte die Regierungsboeing eine Bombe an Bord, oder man versuchte sie mit Raketen herunterzuholen. Urban brauchte noch Bedenkzeit. „Und um was geht es bei euch?" „Wir kriegen vermutlich ein Problem in Fernost." „Vielleicht ist nicht gewiß." „Die Zeichen stehen dafür. — Also, du machst mit?" „Vielleicht", sagte Urban.
Er tauschte beim Schlafwagenschaffner Scheine gegen Münzen. Dann rief er München an, das BNDHauptquartier. Nur dort hatte man Möglichkeiten, die Regierungsdelegation noch zu bremsen. Trotz der späten Stunde erreichte Urban den Mann mit der nötigen Durchschlagskraft. Er erklärte ihm - zur Sicherheit sprachen sie englisch 22
— um was es ging. Ohne den Preis zu nennen, den er dafür zu zahlen hatte. Der Vizepräsident kannte Urbans Zuverlässigkeit und Fähigkeit zum Durchblick. „Vermutung oder Gewißheit?" fragte er. „Gewißheit." „Sie wissen, was passiert, wenn ich jetzt Alarm auslöse. Da kommt einiges durcheinander." „Diese Leute sind dem Tode nahe", betonte Urban. „Wenn sie sterben, kommt noch viel mehr durcheinander. Dann stehen wir nämlich ohne Regierung da." Normalerweise lautete die Antwort darauf: „Schön, auf Ihre Verantwortung." — Aber jetzt das Nötige zu veranlassen, konnte nur der Vizepräsi dent allein verantworten. „Na schön, ich sitze hier und kann nicht anders. Aber wenn . . . " „Dann", sagte Urban. „Schießen sie uns auf den Mond." „Weiter", fürchtete Urban. Es war genau 2.43 Uhr. Der D 262 hatte die Landesgrenze passiert und rollte bereits auf Frank reichs Schienennetz in Richtung Paris. Der BND-Agent Robert Urban ging in sein Schlafwagenabteil, legte sich hin und dachte lange nach. Er kam nie in Paris an. Die Männer, die ihn am Gare de l'Est erwarteten, sahen ihn nicht. — Er wurde überhaupt nicht mehr gesehen.
4.
Der Funker der Regierungsboeing nahm die ver schlüsselte Nachricht auf, dechiffrierte sie und reichte sie dem Kapitän. Der las den Klartext und schüttelte den Kopf. Dann machte er eine Bewegung, die der Funker so verstand, daß er die Nachricht dem Copiloten zeigen sollte. Der Hauptmann las ebenfalls die wenigen Zeilen. „Idiotisch. Aber ignorieren geht nicht." „Sofort zum Chef", entschied der Kapitän. Für Bundeswehroffiziere war der Mann, der im Krisenfall den Oberbefehl über die Streitkräfte hatte, einfach der Chef. Sie riefen den Steward. Der Funkspruch kam in einen Spezialbehälter, den der Steward auf dem Weg vom Cockpit nach hinten nicht unbemerkt Öffnen konnte. Minuten später war der Kanzler wach und überflog die Warnung. Sofort rief er die an Bord anwesenden Kabinettsmitglieder zusammen. In der nur wenige Quadratmeter messenden Schlafkabine trafen sich sieben Mann zu einer Krisensitzung. Der Kanzler verlas den Funkspruch, reichte ihn herum und fragte: „Ist es Panikmache oder ernst zu nehmen?" Der Amtsminister, oberster Chef der Geheim dienste, antwortete. „Das würde sich der BND nie erlauben." „Was würde er nie?" „Fehlalarm gab es immer mal", erinnerte der Verteidigungsminister. „Man wird das Ganze auf Stichhaltigkeit über prüft haben." 24
Der Kanzler, im Schlafanzug und ungekämmt, fröstelte leicht. „Die Reaktion im Weißen Haus . . . Man stelle sich das vor!" Der Außenminister malte gern schwarz in schwarz. „Bei einer gewissen Böswilligkeit könnte man es in den USA so auslegen, daß wir relativ froh sind, umkehren zu dürfen. Sie denken, wir überbewerten die Warnung, um zu kneifen." „Im Grunde", gestand der Kanzler, „lasse ich mich nicht gern abschießen, so lala, für 'nen Apfel und ein Ei." „So tapfer ist der deutsche Mann nun auch wieder nicht." „Doch. Er ist tapfer, arbeitsam, treu, mutig, zuverlässig und beseelt von der Fürsorglichkeit eines altpfälzischen Familienvaters", zählte der Kanzler auf. „Aber er ist nicht waghalsig, leichtsin nig, draufgängerisch und des Lebens überdrüssig. Ihre Vorschläge, bitte, meine Herren." „Nicht mal mißachten", meinte der Verteidi gungsminister. „Die Maschine nach Bomben absuchen", kam es von der Tür her. „Das ist in der Luft praktisch unmöglich." „Umkehren!" riet der Finanzminister, der gern sparte, wo es nur ging. Der Kanzler stimmte ihm zu. „Das wäre die vernünftige Konsequenz. Aber haben Sie die Nachricht auch aufmerksam gelesen? Man warnt gleichermaßen vor Weiterflug wie vor Umkehr." „Schön, hängen wir den Flieger am Himmel auf", bemerkte einer der Staatssekretäre. „Aber wo, bitte, ist der Nagel?" 25
Der Kapitän wurde herbeigerufen. Er kannte die Situation. Man erwartete einen realistischen Rat von ihm. „Kein Weiterflug", bemerkte der Kanzler, „keine Umkehr. Was gibt es als dritte Möglichkeit?" „Landung", sagte der Major. „Und wo, bitte?" „Auf den Azoren." „Wie weit noch?" „Vierhundert Kilometer." „Und Portugal?" „Tausenddreihundert. Neunzig Flugminuten," „Versuchen wir also", entschied der Kanzler, „die Azoren zu erreichen. Es kann knallen, bevor wir sie erreichen, es kann ebenso knallen, wenn wir umkehren oder erst später." Dann erlaubte er sich den abgedroschenen Pilotenscherz: „Fliegen Sie so tief und so langsam wie möglich, Major." „So hoch und so schnell wie möglich", erwiderte der Kapitän und salutierte lässig. „Wir tun, was wir können. Es ist wenig genug." Es wurde eine Zitterpartie. Darüber half weder Cognac hinweg noch das hellere Singen der vier Triebwerke, die die Boeing jetzt auf ihre Maximal geschwindigkeit von 960 km/h beschleunigten. Als die Lage über Lautsprecher bekanntgegeben war, wurde es selbst in der vorderen Kabine still. Mancher rettete sich in ein stummes Gebet.
Die Azoren, von Piloten und Militärs immer als der
größte Flugzeugträger im Nordatlantik bezeichnet,
lagen noch im Dunkeln.
Die deutsche Boeing 707 näherte sich der Insel
26
Sao Miguel, wo nahe der Hauptstadt Ponta Delgada ein portugiesischer NATO-Stützpunkt lag. Die Boeing hatte einen Notfall gemeldet. Als sie zum Endanflug ansetzte, waren Vorbereitungen für jede Art von Katastrophe getroffen. Die Pistenbeleuchtung erstrahlte in größter Hel ligkeit. Man hatte die Landebahn für den Fall einer Bruchlandung eingeschäumt, Feuerwehr und Ret tungsfahrzeuge aller Art waren seitlich des Beton streifens aufgefahren. Alle Vorsichtsmaßnahmen erwiesen sich jedoch als unnötig. Die Boeing landete glatt und rollte aus, ohne zu explodieren. Sie wurde aber so schnell wie möglich evakuiert. Während die nahezu hundertköpfige Abordnung ins Offizierskasino der Air Force gebeten wurde, begannen schon die Untersuchungen am Flugzeug. Die Techniker begannen bei Fahrwerk und Moto ren. Dort fand man keine Höllenmaschine. Also suchte man weiter im Frachtraum, bei den übrigen Aggregaten wie Hydraulikpumpen, Steuersyste men, Kabinenklimatisierung. Man setzte die Suche in und unter dem Cockpit fort, nahm sich schließ lich die Funk-, die Navigationscomputer und die Avionik vor. Es gab kein Teil in der Maschine, wo auch nur der kleinste Hohlraum nicht überprüft oder mit Glasfasersonden untersucht worden wäre. „Keine Bombe", lautete vier Stunden später der Befund. Inzwischen hatte der deutsche Verteidigungsmi nister mit der Bundesmarine Kontakt aufgenom men und einen im Nordatlantik operierenden Zer störer angefordert. Das relativ schnelle Kriegsschiff nahm mit äußer ster Kraft Kurs auf die Azoren, um die Regierungs mannschaft an Bord zu nehmen. 27
„Von Abschuß war die Rede", sagte der Minister, „oder von einer Bombe an Bord, nicht aber von Torpedos. Ich denke, auf dem Zerstörer sind wir relativ sicher." „Wann kann er dasein?" „In achtzehn Stunden." „Wann würden wir Washington erreichen, wenn wir es zu Schiff ansteuerten?" „Zu spat." „Aber der Luftweg bleibt uns zunächst wohl versperrt." „Vorausgesetzt, das Ganze war nicht nur ein Fehlalarm." „Dann", sagte der Kanzler zu seinem Amtsmini ster, „würde ich mir an Ihrer Stelle mal die Typen vom BND-Verein vorknöpfen." „Ich schieße sie zu den Sternen." „Weiter bitte", wünschte der Kanzler. Während die Bonner Delegation auf den Zerstö rer Rommel wartete, trat die Bundeswehr-Boeing mit dem großen Gepäck und dem Aktenmaterial den Rückflug nach Bonn an. Abgesehen von der siebenköpfigen Besatzung flog sie leer nach Hause.
Von den Azoren bis Lissabon leisteten portugiesi sche Abfangjäger Begleitschutz. Noch vor Errei chen der Küste, halbwegs über der Biskaya, erhielt die Bundeswehr-Boeing von Euro-Control eine andere Luftstraße zugewiesen. Der neue Kurs führte sie erst nach Norden. Von La Coruna flog sie erneut übers Meer, bis sie die Bretagne schnitt und auf Höhe von Le Havre, nördlich an Paris vorbei, in die Luftstraße einmün dete, die zum Rhein-Ruhr-Flughafen führte. 28
Die portugiesischen Jagdflieger verabschiedeten sich, indem sie mit den Tragflächen ihrer Maschi nen wackelten und nach Süden wegzogen. Die silberne Boeing mit dem Eisernen Kreuz auf Rumpf und Tragflächen passierte um 14.15 Uhr Kap Finisterre. Bis zur französischen Atlantikküste lag eine Strecke von siebenhundert Kilometern vor ihr, Flugzeit fünfzig Minuten. Spätestens um 15.05 Uhr mußte sie sich nach Überqueren des Funkfeuers Nantes melden. Da die Meldung ausblieb, wurde die Boeing vom Boden aus angesprochen. Die französische Luft raumüberwachung rief sie mehrmals an. Aber auch der bordeigene Transponder, der automatisch die Kennung abstrahlte, war nicht zu hören. Am Boden war man schon nahe daran, einen Luftzwischenfall anzunehmen und die nötigen Maßnahmen einzuleiten, als ein schwaches Rufzei chen empfangen wurde. „Werden angegriff. . . " „Ihre Position! " forderte die Bodenstelle. „Wie ist Ihre Position? - Geben Sie Ihre Position an!" Keine Antwort. Endlich wieder Satzfetzen und: „Mayday .. .! Mayday...!" Dieses Kürzel, das dieselbe Bedeutung wie das SOS bei Seefahrzeugen hatte, löste Alarm aus. Verstümmelt hörte man: „M'day . . . sind getroff . . . stürzen . . ." „Ihre Position?" versuchte die Bodenstelle mehr zu erfahren. Das letzte, was sie empfingen, waren ein paar Silben. Sie hörten sich an wie Loire und Gilda. 29
Dann schwieg der Sender der deutschen Boeing endgültig. Bei der Bodenstelle war jedermann klar, daß sich da oben, auf zehntausend Meter Höhe, eine Kata strophe abgespielt hatte. Es galt, sofort Rettungs einheiten loszuschicken, Suchflugzeuge, Hub schrauber, Feuerwehren, Krankenwagen, Notärzte. — Aber wohin? Die letzten Worte Loire und Gilda wurden analysiert. Dem vorgeschriebenen Kurs entsprechend mußte das Flugzeug die Loire streifen. Aber was bedeutete Gilda? Endlich kamen sie dahinter, daß offenbar nicht Rita Hayworth, sondern Cap St. Gildas gemeint war. - Es lag gegenüber der Bucht von St. Nazaire am Ende der Loiremündung. Möglicherweise hatte die deutsche Boeing das Festland noch nicht erreicht gehabt, als es zu dem Zwischenfall kam. Dann allerdings würde es schwierig sein, Überreste von Besatzung und Maschine zu finden. Die Meldung wurde deshalb auch an die Küsten wachverbände der französischen Marine weiterge geben.
5. Er arbeitete als Geologe an der Großbaustelle des Ärmelkanals und führte den Titel eines Docteur des Sciences, eines Doktors der Naturwissenschaften. Sein Spezialgebiet war die Submarine Geologie. Darunter verstand man ungefähr alles, was mit dem Meeresboden zu tun hatte. Seine Formationen, 30
seine Schichtung, seine Stabilität, sein Verhalten bei Krustenverschiebungen, bei Seebeben also. Cesar Lebrun verfolgte seit Tagen die Wetterbe richte. Als es so aussah, als würde es ein paar Tage lang schön bleiben, nahm er Kurzurlaub für ein verlängertes Wochenende. Seine Familie, in diesem Fall eine Frau und eine dreijährige Tochter, lebten in der Normandie. Ein sportlicher Mittdreißiger mit einem einigermaßen passablen Automobil schaffte die dreihundert Kilo meter von Calais bis Arromanches in vier Stunden. Dr. Lebrun fuhr nach dem Frühstück in Calais ab und war zum Lunch bei Weib und Kind, obwohl er nur von Le Havre bis Caen Autobahn hatte. Nach dem Essen trat er auf die Terrasse und blickte aufs Meer. Der Wind stand hart auf das Haus. Ideale Bedingungen zum Para-Gleiten. Er hatte unbändige Lust, mit dem Gleitschirm sofort zur Steilküste aufzubrechen, aber seine Frau hätte das als wenig liebevoll empfunden. Seit drei Wochen hatten sie nicht mehr gemeinsam in einem Bett gelegen. Also verschob Lebrun sein Hobby bis zum näch sten Tag. Nach einer angemessen langen und zärtlichen Mittagsruhe mit Laure oben im Schlaf zimmer machten sie sich auf den Weg. Erst holten sie ihre Tochter vom Kindergarten ab und fuhren dann weiter nach Caen. Hier gab es bessere Hamburger, wie Klein-Antoine behauptete. Und Madame stöberte durch die Boutiquen auf der Suche nach einem Modell von Saint Laurent möglichst zum Preis einer Küchenschürze. Antoine Lebrun bekam ihren Rindfleisch-Zwie bel-Catchup-Semmelpapp und Madame einen Fummel, schwarz mit Spitze, den man ebensogut als Abendkleid wie als Unterwäsche tragen konnte. 31
Vater Lebrun erwarb einen Höhenmesser, tragbar am Handgelenk wie eine Armbanduhr. So war jeder einigermaßen zufrieden. Am Abend gab es für Klein Antoine Eiscreme, für die Eltern einen Drink, gemixt aus Whisky, ein paar Tropfen Angostura, Zitrone und etwas Limejuice. Antoine ging bald zu Bett. Das Ehepaar Lebrun schaute sich noch einen Film im Fernsehen an. Es war ein Western mit John Wayne. - Lebrun liebte Western und seine Ehefrau John Wayne. Cesar Lebrun wäre bei Rio Grande nicht einge schlafen, wenn er gewußt hätte, daß es der letzte Film seines Lebens war, den er sah.
Oben am Kliff hatten sich schon frühmorgens die Unentwegten versammelt. Sie bauten ihre Flugdra chen zusammen, breiteten ihre Gleitschirme aus, entwirrten die Leinen, schnallten sich die Gurte um und redeten miteinander über Thermik, über Böen und Fallwinde. Dr. Lebrun wurde meist belächelt, weil er unter den Gurten eine Schwimmweste trug. Sein Lande platz, der Strand, war breit und kilometerlang. Um ins Meer zu fallen, mußte man wirklich jede Chance nutzen. Lebrun verschwieg, daß er es Laure versprochen hatte. Laure war Nichtschwimmerin und hatte Angst vor offenem und bewegtem Wasser. Obwohl sie unsportlich war bis in den kleinen Finger, hatte er sie trotzdem geheiratet, denn sie war schön und klug. Jeder ließ dem anderen Freiraum für seine Steckenpferde. Laure liebte Konzerte, Ausstellungen und Opern. Cesar Lebrun hingegen liebte alles, was seinen Körper fit hielt. 32
l
Neben ihm ratterte das Windmeßgerät eines Drachenfliegers. „Es bläst", sagte der Blonde mit dem Dreitage bart und setzte den Sturzhelm auf. „Wieviel?" „Fünfzehn Meter pro Sekunde." Lebrun war das zu steif. Er hockte sich hin. Erfahrungsgemäß ließ der Wind nach, wenn die Sonne höher kam. In der Nacht hatte es noch erheblich stärker geweht. Die Dünung rollte hoch und lang von England herüber. Der junge Drachenflieger hängte sich in sein Gerät. Er hatte Mühe, es zu halten. Nach kurzem Anlauf riß es ihn empor und über die Kante des Kliffs. Er wurde weit hinausgetragen, flog in eleganten Kurven den Strand hinauf und hinab und weiter Richtung Courseulles bis man das Blau-Rot seiner Flügel nicht mehr sah. Der Start zweier Para-Segler machte Lebrun so an, daß er nicht mehr länger warten mochte und ebenfalls seinen Schirm hinter sich in Position brachte. Der Wind erfaßte den weißen Schirm, der die Form eines sanft gebogenen Rechtecks hatte, blähte ihn auf und wölbte die Falten prall. Die Leinen zerrten am Gurt. Lebrun lief an. Er fühlte sich leicht werden, schweben und schwang sich wie ein Vogel über das Kliff. Unter ihm, in neunzig Metern Tiefe, dehnten sich Strand und Meer bis zum Horizont. Eigentlich war nur zu beachten, daß man nicht auf einer verroste ten Kanone oder einem kantigen Panzerwrack, die seit der Invasion 1944 noch immer hier herumstan den, landete. Der Rest war Hochgenuß und Wollust. Lebrun gab seinem Gleitschirm eine andere 33
Richtung. Er wollte nicht dort herumbolzen, wo die Masse sich aufhielt. Er versuchte, nach Westen zu kommen, Richtung Grandcamp. Hier wurde die Steilküste flacher, aber der Aufwind trug noch ausreichend. Lebrun verlor die anderen Piloten aus den Augen und sie ihn. Du bist heute fabelhaft, dachte Lebrun, beinahe könntest du eine Möwe sein.
Gegen Mittag wollte Cesar Lebrun zurückkommen. Laure wartete und verzichtete auf das Dejeuner. Immer wenn ihr Mann flog, war sie von Unruhe erfüllt. Unsinn, sagte sie sich, bei diesem Wetter nutzt er jede Stunde. Das Verhältnis von Vergnügen zur Schinderei war mit zwei zu zehn ungünstig bei diesem Sport, hatte Lebrun berechnet. Wer zehn Minuten flog, mußte mindestens fünfzig Minuten für den Aufstieg und die Startvorbereitungen rech nen. — Nur an Tagen wie heute, mit idealen Bedingungen, ließ sich das Mißverhältnis bessern — falls man lange genug aushielt. Es wurde Nachmittag, später Nachmittag, früher Abend. Immer wieder trat Laure Lebrun vor das Haus. Sie konnte die Straße gut einen Kilometer weit überblicken. Aber Cesars dunkelblauen CX sah sie nicht. Um 19.00 Uhr war sie so besorgt, daß sie das Coq au vin von der Elektroplatte schob, Antoine nahm und mit dem 2 CV zum Kliff hinausfuhr. Cesar war nicht zu sehen. Sein blauer CX stand noch da. 34
Die letzten Segler packten ihr Gerät zusammen und stopften es in die Kofferräume ihrer Autos, um sich nach Hause zu begeben. Laure Lebrun sprach mit einem von ihnen. „Kennen Sie Doktor Lebrun?" „Den langen Dünnen?" „Mit der Goldrandbrille."
„Ja, der war da. Heute morgen." „Und mittags und am Nachmittag?" „Bedaure, Madame, ich habe ihn nur heute morgen gesehen. Ich bin Drachenflieger, und er ist Schirmsegler, das ist eine andere Branche." Laure hielt weiter nach Cesar Ausschau. Als es dunkel wurde, geriet sie in Panik. Sie fuhr nach Arromanches und verständigte die Gendarmerie. Jetzt bei Dunkelheit, sagten sie, könnten sie wenig tun. Laure bestand aber darauf, daß man eine Suchaktion einleitete. „Mein Mann ist stets pünktlich und zuverlässig", beharrte sie. „Ich vermisse ihn seit Stunden. Ihm ist etwas zugestoßen, da bin ich sicher." Alle wußten, wer Lebrun war, und konnten nicht anders, als etwas zu organisieren. Dazu brauchten sie Geländewagen, Handscheinwerfer, Kletteraus rüstung und wenn möglich einen Hubschrauber mit Blindfluginstrumentierung. Gegen Mitternacht machte sich der Suchtrupp auf den Weg. Am Strand bildeten sie zwei Gruppen. Sie suchten bis zum Morgen und dann den ganzen Tag über. Sie suchten mit Hubschraubern, mit Booten und mit Geländewagen, die in den Dünen nicht stecken blieben. Weil es zu regnen anfing, stellten sie die Suche ein. Als das Wetter sich besserte, suchten sie mit Hunden weiter. 35
Zwar war zu befürchten, daß Regen und Wind alle Spuren gelöscht hatten, sofern es welche gab, aber sie wollten sich nicht vorwerfen lassen, irgend etwas versäumt zu haben. Endlich — drei Tage später - fanden sie einen Gleitschirm aus verschmutztem weißem Nylon. Ein Schäferhund hatte ihn in einer Höhle erschnuppert. Der Schirm war vorschriftsmäßig mit Lebrun/ Arromanches sowie Nummer der Pilotenlizenz ge kennzeichnet. Die Beamten verfolgten noch weitere Spuren. Sie führten von der Höhle nach draußen. Im Freien hatten Sturm und Regen sie verwischt, aber in der Höhle waren sie gut als Abdrücke von Schwimm flossen zu deuten. „Und wo ist Lebrun?" fragte einer der Beamten. „ Davongeschwommen." „Der doch nicht. Gesund, reich, schöne Frau, nettes Kind, prima Job. So einer haut nicht ab." „Es soll trotzdem vorkommen." „Angenommen", kombinierte der Commissaire, „es liegt ein Verbrechen vor - gehen wir mal von Mord oder Entführung aus -, warum hat man den Gleitschirm dann zurückgelassen und versteckt?" Sie fanden nur eine Erklärung: Täter und Opfer hatten sich längere Zeit in der Höhle aufgehalten und vermutlich auf ein Boot oder auf die Dunkel heit gewartet. Dann mußte alles schnell gehen, und der Schirm war zurückgeblieben. „Oder er schwamm doch kurz mal nach Eng land." „Weswegen?" fragte der Dorfgendarm. „Wegen der scharfen Weiber drüben oder wegen ihrer Plumpspuddings?'' Der Commissaire steckte sich eine Maispapier 36
Zigarette an und wurde nachdenklich. Sein letzter Kommentar lautete: „Das stinkt, Messieurs! - Das stinkt wie ein acht Tage alter Hering." „In der Sonne", fügte der Dorfgendarm hinzu, als wolle er damit betonen, daß es ganz besonders unangenehm stank.
6.
Nach Beendigung des Lageberichtes, den einer der BND-Chefs wöchentlich in Bonn abzugeben hatte, zog der Kanzleramtsminister den Vize beiseite. „Das war messerscharf, letzte Woche bei den Azoren. Der Kanzler läßt danken. Gute Arbeit." Die Konferenz der NATO-Regierungschefs in Washington war als totes Rennen gelaufen. Die Deutschen hatten nichts versäumt, im Gegenteil, es zeigte sich bereits von Vorteil, nicht dabeigewesen zu sein. — Aus dieser Ecke gab es also kein Bedauern. „Wir sind stets bemüht", bemerkte der zweite Mann des BND locker, „unsere Existenz zu berech tigen." „Weiter so! Aber wie kamen Sie bloß darauf, daß man es auf uns abgesehen hatte?" Hierzu konnte der BND-Vize nur wenig bei steuern. „Wir verdanken es der Aufmerksamkeit eines unserer Leute." „Und es war verdammt auf den letzten Drücker. Diese Teufel haben die Boeing auf dem Rückflug abgeballert. Das wissen Sie ja." „Nun, ein Unfall dürfte es nicht gewesen sein." 37
„Beinah hätte die Republik ohne Regierung dagestanden. Daß wir noch leben, ist fast ein Wunder." „Nur Geheimdienstarbeit", schränkte der BNDChef ein, „kein Wunder." „Man sollte das belohnen. Als Ansporn für andere." „Das liegt in Ihrem Ermessen, Herr Minister", sagte der BND-Vize zu seinem Vorgesetzten. „Wer war der clevere Junge?" „Sie alle kennen ihn." „Ich kenne nur einen von Ihren Top-Guns. Er war uns erst vor kurzem in der Rumäniensache ziemlich behilflich." „Er ist es." Der Minister scherzte. „Figaro hier, Figaro da, Urban dort, Urban überall." „So etwa." „Warum", fragte der Minister, „nennt man ihn eigentlich Mister Dynamit?" „Das ist nur eine Legende." Der Minister packte den BND-Vizepräsidenten am Ärmelstoff seines britisch geschnittenen Sak kos. Kundig rieb er das Gewebe zwischen den Fingern. „Gutes Material." „Seidentweed, Sir." „Teuer?" „Hält aber lange." „Leistungen", wurde der Chef aller deutschen Geheimdienste wieder sachlich, „werden in unserer Gesellschaft belohnt. Besondere Leistungen ganz besonders. Der Kanzler wünscht es so. Was können wir für Oberst Urban tun?" „Er wird keinen Wert auf irgend etwas legen." 38
„Jeder Staat braucht seine Helden. Wie steht es mit Orden?" „Die hat er alle. Eine ganze Kiste voll Blech, wie ich mich bei Gelegenheit überzeugen konnte." „Wie lange steht Urban schon im Fronteinsatz?" „Seitdem er bei uns ist." „Wird er nicht allmählich zu schade für diese Rabaukereien?" „Bei einem Schreibtischjob würde er sich degra diert fühlen." „Auch mit dem eines Abteilungsdirektors?" Der BND-Vizepräsident — er war wirtschaftlich unabhängig und nicht auf das Gehalt angewiesen erlaubte sich mitunter ein offenes Wort. „Direktoren sind austauschbar wie Minister, Herr Minister. Urban hingegen nicht. Ich wüßte zumindest nicht, durch wen ich ihn je ersetzen sollte." Der Minister steckte sich eine Zigarette an. Seitdem er gehört hatte, daß Filterzigaretten unge sünder waren als filterlose, rauchte er nur noch schwarze. Eigentlich bevorzugte er Gauloises, doch als Deutscher rauchte er Rothändle. „Urbans Reservedienstgrad ist doch Oberst." „Und als Besonderheit auch Kapitän zur See." „Wie lange schon?" Um diese Frage zu beantworten, mußte der Vize erst nachdenken. „Seitdem ich ihn kenne." „Dann wird es Zeit, ihn dienstgradmäßig aufzu werten. Im Grunde bedeutet das nichts. Er hat weder ein militärisches Kommando noch materielle Vorteile, aber ich werde dem Kanzler vorschlagen, ihn zum Brigadegeneral zu ernennen. General der Reserve oder ehrenhalber, wie auch immer." Der Vizepräsident erklärte daraufhin folgendes: 39
„Es würde ihn durchaus ehren, und er würde es möglicherweise nicht rundweg ablehnen." „Aber?" Der BND-Mann, ansonsten eher beredsam, zögerte und druckste herum. „Raus mit der Sprache!" forderte der Minister. „Seit wann stottern Sie?" „Es gibt da . . . hm. . . eine Art ungeschriebenes Gesetz, Herr Minister." „Ein ungeschriebenes Gesetz ist kein Gesetz. Also, was für ein Gesetz bitte?" Der BND-Vize holte Luft. „Daß keiner unserer Agenten je einen höheren Rang als der Gründervater einnehmen soll." Der Minister hatte nie bei einer Truppe gedient. Er war erst unmittelbar nach dem Krieg geboren worden, doch er kannte die Historie des BND. Deshalb blieb ihm die Spucke weg. „Sie meinen den Alten mit dem Hut?" „General Gehlen." „Und weil Gehlen General war, darf ein anderer im BND es nicht werden." „Tradition, Komment." „Erlauben Sie mir ein Wort mit to-be", sagte der Minister kopfschüttelnd: „Ich halte das für total beschissen. Und nun erst recht. Der Mann wird Brigadegeneral, und damit basta! Bitte keine Rück sichtnahme auf Mumien. Bringen Sie ihm das bei. Beordern Sie ihn nach Bonn. Terminvereinbarung mit meinem Büro. Das Ganze geht mit Schampus, Donner und Doria über die Bühne." Der BND-Vizedirektor nickte betreten. Peinlich für ihn war, daß er seit der alarmierenden Meldung Urbans aus dem Nachtexpreß nach Paris von seinem Agenten Nr. 18 nichts mehr gehört hatte. - Nicht einen Ton. 40
Mister Dynamit blieb unauffindbar. Sie stiegen in seine Penthousewohnung in Schwa bing ein. Weder lag seine Leiche im Bett, auf dem Teppich oder in der Badewanne, noch fand man irgendwelche Hinweise, wo er sich aufhalten könnte. Der Operationschef des BND, der die Suche nach seinem Best-man zu seiner persönlichen Angelegenheit erklärt hatte, war stets überall dabei. Hätte man Sebastian befragt, warum er sich so um Urban sorgte, hätte er geantwortet: „Vorgesetz ter sein bedeutet nicht nur Leistung fordern, sondern auch Fürsorgepflicht." Urban fehlte ihm, überall und an allen Ecken. Stets wenn seine Nummer 18 in fernen Ländern im Einsatz stand, spürte er, was er an ihm hatte. Im wesentlichen waren es sein analytischer Verstand und die oft rotzige Kälte, mit der er heiße Situatio nen ablöschte. Und noch etwas mußte Oberst Sebastian einge stehen - nämlich, das Haßliebe oft eine stärkere Bindung darstellte als Freundschaft. Zum Glück fragte man ihn nicht, und er hätte auf eine solche Frage auch nicht geantwortet. Nachdem sie das zweihundertfünfzig Quadrat meter große Maisonette-Penthouse duchsucht hat ten, faßte einer der Experten das Ergebnis zu sammen: „So verläßt man seine Wohnung nur für eine kurze Geschäftsreise von maximal drei oder vier Tagen." „Woraus ersehen Sie das?" „Am Kühlschrankinhalt, am ungespülten Whis kyglas, an der unbenutzten neuen Zahnpastatube. 41
Er nahm die angebrochene mit. Das ganze Kofferset ist in der Abstellkammer gestapelt. Er reist also mit kleinem Gepäck. Der Stromhauptschalter steht auf Ein, der Papierkorb ist nicht geleert." „Staub?" „Wenig. Den wischt seine Putzfrau fort. Wir können sie ja verhören." „Eine Türkin?" zweifelte Sebastian. „Die weiß nichts." „Wie lange ist er schon abgängig?" „Zu lange." Es waren beinah zehn Tage. Sebastian ließ nach Urbans goldenem Notizbuch suchen. Aber sie fanden es nicht. Der Safe war in einem antiken Möbelstück, einem altfränkischen Sekretär, eingebaut. Aber so weit wollte Sebastian nicht gehen. Noch nicht. Den Safe konnte man immer noch aufbrechen. Sie fuhren in die Tiefgarage, wo Urban seine zwei Autos geparkt hatte. Am Trommelfeuer-BMW, einem 633-CSi-Coupé in Stahlblau, sah man wegen des frisch gewaschenen Zustandes deutlich die Blessuren. „Der war schon mit Rommel in Afrika", witzelte einer aus dem Team. „Kann er sich keinen neuen leisten?" „Vielleicht liebt er ihn." „Er bleibt ihm treu, weil er ihm treuergeben einige Male das Leben rettete", sagte Oberst Seba stian. „Aber wirklich liebt er nur den da." Sie traten vor die vergitterte Box, hinter der Urbans Mercedes 300 SL, das Flügeltürencoupe, stand. Ein Traum in Astralsilber. „Taugt nur zum Anbeten", meinte einer aus Sebastians Mannschaft. „Zu schade zum Fahren." 42
„Ich würde ihn verkaufen. Was mag er bringen? Eine halbe Million?" „Du bist ein Banause", bemerkte der dritte Mann. „Das ist ein automobiles Kunstwerk wie ein Bu gatti." „Einverstanden, wenn Bugatti die Mehrzahl von Buletto ist. Wie wär's mit einem Happen beim Italiener oder bei Max-Donald?" Vorher zogen sie erst noch durch Urbans Schwa binger Kneipen, Bars und Bistros. Doch auch dort hatte man ihn eine Ewigkeit nicht mehr gesehen. — Doch das kam vor. Oft tauchte er wochenlang nicht auf, dann wieder zweimal am Tag. „Er führt ein unregelmäßiges Leben", erklärte eines der Mädchen. „Weiß der Teufel, was der treibt. Ich glaube, er ist ein internationaler Waffen händler." „Weiß der Teufel wirklich, was er treibt?" brummte Sebastian. Sie fuhren weiter nach Starnberg hinaus, wo Urban ein Star-Boot liegen hatte. Sie suchten es ab und fanden, was sie erwartet hatten, nämlich gar nichts. „Besitzt er nicht irgendwo noch eine Höhle?" fragte einer. „Eine Art Adlernest?" „Ein Jagdhaus im Kaisergebirge", wußte der Alte und schickte einen Mitarbeiter hinüber nach Öster reich. Der fuhr am nächsten Morgen los, kam am Abend zurück und zuckte nur mit den Schultern. „Siebzig verschiedene Whiskysorten", sagte er auf Befragen. „Scotch, Irish, Bourbon, Straight, Rye, Wheat, Malt, kanadischer aus Gerstenmalz, geräuchert, ungeräuchert, aus Mais, Roggen, Wei
zen, verschnitten und unverschnitten. Darin ist er ein wahrer Experte." „Bei Whisky muß man immerzu trainieren." „Trotzdem lernst du nie aus." „Ja, er war ein Fachmann für alles." „War?" rief der Oberst dazwischen. „Das will ich nicht gehört haben!" Sie fragten bei Freunden und Bekannten herum. Sie bekamen Tips in bezug auf Frauen, Freundin nen und eine Ex-Geliebte. Das Ergebnis war in einem Wort auszudrücken. „ Fehlanzeige", meldete der Operationschef dem Vizepräsidenten. „Ungewöhnlich, höchst ungewöhnlich." „Das war noch nie da. Im harten Einsatz, in Asien oder Südamerika, kam schon vor, daß der Kontakt für eine Weile abriß, aber hier in Mitteleuropa, bei einem kurzen Trip mal rasch nach Paris rüber . . . " „Sie sind in Sorge", stellte der zweite Mann im BND fest. Sebastian nickte und hängte einen Seufzer an. „Ich warte noch vierundzwanzig Stunden, dann schalte ich die anderen Organisationen ein. Bundes kriminalamt, Interpol, die NATO-Geheimdienste." Der Vizedirektor war einverstanden, er erhob nur einen Einwand; „Nicht erst morgen. Veranlassen Sie das alles sofort", wünschte er. Die Fahnen gingen weder auf Halbmast, noch trugen sie Trauerflor. Aber daß alle, die im Haupt quartier Pullach mit Urban zu tun hatten, sein Verschwinden berührte, war ihnen anzusehen.
44
7.
Vom 22. Stockwerk des Nippon-Bank-Building wirkte die Innenstadt wie ein Termitenhaufen. Allein die Ginza hinauf stauten sich Tausende von Autos. Dazwischen wieselten Fußgänger. Viele von ihnen trugen Mullmasken gegen den Smog. Seit Tagen gab es nicht eine Brise Wind. Auch Katalysator-Fahrzeuge bliesen immer noch fünfzehn Prozent Gift aus ihren Abgasrohren. Und dieser Dreck hing jetzt wie ein Grauschleier über Tokio. Doch bis zur Chefetage der Nippon-Bank drang kein Geräusch, und der Smog wurde von der Air condition abgefiltert. Wegen des diffus grellen Sonnenlichts ließ der Älteste in der Konferenzrunde die Vorhänge schließen. Auf sein Zeichen hin nahmen die fünf japani schen Gentlemen, drei im Greisenalter, drei in den besten Jahren, alle in Managerblau gekleidet, am runden Tisch Platz. Die Tatsache, daß der Vorsitzende die Diener nicht hinausschickte, ließ darauf schließen, daß er das geheime Treffen mit einer Überraschung begin nen wollte. - Und so kam es auch. Auf ein abermals stummes, nur mit zwei Fingern angedeutete Zeichen hin trugen die Diener sechs silberne Tabletts herein mit jeweils einem Teller, Eßstäbchen und einer Scheibe Toast, bedeckt und warm gehalten von einer Damastserviette. Erst als die Diener die Tabletts senkten und jedem der Anwesenden servierten, erkannten sie, was sich auf den Tellern befand: eine Scheibe Lachs und roter gekörnter Kaviar. Davon etwa so viel, wie in einen Suppenlöffel paßte. Der Lachs war in schmale Streifen geschnitten, damit er sich mit den 45
Stäbchen aufnehmen ließ. - Dazu wurde Champa gner gereicht, Die fünf Gäste blickten auf ihren Chairman. Sein Kopfnicken war das Startsignal für das Essen, das mehr eine Vorspeise als eine Mahlzeit war. Die Anwesenden nahmen erst vom Lachs, dann vom Kaviar. Dazu brachen sie kleine Stücke vom Toast. Der Champagner perlte ungeduldig in den Gläsern. Der Chairman hob sein Glas als erster. Die anderen tranken ihm zu. Der Imbiß dauerte nur wenige Minuten. Die Diener trugen ab und blieben draußen. Der Chairman betätigte die Abhörsicherung. Ein für modernste Lauschgeräte undurchdringlicher elektrischer Störzaun umgab jetzt das Konferenz zimmer. Während er es fertigbrachte, jedem der Anwesen den gleichzeitig in die Augen zu sehen, sagte der Chairman: „Meine Freunde. Lachs und Kaviar stammen aus dem Meer zwischen den Kurilen und Sachalin. Damit, denke ich, sind wir beim Thema. Ich erteile das Wort Buto-San."
Buto-San, ein brillanter Kopf, Oxford-Student und Harvard-Absolvent, hatte mit sechsundzwanzig Jahren eine kleine Chip-Fabrik geerbt und sie binnen kurzem zum größten Hersteller von Mikro prozessoren im asiatischen Raum ausgebaut. Dieser Dr. Buto-San liebte nur zwei Dinge: Geld und Japan. Mit seinem Haß ging er noch sparsamer um. Er konzentrierte ihn auf einen einzigen Punkt, nämlich auf die Sowjetunion. - Er galt als der 46
Ideologe und Stratege dieses elitären Männer bundes. Dr. Buto-San stand auf, erbat sich durch eine knappe Verbeugung von den Anwesenden Redeer laubnis und begann dann mit einer computerähnli chen, hohen Stimme: „Im eisigen Norden vor Hokkaido zwischen Sibirien und dem Ochotskischen Meer liegen Inseln, die unsere Vorfahren als die schwarzen Klippen bezeichneten. Diese in Nebel und Schweigen gehüllten Inseln sind unser Schicksal, auch wenn sie nahezu am Ende der Welt liegen. Eine Zeitlang waren sie Verbannungsplatz für Mörder und Revo lutionäre. Orte unendlichen Leidens und Elends. Aber das ist nicht unsere Schuld, sondern die der jetzigen Herren, der unrechtmäßigen Herren, denn die Inseln gehören uns. Ich meine die Kurilen und Sachalin." Dr. Buto-San legte eine Pause ein. Er wußte, wie das bei Ansprachen war. Starke Worte mußte man wirken lassen wie gewürzte Speisen. Er nahm einen Schluck Mineralwasser, dann fuhr er fort: „Seit dreihundert Jahren kämpfen wir gegen Rußland um dieses Stück Erde. Den unersättlichen Russen ging es um die Abgrenzung ihres Reiches am Pazifischen Ozean. Uns aber darum, unserer über völkerten Heimat ein menschenleeres Territorium hinzuzufügen." Dr. Buto-San sprach vom immerwährenden Kampf, von der Rivalität, der Feindschaft zwischen den Japanern und den Russen. In Urzeiten hatten Menschen japanischen Ursprungs dort oben gesie delt. Im sechzehnten und achtzehnten Jahrhundert griffen die Russen immer wieder an. Die Herren der Insel wechselten. Seit dem Krieg von 1904, als 47
Japan die Russen in der Seeschlacht von Tsuschima besiegt hatte, besaß Japan Sachalin zur Hälfte, genau bis zum 50. Breitengrad. - Die Japaner kultivierten die Insel, bauten Städte, Eisenbahnen, Hafen, Straßen und Industrie. Der russische Norden hinge gen blieb eine unterentwickelte, eisige Tundra. Im zweiten Weltkrieg, als die Atombomben schon auf Hiroschima und Nagasaki gefallen waren und Japan kapituliert hatte, erklärten die Russen schnell noch den Krieg und nahmen den geschlage nen Japanern Sachalin und die Kurilen weg. — Und wozu? - Um sie abermals verkommen zu lassen. Sie beuteten Sachalin aus, holzten die Wälder ab, trieben Raubbau an Kohle, Gold und Erdöl, fisch ten die Meere leer, und kein Rubel floß je nach Sachalin zurück, „Beim Einmarsch", führte Buto-San weiter aus, „zerschlugen die Russen unsere Gebetsschreine. Sie töteten unsere Frauen und Kinder oder trieben sie in den Massenselbstmord. Heute sind die Wälder abgeholzt, die Ölquellen versiegt, die Meere sind abgefischt. Das Land ist kahl wie zu Urzeiten. Der Steppenwind fegt Sand über die Inseln und in die Städte. Alles ist Untergang und Verfall. Und doch. . ." Die Stimme des Redners steigerte sich noch um eine Kadenz. „Und doch, Freunde, Brüder, lieben wir dieses Land, denn es gehört uns. Wir werden es den Klauen des Bären entreißen. Mit allen uns zu Gebote stehenden Mitteln, Und dann wird die Geschichte ein neues Kapitel schreiben." Er setzte sich. Verhaltener Applaus war die Reaktion. Zweimal in die Hände zu klatschen bedeutete in erlesener Runde schon sehr viel. Nun wurde ein Film gezeigt, den ein Kamerateam heimlich von Sachalin und den Kurilen gedreht 48
hatte. Unterlegt mit Wagnermusik aus der Götter dämmerung leitete er zur nächsten Runde über. Es kam zur Beschlußfassung über Maßnahmen, die zur Rückgewinnung der Inseln führten. Die mächtigsten Männer Japans erklärten sich wieder einmal bereit, alles, wirklich alles für dieses Ziel einzusetzen. Nicht nur ihren Einfluß auf die Politik und ihre Finanzmacht, sondern notfalls jedes Mittel - Terrorismus, Mord und Erpressung einge schlossen. Sie hatten jetzt fünfundvierzig Jahre gewartet. Ihre Geduld war am Ende.
Eine Strategie, um die Inseln zurückzugewinnen, war längst festgelegt worden. — Es gab drei Stoßrichtungen: eine politische, eine wirtschaftli che und eine subversive. Die taktischen Einzelmaßnahmen hatten Stabs offiziere der Armee und Experten des Geheimdien stes Kempetai erarbeitet. Inoffiziell genoß die sogenannte Nippon-Gruppe jede Unterstützung. Es gab kaum einen Mann im Lande, der ihre Absichten nicht gebilligt hätte. Die Vorbereitungen liefen bereits. Man hatte sich internationale Experten besorgt. Sie waren tätig, um die Geheimpläne auf Durchführbarkeit zu prüfen, um Verfeinerungen vorzuschlagen und zu berechnen, wie groß die Wahrscheinlichkeit des Gelingens sein würde. Die Computeranalysen lagen bei achtzig Prozent. Es gab Verbindungen überallhin, hauptsächlich nach Europa und den USA. Im Vordergrund stand jetzt die Beschaffung eines bestimmten Geräts. 49
Mit dem Epidiaskop wurde ein Bild an die Leinwand des Konferenzraumes geworfen. Es zeigte ein tonnenförmiges, an den Enden kugeliges Gebilde. Bis auf einige Klappen, die nach innen führten, war es fast glatt. „Das ist kein Foto", wurde richtig bemerkt. „Nein, eine Zeichnung." „Nach dem Original." „Das Original gibt es noch nicht", erklärte einer der technischen Experten. „Es befindet sich noch im Bau. Das heißt, es nähert sich der Endmontage. Möglicherweise wird es in diesen Tagen fertig." „Wo?" „In New Mexiko/USA." „Woher haben wir die Zeichnung?" „Sie wurde nach Design-Plänen mit Hilfe von computergesteuerten Plottern angefertigt." „Kann sie vom Original abweichen?" „Nur marginal, in Millimetern." „Farbe, Gewicht und Aufschriften?" „Wir verfügen über sämtliche Unterlagen. Sie kosteten uns nahezu eine Million Dollar." „Na schön", sagte der Chairman. „Aber was stellt es dar, und was sollen wir damit?" „Es paßt bequem in den Laderaum einer Galaxy." „So groß ist das Ding?" „Es wiegt etwa eine Tonne. Durchmesser eine Manngröße und Lange zwei Manngrößen." „Japaner?" „Texaner", lautete die Antwort. „Es wird doch wohl ebenso gehütet wie die erste Atombombe." „Besser", wurde behauptet, „denn es ist die absolut finale, Codename Moby Dick." „Und dieses Ding müssen wir haben?" 50
„Anders werden wir keinen durchschlagenden Erfolg haben." „Und wie", der Chairman lockerte seine Züge zur Spur eines Lächelns, „Freunde, Brüder, meine Herren, wollen Sie sich dieses Wunderding an eignen?" Für Sekunden wurde die elektrische Sperre aufgehoben und ein Mann hereingebeten. Er war kleiner als der japanische Durchschnitt, etwa fünf zig Jahre alt, trug eine Brille mit Scheiben so dicke wie Panzerglas, wirkte aber beweglich und alert. Der technische Experte der Nippon-Gruppe stellte ihn vor. Der Mann führte einen ganz gewöhnlichen Namen, galt aber als Koryphäe bedeutenden Ran ges. Seine außerordentlichen Fähigkeiten auf dem Gebiet des Modellbaus wurden wie folgt be schrieben; „In der Zeit, als die Einfuhr von Luxusautomobi len in unser Land noch nicht üblich war, baute er anhand von Fotos, Prospekten und Werkstatthand büchern ein Mercedes-Coupe. Es von dem Original aus Stuttgart zu unterscheiden, fiel selbst einem dortigen Ingenieur schwer. Und er baute es nur mit japanischen Rohstoffen." Beifälliges Gemurmel lief durch die Männer runde. Der Modellbauer erklärte sich bereit, das Ding aus New Mexiko perfekt, zentimeter- und gramm genau, nachzubauen. Die Schwierigkeit war exor bitant, aber er behauptete, es schaffen zu können. „Bis wann?" lautete die Frage. „In etwa einem Monat." „Wir brauchen es in zwei Wochen." „Wenn wir, meine Leute und ich, Tag und Nacht arbeiten, ist es zu schaffen." 51
Es gab noch viele Fragen. Dann wurde der Auftrag erteilt. Als der Modellbaukünstler gegangen war, hob der Chairman zum Schlußwort an. „Freunde, Brüder", begann er. „Es war einst urjapanisches Land. Sie haben uns die Inseln geraubt. Sie verweigern nicht nur die Herausgabe, sondern selbst Verhandlungen darüber. Wir werden uns Sachalin und die Kurilen zurückholen. Denn jetzt haben wir den Schlüssel dafür." Sie leerten die Gläser. Bevor sie sich trennten, umarmten sie einander.
Er fuhr durch Paris zu einer Verabredung. Er war über einsfünfundachtzig groß, athletisch gebaut, und sein Körper hatte eine Reihe ehrenhaft erwor bener Narben. Der Rest entsprach nicht dem Originalzustand. Seine Augen wurden von Speziallinsen ins Hell blaue verändert. Sein Haar war blondiert, dazu trug er einen Bart auf der Oberlippe und um das Kinn. Eine Mischung aus Bart des Propheten und Fischer fräse. Manchmal tarnte er sich durch eine Brille, allerdings mit Fenstergläsern, da die Sehkraft seiner Augen nichts zu wünschen übrig ließ. Seine lässige Kleidung bestand aus Leinenhemd, Lederjacke, hellen Jeans, breitem Gürtel mit Sil berspange und Slippern. Er benutzte einen internationalen Führerschein und einen schwedischen Paß auf den Namen Ole Carlsson. 52
Der Paß war so unecht wie der ganze Kerl. Aber es handelte sich um professionelle Fälschungen. Selbst von jenen Kleinigkeiten, die das Leben eines Mannes mitunter stärker bestimmen als das Zusammenleben mit einer Frau, hatte er sich getrennt. Er trug eine batteriebetriebene Digital uhr, obwohl er dieses quarzgesteuerte Billigzeug haßte. Und er rauchte filterlose schwarze Gauloises. Mit der Zeit stellte er jedoch staunend fest, daß ihr bitteres Aroma dem seiner bisher bevorzugten Tabakmischung aus ägyptischen Gewächsen ameri can-blended durchaus standhalten konnte. Anstelle von Streichhölzern oder einem DunhillFeuerzeug begnügte er sich mit Wegwerfware aus Plastik zu drei Francs das Stück. Statt eines 250-PS-Coupés fuhr er einen kleinen Peugeot, den er zutreffend Beuge-Otto nannte. Besonders beim Einsteigen. An diesem sonnigen Herbsttag lenkte er die wendige Limousine nach Süden aus der Stadt Richtung Montlhéry. Noch vor der Autoroute steu erte er eine Tankstelle an. „Auffüllen bis zum Rand", wünschte er. „Öl, Wasser, Luft kontrollieren. Und dann etwas strei cheln." „Das kann dauern!" rief der Junge in der elfMontour grinsend. „Macht nichts." Carlsson stieg aus und ging in die Cafeteria, die zu der großen Benzinstation gehörte. Unter Fern fahrern und anderen Gästen galt es nun, jenen Mann auszusortieren, mit dem er verabredet war. Aber Erfahrung, Beobachtungsgabe und sein hoch entwickelter Spürsinn halfen ihm dabei. In der Ecke, mit dem Rücken zur Wand, aber nahe dem Fluchtweg zur Toilette, saß ein unauffälliger 53
Typ im braunen Straßenanzug. Er hatte eine braune Krawatte um und trug das braune Haar glatt nach hinten gekämmt. Alles sehr korrekt. Ein Beamten typ. Das etwas flunderhafte Flachgesicht versuchte er durch einen Chaplin-Bart zu französisieren. Carlsson schlenderte an ihm vorbei, steckte sich eine Schwarze zwischen die Zähne, trat dann neben den Mann hinter dem Rotweinglas und sagte: „Ihr Ascher ist voll. Ich nehme an, daß Sie Raucher sind und Feuer haben." Der Angesprochene zögerte mit der Antwort.
„Holz oder Gas?" Das waren die Codeworte. Carlsson führte die Prozedur zu Ende. „Es darf auch Benzin sein." Der andere ließ ein älteres Sturmfeuerzeug schnappen. Der blonde Schwede setzte sich. „Habe Sie nicht erkannt", gestand der Fremde. „Gut für uns beide." „Gruß vom General", übermittelte der Mann, der nicht die Spur eines slawischen Akzents in seinem Französisch hatte. „Überflüssig", erwiderte der Schwede. „Was gibt es so Dringendes, daß . . . " Er sprach nicht weiter, denn die Bedienung kam. Der Schwede bestellte Kaffee, schwarz, ohne Zuk ker und Milch. Der Kontaktmann beugte sich ein wenig vor, „Werden Sie verfolgt, Carlsson?" „Möglich. Bin nicht sicher. Von wem sollte ich denn verfolgt werden?" Der andere hob die Schultern. „Mir sagt man ja nichts." „Aus Sicherheitsgründen oder weil Sie ein zu kleines Würstchen sind?" fragte der Schwede. 54
„Man behandelt die Sache seit Ihrem Einstieg als top-top-secret. Bei uns wissen nur eine Handvoll Minister und Generäle von der Entwicklung." „Welcher Entwicklung?" versuchte der Schwede ihm eine Falle zu stellen. Doch der Russe lächelte. „Warum, glauben Sie, bedient man sich der Hilfe eines Außenstehenden? Ich bin lange genug dabei, um zu wissen, wer Sie wirklich sind, Mister . . . Carlsson." Der Schwede bekam seinen Kaffee, rührte um, obwohl das unsinnig war, trank und setzte die Tasse ab. „Sind wir hier in Frankreich die einzigen?" erkundigte er sich. „Nein. Sie allein sind der einzige. Ich habe nichts anderes zu tun, als in Notfällen Kontakt mit Ihnen aufzunehmen. Das ganze Netz wurde, seitdem drei unserer absoluten Spitzenleute ums Leben kamen, neu organisiert." „Wo", fragte der Schwede, indem er seine Gauloi ses ausdrückte, „gingen sie hops?" „Einer in Tokio." „Drei, sagten Sie." „Einer in New York. Die Leiche des dritten fand man in der Normandie." Du mußt aufpassen, dachte der Schwede, sonst bist du bald der vierte. Er kam zur Sache. „Schön, wir haben Kontakt. Um was geht es?" Der KGB-Agent tupfte mit der angefeuchteten Fingerkuppe die Brösel eines Croissants, das er zum Rotwein gegessen hatte, vom Teller. „Wie Sie wissen, Carlsson, hat man aus Moskau einen Fachmann für Tunnel- und Kanalbau ent führt." 55
„Er sei verschwunden, hörte ich." „Offensichtlich nahm der Kollege, der in Tokio starb, seine Spur dort auf." „Wir sind in Paris", bemerkte Carlsson. „Unweit von hier", fuhr der Russe fort, „bei Calais an der Küste, wird der Ärmelkanaltunnel nach Dover gegraben. Dieser Fachmann aus Mos kau - sein Name ist Pulaski - war hier für kurze Zeit als Fachgutachter tätig. Das war letztes Jahr. - Pulaski arbeitete eng mit einem gewissen Doktor Lebrun zusammen." „Lebrun . . ." Der Schwede wurde nachdenklich. „Von dem muß ich gehört haben." „Lebrun hatte mit Pulaski auch schon in Sibirien zu tun. Und zwar beim Projekt der Kanalverbin dung jener zwei großen Ströme, von denen der eine nach Norden, der andere nach Süden fließt." Der Schwede erinnerte sich. „Man beabsichtigte einen Kanal zu bauen, um Flußwasser, das sich unnütz ins Eismeer ergießt, zu den Trockengebieten des Südens zu leiten." „Mit Hilfe von Miniatombomben sollte das Kanalbett herausgesprengt werden", ergänzte der Russe. „Zum Glück kam das Projekt nicht zustande. Die Bedenken der Geologen, der Meteorologen und der Agraringenieure waren zu groß. Lebrun und Pulaski berechneten damals die gesamten theoreti schen Grundlagen." „Sind die beiden befreundet?" „Zumindest sind sie Spitzenwissenschaftler ihres Fachgebietes Kanalbau-Tunnelbau-Geostatik." Jetzt wußte der Schwede, worauf sein Kontakt mann hinauswollte. Erst vor kurzem hatte er davon gelesen. Es war durch alle Medien einschließlich Radio und TV gegangen. „Lebrun ist ebenfalls verschwunden." 56
„Mord oder Entführung?" „Es passierte beim Gleitschirmsegeln in der Normandie." Der Russe benutzte seine Finger, um die Paralle len aufzuzeigen. „Pulaski und Lebrun kannten sich. Erst ver schwindet der eine, jetzt der andere. Das ist kein Zufall. Auf der Suche nach Pulaski kommt einer unserer Topagenten in Fernost ums Leben. Auf den Spuren Lebruns stirbt ein zweiter Spitzen mann." „Und jetzt bin ich gebeten, dort weiterzumachen, wo alle Nachforschungen endeten." „Es ist die einzige Ritze", bemerkte der Russe, „um in die Sache einzudringen, die der Sowjetunion gefährlich werden könnte. Das läßt der General bestellen." Der Schwede sah schon die nächsten Schritte vorgezeichnet. Er würde sich alle Berichte über den Fall Lebrun besorgen - und dann ab in die Normandie! „Zufall", fragte Carlsson halblaut, „oder Vorwar nung einer Krise?" „Die meisten Krisen kommen ohne Vorwarnung." „Aber die ganz großen kündigen sich durch Signale an. Und wenn es nur eine dünne Rauch fahne ist." „Denn kein Rauch ohne Feuer." „Das würde bedeuten, es brennt schon ir gendwo." Der Russe, nur ein Nachrichtenübermittler, äußerte vorsichtig: „Soviel ist sicher, Carlsson, das Ganze hat eine atemberaubende Dimension. Ich bin lange genug im Geschäft, um die Symptome zu kennen." „Ich auch", sagte der Schwede. 57
Carlsson hatte ein merkwürdiges Lächeln um die Mundwinkel, das nie ganz verging. Aber in diesem Moment wurde es stärker,
Um 15.00 Uhr am nächsten Tag, als die Sonne von Westen in die Höhle hineinleuchtete, stand der Schwede dort, wo man Lebruns Gleitschirm gefun den hatte. Alles war ganz leicht gegangen. Er hatte beim Polizeiposten in Arromanches seinen Presseausweis gezückt, und der Gendarm hatte ihm auf der Karte den Weg gezeigt. Die Höhle war nicht zu verfehlen. Zwei eiszapfenartig geformte Felsen schienen den Eingang zu bewachen. Carlsson suchte die Höhle vom hintersten Winkel bis zum Ausgang ab. Von den Flossenabdrücken war nichts mehr zu sehen. Polizeistiefel hatten sie zertrampelt. Wenn es doch noch irgendeinen Hin weis gab, dann war er ebenfalls in den staubfeinen Sand getreten worden. Deshalb grub Carlsson die Oberfläche etwa hand tief um und ließ den mit Kieseln vermischten Sand durch die Finger rinnen. Er fand Blechverschlüsse von Bier- und Coladosen, eine leere Kondompak kung, einen abgebrochenen Kamm und ein Stück schwarzen Gummi. Der Gummi, mehr ein Gummi riemen, daumenbreit und zwei Millimeter dick, war von einem längeren Riemen abgerissen. Sein Ende fühlte sich rauh an wie eine drei Tage lang nicht rasierte Männerbacke. Im Licht erkannte Carlsson, daß es sich um das Oberteil eines kräftigen Klettverschlusses handelte. Auf der anderen Seite stand: Made in - mehr nicht. Also, made wo? 58
Das Gummiteil konnte schon lange hier liegen, vielleicht aber auch gar nicht so lange. Möglicher weise stammte es von einer Badetasche, von einer Bademütze oder von Schwimmflossen. Carlsson suchte weiter. Am Ende hatte er noch eine rostige Münze gefunden, abgebrannte Streich hölzer und Kippen. Alles Dinge, zurückgelassen von Menschen, die sich einmal für kurz oder länger in dieser Strandhöhle aufgehalten hatten. Auch ein ovales Stück Alublech kam ihm in die Finger. Die Erkennungsmarke eines amerikani schen Soldaten. Demnach lag sie fünfundvierzig Jahre hier. Dieser Strandabschnitt war bei der Invasion stark umkämpft gewesen. — Aber wenn ihn etwas wirklich weiterbrachte, dann nur der Gummi mit Made in . . . In Caen betrat Carlsson ein Sportartikelgeschäft, in dem sie vorwiegend Taucherausrüstungen anbo ten. Er zeigte dem Fachverkäufer das Gummiband. „Was könnte das einmal gewesen sein?" „Polizei?" fragte der Verkäufer. „Presse." „Sucht die Presse jetzt auch nach Lebrun?" kombinierte der Verkäufer. „Nun, da die Polizei die Fahndung einstellt, warum nicht?" „Da sind Sie nicht der einzige, Monsieur." „Woher wissen Sie das?" „Man erfährt so einiges, Monsieur." Das Stück schwarzer Gummi wurde untersucht. „Stammt vermutlich von einem Naßtauchanzug." „Oder von Schwimmflossen." „Richtig. Oder von Flossen." „Made in?" fragte Urban. Der Verkäufer hatte gerade keinen anderen Kun den, Er holte Kataloge hervor, blätterte sie durch 59
und verglich hie und da ein Foto mit dem Gum miteil. „Made nirgendwo", entschied er. „Die meisten Hersteller arbeiten bei Anzügen und Flossen entwe der mit Schnappverschlüssen oder mit nichtrosten den Metallschnallen." „Die meisten sind aber nicht alle", wandte Carlsson ein. „Fast alle." „Woher kommen diese Anzüge?" „Von überallher, wo wir sie am günstigsten kriegen." Was dem Verkäufer zu denken gab, war der Klettverschluß. In seinem Lager gab es nicht einen einzigen Neopren-Anzug oder eine Flosse mit Klett verschluß. Die Sache begann ihn zu faszinieren. Er sprach mit seinem Chef. Der wußte auch keinen Rat. Dann telefonierte der Verkäufer. Offenbar sprach er mit einem Fachgroßhändler. Es dauerte eine Ewigkeit, dann tauchte er wieder auf und gab Carlsson das Gummistück zurück. „Made in Japan", erklärte er. Carlsson fuhr sich erstaunt durch den blonden Haarpelz. „Sicher?" „Völlig." „Und so plötzlich?" Der Verkäufer lächelte. „Der Importeur hatte vor Jahren einen Posten japanischer Froschmannanzüge. Sie sind jedoch wegen der Untergrößen schwer abzusetzen. Die Japaner exportieren deswegen auch kaum. Der Sonderposten stammte aus Beständen der japani schen Marine. Die dazugehörigen Flossen hatten Klettverschlüsse. Der Importeur erinnerte sich 60
daran, weil er bisher nur einmal Klettverschlüsse
an Flossen gesehen hat, und zwar bei dem japani
schen Marinemodell. Also, made in Nippon."
„Was bin ich schuldig?" fragte Carlsson.
„Nichts, Monsieur", antwortete der Verkäufer. „Die Sache war für mich sehr lehrreich. Haben Sie das Gummiteil in der Höhle gefunden?" Carlsson nickte und wollte gehen. Da sah er auf der anderen Seite der Straße einen kleinen Renault 5 stehen. Er bemerkte diesen Wagen nicht zum ersten Mal, Es mochte viele weiße Renault 5 geben, aber nicht in jedem saß eine so schöne Frau. Sie trug eine dunkle Brille und ein Kopftuch. Ihre Hautfarbe war mindestens so dunkel, als ob sie ein Jahr lang täglich in der Sonne gelegen hätte. Kein Zweifel, man war jetzt hinter ihm her. „Gibt es einen Hinterausgang?" fragte Carlsson. „Durch den Hof", sagte der Verkäufer.
Noch einer anderen Spur folgte Carlsson. — Sie hatte mit seinem derzeitigen Auftrag nichts zu tun, interessierte ihn aber mächtig. Er hatte gelesen, daß die Trümmer des bei St. Nazaire abgestürzten deutschen Regierungs flugzeuges aus dem Meer geborgen und zur Unter suchung an Land gebracht worden seien. Er fuhr also weiter in Richtung Rennes quer durch die Bretagne. Er konnte an diesem Tag aber nichts mehr ausrichten, denn als er an der Côte d'Amour ankam, war es schon dunkel. Im Hotel sprach er mit dem Mann an der Rezeption. Später, beim Essen im Restaurant, mit dem Kellner und im Bistro nebenan mit anderen 61
Leuten. Er kaufte sich Zeitungen, las sie durch und fand Hinweise, wo die Untersuchungen an dem Flugzeugwrack stattfanden. Die Trümmer waren in Küstennähe herunterge kommen. Zwei Triebwerke und das Rumpfvorder teil mit dem Cockpit hatte man schon an Land gebracht. Die Meinung des einen Experten ging in Richtung Abschuß mit Raketen, die des anderen in Richtung Höllenmaschine. Am nächsten Morgen, einem frischen windigen Tag, war Carlsson schon früh unterwegs. Auf der neuen Brücke überquerte er die Loire mündung. Dann nahm er ein Stück Autoroute. Gegen 7.15 Uhr stand er schon oben beim Leucht turm von St. Gildas. Er ließ den Wagen zurück und stieg durch die Felsen und den Stachelginster ab. Etwa vierhundert Meter weit draußen war ein Schwimmkram verankert. Am Strand lagen schwere Pionierpontons, und in einem abgesperrten Viereck hatte man Flugzeugschrott gesammelt. Das Viereck war durch rot-weiß gestreifte Plastikbän der markiert. Ein Gendarm mit Maschinenpistole ging Wache. Carlsson stiefelte auf ihn zu, zeigte seinen Presse ausweis und versuchte, mit dem Beamten ins Gespräch zu kommen. „Ganz schöner Schrotthaufen, wie?" „Noch nicht mal die Hälfte, Monsieur." „Liegen verstreut, die Trümmer, scheint mir." „Auf mehr als eine Quadratmeile, Monsieur." „Darf man mal näher ran? Durch die Absperrung, meine ich." „Bedaure, Monsieur." „Und fotografieren?" 62
„Soviel Sie wollen." Aber was brachten schon Fotos? — Carlsson interessierte die Absturzursache im Detail. „Sie schieben schon länger Wache?" fragte er den Gendarm. „Werde bald abgelöst." „Ich meine, wie lange schieben Sie hier schon Wache?" „Seitdem die Bergung läuft. Paar Tage, Mon sieur." „Fand man Leichen?" „Oui, im Cockpit. Die Piloten." „Auch den Flugschreiber?" „Ja, den auch." Carlsson bot dem Gendarm eine Zigarette an. Der Gendarm schaute sich um und nahm eine. Dann bot Carlsson ihm Cognac aus einer silbernen Reisefla sche an. Das lehnte der Gendarm ab. „Ja, den Flugschreiber bargen sie auch. Man hat ihn wohl schon nach Paris gebracht, zum Amt für Zivilluftfahrt." „Und die Pilotenleichen?" „Die wurden untersucht. Inzwischen sind sie schon in die Heimat befördert worden. Es handelte sich um ein deutsches Flugzeug." Carlsson marschierte um den Sperrbereich. Er mochte so groß sein wie zwei Tennisplätze. Dann kam er wieder. Er hatte den Mantelkragen hochge stellt und die Hände in den Taschen. „Saukalt, wie?" „Ende der Woche soll hier Schluß sein." „Und was hört man über die Absturzursache?" „Wenig, Ich bin nur ein kleiner Landpolizist, Monsieur." „Aber Sie schnappen eine Menge auf." „Was meinen Sie?" 63
„War eine Höllenmaschine an Bord, oder war es eine Rakete?" „Man ist der Meinung, es sei keine Bombe gewesen. Wenn die Maschine von innen heraus explodiert wäre, dann sähen die Trümmer anders aus." „Also eine Rakete." „Ja, vom Boden in die Luft, Monsieur." Carlsson wollte es genauer wissen: „Sam-sieben oder Stinger?" „Wie bitte, Monsieur?" „Hörten Sie etwas, das wie Sam-sieben oder wie Stinger klang?" „Stinger", murmelte der Beamte. „Stinger wäre vielleicht möglich." Wenig später tippte Carlsson einen Gruß an die Schläfe. „Merci und au revoir, Sergeant," Er ging in die andere Richtung weiter, fand dort einen bequemen Pfad, der sich nach oben schlän gelte, und bald sah er etwas Helles, Eckiges im Gestrüpp stehen. Als er hinkam, entpuppte es sich als Renault 5, genau die kleine Limousine, die er jetzt zum dritten Mal sah. Sie stand leer da. Ein Fenster war halb offen. Zufall schloß er jetzt aus. - Carlsson ging in Deckung und wartete.
Sie kletterte nicht den Steilhang herauf, sie schlich, lautlos und kraftvoll wie ein Indianer, geduckt wie ein Panther. Sie trug einen Jeansanzug in verwa schenem Blau. Die Wespentaille, verstärkt durch einen breiten Gürtel, war die Engstelle zwischen 64
einem ansehnlichen Busen und einem ansehnlichen runden Hintern. Als sie stehenblieb, konnte Carlsson deutlich ihr Gesicht sehen. Sie hatte haselnußbraune Augen, schräg geschnitten und beachtlich groß. Der Nasen rücken war leicht gebogen, aber zu sanft, um ihn adlerförmig zu nennen. Ihr Mund war fleischig, die Lippen waren scharf gezeichnet. - Zweifellos eine Araberin. Sie hatte den verkniffenen Zug von palästinensischen Flintenweibern, atmete aber nicht so schwer, als hätte der Aufstieg sie erschöpft. Sie blickte nach hinten in die Tiefe. Dann wandte sie sich um und eilte zu ihrem Wagen. Sie riß die Tür auf, stieg ein und wollte gerade anlassen, als Carlsson von rechts zustieg und die Hand mit dem Zündschlüssel packte. „Rühren Sie mich nicht an! " rief sie erschrocken.
„Laß dir Zeit, Darling! "
„Wer sind Sie?"
„Als ob du das nicht wüßtest, Darling. - Wie
lange rennst du schon hinter mir her? Drei Tage? Eine Woche?" Sie versuchte krampfhaft zu lächeln. Doch sie bemühte sich vergebens. „Ich fürchte, Sie befinden sich in einem fatalen Irrtum", stieß sie heraus. „Mach keine Faxen", drohte Carlsson, „oder ich mache Kleinholz aus dir!" Plötzlich schien es Carlsson, als sprenge Haß ihre Züge. Ihr Körper spannte sich. Er merkte es an den Armmuskeln. Mit der Linken schlug sie zu. Er war schneller. Ihre Faust schmierte nur an seiner Schläfe vorbei. Die andere traf seinen Magen, daß er sich anfühlte wie ein Fußball, der schlecht gefrühstückt hatte. 65
„Ich lege dich um!" zischte sie, gefühllos wie eine Maschine. „Wie denn?" „Wenn ich es nicht mehr kann, tun es andere." „Darling, ich bin nur ein unbedeutender schwedi scher Reporter, der einen Knüller sucht. Was spionierst du hinter mir her?" „Du bist ein Geheimagent", entgegnete sie.
Er lachte etwas zu laut. „Sehe ich so aus?" „Es sind immer die, die nicht so aussehen." „So wie du. Was ist dein Job, Darling?" „Ich mache ihn", erklärte sie, „so lange ich den Auftrag habe. So lange bis ich einen neuen be komme." „Und wie lautet dein Auftrag?" „Jeden umzulegen", gestand sie, „der gegen uns ermittelt und falsche Behauptungen aufstellt. Dann hat er das Ende seines Lebens erreicht. Dann kommt seine Stunde. Nicht gleich und sofort, aber am richtigen Ort zum richtigen Augenblick. Wir lassen den Dingen ihren Lauf." „Mit Nachhilfe", ergänzte Carlsson. „Aber, zum Teufel, wovon redest du?" / Er hielt sie weiter fest und faßte unter ihre Jacke. Dieses Weib trug nichts darunter. Seine Hand berührte ihren nackten Busen, ehe sie an die Pistole im Hosenbund kam. Er nahm ihr auch den Passe port ab. Es war ein syrischer, ausgestellt in Da maskus. Er buchstabierte: „L-Y-L-A." „Gib her!" „Lyla, ist das dein Kampfname als Terroristin?" Ihr Blick war nahezu tödlich. Sie spuckte ihn an und versuchte, die Krallen ihrer Finger in sein Gesicht zu schlagen. 66
Carlsson wich zurück und ließ sie los. Das wiederum verblüffte sie. Carlsson sagte: „Ihr seid es also nicht gewesen." „Was meinst du?" Er warf den Daumen nach hinten unten in Richtung auf den Flugzeugschrott. „Aber man will es uns anhängen", sagte Lyla. „Das weiß ich längst." Carlsson zupfte eine Zigarette aus der blauen Packung. „Was, zum Teufel, suchst du dann hier?" Er grinste. „Und was, zum Teufel, machst du hier?" „Jeder", drohte sie, „der behauptete, wir hätten sie abgeschossen, bekommt was zwischen die Augen." „Okay!" Carlsson nickte. „Aber warum verfolgst du mich seit Paris? In Paris war nicht abzusehen, daß ich mich für das Flugzeug interessiere." „Denk, was du willst, und zieh Leine, Mann!" Er steckte sich eine Gauloises an, und nach ein paar tiefen Zügen sagte er: „Eh bien. Aber wenn wir uns wieder begegnen, geht es nicht mehr so kuschelweich ab." „Ich mag es kuschelhart", erwiderte sie. Kopfschüttelnd stieg er aus, stand da und war tete, bis sie angelassen hatte und weggefahren war. Danach stand er immer noch da und dachte nach. 9. „Landeklappen zehn!" befahl der Kapitän der C-5 A. „Fahrwerk raus!" Gleichzeitig drosselte er die Leistung der vier Mammut-Triebwerke, 67
Aus dem gleißendhellen Himmel über New Mexiko begann der riesige Lufttransporter seinen Endanflug auf die drei Meilen lange Piste, einem weißen Strich in der ockerfarbenen Einöde. Kein gewinnorientierter Unternehmer der Welt hätte eine Fabrik dieser Größe mitten in die Wüste gesetzt. Nur eine Weltmacht konnte das wagen, wenn es um Rüstung und um Geheimhaltung ging. Der meilenlange Fabrikkomplex war 1942 erstellt worden. Mit der Geheimhaltung war es längst vorbei, aber noch immer diente die Anlage dem ursprünglichen Zweck, nämlich die Sicherheit der USA zu garantieren. Am Montag früh war nach Washington telefo niert worden. „Es ist soweit", hatte die kurze Mitteilung ge lautet. Schon zwei Tage später schickte das Pentagon ein Transportflugzeug. Jetzt, um 11.00 Uhr vormittags, setzte die Galaxy der US-Air-force auf der Piste von Los Alamos im Staate New Mexiko auf. Trotz seines aus insgesamt zwanzig Rädern beste henden Fahrwerks ließ sich der LangstreckenMilitärtransporter nur umständlich manövrieren. 250 Tonnen wollten bewegt werden. Kaum war die Galaxy ausgerollt, kam ein Schlep per herüber. So schwer wie ein Sherman-Panzer und ebenso stark, nahm er die Galaxy auf den Haken und zog sie zum Cargo-Terminal. Während er dort den Lufttransporter in Start richtung drehte, öffnete sich hinten die Laderampe. Sie war breit genug, um einen Sattelschlepper samt Aufleger hineinfahren zu lassen, und der Laderaum bot Platz für zwei komplette Tanklastzüge. Die Ladung, die heute übernommen werden 68
sollte, war vergleichsweise winzig. Sie paßte in einen C-Container. Ihr Gewicht betrug bestenfalls eine Tonne. Aber diese Tonne war mehr wert als eine ganze Jahresproduktion der Motorradfabrik Harley Davidson.
Über der ersten und größten Atomfabrik der Welt mit meilenlanger Fassade lag flimmernde Hitze. Kaum war die Landung der Galaxy gemeldet worden, verließ ein Dreiachser in Air-force-Blau das Werk. Eine Plane verdeckte die Ladung. Daß es sich nicht um Alteisen handelte, ging aus dem Begleitschutz hervor. Zur Sicherheit war das halbe Wachbataillon der Los-Alamos-Fabrik einge setzt worden. Vornweg rollte ein Halftrak. Seine Ketten rassel ten und wirbelten eine Menge Staub auf. In der Staubwolke folge ein Jeep mit schwenkbar montiertem Maschinengewehr. — Hinter dem Tief lader bildeten wieder ein Jeep und ein Halftrak den Schluß der Kolonne. — Und über allem kreiste ein Kampfhubschrauber. , Für die Strecke bis zum Airport brauchten sie nur wenige Minuten. Als die Kolonne ankam, war das Auftanken der Galaxy beendet. Die Umladung des Stahlcontainers per Kran auf eine Rollpalette ging problemlos vonstatten. Jeder Handgriff der Mannschaft war eingeübt. Dann bugsierte ein Traktor den Container über die Rampe in den Laderaum, wo er festgezurrt wurde. Und zwar mit federgedämpften Stahltrossen an allen acht Ecken. 69
In der Zwischenzeit unterschrieb der Kapitän der Galaxy, ein Colonel des Lufttransportgeschwa ders II, die Empfangspapiere. Es war ein umständ liches Verfahren. Etliche Unterschriften mußten geleistet werden, um Moby Dick, wie das Monster hieß, zu übernehmen. „Tut mir leid", sagte der Leiter der Versandabtei lung von Los Alamos. „Routine, reine Routine." „Sie bringen schließlich Moby Dick, das kostbar ste Stück Rüstung, über das diese Erde verfügt, in den Endlager-Bunker. Diese Moby Dick kostete mehr als ihr Gewicht in Gold," „Gold oder Pferdescheiße", sagte der Colonel, „als Transportmaterial ist sie für mich ein und dasselbe. Nur riecht Pferdescheiße besser, wenn sie noch warm ist." Er prüfte die Papiere, zählte sie durch, schob sie in die Klarsichthülle und diese in seinen Pilotenkof fer. Dann ging er mit dem Lagerverwalter hinaus und sagte zu seinem Copiloten: „Plomben, Container-Code und Wiegeprotokoll geprüft?" „Alles okay, Sir." „Wie sieht es mit dem Wetter aus?" „Auf NO-Kurs nach Edward Base zieht sich etwas zusammen, Sir. Gewitterfront, ziemlich hoch und breit." Der Captain ließ sich die Position der Gewitter front und ihre Marschrichtung auf der Karte zeigen. Dabei blickte er seinen Copiloten vieldeutig an. „Besser wir warten noch eine Stunde mit dem Start." „Und was geben wir als Grund an, Sir?" „Hydraulik defekt." „Und der Begleitjäger?" 70
„Geben Sie Startverschiebung über Funk an Santa Fe Base. Neue Startzeit: vierzehn Uhr." Zu der fünf Mann starken Besatzung der Galaxy gehörte auch ein Bordingenieur. Pro forma machte er sich über die Fahrwerkhydraulik her. Kurz nach 14.00 Uhr Westküstenzeit meldete die Galaxy klar und bat um Anlaßerlaubnis. Der Startwagen kam und lieferte die Zapfluft für die vier General-Electric-Triebwerke. Die Rollerlaubnis erfolgte für 14.05 Uhr. Um 14.10 Uhr startete der Riesenvogel, vier schwarze Abgasbahnen ziehend, gegen den leichten Wind aus Südwest.
Die Begleitjäger, F-18-Maschinen und später zwei Tomcats, wechselte einander ab. Ihre Reichweite betrug nur tausend Kilometer, die Entfernung von Los Alamos zur Ostküste jedoch 3200 Kilometer. Die Galaxy machte das in einem Rutsch. In vier Stunden etwa. Als sie sich Cincinnati näherten, zeigte das Wetterradar die vorhergesagte Gewitterfront an. Auch die Jägerpiloten hatten sie erkannt. Der Rottenführer meldete sich per Sprechfunk. „Interceptor an Sunrise! Wir verabschieden uns in wenigen Minuten. In der Gewitterfront kann die Ablösung keinen Kontakt aufnehmen. Schlage umgehen des Gewittertiefs vor." „Wir haben schon wieder Probleme mit der Hydraulik", gab der Colonel zurück. „Entweder wir bleiben auf Kurs oder wir müssen runter." „Roger! Ich gebe das nach Parkersburg Base durch." „Wir bitten darum. Roger!" 71
Die schwarze Wetterfront kam rascher als erwar tet. Die Galaxy hielt sich so gut, wie es mit der angeblich defekten Hydraulik möglich war, ver schwand dann aber in den Wolken. Selbst einem mit modernster Suchelektronik ausgerüsteten Begleitjäger war es schwer, im Blind flug zu folgen. Die dritte Tomcat meldete sich ab und wünschte guten Weiterflug. Der Funker der Galaxy hatte bereits eine Mel dung vorbereitet. Er gab zum Zielhafen folgendes durch: „Hier C-5 A Sunrise!" - Sunrise lautete der spezielle Code. „Haben wieder H-Probleme. Befinden uns in schwerem Wetter. Gehen auf Langsamflug oder versuchen Zwischenlandung. Ende." Die Basis entschlüsselte die Meldung, gab Ver standen und hängte eine Order an. Diese wurde aber nicht bestätigt. Entweder störte das Gewitter, oder es lag am Empfänger. Inzwischen wurde in der Galaxy fieberhaft ge rechnet. Der Navigator wußte, daß er vierzig Minuten herausschinden mußte, die sich später im Einsatz bericht irgendwie erklären ließen. — Nach seiner Kalkulation würde es knapp werden. Aber sie mußten landen. Für jeden Mann der Besatzung hing einfach zuviel davon ab. „Es geht los", gab er über Lautsprecher zum Cockpit durch. „Ablaufpunkt erreicht. Kursänderung auf eins zwei-sieben. Distanz neunzig Meilen." Die Galaxy legte sich deutlich auf den rechten Flügel. Mitten in dem schweren Unwetter zwischen Blitzen, Donner und heftigen Böen hatte sie neuen Kurs genommen. Sie ging tiefer, geriet in Eisregen, 72
dann in warmen Regen. Er hämmerte gegen die Aluminiumhaut wie Trommelwirbel. Endlich meldete der Funker, daß er den Piepton im Hörer hatte. Der Navigator gab eine Kurskorrektur und die letzte Distanz nach vorn. Die Galaxy setzte zu ihrer heimlichen Landung an. „Vermutlich Sturmböen und Wolkenbrüche bis unten hin", meldete der Funker. „Und wenn es" — der Colonel benutzte seinen Lieblingsvergleich „gefrorene Pferdescheiße hagelt. Wir müssen runter."
Die Galaxy schien die alte, nicht mehr aktive, aber noch gut erhaltene Militärpiste zu riechen. Sie diente als Ausweich- und Notflughafen, war ohne Personal, aber vollautomatisiert. Auf einer bestimmten Funkfrequenz ließen sich Peilsender und Landebahnbefeuerung einschalten. Die Galaxy-Piloten bedienten sich kurz dieser Hilfen. Der Vietnam-erfahrene Colonel setzte die gewaltige Maschine auf, bremste, gab Umkehr schub, und als er zum Stehen kam, raste schon ein Tieflader auf die Galaxy zu. Was jetzt ablief, entsprach der Routine einer Blinddarmoperation bei einem eingespielten Ärzte team. Die Rampe wurde geöffnet. Die fünf Mann der Besatzung lösten den Container von seiner Zurrung. An einem Zugseil wurde die Rollpalette ins Freie gezogen. Von der Brücke des Tiefladers hob der LKWKran einen Container, der dem aus der Galaxy nicht nur zum Verwechseln ähnlich war. Hätte es 73
sich um zwei neugeborene Babys gehandelt, hätte keine Mutter der Welt auch nur den geringsten Unterschied bemerkt. Das Duplikat kam in den Galaxy-Laderaum und wurde festgezurrt. Der Kran hob das Original auf die Tiefladerpritsche. Dem Container wurde eine Schutzplane ähnlich einem Kondom übergezogen. Der LKW fuhr ab. Bevor der zweite Mann ihm mit seinem Geländewagen folgte, sagte er zu dem Colonel: „Kommen Sie gut nach Hause." „Und Sie außer Landes." „Wir haben unsere sicheren Wege. Aber wir brauchen eine Garantiezeit von drei Tagen oder zweiundsiebzig Stunden, ehe etwas verlautet wer den darf." Der Colonel winkte beruhigend ab. „Sie werden sogar einen Monat kriegen oder noch länger. Wenn Ihr Duplikat perfekt ist, vielleicht sogar mehrere Jahre, bis Wartungsarbeiten an der Moby Dick erforderlich werden." „Das Honorar finden Sie an dem genannten Platz vor", sagte der Mann mit den schmalen Augen des Asiaten. „Alles Gute, Sir." Er fuhr weg, und die Galaxy startete wieder.
Nach der Landung auf Edward Base, dem Standort der B-52-Atomträger, hielten die Besatzungsmit glieder eine lückenlose Erklärung für ihre Verspä tung bereit. Sie hatten wegen des Hydraulikscha dens die hohe Wetterwand umflogen, hatten die Geschwindigkeit bis auf 650 km/h gedrosselt und den Schaden mit Bordmitteln behoben. 74
„Der Ausfall an der Funkanlage, war das nicht zu beheben?" fragte der Flugoffizier mißtrauisch. „Wir brachten sie wieder einigermaßen hin. Aber nur die B-Frequenz", antwortete der Funker. Die Besatzung hatte jetzt Dienstschluß. Während die Transportabteilung des A-BombenDepots den Container aus der Galaxy holte, ihn in die unterirdischen Bunker brachte, dort Moby Dick aus dem Stahlbehälter schälte und in der Klima kammer endlagerte, fuhr die Besatzung nach Hause. Die Älteren und Verheirateten zu ihren Familien, die Junggesellen in ihre Apartments. Das geheime Unternehmen Sunrise war, wenn auch mit einer kleinen Panne, erfolgreich beendet. Die Offiziere hatten zwei Tage dienstfrei. Jeder von ihnen fand den vereinbarten Lohn vor. Der Colonel unter dem Boden seiner Jagdhütte, der Copilot im Eiskasten des Bootes, mit dem er zum Fischen fuhr. Der Navigator fand ihn im Kofferraum seines Blazer-Jeeps, der Bordingenieur unter der Werkbank in seiner Garage und der Funker unter seinem Bettsofa. Es handelte sich jeweils um einen Aluminiumkof fer. Inhalt eine Million Dollar in gebrauchten Scheinen verschiedener Größen, hauptsächlich Fünfziger und Hunderter.
10. In München erstattete Oberst Sebastian dem Vize präsidenten des BND Bericht. Dies mit einer Miene, die der dicke, plattfüßige Oberst aus jener Zeit, als ihn noch seine Galle quälte, draufhatte. 75
Er sah aus wie vor jener denkwürdigen Opera tion, als er sagte: „Wo du nicht bist, Herr Jesus Christ, da schwei gen alle Flöten." „Warum nicht Posaunen?" fragte der stets bri tisch kühle Vizepräsident. „Von mir aus auch Saxophone", bemerkte der pensionsreife Sebastian, der bei niemandem mehr ein Blatt vor den Mund nahm. „Seit wann sind Sie bibelkundig?" „Ich war mal im Vorbereitungsunterricht für die heilige Kommunion." „Das muß fünfzig Jahre her sein", spielte der Vize an. „Hundert", höhnte der Alte. „Was damals Flöten waren, sind heute Computer." „Also, wo du nicht bist, Herr Jesus Christ, da schweigen alle Computer", trieb der Vize es auf die Spitze. „Im Sinne von: Wenn der Herrgott nicht will, dann geht gar nichts." „Das ist aber ein Wiener Lied." „Und trifft den Ist-Zustand der Fahndung nach unserem allseits heißgeliebten Robert Urban." „Erlauben Sie mir ein Wort mit Bullen , . ." „Bullenshit", nahm Sebastian es dem feinsinni gen BND-Vize ab. „Kurzum, es gibt keine Spur." Der Mann im britisch geschnittenen Karo-Tweed, Saville-Rowmade bis zu den Ledereinsätzen an den Ellbogen, ließ Luft ab, als wollte er damit Nebel fortblasen. „Das ist Sch. . ., um nicht zu sagen . .. unmög lich." Sebastian zählte auf, was unternommen worden war. Nicht nur, daß sie heimlich nach Urban 76
gefahndet hatten, sie hatten auch offiziell nach ihm suchen lassen. „Alles war auf Achse. Von der hintersten Türkei bis Nordkanada. Sûreté, Interpol, FBI, der Yard und sämtliche NATO-Dienste. Wir wollten ihn nicht zur Fahndung ausschreiben lassen, aber was wir tun konnten, war weit wirkungsvoller. Es ist in den Computerverbund eingespeichert, sein Foto wird rund um den Erdball gefaxt." „Ja dann", sagte der Vize. „Wie bitte?" „Dann befürchte ich das Schlimmste." „Ich möchte", gestand Sebastian, „nicht unbe dingt dem Rat der Experten folgen, aber sie meinen, weitersuchen sei zwecklos. Selten, fast nie, wurde ein Mann so gesucht wie unsere Nummer achtzehn. Sie meinen, aller Erfahrung nach ist er wohl tot." „Und ich dachte immer, er wäre unzerstörbar. Selbst seine Trümmer müsse man noch einzeln erschlagen." „Er hat zu viele Feinde. Er wurde vom KGB, von Terroristengruppen, von Organisationen aller Far ben gejagt." „Ob sein h m . . . " , das Wort Ende wollte der Vizepräsident nicht aussprechen, „... sein Ver schwinden mit dem Anschlag auf die Regierungs boeing zusammenhängt?" „Ursache und Hintermänner dieses Abschusses sind noch unbekannt." „Dann können wir vielleicht noch hoffen", sagte der Vizepräsident, der mit Urban nicht nur seinen besten Mann, sondern auch einen Freund verloren hätte. Er wollte nicht glauben, daß es Urban nicht mehr gab. Also befahl er: „Weitermachen! Trotzdem weitersuchen!" 77
Unter der Privatnummer des Vizepräsidenten erfolgte spät in der Nacht ein Anruf. Der Mann nannte keinen Namen. Er fragte nur, ob er richtig verbunden sei. „Wen wollen Sie sprechen?" „Den obersten Vorgesetzten Ihres Agenten Mister Dynamit." „Woher", fragte der zweite Mann des BND, „haben Sie meine Geheimnummer?" „Begnügen Sie sich bitte damit, daß ich sie besitze." „Und was, zum Satan, wollen Sie zu dieser Stunde?" „Nur einen guten Rat erteilen, Sir." „Ich pflege stets selbst Ratschläge zu erteilen, aber ich nehme keinen an." „Es geht um Robert Urban." Der Vizepräsident hatte es erwartet. Trotzdem veränderte sich sein Herzrhythmus. Mit antrainier ter Coolness sagte er: „Schwätzen Sie keinen Unsinn, Mann!" „Egal, wie Sie es beurteilen, Direktor, hören Sie mich wenigstens an." „Aber fassen Sie sich kurz." Der andere räusperte sich und schoß einen Satz ab, als hätte er ihn vornotiert. „Tun Sie nichts. Dynamit lebt. Aber tun Sie nichts. Es gefährdet nur sein Leben." „Beweise!" forderte der Vize. Doch da hatte der Unbekannte bereits aufge legt. Der berufserfahrene zweite Mann des Bundes nachrichtendienstes zog seine Schlußfolgerungen. Wahrscheinlich hatte der Anrufer über Fernleitung aus einem anderen Land telefoniert. Wenn er die 78
Geheimnummer kannte, hatte er sie wohl von Urban. Es gab nur eine Handvoll Personen, die sie kannten. Tun Sie nichts, klang es noch in seinen Ohren. Aber wie sollte man sich verhalten? Was steckte dahinter? - War es nur Bluff, weil sie die weltweite Fahndung zu spüren bekamen, oder hatte der Anrufer Gründe, Urban zu schützen? Der BND-Chef hatte Beweise gefordert, doch war zu befürchten, daß das nicht mehr in das Ohr des deutsch sprechenden Anrufes gedrungen war. Was also tun? Am nächsten Morgen beschloß der BND-Vize schweren Herzens, die Suche nach Urban einstellen zu lassen.
Wenige Tage später kam Post. Ein Päckchen, adressiert an den BND MünchenPullach, Heilmannstraße, zu Händen von Wolf Sebastian, traf ein. In der Operationsabteilung wurde es mit aller Vorsicht geöffnet. Es enthielt keine Briefbombe, sondern ein Polaroid-Foto und eine Tonbandkas sette. Sebastian eilte damit in die Chefetage. Nachdem die Polstertür hinter ihm geschlossen worden war, legte er dem Vizepräsidenten Foto und Tonband auf den Schreibtisch. Sebastian hatte noch sein Monokel im Auge, der Vize setzte die Lesebrille auf und betrachtete das Foto. „Das ist er." „Verändert zwar, aber er ist es wohl." 79
„Blond mit Bart und Brille, höchst ungewöhn lich." „Aber er ist es. Dieses Grinsen gibt es nur einmal." „Von wann stammt die Zeitung, die er vor sich hält?" „Vom letzten Freitag", antwortete Sebastian. Der Vize nahm seine Lupe, prüfte die Angaben und nickte. „Der Corriere della Sera." „Die größte Zeitung Italiens." „Also ist er nicht in Italien." „Gewiß eine Irreführung — oder ein Doppeltrick, und er ist doch in Italien." „Aber das Datum. Heute ist Montag, also nur drei Tage her. Er lebt." Das Tonband wurde in den Recorder geschoben. Es rauschte wie Wind in Bäumen. Der Vize drehte die Lautstärke herunter. Das Band lief, und nichts kam. Die BND-Macher blickten sich an. „Geduld, Geduld!" Minutenlang nur Rauschen. Dann endlich eine Stimme: „Hallo, Großmeister, verehrter Boß. Ich lebe. Umstände zwingen mich, für Leute, die uns fremd sind, einen Auftrag, der uns wenig oder gar nicht berührt, zu erledigen. Die Sache ist lebenswichtig für die andere Seite. Unternehmen Sie nichts. — Nichts! - Es würde meine Arbeit erschweren und die Gefahr für mich vergrößern. Ich hoffe, wir sehen uns gesund wieder. Eines Tages." Sie ließen das Band vor- und zurücklaufen, und das immer wieder. Dann wurde mit Hilfe des Stimmanalysators ermittelt, ob es sich auch wirk lich um den Stimmabdruck von Urban handelte. 80
Als dies mit an Sicherheit grenzender Wahr scheinlichkeit feststand, machte man sich an die Analyse der etwa fünf Dutzend Wörter. Sie ergab, daß man Urban vermutlich als Gegenleistung für den Hinweis auf den Boeing-Anschlag soweit gebracht haben konnte, daß er für eine andere Macht tätig wurde. Für welche Macht? Wer waren die sogenannten fremden Leute und was ihr lebenswichtiges Pro blem? Es durfte zwar weiter analysiert, aber nicht weiter nach Urban gesucht werden. So entschied es der Vize-Direktor. „Damit wir ihn wiederkriegen", setzte er hinzu, „eines Tages." „Ich hätte nie geglaubt", äußerte Oberst Seba stian, „daß man uns jemals so zur Schnecke machen würde." 11. Von Portsmouth bis Davenport hatte Ole Carlsson die britische Küste schon abgesucht. Nun bereiste er Cornwall, die romantische südwestenglische Grafschaft. Wie eine weit geöffnete Hand ragte dieses Stück Land mit seinen Wäldern und tausend verschwiege nen Buchten in den Atlantik hinein. — Carlsson besuchte es nicht seiner Schönheit wegen. Wie im Osten, so klapperte er auch hier die Häfen auf der Suche nach einem Boot oder einem Kutter ab. Es mußte sich um ein seegängiges schnelles Fahrzeug handeln, für das es kein Problem dar stellte, Frankreich und die Normandie in wenigen Stunden zu erreichen. 81
Von Cornwall aus betrug die Entfernung aller dings schon zweihundert Seemeilen, aber ein eini germaßen gut motorisiertes Schiff schaffte das in zwanzig Stunden. Auf die Frage, warum er das in Frage kommende Fahrzeug bis zur Stunde nicht gefunden hatte, wußte Carlsson drei Antworten. — Entweder die Entführer von Dr. Lebrun hatten ein eigenes Schiff gehabt - sie kamen aus einem französischen Hafen - oder sie wählten einen weiter entfernten Ablauf punkt für ihre Operation, nämlich Cornwall. So wie es aussah, steckten Japaner dahinter. Japanische Eigenart war es, sich auf fremdem Territorium der Erfahrung Einheimischer zu bedie nen, deshalb Carlssons Verbissenheit bei der Suche nach einer seegängigen Yacht oder einem Kutter. Ein Kutter schied bald aus. Die von Cornwall waren meist zu langsam. Der Kutter brauchte von hier bis zur Normandie länger als einen Tag. Carlsson kümmerte sich also vorwiegend um Yacht verleiher und kleine Charterunternehmen. Leider vergebens. Nahe daran aufzugeben, wurde er endlich fündig. „Stimmt", sagte das Mädchen, das er in Fowey beim Reinschiffmachen antraf. „Da waren zwei Japse da." Sie war barfuß, hatte die Seglerhosen hochge krempelt und trotz der frischen Brise nur ein TShirt an. Auf dem T-Shirt stand Fowey Yachtclub. Das Mädchen hatte ein feuerrotes Gesicht vom Deckschrubben. Carlsson gab ihr ein Stichwort. „Die Japaner versuchten ein Boot zu mieten." „Richtig." „Für eine Fahrt nach Frankreich." Das Mädchen antwortete kopfschüttelnd. 82
„Wenn Sie alles wissen, warum fragen Sie dann?" „Wann war das?" „Ist ungefähr zwei bis drei Wochen her."' Zurückgerechnet konnte das um die Zeit von Lebruns Verschwinden gewesen sein. „Sie wurden mit den Japanern nicht einig?" „Nee", sagte die rotblonde Engländerin. „War Ihr Preis zu hoch?" „Nach dem Preis fragten sie erst gar nicht. Sie suchten ein schnelleres Schiff als meines. Und außerdem stellten sie eine Bedingung." „Niemand sollte von der Tour erfahren." Sie machte die Augen schmal, als blinzelte sie in die Sonne. „Sind Sie von der Polizei, Sir?" „Presse." „Dann ziehen Sie ab, Mann, und lassen Sie mich meine Arbeit tun. Los, gehen Sie, oder ich kippe Ihnen eine Pütz P-drei über Ihre Luxuslatschen." Carlsson hatte eine letzte Frage und bestach die Skipperin mit einer Fünfpfundnote. „Stimmt's, daß Sie keine Lust hatten, mit den Japanern da rüberzurutschen?" „Das auch." „Sie hatten eine gute Saison und es daher nicht nötig." „Außerdem wurde das Wetter schlecht." „Sie schickten die Japaner weiter." „Nach Falmouth. Dort ist die Konkurrenz groß. Sie machen sich gegenseitig die Preise kaputt. Da gibt es schon den einen oder anderen, der am Hungertuch nagt." „Wie wär's mit Namen — von dem einen oder anderen?" „Fragen Sie nach Flipper Holman. Ein anderer 83
fällt mir gerade nicht ein. Well, und jetzt zieh Leine, Mann!" Carlsson eilte von Bord und fuhr nach Falmouth hinunter. Dort hatte er insofern Pech, als er Flipper Holman zwar auf seiner weißen Dieselyacht antraf, Flipper Holman aber abwinkte. „Ich habe die Japse nicht gefahren", erklärte er. „Zum Glück." „Wieso das?" „Mein Kumpel, Joe Grodin, ließ sich auf das Geschäft ein." „Wenn es Ihr Glück war, daß Sie ablehnten, muß es sein Unglück gewesen sein, daß er es übernahm." „Mein Turbo am Backborddiesel lief nicht astrein", wich der Yachteigentümer aus. Eigentlich antwortete er stets anders, als man erwartete. „Joe Grodin verdiente sich also die Charter", faßte Carlsson nach. „Es war mächtig sauer verdientes Geld, Sir." „Ich muß ihn sprechen. Wo finde ich ihn?" Jetzt trat Trauer in die Züge des Bootseigners. „Den müssen Sie vor Lizard Point suchen. Sech zig Meter unter Wasser. Einen Tag nach seiner Normandiereise fuhr er wieder raus, nur um sein Abendessen zu fischen. Da gab es 'nen Knall an Bord: Explosion. Das Schiff flog in Trümmer und Joe in Fetzen. Man sollte sich nie auf 'ne heiße Tour einlassen, und wenn sie noch so gut gelöhnt wird. Irgendwas ist immer oberfaul dran." „Explosion?" Carlsson stellt sich dumm. „Was kann auf einer Dieselyacht explodieren?" „Eigentlich nur die Propangasflasche für den Kühlschrank und die Kombüse," „Wann war das?" Carlsson erfuhr das genau Datum. Es fiel in die 84
Woche, in der Lebrun an der Normandie gekid nappt worden war. „Haben Sie mit Ihrem Kumpel nach seiner Rückkehr, das heißt vor seinem Tod noch einmal gesprochen?" „Nur kurz." „Erzählte er etwas über den Job?" „Nur, daß die Japse ein längliches Paket vom Strand an Bord gebracht hätten und es in der Nacht, als sie eingelaufen waren, in einen Kombi luden." „Marke?" „So'n langer breiter, wie ihn Handwerker be nutzen." „Was sagt die Polizei zu Grodins tödlichem Unfall?" „War eben 'n tödlicher Unfall. Unachtsamkeit, fehlerhafter Umgang mit Propangas und so weiter. Was geht Sie das bloß an, Sir?" „Ich bin von der Presse und immer hinter einem Knüller her." „Und ist das ein Knüller?" „Wohl eher keiner", antwortete Carlsson und gab Flipper Holman ein mittleres Trinkgeld.
In der Nacht traf Carlsson an der Straße nach Exeter, dort, wo sie durch die Wälder des Dart moor-Nationalparks führte, einen Mann. Er war etwa so groß wie Carlsson, aber ein eher dunkler Typ. Beim Film hätte man ihn wohl einen Kosakenoffizier spielen lassen, während Carlsson eher für einen Wikinger in Frage kam. - Aber beim Film wären beide wohl verhungert. Sie waren nicht schön genug. 85
Carlsson sprach den mit slawischem Akzent sprechenden Mann als Igor an. Der KGB-General sagte nicht Bob zu ihm, sondern Robertski. Meist hielten sie über V-Leute Kontakt. Nur hin und wieder, wenn der Fall eine neue Wendung bekam, so wie heute, dann trafen sie sich bei Dunkelheit irgendwo an einem verschwiegenen Ort. Sie gingen den Fall von A bis Z durch. Jeder steuerte bei, was er wußte und was der aus seiner Sicht letzte Stand der Dinge war. „Das ist der endgültige Beweis", sagte Igor Krischnin. „Es sind die Japse." „Sie schnappten sich Lebrun." „Und unseren Tunnelfachmann Pulaski." „Sie brachten auch den Skipper um. Sie gehen über Leichen. Bloß keine Zeugen." „Über jede Menge Leichen", ergänzte der KGBGeneral. „Es hat noch gar nicht richtig angefangen. Aber wir wissen jetzt ungefähr, wo es langgehen wird. Was vermutest du, Robertski?" „Kommt darauf an, ob es sich um eine private Gruppe handelt oder um eine größere Organisation, vielleicht sogar mit staatlicher Duldung." „Mal angenommen, es wäre so." „Wollen Sie etwas von euch, von der UdSSR? Gibt es Hinweise?" Der KGB-General steckte sich eine PappfilterMachorka an. „Was zum Beispiel könnte Japan von uns wollen?" „Ich kann es mir vorstellen", sagte Carlsson, „nur kriege ich das mit einem Tunnelbau und einem Geostatiker nicht unter einen Hut." „Wir auch nicht. Aber lassen wir Lebrun und Pulaski mal beiseite. Was könnte eine japanische 86
Gruppe, zweifellos ist sie mächtig und politisch einflußreich, von der UdSSR wollen?" „Die Inseln", nannte Carlsson es geradeheraus und ohne nachzudenken. „Richtig. Die Kurilen." „Sie beanspruchen auch Sachalin, wie man immer wieder hört." „Einen verdammten Scheißdreck werden sie krie gen", fluchte Krischnin. „Dann kriegt ihr möglicherweise den Scheiß dreck, pardon, in die Fresse." „Um das zu verhindern sind wir angetreten." Carlsson ließ sich nicht auf politische Diskussio nen ein, ob es etwa rechtens war, wenn eine siegreiche Großmacht einem Land, das am Boden lag, nach der Kapitulation schnell noch den Krieg erklärte und Territorium wegnahm. - Es war gewiß nicht die feine Art, aber auch nicht Carlssons Problem, das zu beantworten. Nach einer Schweigeminute fragte Krischnin: „Was können sie vorhaben?" „Allein Sachalin ist größer als Benelux und Dänemark zusammengenommen. Das kann man nicht versenken wie einen Flugzeugträger." „Aber man kann es ungenießbar machen." „Zumindest für Mensch und Tier." „Nämlich durch radioaktive Verseuchung", ergänzte der Russe. „Daran dachten wir auch schon. Aber dazu ist eine atomare Explosion nötig, und eine A-Bombe haben sie nicht, diese Schweine hunde." „Mit genug Geld und Einfluß ist eine Bombe kauf- oder herstellbar. Sie sind eine der technisch am weitesten entwickelten Nationen der Welt." Der Russe wurde nachdenklich. „Dies und noch etwas anderes mißfällt mir." 87
„Was ist das andere?" „Um die Inseln und die Meere drumherum zu verseuchen, dazu braucht man eine Riesenbombe. Möglichst eine Giga. Die Amerikaner haben etwas in dieser Richtung entwickelt. Codename Moby Dick. Sie soll vor kurzem in Los Alamos zusammen gebaut worden sein. Inzwischen brachte man sie nach Edward Base, wo sie die Eier in ein Nest aus Stahl und Beton legen." „Bis zu dem Tag, wo sie bebrütet werden, um den Tod ausschlüpfen zu lassen", ergänzte Carlsson. „Woher weißt du das, Genosse Generalski?" „Wir wissen alles." „Ihr wißt von allem nur ein bißchen was", höhnte Carlsson, „sonst hättet ihr nicht durch Erpressung meine Mitarbeit erzwungen." Krischnin rauchte hastig. Der Rauch zog durch das heruntergekurbelte Seitenfenster ab. Doch jetzt öffnete er die Tür und warf die Kippe hinaus. Es war heiß im Wagen, also ließ er die Tür offen. Außer Nachtvögeln, Hasen und anderem Kropp zeug war niemand in der Gegend. Nach einem schweren Seufzer, der aus der Tiefe seiner Brust zu kommen schien, präzisierte Krisch nin seine Befürchtung, „Man hört. . . man munkelt. . . daß den Amis diese Superbombe abgeht." „Da kommen sie nicht ran. Diese Waffen für die B-zweiundfünfzig und B-zwei-Geschwader der Atombomberflotte sind besser geschützt als . . . " „Als was?" „Dagegen ist Fort Knox Großmutters Nähkörb chen", sagte der Mann mit dem schwedischen Paß. „Man darf es trotzdem nicht aus den Augen verlieren." „Klar. Nichts ist absolut unmöglich." 88
Sie besprachen dies und jenes, weitere Schritte, Spuren, kalte, warme, heiße, solche, denen zu folgen sich lohnte. „Darüber kann es Winter werden", befürchtete Carlsson. „Bis Weihnachten wollte ich gern wieder zu Hause sein." „Du darfst dich nicht verzetteln", kritisierte Krischnin. Der General äußerte selten etwas ohne Bezug. „Du meinst meine Fahrt nach St. Nazaire", bemerkte Carlsson. „Brachten die Flugzeugtrümmer denn etwas?" „Vielleicht wurde die Siebennullsieben durch eine Rakete abgeschossen, eine Sam-sieben oder Stinger." „Die kannst du dir überall besorgen. In Pakistan gibt es ein Überangebot aus Beständen der Mudja heddin. Aber es waren Nahostterroristen", behauptete Krischnin. „Ich sehe aber kein Motiv." „Niemand ist in der Lage, in die perversen Gehirne dieser Verbrecher . . . " Weiter kam Krischnin nicht.
Sie stand da, geduckt wie eine wütende Tigerkatze, ein Ding von Kanone in der Rechten, deren Kaliber jeden Schädel mühelos halbierte. In der Linken hielt sie eine Handgranate. Der Stift, der den Zünder sicherte, baumelte, an der Schnur seitlich herunter. Die Handgranate war also scharf. Carlsson hatte das Knacken von Ästen gehört, aber an so etwas hätte er nicht gedacht. - Nun stand Lyla da, und es sah verdammt nach Mord aus. 89
„Aussteigen, Krischnin!" befahl sie. „Du bleibst sitzen, Carlsson." Der KGB-General behielt seine kirgisische Ruhe. Er wußte, wo die Schwächen bei Frauen lagen. Meist fing alles anders an, als es endete. Er wandte sich an Carlsson. „Kennst du diese Halbwilde?" „Sie ist eine ganz Wilde. Ja, ich kenne sie." „Ist sie hinter dir her oder hinter mir?" „Hinter euch!" zischte die Frau aus dem Libanon oder Umgebung. „Und jetzt wirst du erleben, General, wie ich dir den Hintern bis zum Halswir bel aufreiße." „Was hat sie bloß gegen mich?" tat Krischnin erstaunt. „Ihr seid alle Verleumder." „Klar, wir sind ein Geheimdienst, Madame. Jeder Geheimdienst lügt, stiehlt, erpreßt und verleumdet. Was, bitte, ist verwerflich daran, Madame?" Sie war nahe daran loszuballern, beschränkte sich aber darauf, Krischnin mit einem Fußtritt zu traktieren. Dann beruhigte sie sich und wurde eher cool. „Ihr Russen habt die deutsche Regierungsma schine abgeschossen." Krischnin lachte tief unten in der Kehle. „Warum sollten wir das?" „Damit dieser Mann da, der nie im Leben daran gedacht hätte, jemals unter dem Roten Stern zu dienen, für euch arbeitet. Ich weiß, wer er wirklich ist. Er ist nicht der Schwede Ole Carlsson. Du nennst ihn Urbanski. Und warum? Er ist der BNDAgent Nummer achtzehn, Robert Urban, genannt Mister Dynamit." Krischnin nahm es locker wie ein Komödiant eine komische Szene. Er rempelte Carlsson an. 90
„Bist du Mister Dynamit?" „Keine Ahnung, wer ich sein soll." „Glaubst du diese Gesabber?" „Das mit dem Abschuß durch euch?" Carlsson zögerte. „Ich traue keinem. Nicht mal zu mir selbst habe ich noch Vertrauen. Möglich ist alles. Ich sehe nur keinen Sinn darin." „Sie spinnt", entschied Krischnin. „Ein hübsches verrücktes Flintenweib. Was zum Vernaschen für einen alten Kirgisen wie mich. Hätte Lust, ihr zu zeigen, was ein gestandener russischer Macho ist. Nun, wie wär's mit uns, Püppchen?" Es war offensichtlich, worauf er hinauswollte. Er wollte sie bis aufs Blut reizen, damit sie gegen alle Vernunft überreagierte. „Halts Maul, du Bastard!" keuchte sie. Krischnin riß weiter seine Zoten. „Ihr PLO-Weiber seid doch alle Huren . . . euch nimmt man nur mit, damit die Kommandanten nachts was Scharfes zum Bumsen haben." Das war zuviel. Sie gab einen Warnschuß ab. Mit einem Wutschrei trat sie erneut gegen den Russen. Und dann reagierte der ehemalige KGB-Agent, der es bis zum General gebracht hatte, blitzschnell. Er packte Lylas Fuß, riß ihn hoch und verdrehte ihn. Dabei löste sich noch ein Schuß. Er fuhr als Salut zum Mond. - Schon war Krischnin über ihr, nahm ihr die Handgranate weg und warf sie in weitem Bogen in den Wald. Sie hatte einen kurz eingestellten Zünder und explodierte noch im Flug. Der Detonationblitz blendete Krischnin, Dreck, Fetzen von Zweigen und Blättern bombardierten 91
ihn. Instinktiv warf Krischnin sich hin. — Als es vorbei war und er sich aufrichtete, war Lyla fort. Es raschelte im Unterholz, man hörte sie rennen und springen. Dann, als sie den Waldweg entlang hastete, nicht mehr. „Die kriegst du nie. Die schlägt dich auf hundert Meter ebenso wie im Marathon." „Sauweib!" Krischnin fluchte. „Verdammt, sie hat uns belauscht. Ob sie was mitbekommen hat?" „Alles", befürchtete Robert Urban, alias Ole Carlsson. 12. Der Colonel rief seinen Navigator an. „Die erste Staffel vom zweiten Geschwader wird vom technischen Stab der Edward Base zu einem Golfmatch gefordert." „Ich hasse Golf", sagte der Navigator. „Aber du bist ein besserer Spieler als ich." „Darum mag ich Golf nicht", gestand der Naviga tor. „Ich will immer gewinnen." „Alle aus unserem Team machen mit." „Auch der Funker?" zweifelte der Navigator. „Er ist nur Sergeant." „Das Match ist nicht nur für Offiziere. Und er hat das beste Handikap von uns allen. Das sieht nach Sieg aus." „Und warum ausgerechnet unsere Crew?" „Weil die anderen fliegen müssen oder Bereit schaft haben." „Kaum hast du eine freie Woche, schon kommt einer und macht dir alles kaputt." Der Colonel appellierte an den Corpsgeist seines Navigators. 92
„Nur noch von dir hängt es ab, Junge." „Du übertreibst." „Oder geht es nur mit einem Befehl?" „Golf kannst du laut Air-force-Dienstvorschrift nicht befehlen." Der Colonel ließ nicht locker. „Sie ist neunhundert Seiten stark. Ich werde darin zur Not einen Paragraphen finden. Mann, laß dir nicht so lange den Bauch pinseln." Halb war der Captain schon gewonnen. „Wann?" „Übermorgen." „Ist Weekend, die Tage der Minne. Da muß ich meine Freundin besuchen." „Bring sie mit. Anschließend ist Schampus und kaltes Büffet angesagt." „Und Nahkampf mit Anfassen", ergänzte der Captain. „Wer bringt da schon seine Frau mit?" „Okay, dann laß sie zu Hause." „Sie wird maulen." „Es ist deine Pflicht, und du bist Offizier." „Na schön", ließ der Navigator sich breitschla gen. „Treffpunkt wann und wo?" „Ein Kleinbus sammelt uns auf und bringt uns wieder nach Hause." „Gefällt mir schon besser", sagte der Captain, der gern einen zur Brust nahm, besonders aus hochpro zentigen Flaschen. „Samstag, acht Uhr." „Mitten in der Nacht, verdammt, auch das noch", fluchte der Captain. „Also schön, von mir aus." Diese Zusage beendete sein Leben vorzeitig. Der siebensitzige Van, der das Team aufnahm, um es von Edward Base zum Golfplatz des Country Clubs zu bringen, kam von der Straße ab. Entweder weil es geregnet hatte und schmierig war und der 93
Fahrer wegen überhöhter Geschwindigkeit die Gewalt über das Fahrzeug verloren hatte, oder wegen eines technischen Defektes. Das Dumme war, daß es auf einer Brücke passierte. Der Bus durchbrach das Holzgeländer und stürzte in den Edward-River-Canon. Daß er kurz nach dem Aufprall im Wasser explodierte, war ungewöhnlich. Möglicherweise hatte er auch eine Bombe an Bord gehabt, die durch Fernzündung ausgelöst worden war.
„Eine Autobombe. Aber von wem?" fragten sich die Experten der militärischen Sabotageabwehr und von FBI. Sie hatten die Trümmer geborgen, die Leichen identifiziert und jede Spur dieses mysteriösen Unfalls, bei dem eine ganze Galaxy-Besatzung auf einen Schlag ums Leben gekommen war, gesichert. Die fünf waren unterwegs zu einem Golfturnier gewesen, von dem niemand etwas wußte, das weder vorbereitet noch organisiert war und auch gar nicht stattfinden sollte. „ Es war ein von Fachleuten vorbereiteter Anschlag", äußerte der FBI-Spezialist für Spiona geabwehr seine Meinung. „In dieser Richtung müs sen wir weitermachen." Das Autowrack und die Leichenreste wurden erneut untersucht. Wie es aussah, hatte man den derzeit brutalsten Sprengstoff, nämlich Semtex, verwendet. Genauere Analysen ergaben jedoch, daß es sich wahrscheinlich um Makomit, ein japani sches Produkt mit ähnlicher Wirkung, handelte. FBI und CIA streckten ihre Fühler in die Welt der fernöstlichen Geheimdienste aus. Von dort kam nur 94
das übliche Gemisch von Vermutungen und Phan tasien. Inzwischen nahm man sich jeden einzelnen der Toten vor, prüfte die Personalakten und das Privat leben auf Kontakte mit irgendwelchen verbotenen Organisationen, von Linksradikalen bis Gang sterkreisen. Dabei kam wenig heraus. Nur der Colonel war mehrmals mit einem Japaner gesehen worden. — Normalerweise hatte das nichts zu bedeuten. Die Verwendung von japanischem Sprengstoff gab der Sache jedoch einiges Gewicht. Die Häuser und Wohnungen der fünfköpfigen Galaxy-Crew wurden routinemäßig durchsucht. Sie waren zunächst ohne Befund. Nichts deutete auf Kontakte eines der Besatzungsmitglieder mit ver dächtigen Personen hin. Doch dann entdeckte ein Fahnder im Notizkalen der auf dem Schreibtisch des Flugingenieurs eine Ziffer. Man ging ihr nach. Es handelte sich um die Nummer eines Kontos bei einer Bank auf den Bahamas. Das FBI verfügte über ausreichend gute Verbin dungen, um Einblick in das Konto zu bekommen. „Er hat ein Guthaben von einer Million Dollar", meldete der Sachbearbeiter seinem Boß. „Für einen Captain, der vierzigtausend Dollar im Jahr ver dient, ein stattlicher Haufen." „Vielleicht hat er geerbt oder eisern gespart." „Er galt als recht vergnügungssüchtig." „Das heißt noch lange nichts." „Bis jetzt. Aber beweist es etwas, daß die Einzah lung "der Million auf einen Schlag erfolgte, nämlich letzte Woche, als sie von Los Alamos zurück kehrten?" Nun wurde auch bei den anderen nachgeforscht. 95
Wie sich herausstellte, waren sie alle in derselben Woche zu Dollarmillionären geworden. Der eine hatte das Geld bar in einem Schließfach deponiert, der andere hatte Aktien gekauft, der dritte bei der Chase Manhattan ein Konto eröffnet, und der Colonel hatte die Hypotheken seines Hauses abge löst. „Man muß", lautete die Schlußfolgerung der Spionagefahnder, „die Burschen gekauft haben. Für einen stolzen Betrag." „Aber wer kaufte sie, und wofür?" „ Gewiß nicht für eine Betriebsanleitung der uralten Galaxy, Fünf Millionen Dollar zahlt man nur für etwas ganz Großes." Das war der Tag, an dem das FBI in Alarmzu stand geriet.
Wovon man im FBI-Büro in Washington zu dieser Stunde noch nicht wußte, war ein Sabotageversuch auf Edward Base. Zur Ausführung war es nicht gekommen, denn man hatte den Agenten ertappt, noch ehe er sich Zugang zu den Bombenbunkern verschaffen konnte. Nur eines stand fest: Es handelte sich um eine Person weiblichen Geschlechts, etwa fünfundzwan zig Jahre alt, Hautfarbe mittelbraun, vermutlich arabischer Rasse. Mehr als ihren Namen Lyla gab sie nicht preis. Außerdem behauptete sie, weder Spionin noch Terroristin zu sein. Die Sache war ziemlich rätselhaft. Wie zum Beispiel war dieses Mädchen überhaupt 96
in der Lage gewesen, die äußerst strengen Sicher heitskontrollen zu überwinden? Sie wurde nach Washington gebracht und dort pausenlos verhört. Doch ebenso hätte man einen Holzklotz von 170 x 45 Zentimeter verhören kön nen. - Die Araberin Lyla schwieg beharrlich. Obwohl beide Vorkommnisse, sowohl der Mord an den fünf Galaxy-Fliegern als auch die Fest nahme von Lyla mit top-secret belegt wurden, schien etwas durchgesickert zu sein. Jedenfalls erhielt der Hauptsachbearbeiter bei der CIA am nächsten Morgen einen Anruf. Der Anrufer nannte seinen Namen nicht, schien den Sachbearbeiter aber zu kennen. Und dem Major war es, als kenne auch er die Stimme des Unbe kannten. Das Gespräch, auf Band mitgeschnitten, lautete wie folgt: „Hallo, Major Brisbane! Es geht um Lyla." „Wer sind Sie?" „Mister Nobody", kam es von sehr weit her. „Was ist Ihnen wichtiger, Major, meine Identität oder was ich weiß? Ich kann auch auflegen." „Los, reden Sie, Mann!" Der Anrufer sagte: „Ich kenne Lyla. Sie gehört einer palästinensi schen Organisation an. Sie mag neugierig sein, aber sie ist keine Terroristin. Sie wollte Ihr A-BombenDepot gewiß nicht sprengen." „Sondern?" Der Unbekannte versuchte, sich kurz und so klar wie möglich zu fassen. „Sie interessiert sich nur für Ihre neue GigaBombe, für Moby Dick." Da es so gut wie unmöglich war, daß Außenste hende davon wußten, erklärte Brisbane: 97
„Es gibt keine Giga-Bombe dieses Namens." „Ob ja oder nein, wie auch immer", erwiderte der Anrufer. „Entscheidend ist nur, ob diese Bombe unversehrt Ihren Tiefbunker erreichte." „Das ist doch alles Gequassel. Was auch immer im Bunker liegen mag, kein Unbefugter hat es je berührt." „Sind Sie da absolut sicher, Major Brisbane?" „Zum Teufel, hat man es hier nur noch mit Wahnsinnigen zu tun?" „Vielleicht. Aber ich würde es trotzdem überprü fen", riet der Anrufer. „Hören Sie, Mann!" schäumte der CIA-Major. „Sorry, wir müssen jetzt Schluß machen. Sie hören wieder von mir, Major Brisbane." Der andere legte auf. Das Gespräch war beendet. Der Telefonzentrale des US-Geheimdienstes in Langley bei Washington gelang es nicht festzustel len, woher das Gespräch kam. Man vermutete, aus Übersee. Aber die Verantwortlichen waren nun erheblich irritiert. Woher konnte, wer auch immer, erfahren haben, was in Edward Base passiert war?
13. Der Herbst kam früh in diesem Jahr, und mit ihm kamen die Vorboten des Winters. Kälte in Tokio bedeutete Nebellage in Hokkaido und Frost bei Kap Wakkanai im Norden, wo die Japanischen Inseln endeten. Ein Fischkutter, anders gebaut als die japani schen, meldete am Abend seeklar. Der Mast stand weiter vorn, denn dieser Kutter 98
benutzte ein altmodisches Fanggerät. Und statt der frohen Farben der Japaner war er in einem ins Schwarze gehenden Dunkelbraun getönt. „Offenbar gibt es bei den Russen nur diese Farbe", sagte der Werftbesitzer, ein Mann, der dem Nippon-Club nahestand. Sein Besucher, ein Bankier aus Tokio - er hieß Buto-San und war Organisator irgendeiner geheim nisvollen Sache -, fragte: „Garantieren Sie, daß es unseren Leuten nicht so ergeht wie den Russen, als sie den Kutter im Sturm verloren?" „Der Rumpf ist aus Eiche. Eiche ist besser als Eisen und praktisch unzerstörbar. Die Russen verloren den Kutter nur, weil der Motor ausgefallen war und damit die Pumpen." „Ein Schiff aus Holz, kann es denn überhaupt sinken?" „Segelschiffe gingen ja auch unter, Buto-San", antwortete der Werftbesitzer. „Die Russen hatten einen guten Fang hinter sich. Die Laderäume waren voll bis zum Rand. Der Sturm fetzte ihnen die Persenning weg, und der Kutter nahm Wasser von oben. Sie brachten die Ladung nicht mehr von Bord. Also verließen sie den sinkenden Kutter mit dem Beiboot. Das mag verfrüht gewesen sein. Der Kutter soff nicht ab, sondern trieb durch den Tatarischen Sund nach Südosten in unsere Ge wässer." „Er muß durchhalten. Er hat eine lange, gefährli che Reise vor sich", forderte der elegante Bankier aus Tokio. „Wir haben einen Suzuki-Diesel eingebaut. Der russische war nicht mehr zu reparieren." „Wie schnell ist der Kutter damit?" 99
„Mit dem Turbo-Diesel schafft er zwölf Meilen in der Stunde und läuft den alten Kähnen, die die Russen als Küstenwachfahrzeuge einsetzen, auf und davon." „Und Holz ist schlecht für Radar?" „Oder anders, Radar taugt wenig gegen Holz." Der Kutter wurde von der ausgesuchten Besat zung übernommen. Sie konnte über Radar-, Funk und andere moderne Geräte der japanischen Elek tronikindustrie verfügen. Aber auch eine russische Flagge, rot, mit Hammer und Sichel, lag im Spind des Kapitäns bereit. In der Dunkelheit verholte der Kutter vom Werftgelände in eine leere Ecke des Hafenbeckens. Dort senkte der Portalkran einen Container in den Laderaum, wo dreißig Jahre lang nichts anderes als Fische gelegen hatten. Fisch in Eis, bestimmt für die großen Städte Westrußlands, für Moskau, Gorki, Minsk und Wolgograd. Der Container wurde so verzurrt, daß er die Bewegungen des Kutters mitmachen, sich aber nicht losreißen konnte. Sie schalten die Lücke dicht. Buto-San verschwand mit dem Kapitän in des sen Kajüte und erteilte letzte Anweisungen. Erst jetzt entrollte er eine Spezialkarte, die jenen Punkt verzeichnete, wo der Container an Land zu setzen war. Ergänzend bekam der Kapitän noch Fotos des Küstenstriches, präzise Angaben über Wassertiefe, Gezeitenhöhen und Meeresströmungen. Der Kapitän maß mit dem Zirkel die Distanzen und griff am Unterrand die Seemeilen ab. Von der Stabsstelle in Tokio war die Entfernung schon genau berechnet worden. „Siebenhundert Meilen", sagte Buto-San. 100
„Drei Tage", schätzte der Kapitän. „Wenn Sie zehn Knoten laufen. Aber der Strom setzt vom Ochotskischen Meer in die Japanische See herunter, also gegen Sie. Außerdem müssen Sie bei Tageslicht in Deckung einer verschwiegenen Bucht ankern." „Um diese Jahreszeit ist es da oben acht Stunden hell. Doch bei der vorherrschenden Nebellage hält uns das höchstens vier Stunden auf. Rechnen wir einen Tag für die Tarnung und einen halben wegen des Stroms." „Plus einen halben für den Fall, daß Sie ungün stige Tiden antreffen. Also fünf Tage." „Steht das Übernahmekommando bereit?" wollte der Kutterkapitän wissen. „Ab Freitag", sagte der verantwortliche Organi sator. „Ein U-Boot hat sie bei Kap Ocha abge setzt. " „Dann müssen sie sich nach Süden bis zur Meerenge von Nikolajewsk durchschlagen. Das sind mehr als hundert Kilometer durch Urwälder, Sümpfe, Gebirge, unwegsames Gelände." „Sie sind entsprechend ausgerüstet." „Auch mit Hebezeug?" „Das war das Problem", gestand Buto-San. „Aber nach neuesten Luftaufnahmen gibt es in der Nähe eine sowjetische Ölbohrstation. Dort besor gen sie sich das Nötige." Der Kapitän zog die Stirn in Falten. „Eine verdammt deutliche Spur", befürchtete er, „ziehen die da." „Bis die Rote Armee zur Stelle ist, haben wir den Fisch in der Pfanne", hoffte der Mann aus Tokio. „Sobald der Container an Land ist, sorgen wir dafür, daß er von der Erdoberfläche verschwindet. Sie laufen dann sofort mit Volldampf nach Süden." 101
„Und das Kommando an Land? Muß es nach getaner Arbeit Harakiri begehen?" „Es wird sich samt Moby Dick unsichtbar machen", deutete der Organisator an. „Da brauchen Sie verdammt große Tarnnetze, Buto-San. Wenn die Russen erst mal etwas spitz kriegen, kehren sie auf Sachalin das Unterste zuoberst." „Denken Sie nur an Ihre Aufgabe", forderte Buto-San. „Kehren Sie heil zurück. - Und wenn man Sie kriegen sollte, dann wissen Sie nichts." „Ich weiß wirklich nichts", beteuerte der Kutter kapitän. Das Wetter entwickelte sich insofern günstig, als es immer schlechter wurde. Noch vor Mitternacht verließ der Kutter Wakkanai und trat seine gefähr liche Reise an.
Eine Woche später, nachdem sie zwei Nächte lang vergebens auf das vereinbarte Signal von Land gewartet hatten, konnten die Kutterleute ihre heiße Ladung loswerden. Angeblich hatte es Schwierigkeiten mit den Russen an der Ölbohrstation gegeben. Sie hatten das Material und die Fahrzeuge nicht freiwillig herausgerückt, außerdem waren sie schwer bewaffnet gewesen. Sie mußten niedergekämpft und ihre Funkstation mußte zerstört werden. Bei Dunkelheit war der Kutter in die Bucht eingelaufen und noch vier Meilen den Fluß hinauf, bis zu dem alten Sägewerkanleger, der auf hölzer nen Stelzen in den Fluß ragte. Dann hatten sie noch einmal zwei Stunden warten müssen, bis das 102
Hochwasser auflief und der Kran-LKW nahe genug an den Kutter herankam. Das Entladen dauerte bis zur Morgendämme rung. „Sie werden hinter euch her sein", warnte der Kutterkapitän den Pionieroffizier, der das Kom mando führte. „Wir verschwinden jetzt. In einer Stunde sind wir nicht mehr auffindbar. Sehen Sie zu, daß auch Sie klarkommen." Der LKW mit dem Container schaukelte in den Wald hinein. Der Kutter warf die Leinen los und lief wieder seewärts. Südlich der Meerenge, die hier nur vier Kilome ter breit war, funkelten die Lichter vom russischen Festland herüber. Mit Maximalgeschwindigkeit pflügte der Kutter auf Kurs 206 Grad die See. Der Kapitän dampfte auch bei Tag weiter, denn die Nebellage deckte ihre Flucht. Später, als der Nebel sich auflöste, hielten sie sich dicht unter der Festlandküste. Gegen Abend peilten sie schon Alexandrowsk querab. Und am Morgen Sowjetskaja an Steuer bord. Es ging noch weitere zwanzig Stunden gut. Die drei Kutterleute glaubten schon, sie könnten ihre japanische Heimat riechen. Deshalb setzten sie den vereinbarten Funkspruch ab. Doch nun klarte es auf. Sonne fiel in Streifen auf die grüne, kaum bewegte See. „Es läuft bestens", sagte der Kutterkapitän. „Wir sind schon in internationalen Gewässern. Direktkurs jetzt auf Wakkanai. Ich haue mich aufs Ohr. Bis später." Der Kapitän war gerade eingeschlafen, als etwas 103
ihn weckte. Der Motor lief nicht mehr. Sie hatten gestoppt. Er zog die Jacke über den Troyer und stieg an Deck. Kaum eine Kabellänge entfernt an Backbord lag ein riesiges schwarzglänzendes Ungetüm aus Stahl, ähnlich einem überdimensionalen Walfisch mit einem Höcker auf dem Buckel. Vom Turm des sowjetischen U-Bootes kamen Blinksignale herüber. Zusätzlich schössen sie mit Maschinenwaffen vor den Kutterbug. Das Atom-U-Boot — die Japaner hatten nie zuvor eines dieser Größe gesehen - hatte minde stens zehntausend Tonnen. Allein der Teil über Wasser maß leicht hundert Meter in der Länge. Die Russen hievten ein Schlauchboot aus dem Luk und bliesen es prall. Ein Kommando, fünf Mann und ein Offizier, fuhren herüber. Die Matrosen und der Offizier, alle in schwarzem U-Boot-Lederzeug, stiegen an Deck. Der Russe stellte Fragen, die der Japaner nicht beantwortete. Er verstand angeblich kein Russisch. „Ein Sachalin-Kutter, besetzt mit Japanern", sagte der Russe jetzt auf englisch. „Das stinkt verteufelt nach Agenten und Spionen." „Das hier ist freie See", protestierte der Kutter kapitän. Unbeeindruckt suchten die Russen den Kutter ab. Sie fanden Fisch in Konserven, aber sonst kein Pfund. Sie entdeckten die russische Flagge, den neuen Isuzu-Diesel und die moderne Elektronik. Der Kapitän und seine Männer wußten, was ihnen bevorstand. Man würde sie auf das U-Boot schleppen, sie in der Flottenbasis Wladiwostok verhören, quälen und foltern. Irgendwann würden sie reden und vermutlich erschossen werden — 104
oder in einem sibirischen Straflager elend zugrunde gehen. Der Kapitän machte seinen Leuten ein bestimm tes Geheimzeichen. So gelang es ihnen, die Todes kapseln zu schlucken. Sie enthielten einen Wirk stoff, der binnen weniger Sekunden nahezu schmerzlos tötete. Sie keuchten, rangen nach Luft und brachen zusammen. Ihre Glieder zuckten wie unter Stark strom, und schon war es aus. Dem Kapitän schlug der Brisenoffizier in letzter Sekunde die Zyankalikapsel aus der Hand. Ver zweifelt griff der Kapitän einen Matrosen an. Er entriß ihm das entermesserartige Bajonett, das er am Gürtel trug, stieß es sich unter dem Rippenbo gen in den Leib und zog es schräg nach unten bis zum Hüftknochen. Er lebte noch einige Zeit. Als der U-Boot-Arzt ihn endlich in seiner Station hatte, war er verblu tet.
14. In den Tiefbunkern unter der Edward Base wurden sämtliche nuklearen Sprengsätze kontrolliert. Bei den Wasserstoff-Waffen, Lagerbeständen der zweiten Generation also, bis zur dritten Genera tion, den Bomben mit Kobaltmantel, begnügte man sich mit dem Augenschein. Die Verantwortlichen wußten, daß, wenn es ein Problem gab, dies bei Moby Dick auftauchen würde. In Schutzanzügen betraten die Ingenieure die Klimakammer. Dort gingen sie streng nach der Checkliste vor. Sie prüften die Radioaktivität, 105
prüften die codierte Beschriftung, die Außenan schlüsse und die Wartungsklappen. Bis auf die Angaben des Geigerzählers, sie lagen unter der Norm für diesen neuen Bombentyp, gab es nichts zu beanstanden. Die Mannschaft zog sich zurück und wartete, bis der Chefkonstrukteur und sein Team aus Los Alamos angeflogen kamen. Bevor sie sich an die Demontage von Moby Dick machten, erklärte der Vater der Bombe, wie sie vorgehen mußten, Schritt für Schritt, Handgriff um Handgriff. Die Waffen ingenieure von Edward Base wußten bis heute nur wenig über die Technik der Bombe und hatten nie zuvor eine gesehen. „Ich nenne sie die Kristall-Bombe", erklärte der Konstrukteur. „Das wirksame Nuklear-Element sind Kobalt-Zyankali-Kristalle, amethystfarben. (CN)6-K-Wasserstoff Chemische Formel H3CO säure. Sie umgibt als Mantel einen normalen UranA-Sprengsatz in der üblichen Technik. Kompliziert ist der Zünder. Aber heute haben wir ja alles digitalisiert." „Und die Wirkung?" fragte einer von Edward Base. Der Konstrukteur lächelte bei dieser Frage. „Ist etwa eine millionmal stärker als alle Sprengstoffe, die im zweiten Weltkrieg gezündet wurden. Einschließlich der Bomben auf Nagasaki und Hiroschima." „Mein Gott!" flüsterte jemand andächtig. „In der Tat, man könnte ein schönes Stück vom Globus wegputzen. Der Rest wäre dann nicht mehr viel wert." Ein anderer fragte: „Ist das Ding überhaupt einzusetzen? Gibt es dann noch ein Überleben?" 106
„Wer spricht von Einsatz", entgegnete der Mann aus Los Alamos verblüfft. „Allein ihre Existenz ist Abschreckung genug. Die ganze Atombomberei ist nur noch Abschreckung. Ein Atombombenkrieg wäre Selbstmord. - Gehen wir ans Werk, Gent lemen! " In einer stundenlangen Prozedur, deren Schwie rigkeitsgrad mit der Transplantation aller mensch lichen Organe zu vergleichen war, öffneten sie die Hülle der Giga-Bombe und sahen bald, was los war. Starr vor Schreck stellten sie fest, daß die komplette Hochtechnologie der Bombe nur aus einem großen Stück Schamott bestand. Der Schamottklumpen, dimensioniert wie ein japanischer Kleinwagen, war gegen die Innen wände abgestützt und schien sie teuflisch anzu grinsen. „Nicht einmal Beton haben sie verwendet, son dern nur getrockneten Lehm." „Und für die Hülle billigen Aluguß." „Wer, zum Teufel. . .?" Der Konstrukteur sprach nicht weiter. Angeekelt warf er sein Werkzeug aus Titanstahl weg. „Und wo, zum Teufel?" ergänzte der anwesende Sicherheitsoffizier. „In Los Alamos verließ das Original die Fabrik. Dafür gibt es Zeugen, Videoprotokolle, Meßdaten, Wiegekarten." „Wer mag dieses äußerlich verdammt perfekte Duplikat gebastelt haben?" „Vielleicht finden wir Hinweise am Material." Einer flüsterte dem Konstrukteur zu: „Das können nur Japaner gewesen sein, Sir. Man hört da einiges." Das Los-Alamos-Team hatte seine Arbeit been 107
det. Der Chefkonstrukteur streifte die Handschuhe ab und warf sie verächtlich in eine Mülltonne. Dann zog er den Sicherheitschef von Edward Base beiseite. „Sie ist hier vertauscht worden, Major." „Unmöglich. Der Weg von der Galaxy in den Bunker wurde lückenlos überwacht. Hier kommt keine Mikrobe lebend herein oder heraus." „Dann muß es während des Transportes passiert sein." Die Flugprotokolle der Sunrise-Galaxy wurden überprüft. Sie hatte sich um vierzig Minuten verspätet. Angeblich wegen Umfliegens einer Gewitterzone in Verbindung mit einem Hydraulik schaden. „Genug Zeit, um zu landen", kommentierte der Sicherheitsoffizier. „Und um die Ladung zu vertauschen." „Das war eine generalstabsmäßig vorbereitete Operation." Nur eine Frage konnte niemand beantworten: Nach welchen Unterlagen war es den Kopisten möglich gewesen, das Äußere von Moby Dick derart täuschend ähnlich zu gestalten? Die Antwort darauf überließen sie FBI und den Geheimdiensten.
Die Verhöre fanden im CIA-Hauptquartier Lang ley bei Washington statt. Sie dauerten schon mehrere Tage und brachten ein Ergebnis, das nahe Null lag. Da Lyla nur belanglose Fragen beantwortete, auf gefährliche jedoch hartnäckig schwieg und man allmählich zu der Überzeugung kam, daß es kein 108
humanes Mittel gab, um sie aufzubrechen, griff man zu einer anderen Methode, Man folterte sie nicht, gab ihr auch keine Wahrheitsdrogen, sondern wählte eine neue Tak tik. - Dabei bediente man sich der Hilfe eines Mannes, der die Libanesin besser kannte. Auch an diesem späten Oktoberabend saß Lyla wieder in einem der schlichten Verhörräume auf einem Stuhl im grellen Licht der Halogenlampen. Sie sah wenig von dem, was um sie herum vorging. Wie immer begann der Verhörpsychologe mit seiner Litanei: „Name?" „Lyla." „Familienname?" „Lyla." „Geboren wann?" „Lyla." „Wohnhaft wo?" „Lyla." Es war so hoffnungslos wie in der Taubstum menanstalt. Auf die Fragen: Zu welcher Organisation gehö ren Sie? Wie heißen die Führer der Organisation, was sind ihre Pläne, ihre Ziele? - Auf hundert Fragen immer nur eine Antwort: „Lyla." Dann erfolgte die übliche Drohung. „Wir werden Sie isolieren, Lyla, bis Sie reden. Vielleicht reden Sie in diesem Jahrzehnt noch nicht, auch nicht im nächsten, aber wenn ich alt bin und in Pension gehe, tritt ein anderer an meine Stelle. Und eines Tages . . . " „Keines Tages", reagierte Lyla, was alle über raschte. Man glaubte, eine winzige Ritze sei in diesem Felsgestein entstanden, und machte weiter. 109
„Sie waren dabei, einen Sabotageakt zu ver üben." „Lyla." „Sie drangen in den strengbewachten Hochsi cherheitsbereich von Edward Base ein. Das ist ein todeswürdiges Verbrechen. Sagen Sie uns den Grund, und man könnte über mildernde Umstände reden." Der Psychologe verlor die Kontenance. „Noch einmal dieses verdammte Lyla, und ich schlage dir die Visage blutig." „Dann, Sir, leben Sie nicht mehr lange, Sir", entgegnete sie. Offenbar wurde die Ritze im Felsgestein breiter. Der Verhörpsychologe legte wieder die freundli che Platte auf. „Lyla, um was ging es Ihnen in Edward Base?" „Nur darum, ob Ihre Moby Dick noch vorhanden ist." „Was wissen Sie von Moby Dick, Lyla?" „Mehr, als Sie glauben, Sie ahnungsloser Ba stard." „Woher beziehen Sie Ihr Wissen?" „Lyla." „Wenn Sie uns das nicht erklären, dann sind Sie als Spionin und Agentin, die gegen die Sicherheit dieses Staates arbeitet überführt. Also, woher wissen Sie von Moby Dick?" Lyla öffnete die Lippen und schloß sie wieder, wie um nachzudenken. Als sie erneut mit „Lyla" antworten wollte, kam ihr jemand zuvor. Aus dem für Lyla diffus verschwommenen Hin tergrund des Raumes kam die Antwort. „Von mir weiß sie es." Das Verhör wurde sofort abgebrochen. 110
Die Araberin kam zurück in ihre Zelle. Die Verhörlampen wurden aus- und die Deckenbe leuchtung eingeschaltet. Die anwesenden CIA-Experten musterten ihren Hausgast, einen bärtigen blonden Zivilisten. „Was soll das, Colonel Urban?" „Es ist die angekündigte Überraschung." „Und, zum Teufel, woher wissen Sie von Moby Dick?" „Vom sowjetischen Geheimdienst KGB." Es wurde so still, daß man zu hören glaubte, wie die Kakteen ihre Stacheln wegspreizten. „Und der KGB?" „Aus seinem fernöstlichen Netz." „Das ist vor kurzem so gut wie aufgeflogen." „Sie stellten Analysen und Kombinationen an. Lyla belauschte ein Gespräch zwischen mir und einem KGB-General." „Sie arbeiten also für den Roten Stern?" „Ich wurde dazu gezwungen." „Mann", stöhnte einer. „Sind wir denn schon von allen Göttern verlassen?" „Menschen", erklärte Urban, „die wiederum Menschen hervorbringen, die ein Instrument bauen, um damit die Erde zu pulverisieren, die sind in der Tat von allen Göttern verlassen." „Wissenschaftler tun für Geld alles, was man von ihnen verlangt." „Dagegen sollte es ein Gesetz geben", bemerkte Urban bitter. Fragen hämmerten auf ihn ein. Er konnte und wollte nicht alle beantworten. Aber sämtliche Fragen liefen nur auf eines hinaus: Wer hat die einzige echte Moby Dick? Ohne Rührung, wie ein Zuschauer auf der Tri büne eines leeren Baseballstadions, sagte Urban: 111
„Ich werde es bald wissen."
„Woher?"
„Das ist top-secret, Gentlemen, und wurde so
zwischen mir und dem Pentagon abgesprochen." „Wahnsinn!" stöhnte ein CIA-Direktor. „Alles Wahnsinn. Wie lange kann das dauern?" „Kommt unter anderem darauf an", erwiderte Urban, „wann Sie Lyla freilassen." „Diese Kanaille?" „Richtig. Diese Kanaille." „Was kann diese Satansbrut dabei nützen?" „Ich weiß es nicht", gestand Urban. „Aber ich bekam zu spüren, daß sie mir immer einen Schritt voraus war. Stets war sie vor mir an der Stelle, wo es weiterging. Die Organisation, die hinter ihr steht, ist nicht zu unterschätzen. Sie stützt sich auf Freiheitskämpfer in aller Welt. Ich hoffe, daß sie mir auch diesmal weiterhilft, Gentlemen." „Und wie soll das in der Praxis aussehen, bitte?" „Ich tauche wieder ab", erklärte Urban, „denn der Hauptgegner, die Japaner, wissen noch nichts von mir." „Auch wir wissen nichts von Ihnen, damit das klar ist." „Sie dürfen, Gentlemen", räumte Urban ein, „mein Hauptquartier davon unterrichten, daß ich noch lebe." „Wie lange wollen Sie so weitermachen?" „Das", befürchtete Urban, „steht nicht einmal in den Sternen." 15. Die Party war exklusiv. Die Stimmung eher schlecht. Hohe Militärs, Politiker, Geheimdienstleute und 112
Verwaltungsbeamte standen im Casino des Amtes für Strategische Forschung in der Moskauer Gor kistraße herum. Sie hatten dem Vortrag eines Professors gelauscht, der behauptete, er wüßte alles, aber auch alles bis zum Jahr dreitausend. Jetzt fing der inoffizielle Teil und damit die Sauferei an. Die prominentesten Leute waren die aus der Wirtschaft. Sie hatten die besten Universitäten des Landes absolviert, kleideten sich nach westlichem Schnitt und konnten sich in New York ebenso sicher bewegen wie in Nowossibirsk. Nur die Sowjetunion aus ihrem wirtschaftlichen Fiasko herauszuführen war ihnen bisher nicht gelungen. Dann gab es auch einen Mann in Generalsuni form. Er sah unrasiert aus und wirkte zerzaust wie ein Bär nach einem harten Winter. - Er haßte es, intellektuell zu diskutieren, liebte mehr zotige Witzeleien. Aber er hatte Sachverstand, Energie, Bauernschläue und hielt sich gern an einer Flasche Gras-Wodka fest. In einem Punkt erging es ihm wie den feinen Pinkeln aus der Verwaltung: Er hatte ein riesiges Problem, das sich zu einer Katastrophe auswach sen konnte, denn es gab keine Lösung dafür. Ein Diener in weißem Jackett betrat das Casino. Er trug ausnahmsweise kein Tablett mit gefüllten Wodkagläsern, sondern suchte einen der Gäste. Als er ihn links in der Ecke entdeckt hatte, bahnte er sich den Weg zu ihm. Als er vor ihm stand, meldete er so laut, daß man es im Partylärm gerade noch mitbekam: „Telefon, General Krischnin." „Unmöglich." „Irrtum ausgeschlossen. Das Telefon steht im Büro des Direktors." 113
„Und wer weiß, daß ich hier bin?" „Der Außenminister offensichtlich, Genosse Ge neral." Krischnin stellte das halbleere Wodkaglas ab, unterbrach mit Bedauern das Gespräch mit dem Luftmarschall und folgte dem Casinobediensteten. Es ging ein Stockwerk höher durch einen langen Gang und an dessen Ende in das feudale Zimmer des Amtschefs. Die kostbaren Möbel stammten noch von dem Neffen des Zaren, einem Großfür sten, dem das Palais vor siebzig Jahren gehört hatte. Der Hörer lag auf der mit Intarsien verzierten Edelholzplatte des Schreibtisches. Mit seinen behaarten Pranken nahm Krischnin ihn auf, ohne ihn zu zerdrücken. „Was gibt's?" Der Minister faßte sich so kurz wie der General. „Das erste Ultimatum ist eingelaufen. Soeben mit Telex. Via Tokio." „Es kommt so pünktlich wie der Furz nach einer Borschtschmahlzeit", bemerkte der General. „Haben Sie damit gerechnet, Igor?" „Leider. Und wie ist der Wortlaut, bitte, Stepa nowitsch?" Der Minister las es nicht vor, sondern gab eine kurze Zusammenfassung. „Sie stellen keine klare Forderung. Verlangen aber, daß bezüglich der Rückgabe der Kurilen und Sachalins bis zum fünfzigsten Breitengrad umge hend eine Erklärung erfolgen wird. Sonst. . ." „Das klingt fast noch höflich", meinte Krischnin, „bis auf das Wort sonst." „Und was bedeutet dieses sonst?" wollte der Minister wissen. „Geheimdienstmäßig betrachtet." „Sonst im Sinne von ansonsten." 114
„Und was bedeutet ansonsten?" „Das", wich Krischnin aus, „müssen wir jetzt analysieren." „Reichlich spät, fürchte ich." „Die nächsten Satellitenfotos liegen erst morgen vor." „Im Vertrauen, Igor, was, glauben Sie, kommt bei der Analyse heraus?" Krischnin, weder Schwarzmaler noch Schönfär ber, schockte besonders Politbüromitglieder gern mit der Wahrheit. „Daß wir die Inseln vergessen können", sagte er.
Die Lagebeurteilung ließ das Schlimmste befürch ten. Der General hörte sich die Ergebnisse an, dann stellte er gezielte Fragen. „Warum brachte das U-Boot den Kutter so spät auf?" „Unser Netz war nicht eng genug für diese Laus." „Bitte um Klartext. Der japanische Kutterkapi tän war schlauer. Und schneller wie mir scheint. Er beging Harakiri." „Also hatten sie etwas zu verschweigen." „Und warum hinderte das U-Boot-Kommando die Kutterleute nicht daran? Unsere Marine war nicht nur dusseliger, sondern auch langsamer. Aber reden wir nicht mehr darüber. Diese Chance ist vertan." Krischnin wandte sich den Satellitenaufnahmen zu. „Von wann sind sie?" „Kosmos-Hundert hat sie im Abstand von vier 115
undzwanzig Stunden geknipst. Beginnend am Sonntag." Die Fotos stammten aus der streng geheimen Weltraumkamera, der MK-4, die eine Auflösung von wenigen Metern hatte. „Was unter dem Betrachtungsgerät gerade noch zu erkennen ist, hat in der Natur eine Größe von etwa vier Metern", erklärte der Auswerter. „Weiß ich!" schnauzte Krischnin. „Auf der vorletzten Aufnahme sehen wir den Kutter deutlich. Er ankert oberhalb einer Bucht nahe der Meerenge, etwa zwei Meilen flußaufwärts am alten Sägewerkanleger." Der General erkannte die Umrisse unter der Lupe. Das Foto war aus siebenhundert Kilometern Höhe von einem Kosmos-Satelliten geschossen worden, zeigte aber nur den Kutter und sonst nichts. Weder einen Container noch Fahrzeuge. „Die Infrarotkameras haben noch Wärmespuren der Motoren erfaßt und die Abdrücke von Reifen." „Von geklauten Fahrzeuge von der Bohrstation." Krischnin fluchte anhaltend. „Verdammt, ver dammt, haben die sich denn in Luft aufgelöst?" Was vom Kutter angelandet worden war, dar über hatte der General wenig Zweifel. Aber wohin hatte man es gebracht? „Wir haben jedes Fünfmeterquadrat überprüft", hieß es. „Ergebnis?" zischte Krischnin unfreundlich. „Ich will Ihnen etwas erzählen, Genosse Doktor: Der Bau dieser Kameras, das ganze System von Beob achtungssatelliten, kostet uns im Jahr eine Mil liarde Rubel. Was nützt es uns, wenn wir die neue Panzertaktik der Israelis in der Negev-Wüste beobachten, Sprengstoffabriken ausschnüffeln, Bomberstützpunkte, Waffendepots, Kasernen, 116
Marinebasen erkennen, wenn ich das, was ich wirklich brauche, nicht kriege? — Man versichert mir ständig, die Sensoren dringen durch Nacht, Nebel und Wolken und erfassen einen Radfahrer — also bitte, wo sind die Lastwagen? Haben sie sich wie Maulwürfe in den Tundraboden gegraben?" Es blieb in der Tat rätselhaft, wo das japanische Kommando abgeblieben war. Der General sprach mit einem Mann in der KGB-Zentrale, der selbst schon Sachalineinsätze hinter sich hatte. „Gibt es im Küstengebiet nahe der Meerenge von Nikolajewsk natürliche oder künstliche Erd höhlen?" „Leider keine einzige", lautete die Antwort. „Und woher wollen Sie das wissen?" „Man hätte sie zur Zaren- und zur Stalinzeit, als die Straflager dort überfüllt waren, als Unter künfte für den Winter benutzt. Zehntausende wären dann nicht Jämmerlich zugrunde gegangen." Noch ein Gespräch führte Igor Krischnin, und zwar mit dem Chefanalysator für den Bereich Fernost. „Angenommen", sagte er, „eine japanische Fana tikergruppe ginge soweit, daß sie sich eine Nukle arwaffe beschaffte, um die Inseln zurückzubom ben, was fällt Ihnen dazu ein?" „Das ist unvorstellbar", wich der Analytiker aus. Der General wurde grob. „Stellen Sie es sich vor, Mann! Außerdem gehört es zu Ihrem Aufgabengebiet, sich das längst vorge stellt zu haben. Also, eine der größten jemals gebauten H-Bomben fällt auf Nordsachalin. Was passiert dann?" Der Wissenschaftler zählte aus dem Kopf ein paar naheliegende Binsenweisheiten auf. 117
„Inseln kann man nicht zerstören", sagte er. „Aber durch Strahlung unbewohnbar machen. Die Bodenschätze sind nicht mehr abbaubar, die Meere verseucht." „Für wie lange?" „Mehrere hundert Jahre lang. Ganz abgesehen von der Wirkung des Fallout auf ganz Ostasien. Da leben Milliarden von Menschen." „Nur Menschen", bemerkte Krischnin verächt lich. „Aber warum nur, zum Teufel, haben sie sich einen Experten für Kanal- und Tunnelbau und einen Meeresgeologen geholt?" Der Analytiker mußte ihm die Antwort schuldig bleiben. Das Gespräch versetzte den General in tiefe Ratlosigkeit. Noch einmal ließ er von der Armee in Sachalin das besagte Gebiet absuchen. Dann wollte er versuchen, seinen Söldner an der einsa men Front, Robert Urban, zu erreichen. 16. Es war 9.00 Uhr morgens. Vom Michigansee herauf blies ein frischer Wind, als Ole Carlsson, alias Robert Urban, ein hohes Backsteingebäude in Chicago-City betrat. Die Michigan State Library galt auf technischem Gebiet als die bestsortierte der Welt. Dem Hang der Amerikaner entsprechend, die darin den Russen kaum nachstanden, wurden oft die unsinnigsten Dinge für geheim erklärt. Ande rerseits gab es Veröffentlichungen, für die in Europa jeder Autor des Hochverrates bezichtigt worden wäre. Urban suchte nicht nach der Zusammensetzung 118
nuklearer Sprengstoffe oder Nervengifte, sondern nach dem letzten Buch von Everett Willson. Willson galt als Topexperte auf dem Gebiet der Waffentechnik. Da er nie der US-Army oder einem Rüstungs konzern angehört hatte, war er auch nicht zur Geheimhaltung verpflichtet. Er konnte schreiben, was er als Journalist über U-Boote, Panzer, Artil lerie oder auch Atombomben zusammentrug. Vie les war Phantasie, das meiste aber beruhte auf logischer Hochrechnung bekannter Systeme. Everett Willson hatte vorhergesagt, wie die Waf fentechnik sich weiterentwickeln, wie die Kampf panzer, Flugzeuge und U-Boote der nächsten Generation aussehen würden. Und er hatte mei stens recht behalten. Willson hatte auch über die Entwicklung bei Atombomben geschrieben. Er hatte neue Wege angedeutet, hatte die Kristallbombe erwähnt und sogar Baupläne und Design in Zeichnungen darge stellt. Urban hatte versucht, Willsons Buch zu kaufen. Aber wo er auch fragte, es war vergriffen. Deshalb führte ihn sein Weg zur Michigan State Library. Er mußte seinen Paß zeigen und einen Zettel ausfüllen. Dann tippte die Bibliothekarin den Titel in ihren Computer. - Doch der blinkte. Auf dem Bildschirm stand das Negativ-Signal. „Ausgeliehen", sagte sie. „Haben Sie nur ein einziges Exemplar?" „Nein, drei Exemplare. Aber sie sind alle ausge liehen. Darf es etwas anderes in dieser Richtung sein?" „Es gibt nichts anderes in dieser Richtung", befürchtete er und überlegte. Woher konnte die unbekannte Gruppe die 119
Modellvorlage für Moby Dick gehabt haben? Ent weder aus der Konstruktionsabteilung in Los Ala mos, von einem anderen Experten oder von Everett Willson. „Schade", sagte Urban, wollte gehen und machte kehrt. „Wann erfolgte die Ausleihung?" Das Mädchen tippte die Frage ein. „Erst lag das Buch wochenlang herum, und dann die plötzliche Nachfrage. Das letzte Exemplar wurde erst in diesen Tagen ausgeliehen." „Von wem?" wollte Urban wissen. „Datenschutz", lautete die Antwort. „Sorry, Sir." Er warf seinen ganzen Charme in die Waag schale und fragte andersherum. „Waren es zufällig Japaner?" Das Mädchen zögerte erst, nickte dann aber. „Aber nicht nur Japaner, Sir." „Nicht nur Japaner. Wer also noch?" „Schon die vorletzte Anfrage konnte ich leider nicht mehr befriedigen", sagte die Bibliothekarin. „Sie kam von einer arabischen Studentin. Nun, sie verlangte dann ein anderes Buch." Urban kombinierte blitzschnell quer. „Welches?" Die Bibliothekarin holte den Titel auf den Bild schirm, nannte ihn aber nicht. „Datenschutz", erklärte sie abermals. Doch dann stutzte sie, rief noch einige Daten aus dem Speicher ab, machte die Augen schmal und schüttelte ungläubig den hübschen Lockenkopf. „Merkwürdig. Auch nach diesem Werk haben die Japaner gefragt." „Sie meinen, die Japaner wollten auch das zweite Buch, nach dem die Araberin fragte?" „In der Tat, Sir. Nun aber Schluß." 120
Urban blieb hartnäckig. „Und die Araberin bekam es nicht?" „Nur die Japaner bekamen ein Exemplar." „Für wie lange leihen Sie Bücher aus?" „Gewöhnlich überhaupt nicht. Was Sie lesen wollen, muß hier konsumiert werden. Aber gegen eine bestimmte Kaution machen wir Ausnahmen." „Die Kautionen wurden in diesem Fall hinter legt." „Richtig." „Letzte Frage", beschränkte Urban sich. „Das zweite Buch, von dem Sie sprachen, ist nicht das Waffentypenbuch von Willson. Handelt es von anderen Waffen?" Das Mädchen lachte jetzt sogar. „Nein, ganz und gar nicht." „Ist es Pornographie?" scherzte Urban etwas mühsam. „Die führen wir nicht, Sir. Es handelt sich um einen historischen Roman aus dem letzten Jahr hundert." „Titel?" Das Mädchen drückte einen Knopf, der alles löschte. „Datenschutz", bedauerte sie. „Aus und Schluß. Sie haben schon zuviel gefragt, Sir. — Der nächste, bitte!" Urban verließ die Bibliothek und trat hinaus auf die Lincoln Avenue. Der Tag fing schon mies an. Er hatte tierischen Hunger. Sein Körper war darauf eingestellt, gele gentlich Nahrung aufzunehmen. Der Knoblauchduft aus einem Türkengrill war wie ein Faustschlag für seine Nase. — Aber er hatte es nicht mehr weit zu seinem Hotel. 121
Er ließ einen Imbiß auf das Zimmer bringen. Bei Sandwiches waren die Amerikaner Spitze. Das Pastrami-Brot schmeckte exzellent, das Bier ein wenig labbrig. Gerade als er fertig war und sich eine Gauloises aus dem Bestand von Ole Carlsson angesteckt hatte, ging das Telefon. „ Mister Carlsson", platzte einer aus dem Hörer. „Erst mal, wer sind Sie bitte?" „Pardon. Mein Name ist Maxwell. Kann ich Sie sprechen?" „Ich habe wenig Zeit." „Ich verkaufe weder Versicherungen noch Haus haltsgeräte. Würde Sie gern sehen, ohne daß man uns beobachtet." „In wessen Auftrag?" fragte Urban. „Pentagon." Es hörte sich an, als hätte Mister Maxwell die Stimme gedämpft. „Und es eilt." Urban, der kaum eine Chance sah, in dem Fall weiterzukommen, andererseits aber wußte, wie sehr die Russen unter Druck standen, willigte ein. „Okay. Wann? Wo?" „Jetzt gleich, in der Tiefgarage." „Ich komme." „Dunkelgrüner Oldsmobile." „Ich werde Sie finden." Urban schlüpfte in die Carlsson-Lederjacke, schob jedoch vorsichtshalber die Urban-Mauser in den Hosenbund. Maxwell, Pentagon, ein Gespräch in der Tiefga rage, das war ungewöhnlich. Er fuhr trotzdem hinunter. Im Basement war ein ständiges Herein- und Hinausfahren. Doch nirgends stand ein grüner 122
Oldsmobile. Er fand ihn erst in der dritten, der untersten Etage. Ganz hinten lehnte ein eher kleiner Mann an der Limousine. Er hielt sein Gesicht abgewendet. Erst als Urban bis auf wenige Schritte heran war, zeigte er es. Der Mann hieß weder Maxwell, noch war er vom Pentagon. Denn die beschäftigten keine Japaner. Urban hatte etwas gewittert, doch jetzt war eine Situation eingetreten, der er sich nicht mehr zu entziehen vermochte. - Er saß in der Falle. „Mister Maxwell", höhnte er. „Aber nicht aus Washington, sondern aus Tokio. Ich bewundere Ihr akzentfreies Amerikanisch." Maxwell nahm die Hände vom Rücken, und Urban blickte in eine Kanone. Blitzschnell zog er ebenfalls blank. Aber schräg hinter ihm verlängerten sich Schatten auf dem Betonboden. Aus der Deckung von Säulen und Nischen waren zwei Männer aufgetaucht. Urban schielte nach links unten. Was er in der Hand des dritten Mannes sah, mißfiel ihm äußerst. Er hatte eine 9-Millimeter-Glock-17, diese neue, äußerst durchschlagkräftige Waffe, mit der die amerikanische Polizei jetzt ausgerüstet wurde. „Und die Hände gen Himmel!" befahl der in Weiß gekleidete Japaner. Urban ließ sie unten. Egal ob er dem Befehl nachkam oder nicht, sie waren in der Überzahl und würden ihm wohl den Garaus machen. Der Kleine am Oldsmobile sagte: „Gegen Carlsson hatten wir nichts. Aber gegen Mister Dynamit haben wir eine ganze Menge." „Mister wer, bitte?" „Dynamit." „Nie gehört." 123
Der Japaner öffnete die Fondtür. „Bitte einsteigen, Oberst Urban." Eines wußte Urban: Wenn er einstieg, war er ein toter Mann. Sie fuhren ihn hinaus zu den Docks am Michigansee. In einer stillen Ecke legten sie ihn um, schoben seine Leiche in ein Betonrohr, Deckel drauf, und ab ging die Reise hinauf nach Kanada. Verzweifelt suchte er nach einer Chance. - Schon kam der Angriff. Einer packte ihn von hinten im Würgegriff. Urban warf ihn über die Schulter, sprang zur Seite und dann zurück, immer im Zickzack. Eine Drehung, ein Schwinger in den Magen des Kleinen am Oldsmobile. - Da fiel der Schuß. Die Kugel streifte ihn nur, aber der Kolbenhieb des zweiten Mannes machte ihn für einen Moment taub von den Wimpern bis zu den Zehen. Die Japaner sahen nicht aus wie Verbrecher, eher wie Intellektuelle, aber in fanatisiertem Zustand waren sie die gefährlichsten. Sie hatten Einfälle und waren nicht kalkulierbar. Urban spürte einen kühlen Punkt im Nacken, und der Kleine, der sich Maxwell genannt hatte, zog eine Plastikfessel aus dem Hosenbund. Der zweite Japaner kam taumelnd auf die Beine und fluchte. „Verdammter Bastard! Schickt ihn auf die Reise." „Erst muß er reden." „Los, gib ihm eine Kugel! Er darf nicht über leben." Der dritte Japaner, der im weißen Anzug, mit weißem Polohemd und Dozentenbrille, bewegte den Lauf der Waffe. Doch ein metallisches Geräusch, begleitet von einer Stimme ließ ihn zögern. „Ihr würdet es nicht überleben," Es war die Stimme einer Frau. — Schon ratterte 124
ihr Sturmgewehr los. Dem heiseren Bellen nach mußte es sich um eine AK-47 handeln. Die Garbe traf einen Japaner in den Schenkel, den anderen an der Hüfte. Sie humpelten hinter die Autos in Deckung. Urban warf sich flach auf den Betonboden und robbte in den Schutz der nächsten Stützsäule. Der kleine Japaner schoß zurück. Aber nicht in Richtung der Frau mit der AK-47, sondern auf eine Stromleitung, die in einem Schalter endete. Er traf. Etwas blitzte, schmorte, und dann ging das Licht aus. „Nichts wie weg!" schrie er. Einer keuchte. Schleifende Schritte. Türen schlugen zu. Der Motor sprang an, Reifen pfiffen. Scheinwerfer blendeten auf. Der Oldsmobile wurde aus der Box herausrangiert, bumste gegen einen anderen Wagen. Vorwärtsgang und ab. Er raste vorbei nach vorn zur Rampe und schrammte um die Kurve. Der Motor heulte, dann waren sie weg. Wenig später schaltete sich die Notbeleuchtung ein. Nahe bei Urban stand Lyla. Sie blickten sich an, sagten kein Wort und fuhren hinauf in sein Zim mer.
Drei Dinge brauchte der Under-Cover-Agent Carlsson-Urban: eine Zigarette, einen Whisky und etwas gegen das Gehämmer im Schädel. Er steckte sich eine Gauloises an, goß Bourbon ein, fingerte aus der Hemdtasche einen Plastik streifen, drückte die Tablette heraus und schluckte sie. 125
„Was ist das?" „Thomapyrin." „Tom-a-pyrin? - Too me please a Pyrin", bat sie, „falls es auch gegen Heimweh hilft." „Es hilft sogar in begrenzten Maßen gegen Dummheit." „Dann nimm lieber zwei, Carlsson." Sie schafften die Flasche leicht. Obwohl Moham medanerin, war Lyla Alkohol nicht abgeneigt. „Übrigens", sagte er, „danke dir." „Du weißt, ich bin immer hinter dir her." „Trotzdem war es eine humane Tat." „Du hast mich bei der CIA herausgeholt. Jetzt sind wir quitt. Das heißt. . ." Sie zögerte und schien ein wenig zu frösteln. „Du könntest mich küssen." Er leerte sein Glas bis zum letzten Tropfen. „Dabei bleibt es meistens nicht, Kumpel." Sie stand am Kamin, drehte sich zum Spiegel, strich die Brauen mit dem befeuchteten Finger glatt und bemerkte: „Na, wennschon!" - Er tat ihr den Gefallen und küßte sie. Es war nicht so, daß sie ihn auffraß oder in die Lippen biß, aber ihr Mund hatte eine gewisse Sinnlichkeit und ihre Zunge die Hitze eines Flammenwerfers, „War nicht toll", stellte sie fest, „aber auch nicht übel," „Ja, es gibt Schlechteres." Sie schloß die dunklen Mandelaugen, als wollte sie vermeiden ihn anzusehen. Aber was sie sagen wollte, das sagte sie. „Soll ich mich ganz ausziehen?" „Wie du willst." Sie ging nicht ins Badezimmer, sondern tat es vor ihm. Erst kam der Rock, dann die Bluse, unter 126
der sie nicht mehr viel trug. Was Urban in Staunen versetzte, war der elegante Spitzenslip. Nur die Farbe fand er komisch. Er war rot. „Bist du bei der Feuerwehr?" „Lyla ist das Löschkommando für alles." Sie war nackt, rundum gleichmäßig zartbraun, hatte kleine Brüste mit dunklen Gipfeln, und unter dem Nabel trug sie einen ebenfalls dunklen Dreita gebart. Sie achtete überall auf modische Haar pflege und war eines der kultiviertesten Flinten weiber, die ihm je begegneten. Sie warf sich auf ihn und machte sich auf angenehme Weise an ihm zu schaffen. Sie hatte keine Nuttenroutine, war aber ein Naturtalent. Sie gehörte zu den Frauen, die man in den Arm nahm, sie beim ersten Ton des Orchesters über das Parkett bewegte und wußte, sie war zum Tanzen geboren. Lyla zeigte sich allen zwischenmenschlichen Beziehungen auf diesem Gebiet äußerst aufge schlossen, und weil es ein grauer regnerischer Tag war, kosteten sie es aus. Zwischendurch ließ Urban Champagner kommen. Als sie so dalagen und ihnen alles gleichgültig zu werden begann, sagte Urban auf einmal: „Erzähl mir was." „Was?" fragte sie. Er dachte an das, was sie wußte und was er nicht wußte. Aber er wollte nicht so deutlich werden. „Einen Schwank aus deiner Jugend", schlug er vor. Sie nahm es ernst und erzählte, wie sie zu den Palästinensern gekommen war. Erst hatte sie die Eltern verloren, dann in Paris studiert. In den Libanon zurückgekehrt, hatte sie mit Leuten aus der PLO und PLFO Kontakt aufgenommen, hatte 127
begeistert mitgemacht und war nicht mehr losge kommen. Mitgegangen, mitgehangen. Nun war sie als Agentin für den Bereich Europa-Nordamerika tätig. „So genau wollte ich es gar nicht wissen", sagte er. „Sondern?" Sie drehte sich um und holte etwas aus ihrer Tasche, die sie stets trug und ohne die er sie nur einmal gesehen hatte. „Sondern vielleicht das?" Sie reichte ihm ein Buch. Es hatte einen Halble dereinband, war äußerst morbide und gewiß uralt. Er öffnete den Deckel. Die Seiten sahen aus wie von Säure zerfressen, Der Text war kaum lesbar. Der Titel des Buches ließ sich vielleicht entziffern, weil er in die Deckelpappe eingeprägt worden war. Aber Urban hatte Mühe damit. „Ein Roman?" „Von Prestinow." „Nie gehört." „Er hatte", erklärte sie, „um die Jahrhundert wende in Rußland eine ähnliche Bedeutung wie Dumas in Frankreich." „Der Titel ist nicht Der Graf von Monte Chri sto", bemerkte Urban, „auch nicht Die drei Muske tiere, sondern . . . moment mal." Er hielt den Buchdeckel schräg ans Licht und buchstabierte. „Der Gefangene von Sachalin." „Stimmt. Eine Art Gulag-Roman. Leider nicht mehr lesbar." Urban brauchte nicht zu fragen, woher sie das Buch hatte, Lyla sagte es ihm freimütig. „In der State Library fragten Japaner nach zwei Büchern, nach dem neuen Willson und diesem da. Sie waren nicht mehr zu bekommen. Ich graste die 128
Antiquariate ab und fand am Ende nur noch dieses Exemplar." „Von Säure zerfressen", vermutete Urban. „Eine schon ältere Zerstörung." „Keine Säure", widersprach die Libanesin. „Sie verwendeten damals schlechtes Papier. Es ist ein ganz normaler Prozeß. Es löst sich auf. Vergiß nicht, es wurde vor neunzig Jahren gedruckt. - In Rußand." „Vor achtzig Jahren", verbesserte Urban, „in England. Es ist eine Übersetzung." „Egal. Es ist unleserlich. Die Seiten zerfallen." „Aber es hatte wohl eine gewisse Bedeutung. Hätten es die Japaner sonst aus der Bibliothek mitgenommen?" „Der Roman behandelt das Leben eines Mannes, der gegen das Regime des Zaren kämpfte." „Es muß eine Stelle darin geben, die man uns verheimlichen möchte." „Aber welche?" Urban griff über Lylas Busen hinweg zum Tele fon und wählte eine lange Nummer. Er rief nach München zum BND-Hauptquartier. Seit vielen Wochen meldete er sich dort zum ersten Mal wieder und erteilte sofort einen Auf trag. Sie sollten ein Exemplar von Prestinows Roman Der Gefangene von Sachalin für ihn aus findig machen. Er legte auf und steckte sich eine Gouloises an. „Das kann dauern", befürchtete er. „Wir lassen uns die Zeit schon nicht lang wer den, oder?" sagte Lyla.
129
17.
Das BND-Hauptquartier, von der CIA bereits unterrichtet, leistete seinem Agenten jede nur mögliche Hilfestellung. Auch wenn er unter frem der Flagge segelte. Die Experten durchstöberten Literaturverzeich nisse bis zurück zur Wilhelminischen Zeit. Gleichzeitig wurde in Bibliotheken und Antiqua riaten nach Der Gefangene von Sachalin ge fahndet. Wie sich dabei herausstellte, war der Roman Alexander Prestinows vor dem ersten Weltkrieg, etwa um 1912 herum, in der Berliner Morgenpost als Fortsetzungsroman abgedruckt worden. Aus dieser Zeit gab es keine Archivexemplare mehr. Sie waren im zweiten Weltkrieg durch Brandbomben zerstört worden. Doch beim BND gab man nicht gleich auf. Man griff auf die BKA-Kartei zurück, beschaffte sich eine Liste von privaten Sammlern bibliophiler Kostbarkeiten und rief sie der Reihe nach an. — Kein einziger hatte von Alexander Prestinow je gehört, geschweige denn den Roman in seinem Bestand. Nun weitete man den Suchkreis auf Bibliotheken im EG- und Natobereich aus. Von überallher kamen nur Fehlanzeigen. Selbst in der UdSSR war kein Exemplar aufzutreiben. Es sah beinah so aus, als wären alle noch existierende Drucke systema tisch von unbekannter Hand aufgekauft worden. Doch dann ereignete sich das Wunder. Ein Buchantiquariat, das Bücher aus dem Nach laß eines polnischen Emigranten zu einem lächerli chen Kilopreis ersteigert hatte, fand ein Exemplar. Allerdings in Originalsprache. 130
Der BND versuchte, das Buch auszuleihen. Der Geschäftsinhaber war nur bereit, es zu verkaufen. Er langte satt hin und forderte fünfhundert DMark. Man ging auf den Preis ein. Per Expreßboten erreichte das Buch endlich das BND-Hauptquartier. Der Rußlandexperte machte sich ans Lesen. Er wurde eingeweiht, worauf es möglicherweise ankam, und fand in einem Kapitel die gesuchten Hinweise. Das Kapitel wurde übersetzt, ins reine geschrie ben und die Seiten wurden nach Chicago gefaxt. Der Bell Telephone Service lieferte es im Zimmer 333 des Hotels Imperial ab. Damit hatte Ole Carlsson, der BND-Agent Nr. 18, die Auszüge in Händen. „Lies vor", bat Lyla. „Kannst du Deutsch?" fragte Urban. „Nur vier Worte. Die von Kennedy: Ich bin ein Berliner." „Um so besser." Urban vertiefte sich stumm in die Lektüre.
KAPITEL XVII
Der Sommer hat uns kaputtgemacht mit schwü ler Hitze und Gonorrhöe, die unsere unterernähr ten Körper entkräftete. Jetzt im Winter planen sie ein neues Arbeitsprogramm. Und das wird uns töten. Alle. Auch die Gesunden. Onegin, mein bester Freund, hat Fieber. Er ist unfähig zu arbeiten. Ich leiste, so gut ich kann, seine Arbeit mit. Nachts spricht er im Fieber. 131
Wenn er wach ist, hat er jede Erinnerung verloren. Er fragt mich: „ Wo sind wir hier, Bruder?" „Im Straflager Schwarze Klippe." „ Wie lange schon ?" „Zehn Jahre werden es bald." „ Welches Jahr haben wir?" „Neunzehnhundertsieben, Bruder," „ Wer brachte uns hierher?" „ Unser geliebter Zar Nikolaus der Zweite." „ Warum sind wir hier?" „ Weil es eine Strafe gibt für Mörder, Verbrecher aller Art und Revolutionäre wie dich und mich. Und diese Strafe ist Zwangsarbeit, Bruder." „Hat", setzt der Kranke an, „der Zar den Krieg gegen Japan verloren? Haben die Japaner jetzt die Inseln?" „Ja." „ Warum läßt man uns nicht frei?" „Weil man uns vergessen hat", sag' ich zu ihm. Zwei Tage später ist Onegin tot. Wir tragen ihn hinaus und werfen ihn in die Grube zu den anderen Toten.
Seit Wochen nur verdorbenen Fisch und faule Kartoffeln. Gerüchte gehen um. Der Militärgou verneur bat den Zaren, die Insel umzutaufen, damit Ansiedler kommen. Allein schon bei dem Namen Sachalin erschauert jeder. Aber wozu Ansiedler? Wir in den Todeslagern machen doch alles, was nötig ist, in dem verfluch ten Land. Und auch das Unnötige, wie jetzt dieses tiefe Loch. Wir fällen Bäume, zersägen sie zu Balken und 132
Brettern und verschiffen sie. Wir graben nach Kohle und Gold. Wir versuchen uns zu ernähren, indem wir Kartoffeln und Kraut anbauen und Fische aus dem Meer holen. Und jetzt noch dieses riesenhafte unsinnige Loch in der Erde. Keiner weiß wofür. Noch ein Gerücht kommt auf: Die Straflager sollen geschlossen werden. Man will uns freilassen. Aber wir müssen hierbleiben, lebenslänglich, an diesem Ort unendlicher Leiden, des Elends, der Kälte und Nässe, dieser Insel ohne Himmel. Der Satan hat sie im Zorn geschaffen. - Und was tut Gott indessen?
Wer krank ist und arbeitsunfähig, den legen sie über Nacht hinaus in den Frost. Lebt er am Morgen noch, wird er erschossen. Oft auch erschla gen, um die Munition zu sparen. Nicht einmal eine Gewehrpatrone sind wir ihnen wert. — Und immer wieder die 14-Stunden-Schicht am großen Loch. An einem flachen Stück der Küste, wo man hinübersehen kann zum Festland, beißen wir uns in die Tiefe, in gerader Richtung auf das Meer zu. Es gibt Ingenieure unter uns. Sie äußern eine schlimme Vermutung. Der eine hat es gehört, der andere hat Pläne gesehen. Es soll ein Tunnel gegraben werden. Unter dem Meer hindurch zum Festland hinüber. Sieben Kilometer lang. Das Meer ist hier seicht, aber der Tunnel muß so tief unter dem Meeresboden verlaufen, wie Wasser über dem Meeresboden steht. Die Sohle des Tun nels liegt also achtzig Meter unter der Erde. Schräg führt das Loch, was wir graben, hinein. Wir haben kaum Werkzeug. Nur selbstgemachte 133
Schaufehl und Hacken. Sie werden im Lager geschmiedet Aus Eisenerz, das sie aus dem Berg holen und erst schmelzen müssen. Die Schaufehl sind schwer, denn wir können kein Blech walzen, und der Guß taugt auch nichts. In Säcken muß der Abraum fortgetragen werden von endlosen Kolonnen schwankender Gestalten. Vierzehn Stunden Arbeit im Loch. Hinweg vom Lager und Rückweg ins Lager je eine Stunde. Bleiben noch acht Stunden zum Schlafen. Ich bin verdreckt und verlaust. Die Läusebisse entzünden sich und eitern. Meine Füße sind offen. Ich habe wieder Husten. Ich möchte sterben. Wenn ich nicht bald sterbe, bringe ich mich um. - Vielleicht bricht der Tunnel irgendwann einmal über uns zusammen.
Der Tunnel, schon einen Kilometer lang, ist an einer Stelle eingestürzt und hat neunzig Gefangene getötet. Wi r graben sie aus. Sie sind schrecklich zugerichtet. Erschlagen, vom Erdreich erwürgt, erstickt. Wir tragen sie hinauf. Man wirft sie ins Meer. Die Strömung in der Meerenge zieht sie fort. Jetzt wird der Tunnel durch Balken und Planken besser abgestützt. Sickerwasser bildet am Boden knietiefen Schlamm. Durch den waten wir, wenn wir arbeiten. Unvorstellbar, wie wir dursten. Dreck, Hitze, tief im Tunnel die verbrauchte Luft, dazu ein Gestank aus Schweiß, Kotze, Urin und Scheiße. Jetzt im Frühjahr wird alles noch schlimmer. Der Regen kommt und dann die Mücken. Dieses Jahr sterben mehr weg als neue Gefangene vom 134
Festland herübergebracht werden. Jeder einiger maßen Gesunde muß zu der Baustelle am Tunnel. Wozu bloß dieser Tunnel? - Sie sagen, damit der Verkehr zum Festland auch bei schlechtem Wetter aufrechterhalten werden kann. Von dreihundert sechzig Tagen sind hier hundert stürmisch, hun dert dichter Nebel, und im Winter setzt Treibeis die Meerenge zu. Da kommt kein Kutter durch und kein Dampfschiff. Vielleicht ein paar Wölfe. Einer hat mir die gleiche Frage gestellt wie Onegin in einer seiner letzten Nächte, bevor er starb: Welches Jahr haben wir? Ich glaube, neunzehnhundertneun.
Wir legen einen Knüppeldamm zum Tunnel. Er führt mitten durch den Sumpf, dann zu den zwei Felsen, die wie Frauenbrüste geformt sind. Gehst du zwischen den Felsen hindurch, dann siehst du schon das Meer. Und in gerader Linie zum Fest land hin, etwa eine halbe Werst entfernt, liegt der Tunneleingang. Vom Eingang bis zur Baustelle am Tunnelkopf marschieren wir schon eine Stunde. Wir müssen bald drüben sein. - Aber wer weiß. Die Arbeit wird immer härter und mühsamer. Was sie vom herausschlagen, erst war es nur lehmige Erde, ist jetzt zunehmend mit schwerem Stein durchmischt. Auf Schienen und Karren, gezogen von halbblin den Pferden, muß der Abraum weggebracht wer den. Jeden Tag Dutzende von Fuhren. Und doch sieht es aus, als kämen wir nicht vorwärts. Draußen an der Tafel steht geschrieben, wieviel Meter wir graben. Erst waren es immer drei bis vier Meter. Vier Meter in der runden Röhre, deren 135
Durchmesser so groß ist, daß ein Wagen mit Pferd oder Loren, gezogen von einer Lokomotive, durch kommen. Vier Meter mal drei Jahre. Das sind verdammte viereinhalb Kilometer. Doch die Vor triebsleistung am Kopfende wird wegen des Gra nits geringer. Oft schaffen wir nur einen Meter, manchmal auch nur einen halben. Dann bearbeiten uns die Aufseher mit ihren Peitschen und die Soldaten mit ihren Bajonetten. Es kommt zu einem Aufstand. Die Verzweifelten stürzen sich auf die Bewacher. Es gibt viele Tote. Per Standgericht werden zwei Dutzend Gefangene selektiert und erschossen. Doch mit einemmal scheint Gott, der uns verges sen hat, sich an uns zu erinnern. Sie kommen vorn keinen Meter weiter. Fels, nackter Fels versperrt uns den Weg.
Eine Woche lang ruht die Arbeit. Nur Wasser wird mit den selbstgebauten Holzkolbenpumpen abge saugt und Schlamm weggekarrt. Sie überlegen, wie es weitergehen soll. Ingenieure der Pioniere kommen vom Festland herüber. Sprengen ist nicht möglich, es könnte den Tunnel gefährden, die Decke einstürzen lassen. Dann käme das Meer herunter, und alles wäre vergeblich gewesen. Fast vier Jahre Arbeit und Tausende von Toten. Sie schlagen vor, daß wir mit Meißeln und Hämmern an die Felsen herangehen. Doch die Meißel sind weicher als der Granit. Nun warten wir auf Werkzeug aus Leningrad. Es taugt ebenso wenig. Und dann verbreitet sich eines Tages das Gerücht, daß sie den Bau einstellen. 136
Alle Pläne werden vernichtet. Die Ingenieure fahren zum Festland zurück. Der Tunnel wird geschlossen. Innen mit einer Mauer, außen mit Erde. Bäume und Sträucher werden angepflanzt. Niemand soll je vom Scheitern dieses Wahnsinns projektes erfahren. Von uns wird es auch keiner weitergeben kön nen. Denn wir sind vom Tode gezeichnet.
Wieder gehen Gerüchte um. Drüben in Europa soll ein großer Krieg ausgebrochen sein. Vielleicht geht es der Zarenbande endlich an den Kragen. Aber was nützt uns das? — Welche Regierung danach auch kommen mag, man weiß nichts von uns. Uns gibt es nicht. Man hat uns vergessen. Sollte doch einer in der Moskauer Justizbürokratie dereinst auf uns stoßen, wird er sich bekreuzigen und die Akte schnell zuschlagen. Was kümmern ihn schon Verbrecher in einer geheimen Strafkolonie, zehn tausend Kilometer von Moskau entfernt? Laßt uns doch endlich vor die Hunde gehen. Aber ohne Quälerei.
Urban legte die Auszüge aus dem Roman, den er mehr für eine Art Tagebuch hielt, beiseite. Sein erster Gedanke war: arme Hunde. — Sein zweiter Gedanke war, daß irgendeiner von diesen armen Hunden aus Sachalin entkommen sein mußte, um seine Erlebnisse aufzuschreiben oder um sie dem Autor Prestinow zu erzählen. Aber das war jetzt ohne Belang. Urban war fast sicher, daß die Japaner die 137
Bombe in den alten Tunnel gebracht hatten. Es gab nur diese eine Möglichkeit, sie auf der Insel zu verstecken. Er faßte über Lyla hinweg zum Telefon und meldete ein Gespräch nach Moskau an. 18. „Jetzt", forderte General Krischnin bei der Krisen sitzung in der Dzerzhinskystraße, „müssen wir Zeit gewinnen, ehe einer von diesen Verrückten in Tokio auf den roten Knopf drückt." Er gab eine Lageschilderung und beschönigte nichts. Er sprach von dem sagenhaften Tunnel, von dem der Mann, der als Ole Carlsson für den KGB arbeitete, in einem alten Roman gelesen hatte. „Und wenn das reine Erfindung ist, Phantasie eines Schriftstellers?" wurde eingewendet. „Diese Möglichkeit besteht durchaus, Genosse Minister", räumte der KGB-General ein. „Aber wo sonst, wenn nicht in diesem Tunnel, könnte der Container mit der Bombe verschwunden sein? Wir haben mit modernstem Gerät die ganze Nordecke abgesucht und nichts gefunden." „Wenn aber auch die Geschichte mit der Bombe nur Erfindung ist", fragte ein anderer, „was dann?" „Dann", Krischnin ließ sich nicht provozieren, „sind wir ein miserabler Geheimdienst. Dann gehe ich nach Hause, öffne eine Flasche Krimsekt und schreibe meinen Pensionsantrag. Nur folgendes bitte ich zu bedenken: Die Bombe kam zweifels ohne abhanden. Ein Kutter wurde aufgebracht. Die japanische Besatzung beging Selbstmord. Der selbe Kutter wurde nahe der Meerenge satelliten 138
mäßig erfaßt. Eine fremde Kommandoeinheit, ver mutlich Japaner, brachte bei einer Ölbohrstation unter Hinterlassung von Tod und Zerstörung schweres Gerät an sich: zwei geländegängige LKW und eine Planierraupe. Dieses Gerät fanden wir vor kurzem an der Küste des Ochotskischen Mee res, also auf der anderen Seite der Insel. Die Japaner hatten sie ins Meer versenkt. Vermutlich als sie von einem U-Boot abgeholt wurden. Nicht davon auszugehen, daß es diese Bombe gibt, wäre also tödlicher Leichtsinn. Zumal uns eine inoffizielle Note vorliegt, mit der man die Rück gabe der Inseln verlangt, oder man werde sie für alle Zeiten verseuchen. — Genossen, sind das Fakten oder nicht? Wenn nein, bitte ich um Mehr heitsbeschluß, nach dem ich entlastet bin. Dann sage ich danke schön und fahre in Urlaub." Von da ab blieben die inkompetenten Zweifler stumm. Der General wurde gefragt, was er zu unterneh men gedenke. Krischnin antwortete mit einem Satz. „Wir suchen nach dem Tunneleingang." „Und wenn wir ihn haben?" „Versuchen wir einzudringen." „Bis zu der Bombe?" „Es gibt keinen anderen Anlaß, Kopf und Kra gen zu riskieren, als diesen." „Und wenn die Bombe hochgeht?" „Nur ausgesuchte Experten werden das Unter nehmen durchführen." „Wie kann die Bombe gelöst werden?" „Durch vielerlei Arten. Durch Funk, eine Zeit uhr, per Zündkabel oder durch Leute vor Ort." „Sie würden sich mit in die Luft jagen." „Halb Sachalin würde ohnehin in die Luft 139
gejagt, Genossen", bemerkte Krischnin sarka stisch, „und eine Milliarde Menschen würden ver seucht. Von der Bombe atomisiert zu werden, ist dagegen ein schöner Tod." Es gab viele Fragen, aber weniger Antworten als Fragen. Krischnin verlor endlich die Geduld und forderte Beschlüsse. Viele Vorschläge wurden gemacht und verworfen. Schließlich lief alles darauf hinaus, einerseits den Forderungen der Japaner nicht nachzugeben, andererseits aber ein Desaster in Fernost zu verhindern. Gegen Ende der Krisensitzung erklärte Krisch nin noch einmal: „Und dazu brauche ich Zeit, Genossen. Versu chen Sie, diese Zeit, sei es durch hinhaltende Gespräche, durch diplomatische Schritte oder wie auch immer, zu gewinnen." Der Außenminister versprach, er werde tun, was er könne. Dann verabschiedete Krischnin sich, um nach Sachalin zu fliegen. Sein Jet wartete, wie er es ausdrückte, mit laufenden Triebwerken.
Die sechs Meter lange ZIL-Limousine, die ein wenig dem Lincolnmodell ähnelte, das der ameri kanische Präsident vor zehn Jahren benutzt hatte, bog zum Amtssitz des japanischen Staatschefs ab. Der Botschafter der UdSSR hatte seinen Besuch angekündigt und auch den Grund genannt. In feierlichem Ornat, gestreifte schwarze Hose, Cut und Zylinder - der Anzug wurde auch Strese mann genannt - händigte er dem japanischen Regierungschef seine Protestnote aus. Wie es 140
üblich war, gab er in diplomatisch gestelzten Worten deren Inhalt bekannt. Der Japaner reichte die Dokumente seinem Minister, um dann seinerseits eine Erklärung abzu geben. „Exzellenz, Herr Botschafter. Von diesen Vor gängen weiß meine Regierung nichts." Der Russe hatte damit gerechnet und seine Entgegnung parat. „Um so schlimmer für uns alle, Exzellenz", antwortete er. „Dann stehen wir leider hilflos der Tätigkeit einer japanischen Terrororganisation gegenüber, die vermutlich sehr einflußreich und mächtig ist." Betroffen, wenn auch völlig beherrscht, sagte der kleine Japaner mit den schmalen Augen und einem noch schmaleren Mund: „Das ist eine Unterstellung, die wir zurückwei sen müssen. Denn sie würde bedeuten, daß wir nicht wissen, was in unserem Lande vorgeht." „Selbstverständlich wissen Sie das ganz genau, Exzellenz", bemerkte der Russe mit verstecktem Hohn. „Ihre Polizei ist hervorragend organisiert, Ihr Geheimdienst Kempetai gilt als der beste Asiens." „Mir wurde nichts gemeldet", äußerte der Regie rungschef. „Und wenn mir nichts gemeldet wurde, dann gibt es auch nichts in dieser Art." Damit, so hoffte der Japaner, wäre der Protest abgewendet. Doch der Russe blieb hartnäckig. „Wir haben Beweise, Exzellenz." Der Japaner lächelte und nickte dazu. „Alles läßt sich beweisen. Und auch das Gegen teil davon." „Es gibt Tonbandmitschnitte von Drohungen, erpresserischen Anrufen sowie Telegramme, Fern 141
schreiben und Briefe. Alle beziehen sich auf die Rückgabe der Kurilen und Sachalins." „Das muß nicht aus unserem Lande kommen. Es gibt politische Gruppen, die an einer kriegerischen Auseinandersetzung zwischen unseren Ländern interessiert sind, denn Kampf kostet Kraft und bedeutete immer Schwächung." Der Russe ließ sich nicht einlullen. Er war ein in dreißig Dienstjahren gehärteter Mann. „Exzellenz", fuhr er fort. „Ich fürchte, diese Vorgänge dringen nicht bis zu Ihnen durch. Sie sind einigen Ihrer Behörde sehr wohl bekannt, man verschweigt sie aber der Regierung." Der Japaner geriet ein wenig in Verwirrung. „Das . .. das . . . ist nicht möglich." „Es sei denn, diese Gruppe hat Verbindung bis in allerhöchste Kreise." Nun griff der Japaner zu einer anderen Taktik. „Warum sollten diese Leute so etwas heimlich tun? Sie wissen doch, Exzellenz Woroschilow, daß diese Regierung und die vorhergehende, ja daß alle Regierungen dieses Landes stets die Rückgabe der Inseln forderten. Das steht auf unserem Programm." „Vielleicht vermißte die Rächergruppe den nöti gen Nachdruck." „Sie sprechen von einer Rächergruppe", tat der Japaner entrüstet. Der Russe merkte bald, daß etwas im Busche war. Gewiß wußte die Regierung von diesen Din gen, stand aber selbst unter starkem Druck. In letzter Zeit hatte es eine Reihe von Skandalen gegeben, und möglicherweise besaßen die Draht zieher von jedem Minister geheime Dossiers. Also waren der Regierung die Hände gebunden. Der Regierungschef versicherte dem Russen, er wolle alles tun, was in seiner Macht stehe, diese 142
Vorgänge aufzuklären und notfalls zu unterbinden. Mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln. — Alles nur Worte, an die der Botschafter nicht glaubte. Doch klugerweise gab der Russe sich damit zufrieden. Er handelte gemäß einem Befehl aus Moskau, der wenige Minuten vor Abgabe der Protestnote eingetroffen war. Der Funkspruch enthielt Anweisung für eine neue Strategie - die der Verzögerung. Deshalb akzeptierte der Russe die Antwort des Japaners und fügte etwas hinzu, von dem er wußte, es würde binnen Stunden, wenn nicht sogar binnen Minuten, die Ohren dieser fanatischen Geheimorganisation erreichen. „Exzellenz", sagte der Russe. „Wir hörten von verheerenden Schritten, die eingeleitet werden, um die Forderungen nach Rückgabe der Inseln zu unterstützen. Ich soll Ihnen im Namen meiner Regierung andeuten, daß wir weder Länder noch Menschen gefährden wollen und uns deshalb zu Gesprächen bereitfinden." Der Regierungschef hob die Brauen, drehte sich zu seinem Außenminister um und hatte dann einen beherrschten, aber doch deutlich triumphierenden Zug im Gesicht. „Verhandlungen?" „Gespräche", wiederholte der Botschafter. „Vor gespräche." Sie wechselten noch ein paar artige Worte. Man wünsche weiterhin freundschaftliche Beziehungen und vor allem Frieden und gute Zusammenarbeit. Der Russe wurde hinausgeleitet bis zu seinem gepanzerten Riesenautomobil. Als er zur Botschaft zurückfuhr, formulierte er in Gedanken schon den Bericht für Moskau. Eines stand fest: Sie hatten Zeit gewonnen. 143
Eine Spezialeinheit der Armeepioniere war mit Transporthubschraubern und modernstem Gerät von Wladiwostok nach Nord-Sachalin geflogen worden. Sie nahm die Suche dort wieder auf, wo sie vor einer Woche ergebnislos abgebrochen wor den war. Die neue Einheit hatte es leichter. Ein Telex vom Oberkommando in Moskau bezeichnete den Ort, wo vor achtzig Jahren ein Tunnel gebaut worden war, ziemlich genau. Die Linie führte am Rand des Sumpfes vorbei und zwischen zwei Felsenhügeln, die die Form von Frauenbrüsten hatten, hindurch. Dahinter wucherte allerdings Urwald. Mangroven standen auf Luftwurzeln in dicker Salzlake. Mit Flammenwerfern brannten sie das dichte Unterholz ab. Bagger brachen Schneisen erst in Kreuzform, dann in einer weiten Spirale. Mit Magnetsonden suchten sie den Boden ab und die tieferen Schichten dann mit Ultraschalldetek toren. An einer Stelle, die trocken und ein wenig erhöht war, lagen umgestürzte Bäume. Zuerst sagte der Pionieroberst: „Hier nicht." Dann untersuchten sie die Bäume. Sie hatten keine glatten Schnittstellen, die auf die Benut zung von Kettensägen hingedeutet hätten. Die Stämme wirkten eher zerfetzt, als habe man sie umgesprengt. „Anbohren, Sprengstoff rein und zünden", sagte einer der Offiziere, „das hinterläßt solche geborste nen Stümpfe." Sie entfernten die Bäume und schoben mit Radladern das Erdreich zunächst in einem Quadrat von hundert Metern Seitenlänge weg. Als es schon 144
so aussah, als würden sie wieder nichts finden zeigten hochsensible Schallmeßgeräte, wie sie bei der Goldsuche verwendet wurden, einen Hohlraum an. Hier gab es keine Höhlen. Kein Zweifel, es mußte sich um den Tunnelgang handeln. „Sie haben ihn zugeschüttet, diese Hundesöhne", fluchte der Pionieroberst. Das Erdreich war so locker, wie eine Sprengung es hinterließ. Sie begannen, den lockeren Boden wegzuschaffen, in der Hoffnung, daß sie bald auf die Tunnelröhre stoßen würden. Doch der Schacht öffnete sich weder nach hundert noch nach zwei hundert Metern. „Diese Schweine!" Der Pionieroberst war außer sich. „Sie haben glatt den ganzen Tunnel zuge schüttet. Es sind mindestens vier Kilometer, bis er auf die Felsformation an der Festlandseite trifft. Wenn sie das alles zusprengten, brauchen wir Monate, bis wir durch sind. Selbst mit allerneue stem Bohrgerät." Völlige Ratlosigkeit war die Folge. Am Abend traf General Krischnin bei der Meerenge ein. Er hörte sich an, was die Ingenieure zu sagen hatten, und nahm eine Besichtigung vor Ort vor. Er erklärte den Offizieren, um was es ging, und bat um Vorschläge, wie man an den noch offenen Tunnelteil mit der Bombe herankäme. Alles deutete darauf hin, daß es eine Zeitfrage war. Und Zeit hatten sie nicht. In seiner Not ließ General Krischnin sich eine Verbindung mit Chicago herstellen, und zwar mit jenem Hotel, wo er hoffte, Ole Carlsson noch anzutreffen.
145
19.
Bei dem weniger schmerzhaften als coolen Abschied von Lyla hatte Urban ihr noch einen guten Rat erteilt. „Gib die Suche nach den Leuten, die unsere Boeing abschossen, auf. Du bist deinen palästinen sischen- Freunden unbequem geworden. Sie gaben dir diesen Job, um dich loszuwerden. Nur hast du das nicht kapiert. Tauche unter, such dir einen netten Kerl, heirate, kriege Kinder, wasch seine Wäsche und spül sein Geschirr und halte sein Haus sauber. Mehr kann ich dir nicht mitgeben." „Liebst du mich?" hatte sie noch gefragt.
„Über alles", hatte er gelogen.
„Das macht es mir leicht", hatte sie gesagt.
Urban war mit der Pazifik Airlines nach Hawaii
geflogen. Dort hatte ein sowjetischer Funktionärs jet Marke Jak-40 auf ihn gewartet und ihn nach Sachalin gebracht. Da saßen sie nun in einem Armeezelt und verbreiteten nicht gerade Optimismus. Urban verschaffte sich einen Lageüberblick, dachte dann, auf einer Armeepritsche liegend, nach und versuchte, aus dem Wenigen, das sie hatten, etwas zu machen. „Fangen wir bei den Fakten an." Krischnin hockte am Kartentisch und trank Wodka. „Wir haben den Tunnel. Im Tunnel ist die Moby Dick. Es gibt mehrere Wege, um sie zu zünden. Aber wir kommen nicht an sie heran." „Fand man irgendwelche Kabelverbindungen?" fragte Urban. „Nicht einen Meter." „Oder Unterwasserantennen für Zündung über Langwellen-Frequenz?" 146
„Wir haben mit Tauchern und Forschungs-UBooten die ganze Strecke abgesucht. Kein Stück Draht, keine Boje, nichts." „Ist der Verlauf des Tunnels einigermaßen klar?" „Er wurde mittels Sonar und Schallmessung von U-Jagdzerstörern präzise vermessen. Aber er hat eine bis zu vierzig Meter dicke Mergelschicht, zum Teil sogar Fels über sich." „Anbohren kann man ihn also nicht", stellte Urban fest. „Es wäre schon möglich, aber „Sie würden die Geräusche hören und die Zün dung auslösen." „Aber wie?" „Durch aktivieren einer Zeituhr oder durch Japaner sind ja Kamikaze - durch Männer, die da unten im Tunnel vegetieren." „Wie können sie dort überleben?" „Nahrungsmittel haben sie dabei." „Und Luft?" „Die holen sie sich durch einen Schnorchel", Urban ließ seiner Phantasie freien Lauf, „den sie durch die Mergelschicht gebohrt haben. Sie strek ken ihn bei Nacht bis zur Meeresoberfläche heraus. Sind insgesamt höchstens fünfzig Meter. Bei dieser Gelegenheit empfangen sie auch Befehle auf dem Funkweg." „Wir stören alle Frequenzen", erinnerte der General. „Die Japaner sind Riesenelektroniker", gab Urban zu bedenken. „Die finden schon einen Weg." „Einen Teleskopschnorchel haben wir nicht ent deckt. Was nun?" Anbohren des Tunnels vom Festland her war 147
nicht möglich. Hier stieß er an eine Felsbarriere, die als Steilküste aufragte. „Klar kann man sie anbohren, aber nicht auf die schnelle", sagte Krischnin. „Und sie würden es wiederum geräuschmäßig orten." „Und sofort zünden", ergänzte Urban. „Wie wär's mit einer Gegenzündung, indem wir mit Wasserbomben den Tunnel zerstören?" „Durch diese dicke Erdschicht?" „War nur so eine verzweifelte Idee." „Man könnte es auch leise machen", sagte Urban. „Mit Absaugen." „Es dauert Wochen, bis das technische Material hier ist" „Dann macht eben schneller." „Das kostet auch Zeit." „Dann blufft sie", riet Urban. „Weckt ihre Hoffnung, daß ihr bereit seid, die Inseln zurückzu geben. Deutet es irgendwie an. Am Nordteil von Sachalin haben sie kein Interesse. Bietet ihnen den Süden an. Aber es muß glaubhaft klingen." „Was bringt das?" „Tage, eine Woche, Monate." „Und du glaubst, unsere Aktivitäten lassen sich so lange verbergen?" „Nein", gestand Urban. „Sie haben ihre Spione hier." „Also, alles Scheiße." Urban hatte ganz hinten im Hinterkopf noch eine Idee. Er sprach sie nicht aus. Zunächst einmal ließ er sich eine Verbindung mit dem Pentagon und über Washington mit Los Alamos herstellen. Es war eine komplizierte Brücke mit Hilfe von FunkTelefon-Funk, aber er bekam den Konstrukteur von Moby Dick an den Draht. 148
Der berief sich erst einmal auf Geheimhaltung. Doch Urban konterte: „Hören Sie zu, Doktor. Ihre verfluchte Bombe ist nur drei Kilometer von hier entfernt und bereit, Tod und Verderben zu bereiten. Wie kann man sie zünden?" „Ich bin zur Geheimhaltung verpflichtet." „Und ich habe die Genehmigung des Pentagons. Reden Sie, oder fahren Sie zur Hölle!" Nun sagte der Experte etwas, das Urban zwar erwartet hatte, das ihn aber dennoch erschütterte. „Die Kristall-Giga", erfuhr er, „ist leichter zu zünden als eine herkömmliche Uran-Bombe. Jeder Ingenieur, Techniker, Mechaniker für Atombom ben kann das." „Gibt es Zündsicherungen?" „Die lassen sich überwinden." Urban ließ sich trotzdem Einzelheiten der Zünd kreise erklären. Dann legte er auf. „Und?" fragte Krischnin, der dabeisaß. „Scheiße?" „Große", bekräftigte Urban.
Moskau spielte sein diplomatisches Spiel, und Urban nützte die Zeit, die sie noch hatten. Sehr nahe lag die Möglichkeit, daß die Japaner im Tunnel gar keine Kamikaze waren und es vielleicht einen unbekannten Ausstieg auf die Festlandseite gab. Urban ließ sich über die Meerenge fliegen und suchte gemeinsam mit Krischnin und ein paar Rotarmisten das felsige Kliff ab. „Das bringt nichts", äußerte Krischnin immer 149
wieder. „Denk an den Roman. Sie stellten hier die Bohrungen ein." „Richtig", sagte Urban. „Aber wie konnte der Mann, der alles wußte, aus Sachalin entkommen? Gibt es vielleicht doch einen Notausgang?" „Sie gaben auf, wegen des Granits." „Nicht sofort", erinnerte Urban. „Sie klopften erst einmal die Dicke des Felsens ab. Dazu mußten sie einige Kriechgänge, Mannröhren, Kamine schlagen. Und es könnte sein . . . " „Was?" „Daß eine dieser Röhren durch das Felsmassiv, durch die Sperriegel aus Granit ins Freie führte." „Ohne Preßluftbohrer oder Sprengmittel war das nicht zu schaffen." „Genug Hände können jede Maschine ersetzen. Denk an die klassischen Dammbauten an Euphrat und Tigris, denk an die Pyramiden, denk an den Kanal von Korinth." Krischnin erhob keine weiteren Einwände und überließ Urban seiner Sturheit, seiner Zähigkeit und seiner Dynamik. Urban besorgte sich eine grüne Arbeitskombina tion ohne Rangabzeichen, dazu halbhohe Stiefel und eine Fellmütze. So marschierte er vom Camp der Armeepioniere los. — Krischnin, in der glei chen Ausrüstung, allerdings mit den Epauletten seines Ranges, begleitete ihn. Der General hatte seine Kalaschnikow dabei. Sein Adjutant, ein Hauptmann, trug das schwere Sprechfunkgerät hinter ihnen her. Sie umgingen erst das verfilzte Dickicht, welches das Camp umwucherte wie dichtes Haar das Haupt eines Urzeitmenschen. Auf der Seeseite des Kaps blickte Urban in die schwindelnde Tiefe. 150
In der Meerenge herrschte ein überaus reger Schiffsverkehr, Hauptsächlich waren es Einheiten der Roten Ostasienflotte, die man hier zusammen gezogen hatte. Zerstörer und Korvetten patrouil lierten in langsamer Fahrt auf und ab. Dicht unter Land ankerten Kreuzer, ein Hubschrauberträger und mehrere Versorgungsschiffe. - Aber sie alle konnten wenig ausrichten. Urban suchte mit dem Glas die roten Schwimm bojen, die den Lauf des Tunnels markierten. „Diese alberne Machtdemonstration", meinte er, „solltet ihr besser unterlassen oder besser tarnen." „Und warum, bitte? Japanische Schiffe oder Aufklärer würden wir wegputzen. Das hier ist unser Gebiet." „Nur eben, daß gemäß internationaler Seerechts abkommen die Meere frei befahrbar sind." „Was eine befahrbare Meerenge ist", knurrte Krischnin, „das entscheiden wir." „Angenommen", erwiderte Urban, „es gibt hier oben wirklich einen Tunneleinstieg, die Japse beobachten den Aufmarsch und funken es nach Tokio. Dann fühlen sie sich aufs Kreuz gelegt — und päng!" „Hier gibt es keinen Ausstieg", bezweifelte Krischnin Urbans Theorie. Urban markierte jene Stelle der Steilküste, wo der Tunnel auf Granit gestoßen war. Wenn es einen Ausstieg gab, dann nur dort. „Es war verlockend", kommentierte Krischnin, „hier einen Tunnel zu graben. Aber sie hätten es weiter im Süden oder weiter im Norden tun müssen, um die Felsküste zu umgehen. Und dann wäre es nicht mehr verlockend gewesen." „Daß sie das Problem mit dem Granit nicht vorher kannten, ist mir unverständlich." 151
„Offenbar dachten sie, sie kämen untendurch." „Naja, und der Tunnel kostete ja nicht allzu viel." Urban hatte ein Haumesser dabei, mit dem er sich jetzt durch das Dickicht kämpfte. Es war hart wie ein verdorrter jahrhundertealter Dornen dschungel. Er bahnte sich zwei Wege in Kreuzform und dann, von außen beginnend, eine Suchspirale. Dabei hielt er die Augen meist auf den Boden gerichtet, war sich aber bald im klaren, daß es einem Mann allein unmöglich war, zwei Quadrat meilen in kurzer Zeit genau zu überprüfen. Zurück im Lager forderte er einen Meßhub schrauber. Der Kamow war vollgestopft mit moderner Technik. Tief über dem Kap schwebend, richtete er seine Ultraschallsender, seine feinen elektronischen Ohren, seine Wärmefühler und Sen soren auf das in Frage kommende Gebiet. — Leider ohne Ergebnis. Schon bald kam wieder die Nacht. „Zurück ins Lager", schlug Krischnin vor. „Nicht in dieser Situation." „Die Lage ist so wie. gestern und wie sie morgen sein wird." „Nein, die Lage ist das", bemerkte Urban, „was man in der Nukleartechnik eine kritische Menge nennt. Wenn es einen Einstieg gibt, dann wird er auch benutzt. Sei es zur Ventilation oder für Funkverkehr. Und das mindestens einmal täglich. Am besten eignet sich dazu die Dunkelheit." Der Hauptmann und der General gingen voraus ins Lager. Urban blieb draußen und verbrachte die Nacht in einem Schlafsack, wie ihn sowjetische Arktistruppen verwendeten. Am Morgen lag Eis auf dem wasserdichten Nylonmaterial. Doch ereignet hatte sich nichts 152
Urban war gerade aus dem steifen Schlafsack gekrochen und wollte ins Camp zurück, um Glie der und Magen mit heißem Tee zu wärmen, als er ein Geräusch vernahm. Ein Vogel flatterte auf, dann mehrere. Die Vögel mußten durch irgend etwas gestört worden sein. Urban wartete noch ein wenig. Dann richtete er sich vorsichtig auf und sah, wie sich in etwa dreißig Meter Entfernung etwas auf das Camp zu bewegte. Nichts knackte, nichts raschelte. Nur die obere Hälfte eines schwarzen Fußballs hüpfte über dem Gestrüpp. Der Fußball verschwand, tauchte wieder auf, verharrte, kam ein Stück höher heraus. So bewegte sich kein Tier. Urban beobachtete ihn und war sicher, daß es ein menschliches Wesen war. Ein Rotarmist kam nicht in Frage. Das Betreten des Kliffs war streng untersagt. Der Mann bewegte sich jetzt ein Stück seitwärts nach vorn und verschwand endgültig. Dort, wo er sich hingeduckt hatte, wanderte ein Stab langsam himmelwärts, wie ein im Zeit raffer wachsender Riesenspargel. Der Stab blitzte nicht in der aufgehenden Sonne, war also mattiert. Er wuchs und wuchs bis in etwa acht Meter Höhe. Unten war er dicker, nach oben hin ver jüngte er sich. Zweifellos die Teleskopantenne eines Funkgerätes. Jetzt, da der Mann vermutlich Kopfhörer trug und sich auf Morsezeichen oder gesprochene Worte konzentrierte, war er abgelenkt. Urban näherte 153
sich ihm in direkter Linie. Jetzt wäre er gern Indianer gewesen. Er schaffte es bis auf ungefähr fünfzehn Meter. Er lag da, reglos, dämpfte den Atem mit dem ledernen Arbeitshandschuh und lauschte. Er glaubte, etwas zu hören. Der Mann sprach leise, langsam und deutlich artikuliert. Nur war es nicht zu verstehen. Urban hatte zwei Chancen: Sprung auf und angreifen oder abwarten. — Vielleicht überwand er den Funker. Vielleicht entkam er ihm. Vielleicht beging er auch Harakiri wie der Kapitän auf dem Kutter. Dann fanden sie den Tunneleinstieg nie oder zu spät. Also beschloß er zu warten. Offenbar gab der Japaner eine längere Meldung durch. Nach etwa fünf Minuten wurde die Antenne langsam eingefahren. Später feines Knacken, dann ein Geräusch, als würde das raschelnde Kriechen einer Schlange vielfach verstärkt. Der fußballartige Kopf tauchte wieder auf, entfernte sich und war dann mit einemmal weg. Urban ließ sich Zeit, ihm zu folgen. Erst näherte er sich der Stelle, wo der Mann gefunkt hatte. In einem Tarnbeutel unter Gestrüpp lag das Gerät. Und von der Stelle führte eine deutliche Kriech spur in Richtung Kliff. Urban folgte ihr. Sie war etwa sechzig Meter lang und hörte schlagartig auf. Der Mann konnte sich nicht in seine Moleküle aufgelöst haben. — Urban tastete ringsum den Boden ab. Links lag ein schwerer Granitbrocken, schräg vor ihm ein vermoderter Baumstumpf. Einst moch 154
ten hier hohe Eichen gestanden haben oder Tannen — was hier eben wuchs. Er rüttelte an dem Stein. Der saß fest wie Steine mit einer Tonne Gewicht. Nun wandte er sich dem Baumstumpf zu. Er ließ sich bewegen wie ein locker werdender Zahn. Urban probierte es in der anderen Achse. Der Stumpf gab nach. Offenbar hatte er die Richtung des Scharniers gefunden. Mitsamt einem Teppich aus Moos und Moder, ließ sich der Stumpf kippen. Wie im Theater. Das war der Eingang zum Kamin. Also gab es ihn. Urban wartete ab. Gewiß war der Japaner noch beim Abstieg und würde am Luftzug oder an der Helligkeit merken, daß ihm jemand folgte. - Und dann wäre alles vergeblich gewesen.
Urban holte das Funkgerät, packte es aus und stellte die Sprechfrequenz des Pioniergerätes ein. Die Wellenskala reichte so weit herunter. Dann machte er die Durchsage und stellte das Gerät so ein, daß es einen peilbaren Pfeifton abgab. Nach zwanzig Minuten folgte er dem Mann, der im Schacht verschwunden war. Erst führte das runde Loch durch die jahrtausendealte Humus schicht. Doch plötzlich ging sie in grob gehauenen Fels über. Eine senkrechte Röhre, kaum breiter als die Schultern eines Mannes. Es gab keine Steigeisen, aber Kerben im Fels, die Händen und Füßen Halt boten. — Urban lauschte, stieg weiter ab, lauschte wieder. Hand über Hand arbeitete er sich nach unten. Er zählte die Griffe, 155
schätzte ihre Abstände und kam auf vierhundert Griffweiten a vierzig Zentimeter. Machte rund hundertsechzig Meter. — Also mußte er bald ange kommen sein. Der Fels wurde schon feucht. Von unten stiegen säureartiger Geruch herauf und warmer Dunst wie aus einer Kläranlage. - Dann baumelte sein Fuß frei. Er hatte die Tunnelröhre erreicht. Er sprang ab. In der Ferne schimmerte rotes Licht. Und dann ein Keuchen, ein Schrei. Einer warf ihm von hinten eine dünne Schnur um den Hals und zog die Enden zusammen. Sich aus der Seidendrossel zu befreien war beinah unmöglich. Urban wußte, daß ihm nur Sekunden blieben. Die Luft reichte noch, aber wenn ihm die Garotte das Gaumenbein brach, war es aus. Er ruderte mit dem Arm und trat nach hinten. Sein Henker tänzelte aus der Reichweite. Bald fürchtete Urban, daß er nur noch Kraft für einen Angriff hatte, für einen einzigen Versuch. Er bückte sich blitzschnell und machte den Rücken krumm. Der offenbar leichte Japaner hatte nicht genug festen Stand. Andererseits wollte er die Drosselschnur nicht loslassen. Er ließ sich also von ihr mitziehen und über Urbans Schulter hin wegschleudern. Dabei riß die Garotte beinah Urbans Kopf ab, aber Urban bekam ein Bein des Japaners zu fassen. Er packte es beidhändig, drehte den Fuß nach hinten, dann noch einmal herum. Es knirschte und knackte im Gelenk. Stöhnend taumelte der Japaner in Urbans Hand kante. — Dann feuerte er. Die schlecht gezielten Schüsse verfehlten Urban, und im wirren Licht der Taschenlampe setzte Urban den zweiten Handkan tenschlag an. 156
Der Schlag war hart wie ein stumpfes Beil und hatte die Wucht, die Ziegelsteine halbierte. - Der Gegner lag im Tunneldreck, ließ Luft ab wie ein Dampfkessel, streckte sich und war wohl schon im Land der Träume. Urban entriß ihm die Pistole und tastete in seinem Gürtel nach dem Messer. Da sah er gegen das rötliche Licht im Tunnel eine riesige Gestalt auf sich zurasen. Der Mann machte sich durch japanische Kampfschreie Mut. Dann blieb er breitbeinig stehen. Weil Urban sicher war, daß er eine Waffe hatte und damit feuerte, warf er sich hin und wälzte sich im Schlamm des Tunnelbodens an die Wand. Der Japaner gab jetzt Dauerfeuer. Die Kugeln spritzten gegen den Felsen. Sie rissen messer scharfe Stücke heraus und ploppten dumpf in den Mud. Der Japaner kam näher und benutzte die .Maschinenpistole wie eine Sense. Bald war sie leergeschossen. Geduckt wechselte er das Magazin. Neuer Anlauf. Hack-hack-hack-hack hämmerte seine Maschinenwaffe, und dazu stieß er dieses frenetische Samurai-Geschrei heraus. Urban fühlte einen Treffer. Zum Glück nicht am Knochen. Seine Position war jetzt bekannt, also mußte er sie wechseln. Noch einmal blieb der Japaner stehen und schob ein neues Magazin nach. Urban blendete ihn mit der Lampe. Doch der Japaner schloß die Augen und wich nicht zurück. Urban lag am Boden. Der Japaner stand da und legte die Maschinenpistole auf ihn an. In der Sekunde, die bis zum Sterben noch Zeit blieb, während des letzten Herzschlags vor Urbans bei 157
nah unausweichlichem Tod, fiel ein einzelner Schuß. Der Japaner schien zu erstarren. Das Licht, das auf ihn fiel, machte alles überdeutlich. Urban sah das ungläubige Staunen des Mannes im weißen Overall, wie Ingenieure ihn trugen. Er hatte ein Loch zwischen den Augen an der Nasenwurzel. Doch nicht aus der Wunde, sondern aus seinen Augen trat Blut. Es lief wie rote Tränen in feinen Zähren herab. Der Automatismus im rechten Finger des Toten funktionierte noch. Er zog ab und schoß. Aber weit von Urban entfernt feuerte er in die Tunneldecke. „Merci", sagte Urban, bis zur Hüfte im Dreck steckend. Aus dem Dunkel trat Igor Krischnin. „Wir haben dir zu danken", sagte er.
Mit gebotener Vorsicht näherten sie sich Moby Dick, diesem beinah gemütlichen Ding, das aussah wie ein Gastank und das gefährlicher war, als alles, was ein menschliches Hirn je erdacht hatte. Urban vernahm ein feines Summen und folgte ihm. Er stieg über die Körper von zwei gefesselten Männern hinweg, die schon halb im Schlamm verkommen waren. Krischnins Männer befreiten den sterbenden Lebrun und den Kanalbauer Pu laski. Inzwischen fand Urban die Quelle des Summens. Es war ein Stirling-Generator, der keine Abgase erzeugte. Vermutlich wurde er mit Wasserstoff beheizt. Nun machten sie sich nach Vorschrift des Kon strukteurs an die Entschärfung der Moby Dick. Sie 158
behandelten die Giga-Bombe mit aller Höflichkeit, um ihr nicht weh zu tun und eine unerwartete Reaktion auszulösen. Fünfzig Minuten später hatte Urban es geschafft. Längst war es hell im Tunnel. Pioniere waren herabgestiegen sowie zahlreiche Experten, darun ter auch eine Armeeärztin. „Nur einer der Gefangenen lebt noch", sagte sie, „der Genosse Pulaski. Wer das hier gemacht hat, der muß ja. . . nun der war gewiß von allen Göttern verlassen." „Nur uns", antwortete Urban, „haben die Götter zum Glück nicht verlassen. Aber das Leben gilt ja wohl nichts mehr heutzutage." „Und die Liebe kostet nur einen Drink!" rief der General. Er reichte Urban seine Feldflasche. Urban war sicher, darin weder Milch noch Tee noch Kaffee vorzufinden.
Sie flogen nach Wladiwostok hinunter, wo General Krischnin dafür sorgen wollte, daß Urban eine schnelle Verbindung nach Europa bekam. „Und wenn ich einen Düsenjäger der Roten Luftwaffe für dich requirieren muß", prahlte der General. „Das ist wohl das mindeste." „Vielleicht brauchen wir dich noch einmal." „Da sei Gott vor." „Hast du wenigstens neue Erfahrungen gesam melt?" „Darauf kann ich gern verzichten." „Aber eines muß du zugeben", Krischnin 159
bestellte beim Steward eine Flasche Gras-Wodka, „es war eine verdammt merkwürdige Geschichte." Urban schwieg erst eine Weile. „Und das Ende der Geschichte war das noch lange nicht", befürchtete er. ENDE
160