David Mamet Vom dreifachen Gebrauch des Messers Über Wesen und Zweck des Dramas Deutsch von Bernd Samland ALEXANDER VER...
22 downloads
740 Views
486KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
David Mamet Vom dreifachen Gebrauch des Messers Über Wesen und Zweck des Dramas Deutsch von Bernd Samland ALEXANDER VERLAG BERLIN Die Originalausgabe erschien 1998 unter dem Titel Three Uses of the Knife in der Columbia Unwemty Press, New York. © by David Mamet 1997. All nghts reserved. ©für diese Ausgabe by Alexander Verlag Berlin 2001, Alexander Wewerka Fredenciastr 12 14050 Berlin mfo@alexander-verlag com www.alexander-verlag.com Gesetzt aus der Adobe Garamond von Marc Berger Druck, agit-druck, Berlin Alle Rechte vorbehalten Prmted in Germany 2001 ISBN 3-89581-052-5
eins ........................................................................................... 4 Der Windchill-Faktor oder gefühlte Temperatur ................. 4 Das perfekte Spiel auf dem Rasen........................................ 8 Die Anti-Stratford-Fraktion................................................ 11 Das Problemstück............................................................... 13 Transitpapiere..................................................................... 19 zwei ........................................................................................ 28 Probleme des zweiten Akts ................................................ 28 Gewalt ................................................................................ 35 Selbstzensur........................................................................ 42 drei.......................................................................................... 49 Vom dreifachen Gebrauch des Messers ............................. 49 Der Elfuhr-Song ................................................................. 54 Das Ende des Stücks .......................................................... 60 Anmerkungsverzeichnis ......................................................... 62 Der Autor................................................................................ 64
eins Der Windchill-Faktor oder gefühlte Temperatur Wir dramatisieren von Natur aus. Mindestens einmal am Tag interpretieren wir das Wetter — ein im Wesentlichen unpersönliches Phänomen - und deuten es um zu einem Ausdruck unserer momentanen Sicht des Universums: »Na toll. Es regnet. Grad wenn ich melancholisch bin. Ist das nicht wieder typisch Leben?« Oder wir sagen: »Ich weiß nicht mehr, wann es zum letzten Mal so kalt gewesen ist«, um die Verbundenheit mit unseren Altersgenossen zu festigen. Oder wir sagen: »Als ich noch ein Junge war, waren die Winter länger«, um eine der Freuden des Alterns zu genießen. Das Wetter ist unpersönlich, und wir begreifen es als dramatisch und nutzen es auch so aus, das heißt, wir schreiben ihm einen Plot zu, um seine Bedeutung für den Helden zu verstehen, und das heißt: für uns. Wir dramatisieren das Wetter, den Verkehr und andere unpersönliche Phänomene, und zwar durch Übertreibung, ironische Gegenüberstellung, Inversion, Projektion, durch die Anwendung sämtlicher Mittel, mit denen der Dramatiker emotional bedeutsame Phänomene erschafft und mit denen der Psychoanalytiker diese interpretiert. Wir dramatisieren einen Vorfall, indem wir Ereignisse nehmen und sie neu anordnen, sie ausdehnen, sie verdichten, damit wir verstehen, welche persönliche Bedeutung sie für uns haben—für uns als den Protagonisten des individuellen Dramas, als das wir unser Leben verstehen.
4
Wenn Sie sagten: »Ich habe heute auf den Bus gewartet«, wäre das wahrscheinlich nicht dramatisch. Wenn Sie sagten: »Ich habe heute lange auf den Bus gewartet«, wäre das vielleicht ein bisschen dramatischer. Wenn Sie sagten: »Heute ist der Bus schnell gekommen«, wäre das auch nicht dramatisch (und es gäbe eigentlich keinen Grund, es zu sagen). Aber Sie könnten sagen: »Weißt du eigentlich, wie schnell dieser Bus heute gekommen ist?« und plötzlich nehmen wir die Ereignisse des Lebens und gebrauchen dramatische Mittel. »Ich habe heute eine halbe Stunde auf den Bus gewartet« ist eine dramatische Aussage. Sie bedeutet: »Ich habe heute eine bestimmte Zeit gewartet, die ausreicht, mir die Gewissheit zu geben, dass du begreifst, sie war >zu lang<.« (Und das ist eine feine Unterscheidung, denn der Sprecher darf keinen zu kurzen Zeitraum nehmen, wenn er sicher sein will, dass er sich verständlich macht, und auch keinen zu langen, wenn der Zuhörer ihn als angemessen ansehen soll — denn sonst schlägt das Drama in eine Farce um. Deshalb wählt der Urdramatiker — wie es unsere Natur ist — unbewusst und auf vollendete Weise jenen Zeitraum, der dem Zuhörer erlaubt, seine Zweifel auszuschalten zu akzeptieren, dass das halbstündige Warten nicht außerhalb des Bereichs der Wahrscheinlichkeit, tatsächlich aber in den Parametern des Ungewöhnlichen liegt. Der Hörer akzeptiert somit die Aussage mit dem Vergnügen, das sie ihm liefert, und ein kleines, aber völlig unverkennbares Drama ist inszeniert und genossen worden.) »Erst zum dritten Mal in der Geschichte der National Football League ist ein Nachwuchsspieler, der bis jetzt wohl aus ernsten Verletzungsgründen auf der Bank gesessen hat, in einem Endrundenspiel eingesetzt worden und hat einen Run von mehr als hundert Yards hingelegt.« Diese NFL-Statistik nimmt, wie das Warten auf den Bus, das Unspektakuläre und versetzt es in einen Rahmen, der dramatischen Genuss ermöglicht. Der Ausruf: »Was für ein Run!« wird mit einer 5
Statistik untermauert, damit wir ihn besser/länger/anders genießen können. Diesem Run wird das dramatische Gewicht des Unbestreitbaren beigelegt. Nehmen wir die nützlichen Wörter »immer« und »niemals«. Damit formulieren wir das Unfertige zum Dramatischen um. Wir beuten die Äußerung aus und geben ihr eine dramatische Form, um einen persönlichen Vorteil daraus zu ziehen. Etwa um im Streit mit der oder dem Liebsten Oberhand zu bekommen, wenn wir sagen: »Du machst immer« und: »Du machst niemals.« Oder wir beginnen ein Tischgespräch mit einem hübschen Thema: »Ich habe heute eine halbe Stunde auf den Bus gewartet.« In diesen kleinen (Schau)spielen machen wir das Allgemeine oder Unspektakuläre zum Besonderen oder Objektiven, das heißt zum Teil eines Universums, das schon unsere Formulierung als verstehbar erklärt. Das ist gute Dramaturgie. Schlechte Dramaturgie lässt sich im Palaver von Politikern finden, die etwas zwischen nicht gerade viel und überhaupt nichts zu sagen haben. Sie verleumden den Prozess und reden lieber vom Subjektiven und Nebulösen: sie reden von der Zukunft. Sie reden vom Morgen, sie reden vom American Way, Unserer Mission, Fortschritt, Veränderung. Das sind leicht oder weniger leicht aufrührerische Begriffe (sie bedeuten: »Erhebt euch« oder »Erhebt euch und schreitet kühn zur Tat«), die ein Ersatz für das Drama sind. Sie sind Platzhalter in der dramatischen Progression und funktionieren ähnlich wie Sexszenen oder Autojagden in einem Trash-Film - sie stehen in keiner Beziehung zu einem richtigen Problem und werden als Bonbons in eine inhaltslose Geschichte eingefügt. (Gleichermaßen dürfen wir annehmen, dass Demokraten und Republikaner, wenn sie den Standpunkt des jeweiligen anderen lauthals als »Skandal« beschreien, im Wesentlichen identische Standpunkte vertreten.)
6
Wir können den natürlichen dramatischen Trieb in Zeitungsmeldungen über die Einspielergebnisse eines Films erkennen. Der dramatische Trieb — unser Drang, Ursache und Wirkung zu strukturieren, um unseren Vorrat an praktischem Wissen über das Universum zu vergrößern — ist in dem Film selbst nicht vorhanden, macht sich aber spontan bemerkbar in unseren Aussagen über ein natürlich sich abspielendes Drama zwischen den Filmen. Kaum ist unser Interesse an Zeus erschöpft, schaffen wir sogleich das Pantheon. Manche sagen, es wird immer heißer im Land. Nein, sagen die andern, stimmt nicht, deine Sinne täuschen sich. Und so haben wir den Windchill-Faktor. Da wir unsere Angst vor einer Klimaveränderung nicht wegwünschen können, dramatisieren wir sie und verwandeln sogar jene (würde man meinen) unpersönlichste, wissenschaftlichste Messung, die der Temperatur, genauso wie wir unser Warten auf den Bus dramatisiert haben. Ich brauche das Gefühl, dass mir übel mitgespielt worden ist, also sage ich: »Und der verdammte Bus ist eine halbe Stunde zu spät gekommen!« Ich habe das Bedürfnis, mich anders als ängstlich zu fühlen, dann sage ich: »Die Temperatur mag höher sein als normal — aber mit dem Windchill-Faktor ...« (Übersehen Sie bitte nicht, dass das ein ziemlich elegantes dramatisches Mittel ist, denn der Wind weht nicht ständig mit derselben Geschwindigkeit, und durch den eigenen Standort direkt im Wind oder nicht - wirkt er schwächer oder stärker. Der »Faktor« erlaubt es einem, die eigenen Zweifel zugunsten des gebotenen Vergnügens aufzugeben.) Wenn der Inhalt des Films oder der Beschluss der Legislative uns nicht befriedigen (das heißt uns die Angst nicht nehmen, keine Hoffnung bieten), arbeiten wir ihre dürre Handlung in eine Superstory aus — genau wie der Schöpfungsmythos vom Pantheon abgelöst wird und mörderische Schlachten an die Stelle des ursprünglichen Seins/Nichts treten. (Wenn wir egal welche Fernsehdramen lang genug sehen, die Clintons im Weißen Haus, 7
Polizeirevier Hill Street oder Emergency Room, erkennen wir, dass der anfängliche dramatische Drang häuslichen Kabbeleien Platz macht. Nach einer Weile ist das Neue nicht mehr neu, und es verlangt uns nach Dramatik. So nehmen wir eben die Welt wahr.) Unser Überlebensmechanismus ordnet die Welt in eine Abfolge von Ursache und Wirkung. Freud hat die Musik polymorph-pervers genannt. Wir empfinden Lust an der Musik, weil sie ein Thema anklingen lässt, das Thema entwickelt sich und löst sich auf, und dann sind wir erfreut, als ob es eine philosophische Offenbarung wäre - selbst wenn die Lösung bar jeglichen sprachlichen Inhalts ist. Genau wie die Politik, wie die meiste populäre Unterhaltung. Kinder springen am Ende des Tages wie wild umher, um die Energie des Tages bis zum Letzten zu verpulvern. Das entsprechende Verhalten der Erwachsenen bei Sonnenuntergang besteht darin, ein Drama zu erschaffen oder einem Drama beizuwohnen — das heißt, das Universum in eine begreifbare Form zu ordnen. Unser Sonnenuntergangsstück/-Film/ Klatsch ist die letzte Ausübung des Überlebensmechanismus an diesem Tag. Damit wollen wir alle verbliebenen Wahrnehmungsenergien loswerden, um schlafen zu können. An der Stelle brauchen wir ein Drama, und wenn es keines gibt, stückeln wir es aus dem Nichts zusammen.
Das perfekte Spiel auf dem Rasen Was wünschen wir uns vom perfekten Spiel? Wünschen wir von unserer Mannschaft, dass sie vom ersten Augenblick an das Feld beherrscht und dem Gegner eine Packung verpasst und beim Schlusspfiff mit einem haushohen Sieg vom Platz geht? 8
Nein. Wir wünschen uns ein hart umkämpftes Spiel, das viele zufriedenstellende Umschwünge enthält, im Rückblick aber immer so ausgesehen hat, dass es zu einem zufriedenstellenden und unausweichlichen Ende führen wird. Wir wünschen uns in Wirklichkeit eine Drei-Akt-Struktur. Im i. Akt beherrscht unser Team das Spielfeld und hält den Gegner tatsächlich in Schach, und wir als Anhänger empfinden Stolz. Aber bevor dieser Stolz zu Arroganz heranreifen kann, geschieht etwas Neues: Unser Team macht einen Fehler, die andere Seite wacht auf und stößt mit bislang ungeahnter Kraft und Phantasie vor. Unser Team wird schwächer und zieht sich zurück. Im 2. Akt dieses perfekten Spiels vergisst unser Team, erschüttert und verwirrt, die elementarsten Regeln des Zusammenspiels und der Strategie und des Angriffs, alles, was es zuvor stark gemacht hat. Es stürzt immer tiefer in den Abgrund der Verzweiflung. Alle Gegenanstrengungen scheinen nichts zu fruchten; und gerade wenn wir meinen, der Wind habe sich wieder zu ihren Gunsten gedreht, wird gegen sie ein Strafstoß oder ähnliches verhängt, der ihre Gewinne zunichte macht. Was könnte schlimmer sein? Aber Moment: Gerade wenn alles unwiederbringlich verloren scheint, kommt Hilfe (3. Akt) aus einer unerwarteten Ecke. Ein Spieler, der bis dato als zweitklassig galt, taucht auf mit einem Block, einem Run, einem Wurf, der einen Schimmer (wohlgemerkt einen Schimmer) des möglichen Sieges ahnen lässt. Ja, nur einen Schimmer, aber der reicht aus, um das Team so anzustacheln, dass es nahezu seine beste Leistung erbringt. Und das Team geht wirklich zur Sache. Unser Team gleicht aus und, mirabile dictu, macht den Spielzug, der es in Führung bringt. NUR UM WIEDER IN RÜCKSTAND ZU GERATEN, ob das nun am Schicksal liegt oder an seinem Stellvertreter, einem sturen, dummen oder böswilligen Sportfunktionär.
9
Aber siehe: Die Lehren des Zweiten Aktes (1) sind an unserem Team nicht vorübergegangen. Dieser oder jener könnte sagen, es sei zu spät, die Uhr sei zu weit vorgerückt, unsere Helden seien zu müde, und doch raffen sie sich zu einem letzten Versuch, einer letzten Anstrengung auf. Und gelingt es ihnen? Triumphieren sie, wo nur noch Sekunden bleiben? Sie triumphieren fast. Wie in den letzten Sekunden des Stücks, ruht das Ergebnis auf dem einsamen Krieger, jenem Helden, dem Champion, jenem Menschen, auf dem im letzten Augenblick unsere ganzen Hoffnungen ruhen, auf jenem letzten Spielzug, Run, Pass, Strafstoß-Ja. Aber Moment: Jener Krieger, den wir für die Aufgabe ausgewählt hätten, dieser Champion ist verletzt. Auf der Bank sitzt jetzt nur noch ein Anfänger et cetera, et cetera. In dieser Vorstellung erkennen wir, dass das Spiel nicht allein das Drama rekapituliert, sondern jeder Akt des Dramas (des vollkommenen Spiels, wohlgemerkt) rekapituliert das Spiel (entsprechend dem Paradigma: »Ja! Nein! Aber Moment mal ...!«), so wie jeder Akt des Stücks das ganze Stück rekapituliert. Das Football-Spiel ist somit vielleicht ein Modell für Eisensteins Theorie der Montage: Die Idee von EINSTELLUNG A bildet mit der Idee von EINSTELLUNG B eine Synthese, um uns eine dritte Idee zu liefern, und diese dritte Idee ist der unteilbare Baustein, auf dem das Stück errichtet werden wird. Die Verteidigung von Team A und der Angriff von Team B bilden die Synthese, DAS SCHAUSPIEL, das eine SCHAUSPIEL, nach dessen Ablauf der Ball sich in einer anderen Position befinden wird. Und dieser neuen Position (ein Ball in derselben Position, aber zu einer anderen Zeit ist natürlich trotzdem in einer neuen Position) schreiben wir, die Zuschauer, eine philosophische Bedeutung zu, verinnerlichen sie, erfassen sie intuitiv, schaffen sie. Denn wir rationalisieren, objektivieren und personalisieren den Verlauf des Spiels genauso wie den eines Schauspiels, eines 10
Dramas. Denn schließlich ist es ein Drama mit einer Bedeutung für unser Leben. Warum sollten wir es uns sonst anschauen? Es bereitet Vergnügen, wie Musik, wie Politik und wie das Theater, weil es unsere Befähigung zur rationalen Synthese trainiert, weiterbildet und ihr schmeichelt - unsere Fähigkeit, eine Lektion zu lernen, woraus unser Überlebensmechanismus besteht. Dieses Schauspiel, das stattfinden mag oder nicht, das wir aber wahrnehmen (wir können, wenn wir in einer philosophischen Stimmung sind, eine ähnliche Befriedigung zum Beispiel im Spiel der Wolken finden), weil wir es müssen, weil es in unserer Natur liegt, kann aufgrund dessen, was wir wahrgenommen haben, uns einerseits besser machen, vielleicht die Welt besser machen. Andererseits kann es trösten (oder auch wütend machen und korrumpieren), einfach dadurch, dass es unsere Befähigung zur Synthese anregt — wie das niedliche Kätzchen, das mit einem Knäuel spielt, glücklich ist, weil es sich im Foltern übt, so wie patriotische Gruppen ähnlich glücklich sind, weil sie — in wie embryonaler Form auch immer - einen Krieg proben. Letztlich ist es schwierig, unser Leben nicht als ein Schauspiel zu sehen, dessen Helden wir sind - und dass Kampf die große Aufgabe der Religion ist, zu der das Drama vor dem Sündenfall einst gehörte.
Die Anti-Stratford-Fraktion Wir im Showbusiness hören, dass erst dieser und dann jener Bühnen- oder Leinwand-Superstar von allen Kollegen verlangt, eine Erklärung zu unterschreiben, sie oder ihn nicht anzuschauen beim Auftritt des Superstars müssen die niedrigen Chargen den Blick abwenden. Ein Musikstar besteht jetzt darauf, dass er keinen Namen habe — lediglich ein Zeichen oder ein Symbol, und der Name dürfe nicht ausgesprochen werden (eine Auszeichnung, die bis jetzt einer 11
bestimmten Gottheit vorbehalten war, die von meinem Volk, den Juden, verehrt wird). Beträchtliche Teile der Bevölkerung glauben beharrlich daran, dass Elvis nicht gestorben ist. In diesen Fällen ist der Sterbliche in den Status eines Gottes erhoben worden oder bewirbt sich noch um diesen Rang. Heute, wie im alten Rom, ist der höchste Preis, nachdem alle Wege zum Erfolg geführt und alle Preise gewonnen sind, die Illusion der Gottheit. Die gleiche Großspurigkeit stärkt nicht nur die Egos der da oben, sondern auch die der da unten. Wenn für den Akt der Vergöttlichung die Wähler/Zuschauer/Anhänger notwendig sind — wenn auch nur durch ihre Teilnahme —, macht sie das denn nicht größer als einen Gott? Wir sehen die Suche nach einer Gottheit in der Neigung zu den Ideen der Reinkarnation und »Channeling«. In jedem Falle besiegen die Richtigdenkenden den Tod, jene Schmach, der die Nichtauserwählten leider unterworfen sind. Die Anti-Stratford-Fraktion ist der Meinung, dass nicht Shakespeare Shakespeares Stücke geschrieben hat — es war vielmehr ein anderer Mensch gleichen oder anderen Namens. Damit drehen die Anhänger die megalomanische Gleichung um und machen sich selbst nicht zu Auserwählten, sondern zu den über den Auserwählten Stehenden. Da sie durch einen bedauerlichen Zeitumstand darin gehindert waren, Shakespeares Stücke zu verfassen, akzeptieren sie, in der Phantasie fast jeden Herausgebers, den Mantel des Primum mobile, verbannen den (fälschlich so genannten) Schöpfer in den Orkus und suchen für ihre Tat der Entdeckung und Einsicht bei der Masse nach Verehrung -die doch viel überlegter und intellektueller ist als die notwendigerweise schlampige Arbeit des Autors. Damit geben sich die Anhänger der Anti-Stratford-Fraktion zu erkennen als Herolde der Höhergeborenen (Earl of Oxford, Bacon, 12
Elizabeth), und, weit wichtiger, sie offenbaren sich als das, was den Tod besiegt. Sie ernennen sich selbst zur »Ewigkeit« - die Kraft, die alles weiterführt. Wer Bacon et cetera zum Autor erklärt, verhält sich wie Firmenchefs, die ihre Arbeiter mit Auszeichnungen schmieren ganz auf dem Niveau der Plakette »Bester Angestellter der Woche«, wobei es der Geber ist, der an Status gewinnt, und nicht der Empfänger, denn der Geber beweist damit seine Macht, gönnerhaft sein zu können. Der Anhänger der Anti-Stratford-Fraktion ist wie der Verfechter der Meinung, die Erde sei eine Scheibe und so entstanden, wie es in der Genesis beschrieben wird, setzt sich selbst an die Stelle Gottes - versehen mit der Macht, in die natürliche Ordnung einzugreifen —, und die am tiefsten verborgene, aber alles durchdringende Phantasie des Obengenannten ist die ultimative Illusion der Gottheit: »Ich habe die Welt gemacht.«
Das Problemstück Das Problemstück ist ein Melodram, dem die Phantasie ausgetrieben wurde. Seine erklärte Frage: »Wie heilen wir ehelichen Missbrauch, Aids, Taubheit, religiöse oder rassische Intoleranz?« erlaubt dem Zuschauer, sich in einer Machtphantasie zu ergehen: »Ich sehe die dargestellten Optionen, und ich entscheide (mit dem Autor), was korrekt ist. Stünde ich auf der Bühne, würde ich die richtige Wahl treffen. Und ich würde eher mit dem Helden oder der Heldin stimmen statt mit dem Schurken.« Wenn (entweder mit dem Triumph oder dem adelnden Versagen des Protagonisten) die richtige Wahl dem Publikum gewährt wird, können und werden die Zuschauer selbstzufrieden sagen: »Hab' ich das nicht die ganze Zeit gewusst? Ich weiß doch, 13
dass Homosexuelle, Schwarze, Juden, Frauen auch Menschen sind. Und siehe da, meine Erkenntnis hat sich als richtig erwiesen.« Das ist der Lohn, den der Besuch eines Problemstücks bietet. Die Belohnung, die das traditionelle Melodram bietet, ist etwas anders. Das Melodram bietet Angst, die in Sicherheit erlebt wird; das Problemstück bietet Entrüstung. (Die Fernsehnachrichten bieten beides.) In diesen falschen Dramen frönen wir dem Verlangen, uns über die Ereignisse, die Geschichte erhaben zu fühlen, kurz: über die natürliche Ordnung. Mythos, Religion und Tragödie nähern sich unserer Unsicherheit auf etwas andere Art. Sie erwecken Ehrfurcht. Sie leugnen unsere Machtlosigkeit nicht, sondern indem sie diese eingestehen, befreien sie uns von der Bürde, sie zu unterdrücken. (Die lediglich Unwissenden mögen Gefallen an Shakespeares Stücken finden. Aber ich könnte mir vorstellen, dass die Anhänger der Anti-Stratford-Fraktion sie niemals ohne Verdruss über die falsche Zuschreibung sehen können.) Die romance [hier Sammelbegriff für jedes »unwahre«, romantisierende, auch kitschige Genre, A. d. U.] feiert den unausweichlichen Triumph/die Erlösung/Errettung des Einzelnen über die (oder mit Hilfe der Taten der) Götter - ein solcher Triumph verdankt sich schließlich nicht den Anstrengungen und Taten, sondern dem bloßen Vorhandensein (ungeahnter) hervorragender Eigenschaften des Protagonisten. Die Tragödie feiert die Unterwerfung des Einzelnen und damit seine Befreiung von der Bürde der Unterdrückung und der damit einhergehenden Angst (»Wem nichts mehr hilft, der muss nicht Gram verschwenden«2). Das Theater handelt von der Heldenreise, der Held und die Heldin sind Menschen, die der Versuchung nicht nachgeben. Die Heldengeschichte handelt von einem Menschen, der eine Prüfung durchmacht, die er sich nicht ausgesucht hat. 14
Helden und Heldinnen im Problemstück jedoch machen eine Prüfung durch, über die sie die absolute Kontrolle haben. Sie haben sich die Prüfung ausgesucht, und sie werden obsiegen. Es ist ein Melodram, und wir folgen ihm, weil wir uns dabei in einem gewissen Maße wohl in unserer Haut fühlen; es liefert uns - wie der Science-fiction-Film - die Erfüllung einer jugendlichen Phantasie. Wir wissen, dass am Ende dieser Phantasie das Gute sich behaupten wird. Wir wissen, die Marsmenschen werden besiegt. Wir wissen, dass der Held im Problemstück erkennen wird, dass die Taubstummen und Blinden auch Menschen sind. Der Bösewicht wird besiegt werden. Der Held wird kommen und das junge Mädchen auf den Eisenbahngleisen retten. Und deshalb verflüchtigt sich unser Gefallen im selben Augenblick, da wir das Theater verlassen. Wir wollten uns wie Jugendliche einer Phantasie von Macht über die Erwachsenen hingeben — das haben wir auch getan, und für den kurzen Augenblick des Abenteuers (als das Halteschild gestohlen wird) haben wir uns mächtig gefühlt. Der Held der Tragödie andererseits muss gegen die Welt kämpfen, auch wenn er machtlos ist — und über keine anderen Mittel verfügt als über seinen Willen. Wie Hamlet, Odysseus, Ödipus oder Othello. Alles hat sich gegen diese Helden verschworen, und sie sind für die Reise, die sie unternehmen müssen, nicht gerüstet. Die Stärke dieser Helden erwächst aus der Kraft zu widerstehen. Sie widerstehen dem Verlangen zu manipulieren, dem Verlangen zu »helfen«. Der Verfasser der Superman-Comics oder, so gesehen, auch der Wirtschaftsexperte der Regierung können uns »helfen«, eine Lösung zu finden, wenn sie verkünden, sie haben die Naturgesetze aufgehoben, aber Hamlet, Othello und Sie und ich und das übrige Publikum - wir müssen in einer wirklichen Welt leben, und die »hilfreiche« Verdrängung dieser Erkenntnis ist wahrlich nicht sonderlich hilfreich. 15
Jemand hat gesagt (Reagan hat es gesagt und bestimmt auch schon jemand vor ihm): »Der schlimmste Satz in der Sprache lautet: >Ich komme von der Regierung, und ich komme, um zu helfen.<« Er bedeutet: »Ich werde Lösungen für ein Problem vorschlagen, das mich nicht nur nicht betrifft, sondern dem ich mich auch überlegen fühle.« Das machen Politiker. Das machen Lehrer und Eltern. Die Kinder, die Wähler und die Zuschauer empfinden zwar Feindseligkeit, wenn sie diesen Spruch über kommende Hilfe hören, doch sie unterdrücken ihre Feindseligkeit und sagen: »Moment mal, dieser Mensch macht mir ein Geschenk; es ist nicht das Geschenk, das ich mir gewünscht habe, aber wie kann ich es wagen, Wut zu empfinden?« Im Theater bedeutet dieser Prozess des »Helfens«, dass dem Zuschauer die Teilnahme an der Reise des Helden verwehrt wird. Es ist vielmehr ein Prozess der Infantilisierung, der Manipulierung des Publikums. Der überragende Mann, die überragende Frau sagt nicht: »Der Zweck heiligt die Mittel.« Der große Mensch sagt: »Es gibt keinen Zweck, auch wenn es mich etwas kostet (wie es die Heilige Johanna das Leben gekostet hat, wie es X, Y oder Z den Wahlsieg kosten kann und wie es den Schauspieler das Vorsprechen kosten kann), werde ich den Leuten nicht geben, was sie wollen, wenn sie eine Lüge wollen.« Es ist die Kraft zu widerstehen, die uns beeinflusst. Es ist die Kraft eines Dr. King, der sagt: »Ich habe keine Mittel, ihr könnt mich töten, wenn ihr wollt, aber ihr werdet mich schon töten müssen.« Es ist die Kraft von Theodor Herzl, der gesagt hat: »Wenn ihr es wollt, so ist es kein Traum.« Herzl ging zum Dreyfus-Prozeß und sagte: »Die Juden brauchen eine Heimstätte, die Verfolgung muss aufhören.« Die Reichen wollten ihm kein Geld geben. Also ging er zu den Armen 16
und bat sie um ein paar Groschen. Und für alle Welt war er ein Narr. Aber siehe da, fünfzig Jahre später gibt es den Staat Israel. Die Kraft zu widerstehen macht die Heldenreise ergreifend. Und soll das Publikum diese Reise unternehmen, ist es wesentlich, dass der Schriftsteller die Reise unternimmt. Aus diesem Grund wird das Schreiben auch niemals leichter. Die Menschen, die sich der Heldenreise unterziehen, bringen die Gedichte eines Wallace Stevens hervor, die Musik eines Charles Ives, die Romane einer Virginia Woolf; oder, um es anders auszudrücken, keiner kann den Blues singen, der nicht zuvor den Blues gehabt hat. Das Theater ist eine Gemeinschaftskunst. Paulus hat mit das Beste gesagt, was ich über Gemeinschaft weiß: »Was ich für Euch bin, macht mir angst, aber was ich mit Euch bin, tröstet mich. Für Euch bin ich ein Bischof; mit Euch bin ich ein Christ.« Wenn man ins Theater geht, muss man bereit sein zu sagen: »Wir sind alle hier, um an einem Gemeinschaftserlebnis teilzunehmen, um herauszufinden, was zum Teufel in der Welt vor sich geht.« Wer das nicht sagen will, bekommt anstelle von Kunst Entertainment geliefert, und mieses Entertainment noch dazu. Im Problemstück, in den Nachrichten, den romances vom Übermenschen wird dem schließlichen Triumph eine Höflichkeitsposition zuerkannt, nach der Formel »Es ist noch zweifelhaft« (die Möglichkeit eines US-Siegs im Golfkrieg, das Schicksal von Sherlock Holmes), damit wir wiederum die Angst genießen und überwinden können. Aber sobald die Serienfolge oder der eine Krieg zu Ende ist, sobald »unser« Sieg verkündet worden ist, kehrt die Angst zurück. Wir haben gewusst, dass es ein falscher Kampf war, und jetzt müssen wir uns umsehen nach einem neuen Gegner/ neuen Schurken/neuen Actionfilm/einem anderen unterdrückten Volk, das »befreit« werden muss, damit wir uns wieder dessen versichern können, was wir als unwahr erkannt 17
haben: dass wir über den Umständen stehen (dass wir in Wirklichkeit Gott sind). Im Problemstück, in den Nachrichten, der romance, im politischen Drama haben wir nicht unsere Natur, sondern unser Entsetzen besiegt, die eine spezifische Aussage: Wir haben auf das Romantische gesetzt, das heißt auf das Trügerische, das Fiktive, das Unwahre; und unser Sieg lässt uns ängstlicher als zuvor zurück. Wenn andere unsere Verkündigung, wir seien die Gottheit, akzeptieren, dann muss es schlimmer um die Welt bestellt sein, als wir geglaubt haben, und unsere Angst wächst. Der Diktator sucht noch weitaus weniger glaubhafte Ideen durchzusetzen, und er erzwingt den Gehorsam ihnen gegenüber auf immer grausamere Art und Weise; die Vereinigten Staaten suchen auf absurde Weise nach irgendeiner gerechten Sache, in der sie triumphieren können; Conan Doyle ist gezwungen, zu Sherlock Holmes zurückzukehren, und muss ihn aus den Reichenbach-Fällen retten. Unsere so ängstliche wie eifrige Suche nach Überlegenheit lässt sich durch einen momentanen Triumph nicht befriedigen. Denn wir wissen, dass wir am Ende unterliegen müssen. Die westeuropäische romance hat uns Hitler, die Romane von Anthony Trollope und das amerikanische Musical beschert. Bei allen dreien siegt die bisweilen verborgene, aber stets zutage tretende überragende Qualität des Helden. Diese Dramen mögen unterhaltsam sein, doch sie sind falsch und haben eine zunehmend Verblödende Wirkung. Wir leben in einer außergewöhnlich verderbten, interessanten, wilden Welt, in der eigentlich rein gar nichts mehr glatt ausgeht. Das wahre Drama hat das Ziel, uns daran zu erinnern. Vielleicht hat das eine zufällige, eine zunehmend gesellschaftliche Auswirkung — wenn es uns daran erinnert, ein bisschen demütiger, ein bisschen dankbarer oder auch ein bisschen nachdenklicher zu sein. Laut Stanislawski gibt es zwei Arten von Theaterstücken. Es gibt Stücke, aus denen man rausgeht und sich sagt: »Mein Gott, 18
ich hab' grad, ich hätte nie, herrje, ich will, jetzt versteh' ich endlich! Was für ein Meisterwerk! Trinken wir doch einen Kaffee«, und kaum ist man zu Hause, kann man sich an den Titel des Stücks nicht mehr erinnern und weiß nicht mehr, worum es ging. Und dann gibt es Stücke - und Bücher und Lieder und Gedichte und Tänze -, die vielleicht beunruhigend oder fesselnd oder ungewöhnlich sind, die man mit unklaren Gefühlen verlässt, über die man vielleicht aber am nächsten Tag nachdenkt, vielleicht auch eine ganze Woche und vielleicht auch noch den Rest des Lebens. Weil sie nicht sauber, nicht glatt sind; doch es ist etwas in ihnen, was aus dem Herzen kommt und deshalb auch zu Herzen geht. Was aus dem Kopf kommt, wird vom Publikum, vom Kind, von der Wählerschaft als manipulativ wahrgenommen. Und wir mögen dem Manipulativen einen Augenblick erliegen, weil wir uns wohl in unserer Haut fühlen, wenn wir uns auf die Seite der Mächtigen schlagen. Aber letztlich begreifen wir doch, dass wir manipuliert werden. Und dagegen haben wir was. Die Tragödie ist keine Feier unseres schließlichen Triumphs; sie feiert vielmehr die Wahrheit - sie zeigt keinen Sieg, sondern einen Verzicht. Viel von ihrer beruhigenden Kraft entstammt wiederum jener Einsicht, die Shakespeare benannt hat: »Wem nichts mehr hilft, der muss nicht Gram verschwenden.«
Transitpapiere Das, was der Held unbedingt braucht, ist das Stück. Im perfekten Stück finden wir nichts, was außerhalb seines oder ihres Verlangens liegt. Jedes Ereignis behindert oder hilft dem Helden/der Heldin bei der Suche nach dem einzigen Ziel. 19
Amerikanische Wahlkämpfe sind wie ein Drama strukturiert — so wie es vom Tross der Wahlhelfer verstanden wird. Der Held ist das amerikanische Volk, verkörpert in der Person des Kandidaten. Er oder sie setzt ein Problem in die Welt und schwört, es zu lösen. Wie die Zuschauer eines Theaterstücks lassen wir uns auf den Gag ein, nicht weil wir uns wünschen, dass das bestimmte Problem gelöst werden soll (was geht es uns an, ob Othello seine imaginäre Frau ermordet?), sondern weil eine Lösung für die Fähigkeit des Einzelnen steht zu triumphieren. Die Politik ist im Grunde ein viel strenger strukturiertes Drama als die meisten Stücke auf der Bühne. Performance-Kunst, »Happenings« und »Multi-Media« der sechziger Jahre offenbarten dem Künstler, dass die Zuschauer den zwischen dem Öffnen und Fallen des Vorhangs vor ihren Augen ablaufenden Ereignissen einen eigenen Plot unterlegten und dass vom Dramatiker/Performance-Künstler ein Plot gar nicht mehr verlangt wurde. Die Gang-Comedy, Episodenstücke, die plötzliche Häufung von zu abendfüllenden Stücken aufgeblasenen Einaktern und Versatzstücken - all das ist Ausdruck der Offenbarung, dass das Publikum seinen eigenen Plot liefert, wie es das bei Wahlkämpfen ja auch tut. (Ad absurdum geführt wird dieser Mechanismus bei Veranstaltungen vom Typ son et lumiere und bei politischen Großveranstaltungen wie Konferenzen und Parteitagen.) Die Politik hält sich augenblicklich enger an das traditionelle Drama, als die Bühne es tut. Ein Problem wird benannt, das Stück beginnt, der Held (Kandidat) bietet sich als Protagonist an, der eine Lösung finden wird, und das Publikum schenkt ihm seine Aufmerksamkeit. Wie beim traditionelleren Drama geht es in der Politik vor allem um ein imaginäres Problem - das heißt um etwas, was es entweder in Wirklichkeit gar nicht gibt oder was sich mit politischem Handeln nicht aus der Welt schaffen lässt (trotz aller 20
Gesetze werden Homosexuelle ihre sexuellen Praktiken fortsetzen, wie die Heterosexuellen es schon immer getan haben). Wir betreten den Laden eines Autohändlers, um ein Drama zu spielen. Es ist die für uns seltene Gelegenheit, aufgewertet und umworben zu werden. Wir wollen nichts über den Motor hören, wir wollen hören, wie smart wir sind. Und wir geben unsere Stimme und folgen mit Interesse jenem politischen Helden, der unser Leben dramatisiert und uns für eine Weile das Gefühl der Hilflosigkeit und Anomie abnimmt, das die moderne Zivilisation ausmacht. Ein Autoverkäufer, der unser lautstark geäußertes Verlangen, verführt zu werden, ignorierte oder sich darüber mokierte, würde verhungern, und wenn er noch so kenntnisreich über Autos reden könnte. Der Politiker, der sich ernsthaft politischen Fragen widmete, bliebe nicht lange im Amt. Wer erinnert sich noch an Adlai Stevenson? Deshalb ist es die schimärenhafte, trügerische Qualität der vom Politiker gewählten Anliegen, die uns die Gewissheit gibt, dass wir endlich etwas für unser Geld (unsere Stimme) bekommen — dass wir endlich tatsächlich ein Drama und nicht bloß fade Vernunft bekommen. »Die Zukunft«, »Veränderung«, »Unser Erbe«, »Morgen«, »Ein besseres Leben«, »Der American Way«, »Familienwerte« sind dramatische Abstraktionen. Sie haben keinerlei Bezugspunkte in der Wirklichkeit und bedeuten einfach: »Wenn der Streit vorbei ist. Wenn alles gelöst und geklärt ist. Wenn es in meinem Leben keine Unsicherheit mehr gibt.« Die Suche nach Hexen, Juden, Un-Amerikanern, Homosexuellen, Immigranten, Katholiken, Häretikern ist gleichermaßen reine Augenwischerei, ein Maskenspiel und in Wirklichkeit überhaupt kein politisches Anliegen. Die Hauptanstifter wählen sich selbst zu Protagonisten, benennen, was die bedauerliche Unsicherheit in der Welt verursacht, und 21
schwören, sie würden es vernichten, wenn wir ihnen nur unsere Stimme geben.(3) Shakespeare verrät uns, »Wahrheit ist ein Hund, der ins Loch muss und hinausgepeitscht wird, während Madame Schoßhündin am Feuer stehen und stinken darf«.(4) Und berechtigte politische Interessen — die Sorge um Umwelt und Gesundheitssystem — haben kaum Publikum, weil sie nicht dramatisch sind. Hier wirkt sich das Prinzip der psychischen Ökonomie aus, wie in allen Sphären unseres Traumlebens. Wir mögen uns den ganzen Tag den Kopf zerbrechen, ob wir in Florida oder Utah Urlaub machen sollen, träumen werden wir davon wahrscheinlich nicht. Wie sehr uns unsere Alltagssorgen auch auffressen, unsere Traumzeit ist zu wertvoll und widmet sich deshalb Problemen, die rationaler Betrachtung nicht zugänglich sind. Unsere Zeit im Theater ist auch kostbar. Und das gute Theaterstück wird sich nicht mit den Sorgen abgeben — wie sehr sie uns auch tagaus, tagein beschäftigen -, denen mit Vernunft beizukommen ist. Das Drama braucht das menschliche Verhalten nicht zu beeinflussen. Es gibt ein großartiges und äußerst wirksames Gerät, das die Einstellungen der Menschen verändert und sie die Welt auf neue Art und Weise sehen lässt. Man nennt es Schusswaffe. Ich arbeite seit dreißig Jahren oder länger mit allen Arten von Publikum an ganz unterschiedlichen Schauplätzen. Und mir ist nie ein Publikum begegnet, das in seiner Gesamtheit nicht klüger war als ich und mich nicht jedes Mal um Längen geschlagen hätte. Von diesen Leuten lebe ich schon mein ganzes Leben. Ich halte mich ihnen nicht für überlegen und habe kein Verlangen, sie zu ändern. Warum sollte ich, und wie könnte ich? Ich bin nicht anders als sie. Ich weiß nichts, was sie nicht auch wissen. Ein Publikum (eine Bevölkerung) kann durch Lügen, Bestechung (und Waffen) unter Druck gesetzt, in eine bestimmte Richtung gezwungen werden; und es kann belehrt/mit Predigten traktiert 22
werden. Dazu braucht es nur ein Rednerpult und einen Mangel an Achtung. In jedem Fall wird dabei aber das Publikum missbraucht. Es wird nicht »verändert«, es wird einem Zwang ausgesetzt. Dramatiker, die darauf abzielen, die Welt zu verändern, erheben sich moralisch über das Publikum und gestatten dem Publikum, sich moralisch über jene Leute im Stück zu erheben, die nicht die Ansichten des Helden teilen. Es ist nicht Aufgabe des Dramatikers, gesellschaftliche Veränderungen zu bewirken. Es gibt große Männer und Frauen, die gesellschaftliche Veränderungen bewirken. Und zwar, indem sie persönlichen Mut zeigen, der sie teuer zu stehen kommt - sie riskieren es, dass ihnen beim Marsch auf Montgomery die Köpfe eingeschlagen werden. Oder sie ketten sich an Säulen an. Oder stellen sich Hohn und Spott entgegen. Sie werfen ihr Leben in die Bresche, und das kann andere zu Heldentum inspirieren. Aber Kunst dient nicht dem Ziel, etwas zu verändern, sondern Vergnügen zu bereiten. Sie dient meiner Meinung nach nicht dem Ziel, uns zu erleuchten und aufzuklären. Nicht, uns zu ändern. Und auch nicht, uns zu belehren. Ziel der Kunst ist es, uns Vergnügen zu bereiten: Gewisse Männer und Frauen (nicht klüger als Sie und ich), deren Kunst uns Vergnügen bereiten kann, sind davon freigestellt worden, Wasser holen und Holz schleppen zu müssen. Mehr ist da nicht. Das Theater ist dazu da, sich mit den Problemen der Seele zu beschäftigen, mit den Geheimnissen des menschlichen Lebens, nicht mit seinen alltäglichen Misslichkeiten. Zum einen, wie Eric Hoffer sagt, gibt es die Kunst, zum Beispiel Warten auf Godot. Zum andern gibt es populäres Entertainment, zum Beispiel Oklahoma. Und dann gibt es noch Massenenentertainment wie etwa Disneyland. Und da wir sündigen Geschöpfe nun einmal zum Tode verurteilt sind, werden wir wahrscheinlich dafür sorgen, wenn wir auch nur ein Milliardstel einer Chance haben, dass das schlechte Geld das gute vertreibt, werden wir das Schöne zum Verderbten und Verkommenen pervertieren. 23
Obschon wir also die Fähigkeit besitzen und gelegentlich auch nutzen, die Kunst zu jener Ehrfurcht vor dem Religiösen, dem sie so vorzeitig entrissen wurde, hin zu steuern und sie daran teilhaben zu lassen, besitzen wir doch auch die Fähigkeit, diesen Drang, der uns zum Drama treibt, zu pervertieren, um einander zu unterdrücken und zu versklaven.' So haben wir einerseits Samuel Beckett. Andererseits haben wir Leni Riefenstahl. Beide arbeiten mit genau der gleichen menschlichen Fähigkeit, das Unerträgliche zu einem Sinn zu ordnen — der eine schafft reinigende Kunst, die andere macht Reklame für Mord. Ich glaube nicht, dass es Ziel der Kunst ist, Menschen zu erreichen. Ich weiß auch gar nicht, was »Menschen erreichen« bedeutet. Ich weiß, was Hazlitt gesagt hat: Es ist leicht, den Mob dazu zu kriegen, dass er mit dir einer Meinung ist; du brauchst nichts weiter zu tun, als der Meinung des Mobs zu sein. Aristoteles hat geschrieben, dass einem guten Menschen weder im Leben noch nach seinem Tode etwas Böses widerfahren könne. Diese Verkündigung lässt sich als eine eher fade Verheißung auffassen, oder sie lässt sich, was vielleicht richtiger ist, als eine Definition des Bösen ansehen. Das heißt, was auch immer dem guten Menschen widerfährt und wie schrecklich es sein mag, kann nichts Böses sein, wenn es nicht seinen eigenen Handlungen entspringt (ein Geburtsfehler mag zwar bedauerlich sein, kann aber nichts Böses sein). Was einem guten und schlechten Menschen gleichermaßen widerfahren kann, kann nicht böse sein; es kann sich dabei nur um Zufälle handeln, und als solche sind sie ein angemessener Gegenstand nicht des Dramas, sondern des Klatsches. Wie der Klatsch vermag auch das »Problemstück« unsere momentane Aufmerksamkeit zu fesseln; aber wie der Klatsch lässt es uns ziemlich leer zurück, nachdem sich der Kitzel erschöpft hat, und wie gewöhnlich folgt darauf die Scham. Und so macht sich das Stück die Belange der Politik zu Eigen, die alltäglichen 24
Sorgen, während die Politik sich die Belange des Dramas zu eigen macht und den Mangel an Theatralischem ausgleicht. Die Präsentation einer theatralischen Aufgabe gibt uns die Gewissheit, dass unsere politische Aufmerksamkeit belohnt wird, genauso wie uns der Held mit einer Pistole in einer Filmreklame die Gewissheit verschafft, dass wir »Action« sehen werden. Der Film, für den mit einer Knarre geworben wird, die dann auf der Leinwand gar nicht auftaucht, wird ebenso schlecht abschneiden wie ein Politiker, der Drama verspricht und dann nur soziale Betroffenheit liefert. Es ist deshalb für einen erfolgreichen Wahlkampf wesentlich, dass die Themen weitgehend, vielleicht auch hundertprozentig symbolisch sind - sich also auf nichts festzulegen. Ehrenhafter Friede, Kommunisten im Außenministerium, angebotsorientierte Wirtschaftspolitik, Wiederbelebung des Traums, Bringt uns den Stolz zurück — das sind Themen für Festveranstaltungen. Es sind keine sozialen Ziele; sie sind, wie uns Alfred Hitchcock verraten hat, MacGuffins. Das war natürlich Hitchcocks Bezeichnung für »das, was der Held haben will«, und dass Hitchcock sich so sehr auf dieses Konzept konzentriert hat, erklärt viel von seinem Erfolg als Filmregisseur. Er hat ganz genau gewusst, dass das dramatische Ziel allgemein ist. Es braucht nicht spezifischer zu sein als der Malteserfalke, die Transitpapiere, die Geheimdokumente. Es reicht völlig, wenn der Protagonist/Autor den Wert des MacGuffin kennt. Je weniger spezifisch der MacGuffin, desto größer das Interesse des Publikums. Warum? Weil eine wenig umrissene Abstraktion den Zuschauern erlaubt, ihre eigenen Wünsche auf ein im Wesentlichen unbezeichnetes Ziel zu projizieren. Genau wie sie es bei den Begriffen »Amerikanisch«, ein »Besseres Leben« oder »Morgen« tun. Es ist leicht, sich mit der Suche nach einem Geheimdokument zu identifizieren, etwas schwerer schon mit einer Heldin, die sich zum Ziel gesetzt hat, das Element Radium zu identifizieren und zu 25
verstehen. Deswegen verfallen Autoren und Regisseure bei dramatisierten Biographien schließlich immer ins Fiktive. Um der Effektivität willen müssen und werden die dramatischen Elemente schließlich alle »realen« biographischen Fakten in den Hintergrund drängen. Uns Zuschauern ist das egal wenn wir uns über das Element Radium informieren wollten, würden wir ein Buch über das Element Radium lesen. Wenn wir ins Kino gehen, um uns Das Leben der Madame Curie anzusehen, wollen wir erfahren, wie ihr Hündchen Skipper gestorben ist. Wie in jedem Traum ist in einem Drama die Tatsache, dass etwas »wahr« ist, irrelevant wir sind nur dann bei der Sache, wenn das Etwas direkt mit der Suche des Helden zu tun hat (der Suche nach dem MacGuffin), so wie sie festgelegt wurde. Deswegen beruht die Macht des Dramatikers und die des Wahlhelfers auf der Fähigkeit, das Problem zu benennen. (Während des Prozesses gegen O. J. Simpson besuchte ich eine Party, auf der auch ein paar ziemlich bekannte Juristen waren. Ich sagte, meiner Meinung nach bestehe eine rechtliche Auseinandersetzung nicht aus der Suche nach der Wahrheit, sondern in der List, sich das Recht zu sichern, das zentrale Problem zu bestimmen. Sie lachten und gaben mir einen freundlichen Klaps. »Du hast die ersten beiden Jahre des Jurastudiums übersprungen«, meinte einer.) Das Problem, der MacGuffin, die gottlose Bedrohung des Staates - sie besitzen die Macht, unsere Phantasie zu beflügeln, und nur, wie Eric Hoffer schreibt, wenn einem das gelingt, kann man die Aufmerksamkeit von Gruppen (dem Mob, der Wählerschaft, des Publikums) lenken. Es liegt in der Natur unseres Verstandes, die wahrgenommenen Elemente der Bedrohung zu ordnen, zu benennen und sie so zu strukturieren, dass wir alternative Methoden, sie zu besiegen, in Betracht ziehen und den besten Plan dazu in die Tat umsetzen können. 26
Ebenso nehmen wir die Welt wahr. Eben das machen wir den ganzen Tag. Das Drama erregt uns, da es das wesentlichste Element unseres Daseins rekapituliert und ins Spiel bringt: unseren hochgeschätzten Anpassungsmechanismus. Ein Hündchen, das nicht auf den Befehl »bei Fuß« reagiert, kommt zu seinem Herrchen zurück, wenn sein Herrchen hinfällt und reglos liegen bleibt. Das Hündchen kommt ganz bestimmt zurückgetrottet. Warum? Weil es meint, sein Herr und Meister sei machtlos und es, das Hündchen, habe jetzt die Chance, ihn zu töten. Freudig kommt das Hündchen zurück, da sich ihm nun die ungehinderte Möglichkeit bietet, seine wertvollsten Überlebensfertigkeiten auszuüben. Genau wie wir im Drama. Wir können unsere Überlebensfertigkeiten ausüben, dem Protagonisten vorauseilen, stellvertretend für ihn Angst empfinden, während wir uns in Sicherheit wissen. Darin besteht die Macht und die Freude des Dramas. Deshalb ist ein zweitklassiges Drama, das nicht als eine Suche des Helden nach dem einzigen Ziel strukturiert ist, auch nicht erinnernswert; und deshalb bietet eine dramatische Struktur, selbst in einem nichtdramatischen Rahmen, so ein gutes Entertainment.
27
zwei Probleme des zweiten Akts Die Probleme der zweiten Hälfte sind nicht die Probleme der ersten Hälfte. Die Fahrt hinaus scheint immer länger als die Fahrt zurück. Es ist eine neue Reise, und sie verlangt von uns allerschärfste Konzentration, da wir Ausschau halten nach Zeichen, nach charakteristischen Merkmalen, nach der Abkürzung. Auf der Rückfahrt können wir das Wesentliche besser vom Äußerlichen unterscheiden; unsere Konzentration bündelt sich nun aufs Ziel. Deshalb nimmt das Fortschreiten hin zum Höhepunkt, zur Auflösung, zum Schluss an Geschwindigkeit zu. Wir haben die Fakten bekommen, und unsere Aufmerksamkeit ist gebündelter. Wir brauchen jetzt nur noch auf unseren Fortschritt in Richtung Ziel zu achten sowie auf die gelegentliche Störung durch ein ungewöhnliches Hindernis, die außergewöhnliche Wendung der Handlung. Da die Aufmerksamkeit des Publikums gewährleistet ist, ist es ein Leichtes, etwas Neues von außen einzuschieben - ein Publikum wird das als wesentlich akzeptieren bis zu dem Punkt, an dem es sich als das Gegenteil erweist (und der Punkt ergibt sich nach dem Ende des Stücks, wenn die Leute auf dem Heimweg sind - und weil sie sich dann erleichtert fühlen, kann man damit rechnen, dass sie viel verzeihen). George M. Cohan hat das, was er zu Recht als Manko des ersten Akts empfand, ausgebügelt, indem er den Helden auftreten ließ, der dann eine Pistole aus seinem Mantel holte, sich umschaute, um sicherzugehen, dass er unbeobachtet war, und die Pistole in eine Schublade legte. 28
Diese Einführung eines Elementes von außen ist für einen ersten Akt, wo alles problemlos läuft, ungewöhnlich (es ist oft gesagt worden, dass jeder einen guten ersten Akt schreiben kann); im zweiten Akt ist es alles andere als ungewöhnlich. (Ein Witz am Künstlerstammtisch im Algonquin: Ein paar Leute sitzen zusammen und unterhalten sich. Sagt der eine: »Wie kommt denn das Stück voran?« Sagt der andere: »Ich habe Probleme mit dem zweiten Akt.« Alle lachen. »Natürlich hast du Probleme mit dem zweiten Akt!«) Wenn der Vorhang aufgeht, ist uns Aufmerksamkeit sicher. Deshalb brauchen wir Dramatiker eine Zeitlang nichts zu tun. Später wird die Handlung entweder fesseln, oder das Publikum fängt an zu gähnen oder Popcorn zu essen. Es ist durchaus üblich, dass im zweiten Akt eines Stücks ein Element von außen eingeführt wird. Das Publikum will gereizt, in die Irre geführt und bisweilen auch enttäuscht werden, damit es am Ende zufriedengestellt werden kann. Für das Publikum muss deshalb der zweite Akt mit einem Fragezeichen enden. Das geht in Ordnung für das Publikum, braucht es doch zu diesem Zeitpunkt noch nicht zu wissen, wie die Antwort auf die Frage lautet. Aber der Künstler muss es wissen. »O Gott«, sagt der Künstler nach diesem ersten Drittel, »jetzt habe ich weder die Entschlusskraft und Stärke des Anfangs noch die neue Kraft, die sich aus dem Ausblick aufs Ende ergibt - hier sitze ich also, kurz gesagt, in der Mitte.« Oder der Künstler sagt: »Ich hab's doch schon im Kopf, zwingst du mich wirklich, es aufzuschreiben?« Lösungen für das Problem des mittleren Akts sind eine Charakterprüfung. Wenn Künstler sich über ihre Protagonisten erheben, ist die Aufgabe sehr einfach: Sie fabrizieren eine Komplikation, wie Cohan mit der Pistole und der Schublade.
29
Das Ende schon im Anfang vergraben zu haben (die größte Leistung in einem Drama) ist da schon etwas schwieriger. Es bedeutet, dass sich im mittleren Abschnitt das bislang Unerwartete ergeben muss; und wenn es sich ergibt, muss es den Protagonisten (und den Künstler) in tiefste Verzweiflung stürzen: »Ich hatte mit allem, nur damit nicht gerechnet.« Aus dieser Verzweiflung muss der Entschluss erwachsen, die Reise zu vollenden. In seiner Analyse der Weltmythen nennt Joseph Campbell diese Periode im Bauch der Bestie — die Zeit, die nicht Anfang und nicht Ende ist, die Zeit, in der der Künstler und der Protagonist an sich zweifeln und wünschen, die Reise hätte nie begonnen. Das ist der Schauplatz für den Angriff auf das letzte Ziel die Zeit, in der das anfängliche Ziel sich in ein höheres Ziel verwandelt und sich die wahre Natur des Kampfes behauptet. Im Leben des Künstlers ist das die Periode, die unweigerlich »die gute alte Zeit« genannt wird. Es ist die Zeit des Kampfes. Wir haben alle einen Mythos, und wir leben alle nach einem Mythos. Dafür leben wir. Es gehört zur Heldenreise, dass der Held (Künstler/Protagonist) zu anderen, neuen Erkenntnissen gelangt, ob durch die Macht der Verhältnisse (was häufiger im Drama vorkommt) oder durch Willenskraft (was öfter in der Tragödie der Fall ist). Der Held muss sein Denken über die Welt verändern. Und dieser Prozess des Um- und Überdenkens kann große Kunst ergeben. Tolstoi schreibt, wenn man sich dieser Überprüfung, dieser Revision nicht im Alter zwischen dreißig und vierzig unterziehe, werde das restliche Leben geistig steril sein. Wir identifizieren das Auftreten dieses Phänomens ganz richtig als »Midlife Crisis« und bemühen uns, sie hinter uns zu bringen, damit wir in unseren vorher weniger problematischen Zustand zurückkehren können— da wir glauben, dass der jetzige Zustand zwischen uns und jeder Möglichkeit des Glücks und Erfolgs steht. Ganz im Gegenteil ist dieser Zustand jedoch der Anfang einer großen Gelegenheit. Tolstoi meinte, es sei die Gelegenheit, den Mythos zu ändern, nach 30
dem wir bisher gelebt haben, alles neu zu überdenken, zu fragen: »Was ist das Wesen der Welt?« Der mittlere Abschnitt, der zweite Akt, der Sumpf der »Midlife Crisis« ist die Zeit des latenten Traums. Im ersten Akt wird der manifeste Traum vorgestellt. Der Held verschreibt sich einem selbstgewählten Kampf: eine jüdische Heimstätte zu schaffen, die Ursache für die Pest von Theben zu finden, die Freiheit der Scotts-boro-Boys zu erreichen. Im mittleren Abschnitt ist das hochgesinnte Ziel abgesunken zu einer, wie es scheint, alltäglichen, mechanischen und gewöhnlichen Plackerei: Jetzt versuchen wir nicht mehr, eine jüdische Heimstätte zu gründen, sondern verhandeln mit einem Schreibwarenhändler über die Lieferung von Briefpapier, um Spendenaufrufe zu schreiben und zu verschicken. Jetzt versuchen wir nicht mehr zu erkennen, wie zu leben sei in einer vaterlosen Welt; dafür entsenden wir zwei impertinente Trottel namens Rosenkrantz und Güldenstern. Der Witz sagt es: Sich zu erinnern, dass man den Sumpf trockenlegen wollte, fällt schwer, wenn man bis zum Arsch im Alligator steckt. Und das ist das Problem des zweiten Aktes. Der Akt peilt wirklich das Ziel an (welches darin besteht, uns in den dritten Akt zu führen: zum Höhepunkt der Suche, dem »erhabenen« Konflikt), wenn der Held die Last des scheinbar Alltäglichen akzeptiert, die Plackerei auf sich nimmt und die Notwendigkeit, ohne Begeisterung, ja nicht einmal mit Interesse die Handlungen fortzuführen. An diesem Punkt gewinnt das Stück wirklich an Schwung. An diesem Punkt sagt der Held: »Die schwule Bevölkerung hat mich unterstützt, weil ich versprochen habe, ich werde die Diskriminierung der Schwulen beim Militär beenden, und das werde ich jetzt auch tun, egal, ob mir danach ist oder nicht«; an diesem Punkt beschließt Othello, Jagos Theorien auf die Probe zu stellen, weigert sich Rosa Parks, ihren Sitzplatz im Bus zu räumen. 31
Wie oft haben wir gehört (und gesagt): Ja, ich weiß, dass ich gewarnt worden bin, dass der Weg schwer werden würde, und ich würde aufgeben wollen, das sei unausweichlich, und dass an genau diesem Punkt die Schlacht verloren oder gewonnen sein würde. Ja, das weiß ich alles, aber jene, die mich gewarnt haben, konnten das Ausmaß der spezifischen Schwierigkeiten nicht vorausgesehen haben, auf die ich an diesem Punkt stoße Schwierigkeiten, die mich leider, aber ich habe keine andere Wahl, zwingen, den Kampf aufzugeben (und etwas zu trinken, eine Zigarette zu rauchen, eine Affäre zu beginnen, auszuruhen), kurz gesagt, mein Scheitern einzugestehen. Es ist das romantische Modell, das uns zu dieser Erklärung verleitet. In der romance ist die Dauer der Kämpfe verkürzt, wird zur rein formalen Durchgangsphase, und gekrönt wird sie durch das Eingreifen der Guten Fee (Deus ex machina, Weihnachtsmann, Eintreffen der Kavallerie). Der Familienfilm ist eine romance. Der Held-Knabe will sich in einer Erwachsenendisziplin auszeichnen — er will Karate, Baseball, Turnen lernen, dieses oder jenes Rennen gewinnen - und geht in die Lehre bei einem Lehrmeister und erfährt, dass es ihm an Können mangele. Der Meister/Pate/die Patin wendet einen Zauberstab oder eine Beschwörungsformel an, und der Held entdeckt, dass er die Schwierigkeit gemeistert hat. Diese romances sind semireligiöse Formulierungen, die auf der Vormacht des Glaubens beruhen. In Karate Kid, Krieg der Sterne, Eine Weihnachtsgeschichte wird den Protagonisten ihr Wunsch gewährt, wenn sie erkennen, dass sie »alles in sich« haben. (Der moderne Kult-Bestseller A Course in Miracles [Wunder lernt man immer wieder] lässt sich, wie die meisten Selbsthilfebücher, auf eine ähnliche Aussage reduzieren: Man braucht nur zu erkennen, dass man Gott ist, dann wird man auch Gott sein.) 32
Diese romances räumen die Suche der mittleren Phase - die Probleme des zweiten Akts auf eine Weise aus dem Weg, die sich vergleichen lässt mit der Verheißung von Halluzinogenen, den Schlüssel zum Universum zu liefern. Sie reduzieren die Schwierigkeit des Problems auf Null und belohnen dann das Individuum dafür, es gelöst zu haben. Marihuana zum Beispiel wird keinem helfen, das korrekte Flächenverhältnis für die Heckkonstruktion eines Flugzeuges zu bestimmen; aber wenn es um das Problem »Was bedeuten die Farben?« geht, mag jede/ jeder ihre/seine Lösung durchaus der Droge zuschreiben. Bleiben wir beim Bild und malen den Gedanken etwas aus; das Problem »Wo krieg ich bloß noch mehr von meinen Drogen her?« mag schwierig erscheinen, ist aber nicht so schwierig wie: »Wie kann ich mein Leben in dieser enttäuschenden, unberechenbaren und bisweilen ekelhaften Welt leben?« In der Politik wie im Drama wird die falsche, die leichte Aufgabe oft die schwierige und edle Suche genannt. Es ist manchmal leichter, verlorenem Geld noch mehr Geld nachzuschmeißen, als einzugestehen, dass man sich geirrt hat, dass man irregeleitet, hochmütig, dumm gewesen ist. Aber das sind eben die Probleme des zweiten Akts. »O welch ein Schurk' und niedrer Sklav' bin ich!« ist der Ausdruck des diametralen Gegensatzes zu einem fehlgeleiteten Festhalten an einem falschen Kurs (der Suche nach dem Ehrenhaften Frieden, der Entdeckung einer biblischen Verteidigung der Sklaverei oder der Homophobie). Wie wir unser Leben, unser Drama begreifen (und das Drama auf Bühne oder Leinwand kann nichts anderes sein als die Art, wie wir unser persönliches Drama begreifen) — dieser Prozess des Verstehens gliedert sich in einen Dreischritt: Es war einmal (das Erzählen ermöglicht uns, die Schwierigkeit/das Verlangen/das Ziel des Helden zu verstehen); Jahre vergingen (die mittlere Phase der 33
Kämpfe); und dann eines Tages (die unausweichliche, aber doch unvorhergesehene Komplikation tritt ein, wird buchstäblich durch die Suche des Helden in der mittleren Phase ins Leben gerufen - der jähe Sturz in den Endkampf, der sich so lesen lässt: Hier wird dem Helden der Wunsch, entstanden in der mittleren Phase, nach einem Kampf mit klaren Fronten erfüllt, der das bestehende Problem voll und ganz löst). In unserem Leben sind wir häufig in die Unfähigkeit verstrickt, die mittlere Phase in aller Offenheit zu betrachten, einzugestehen, dass wir die falsche Richtung eingeschlagen haben und (denken wir vielleicht) zum Beginn unseres Kampfes um Erkenntnis zurückzukehren. Wir neigen vielmehr zu der Wahl, im Irrtum zu verharren und einfach weiterzumachen. (In Ibsens Volksfeind wird Dr. Stockmann gewählt, um den Ort dadurch zu retten, dass er die Ursache der Wasserverseuchung entdeckt; er konnte nicht vorausgesehen haben, dass er sich in der mittleren Phase weiterhin für die Rettung des Ortes einsetzen muss, obwohl die Bewohner ihn deshalb umbringen wollen.) Es ist nicht natürlich, diese Probleme anzupacken. Es ist kein Zuckerschlecken - es verlangt von einem, sich seine eigene Arroganz einzugestehen, wenn man den eigenen so geliebten Talenten und Leistungen vertraut. An dieser Stelle verlangt die romance vom Helden, einfach seinen Glauben walten zu lassen, so zu handeln, als ob das Problem gar nicht existierte. Das wahre Drama und insbesondere die Tragödie verlangt vom Helden, seinen Willen in die Tat umzusetzen, vor unseren Augen auf der Bühne seinen/ihren eigenen Charakter zu erschaffen, die Kraft, weiterzumachen. Sein/ ihr Streben nach Erkenntnis, nach der richtigen Bewertung des eigenen Charakters und danach, sich selbst ins Gesicht zu sehen (mittels der Wahl der richtigen Kämpfe) —, das erst inspiriert uns und verleiht dem Drama die reinigende Kraft und das Vermögen, uns zu bereichern. Das ist der Kampf im zweiten Akt. 34
Gewalt Bei den Stoikern steht geschrieben, dass der vortreffliche König unbewacht durch die Straßen gehen kann. Heute gibt unser Geheimdienst jedes Mal Millionen aus, wenn der Präsident mit seinem Gefolge einen Ausflug macht. Mythologisch gesehen, werden Geld und Bemühungen nicht dafür eingesetzt, das gefährdete Leben unseres Präsidenten zu schützen — wir alle führen ein gefährdetes Leben —, sondern um die Gesellschaft: vor der Erkenntnis zu bewahren, dass dieses Amt eine Formsache ist und dass trotz all unserer Versuche, ihm wirkliche Macht zu verleihen- die Monroe-Doktrin, das Kriegseinsatz-Gesetz, der »rote Knopf« -, es nichts gibt außer uns. Diese politische Leerstelle soll das staatliche Brimborium aufwiegen. (Man könnte die Erkenntnis der Stoiker umdrehen: Ein Land, das nicht merkt, dass seine Führung nur formal die Macht hat, das sich gegen diese Erkenntnis schützen oder sie unterdrücken muss, muss unglücklich sein. Die praktische Unterdrückung kann sehr wohl Wut erzeugen, und diese Wut kann sich sehr wohl gegen den Führer richten, der den unhaltbaren Gedanken verkörpert. Und deswegen ist der Führer auf der Straße nicht sicher.) Unser Verteidigungsministerium existiert weder, »um unseren Platz in der Welt zu sichern«, noch, um »Sicherheit gegen Bedrohungen von außen zu bieten«. Es existiert, weil wir bereit sind, alles zu vergeuden -Reichtum, Jugend, Leben, Frieden, Ehre, alles -, um uns gegen das Gefühl unserer eigenen Wertlosigkeit, unserer eigenen Machtlosigkeit zu verteidigen. Unsere Stellung in der Welt ist nicht wacklig, aber unser psychisches Gleichgewicht ist bedroht. Mit unserer Hingabe an die Vorstellungen unserer eigenen Überlegenheit gleichen wir den zwanghaften Glücksspielern, die das Drama ihrer eigenen Wertlosigkeit ausagieren. Sie spielen, weder um zu gewinnen, noch um zu verlieren, sondern um ihr Gleichgewicht zu bewahren, 35
und das gelingt ihnen nur beim Spiel - Gewinn und Verlust rücken die Disparität zwischen den Handlungen der Spieler und ihrem Unbewussten in den Brennpunkt und verursachen somit Unruhe. Wenn sie gewinnen, können es sich diese Spieler nicht erklären, warum sie weiterspielen. Wenn sie um Reichtum spielten, warum haben sie dann keine Freude am Reichtum? Wenn sie, wie es unweigerlich der Fall ist, verlieren, können sie nicht erklären, warum sie überhaupt gespielt haben — wenn es um Reichtum ginge, warum haben sie dann nicht erkennen können, dass am Ende unweigerlich der Verlust steht? Beide Ergebnisse sind nicht zu ertragen, und deshalb müssen sich diese Spieler in den Zwang flüchten und sich der Unlogik und dem Schmerz ergeben, um sich gegen die Erkenntnis zu schützen. Auf ähnliche Weise lässt unsere verwirrende Außenpolitik einen Zwang erkennen, sich in Kampf und Streit zu stürzen (entweder als teilnehmende Partei oder, wenn das nicht möglich ist, als Vermittler, in der Hoffnung, durch die Vermittlung in den Streit verwickelt zu werden). Dieser Zwang verschont uns von dem Trauma, uns mit der Unvereinbarkeit von zwei nationalen Triebkräften auseinandersetzen zu müssen — dem Bedürfnis zu gestehen und dem Bedürfnis zu prahlen. Wir setzen uns mit Korea auseinander, indem wir den Vietnamkrieg führen, mit unserem nationalen Überschuss und der sicheren Position im Welthandel, indem wir die Tragödie der Sparkassenpleiten aufführen. Es ist uns zunehmend unmöglich, ein nationales Gleichgewicht zu ertragen oder dafür zu arbeiten, weil wir uns in einem solchen Gleichgewicht womöglich mit den unbewussten und unheilvollen Grundlagen unseres Nationalcharakters beschäftigen müssten. Das Über-Ich ist dazu geschaffen, zwischen den Aufgaben des Bewusstseins und des Unbewussten zu vermitteln. Das gleiche gilt für Neurosen und Psychosen und für die Kunst. Wenn Kunst die Synthese bildet, sozusagen als Vermittler dient, wird ein Gleichgewicht geschaffen. In großer Kunst - die Bibel, 36
Shakespeare, Bach - ist dieses Gleichgewicht von Dauer. Nicht, dass große Kunst eine große Wahrheit offenbart; sie schlichtet vielmehr einen Konflikt — indem sie ihn ins Offene bringt, statt ihn nur vernunftgemäß zu erklären. (Die Repression ist die Neurose, wie Freud gesagt hat.) Jene Künste und Pseudokünste, die sich nur an den bewussten Verstand wenden, befriedigen nicht. Nehmen wir zum Beispiel das Problemstück. Sagen wir, wir schreiben das Jahr 1914, und Frauen haben noch kein Wahlrecht. Eine junge Frau, die sich für das Frauenwahlrecht einsetzt, bringt alle ihre Freundinnen zusammen, und das Thema wird diskutiert. Unter diesen Freundinnen ist eine intelligente Frau, die nichtsdestoweniger gegen das allgemeine Stimmrecht ist. Also haben wir eine Szene zwischen den beiden Frauen. Dann haben wir eine Szene zwischen der Frau, die gegen das allgemeine Wahlrecht ist, und ihrem Mann. Dann haben wir eine Szene zwischen zwei Frauen, die für das Wahlrecht eintreten, von denen eine jedoch Angst hat, öffentlich dafür zu kämpfen, weil sie einmal eine Affäre hatte und nun fürchtet, dass durch die Publicity die Affäre ans Licht kommen könnte, und so weiter, und so fort. Wenn Sie oder ich dieses Stück schreiben wollten, würden sich ähnliche Szenen von selbst anbieten, und wir würden sie sich von selbst entwickeln lassen. Aber das Stück ist ein reines Produkt des bewussten Verstandes. Es ist überfrachtet von der Notwendigkeit, eine bewusst eingenommene Anschauung der Welt zum Ausdruck zu bringen. Und das Frauenwahlrecht ist ein so wichtiges Thema, dass es auf alles abfärben muss. Jede Szene und jede Zeile müssen auf die richtige Schlussfolgerung verweisen — Frauenwahlrecht ist eine gute Sache -, und das Unbewusste wird nie und nimmer an der Entstehung dieses Stücks beteiligt sein. Und so haben wir ein sehr wichtiges Thema, das dennoch nie zur Kunst taugen kann. Es ließe sich daraus ein gutes Traktat machen, ein gutes Parteiprogramm, eine gute Rede. Aber Kunst kann es nicht sein. 37
Brecht hat über den Verfremdungseffekt und den Nutzen des Agitprop-Theaters geschrieben. Aber diese Texte haben wenig zu tun mit seinen Stücken, die außerordentlich bezaubernd und schön und lyrisch und aufwühlend sind. Zufällig handeln sie von sozialen Problemen. (Ich halte Brecht für einen großen Stückeschreiber. Ich finde seine theoretischen Schriften etwas problematisch.) Wir mögen, wie alle Darbietungen, die uns in unserer Macht und Rechtschaffenheit bestätigen (Flaggenschwenken und so weiter), diese Pseudokünste lauthals bejubeln, aber nach dem Jubel sind wir leer und allein. Solche Darbietungen schmeicheln unserem Ego. Sie teilen uns mit, dass alles - Erkenntnis, Weltherrschaft, Glück — in uns steckt, in unserer Gewalt liegt (»Wir sind die Nummer Eins!«) und dass das Leben für Menschen, die so mächtig, einsichtsvoll und gesegnet sind wie wir, einfach sein sollte und einfach sein wird. Aber das Leben ist nicht einfach, die Wahrheit ist nicht einfach, wahre Kunst ist nicht einfach. Wahre Kunst ist so tief und schwierig und verschiedenartig wie Geist und Seele jener Menschen, die sie erschaffen. Wir mögen immer wieder zur Pseudokunst zurückkehren, wie der zwanghafte Esser oder Spieler, weil wir hoffen, beim nächsten Mal die richtige Wahl zu treffen. Aber zwanghaftes Verhalten hat nicht die Suche nach Frieden zum Ziel; es ist eine erzwungene Stärkung der Zwanghaftigkeit an sich. (Die Leute zieht es in Sommerfilme (6), weil sie keine Befriedigung verschaffen - und damit Gelegenheit bieten, die Zwangshandlungen zu wiederholen.) Wenn wir den perfekten politischen Führer wählen wollen, wenn wir den perfekten Film mit den höchsten Einspielergebnissen suchen, wenn wir die durchsichtigsten Zerstreuungen mit Preisen überschütten, haben wir nur das Ziel, auch weiterhin unseren inneren Zwängen zu gehorchen. Den perfekten Führer/perfekten Film gibt es nicht; ebenso wenig wird ein Spielgewinn den zwanghaften Spieler heilen. Und was wir als den Weg »zur Vollkommenheit« definieren, existiert nur, um uns 38
die Erkenntnis vorzuenthalten.
unserer
grundlegenden
Unausgeglichenheit
Wenn der Präsident von Hunderten von entschlossenen Schützen umgeben wird, wenn Filmstars für drei Monate Arbeit Dollars in zweistelliger Millionenhöhe bezahlt bekommen, sollen damit nicht nur die Götter versöhnt werden, sondern damit werden die Hauptakteure als Götter versöhnt — man verkündet: »Diesmal habe ich den Vollkommenen gefunden. Diesmal ist es mir gelungen.« Wenn wir sehen, dass wir unweigerlich gescheitert sind, unterdrücken wir unsere Selbstverachtung dadurch, indem wir unsere MaßStäbe strenger fassen. Wir unterdrücken unsere Wut über unser Unvermögen, die richtige Wahl zu treffen. Aber die Wut drückt sich in Bildern der Gewalt aus. Die Autojagd im Film und sogar der Aufschrei »In Filmen wird zuviel Gewalt gezeigt« zeigen eines: Die Kunst, das organische Medium zur Vermittlung zwischen dem Bewussten und dem Unbewussten, ist in den Dienst des Zwangsmechanismus gezwungen worden. Die Kunst, heute nicht mehr das Feld des Künstlers, ist zum Werkzeug des Unternehmers geworden - und das heißt zum Werkzeug des bewussten Verstandes. Der Verstand fragt: »Wozu ist Kunst gut?« und antwortet: »Um die Menschen zu erfreuen.« Aber der bewusste Verstand kann kein Vergnügen daraus ziehen, Menschen mit Kunst zu erfreuen, weil er keine Kunst schaffen kann. Deshalb verbündet sich der bewusste Verstand mit der Kunst und bezieht sein Vergnügen daraus, Geld zu machen. (Denken Sie bitte daran, dass das altruistische »Ich werde den Menschen helfen, ich bringe ihnen Kunst« und das korrupte »Wenn ich den Leute gebe, was sie wollen, werde ich reich« gleichermaßen einen Missbrauch des menschlichen Kunstbedürfnisses darstellen. Beide sind ausbeuterisch. In keinem Fall wird auf das Bedürfnis nach Kunst eingegangen; in beiden 39
Fällen stammt die Befriedigung aus der Mitwirkung am Mechanismus.) Künstler fragen sich nicht: »Wozu ist Kunst gut?« Es treibt sie nicht, »Kunst zu schaffen« oder »Menschen zu helfen« oder »Geld zu machen«. Es treibt sie, die Last der unerträglichen Disparität zwischen dem Bewussten und dem Unbewussten zu mindern und so Frieden zu erringen. Wenn sie Kunst machen, hat ihre nichtrationale Synthese die Macht, uns Frieden zu bringen. Die Worte des rationalen Denkens verfügen nicht über die Macht, uns durch die Kunst Frieden zu bringen. (Wir zeigen wohl alle die amerikanische Flagge, ohne unser Gefühl der nationalen Sicherheit zu vergrößern vielmehr ist es ziemlich klar, dass die Häufigkeit der gezeigten Flagge direkt proportional zu unserer Unsicherheit ist.) Der Künstler muss die gleichen Heldenkämpfe durchmachen wie der Protagonist. Wer im Autorengebäude auf dem Studiogelände der Fox hockt und 200 000 Dollar die Woche kriegt, weiß, dass er besser aus seinen Tagträumen aufwachen sollte und Benji kehrt zurück zu Papier bringt. Wenn Sie aber ganz für sich im Cafe sitzen, eine Zigarette rauchen, sind Sie viel freier, den eigenen bizarren, beunruhigenden Gedanken zu folgen. Denn alle Ihre Gedanken sind im Grunde bizarr und beunruhigend. (Wenn sie das nicht wären, würden wir nicht nur nicht ins Theater gehen, wir würden auch nicht träumen.) Und so sitzen Sie im Cafe und sagen sich: »O mein Gott, ist das nun das Wahre? Ist schon jemand vor mir darauf gekommen? Bin ich verrückt? Und wenn es keinem gefällt?« Auch das ist Teil des Prozesses. Und wahrscheinlich ein Zeichen, dass Sie auf dem richtigen Weg sind. Ich habe immer gesagt, ein guter Schriftsteller schmeißt das weg, was alle andern behalten. Aber jetzt fällt mir ein besserer Test ein: Vielleicht behält ein guter Schriftsteller das, was alle andern wegschmeißen.
40
Höchst traumatisch für alle jungen und idealistischen Kunststudenten ist die Erkenntnis (wenn sie sich ihr denn stellen können), dass ihr Idealismus völlig nutzlos ist. Der vernünftige Mensch könnte zu dem Schluss kommen: »Kunst ist, was die Leute haben wollen. Gebt ihnen, was sie wollen.« Aber Sie und ich wollen von der Kunst Frieden. Der Produzent, der Unternehmer, der Stiftungsvertreter können das nicht wissen; nicht einmal der Künstler weiß es. Es treibt ihn oder sie einfach. Künstler nehmen sich nicht vor, dem Publikum oder sonst wem irgend etwas zu bieten. Sie setzen es sich zum Ziel, ein schreiendes Ungleichgewicht aufzuheben. Der vernünftige Unternehmer setzt sich zum Ziel, den »Leuten zu geben, was sie haben wollen«. Und die Vernunft legt einem nahe, dass sie Thrills und Blutvergießen wollen. Sie wollen Gewalt. Aber der immense Erfolg von Trash spricht nicht für seinen Wert als Kunst oder auch nur als Entertainment, sondern für seine Funktion als eine Form der Unterdrückung. Las Vegas bietet kein Vermögen (auch wenn es das vorgibt) und keinen Thrill (es sei denn, man findet Erniedrigung aufregend). Es bietet einem die Gelegenheit, seine Zwanghaftigkeit auszuleben. Gewalt ist nicht an sich unterhaltend. Unsere Billigung von Gewalt in der Kunst ist, wie unsere Billigung von Gewalt im Verhalten unserer Nation, ein zwanghafter Ausdruck des Bedürfnisses zu unterdrücken - den Schurken zu identifizieren und zu vernichten. Die Zwangshandlung muss wiederholt werden, weil sie missglückt. Sie missglückt, weil der Schurke nicht in der greifbaren Außenwelt existiert. Der Schurke, der Feind: Das sind unsere eigenen Gedanken. Die Öffentlichkeit heißt dieses Entertainment unbewusst gut. Der Zuschauer sieht sie sich immer wieder an, weil sie nicht funktionieren - und deshalb muss er es wieder versuchen und zuerst die Götter mit wachsendem Eifer, mehr Geld, mehr Hingabe, mehr Aufmerksamkeit versöhnen.
41
Aber wir können gar nicht genug verspielen, um Frieden zu finden, nicht genug essen, um schlank zu werden, uns nicht genug bewaffnen und aufmarschieren, um uns sicher zu fühlen. Das rassistische Amerika hat sich die Afroamerikaner zum Schurken erwählt. Und einmal dazu erklärt, hat diese Rasse nicht deshalb gelitten, weil sie die Ursache der Probleme der Weißen waren, sondern weil sie es nicht waren. Das christliche Europa ernannte die Juden zur Ursache seiner Nöte, und während sich jedes neue Pogrom als unbefriedigend erwies, wuchs die Wut auf die Juden. Heute gedeiht der Antisemitismus in Deutschland, einem Land, in dem es praktisch keine Juden gibt. Während unsere Mitte sich auflöst, zentralisieren sich die elektronischen Medien und sorgen dafür, dass ihre Nützlichkeit als Mittel der Unterdrückung sichergestellt ist. Kunst, die existiert, um Frieden zu bringen, wird zum Entertainment, das existiert, um zu zerstreuen, und wird zum Totalitarismus, der existiert, um zu zensieren und zu kontrollieren. Das Verlangen, sich auszudrücken, wird nach Abgang des Künstlers und angesichts des Schrecklichen - zum Bedürfnis zu unterdrücken. Das »Informationszeitalter« ist vom Volk mittels des kollektiven Unbewussten geschaffen — ein Instrument der Unterdrückung, ein Mechanismus, der uns die Ablenkung von der Erkenntnis unserer eigenen Wertlosigkeit bietet.
Selbstzensur Die Avantgarde ist für die Linke, was der Hurrapatriotismus für die Rechte ist. Eins wie das andere ist eine Flucht in den Nonsens. Und der warme Glanz des Modischen auf der Linken und des Patriotismus auf der Rechten ist Beweis dafür, dass die Menschen Trost finden in ihrer Macht, sich selbst zu Mitgliedern einer Gruppe zu machen, die der Vernunft überlegen ist. 42
Der Mensch, der eine leere Leinwand gutheißt oder die Dominotheorie vertritt, wird so etwas wie ein König Knut, der glücklich ist, dem Meer Einhalt zu gebieten, ein Wesen, das keine Kräfte der Natur binden. Die Wahl eines Diktators ist eine Form der Selbstzensur; denn, wie Tolstoi zeigt, sind fünf Millionen Männer nicht deshalb in Russland einmarschiert, weil Napoleon es so wollte. Der geheimnisvolle Prozess von Krieg und Politik muss einen tiefsitzenden Herden- oder genetischen Tropismus verbergen, eine so starke und unerklärliche Kraft, dass der Einzelne, will er seine Autonomie bewahren, sie als Vernunft erklären muss - oder, im Falle des Krieges, als Patriotismus. Und so sortiert die Herde oder der Genpool die Bevölkerung (und die Information) aus und verteilt sie neu; und der Diktator, die diktatorische Macht (das heißt alle, die das Richtige denken), schützt die Vorrechte des Tropismus durch Abschreckung: Unabhängiges Denken, Nonkonformismus und Kunst werden behindert. Diese Abschreckung, Zensur, Gefängnishaft, Folter oder Tod können in einem totalitären Staat wohl dem Diktator zur Last gelegt werden, doch letzten Endes entsprechen sie einer tiefsitzenden Notwendigkeit des Mobs, den Anforderungen des Makro-Organismus. Wir haben Kunst in einer totalitären Kultur gesehen. Theaterregisseure im kommunistischen Block haben in jener Zeit unanstößige Klassiker in einem »Stil« inszeniert, der vom Publikum als herrschaftskritisch verstanden werden konnte. Der gleiche Mechanismus, sozusagen Schüsse aus geschützter Position, lässt sich an den leeren Leinwänden der siebziger Jahre erkennen, im Action Painting, in der Verhüllung von Gebäuden und Naturphänomenen mit Plastikplanen, in der Performance- und Video-»Kunst«. Als Kunst sind diese Aktivitäten ziemlich bedeutungslos. Sie haben allerdings die Macht, das Bedürfnis des Einzelnen nach Befreiung/Vollendung zu lenken, ohne dabei seine seelische oder körperliche Integrität zu bedrohen. Die 43
Geheimpolizei wird nicht kommen und nachts den Regisseur verschleppen, der Hamlet im zweiten Magen einer Kuh angesiedelt und die Schauspieler als Enzyme verkleidet hat; der Börsenmakler wird sich nicht in schlafloser Nacht den Kopf über die Wahrheiten und Fragen zerbrechen, die eine gerahmte, in einem Grünton bemalte Leinwand aufwirft (hat er sie doch wegen dieses Tons gekauft). In dieser Kunst erkennen wir das Wirken einer Selbstzensur, einer Zensur, vergleichbar mit der eines totalitären Staats (wohlmeinend, ohne körperlichen Einsatz selbstverständlich, die aber den gleichen menschlichen Wunsch offenbart, kontrolliert zu werden und das Verlangen danach Autonomie zu nennen). Während unsere westlich-amerikanische Welt ihre offensichtliche Bestimmung (manifest destiny) vollendet, erleben wir die Erosion von Bildung, Erziehung und Dialogfähigkeit, genau wie in einer neuen Form des totalitären Staates. Die Deutschen haben die Nazi-Herrschaft im Namen der Selbstbestimmung erschaffen und akzeptiert; wir schaffen und akzeptieren im Namen der Information Unwissenheit und Analphabetismus. Ein Fernsehen mit siebenhundert Kanälen »zur freien Wahl« ist nicht Freiheit, sondern Zwang. Der von uns geschaffene Apparat verlangt das Zuschauen; er plärrt uns an: »Es gibt nichts, was ich nicht tun würde, um deine Aufmerksamkeit zu fesseln.« Wir stimmen für gehirnamputierte Unbeweglichkeit und nennen das Unterhaltung. Warum? Es ist so widersinnig wie der Vietnamkrieg, die belgischen Waisenkinder, angebotsorientierte Wirtschaftspolitik, »Happenings«. dass wir unsere geistige und kulturelle Verarmung vernünftig nennen, ist mysteriös. Es muss sich deshalb dahinter eine tiefere Notwendigkeit verbergen. Denn diese Zensur-durch-Information scheint, wie der Krieg, ein intellektueller Winterschlaf zu sein, das Massenäquivalent einer antipsychotischen Droge, das Laufrad im Hamsterkäfig - eine selbstverabreichte Narkose. 44
Vor Jahren habe ich in einem kleinen Kino in Vermont einen Film gesehen. In dem Film hackt der Held Holz. Er legt ein verwachsenes, knorriges Stück auf den Klotz und hebt die Axt. Das Publikum lachte/stöhnte/seufzte unisono: Das Holz würde sich nicht spalten lassen, das wussten sie. Nicht weil sie das aus dem Fernsehen kannten, sondern weil sie es selbst erlebt hatten. Im Kino wurden sie unbewusst dazu gebracht, diese Erfahrung miteinander zu teilen, wurden so einander näher gebracht, zu einer Gemeinschaft gemacht. Sie sahen, was sie alle als wahr erkannten, und teilten, was sie wussten, und entdeckten miteinander, dass es alle als wahr erkannt hatten, und so war nun einmal das Leben. Ist das ein unbedeutendes Beispiel? Der gleiche Mechanismus ist am Werk, wenn wir Shakespeare sehen und hören: »des Stolzen Misshandlungen ... des Rechtes Aufschub«; wenn wir Willy Loman sagen hören: »Er ist beliebt, aber er ist nicht sehr beliebt«; wenn wir sehen, wie Dr. Stockmann geschmäht wird, nur weil er seine Pflicht tut; wenn wir die unsagbaren Wahrheiten einer Bach-Fuge hören; wenn wir nebeneinander stehen und einen Sonnenuntergang von Turner betrachten. Wie oft haben wir gesagt: »Wenn du doch hier wärst, um das mit mir zu teilen«? Von einer Fernsehsendung sagen wir das nicht. »Information« hat nicht das Ziel, Wahrheiten (mit)zu teilen, sondern den Kopf zu lähmen und zu belästigen. David Halberstam hat eine Studienabschlussrede gehalten, die ich die Ehre hatte zu hören. Er bat die Abschlussklasse zu bedenken, dass die erfolgreichsten Studenten Jobs als Berater angeboten bekommen hätten. Die Jobs waren hoch dotiert, weil die Position als »Consultant« keine war, nach der sich ein Zwanzigjähriger normalerweise drängen würde, es sei denn, er würde bestochen — da die Arbeit an und für sich völlig uninteressant ist, musste schon ein großes Sümmchen geboten werden. Mit so etwas würde ein junger, tatkräftiger Mensch sich nur abgeben, wenn er bestochen wird. 45
Auf ähnliche Weise werden die Massenmedien gemacht (von welcher Kraft können wir nicht sagen); sie sind plötzlich da, wenn Sie so wollen, und bieten das Versprechen — in vielen Fällen wird es Wirklichkeit — auf großen Reichtum und locken damit begabte Leute, die sonst nicht interessiert wären. Sie bieten, wie jeder andere Diktator auch, die Verheißung von Freiheit, falls sich die Bewerber zur Sklaverei verpflichten. Der Schriftsteller, der Schauspieler, der Regisseur werden, nicht weniger als der Zuschauer, dazu verlockt, ihr Leben mit Nichtstun zu verbringen. Sie werden gut bezahlt (oder gute Bezahlung wird nur versprochen, denn die Verlockung des Reichtums ist so stark, dass ein Versprechen oft ausreicht — wie der Goldrausch oder der Lotteriegewinn -, um die Masse zu ködern). Sie werden bezahlt, um sich als potentielle Künstler zu verabschieden, um das Verlangen aufzugeben, etwas auszudrücken, zu konfrontieren, zu verbinden, zu trauern, zu zweifeln, zu verdammen, zu vereinen; sie werden bezahlt, um der Sache der Zensur zu dienen. In der Schule wurde mir beigebracht, dass die Kunst in Zeiten des Überflusses gedeihe, die der Kultur und dem Einzelnen ermöglichten, sich von den Erfordernissen der Existenzsicherung zu lösen, und ihnen einen Überschuss gewährten, um ihre Werke zu schaffen. Mir scheint jedoch, das Gegenteil trifft zu. Im Leben des Einzelnen und im Leben der Gemeinschaft oder Kultur gedeiht die Kunst in Zeiten des Kampfes und verschwindet in Zeiten des Überflusses. Der Künstler blickt liebevoll zurück auf die Kräfte seiner unbekümmerten Jugend, das Theater der Wirtschaftsdepression, das Kino in der Anfangszeit, aufs Kabarett. Alter, Bequemlichkeit, Subventionen und Überfluss dämpfen das Bedürfnis und somit die Möglichkeit, frei herauszusprechen. Und Kunst ist Ausdruck dieses Bedürfnisses. Sie ist keine Abstimmungsprozedur. Sie als solche zu betrachten ist Torheit und Selbstzensur. 46
Ein einstündiger Besuch des Louvre ist kein Kunsterlebnis (und dient auch kaum dem »Kunstverständnis«, wie die unsinnigen Kurse in meiner Jugend hießen). Jetzt stellen Sie sich ein Museum mit Millionen von »Erfahrungen« vor, und es handelt sich nicht um Meisterwerke, sondern um Reklame. Das finden wir auf den siebenhundert Fernsehkanälen. Welcher Mensch, der bei Verstand ist, würde jeden Abend Stunden damit verbringen, sich Reklame anzusehen? Ist denn nicht klar, dass ein Produkt, das ein Vermögen ausgeben muss, um auf sich aufmerksam zu machen, wahrscheinlich eines ist, das wir nicht brauchen? Wenn wir Fernsehen gucken und das Produkt kaufen, billigen wir die Ausgaben, wir beten stumm den Reichtum an, die Vorstellung eines Zustands ohne Mühen — wie der Bürgerliche, der sich nicht abgewöhnen kann, die Gräfin »Mylady« zu nennen. Wir werden in der Information ebenso wenig Kunst finden wie Liebe in den Armen einer Prostituierten. Und das wissen wir. Information, die destruktive Gegenkraft, reist unter dem Deckmantel der Kunst oder deren bescheidenerem Abklatsch, des Entertainments, so wie Raub und Plünderung unter den Bezeichnungen Lebensraum oder Offensichtliche Bestimmung oder Monroe-Doktrin laufen. In der Gewalt dieses Phänomens treten wir in ein neues dunkles Zeitalter. Das Informationszeitalter zentralisiert das Wissen und liefert es so einer möglichen despotischen Kontrolle aus. Wir können Briefe schreiben und sie mit eigener Hand abliefern. Wenn wir uns aber nur über das Telefon verständigen, kann der Druck auf einen zentralen Knopf uns isolieren. Wenn »Information« nun in regierungskontrollierten »Computer-Banken« zentralisiert wird, die von Stromausfall und elektronischen Unfällen bedroht sind, könnte man da nicht auf den Gedanken kommen, dass die Kultur sich wieder einmal dafür entscheidet/dazu gezwungen wird, auf eine Auslöschung des Wissens hinzuarbeiten? 47
Wieder einmal befinden wir uns unter dem Einfluss starker Kräfte - Kräfte, die so groß sind, deren Zugriff sich nur so schwer widerstehen lässt, dass wir ihre Macht über uns erklären müssen, indem wir sie eifrig bejahen, indem wir ihre unbestrittene, unwiderstehliche Macht als finanzielles Füllhorn definieren und damit auch als »gut«. Im Entertainment werden wir, als Kultur, von Kommunikanten zu Konsumenten. Wir gleichen uns jenen schrecklichen Supermarkt-Testgruppen an, die Hollywood so liebt: Richter mit Vollmachten, niemandem Rechenschaft schuldig, die jeden Augenblick jeder Darbietung kommentieren — Daumen hoch oder Daumen runter. Wir veröffentlichen die Einspielergebnisse von Filmen als Nachrichten. Könnten wir nicht als nächstes die aktuelle Quote von Gemälden veröffentlichen, um uns zu vergewissern, dass wir uns korrekt verhalten, wenn wir ihnen einen Augenblick unserer Zeit gewähren? In gewisser Hinsicht machen wir das ja jetzt schon, indem wir sie ins Museum bringen. Die Forderung nach sofortiger Befriedigung ist der Tod für jede Kunst, die sich in der Zeit entfaltet. dass das Publikum gefoppt, enttäuscht, wieder beruhigt, eingeschüchtert und schließlich befreit wird, ist das Wesen der dramatischen/musikalischen Form. Sie muss sich in der Zeit entwickeln, und sie muss Umkehrungen enthalten. Und je größer die Kunst, desto beunruhigender, provozierender »dramatischer« sind diese Umkehrungen — was uns die ganze Zeit ein gutes Gefühl vermittelt, ist nur — und notwendigerweise — Müll. Ein G-Moll-Akkord bedeutet für sich allein gar nichts. Es sind ein paar Noten. Und auch in der vorgegebenen Tonart B-Dur bedeutet er kaum mehr. Wir wissen nicht, was er »bedeutet«, bevor wir ihn nicht an seiner richtigen Stelle einer Komposition gehört haben. So verhält es sich auch mit dem Satz »Ich liebe dich«, mit der »Erkennungsszene« oder der »Sterbeszene«. Kunst, die sich in der 48
Zeit entfaltet, erfordert die Aufmerksamkeit des Menschen über eine gewisse Zeit — eines Menschen, der es zufrieden ist, gereizt zu werden, zu zweifeln, in die Irre geführt zu werden, zu trauern und sich schließlich einem Prozess anzuvertrauen. In diesem Prozess macht der Zuschauer die gleiche Reise durch wie der Protagonist übrigens zugleich auch die Reise des Autors. So wie die kommerzielle Nahrung uns alle (den Schaffenden, den »Produzenten«, den Zuschauer) auf den Status von Konsumentensklaven reduziert, so erhebt die dramatische Kunst die Schaffenden und die Zuschauer in den Stand von Kommunikanten. Wir, die wir es gemacht haben, es geformt haben, es gesehen haben, haben etwas gemeinsam durchgemacht, jetzt sind wir Veteranen. Jetzt sind wir Freunde. Wie anders als die bedröhnten Individuen, die vor ihren flackernden Fernsehschirmen sitzen und sich den Irrsinn ihres Tuns erklären wollen, indem sie es Entertainment oder »sich informieren« nennen.
drei Vom dreifachen Gebrauch des Messers Es ist eine reizvolle Vorstellung, und es mag zufällig auch wahr sein, dass ästhetische Normen organische Prozesse der Wahrnehmung oder der Schöpfung auf natürliche Weise rekapitulieren. dass der Goldene Schnitt des Bilderrahmens, der Parthenon, die 35-mm-Linse die organischen Vorstellungsprozesse des Hirns wiederholen: dass wir vor unserem geistigen Auge ein Gesicht in dem horizontalen Rahmen sehen oder ein Gesicht und einen Torso, wenn der Rahmen vertikal gedreht wird; oder einen 49
Zweier (7) in dem 4:3-Verhältnis (8) der frühen Filme und des Fernsehens. dass die Darstellung der ganzen menschlichen Gestalt in der Horizontalen etwas verlangt, auf das die Figur blicken kann — einen anderen Menschen, ein Tier, eine Aufgabe —, um »den Rahmen zu füllen«. dass wir, letztendlich, die Augen schließen und in einem Format »sehen«, das dem Goldenen Schnitt nahe kommt. So sprechen wir im Englischen gewöhnlich in jambischen Pentametern: »Ich gehe jetzt zum Laden und kaufe Käse«, »Ich sag's ihm, doch er hört ja kein Wort«, »Ich schwör', ich lieb' dich bis zum Tod«, »Nicht jetzt, nicht später, niemals. Ist das klar?« Wenn wir zuhören, hören wir, wie die Menschen im Gespräch die jambische Zeile des anderen komplettieren. »Ich sah ihn auf dem Weg.« »Und was hat er gesagt?« »Er sagt, lass ihn in Ruh.« »Und was hast du gesagt? »Was hab' ich wohl gesagt?« »Na, was weiß ich.« Desgleichen ist die dramatische Struktur die Ausübung eines natürlich auftretenden Bedürfnisses oder einer Neigung, die Welt als These/Antithese/Synthese zu strukturieren. Huddie Ledbetter, auch als Leadbelly bekannt, hat gesagt: Du nimmst ein Messer und benutzt es zum Brotschneiden, damit du Kraft bekommst für die Arbeit; du benutzt es zum Rasieren, damit du gut aussiehst für deine Geliebte; erwischst du sie mit einem anderen, benutzt du es, um ihr das lügnerische Herz herauszuschneiden. Der Mörder sagt sich, um sich zu rechtfertigen: Ich habe nur deshalb so hart gearbeitet, damit ich die Kraft hatte, ihr was Hübsches zu kaufen, aus dem Grund bin ich morgens aufgestanden, und aus dem Grund habe ich gegessen - damit ich die Kraft habe, zur Arbeit zu gehen. Aus dem Grund habe ich mich 50
rasiert um für sie gut auszusehen. Und als sie mich betrogen hat, habe ich dasselbe Messer benutzt, um sicherzustellen, dass sie ihre Liebe keinem anderen schenkt. So nimmt der Dramatiker, der Blues-Schreiber in uns, das Messer als Verkörperung und Zeugnis des Austauschs und verändert im Lauf des Dramas vorsichtig dessen Zweck. Das Messer wird so tatsächlich deckungsgleich mit der Bassstimme in der Musik. Denn die Bassstimme, nicht die Melodie, verleiht der Musik Kraft und bewegt uns. Der Diskant mag zwar schön sein, ist aber letzten Endes beliebig, wenn nicht verbunden mit der treibenden Unvermeidlichkeit, dem Drang zur Lösung, die den Generalbass ausmacht. Die Unvermeidlichkeit, die Offenbarung der tiefen Bedeutung des Gewöhnlichen (das Gewöhnliche ist der Diskant), gibt Bachs Musik ihre Kraft. Die Fugen, die Tokkaten, die größte abendländische Musik sind so ergreifend, wie die Bassstimme ergreifend ist. Die Tragödie des Mordes ist ergreifend, wie die Ironie des wiederkehrenden Messers ergreifend ist. Das Messer macht den Versuch des geordneten Geistes, dem ein Unrecht angetan wurde, sichtbar, sich dem Schrecklichen zu stellen. Bei diesem Bemühen wird uns unsere Vernunft nicht helfen. Das Furchteinflößende, das Unausweichliche ist das Reich des Theaters und der Religion. Im großen Drama geht es zumeist um Verrat. Jemand sagte zu Arthur Miller nach einer Premiere: »Das war ein nettes Stück, aber konnten Sie es nicht Leben eines Handlungsreisenden nennen?« Aber in einem Stück geht es nicht um nette Dinge, die netten Leuten passieren. Ein Stück handelt von ziemlich schrecklichen Dingen, die Menschen passieren, die ebenso nett oder nicht nett sind wie wir. Die Russen sagen: lachende Braut, weinende Frau/weinende Braut, lachende Frau. Das Paar, das sich seine eigene Ehezeremonie schreibt, wird, können wir voraussagen, stürmische Zeiten vor sich haben. 51
Diese mutmaßliche Fähigkeit, dem Ritual aus dem Weg zu gehen, entstammt dem Irrglauben an die eigenen Kräfte und einer falschen Auffassung von persönlichem Charme. Sie ist unangebracht und traurig, wie der Zuschauer in einer ZauberShow, der vertraulich sagt: »Wissen Sie, er hat die Ente gar nicht wirklich verschwinden lassen.« Natürlich hat der Zauberkünstler die Ente nicht verschwinden lassen. Was er gemacht hat, ist von viel größerem Wert - er hat den Menschen einen Augenblick der Freude und des Staunens geschenkt, und sie waren davon entzückt. Dadurch, dass die Zuschauer für einen Moment ihre Zweifel ausgeschaltet haben - ihre Vernunft, wenn Sie so wollen —, wurden sie belohnt. Sie haben einen Akt des Glaubens oder der Unterwerfung begangen. Und wie bei jenen, die sich erquickt von ihren Gebeten erheben, wurden ihre Gebete erhört. Denn das Gebet hatte letztlich nicht zum Ziel, einen Eingriff in die physische Welt zu bewirken, sondern den Betenden für die Dauer des Gebets ihre Verwirrung und Wut und ihren Kummer über die eigene Machtlosigkeit zu nehmen. Deshalb hat das Theater nicht zum Ziel, die soziale Struktur zu verbessern, es will nicht die Dickfelligeren anstoßen, damit sie aufwachen und den Braten riechen, nicht den Bekehrten die Freuden (oder die Lasten) eines Lebens in der Mittelschicht predigen. Theater will, wie Magie, wie Religion — dieses Dreiergespann - reinigende Ehrfurcht erzeugen. Der junge Intellektuelle sagt: »Warum zur Totenwache gehen, warum zur Schiwa, warum irgendwelche traditionellen Eheschwüre nachplappern? Ich habe bei der Totenwache nichts zu sagen, nichts, was ich sagen könnte, macht bei der Schiwa einen Unterschied, und die archaische Ehezeremonie gilt mir nichts.« Das ist keine Weisheit, sondern menschliche Ignoranz, und eine Art privater Götzendienst dazu. Selbstverständlich ist der Mensch machtlos angesichts des Todes — wie hätte er je etwas anderes denken können? Die Anwesenheit bei der Schiwa, der 52
Trauerwoche, ist keine Leugnung und auch nicht so gemeint. Sie ist das Eingeständnis der Machtlosigkeit angesichts des Todes; und wer sich als Ausrede auf die Vernunft beruft, verfehlt den Sinn vollständig. Wir kennen alle den hartgesottenen Rationalisten, der auf die religiöse Tradition schimpft, die historischen Gepflogenheiten, gegen die Beteiligung an großen wie kleinen Ritualen - ElternLehrer-Verein, Begrüßung neuer Nachbarn, Hochzeiten, Beerdigungen. Wir alle kennen diesen Menschen, und viele von uns sind solch ein Mensch, und manche von uns sind manchmal solch ein Mensch. Solch ein Mensch geht einsam zum Grabe, zornig und ausgezehrt vom Widerstand gegen Gepflogenheiten und Handlungen, deren Einhaltung und Beachtung ihn einen Bruchteil seiner Energie und Zeit gekostet hätte. Die Irrlehre des Informationszeitalters ist nicht einmal, dass die Vernunft triumphieren wird, sondern dass die Vernunft bereits triumphiert hat. Aber wie wir in unserem Leben sehen, wird die Vernunft tausendmal als bloß logische Erklärung bemüht gegenüber dem einen Mal, wenn sie wirklich die Erkenntnis fördern könnte. Und die reinigende Lektion des Dramas in seiner höchsten Form ist die Wertlosigkeit der Vernunft. Im großen Drama sehen wir, wie der Held diese Lektion lernt. Wichtiger aber, wir selbst erfahren diese Lektion: Unsere Erwartungen werden hochgeschraubt, nur um wieder zerstört zu werden; wir erkennen, dass wir uns falsche Schlussfolgerungen zurechtgelegt haben, und unseres geistigen Hochmuts beraubt, müssen wir unseren Zustand der Sünde, Schwäche und Machtlosigkeit anerkennen — und nachdem wir das erkannt haben, können wir Frieden finden.
53
Der Elfuhr-Song Im romantischen Film findet man gewöhnlich die Montage. »Montage« bedeutet in einem romantischen Film eine Sequenz ohne Dialog, die gewöhnlich mit sentimentaler Musik unterlegt ist. So gebraucht, hat dieser von Eisenstein geprägte Begriff nichts mit seiner ursprünglichen Bedeutung zu tun. Ursprünglich war damit die Folge von zwei grundverschiedenen und unabhängigen Bildern gemeint, die im Kopf des Zuschauers eine dritte Vorstellung auslösen sollten, die den Plot vorantreiben würde. (Ein Mann auf der Straße dreht den Kopf um und fasst sich zögernd in die Tasche; die nächste Einstellung zeigt ein Schaufenster mit dem Schild AUSVERKAUF; der Zuschauer denkt: »Ach so, der Mann möchte gerne etwas kaufen.«) Das Nebeneinanderstellen von erster Idee und zweiter Idee bringt den Zuschauer—uns —auf eine dritte Idee. Im romantischen Film treibt die Montage nicht immer den Plot voran - gewöhnlich treibt sie den Plot überhaupt nicht voran -, sondern erzählt vielmehr den angeblichen psychischen/emotionalen Zustand des Protagonisten, ohne Dialog, aber mit Musik, wobei die Grundidee in leicht unterschiedlichen Fassungen wiederholt wird. Der Held der romance triste denkt melancholisch über seinen »Verlust« nach (Unzufriedenheit, fehlende Liebe). Er »erinnert sich« (was die Kamera zeigt) an ein Hotel-Foyer, zwei Personen an der Rezeption; eine Strandszene in der Abenddämmerung; an einen komischen Vorfall in einem Restaurant. Diese Szenen sind eher Wiederholungen, als dass sie einen Fortgang beschreiben. Es gibt gewöhnlich keinen guten Grund, warum sie in ebendieser Reihenfolge ablaufen. Sie zeigen kein unvermeidbares Fortschreiten, sie sind bloß hübsch arrangiert. Es ist ein typisches Merkmal dieser Art von Montage, dass die Reihenfolge nach Lust und Laune umgestellt werden kann - ein dem Drama völlig
54
fremdes Element, ein eher der epischen als der dramatischen Form eigenes Merkmal. Der Film Stadt in Angst (Bad Day at Black Rock) ist ein vorzügliches Drama - ein hervorragend strukturierter und gefilmter dramatischer Thriller. An einer Stelle beginnt jedoch der Held, Spencer Tracy, seine Gründe für seinen Besuch in Black Rock zu erzählen, seinen emotionalen Zustand zu erläutern, »bevor die Geschichte angefangen hat«, und warum sich aufgrund der »Geschichte« dieser Zustand verändert hat. Diese Szene, ein Makel in einem sonst ausgezeichneten Film, ist das Äquivalent der emotionalen Montage. Es ist uns egal, in welchem Zustand sich der Held befand, »bevor die Geschichte angefangen hat«, und die Information, wie er sich damals fühlte oder jetzt fühlt, hat uns nicht gefehlt, bevor er sie uns selbst mitgeteilt hat. (9) Wie die emotionale Montage wird seine Rede vom Publikum im guten Glauben, aber ohne Interesse aufgenommen. Weil sie die Lösung für ein nicht bestehendes Problem ist, die Antwort auf eine Frage, die wir nicht gestellt haben, ist sie der dramatischen Form fremd. Diese Rede, diese Montage im Film oder auf der Bühne nenne ich inzwischen »Der Tod meines Kätzchens«. Oft kommt darin der Gedanke oder der Satz vor: »Ich weiß gar nicht, warum ich das überhaupt erzähle.« Warum sollte in einem Drama eine Figur (eine Figur in einem Drama ist, per definitionem, von einem notwendigen Streben durchdrungen - Aristoteles sagt, die Figur ist das Streben), warum sollte diese Figur ohne guten Grund reden? Und doch ist dieser Moment ein Merkmal vieler Dramen und mancher Tragödien. »Ich weiß gar nicht, warum ich das alles erzähle« ist eine Möglichkeit, eine solche Montage zu erkennen. Andere Möglichkeiten: »Weißt du, vor vielen Jahren ...« oder »Als ich noch jung war ...« oder »Es war einmal, da hatte ich ein Kätzchen 55
...«, und dazu Bilder von Menschen mit ausgebreiteten Armen, die sich in Zeitlupe an einem Strand drehen. Diese unnötige Erzählung erscheint nicht nur regelmäßig in Filmen und Stücken, sie taucht auch ungefähr an derselben Stelle auf: nachdem sieben Zehntel des Wegs zurückgelegt sind, kurz vor oder kurz nach dem Anfang des dritten Akts. Warum? Es ist der Ausfluss eines Reife-/Erscheinungsprozesses, der nicht direkt wahrgenommen werden kann, auf den vielmehr von seinen Wirkungen her geschlossen werden muss. Wenn etwas nicht als Problem erklärt werden kann, sollten wir vielleicht versuchen, es als Lösung zu erklären. Ich frage mich, ob diese Anomalie eine Funktion unseres Bewusstseins sei, ein natürliches Nebenprodukt der Art und Weise, wie wir Ereignisse wahrnehmen. Die dramatische Struktur ist keine willkürliche - oder auch nur bewusste - Erfindung. Sie ist eine organische Kodifizierung des Mechanismus, mit dem der Mensch Informationen ordnet. Ereignis, Entwicklung, Lösung des Knotens; These, Antithese, Synthese; Mann trifft Frau, Mann verliert Frau, Mann kriegt Frau; erster, zweiter, dritter Akt. Es gibt eine großartige Parabel von Tolstoi über einen Mann, der sehr arm war. Er hatte drei kleine Laibe Brot und eine kleine Brezel. Und er kam nach Hause von der Feldarbeit und aß einen Laib Brot. Er hatte immer noch Hunger. Also aß er den zweiten Laib Brot und hatte immer noch Hunger. Er aß den dritten Laib Brot. Dann aß er die Brezel und war satt. Er sagte: »Was bin ich für ein Dummkopf. Ich hätte die Brezel zuerst essen sollen.« So funktioniert unser Geist. Der menschliche Geist kann keine Folge zufälliger Zahlen schaffen. Vor Jahren hat man Computerprogramme dafür entwickelt; kürzlich hat man festgestellt, dass die Programme fehlerhaft waren - die Zahlen waren nicht wirklich zufällig. Unsere Intelligenz war unfähig, eine Zufallsreihe aufzustellen, und damit auch unfähig, es einem Computer zu befehlen. 56
Unsere Wahrnehmung kennt keine Zufälligkeiten. Wenn ein Kleinkind Phänomene wahrnimmt, die nicht signifikant sind, weil sie nichts mit ihm zu tun haben, ordnet es unabhängige Ereignisse zu einem dramatischen Ganzen (einem Ganzen, das nach den Gesetzen des Dramas verständlich ist), und das wird dann Neurose oder Psychose genannt. Wir sehen unsere Freunde an, die gerade überraschend ihre Trennung bekannt gegeben haben, und wir erinnern uns an ihre Brautzeit bis zur Hochzeit, ihre frühen Ehejahre bis zur Geburt des ersten Kindes; und an jenen Zustand mutmaßlicher Vollendung, der mit der Bekanntgabe ihrer Scheidung den Abschluss findet. Später denken wir vielleicht an Liebe/Ehe/die neue Geliebte, und wiederum ordnet sich das Drama neu, um dem Dreischritt, den drei Akten von These, Antithese, Synthese, zu entsprechen. Es liegt in unserer Natur, aufgrund der Wahrnehmung Hypothesen aufzustellen und diese Hypothesen dann in Informationen zu verwandeln, nach denen wir handeln können. Das ist unser besonderes Anpassungsmittel, vergleichbar mit dem Flug der Vögel — unser einzigartiges Überlebensmittel. Und Drama, Musik und Kunst sind unsere Feier dieses Mittels, genau wie der manische Balzflug der Waldschnepfe, der Sprung des Wals aus dem Wasser. Das Übermaß an Fähigkeit/Energie/ Fertigkeiten/Stärke/Liebe findet seinen Ausdruck in artenspezifischen Formen. Ziegen springen, Menschen machen Kunst. Ich habe mich gefragt, ob dieses Phänomen des siebten Zehntels ein menschliches Bedürfnis anzeigt. Welchem Zweck könnte es dienen? Welche Absicht könnte es offenbaren? Im Drama erscheint es als Beeinträchtigung der Stärke des Stücks, des ungehinderten Fortschreitens auf das eine Ende zu — jenes einzige Ziel des Helden. Jene emotionale Montage, die das Publikum einschläfert. Was könnte es bedeuten? Wir beginnen den dritten Akt oder stehen kurz davor. 57
Der Held und das Publikum (als verbündete Teilnehmer) haben sich für den schwierigsten Teil der Reise entschieden. Die Einsätze sind erhöht worden, die Möglichkeit des Rückzugs ist aus dem Weg geräumt, es herrschen Eifer oder Angst, und doch halten wir inne. Wir halten ein wie die Reisenden in dem russischen Stück: Alles ist für die Reise gepackt, die Kutsche steht bereit, und wir drehen uns um, wenden uns von der Tür ab und setzen uns noch ein Weilchen. Im Drama kommt es jetzt zu der schwerfälligen und amateurhaften Standardszene, die uns eine Zeitlang aufhält und in der jemand erklärt: »Als ich klein war, hatte ich ein Kätzchen.« »Weißt du, eh' ich mich in diesen Schlamassel gebracht hab', hab' ich immer geglaubt ...« Und: »Ich weiß gar nicht, warum ich das alles erzähle.« Könnte in diesen Reden der Monolog überlebt haben? Es heißt, dass ein Gedicht nie vollendet wird; es wird bloß aufgegeben. Ein Drama ist, wie ein Gedicht, schwer zu strukturieren. Nach meiner Erfahrung wird der Dramatiker an genau derselben Stelle müde wie der Protagonist: angesichts des dritten Akts. Der Entwurf des Aktes steht, die Aufgabe ist klar, wenn auch schwierig, und gerade die Klarheit der Aufgabe ist deprimierend. Ist der dritte Akt erst einmal geplant, ist das Stück, sei es geglückt oder misslungen, fertig. Dramatiker beenden den Akt mit den ihnen geschenkten Gaben der Erfindung und des Dialogs, aber die Würfel sind gefallen. Der Töpfer hat den Brennofen angeworfen. Doch noch muss der dritte Akt geschrieben werden (dem Topf fehlt noch die Glasur), und wieder denkt der Dramatiker: »Ach hör mal - ich habe alles im Kopf. muss ich weitermachen? Wirst du mich wirklich dazu bringen, es aufzuschreiben?«
58
Den Tiger am Schwanz packen, der Einsatz so hoch, dass er kaum noch zu erkennen ist... der Dramatiker und der Protagonist stehen vor dem dritten Akt und sind müde. Vielleicht liegt es an ihrer Erschöpfung, dass sich ein Anachronismus wieder zur Geltung bringt.(10) Vielleicht ist diese Sieben-Zehntel-Position im Stammesgedächtnis verankert und nimmt die Stelle des Monologs ein; diese Erinnerung muss zurückreichen ins antike Drama und noch weiter zurück zu den religiösen Feiern, aus denen die Form, die Gattung entstanden ist. Denn der Monolog ist im Wesentlichen eine Beichte. Und in seinem Überdauern gesteht der Dramatiker/Protagonist seine Machtlosigkeit angesichts der Götter/der Bühnengepflogenheiten/der Existenz. Seinen Höhepunkt hat der Monolog in Shakespeares SanktCrispian-Rede (11) und seinen Tiefpunkt in »Der Tod meines Kätzchens«. Er befindet sich im letzten Pas de deux oder Duett, bevor es in Ballett oder Oper zum großen Finale kommt. Und er findet sich im »Elfuhr-Song«, jenem unerlässlichen Element des Musicals, jener schmachtenden emotionalen Darbietung, mit der das Publikum auf den Heimweg vorbereitet werden soll. Warum ist der Monolog/die Beichte/das Geständnis/das Bekenntnis - worin der Protagonist zu Gott spricht - ausgestorben? Vielleicht hat er sich, seit immer mehr Menschen lesen konnten, vom Drama abgespalten, so wie das Drama sich von den religiösen Feiern und Festen abgespalten hat, und überlebt in der gemächlicheren epischen Form, dem Roman. Und wenn diese Vermutungen richtig sind, so lassen sie vielleicht etwas von der automatischen Natur der Evolution des Dramas erahnen.
59
Das Ende des Stücks Weite Bereiche unseres Lebens im Gemeinwesen bestehen anscheinend aus einem Wettbewerb der Lügen: Gerichte, Politik, Reklame, Erziehung, Entertainment. Tolstoi hat gesagt, es sei falsch, von »in jenen Tagen« zu sprechen. Obwohl ich gerne behaupten möchte, dass unser Tag, also unsere Zeit, besonders korrupt sei, muss ich mich also seiner Wahrheit beugen und sage, es (und Sie und ich) war schon immer so. Wenn es unsere Natur als Gesellschaft ist, als Menschen, Männer und Frauen, Ihre Natur genau wie meine, zu lügen, die Lügen zu lieben, andere und uns selbst anzulügen und darüber zu lügen, ob wir lügen—wenn das unsere Natur ist, wo tritt dann die Wahrheit zutage? Vielleicht in jenem letzten Moment, wenn der Mörder sein Verbrechen gestehen kann, der Politiker seine Gesetzesübertretung, Mann und Frau ihre eheliche Untreue. Vielleicht nicht einmal dann. Die Religion bietet den reinigenden Mechanismus der Beichte: den katholischen Beichtstuhl, das jüdische Fest der Versöhnung (Jom Kippur), das Zeugnisablegen bei den Baptisten. ZwölfStufen-Programme beginnen mit dem Eingeständnis der Machtlosigkeit. In all diesen Fällen legen wir unsere Bürde ab oder bekommen zumindest die Möglichkeit geboten. Denn es sind nicht die Dinge, die wir tun, die uns schaden, meint Mary McCarthy, sondern es ist das, was wir hinterher machen. Und wir haben die Gelegenheit geschaffen, uns unserer Natur zu stellen, unseren Taten und unseren Lügen zu stellen: im Drama. Denn Gegenstand des Dramas ist die Lüge. Am Ende des Dramas steht DIE WAHRHEIT — die so lange übersehen, missachtet, verhöhnt und geleugnet wurde — und obsiegt. Und daran erkennen wir, dass das Drama beendet ist. 60
Es ist zu Ende, wenn das Verborgene enthüllt ist, und wir heil gemacht worden sind, denn wir erinnern uns - wir erinnern uns daran, dass die Welt vorher durcheinander war. Wir erinnern uns an die Einführung des Neuen, das eine Welt aus dem Gleichgewicht gebracht hat, von der wir meinten, sie funktioniere gut. Wir erinnern uns an die immer stärker werdenden Bemühungen des Helden oder der Heldin (die nichts anderes als wir selbst sind), die Wahrheit wiederzuentdecken und uns (dem Publikum) die Ruhe zurückzugeben. Und wir erinnern uns, wie im guten Drama jeder Versuch (jeder Akt) die Lösung zu bieten schien, wie hingerissen wir sie erforscht haben und wie enttäuscht wir (der Held) waren, als wir entdeckten, wir hatten uns geirrt, doch dann: Am Ende des Stücks, als wir, wie es schien, alle Lösungswege erschöpft hatten, als wir ohne Mittel und Auswege waren (wie es jedenfalls schien), als wir nichts weiter als machtlos waren, wurde alles heil. Und es wurde heil, als die Wahrheit zutage trat. Und an diesem Punkt, im gut gearbeiteten Stück (und vielleicht im aufrichtig geprüften Leben), werden wir dann verstehen, dass das, was zufällig schien, wesentlich war, wir werden das Muster erkennen, das unser Charakter gewirkt hat, wir werden die Freiheit haben, aufzuatmen oder zu trauern. Und dann können wir heimgehen.
61
Anmerkungsverzeichnis (1) Da wir in diesem Augenblick vom Drama gefangen waren, haben wir nicht erkannt, daß der zweite Akt Lektionen zu bieten hatte. Wir haben ihn ah eine Reihe von zufälligen wie unglücklichen Ereignissen gesehen und wahrgenommen. Im Rückblick sehen/erkennen wir seine Funktion als Teil eines Ganzen — das heißt, wir nehmen ihn als Teil eines Dramas wahr. (2) Othello, I/3 SchlegellTieck (A. d. Ü.) (3) Der Stimmzettel ist unser Ticket für das Drama, und das Stre¬ben des Politikers, soundso/nach Belieben auszufüllen!auszumerzen, unterscheidet sich nicht von dem Versprechen des Su¬perstars im Sommerspitzenfilm, den Schurken zu besiegen — beide versprechen uns Ablenkung zum Preis eines Tickets und die Ausräumung des Zweifels. (4) King Lear, I/4; deutsch von Wolf GrafBaudissin (A. d. Ü.) (5) Ich möchte Sie darauf hinweisen, daß wir, wenn wir diese Impulse in die Tat umsetzen, nicht sagen, wir wollen »unterdrücken und versklaven« — wir sagen, wir wollen »helfen, lehren und bessern«. Aber am Ende steht Unterdrückung. (6) Sommerfilme sind Filme, die in den USA in der Hauptferienzeit im Sommer gestartet werden. (A. d. Ü.) (7) Kameraeinstellung, die zwei Akteure zusammen in Aktion zeigt. Je nach Bedeutung der Aktion innerhalb der Szene wird man eine enge (fast NAH) oder eine weitere (bis höchstens HALBNAH) Einstellungsgröße wählen. (A d. Ü.)
62
(8) 4:3-Verhältnis ist das Format, das bei der Belichtung des Filmmaterials in der Kamera die größtmögliche Fläche des Negativs nutzt, deshalb auch Vollbild genannt (A. d. Ü.) (9) Wenn wir uns mit dem Helden identifizieren sollen, also seine Geschichte als unsere eigene sehen, dann darf er sich vor Beginn der Geschichte in keinem »Zustand« befunden haben. Wenn unsere Reise seine/ihre Reise sein soll, muss sie zur gleichen Zeit beginnen. (10) Mein Vater hat als Kind gelispelt, und wie Demosthenes hat er sich selbst geheilt. Und ist schließlich ein hervorragender Anwalt und Redner geworden. Wenn er müde war, kam sein Lispeln wieder. Als die ersten Automobile gebaut wurden, hatten sie vorne einen Peitschenhalter — ein Relikt der Tage von Pferd und Wagen. (11) Heinrich V; IV/3 (A. d. Ü.)
63
Der Autor DAVID MAMET, geboren 1947 in Chicago, zählt zu den wichtigsten und interessantesten amerikanischen Schriftstellern und Regisseuren. Sein Werk umfasst u. a. die Dramen American Buffalo, Oleanna, Hanglage Meerblick (für das er 1984 den Pulitzerpreis erhielt); die Drehbücher Wenn der Postmann zweimal klingelt, Die Unbestechlichen, Wanja 42. Straße, Wag the Dog, seine eigenen Filme Haus der Spiele, Die unsichtbare Falle, The Winslow Boy .sowie die Romane und Essays Das Dorf, Der Fall Leo Frank, Writing in Restaurants. Sein Buch Die Kunst der Filmregie erschien 1998 im Alexander Verlag Berlin.
64
Text auf der Rückseite: »Wir dramatisieren von Natur aus. Mindestens einmal am Tag interpretieren wir das Wetter und deuten es um zu einem Ausdruck unserer momentanen Sicht des Universums. Wir dramatisieren das Wetter, den Verkehr und andere unpersönliche Phänomene, und zwar durch Übertreibung, ironische Gegenüberstellung, Inversion, Projektion, durch die Anwendung sämtlicher Mittel, mit denen der Dramatiker emotional signifikante Phänomene erschafft und mit denen der Analytiker diese interpretiert. Wir dramatisieren einen Vorfall, indem wir Ereignisse nehmen und sie neu anordnen, sie ausdehnen, sie verdichten, damit wir verstehen, welche persönlich Bedeutung sie für uns haben – für uns als den Protagonisten des individuellen Dramas, als das wir unser Leben verstehen.« David Mamet Welche Bedeutung hat das Drama für unser Leben? Der Pulitzer-Preisträger, Dramatiker, Romancier, Drehbuchautor und Regisseur David Mamet führt uns unsere beharrlichen Versuche, dem Leben und der Welt in der wir leben, einen Sinn zu geben, vor Augen.
65