BELORUSSISCHE VOLKSMÄRCHEN Herausgegeben von L. G. Barag
Akademie-Verlag Berlin 1968
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BELORUSSISCHE VOLKSMÄRCHEN Herausgegeben von L. G. Barag
Akademie-Verlag Berlin 1968
Volksmärchen Eine internationale Reihe Herausgegeben vom Julian Krzyzanowski, Warschau Gyula Ortutay, Budapest Wolfgang Steinitz, Berlin Redaktion Gisela Burde-Schneidewind Erschienen im Akademie-Verlag GmbH 108 Berlin 8, Leipziger Straße 3 – 4 © Akademie-Verlag Berlin 1966 Lizenznummer: 202 – 100/237/68 Gesamtherstellung: VEB Druckhaus „Maxim Gorki“, 74 Altenburg Bestellnummer: (2121/3) ES 8B, 14 G
Übersetzung der Märchentexte aus dem Belorussischen Hans-Joachim Grimm VEB Zentraler Übersetzungsdienst Berlin Übersetzung des Anhangs aus dem Russischen und Fachredaktion Gisela Griepentrog
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1 Der Schmied .......................................... 10 2 Die Soldatensöhne .................................. 35 3 Michas der Witwensohn............................ 83 4 Der Recke ohne Beine............................ 104 5 Kosak Michailo ...................................... 115 6 Wie ein Soldat nach Hause zurückkehrte .. 168 7 Erbse und der Drache ............................ 182 8 Ilja Muromez ........................................ 190 9 Der Recke ............................................ 195 10 Der kluge Bursche ............................... 203 11 Der listige Trunkenbold ........................ 215 12 Die goldene Feder ............................... 223 13 Vom wunderlichen fliegenden Alten und Iwan dem Zarensohn .......................... 241 14 Janko und die Teufel ............................ 255 15 Von den drei Brüdern, dem Wolf und der Wunderquelle .................................... 263 16 Der Tölpel .......................................... 270 17 Das Ringlein ....................................... 283 18 Der Zauberstab ................................... 300 19 Der fliegende Kaftan ............................ 310 20 Die hölzerne Taube .............................. 325 21 Die Eiche Dorochwej ............................ 333 22 Die drei Spinnerinnen........................... 347 23 Marusja.............................................. 350 24 Das Geschäft mit dem Teufel ................ 361 25 Die Liebe............................................ 366 26 Der Krebs als Zarensohn ...................... 383 27 Janko und die Königstochter ................. 400 28 Die Teufelsfrau.................................... 414 29 Gib mir das, was dir zu Hause unbekannt ist..................................... 422 5
30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58
Der Schwager der Sonne ...................... 440 Iwan Pechvogel ................................... 449 Iwan Glückspilz ................................... 463 Feuer im Herzen und Verstand im Kopf... 478 Die Glücksblume ................................. 484 Das liebe ich gerade! ........................... 488 Wie der Teufel ein Mädchen fing ............ 490 Der Musikant Klimjata und die Teufel ..... 493 Der Zaubermusikant ............................ 497 Der Musikant und die Eidechse .............. 502 Die verkaufte Geige ............................. 505 Der Teufel und der Hirt ........................ 509 Der listige Dummkopf .......................... 512 Der Schuster und der Gutsherr .............. 516 Der Reiche ......................................... 521 Wer das Geld erdacht hat ..................... 526 Der alte Mann und die alte Frau............. 531 Die sechs Fische .................................. 533 Der Geldbeutel des Kranichs ................. 535 Das Glück muß man hüten.................... 551 Die drei Vermummten (Ein Weihnachtsmärchen) .......................... 556 Das Märchen vom Märchen ................... 562 Wie man sich auch dreht und wendet, sterben muß man doch ....................... 566 Der unsterbliche Schmied ..................... 570 Der gerechte Richter ............................ 574 Der nackte Richter............................... 580 Gott, der arme Bauer und die Richter ..... 582 Die Heiligen Elias und Petrus ................. 584 Wie die Heiligen Nikolaus und Petrus Pferde kauften ................................... 589 6
59 Wozu ist Gott nötig? ............................ 592 60 Der weise Salomon .............................. 595 61 Vom Bauern, der so dumm wie eine Krähe und so gerissen wie ein Teufel war .................................................. 598 62 Über Weiberlist ................................... 604 63 Der Mann, die Frau und der Teufel ......... 612 64 Wie eine Frau ihren Schwur hielt ........... 616 65 Brautwerber bei Edelleuten ................... 619 66 Das Mädchen ...................................... 620 67 Nicht mit Kraft, sondern durch Kühnheit . 628 58 Die Königin und die Schustersfrau.......... 635 69 Wie Pfaffen geheilt wurden ................... 639 70 Wie ein Schuster Oberpfaffe wurde ........ 642 71 Der Pope und der Diakon ...................... 647 72 Der Recke als Arbeiter beim Popen ........ 655 73 Der Tagelöhner ................................... 664 74 Wie der Pope Heu aß............................ 669 75 Der schlaue Diakon.............................. 670 76 Der Pfaffe und der Orgelspieler.............. 672 77 Drei Pfaffen und ein Ei.......................... 675 78 Der zu kluge Pope ............................... 677 79 Das Fest des heiligen Malarius............... 679 80 Von den zwölf Aposteln oder Wie eine Hausfrau ihren Mann aus der Not rettete .............................................. 681 81 Der Handwerker, seine Frau und der Soldat............................................... 687 82 Ruß ................................................... 692 83 Der Pfaffe als Teufel............................. 698 84 Der Schelm Mikula............................... 701 85 Der alte Nesterka ................................ 713 7
86 87 88 89
Wie Trachim den Gutsherrn betrog......... 718 Der Bauer und der Gutsherr .................. 720 Den Gutsherren zur Lehre..................... 727 Wie ein alter Mann in die Schule ging und sich dadurch Geld verdiente........... 735 90 Wenn es dir nicht gefällt, dann hör nicht zu! ................................................... 739 91 Gut, aber nicht sehr gut ....................... 743 92 Wie ein Gutsherr sich mit einem Bauern nicht verständigen konnte ................... 745 93 Wie ein Bauer den Frost besiegte........... 747 94 Der Wind, der Frost und die Sonne ........ 749 95 Wie die Tiere einem Menschen dankten .. 751 96 Der betrunkene Löwe ........................... 754 97 Das Stierkalb aus Pech ......................... 756 98 Der Löwe und das Pferd ....................... 761 99 Die Rache des Spechtes ....................... 765 100 Der katholische Fuchs ........................ 771 101 Der Schafbock und der Wolf ................ 772 102 Wie der Wolf und der Hund einen Prozeß führten ................................... 774 103 Wie sich einem Hund die Augen röteten und die Schwanzhaare sträubten .......................................... 781 104 Wie der Teufel den Wolf erschuf........... 783 105 Wie Gott die Gutsherren erschuf .......... 784 106 Wie Gott den Popen Langhaar erschuf .. 786 107 Der Teufel und der Mond .................... 787 108 Das Teufelsmoor................................ 790 109 Woher das Böse auf der Welt kommt .... 795 110 Der Flug zur Sonne ............................ 803 111 Wie die Recken ausstarben ................. 804 8
112 113 114 115 116
Der blaue Brunnen............................. 805 Dnepr und Sosh................................. 807 Kusma und Demjan ........................... 809 Kyrill Koshemjak der Gerber................ 810 Wie der Recke Merkuri Smolensk vor dem Einfall des Feindes rettete............. 813 117 Das unsterbliche Lied ......................... 814 118 Warum Fürst Radziwill so viel Land besitzt .............................................. 822 119 Aus den Erzählungen über Tadeusz Kościuszko ........................................ 824 120 Kosak Platon ..................................... 825 121 Wie der Partisanengeneral Kowpak auf Kundschaft ging ................................. 828 122 Sagen und Erzählungen über den Partisanen Saslonow ........................... 830 ANHANG.................................................... 837 Nachwort ................................................ 838 Anmerkungen.......................................... 910
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1 Der Schmied In einem Zarenreich war einmal eine große Hungersnot, und es fehlte an Nahrung sowohl für das Vieh, als auch für die Menschen. Die Menschen aßen dasselbe, was die Tiere fraßen. Da starben die Menschen vor Hunger wie im Herbst die Fliegen. Aber die einen sterben und die anderen werden geboren, und je größer der Hunger ist, um so mehr Kinder werden geboren. Da befahl der Zar, die kleinen Kinder zu töten, damit sich die Menschen nicht vermehren. Und die Diener des Zaren kamen und erschlugen die Kinder oder ersäuften sie im Fluß wie junge Hunde. Da weinten die Mütter, rangen die Hände, rauften sich die Haare und grämten sich zu Tode. Natürlich tun den Müttern die Kinder immer leid. Aber die Diener des Zaren hatten kein Erbarmen. Sie erschlugen die Kinder und vergossen Engelsblut. Da lebte in diesem Zarenreich eine Frau. Sie war schon schwanger, als man ihren Mann zu den Soldaten holte. Als sie merkte, daß sie bald niederkommen mußte, hatte sie Angst, daß die Diener des Zaren auch ihr Kind umbringen würden. Was sollte sie machen? Wo sollte sie ihr Kind verstecken, wenn es geboren war? Sie überlegte und überlegte, bis ihr etwas einfiel. Sie nahm eine Windel, legte sie in einen Sack aus Lindenbast, 10
warf den Sack über die Schulte und ging in den Wald. Der Wald ist groß – er hat keinen Anfang und kein Ende. Hier kann man eine ganze Ewigkeit leben, und es findet einen doch niemand. Durch diesen Wald ging die junge Frau, sie ging immer weiter und sammelte Beeren, um den Durst zu löschen. Da kam sie in ein Dickicht, in dem wohl noch keine Menschenseele gewesen war. Sie suchte sich einen hohen Baum aus, kratzte das morsche Holz heraus und machte sich so ein Obdach zurecht. In der Nähe war eine Quelle, deren Wasser so rein wie eine Träne war. In dem hohlen Baum lebte nun die junge Frau. Sie trank Wasser aus der Quelle und aß Beeren und Pilze. Sie holte sich einen kleinen Vorrat an Pilzen und Beeren, sammelte Nüsse und allerlei Wurzelwerk und wartete, bis ihre Zeit kam. Da saß sie nun in dem hohlen Baum und nähte sich ein Hemd. Inzwischen ging aber der ganze Vorrat an Pilzen und Beeren zu Ende, und sie hatte nichts mehr zu essen. Da stieg sie aus dem Baum, nahm ein Säckchen auf den Rücken und ging Pilze suchen. Sie ging und ging und stieß auf eine Bärenhöhle. Die Bärin war weggegangen, um etwas zu fressen zu suchen. Da war inzwischen ein Geier über die Bärenjungen hergefallen und hackte sie mit dem Schnabel. Die junge Frau sah das, ihr taten die Bärenjungen leid, und sie ergriff einen Ast und schlug so auf den Geier ein, daß dieser tot liegenblieb. Inzwischen war die Bärenmutter zurückgekommen. Sie sah, daß die Frau die Bärenkinder 11
gerettet hatte, und dankte ihr. Sie fiel ihr zu Füßen, leckte sie und weinte dabei so, daß ihr die Tränen nur so aus den Augen flossen. Da ging die junge Frau wieder in ihr Versteck zurück, und die Bärenmutter folgte ihr. Als sie gesehen hatte, wohin die Frau gegangen war, kehrte sie wieder zu ihren Bärenkindern zurück. Die junge Frau saß in dem Baum, las Pilze aus und sang Lieder. Einmal sah sie auf und erblickte die Bärenmutter, die aus den Büschen zu dem hohlen Baum kam. Da erschrak die junge Frau so sehr, daß ihr der Leib brummte, und sie wußte nicht, was sie tun sollte. Inzwischen aber war die Bärenmutter zu dem hohlen Baum gekommen, streckte der jungen Frau auf einer Rinde frische Honigscheiben entgegen, legte sie hin und lief davon. Das sah die junge Frau und erriet, daß ihr die Bärenmutter aus Dankbarkeit ein Geschenk gemacht hatte. So lebte nun die junge Frau in dem hohlen Baum und trauerte nicht, denn die Bärenmutter brachte ihr jeden Tag Honig. Dann begann sie, ihr Vogeleier und andere Nahrung zu bringen. Es kam die Zeit, und die junge Frau gebar einen schönen Knaben. Sie sah ihn an und erblickte auf seiner Stirn eine Sonne und auf seinem Rücken einen Mond. Da band die junge Frau ihrem Sohn ein Tuch um den Kopf und nahm es weder bei Tage noch bei Nacht ab. Der Junge aber wuchs wie Hefeteig. Jeden Tag wurde er einen Zoll größer. – In einem Sommer war er so groß wie seine Mutter. 12
Inzwischen brachte ihnen die Bärin immer wieder Nahrung und machte schließlich eine Höhle für sich und ihre Jungen bei diesem hohlen Baum zurecht. Der Junge spielte mit den Bärenkindern, setzte sich auf ihren Rücken und ritt wie auf einem Pferd. Im Herbst waren die Bärenkinder so groß wie ihre Mutter und suchten sich selbst Nahrung. Dann ritt der Junge auf der Bärin, das gefiel ihm sehr. Einmal setzte er seine Mutter auf die Bärin, sprang selbst hinauf, und heidi ging es durch den Wald. So verbrachten sie den Sommer. Der Herbst kam, und es begann kalt zu werden. Da beschloß die junge Frau, in ihr Dorf zurückzukehren. Sie nahm ihre Sachen, legte sie in Bastkörbe und zog mit ihrem Sohn nach Hause. Die Bären folgten ihnen und wichen ihnen nicht einen Schritt von der Seite. Einem kleinen Bären wurden die Sachen umgehängt, die junge Frau setzte sich auf die Bärin, der Junge auf einen anderen kleinen Bären, und so ging es los. Sie kamen aus dem Wald heraus auf ein Feld und näherten sich dem Dorfe. Als die Menschen die Bären sahen, erschraken sie und liefen davon. Alle liefen aus dem Dorf, wohin die Augen schauten. Die junge Frau kam zu ihrer Hütte, aber die war leer. Da stiegen Mutter und Sohn von den Bären, nahmen den Korb mit und begannen sich in der Hütte umzusehen. Inzwischen aber hatten die Bären Landluft gerochen und waren aus Angst in den Wald zurückgelaufen. Da kamen die Leute zusammen und konnten sich nicht genug darüber wundern, daß 13
die junge Frau zurückgekommen war und einen so hübschen Jungen mitgebracht hatte. So lebte nun die junge Frau mit ihrem Sohn in der Hütte und besorgte die Wirtschaft. Der Junge hämmerte in der Schmiede und wurde ein guter Schmied. Das sprach sich herum und kam auch den Dienern des Zaren zu Ohren. Inzwischen aber hatte Gott eine gute Ernte werden lassen, und man hatte aufgehört, die Kinder zu töten. Die Zarendiener aber sagten, daß der Schmied umgebracht werden müsse, da er zu einer Zeit geboren wurde, als befohlen war, die Kinder zu töten, und daß sich die Mutter schuldig gemacht hat, weil sie ihren Sohn versteckt und aufgezogen habe. Sie beratschlagten und beratschlagten und beschlossen, den Schmied zu töten. Das hörte die Mutter, und sie weinte, rang die Hände, raufte sich die Haare, grämte sich und schrie, daß es das ganze Dorf hörte. Der Schmied aber tat, als sei nichts geschehen, sang Lieder, lachte und unterhielt seine Mutter. Da hörte er, daß die Diener des Zaren schon mit dem Heer kamen, um ihn umzubringen. Er schmiedete sich eine Keule von zehn Pud1, warf sie in die Höhe und hielt das Knie hin. Die Keule schlug ihm gegen das Knie und krümmte sich zu einem Bogen. Da nahm er noch mehr Eisen, schmiedete eine Keule von vierzig Pud, warf sie in die Höhe, hielt das Knie hin und wartete, was ge1
Pud – altes russisches Gewichtsmaß =16,38 kg. (Anm. d. Übers.)
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schehen würde. Er wartete und wartete, aber die Keule kam nicht zurück. Sie flog immer weiter in die Höhe. Er wartete vom Morgen bis zum Mittag. Da hörte er, wie es in der Luft heulte und wie ein Donner rollte, und die Keule kam zurück. Die Sonne ging bereits hinter dem Walde unter, als die Keule angeflogen kam und ihm gegen das Knie schlug. Der Schmied sah, daß nur der Griff etwas verbogen war. Da nahm er die Keule, steckte sie sich an den Gürtel und ging, sich ein gutes Pferd zu suchen, um in die Welt zu reiten. Er suchte und suchte, aber wenn er ein Pferd fand und ihm die Hand auf den Rücken legte, dann fiel es auf die Knie, weil es seine Hand nicht aushalten konnte. Was sollte er da tun? Der Schmied wollte doch nicht zu Fuß in die Welt hinausziehen, aber er konnte kein Pferd finden. Da sah er einen zerlumpten Händler auf einer räudigen Stute reiten. Er ging zu ihr und legte ihr seine Hand auf den Rücken. Die Stute stand und rührte sich nicht. Da legte der Schmied ihr seine Keule auf den Rücken. Die räudige Stute aber stand und wackelte nur etwas mit den Ohren. Da bat der Schmied den Händler, ihm die Stute zu verkaufen. Der Händler nahm hundert Rubel dafür. So viel Geld hatte er in seinem ganzen Leben noch nicht gehabt, und er machte sich hüpfend davon. Der Schmied setzte sich auf die Stute, band seine Keule an den Sattel, verabschiedete sich von seiner Mutter und ritt den Dienern des Zaren und dem Heer entgegen. So ritt er die Straße entlang, und vor ihm hatte sich das Heer auf der 15
ganzen Straße breitgemacht. „Zur Seite, zur Seite!“ schrien die Soldaten. Er aber sagte: „Ihr seid doch keine großen Herren. Macht selber Platz!“ Da stürzten sie sich auf den Schmied. Er aber ergriff einen am Schopf, und wie er ihn so um sich herumschleuderte, da fiel das Heer um. Die anderen erschraken und rissen aus. Der Schmied aber ritt immer weiter. Er ritt und ritt und kam zu einem hohen Berg. Da ging es nicht weiter. Er stieg von der Stute, ließ sie weiden und legte sich selbst hin, um auszuruhen. Die Keule legte er sich unter den Kopf. So schlief der Schmied und hörte nicht, daß die Stute von zwölf Wölfen angefallen wurde. Sie hatten sie von allen Seiten umringt und stürzten sich auf sie. Die Stute wieherte und rief den Schmied zu Hilfe. Der wachte auf, ergriff die Keule, stürzte sich auf die Wölfe und erschlug sie alle. Die Keule aber war durch den Schwung in den Felsen gefahren. Dieser erbebte und fuhr auseinander. Der Schmied setzte sich auf die Stute und ritt in den Spalt hinein, der in der Mitte des Berges entstanden war. Er ritt hinein, aber dort war es so dunkel, daß man die Hand nicht mehr vor den Augen sehen konnte und über alles stolpern mußte. Da band sich der Schmied das Tuch am Kopf auf, die Sonne erglänzte, und es wurde so hell, daß man Nadeln hätte aufsammeln können. So ritt er weiter, bis er auf einmal ein Feuer vor sich erblickte. Er ritt näher heran und sah, daß dort ein Diamant strahlte. Da lag ein Stück Diamant, so groß wie eine Melone, und strahlte wie 16
Feuer. Der Schmied nahm den Diamanten und ritt weiter. Aber bald kam er zu einer steinernen Mauer, da ging es nicht weiter. Er nahm die Keule, holte zum Schlag aus und schlug so derb zu, daß die Mauer zertrümmert wurde und auseinanderfiel. Da erblickte er Paläste, solche Paläste, daß einem vom Hinschauen schwindlig wurde. Der Schmied stieg vom Pferd, ließ es weiden und ging, sich die Paläste anzusehen. Er ging von einem Zimmer zum anderen, und sie hatten weder Zahl noch Ende. Wohin er auch immer sah – überall waren Paläste, überall kam ein Zimmer hinter dem anderen, wie ein Zug Gänse. Wenn man durch die Türen hindurchsah, so sah man immer nur Türen, Türen und Türen. Und sie wurden immer kleiner, bis sie die Größe einer Faust hatten oder noch kleiner erschienen. Aber weiter konnte das Auge nichts erfassen. Da gab es breite Zimmer, andere waren lang und eng, und dann waren da runde Zimmer und so große, daß die Wände nicht zu sehen waren. Die einen hatten glatte Wände aus Kiesel, und bei den anderen waren die Wände wie Nebel und Frühlingswolken, als ob durch sie der Mond hindurchschiene. Es gab auch Zimmer, die überhaupt keine Wände hatten; dort standen nur dicke Säulen wie in einem Fichtenhain, wo die Fichten mit ihren Wipfeln zum Himmel streben und sich mit dem lieben Gott unterhalten. Aber welch ein Wunder: Es gab keine Fenster, die Sonne war nicht zu sehen, und doch war es so hell, daß man hätte Nadeln aufsammeln können. Der Schmied ging durch die Zimmer, 17
stampfte dabei mit der Keule auf und schaute mal hierhin, mal dorthin. So ging er ein wenig und hatte sich plötzlich verirrt. Er stand da und wußte nicht, woher er gekommen war und wohin er gehen sollte. Trauer überfiel ihn in den leeren Palästen. Er stand an einer Säule und überlegte. Aber ihr wißt doch: Je mehr ein Mensch denkt, um so mehr Dummheiten macht er, und um so mehr verwirrt er sich – wie eine Fliege im Spinnengewebe. So stand der Schmied da und wußte nicht, was er machen sollte. Da kam auf einmal eine Maus gelaufen. Sie war aus ihrem Loch herausgekrochen – schnupperte ein bißchen, blinzelte mit ihren scharfen Augen und wollte Futter für ihre Kleinen suchen. Als sie den Schmied erblickte, staunte sie, setzte sich auf die Hinterpfötchen und saß so mit gespitzten Ohren da. Das sah der Schmied, lächelte über das dumme Mäuschen und trat ihm auf den Schwanz. Die Maus sprang auf, wollte hierhin und dorthin, aber der Schmied hielt den Schwanz fest. Da bat sie den Schmied, sie doch loszulassen, und versprach, ihm zu helfen, wenn er in Not wäre. Der Schmied lächelte spöttisch. Wie könnte eine Maus ihm, dem Recken, denn in der Not helfen? Aber trotzdem hob er den Fuß und ließ die Maus frei. Sie lief in ihr Mauseloch, und der Schmied ging weiter. Er war gerade in das nächste Zimmer gekommen, als er hörte, wie seine Stute wieherte und um Hilfe rief. Da lief er los, immer der Stimme nach. Er lief und lief, aber er konnte nicht aus 18
den Palästen hinausfinden. Denn in großen Häusern bekommt man – wie ihr wißt – nicht heraus, woher eine Stimme ruft. Er verirrte sich noch mehr und lief immer im Kreis. Die Stute aber wieherte und wieherte und wurde plötzlich still. Vielleicht war sie von den Wölfen zerrissen worden. Was war da zu tun? Die Stute tat ihm leid, aber aus den Palästen war nicht hinauszukommen. Da ergriff der Schmied die Keule und begann, gegen die Wände zu schlagen. Als er so die Keule schwang, da stürzten die steinernen Wände und Säulen zusammen wie der Flachs in einer Flachsbreche. So bahnte sich der Schmied einen Weg, bis er aus den Palästen heraus war. Da machte er sich auf die Suche nach der Stute, aber er konnte sie nirgends finden. Wie er so stand und sich am Kopf kratzte, kam auf einmal die Maus gelaufen. Sie wackelte mit ihrem Schwänzchen und sagte: „Folge mir, ich werde dir deine Stute zeigen. Aber sie ist von den Wölfen zerrissen worden, sie haben ihr die Därme herausgezogen.“ Der Schmied folgte der Maus, und sie gingen ungefähr zwei Werst1. Dort lagen von der Stute des Schmieds nur noch die Überreste; im Bauch hatte eine Spinne ihr Netz ausgebreitet und wartete darauf, daß eine Biene oder eine Fliege angeflogen käme. Dem Schmied tat es leid um die Stute, so leid, daß er fast geweint hätte. Da saß er nun bei seiner Stute und sah, daß ihr die Ameisen schon die Augen ausgefressen hat1
1 Werst = 1,06 Kilometer. (Anm. d. Übers.)
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ten. Auf einmal kam eine Gottesbiene angeflogen, suchte in den Blumen nach Honig und verfing sich im Spinnennetz. Die Biene wand sich und summte, strampelte mit den Beinen, schlug die Flügel und verfing sich immer mehr im Spinngewebe. Das sah die Spinne, stürzte sich auf die Biene und wollte sie auffressen. Da brüllte die Biene, daß der Wald erzitterte. Das hörte der Schmied. Er vergaß seinen Kummer und lief, die Gottesbiene zu retten. Er ergriff die Spinne mit beiden Händen am Schwanz und schleuderte sie um sich herum. Er schleuderte sie und schleuderte sie, und als er sie mit dem Kopf an eine Eiche schlug, sprang ihr das Gehirn aus dem Kopf. Da streckte sich die Spinne und strampelte nur noch mit den Beinen. Sie strampelte und strampelte, bis sie sich eine Grube gegraben hatte und verendete. Inzwischen hatte der Schmied das Spinngewebe zerrissen und die Biene befreit. Die Biene dankte ihm und sagte: „Dafür, daß du mich aus der Not gerettet hast, will ich dir eine Quelle mit Lebenswasser zeigen.“ Der Schmied erhob sich und ging der Biene nach, sie aber flog voraus und summte. Unterdessen war das Mäuschen in die Tasche des Schmiedes gekrochen und blieb dort sitzen, wie in seinem Mauseloch. Die Biene aber brachte den Schmied zu einem hohen Berg. Als er hochschaute, fiel ihm die Mütze vom Kopf, er wollte auf den Berg steigen, aber es war nichts da, woran er sich festhalten konnte. Da nahm ihn die Biene auf die Schulter und flog mit ihm auf den Berg. Der Schmied hielt sich mit beiden Händen an der Biene fest, 20
saß und stöhnte vor Angst und Schreck, denn so hoch war er noch nie gewesen. So brachte die Biene den Schmied auf den hohen Berg hinauf, setzte ihn ab und zeigte ihm die Quelle. Da sah der Schmied, wie das Lebenswasser unter einem Stein aus dem Berg hervorschoß, wie aus einer Rohrpfeife. Er schöpfte Wasser in ein flaches Tongefäß, trank sich satt und ließ das Mäuschen trinken. Die Biene nahm sie wieder auf ihre Schulter und flog zurück. Kaum hatten sie sich in die Luft erhoben, da tobte ein solcher Sturm los, daß Eichen samt Wurzeln herausgerissen, Felsen umgeworfen und sogar die Berge erschüttert wurden. Dieser Sturm ergriff die Biene zusammen mit dem Schmied und dem Mäuschen, ergriff sie, wirbelte sie herum, drehte sie und jagte fort, weiß der Teufel wohin. So trug sie der Sturm und jagte sie; aber dem Schmied schien es, als säße er auf einer Stelle und alles andere würde dahinjagen und -fliegen, daß einem schwindlig werden konnte. Es drehten sich die hohen Berge, die tiefen Meere, die dunklen Wälder, die saftigen Wiesen, die schmutzigen Sümpfe, die bunten Felder und die Hütten auf Hühnerbeinen. Nur die Sonne stand hell am Himmel – wie unbeweglich. Da wurde auch sie traurig und blutigrot, und ihre klaren Augen begannen zu weinen und heiße Tränen zu vergießen. Und die Tränen flossen wie aus einem Eimer. Gottes Tag war nicht zu sehen, und der Regen drückte die Biene mit dem Schmied und dem Mäuschen zur Erde nieder.
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Und so fielen sie zur Erde hinunter wie ein Stein. Sie flogen schon ganz niedrig, und der Schmied dachte, gleich würden sie so auf die Erde krachen, daß das Mark aus ihren Knochen herausfließt. Da breitete die Biene die Flügel aus, hielt an, begann zu summen und jagte mit dem Schmied und dem Mäuschen dem Wind entgegen. In einem fremden Land, in einem fernen Zarenreich ließ sie sich nieder, setzte den Schmied und das Mäuschen ab und sagte: „Wenn es nötig ist, dann ruft mich. Jetzt aber werde ich wegfliegen, Honig sammeln und in die Waben bringen.“ Nach diesen Worten flog sie schnell davon. Der Schmied ging immer der Nase nach mit dem Mäuschen. Er ging, schaute sich das unbekannte Land an und die Leute, die ihm entgegen kamen. Wie ihr wißt, sind ja die Menschen auf der ganzen Welt gleich. Überall leben sie, trauern sie, arbeiten sie, haben sie ihre Sorgen und ihre Mühen. Die einen werden geboren, andere sterben. Denn wenn die Menschen nicht sterben würden, gäbe es bald so viele, daß es die Erde nicht mehr aushalten würde. Jeder Mensch will Kinder haben, will, daß sie ihn ernähren, wenn er alt ist, ihm die Augen schließen, wenn er stirbt, für ihn beten und seiner gedenken. In diesem Lande wohnte ein Zar. Der hatte einen kühnen und schönen Sohn und eine sehr hübsche Tochter. Der Zar wollte dem Sohn sein Reich vererben, und für die Tochter suchte er einen schönen und tapferen Bräutigam. Nur gab es in diesem Zarenreich nicht einen einzigen Bur22
schen, der der Zarentochter gefallen hätte. Da begannen die Freier aus fremden Zarenreichen zu ihr zu kommen und um sie zu werben. Aber die Zarentochter konnte und konnte sich nicht entschließen. Einmal ging sie im Garten spazieren. Sie pflückte Blumen, sang und wand sich einen Kranz. Als sie den Kranz gewunden hatte, setzte sie ihn auf und wollte in den Palast gehen. Plötzlich kam die Hexe Baba-Jaga-Knochenbein auf einem Mörser dahergeritten, ruderte mit einem Stampfer und verwischte mit einem Wedel die Spuren. Sie ritt an die Zarentochter heran, packte sie in den Mörser und eilte mit ihr fort, niemand wußte, wohin. Das erzählten die Leute dem Schmied, und sie sagten, daß der Zar Recken und Helden zusammengerufen habe. Demjenigen, der die Zarentochter zurückbringe, wolle er sie zur Frau geben und ihn zum Herrscher über das ganze Reich machen. Da zogen die Helden und Recken durch die ganze Welt, und es wurde nichts mehr von ihnen gehört. Nun versammelte der Zarensohn zwölf Burschen, zwölf der besten Helden um sich und zog mit ihnen in die Welt hinaus, um die Schwester, die schöne Zarentochter, zu suchen. Lange Zeit hörte man nichts von ihr, aber dann kam ein Bursche mit einer bösen Nachricht. Er erzählte, daß die Hexe Baba-Jaga die Zarentochter zum Unsterblichen Kaschtschej gebracht habe. Dieser habe sie eingesperrt und hielt sie hinter zwölf Schlössern in seinem steinernen Palast gefangen. Dorthin eilte der Zarensohn mit seinen Recken. 23
Der Unsterbliche Kaschtschej aber hauchte sie nur an, und alle zwölf wurden zu Stein. Nur einer von ihnen, der hinter der Ecke gestanden hatte, wurde gerettet. Das hörte der Zar, und er weinte vor Kummer. Aber er wußte nicht, was er tun sollte. Der Schmied hörte davon und wollte die Zarentochter finden und befreien. Er konnte weder essen noch trinken und fand keinen Schlaf. So lag er da, hatte die Keule unter den Kopf gelegt, lag und dachte immerzu nach. Er dachte und dachte und beschloß, zum Zaren zu gehen. Aber er wußte nicht, was er ihm sagen sollte. Ihr wißt ja, als Schmied hatte er noch nie einen Zaren oder etwas Ähnliches gesehen. So lag er da, als auf einmal das Mäuschen gelaufen kam und ihn mit dem Schwänzchen unter der Nase kitzelte. „Geh weg! Warum störst du mich?“ sagte der Schmied und nahm es in die Hand. Da steckte das Mäuschen sein Schnäuzchen aus der Hand und begann zu sprechen. „Fürchte dich nicht vor dem Zaren“, sagte es, „er ist genauso ein Mensch wie du. Fürchte dich nicht, nur nimm mich mit! Ich werde dir alles vorsagen, denn ich weiß, wo die Zarentochter ist. Du weißt doch, daß es für mich keine verschlossenen Türen gibt. Ich komme überall durch. Die Zarentochter ist in den Palästen, wo du mir auf den Schwanz getreten hast. Der Unsterbliche Kaschtschej hat sie eingesperrt und bewacht sie, damit sie niemand befreien kann.“ Da freute sich der Schmied, steckte das Mäuschen in die Rocktasche und ging zum Zaren. 24
Nach einer Weile brachte man ihn zum Zaren in den Palast. Der Schmied erschrak, als er den Zaren erblickte, und geriet so in Verwirrung, daß er nicht mehr wußte, warum er überhaupt gekommen war. Da flüsterte ihm das Mäuschen in der Rocktasche etwas zu und zwickte ihn, damit er wieder zu sich käme. Der Schmied horchte aufmerksam auf das, was ihm das Mäuschen sagte, und begann furchtlos mit dem Zaren wie mit seinem Bruder zu sprechen. Der Zar hörte ihn an und befahl, daß er sich das beste Pferd auswählen könne. Der Schmied bedankte sich und ging in den Reitstall, um sich ein Pferd auszusuchen. Aber er konnte keins finden, denn sowie er ihm die Hand auf den Rücken legte, ging jedes Pferd in die Knie. Das sagte man dem Zaren. Da befahl dieser, dem Schmied sein eigenes Pferd zu geben. Das Mäuschen aber flüsterte ihm zu, daß er um das Pferd bitten solle, auf dem die Zarentochter geritten war. Da bat der Schmied um dieses Pferd. Der Zar hörte das und überlegte ein wenig, denn es tat ihm sehr leid um das Pferd der Zarentochter. Aber schließlich befahl er doch, dem Schmied das Pferd zu geben. Der Schmied setzte sich auf das Pferd, band die Keule an den Sattel, steckte das Mäuschen in die Rocktasche und ritt in die Welt. So ritt er nun munter dahin. Da kam die Nacht, ringsum war dunkler Wald, und ein Ende war nicht abzusehen. Es wurde so dunkel, daß man nicht die Hand vor Augen sah. Er konnte unmöglich weiterreiten. Da stieg der Schmied vom Pferd, band es an einer 25
Eiche fest, brach Äste ab, zündete ein Lagerfeuer an und legte sich zur Ruhe. Er legte sich nieder und schlief ein wie ein Stein. Der Schmied schlief und hörte nicht, was das Mäuschen mit dem Pferd sprach. Das Mäuschen aber sagte dem Pferd, wo die Zarentochter ist, und schickte es mit einer Nachricht zu ihr. Das Pferd freute sich, denn es wollte die Zarentochter gern wiedersehen. Aber es konnte sich nicht losreißen, denn der Schmied hatte es fest angebunden. Da kletterte das Mäuschen auf die Eiche und nagte den Zügel durch. Das Pferd jagte los und lief so schnell, daß es auch kein Vogel hätte einholen können. Es kam zu dem Berg, wo die Paläste des Unsterblichen Kaschtschej waren, und begann mit den Hufen zu stampfen. Es trat gegen den Felsen, daß dieser erzitterte, als ob ihn ein Fieber schüttelte. Aber der Berg stand fest. Als das Pferd sah, daß nichts zu machen war und daß es den Felsen nicht zertrümmern konnte, da lief es los, um einen Spalt zu suchen. – Wie ihr wißt, findet sich in allem ein Riß oder irgendein Fehler. Man muß nur gut suchen. Das Pferd lief von einer anderen Seite an den Berg und fand den Spalt, den der Schmied gemacht hatte, als er mit seiner Keule dagegengeschlagen hatte. In diese Spalte lief es hinein und eilte zu den Palästen, wobei es lärmte wie der Donner. Das hörte der Unsterbliche Kaschtschej, setzte sich mit der Hexe Baba-Jaga auf den Mörser und kam ihm entgegen. Da sprang das Pferd auf sie 26
los und trat sie mit den Hufen, wo es nur konnte. Als der Unsterbliche Kaschtschej sah, daß das kein Scherz war, ergriff er den Stampfer und schlug dem Pferd so auf den Schädel, daß es seinen Geist aufgab. Das Pferd wälzte sich, strampelte mit den Beinen und streckte alle viere von sich. Der Unsterbliche Kaschtschej fletschte mit den Zähnen und ritt mit der Hexe Baba-Jaga los, um nach seinen Palästen zu sehen. Sie ritten und ritten und sahen auf einmal, daß jemand die Paläste geöffnet und einen Spalt in den Berg geschlagen hatte. Den machte der Unsterbliche Kaschtschej gleich zu. Er brach erst Steine und schleppte sie dann dorthin. Während er diese Arbeit verrichtete, ließ der liebe Gott Tag werden. Da wachte der Schmied auf und sah, daß sein Pferd nicht mehr da war. Das Mäuschen aber schwieg mit zusammengebissenen Zähnen und sagte nichts, da es fürchtete, daß der Schmied es vor Wut töten könnte. Der Schmied aber war sehr traurig, steckte das Mäuschen in die Rocktasche und ging zu Fuß. – Aber wie ihr wißt, geht man in einem dunklen Wald nur immer im Morast, geht und geht und dreht sich doch auf einer Stelle. Der Schmied verirrte sich, setzte sich auf einen umgestürzten Baum und dachte an das, was geschehen war. Da fiel ihm die Biene ein, und er rief sie sofort zu Hilfe. Die Biene hörte das, kam herbeigeflogen und brachte den Schmied und das Mäuschen zu der Stelle, wo die Überreste der Stute des Schmiedes lagen. Sie erhob sich weit über den Wald, trug die beiden 27
über große Sümpfe und hohe Berge bis hinter das blaue Meer und ließ sich bei dem Berge im Walde nieder. Da sah der Schmied die Überreste seiner Stute und begann vor Kummer zu weinen. Er holte die Schale mit dem Lebenswasser aus der Tasche und bespritzte die Knochen. Kaum hatte er sie bespritzt, da begannen das Fleisch und die Haut zu wachsen, und die Stute wuchs wieder empor, wie sie war. Da spritzte er noch einmal und noch ein zweites Mal, und die Stute wieherte und sprang auf die Beine. Der Schmied dankte der Biene, setzte sich auf die Stute und ritt, wohin das Mäuschen zeigte. Da kam er wieder zu dem Berg, fand den Spalt und begann an dem Felsen hinaufzuklettern. Die Stute stolperte, denn der Unsterbliche Kaschtschej hatte Steine hingeworfen und den Weg versperrt. Da ergriff der Schmied die Keule und bahnte sich einen Weg. Wenn er zuschlug, erzitterten die Berge. Das hörte der Unsterbliche Kaschtschej, spürte, daß ihm Unheil drohte, und kam ihm entgegengeritten. Sie stießen aufeinander und begannen sich zu schlagen. Sie schlugen sich und schlugen sich so, daß die Berge zusammenfielen und die Paläste einstürzten, aber keiner konnte den anderen besiegen. Als der Unsterbliche Kaschtschej sah, daß der Schmied den Mörser zerschlagen und den Stampfer zerbrochen hatte und die Hexe BabaJaga fast mit der Keule getötet hätte, wußte er, daß er ihn nicht besiegen konnte, und lief davon,
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wobei er die Hexe Baba-Jaga mit beiden Händen umfaßte. Wie der Schmied den Unsterblichen Kaschtschej flüchten sah, lief er ihm nicht nach, sondern ritt in die Paläste, um die Zarentochter zu suchen. Er ritt und ritt, und das Mäuschen zeigte ihm den Weg. Da sah er sein Pferd liegen, das alle viere von sich gestreckt hatte. Er stieg von der Stute, holte die Schale mit dem Lebenswasser aus der Tasche und bespritzte das Pferd damit. Da wurde das Pferd wieder lebendig, sprang auf die Beine und wieherte vor Freude. Das hörte der Unsterbliche Kaschtschej, und als er sah, daß der Schmied dorthin ritt, wo die Zarentochter hinter sieben Schlössern eingesperrt war, machte er eine solche Finsternis in den Palästen, daß man nicht die Hand vor Augen sehen konnte. Der Schmied band das Tuch am Kopfe auf, und die Sonne begann zu scheinen, es wurde so hell, daß man Nadeln hätte aufnehmen können; dann ritt er weiter. Aber als er zu den Palästen kam, in denen die Zarentochter versteckt war, waren dort schon alle Türen verschlossen und mit Steinen verschüttet. Da stieg der Schmied von der Stute und begann die Steine abzuräumen. Als er ein paar Steine fortgeräumt hatte, sah er, daß die Türen aus Eisen und ganz, ganz dick waren und jede sieben Schlösser hatte. Was war da zu machen? Er überlegte und überlegte und schickte das Mäuschen aus, um auszukundschaften, wo sich die Zarentochter aufhält. Das Mäuschen lief los. Wie ihr wißt, findet es überall einen Ritz und schlüpft dort 29
hindurch. Nach kurzer Zeit kehrte das Mäuschen ganz traurig wieder zurück und sagte, daß die Hexe Baba-Jaga die Zarentochter habe einfrieren lassen. Als der Schmied das hörte, wurde er ganz zornig, nahm seine Keule und schlug mit ihr gegen die Wand. Als er ein-, zweimal geschlagen hatte, fiel die Wand wie morsches Holz zusammen. Der Schmied stürzte hinein und sah den Zarensohn dort liegen. Die Hexe Baba-Jaga hatte ihn in einen Stein verwandelt. Der Zarensohn lag da, als ob er lebte, und neben ihm lagen elf seiner Recken, als wären sie aus Stein gemacht. Der Schmied sah sie an, befühlte diese versteinerten Menschen und ging zur Zarentochter. Er ging in die Eispaläste. Dort war alles aus Eis, vielleicht war es auch nur in Eis verwandelt worden. Da standen Eisbäume, die mit Reif bedeckt waren wie bei großem Frost. Unter den Bäumen stand ein Eisbett mit einem Vorhang, der aus Reif geflochten war. Auf diesem Bett lag die Zarentochter, ganz durchsichtig wie aus Eis, und war mit Reif bedeckt. Der Schmied trat heran, und wie er die Zarentochter so ansah, da konnte er die Augen nicht von ihr abwenden, so schön war sie, und so sehr gefiel sie ihm. Er stand unbeweglich auf einem Fleck, und die Sonne auf seiner Stirn wärmte die Zarentochter, so daß sie allmählich zu tauen begann. Erst wurde das Eis weiß und dann rot. Nach einiger Zeit lag die Zarentochter wie lebendig da. Nur atmete sie nicht. Da holte der Schmied das Gefäß mit dem Lebenswasser aus
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der Tasche und besprengte sie damit. Sie fuhr zusammen, öffnete die Augen und erhob sich. Inzwischen war das Eis in allen Palästen getaut. Da zog sich die Zarentochter an, setzte sich auf ihr Pferd und ritt dorthin, wo der Zarensohn lag. Als die Zarentochter ihren Bruder erblickte, begann sie zu weinen und sich zu grämen. Da überlegte der Schmied und überlegte, was hier zu tun sei. Aber ihm wollte nichts einfallen. So stand er da und mußte zusehen, wie sich die Zarentochter grämte. Inzwischen aber wurde alles von der Sonne auf seiner Stirn erwärmt. Da begann der Stein weich zu werden, und der Zarensohn und alle seine Recken wurden wieder zu Menschen. Als der Schmied das sah, holte er das Gefäß mit dem Lebenswasser aus der Tasche, und wie er sie damit bespritzt hatte, kamen sie wieder zu sich und wurden lebendig. Da gab es viel Freude und viele Tränen. Nun machten sie sich alle auf den Weg. Das Mäuschen schlüpfte wieder beim Schmied in die Rocktasche und blieb dort sitzen. Sie verließen die Paläste und ritten in den Wald. Sie ritten und ritten dahin, aber der Wald war so groß, daß er kein Ende zu haben schien. Da hörten sie, daß der Unsterbliche Kaschtschej hinter ihnen herjagte. Durch die Erschütterung kam ein Sturm auf, der ganze Wald erzitterte und bog sich zur Erde. Da trat ihm der Schmied entgegen. Der Unsterbliche Kaschtschej stürzte sich auf ihn, doch ehe er ihn fassen konnte, schlug der Schmied mit der Keule zu. Vom ersten Schlag platzte dem Unsterblichen 31
Kaschtschej der Kopf und brach in zwei Teile auseinander. So schlugen sich Kaschtschej und der Schmied, und überall, wohin sie traten, entstanden Abgründe und Seen, die noch bis zum heutigen Tag im Walde zu sehen sind. Aber da kam ihm der Schmied ganz nahe, knickte ihn zusammen, trat ihm auf die Kehle und hob die Keule, um ihm den Kopf zu zerschmettern. Als Kaschtschej sah, daß sein Ende gekommen war, da bettelte er um sein Leben und versprach, daß er niemand mehr anrühren und nur noch im Sumpf leben werde. Der Schmied ließ ihn laufen und ritt schnell zum Zaren, um ihn mit der Nachricht zu erfreuen, daß Sohn und Tochter gefunden wurden. Als sie angekommen waren, befahl der Zar, im ganzen Reich ein Fest zu feiern, gab dem Schmied seine Tochter zur Frau und machte ihn zum Oberbefehlshaber. Und so lebte der Schmied glücklich und in Wohlstand mit der Zarentochter zusammen. Das Mäuschen aber blieb auch weiterhin bei ihm in der Rocktasche. Wenn der Schmied Gutes tat, dann saß es still da, aber wenn er Böses tat, dann kratzte es ihn in der Rocktasche so sehr, daß es sogar das Herz mit seinen spitzen Krallen traf. Der Schmied lebte lange und tat viel Gutes in diesem Zarenreich. Noch jetzt erinnern sich die Leute an ihn. Sie sagen, der Schmied habe bis zu seinem Tode selbst geschmiedet und andere gelehrt, das Eisen zu schmieden. Er sagte immer, daß beim Schmied die Hände bis zum Ellenbogen im Gold steckten. Von der Zeit an begannen die Leute Ei32
sen zu schmieden und sich alles zu machen, was sie brauchten. Aber so gut es dem Schmied auch mit seiner jungen Frau in jenem Zarenreiche ging, wie man ihn auch achtete, seine Heimat konnte er trotzdem nicht vergessen. Einmal wurde es ihm so wehmütig ums Herz, daß er nicht mehr weiterleben konnte. Er lief traurig umher, als wäre er unter der Erde. Da fragte ihn seine Frau, warum er denn so traurig sei. Er sagte, daß er seine liebe Mutter besuchen möchte, daß er sein Heimatdorf wenigstens noch einmal sehen möchte. Da machte sich der Schmied auf die große Reise, nahm seine liebe Frau mit sich und fuhr los. Sie fuhren lange durch die Welt und kamen schließlich in das Dorf, wo die Mutter wohnte. Alt war sie geworden, bucklig und spindeldürr; sie weinte immer um den Sohn und wollte ihn gern noch einmal vor dem Tode sehen. Da kam der Schmied, fand die Mutter in der alten Hütte, fiel ihr um den Hals, umarmte und küßte sie. Die Mutter freute sich, begann zu weinen und konnte vor Freude kein Wort herausbringen. Nun blieb der Schmied lange Zeit zu Besuch, zeigte den Nachbarn, wie man Eisen schmiedet, und lehrte sie Gutes tun. Dann nahm er die Mutter und fuhr in das fremde Land zurück, in das Zarenreich, wo alle Leute arbeiten und von der Arbeit leben, wo einer dem anderen hilft und es deshalb auch keinen Kummer gibt. Vielleicht stimmt es, daß es ein solches Land und solche vernünftigen und guten Leute gibt. Vielleicht aber wird es sie
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erst später einmal geben. Wir werden es sehen oder hören, wenn wir noch am Leben sind!
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2 Die Soldatensöhne In irgendeinem Zarenreiche, in irgendeinem Staate, gerade in dem, in dem wir leben, hinter der Nummer fünf, in diesem verfluchten Hause; hinter der Nummer sieben, wo wir jetzt sitzen… Dieses ist das Märchen nicht, sondern nur das Vorgedicht. Das Märchen kommt morgen nach dem Mittagessen, wenn wir uns an weichem Brot sattgegessen und saure Kohlsuppe gelöffelt haben, damit der Bauch dicker ist… In einem Dorfe lebte einmal ein Bauer, der war sehr arm und besaß gar nichts. Im Frühjahr heiratete er, und im Herbst steckte ihn der Gutsbesitzer anstelle eines reichen Bauern zu den Soldaten; und da er ein armer Kerl war, schickte man ihn möglichst weit fort. Er hatte kein Geld und konnte keinen Brief nach Hause schreiben, um mitzuteilen, wo er war. So wußte seine Frau nicht, wo sie hinschreiben sollte. Nach einiger Zeit gebar sie, ohne daß ihr Mann davon wußte, zwei Söhne. Diese Söhne wuchsen nicht in Jahren, sondern schon in Stunden heran. Nach ungefähr fünf Jahren, die sie in ihrer Armut zugebracht hatte, ging sie zum Dorfschulzen und bat ihn: „Dorfschulze, kann man nicht meine Söhne irgendwie einschulen lassen, ich habe doch
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keine Mittel…“ (Früher wurden die Lehrer von den Eltern bezahlt.) Da sagte der Dorfschulze: „Nun, irgendwie werden wir die Sache schon einrichten.“ So gingen die Kinder jetzt in die Schule. Der eine Sohn hieß Iwan, der andere Roman, sie glichen einander aufs Haar und hatten die gleiche Stimme, so daß man nicht erkennen konnte, wer von ihnen Iwan und wer Roman war. Es verging ein Winter, es verging der zweite Winter, und im dritten Winter gingen sie wieder in die Schule. Dort waren Söhne von reichen Vätern, die vom Dorfschulzen und vom Kosakenoberleutnant, das heißt alles Söhne, die auch Väter hatten, sie aber waren irgendwie unehelich geboren. Die anderen Kinder neckten sie: „Ach, ihr Baistrucken1!“ Wenn sie spazierengingen, stieß sie bald der eine, bald der andere an, und es gab niemand, bei dem sie sich darüber beschweren konnten, daß man sie Baistrucken nannte (als wären sie unehelich geboren). Einmal kamen sie nach Hause zu ihrer Mutter. „Mutter!“ sagten sie. „Was denn, meine Söhnchen?“ „Warum nennt man uns Baistrucken?“ Sie antwortete: „Ihr seid keine Baistrucken, sondern euer Vater ist schon sechs Jahre bei den Soldaten (früher diente man fünfundzwanzig Jah1
Belorussischer Ausdruck für uneheliche Kinder. (Anm. d. Übers.)
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re). Der Gutsbesitzer hat ihn außer der Reihe zu den Soldaten gesteckt.“ Am nächsten Morgen gingen sie wieder in die Schule. Als die Stunde vorbei war, ließ man sie auf die Straße. Die Kinder neckten sie wieder und nannten sie Baistrucken. Da sagte Iwan zu Roman: „Bruder Roman, wir sind doch Soldatensöhne und keine Baistrucken. Sie nennen uns aber Baistrukken, komm, wir machen sie fertig!“ Wen Iwan am Arm ergriff, der hatte keinen Arm mehr, wen er am Kopf packte, der hatte keinen Kopf mehr. – So fielen die, die stärker waren, die schwächeren liefen davon. Sie sammelten die Mützen auf und gingen zur Schule. Roman hob die eine Ecke des Schulhauses an und Iwan legte die Mützen darunter. Da sagte Roman: „Gehen wir jetzt zum Lehrer, er hat uns schon oft unnötigerweise mit dem Lineal geschlagen.“ Da kamen sie zum Lehrer. Der Lehrer fiel auf die Knie und flehte: „Verzeiht mir doch, wir haben eben solchen Beruf!“ „Nun gut, wir verzeihen dir.“ Sie rührten den Lehrer nicht an und gingen nach Hause. Als sie nach Hause kamen, fragte die Mutter: „Warum kommt ihr schon so früh?“ „Ach, einfach so, wir haben ein bißchen aufgeräumt!“ „Was?“ „Na, als sie uns wieder Baistrucken nannten, haben wir sie fertiggemacht. Wen wir am Arm 37
packten, der hatte keinen Arm mehr, und wen wir am Kopf packten, der hatte keinen Kopf mehr.“ „Was habt ihr da angerichtet?!“ „Nichts weiter“, antworteten sie. „Jetzt wird uns der Gutsbesitzer umbringen.“ „Das kommt noch darauf an“, antworteten sie. Da riefen die Bauern eine Versammlung zusammen. „Was sollen wir nur mit diesen Baistrukken machen?“ Sie riefen den Gutsbesitzer herbei und bestellten die Mutter der Baistrucken zur Versammlung. Als sie sich dort berieten, sagte der Lehrer, daß sie große Kraft hätten und man sie schwer beseitigen könnte. Der Gutsbesitzer überlegte, was man mit ihnen machen könnte. „Wir sagen, ihre Mutter soll ein Loch ins Eis hauen und sie unter das Eis stecken.“ Und so sagte es der Gutsbesitzer ihr auch: „Geh nach Hause, schlage ein Loch in das Eis und stoße deine Söhne ins Wasser. Wenn du das nicht machst, werden wir dich dort hineinstoßen.“ Die Ärmste begann zu weinen und ging nach Hause. Sie ging und weinte. Zu Hause aber warteten die Söhne mit Ungeduld auf ihre Mutter. Was hatte man dort auf der Versammlung zu ihr gesagt? Als sie ihre Mutter empfingen, weinte sie. „Warum weinst du denn, Mutter?“ „Der Gutsbesitzer hat gesagt, daß ich ein Loch ins Eis schlagen und euch unter das Eis stecken soll.“
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„Ach so. Nun, dann geh zurück, Mutter, wir werden mit dir gehen.“ Die Mutter tat es. So gingen sie zu dritt zurück, und die Söhne sagten: „Wir bleiben hier unter dem Fenster stehen, geh du in die Hütte, Mutter, und dann sag zu dem dickbäuchigen Gutsbesitzer: ‚Dickbäuchiger Teufel, meine Söhne haben mich hierher geschickt!’“ Das tat sie auch, aber der Gutsbesitzer kochte vor Wut. „Was hast du für ein Recht, mich so zu nennen?!“ „Und was hattest du für ein Recht, zu sagen, ich soll ein Eisloch schlagen und meine Kinder dort hineinstoßen? Sie haben gesagt, daß über Nacht bis morgen zwölf Uhr Keulen aus je fünfundzwanzig Pud weichem Eisen gemacht werden sollen.“ Der Gutsbesitzer biß sich auf die Zunge. Die Söhne drückten von der Straße aus gegen die Wand, da brach die Wand entzwei, und sie konnten durch die Wand eintreten. Nun begann der Gutsbesitzer ängstlich zu werden und sagte: „Verzeiht mir, ich selbst will euch die Keulen machen lassen. Bis morgen sind sie fertig.“ „Paß nur auf, du dickbäuchiger Teufel, sonst treten wir dir auf das eine Bein und reißen dir das andere aus!“ Der Gutsbesitzer lief schnell zu seinem Gut und ließ Keulen mit Griffen von seinem Schmied machen. Da er sie nicht bis zwölf Uhr machen lassen
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konnte, lief er zu den Soldatensöhnen und bat sie, wenigstens noch zwei Tage zu warten. „Nun, schon gut. Aber daß die Keulen in zwei Tagen fertig sind! Rolle ein Faß Wein ins Dorf, du dickbäuchiger Teufel, schlachte drei Kühe und lade zu einer Gedenkfeier ein, für die Jungen, die wir erschlagen haben, aber daß alles heute noch geschieht!“ Da sagte der Gutsbesitzer: „Ich will mich gern bemühen, es wird alles getan werden.“ „Wir kommen nachsehen.“ „Bitte! Wenn ihr nicht mit ins Dorf kommt, dann kommt doch wenigstens zu mir. Ich werde euch dort bewirten.“ „Wir haben keine Lust, zu dir zu kommen, wir werden hier warten.“ Der Gutsbesitzer fuhr nach Hause und stellte schnell ein Faß Wein im Dorf auf und brachte die drei Kühe. Iwan und Roman suchten nicht nach Messern, sondern rissen ihnen einfach die Haut ganz herunter und sagten: „Nun eßt und denkt an die Jungen, die uns Baistrucken genannt haben!“ Sie selbst gingen nach Hause. „Nun geh du auch zu dem Fest, Mütterchen, und merke dir, was man dort sagt.“ Die Mutter ging hin. Nun, hier sagte natürlich niemand etwas Schlechtes. Die Mutter wurde gut bewirtet und kam wieder nach Hause. „Nun, wie war es dort, Mütterchen?“ „Alles in Ordnung. Alle sprechen gut von euch und niemand schimpft.“ „Aha“, sagten sie. 40
Nach drei Tagen brachte der Gutsbesitzer ihnen die Keulen und sagte: „Da habt ihr sie, Jungens, eure Bitte ist erfüllt.“ Iwan griff nach seiner Keule und sagte: „Etwas leicht! Das sind doch keine zwanzig Pud.“ Und Roman sagte: „Müssen es aber sein.“ „Nun, dann nimm du sie einmal.“ Roman griff auch zu und sagte: „Ja, das sind wohl keine zwanzig Pud.“ „Was hast du denn da gemacht, du Dickbäuchiger? Man hat dir gesagt, zu fünfundzwanzig Pud, und du läßt nur zu sechzehn machen!“ „Nein, so wiegt sie doch, Soldatensöhne (jetzt nannte er sie schon Soldatensöhne), wenn ihr es nicht glaubt. Ich habe doch selbst gesehen, wie sie gewogen wurden. Die Keulen wiegen sogar noch etwas mehr als fünfundzwanzig Pud.“ Da begannen sie, mit den Keulen zu spielen. Sie warfen sie in die Höhe, fingen sie wieder auf und warfen sie wieder. Der Gutsbesitzer aber stand da, ohne sich von der Stelle zu rühren, und hatte Angst. „Na ja, es ist gut, die Keulen sind nun einmal fertig. Wir wollen deinem Teufelswort glauben. Aber wir wollen dir noch eine Aufgabe geben. Rolle noch ein Faß mit vierzig Eimern Wein in das Dorf und laß alle Bauern wissen, daß wir jetzt losziehen, um unseren Vater zu suchen. Und paß auf, wenn das Essen ausgeteilt wird, daß man unserer Mutter Fleisch und weiches Brot gibt, paß auf, daß die Mutter kein hartes Brot ißt und daß man sie immer bedient. Was sie braucht, soll ihr 41
unverzüglich gegeben werden, und wenn das nicht geschieht, so kommst du nicht mehr lebend davon, wenn wir zurückkehren!“ Da sagte der Gutsbesitzer: „Mit großem Vergnügen, es wird alles so hergerichtet werden, wie es sich gehört. Eure Mutter soll ihre alte Hütte verlassen und in eines meiner Zimmer ziehen. Dort wird man sie bedienen, es wird ihr ständig alles hereingebracht werden. Sie soll essen und trinken können, was sie will.“ „Na, und jetzt paß auf, du dickbäuchiger Teufel! (Mit einem guten Namen belegten sie ihn nicht.) Paß auf, wenn unsere Keulen zu pfeifen anfangen. Wohin die Keulen sausen, dorthin gehen wir.“ Iwan war wohl etwas älter, denn Roman sagte: „Nun, Bruder Iwan, wirf du dein Abschiedsgeschenk zuerst.“ Iwan griff nach seiner Keule und warf sie. Sie flog wie aus einer Kanone geschossen davon und war bald den Blicken entschwunden. „So, jetzt schleudere ich meine.“ Roman griff nach seiner Keule und schleuderte sie, und man sah sie weit, weit davonjagen. Dann verabschiedeten sie sich von der Mutter und von dem Gutsbesitzer, dem dickbäuchigen Teufel: „Nun, dann auf Wiedersehen“, sagten sie. Sie gingen in die Richtung, in der die Keulen geflogen waren. So liefen sie einen oder vielleicht auch zwei Tage. Da kamen sie in einen Wald und sahen überall dort, wo die Keulen entlanggeflogen waren, abgebrochene Äste an den Baumwipfeln. „Dort sind 42
unsere Abschiedsgeschenke entlanggeflogen“, sagten sie. Sie gingen weiter durch den Wald und sahen ein Feld. Auf dem Felde stand ein großes Haus, von einem hohen Zaun wie bei Gefängnissen umgeben. Überall waren spitze Bajonette in die Erde gestoßen. Sie sahen, daß auf jeder Bajonettspitze ein Menschenkopf aufgesteckt war, nur zwei Bajonette ohne Kopf gab es noch, und bei diesen Bajonetten lagen ihre beiden Keulen. „Da wären wir also am Ziel“, sagten sie. „Unsere Abschiedsgeschenke sind schon hier. Siehst du die freien Plätze, wahrscheinlich wird man unsere Köpfe dort aufstecken. Da gibt es nichts anderes, wir müssen uns eben erkundigen.“ Sie nahmen ihre Keulen in die Hand und gingen zur Haustür. Die Tür hatte ein starkes Schloß und war fest verschlossen. Plötzlich hörten sie, wie auf der anderen Seite eine Tür aufging. Eine Alte trat heraus und sagte: „Ach, ihr Soldatensöhne, ihr seid zu früh gekommen. Wenn ihr wenigstens fünfzehn Jahre alt wäret, aber ihr seid ja erst acht Jahre alt. Und da habt ihr euch schon in eine solche Sache eingelassen! Es tut mir leid um euch, faßt aber eure Keulen hier nicht an, legt sie wieder an die Stelle, wo sie waren. Mein Sohn wartet schon drei Tage auf euch. Folgt mir“, sagte die Alte, „ich weiß, daß ihr einen langen Weg hinter euch habt und essen wollt.“ „Ja, Großmütterchen, das wollen wir.“
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„Nun, dann eßt nur schnell, wenn mein Sohn kommt, wird er euch umbringen.“ Sie gab ihnen zu essen. Als sie sah, daß ihr Sohn kam, rief sie beide, schlug sie auf den Kopf, verwandelte sie so in Stöcke und stellte diese hinter den Schrank. Da öffnete der Sohn, der ein Drache war, die Tür und sagte zu seiner Mutter: „Mütterchen, was ist das? Hier riecht es nach russischen Knochen.“ Da antwortete ihm die Mutter: „Du bist durch Rußland geflogen, hast russische Knochen gerochen, da scheint es dir so, als ob es in der Hütte auch nach russischen Knochen riecht.“ „Gib mir zu essen!“ Die Alte gab ihrem Sohn, dem Drachen, zu essen. Er aß und sagte zu seiner Mutter: „Wenn die Soldatensöhne hierher kommen, dann halte sie auf.“ „Gut, Söhnchen, das werde ich tun.“ „Ich werde wieder fortfliegen“, sagte er. „Nun, dann fliege“, antwortete sie. Der Drache flog davon. Sie holte die Söhne, schlug sie, und sie wurden wieder zu dem, was sie waren. „Habt ihr gehört, was er gesagt hat?“ fragte sie. „Ja, Großmütterchen“, sagten sie, „das haben wir gehört.“ „So also ist mein Sohn.“ „Wir haben es gehört, Großmütterchen.“ „Jetzt will ich euch ein Rätsel aufgeben. Das heißt, es ist kein Rätsel, sondern ihr sollt mir einfach einen Gefallen tun.“ 44
„Wir freuen uns, dir einen Gefallen zu tun, Großmütterchen.“ „Nun, dann folgt mir.“ Sie gingen dem alten Mütterchen nach. Dem einen gab sie eine Schaufel, dem anderen ein Beil und führte sie auf einen Berg. Auf diesem Berg stand eine zwanzig Zoll starke Eiche, und unter dieser Eiche befand sich eine Gruft. In dieser Gruft standen hinter verschlossenen Türen zwei Reckenhengste (die Soldatensöhne wußten aber nichts davon). Die Großmutter brachte sie dorthin und sagte: „Fällt diese Eiche, zieht die Wurzeln heraus und kommt dann zu mir. Beeilt euch aber, falls mein Sohn plötzlich zurückkommt.“ Roman schlug mit dem Beil zu, und eine Wurzel flog sofort davon. Er schlug ein zweites Mal gegen die andere Wurzel, auch sie flog davon, aber das Beil ebenfalls. „Warum sollen wir sie kaputtmachen? Komm, wir versuchen es so.“ Sie legten ihre Arme um die Eiche, und die Eiche begann zu wackeln. „Komm, jetzt singen wir das Lied von der Dubinuschka1.“ „Warum sollen wir denn singen?“
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Dubinuschka – Verkleinerungsform für Dub = Eiche. Das gemeinsame Singen dieses Liedes erleichtert das gleichmäßige Arbeiten beim Fällen der Eiche und bei anderen Tätigkeiten. (Anm. d. Übers.)
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„Hast du nicht gehört, daß die Bauern die ‚Dubinuschka’ singen, wenn sie eine schwere Last ziehen?“ „Ach, Dubinuschka, du grüne, jetzt geht es schon von selbst…“ „Hurra!“ Sie schrien hurra, und die Eiche flog heraus. „Siehst du, die ‚Dubinuschka’ hat geholfen.“ „Nun lauf zu dem alten Mütterchen, Roman, ich werde die restlichen Wurzeln herausziehen.“ Roman lief zu dem alten Mütterchen, das gerade nach Hause gekommen war. „Großmütterchen, wir sind mit der Eiche fertig!“ „Ihr seid Prachtkerle, Jungens“, sagte das Mütterchen. „Ich dachte, ihr braucht bestimmt drei Stunden dazu. Nun habe ich gerade die Tür geöffnet, und da bist du schon da. Na, gehen wir los, wir haben keine Zeit, uns lange zu unterhalten.“ Als das alte Mütterchen dorthin kam, hatte Iwan die Wurzeln herausgezogen und schon fast die Tür freigelegt. Da sagte sie: „Dort stehen zwei Reckenpferde, Soldatensöhne. Sie gehören euch. Wenn wir die Tür öffnen, wird ein Hengst herausspringen. Du mußt rufen: ‚Bleib stehen vor mir, du Köterfleisch! Nicht du wirst mich beherrschen, sondern ich dich!’“ Das taten sie auch. Da blieb das Pferd stehen und lehnte den Kopf an Iwan, den Soldatensohn. Auch Roman bekam so sein Pferd. Die Alte zog ihnen Reckenkleidung an, gab ihnen Schwerter von je fünfundzwanzig Pud Gewicht und sagte zu ihnen: 46
„Jetzt macht euch auf den Weg! Wenn ihr zum Meer kommt, so laßt eure Pferde frei herumlaufen, sie werden euch nicht davonlaufen. Legt euch aber nicht schlafen am Meer, sonst kommt mein Sohn herbeigeflogen, sieht die Pferde und euch, und wenn ihr schlaft, dann werdet ihr besiegt. Aber wenn ihr nicht schlaft, so wird er nichts mit euch machen können, er wird euch beide nicht besiegen können. Laßt ihn aber nicht lebend davon!“ Sie ritten auf ihren Pferden los und begannen Ball zu spielen, um nicht einzuschlafen. Sie spielten etwas Ball, da tauchte plötzlich der sechsköpfige Drache auf. „Ja, alter Teufel, es war also richtig, daß es in der Hütte nach russischen Knochen roch. Sie hat mir aber gesagt, daß ich durch Rußland geflogen wäre und genug davon gerochen hätte, so daß ich schon überall russische Knochen riechen würde. Ihr werdet mir aber nicht entkommen!“ Die Brüder griffen nach ihren Keulen, und sofort erschienen ihre Pferde. Iwan schlug dem Drachen zwei Köpfe ab und Roman zwei, aber dem Drachen wuchsen gleich wieder zwei Köpfe nach. Sie schlugen noch je einen Kopf ab, aber dem Drachen waren schon drei nachgewachsen. Da stellte sich das eine Pferd auf die Hinterbeine und stürzte sich dem Drachen auf die Schultern, und das andere trat ihm mit den Hufen in die Seite, und der Drache rollte davon, doch die Pferde bedrängten ihn mit ihren Hufen weiter. (Das waren Pferde!) Die Soldatensöhne 47
schlugen ihm die restlichen Köpfe ab, hieben sie in Stücke, zündeten ein Feuer an und warfen diese hinein. Sie selbst setzten sich auf die Pferde und ritten davon. So ritten sie ein Stückchen dahin. Als sie anhielten, machten sie sich ein Zelt aus Leinwand zurecht und ließen die Pferde laufen. Am Morgen wachten sie auf, und die Pferde erschienen wieder. Sie sattelten die Pferde und machten sich auf den Weg. Wie sie ein Stück dahingeritten waren, kamen sie zu einem Wegweiser. Von ihm gingen zwei Wege aus. Auf einer Tafel stand geschrieben: „Wer rechts entlang reitet, der wird satt und reich, wer aber links entlang reitet, der weiß nicht, was aus ihm wird.“ „Was wären wir schon für Recken, ritten wir zusammen weiter. Wir werden uns trennen müssen. Der eine muß nach rechts, und der andere nach links reiten. Und wenn wir zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht irgendwo zusammentreffen, so muß einer an diese Stelle, an der wir uns getrennt haben, zurückkehren und der Spur des anderen nachreiten. Nun, was machen wir jetzt? Wer von uns beiden reitet rechts entlang und wer links entlang?“ Da sagte Roman: „Laß das Los entscheiden, dann wird keiner auf den anderen böse sein.“ „Aber womit wollen wir denn losen?“ „Siehst du dort den Haselstrauch? Wir wollen von den Pferden steigen, eine Rute abbrechen und
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messen1. Der, dessen Hand oben ist, reitet nach rechts.“ Roman sprang vom Pferd, brach eine kleine Rute ab, brachte sie Iwan, und sie begannen zu messen. Iwans Hand war oben. „Du, Bruder Iwan, mußt rechts entlang reiten, und ich reite links entlang. Wir reiten einen Monat lang, und wenn ich dann nicht an der ausgemachten Stelle bin, dann kehre zurück und suche mich. Aber wenn ich dich nicht finden sollte, dann werde ich hierher zurückkehren und dich suchen.“ Nun lassen wir Roman weiterreiten und wenden uns Iwan zu. Als Iwan ein kleines Stück auf der rechten Seite dahingeritten war, sah er dort eine Hütte auf Hühnerbeinen stehen, deren Türen dem Wald und deren Wände dem Weg zugewandt waren. Er ging an diese Hütte heran, aber sowie er näher kam, drehte sich die Hütte und zeigte sich ihm immer mit der Wand. Iwan Soldatensohn schrie: „Hütte, wende dich dem Wald mit den Wänden zu, mir aber mit der Tür!“ Da wandte sich die Hütte ihm mit der Tür zu. Er öffnete die Tür und sah dort einen alten Mann, der war ganz, ganz klein, hatte aber einen Kopf, so groß wie ein Bierkessel. Dieser sagte zu Iwan: „Ich danke dir dafür, Iwan Soldatensohn, daß du 1
Unter „messen“ ist hier das abwechselnde Übereinanderlegen der Hände entlang der Rute zu verstehen. (Anm. d. Übers.)
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zu mir gekommen bist. Ich habe für dich zu essen und zu trinken. Nur schade, daß ich für dein Pferd nichts zu fressen habe. Aber wenn du das nächste Mal kommen wirst, dann werde ich auch deinem Pferd zu fressen geben.“ Der Soldatensohn Iwan dankte dem Alten für die Bewirtung. „Nun werde ich dir ein Geschenk machen, Iwan Soldatensohn. Ich weiß, daß du aus einer armen Familie bist, daß du nichts hast. Nimm also meinen alten Geldbeutel. Hier hast du ihn. Wenn du Geld brauchst, dann schüttle den Beutel, und du kannst soviel herausnehmen, wie du willst. (Das war ein Geldbeutel!) Wenn du wieder hierherkommst, dann vergiß mich nicht.“ Iwan dankte dem Alten für die Bewirtung und das Geschenk und ritt weiter. Er kam in eine Stadt, in der der Zar wohnte (so wie nach Petrograd). Er ritt in ein Gasthaus, nahm ein Zimmer im Gasthaus (Geld hatte er ja genug!) und mietete einen Stall für sein Pferd. Er wohnte in diesem Hotel einen Tag, einen zweiten und vielleicht auch einen dritten. (Das weiß man schon nicht mehr.) Am Morgen wachte er auf, und da sah er, daß überall Trauerfahnen herausgehängt waren. Er fragte den Gastwirt: „Herr, was ist bei euch los? Warum sind Trauerfahnen herausgehängt?“ „Schweigt, junger Mann, bei uns in der Stadt ist ein Unglück geschehen.“ „Was ist denn los?“
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„Ja, der Drache hat dem Zaren einen Brief geschickt. Der Zar solle ihm seine Tochter zum Verspeisen schicken, und wenn er seine Tochter nicht schicke, so würde er das ganze Zarenreich verbrennen. Deshalb sind die Trauerfahnen herausgehängt. Der Zar hat doch nur eine Tochter.“ Iwan hörte diese Worte und rief: „Herr, gebt meinem Pferd eine Portion Hafer und mir eine Portion zu essen!“ „Sofort, junger Mann, sofort wird alles geschehen!“ Iwan aß und sprach zu dem Gastwirt: „Herr, ich reite auf die Jagd.“ „Nun, dann reitet!“ Er begab sich auf die Jagd und kam zum Meer. Dort war die Tochter des Zaren schon in einer Laube mit Ketten festgeschmiedet. Er sagte zu ihr: „Sei gegrüßt, schöne Zarentochter!“ Sie dachte, daß der Drache so hübsch sei. „Du nennst mich hier schöne Zarentochter, bist aber gekommen, um mich zu fressen!“ „Nein“, sagte er, „ich bin nicht der Drache.“ Er nahm seine Mütze ab und bekreuzigte sich. „Ich bin gekommen, um dich zu erlösen. Ob ich dich jedoch erlösen kann, weiß ich noch nicht. Aber ich werde es trotzdem versuchen.“ Er riß die Kette ab und warf sie ins Meer. Plötzlich trat der Drache aus dem Meer und sagte: „Ach, du lieber Herr! Ich habe einen Menschen verlangt, aber er hat gleich zwei geschickt. Da gibt es etwas zu beißen!“
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„Vielleicht bekommst du etwas zu essen, aber vielleicht kommst du auch um!“ Da fing der Drache an zu lachen: „Solchen Gegner habe ich hier nicht in der Nähe, aber es gibt da in irgendeinem Zarenreich, in einem anderen Staat, zwei Soldatensöhne, die sind noch ganz jung, sind erst neun Jahre alt.“ „Der Rabe bringt die Knochen nicht, sondern der kühne Bursche kommt selbst.“1 Der Drache fragte: „Bist du Iwan, der Soldatensohn, oder Roman? Du hast also meinen Onkel umgebracht?“ „Ja“, sagte er, „ich!“ „Die Alte, die Verfluchte, hat euch die Pferde gegeben! Doch ich werde trotzdem mit dir fertig.“ „Das werden wir ja sehen“, antwortete Iwan, ohne zu verzweifeln. „Nun, Iwan, wollen wir uns schlagen oder vertragen?“ Da antwortete Iwan: „Ich bin nicht gekommen, um mich mit dir zu vertragen, sondern bin gekommen, um mich zu schlagen! Wer soll die Tochter des Zaren bekommen, ich oder du?“ „Los!“ sagte der Drache. Iwan schlug los, und gleich fielen drei Köpfe des Drachen. Doch als der Drache zuschlug, sank Iwan bis zu den Knien in die Erde ein. Iwan schlug 1
Oft gebrauchte formelhafte Wendung in russischen Märchen. Nach der Sage werden die Knochen eines besiegten Recken von einem Raben fortgebracht. (Anm. d. Übers.)
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ihm noch zwei Köpfe ab. Da schlug ihn der Drache bis zum Gürtel in die Erde. Da sagte Iwan zu ihm: „Ach, du Drache! Wir schlagen uns und raufen uns. Wenn sich die Zaren und Könige schlagen, geben sie einander eine Atempause. Wir beide aber ruhen uns nicht aus, sondern schlagen uns um irgendeine Zarentochter.“ Dem Drachen wuchsen noch zwei Köpfe nach. „Nun, dann laß uns ausruhen!“ (Der Drache hoffte, daß ihm noch mehr Köpfe wachsen würden, Iwan aber hoffte, in der Pause aus der Erde herauszukommen.) Iwan kam aus der Erde heraus, stellte sich auf festen Boden, sagte: „Wir haben uns genug ausgeruht“, und schlug ihn noch einmal mit dem Schwert. Da blieb dem Drachen nur noch ein Kopf (die Köpfe wuchsen nicht mehr nach). Der Drache schlug auf Iwan ein, konnte ihn aber nicht tief in die Erde hineinschlagen. Da sagte der Drache zu ihm: „Mir ist nur noch ein Kopf geblieben. Trotz deiner Jugend bist du klug.“ (Der Drache sah, daß ihn Iwan an der Nase herumgeführt hatte.) „Jetzt sehe ich, daß ich verloren bin“, gab der Drache zu. Da schlug Iwan noch einmal mit dem Schwert zu, schlug ihm den letzten Kopf ab. Die Köpfe legte er unter einen Stein, die Zungen auf den Stein. Dann nahm er der Zarentochter den Verlobungsring ab und schickte sie nach Hause. Sie hatte ihn eingeladen, ein paar Gläser Tee bei ihr zu Hause zu trinken. Er aber hatte ihr geantwortet: „Ich 53
komme in einem Monat, jetzt habe ich keine Zeit.“ Dann sagte er noch zu ihr: „In einem Monat komme ich und werde dich heiraten.“ Sie umarmte ihn, küßte ihn und sagte: „Begleite mich wenigstens bis in die Stadt.“ „So eine große Herrscherin bist du nun auch wieder nicht. Du kannst auch allein gehen. Ich aber muß zu einem anderen Ort eilen.“ Sie weinte und ging los, er aber setzte sich auf sein Pferd und ritt davon. Um diese Zeit holte der Wasserträger Wasser. Er hatte gesehen, wie sich Iwan mit dem Drachen schlug und wohin er die Köpfe und die Zungen gelegt hatte. Er trat der Zarentochter in den Weg und forderte sie auf: „Sage, daß ich dich gerettet habe!“ Sie aber sagte: „Wie kann ich sagen, daß du mich gerettet hast?“ „Wie du willst. Wenn du es nicht sagst, werde ich dich mit dieser Schöpfkelle erschlagen, ins Meer werfen und sagen, daß dich der Drache aufgefressen hat.“ Da sagte sie: „Da haben wir’s! Den einen bin ich zwar losgeworden, aber nun werde ich den anderen nehmen müssen. Nun gut, ich werde sagen, daß du mich befreit und den sechsköpfigen Drachen erschlagen hast.“ „Knie nieder, schwöre und iß einen Klumpen Erde,1 dann werde ich glauben, daß du das sagen wirst.“ 1
Alte Sitte der Ostslawen beim Schwören. (L. B.)
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Sie tat es. Er nahm sie am Arm und schleppte sie nach Hause. Als er sie brachte, erzählte sie, daß er den Drachen erschlagen habe. Da nähte man ihm Tressen und erwies ihm alle Ehren, und der Zar sagte: „Du wirst mein Schwiegersohn.“ Iwan kam zurück in sein Gasthaus und sagte zum Wirt: „Herr, gebt mir zwei Portionen Fleisch zu essen und gebt meinem Pferd eine Portion Hafer. Ich schließe mein Zimmer für drei Tage zu und werde einen Brief nach Hause schreiben. Daß niemand in den drei Tagen zu mir kommt, ich will auch nicht herauskommen. Schaut nach dem Pferd und füttert es jeden Tag, wie es sich gehört.“ Er aß zu Mittag und legte sich für drei Tage schlafen. Am dritten Tag wachte er auf. Wieder läuteten die Kirchenglocken, und Trauerfahnen waren ausgehängt. Er fragte den Gastwirt: „Herr, was ist das?“ „Still, junger Mann! Damals hat der sechsköpfige Drache die Zarentochter verlangt, jetzt aber verlangt sie der neunköpfige. Damals hat der Wasserträger den sechsköpfigen Drachen erschlagen. Er hofft, daß er auch dieses Mal siegt.“ „Hat denn der Herrscher nur eine Tochter?“ „Ja, er hat nur eine Tochter.“ „Gebt mir schnell zwei Portionen zu essen und schüttet meinem Pferd zwei Portionen Hafer hin!“ „Sofort, junger Mann!“ „Na, na, etwas schneller!“ Er aß. „Nun will ich auf die Jagd gehen.“ 55
Und er machte sich auf den Weg. Als er das erste Mal zum Kampf geeilt war, hatten ihn die Leute nicht gesehen, das zweite Mal aber, als er zu dem Berg und zu der Laube ritt, kamen ihm die Leute von dort entgegen. Diese fielen alle auf die Erde nieder und riefen: „Da reitet der Drache!“ (Er ritt schnell, und da hielten sie ihn für den Drachen.) Als er dort ankam, fand er die Zarentochter wieder angeschmiedet vor. Sie sagte zu ihm: „Ach, lieber Freund, du hast mich nicht zur Stadt begleitet, deshalb mußte ich dem Wasserträger schwören. Man hat ihm schon Tressen genäht.“ „Das ist dir doch sowieso egal. Hauptsache, es ist ein Mann. Dann wird er eben dein Bräutigam, und aus dem Armen wird ein Reicher. Es ist ja gleich, ob du mich heiratest oder ihn!“ Sie konnten nicht mehr weitersprechen, denn der Drache kam und sagte: „Ach, du gütiger Herr, du hast mir zu trinken und zu essen geschickt. Ich habe einen Menschen erwartet, du aber hast mir zwei geschickt!“ Da sagte Iwan: „Vielleicht erstickst du auch an dem Getränk!“ Da lachte der Drache höhnisch. „Du hast zwar meinen Bruder erschlagen, aber mich wirst du nicht erschlagen“, sagte er. „Das werden wir ja sehen!“ Iwan band sein Pferd nicht an die Laube, sondern machte nur den Zügel fest. Als Iwan auf den Drachen einhieb, schlug er ihm gleich drei Köpfe ab. Aber der Drache schlug 56
Iwan bis über die Knie in die Erde hinein. Als Iwan ein zweites Mal zuschlug, waren wieder drei Köpfe ab. Dem Drachen blieben noch drei Köpfe, und zwei wuchsen wieder nach. Da warf sich das Pferd auf den Drachen und brachte ihn zu Fall. In der Zeit aber sprang Iwan aus der Erde, mit Mühe zwar, und schlug ihm zwei Köpfe ab. Der Drache sagte zu ihm: „Du hast Glück gehabt durch dein Pferd! Ich sterbe, aber mein Bruder wird auf seinem Pferd kommen, und der hat zwölf Köpfe!“ Trotzdem tötete Iwan ihn endgültig und sagte zu der Zarentochter: „Ich habe dir den Ring abgenommen. Aber gib ihn jetzt dem Wasserträger und heirate ihn, wie du es geschworen hast!“ Sie antwortete ihm: „Wo wirst du mit dem zwölfköpfigen Drachen zusammenkommen?“ (Sie hatte nämlich das Gespräch belauscht) „Das wird auch an dieser Laube geschehen. Und du wirst auch hier sein. Aber wo sitzt denn euer Wasserträger?“ „Dort auf der Eiche.“ „Ich will hinreiten und ein wenig mit ihm plaudern.“ So ritt er zur Eiche. Die Zarentochter aber ging langsam fort. „Na, du Krieger, steig von der Eiche herunter! Ich hab mit dir zu reden!“ „Nein, ich steige nicht herunter!“ „Nun, dann wirst du wie eine Erbse herunterrollen.“ Iwan stieg vom Pferd, schüttelte die Eiche, und der Wasserträger fiel herunter. Er ließ ihn gar 57
nicht erst bis zur Erde kommen, sondern ergriff ihn in der Luft, stellte ihn auf die Füße und schlug ihn nur ein wenig mit der Reitpeitsche. „So, das genügt für dich. Nimm die Zarentochter, führ sie nach Hause und heirate sie. Ich bin schon verheiratet, ich brauche sie nicht!“ Der Wasserträger freute sich, daß er „eine so gute Ware“ bekommen sollte. Er nahm die Zarentochter und führte sie nach Hause. Dort machte man ihm einen Verband auf die Wunde, die er von den Schlägen mit der Reitpeitsche bekommen hatte. Iwan, der Soldatensohn, kam in sein Gasthaus und sagte zu dem Gastwirt: „Gebt mir zwei Portionen zu essen!“ Der Wirt gab sie ihm, und Iwan sagte: „Paßt auf, ich schließe mich für drei Tage in mein Zimmer ein. Daß niemand zu mir kommt! Ich werde Briefe schreiben. Dem Pferd aber gebt solche Portionen, wie es sich gehört. Ich werde nicht herauskommen.“ Und er legte sich schlafen. Er schlief drei Tage. Am dritten Tag wachte er auf. Wieder läuteten die Kirchenglocken, und Trauerfahnen waren ausgehängt. Er fragte den Gastwirt: „Was ist das, Herr?“ „Junger Mann, der zwölfköpfige Drache hat dem Zaren geschrieben, daß er ihm seine Tochter zum Fressen schicken solle. Und wenn der Zar sie nicht schickt, dann wird er unser ganzes Zarenreich verbrennen!“ „Wann soll das sein?“ 58
„Genau um zwölf soll sie dort am Meer sein.“ „Dann gebt mir eine dreifache Portion Essen, gebt auch meinem Pferd eine dreifache Portion und gebt mir hundert Rubel.“ „O habt Erbarmen, junger Mann! Um Gottes willen, jetzt habe ich nicht eine Kopeke Geld.“ „Dann kommt schnell her!“ Der Wirt kam. „Nimm die Zipfel von deinem Kittel hoch!“ Der Wirt kam heran und hob seinen Kittel. Iwan nahm den Geldbeutel und begann ihn über dem Kittel auszuschütten. „Nun, kommt etwas?“ schrie er. „Gib noch etwas hinzu!“ „Na, paß auf, ich werde noch etwas hinzugeben, aber wenn du es fallen läßt, gehört alles wieder mir.“ „Nein, ich lasse es nicht fallen!“ Da schüttelte er den Beutel noch stärker. Dem Wirt begannen die Hände abzusterben, aber es war ihm noch nicht genug. Plötzlich fuhren dem Wirt die Hände auseinander, und das ganze Geld fiel auf den Boden. Da sagte Iwan zu ihm: „Hinaus aus dem Zimmer!“ „Gib mir wenigstens die Hälfte!“ „Nun, dann nimm schnell alles mit!“ Der Wirt ächzte und stöhnte und raffte das Geld zusammen. „Hier hast du hundertfünfzig Rubel.“ Iwan nahm das Geld, setzte sich auf sein Pferd und ritt zu einem Geschäft. „Gebt mir fünf Pud Hanf!“ Man gab ihm fünf Pud Hanf. 59
„Gebt mir ein Faß Teer!“ Man gab ihm ein Faß Teer. „Gebt mir einen Kessel!“ Man gab ihm einen Kessel. Er nahm alles mit, setzte sich auf sein Pferd, und los ging es. Er kam an, stellte den Kessel auf, goß Teer hinein und begann ihn zu erhitzen. Als der Teer warm geworden war, nahm er den Sattel vom Pferd, tauchte den Hanf in den Teer und wickelte sein Pferd damit ein. Als das Pferd fast zwei Zoll dick eingewickelt war, legte er den Sattel auf, setzte sich auf das Pferd und begab sich zum Meer. Er kam hin, und kaum hatte er der Zarentochter die Ketten abgenommen, als der zwölfköpfige Drache erschien und zu ihm sagte: „Nun, Iwan Soldatensohn! Wollen wir uns jetzt schlagen oder vertragen?“ „Wir sind doch nicht hergekommen, um uns zu vertragen, sondern sind gekommen, um uns zu schlagen!“ Da antwortete ihm der Drache: „Wir lassen erst unsere Pferde miteinander kämpfen, und dann werden wir selbst uns schlagen. Wenn dein Pferd mein Pferd erschlägt, muß ich umkommen, und wenn mein Pferd deines erschlägt, mußt du umkommen.“ Da ließen sie ihre Pferde aufeinander los. Wenn das Pferd des Drachen das andere Pferd am Fell zu fassen bekam, flog ein Stück geteerter Hanf ab. Aber wenn Iwans Pferd das Pferd des Drachen faßte, so riß es ihm ein Stück Fell ab. Und so erschlug Iwans Pferd das Pferd des Drachen. Da 60
sagte der Drache zu Iwan: „Du machst es geschickt! Dein Pferd hat mein Pferd getötet, aber du wirst mich nicht erschlagen! Und Iwan antwortete ihm: „Wenn ich klug genug war, das Pferd zu besiegen, so werde ich auch klug genug sein, um dich zu erschlagen!“ Und sie begannen zu kämpfen. Als Iwan losschlug, flogen drei Köpfe ab. Der Drache aber schlug ihn bis zu den Knien in die Erde hinein. Als Iwan das zweite Mal schlug, waren wieder drei Köpfe ab, doch der Drache schlug ihn bis zum Gürtel in die Erde hinein. Iwan schlug ein drittes Mal und schlug wieder drei Köpfe ab. Dem Drachen wuchsen zwei Köpfe nach, und er schlug Iwan bis zu den Armen in die Erde. Da sagte Iwan, der Soldatensohn, zu ihm: „Ach, du Drache! Wir schlagen uns hier wegen irgendeiner Zarentochter. Wenn sich die Zaren und Könige raufen, gewähren sie einander eine Verschnaufpause. Wir beide aber ruhen uns nicht aus. Komm, laß uns wenigstens eine Kelle Wasser trinken!“ Da antwortete der Drache: „Gut, ruhen wir uns aus!“ (Der Drache hoffte, daß ihm die Köpfe nachwachsen würden und er stärker wäre, wenn er das Wasser ausgetrunken hätte.) Sie ruhten sich also aus. Iwan kam aus der Erde heraus, und dem Drachen wuchsen zwei Köpfe nach. Iwan schrie der Zarentochter zu: „Ach, du hübsche Zarentochter! Um dich schlagen wir uns, da könntest du uns wenigstens eine Kelle Wasser geben!“
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Sie schöpfte eine Kelle Wasser und brachte sie Iwan, dem Soldatensohn. Als Iwan ausgetrunken hatte, sagte der Drache: „Gebt mir auch Wasser!“ Iwan aber antwortete: „Du hast ja nicht nur einen Kopf, sondern fünf. Ehe sie dir fünf Kellen bringt, wird sie müde. Du kommst auch so aus. Laß uns jetzt weiter raufen!“ Da begannen sie wieder zu kämpfen. Iwan schlug los und schlug drei Köpfe ab. Dem Drachen blieben noch zwei, und er schlug Iwan bis zum Gürtel in die Erde hinein. Da sprang das Pferd los und brachte den Drachen zu Fall. Da schlug Iwan ihm alle Köpfe ab. Die Köpfe legte er unter einen Stein, die Zungen auf den Stein, und dann verabschiedete er sich von der Zarentochter. Er sagte zu ihr: „Du kannst den Wasserträger heiraten. Ich bin schon verheiratet!“ Die Zarentochter begann zu weinen, aber da war nichts zu machen. Sie sagte nur: „Schade, schade!“ Iwan begab sich in sein Gasthaus, der Wasserträger aber nahm sie und führte sie nach Hause. Iwan kam in das Gasthaus und sagte zu dem Wirt: „Gebt mir zwei Portionen zu essen und kommt drei Tage lang nicht zu mir! Achtet aber auf das Pferd!“ „Gut, gut!“ So vergingen einige Tage, er wachte auf und fragte: „Nun, was gibt es Neues bei euch in der Stadt?“
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„Bei uns in der Stadt erzählt man, daß der Wasserträger die Tochter des Zaren heiraten und Zar werden wird.“ „Also paßt auf, Herr! An dem Tage, wenn er heiratet, sollt ihr das ganze Gasthaus schmücken! Bestellt Blasmusik, und wer auch immer kommt, bewirtet ihn auf meine Rechnung. Auch die Blasmusik geht auf meine Rechnung, und daß die Musik die ganze Zeit spielt!“ Der Gastwirt wußte ja, daß Iwan den Geldbeutel besaß und alles bezahlen konnte. So bestellte er die Musik. Und die Musik spielte die ganzen Tage, ohne aufzuhören. Als sie zur Kirche fuhren, ritt Iwan heran, ergriff die Braut, setzte sie zu sich auf das Pferd und brachte sie in das Gasthaus. Alle rangen die Hände und dachten, daß der Drache die Zarentochter mitten in der Stadt ergriffen und sie irgendwohin entführt hätte. Der Bräutigam saß mit einer langen Nase da. Da ließ der Zar in allen Kirchen eine Totenmesse für seine Tochter lesen, es wurden Trauerfahnen ausgehängt, und alle Gasthäuser und Geschäfte wurden für drei Tage geschlossen. Jede Musik war verboten. Aber in dem Gasthaus, wo Iwan die Musik bestellt hatte, mußte sie spielen. Da sagte der Zar: „Warum ist in dem Gasthaus Musik, warum wird es nicht geschlossen? Befolgt denn keiner meinen Befehl?!“ Er ordnete an, daß dieses Gasthaus unverzüglich geschlossen werden sollte. Er schickte seine 63
Leute dorthin, und als diese Boten ankamen und erklärten, daß das Gasthaus geschlossen werden soll, sahen sie die Tochter des Zaren hier. Da kam der Zar selbst in das Gasthaus. Sie sagte zu ihrem Vater: „Vater, hier ist mein Befreier, der mich von den Drachen erlöst hat.“ Er aber antwortete: „Ja, jetzt hast du einen anderen gefunden. Dir fällt es leicht zu sagen, daß er dich befreit hat. Warum hast du das damals nicht gesagt?“ Er ließ das Gasthaus schließen und diesen jungen Mann verhaften. Man verhaftete ihn, schlug ihn in Fesseln und brachte ihn zum Zaren zum Verhör. Bei dem Verhör sagte Iwan, der Soldatensohn: „Soll euer ‚Krieger’ doch zeigen, wo die Köpfe des Drachen liegen. Wenn er die Drachen erschlagen hat, wo hat er dann die Köpfe hingetan?“ Der Wasserträger sagte: „Unter einen Stein die einen, unter einen zweiten die anderen, unter den und den Stein die dritten.“ (Er hatte es ja gesehen.) „Dann laßt uns zum Meer gehen“, sagte Iwan. „Er soll die Steine hochheben und die Köpfe zeigen!“ Sie kamen dorthin, und der Wasserträger sagte: „Hier sind die Köpfe des sechsköpfigen Drachen, hier die des neunköpfigen und hier die des zwölfköpfigen.“ (Er sah es an den Zungen.) „Nun, dann hebe die Steine hoch und zeige die Köpfe! Die Zungen kannst du sehen, weil sie auf den Steinen liegen. Aber zeig auch die Köpfe!“ 64
Er ging um den Stein herum, um ihn zu drehen. Aber wie sollte er diesen Stein drehen können! Der Stein ließ sich nicht bewegen. Iwan, der Soldatensohn, war noch in Fesseln geschlagen. „Ich werde es dir zeigen!“ Er trat an den Stein heran, wo die Köpfe des sechsköpfigen Drachen lagen. Er faßte ihn nicht mit den Händen, sondern hob ihn nur etwas mit dem Fuß an, der Stein rollte ins Meer, und die Fesseln zerrissen und flogen hinterher. Dann hob er alle Steine an und zeigte den Zuschauern die Köpfe. Da sagten alle: „Wirklich, er hat sie befreit und nicht der Wasserträger!“ Den Wasserträger ergriff man wegen dieser Streiche, band ihn an einen Pferdeschwanz und ließ ihn über das weite Feld ziehen. Iwan, der Soldatensohn, sagte zu den Leuten: „Warum soll man das Pferd unnötig jagen?“ Er packte ihn am Gürtel und warf ihn mitten ins Meer. „Sollen ihn die Fische fressen!“ Mit den Kuchen, die zu der Hochzeit des Wasserträgers gebacken worden waren, wurde nun die Hochzeit von Iwan, dem Soldatensohn, gefeiert. Er lebte drei, vier Tage mit seiner Frau zusammen, da sagte er zu ihr: „Komm, laß uns spazierengehen, meine Liebe!“ Sie gingen hinaus auf den Balkon. Dort standen sie und unterhielten sich. Iwan sah dort unten einen Hain, der wie ein Friedhof aussah, und fragte seine Frau: „Was ist das für ein Wald?“
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Sie antwortete ihm: „Das ist ein Hain. Er heißt bei uns der Marienhain. Wer im Marienhain spazierengeht, kommt nicht wieder heraus. Zwei Regimenter Soldaten hat man hineingeschickt, und sie sind nicht wiedergekommen.“ Er trat vom Balkon und befahl: „Sattelt mir mein Pferd!“ Sie fragte ihn: „Wohin willst du?“ „Ich werde ein bißchen spazierenreiten.“ „Reite aber bitte nicht in den Marienhain!“ Als er aufgesessen war, pfiff er und jagte direkt in den Marienhain. Er wollte gern wissen, was das für ein Hain war. Seine Frau beobachtete ihn und sah, wie er in den Marienhain ritt. Drinnen im Marienhain erschien ihm eine Füchsin. Er jagte der Füchsin nach. Ihm kam es so vor, als wäre er nur ein Stückchen dahingeritten, aber er war in ein anderes Reich gekommen und konnte die Füchsin nicht einholen. Er ritt durch Dörfer und über Felsen. Noch immer jagte er der Füchsin nach. Plötzlich stand dort ein Haus. (Auf dem ganzen Weg war er auf kein Haus gestoßen.) Die Füchsin kroch unter dem Tor durch, und das Pferd jagte durch das Tor hindurch. Iwan ließ das Pferd stehen und ging in das Haus hinein. Er öffnete die Türen. Da erblickte er eine Soldatenküche. Hier wurde Essen gekocht. Er fragte: „Wer wohnt hier?“ Niemand antwortete ihm. Alle waren zu Stein geworden. Er öffnete die anderen Türen (er war weitergegangen) und sah eine Soldatennähstube, wo Soldatenkleidung genäht worden war. 66
Er fragte, aber auch sie waren zu Stein geworden. Er sah eine dritte Tür. Er öffnete diese, ohne seine Mütze abzusetzen. Da lief ihm eine alte Frau entgegen (dieselbe, die ihn hierher geführt hatte, die Zauberin). Er fragte: „Wer wohnt hier?“ und setzte die Mütze ab. Sie aber berührte Iwan nun auch mit dem Taschentuch und ließ ihn zu Stein werden. Da stand er nun. – – Die Zeit, die Roman mit seinem Bruder vereinbart hatte, war vergangen. Ich muß jetzt zu dem Weg zurück, wo ich mich von ihm verabschiedet habe, beschloß Roman. Und so kam er zu dem Weg und verfolgte die Spur Iwans. Sein Pferd trug ihn immer schneller davon. (Das Pferd wußte, daß der Bruder nicht mehr da war.) Er ritt der Spur nach. Da stand eine Hütte auf Hühnerbeinen (dieselbe!), mit der Tür dem Wald und mit den Wänden dem Weg zugewandt. Er ging zur Tür. Die Hütte drehte sich wieder (sie dreht sich auf dem Hühnerbein, damit niemand hineingehen kann). Er rief: „Bleib stehen, Hütte, dreh die Wände zum Wald und mir die Tür zu!“ Er öffnete die Tür und ging hinein. Dort saß ein kleiner Mann, der einen Kopf wie ein Bierkessel hatte. Er sagte zu ihm: „Guten Tag, Großväterchen!“ „Ich danke dir dafür“, sagte der Großvater, „daß du nicht vorbeigeritten bist, sondern zu mir hereingeschaut hast. Jetzt habe ich für dein Pferd
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zu fressen, und ich habe auch etwas für dich zu trinken und zu essen.“ Sie begannen zu essen. Nachdem das Großväterchen ihn bewirtet hatte, machte sich Roman wieder auf den Weg. Das Großväterchen wußte nicht, daß das der Bruder Iwans gewesen war. (Sie ähnelten einander aufs Haar und hatten die gleiche Stimme.) So gab er ihm keine Geschenke. (Dem anderen hatte er einen Beutel gegeben; so einen Beutel könnten wir gut gebrauchen!) Roman ritt schnell davon. Er kam in die Stadt, und sein Pferd brachte ihn direkt zu dem Gasthaus, wo Iwan gewohnt hatte. Der Wirt kam herausgelaufen und schrie: „Seid gegrüßt, Eure Hoheit! Ich danke Euch, daß Ihr vorbeigekommen seid. Aber wir haben alle gedacht, daß Ihr nicht mehr lebt!“ Er antwortete: „Wieso sollte ich nicht mehr leben? Ich bin doch hier!“ Er wurde dort bewirtet. Das Gerücht, daß der Zar zurückgekommen und nicht erst nach Hause, sondern ins Gasthaus geritten war, verbreitete sich schnell. Nachdem er bewirtet worden war, setzte er sich aufs Pferd und ritt weiter der Spur nach. Plötzlich traf er unterwegs ein junges Fräulein (Iwans Frau), das fiel ihm um den Hals: „Ach, mein lieber Freund! Wie lange warst du nicht da, und nun bist du nicht zuerst nach Hause, sondern ins Gasthaus gegangen!“ Roman antwortete: „Das tue ich so aus Gewohnheit.“ 68
Sie kamen zum Palast und gingen hinein. Er befahl, dem Pferd einen Stall zu geben (dort wo des Bruders Pferd gestanden hatte). Das Pferd wurde dorthin gestellt. Die Zarentochter führte ihn ins Zimmer und sagte: „Weil du nicht da warst, war ich auch wenig im Zimmer.“ Dann aßen und tranken sie. Sie gingen ins Zimmer, und sie fiel ihm wieder um den Hals. „Du“, sagte er, „spiel heute weniger mit mir!“ „Warum denn, mein Lieber?“ „Nun, einfach so“, sagte er. Da kam schon die Nacht, und sie mußten sich schlafen legen (wie auch wir sündigen Menschen, wie du ja weißt). Er sagte zu ihr: „Weißt du, meine Liebe, mach mir woanders ein Bett zurecht. Ich will allein schlafen.“ „Warum denn das?“ fragte sie. „Nun, einfach so“, sagte er. „Aber habe ich etwa deshalb geheiratet, um getrennt zu schlafen?! Ich mache dir kein anderes Bett zurecht! Wir werden uns in eines legen!“ Da sagte er zu ihr: „Dir kann man doch nicht widerstehen, du bist so hübsch und jung“, nahm das Schwert und legte es in die Mitte des Bettes. Dann sagte er: „Ich war in einer solchen Lage, daß ich mir geschworen habe, meine Frau nicht zu berühren, wenn ich nach Hause komme. Dort in der Mitte liegt das Schwert. Wenn du die Hand auf mich legst, bist du die Hand los, und wenn du mit dem Fuß kommst, bist du den Fuß los.“ Sie legten sich hin. Als er eingeschlafen war, warf sie ihr Tuch zu ihm hinüber. Da war die eine 69
Hälfte bei ihm und die andere Hälfte bei ihr in der Hand. Sie glaubte es nicht, zog das Jäckchen aus und warf es hinüber, und auch der Rock wurde noch durchgehauen. Sie schlief die ganze Nacht nicht und wagte sich nicht umzudrehen, aus Angst, an das Schwert zu kommen. So lagen sie bis zum Morgen. Am Morgen standen sie auf und tranken Tee. Da sagte sie zu ihm: „Ich hatte gedacht, mein Liebster, daß du in den Marienhain geritten bist und von dort nicht wiederkommen wirst.“ „Nein, aber wo ist denn euer Marienhain?“ „Ich hab’ ihn dir doch vom Balkon aus gezeigt, und du bist direkt hineingeritten. Ich habe dir vom Balkon aus nachgeschaut und gesehen, daß du direkt in den Marienhain geritten bist.“ „Nun, dann zeig mir den Marienhain!“ Sie trat auf den Balkon und zeigte: „Da ist er!“ „Ich werde gleich hineinreiten“, antwortete er. „Aber warum, mein Liebster? Man hat ein Regiment Soldaten dort hineingeschickt, und die sind nicht zurückgekehrt. Und nun willst du hineinreiten!“ „Was wäre ich denn für ein Recke, wenn ich vor eurem Marienhain Angst hätte? Ich reite augenblicklich dort hinein.“ Roman setzte sich auf das Pferd und ritt direkt in den Marienhain. Kaum war er dort, da erschien wieder dieselbe Füchsin. Er jagte dieser nach. Die Füchsin lief denselben Weg, auf den sie auch den Bruder gelockt hatte. Er raste direkt in ihr Reich. Da stand ein Haus auf dem Feld, und rundherum 70
war alles aus Stein. Die Füchsin kroch unter dem Tor durch, und das Pferd sprang mit ihm durch das Tor. Da ging das Pferd an Iwans Pferd heran und begann es zu lecken. Iwans Pferd stand wie ein Stein. Aber man sah, daß es ein Pferd war. Als Romans Pferd an diesen Stein herangetreten war und begonnen hatte, ihn zu beschnuppern und zu belecken, sah Roman, daß das seines Bruders Pferd war. Er ließ das Pferd daneben stehen, trat näher und nahm die Mütze ab. Er öffnete die erste Tür, wo die Soldaten Mittagbrot kochten, und fragte: „Wer wohnt hier?“ Sie waren alle zu Stein geworden und antworteten ihm nicht. Er öffnete eine andere Tür. Das war die Soldatennähstube (hier nähte man Kleidung für die Soldaten). Er fragte auch: „Wer wohnt hier?“ Aber sie waren alle zu Stein geworden. Nun, jetzt will ich auch noch die dritte Tür öffnen. Fragen werde ich nicht mehr. Wen ich sehe, dem reiße ich gleich den Kopf ab! Er öffnete die dritte Tür und schob seine Mütze vor. Plötzlich erschien auch ihm die Alte. Er machte schnapp und schlug ihr den Kopf ab, ohne viel zu fragen. Sie hielt ein Taschentuch in den Händen. Roman nahm das Tuch und begann in ihren Taschen zu suchen. Er zog ein anderes Tuch heraus. Als er mit dem Tuch, das die Alte in der Hand hielt, hin und her wedelte, wurde diese zu Stein. Er wedelte mit dem anderen Tuch, das er in der Tasche gefunden hatte, hin und her, und da wur71
de der Bruder wieder so, wie er vorher gewesen war, und fragte: „Ach, wie lange habe ich denn geschlafen?“ Da hörte man es hinter der Tür rufen: „Hurra! Da ist unser Retter. Er hat das ganze Reich erlöst!“ Er schaute aus dem Fenster, und dort, wo vorher Felsen gewesen waren, sah man jetzt eine Stadt. Die Leute in der Stadt liefen hin und her, stürzten zu dem Haus und schrien: „Du wirst unser Zar!“ (Das riefen sie Roman zu.) Und da stieg er auf den Thron. Sein Bruder war auch bei ihm und sagte: „Nun komm, Bruder, jetzt reiten wir zu mir! Ich bin doch auch Zar.“ „Ich weiß“, antwortete Roman. „Laß uns in dein Zarenreich fahren.“ Da gab Roman dem Bruder ein Tuch und sagte: „Sieh einmal, was ich für Tücher habe!“ Sie ritten ein Stück dahin und unterhielten sich über ihr Leben. Da lachte Roman laut und sagte: „Weißt du was, Bruder Iwan?“ „Was denn?“ fragte der andere. „Ich habe heute nacht mit deiner Frau geschlafen.“ Iwan fürchtete, daß der andere vielleicht etwas angerichtet haben könnte, und dachte: Von diesem Streich wird niemand erfahren, und niemand wird glauben, daß mein Bruder bei mir war und mich befreit hat. Er nahm das Tuch aus der Tasche und wedelte damit hin und her. Roman wurde mitten auf dem Wege zu Stein. Iwan wollte so schnell wie möglich 72
nach Hause reiten. Wie er aber auch sein Pferd antrieb, der Weg nahm kein Ende. Er bemerkte, daß sein Pferd traurig dahinging. Soviel er es auch antrieb, es rührte sich kaum. Da dachte er: Ach, was war ich für ein Dummkopf! Eine Frau kann ich mir noch suchen, aber einen Bruder finde ich nie mehr. Er hat mich befreit, und ich habe eine solche Gemeinheit begangen. Ich werde zurückreiten und ihn um Verzeihung bitten! Sowie er sein Pferd umwendete, um zu dem Bruder zurückzukehren, jagte es dahin wie eine Kugel aus dem Gewehr. So geschah es, daß er, obwohl er eine ganze Stunde von dem Bruder weggeritten war, in fünf Minuten wieder bei ihm war. Er schwenkte das andere Tuch und bat den Bruder: „Verzeih mir, Bruder, daß ich das mit dir gemacht habe!“ „Laß nur, es ist schon gut“, sagte der Bruder. „Wenn du nach Hause kommst, wirst du erfahren, wie ich mit ihr geschlafen habe.“ Abends kamen sie zu Hause an (zur selben Zeit, wie wir beide hier sitzen, ungefähr zwischen neun und zehn) und ritten in den herrschaftlichen Hof. Die Posten standen an den Toren auf Wache. Da trat Roman an sie heran und fragte: „Ist euer junger Herr zu Hause?“ „Ja, er war zu Hause“, sagte der Posten. „Vorvorgestern war er zu Hause. Er war zwölf Tage nicht da, aber vorvorgestern ist er gekommen und wieder fortgeritten.“ „Kann man zu seiner Frau hinein?“
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„Das wissen wir nicht, wir können dich nicht durchlassen.“ Da sagte er: „Seht euch um, vielleicht ist euer Herr schon hier? Kennt ihr ihn gut?“ „Wir haben ihn noch nicht gesehen, wir wissen nicht, was das für ein Herr ist.“ (Wo doch jeder Soldat seinen Herrn kennt!) Roman hörte die Stimme, sie ähnelte seiner und der des Bruders sehr, und er fragte: „Wieviel Jahre dienst du schon, Soldat?“ „Neun Jahre, das zehnte hat angefangen.“ „Woher bist du denn?“ „Von da und da her.“ „Wie heißt denn euer Dorf?“ „Nun, so, dort gibt es ein Pirewitschi und ein Sloboda, sagen wir, aus Pirewitschi.“ „Wen hast du denn zu Hause?“ „Ich weiß nicht, wen ich jetzt zu Hause habe.“ „Was denn“, sagte Roman, „schreibst du keine Briefe?“ „Ach, verzeiht, ich weiß nicht, worauf ich schreiben soll, ich hab’ kein Kapital.“ „Schreibt man euch nicht von zu Hause? – Schreibt man dir von zu Hause?“ „Es ist kaum jemand da, der mir von zu Hause schreiben könnte. Wer sollte denn schreiben?“ „Warum kann niemand schreiben?“ „Es kann niemand schreiben, weil ich gerade vor meiner Soldatenzeit geheiratet habe und nur einen Monat mit meiner Frau gelebt habe. So weiß ich jetzt nicht, ob sie noch lebt oder schon gestorben ist. Neun Jahre haben wir uns nicht geschrie74
ben, und sie weiß auch nicht, wo ich bin. Und ich weiß auch gar nicht, was ich ihr schreiben soll. So hab’ ich sie schon vergessen.“ (Das hat er ehrlich gesagt.) Roman antwortete ihm: „Vergessen soll man nicht.“ Iwan aber stand da und schwieg. Da ritt Roman zu ihm, nahm ihn am Schlafittchen, setzte ihn zu sich aufs Pferd und sagte: „Du bist unser Vater. Jetzt reiten wir durchs Tor.“ Das Tor war geschlossen. Da sagte Iwan: „Das Tor muß geöffnet werden. Ich werde es gleich öffnen.“ Er stieß dagegen, das Tor flog mitsamt den Pfosten davon, und der Weg war frei. Sie ritten an die Treppe heran. Dort wußte man schon Bescheid. Die Zarentochter sprang heraus und fiel bald dem einen, bald dem anderen um den Hals. Und der Soldat stand daneben. Dann gingen sie alle in das Zimmer. Sie aber sagte: „Warum bringt ihr den Soldaten hierher?“ Roman antwortete: „Verneig dich vor ihm, küß diesem Soldaten die Hände!“ Iwan schwieg noch immer und machte eine ganz finstere Miene. Roman sagte weiter: „Dafür, daß du gefragt hast, warum wir den Soldaten hierherbringen, verneig dich bis zu den Füßen vor dem Soldaten und küß ihm die Hand und bitte ihn um Entschuldigung für diese Worte.“ Sie tat das auch, verneigte sich und küßte ihm die Hand. Roman aber sagte: „Sage: ‚Vater, verzeih mir!’“ 75
„Nun, ich verzeihe dir“, sagte der Soldat. „So ist es gut“, sagte Roman, „und jetzt laßt uns essen! Wir haben einen weiten Weg hinter uns.“ Iwan aber schwieg noch immer, nur Roman kommandierte. Da kamen der alte Zar (der Schwiegervater) und die Zarin. Roman sagte: „Nun, erkenne deinen Mann, mein Täubchen, sag, welcher von uns ist dein Mann! Ich oder der da?“ „Ich weiß nicht, wer mein Mann ist.“ „Nun, wenn du nicht weißt, wer dein Mann ist, dann erzähle doch, wie du vorvorige Nacht mit deinem Mann geschlafen hast!“ „Ja, wirklich, ich habe in einem Bett mit ihm geschlafen. Aber er hatte mich gebeten, ihm extra ein Bett zurechtzumachen, ich war aber nicht einverstanden, allein zu schlafen, und antwortete ihm: ‚Habe ich etwa deshalb geheiratet, um allein zu schlafen?’ Er aber sagte zu mir: ‚Nun, meine Liebe! Ich war in einer solchen Lage, daß ich mir geschworen habe, nicht mit meiner Frau zu schlafen, wenn ich nach Hause komme.’ Nun, er konnte trotzdem nicht von mir loskommen und, legte sich mit mir in ein Bett. Er nahm aber seinen Säbel (oder war es ein Schwert? Ist ja auch egal), tat ihn auf die Mitte und sagte zu mir: ‚Wenn du die Hand auf mich legst, bist du deine Hand los, und wenn du mit dem Fuß kommst, dann bist du auch den Fuß los.’ Als er eingeschlafen war, habe ich einen Versuch gemacht; ich habe das Tuch hinübergeworfen, die eine Hälfte lag bei ihm, die 76
andere Hälfte blieb in meiner Hand. Ich wollte es zuerst nicht glauben, habe mein Jäckchen genommen und hinübergeworfen, und eine Hälfte war bei ihm, die andere bei mir. Da habe ich meinen Rock, in dem ich schlief, ausgezogen und ihn hinübergeworfen, die eine Hälfte hielt ich in der Hand, und die andere Hälfte blieb bei ihm. So konnte ich die ganze Nacht nicht schlafen und hatte Angst, mich umzudrehen.“ Da warf sich Iwan vor Roman auf die Knie und bat: „Bruder, vergib mir meine Schuld!“ „Bitte den Vater, daß er dir die Schuld vergibt!“ Iwan bat den Vater, ihm zu verzeihen. „Nun, der da ist dein Mann, der sich vor mir verneigt hat“, sagte Roman dann zur Zarentochter. Da wurden sie alle lustig. Sie feierten einen Tag lang und ruhten sich dann aus. Inzwischen vergnügten sich die anderen. Da sagte Roman zu seinem Bruder: „Laß den Vater bei dir wohnen, ich will nach Hause fahren.“ Er sattelte das Pferd und jagte in das Dorf seiner Mutter. Er kam in das Dorf und trat in die Hütte der Eltern. Darin aber wohnte schon ein anderer armer Mann. Er fragte: „Wo ist denn die Besitzerin?“ „Die Besitzerin, wo soll sie sein? Sie lebt, und sie lebt besser als die Gutsherrin. Sie wohnt in einem eigenen Zimmer. Man gibt ihr zu essen und zu trinken, was sie will. Geld hat sie auch genug. Sie ist sogar schon einige Male hierhergekommen, 77
und wenn sie kommt, dann gibt sie immer fünf oder sechs Rubel (diesem armen Mann). Wir alle beten darum für sie zu Gott.“ „Hast du etwa keine Hütte?“ „Nein, junger Mann. Ich hatte eine, aber die ist abgebrannt. Da hat mir der Gutsherr, unser Herr, diese Hütte gegeben.“ „Was denn, gehört sie denn dem Gutsherrn?“ „Ja, was er befiehlt, muß getan werden“, antwortete der arme Mann. „Na gut, ich werde dem Dickbäuchigen befehlen, daß er dir ein neues Haus hier baut mit drei Zimmern.“ „Wird er denn auf Euch hören?“ fragte der Arme den jungen Mann. „Weißt du denn nicht, wer ich bin?“ „Nein, das weiß ich nicht.“ „Wie war es denn damals? Wer hat in dieser Hütte gewohnt?“ „Ja, hier wohnte eine Soldatenfrau. Sie hieß so und so, und ihre Söhne waren Recken und befahlen dem Gutsherrn, ihre Mutter zu versorgen.“ „Erkennst du mich denn nicht, weißt du noch nicht, wer ich bin?“ „Ich kann dich nicht mehr erkennen. Ihr wart doch damals noch klein, obwohl euch der Gutsherr Keulen zu fünfundzwanzig Pud hatte machen lassen und ihr ihnen nachgeritten seid. Aber ich erkenne Euch wirklich nicht, weiß nicht, wer Ihr wirklich seid, Ihr seid ein Mann. Die Recken sind doch erst zehn Jahre alt geworden.“
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„Nun, einer von ihnen bin ich. Morgen werde ich dem Dickbäuchigen befehlen, eine Versammlung einzuberufen, und du kommst auch dorthin. Jetzt reite ich zum Gut.“ Er setzte sich aufs Pferd und ritt davon. Er kam zum Gut und fragte, wo der und der sei (er nannte den Namen). Da sagten ihm die Hofdiener, wo der Herr war. Er eilte zu dem Zimmer. Das Pferd ließ er an der Treppe zurück, er selbst ging ins Zimmer. Der Herr sah, daß jemand gekommen war, so ein Junger, Hübscher, und so ging er zu ihm und fragte: „Was wollen Sie von mir, junger Mann?“ „Ich bin zu der und der Frau gekommen, und ich möchte sie sehen!“ „Sie wohnt dort hinter der Tür. (Der Gutsherr hatte schon alles erraten, weißt du!) Sie können hineingehen.“ Er kam zur Mutter. Die Mutter erkannte ihn am Gesicht. Sie wußte nur nicht, welcher von beiden er war. Da fragte sie: „Bist du Roman oder Iwan, mein Söhnchen?“ „Roman, Mütterchen.“ „Aber wo ist Iwan?“ „Iwan ist Zar geworden. Er ist schon den zweiten Monat verheiratet. In dem und dem Lande ist er Zar, und ich bin auch in dem und dem Lande auf den Thron gekommen. Ich bin hergekommen, um dich zu holen. Unser Vater, dein Mann, wohnt jetzt bei Iwan.“ Die alte Frau (wie alt sie war!) freute sich. Der Gutsherr stand an der Tür und horchte. 79
„So, Mütterchen, jetzt ist alles in Ordnung. Wie hat dich denn der dickbäuchige Teufel verpflegt? Gut?“ „Gut, gut, Söhnchen. Ich danke dem Herrn.“ „Warum, zum Teufel, bedankst du dich bei ihm? Man müßte ihm die Augen ausstechen! Sieh mal, einen Reichen hat er nicht zu den Soldaten gegeben, aber ein armer Mann mußte dafür gehen. Na gut, verzeihen wir ihm das, diesem Teufel; das nächste Mal wird er daran denken. Jetzt habe ich keine Lust, mir die Hände schmutzig zu machen und ihn zu verprügeln. Er wird auch so bald verrecken. (Er war nämlich schon alt.) Ich will jetzt gehen und sagen, daß man mein Pferd in den Pferdestall bringen soll.“ Der Gutsherr lief von der Tür fort. Da kam Roman herein. „Du dickbäuchiger Teufel, befiehl, daß mein Pferd in den Pferdestall gebracht wird.“ „Wollen Sie vielleicht essen, junger Mann?“ „Ja, das wäre nicht schlecht.“ Der Gutsherr rief, und man brachte zu essen. Dazu gab es Bier, Kognak, Wein, kurz gesagt, alles. Roman sagte: „Nun, dickbäuchiger Teufel (anders hat er ihn nicht genannt), sage Bescheid, daß der Dorfschulze morgen eine Versammlung machen soll. Alle müssen dorthin kommen, keiner darf fehlen. Sag, daß du kämst und auch Roman, der Soldatensohn.“ Der. arme Mann hatte aber schon längst den anderen Bauern erzählt, daß der und der gekommen war. 80
Der Gutsbesitzer befahl, schnell das Pferd zu satteln, und ritt selbst ins Dorf. Er befahl dem Dorfschulzen: „Mach morgen gegen neun eine Versammlung, und daß niemand fehlt! Ich komme und Roman kommt.“ Dann begab er sich wieder zum Gut. Als er ankam, meldete er Roman, daß alles in Ordnung gehen würde. „Dann hör zu, dickbäuchiger Teufel: Schicke ein Faß mit vierzig Eimern Wein zum Dorf, schlachte drei Kühe und bringe sie zusammen mit zwei großen Kesseln hin, daß sie darin gebraten werden können. Dann gib auch drei Pud Grütze und laß in der Nacht sieben Pud Brot backen.“ (Fleisch war ja genug da.) Der dickbäuchige Teufel versicherte, daß alles getan würde; und so hatten er und seine Diener keine Zeit zum Schlafen. Am Morgen gegen neun Uhr spannte der Gutsbesitzer drei Pferde an, und sie fuhren ins Dorf. Die Frauen waren schon alle versammelt. Roman sagte: „Laßt uns erst ein Glas trinken, und dann macht Feuer an, setzt die Kessel auf und wählt ein paar Leute, die das Essen zubereiten sollen!“ Die Bauern freuten sich über diese Gelegenheit zum Feiern. Sie tranken und lobten Roman und dankten ihm: „So, Roman, du Pfundskerl, jetzt trinken wir zum dritten Mal auf deine Gesundheit!“ „Na, dann Prost!“
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Dann rief Roman den Gutsbesitzer: „So, nun bekommst du deine letzte Aufgabe, du dickbäuchiger Teufel. Dort, wo der arme Mann wohnt, wird ein neues Haus gebaut, mit drei Zimmern, einer Küche und einem Hof. Gib dem Mann eine Kuh und ein Pferd, laß ihn nicht bei dir dienen (nicht beim Gutsherrn arbeiten) und laß ihn so leben wie du, Adliger!“ (Gutsbesitzer waren früher Adlige.) Die Bauern tranken aus und bedankten sich bei Roman. Er dankte den Bauern. „Laßt’s euch gut gehen! Ich fahre jetzt weg.“ Dann machte er sich mit der Mutter auf den Weg. Zu dem Gutsbesitzer hatte er noch gesagt: „Tu, was ich dir gesagt habe, du dickbäuchiger Teufel! Und daß ja alles für diesen Mann gemacht wird! Wenn es in einem Jahr nicht ausgeführt ist, werde ich dir die Augen auskratzen!“ „Ich mache es schon, ich mache es schon, Soldatensohn!“ Roman kam wieder in das Reich, wo sein Vater und sein Bruder waren, und sie blieben hier zu Besuch. Dann nahm Roman den Vater und die Mutter, fuhr mit ihnen in sein Reich und herrschte dort. Die armen Leute kränkte er nicht. Ich bin auch da vorbeigekommen. Dort lebt es sich sehr gut. So, wie bei uns jetzt. Nun, und damit ist das Märchen zu Ende.
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3 Michas der Witwensohn Ein Zar hatte drei Töchter, und die verschwanden spurlos. Im Dorf wohnte eine Witwe, und deren jüngster Sohn Michas wußte, wo sich die Zarentöchter befanden. Einmal kam eine alte Bettlerin aus der Stadt zu der Witwe und bat: „Gebt mir ein Stück Brot!“ Die Witwe gab es ihr und fragte: „Was gibt es Neues bei euch in der Stadt?“ Die Bettlerin sagte: „Unserem Zaren sind drei Töchter verschwunden.“ Da sagte Michas der Witwensohn: „Ich weiß, wo sie sind.“ Die Bettlerin verließ die Hütte und verbreitete das Gerücht, daß Michas der Witwensohn wisse, wo die Zarentöchter sind. Dieses Gerücht kam auch dem Zaren zu Ohren. Er schickte seinen Minister zu Michas, um zu erfahren, wo die Zarentöchter sind. Der Minister kam in das Dorf und fragte Michas: „Bist du Michas der Witwensohn?“ „Das bin ich.“ „Weißt du, wo die Zarentöchter sind?“ „Das weiß ich, aber ich werde es Euch nicht sagen.“ „Warum nicht?“
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„Wenn ich etwas vom Zaren will, gehe ich selbst hin, und wenn der Zar etwas von mir will, so mag er selbst kommen.“ Da fuhr der Minister wieder zum Zaren. Der Zar fragte: „Was gibt’s?“ Er sagte: „Michas der Witwensohn will, daß Ihr selbst zu ihm kommt. Mit mir hat er sich in kein Gespräch eingelassen.“ Der Zar machte sich fertig und fuhr zu Michas dem Witwensohn. Er kam und fragte: „Bist du Michas der Witwensohn?“ „Der bin ich.“ „Weißt du, wo meine Töchter sind?“ „Das weiß ich.“ „Wirst du es mir sagen?“ „Ich werde es nicht sagen; aber ich verlange von Ihnen Dokumente, daß Sie einverstanden sind, daß ich und meine Brüder Ihre Töchter heiraten. Dann werde ich Ihnen die Töchter bringen.“ Der Zar machte die Dokumente und gab sie Michas dem Witwensohn. Und Michas machte sich mit seinen beiden Brüdern auf den Weg in ein anderes Zarenreich. Er ging mit den Dokumenten des Zaren zum Gutsbesitzer und bat ihn um drei der stärksten Pferde. Da führte der Gutsbesitzer Michas in den Stall und sagte: „Wählt euch die Pferde aus, die ihr braucht.“ Michas der Witwensohn begann die Pferde für sich und seine Brüder auszuwählen. Aber welchem Pferd er auch immer die Hand auf den Rücken 84
legte, es fiel nieder. Er war sehr stark, dieser Witwensohn. Schließlich wählte er drei Pferde für sich und seine Brüder aus. Sie setzten sich auf die Pferde und ritten los. Sie ritten einen Tag, da wurde ihnen das Reiten über. Da sagte der Witwensohn zu seinen Brüdern: „Wir müssen zu einer Schmiede reiten und drei Keulen machen lassen, eine zu drei, eine zu sechs und eine zu zwölf Pud. Für den Ältesten die zu drei Pud, für den Zweiten die zu sechs Pud und für mich die zu zwölf Pud.“ So ritten sie zum Schmied. Aber jede Keule, die der Schmied machte, ging entzwei, wenn der Witwensohn sie an sein Knie schlug. Da erriet der Schmied, was für Eisen diese starken Männer brauchten, und machte ihnen drei gute Keulen. Und Michas sagte zu seinen Brüdern: „Wir müssen die Keulen werfen. Wo die Keule des Ältesten hinfliegt, dort werden wir übernachten!“ Da warf der älteste Bruder seine Drei-PudKeule. Als die drei Brüder einen ganzen Tag geritten waren, kamen sie zu dieser Keule. Da sagte Michas: „Jetzt gehen wir zum Fluß; am Fluß steht ein Turm, und in diesem Turm lebt die älteste Tochter des Zaren.“ Und er sagte zum ältesten Bruder: „Geh und zertrümmere diesen Turm mit deiner Keule! Du zertrümmerst die Mauer und holst die Zarentochter heraus!“ Da begann der älteste Bruder mit der Keule gegen den Turm zu schlagen. Er schlug und schlug 85
und zerschlug ihn schließlich. Die Zarentochter kam aus dem Turm heraus und sagte: „Ihr seid es also, ihr hübschen russischen Burschen? Aber wenn mein Drache angeflogen kommt, wird er euch fressen!“ Der Witwensohn sagte: „Habt keine Angst, er wird uns nicht fressen. Ich werde ihm einen Denkzettel geben. Ihr bleibt mit der Zarentochter hier, Brüder, und ich gehe auf Wacht.“ Er hielt Wache. Als die zwölfte Stunde nahte, kam ein dreiköpfiger Drache auf einem Pferde angeflogen. Das Pferd flog bis zur Brücke und scheute. Da sagte der Drache: „Warum scheust du, mein Pferd? Ich bin doch der Herrscher in dieser Welt, nur der Witwensohn Michas ist stärker als ich, und dessen Knochen bringt der Rabe nicht hierher.“ Da trat Michas der Witwensohn mitten auf die Brücke und sagte: „Nein, der Rabe bringt meine Knochen nicht hierher. Ich bin selbst gekommen.“ Da sagte der Drache: „Was denn, wollen wir uns schlagen oder vertragen?“ Da antwortete der Witwensohn Michas: „Ein kühner Bursche verträgt sich niemals mit Drachen, sondern schlägt sich immer mit ihnen.“ Und als er mit seiner Keule auf den Drachen losschlug, tötete er ihn auch gleich, zog die Leiche von der Brücke und warf sie in den Fluß. Da erschien ein alter Mann mit einem Boot auf dem Fluß und steckte die Leiche des Drachen in einen Sack. Dann fuhr er mit gebeugtem Rücken den Fluß hinunter. Der Witwensohn ging zu den Brü86
dern und der Zarentochter und sagte zu dieser: „Dein Drache ist nicht mehr da, er ist umgekommen.“ Und dann sagte er zu seinem mittleren Bruder: „Wirf du jetzt deine Keule! Wo die Keule hinfliegt, dort wollen wir übernachten.“ Der Bruder warf sie, und sie ritten ihr zwei Tags nach. Da kamen sie zum Meer. Dort stand ein Turm, und an dem Turm lag die Keule von sechs Pud. Michas sagte: „Hier wollen wir übernachten. In dem Turm sitzt die andere Zarentochter. Geh, mittlerer Bruder, zerschlag diesen Turm und hole die Zarentochter heraus!“ Der mittlere Bruder schlug und schlug mit der Keule, konnte den Turm aber nicht zerschlagen. Da kam Michas, stieß ihn mit dem Fuß an, und der Turm fiel auseinander. Die andere Zarentochter kam aus dem Turm heraus und sagte: „Ach, ihr seid das, ihr kühnen russischen Burschen! Und auch meine älteste Schwester ist hier! Aber wenn mein sechsköpfiger Drache kommt, wird er euch alle fressen!“ Da sagte Michas: „Habt keine Angst, er wird uns nicht fressen; wir werden ihm einen Denkzettel geben. Übernachtet ihr hier, ich werde wachen!“ Er ging hinaus und paßte auf. Als die zwölfte Stunde nahte, kam der sechsköpfige Drache auf seinem Pferd angeflogen, und alles erzitterte. Das Pferd flog bis zur Brücke und scheute. Da sagte der Drache: „Warum scheust du, mein Pferd? Ich bin aller Welt Herrscher, nur irgendwo gibt es den 87
Witwensohn Michas; er ist stärker als ich, aber dessen Knochen bringt der Rabe nicht hierher.“ Da trat Michas auf die Mitte der Brücke und sagte: „Nein, der Rabe bringt meine Knochen nicht, sondern ich bin selbst gekommen.“ Da sagte der Drache: „Was denn, wollen wir uns schlagen oder vertragen?“ Und Michas der Witwensohn sagte: „Ein kühner Bursche verträgt sich nicht mit Drachen, sondern schlägt sich mit ihnen!“ Und er hob seine Keule, und als er sie auf den Drachen fallen ließ, flogen vier Köpfe davon, und drei wuchsen wieder nach. Als er ein zweites Mal zuschlug, tötete er den Drachen. Michas trat zur Leiche des Drachen und warf sie ins Wasser. Da erschien derselbe alte Mann, zog die Leiche des Drachen in sein Boot, legte sie in einen Sack und fuhr weiter den Fluß entlang. Michas kam zu der Stelle, wo die Brüder und die Zarentöchter übernachteten. Die Zarentöchter sagten: „Wir danken dir, daß du uns aus der Gewalt des Drachen befreit hast!“ Michas sagte: „Jetzt werfe ich meine Keule.“ Und er warf sie. Sie ritten vier Tage und vier Nächte, bis sie zum Schwarzen Meer kamen. Dort stand ein großer Turm. Michas sagte: „Hier wird die dritte Zarentochter sein. Wir müssen auch diesen Turm zertrümmern und die Zarentochter herausholen. Ich will den Turm zerstören, und diese Zarentochter wird meine Frau! Hört nur auf mich, Brüder, was ich sage, das macht!“ 88
„Gut, wir werden deinen Befehl ausführen!“ „Geht auf Wacht und laßt weder Fliegen noch Mäuse durch, sondern schlagt sie, daß nichts übrigbleibt! Ich will gehen und den Turm zerstören.“ Michas schlug und schlug und zertrümmerte den Turm noch vor der neunten Stunde. Da kam die jüngste Zarentochter aus dem Turm und sagte: „Ach du bist das, kühner Bursche, und ihr, meine Schwestern, seid auch da! Ihr tut mir leid, mein zwölfköpfiger Drache wird kommen und alle fressen.“ Michas sagte: „Fürchte dich nicht, er wird uns nicht fressen, ich werde ihm einen Denkzettel geben!“ Die Zarentöchter legten sich schlafen, und er dachte: Ich will gehen und die Posten überprüfen. Als er zu seinen Brüdern kam, schliefen sie. Da schrie Michas: „Was macht ihr?“ Sie sagten: „Wir sind etwas eingeschlafen.“ „Steht auf, ihr Dummköpfe. So bringt ihr mich ja ums Leben und kommt selbst auch um. Hört auf das, was ich euch sage! Schlaft nicht! Geht zu meinem Pferd und schaut auf meine Handschuhe, die dort hängen! Wenn aus diesen Handschuhen Blut in ein Glas darunter tropft, dann bindet mein Pferd ab und laßt es laufen! Ich will Wache halten.“ Die Brüder waren einverstanden, und Michas begab sich auf seinen Posten. Es kam die zwölfte Stunde, und noch rührte sich nichts. Plötzlich bebte und lärmte etwas. Der zwölfköpfige Drache kam angeflogen. Als das Pferd des Drachen an der 89
Brücke scheute, sagte der Drache: „Warum scheust du? Ich bin aller Welt Herr. Nur Michas der Witwensohn ist stärker als ich. Aber seine Knochen bringt auch der Rabe nicht hierher.“ Da trat Michas auf die Brücke und sagte: „Nein, der Rabe bringt meine Knochen nicht. Ich bin selbst gekommen.“ Der Drache sagte: „Wollen wir uns schlagen oder vertragen?“ Da sagte Michas: „Ein kühner Bursche verträgt sich niemals mit einem Drachen!“ Und er hob seine Zwölf-Pud-Keule, und als er sie auf den Drachen hinuntersausen ließ, wurden ihm drei Köpfe abgeschlagen; sechs wuchsen gleich wieder nach. Da schlug der Drache Michas mit dem Schwanz auf den Kopf und schlug ihn bis zum Gürtel in die Erde. Michas sagte zu dem Drachen: „Du Teufel, laß uns ausruhen!“ Der Drache sagte: „Gut!“ „Eine Stunde?“ „Nein, nur eine halbe Stunde!“ In diesem Augenblick sprang Michas aus der Erde heraus und schlug dem Drachen auf die Köpfe. Neun Köpfe schlug er ab, und drei wuchsen gleich wieder nach. Aber als ihn der Drache mit dem Schwanz schlug, sank Michas bis zu den Leisten in die Erde. Michas sagte: „Nun laß uns eine halbe Stunde ausruhen!“ Der Drache ließ ihn ausruhen. Michas wartete auf seine Brüder. Die aber schliefen. Aus dem 90
Handschuh war schon viel Blut herausgeflossen. Das ganze Glas war voll. Als sie an der Seite etwas Feuchtes fühlten, wachten die Brüder auf und banden Michas’ Pferd los. Das Pferd lief zu seinem Herrn und blieb dort stehen. Michas aber schlug sich nach der Ruhepause schon wieder mit dem Drachen. Er war schon bis zum Halse in die Erde hineingeschlagen, als er sagte: „Du Teufel, laß uns noch einmal ausruhen!“ Der Drache sagte: „Ich gebe dir nur fünf Minuten!“ Da sprang der Witwensohn aus der Erde, setzte sich auf das Pferd und schlug mit seiner Keule auf die Köpfe des Drachen. Er schlug ihm alle zwölf Köpfe ab und tötete den Drachen. Dann warf er ihn in das Schwarze Meer. Wieder erschien der Alte im Boot und nahm den Drachen mit. Michas aber wußte nicht, warum der alte Mann die Leichen der Drachen geholt hatte. Er setzte sich auf das Pferd und ritt zu seinen Brüdern. Als er ankam, sagte er: „Ach, ihr Dummköpfe, warum habt ihr nicht auf mich gehört?“ „Na, was denn?“ sagten sie, „wir waren erschrocken und sind eingeschlafen. Aber laß nur, jetzt reiten wir zum Zaren.“ Sie saßen auf, jeder nahm eine Zarentochter auf sein Pferd, und so ritten sie los. Als sie ungefähr eine Werst geritten waren, merkte Michas, daß er seine Handschuhe vergessen hatte, und er sagte zu den Brüdern: „Bleibt hier stehen, ich reite nur zurück, meine Handschuhe holen!“ 91
Michas ritt zu seinen Handschuhen zurück. Plötzlich erschien derselbe Alte, der die Leichen der Drachen in den Sack gesteckt hatte. Er faßte den Sack an einer Ecke, drehte sich im Kreise herum und plötzlich befand sich Michas in einem steinernen Turm und sah nur noch den Himmel. Da saß er nun in diesem engen Turm und dachte: Nun bin ich verloren! Da kam eine Krähe geflogen, setzte sich oben auf die Mauer und sagte zu Michas: „Warum sitzt du hier?“ Und er antwortete: „Ach, ich bin verloren!“ Da sagte die Krähe zu ihm: „Hier hast du eine von meinen Federn. Wenn du etwas brauchst, dann stecke sie in Brand, und du wirst es haben!“ Michas nahm die Feder, hielt sie in den Händen und dachte: Was soll ich damit? Eine Feder bringt mich hier nicht heraus. Ich bin verloren! Und dann dachte er: Aber man müßte sie doch einmal anstecken. Er steckte sie an. Da kam die Krähe angeflogen und fragte: „Was brauchst du?“ Er sagte: „Wie komme ich hier heraus?“ Die Krähe sagte: „Hier ist ein Pferdestall mit drei Säulen. Dort sitzt eine Schlange. Setze diesen Pferdestall in Brand und laß ihn so lange brennen, bis die Schlange dir drei Zügel gibt!“ Michas setzte den Pferdestall in Brand. Da kroch eine rote Schlange heraus und sagte zu Michas: „Warum steckst du mich in Brand?“ Michas aber sagte: „Gib mir drei Zügel!“ 92
Die Schlange sagte: „Ich habe keine.“ Da stieß sie Michas in das Feuer. Dort wurde es der Schlange zu heiß, und so gab sie Michas die drei Zügel, einen kupfernen, einen silbernen und einen goldenen. Michas löschte das Feuer und setzte sich wieder. Er saß und dachte: Was soll ich mit den Zügeln, ich bin hier doch verloren! Dann erinnerte er sich, daß er die Feder anbrennen mußte. Als er die Feder angebrannt hatte, kam die Krähe angeflogen und fragte: „Was brauchst du, Witwensohn Michas?“ Er sagte: „Wie komme ich hier heraus?“ Und die Krähe sagte: „Schüttle einen der drei Zügel!“ Michas nahm den kupfernen Zügel und schüttelte ihn. Da erschien ein kupfernes Pferd und fragte: „Was willst du?“ Michas sagte: „Wie komme ich von hier in die Freiheit?“ Das kupferne Pferd sagte zu ihm: „Setz dich auf mich und halte dich fest, ich werde dich hinaustragen!“ Er setzte sich. Doch das kupferne Pferd hatte ihn kaum einen Meter hochgetragen, als es wieder zurückfiel. Da nahm ihm Michas den Zügel ab, schüttelte ihn, und das kupferne Pferd verschwand. Michas holte den zweiten Zügel und schüttelte ihn. Da erschien ein silbernes Pferd und fragte: „Was willst du?“ Michas sagte: „Trag mich hier heraus!“ „Gut!“ 93
Michas saß auf, und das Pferd flog nach oben, aber schon nach einem halben Meter fiel es wieder zurück. Da nahm er ihm den Zügel ab, schüttelte ihn, und das silberne Pferd verschwand. Michas dachte: Hier bin ich verloren. Die Krähe hat mich betrogen. Aber egal, ich muß den dritten Zügel noch schütteln. Das tat er, und ein goldenes Pferd erschien und fragte Michas: „Was willst du?“ Er sagte: „Du sollst mich in die Freiheit bringen!“ Das Pferd sagte zu ihm: „Setz dich auf mich und halt dich an meiner Mähne fest!“ Michas setzte sich, und das goldene Pferd brachte ihn in die Freiheit. Michas flog auf dem Pferd dahin und sah, daß es rings um das Pferd golden glänzte. Da erschrak Michas. Er hatte vergessen, daß ihm die Krähe gesagt hatte, er solle den Zügel schütteln. Michas hielt das goldene Pferd an, nahm ihm den Zügel ab und schüttelte ihn. Da verschwand das Pferd. Michas band den Zügel unter seine Jacke und ging los. Er war sehr müde und hatte Hunger. Er ging durch ein Dorf und sah dort eine sehr schöne Hütte stehen. An der Hütte stand „Schneider“ geschrieben. Michas dachte: Ich will zu dem Schneider gehen, vielleicht gibt er mir etwas zu essen. Er ging hinein und bat den Schneider: „Onkelchen, gib mir etwas zu essen!“ Da gab ihm der Schneider zu essen. Michas sagten „Laß mich bei dir arbeiten!“ 94
Der Schneider sagte: „Ich habe nichts zu tun.“ Michas sagte zu ihm: „Du wirst schon Arbeit finden. Ich werde nur zwei Tage bei dir bleiben. Geh heute ins Städtchen auf den Markt. Dort wird man Kleider bestellen. Übernimm den Auftrag, er ist gut!“ In der Zeit, als Michas im Turm gefangen war, hatte der Alte, der die Leichen der Drachen geholt hatte, eine Tarnkappe aufgesetzt und die Brüder Michas’ mit den Zarentöchtern eingeholt. Sie hörten die Stimme des Alten, obwohl sie niemanden sehen konnten: „Wenn der Zar erfährt, daß Michas die Zarentöchter befreit hat, erschlage ich euch!“ Sie erschraken, und als sie zum Zaren kamen, verschwiegen sie, daß Michas die Zarentöchter befreit hatte. Und während die Brüder sich bereits auf ihre Hochzeit vorbereiteten, arbeitete Michas bei dem Schneider. Die Brüder aber dachten, daß er umgekommen sei. Der Schneider ging in das Städtchen zum Markt und sah dort eine Bekanntmachung hängen: Die älteste Zarentochter heiratet, und das schönste Kleid im Zarenreich soll für sie genäht werden. Wer ein solches Kleid näht, erhält vom Zaren fünftausend Dukaten. Da erschrak der Schneider, aber trotzdem übernahm er es, ein solches Kleid zu nähen. Als der Schneider nach Hause kam, fragte Michas: „Was gibt’s Neues, Onkelchen?“
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Der Schneider sagte zu Michas: „Die älteste Zarentochter heiratet ihren Befreier, und für sie muß ein Kleid für fünftausend Dukaten genäht werden.“ Michas sagte: „Ich weiß davon, wir wollen es heute nacht nähen!“ Die Nacht kam, und der Schneider sagte zu Michas: „Komm, laß uns das Kleid nähen.“ Michas aber sagte: „Wir schaffen es schon noch. Schlaf erst einmal! Wir wollen es um zwölf Uhr nachts nähen.“ Der Schneider aber setzte sich hin und nähte. Er hatte Angst, daß ihn der Zar erschlagen lassen würde, wenn das Kleid nicht zum festgesetzten Zeitpunkt fertig wäre. So quälte er sich ab, legte sich schließlich aber doch zur Ruhe und schlief ein. Als Michas sah, daß der Schneider schlief, ging er hinaus auf den Hof und steckte die Feder an. Die Krähe kam angeflogen und fragte: „Was willst du?“ „Der ältesten Tochter des Zaren muß ein Kleid genäht werden. Das schönste von allen Kleidern auf der Welt.“ Die Krähe flog davon, und nach ungefähr fünf Minuten brachte sie das Kleid, und alles erstrahlte. Michas nahm es und hängte es ins Zimmer. Es wurde dort so hell wie am Tage. Dann legte er sich schlafen. Der Schneider erwachte und weckte Michas: „Steh auf, es ist schon Morgen, und wir werden das Kleid nicht schaffen!“ Michas lachte. „Es ist schon lange genäht.“ „Aber wo ist es denn?“ 96
„Es hängt im Zimmer.“ Der Schneider sah nach, und ihm fielen bald die Augen heraus. Da sagte er zu Michas: „Wie hast du denn das geschafft?“ Michas antwortete: „Geh zum Zaren und sage ihm, daß das Kleid fertig ist, mag er selbst mit seiner Tochter zu uns kommen.“ Der Schneider ging noch im Morgengrauen zum Zaren und sagte: „Das Kleid ist fertig, Eure Hoheit. Kommen Sie es abholen!“ Der Zar erwiderte: „Gut, wir kommen und holen es ab.“ Da kam der Zar mit der ältesten Tochter zum Schneider. Und der Zar sagte: „Zeigen Sie das Kleid!“ Der Schneider antwortete: „Dort im Zimmer hängt es.“ Der Zar öffnete die Tür und sagte: „Ach, ein gutes Kleid, dafür kann man schon fünftausend Dukaten geben.“ Er bezahlte das Geld und nahm das Kleid mit. Der Zar ließ eine Hochzeit feiern. Er gab seine älteste Tochter Michas’ ältestem Bruder zur Frau. Aber er mußte auch seine zweite Tochter Michas’ zweitem Bruder zur Frau geben. Und wieder gab der Zar bekannt, daß seine Tochter heiratet und ihr ein Kleid für zehntausend Dukaten genäht werden soll. Michas schickte wieder den Schneider in das Städtchen, und dieser übernahm den Auftrag. Haben wir der einen ein Kleid genäht, dachte er, nähen wir auch der anderen eins.
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Der Schneider kam nach Hause und sagte zu Michas: „Habe ich es nicht falsch gemacht, daß ich das Kleid für zehntausend Dukaten zu nähen übernommen habe?“ „Etwas hast du schon falsch gemacht, du hättest fünfzehntausend für ein solches Kleid nehmen sollen. Aber laß nur, es macht nichts.“ Die Nacht kam, und der Schneider sagte zu Michas: „Komm, laß uns nähen!“ Michas sagte: „Es eilt nicht, wir haben Zeit!“ Da legte sich der Schneider schlafen. Michas ging auf den Hof und brannte die Feder an. Die Krähe kam herbeigeflogen und fragte: „Was willst du?“ „Für die mittlere Tochter des Zaren muß ein Kleid genäht werden, das schöner ist als das für die älteste Tochter!“ Die Krähe sagte: „Gut, ich bringe es gleich!“ und flog davon. Als sie das Kleid brachte, erstrahlte alles. Michas nahm das Kleid, hängte es ins Zimmer und legte sich schlafen. Der Schneider wachte mitten in der Nacht auf und sah, daß es hell war. Da schrie er: „Steh auf, wir müssen nähen; sonst schaffen wir das Kleid nicht!“ Michas sagte: „Ich habe das Kleid schon lange genäht.“ „Und wo ist es?“ „Es hängt im Zimmer.“ Der Schneider schaute es voller Verwunderung an und dachte: Das ist eine Arbeit!
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Zur festgesetzten Zeit erschien der Zar mit seiner mittleren Tochter, um das Kleid zu holen, und fragte: „Ist das Kleid fertig?“ „Es ist fertig.“ „Wo ist es?“ „Es hängt im Zimmer.“ Der Zar sah nach, wunderte sich sehr und dachte: Das ist ein Meister! Er nahm das Kleid und fuhr mit seiner Tochter in den Palast. Und sie feierten die Hochzeit. Nun mußte der Zar noch die dritte, die jüngste Tochter verheiraten. Michas sagte wieder zu dem Schneider: „Geh ins Städtchen. Wenn der Zar ein Kleid bestellt, dann nimm ihm möglichst viel Geld ab. Verlange, soviel dir gerade einfällt, der Zar wird es schon bezahlen!“ Da ging der Schneider in das Städtchen und sah dort eine Bekanntmachung hängen: Der jüngsten Tochter des Zaren muß das schönste Kleid der Welt genäht werden! Der Schneider kam zum Zaren und sagte: „Ich kann ein solches Kleid nähen. Wieviel wollen Sie dafür geben?“ Der Zar sagte: „Ich gebe fünfzehntausend Dukaten.“ Da sagte der Schneider: „Das ist zuwenig, Sie müssen zwanzigtausend Dukaten geben!“ Der Zar dachte ein bißchen nach und sagte: „Na gut, ich gebe zwanzigtausend, nur muß das Kleid schöner sein als die ersten zwei! Und es muß möglichst schnell gemacht werden, denn morgen schon soll die Hochzeit sein!“ 99
„Gut, ich werde es nähen. Kommen Sie morgen, und es wird fertig sein.“ Da kam der Schneider nach Hause und sagte zu Michas: „Ich denke, daß ich es nicht falsch gemacht habe, ich habe dem Zaren eine Menge Geld abgenommen, zwanzigtausend Dukaten.“ „Das ist richtig. So muß man es dem Zaren abnehmen!“ Der Schneider sagte: „Nun, laß uns nähen!“ Aber Michas antwortete: „Es eilt nicht, wir nähen es schon noch.“ Der Schneider dachte: Ich muß doch einmal sehen, wie er näht. Er quälte sich und quälte sich und schlief schließlich im Sitzen ein. Michas trat auf den Hof und steckte die Feder an. Die Krähe kam geflogen und fragte: „Was willst du?“ „Der jüngsten Tochter des Zaren muß das schönste Kleid auf der Welt genäht werden!“ „Gut, ich bringe es gleich.“ Nach einer knappen Minute brachte sie ein goldenes Kleid. Michas nahm das Kleid, hängte es ins Zimmer und legte sich schlafen. Der Schneider wachte in der Nacht auf und konnte die Augen überhaupt nicht aufmachen, so hell war es in der Hütte von diesem Kleid. Der Schneider dachte, daß es Morgen wäre, und weckte Michas. „Steh auf, wir wollen nähen. Ich will zusehen, wie du nähst!“ Michas sagte: „Ich habe schon lange genäht.“ „Und wo ist das Kleid?“ „Dort im Zimmer hängt es.“
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Der Schneider ging in das Zimmer und fiel vor Schreck hin, weil er dachte, daß es brennt. Das Kleid aber strahlte und funkelte wie die Sterne. Als es Morgen wurde, stand Michas auf, schmierte sich voll Ruß, kletterte auf den Ofen und legte sich dort hin. Da kam der Zar mit seiner jüngsten Tochter. „Ist das Kleid fertig?“ „Es ist fertig.“ „Zeig es!“ „Dort im Zimmer hängt es.“ Sie schauten hinein und erschraken. Das war ein Schneider! Doch die Zarentochter dachte: Diese Arbeit ist nicht von dir, alter Schneider. Und sie fragte: „Wer hat das Kleid genäht?“ Der Schneider erschrak. Die Zarentochter dachte, daß der Drache das Kleid genäht habe, und sie fragte noch einmal: „Könnte ich vielleicht den Meister sehen, der das Kleid genäht hat?“ Der Schneider sagte nichts. „Ich frage nochmals“, sagte die Zarentochter, „wer hat es genäht?“ Der Schneider zeigte mit dem Finger zum Ofen. „Der da hat es genäht.“ Die Zarentochter erkannte Michas sogleich. „Das ist ja mein Befreier, Michas der Witwensohn!“ Michas kletterte vom Ofen, rußbeschmiert, und die Zarentochter fiel ihm um den Hals und küßte ihn. Der Zar wußte nicht, was hier los war. Seine Tochter küßte einen rußbeschmierten Mann. Und 101
er sagte: „Komm, Tochter, wir gehen nach Hause!“ Die Zarentochter sagte: „Das ist mein Mann. Ich gehe nicht fort von ihm! Ich will dir alles erzählen.“ Und sie erzählte dem Zaren, wie es gewesen war. Der Zar überlegte und fragte: „Aber was sollen wir nun dem Königssohn sagen, der um dich anhält, meine Tochter?“ Michas sagte: „Fahrt nach Hause und bereitet die Hochzeit vor! Wenn Ihr zur Kirche fahren wollt, sagt dem Bräutigam, bei uns bestehe ein Gesetz, daß Braut und Bräutigam getrennt zur Trauung fahren müssen!“ Zur Zarentochter aber sagte Michas: „Setz dich nicht mit dem Königssohn zusammen, denn ich will ihn umbringen!“ Da bereitete man im Palast alles auf die Hochzeit vor. Die Braut und der Bräutigam traten zusammen aus dem Zarenpalast, setzten sich aber in verschiedene Kutschen und fuhren auf verschiedenen Wegen in die Kirche. Michas nahm seinen Zügel, schüttelte ihn, und vor ihm stand das goldene Pferd. Er setzte sich auf das Pferd und ritt dem Königssohn, dem Bräutigam, entgegen. Als er den Königssohn traf, erschlug er ihn. Das war gar kein richtiger Königssohn gewesen, sondern der Zauberer, der die Leichen der Drachen geholt und Michas mit der hohen Mauer umgeben hatte. Dieser Zauberer hatte sich in einen
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hübschen Königssohn verwandelt und hatte die Zarentochter und ihren Vater betrügen wollen. Dann ritt Michas davon.
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4 Der Recke ohne Beine In irgendeinem Zarenreiche, in irgendeinem Staate lebte einmal ein Schmied mit seiner Frau. Die Frau des Schmieds gebar einen hübschen Jungen, der aber keine Beine hatte. Der Junge wuchs nicht zur Freude, sondern zum Leidwesen seiner Eltern auf. Man weiß ja, welche Freude ein Krüppel den Eltern von Geburt an bereitet. Er wuchs auf wie ein Findelkind. Die Frau des Schmieds legte sich auf den Ofen und lief aufs Feld oder in den Garten; der Junge aber wälzte sich an der Erde, lutschte die Kartoffelschalen aus oder kaute gedämpfte Kartoffeln. Einmal warf ihn die Frau des Schmieds auf den Hof, da hätten ihn bald die Schweine aufgefressen. Der Frau des Schmieds tat es nicht leid um ihr Kind, denn – so sagte sie sich – was hat man schon für einen Nutzen von ihm? Er war ein Krüppel und half nicht, sondern war nur eine Last. Wenn ihn Gott doch von dieser Welt hinwegnehmen wollte! Der Junge aber wuchs und wurde immer dicker. Er war schon ein ganz ungeschlachter Junge geworden, aber er konnte nicht laufen, sondern nur kriechen. Wie sie ihn auch fütterten, Nutzen hatten sie keinen von ihm. Die Mutter begann ihn noch mehr zu verfluchen und machte Gott Vorwürfe, weil er ihr keinen Sohn zur Freude, wie den 104
anderen Menschen, sondern nur zu ihrem Leidwesen gegeben habe. Der Schmied mußte die dummen Flüche seines Weibes immerzu hören, aber er konnte nichts dagegen machen. Ihm tat der Junge leid. Aber die Alte gab ihm keine Ruhe, und schließlich hielt er es nicht mehr aus, schirrte die Stute an, setzte den Sohn auf den Wagen und fuhr mit ihm in den Wald. Er fuhr weit vom Dorfe fort und wollte dort den Sohn seinem Schicksal überlassen. Plötzlich sah er eine kleine Hütte im Walde. Er kletterte hinein, aber es war niemand dort. Er schaute hierhin und dorthin, in der Hütte gab es alles, aber ihr Besitzer war nicht zu finden. Da trug er den Sohn in die Hütte und ließ ihn dort. Er setzte sich wieder auf den Wagen und trieb die Stute an. Er fuhr immer schneller dahin und schaute sich dauernd um, ob ihm niemand folge. So saß der Junge nun allein in der Hütte und schaute sich an, was es dort zu sehen gab. Da kam auf einmal so ein altes Männlein und bat um etwas zu trinken. „Ich würde dir gern etwas zu trinken geben“, sagte der Junge, „aber ich kann nicht gehen.“ „Das macht nichts“, sagte das alte Männlein, „schöpfe nur und versuche selbst einmal, ob das Wasser gut ist.“ Der Junge wollte schon lange trinken. Er trank zuerst einen Schluck und dann fast einen vollen Krug aus. Als er getrunken hatte, fühlte er sogleich eine solche Kraft in sich, daß es ihm schien, als könnte er die ganze Erde umdrehen, 105
wenn er sich nur mit den Beinen etwas stützen könnte. Das alte Männlein trank auch und sagte: „Trink noch mehr, denn du brauchst viel Kraft!“ Dann verschwand es, als wäre es nie dagewesen. Der Junge wunderte sich und dachte, er hätte alles nur geträumt, aber da sah er, daß er gesunde Füße hatte. Er konnte gehen und fühlte den Boden nicht mehr unter sich. Er trank nochmals von dem Wasser und glaubte, daß er nicht seinesgleichen auf der Welt finden würde. Er wollte noch mehr Wasser eingießen, aber wie er den Krug anfaßte, da bog dieser sich um, und das Wasser floß heraus. Er griff einen Eimer und wollte zur Quelle laufen. Er suchte und suchte, aber er fand keine; es war, als wären sie alle in der Erde versickert. Er kehrte zur Hütte zurück, aber auch dort war kein Wasser mehr. Er lief dahin und dorthin und verirrte sich im Gestrüpp, so daß er nicht mehr wußte, wohin er gehen sollte. So stand er ein Weilchen und ging dann geradeaus los. Er ging und sah plötzlich eine dicke Fichte oder Eiche vor sich, die so dick war wie ein Ofen. Er packte den Baum mit einer Hand, und der knickte um wie ein Strohhalm. Er ging weiter und drehte gewaltige Bäume um; es sah aus, als wäre der Wirbelwind über sie dahingefegt. Er knickte den ganzen Wald um, um sich ein Zeichen zu machen und um nicht ein zweites Mal dorthin zu kommen. Lange ging er so, bis er auf einen Weg hinaustrat. Dort am Wege lagen ganz große Steine wie Mauern. Er begann diese Steine wie Kartoffeln auf den Weg zu rollen. 106
Da kamen elf Recken angeritten. Sie kamen heran und hielten an, denn sie konnten nicht weiterreiten, weil die Steine dort lagen. „Sei gegrüßt, Bursche!“ sagten die Recken, „was machst du da?“ „Ich spiele ein bißchen“, sagte der Junge. Da stiegen die Recken von den Pferden und wollten den Weg frei machen. Sie griffen nach einem Stein, konnten ihn aber nicht von der Stelle bewegen. Da trat der Junge heran und stieß die Steine in den Graben. „Komm mit uns!“ sagten die Recken. „Wie kann ich denn mitkommen, wenn ich kein Pferd habe?“ antwortete der Junge. „Wähl dir ein Pferd von den unsrigen aus!“ Da wollte sich der Junge ein Pferd auswählen, aber sowie er ihm nur die Hand auf den Rücken legte, knickten dem Pferd die Vorderbeine ein. So probierte er alle Pferde, konnte aber kein geeignetes finden. Er zog dann mit den Recken, sie ritten auf den Pferden, und er ging zu Fuß. Da sah er einen Mann am Wege pflügen. Seine Stute war mager und klein, aber muskulös. Der Junge legte die Hand auf den Rücken des Pferdes, aber es rührte sich nicht. Da begann er um diese Stute zu handeln, aber der Bauer wollte sie um keinen Preis abgeben. „Was soll ich mit so vielem Geld?“ sagte er, „vielleicht bringt mich dann noch jemand um? Aber wie soll ich in der Wirtschaft ohne Pferd auskommen? Ohne Pferd ist der Mensch kein Mensch.“ 107
„Tausch deine Stute gegen ein anderes Pferd ein“, sagten die Recken, „such dir eins aus, nimm, welches du willst!“ „Wer tauscht, dem sitzt das Kummet locker“, sagte der Bauer. Mit Gewalt brachten die Recken den Bauern dazu, die Stute für ein Paar der besten Pferde einzutauschen. Der „Recke ohne Beine“ setzte sich auf die Stute, und sie ritten weiter. Da kamen sie zu dem Dorf, wo der Vater des Jungen wohnte, und sie ließen dort in der Schmiede ihre Pferde beschlagen. Der Schmied erkannte seinen Sohn nicht, so hatte er sich verändert, und er beschlug auch dessen Stute. Da bat ihn sein Sohn, eine Keule für ihn zu schmieden. Der Schmied nahm alles Eisen zusammen und schmiedete eine solche Keule, daß drei Mann Mühe hatten, sie umzudrehen. Der Sohn des Schmiedes nahm die Keule, drehte sie mit einer Hand um, und als er sie in die Höhe warf, wußte man nicht, wo sie geblieben war. Die Recken standen da und wunderten sich. Aber nach kurzer Zeit hörte man es donnern, und die Keule kam heruntergeflogen. Der Sohn des Schmiedes hielt das Knie darunter. Die Keule schlug gegen das Knie und verbog sich etwas. Da gab der Schmied noch ein Pud Eisen dazu und schmiedete eine noch größere Keule. Sein Sohn dankte ihm, nahm diese Keule und ritt mit den Recken in die Welt. Sie kamen zu einem Zaren und traten in seinen Dienst. Nach einiger Zeit erschien dort ein sehr 108
großer Drache und begann Menschen zu verschleppen. Er verschleppte sehr viele Menschen und fraß sie auf. Schließlich wollte er Zarenfleisch fressen, ergriff die Zarentochter und schloß sie in seiner Höhle ein. Aber er fraß sie nicht gleich, sondern hob sie sich zum Nachtisch auf. Der Zar ließ im ganzen Zarenreich bekanntmachen, daß er demjenigen, der sie aus der Gewalt des Drachen befreit und den Drachen tötet, das halbe Zarenreich und seine Tochter zur Frau geben wolle. Viele starke Recken rissen sich darum, mit dem Drachen zu kämpfen. Aber alle ließen ihre Knochen dort. Schließlich wurden auch die Rekken geholt, die mit dem Sohn des Schmiedes gekommen waren. „Komm mit uns“, sagten sie zu ihm, „du bist noch jung, und es wird Zeit, daß du auch Ruhm erwirbst. Komm, wir lehren dich kämpfen!“ Der Sohn des Schmiedes war einverstanden, und sie ritten gemeinsam los. Sie ritten und kamen zu einer Kreuzung. Dort stand ein Schild, darauf war etwas geschrieben. Einer von ihnen konnte lesen. Er las vor, daß der, der nach rechts reitet, Ruhm erwerben würde, wer nach links reitet, reich werden sollte, und wer geradeaus weiterreitet, auf den Tod treffen würde. Da überlegten die Recken, wohin sie reiten wollten. Sie wählten alle den Weg nach rechts und ritten los, um den Ruhm zu suchen. Nur der Sohn des Schmiedes sagte, daß man dem Tode doch nicht entgehen könne und er geradeaus reiten wolle.
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Wie ihm die Recken auch abrieten, er blieb hartnäckig und ritt so als einziger geradeaus weiter. Als er ein Stück geritten war, stieß er auf dieselbe Hütte, in die ihn sein Vater gebracht hatte, als er noch ohne Beine war. Er band die Stute an und kletterte in die Hütte. In der Ecke, am Ofen, sah er eine sehr alte Frau sitzen. „Sei gegrüßt, Großmütterchen!“ „Dank dir, Bursche. Wohin führt dich Gott?“ fragte sie. „Ich reite geradeaus, Großmütterchen.“ „Reite nicht weiter, Kindchen, denn sonst wirst du umkommen! Dort wird dich der Drache auffressen.“ „Doch, Großmütterchen, ich reite weiter, und wenn ich auch umkommen sollte!“ „Du tust mir leid, Kindchen. Du warst in meiner Hütte, und da ist mir jetzt, als seist du mein Enkelkind. Hör mich also an. Was du auch immer auf dem Wege treffen solltest, töte es nicht, denn es wird dir in der Not dienen.“ Der Junge dankte dem Mütterchen und ritt weiter. Er war gerade von der Hütte fortgeritten, als ein Hase hervorsprang. Schon wollte er die Keule nach ihm schleudern, da sagte der Hase: „Töte mich nicht, ich will dir auch helfen, wenn du in Not bist.“ Er ritt weiter, und der Hase lief ihm nach. Da kam ein Wolf hervorgesprungen. Der Recke griff zur Keule. Aber der Wolf sagte: „Töte mich nicht,
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du wirst mich, wenn du in Not bist, noch brauchen.“ Er steckte die Keule wieder ein und ritt weiter. Der Wolf lief hinter ihm her. Da kam er zu einem steilen Berg. Er konnte nicht weiterreiten, stieg von der Stute, ließ sie in das Feld laufen und wollte einen Weg suchen. Inzwischen kroch der Drache aus seiner Höhle, um zu fressen, und kam gerade dorthin, wo die Stute war. Als der Wolf sah, daß der Drache die Stute fressen wollte, kam er und erschreckte sie so, daß sie aus Leibeskräften davonrannte und dem Drachen so entkam. Der Drache fraß und kehrte in seine Höhle zurück. Da kam der Hase zu dem Burschen gelaufen und zeigte ihm die Felsspalte, in der der Drache die Zarentochter versteckt hielt. Der Bursche klopfte mit der Keule an die Felswand, und da erschien die Zarentochter auch schon und sagte: „Lauf fort, sonst wird dich der Drache fressen!“ Da holte der Bursche zum Schlag aus, und als er mit der Keule gegen die Wand donnerte, zerbrach sie. Die Zarentochter fiel ihm um den Hals und bat ihn, sie zu Vater und Mutter zu bringen. Inzwischen hatte der Drache den Kopf in den Spalt gesteckt und wollte den Burschen fressen. Da griff der Bursche zur Keule, und als er sie auf den Kopf des Drachen hatte niederdonnern lassen, lief diesem das Gehirn aus. Er schnitt dem Drachen die Zunge ab und steckte sie in die Tasche. Unterdessen hatte der Drache den zweiten Kopf hereingesteckt. Der Bursche zerschmetterte 111
auch den und schnitt die Zunge ab. Auf diese Weise zerschlug er dem Drachen alle zwölf Köpfe. Die Zarentochter war froh, daß ein solcher Rekke gekommen war und den bösen Drachen umgebracht hatte. Der Bursche gefiel ihr, und sie versprach, ihn zu heiraten, wenn er sie zu Vater und Mutter bringen würde. Und um zu zeigen, daß sie es ehrlich meinte, zerriß sie ein Tuch und gab dem Burschen eine Hälfte davon. Der Bursche steckte das Tuch in die Tasche und legte sich schlafen, denn er war durch den Kampf mit dem Drachen sehr müde geworden. Der Bursche schlief seinen Reckenschlaf und fühlte nicht, daß eine Gefahr nahte. Inzwischen waren nämlich auch die anderen Recken dorthin gekommen, hatten die Zarentochter gesehen und sie gefragt, wie alles war. Sie erzählte alles, wie es war, und sagte, daß sie den Burschen heiraten wolle. Da wurden die Recken auf den Burschen neidisch, ritten zu ihm und töteten ihn im Schlafe. Dann fingen sie an sich zu streiten, wer die Zarentochter bekommen sollte. Lange zankten sie sich, und schließlich schlugen sie sich so lange, bis einer den anderen erschlagen hatte. Es blieb nur einer von ihnen am Leben, der Größte und Geschickteste. Der zwang die Zarentochter, ihrem Vater und ihrer Mutter zu sagen, daß er den Drachen getötet und sie aus der Gefangenschaft befreit habe. Da konnte sie nichts machen, sie mußte einwilligen, denn ihr geliebter Bursche war ja nicht mehr am
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Leben. Da setzte der Recke die Zarentochter auf sein Pferd und brachte sie zum Zaren. Inzwischen lief der Hase zur Quelle, holte in einem Kännchen Lebenswasser und spritzte es dem Burschen in die Augen. Da wurde dieser wieder lebendig und wachte auf. Er sah, daß die Zarentochter nicht mehr da war, erriet, daß hier eine böse Sache geschehen war und begann vor Ärger fast zu weinen. Er wollte schnell zum Zaren laufen und ihm die Wahrheit erzählen, aber natürlich, er konnte zu Fuß nicht so schnell fort. Unterdessen war der Wolf durch den Wald gelaufen und hatte die Stute gefunden. Er schreckte sie auf und sprang zurück. Der Bursche setzte sich auf die Stute und ritt zum Zaren. Als er dorthin kam, wurde schon alles zur Hochzeit vorbereitet. Er ging zu dem Zaren und erzählte ihm die ganze Wahrheit. Der Zar glaubte ihm nicht und fragte die Tochter. Aber diese sagte nur das, was ihr der Recke zu sagen befohlen hatte. Da befahl der Zar, den Burschen wegen Verleumdung zu erhängen. Und erst jetzt fragten sie ihn, wer er sei.“ „Ich bin der ‚Recke ohne Beine’“ antwortete er, „aber mehr sage ich euch nicht.“ Da führten sie diesen „Recken ohne Beine“ zum Galgen. Die Zarentochter ging im Garten spazieren. Der Bursche sah den Hasen am Zaun sitzen, zog das Tuch aus der Tasche und warf es dem Hasen hin. Der Hase ergriff das Tuch und lief zur Zarentochter. Die sah es und erstarrte fast. 113
„Was ist dir?“ fragte der Zar. Da warf sie sich ihrem Vater zu Füßen, erzählte die ganze Wahrheit und bat ihn, den Burschen nicht aufhängen zu lassen, da er sie vom Drachen befreit habe. Da befahl der Zar, den Burschen nicht aufzuhängen, sondern in den Palast zu bringen. Als er mit seiner Tasche kam und dort stand, fragte ihn der Zar, wie denn nun alles gewesen sei. Er erzählte alles, wie es gewesen war. Aber der andere Recke sagte, daß das nicht stimme. Da zog der „Recke ohne Beine“ die Drachenzungen aus der Tasche und fragte: „Und was ist das?“ Da wurde der andere Recke ganz verwirrt, und die Zarentochter zeigte dem Vater beide Hälften des Tuches. Da glaubten es alle. Der unehrliche Recke wurde gehängt, und der „Recke ohne Beine“ heiratete die Zarentochter und wurde Herrscher des halben Zarenreiches. Sie feierten eine fröhliche Hochzeit. Ich war auch dort und habe Met getrunken. Der ist mir den Bart heruntergelaufen, aber nicht in den Mund hinein.
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5 Kosak Michailo Vor langer, langer Zeit lebte einmal ein alter Mann mit seiner Frau in einer Hauptstadt. Das war, sagen wir einmal, entweder in Kiew oder in Moskau. Sie waren schon über die Siebzig hinaus und hatten keine Kinder. Einmal fuhr der Alte in den Wald, um Holz zu fällen. Nachdem er einen Baum gefällt hatte, begann es stark zu schneien, und bald war er über und über mit Schnee bedeckt. Und während er weiter fällte, bedeckte es ihn immer mehr, denn es fiel starker Schnee. Er dachte nach und begann sich zu bekreuzigen. „Herrgott, wie bin ich unglücklich!“ sagte er. „Ich habe keine Diener und keine Mittel. Ich wollte Holz fällen, und da ist ein solcher Schneesturm gekommen, daß ich nicht weiterarbeiten kann.“ Der Schneesturm ließ etwas nach, der Alte zerkleinerte das Holz mit dem Beil und legte es auf den Schlitten. Dann fuhr er davon. Wie er so fuhr, sah er am Wege einen trockenen Baumstumpf. Er hielt das Pferd an und sagte: „Nun ja, ich werde von diesem Baumstumpf auch noch etwas abhakken.“ Er ging näher heran und schlug mit dem Beilrücken dagegen. Es flog etwas Schnee herum. Plötzlich war das Schreien eines Kindes zu hören.
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Er bekreuzigte sich und sagte: „Herrgott! Was höre ich? Oder bilde ich mir das nur so ein?“ Da schlug er noch einmal gegen den Baumstumpf und hörte nun wieder die Kinderstimme. Jetzt werde ich den Baumstumpf roden, dachte er und begann rundherum zu graben. Als er rundherum alles abgerodet hatte, fand er ein kleines Kind in dem Baumstumpf. Der Alte zog seinen Pelz aus und wickelte das Kind darin ein. Er legte es auf den Schlitten und brachte es in seine Wohnung. Die Frau war froh, daß er endlich gekommen war, und sagte: „Das war ja ein furchtbarer Schneesturm, und du warst im Walde!“ Er antwortete: „Bete zu Gott! Ich habe etwas gefunden und weiß selbst nicht, woher es ist.“ „Was hast du denn gefunden?“ „Da“, sagte er, „ein Kind!“ Er brachte den Pelz mit dem Kind herein. Die Frau schien sich zu freuen, und dann begann sie zu Gott zu beten. Schließlich sagte sie: „Gott hat es uns gegeben. Aber was sollen wir mit ihm anfangen? Wie können wir das erfahren?“ „Du leg dich auf den Ofen, Alte, und lege das Kind neben dich. Ich werde zu einem Kaufmann aus der ersten Gilde gehen, zu Komarow, er soll uns seine Mutter als Kinderfrau für das Kind geben!“ Er ging zu dem Kaufmann und sagte: „Sei gegrüßt, Kaufmann!“ „Sei gegrüßt, sei gegrüßt, Großväterchen Bobik. Was hast du uns Gutes zu sagen?“ 116
„Ja, Herr Kaufmann, ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen werden. Meine Frau hat einen Sohn geboren. Ich bitte Sie, wenn Sie erlauben, uns Ihre Mutter zu geben, um dieses Kind, meinen Sohn, zu warten.“ Der Kaufmann lachte den alten Mann aus und sagte: „Ach Großvater Bobik! Du mußt irgendeinen Betrug mit mir vorhaben. Nicht nur mit mir, sondern auch noch mit meinem Mütterchen. Ich weiß doch selbst, daß Ihr älter als siebzig Jahre seid und Eure Frau auch und daß Ihr keine Kinder gehabt habt. Jetzt aber sagt Ihr, daß Euch ein Sohn geboren ist. Ich verstehe, Großväterchen, ihr lebt in Armut, und ich bin ein Kaufmann. Wenn das mit dem Kinde stimmt, so werde ich dir hundert Rubel geben, aber wenn es nicht stimmt, wie willst du dich dann vor mir und meiner Mutter für das falsche Wort verantworten, Großväterchen?“ „Ich werde mich verantworten. Ich würde sogar auf meine alten Jahre meinen Kopf dafür geben, daß ich kein falsches Wort spreche.“ Der Kaufmann befahl, die Pferde vor die Kutsche zu spannen, ließ den Großvater und seine Mutter einsteigen und zum Hause des Großvaters fahren. Er hatte seiner Mutter hundert Rubel gegeben und gesagt: „Wenn sie ein Kind haben, dann gib dem Großvater die hundert Rubel. Wenn sie aber keines haben, dann bring den Großvater zu mir und komme auch selbst mit!“ Nun, sie kamen an. Die alte Mutter sah, daß dort ein Sohn geboren war. So blieb sie. Die Frau schickte ihren Mann zu einem Kaufmann, um des117
sen Tochter zur Taufe zu bitten. Der Alte ging. Er kam zu dem Kaufmann und sagte: „Seid gegrüßt, Herr Kaufmann!“ „Sei gegrüßt, sei gegrüßt, Großväterchen Bobik! Was hast du uns Gutes zu sagen?“ „Ja, meine Alte hat einen Sohn geboren. Ich bin um Eure Tochter Lisbeth gekommen, damit sie bei meinem Sohn Taufmutter ist!“ Der Kaufmann wunderte sich und lachte, ging zu seiner Familie und zu seiner Tochter Lisbeth und sagte, daß der Alte gekommen sei: „Damit du, meine Tochter Lisbeth, Taufmutter wirst!“ Da ging die ganze Familie des Kaufmanns zu dem Großväterchen und auch die Tochter. Sie schauten sich das Großväterchen an, und der Kaufmann sagte: „Nein, Großväterchen, du willst dich wohl über meine Tochter lustig machen. Wie willst du dich verantworten, Großväterchen?“ „Ich werde meinen Kopf dafür geben, wenn mein Wort falsch war.“ „Lisbeth, ich gebe dir hundert Rubel, dann fahr los!“ Er ließ ein Paar Pferde vor die Kutsche spannen und schickte seine Tochter zu dem Alten. Er hatte gesagt: „Wenn dort ein Mensch geboren ist, wenn diesem Großväterchen ein Sohn geboren ist, dann gib diese hundert Rubel, Lisbeth! Haben sie jedoch kein Kind, dann komme wieder zurück zu mir!“ Sie kamen an. Lisbeth sah, daß ein Sohn geboren war und daß die Alte ihn wartete. Da blieb sie auch, die Tochter des Kaufmanns. 118
„Nun fahre zu dem und dem Kaufmann“, sagte die Frau zu ihrem Mann, „damit er seinen Sohn als Taufvater für unser Kind gibt.“ Der Alte ging. Er kam zu dem Kaufmann. Der Kaufmann kam heraus. „Sei gegrüßt!“ „Sei gegrüßt, Großväterchen Bobik! Weshalb bist du gekommen, Großväterchen?“ „Ich bin zu Euch gekommen, um Euren Sohn Wassil zur Taufe zu bitten, weil mir ein Sohn geboren ist!“ Der Kaufmann wunderte sich, lachte und sagte zu dem Großvater: „Ach, Großväterchen, wie kann das sein? Du willst dich über meinen Sohn lustig machen. Ich weiß doch, daß du und deine Alte, daß ihr über siebzig Jahre seid und daß ihr keine Kinder gehabt habt!“ Der Kaufmann ging und erzählte seiner Familie, vor allem seinem Sohn Wassil, daß ein alter Mann gekommen sei und ihn als Taufvater erbitte. Da wunderte sich die Familie nicht wenig. Der Kaufmannssohn Wassil kam heraus und auch der Herr Kaufmann selbst. „Großväterchen, wie willst du dich verantworten?“ „Ich gebe meinen Kopf dafür!“ Da sagte der Kaufmann: „Mein Sohn, ich gebe dir hundert Rubel und befehle dir, ein Paar Pferde anzuschirren und mit dem Großväterchen zu fahren. Wenn ihm ein Sohn geboren wurde, dann gib ihm die hundert Rubel, aber wenn nicht, dann komm zurück zu mir und bringe auch das Großväterchen mit!“ 119
Wassil, der Kaufmannssohn, kam an und sah die Alte als Kinderfrau und die Kaufmannstochter Lisbeth als Gevatterin dasitzen. So blieb er auch. Die alte Mutter wartete das Kind, und sie beteten zu Gott. Dann nahm die Tochter Lisbeth das Kind und fuhr mit Wassil zum Popen, und der fragte: „Wessen Kind ist das?“ „Das Kind ist von den und den alten Leuten!“ antworteten sie ihm. „Ach nein, das muß irgendein anderes Kind sein, und ihr sagt mir, daß es von den und den Alten ist. Lisbeth und Wassil, womit wollt ihr mir bürgen, wenn ich dieses Kind taufe und euch zu Taufeltern mache?“ Da sagten sie: „Wir legen Euch je hundert Rubel hin, Väterchen. Ihr wißt, wer wir sind, und könnt uns finden, wenn etwas ist. Aber womit werdet Ihr uns bürgen, Väterchen?“ „Ich werde auch hundert Rubel hinlegen.“ Der Pope nahm hundert Rubel heraus und legte sie hin. „Nun gib auch du deine hundert Rubel, Wassil“, sagte er, „und auch du, Lisbeth! Gebt sie dem Kirchenältesten in die Hand. Wenn alles stimmt, soll der alte Mann das Geld bekommen.“ Der Kirchenälteste nahm das Geld, und der Pope begann in seinem Buch nach einem Namen für das kleine Kind zu suchen. Er fand für ihn den Namen Kosak Michailo. Dann las er ein Gebet, Wassil und Lisbeth unterschrieben und fuhren in die Wohnung des Großväterchens. Dort feierten sie die Taufe. Dieses Kind, Kosak Michailo, wuchs nicht in Jahren, sondern in Stun120
den. Am dritten Tage nach seiner Taufe begann es schon zu sprechen und bat seinen Vater: „Gebt mich in die Schule zum Lernen!“ Der Alte freute sich sehr darüber und wurde froh und munter, weil sein Sohn so schnell wuchs. Er fragte ihn: „In welche Schule soll ich dich geben?“ Der Sohn antwortete mit Reckenstimme: „Gebt mich in die Gouvernementsschule.“ Der Alte wurde sehr traurig, als er das hörte, und sagte: „Ach du mein Sohn, Kosak Michailo! Ich würde dir doch raten, in die Gemeindeschule zu gehen.“ „Väterchen und Mütterchen“, sagte Kosak Michailo, „warum soll ich in die Gemeindeschule gehen, wenn ich mehr weiß, als ich in der Schule lernen kann!“ Der Alte antwortete ihm: „Nun, Gott mit dir, so geh, wenn sie dich annehmen!“ Kosak Michailo stellte sich mit eigener Hand einen Geburtsschein aus. Er schrieb auf, an welchem Tage er geboren war, an welchem Tage getauft, wer seine Kinderfrau war, wer seine Taufmutter und sein Taufvater ist, von wem er geboren wurde (aber er ist ja nicht geboren worden, er wurde ja eigentlich im Baumstumpf gefunden) und in welcher Gemeinde. Er ging und gab diesen Geburtsschein dem Gouvernementsinspektor, ganz allein mit eigener Hand. Der Inspektor wunderte sich und sagte: „Herrgott, ich arbeite schon lange in diesem Beruf und habe viel kennengelernt, aber mir ist es noch 121
nicht passiert, daß einer an dem und dem Tage geboren wurde, noch so klein ist und schon alles versteht.“ Und er nahm ihn dann in die Gouvernementsschule auf. Kosak Michailo lernte zwei Tage, dann ging er zu allen Lehrern. „Ach, meine Herren!“ sagte er. „Ihr habt doch nie in meinen Schulaufgaben einen Fehler gefunden!“ Die Lehrer verstanden und sagten: „Wirklich, Kosak Michailo, du hast recht mit dem, was du uns ins Gesicht sagst. Du verstehst mehr als wir!“ Das sagten sie ihm schon selbst. Am dritten Tage entließen sie ihn aus der Schule und gaben ihm von sich aus ein Zeugnis mit, daß Kosak Michailo alles gut und ausgezeichnet wisse. Kosak Michailo kam zu seinem Vater und zu seiner Mutter und sagte: „So, jetzt habe ich schon die Gouvernementsschule hinter mir!“ Da freuten sie sich, der Alte und die Alte. „Und jetzt beabsichtige ich, in die Schule zu gehen, wo die Söhne der Herrscher und die Fürstensöhne lernen und wo es keine niedrigeren gibt als Generalssöhne!“ Da wurde dem Alten ganz anders, und die Alte weinte und sagte zu ihm: „Du bist unser Sohn und wirst uns doch nicht begraben! Ich sehe schon, du lernst noch nichts Rechtes.“ Kosak Michailo aber antwortete mit Reckenstimme: „Wie könnt ihr sagen, daß ich euch verlassen und nicht begraben werde. Ich werde immer euer Sohn sein und euch auch begraben.“ Er 122
übernachtete dort und ging dann fort. Er kam in die Schule und gab dem Inspektor das Zeugnis aus der Gouvernementsschule. Der Inspektor las es durch und wunderte sich. „Ach“ – sagte er – „ich habe noch nicht gehört, daß wir schon mal einen solchen Schüler hatten. Ich weiß nicht, aber ich muß ihn annehmen!“ So kam Kosak Michailo in die Schule und begann zu lernen. Wozu die Zarensöhne und die Söhne der Fürsten und Generäle fünf Jahre brauchten, das lernte er an einem Tage. Die Lehrer befahlen Kosak Michailo, den Zaren-, Fürstenund Generalssöhnen die Aufgaben abzuhören. So begann er sie abzuhören. Als man sie zum Mittagessen gehen ließ, fingen zwei Zarensöhne an ihn zu ärgern, und die Fürstensöhne auch und die Generalssöhne, und so fielen alle über ihn her. Da überlegte er und sagte lachend: „Ach ihr, ihr seid Schüler und müßt lernen. Ich befolge doch nur die Anweisungen.“ Ein Zarensohn warf mit einem Stein nach ihm und traf ihn. Ein anderer traf auch. Da nahm auch ein Fürstensohn einen Stein und warf damit, und er traf ebenfalls. Ein Generalssohn warf auch. Damit kränkten sie Kosak Michailo sehr, aber er verzieh ihnen das Werfen. „Freunde, ich will euch verzeihen, aber ich erlaube nicht, daß ihr weiter nach mir werft!“ Der älteste Zarensohn aber lachte und sagte: „Ach du, was kannst du uns schon tun? Wir können mit dir machen, was wir wollen!“ Sie fingen wieder an nach ihm zu werfen. 123
Da nahm Kosak Michailo dem ältesten Zarensohn den Hut ab, hob mit der anderen Hand ein dreistöckiges Haus an und legte den Hut unter das Haus. Da liefen alle fort. Er ging in seine Wohnung und aß Mittag. Der Zarensohn beschwerte sich bei seinem Vater, daß irgend so ein Untertan ihm den Hut mit der einen Hand abgenommen, mit der anderen ein dreistöckiges Haus hochgehoben und den Hut unter das Haus gelegt habe. Der Zar befahl seinem Adjutanten, Kosak Michailo durch einen Gendarmen holen zu lassen. Der Gendarm fand ihn nicht in der Wohnung. Er fand dort nur die beiden Alten. „Ach ihr“, sagte er, „wo habt ihr euren Sohn hingehen lassen, was habt ihr ihn nur tun lassen?“ Der Alte und die Alte begannen vor dem General des Herrschergefolges zu weinen: „Euer Wille geschehe: Macht mit uns, was Ihr wollt, ebenso auch mit ihm! Was wir ihm auch immer sagen, er hört nicht auf uns. Er geht doch wohin er will.“ „Ihr habt ja recht, ihr Alten, ihr tut mir leid, ich habe eure Worte mit Interesse gehört, aber mit eurem Sohn wird nach dem Gesetz verfahren. Er wird auch nicht mehr in die Schule für die Generalssöhne gehen dürfen.“ Vom Inspektor wurde angeordnet, daß alle Schüler um fünf Uhr abends zum Unterricht kommen sollten und ebenso auch Kosak Michailo. Als er um diese Zeit dorthin kam, fielen sie wieder auf die gleiche Weise über ihn her. Er sagte zu ihnen: 124
„Ach Brüder, so solltet ihr nicht mit mir umgehen! Wenn ihr etwas freundlicher zu mir wäret, würde ich euch den Hut zurückgeben!“ Sie trieben es aber noch schlimmer. Da ärgerte sich Kosak Michailo und sagte: „Ach, Herrgott, es muß also sein, jetzt ist mir alles egal!“ Er schlug den älteren Zarensohn mit dem kleinen Finger und tötete ihn gleich. Dann ging er zum Unterricht und erklärte dem Inspektor: „Ich konnte es nicht mehr aushalten, dauernd fielen meine Schulkameraden über mich her. Da habe ich ihnen einen kleinen Denkzettel gegeben. Ich nahm einem Zarensohn den Hut ab und legte ihn unter ein dreistöckiges Haus. Ich wollte den Hut zur Unterrichtsstunde wieder zurückgeben. Aber weil sie mich so geärgert haben, da habe ich den älteren Zarensohn nur mit dem kleinen Finger gestoßen. Ich wollte es gar nicht. Ich wußte nicht, daß mir das passieren würde. Als ich mich umsah, war er schon tot!“ „Oh, Kosak Michailo, da hast du ja etwas Böses angerichtet!“ „Was sollte ich tun? Das muß mein Schicksal sein! Wenn man mich zur Rechenschaft zieht, werde ich mich verantworten! Euch aber danke ich, daß ich bei Euch lernen durfte!“ Er kam zu seinem Vater und zu seiner Mutter und sagte: „Ach, gebt mir zu essen! Dann werdet ihr mich fünfzehn oder zwanzig Jahre oder überhaupt nicht mehr sehen.“ Die beiden Alten begannen laut zu weinen.
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„Ach, Väterchen und Mütterchen, ihr sollt nicht weinen“, sagte er zu ihnen, „denn ihr lebt nur noch drei oder sechs Tage in dieser Hütte oder vielleicht noch nicht einmal so viel. Dann aber werdet ihr zusammen mit dem Zaren essen und trinken, und Diener werdet ihr genauso haben wie der Zar!“ Der Alte und die Alte wurden wieder froh und beteten zu Gott: „Dank dir, Herr, daß du uns das gegeben hast!“ Kosak Michailo blieb in der Hütte. Plötzlich zog ein gewaltig großes Heer heran, um Kosak Michailo zu holen und ihn auf Befehl des Zaren zum Gericht vor den Senat zu bringen. Da ging Kosak Michailo hinaus und sagte: „Ach, ihr Herren von der Kavallerie. Ich habe es nicht aus böser Absicht getan, aber weil sie mich so schlecht behandelten, mußte ich mich verteidigen! Geht nur, Brüder, ich komme schon mit!“ Und er ging. Er ging allein in den Senat und sagte zu dem Diensthabenden, dem Leiter der Wache, daß er dieses und dieses Verbrechen begangen habe. Der Leiter der Wache wußte davon nichts und fragte: „Wie ist dir denn das passiert, Bruder?“ Da begann er zu erzählen. „Was denn, Bruder, und da kommst du selbst her? Du solltest lieber spazierengehen, es wird dir schon noch über werden, im Gefängnis zu sitzen!“ Da kam der Zar selbst, und Kosak Michailo verneigte sich. Der Zar sagte: „Du bist ein toller Kerl,
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Kosak Michailo. Hast meinen eigenen Sohn erschlagen!“ Kosak Michailo antwortete: „Nun, dann verurteilt mich, weil ich ihn getötet habe!“ Die Richter kamen zur Verhandlung zusammen. Der Zar befahl, die Verhandlung in drei Stunden abzuschließen. Das geschah auch. Der Zar hatte sieben Werst von der Stadt entfernt ein Badehaus. Viele Teufel, wie es schlimmere auf der Welt kaum gibt, trieben dort ihr Unwesen. Kosak Michailo sollte dorthin geschickt und drei Tage in diesem Badehaus eingeschlossen werden. Sie hatten beschlossen, ihn dorthin zu bringen, und setzten ihn in einen eisernen Wagen. Viele Soldaten mit blanken Schwertern gingen neben dem Wagen her. So brachte sie ihn zu dem Badehaus, schoben ihn hinein und verschlossen die Tür mit den stärksten Schlössern, die es gibt. Kosak Michailo setzte sich. Die Soldaten waren vielleicht gerade zwei Werst gegangen oder vielleicht auch nicht mehr als eine, als aus dem kleinen Badehaus ein fünfstöckiges Haus wurde. Kosak Michailo ging durch eine Etage, durch die zweite und spazierte in dem ganzen Haus herum. Es war alles für ihn da, verschiedene Speisen und Getränke. Er ging hinaus auf die Treppe, gerade als die Sonne unterging. Da kamen ein paar Bettler. Er sprach sie an und lud sie ein, in seinem Haus zu übernachten. „Ach, ihr armen Bettler, ich lade euch zu mir ein. Ich bin ganz allein im Hause, dann ist es nicht 127
mehr so langweilig für mich!“ Die Bettler traten bei ihm ein. Er stellte ihnen die gleichen Speisen hin, die er selbst auch aß, und die gleichen Getränke, die er selbst auch trank. Die Bettler aßen und sagten zueinander: „Solange wir leben und durch die Welt wandern, haben wir so eine Bewirtung noch nie erlebt!“ Sie aßen Abendbrot, beteten zu Gott und legten sich schlafen. Am anderen Morgen standen sie früh auf und wollten sich auf den Weg machen. Da trat Kosak Michailo zu ihnen und fragte sie: „Wo wart ihr und was habt ihr gehört? Habt ihr nicht irgend etwas Neues gehört und gesehen?“ „Ach, lieber Herr, gesehen haben wir nichts, aber wir haben gehört, daß in unserem Zarenreich ein Kosak Michailo geboren ist. Der soll den Zarensohn getötet haben, und man hat ihn deshalb in ein Badehaus gesteckt, wo alle Teufel hausen. Sie haben ihn in das Badehaus hineingestoßen und zugeschlossen, und so sitzt er nun dort!“ „Ja, ihr armen Herren, mir ist auch, als hätte ich schon davon gehört. Nun, geht mit Gott!“ Wieder verbrachte er einen Tag in dem Haus. Er ging durch eine Etage, durch die zweite und spazierte im ganzen Haus herum. Es war alles für ihn da: verschiedene Getränke und verschiedene Speisen. Er trat auf die Treppe hinaus. Als die Sonne unterging, sah er ein paar alte Bettler daherkommen und lud sie ein. „Ach, ihr Bettler, zur Nacht geht ihr in die Stadt. Ihr müßt doch wissen, daß man in der Nacht schlecht in einer Stadt unterkommt. 128
Kommt nur zu mir herein und übernachtet bei mir!“ Die Bettler blieben stehen und traten ein. Er gab ihnen zum Abendbrot zu essen, was er selbst auch aß. Sie aßen und sagten zueinander: „Solange wir auf der Welt leben, haben wir solche Speisen, wie man sie uns hier gegeben hat, noch nicht gegessen!“ So aßen sie Abendbrot, beteten dann zu Gott und legten sich schlafen. Am Morgen standen sie auf, beteten und wollten sich wieder auf den Weg machen. Da trat Kosak Michailo zu ihnen und fragte: „Ach, ihr Herren Bettler, wo wart ihr überall, und was habt ihr gehört? Habt ihr nicht irgend etwas Neues gehört oder gesehen?“ Da antworteten ihm die Bettler: „Ach, gesehen haben wir nichts, aber gehört haben wir etwas. In irgendeinem Zarenreiche, in irgendeinem Staate, nicht gerade in dem, in dem wir leben, gibt es ein seltsames Stück Brachland. Es pflügt sich selbst, wird mit Hirse bestellt, und um Mitternacht kommt ein Pferd und frißt die Hirse auf. Mehr wissen wir auch nicht!“ „Ach, ich danke euch, ihr Herren Bettler. Was ihr mir gesagt habt, sind gute Nachrichten. Nur, wie kann ich dieses Pferd bekommen?“ Die Bettler bedankten sich und gingen fort. Kosak Michailo ging durch das Haus, erfreute sich an ihm, ging durch eine Etage, durch eine andere, überhaupt durch das ganze Haus. Er trat auf die Treppe hinaus, als die Sonne unterging. Da kamen noch zwei Bettler. Er rief ihnen 129
zu: „Ach, ihr armen Bettler, gegen Abend geht ihr in die Stadt! Dort läßt man euch nicht ein zur Nacht. Kommt zu mir und übernachtet bei mir!“ Sie traten ein, und er stellte ihnen Abendbrot hin, dasselbe, was er auch aß. Sie aßen und sagten zueinander: „Soviel wir auch durch die Welt gewandert sind, solch ein Essen haben wir noch nicht bekommen.“ So aßen sie Abendbrot, beteten dann zu Gott und legten sich schlafen. Am Morgen standen sie früh auf, beteten und wollten sich auf den Weg machen. Kosak Michailo trat zu ihnen, und sie dankten ihm für das Nachtlager: „Wir danken Euch für das Nachtlager, lieber Herr. Solange wir auch umhergezogen sind, solche Bewirtung haben wir noch nirgends erhalten!“ Da sagte er zu ihnen: „Ach, ihr armen Bettler, wo seid ihr gewesen und was habt ihr gesehen? Habt ihr nicht irgend etwas Neues gesehen oder gehört?“ „Gesehen haben wir nichts, aber gehört haben wir etwas. In irgendeinem Zarenreiche, in irgendeinem Staate, nicht gerade in dem, in dem wir leben, wohnt eine Zarentochter, eine preußische Königstochter, eine große Schönheit, die niemand an sich heranläßt. Sie ist sehr stolz auf ihre Schönheit, und ihr Vater hält sie unter strenger Bewachung. Er hat ein Haus für sie bauen lassen mit einer hohen starken Mauer darum, so daß niemand darübersteigen kann und auch nicht mit dem Pferd hinüberkommt!“
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„Ich danke euch, ihr Armen! Eure Nachricht ist mir sehr recht. Ich möchte das Mädchen gern zur Frau haben!“ „Nun danken wir Euch, lieber Herr!“ „Geht mit Gott!“ Kosak Michailo lebte nun in seinem Haus weiter. Da erinnerte sich der Zar an ihn und schickte drei Arbeiter zu ihm. Dem einen gab er einen Besen, dem anderen eine Schaufel und dem dritten einen schmutzigen Sack und befahl ihnen, die Knochen zusammenzufegen und dort hinzuschütten, wo wenig Leute vorbeigehen. Sie gingen also los und suchten das Badehaus. Als sie, wie es befohlen war, sieben Werst von der Stadt entfernt waren, sagten sie zueinander: „Wohin sollen wir denn noch gehen?“ Der zweite sagte: „Es muß aber hier sein!“ Der dritte meinte: „Dieses Haus war früher nicht hier!“ Kosak Michailo hörte das, trat zu ihnen heraus und fragte: „Was wünscht ihr, meine Herren? Wer hat euch geschickt und wozu, und was könnt ihr nicht finden?“ Sie erschraken sehr und fragten sich, was das für ein Herr wäre. Er wiederholte: „Sagt nur, was ihr sucht! Vielleicht weiß ich es!“ „Ach nein“, sagten sie, „das wißt Ihr nicht!“ „Vielleicht weiß ich es doch!“ „Hier war früher ein Badehaus, in dem alle Teufel ihr Unwesen trieben. Ein Kosak Michailo war hier eingesperrt worden, weil er den Zarensohn 131
getötet hatte. Uns hat man nun hergeschickt, um die Knochen herauszuholen und dorthin zu bringen, wo niemand vorbeigeht!“ „Geht und sagt dem, der euch geschickt hat, daß Kosak Michailo lebt. Der Zar soll mir eine Keule von hundert Pud Gewicht mit zwei Zoll Silber darauf schmieden lassen, und sie soll aus weichem Eisen sein, genau so wie es das Badehaus war.“ Da gingen sie fort von ihm und berichteten das ihrem Vorgesetzten, der sie geschickt hatte. Dieser schrieb augenblicklich ein Protokoll für den Herrn Zaren. Kosak Michailo lebe und verlange vom Zaren eine Keule von hundert Pud Gewicht mit zwei Zoll Silber darauf. Der Zar wurde wütend, weil nicht der Richtige mit dieser Aufgabe betraut worden war und weil alles so ausgegangen war, ließ dann aber doch seinen Schmieden Anweisung geben. Sein Adjutant mußte einen strengen Befehl schreiben und ihn dem Chef der Stadtpolizei übergeben. Der Chef der Stadtpolizei holte die besten Schmiede seiner Stadt zusammen und fragte diese: „Hört, Brüder, könnt ihr an einem Tag eine Keule von hundert Pud Gewicht mit zwei Zoll Silber darauf schmieden?“ Die Schmiede sagten: „Wir befolgen Euren Befehl und werden ihn ausführen.“ Sie schmiedeten die Keule in einem halben Tag und brachten sie dem Polizeichef. Dieser übergab sie dem Zaren. Der Zar befahl, sie Kosak Michailo zu bringen, und schickte seinen Adjutanten mit den Arbeitern los. „Bringt sie hin und gebt sie ihm und bittet ihn zum Tee in mein Haus!“ 132
Der Adjutant machte sich mit den Arbeitern auf den Weg und brachte die Keule hin. Kosak Michailo kam heraus. Der Adjutant fiel vor ihm auf die Knie und sagte: „Sei gegrüßt, Kosak Michailo!“ Dann erklärte er, daß ihn der Zar unbedingt zum Tee erwarte. Kosak Michailo antwortete: „Ach, Brüder, vielleicht lade ich den Zaren als Gast zu mir ein.“ Er nahm die Keule in die rechte Hand und ging hinaus ins freie Feld. Dort warf er sie mit großem Schwung hinauf in den Himmel, setzte sich wieder und wartete eine Stunde, eine zweite und schaute hinauf. Jetzt kam die Keule geflogen. Er hielt den kleinen Finger hin, und sie zerfiel in zwölf Teile. Da kam er zum Adjutanten: „Geh und fahre zu deinem Herrn! Wenn du mir nicht glaubst, geh, sammle die Splitter zusammen, in die die Keule zerfallen ist! Ich hatte euch gebeten, mir eine Keule aus weichem Eisen zu machen. Ihr aber habt sie aus Töpfererde zusammengeschustert! Fahre zum Zaren und sage ihm, er soll mir eine Keule von zweihundert Pud schmieden lassen und aus dem gleichen Eisen, wie das Badehaus war, mit vier Zoll Silber darauf!“ Der Adjutant antwortete: „Zu Befehl, Kosak Michailo!“ und fuhr los. Er kam zum Zaren und berichtete. Der Zar gab dem Adjutanten neue Befehle. Die alten Schmiede sollten verhaftet werden und andere eine neue zweihundert Pud schwere Keule aus weichem Eisen machen mit vier Zoll Silber darauf.
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Der Adjutant fuhr mit den Befehlen los und gab dem Polizeichef folgenden Auftrag: „Holt die besten Schmiede, auf die Ihr Euch am meisten verlassen könnt, zusammen!“ Der Polizeichef antwortete: „Zu Befehl, Eure Exzellenz!“ Er holte die Schmiede zusammen und sagte: „Ich gebe euch den Befehl, eine Keule aus zweihundert Pud weichem Eisen mit vier Zoll Silber darauf zu schmieden!“ „Zu Befehl!“ sagten sie. „Wir werden uns für Euch bemühen!“ Nun holten sie alles Eisen, von dem sie wußten, daß es sehr weich war, zusammen und begannen zu arbeiten. In weniger als zwölf Stunden schmiedeten sie eine Keule und brachten sie dem Polizeichef. Der Polizeichef gab sie dem Adjutanten. Der Adjutant berichtete dem Zaren. Da sagte der Zar zu dem Adjutanten: „Fahr, Bruder, du allein sollst mein Gesandter sein!“ Der Adjutant holte die Arbeiter, nahm die Keule und fuhr los. Er kam zu Kosak Michailos Haus, ließ die Arbeiter am Haus zurück, stieg die Treppe hinauf und fiel auf die Knie. Kosak Michailo schaute hinaus. „Kosak Michailo!“ rief er. „Ich habe sie gebracht!“ „Wieviel wiegt sie?“ „Zweihundert Pud.“ „Habt Ihr sie aus gutem Eisen gemacht oder aus Ton zusammengeschustert, aus dem die Töpfer Schüsseln machen?“ 134
„Der Zar bittet Euch zu sich zum Tee!“ Kosak Michailo antwortete: „Ach, Herr Adjutant, vielleicht lade ich den Zaren zu mir zum Tee ein!“ Er nahm die Keule in die rechte Hand, ging ins freie Feld und schleuderte sie in den Himmel. Dann saß er eine Stunde und zwei Stunden dort. Da sah er, wie die Keule heruntergeflogen kam. Er hielt den kleinen Finger der rechten Hand hin, die Keule fiel darauf und zerbrach in zwölf Teile. Dann ging er zum Adjutanten. „Ach“, sagte er, „wie soll ich denn zum Zaren Tee trinken gehen? Geh, und richte ihm aus, daß ich nicht hinkomme. Soll der Zar erst eine Keule von dreihundert Pud schmieden lassen, mit sechs Zoll Silber darauf und aus ganz weichem Eisen! Denkt daran, wie das Badehaus, in das Ihr mich gesperrt habt! Dann komme ich zum Zaren Tee trinken!“ Und der Adjutant fuhr los. Er berichtete dem Zaren, daß die Keule zersprungen sei und daß Kosak Michailo gebeten habe, ihm eine Keule von dreihundert Pud mit sechs Zoll Silber darauf schmieden zu lassen. Der Zar ließ dem Polizeichef durch den Adjutanten sofort den Befehl geben, die Schmiede zu verhaften und andere anzustellen. Der Polizeichef verhaftete die Schmiede und nahm andere. „Ach, Brüder“, sagte er zu ihnen, „wie wird es euch ergehen? Die anderen haben eine Gaunerei begangen, doch bemüht ihr euch, Brüder, erhaltet ihr auch eine Belohnung!“
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„Wir werden uns bemühen, Euer Hochwohlgeboren, wir werden Euren Befehl so gut wie möglich ausführen!“ Sie begannen gleich zu schmieden, und sie schmiedeten und schmiedeten einen ganzen Tag. Dann brachten sie dem Polizeichef die Keule. Der Polizeichef brachte sie dem Zaren. Der Zar schickte den Adjutanten damit fort: „Nun fahre, Bruder! Und sag ihm, daß er unbedingt meine Bitte erfüllen und zu mir kommen soll!“ Der Adjutant fuhr mit den Arbeitern los, um die Keule hinzubringen. Kosak Michailo trat heraus. „Seid gegrüßt, Adjutant!“ sagte er. „Sei gegrüßt, Kosak Michailo!“ „Nun wie ist es, habt Ihr die Keule geschmiedet?“ „Haben wir, und wenn sie Euch auch diesmal nicht gefällt, macht mit mir, was Ihr wollt!“ „Nicht doch, du bist doch der Gesandte des Zaren. Aber wo ist sie denn, die Keule?“ „Dort!“ „Laßt sie herbringen!“ Und sie brachten sie ihm. Kosak Michailo nahm die Keule in die rechte Hand, ging ins freie Feld hinaus und schleuderte sie zum Himmel hinauf. Dann saß er eine Stunde, zwei Stunden, drei Stunden und wartete. Nach der vierten Stunde kam die Keule zurück. Kosak Michailo machte das rechte Knie krumm, die Keule fiel darauf und verbog sich nur etwas. Er nahm sie, drückte sie zurecht, griff sie mit der 136
rechten Hand und schleuderte sie wieder zum Himmel hinauf. Dann wartete er wieder eine Stunde, zwei Stunden, drei Stunden, vier Stunden, und in der fünften Stunde sah er, daß die Keule ihre größte Höhe schon erreicht hatte und auf die Erde zurückkehrte. Mit ihrem stumpfen Ende grub sie eine Grube von siebzig Sashen1 Durchmesser und eineinhalb Arschin2 Tiefe. Mit dem Stiel bohrte sie ein Loch von siebzig Sashen und blieb doch ganz. Kosak Michailo nahm sie in die rechte Hand, ging zum Adjutanten und sagte: „Zarendiener, ich danke Euch, daß Ihr die Keule geschmiedet habt. Fahrt zum Zaren und sagt ihm, daß ich um neun Uhr morgens zu ihm Tee trinken komme. Vorher aber gehe ich mein Väterchen und Mütterchen besuchen. Ich will nachschauen, ob sie noch leben und gesund sind oder schon tot. Von dort komme ich dann zum Zaren!“ Der Adjutant fuhr los und kam zum Zaren. „Kosak Michailo hat mir gesagt, daß er um neun Uhr morgens zu Euch kommen wird. Vorher aber wird er noch seine Eltern besuchen, da Kosak Michailo sechs Tage nicht bei ihnen war!“ Der Zar gab seinem Adjutanten einen Befehl für alle Divisionen und Divisionskommandeure. Aus jedem Regiment sollten alle Musikanten zusammenkommen. Alle Soldaten sollten Paradeuniform 1
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Sashen – altes russisches Längenmaß = 2,13m. (Anm. d. Übers.) Arshin – altes russisches Längenmaß = 0,71 m. (Anm. d. Übers.)
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anziehen und in jeder Gasse, mit Ausnahme der, durch die niemand geht, aufgestellt werden. Die Musikanten sollten in den nahegelegenen Straßen stehen und die Kommandeure daneben. So befahl es der Zar dem Adjutanten. Der Adjutant gab den Befehl an alle Divisionschefs, diese an die Regimentskommandeure, an die Zugführer, und so ging es immer weiter. So wurden innerhalb eines Tages alle Truppen durch den strengen herrschaftlichen Befehl mobilisiert und aufgestellt. Als Kosak Michailo in die Stadt kam und man ihn bemerkte, machte man Meldung und gab diese an alle Regimenter weiter, und dann spielte die Musik einen Marsch. Die Soldaten sangen, der Heerführer trat zu Kosak Michailo, salutierte und sagte: „Sei gegrüßt, Kosak Michailo!“ „Ich danke euch für den Empfang, Brüder!“ Der Adjutant des Zaren wandte sich an ihn: „Herr Kosak Michailo, der Zar heißt Euch willkommen!“ „Ach, Bruder Zarendiener, ich hab dir doch gesagt, daß ich mein Väterchen und mein Mütterchen besuchen muß. Du hast doch Arbeiter geschickt, um meine Knochen auszufegen, und mein Wort werde ich nicht brechen!“ Kosak Michailo ging. Er kam zu seinem Väterchen und Mütterchen, sie waren am Leben, aber schwach, und hatten niemand, der ihnen in ihrem Alter helfen konnte. Er sagte: „Seid gegrüßt!“ und küßte ihnen die Hand, dem Väterchen und dem Mütterchen. Sie freuten sich und wurden gleich 138
gesund. Sie zogen ihn hinein und sagten, daß sie schon gar nicht mehr gehofft hatten, ihn lebend und gesund wiederzusehen. „Ach, Väterchen und Mütterchen, ihr macht mir Spaß. Ein ganzes Menschenleben lang habt ihr gelebt und habt wenig Verstand in eurem Kopf. Ich habe euch doch gesagt, daß ich wiederkomme. Ich habe euch doch gesagt, daß ihr euer Alter in der Zarenfamilie verbringen und auch Dienerschaft haben werdet!“ Kosak Michailo lehnte seine Keule an ihre Hütte, ging hinein und setzte sich zum Mittagessen nieder. Sie sahen, daß er Speisen aß, die sie noch nie gesehen hatten. Er lud sie zum Essen ein. Da setzten sie sich hin und aßen mit ihm. Dann beteten sie zu Gott und dankten ihrem lieben Sohn für das gute Essen. Er aber antwortete ihnen: „Ihr dankt Gott also mehr als mir. Geh, Väterchen, und hole mir meine Keule, sonst schleppt sie noch jemand weg!“ Der Alte ging hinaus, schaute sich die Keule an und bekam Angst. Er kam zurück und fragte: „Was steht denn da an meiner Hütte?“ Kosak Michailo lachte und sagte: „Ach, ich habe euch doch schon mal gesagt: Ein ganzes Menschenalter habt ihr gelebt und habt doch wenig Verstand in eurem Kopf! Das ist meine Keule, mit der ich durch die Welt reisen und mir eine Frau suchen muß!“ Der Zar konnte es gar nicht erwarten, daß Kosak Michailo mit seinem Väterchen und seinem Mütterchen zu ihm kam. Der Adjutant mußte zu 139
ihm gehen. Als Kosak Michailo ihn erblickte, trat er hinaus und sagte: „Gesandter des Zaren! Ich habe Euch doch gesagt, ich komme, also komme ich auch. Ich breche mein Wort nicht!“ Der Adjutant sagte: „Aber ich bin geschickt worden, also mußte ich fahren!“ „Nun, dann nimm mein Väterchen und mein Mütterchen, setz sie neben dich und reise mit ihnen zum Zaren. Ich komme erst in einer Stunde.“ Der Adjutant fuhr mit dem Alten und der Alten los. Er brachte die alten Leute in das Haus des Zaren und meldete dem Zaren, daß er sie auf Befehl des Kosak Michailo gebracht habe. „Ich danke dir, Adjutant, du hast dir große Verdienste erworben. War er liebenswürdig? Vielleicht kannst du sie mir auch wieder vom Halse schaffen? Aber wenn Kosak Michailo befohlen hat, sein Väterchen und sein Mütterchen zu mir zu bringen, will er wohl, daß sie bei mir bleiben!“ Der Zar begrüßte sie: „Großväterchen und Großmütterchen, wie soll ich euch nur empfangen? Ich schätze euch doch so.“ Der Zar nahm das Großväterchen an der Hand und die Zarin das Großmütterchen, sie küßten sie und führten sie in ihr Haus und ließen verschiedene Speisen kommen. Da sagten der Großvater und die Großmutter: „Eure Zarenhoheit! Wir konnten unseren Sohn wirklich nicht mit herbekommen. Wenn wir ihm etwas sagen, dann antwortet er immer: ‚Ihr habt ein Menschenalter ge-
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lebt und habt doch so wenig Verstand in eurem Kopf.’“ Dann setzten sich die alten Leute zum Essen nieder. Nach einer halben Stunde erschien Kosak Michailo im Hause des Zaren. Niemand von der ganzen Armee, die aufgestellt war, hatte ihn kommen sehen. Und er sagte: „Brot und Salz. Ganz einfach.“ Der Zar antwortete: „Ich heiße Euch zum Essen willkommen. Doch weiß ich nicht, wer Ihr seid.“ „Ich bin Kosak Michailo, der Sohn dieser alten Leute, die mit Euch speisen.“ Der Zar erschrak, fiel auf den Boden und lag dort fünf Minuten. Kosak Michailo faßte den Zaren am Arm, hob ihn hoch und sagte: „Wovor habt Ihr in Eurem eigenen Hause Angst?“ Und er, der Zar, sagte nur: „Ich sah Euch nicht kommen und weiß auch nicht, wie Ihr zu mir hereingekommen seid. Euer Wille geschehe, Kosak Michailo!“ „Nun denn, hoher Herrscher, ich verzeihe Euch, daß Ihr mich in solch ein Badehaus gesperrt habt, wo alle Teufel hausen. Ich will, daß Ihr mein Väterchen und mein Mütterchen mit denselben Speisen, mit derselben Kleidung versorgt wie Euch selbst und ihnen auch Diener gebt. Ich junger Bursche aber will hinaus in Gottes Welt gehen.“ Der Zar antwortete ihm: „Ich danke Euch für diesen kleinen Auftrag, Kosak Michailo.“ „Damit auf Wiedersehen, Eure Zarenhoheit! Ich gehe jetzt.“
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„Brauchst du etwas für den Weg? Vielleicht hast du kein Geld?“ fragte der Zar. „Ach, Eure Zarenhoheit, was fragt Ihr da? Ob ich kein Geld habe? Auf Wiedersehen! Ich gehe jetzt.“ Und damit ging er. Nun ging er also. Ein Märchen läßt sich schnell erzählen, eine Sache aber nicht so schnell tun. Er kam zu dem Hirsefeld. Die Hirse war schon reif geworden und stand so dicht wie ein Wald. Kosak Michailo schleuderte seine Keule um sich, nahm die Halme auf, wand vier Garben zusammen und stellte sie über Kreuz auf. Dann setzte er sich unter die Garben und blieb dort still sitzen. Um Mitternacht hörte er plötzlich ein Pferd. Das Pferd kam zu dem Hirsefeld und begann von der Hirse zu fressen. Es fraß sich bis zu den Garben durch, blies die Nüstern auf, schnaufte und sprach mit menschlicher Stimme: „Ei, wer ist denn hier? Ich fürchte niemanden auf der Welt außer Kosak Michailo. Kosak Michailo aber ist noch sehr jung, er kann noch nicht hier sein.“ Kosak Michailo saß schweigend da. Das Pferd wiederholte dieselben Worte und streckte dabei die Schnauze nach den Garben aus. Es fraß sie auf, und da ergriff Kosak Michailo es an der Mähne. Er sah, daß es gesattelt und geschirrt war. Kosak Michailo faßte die Zügel, das Pferd bäumte sich auf und flog gen Himmel. Kosak Michailo setzte sich in den Sattel und ritt los. Es war ein richtiger Sattel, wie er für einen Recken sein mußte. Er nahm die Keule in die rechte Hand und 142
schlug das Pferd einmal. Der Schlag tat dem Pferd weh, und es sagte mit Reckenstimme: „Ist wirklich Kosak Michailo auf mir und niemand anders?“ Und das Pferd wurde dort oben sehr müde, es fiel nieder und fuhr bis zum Rücken in die Erde hinein. Es war nur noch der Rücken zu sehen. Da kletterte Kosak Michailo heraus und sagte zu dem Pferd: „Ich hole dich aus der Erde heraus. In dem und dem Zarenreich, in dem und dem Staate gibt es eine Zarentochter, eine preußische Königstochter, eine sehr, sehr hübsche, es gibt keine schönere als sie auf der Welt. Können wir beide dorthin reiten? Weißt du, Pferd, sie wohnt dort in einem besonderen Haus. Um dieses Haus ist eine starke Mauer, so daß kaum ein Vogel hinüberfliegen kann. Können wir dort hinüber, Pferd?“ Das Pferd entgegnete: „Sag mir, wer du bist! Ich spüre, daß du Kosak Michailo sein mußt.“ Er lachte laut heraus, als das Pferd dies sagte. „Hast recht, er ist es.“ „Dann will ich dir auch sagen, daß ich über die Mauer fliegen kann. Die Zarentochter wird dich an den Händen fassen und dich in ihr Haus bitten. Du aber höre nicht auf sie, sondern zieh sie hinauf in den Sattel! Dann gib mir einen leichten Schlag, nicht so einen, wie eben!“ Da sagte Kosak Michailo zu dem Pferd: „Du hast mich, glaube ich, zu hoch hinauf getragen, doch verzeih mir das Schlagen, mein Pferd! Ich werde es nicht mehr tun.“
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Er faßte das Pferd an der Mähne, zog es aus der Erde heraus und sagte: „Nun dann, Pferd, reiten wir zur Zarentochter.“ Das Pferd erklärte ihm, daß ihr Vater auch ein Reckenpferd habe. „Ihr Vater ist ein Recke und wird uns auf seinem Pferde nachjagen.“ Da sagte Kosak Michailo: „Dank dir, Pferd, daß du mir das gesagt hast, das habe ich noch nicht gewußt. Sag mir noch mehr, Pferd! Wird mich der Vater einholen?“ „Ja“, antwortete das Pferd. „Aha, aber wird er mich besiegen?“ „Ja“, antwortete das Pferd. „Oh weh!“ Kosak Michailo erschrak und dachte daran, daß er nun in einem fremden Lande sein Leben lassen müßte. Zuerst wollte er gar nicht losreiten. Aber dann dachte er: Man wird einmal geboren und muß auch einmal sterben. „Reiten wir los, mein Pferd, Gottes Wille geschehe!“ Und sie ritten los. Sie kamen in das Zarenreich, in den Staat, wo die Zarentochter, diese preußische Königstochter, lebte. Er ritt zu dem Garten und sah die große starke Mauer. Er gab dem Pferd einen leichten Schlag, das Pferd erhob sich in den Himmel und flog über die Mauer. Als die Zarentochter, diese preußische Königstochter, sie erblickte, lief sie zum Fenster, reichte ihm die rechte Hand und fragte: „Ach, hört und staunt! Ist der kühne Bursche selbst gekommen, oder hat der Rabe seine Knochen gebracht?“
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Er packte ihre Hand, ging aber nicht in ihr Zimmer, sondern hob sie zu sich auf den Sattel. Das Pferd schien von der Zarentochter gekränkt worden zu sein, als hätte sie ihm unanständige Worte gesagt. Es flog zurück. Mit den Vorderfüßen kam es über die Mauer, doch mit den hinteren berührte es sie. Es zerbrach die ganze Mauer in kleine Teile. Die ganze Stadt lag voller Ziegel, alle Bauten, außer dem Hause des Zaren. Da wieherte das Reckenpferd in seinem Stall. Der Vater der Zarentochter war gerade beim Essen. Er ließ das Essen stehen und lief, nur im Hemd, hinaus. „Ach, du mein Reckenpferd! Du hast mir mit Reckenstimme gesagt, daß meine Tochter, die preußische Königstochter, gestohlen und entführt worden ist. Sag mir ehrlich, Pferd, können wir sie einholen?“ „Ja“, antwortete das Pferd. „Auch besiegen?“ „Ja, das können wir!“ Der Zar wandte sich an seinen Offizier, ergriff ein scharfes Schwert und jagte ihnen auf seinem Pferd nach. Er stieß auf Kosak Michailo. Kosak Michailo hatte nicht gehört, daß er ihnen nachjagte, und der Zar nahm sein scharfes Schwert und schlug Kosak Michailo den Kopf ab. Dann zog er seine Tochter zu sich auf den Sattel, nahm Kosak Michailos Pferd und ritt wieder davon. Kosak Michailo blieb tot an der Stelle liegen. Der Zar kam nach Hause und setzte sich wieder hin, um Mittag zu essen. Als er fertig war, legte er 145
sich schlafen. Die Zarentochter, die preußische Königstochter, hatte ein weiches Herz voller Mitleid. Der Vater tat ihr leid, und auch dieser Bursche tat ihr leid. Sie dachte: Vielleicht gibt es gar keinen anderen als diesen, so, wie er war? Der Zar hatte Lebenswasser und Heilwasser. Als er noch seinen Reckenschlaf schlief, als sei er von einer Reise zurückgekehrt, nahm die Zarentochter, die preußische Königstochter, ihrem Vater die Schlüssel aus der Tasche, und der Vater merkte nicht, daß sie die Schlüssel nahm. Sie ging in den Keller und nahm von dem Heil- und von dem Lebenswasser. Dann ging sie zu Fuß dorthin, wo der erschlagene Kosak Michailo lag. Sie legte seinen Kopf an die Adern, wie es sein mußte, und dann goß sie Heilwasser darauf. Da heilte gleich alles zusammen. Dann goß die Zarentochter Lebenswasser auf ihn, und er wurde lebendig, stand auf und rief: „Ach, wie fest war ich eingeschlafen!“ Er hatte alles vergessen, auch warum er gekommen war. Plötzlich sah er das hübsche Mädchen sitzen. Er fragte sie: „Seid gegrüßt, wer seid Ihr, warum sitzt Ihr bei mir?“ „Weißt du etwa nicht mehr, wer ich bin, Kosak Michailo? Ich bin die Zarentochter, die preußische Königstochter, das hübsche Mädchen, und möchte deine Frau werden.“ Er antwortete: „Ja, als du mir das sagtest, habe ich dich gleich erkannt. Wo ist mein Pferd? Ach, du mein Gott, wo soll ich es finden?“
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Er schaute in die andere Richtung. Da lag seine Keule, die richtige für ihn. Er sagte: „Ich danke Gott, daß meine Keule da ist. Vielleicht finde ich auch noch mein Pferd.“ Die Zarentochter, die preußische Königstochter, antwortete: „Auf diesem Pferde kannst du mich nicht bekommen, denn du mußt noch in Gottes Welt hinaus. Du warst schon verzaubert und getötet. Du mußt wieder in Gottes Welt gehen und leiden. Also, auf Wiedersehen!“ Sie verabschiedeten sich. „Geh mit Gott! Doch was ich dir gesagt habe, ist noch nicht alles.“ „Ich bitte dich, sag mir alles, sag mir, wohin ich gehen soll!“ „In einem Zarenreich, in einem Staate, lebt die Hexe Baba-Jaga-Eisenbein. Sie hat drei Töchter. Diese drei Töchter können sich in verschiedene Tiere verwandeln. Verding dich bei ihr und hüte ihre drei Stuten!“ Er ging los. Er hatte furchtbaren Hunger. Da lief ihm ein Wolf über den Weg. Kosak Michailo sagte zu sich selbst: „Man müßte diesen Wolf töten und essen, denn von etwas muß ich mich ja ernähren.“ Der Wolf hörte das und sprach: „Ach, Kosak Michailo, schlag mich nicht und verdirb mich nicht. Ich will dir auch helfen, wenn du in Not bist!“ Da tat ihm der Wolf leid, und er ging weiter. Er wollte zwar etwas essen, aber er ging weiter. Schnell läßt sich ein Märchen erzählen, aber nicht schnell eine Sache tun. Da lief ihm ein Hase über 147
den Weg. Er wollte ihn töten und aufessen. Der Hase aber sagte mit menschlicher Stimme zu ihm: „Schlag mich nicht, verdirb mich nicht, ich will dir auch helfen, wenn du in Not bist!“ Da ging Kosak Michailo weiter. Er wollte zwar gern etwas essen, ging aber weiter. Er kam ans Meer und wollte hinüber. „Ach, Herrgott, ich will mich hinsetzen und etwas ausruhen“, dachte er, setzte sich hin, um auszuruhen, und schlief ein. Er schlief drei Tage lang. In dieser Zeit kam ein starker Sturm auf, und ein Walfisch schwamm durch das Meer. Plötzlich hörten die Wellen auf, der Walfisch blieb quer zum Meer liegen und konnte sich nicht mehr in Sicherheit bringen. Da sagte Kosak Michailo: „Ach, Herrgott, ich will diesem Fisch den Kopf abhauen, und mich daran stärken für den ganzen Weg.“ Als er seine Keule nahm, um den Kopf abzuschlagen, sagte der Walfisch: „Ach, Kosak Michailo, schlag mich nicht, verdirb mich nicht, ich will dir auch helfen, wenn du in Not bist! Du siehst ja, daß ich dir schon jetzt helfen kann, auf die andere Seite zu kommen.“ Kosak Michailo wurde von dem Wal auf die andere Seite getragen. Dann sagte er: „Ach, ich muß ihn wieder ins Meer zurücklassen“, packte ihn am Schwanz und warf ihn ins Meer zurück. Dann ging er weiter. Er kam zur Hexe Baba-JagaEisenbein und sagte: „Guten Tag!“ „Sei gegrüßt, Bursch, wohin führt dich Gott?“ Er sagte zu ihr: „Großmütterchen, ich suche Arbeit.“ 148
„Was willst du dafür haben, Geld, Brot, Kleidung oder noch etwas anderes?“ „Ach, Großmütterchen, das kann ich erst sagen, wenn ich bei Euch gedient habe. Aber sagt mir, was Ihr für Arbeit habt; ist sie auch nicht zu schwer für mich?“ „Ach nein, junger Bursche, es wird nicht zu schwer sein. Du brauchst bei mir nur drei Tage lang drei Stuten zu hüten.“ „Gut, Großmütterchen“, antwortete er, „das kann ich vielleicht tun.“ „Nun, dann bleib! Hier hast du das Abendbrot, übernachte hier und steh morgen früh auf! Heute will ich dir aber noch zeigen, wo meine Stuten stehen.“ Sie zeigte es ihm. „Nun leg dich schlafen, junger Bursche!“ Er legte sich schlafen und schlief gleich ein. Am anderen Morgen stand er auf und ging zur Scheune. Er öffnete die Scheune, und da standen die Stuten. Ja, sie waren hungrig, und er trieb sie fort. Das hörte die Alte. „Ach, du guter Bursche! Warum jagst du sie ohne Futter fort und nimmst dir selbst nichts mit? Hier hast du wenigstens eine Pastete!“ Er nahm die Pastete und trieb die Stuten los. Er trieb sie in die grünen Wiesen, zu den seidigen Gräsern an den Quellwässern, dann breitete er seinen Kaftan aus und legte sich schlafen. Er aß seine Pastete, und als er sie gegessen hatte, schlief er ein. So schlief er zwei Stunden lang. Da erwachte er, schaute um sich und sah, daß die 149
Stuten nicht mehr da waren. Er lief im Reckenschritt und -tritt in alle vier Richtungen, ging ungefähr fünfzig Werst, aber es waren keine Stuten zu finden. So stand er da und weinte. Da kam der Wolf gelaufen. „Ach, Kosak Michailo, warum weinst du, warum heulst du?“ „Wie sollte ich nicht weinen und heulen, wo ich solch ein Unglück habe. Meine Stuten, die ich zum Hüten bekommen habe, sind nicht mehr da.“ Da sagte der Wolf: „Aha, aber ich weiß, wo deine Stuten sind. Du kannst sie nicht finden. Bleib hier an dieser Stelle stehen! Sie waren Stuten, jetzt sind sie Wölfinnen! Bleib hier an dieser Stelle stehen, nimm einen blauen Stein und wirf ihn auf sie, wenn ich sie heranjage!“ So stand er dort. Da jagte sie der Wolf ihm zu. Sie standen auf den Hinterpfoten, die Wölfe, dieses Getier. Kosak Michailo nahm einen blauen Stein, warf nach ihnen und sagte: „Wölfinnen wart ihr, verwandelt euch jetzt in Stuten!“ Wie sie Wölfinnen gewesen waren, so verwandelten sie sich jetzt in Stuten. Er setzte sich auf eine, ritt los und gab ihnen seine Keule zu kosten. Da stöhnten sie aber! Als er zu Hause ankam, trat die Hexe BabaJaga-Eisenbein heraus und fragte, ob den Stuten nichts zugestoßen sei und wo er denn gewesen sei, daß er so spät mit ihnen nach Hause komme. „Bald geht die Sonne unter, ich habe dir aber befohlen, nicht zu spät zu kommen. Doch, guter
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Bursche, das erste Mal will ich dir verzeihen. Morgen bemühe dich aber, früher zu kommen!“ Er brachte die Stuten in den Stall, die Hexe Baba-Jaga gab ihm Abendbrot und schickte ihn ins Bett. „Leg dich hin, guter Bursche, schlaf, ruh dich aus, du bist müde!“ Er aß Abendbrot, betete zu Gott und legte sich schlafen. „Aber ich sage dir, guter Bursche, schlaf nicht zu tief, damit dich niemand wegschleppt!“ „Geh, Alte!“ sagte er zu ihr. Als sie gegangen war, kam das Hündchen dieser Alten, aus schwarzer Wolle und von kleinem Wuchs, und sagte: „Sei gegrüßt, Kosak Michailo, guter Bursche!“ Da wunderte er sich: „Herrgott, woher mag er wissen, daß ich Kosak Michailo bin?“ „Ich will dir sagen, was die Hexe Baba-Jaga jetzt macht. Sie bestraft in der Badestube ihre Töchter. Wenn du prüfen willst, ob das wahr ist, dann geh und schaue nach.“ Er ging zur Badestube, öffnete das Fensterchen und schaute vorsichtig hinein, daß ihn die Hexe nicht sah. Diese schlug ihre mittlere Tochter und befahl ihr: „Wenn auch die älteste, dieser Schelm, ihr Wort gebrochen hat, du Bestie brich es nicht! Ihr sollt zu Häsinnen werden und in den dunklen Wald laufen, so weit weg wie der gestrige Tag. Er darf euch dort nicht finden!“ Die mittlere antwortete: „Ich höre, Mütterchen, ich will es tun!“
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Kosak Michailo ging fort und legte sich schlafen, und er schlief, als wäre er nirgendwo gewesen. Als Gott den Tag schickte, verfuhr er wieder in der alten Weise: er stand auf, nahm die Zügel und ging in die Scheune. Er schirrte die Stuten an, saß auf und wollte losreiten. Das hörte die Hexe BabaJaga. „Ach, du guter Bursche, was jagst du los, ohne gegessen zu haben? Du willst doch bestimmt essen?“ „Ach, Großmütterchen, vielleicht will ich heute nicht essen. Ich habe gestern gut Abendbrot gegessen.“ „Nein, nimm, hier hast du eine Pastete, iß sie, wann du willst.“ Er wollte sie nicht nehmen, nahm sie aber dann doch. Nun ritt er in die grünen Wiesen, zu den seidigen Gräsern an den Quellwässern. Die Stuten liefen umher. Er schaute die Pastete an und wollte sie so gern essen. Dann nahm er sie und aß sie doch. Als er sie gegessen hatte, schlief er ein, und so schlief er drei Stunden lang. Als er erwachte und um sich schaute, waren keine Stuten mehr da. Er rannte im Reckenschritt und -tritt in vier Richtungen und ging etwa fünfzig Werst, aber er fand keine Stuten. Da stellte er sich hin und weinte. Plötzlich kam der Hase zu ihm gelaufen. „Warum weinst du, guter Bursche, warum heulst du?“ „Wie sollte ich nicht weinen und heulen, wenn mir solch ein Unglück passiert ist? Die Stuten, die ich hüten sollte, sind nicht mehr da.“ Der Hase sagte zu ihm: „Aha, aber ich weiß, wo deine Stuten sind. Du kannst sie nicht finden. 152
Bleib hier an dieser Stelle stehen. Sie waren Stuten, jetzt sind sie Häsinnen. Bleib an dieser Stelle stehen, nimm einen blauen Stein und wirf ihn auf sie, wenn ich sie heranjage.“ Sie gingen zu zweit weiter, dorthin, wo Kosak Michailo gestern gewesen war. An dieser Stelle blieb er stehen. Plötzlich jagten die Hasen herbei und standen auf den Hinterfüßen. Er nahm einen blauen Stein, warf ihn auf sie und sagte: „Häsinnen wart ihr, werdet jetzt zu Stuten!“ So wie sie vorher Häsinnen waren, so wurden sie jetzt zu Stuten. Er setzte sich auf sie und ritt nach Hause, dabei gab er ihnen seine Keule zu kosten. Da stöhnten sie aber! Als er ankam, war die Sonne gerade untergegangen, und die Hexe Baba-Jaga trat heraus und sagte: „Ach, guter Junge, du versiehst deinen Dienst schlecht und bringst die Stuten spät! Aber heute will ich dir noch einmal verzeihen, paß auf, daß du morgen nicht zu spät kommst, sonst ist deine Arbeit hier vorbei, und ich werde dir nichts bezahlen! Nun leg dich schlafen und geh nirgendwo hin, ich werde mich in der Badestube waschen.“ Die Hexe Baba-Jaga nahm drei Fuhren Eisenruten mit sich in die Badestube und zerschlug sie alle drei an ihrer mittleren Tochter. Dann befahl sie der jüngsten: „Ach du, dir befehle ich zum letzten Mal, zu Fischweibchen zu werden und ins dunkle Meer auf den Grund zu gehen. Geh an deinen Platz!“ Da gingen sie und stellten sich wieder in die Scheune. Als Gott den Tag gab, stand Kosak Mi153
chailo auf, betete zu Gott, nahm die Zügel, ging in die Scheune und schirrte die Stuten an. Dann setzte er sich auf eine und wollte losreiten. Das hörte die Alte. „Ach, du Bursche, was reitest du los, ohne gegessen zu haben? Du weißt doch, daß man essen muß. Ich habe zwar geschlafen, bin nicht gesund, will aber auch essen. Da hast du eine Pastete, iß sie, wann du willst.“ Er wollte sie nicht nehmen, nahm sie dann aber doch. Nun ritt er in die grünen Wiesen, zu den seidigen Gräsern an den Quellwässern. Er nahm die Pastete, warf sie fünfzig Werst fort und dachte: Wenn ich sie nicht sehe, dann werde ich sie auch nicht essen wollen! Dann breitete er seinen Kaftan aus und legte sich schlafen. Aber er bekam Hunger, schlimmer als je zuvor. Da ging er los, im Reckenschritt und -tritt. Er hob die Pastete auf und aß sie. Als er sie gegessen hatte, schlief er direkt auf dem Wege ein, ohne zu seinem Kaftan gekommen zu sein. So schlief er drei Stunden, und als er aufwachte, da waren die Stuten nicht mehr da. Er rannte im Reckenschritt und -tritt in alle vier Richtungen etwa fünfzig Werst, aber keine Stuten waren zu sehen. Er kam zum dunklen Meer und weinte. Plötzlich tauchte der Walfisch auf. „Warum weinst du, Kosak Michailo, warum heulst du?“ „Wie sollte ich nicht weinen und heulen? Den letzten Tag diene ich, und nun sind die Stuten nicht mehr da, und die Sonne geht schon unter.“ Da antwortete ihm der Walfisch: „Siehst du, jetzt brauchst du mich. Sie waren Stuten, jetzt 154
sind sie Fischweibchen geworden und liegen auf dem Grund des dunklen Meeres. Bleib an dieser Stelle stehen, nimm einen blauen Stein und wirf ihn auf sie, wenn sie heranjagen.“ Da stand er nun, und sofort jagten sie herbei. Er nahm einen blauen Stein, warf ihn auf sie und sagte: „Fischweibchen wart ihr, werdet jetzt zu Stuten!“ So, wie sie vorher Fischweibchen waren, so wurden sie jetzt zu Stuten. Er legte ihnen Zügel an, setzte sich auf die jüngste und gab ihnen seine Keule zu kosten, und am meisten der jüngsten. Als er dann zum Tor kam, war die Sonne schon lange untergegangen. „Ach, mein Lieber“, sagte die Hexe, „es ist spät.“ „Mütterchen, es ist der letzte Abend, ich habe schön gehütet!“ „Nun, Gott mit dir, geh Abendbrot essen und leg dich schlafen. Ich gehe in die Badestube und wasche mich. Bleib aber auf dem Hof! Wenn ich mich nicht wasche, dann kann ich heute nicht schlafen.“ Er legte sich schlafen. Die Alte aber nahm drei Fuhren Eisenruten mit sich in die Badestube. Das Hündchen kam zu Kosak Michailo, bellte und sagte: „Ach, Kosak Michailo, du schläfst. Schlaf nicht, sondern geh und schau, was die Alte ihren Töchtern befiehlt!“ Er stand auf und ging zur Badestube. Er trat an das Fensterchen und schaute hinein. Die Hexe Baba-Jaga schlug und schlug ihre Töchter und 155
sagte dann zur ältesten: „Komm her, du Tochter einer Hündin! Spuck drei Hengste aus mit gleicher Stimme, mit gleichen Haaren, mit goldener Mähne und mit silberner Mähne!“ Sie spuckte sie aus. Dann sagte sie zu der mittleren: „Komm her, du Tochter einer Hündin, spuck drei Hengste aus mit gleicher Stimme, mit gleichem Haar, mit goldener Mähne und mit silberner Mähne!“ Sie spuckte sie aus. Dann rief sie die jüngste Tochter: „Und du spuck zwei Hengste aus und danach einen räudigen, buckligen und mißlungenen!“ Sie spuckte zwei Hengste mit gleicher Stimme, gleichen Haaren, goldener Mähne und silberner Mähne und einen dritten, buckligen, räudigen und mißlungenen aus. Dann nahm die Alte diesen acht Hengsten die Kraft fort und legte sie in den räudigen hinein. Kosak Michailo sah das, lief zurück und legte sich schlafen. Die Alte führte die acht Hengste und die Stuten hinaus und stellte sie auf, den neunten Hengst stellte sie in einen engen Stall. Kosak Michailo schlief die Nacht durch, stand früh auf, wusch sich, betete zu Gott und wartete, bis die Hexe Baba-Jaga aufstehen würde. Die Alte stand auf. „Nun, guter Bursche, was willst du für deine Arbeit haben?“ fragte sie. „Du hast nicht gut gedient, aber ich verzeihe dir. Was willst du, Geld oder etwas anderes?“ „Ach, Mütterchen, für Geld bringt mich nur jemand um.“ „Was willst du dann?“
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„Ich möchte von Euch einen kleinen Hengst haben, Mütterchen.“ „Nun, Hengste habe ich acht Stück. Die sind nicht übel. Nur der neunte ist ein ganz elendes Tier. Wähl dir also von den acht einen aus, den du möchtest.“ „Gut.“ Die Alte öffnete den Pferdestall, und da standen die Hengste, mit gleichen Haaren, gleicher Stimme, mit goldener Mähne und mit silberner Mähne. Auch der neunte, der mißlungene, räudige und blinde, stand da. Da sagte sie: „Nimm dir einen von den acht, der andere ist mißlungen.“ Er aber antwortete: „Ach, Großmütterchen, behaltet die guten. Ihr wart ja sowieso nicht zufrieden mit meinem Dienst, also Gott mit Euch, ich nehme den schlechtesten.“ „Aber nein“, sagte sie, „nimm einen von diesen acht, ich verzeihe dir.“ „Ach laß nur, auch der wird für mich in Ordnung sein.“ „Nun schade“, sagte sie, „du wirst mit ihm umkommen, aber ich werde ihn dir schon geben müssen.“ So stritt sie und stritt und gab ihm doch schließlich den Hengst. Er nahm ihn mit. Er führte ihn hinweg, kam zum Meer und wollte sich auf den Hengst setzen. Da sagte der Hengst: „Setz dich noch nicht auf mich, Kosak Michailo, mach keine Dummheiten. Ich bin noch zu jung, ich halte dich nicht aus. Leg dich schlafen, mich aber laß
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Muttermilch saugen. Dann werde ich mehr Kräfte bekommen.“ Kosak Michailo legte sich schlafen, und das Pferd, der Hengst, ging Muttermilch saugen. Kosak Michailo schlief drei Tage, und der Hengst saugte drei Tage lang Muttermilch. Plötzlich kam er angelaufen, und es war, als zittere die Erde. Kosak Michailo stand auf, schaute um sich, ergriff seine Keule, wollte sie schleudern und das Pferd töten. Da bäumte sich das Pferd auf und sprach zu ihm mit Reckenstimme und Pferdeschnaufen: „Ach, Kosak Michailo! Schlag mich nicht und verdirb mich nicht, ich bin doch dein Pferd. Du kannst jetzt auf mir sitzen und reiten und wirst deine Braut bekommen.“ Kosak Michailo wurde lustig. „Gott sei Dank, daß ich jetzt losreiten kann“, sagte er. Er faßte das Pferd am Zügel, setzte sich darauf und erklärte ihm: „In einem Zarenreiche, in einem Staate, gibt es eine Zarentochter, eine preußische Königstochter, die lebt in einem Weingarten, getrennt von ihrem Vater und ihrer Mutter. Der Garten ist mit einer so hohen Mauer umgeben, daß selten ein Vogel darüberfliegen kann. Können wir beide hinüberfliegen, mein Pferd?“ Das Pferd antwortete: „Ja, das können wir!“ „Der Zar hat auch solch ein Reckenpferd und ist selbst ein Recke, kann er uns beide einholen?“ „Ja, das kann er!“ sagte das Pferd. „Kann er uns auch besiegen?“ „Nein, das kann er nicht!“
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„Gut, ich danke dir! Gott sei Dank, daß er es nicht kann.“ „Nur, geh nicht zu ihr ins Zimmer, sondern ziehe sie zu dir auf den Sattel und schlage mich mit einem leichten Schlag!“ sagte das Pferd. Er setzte sich aufs Pferd und ritt los. Als er zu dem Garten kam, gab er dem Pferd einen leichten Schlag, und es übersprang die Mauer, sprang zu der Zarentochter, der preußischen Königstochter, hinüber. Diese sah es und sagte: „Ach hört und staunt! Ist der kühne Bursche selbst gekommen, oder hat der Rabe seine Knochen gebracht?“ „Nein“, sagte er, „nicht der Rabe hat meine Knochen gebracht, sondern der kühne Bursche ist selbst gekommen.“ „Nun will ich Euch ins Zimmer bitten“, sagte die Zarentochter. „Nein, ich bitte Euch zu mir auf den Sattel.“ Er faßte sie an der rechten Hand und setzte sie in den Sattel. Das Pferd ärgerte sich gleich, als ob ihm die Zarentochter unanständige Wörter gesagt hätte, und flog los. Das Pferd, das im Pferdestall stand, wieherte mit Reckenstimme. Der Zar schlief zu dieser Zeit. Er stand auf, zog sich die Pantoffeln an und lief hinaus, nur mit dem Hemd bekleidet und mit nichts weiter. „Ach, du mein Reckenpferd, warum wieherst du, warum rufst du mich?“ „Ihr schlaft, und unsere Königstochter ist schon lange entführt worden. Sie sind schon lange fortgeflogen.“
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„Was denn, können wir sie einholen, mein Pferd?“ „Ja, das können wir!“ „Und besiegen?“ „Nein, das können wir nicht!“ Da wurde der Zar traurig. Was soll nun werden? Einholen können wir sie, aber besiegen können wir sie nicht, das heißt, ich muß mein Leben lassen. Da kann man nichts tun. Er ging in sein Zimmer, zog sich an, nahm ein scharfes Schwert mit, sattelte sein Pferd und ritt los. Als er auf Kosak Michailo stieß, zog er sein scharfes Schwert aus der Scheide, nahm es in die rechte Hand und holte aus, um Kosak Michailo den Kopf abzuschlagen. Kosak Michailo merkte nichts. Da schlug sein Pferd mit dem Hinterbein aus und erschlug das andere Pferd. Kosak Michailo spürte den Stoß und drehte sich um, aber sie waren schon zehn Werst von dort entfernt. „Holen sie uns wirklich ein, mein Pferd?“ „Ja doch.“ „Was war denn das für ein Stoß?“ „Da habe ich mit dem rechten Bein das Pferd erschlagen. Der Zar selbst ist noch unter den Lebenden.“ „Kehr zurück, mein Pferd, ich werde auch ihn besiegen.“ Das Pferd kehrte dorthin zurück. Als Kosak Michailo auf den Zaren traf, schlug er ihn im Vorbeireiten! Und da schlief der Zar auf der Stelle ein. Er kam nicht mehr dazu, sich zu verteidigen. Dann ritt Kosak Michailo los. Er ritt und ritt und 160
ritt und kam schließlich auf ein freies Feld bei seinem Zarenreich, auf ein gewaltiges Feld. Das ganze Feld war mit den Kriegern eines geschlagenen Heeres bedeckt. Das Pferd watete bis zu den Fesseln im Blut. Er ritt in die Mitte des Feldes und fragte: „Ach, ihr Herren von der Kavallerie, ihr Krieger des russischen Zaren, wer ist hier erschlagen und wer nicht? Antwortet mir und sagt, wer dieses Heer besiegt hat.“ Die, die noch nicht ganz tot waren, antworteten: „Dieses Heer hat der Recke Truchon geschlagen.“ „Und mit wem schlägt und rauft er sich?“ „Mit der alten Hexe Baba-Jaga.“ „Worum schlagen und raufen sie sich denn?“ „Er will die alte Hexe Baba-Jaga erschlagen und ihre Tochter heiraten.“ „Und wann haben sie sich geschlagen?“ „Um neun Uhr morgens“, wurde geantwortet. Er nahm die Uhr heraus, schaute darauf und ritt los. Er ritt und ritt und ritt. Das Märchen läßt sich schnell erzählen, aber eine Tat kann man nicht so schnell vollbringen. Er kam zu einem anderen Feld, einem noch größeren, dort lag ein noch größeres Heer. Das Pferd ging schon bis zu den Knien im Blut. Er ritt in die Mitte des Feldes und fragte: „Ach, ihr Herren von der Kavallerie, ihr Krieger des russischen Zaren! Wer ist hier erschlagen und wer nicht? Antwortet und sagt mir, wer dieses Heer besiegt hat!“ Ein nicht Erschlagener antwortete: „Das hat der Recke Truchon besiegt.“ 161
„Und mit wem schlägt und rauft er sich?“ „Mit der alten Hexe Baba-Jaga.“ „Worum schlagen und raufen sie sich?“ „Er will die alte Hexe Baba-Jaga erschlagen und ihre Tochter zur Frau nehmen.“ „Ein Dummkopf ist er, darauf verwendet er so viel Kraft. Wann haben sie sich geschlagen?“ „Um zehn Uhr morgens.“ Er nahm seine Uhr heraus, schaute darauf und ritt los. Er ritt und ritt und ritt. Das Märchen läßt sich schnell erzählen, aber eine Tat kann man nicht so schnell vollbringen. Er kam zu einem dritten Feld. Es war ein noch größeres, und dort lagen noch mehr Krieger. Das Pferd watete schon bis zum Bauche im Blut. Er ritt in die Mitte dieses Feldes und fragte: „Ach, ihr Herren von der Kavallerie, ihr Krieger des russischen Zaren, wer ist hier erschlagen und wer nicht? Antwortet und sagt mir, wer dieses Heer besiegt hat!“ Einer, der nicht erschlagen war, antwortete: „Das hat der Recke Truchon besiegt!“ „Und mit wem schlägt und rauft er sich?“ „Mit der alten Hexe Baba-Jaga.“ „Worum schlagen und raufen sie sich?“ „Er will die alte Hexe Baba-Jaga erschlagen und ihre Tochter zur Frau nehmen.“ „Ein Dummkopf ist er! Darauf verwendet er so viel Kraft! Wann haben sie sich geschlagen?“ „Um elf Uhr morgens.“ Er ritt weiter, trieb sein Pferd noch mehr an und kam zur Wohnung des Recken Truchon. Dessen Pferd weidete unter einem Fenster. Truchon selbst 162
aß Mittag. Kosak Michailo stieg von seinem Pferd und dachte: Wie kann ich wissen, wer von uns stärker ist? Ich will es einmal erproben. Er ließ sein Pferd auf das Pferd des Recken Truchon los, und als Kosak Michailos Pferd aus den Nüstern blies, lief das andere Pferd ungefähr drei Werst weit weg, und Kosak Michailos Pferd machte sich daran, das Futter des anderen Pferdes zu fressen. Kosak Michailo amüsierte sich. Er ging in das Haus des Recken Truchon. Dessen Keule stand im vorderen Zimmer. Kosak Michailo nahm sie in die linke Hand und seine eigene in die rechte und schlug die eine gegen die andere. Dann sagte er: „Wessen Keule zerbricht, der ist selbst auch schlechter.“ Die Keule des Recken Truchon ging entzwei wie eine Erbse. Der Recke Truchon, der gerade aß, hörte das. Er schaute aus dem Fenster, sein Pferd war davongejagt, und ein fremdes fraß das Futter. Er schrie: „Wer ist in meinem Hause? Ich fürchte niemanden auf der Welt außer Kosak Michailo. Aber ich habe gehört, daß er nicht mehr unter den Lebenden ist.“ Er drehte sich um, um hinauszulaufen, aber da stand Kosak Michailo. Truchon fragte: „Ach hört und staunt! Bist du selbst gekommen, guter Bursche, oder hat der Rabe deine Knochen hergebracht? Sage mir ehrlich, wer du bist! Ich bitte dich, mit mir zusammen zu Mittag zu essen.“ Kosak Michailo antwortete ihm: „Das mußt du selbst herausbekommen, Recke Truchon.“
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Sie nahmen sich an der Hand und gingen Mittag essen. „Du scheinst Kosak Michailo zu sein, aber ich glaube, du warst erschlagen?“ Er antwortete ihm: „Wirklich, ich war erschlagen.“ Sie nahmen sich an der Hand, und Kosak Michailo ging mit Truchon. Sie aßen zu Mittag, tranken Reckengetränke und führten Reckengespräche. Kosak Michailo sagte zu seinem Pferd: „Ach, du mein Pferd, iß auch du! Wir werden uns miteinander vertragen, von uns gibt es so wenige.“ So aßen sie, und die Pferde fraßen gemeinsam Reckenfutter. Kosak Michailo sagte: „Weißt du, ich will dir etwas sagen: Wir reiten nach dem Mittagessen gemeinsam auf das freie Feld und versuchen, einander einen Schlag zu geben. Dann werden wir sehen, wer von uns der Stärkere ist.“ Und so ritten sie auf ihrem Pferd, jeder auf seinem. Als sie auf dem Feld waren, fragte Truchon: „Wer von uns wird vorn stehen und wer wird wegreiten?“ Kosak Michailo antwortete: „Ich werde vorn stehen, du aber reite davon, so weit dein Pferd kann, und schone mich nicht, damit wir die Wahrheit ohne Fehler erfahren.“ Der andere ritt davon, nahm einen Anlauf, so weit es sein Pferd schaffen konnte, schoß dann los und schlug auf Kosak Michailo ein. Danach ritt er davon. Kosak Michailo stand da, wie er stand. Er fragte sein Pferd: „War hier jemand?“
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Das Pferd antwortete ihm: „Da muß eine Mücke gekommen sein. Sie hat gesummt und ist wieder zurückgeflogen.“ Da lachte Kosak Michailo, war lustig und sagte zu seinem Pferd: „Es muß wirklich so sein, daß keiner stärker ist als wir in Gottes weiter Welt.“ Da freute er sich. Als Truchon angeritten kam, sein Pferd anhielt und stehenblieb, fragte er: „Konntet Ihr erfahren, wieviel Werst Ihr von mir fortgeritten seid?“ Der Recke Truchon sagte: „Ich bin dreißig Werst davongeritten.“ „Hast du mich mit allen Kräften, ohne mich zu schonen, geschlagen?“ Der Recke Truchon sagte: „Ja, ich habe zugeschlagen, ohne dich zu schonen.“ „So bleib jetzt du stehen, und ich werde reiten.“ Kosak Michailo ritt nicht dreißig Werst, sondern nicht mehr als zehn und ritt auch ganz im Marschschritt. Er nahm ein Tuch aus der Tasche, ritt ganz nahe an den Recken Truchon heran und wedelte mit dem Tuche – da wäre Truchon bald vom Pferd gefallen und sagte: „Ach, Kosak Michailo, dein Wille geschehe, mach, was du willst. Wir sind zwei, und ich bin jünger als du, und der dritte hatte noch keine Zeit für dich. Ich bitte dich loszureiten und dich mit dieser Hexe Baba-Jaga-Eisenbein für mich zu raufen.“ „Gut, Recke Truchon! Ich höre auf dich, ich reite, ich werde mich mit der alten Hexe Baba-Jaga raufen. Vielleicht ist sie auch stärker als ich.“
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Und er ritt los. Als er ins freie Feld kam, kam sie auch. Sie trafen zusammen. Er sah ihr nicht in die Augen und sagte: „Ach, Mütterchen, wie sollen wir uns beide raufen? Im Grase ist es nicht schön. Blase mal nach allen vier Seiten, Alte, damit hier alles blank wird!“ Die Alte blies nach allen vier Seiten, und das Feld wurde ganz blank. Sie blies die Büsche und alles weg. „Ach, Recke Truchon (sie wußte nicht, daß er es nicht war), das wird uns auch nicht angenehm sein. Blas mal Sand hier auf diese Felder!“ Als er Sand dorthin geblasen hatte, begannen sie sich zu raufen. Sie schlug mit ihrer Kelle, er aber schlug sie mit seiner Keule. Er schlug die alte Hexe Baba-Jaga bis zum Gürtel in die Erde. Da begann sie ihn zu bitten: „Ach, Recke Truchon, wenn sich die Zaren und die Könige schlagen, können sie sich auch verschnaufen, du aber läßt uns nicht verschnaufen.“ Er antwortete ihr: „Nein, Alte, ich möchte nicht verschnaufen und lasse dich auch nicht verschnaufen!“ Dann schlug er die Alte bis zum Hals in die Erde, schlug ihr den Kopf ab, riß den Rumpf heraus und verbrannte ihn zu Asche. Die Asche verstreute er und ritt zu dem Recken Truchon zurück. „So, Recke Truchon, deine alte Hexe Baba-Jaga habe ich erschlagen.“ „Aber Kosak Michailo, was machen wir denn mit der Tochter? Soll sie für mich bleiben, oder nimmst du sie dir?“ 166
Kosak Michailo antwortete: „Du weißt ja, daß ich schon eine Frau habe und keine andere mehr brauche, mir genügt eine. Nimm du sie dir, du kannst sie alle drei haben.“ Der Bursche Truchon lachte und sagte: „Ein Freund ist mehr wert als ein leiblicher Bruder. Ein leiblicher Bruder kann nicht so teilen wie Kosak Michailo. Auf Wiedersehen. Ich danke dir!“ „Lebe wohl mit diesen schönen Mädchen. Ich will meine Zarentochter heiraten und mit ihr leben!“ Sie verabschiedeten sich, und jeder ritt in seine Gegend, da lebten sie gut und wurden reich.
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6 Wie ein Soldat nach Hause zurückkehrte Ein Soldat hatte dem Zaren fünfundzwanzig Jahre gedient, aber keinen Lohn für seinen Dienst erhalten. So ging er nun nach Hause und dachte bei sich: Was soll ich nun weiter tun? Wer zu Hause noch am Leben ist, weiß ich nicht, und wer mich im Alter pflegt, das weiß ich auch nicht. Da traf er auf einmal einen gut angezogenen Mann mit einem Hut auf dem Kopfe. „Sei gegrüßt, Soldat!“ sagte der Mann. „Wo warst du, und wohin gehst du?“ „Ja, weißt du“, sagte der Soldat, „ich habe dem Zaren fünfundzwanzig Jahre gedient. Jetzt gehe ich nach Hause. Aber was weiter mit mir wird, das weiß ich nicht.“ Da sagte der Mann zu ihm: „Du hast dem Zaren fünfundzwanzig Jahre gedient. Diene auch mir noch ein Jährchen, und ich werde dich für dein Alter versorgen.“ Da dachte der Soldat: Nun ja, dann diene ich ihm eben. Und so folgte er dem Manne. Sie gingen durch einen Wald, durch Sümpfe, und da erblickte der Soldat einen strahlenden Palast. Der Mann führte ihn in den Palast und sagte: „Hier wirst du arbeiten.“ 168
„Aber was soll ich denn hier tun?“ fragte der Soldat. Der Unbekannte führte ihn in eine Ecke, in der ein großer Kessel stand und sagte: „Hier in diesem Kessel wirst du Wasser kochen. Hier ist auch Brennholz.“ Plötzlich war der Unbekannte verschwunden. Der Soldat legte Brennholz unter den Kessel, setzte es in Brand und wollte dann gern sehen, was es dort noch alles gab. Er ging in ein Zimmer und erblickte hier herrliche Tische und Stühle, und auf den Tischen standen Speisen und Getränke, alles, was das Herz begehrt. Der Soldat aß und trank sich satt und ging weiter. Er kam in ein anderes Zimmer, und dort erblickte er Betten, Matratzen, Federbetten, Daunenkissen und Decken. Da beschloß er, sich schlafen zu legen. Nachdem er sich ausgeschlafen hatte, legte er wieder Holz unter den Kessel und ging weiter auf die Suche nach anderen Menschen. Er ging durch das ganze Haus, fand aber keine Menschenseele. So verbrachte der Soldat einen Tag, einen zweiten und einen dritten. Da überkam ihn die Langeweile, er wußte nicht, was er tun, was er anfangen sollte und mit wem er sich die Zeit vertreiben konnte. So ging er wieder auf die Suche nach einem Buch oder einer Zeitung, um wenigstens etwas lesen zu können. Da fand er in einer Ecke ein Buch, das bestand nur noch aus fliegenden Blättern. Der Soldat legte die Blätter alle zusammen, und nachdem er das getan hatte, begann er zu 169
lesen. Da hörte er eine Stimme rufen: „Soldat, Soldat, rette mich!“ Der Soldat legte das Buch beiseite und machte sich auf die Suche nach dem, der dort um Hilfe gerufen hatte. Er lief durch alle Zimmer und suchte alle Winkel ab, konnte aber niemanden finden. Da ging er wieder zurück und setzte sich nieder, um weiterzulesen. Er hatte sich kaum hingesetzt, da hörte er wieder die gleiche Stimme: „Soldat, Soldat, rette mich!“ Der Soldat legte das Buch beiseite und ging wieder auf die Suche. Er durchsuchte das ganze Haus, alle Ecken und Winkel, und dann ging er wieder zurück und las weiter. Er hatte sich gerade hingesetzt, da hörte er wieder die Stimme: „Soldat, Soldat, rette mich!“ Da wurde der Soldat wütend und sagte: „Zum Teufel noch einmal, wo bist du denn und wie soll ich dich retten?“ Da hörte er die Stimme sagen: „Ich bin im Kessel.“ Der Soldat ging an den Kessel und dachte: Wie soll ich denn da herunterkommen? Denn der Kessel war tief – drei Meter tief. Der Soldat zog sich das Hemd aus, zerriß es in Streifen, wand einen Strick daraus, band einen kleinen Stein an das Ende des Strickes und ließ ihn in den Kessel hinab. Dann hörte er etwas aufschlagen. Da zog der Soldat schnell den Strick nach oben. Als er ihn herauszog, erblickte er ein so hübsches Mädchen, daß man es weder im Märchen erzählen noch mit der Feder beschreiben kann. 170
Das Mädchen sprach: „Dank dir, Soldat! Du hast mir geholfen, und so werde ich dir auch in deiner Not helfen. Das ist hier der Palast eines Zauberers, und du hast ihm schon zehn Jahre gedient. Bald wird der Zauberer kommen, um dir deinen Lohn zu zahlen. Nimm aber nichts von ihm, weder Gold noch Geldscheine, sondern bitte ihn nur um die alte zerrissene Geldbörse, die in der Kammer liegt, wo du dieses Buch gefunden hast, das nur noch aus fliegenden Blättern bestand und das du jetzt liest. Ich bin eine Zarentochter.“ Dann verschwand sie. Da erschien auf einmal der Zauberer und sprach: „Nun, Soldat, du hast deine Zeit bei mir abgedient. Nun kannst du nach Hause gehen. Doch erst will ich dich für deine Dienste belohnen. Nimm, was du willst, Gold oder Geldscheine. Und nimm dir so viel, wie du tragen kannst.“ Der Soldat dachte nach und erinnerte sich an die Worte, die ihm die Zarentochter sagte, als er sie aus dem Kessel gezogen hatte. Da sagte er: „Nein, ich will weder Euer Gold noch Eure Geldscheine. Gebt mir lieber die alte Geldbörse, die dort in der Ecke liegt.“ Da wurde der Zauberer zornig und sprach: „Fort, geh fort von hier! Gar nichts gebe ich dir!“ Da lief der Soldat erschrocken fort und dachte bei sich: „Wo soll ich nun hin?“ Auf dem Weg zu dem Palast war er durch Sümpfe und Wälder gegangen, jetzt aber führte eine Asphaltstraße vom Palast weg, und in der Nähe war eine Stadt zu sehen. Nun, dachte er bei sich, ich will einfach 171
hen. Nun, dachte er bei sich, ich will einfach geradeaus gehen. Als der Soldat so seines Weges ging, überlegte er: Nun, soll es der Teufel holen! Auch hier bin ich wieder ohne Lohn ausgegangen. Er kam an eine Wegkreuzung, und da fiel ihm auf einmal – hastdu-nicht-gesehen – die alte Geldbörse, die er bei dem Zauberer gesehen hatte, vor die Beine. Der Soldat hob sie auf und dachte: Da hat sie mir schon zu etwas geraten! Diese alte Geldbörse ist doch gerade drei Pfennig wert. Ich aber hätte mir zwei, drei Pud Gold mitnehmen können! Nun, ich werde einmal sehen, was in dieser Geldbörse steckt. Er öffnete sie und fand nichts in ihr. Aber zu seinen Füßen hörte er auf einmal etwas klingen. Er sah hin und erblickte einen ganzen Haufen Gold. Da fragte sich der Soldat: Woher kommt denn das Gold? Er öffnete die Geldbörse nochmals, und wieder lag ein Haufen Gold da. Da erriet der Soldat das Geheimnis. Man brauchte nur die Geldbörse zu öffnen und zu schließen, und dann hatte man immer Gold. Der Soldat steckte die Geldbörse ein und ging in die Stadt. Da sah er an jeder Ecke und in jeder Straße eine Bekanntmachung hängen, daß ein Soldat dem Herrn Stepan die Geldbörse gestohlen habe. Der Soldat lief in ein Geschäft, kaufte sich einen Mantel, einen Anzug und einen Hut, warf seine Soldatenkleidung fort und zog sich die Zivilsachen an. Er ging wieder durch die Straßen der
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Stadt und las überall auf den Plakaten, daß er Herrn Stepan bestohlen habe. Da dachte der Soldat bei sich: Wo soll ich mich nur verstecken, damit man mich nicht faßt? Und er beschloß, zu dem Wachtposten in den Zarengarten zu gehen. Er zog sich wieder seine Soldatenkleidung an, ging zu dem Wachtposten und bat um ein Nachtlager. Der Wachtposten antwortete sogleich, daß nirgends ein Nachtlager sei, aber dann bot er dem Soldaten an, in der Bude zu übernachten, die im Garten stand. Der Soldat willigte ein, und er legte sich zusammen mit dem Wachtposten in der Bude schlafen. Er fragte den Wachtposten, was es Neues gäbe, und dieser sagte: „Hier in unserem Garten steht eine Eiche, die ist so dick, daß sie drei Männer kaum umfassen können. Unser Zar hat eine große Belohnung für denjenigen ausgesetzt, der diese Eiche fällt und an ihre Stelle ein Denkmal setzt. Aber niemand findet sich.“ Da überlegte der Soldat und sprach: „Melde dem Zaren, daß ein Soldat gekommen ist, der das machen kann.“ Am anderen Tage meldete es der Wachtposten dem Zaren, und der Zar gab den Befehl, die Eiche zu fällen und ein Denkmal zu errichten. Nach einigen Tagen war das Denkmal fertig. Nach dieser Arbeit legten sich der Soldat und der Wachtposten in die Bude im Garten, um sich auszuruhen. Sie waren kaum eingeschlafen, als sie eine Stimme hörten: „Wer mich begraben hat, der soll herauskommen!“ 173
Da sagte der Soldat zu dem Wachtposten: „Geh du hinaus, du hast hier im Garten zu bestimmen!“ Der Wachtposten aber sagte: „Nein, ich gehe nicht. Du hast ihn begraben, geh du auch hinaus.“ Da sprach der Soldat: „Was kommen soll, das kommt auch. Also muß ich hinausgehen.“ Der Soldat trat hinaus und sah am Denkmal einen Mann stehen. „Hast du mich begraben?“ fragte der Mann den Soldaten. Da sprach der Soldat: „Ich habe nur die Eiche gefällt und ein Denkmal aufgestellt, habe aber niemanden begraben.“ Da sagte der Mann: „Diese Eiche war ich. Komm jetzt mit, ich will dir allen meinen Reichtum vererben.“ Und der Mann führte den Soldaten durch Sümpfe und Wälder. Sie kamen zu einer Mauer, deren Zinnen nicht zu sehen waren. Der Mann blies gegen die Mauer, und sie ging auseinander. Hinter der Mauer aber war ein glänzender Palast. Da sprach der Mann: „Das hier ist mein Palast. Den vererbe ich dir.“ Sie kamen in einen Garten, und der Mann führte den Soldaten zu einem Apfelbaum, an dem schwarze Äpfel wuchsen. Da sagte er zu ihm: „Nun iß einen Apfel!“ Als der Soldat den Apfel gegessen hatte, fragte der Mann: „Nun, wie fühlst du dich?“ Da antwortete der Soldat: „Wenn ich jetzt ein Gefährt zu fassen bekomme, bringe ich es bestimmt zum Stehen.“ 174
„Das genügt noch nicht“, sagte der Mann, „iß noch einen Apfel!“ Als der Soldat noch einen Apfel gegessen hatte, fragte der Mann: „Nun, wie fühlst du dich jetzt?“ Da antwortete der Soldat: „Jetzt könnte ich sogar unsere Erde zum Stehen bringen.“ „Das genügt noch nicht“, sagte der Mann, „iß noch einen Apfel!“ Als der Soldat den dritten Apfel gegessen hatte, fragte der Mann: „Nun, wie fühlst du dich jetzt?“ Da antwortete der Soldat: „Wenn ich jetzt mit der einen Hand die Erde und mit der anderen den Himmel greifen könnte, würde ich alles auf den Kopf stellen.“ „Nun ist es gut“, sagte der Mann, „komm jetzt mit in meinen Pferdestall!“ Sie gingen in die erste Box, dort stand ein sehr schönes Pferd unter der Nummer 1, und darüber hing ein Schwert, auch unter der Nummer 1. Da sagte der Mann: „Hier hast du mein erstes Pferd.“ Sie gingen in die zweite Box, und dort stand ein Pferd unter der Nummer 2, und darüber hing sein Schwert, auch unter der Nummer2. Da sagte der Mann: „Hier hast du mein zweites Pferd.“ Dann gingen sie in die dritte Box. Dort stand das dritte Pferd unter der Nummer 3, und darüber hing ein Schwert, auch unter der Nummer 3. Da sagte der Mann: „Hier ist mein drittes Pferd. Diese Pferde wirst du im Leben brauchen. Aber jetzt komm mit! Ich will dir mein Geld übergeben.“ Er führte den Soldaten in einen Raum, in dem ganze Berge Gold, Silber und Geldscheine lagen. 175
Er sagte: „Das hier gehört alles dir. Jetzt aber stampfe einmal fest mit dem Fuß auf!“ Der Soldat tat es und wurde jung, hübsch und stark. Da verschwand der Mann, der ihm seinen ganzen Reichtum vermacht hatte. Der Soldat aber dachte: Wo soll ich jetzt nur hin? Und er beschloß, in den Zarengarten zum Wachtposten zu gehen. Bevor er in den Garten kam, stampfte er mit dem Fuß auf und wurde wieder zu dem alten Soldaten, der er vorher gewesen war. Er kam zu dem Wachtposten und fragte ihn, was es Neues gäbe. Da erzählte der Wachtposten, daß sich in der Nähe der Stadt ein See befinde, in dem ein Drache wohne, der nichts anderes fräße als Menschen. Und aus jedem Hause habe man diesem Drachen schon Menschen zum Fraß vorgeworfen, aber jetzt sei die Reihe an unseren Zaren gekommen. Morgen werde die älteste Tochter des Zaren an das Ufer des Sees gebracht. Ohne lange zu überlegen, eilte der Soldat in seinen Palast, den ihm der Mann hinterlassen hatte, trat dort fest mit dem Fuß auf, verwandelte sich in einen starken Menschen, sattelte sein Pferd Nummer 1, nahm das Schwert Nummer 1 und eilte zum Ufer des Sees. Am Ufer des Sees befand sich ein großer Busch, und in dem versteckte sich der Soldat mit seinem Pferd. Neben dem Busch aber stand eine Bank, auf die sich jedesmal das Opfer des Drachen setzte. Am frühen Morgen brachte der Zar seine Tochter inmitten einer großen Prozession von Volk und 176
Generälen zum Ufer des Sees, um sie hier dem Drachen zum Fraß vorzuwerfen. Das Volk ging wieder zurück, die Generäle aber versteckten sich hinter einem Hügel, um zu sehen, was mit der Zarentochter werden würde. Die Zarentochter aber setzte sich auf die Bank. Da rauschte auf einmal das Wasser im See, und heraus trat ein dreiköpfiger Drache und ging geradenwegs auf die Zarentochter zu. Der Soldat stürzte sich sofort mit seinem Pferd auf den Drachen und schlug ihm mit einem Hieb alle drei Köpfe ab. Die Köpfe nahm er, preßte sie so fest zusammen, daß sie zu Mückennasen wurden, und legte sie in seine Geldbörse. Die Zarentochter dankte dem Soldaten voller Freude und lud ihn zu sich ein. Der Soldat aber lehnte ab und sagte, daß er sehr müde sei und sich ausruhen müsse. Er eilte zurück in seinen Palast, und die Zarentochter ging nach Hause. Ein General kam ihr entgegen und sagte: „Schwöre mir, dem Zaren zu sagen, daß ich dich gerettet habe. Wenn nicht, erschieße ich dich!“ Die Zarentochter willigte ein und schwor, es dem Zaren so zu sagen, wie der General es von ihr verlangt hatte. Der Soldat aber brachte sein Pferd wieder in den Stall und ging in den Zarengarten zum Wachtposten. Da erzählte ihm der Wachtposten: „Heute hat ein General die älteste Tochter des Zaren vor dem Drachen gerettet, und morgen soll die mittlere Tochter dort hingebracht werden.“ Ohne lange zu überlegen, eilte der Soldat in seinen Palast, nahm das Pferd Nummer 2 und das 177
Schwert Nummer 2, jagte wieder zum Ufer des Sees und versteckte sich im Busch. Am frühen Morgen wurde die zweite Zarentochter dort hingebracht. Einer der Generäle blieb wieder zurück, um aufzupassen, was mit der Zarentochter geschähe. Als sich die Zarentochter auf die Bank gesetzt hatte, rauschte das Wasser im See, trat über die Ufer, und heraus kam ein sechsköpfiger Drache und ging geradenwegs auf die Zarentochter zu. Der Soldat stürzte sich mit seinem Pferd auf den sechsköpfigen Drachen und schlug ihm mit einem Hieb alle sechs Köpfe ab, preßte sie zu Mückennasen zusammen und legte sie in seine Geldbörse. Auch diese Zarentochter lud den Soldaten voller Freude zu sich ein. Er aber wollte nicht und sagte, daß er sich ausruhen müsse. Der Soldat eilte zu seinem Palast, und die Zarentochter ging nach Hause. Ihr begegnete der andere General, und auch er verlangte von ihr zu schwören, daß er sie gerettet habe. „Wenn du nicht einwilligst“, sagte er, „erschieße ich dich!“ Da willigte die Zarentochter ein. Der Soldat brachte sein Pferd in den Stall und ging wieder in den Zarengarten zum Wachtposten. Der Wachtposten sagte zu ihm: „Auch die mittlere Tochter des Zaren hat ein General gerettet. Morgen aber soll die jüngste dort hingebracht werden.“ Ohne lange zu überlegen, eilte der Soldat in seinen Palast, sattelte sein Pferd Nummer 3, nahm das Schwert Nummer 3, jagte wieder zum Ufer des Sees und verbarg sich in dem Busch. 178
Am frühen Morgen brachte man die dritte Tochter des Zaren zum See. Einer der Generäle blieb wieder zurück, um aufzupassen, was mit der Zarentochter geschehen würde. Als sich die Zarentochter auf die Bank gesetzt hatte, erkannte der Soldat, daß es dieselbe war, die er im Haus des Zauberers aus dem Kessel gezogen hatte. Da schäumte auf einmal das Wasser im See, der Wind toste, und aus dem See trat ein neunköpfiger Drache. Der Soldat kam schnell aus dem Busch heraus, schlug mit dem Schwert zu, schlug sechs Köpfe ab, und drei blieben dem Drachen. Ein Kopf hatte den Soldaten am Arm gepackt. Der Soldat zog den Arm heraus und schlug die restlichen drei Köpfe ab. Den Rumpf des Drachen aber warf er in den See. Sein ganzer Arm war voll Blut. Die Zarentochter riß einen Streifen von ihrem Kleid ab und verband dem Soldaten den Arm. Sie lud ihn zu sich ein, denn der Zar würde zu Ehren der Errettung seiner Töchter ein Fest veranstalten. Der Soldat lehnte ab und sagte, daß er müde sei und sich ausruhen müsse, versprach aber, später zum Fest zu kommen. Der Soldat verschwand, und die Zarentochter ging nach Hause. Da kam ihr der General entgegen und sagte, sie solle schwören, daß er sie gerettet habe. Wenn sie das nicht tue, würde er sie erschießen. Die Zarentochter willigte ein. Der Soldat brachte sein Pferd in den Stall und ging wieder in den Zarengarten zum Wachtposten. Der Wachtposten sagte, daß morgen beim Zaren ein öffentliches Fest aus Freude über die 179
Rettung der Zarentöchter sein werde und daß der Zar alle, Arme und Reiche, dazu eingeladen habe. Da sagte der Soldat: „Nun ja, gehen wir auch einmal hin und sehen uns das an!“ Am anderen Tag gingen sie zu dem Fest. Dort aber standen so viele Tische, daß sie nicht zu zählen waren. Und auf den Tischen stand alles, was das Herz begehrte: zu essen und zu trinken und zu rauchen, und die Musik spielte dazu. Der Soldat und der Wachtposten setzten sich an den letzten Tisch. Da kamen die Zarentöchter Arm in Arm mit den Generälen an allen Tischen entlang, um zu sehen, ob für alle reichlich gedeckt war. Als sie an den letzten Tisch kamen, bemerkte die jüngste Zarentochter am Arm des Soldaten den Streifen von ihrem Kleid, mit dem sie ihrem Retter den Arm verbunden hatte. Als sie näher herankam, erkannte sie auch, daß es der Soldat war, der sie aus dem Kessel befreit hatte. Sie wollte dem Soldaten um den Hals fallen, aber der General ließ das nicht zu. Da ging sie zum Zaren und erzählte, daß nicht die Generäle sie vor den Drachen gerettet hätten, sondern der Soldat, der am letzten Tisch sitzt. Der Zar ließ die Generäle verhaften und den Soldaten zu sich bringen. Der Soldat kam zum Zaren, und die ganze Sache klärte sich auf. Er zeigte die Drachenzungen und den Streifen vom Kleid der jüngsten Zarentochter. Er erzählte, wie er die jüngste Zarentochter aus dem Kessel des Zauberers befreit und wie er alle drei Töchter des Zaren vor den Drachen gerettet hatte. 180
Der Zar ließ die Generäle erschießen, und der jüngsten Zarentochter erlaubte er, den Soldaten zu heiraten. Auch ich war auf dieser Hochzeit, habe Met und Wein getrunken, die sind mir den Bart entlanggelaufen, aber nicht in den Mund gekommen. Damit ist das Märchen zu Ende.
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7 Erbse und der Drache So, lieber Herr, jetzt werde ich dir dieses Märchen erzählen, aber ohne Vorgeschichte, denn ich habe wenig Zeit. Es lebten einmal ein Vater und eine Mutter, die hatten zwei Söhne und eine Tochter. Die Söhne waren sehr fleißige Burschen. Wenn sie alle Arbeit in ihrer Wirtschaft gemacht hatten, arbeiteten sie noch in einem anderen Zarenreich. Einmal gingen sie für drei Tage fort und sagten zu den Eltern: „Wenn wir in drei Tagen nicht da sind, dann soll uns Pelageja (ihre Schwester) das Essen bringen, und damit sie weiß, wo wir uns aufhalten, werden wir Stroh auf den Weg streuen.“ Nun gut, sie gingen. Sie gingen und gingen, streuten Stroh und sagten zueinander: „Hier wird unsere Pelageja entlangkommen. So wird sie den Weg finden.“ Nicht weit von hier wohnte ein Drache mit eiserner Zunge, ein furchtbarer Drache. Er fing alle jungen Frauen und Mädchen und zerrte sie zu sich in seinen knöchernen Palast. Von dort kam niemand zurück. Der Drache hörte die Brüder sagen, wozu sie das Stroh auf den Weg streuten. Da sammelte er das ganze Stroh auf, streute es auf den Weg, der zu seinem Palast führte, und wartete auf Pelageja. 182
Er dachte sich: Wenn sie zu den Brüdern geht, kommt sie dem Stroh nach direkt zu mir. So geschah es auch. Es verging ein Tag, die Brüder waren noch nicht da, es verging ein zweiter, ein dritter, und sie waren noch nicht da. Da packten die Eltern Essen ein und sagten zur Tochter: „Du, Töchterchen, geh schnell zu den Brüdern mit dieser Speise. Geh den Weg, auf den sie Stroh gestreut haben!“ Da ging Pelageja los. Sie war schon sehr hübsch. Alle Burschen liefen ihr nach, sogar der Gutsbesitzer gab ihren Eltern keine Ruhe. Er sagte immer: „Komm zu mir, es wird dir sehr gut gehen.“ Sie aber wollte nicht. Sie ging und ging, und dann sah sie den knöchernen Palast des Drachen. Schnell wollte sie zurücklaufen, da hörte sie es brausen und brausen, sie drehte sich um und sah den Drachen. Er ergriff sie, brachte sie in den Palast und sagte: „Ich wollte schon lange zu dir, nun habe ich dich gefaßt! Jetzt wirst du mit mir leben wie meine Frau.“ Sie begann zu weinen, aber was half das? Soviel wie einem Toten der Weihrauch… Pelagejas Brüder fanden gute Arbeit bei einem Gutsherrn. Sie begannen zu arbeiten, aber am vierten Tag hatten sie kein Brot mehr. Da verließen sie die Arbeit, gingen nach Hause und verfluchten Pelageja und die Eltern, weil sie ihnen nichts zu essen geschickt hatten. So kamen sie nach Hause. Bei der Hütte fingen sie ein Geschrei an und machten mächtigen Lärm wegen des Brotes. Die armen Eltern aber sperrten 183
Mund und Nase auf und wunderten sich. Sie hatten doch Pelageja zu den Söhnen geschickt, und die Söhne hatten sie nicht zu sehen bekommen? Sie sagten den Söhnen, daß sie Pelageja mit Brot geschickt hätten, erst gestern. Alle waren verwundert und standen kreidebleich da. Vielleicht hätten sie noch lange so gestanden, wenn nicht der älteste Sohn gesagt hätte: „Ich gehe Pelageja suchen.“ Wie er es gesagt hatte, so tat er auch. Er ging fort. Er ging, ging den Weg entlang, der mit Stroh bestreut war, und bemerkte nicht, daß das nicht der gleiche Weg war, den sie gegangen waren. So kam er zu dem knöchernen Palast, wo er Pelageja traf. Sie sagte zu ihm: „So und so, ich Unglückliche bin hineingeraten, lauf fort, Bruder, schnell, denn der Drache frißt dich auf!“ Er aber sagte: „Wenn wir schon fortlaufen, dann gemeinsam.“ Sie entgegnete: „Nein, Bruder, er hört meinen Atem und holt mich ein. Du aber lauf fort!“ Sie hatte das gerade gesagt, als es toste, und zwar so stark, daß sie taub wurden. Sie schauten auf, und da war der Drache schon da. Pelageja sagte zu ihm: „Mein Bruder ist zu uns gekommen.“ „Gut“, sagte der Drache, „bring ihn zu mir!“ Er ging. Als sie ins Haus kamen, sagte der Drache: „Frau, gib uns eiserne Bohnen zu kosten!“ Sie brachte sie. Als der Drache zu essen begann, kamen Funken aus seinem Mund. Der unglückliche Bruder nahm eine Bohne und hätte sich fast die Zähne ausgebrochen. Da spuckte er die Bohne aus. Als der Drache das sah, fiel er 184
über den armen Burschen her und brüllte: „Warum ißt du nicht, sondern spuckst die Bohne aus? Willst du sie etwa nicht, weil sie mein ist?“ So schrie der Drache und schrie und sagte schließlich: „Komm, wir gehen und sehen uns meine Reichtümer an!“ Sie gingen, und der Drache hängte ihn am Hoftor auf. Er kam zurück und sagte: „Liebe Frau, ich habe deinen Bruder aufgehängt, denn er wollte die Bohne nicht essen.“ Sie aber, die Arme, weinte kleine Tränen… Aber was sollte sie tun? Sie weinte, weinte und hörte wieder auf. Als sie am nächsten Tag auf dem Weg spazierenging, sah sie ihren anderen Bruder kommen. Auch dieser Unglückselige wurde neben dem Bruder aufgehängt, weil er die Bohne nicht gegessen hatte. Die Eltern warteten auf ihre Söhne einen Tag, einen zweiten Tag, ungefähr sechs Tage, und sie waren immer noch nicht da. Einmal ging die Alte vor dem Weihnachtsfest Wasser holen. Da sah sie eine Erbse den Weg entlangrollen. Sie hob sie auf, betrachtete sie und aß sie auf. Nach einigen Tagen fühlte sie, daß sie schwanger war, und nach einer oder zwei oder drei Wochen gebar sie einen schönen und gewaltig großen Burschen. Der war kaum geboren, da schrie er schon: „Mutter, gib mir zu essen!“ Und seine Stimme war so tief, daß alle erschraken und nicht wußten, was für ein Wunder das war. Dieser Bursche wuchs nicht in Tagen, sondern in Stunden und war nach einem Monat riesengroß 185
und hatte solch einen Bart, daß sogar der Vater sich vor ihm fürchtete. Sie überlegten und überlegten, wie sie ihn nennen sollten, was sie ihm für einen Namen geben sollten. Da nannten sie ihn Erbse. Eines Tages sagte Erbse zu den Eltern: „Hier, Eltern, habt ihr eine Anstecknadel, geht zum Schmied und sagt, daß er eine Keule von sieben Pud daraus schmieden soll!“ Der Vater dachte bei sich: „Das ist ein Dummkopf. Aus einer Nadel, mit der sich die Frauen Blumen oder Bänder anstekken, will er eine sieben Pud schwere Keule haben?“ Er schüttelte den Kopf, fuhr aber in die Stadt und kaufte sieben Pud Eisen und befahl einem Schmied, dem Sohn eine Keule zu schmieden. Der Schmied schmiedete und schmiedete mit seiner ganzen Kraft. Der Vater freute sich. Er kam nach Hause und warf dem Sohn die Keule vom Wagen, daß es nur so seine Art hatte. Erbse nahm die Keule mit einer Hand auf und schleuderte sie in die Höhe. Sie flog zum Himmel hinauf. Dann ging er essen. Er aß und sprach mit den Eltern: „Jetzt wollen wir auf den Acker gehen, Väterchen, die Keule kommt gleich zurück.“ Der Vater zitterte, aber er ging mit. Sie kamen auf den Acker, und der Sohn sagte: „Siehst du das Schwarze da am Himmel, Väterchen? Da fliegt meine Keule.“ Der Vater konnte gerade noch hinsehen, als die Keule auch schon um sie herumsauste. Erbse hielt das Knie hin, die Keule schlug dagegen und zerbrach in Stücke. „Ach Vater, was hast du mir für 186
eine Keule machen lassen? Sie ist wohl nicht aus der Nadel gemacht, die ich dir gegeben habe?“ sagte Erbse. Der Vater erschrak so, daß er mit den Zähnen klapperte und sich dabei ein Stück Zunge abbiß. Aber nachdem er sich ein wenig erholt hatte, fuhr er gleich in die Stadt und kaufte in einem Laden zehn Pud englisches Eisen, und derselbe Schmied schmiedete aus diesem Eisen eine neue Keule. Der Vater nahm die Keule und brachte sie dem Sohn. Er probierte sie aus wie die erste, aber diese Keule war fest, sie verbog sich nur ein wenig. Erbse wurde wieder fröhlich, nahm die Keule, schleuderte sie, daß sie nur so lossauste und sagte: „Nun, Vater, ich gehe jetzt die Schwester suchen.“ Der Vater dachte: Da mag dir Gott helfen! Ohne lange zu überlegen, nahm Erbse seine Keule und ging direkt zum Drachen. Der Drache, der seine große Kraft fühlte, trat heraus und kam ihm auf dem Wege entgegen. Sie schauten einander an, und jeder erschrak vor dem anderen. Pelageja stand in der Nähe. Erbse sah sie und erriet, daß das seine Schwester sein mußte. Aber er sagte nichts. Nachdem sie ein Weilchen so gestanden hatten, sagte der Drache: „Komm Bruder, essen wir ein paar Bohnen!“ So gingen sie und setzten sich auf eiserne Tische. Als sich Erbse hinsetzte, fiel der Tisch auseinander. Der Drache wunderte sich und gab ihm einen anderen Tisch, auch einen eisernen, aber einen stärkeren. Erbse setzte sich, und auch dieser Tisch verbog sich ein wenig. Dann begannen 187
sie eiserne Bohnen zu essen. Sie aßen und aßen, bis sie alles aufgegessen hatten. Der Drache wurde ganz rot, ganz übel wurde ihm, weil sich ein Mensch gefunden hatte, der ihm überlegen war. Er wand sich und wand sich, dann sagte er zu Erbse: „Komm Bruder, laß uns meine Reichtümer ansehen!“ „Gut!“ So gingen sie. Sie kamen in die Scheune, von dort aus waren die Tore zu sehen, und an diesen Toren hingen zwei Tote. Da fragte Erbse: „Wer ist das?“ „Das sind die Brüder meiner Frau.“ Erbse schüttelte es, und er dachte bei sich: Da hast du es! Du bist zu spät gekommen. Aber er sagte: „Ach, du nichtsnutziger Drache! Du hast also meine Brüder aufgehängt!“ Er packte den Drachen an der Brust und stieß ihn in die Erde, so daß er bis zum Gürtel einsank. Dann ergriff er seine Keule und schlug ihn so auf den Rücken, daß das Blut floß, und als er noch einmal zugeschlagen hatte, war der Drache schon tot. Nun ging Erbse zur Schwester und sagte: „Ich bin dein Bruder, und du bist meine Schwester. Deinen Drachen habe ich schon erschlagen.“ Sie aber glaubte ihm nicht. „Wie kannst du mein Bruder sein?“ sagte sie. „Ich habe keine Brüder außer denen, die am Tor hängen.“ Und sie begann zu weinen. Erbse erinnerte sich der Brüder. Er ging und hob sie von dem Tor herunter. Dann erschlug er einen Stier, zog ihm das Fell ab, kletterte in dieses Fell und blieb so liegen. Da kamen auf einmal schwarze Raben und hackten in das Fell, und er unter dem Fell ergriff einen Raben. Der 188
arme bettelte und bat, ihn wieder fortzulassen. Er wolle machen, was er wolle, nur solle er ihn fortlassen. „Ja“, sagte Erbse, „bring mir Lebenswasser!“ Und als der Rabe es versprochen hatte, ließ er ihn wieder los. Erbse hatte sich kaum umgesehen, als der Rabe auch schon wiederkam. Im Schnabel brachte er ein Gefäß mit Lebenswasser. Erbse nahm dieses Wasser und benetzte den Brüdern die Augen damit. Da wurden sie lebendig und fragten: „Wer bist du, wem können wir danken?“ Erbse aber sagte: „Ich bin euer Bruder, und zu danken braucht ihr mir nicht.“ Sie glaubten ihm aber nicht und dachten: Wie kann er unser Bruder sein? Wo kommt er her? Aber trotzdem dankten sie ihm und machten sich auf den Weg. Sie nahmen Pelageja und liefen nach Hause. Als sie zu Hause angekommen waren, erzählten sie den Eltern, was mit ihnen geschehen war und daß sich der Mensch dort ihr Bruder nenne. Die Eltern hörten sie an, beteten und sagten, daß es stimme. „Dieses wunderbare Wesen ist bei uns zur Welt gekommen, aber wo ist er jetzt?“ Erbse aber war in den Pferdestall des Drachen gegangen, hatte sich ein gutes Pferd und zwei Windhunde, die immer bellen, ausgewählt und war in die Welt geritten. Aber wo er jetzt ist, wer weiß das? Vielleicht reitet er jetzt gerade irgendwo. Die Eltern und die Kinder leben noch wie früher miteinander, nur die Burschen freien nicht mehr um Pelageja. 189
8 Ilja Muromez Es waren einmal ein Mann und eine Frau, denen wurde ein Sohn Ilja geboren. Der Sohn konnte dreißig Jahre lang nicht laufen. Als der Vater und die Mutter einmal in die Kirche gegangen waren, kam ein alter Mann zu dem Sohn und sprach: „Mach mir auf!’’ Ilja sagte: „Ich kann nicht aufstehen.“ Der Alte aber sagte: „Steh auf und öffne mir!“ Ilja stand auf, öffnete dem Alten die Tür und stellte ihm Wein dafür hin, als Dank, daß er hatte aufstehen können. Der Alte trank nur wenig. Als er etwas abgetrunken hatte, reichte er das andere Ilja. Dieser trank das ganze Faß Wein aus. Der Alte stellte ihm ein neues hin, und Ilja trank auch dieses aus. Da sprach der Alte: „Fühlst du dich nun stark oder nicht?“ Ilja sagte: „Ja, wenn in der Erde ein Pfahl wäre, würde ich die ganze Erde umdrehen.“ „Geh“, sagte der Alte, „kauf dir bei einer alten Frau ein zottiges Pferd und füttere es mit Hirse. Dann wirst du auf ihm reiten können.“ Ilja kaufte sich ein Pferd, fütterte es mit Hirse, und da wurde es ein starkes Pferd. Dann machte er sich einen hundert Pud schweren Bogen und ritt hinaus ins freie Feld.
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Ilja ritt über Felder und Berge, und plötzlich sank sein Pferd auf einem Felsen bis an die Knie ein. Ilja wollte nach Kiew reiten, aber da wurde ihm der Weg nach Tschernigow gewiesen. Er ritt weiter und kam an einen Fluß, und über den Fluß mußte eine Brücke gelegt werden. Er stellte das Pferd neben eine Fichte und begann die Fichte zu fällen. Als er die Fichte gefällt hatte, machte er eine Brücke über den Fluß. Er überquerte den Fluß, erblickte einen Menschen und fragte ihn: „Welcher Weg führt nach Tschernigow?“ Der Mann sagte ihm, daß er nicht nach Tschernigow kommen könne. Ilja fragte: „Warum denn nicht?“ Da sagte der Mann: „Dort ist ein Drache, der hat zwölf Köpfe. Er tötet einen Menschen auf sieben Werst Entfernung durch Pfeile. Da kommen noch nicht einmal Soldaten durch. Niemand kann gegen ihn an.“ Da sagte Ilja: „Aber ich komme durch!“ Der Mann zeigte ihm den Weg, und Ilja ritt los. Als er sich dem Drachen auf fünf Werst genähert hatte, pfiff der Drache, und Iljas Pferd fiel auf die Knie. Ilja sagte: „Warum bist du hingefallen? Du bekommst eins hinter die Ohren.“ Dann ritt er weiter. Er legte noch eine Werst zurück, richtete Pfeil und Bogen auf den Drachen und schoß ihm damit sechs Köpfe ab. Der Drache fiel von der Eiche und winselte wie ein Hund. Da trat Ilja ganz dicht an den Drachen heran und zerschlug ihn in kleine Stücke. 191
Von Tschernigow aus ritt Ilja direkt nach Kiew. Er kam nach Kiew und trat in eine Hütte, wo man ihn fragte: „Wie bist du hergekommen?“ Er erzählte ihnen alles. Es waren auch Soldaten dort, und diese sagten: „Du hast eine unbesiegbare Kraft überwunden. Was willst du bei uns werden?“ Ilja sagte: „Ich will keine Belohnungen von euch.“ Er blieb zwei Tage dort und ritt dann weiter. Er ritt über freie Felder und kam wieder zu den Felsen. Dort traf er einen Weggenossen, den Rekken Sorko. Der Recke Sorko hatte einen zweihundert Pud schweren Bogen und war noch stärker als Ilja. Sorko sagte zu ihm: „Fahren wir zu meinem Vater auf Besuch. Aber wenn du zu meinem Vater kommst, gib ihm nicht die Hand. Mache den hundert Pud schweren Bogen im Feuer heiß und gib ihm den.“ Ilja ritt los. Er machte den hundert Pud schweren Bogen heiß, der Alte aber war blind und konnte nichts sehen. Ilja sagte zu ihm: „Sei gegrüßt, Alter!“ und gab ihm den Bogen. Da sagte der Alte: „Du wirst noch lange leben, weil du eine so heiße Hand hast“, und zerdrückte den Bogen. Ilja und Sorko blieben zwei Tage dort und ritten dann weiter. Sie ritten zusammen über freie Felder und über die Felsen. Da fanden sie eine Kiste, und Ilja sagte: „Das ist ein schöner Sarg!“ Da sagte Sorko: „Der paßt gerade für dich.“ 192
Ilja legte sich in die Kiste, aber sie war zu groß für ihn. Da stieg er wieder aus der Kiste und sagte: „Recke Sorko, leg du dich hinein! Laß uns sehen, ob sie für dich paßt!“ Der Recke Sorko stieg vom Pferd, legte sich in die Kiste und sagte: „Mach sie zu, sie paßt gerade.“ Da sperrte Ilja den Recken Sorko in die Kiste ein, jener aber sagte: „Mach auf, warum soll ich denn hier liegen?“ Ilja konnte sie aber nicht mehr aufmachen, denn um die Kiste hatte sich ein eiserner Reifen gelegt. Da sagte Ilja: „Ich kann sie nicht aufmachen!“ „Schlag mit der Keule.“ Ilja schlug mit der Keule auf die Kiste, aber sofort wurden es drei Reifen. Da sagte er: „Ich kann sie nicht zertrümmern.“ „Schlage weiter!“ Ilja schlug noch einmal mit der Hundert-PudKeule, und plötzlich war die Kiste ganz aus Eisen. Da sagte Ilja: „Ich kann dich nicht mehr befreien.“ Da sagte der Recke Sorko zu ihm: „Setz dich drei Tage zu mir, bis blauer, grüner und weißer Schaum aus mir fließt. Durch den Schaum wirst du meine Kraft erhalten.“ Ilja tat so, wie ihm der Recke gesagt hatte. Er aß den Schaum auf und wurde so stark, wie der Recke Sorko gewesen war. Er nahm das Pferd des Recken Sorko, setzte sich darauf und ritt los.
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So ritt er wieder über freie Felder, und nicht einmal der Tod konnte ihn fassen. Er ritt auf einen eisernen Berg und sah dort auf dem Berg einen kleinen Napf stehen. Zwei Liter Wasser gingen dort hinein. Dieser Napf erschien ihm so interessant, daß er mitgenommen werden mußte. Ilja beugte sich vom Pferd herab, um den Napf zu nehmen. Er faßte ihm am Stiel an, konnte ihn aber nicht aufheben. Da dachte er: Ich bin so stark und kann Berge zertrümmern, wie kommt es nur, daß ich diesen kleinen Napf nicht aufheben kann? Ilja stieg vom Pferd, ergriff den Napf mit beiden Händen und wollte ihn aufheben. Er strengte sich so an, daß ihm das Blut aus den Augen schoß, aber er konnte den Napf nicht aufheben. Dadurch verlor Ilja zwei Teile seiner Kraft. Er ritt noch zwei Tage, wurde dann ganz schwach und starb auf den Felsen.
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9 Der Recke Es lebten einmal ein alter Mann und eine alte Frau. Sie lebten in Eintracht und liebten sich das ganze Leben lang. Zusammen schafften und arbeiteten sie, und zusammen ruhten sie sich aus. Sie waren glücklich. Nur in einem hatte Gott ihnen keine Freude gegeben: Sie hatten ein ganzes Menschenalter hindurch zusammengelebt und keine Kinder gehabt. Wer sollte ihnen nun im Alter das Wasser reichen? Oft sprach die Alte davon und trocknete sich dabei die Tränen an der Schürze ab. „Weine nicht, Frau“, tröstete sie dann ihr Mann, „nur Gott kann helfen. Er ist gütig, vielleicht erfreut er uns noch im Alter.“ Die Alte hörte auf zu weinen und lachte leise. Manchmal glänzten ihre Augen vor Freude, und ihr ganzes Gesicht zog sich in Falten wie ein Gitter. Ihr wißt ja, ein Mensch verliert niemals die Hoffnung auf das Glück, denn ohne Glück kann man auf der Welt nicht leben. Oft baten die jungen Leute die alte Frau, bei ihren Kindern zu bleiben. Aber die Alte sträubte sich immer dagegen, denn sie fürchtete natürlich, daß man sie Großmütterchen nennen und auslachen würde, wenn sie selbst einmal ein Kind hätte. Einmal war ihr Mann in der Scheune, und die Alte machte sich am Ofen zu schaffen und buk 195
Pfannkuchen. Da sprang ein Feuerball durch das Fenster und hüpfte in der Hütte umher. Die Frau erschrak und wußte nicht, was sie tun sollte. Der Feuerball hüpfte und hüpfte und hüpfte der Alten in den Schoß. Sie hielt sich am Waschfaß fest, und kaum war sie wieder zur Besinnung gekommen, da fühlte sie, daß etwas in sie hineingekrochen war und in ihrem Schoß rumorte. Sie fühlte sich so wohl, daß sie sich niedersetzte. Da überkam sie Schwäche, sie schleppte sich zur Pritsche und legte sich hin. Sie lag eine Weile dort; dann kam sie wieder zu sich und wunderte sich über das, was geschahen war. Der Alten verlangte nach Quellwasser, Heringen und Essig. Sie jagte den Alten los, alles das herbeizuholen. Als die Alte den jungen Leuten davon erzählte, sagten diese, daß sie wohl ein Kind bekäme. Die jungen Frauen lachten über die Alte, jedoch diese glaubte es immer noch nicht. Aber bald begann ihr Bauch rund zu werden. Da glaubte auch die Alte, daß sie schwanger war, und freute sich, daß sie noch ein Kind bekommen würde. Sie gebar einen sehr hübschen Jungen und konnte sich nicht genug darüber wundern. Wenn man ihn aufhob, um ihn zu warten, sah man, daß er drei Teufelsrippen hatte.1 Da wunderten sich die Frauen und sagten, daß er sicher ein Recke werden würde. 1
Nach dem in Belorußland vor der Revolution verbreiteten Volksglauben unterscheiden „Teufelsrippen“ einen Recken von gewöhnlichen Menschen. (L. B.)
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Der Knabe wuchs und sammelte Kraft. Und bald war er so stark, daß ihn kein Mann mehr besiegen konnte. Der Recke wuchs, wurde noch stärker und machte sich schließlich auf den Weg in die weite Welt. Wie ihn auch die beiden Alten baten, sie doch im Alter nicht zu verlassen, es half nichts. „Was soll ich hier mit euch sitzen und Hühner jagen? Ich gehe, Feinde zu suchen, und komme entweder selbst um oder töte die Feinde.“ Da war nichts zu machen. Der Alte und die Alte brachten ihren Sohn auf den großen Weg und führten ihn unter Geheul aus dem Dorfe. Dort verabschiedeten sie sich und kehrten auf den Hof zurück, denn weiter konnten sie nicht gehen. Sie waren doch schon sehr alt. Da ging der Recke – so nannten sie ihn alle – in den dunklen Wald und pfiff so laut, daß die Blätter von den Bäumen fielen. Da erschraken die Vögel und versteckten sich in den Zweigen oder im Gestrüpp. Die wilden Tiere erschraken auch und versteckten sich, wo sie nur konnten. In dem Walde lebten sieben Brüder, sieben Räuber, und niemand wagte es, durch diesen Wald zu gehen oder zu fahren. Sie lebten dort und fürchteten niemanden. Die Räuber hörten das Pfeifen und gingen dem Recken entgegen. Der war zu einer Lichtung gekommen, hatte dort ein Feuer angemacht und saß nun daran und briet sich Speck an einem kleinen Spieß. Da umringten ihn plötzlich die Räuber.
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„Wer seid ihr und was wollt ihr?“ fragte der Recke. „Wer bist du, daß du es gewagt hast, in unseren Wald zu kommen?“ fragte der Räuberhauptmann. „Wer ich bin, wirst du erfahren, wenn wir beide unsere Kräfte messen, aber der Wald gehört nicht euch, sondern Gott. Gott hat ihn allen Menschen zur Nutzung gegeben.“ „Das ist unser Wald. Das ist unser Reich. Wir sind seit langen Zeiten die Besitzer hier.“ „Ihr seid Räuber. Ihr habt diesen Wald durch Raub an euch gebracht. Ich aber bin gekommen, um euch Gottes Werk abzunehmen und es allen Menschen zu geben.“ „Ha, wie stark du bist! Laß uns zuerst kämpfen. Wir wollen sehen, wer von uns stärker ist.“ „Nun, dann los!“ Da nahm der älteste Räuber eine eiserne Keule von zehn Pud Gewicht und stellte sich vor dem Recken auf. Der Recke schaute sich um, und da sah er in der Nähe eine Eiche stehen, so groß, daß sie drei Mann kaum umfassen konnten. Der Recke ergriff diese Eiche und riß sie mit der Wurzel heraus. Als die Brüder das sahen, flehten sie ihn an, daß er sie nicht umbringen sollte. „Sei unser Hauptmann, dann werden wir die ganze Welt erobern!“ „Nein“, sagte der Recke, „ich bin nicht gekommen, um die Welt zu beherrschen, sondern um die Welt von den Herren zu befreien, denn jeder 198
Mensch ist sein eigener Herr. Wer Herr über andere Menschen sein will, der ist mein Feind.“ Da baten die sieben Brüder, die sieben Räuber, den Recken, sie als seine Gefährten anzunehmen. „Gut!“ sagte der Recke. Und so zogen sie gemeinsam weiter. Sie gingen von einem Dorf zum anderen, und überall sagte der Recke, daß kein Mensch über den anderen herrschen sollte und daß Gott alles allen Menschen gegeben hat. Er sagte immer: „Iß dein Brot, gib auch den anderen Menschen davon, lebe zufrieden und nutze niemanden aus! Denn wer gern beißt, den beißen auch die anderen.“ So lehrte der Recke die Menschen, in Eintracht und Liebe zu leben. Dann würde ihnen kein Leid geschehen, sagte er, denn eine in Eintracht lebende Gemeinde ist wie ein großer Mensch, ein großer Recke, ist stärker als alle Recken. Dieses Wort ging durch die ganze Welt. Da erschraken die Herren und beschlossen, den Recken zu fangen. Lange suchten sie ihn und konnten ihn nicht finden. Da wollten die sieben Brüder, die sieben Räuber, selbst Herren sein. So verschworen sie sich und verrieten den Recken. Die Gutsherren freuen sich darüber, nannten die Räuber ihre Brüder, nahmen den Hut vor ihnen ab und gaben ihnen Geld, viel Geld und allerlei Sachen. Die Räuber versuchten, die Menschen zu überreden, den aufsässigen Recken zu verraten. Die einen überredeten sie, die anderen versetzten sie in Furcht, und die dritten machten sie betrunken. Es gibt bekanntlich immer viele dumme Menschen, 199
die bereit sind, ihren Kopf in die Schlinge zu stekken. Sie sagten den Gutsherren, wo sich der Rekke aufhielt. Da holten die Gutsherren Soldaten zusammen und fielen über den Recken her. Ihr kennt ja die Soldaten: Wenn man es ihnen befiehlt, bringen sie selbst den eigenen Vater um. Der Recke wußte jedoch noch nichts und hatte sich schlafen gelegt. Da fielen die Soldaten über ihn her, banden ihn mit Stricken und führten ihn zu den Gutsherren. Viele Menschen waren zusammengekommen. Der Recke tat ihnen leid, aber was half es? Sie konnten diesen guten Menschen nicht befreien. Die Soldaten führten den Recken in den Hof, und die Menschen liefen hinterher. Die Männer hielten die Köpfe gesenkt und schwiegen, die alten Frauen weinten und beteten. „Warum verläßt du uns? Wer wird uns dann noch ein gutes Wort sagen?“ Inzwischen hatten sich so viele Gutsherren versammelt, daß man auf ihren Köpfen wie auf einem Weg hätte entlangspazieren können. Sie heulten wie die Wölfe am Kadaver, weil sie den Recken gefangen hatten, lachten, unterhielten sich, rieben sich die Hände und überlegten, zu welcher Strafe sie ihn verurteilen sollten. „Zieht ihm die Haut lebendig vom Leibe!“ sagte der eine; der zweite: „Schlagt ihm Nägel in den Körper!“; der dritte: „Hängt ihn an der Zunge auf, damit die ganze Welt erfährt, daß ein Bauer kein Herr sein kann!“; und der vierte sagte: „Schneidet ihm die Zunge heraus und schlagt ihm die Beine ab, damit
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er nicht mehr durch die Welt ziehen und die Leute beschwatzen kann!“ Während sie so schrien und eine Strafe überlegten, streckte sich der Recke, zerriß die Stricke und sagte zu den Menschen: „Brüder, wenn der Teufel die Gutsherren holt’, dann hätte die Welt fortan keine Not; doch wären die armen Bauern nicht, gäb’s nichts zu trinken und kein Brot. Wollen wir ohne Elend leben, müssen sich alle wie ein Mann erheben. Ihr dürft nicht gegeneinander geh’n, müßt einig den Feinden widersteh’n!“ So sprach der Recke und verschwand. Nur ein Feuerball rollte von dieser Stelle aus über die Erde. Die Gutsherren und die Soldaten erschraken, standen da und zitterten. Sie kamen zu sich und sahen ängstlich um sich wie Wölfe in der Grube. Der Recke aber geht noch heute durch die Welt und lehrt die Menschen: „Nur dumme Bauern zanken sich und kriechen vor den Herr’n. Nur dumme Bauern schweigen stets, drum liegt ihr Glück so fern. Doch sicher kommt die Zeit herbei, dann werden alle Menschen frei. 201
Keiner schafft für sich allein, und jeder wird ein Herrscher sein.“
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10 Der kluge Bursche Dieses ist das Märchen nicht, sondern nur das Vorgedicht. Das Märchen kommt morgen nach dem Essen, wenn wir uns an weichem Brot sattgegessen haben. Und jetzt beginnen wir mit dem Märchen. In irgendeinem Zarenreich, in irgendeinem Staate, gerade in dem, in dem wir leben, gegenüber dem Himmel, auf der Erde; auf einer glatten Stelle wie auf einem Hammel, sieben Werst beiseite, lebte einmal ein Zar, der hatte einen Sohn Iwan und eine Tochter Olga. Als der Zar starb, gab er dem Sohn einen Ring und sagte: „Söhnchen, wenn du heiraten willst, so nimm das Mädchen zur Frau, dem dieser Ring paßt.“ Nun begann der Zarensohn sich nach einer Braut umzusehen. Zuerst freite er um Zarentöchter, aber der Ring paßte keiner. Dann freite er um Königstöchter und um Prinzessinnen, aber vergeblich, der Ring paßte keiner. Da wurde der Zarensohn nachdenklich und dachte, daß es eine solche Braut vielleicht gar nicht gäbe. Seine Schwester Olga, die Mitleid mit ihrem Bruder hatte, sagte: „Was ist denn das für ein Ring, der niemand paßt? Komm, ich probiere ihn einmal!“
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Sie nahm den Ring und steckte ihn sich auf den Finger. Der Ring legte sich wie ein Hündchen an das andere an ihren Finger. Da sagte der Zarensohn: „So mußt du also meine Frau werden, Schwester!“ Die Schwester wurde verlegen und sagte: „Gib mir drei Tage Zeit zum Überlegen!“ Es vergingen zwei Tage, und am dritten Tag beschloß sie, fortzulaufen und niemals wieder nach Hause zurückzukehren. Sie zog sich einfache Männerkleidung an, hängte sich allerlei Taschen um wie eine Bettlerin und ging los, um durch die Welt zu ziehen. Sie wanderte durch die Dörfer, wurde sehr müde und kehrte in einer Hütte bei einem Bauern ein, um sich auszuruhen. Das Mädchen war hübsch, und der Bauer fragte sie: „Warum zieht denn so ein hübsches Mädchen durch die Welt?“ Sie antwortete: „Aber was soll ich denn anders tun, wenn ich zu Hause hungern muß?“ „Bleib bei mir und arbeite“, sagte der Bauer, und zu seinem Sohn sagte er: „Sieh mal, Janko, gefällt dir dieses Mädchen?“ „Ja, sie sieht nicht schlecht aus, ich wäre sogar einverstanden, sie zu heiraten“, antwortete der Sohn. Das Mädchen sagte zu, bei der Familie zu bleiben, und bald feierte man Hochzeit. Nach einem Jahr wurde ihnen ein Sohn geboren. Einmal lud ein Verwandter des Bauern alle zu irgendeinem Fest ein. Sie als ehemalige Zarentochter, die nirgends mit ihrem einfachen Mann 204
gewesen war, fürchtete, daß er sie vor den Gästen bloßstellen könnte. Darum sagte sie zu ihrem Manne: „Geh du mit Väterchen und Mütterchen, und ich bleibe bei dem Kind zu Hause.“ Der Mann war einverstanden, ließ die Frau zu Hause und ging mit dem Vater und der Mutter zu Besuch. Die Zarentochter saß in der Hütte bei dem Kind und wollte aber gern sehen, wie sich ihr Mann unter Menschen benimmt. So zog sie sich schnell an, ließ das Kind in der Hütte zurück und lief, um durch das Fenster zu schauen. Zur selben Zeit aber wanderte der Bruder der Zarentochter, der Zarensohn Iwan, durch die Welt und suchte seine Schwester. Es war ein kalter Abend, er war vom Laufen müde geworden, da erblickte er ein Licht in einer Hütte und ging auf das Licht zu. Er trat in die Hütte, aber niemand war da, nur in der Wiege lag ein kleines Kind. Als der Zarensohn sah, daß niemand da war, mit dem er sprechen konnte, wollte er schon wieder umkehren und fortgehen, als er eine Stimme sagen hörte: „Onkelchen, nimm mich mit!“ Der Zarensohn schaute in alle Ecken der Hütte, bemerkte aber nirgends jemand und wandte sich wieder zur Tür. Da hörte er von neuem die Stimme: „Onkelchen, nimm mich mit!“ Wieder schaute sich der Zarensohn um und bemerkte niemand. Er ging an die Wiege heran und fragte das Kind: „Sprichst du etwa mit mir?“ Da antwortete das kleine Kind: „Ja, ich bitte dich, Zarensohn, nimm mich mit!“
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„Aber wie soll ich dich mitnehmen? Du erfrierst ja, draußen ist Winter.“ „Nein, ich erfriere nicht, am Haken hängt Mutters Schafpelz. Reiß von dem Schafpelz einen Ärmel ab und steck mich dort hinein!“ Der Zarensohn interessierte sich sehr für das Kind. Er nahm den Schafpelz, riß einen Ärmel ab, steckte das Kind hinein und fuhr nach Hause. Er brachte das Kind in seinen Zarenpalast und zog es groß wie ein Zarenkind. Einige Jahre später ging der Junge auf dem Zarenhof spazieren, als zwei Generäle aus dem Gefolge des Zarensohns vorbeigingen und miteinander sprachen, daß der Zarensohn keine Braut finden könne. „Ich würde bestimmt eine Braut für ihn finden“, sagte der eine. „Und ich würde eine noch bessere finden“, prahlte der andere. Der Junge hörte sie und sagte: „Ach, ihr Hammel! Ihr werdet für den Zarensohn schon eine Braut finden, wenn er selbst so lange gesucht und keine gefunden hat!“ Den Generälen gefielen solche Worte nicht, und sie gingen zum Zarensohn, um sich zu beschweren. „Eure Hoheit, Euer Junge hat uns Generäle Hammel genannt…“ Da wurde der Zarensohn auf den Jungen böse. Er dachte, man könne einen Bauern noch so gut erziehen, er werde doch ein Bauer bleiben, und da sei es besser, ihn umzubringen. Er rief den Jun-
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gen zu sich und fragte: „Hast du solche Worte zu den Generälen gesagt?“ „Ja“, antwortete der Junge, „aber wie konnte ich denn ihre Worte dulden, daß nur sie allein eine Braut für Euch finden könnten? Sie können nur prahlen, aber finden werden sie doch keine. Ich will Euch eine Braut suchen. Gebt mir Geld und ein Jahr Zeit und führt alles aus, um was ich Euch bitten werde.“ All dies geschah schon vor langen Zeiten. Dampfer gab es damals noch nicht, sondern nur Schiffe, die mit Rudern vorwärtsgetrieben wurden. Der Junge beschloß, ein großes Schiff zu bauen, und dazu brauchte er viel Zeit und viel Material. Der Zarensohn besorgte dem Knaben bereitwillig alles Material. Nach einem Jahr war das Schiff fertig. Der Junge nahm die besten und erprobtesten Matrosen auf das Schiff, lud viele wertvolle Sachen und begab sich auf die Reise. Ob er lange gefahren ist oder nicht, ist nicht bekannt, aber er kam mit seinem Schiff in das dreimal neunte Königreich. Der Junge machte das Schiff am Ufer fest und ließ seine Soldaten in die Stadt gehen, befahl ihnen aber: „Wenn euch jemand fragt, woher das Schiff gekommen ist, so sagt nichts und schickt die Leute hierher auf das Schiff, damit sie den Obersten fragen.“ Die Soldaten gingen, sich die unbekannte Stadt anzuschauen, und der Junge wollte auch ein wenig spazierengehen. Er, als kleiner Junge, zog die Kapitänsuniform, die ganze Paradeuniform, aus und ging, nur in Hosen, mit den Matrosen spazie207
ren und nach Mädchen Ausschau halten. Da sah der König dieses Landes das fremde Schiff, und es interessierte ihn, wem es gehört und wo es hergekommen ist. Er schickte seinen General, um alles über das Schiff zu erkunden. Der General kam auf das Schiff, Matrosen vom Schiff kamen ihm entgegen. Da fragte der General: „Woher ist das Schiff gekommen?“ Die Matrosen antworteten: „Wir wissen nichts, geht auf das Schiff und fragt unseren Obersten nach allem!“ Der General ging auf das Schiff, schaute sich um, sah, daß niemand dort war außer den Matrosen und einem kleinen Jungen, und kehrte wieder um. Der Junge trat von hinten an ihn heran und schrieb ihm schnell auf die Uniform: „Schickt mir nicht mehr solche Dummköpfe!“ Der General kehrte zu seinem König zurück und berichtete ihm, daß niemand auf dem Schiff gewesen sei, von dem man eine Auskunft erhalten könnte. Er erzählte alles und wandte sich zur Tür um. Da las der König auf der Generalsuniform: „Schickt mir nicht mehr solche Dummköpfe!“ Der Herrscher schimpfte seinen Berater aus, fand es aber interessant, daß sich ein Mann gefunden hatte, der seinen ersten General einen Dummkopf nannte. Da schickte der Herrscher seinen zweiten General auf das Schiff. Der General ging los und zitterte, da er Angst hatte, daß man ihn auch Dummkopf nennen könnte. Er kam auf das Schiff, schaute alles aufmerksam an und fragte: „Wer ist hier euer Oberst?“ 208
Der Junge antwortete: „Ich“, zog sich schnell an und bat den General in die Kajüte. Dort log er dem General vor, daß er ganz herrliche Waren für den Verkauf in fremden Ländern habe. Daß er dorthin wolle, wo sein Vater wohnt, und in diesem Königreich hier nun haltmache, das Schiff repariere und aus diesem Grund einige Tage hierbleiben werde. Dem General übergab er eine Einladung an den König, daß er mit seiner Familie kommen solle, um die Waren anzuschauen. Der Herrscher freute sich sehr über die Einladung, und am nächsten Tag begab er sich mit seiner ganzen Familie zum Schiff. Der Junge zeigte ihnen alle interessanten Sachen auf dem Schiff, und dann lud er sie zum Essen ein. Nach einem schmackhaften Essen dankte die Familie des Herrschers dem Jungen für den herzlichen Empfang. Am folgenden Tag kam nur die Tochter des Herrschers, eine sehr hübsche Königstochter. Der Junge zeigte ihr noch mehr interessante Sachen und beschäftigte sie so sehr damit, daß sie gar nicht bemerkte, daß das Schiff bereits vom Ufer abgestoßen hatte. Als sie sich umschaute, war das Schiff schon sehr weit entfernt, und keine Tränen halfen ihr mehr. Plötzlich stieß sie gegen das Deck, wurde zu einer Taube und wollte davonfliegen. Aber der Junge fing sie geschickt, setzte sie in seine Kajüte riegelte die Tür fest zu, stellte eine Wache der besten Matrosen auf und befahl, niemanden in die Kajüte hinein-, und niemanden herauszulassen. Aber als er all dies gerade befohlen hatte, stieß die Taube mit einem Flügel an den Arm des Jun209
gen, wurde zu einem Schwein und stürzte sich auf den Wachhabenden. Der Junge konnte rechtzeitig mit dem Säbel ausholen, um das Zauberschwein zu erschlagen, da begann es wehleidig zu bitten: „Schlag mich nicht, ich will wieder zur Königstochter werden und nicht mehr davonlaufen.“ So gelangten sie in Ruhe und Frieden zu ihrem Zarenreich. Als der Zarensohn das bekannte Schiff sah, bereitete er einen großen Empfang vor. Der Empfang war sehr herzlich, denn der Königstochter paßte der Ring gerade. Der Junge nahm den Zarensohn beiseite und sagte leise zu ihm: „Eure Hoheit, da habt Ihr Eure Braut. Paßt aber auf die Braut auf, denn sie kann davonlaufen. Steckt sie die ersten beiden Wochen in ein besonderes Zimmer und stellt eine Wache auf!“ Gleich darauf aber fiel dem Jungen ein, daß der Zarensohn nicht genug auf die Königstochter aufpassen könnte und sie ihm fortlaufen würde. Er würde sie dann wieder suchen müssen. Daher beschloß er, vom Zarenpalast fortzulaufen, warf die Uniform ab und lief davon. Er lief fort, ließ sich aber unweit der Hauptstadt dieses Zarenreiches nieder. Bei einem Bauern blieb er als Tagelöhner. Geld nahm er keines von ihm, denn ihm kam es nur darauf an, sich versteckt zu halten. Der Zarensohn war so in die junge hübsche Königstochter verliebt, daß er alle Worte und Ermahnungen des Jungen vergaß, und so lief sie ihm auch fort. Der Zarensohn ließ in der ganzen Welt nach dem Jungen suchen, denn ohne ihn konnte er ja nichts machen. Er suchte ihn einen 210
Tag, einen zweiten, einen zehnten, einen Monat, einen zweiten Monat, doch der Junge war nicht zu finden. Da beschloß der Zarensohn zusammen mit seinen Beratern folgendes: Sie ließen sich einen sehr hohen Pfahl zurechthobeln, stellten ihn auf den Platz, legten ganz oben tausend Rubel darauf und schrieben folgende Bekanntmachung an den Pfahl: „Wer auf die Spitze klettert, kann sich das Geld nehmen.“ Viele Leute lasen diese Bekanntmachung, aber niemand gelang es, bis zur Spitze zu kommen. Einmal fuhr der Bauer mit dem Jungen an dem Platz vorbei, und der Bauer las diese Bekanntmachung. Da begannen dem Bauern die Augen zu brennen, denn er wollte das Geld gerne haben. Der Junge sagte zu ihm: „Was denn, das ist doch eine Kleinigkeit, das Geld zu holen! Ich kann das tun, aber behüte Euch Gott, wenn Ihr jemanden sagt, daß ich das Geld geholt habe! Gebt mir nur für den Anfang einen Rubel.“ Der Junge nahm den Rubel, ging zum Schmied und ließ sich Haken machen, um gut auf den Pfahl zu kommen; und in der Nacht kletterte er hinauf, nahm die tausend Rubel und gab sie seinem Herrn. Am nächsten Tag erfuhr man am Zarenhof, daß das Geld nicht mehr auf der Spitze war, und dem Zaren wurde sofort klar, daß dies nur jener listige und kluge Junge getan haben konnte. Da ließ der Zar in seinen Städten folgende Bekanntmachung aushängen: „Wer den klugen Jungen versteckt
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hält, muß dies morgen dem Zaren melden. Wer dies aber nicht tut, wird schwer bestraft.“ Der Bauer las die Bekanntmachung, erschrak und verriet den Jungen an das Zarenheer. Sie brachten den Jungen zum Zarensohn, und dieser sagte zu dem Jungen: „Du mußt die Königstochter wiederfinden. Gelingt es dir nicht, mußt du sterben!“ Da war nichts zu machen, und der Junge war bereit, die Königstochter zu suchen. Er baute wieder ein Schiff, suchte die besten Matrosen und Soldaten aus und begab sich auf die Reise. Dieses Mal ließ er sein Schiff etwas weiter entfernt vom Lande des Königs vor Anker gehen und fuhr selbst mit einem kleinen Schiff unbemerkt ans Ufer. Er sagte, wenn sie den ersten Schuß hörten, so sollten sie zum Ufer fahren. Wenn sie den zweiten Schuß hörten, sollten sie vom Schiff an Land gehen und in den Palast eindringen, und wenn sie den dritten Schuß hörten, so sollten sie den Kampf aufnehmen. Dann fuhr der Junge los. Er hatte sich wie ein Bettlerjunge angezogen und ging in die Palastküche, um sich etwas zu essen geben zu lassen. Den Köchinnen tat der Junge leid. Sie gaben ihm zu essen, und aus Dankbarkeit wusch er das ganze Geschirr, brachte Wasser heran und hackte Holz. Er gefiel den Köchinnen des Königs sehr, und die Köche sagten zu dem Jungen: „Warum willst du durch die Welt ziehen? Bleib bei uns in der Küche!“
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So blieb der Junge in der Küche. Einmal waren die Köche alle lange ausgegangen und baten den Jungen, sie am anderen Morgen zu wecken. Der Junge hatte Mitleid mit ihnen und bereitete selbst Frühstück und Mittagessen zu. Das Essen schmeckte dem König gut, und er wunderte sich, warum die Köche nicht schon früher so schmackhaft gekocht hatten. „Ich möchte jetzt jeden Tag so schmackhaftes Essen auf dem Tisch haben“, befahl der König. Die Köche baten den Jungen auf Knien, sie nicht ins Unglück zu stürzen, in der Küche zu bleiben und solches Essen zu kochen. Aber einmal aß die junge Königstochter, sprang plötzlich auf und sagte: „Das ist ja das gleiche Essen, das ich auf dem Schiff bei diesem Bösewicht gegessen habe! Man muß ihn sofort fangen und bestrafen!“ Man faßte den Jungen und brachte ihn zum Galgen. Vor seinem Tode bat der Junge den König, ihm zu gestatten, zu Gott zu beten. Dann gab er alle drei Signale. Schnell umringte seine Schiffsmannschaft die Menge am Galgen, in der auch die ganze Königsfamilie war. Durch die Überraschung geriet die Menge in Verwirrung, und die Mannschaft des Jungen nahm den gesamten Hof des Königs mit Leichtigkeit gefangen. Sie brachten alle Gefangenen auf das Schiff und begaben sich auf die Reise. Der junge Zarensohn bereitete dem Schiff einen sehr großen Empfang. Die Königsfamilie nahm er wie die höchsten Gäste auf.
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Schnell wurde die Hochzeit gefeiert, und die Königstochter wurde die Frau des Zarensohns Iwan. Als nun ein gutes und glückliches Leben begann, sagte der Junge einmal: „Ihr, Zarensohn Iwan, seid mein leiblicher Onkel, und meine Mutter Olga ist Eure Schwester.“ Da freute sich der Zarensohn noch mehr, holte die Schwester an den Zarenhof und gab ihr die Hälfte des Zarenreiches. Vor Freude feierten sie ein großes Fest, auf dem der Wein in Strömen floß. Er lief mir den Bart entlang, kam aber nicht in meinen Mund hinein.
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11 Der listige Trunkenbold Es war einmal ein russischer Zarensohn, Iwan Iwanowitsch, der spielte sehr gern Karten. Hinter den Meeren, in irgendeinem Zarenreich, lebte Wassiliska Teufelsweib, die auch gern Karten spielte. Und dieser Iwan Iwanowitsch wußte auch, daß sie gern Karten spielte, er konnte zu ihr fahren und mit ihr Karten spielen. Sie spielten lange Zeit, und spielten so lange, bis Iwan Iwanowitsch, der russische Zarensohn, alles im Kartenspiel verloren hatte. Er hatte so viel verloren, daß auch die Zarenkrone verspielt war. Als er nach Hause gefahren war, mauerte Wassiliska Teufelsweib die Krone in einen Ofen ein. Er fuhr zurück in sein Herrscherhaus und machte sich Vorwürfe. Dann sammelte er eine Rotte Soldaten um sich und sagte: „Zieht durch mein ganzes Zarenreich und holt mir einen Mann, der bereit ist, meine Krone zu suchen.“ Ein Soldat ging in ein Wirtshaus, in ungefähr ein solches wie in Gorodischtsche, und fragte dort, ob jemand da sei, der die Zarenkrone suchen wolle. Da stieg ein Mann in dem Wirtshaus aus dem Ofen und meldete sich: „Ich kann das!“ „Wer bist du?“ „Ich bin der listige Trunkenbold und große Säufer!“ 215
Der Soldat bestellte ihm ein Glas Schnaps, aber da sagte der listige Trunkenbold: „Ach, du Soldat! Der listige Trunkenbold läßt sich’s lustig sein in der Kneipe und trinkt nicht aus einem solchen Gläschen.“ Und er zeigte ihm einen Eimer: „Das ist mein Glas!“ Als der Soldat sah, daß jener ein Reckenmensch war, da bemühte er sich um ihn. Er sah, daß sein Kittel schon alt war, kaufte ihm einen neuen und brachte ihn zum Zaren. Er führte ihn zum Zaren und sagte: „Seid gegrüßt, Eure Zarenhoheit!“ „Nun, wie heißt du?“ fragte der Zar. „Ich heiße der listige Trunkenbold und große Säufer.“ „Kannst du meine Krone bei Wassiliska Teufelsweib suchen?“ Er antwortete dem Zaren: „Das kann ich, nur brauche ich dazu ein Regiment Soldaten, ein Schiff Pulver und die ganze Ausrüstung, die die Soldaten brauchen.“ Sollte der Zar da lange warten? Sie begaben sich auf das Schiff und fuhren über die Meere. Sie fuhren vielleicht einen Monat und mehr und näherten sich dem Palast, machten aber ungefähr drei Werst vor dem Palast von Wassiliska Teufelsweib halt. Dann stieg der listige Trunkenbold ans Ufer, ging am Ufer entlang und befahl ihnen zu warten. Der listige Trunkenbold und große Säufer kam zum Palast. Rund um den Palast hatte sich ein großer Drache gewunden, der hielt den Schwanz mit den Zähnen. Wer in den Palast ging, 216
den ließ er hinein, wer aber aus dem Palast herauskam, den ließ er nicht durch. Der Drache ließ ihn hinein, und der listige Trunkenbold trat in das erste Zimmer. Als er eintrat, sah er die Zarenkrone, die im Ofen eingemauert war. Der listige Trunkenbold riß sie gleich heraus und versteckte sie unter seiner Jacke. Dann ging er zu Wassiliska Teufelsweib. „Sei gegrüßt, Wassiliska Teufelsweib!“ „Sei gegrüßt, listiger Trunkenbold! Warum bist du hierhergekommen?“ „Ich habe gehört, daß Ihr gern Karten spielt.“ „Ja, das stimmt.“ „Dann gestattet mir, zum Schiff zu gehen. Ich habe dort ein Kartenspiel, mit dem Ihr die ganze Welt gewinnen könnt.“ „Nun, dann geh zum Schiff und hole mir dieses Kartenspiel!“ Sie ging auf den Hof und rief: „Wachhabender! Laß den listigen Trunkenbold und großen Säufer zum Schiff!“ Da ging er los. Er kam auf das Schiff und sagte zu den Soldaten: „Paßt auf, Jungs, Wassiliska Teufelsweib wird euch überfallen!“ Er selbst aber setzte sich in ein leichtes Boot und fuhr los. „Rudert! Fahrt los, so schnell ihr könnt, Jungs, und verteidigt euch mit der Waffe!“ Er fuhr los. Er fuhr einen Tag, vielleicht auch zwei, da wollte er gern etwas essen. Er stieg ans Ufer und ging am Ufer entlang. Dort stand eine Hütte. Er ging hinein, auf dem Tisch standen ein Kübel Kohl und ein Kübel Reis. Der listige Trun217
kenbold setzte sich an den Tisch und aß. Er aß, und es ärgerte ihn nur, daß er nicht wußte, wessen Tisch das war. Aber er aß weiter. Als der listige Trunkenbold gegessen hatte, blieb er sitzen. Und warum blieb er sitzen? Mit der Hütte hatte es folgende Bewandtnis: Wer hinein wollte, den ließ sie hinein, aber heraus ließ sie niemanden. Er saß und wartete. Da kam der Besitzer dieser Hütte, ein einäugiger Recke, und sagte: „Ah, hier riecht es nach russischen Knochen!“ Er erwiderte: „Das sind keine russischen Knochen, das ist der listige Trunkenbold.“ „Ah! Du bist das, der listige Trunkenbold, der meine Schwester besiegt hat?“ Wassiliska Teufelsweib hatte nämlich ihre Leute zum Schiff geschickt, sie konnten es aber nicht erreichen, weil die Soldaten, die auf dem Schiff geblieben waren, aus Kanonen nach ihnen schossen. Wassiliska Teufelsweib hatte gewartet und gewartet, und schließlich hatte sie es nicht mehr abwarten können. Sie hatte sich auf einen eisernen Mörser gesetzt und war zum Schiff geflogen. Auf dem Schiff hatte sie sich niedergelassen, einen Soldaten gepackt und ihn gefragt: „Bist du der listige Trunkenbold?“ Als der Soldat sagte: „Ich bin der listige Trunkenbold“, ergriff sie ihn und verschlang ihn. So aß sie das ganze Schiff auf. Unterdessen saß der listige Trunkenbold mit dem einäugigen Recken beim Mittagessen. Der
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einäugige Recke sagte: „Warum schaust du mich so an, listiger Trunkenbold?“ „Ich schaue dich so an“, sagte er, „weil du auf einem Auge schielst und mit dem anderen überhaupt nicht siehst.“ „Kannst du mich etwa heilen?“ „Ich könnte dich heilen, wenn du die Sachen hättest, die ich brauche.“ „Welche Sachen brauchst du denn?“ „Ich brauche ein Pud Stroh, eine gute eiserne Kette und einen Kessel!“ Da antwortete der einäugige Recke: „Ich habe alle diese Sachen.“ Er gab ihm zuerst den Kessel und dann Teer. Der listige Trunkenbold machte den Teer heiß und ließ ihn sehr heiß werden. Dann sagte er: „Bring die Kette!“ Er brachte ihm die Kette. Der listige Trunkenbold band den einäugigen Recken sofort mit der Kette. „Streck dich, wir wollen sehen, ob sie stark genug ist!“ Er streckte sich, und die Kette zerriß. „Nein“, sagte er, „such eine stärkere!“ Der einäugige Recke brachte eine zweite Kette, und der listige Trunkenbold band ihn mit der zweiten Kette. „Streck dich noch einmal!“ Er streckte sich, und diese Kette gab nicht nach. Da setzte sich der einäugige Recke auf die Schwelle, damit der listige Trunkenbold nicht davonlaufen konnte.
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„Jetzt mache die Augen weit auf!“ sagte der listige Trunkenbold. Er nahm einen Kübel, schöpfte Teer und goß ihm den in die Augen! Da sprang der einäugige Recke auf und zerriß die Kette: „So also willst du mich heilen! Aber paß auf, du entkommst mir nicht!“ Er setzte sich wieder auf die Schwelle und blieb dort sitzen. Der einäugige Recke hatte einen Bock, den er so liebte, daß er sogar mit ihm spazierenging. Der listige Trunkenbold setzte sich auf diesen Bock und schlug ihn unter den Bauch. Wie da der Bock über die Schwelle sprang und über den Recken! Da schrie der einäugige Recke: „Kommst du, listiger Trunkenbold?“ „Ich bin schon draußen!“ „Und wer hat dich hinausgetragen?“ „Der Bock hat mich hinausgetragen.“ Da sprang der einäugige Recke auf, warf ein Beil hinter ihm her und rief: „Hier hast du auch mein Beil.“ Als der listige Trunkenbold das Beil mit einem Finger berührte, blieb dieser Finger am Beil hängen. Da schrie der einäugige Recke: „Hältst du es?“ „Ich halte es ein bißchen.“ Der listige Trunkenbold sah, daß es schlecht um ihn stand, da schnitt er – ritsch – den Finger ab und ging weiter. Er ging und ging, immer am Ufer entlang, vielleicht einen Tag, vielleicht auch zwei, und plötzlich stand da wieder eine Hütte. Er ging in die Hütte hinein. Auf dem Tisch standen ein Kübel Kohl und 220
ein Kübel Grütze. Er setzte sich an den Tisch und begann zu essen. Als er ein wenig gegessen hatte, kam der Recke Vielfraß und sagte: „Ach, hier riecht es nach russischen Knochen.“ Er aber sagte: „Das sind keine russischen Knochen, das ist der listige Trunkenbold.“ Da setzte sich der Recke Vielfraß auch zu ihm hin zum Essen und sagte: „Iß, iß, dann gehen wir los!“ Sie aßen, standen vom Tisch auf, da setzte sich der Recke Vielfraß auf die Schulter des listigen Trunkenboldes. Der trug ihn auch. Er trug ihn bis unter einen Apfelbaum und bat dann: „Laß mich auf den Apfelbaum steigen und Äpfel holen!“ Jener ließ ihn. Er stieg hinauf und holte für sich und ihn Äpfel. Dann setzte sich der Recke Vielfraß wieder auf seine Schulter, und der Trunkenbold trug ihn weiter. Er trug ihn zu einem anderen Apfelbaum. Wer die Äpfel von diesem Apfelbaum gegessen hatte, schlief ein. Da bat der listige Trunkenbold den Recken Vielfraß: „Laß mich auch von diesem Apfelbaum Äpfel holen!“ Der Recke gestattete es. Er stieg hinauf, holte die Äpfel und gab sie ihm zu essen. Als der Recke gegessen hatte, schlief er sofort ein; und als der listige Trunkenbold sah, daß der Recke Vielfraß eingeschlafen war, ging er fort. Er ging und ging wieder am Ufer entlang und kam zu einem Berg, zu einem hohen Berg. Auf diesem Berg kämpften ein Löwe und ein Drache miteinander. Sie baten den listigen Trunkenbold, ihr Richter zu sein. Er entschied so: „Du, Drache, stell dich unter dem 221
Berg auf, und du, Löwe, bleib auf dem Berg stehen. Du, Drache, reiß den Rachen auf, und wenn der Löwe vom Berg herunterläuft, verschluckst du ihn!“ Als der Löwe vom Berg herunter jagte, tötete der listige Trunkenbold den Drachen. Da sagte der Löwe: „Komm, listiger Trunkenbold, setz dich auf mich! Ich bringe dich in dein Zarenreich.“ So trug er ihn davon. Er brachte ihn zum Zarenpalast und sprach: „Listiger Trunkenbold, prahle nirgends damit, daß du auf einem Löwen geritten bist. Wenn du damit prahlst, daß du auf einem Löwen hergeritten bist, wird von dir nichts mehr übrigbleiben.“ Der listige Trunkenbold brachte dem Zaren die Krone und den Reichsapfel mit dem Kreuz darauf und reichte sie dem Zaren. Der Zar fragte ihn: „Was willst du dafür haben?“ „Ich möchte, daß mir überall, wohin ich auch gehe, die Wirtshäuser offenstehen.“ Was sollte der listige Trunkenbold auch schon weiter haben wollen? Der Zar versprach es ihm. Da betrank sich der listige Trunkenbold, und als er betrunken war, prahlte er damit, daß er auf einem Löwen hierhergeritten sei. Sowie er das gesagt hatte, waren die Wirtshäuser sofort alle geschlossen.
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12 Die goldene Feder Vor langen, langen Jahren lebten einmal zwei Brüder, die fuhren einmal nach Senno. Sie fuhren und fuhren und fanden auf dem Wege ein kleines Kind und ein Fohlen. Da sagte der ältere: „Laß mir dieses Kind!“ Der Jüngere aber sagte: „Nein, laß es mir!“ Und so begannen sie sich um das Kind zu zanken. Sie zankten sich und zankten sich und beschlossen endlich: „Wir wollen zum Gutsherrn gehen und ihm dieses Kind bringen. Wir wollen den Gutsherrn entscheiden lassen.“ „So laß uns gehen!“ So redeten sie und gingen zum Gutsherrn. Sie brachten das Kind und das Fohlen selbst hin. Als sie dem Gutsherrn das Kind und das Fohlen gaben und der Gutsherr beides sah, gefielen sie ihm sehr. Da sagte er zu ihnen: „Warum streitet ihr euch? Gebt sie mir lieber! Ich bezahle euch dafür.“ Die Brüder berieten miteinander und gaben dann dem Gutsherrn das Kind und das Fohlen. Der Gutsherr bezahlte ihnen so viel dafür, wie sie vereinbart hatten. Das Kind und das Fohlen blieben beim Gutsherrn. Dieser sperrte jedes in ein Zimmer ein. Ein Zimmer für das Kind und das andere Zimmer für das Fohlen. Das Kind nannte der Gutsherr Iwan223
ko. So zog sie der Gutsherr groß, und sie wuchsen auf. Sie wuchsen aber nicht in Jahren, sondern in Stunden. Schnell erzählt sich ein Märchen, aber eine Sache wird nicht so schnell getan. Iwanko wuchs heran. Der Gutsherr schickte ihn vom Gut in das Dorf, sagen wir von Bogdanowo nach Andrejtschiki, damit er die Bauern zur Fronarbeit hole. Iwanko setzte sich auf sein Pferd und ritt los. Da sah er auf dem Wege eine goldene Feder liegen, und was für eine schöne! Als Iwanko sich hinunterbeugte, um sie aufzuheben, sagte das Pferd zu ihm: „Iwanko! Rühr die Feder nicht an, sonst geschieht ein Unglück!“ Iwanko hörte nicht auf das Pferd, nahm die Feder und ritt in das Dorf, um den Bauern dort zu sagen, daß sie am nächsten Tage zum Gutsherrn zur Arbeit kommen sollten, und ritt zurück zum Hof. Als er dort angekommen war, brachte er die Feder in sein Zimmer und legte sie da hin. Als er sie hingelegt hatte, erstrahlte das ganze Zimmer. Der Gutsherr kam, sah die Feder und sagte zu Iwanko: „Iwanko, gib mir diese Feder!“ Iwanko sagte: „Nimm sie dir!“ Der Gutsherr brachte die Feder in seine Zimmer, und sie beleuchtete die Zimmer bei Tag und bei Nacht. Seit der Zeit begann der Gutsherr Iwanko zu lieben und Mitleid mit ihm zu haben. Da aber schwärzten die Tagelöhner Iwanko beim Gutsherrn an und sagten: „Ach du, unser lieber Gutsherr! Iwanko hat gesagt, daß er den Vogel fangen kann, der diese Feder verloren hat.“
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Der Gutsherr ließ Iwanko rufen und sagte zu ihm: „Nun, Iwanko! Wenn du die Feder gefunden hast, dann such auch den Vogel, der die Feder verloren hat! Wenn nicht, dann schlägt dir mein Schwert den Kopf von den Schultern!“ Als Iwanko das gehört hatte, begann er bitterlich zu weinen. Er lief zum Pferd und sagte: „Ach du mein Pferdchen! Ach mein Gott, ach Gott! Was soll ich tun?“ „Was ist denn?“ „Ach was soll schon sein? Der Gutsherr hat mir befohlen, so, wie ich die Feder geholt habe, so soll ich auch den Vogel holen, der die Feder verloren hat. Aber wenn ich diesen Vogel nicht finde, hat der Herr gesagt, wird mir sein Schwert den Kopf von den Schultern schlagen.“ „Na siehst du, Iwanko, ich habe dir doch gesagt: Rühr die Feder nicht an, sonst geschieht ein Unglück. Aber das ist noch kein Unglück. Das Unglück steht noch bevor.“ „Aber was soll ich denn tun?“ „Geh zum Gutsherrn und laß dir ein Faß Teer und eine Rolle Leintuch geben!“ Iwanko ging zum Gutsherrn, ließ sich dort ein Faß Teer und eine Rolle Leintuch geben und brachte es dem Pferd. „Nun setz dich auf mich, Iwanko, und nimm das Faß Teer und die Rolle Leintuch!“ Iwanko saß auf, und sie ritten los. Sie ritten, ritten und kamen zu einem Fichtenhain. Da sagte das Pferd zu Iwanko: „Jetzt nimm das Leintuch,
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Iwanko, schmiere es mit Teer ein und breite es in diesem Fichtenhain aus!“ Iwanko schmierte das Leintuch ein, breitete es in dem Fichtenhain aus, setzte sich versteckt hin und hielt Wache. Nach einer Weile kam ein Vogel geflogen. Er setzte sich auf das Leintuch und blieb auch daran kleben. Das Pferd rief: „Schnell, Iwanko, fange ihn, damit er nicht wieder fortfliegt!“ Iwanko sprang hervor und ergriff ihn. Er steckte ihn in die Seitentasche, setzte sich auf das Pferd und ritt los. Er kam zum Gutsherrn, gab ihm den Vogel und ruhte sich dann aus. Es verging einige Zeit, da verfaulte dem Gutsherrn das ganze Heu. Der Gutsbesitzer überlegte und überlegte, warum das Heu verfault sein könnte, konnte es aber nicht herausfinden. Da kamen die Tagelöhner wieder und schwärzten Iwanko bei dem Gutsherrn an. Sie sagten: „Ach, lieber Gutsherr! Iwanko hat gesagt, daß er zu Gott gehen könne, um danach zu fragen.“ Der Gutsherr ließ Iwanko rufen. Die Tagelöhner riefen Iwanko. Als er zum Gutsherrn kam, sagte dieser zu ihm: „Iwanko, geh zu Gott und frage ihn, warum mein Heu verfault ist. Wenn du nicht hingehst, schlägt dir mein Schwert den Kopf von den Schultern!“ Iwanko lief zu seinem Pferd, fing bitterlich an zu weinen und sagte: „Ach mein Gott, ach Gott. Ach du mein Pferdchen! Was soll ich nun tun? Der Gutsherr hat gesagt, ich soll zu Gott gehen, um zu fragen, weshalb sein Heu verfault ist.“
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Da sagte das Pferd: „Na siehst du, Iwanko, ich hab’ dir doch gesagt: Rühr die Feder nicht an, sonst geschieht ein Unglück. Doch dies ist noch kein Unglück. Das ganze Unglück steht uns noch bevor.“ „Aber was sollen wir tun?“ „Setz dich auf mich, Iwanko, und laß uns losreiten!“ Iwanko saß auf, und sie ritten los. Sie ritten und ritten, und da sahen sie eine Hütte stehen. Sie gingen in die Hütte, drinnen schaukelte ein alter Mann auf dem Ofen hin und her und schrie um Hilfe. Als Iwanko in die Hütte eingetreten war, fragte er: „Wohin führt dich Gott, Iwanko?“ „Ich gehe zu Gott, um zu fragen, weshalb das Heu des Gutsherrn verfault ist.“ „Ach du, mein Enkelchen, frage Gott, warum ich so auf dem Ofen hin- und herschaukeln muß und nicht heruntersteigen kann und warum mir meine Füße abgefroren sind.“ „Ist gut, ich werde fragen.“ Iwanko ritt weiter und weiter und weiter, da sah er auf dem Wege eine junge Frau liegen, alle traten sie und fuhren über sie hinweg. „Wo führt dich Gott hin, Iwanko?“ „Ich gehe zu Gott, um zu fragen, weshalb das Heu des Gutsherrn verfault ist.“ „Frage Gott, Iwanko, warum ich hier mein ganzes Leben auf dem Wege liegen muß und mich alle treten und alle über mich hinwegfahren.“ „Gut“, sagte Iwanko und ritt weiter. Er ritt und ritt, und da sah er, wie zwei Männer Wasser aus 227
einem Brunnen in den anderen gossen und nicht fertig damit wurden. „Wo führt dich Gott hin, Iwanko?“ „Ich reite zu Gott, um zu fragen, weshalb das Heu des Gutsherrn verfault ist.“ „Sage Gott, Iwanko, daß wir hier unser ganzes Leben lang Wasser aus einem Brunnen in den anderen gießen und nicht fertig werden können. In dem einen Brunnen wird es nicht weniger und in dem anderen nicht mehr.“ „Gut, ich sage es!“, sagte Iwanko und ritt weiter. Er ritt und ritt und kam zum Meer. Da sah Iwanko im Meer einen Fisch liegen, der sich nicht umdrehen konnte. „Wo führt dich Gott hin, Iwanko?“ „Ich reite zu Gott, um zu fragen, weshalb das Heu des Gutsherrn verfault ist.“ „Iwanko, frage doch Gott, warum ich hier auf einer Seite liegen muß und mich nicht umdrehen kann.“ „Gut“, sagte Iwanko, „ich werde fragen.“ Iwanko ritt über das Meer hinweg und ritt weiter. Er ritt und ritt, da sah er eine Hütte stehen. Er ritt um die Hütte herum, und plötzlich trat ein alter Mann heraus. „Wohin reitest du, Iwanko?“ „Ich reite zu Gott, um zu fragen, weshalb in diesem Sommer das ganze Heu des Gutsherrn verfault ist.“ „Dem Gutsherrn ist das Heu verfault“, sagte der alte Mann – das war niemand anderes als Gott –, „weil die Jungfer Polonjanka zwölf Tage im Meer 228
gebadet hat und mit der Sonne spazierengegangen ist. Deshalb hat die Sonne nicht geschienen, es hat geregnet, und deshalb ist das Heu des Gutsherrn verfault.“ Da sagte Iwanko: „Ich habe unterwegs einen Mann gesehen, der in seiner Hütte auf dem Ofen hin- und herschaukelte und um Hilfe schrie, weil er nicht heruntersteigen konnte, und dem die Füße abgefroren sind.“ „Dieser Mann ist der Frost. Er hat bei den Menschen viele Sachen einfrieren lassen, viele Menschen haben durch ihn Hunger gelitten, und viele Menschen hat er zu Waisen gemacht. Wenn er die Hände über Kreuz legt1 und verspricht, daß er niemand mehr frieren lassen und niemand kränken will, dann soll er gehen können. Wenn er aber dafür die Hände nicht über Kreuz legt, so wird er weiter auf dem Ofen liegen müssen und nicht herunterkönnen.“ „Und was ich noch gesehen habe: Da liegt eine junge Frau auf dem Wege, alle fahren über sie hinweg, und alle treten sie, sie haben sie schon festgetreten.“ „Diese junge Frau war eine Hexe, eine Schlange, die fremde Milch gestohlen hat. Die Menschen hatten zwölf Kühe und keine Milch, sie aber hatte nicht eine einzige Kuh und hatte doch Milch. Menschen sind durch sie zugrunde gegangen! Sie liegt auf dem Wege, weil sie die Menschen so sehr ge1
Das Überkreuzlegen der Hände geschieht zum Zeichen des Schwures. (Anm. d. Übers.)
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kränkt hat. Wenn sie die Hände über Kreuz legt und schwört, daß sie nicht mehr von fremden Kühen Milch stehlen will, so soll sie aufstehen. Wenn sie es aber nicht schwört, dann soll sie weiter auf dem Wege liegen!“ „Und was ich noch auf dem Wege gesehen habe: Zwei Männer gießen Wasser aus einem Brunnen in den anderen und können nicht damit fertig werden, denn in dem einen Brunnen wird es nicht weniger und in dem anderen nicht mehr.“ „Diese Männer waren früher reich und haben oft die armen Bauern, junge und alte, zu sich zur Fronarbeit geholt und sich über sie lustig gemacht. Wenn sie die Hände über Kreuz legen und schwören, daß sie das nicht mehr tun wollen, dann werden sie alles Wasser herausbekommen. Wenn sie dafür aber nicht die Hände über Kreuz legen, dann werden sie weiter schöpfen müssen.“ „Und was ich noch gesehen habe: Da liegt auf dem Meer ein großer Fisch schon sein ganzes Leben lang auf einer Seite und kann sich nicht umdrehen.“ „Dieser große Fisch hat ein Regiment Soldaten gefressen. Wenn er sie herausläßt, dann soll er weiterschwimmen können, wenn er sie aber nicht herausläßt, dann wird er weiter dort liegen müssen.“ Da ritt Iwanko zurück zum Hof des Gutsherrn. Er ritt und ritt und kam zum Meer, wo jener große Fisch lag. Der Fisch sagte: „Nun, Iwanko, was hat Gott über mich gesagt?“
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„Warte, ich gehe auf die andere Seite, dann sage ich es dir.“ Er ging auf die andere Seite und sagte: „Gott hat gesagt, daß du das Regiment Soldaten herauslassen sollst, dann kannst du weiterschwimmen. Wenn du es aber nicht herausläßt, kannst du nicht weiterschwimmen.“ Der große Fisch sperrte das Maul auf, und da kamen die Soldaten heraus, und die Musik spielte. Wie sie alle heraus waren, schwamm der große Fisch weiter. Iwanko zog weiter. Er ritt und ritt, da sah er die beiden Männer Wasser schöpfen. „Nun, Iwanko, was hat Gott über uns gesagt?“ „Wartet, laßt mich erst vorbeigehen.“ Er ging vorbei und sagte dann: „Gott hat folgendes über euch gesagt: Ihr wart früher reich und habt die armen Bauern, junge und alte, zur Fronarbeit zu euch geholt und habt euch über sie lustig gemacht. Wenn ihr die Hände über Kreuz legt und schwört, daß ihr die Armen nicht mehr kränken wollt, dann sollt ihr mit dem Wasserschöpfen fertig werden. Wenn ihr es aber nicht tut, dann werdet ihr es nie schaffen.“ Als die Männer das hörten, liefen sie hinter Iwanko her. Iwanko lief und lief und konnte ihnen nur mit Mühe entkommen. Er ging weiter und sah dort auf dem Weg die junge Frau liegen, alle gingen und fuhren über sie hinweg und hatten sie schon ganz festgetreten. „Nun, Iwanko, was hat Gott dort über mich gesagt?“
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„Warte, ich gehe erst vorbei und sage es dir dann.“ Er ging vorbei und sagte zu ihr: „Du warst früher eine Hexe und hast fremde Milch gestohlen, hast viele Menschen gekränkt, und die Menschen sind damals umgekommen. Wenn du die Hände über Kreuz legst und schwörst, daß du es nicht mehr tun willst, so wirst du gehen können, wenn du sie aber nicht über Kreuz legst, wirst du ewig hier liegenbleiben.“ Die junge Frau versprach es und legte die Hände über Kreuz, da konnte sie vom Wege aufstehen. Iwanko zog weiter. Er ritt und ritt und kam zu jenem Mann, der auf dem Ofen hin- und herschaukelte. „Nun, Iwanko, was hat Gott über mich gesagt?“ „Warte, ich gehe erst vorbei, und dann sage ich es dir.“ Er ging vorbei und sagte: „Du warst früher der große Frost und hast viele Sachen bei den Menschen einfrieren lassen, viele Menschen haben deinetwegen Hunger gelitten, und viele Menschen hast du zu Waisen gemacht. Wenn du die Hände über Kreuz legst und schwörst, daß du die Menschen nicht mehr kränken willst, dann kannst du vom Ofen heruntersteigen, wenn du das aber nicht tust, wirst du niemals heruntersteigen können.“ Der Mann legte die Hände über Kreuz, stieg vom Ofen herunter und ging von dannen. Iwanko ritt weiter. Er ritt, ritt, ritt, ritt und kam endlich zum Gutshof. Der Gutsherr fragte ihn: „Nun, 232
Iwanko, was hat Gott gesagt? Weshalb ist mein Heu verfault?“ „Dein Heu, Gutsherr, ist verfault, weil die Jungfer Polonjanka zwölf Tage im Meer gebadet hat und mit der Sonne spazierengegangen ist. Deswegen gab es keine Sonne, sondern es hat geregnet, und so ist dein Heu verfault, hat Gott gesagt.“ „Du bist ein Prachtjunge, Iwanko, geh und ruhe dich aus!“ Iwanko ging sich ausruhen. Es verging einige Zeit, da schwärzten die Tagelöhner Iwanko wieder beim Gutsherrn an. Sie sagten: „Lieber Gutsherr! Iwanko hat gesagt, daß er die Jungfer Polonjanka herbeischaffen könne.“ „Ruft mir Iwanko her!“ Sie liefen und riefen Iwanko aus seinem Zimmer. Er kam zum Gutsherrn, und der Gutsherr sagte: „Iwanko, schaff mir diese Jungfer Polonjanka herbei! Wenn du sie nicht herbeischaffst, wird dir mein Schwert den Kopf von den Schultern hauen!“ Iwanko begann zu weinen und lief zu seinem Pferd. „Ach du mein Pferdchen! Ach mein Gott, ach Gott! Was soll ich tun? Der Gutsherr hat gesagt, ich soll ihm die Jungfer Polonjanka beschaffen, und wenn ich sie nicht herbeischaffe, wird mir sein Schwert den Kopf von den Schultern schlagen!“ „Siehst du, Iwanko, habe ich dir nicht gesagt, du sollst die Feder nicht anrühren, sonst geschieht
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ein Unglück? Nun, diesmal ist es noch kein Unglück, das Unglück steht uns noch bevor.“ „Was sollen wir tun?“ „Setz dich auf mich, wir wollen losreiten und die Jungfer Polonjanka suchen!“ Iwanko saß auf, und sie ritten los. Sie ritten und ritten, da sahen sie den Frostmann gehen, der vorher auf dem Ofen gelegen hatte. „Guten Tag, Iwanko! Wohin führt dich Gott?“ „Sei gegrüßt, ich gehe die Jungfer Polonjanka suchen, der Herr hat es mir befohlen.“ „Nun, Iwanko, dann komme ich auch mit. Du hast mir doch geholfen, vielleicht kann ich dir auch etwas helfen!“ So gingen sie zu zweit weiter. Sie gingen und gingen, da trafen sie jene junge Hexe, die auf dem Wege gelegen hatte. „Guten Tag, Iwanko! Wohin führt dich Gott?“ „Sei gegrüßt! Ich gehe die Jungfer Polonjanka suchen, der Gutsherr hat mir befohlen, sie herbeizuschaffen.“ „Ich komme auch mit, Iwanko. Du hast mir doch geholfen, vielleicht kann ich dir auch etwas helfen.“ So waren sie nun schon zu dritt. Sie gingen und gingen und trafen auf die beiden Männer, die Wasser aus dem Brunnen geschöpft hatten. Sie sagten Iwanko aber nicht guten Tag. Da gingen sie zu dritt weiter. Sie gingen und gingen und kamen zum Meer. Wie sollte man die Jungfer Polonjanka aus dem Meer herausbekommen? Sie überlegten und überlegten, und schließlich fiel ihnen etwas ein. Die 234
junge Frau verwandelte sich in einen kleinen Laden und stellte sich am Meeresufer auf. In diesem Laden gab es viele schöne Bänderchen und Tücher zu sehen, alles war schön und ordentlich, und es war alles da, was man brauchte. Es war so schön dort, das man es nicht beschreiben kann. Die Jungfer Polonjanka steckte den Kopf aus dem Meer, und als sie den Laden erblickte, wollte sie auch gern etwas daraus haben. Aber sie fürchtete, daß dort jemand sei. Sie steckte den Kopf ein zweites Mal heraus, guckte und guckte, es war niemand zu sehen, denn Iwanko hatte sich mit seinem Pferd versteckt, die junge Frau war zu dem Laden geworden, und der Mann zu Frost. Sie steckte den Kopf zum dritten Mal heraus, guckte und sah wieder niemanden. Da dachte sie bei sich: Wenn dort niemand ist, dann will ich in den Laden gehen. Sie stieg aus dem Meer und ging dorthin. Kaum war sie herausgestiegen, als der Frost das ganze Meer einfror. Das Pferd schrie Iwanko zu: „Lauf, Iwanko, und fange die Jungfer Polonjanka schnell!“ Als diese hörte, daß man sie fangen wollte, lief sie zum Meer. Aber dort war schon überall Eis. Iwanko ergriff sie auch sofort. „Nun halte die Jungfer Polonjanka schön fest und laß uns losreiten, Iwanko“, sagte das Pferd. Iwanko dankte der jungen Frau und dem Frost dafür, daß sie ihm geholfen hatten, die Jungfer Polonjanka zu fangen, setzte sich auf das Pferd und ritt zum Gutsherrn zurück. Sie kamen zum Hof, Iwanko gab dem Gutsherrn die Jungfer Po235
lonjanka und ging sich ausruhen. Er ruhte sich gerade etwas aus, da befahl die Jungfer Polonjanka dem Gutsherrn, ihr Kästchen aus dem Meere holen zu lassen. Der Gutsherr rief schnell Iwanko und sagte: „Hol mir das Kästchen der Jungfer Polonjanka aus dem Meer! Wenn du es nicht holst, Iwanko, dann schlägt dir mein Schwert den Kopf von den Schultern.“ Da weinte Iwanko und erhob ein Jammergeschrei. Er lief zu seinem Pferd. „Ach, mein Pferdchen! Ach du mein Väterchen! Ach mein Gott, ach Gott! Was soll ich jetzt tun?“ „Was ist denn los?“ „Der Gutsherr hat mir gesagt, wenn du die Jungfer Polonjanka herbeigeschafft hast, dann schaffe auch jetzt ihr Kästchen aus dem Meer herbei. Wenn du es nicht herbeischaffst, dann wird dir mein Schwert den Kopf von den Schultern schlagen.“ „Siehst du, Iwanko! Habe ich dir nicht gesagt, daß du die Feder nicht anrühren sollst, sonst geschieht ein Unglück? Doch das ist noch kein Unglück, das Unglück kommt noch. Aber irgendwie müssen wir das Kästchen herbeischaffen. Setz dich auf mich, wir reiten los!“ Iwanko saß auf, und sie ritten los. Sie ritten und ritten und ritten und sahen niemanden. Sie kamen zum Meer, da schaute der große Fisch heraus, der auf der einen Seite gelegen hatte. „Guten Tag, Iwanko, wohin führt dich Gott?“
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„Ich soll das Kästchen der Jungfer Polonjanka aus dem Meer herbeischaffen, hat der Gutsherr gesagt.“ „Nun, Iwanko, du hast mir vorher geholfen, jetzt will ich dir helfen. Setz dich hierher, ich werde allen meinen Fischen befehlen, das Kästchen zu suchen!“ Iwanko setzte sich ans Ufer, und der große Fisch schwamm ins Meer hinein und befahl allen Fischen, das Kästchen zu suchen. Die Fische suchten und suchten, fanden es aber nicht. Der große Fisch befahl wiederum zu suchen, ein zweites Mal. Die Fische suchten und suchten, aber sie fanden wieder nichts. Als der große Fisch zum dritten Mal zu suchen befahl, da zogen aber alle Fische los! Oh, wie zischte und brauste da das Meer! Sie suchten und suchten, und schließlich brachte ein kleines Fischchen das Kästchen der Jungfer Polonjanka. Der große Fisch ergriff das Kästchen und gab es Iwanko. Der nahm das Kästchen, bedankte sich, setzte sich auf das Pferd und ritt zum Gutsherrn. Er kam zum Hof, gab das Kästchen der Jungfer Polonjanka und ging in sein Zimmer, um sich auszuruhen. Als er sich ausgeruht hatte, dachte er bei sich: Nun gehe ich nirgends mehr hin. Aber denkst du! Die Jungfer Polonjanka befahl dem Gutsherrn, das Heil- und Lebenswasser herbeizuschaffen. Der Gutsherr rief Iwanko: „Iwanko, geh und hole mir das Heil- und Lebenswasser. Wenn du es bringst, ist es gut, aber wenn du es nicht bringst, wird dir mein Schwert den Kopf von den Schultern schlagen!“ 237
Als Iwanko das hörte, begann er zu weinen und große Tränen zu vergießen. Er lief zu seinem Pferd. „Ach mein Gott, ach Gott! Ach du mein Pferdchen, mein Vater! Was soll ich tun?“ „Was gibt es denn?“ „Ach, der Gutsherr hat mir befohlen, das Heilund Lebenswasser zu holen, und wenn ich es nicht bringe, dann wird mir sein Schwert den Kopf von den Schultern schlagen!“ „Siehst du, Iwanko, habe ich dir nicht gesagt, du sollst die Feder nicht anrühren, sonst wird ein Unglück geschehen? Doch das ist noch kein Unglück, das Unglück kommt noch. Setz dich auf mich. Laß uns losziehen!“ Iwanko saß auf, und sie ritten los. Wie sie so ritten und ritten, kamen sie schließlich zum Meer. Da sagte das Pferd zu Iwanko: „Steig ab und schlachte mich!“ „Wie könnte ich dich denn schlachten! Wer würde mich dann beraten?“ „Ich sage dir doch: Steig ab und schlachte mich! Du steigst in meine Knochen, und wenn die Krähen mich hacken, fange schnell ein Junges!“ Iwanko sagte wieder: „Wie könnte ich dich denn schlachten!“ Aber das Pferd sprach: „Laß nur, schlachte mich! Da kann man nichts machen!“ Iwanko stieg vom Pferd, schnitt ihm den Bauch auf, kroch hinein und versteckte sich in den Knochen. Er saß da und paßte auf die Krähen auf. Da kamen sie auch schon. Die jungen Krähen flogen herbei und schrien: „Vater, Fleisch! Vater, 238
Fleisch!“ Doch der alte Rabe schrie: „Nein, Kinder, das ist unser Verderb, unser Verderb ist das!“ Aber ein Rabenkind flog heran und setzte sich auf die Knochen. Es wollte gerade hacken, da wurde es von Iwanko ergriffen. Da begann der Rabe zu bitten, Iwanko solle ihm doch sein Kind wiedergeben. Iwanko aber sagte: „Flieg und bringe mir das Heil- und Lebenswasser, dann gebe ich es dir. Sonst aber nicht!“ „So gib mir zwei Flaschen, Iwanko!“ Iwanko gab ihm zwei Flaschen. Er band die eine Flasche an den einen Flügel, die andere an den anderen und flog los. Er flog und flog und kam dorthin, wo es das Heil- und Lebenswasser gibt. Da sah der Rabe, daß alte Weiber mit Schürhaken das Wasser bewachten. Es gelang ihm nicht, an das Wasser heranzukommen. Er flog immer um sie herum. Diese Weiber sahen ihn und sagten: „Guckt nur, was für ein sonderbarer Vogel mit Flaschen unter den Flügeln!“ Sie sahen nach ihm hin und gingen vom Wasser weg. Da flog der Rabe schnell zum Wasser, schöpfte in die eine Flasche Heilwasser und in die andere Lebenswasser, stieg auf und flog zu Iwanko zurück. Er brachte ihm das Wasser. Iwanko packte das Rabenkind und riß es in zwei Teile auseinander. Dann nahm er Heilwasser und goß es auf das Rabenkind, da wuchs es wieder zusammen. Dann goß er Lebenswasser darauf, und das Rabenkind wurde wieder lebendig. Es war schon vorher ein schönes Rabenkind gewesen, 239
aber jetzt war es noch hübscher. Da sagte Iwanko: „Flieg und fülle mir die Flaschen nach!“ Der Rabe nahm die Flaschen, versteckte sie unter den Flügeln, nahm auch hübsche Bänder mit und flog los. Er kam zu dem Wasser, dort saßen wieder die alten Weiber mit den Schürhaken und ließen niemanden heran. Was sollte er dort tun? Er flog etwas vom Wasser fort und ließ die Bänder fallen. Die alten Weiber liefen, um die Bänder aufzulesen. Da flog der Rabe schnell zum Wasser, schöpfte es in seine beiden Flaschen und flog davon. Iwanko nahm das Wasser, benetzte das Pferd damit, gab dem Raben sein Kind zurück und ritt zum Gutshof. Dort gab er der Jungfer Polonjanka das Heil- und Lebenswasser. Sie sagte: „Vielleicht betrügst du mich. Ich wende dich zerhacken müssen!“ Iwanko sagte: „Hacke!“ Sie nahm das Beil und zerhackte Iwanko in kleine Stückchen. Dann nahm sie das Heilwasser, bespritzte ihn damit, und er wuchs wieder zusammen. Sie bespritzte ihn mit dem Lebenswasser, und Iwanko erhob sich. „Ach“, sagte er, „wie schön war ich eingeschlafen!“ Iwanko war hübsch gewesen, aber jetzt war er noch viel hübscher geworden! Da sagte der Gutsherr zur Jungfer Polonjanka: „Mach das auch mit mir!“ Jungfer Polonjanka nahm das Beil und zerhackte den Gutsherrn in kleine Stückchen, legte ihn in einen Topf und kochte ihn. Iwanko aber freite um Jungfer Polonjanka, heiratete sie, und so lebten sie zusammen. 240
13 Vom wunderlichen fliegenden Alten und Iwan dem Zarensohn In irgendeinem Zarenreiche, in irgendeinem Staate lebte einmal ein Zar, der hatte ein Heer, das bestand aus Mursen1 und Tataren. In der Nähe dieses Zaren lebte ein Bauer, der hatte drei Söhne, zwei kluge, und der dritte war ein Dummkopf. Sie säten Weizen. Der Weizen gedieh gut. Doch irgend jemand lief immer durch den Weizen, denn der Weizen war niedergetreten. Der Bauer hieß seinen ältesten Sohn den Weizen bewachen. Der ging auch los, ging aber in eine Badestube und schlief durch bis zum Morgen. Als er nach Hause kam, sagte er: „Ich habe niemanden gesehen.“ In der zweiten Nacht ging der mittlere Sohn hinaus. Auch er ging in eine Badestube und schlief durch bis zum Morgen. Als er nach Hause kam, sagte auch er, daß er niemanden gesehen habe. In der dritten Nacht ging der Dummkopf. Er ging zum Weizenfeld und setzte sich auf den Feldrain. Um Mitternacht kam eine gewaltige Herde von Pferden angeflogen, und diese Pferde begannen den Weizen zu zerstampfen. Da kam ein wunderlicher Alter den Feldrain entlang. Er war so groß 1
Mursa – Titel eines niederen Adligen bei den Tataren. (Anm. d. Übers.)
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wie ein Hahn, sein Bart war eine Elle lang, und er trug eine Peitsche von siebzig Sashen Länge. Er ging den Feldrain entlang, wo der Dummkopf saß. Da sprang der Dummkopf auf, verwickelte sich in den Bart des wunderlichen Alten und zog ihn auf die Erde nieder. Er setzte sich auf ihn und ließ ihn bis zum Mittag nicht wieder fort. Die Pferde hörten den Lärm, verwandelten sich in Elstern und Raben und flogen davon. Es kam die Mittagszeit, aber der Dummkopf war immer noch nicht zu Hause. Da sagte der Bauer: „Geht ihn wecken, sonst schläft er noch bis zum Mittag!“ Sie gingen zu dem Dummkopf und dachten, daß ihn ein Tier überfallen hätte, denn er wälzte sich im Weizen. Sie brachten ihn samt dem wunderlichen Alten zum Vater. Der Vater fragte den Dummkopf: „Dummkopf, wo sind denn die Pferde?“ „Sie sind als Elstern und Raben davongeflogen.“ Dann setzte er auf Dummkopfart hinzu: „Wann sind denn jemals Pferde geflogen?“ Der Vater sagte: „Spannt die Pferde vor den Wagen, wir bringen den Alten zum Zaren!“ Der Zar ließ für den Alten ein Häuschen bauen, mit nur einem Fensterchen darin, um ihm Speise zu reichen. Er gab die Schlüssel der Zarin und befahl, ihn nicht herauszulassen. Dieser Zar hatte einen Sohn. Der Vater hatte ihm zum Spielen drei Keulen schmieden lassen, eine kupferne, eine silberne und eine goldene. Der Zarensohn ging im Garten spazieren und warf mit den Keulen. Die 242
eine flog ins Wasser, die zweite ins Gras, und die dritte flog zu dem wunderlichen Alten hinein. Da sagte der Zarensohn: „Ach wunderlicher Alter, gib mir meine Keule zurück!“ „Laß mich heraus, dann gebe ich sie dir zurück! Du mußt das so machen. Geh und sage: ‚Mütterchen, ich habe Kopfschmerzen.’ Sie wird mit deinem Kopf beschäftigt sein, dabei ziehst du ihr die Schlüssel aus der Tasche, und so bringst du sie dann auch wieder zurück.“ Der Zarensohn kam zur Mutter. „Mütterchen, ich habe Kopfschmerzen!“ Die Zarin liebte ihren Sohn sehr. Sie fragte ihn, wovon ihm der Kopf schmerze. Sie begann ihn zu streicheln und zu küssen; dabei zog er ihr heimlich die Schlüssel heraus, lief fort und ließ den wunderlichen Alten frei. Der Alte sagte: „Leb wohl, Iwan Zarensohn!“ und flog davon. Der Zarensohn kam wieder zu seiner Mutter und sagte: „Mütterchen, ich habe Kopfschmerzen!“ Die Zarin begann ihm wieder den Kopf zu streicheln, und dabei steckte er ihr wieder heimlich den Schlüssel zu. Der Zar lud alle Könige und Fürsten ein. Da kamen alle Fürsten und Könige, um sich den wunderlichen Alten anzuschauen. Als sie das Häuschen öffneten, sahen sie, daß dort niemand mehr war, nur ein Haufen Schmutz. Da wurde der Zar sehr zornig und sagte: „Wenn ich erfahre, wer ihn herausgelassen hat, so werde ich diesem den
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Kopf abschlagen!“ – Alle Fürsten und Könige fuhren wieder davon. Einmal ging Iwan Zarensohn mit dem Sohn des Gärtners im Garten spazieren, und Iwan Zarensohn sagte zum Gärtnerssohn: „Was würde mit dem passieren, der den wunderlichen Alten herausgelassen hat?“ „Ach, Iwan Zarensohn, das ist schon lange her. Jetzt würde ihm nichts mehr dafür geschehen.“ „Nun, dann höre: den wunderlichen Alten habe ich herausgelassen!“ „Aber wie?“ „Nun so und so!“ Der Gärtnerssohn lief sofort zum Zaren. „Eure Hoheit, wißt Ihr das Neueste?“ „Was denn?“ „Den wunderlichen Alten hat Euer Sohn, Iwan Zarensohn, herausgelassen!“ „Wie denn?“ „Nun so und so!“ Der Zar wurde zornig, nahm seinen Sohn gefangen und schrieb an alle Fürsten und Könige: „Kommt alle in mein Zarenreich! Ich werde meinen Sohn hinrichten lassen.“ Da kamen alle Könige und Fürsten und sagten: „Was hast du davon, wenn du deinen Sohn hinrichten läßt? Wenn es dir nicht leid um ihn tut, so verjage ihn aus dem Palast und enterbe ihn.“ Der Zar hörte auf ihren Rat und jagte Iwan Zarensohn aus dem Hause. Da ging der Zarensohn, wohin die Augen schauten, aber dann dachte er: Ich gehe zum Vater zurück und bitte ihn um ein 244
Pferd und um den Sohn des Wasserträgers als Weggenossen. Er kehrte zum Vater zurück. Der Vater gab ihm ein Zarenpferd und Zarenkleidung. Die Mutter gab ihm Geld, und den Sohn des Wasserträgers mit dem Pferd des Wasserträgers gab man ihm als Weggenossen mit. Sie ritten und ritten und bekamen Durst. Sie fanden einen Brunnen, aber das Wasser darin war ungefähr vier Arschin vom Brunnenrand entfernt, und darin schwamm eine hölzerne Tasse. Wie sollte man da trinken? Da sagte der Sohn des Wasserträgers: „Komm, ich binde dich an die Leine und lasse dich hinunter. Du trinkst dich dort satt und gibst mir auch etwas.“ Der Sohn des Wasserträgers band Iwan Zarensohn an eine Leine und ließ ihn in den Brunnen hinunter. Der Zarensohn trank sich satt und sagte: „Wasserträger, zieh!“ „Ich ziehe nicht!“ „Warum nicht?“ „Tausche mit mir Kleidung und Pferde aus! Wenn du Iwan Wasserträger wirst und ich Iwan Zarensohn werde, dann ziehe ich. Wenn du nicht willst, magst du dort umkommen!“ „Nun, so zieh, ich bin einverstanden!“ Der Wasserträger zog ihn hinauf und tauschte mit ihm die Pferde und die Kleider aus. Iwan Zarensohn wurde Iwan Wasserträger, und Iwan Wasserträger wurde Iwan Zarensohn.
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Sie kamen in das Reich des Zaren Demjan. Zar Demjan fragte: „Wer seid ihr?“ Der Wasserträger sagte: „Ich bin Iwan Zarensohn, und das ist mein Wasserträger.“ Da sagte der Zar: „Du sollst bei mir Minister werden, und ich will dich mit meiner Tochter verheiraten. Deinen Wasserträger schicke ich in den Pferdestall zum Arbeiten.“ Man steckte ihn in den Pferdestall. Dort waren dieselben Pferde, die der wunderliche Alte gehütet hatte. Am Morgen trieb Iwan Zarensohn diese auf die Felder, durch die neuen Tore in die weiten Fluren hinaus. Er trieb sie hinaus und setzte sich dann auf eine kleine Anhöhe. Da wurden die Pferde zu Elstern und Raben und flogen irgendwohin. Er saß auf der kleinen Anhöhe und sprach zu sich selbst: „Ach, wenn ich hier umkomme, dann nur durch den wunderlichen Alten!“ Da kam der wunderliche Alte zu ihm geflogen, und sein Bart zitterte. „Iwan Zarensohn, setz dich auf mich! Wir fliegen zu mir.“ Iwan Zarensohn setzte sich auf ihn, hielt sich an seinem Bart fest und flog so in das Reich des wunderlichen Alten. Der brachte ihn in sein Haus, in ein dreistöckiges Haus, und sagte zu seiner Frau: „Meine liebe Frau, wird ein guter Gast nicht auch gut empfangen?“ „Aber natürlich, führe ihn an den Tisch!“ Der Alte gab ihm zu essen und zu trinken. Dann kamen der große Sohn und die große Tochter des Alten. „Hier“, sagte der große Sohn, „schenke ich dir ein kupfernes Pferd.“ Die große Tochter kam 246
heran und sagte: „Hier, Iwan Zarensohn, schenke ich dir einen goldenen Ring dafür, daß du unseren Vater vom Tode errettet hast.“ Iwan Zarensohn bedankte sich bei ihnen für die Bewirtung und für die Geschenke. Das kupferne Pferd ließ er ins Feld hinaus, und den Ring schob er auf die rechte Hand. Dann setzte er sich bei dem wunderlichen Alten auf die Schultern und kam an die Stelle zurück, wo er die Pferde gehütet hatte. Der Alte schrie mit Reckenstimme, und die Pferde kamen alle zusammen. Iwan Zarensohn trieb sie nach Hause. Er ging in seine Hütte, aß Abendbrot, stieg auf den Dachboden, nahm den Ring ab, legte ihn ins Fenster und begab sich zur Ruhe. Der Ring aber leuchtete dort. In der Nacht ging die Zarentochter auf die Treppe hinaus und sah, daß da irgendwo etwas leuchtete. Sie schickte ihre Dienerin hinaus, sie sollte nachsehen, wo es leuchtet. Diese erforschte es und sagte zur Zarentochter: „Das ist der Ring bei Iwan Wasserträger.“ Die Zarentochter gab der Dienerin Geld und befahl ihr, diesen Ring zu kaufen. Die Dienerin kam zu Iwan Wasserträger gelaufen. „Wanko Wasserträger, verkaufst du der Zarentochter den Ring?“ „Wer ihn haben will, der soll selbst kommen!“ Da kam die Zarentochter. „Wanko Wasserträger, verkaufst du den Ring?“ „Ich verkaufe ihn nicht, aber Euer Gnaden gebe ich ihn so.“
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Die Zarentochter nahm den Ring und sagte: „Du bist kein Wasserträger, du bist wahrscheinlich aus Zarengeschlecht!“ „Nein, ich bin Wasserträger!“ Die Zarentochter ging ins Haus, und Iwan Zarensohn legte sich wieder hin und schlief ein. Am anderen Morgen trieb Iwan Zarensohn früh die Pferde ins Feld. Er trieb sie hinaus und setzte sich auf die kleine Anhöhe. Da wurden die Pferde zu Elstern und Raben und flogen wer weiß wohin. Der wunderliche Alte kam eiligst angeflogen, Iwan Zarensohn setzte sich auf ihn und flog mit ihm als sein Gast. Man gab ihm zu essen und zu trinken. Da kamen der mittlere Sohn und die mittlere Tochter. Der mittlere Sohn sagte: „Iwan Zarensohn, hier hast du ein silbernes Pferd dafür, daß du unseren Vater vom Tode errettet hast.“ Die mittlere Tochter gab ihm eine selbstspielende Gusli: „Hier, Iwan Zarensohn, das ist dafür, daß du unseren Vater vom Tode errettet hast.“ Iwan Zarensohn ließ sein silbernes Pferd ins Feld hinauslaufen, nahm die selbstspielende Gusli in die Hände und flog mit dem wunderlichen Alten zu der kleinen Anhöhe. Der Alte rief mit Reckenstimme, und die Pferde kamen alle zusammen. Iwan Iwanowitsch trieb sie nach Hause, aß Abendbrot, stieg auf den Dachboden, hängte die Gusli an die Wand, legte sich auf das Bett und sagte: „Gusli, spiele!“ Da begann die Gusli sehr schön zu spielen. Das hörte die Zarentochter, und sie sagte zu der Dienerin: „Wo wird da gespielt?“ 248
„Das ist bei Iwan Wasserträger.“ Die Zarentochter gab ihr Geld und befahl ihr, die Gusli zu kaufen. Die Dienerin kam zu ihm: „Wanko Wasserträger, verkauf der Zarentochter diese Gusli!“ „Wer sie haben will, soll selbst kommen!“ Da kam die Zarentochter: „Wanko Wasserträger, verkauf mir diese Gusli!“ „Ich verkaufe sie nicht, sondern gebe sie Euer Gnaden so.“ Die Zarentochter nahm die Gusli und sagte: „Ach, du bist doch aus Zarengeschlecht!“ „Nein, ich bin Wasserträger!“ Die Zarentochter ging ins Haus zurück, und Iwan Zarensohn schlief ein. Am anderen Morgen jagte Iwan Zarensohn die Pferde früh ins Feld hinaus. Er jagte sie hinaus und setzte sich auf die kleine Anhöhe. Da wurden die Pferde zu Elstern und Raben und flogen wer weiß wohin. Der wunderliche Alte kam angeflogen, hob Iwan Zarensohn auf seinen Rücken und brachte ihn in sein Haus. Man gab ihm zu essen und zu trinken. Da kamen der jüngste Sohn des wunderlichen Alten und die jüngste Tochter. Der Sohn schenkte Iwan Zarensohn ein goldenes Pferd, und die Tochter schenkte ihm Tanzstiefel. Der Alte hob ihn auf die Schultern und brachte ihn zurück auf die kleine Anhöhe, von wo er ihn geholt hatte. Er gab ihm drei Hände voll Erde und sagte: „Geh dreimal um die Pferde herum und bestreue sie mit dieser Erde!“
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Iwan holte die Pferde zusammen, trieb sie nach Hause, aß Abendbrot, stieg auf den Dachboden, stellte die Tanzstiefel ins Fenster und legte sich ins Bett. Die Zarentochter stellte die Gusli ins Fenster und sagte: „Nun, Gusli, spiel!“ Als die Gusli anfing zu spielen, begannen die Tanzstiefel zu tanzen, daß der ganze Palast erzitterte. Dies hörte die Zarentochter und schickte ihre Dienerin aus, um zu erfahren, wer dort tanze. Die Dienerin sagte: „Iwan Wasserträger hat solche Tanzstiefel. Das sind die Tanzstiefel, die dort tanzen.“ Die Zarentochter gab der Dienerin Geld und befahl ihr, Wanko dem Wasserträger die Tanzstiefel abzukaufen. Die Dienerin kam zu Iwan Zarensohn. „Wanko Wasserträger, verkauf der Zarentochter die selbsttanzenden Stiefel!“ „Wer sie braucht, der soll selbst kommen!“ Die Zarentochter kam. „Wanko Wasserträger, verkauf mir die selbsttanzenden Stiefel!“ „Ich verkaufe sie nicht, sondern will sie Euer Gnaden so geben.“ Die Zarentochter nahm die Stiefel und sagte: „Du bist doch aus Zarengeschlecht!“ „Nein, Zarentochter, ich bin Wasserträger!“ Am anderen Morgen früh ging Iwan Zarensohn dreimal um die Pferde und bestreute sie mit der Erde. Da wurden die Pferde in kleine Stücke zerrissen. Dies erfuhr der Zar und ließ Iwan Zarensohn ins Gefängnis werfen. Zu der Zeit schrieb der Zar Kabardinski an den Zaren Demjan: „Wenn du deine Tochter nicht 250
meinem Sohn Lukapjer zur Frau gibst, so brenne ich dein ganzes Zarenreich nieder!“ Da sagte der Zar Demjan zu seinem künftigen Schwiegersohn (dem Wasserträger): „Nun, was meinst du? Soll ich ihm meine Tochter geben oder mein Heer gegen ihn schicken?“ „Ach, Väterchen, laß uns das Heer schicken!“ Am anderen Tag wurden die Trommeln gerührt, die Glocken geläutet, und Iwan Zarensohn sagte im Gefängnis: „Was ist das, ist heute ein Feiertag?“ „Nein, heute ist kein Feiertag. Zar Demjan will gegen den Zaren Kabardinski kämpfen.“ „Ach, laßt mich hinaus, zuschauen!“ Da ließ man ihn hinaus. Er sprang über die einstöckige Mauer und schlief einen Tag und eine Nacht lang. Als er aufwachte, sagte er: „Ach, wenn ich jetzt mein kupfernes Pferd hier hätte, würde ich sie in einer Stunde einholen!“ Da kam das kupferne Pferd angeflogen, und die ganze Erde erzitterte. Iwan Zarensohn kletterte in das eine Ohr hinein, trank sich satt und aß sich satt, und durch das andere Ohr kletterte er hinaus. Da war er über und über mit Kupfer bedeckt. Er holte das Heer des Zaren Demjan in einer Stunde ein, stürzte sich auf die feindlichen Heere und zerschlug sie. Der Zar Demjan befahl seinem Heer, ihn festzuhalten, um ihm danken zu können, er aber zerschlug auch sie, ließ sein Pferd aufs Feld hinaus und kehrte zum Gefängnis zurück. Dort sperrte man ihn wieder ein.
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Nach einiger Zeit schrieb der Zar Kabardinski an den Zaren Demjan: „Wenn du meinem Sohn Lukapjer nicht deine Tochter zur Frau gibst, stekke ich dein ganzes Zarenreich in Brand!“ Da riet ihm sein Minister wieder, mit dem Heer gegen ihn zu ziehen. Am Morgen rührte man die Trommeln und läutete die Glocken. Iwan Zarensohn sagte im Gefängnis: „Was ist das für ein Lärm?“ „Der Zar Kabardinski will die Tochter unseres Zaren haben, deshalb will unser Zar gegen ihn ziehen.“ „Ach Leute, laßt mich hinaus!“ Sie ließen ihn hinaus. Er sprang über eine zweistöckige Mauer und schlief zwei Tage und zwei Nächte hindurch. Als er aufwachte, sagte er: „Ach, wenn ich jetzt mein silbernes Pferd hätte!…“ Das Pferd kam sofort zu ihm geflogen. Er stieg in das eine Ohr, trank sich satt und aß sich satt, dann kletterte er durch das andere hinaus und war über und über mit Silber bedeckt. Er überholte in einer Stunde das Heer des Zaren Demjan, stürzte sich auf die feindlichen Heere und zerschlug sie. Der Zar Demjan stellte seine Truppen auf, damit sie ihn festhielten, um ihm zu danken, er aber zerschlug auch sie, ließ sein Pferd aufs Feld hinaus und kehrte in sein Gefängnis zurück. Nach einiger Zeit schrieb der Zar Kabardinski: „Wenn du nicht deine Tochter meinem Sohn Lukapjer zur Frau gibst, so stecke ich dein ganzes Zarenreich in Brand. Lukapjer kommt mit seinem Heer!“ 252
Der König Demjan erschrak und holte seine Tochter. Man rührte die Trommeln und läutete die Glocken. Iwan Zarensohn sagte im Gefängnis: „Brüder, was ist das? Ist heute ein Feiertag?“ „Nein, es ist kein Feiertag. Zar Demjan bringt heute seine Tochter zu Lukapjer.“ „Brüder, laßt mich schauen!“ Sie ließen ihn hinaus. Er sprang über eine dreistöckige Mauer und schlief drei Tage und drei Nächte lang. Als er aufstand, sagte er: „Ach, wenn ich jetzt mein goldenes Pferd hätte, ich würde sie sofort einholen!“ Da kam das goldene Pferd angeflogen. Er stieg in das eine Ohr hinein, durch das andere hinaus und war über und über mit Gold bedeckt. Er kam zum Meer. Als ihn Lukapjer erblickte, da ritten beide zwölf Werst auseinander und stießen dann beide mit Donnerkraft zusammen. Lukapjer schlug Iwan Zarensohn den Arm bis zum Ellenbogen ab, aber Iwan Zarensohn schlug Lukapjer das Herz heraus. Zar Demjan stellte sein Heer auf, um ihn aufzuhalten und ihm zu danken. Iwan Zarensohn flog nur so dahin, jagte das ganze Heer auseinander, und als er bei der Zarentochter vorbeiritt, riß er ihr ein goldenes Tuch vom Kopf. Dann ließ er das goldene Pferd ins freie Feld hinaus, verband seine Wunde mit dem Tuch und darüber mit einem Lappen und setzte sich wieder ins Gefängnis. Da beschloß Zar Demjan, seine Tochter mit dem Minister (dem Wasserträger) zu verheiraten. 253
Die Tochter sagte: „Väterchen, ich bin einverstanden, ihn zu heiraten, aber laß erst mein Tuch suchen! Ohne das Tuch kann ich mich nicht trauen lassen.“ Der Zar befahl, bei allen Fürsten und Würdenträgern zu suchen, aber das Tuch fanden sie bei ihnen nicht. Da sagte die Zarentochter: „Nun, dann sucht in den Gefängnissen!“ Man begann in den Gefängnissen zu suchen. Da sah man, daß der eine (Iwan Zarensohn) die Hand verbunden hatte. Sie machten den Verband ab und fanden das Tuch. Man brachte ihn sofort zum Zaren. „Woher bist du?“ „Ich bin Iwan Zarensohn, und Euer Minister ist ein Wasserträger.“ „Iwan Zarensohn, warum hast du mir das nicht gesagt, als ich dich gefragt habe?“ „Das durfte ich nicht. Ich habe einen Schwur geleistet“, und er erzählte ihnen, wie der Wasserträger ihn hatte ersäufen wollen. Da band man den Wasserträger an einen Pferdeschwanz und jagte das Pferd ins freie Feld hinaus. Iwan Zarensohn aber heiratete die Tochter des Zaren Demjan, lebte mit ihr und regierte das Zarenreich.
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14 Janko und die Teufel Es war einmal ein Mann, der hatte drei Söhne. Zwei waren klug, doch der dritte, Janko, war ein Dummkopf. Da sagte der Vater: „Meine Söhne, zieht nun hinaus und verdient euch Geld!“ Als erster ging der älteste Bruder. Auf seinem weiten Weg traf er einen Alten, der fragte ihn: „Wohin gehst du?“ Er sagte es ihm nicht, sondern bat ihn nur um etwas zu rauchen. Dann ging er weiter. An einem Waldweg stand eine Hütte. In dieser Hütte wohnten die Teufel. Sie hielten ihn fest und jagten ihn zur Arbeit. (Er konnte sehr viel in seinem Fach.) Es kam die Nacht. Als die Teufel und der Mann sich schlafen gelegt hatten, kam der oberste Teufel und fragte: „Was für eine fade Seele ist das hier?“ Die Teufel sagten es ihm. Da packte der Teufel den Mann, zog ihn aus und jagte ihn nackt in den Wald und in die Kälte hinaus. Es war schon viel Zeit vergangen, als der Vater wieder sagte: „Nun, geh du, mein Sohn, und verdiene dir Geld!“ Der zweite Sohn kam auf denselben Weg und traf mit demselben alten Mann zusammen. Dieser fragte ihn: „Wohin gehst du?“
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Aber er erzählte ihm nicht, wohin er ging. Der Alte wurde böse und sagte auch nichts mehr. Er kam in dieselbe Hütte, und die Teufel ließen ihn auch arbeiten. Er war ein Schneider. Es kam die Nacht, die Teufel legten sich schlafen, und auch er legte sich hin. Wieder kam der oberste Teufel geflogen, und er riß den Schneider in Stükke. Dann verging viel Zeit. Der Vater dachte an seine Söhne und sagte: „Ich will meine Söhne suchen gehen.“ Der jüngste Sohn lag auf dem Ofen und sagte: „Vater, ich werde sie suchen!“ Der Vater antwortete: „Was wirst du Dummkopf schon ausrichten? Du kommst noch selbst um!“ Er sagte: „Nein, Vater, ich komme nicht um!“ „Ach, du kennst den Weg nicht.“ „Doch Vater, ich gehe!“ Der Vater gab ihm einen Kanten Brot und Speck. Er ging denselben Weg, den seine Brüder gegangen waren, und traf auch den Alten. Der Alte fragte ihn: „Wohin gehst du, Söhnchen?“ Er sagte: „Großväterchen, ich gehe meine Brüder suchen. Sie sind ausgegangen, um sich Arbeit zu suchen, und sind verschwunden. Wir wissen nicht, wo sie sind. Vielleicht wißt Ihr es?“ Der Alte bat um etwas zu essen. Janko gab es ihm. Da sagte der Alte: „Söhnchen, hier hast du eine Tasche, was du willst, wird sie tun. Deine Brüder sind den Teufeln in die Hände gefallen. Nun geh 256
und paß auf, daß sie dich nicht zerreißen! Sie werden auf alles hören, was du sagst, aber laß dir nicht die Tasche von ihnen stehlen!“ Da dankte Janko dem alten Mann und ging weiter. Als er zu jener Hütte gekommen war, trat ein Teufel heraus und winkte ihn zur Arbeit. Janko war Schuhmacher. Der Teufel sagte: „Nähe mir in dieser Nacht viele Stiefel!“ Er antwortete: „Da kann ich nicht viel nähen.“ In der Nacht kam der älteste Teufel wieder und fragte: „Was für eine fade Seele ist das hier?“ Die Teufel sagten: „Er ist der jüngste von den Brüdern, die wir in den Wald gejagt haben.“ Da stand Janko auf und sagte zu dem obersten Teufel: „Steig in die Tasche!“ Der wollte nicht, mußte es aber doch tun. Janko sagte: „Steigt alle in die Tasche!“ Die Teufel baten, sie doch freizulassen, er aber sagte: „Nein, steigt hinein!“ Der letzte Teufel machte sich krumm, stellte sich an die Tür und bat: „Nimm von mir, was du willst, nur laß mich frei!“ Er sagte: „Ich lasse dich allein frei, bringe mir aber eine Mütze voll Geld!“ Der Teufel war einverstanden und ging das Geld holen. Janko nahm den Boden und das Oberteil aus der Mütze heraus, legte sie auf den Speicher und machte darunter ein Loch in das Dach des Speichers. Wenn der Teufel Geld in die Mütze warf, fiel dieses in den Speicher. So wurde der ganze Spei257
cher mit Geld gefüllt. Janko nahm das Geld und ließ den Teufel frei. Als der Teufel fortflog, erzitterten die Bäume, und das Laub rauschte. Janko aber warf die Tasche über die Schulter und ging weiter. Er ging und ging und machte endlich an einer Kaserne halt. Dort fragte man ihn: „Was willst du, Mann? Suchst du vielleicht hier Arbeit, dann nähe uns Stiefel. Wir geben dir viel Geld dafür.“ „Gut“, sagte Janko. Er trat in die Kaserne und sagte: „Bringt mir Leder, für ein ganzes Regiment! Ich nähe alles in einer Nacht.“ Man brachte ihm Leder, Sohlen, Lappen, kurz gesagt alles, was er für Stiefel für ein ganzes Regiment brauchte. Janko aber ging umher und lachte vor sich hin. Als es dunkel wurde, stand er auf, band die Tasche auf und sagte zu den Teufeln, daß sie in der Nacht für ein ganzes Regiment Stiefel nähen sollten. Da machten sich die Teufel an die Arbeit. Einer steppte, ein anderer schnitt zu, einer nähte zusammen, ein anderer schlug die Sohle an, einer die Eisen und ein anderer die Zwecken. In dieser Nacht nähten die Teufel Stiefel für ein ganzes Regiment. Früh standen die Offiziere auf und wollten Janko auslachen. Sie dachten, daß er in einer Nacht nichts geschafft haben könnte. Aber als sie den Berg fertiger Stiefel sahen, wurden die Offiziere nachdenklich. „Was ist das für ein Schuhmacher, der in einer Nacht für ein ganzes Regiment Stiefel nähen kann?“ 258
Und sie meldeten es dem Zaren. Der Zar überlegte und sagte, daß man ihn holen solle, damit er ihn sich anschauen könne. Janko sagte: „Ich komme in einer Woche zum Zaren!“ Der Zar sagte: „Gut!“ Man bezahlte Janko, und er machte sich wieder auf den Weg. Als er sich unterwegs hinsetzte, um auszuruhen, jammerten die Teufel in der Tasche. (Er hatte sie wieder in die Tasche gesteckt, als er sich auf die Reise begab.) Da sagte er: „Warum habt ihr meine Brüder zerrissen? Dafür werde ich euch schlagen!“ Sie aber jammerten wiederum. Er sagte: „Führt die Befehle aus, die ich euch gebe, dann lasse ich euch frei. Holt mir meine Brüder, und dann gebt mir eine Tarnkappe, einen Knüppel aus einem Sack und eine Geldtasche, in der das Geld nie ausgeht!“ Die Teufel waren einverstanden. Da sagte Janko: „Erst lasse ich die Hälfte von euch heraus, und wenn ihr mir alles holt, lasse ich euch alle frei.“ Die Teufel flogen los und suchten die Körper von Jankos Brüdern. Sie fanden die Fleischstückchen, legten sie zusammen, suchten ein Heilkraut und rieben die Körper der Brüder damit ein. Die Körper wuchsen gleich zusammen, und die Brüder des Dummkopfes Janko wurden wieder lebendig. Die Teufel brachten sie zu ihm und sagten: „Hier hast du deine Brüder!“ 259
Janko freute sich, als er seine Brüder sah, und sagte: „Geht zur Hütte zurück, denn der Vater hat niemanden, der ihm in der Wirtschaft hilft.“ Er gab ihnen Geld, und sie gingen. Dann schickte Janko die Teufel nach der Tarnkappe. Sie brachten ihm die Tarnkappe. Sie brachten ihm auch den Knüppel aus dem Sack und die Geldtasche, damit ihm nie das Geld ausginge. Janko ließ die Teufel frei, nahm seine beiden Taschen und machte sich auf den Weg. Er ging lange und bekam schließlich Hunger. Er wunderte sich über eine große Hütte, die dort stand. Das war ein Wirtshaus. Janko ging in das Wirtshaus, setzte sich an den Tisch und sagte: „Gebt mir zu essen!“ Man gab ihm zu essen. Janko aß sich satt und wollte auch noch trinken. Man gab ihm auch zu trinken und sagte: „Nun zahle dreihundert Rubel!“ Er antwortete: „Das ist zu teuer!“ Da begannen ihn die Kaufleute anzuschreien (es waren ihrer zwölf), und Janko rief den Knüppel aus dem Sack. Der Knüppel schlug auf sie los, und sie duckten sich und schrien. So jagte Janko alle Kaufleute auseinander, legte soviel Geld auf den Tisch, wie das Essen wirklich gekostet hatte, und machte sich wieder auf den Weg. Er ging und ging und wunderte sich über eine Hütte, die dort stand. Als er nähertrat, sah er einen Mann, der fragte: „Wo gehst du hin?“ Er sagte: „Ich habe meine Brüder gesucht und gehe jetzt nach Hause.“
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Der Mann sagte: „Was soll ich tun? In meiner Hütte quälen mich die Teufel und lassen mir keine Ruhe.“ Janko hatte Mitleid mit dem Mann und sagte: „Laß uns hingehen, ich werde sie hinausjagen.“ Der Mann überlegte: Wieviel Menschen haben die Teufel schon zerrissen, und da will er sie allein hinausjagen? Und er sagte: „Nein, du kannst sie nicht hinausjagen!“ Janko wurde böse und ging nahe an die Hütte heran. Die Teufel fletschten die Zähne, als wollten sie ihn zerreißen. Aber Janko öffnete die Hüttentür, stellte seine Tasche hinein und rief den Knüppel: „Nun jag sie in die Tasche!“ Der Knüppel verprügelte sie. Da kletterten die Teufel einer nach dem anderen in die. Tasche. Janko band die Tasche fest zu und schlug mit dem Knüppel darauf, dann nahm er die Tasche auf die Schulter und ging davon. Jetzt mußte er lange und weit gehen. Er kam zum Meer und schüttete die Teufel aus der Tasche in das Meer. Jener Mann war in seiner Hütte geblieben und führte wieder seine Wirtschaft. Janko machte sich wieder auf den langen Weg vom Meer zurück und wunderte sich, als er plötzlich eine Hütte vor sich stehen sah. Er ging hinein, um dort zu übernachten. Für jedes Essen zahlte Janko gutes Geld. Sein Bruder kam einmal herein, aber er erkannte Janko nicht und dachte: Das ist aber ein reicher Mann. Jankos Bruder fuhr nach Hause und erzählte, daß er einen Mann gesehen
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habe, der für ein kärgliches Mittagessen viel Geld bezahlte. Janko stand früh auf und machte sich auf den Weg. Er ging lange und kam zum Zaren, um ihm zu dienen. Die Wache wollte ihn nicht durchlassen. Da rief er den Knüppel, und sowie der Knüppel sie zu prügeln begann, warf sich die Wache Janko zu Füßen. Alle hatten sie Beulen am Kopf. Janko ging zum Zaren. Der Zar fragte ihn: „Wie konnte dich die Wache durchlassen? Ich habe eine Wache von hundertfünfzig Mann. Wie bist du da durchgekommen?“ Er antwortete: „Ich habe sie nicht gesehen!“ Da fragte der Zar: „Wer bist du?“ „Ich bin der, den Eure Hoheit zu sich befohlen hatten. Schaut Euch den Meister an, der in einer Nacht für ein ganzes Regiment Stiefel nähen kann“, antwortete Janko. Da sagte der Zar: „Wenn du solch ein guter Meister bist, dann will ich dich mit meiner Tochter verheiraten.“ Sie heirateten und leben bis zum heutigen Tag. Ich war auch auf der Hochzeit und habe Wein getrunken, der ist mir den Bart entlanggelaufen, aber nicht in den Mund hinein.
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15 Von den drei Brüdern, dem Wolf und der Wunderquelle Ein Vater hatte drei Söhne, zwei kluge, und den dritten nannten sie Dummkopf, obwohl er gar keiner war. Da geschah es, daß die Königstochter keinen Mann finden konnte, denn alle waren ihr zuwider. Der König befahl, daß alle, die die Königstochter heiraten wollten, vorher zu der und der Quelle gehen und sich mit dem Wasser dort waschen sollten. Dann würden sie so hübsch werden, daß es der Königstochter zu Herzen ginge. Aber die Teufel ließen niemanden an die Quelle heran. Der Vater jener drei Söhne erfuhr das alles, buk Brezeln und schickte den ältesten zu der Wunderquelle. Er ging und ging und traf einen Wolf. Der Wolf fragte: „Wohin gehst du?“ „Dorthin und dorthin.“ „Was hast du bei dir?“ „Brezeln.“ „Gib mir etwas davon ab!“ „Einen Dreck kannst du kriegen!“ Da lief der Wolf davon. Er ging und ging und kam schließlich zu jener Stelle. Dort herrschte solch eine Hitze, daß es einfach nicht auszuhalten war. Da er sich keinen Rat wußte, mußte er umkehren. 263
Da buk der Vater wieder Brezeln und schickte den mittleren Sohn zur Quelle. Dieser traf auch den Wolf, gab ihm keine Brezeln ab und kehrte auch wie ein Geprügelter nach Hause zurück. Da sagte der Vater: „Jetzt muß unser Dummkopf sein Glück versuchen.“ „Ach“, sagten sie, „wo wird er schon hingehen, Vater? Mit einer solchen Nase hier ist keiner hingekommen, und da sollte er hinkommen?“ „Was geht euch das an? Soll er gehen, vielleicht kommt er bald irgendwo um!“ „Vielleicht!“ Nun, der Vater buk ihm Brezeln und schickte ihn auf den Weg. Der „Dummkopf“ ging. Er ging und ging und traf auch den Wolf. „Wohin gehst du?“ „Zu der Quelle.“ „Was hast du dort?“ „Brezeln.“ „Gib mir etwas zu essen!“ „Gut“, und er setzte sich hin, brach ein Stück ab, legte es hin, gab dem Wolf zu essen, und als er sich selbst satt gegessen hatte, stand er auf und sagte: „Nun Bruder, laß es dir gutgehen, vielleicht sehen wir uns noch einmal.“ Der Wolf aber sagte: „Setz dich auf mich!“ Er setzte sich auf seinen Rücken, und – hastdu-nicht-gesehen – erblickte er auch schon die Quelle. Da sagte der Wolf: „Steig ab und klettere in mein linkes Ohr und durch das rechte wieder hinaus!“
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Der Dummkopf tat es. Er stieg hinein und wieder hinaus. Als er sich danach ansah, erkannte er sich nicht wieder, er war ein Gespenst geworden. Der Wolf fragte: „Hast du eine Flasche?“ „Ja“. „Dann geh hin! Du wirst so aussehen wie sie (die Teufel, die die Quelle bewachten), und sie werden dich nicht erkennen. Paß auf, daß du dich mit dem Rücken an die Quelle stellst, und sie werden sich auch so hinstellen, dann laß die Flasche unbemerkt ins Wasser, schöpfe es zwischen den Beinen hindurch und klemme die Flasche mit der linken Hand unter den Arm. Mache es aber nicht mit der rechten Hand, denn sonst drehen sich die Teufel um, und wenn sie sehen, wer du bist, werfen sie dich ins Wasser!“ Der Dummkopf tat, wie ihm geheißen. Er ging hin. Aber die Teufel sahen, daß ein Fremder kam, und wollten ihn in die Quelle stoßen. Als er nähertrat, sah er das Wasser kochen und darauf eine unzählige Menge Leichen von Zerrissenen schwimmen, die die Teufel dort hineingeworfen hatten. Da wandte er sich ab, und die Teufel drehten sich um und wollten ihn überfallen. Er aber nahm schnell etwas Wasser und lief davon, so schnell er konnte. Er kam angelaufen, und der Wolf erwartete ihn schon. „Nun, was ist?“ „Alles in Ordnung!“ „Steig in mein rechtes Ohr und durch das linke wieder hinaus.“ Er tat das, und siehe da, er wurde wieder derselbe, der er gewesen war. 265
Da sagte der Wolf: „Nun setze dich auf mich!“ Er setzte sich auf seinen Rücken, und – hastdu-nicht-gesehen – waren sie zu Hause. Da sagte der Wolf: „Steig ab und geh nach Hause! Wenn du etwas brauchst, so wünsche es dir, und du wirst es haben.“ Er ging nach Hause, und die Brüder fragten: „Nun, wie ist es dir ergangen?“ „Hat jemand schon einmal solche Hitze erlebt?“ „Ach, du Dummkopf, du hättest dich nicht danach drängen sollen. Geh dreschen!“ Da ging er. Er drosch und überlegte: Vielleicht ist das irgendein böses Wasser. Da nahm er es heraus, bespritzte sich damit und wurde so hübsch, wie noch niemand auf der Welt gewesen war und auch nicht sein wird, und auch seine Kleidung strahlte. Als er in die Hütte trat, rissen der Vater und die Brüder die Mützen von den Köpfen und dachten: Wie ist denn dieser hübsche Herr hergekommen? Der Vater sagte zu dem ältesten Sohn: „Ruf mal unseren Dummkopf, er soll ihn sich auch ansehen!“ Aber der Dummkopf wollte nicht, daß sie ihn erkannten, er lief hinaus und legte sich auf den Dreschboden. Der älteste Bruder kam und sah ihn liegen. „Steh auf, Dummkopf, und sieh dir den Herrn an, der zu uns gekommen ist!“ Als sie zurückkamen, war niemand mehr da, und niemand wußte, wo der Herr geblieben war. Das wunderte sie.
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Einmal befahl der König, daß sich alle dort und dort versammeln sollten. Die Brüder fuhren dorthin, aber den Dummkopf nahmen sie nicht mit. Da wünschte er sich ein Pferd, und – hast-dunicht-gesehen – stand das Pferd da. Er setzte sich darauf und war eher als die Brüder an der Stelle. Dort drängten sich die Menschen und liefen durcheinander, hierhin und dorthin. Die Leute jagten ihn und stießen ihn. „Ach du“, sagten sie, „was drängst du dich hier durch, du Flegel?“ Er achtete nicht darauf und ging hurtig weiter. Schließlich kam die Königstochter heraus. Alle stellten sich sofort in Reihen auf, und die Königstochter ging vorbei und schaute sie an. Als sie in seiner Nähe war, bespritzte er sich mit etwas Wasser und wurde so hübsch, daß die Leute sich verwunderten. Die Königstochter trat an ihn heran, schaute ihn an und sagte: „Dieser wird mein!“ Sie gab ihm einen Ring, einen anderen, ebensolchen hatte sie am Finger. Als er den Ring genommen hatte, verschwand er plötzlich wer weiß wohin. Die Leute suchten ihn überall, doch er war nicht zu finden. Er hatte sich auf den Wolf gesetzt und war davongeritten. Die Brüder kamen nach Hause, der Dummkopf lag auf dem Ofen. „Nun, was hast du gesehen, Dummkopf? Einen Ofen, aber wir haben die Königstochter gesehen und einen hübschen Herrn, der einmal unser König wird, denn sie haben sich schon verlobt.“
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Der Dummkopf hatte den Ring in ein kleines Tuch gebunden und wollte ihn gern ansehen. Als er das Tuch abnahm, erstrahlte die ganze Hütte. Da schrie der Vater: „Was spielst du am Feuer herum, Dummkopf? Willst wohl die Hütte in Brand stecken?“ Die Brüder stürzten sich gleich auf ihn, und damit endete es. Der Dummkopf blieb noch einige Zeit in der Hütte, dann wollte er die Königstochter sehen. So fuhr er zum Königshof und stellte sich am Brunnen auf. Plötzlich kam die Königstochter mit einem Eimerchen heraus, um Wasser zu holen, und da sagte er: „Wenn die Königstochter erlaubt, werde ich ihn herausziehen.“ Da stellte sie, ohne etwas zu sagen, das Eimerchen bin. Er ließ ihn vollaufen und gab ihn ihr, sie aber wollte ihn nicht nehmen. Da ließ er unbemerkt den Ring dort hineinfallen und ging beiseite. Sie hatte gerade das Eimerchen in die Hand genommen, als er fragte: „Warum verachtet Ihr mich so, Königstochter, ich bin doch Euer Freier.“ Sie erschrak und lief davon, wobei sie das Wasser vergoß und der Ring herausfiel. Den erkannte sie und erriet alles. Sie fragte ihn: „Was ist das? Ich habe den Ring doch einem Hübschen gegeben, aber du bist so häßlich! Woher hast du diesen Ring? Hast du ihn vielleicht gestohlen oder irgendwo gefunden?“ Da erzählte er alles, goß das Wasser aus der Flasche, sie wuschen sich damit und wurden die
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hübschesten Menschen auf der Welt. Bald war auch die Hochzeit. Nach der Hochzeit kam der Feind in das Land. Der Dummkopf zog mit dem Heer in den Krieg und schlug alle Feinde, so daß nicht einer übrigblieb. Da sagte der König: „Ich und mein Heer haben gesiegt, aber nicht du!“ Und er antwortete: „Solch ein Unglück! Nun, meinetwegen.“ Danach war bald wieder ein Krieg, aber der Dummkopf ritt nicht mit in den Krieg. Doch als auf dem Schlachtfeld neben dem König nur ungefähr ein Dutzend Soldaten übriggeblieben waren, da kam er herbeigeflogen und zerschlug die Feinde endgültig. Da dachte sich der König: Ich bin schon alt und kann doch nichts mehr machen. Er aber ist jung und kann sich wehren. Warte, man muß etwas unternehmen. Er befahl, einen breiten und tiefen Graben zu graben, und sagte zu seinem Schwiegersohn: „Spring mit einem Pferd über diesen Graben!“ Der wünschte sich ein Pferd, und – hast-dunicht-gesehen – war das Pferd da. Er setzte sich darauf und sprang hinüber. Der König glaubte, er könne auch so hinüberspringen, und – plumps – fiel er hinein. Zusammen mit dem Pferd kam er dort um. Der Dummkopf aber lebt noch heute mit der Königstochter.
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16 Der Tölpel Vor langer, langer Zeit, vielleicht als unsere Urgroßeltern noch nicht auf der Welt waren, lebte einmal ein reicher Mann. Der hielt es mit dem Bösen. Daher hatte er viel Besitz und Geld wie Heu. Bekanntlich wird man durch seine eigene Arbeit nicht reich; denn soviel man auch arbeitet und schuftet, der Teufel findet immer ein Loch. Ehe man sich umsieht, ist es schon nach allen Seiten zerflossen. Jener reiche Mann aber ging nur umher und warb Tagelöhner und Tagelöhnerinnen, und seine Wirtschaft wuchs wie die Pilze. Die Menschen können Tag und Nacht arbeiten und haben doch keine frohe Stunde. Not und Elend zerstören nacheinander ihre Wirtschaft bis zum Grund. Entweder überfällt ein Tier das beste Vieh und zerreißt es, oder es geht so zugrunde, oder aber es kommt ein Sturm, und der Hagel vernichtet in einem Augenblick alles Getreide, oder irgendwoher kommt eine Krankheit und plagt einen so, daß einem das Leben nicht mehr lieb ist. Man schaut sich um und wundert sich, warum der Teufel den Reichen nichts fortnimmt, warum bei ihnen das Vieh am Leben bleibt, warum der Hagel bis an ihre Felder geht und dort umkehrt oder zur Seite abbiegt. Aber bekanntlich wiegen die Teufel bei den Reichen die Kinder, sie helfen den Reichen 270
in dieser Welt und nehmen sich in jener Welt dafür ihre Seelen als Bezahlung. Deshalb kannte auch dieser Reiche keine Not, sondern lebte in Wohlstand und Freude, bis zu dem Zeitpunkt, wo er den Teufeln seine Seele geben mußte. Er wollte aber seine Reichtümer nicht verlassen und wand sich lange hin und her. Die Teufel sagten: „Winde dich nur, sterben mußt du doch!“ Sie stürzten sich auf ihn, als er es gar nicht erwartete, und erwürgten ihn sofort. Er konnte nicht einmal mehr sagen, wo sein Geld versteckt war. Der Reiche ließ drei Söhne zurück, zwei kluge, und der dritte war ein Tölpel. Sie beerdigten den Vater und sagten: „Der Vater hatte viel Geld, aber er hat nicht gesagt, wo es versteckt ist. Wahrscheinlich wird er es uns jetzt sagen, wenn wir den Leichenschmaus halten.“ Sie hielten den Leichenschmaus und vereinbarten, drei Nächte hintereinander auf dem Friedhof am Grabe des Vaters zu übernachten, um zu hören, was er sagen würde. Als der Abend kam und der älteste Bruder auf den Friedhof gehen sollte, fürchtete er sich und bat den dummen Bruder, dort für ihn zu übernachten. Der Tölpel war einverstanden. Bekanntlich ist es einem Tölpel egal, wo er übernachtet. So legte er sich an das frische Grab und begann zu schnarchen. Da hörte er im Schlaf, daß jemand zu ihm sprach. Er wachte auf und fragte: „Wer ist dort?“ „Ich, dein Vater!“ antwortete es aus dem Grabe.
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Die Nacht war dunkel, der Tote konnte nicht erkennen, welcher Sohn da war, und fragte: „Bist du der Älteste?“ „Ja“, antwortete der Tölpel. „Grabe unter dem Schweinestall nach, dort habe ich viel Geld für dich vergraben!“ Er sagte es und verstummte. Am Morgen, noch vor Morgengrauen, kam der Tölpel ins Dorf zurück. Auf dem Dorfanger begegnete ihm der Teufel und sagte: „Dieses verwünschte Geld, ich gebe es dir nur, wenn du versprichst, daß du immer in deinem Dorf wohnen wirst.“ Der Dummkopf sagte zu allem ja und gab dem Teufel eine Quittung, unterschrieb sie aber mit dem Namen des ältesten Bruders. Als der Tölpel in die Hütte kroch, fragten ihn die Brüder, was ihm der Vater gesagt habe. Er antwortete, daß der Vater ihn ausgeschimpft habe, von dem Geld aber sagte er nichts. Am zweiten Tag mußte der mittlere Bruder gehen. Er fürchtete sich, auf den Friedhof zu gehen, und schickte auch den Tölpel. So wachte der Tölpel auch in der zweiten Nacht. Um Mitternacht fragte der Vater, ob der mittlere Sohn da sei, und der Tölpel antwortete, daß er der mittlere Sohn sei. „Für dich habe ich unter dem Birnbaum einen Ring vergraben. Wenn du den am Finger trägst“, sagte der Tote, „dann wird dich das schönste Mädchen auf der Welt liebgewinnen, auch wenn es eine Zarentochter ist.“
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Er sagte es und verstummte. Der Tölpel wollte nach Hause gehen, als sich wieder ein Teufel an ihn hängte: „Verwünscht sei dieser Ring“, sagte er, „ich gebe ihn dir nicht!“ Da mußte der Tölpel auch diesem Teufel eine Quittung geben, daß er den Ring nicht aus dem Dorfe tragen und auch selbst nirgends hingehen wolle. Wieder fragten ihn seine Brüder, was der Vater gesagt habe. Dieses Mal sagte der Tölpel, daß ihm der Vater mit der Rute eins übergezogen hätte. In der dritten Nacht ging der Tölpel für sich selbst auf den Friedhof. Dieses Mal fragte der Tote, ob der jüngste Sohn da sei. „Ja“, antwortete der Tölpel. „Dir habe ich einen alten Sack hinterlassen“, sagte der Vater. „Du findest immer etwas zu essen darin und kannst dich stärken.“ Der Tote verstummte, und der Tölpel ging nach Hause. Der Teufel hatte gelauscht und gehört, was der Tote zu ihm gesagt hatte, aber er begegnete dem Tölpel nicht mehr, denn ein Teufel braucht solch einen Sack nicht. Der Tölpel kam nach Hause, und die Brüder fragten ihn, was der Vater gesagt habe. „Der Vater hat gesagt, daß er mir dort diesen alten Sack gibt“, antwortete er. Da lachten die Brüder über den Tölpel und sagten: „Nimm ihn, nimm ihn nur, wenn du betteln gehst, wirst du ihn gut gebrauchen können.“ Der Tölpel nahm den Sack, grub das Geld und den Ring aus und zog in die Welt, denn bekanntlich kann man mit viel Geld und einem verwunschenen Ring nicht in einem verlassenen 273
schenen Ring nicht in einem verlassenen Dorfe leben. Die Brüder hielten ihn nicht zurück, denn was hat eine Wirtschaft schon für Nutzen von einem Tölpel? Man muß ihn nur umsonst kleiden und mit Brot füttern. Der Tölpel ging in die Stadt und begann dort wie ein feiner Herr zu leben. Es ist wohl schwer, sich an Mühe und Arbeit zu gewöhnen, aber leben wie ein feiner Herr, das kann jeder. Bald sprach es sich im ganzen Bezirk herum, daß ein so reicher Mann, wie es vielleicht auf der Welt keinen zweiten gibt, gekommen sei. Da boten ihm Fürsten, Grafen und verschiedene Gutsbesitzer ihre Töchter zur Frau an, auch wenn sie keine Mitgift hatten. Jeder wollte einen reichen Schwiegersohn haben. Wenn er ihnen den Ring an den Finger steckte, gerieten alle Mädchen förmlich aus dem Häuschen. Aber er mochte sie gar nicht ansehen, und je mehr ihn die Mädchen belästigten, um so mehr wünschte er sich das hübscheste Mädchen der Welt. Als die Brüder erfuhren, daß in der Stadt ein so mächtig reicher Mann lebt, der niemandem etwas abschlägt und allen Geld gibt, begaben sie sich auch dorthin, um auf Kosten des dummen feinen Herrn zu leben. Sie waren gerade aus dem Dorf heraus, als der Teufel plötzlich erschien, sie packte und ins Fegefeuer zerrte. Sie beteten und bekreuzigten sich und schworen, keinerlei Quittungen gegeben zu haben. Der Teufel hörte sie nicht an, sondern zerrte sie weiter, zum obersten Teufel. Da beschwerten sie sich über den Teufel. Der oberste Teufel besah sich die Quittungen und ließ 274
die Brüder frei, befahl aber dem Teufel, ihnen drei Jahre zu dienen. Da war nichts zu machen. Der Teufel zog seinen Schwanz ein und führte sie nach Hause. „Dieser Bauer, der mich überlistet hat, ist klüger als ein Teufel“, sagte er. Nun mußte der Teufel arbeiten, bis ihm das Fell platzte. Die Brüder waren zufrieden und trieben den Teufel an. Selbst aber taten sie nichts, denn er wurde auch allein ohne sie fertig. Die Brüder wurden in den drei Jahren so faul, daß sie sich nicht einmal mehr beschimpfen mochten. Sie hatten sich vollgefressen und wälzten sich wie Schweine in der Höhle. Inzwischen wußte der Tölpel vor Übermut nicht, was er noch anstellen sollte. Dieses Leben in der Stadt war ihm noch mehr zuwider als das auf dem Dorfe, hier fühlte er sich nicht so wohl wie dort. Hier gab es Mädchen wie Sand am Meer. Sie warfen sich ihm an den Hals, aber es lag ihm nichts an ihnen. Wenn er auf dem Dorfe irgendein Mädchen gekniffen hatte, dann war es ihm vor Wonne dunkel vor den Augen geworden. Er verließ die Stadt und fuhr aufs Land. Aber auch dort gab es für ihn keine Wonne. So lief der Tölpel untätig umher, lungerte herum, als hätte man ihn ins Wasser getaucht, wußte nicht, was er mit sich anfangen sollte, und wollte sich am liebsten selbst umbringen. Schließlich hörte er von einer Zauberin, die aus der Not helfen könne. Da ging er zu ihr. 275
„Großmütterchen, du kennst alles gut, du hilfst den Menschen“, bat er die Zauberin, „hilf auch mir!“ „Was willst du denn?“ „Ich will nichts, Großmütterchen, denn ich habe alles.“ „Warum bist du dann gekommen, mein Falke? Zu mir kommen Menschen, die in Not sind und krank, und denen helfe ich. Du aber bist gesund und hast alles, hast keine Not. Böses kann ich dir nicht tun, denn ich tue niemandem Böses. Als meine Mutter starb, hatte sie mich nur gelehrt, die Menschen zu heilen und ihnen in der Not zu helfen. Was für ein Unglück hat dich betroffen?“ „Mein Unglück ist, daß ich keine Not habe, Großmütterchen.“ „Ach mein Bester, die Not wartet nicht hinter den Bergen, sondern hinter den Schultern!“ „Rette mich, Großmütterchen, sonst lege ich Hand an mich!“ „Was redest du da? Bekreuzige dich! Da steckt vielleicht der Teufel dahinter. Warte, ich gebe dir eine Medizin, die hilft vielleicht.“ Da kochte die Zauberin irgendein Kraut und gab es dem Tölpel zu trinken. Er trank es ein- und zweimal und kam wieder zu der alten Frau. „Nun, wie ist dir, mein Bester, hat es geholfen?“ „Es hat geholfen, Großmütterchen, und wie es geholfen hat! Mir war schlecht, jetzt geht es mir noch schlechter. Erst wollte ich gar nichts, aber jetzt will ich nicht leben, wenn ich nicht das hübscheste Mädchen auf der Welt bekomme!“ 276
„Oh, mein heller Falke, reg dich nicht auf, denn das ist sehr schwer zu machen. Das hübscheste Mädchen auf der Welt lebt hinter den Bergen und hinter den Meeren im dreimalzehnten Zarenreich, und dort bewacht sie ein Drache. Du kannst ihn nicht besiegen.“ „Das macht nichts, Großmütterchen, ich will sie suchen gehen, und wenn ich dabei umkomme!“ Da lehrte ihn die alte Frau, wie er das hübsche Mädchen finden könne. „Wenn du unterwegs bist“, sagte sie, „tue nichts, was die Menschen als schlecht ansehen, und alle werden dir helfen.“ Der Tölpel dankte ihr und machte sich auf die Suche nach dem Mädchen. Er ging und ging und kam zu einem Wirtshaus am Wege. Er ging dort hinein, um sich auszuruhen und neue Kräfte zu sammeln. Bekanntlich sind im Wirtshaus immer viele Leute. Er setzte sich still in eine Ecke und lauschte, was die Leute sprachen. Da hörte er, daß alle über etwas schimpften, aber er konnte nicht herausbekommen, worüber. Er fragte sie, und man sagte ihm, daß ein garstiges Tier gekommen sei und dem Zaren die Tochter geraubt habe. Diese sei das hübscheste Mädchen auf der Welt gewesen. Das Tier fliege jetzt überall herum und raube den Menschen die hübschen Mädchen. Es würde sie ergreifen und zu sich schleppen. Dort müßten die Mädchen die Zarentochter bedienen und trösten, damit sie sich nicht so nach Vater und Mutter sehne. Das hörte der Tölpel und ging zum Zaren.
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Er kam zum Zarenpalast, konnte aber nicht zum Zaren gelangen, denn man ließ ihn nicht durch. Bekanntlich steht beim Zaren immer eine Wache. Da setzte sich der Tölpel den Ring auf den Finger und ging an dem Posten vorbei. Die Tochter des Obersten wollte gerade spazierengehen und erblickte den Tölpel. Sie sah ihn an, und er gefiel ihr so gut, daß sie gar nicht mehr wegsehen konnte. Da ging sie zur Wache und brachte den Tölpel in den Palast zum Zaren. Der Zar fragte den Tölpel, warum er gekommen sei. Dieser antwortete, daß er die Zarentochter von dem Untier befreien wolle, wenn der Zar den armen Menschen die Freiheit gebe und den Gutsherren befehle, daß sie sie nicht mehr quälen dürfen. Der Zar erklärte sich einverstanden, den Menschen nicht nur die Freiheit, sondern auch Land zu geben, wenn seine Tochter befreit sei. Aber der Tölpel war hartnäckig und sagte: „Solange die Leute keine Freiheit haben, befreie ich auch die Zarentochter nicht!“ Da war nichts zu machen. Der Zar gab in einem Manifest bekannt, daß er den Leuten die Freiheit und Land geben wolle. Der Tölpel dankte dem Zaren, verneigte sich bis zur Erde, steckte das Manifest in die Tasche und ging fort. Aber bekanntlich hat es den Gutsherren nicht gefallen, daß der Zar den Leuten die Freiheit geben wollte, und so versteckten sie das Manifest des Zaren und begannen die Bauern noch mehr zu unterdrücken. Unterwegs sah der Tölpel, wie man einen Bauern in den Pferdestall führte, um ihn dort zu verprügeln. Er trat für den Bauern ein 278
und zeigte den Leuten das Manifest des Zaren. Sie erhoben ein Geschrei, stürzten sich auf die Diener des Gutsbesitzers und befreiten den Bauern. Dieser dankte dem Tölpel und zog mit ihm. Das sahen junge Burschen, und auch sie waren bereit, dem Tölpel zu helfen. So versammelten sich viele junge Burschen um den Tölpel. Sie gingen mit ihm, zeigten das Manifest und sprachen zu den Menschen. So versammelten sich vielleicht zehntausend oder noch mehr beherzte Burschen um den Tölpel, und sie alle folgten ihm. Sie kamen auch dorthin, wo der Drache die Zarentochter eingesperrt hielt. Die jungen Burschen fielen über den Palast des garstigen Tieres her, zerstörten ihn und setzten ihn in Brand. Aber am meisten strengte sich der Tölpel selbst an. Sie zerschlugen das ganze Heer des Drachen und waren schon nahe an ihn herangekommen, da kroch er in eine Erdhöhle, und niemand konnte ihn herausholen. Der Tölpel befreite die Zarentochter und die anderen Mädchen, aber er fand keine Ruhe, weil er nicht wußte, wo sich das böse Tier versteckt hatte. Da begann er den Drachen in allen Ecken zu suchen. Sie stellten alles auf den Kopf, krochen überall herum, aber der Drache war nicht da. Es war, als sei er in der Erde versunken. Da holte der Tölpel alle Mädchen zusammen, und sie begannen zu feiern und zu prassen. Es war ein Mädchen aus einem fremden Zarenreich dabei, das war die Tochter einer sehr großen Hexe. Sie hatte den Drachen verwünscht und bei 279
ihm getan, was sie wollte. Alle gehorchten ihr, außer der Zarentochter. Das Mädchen haßte die Zarentochter sehr und wollte sie zugrunde richten, konnte es aber nicht, weil der Drache die Zarentochter, die die Hübscheste auf der ganzen Welt war, beschützte. Dieses Mädchen wußte, wo der Drache war, aber sie schwieg. Sie wollte, wenn alle betrunken waren, den Tölpel mit seinen Burschen ums Leben bringen und mit ihnen auch die Zarentochter. Die jungen Burschen tranken und feierten, und die Mädchen tanzten und sangen Lieder. Das Mädchen begann auch zu tanzen und hatte es dem Tölpel bald so angetan, daß er die Augen nicht von ihr wenden konnte. Er schaute einmal auf die Zarentochter und einmal auf sie, und ihm schien nicht die Zarentochter, sondern jenes Mädchen das hübscheste der Welt zu sein. Denn wenn einem jemand gefällt, dann scheint es ihm bekanntlich so, als ob es keinen hübscheren Menschen auf der Welt gibt. Die Zarentochter aber verliebte sich auch. Der Tölpel gefiel ihr so gut, daß sie sich weniger über die Freiheit und darüber freute, Vater und Mutter wiederzusehen, als darüber, den Tölpel anschauen zu können. Als die Zarentochter jedoch sah, daß der Tölpel fortwährend auf jenes böse Mädchen schaute, wurde sie so traurig, daß sie es kaum noch aushalten konnte. Der Tölpel sah sie an und erriet, daß sie sich vor Liebe so verändert hatte. Da hörte er auf zu trinken und zu feiern und machte sich auf den Weg. 280
Inzwischen hatte jenes garstige Mädchen dem Drachen gesagt, daß es Zeit sei, mit den Burschen abzurechnen. Sie selbst aber lief zu dem Tölpel und rief: „Laß uns schnell fortlaufen, denn der Drache ist nahe!“ Der Tölpel setzte sich den Ring auf den Finger und fragte: „Wo ist das garstige Tier?“ Jenes garstige Mädchen aber hatte sich so in ihn verliebt, daß sie ihm nichts mehr verheimlichen konnte, und sagte: „Er ist dort im Keller.“ Da stürzte der Tölpel schnell in den Keller und legte an der Tür Feuer an. Das Feuer breitete sich aus. Der Tölpel befahl, noch mehr Äste und nasses Stroh zu bringen und von oben Wind zu machen, damit der Rauch in den Keller dringe. Dort wand sich das garstige Tier hin und her und erstickte schließlich am Rauch. Jenes Mädchen aber lief um das Feuer und rang die Hände. Da erriet der Tölpel, was für eine „Freundin“ das war, nahm schnell die Zarentochter, verabschiedete sich von seinen Burschen und fuhr zum Zaren. Der Zar und die Zarin freuten sich, daß die Zarentochter zurückgekehrt war, und versprachen, sie dem Tölpel zur Frau zu geben. Jenes garstige Mädchen wurde böse und eilte hinterher. Auf ihrem Wege hetzte sie die Gutsherren auf, sich nicht zu ergeben und dem Zaren einzureden, daß der Tölpel das ganze Zarenreich zugrunde richten würde, wenn die Bauern ihre Freiheit bekämen. Das aber wollten die Gutsherren nur. Sie gingen zum Zaren und fingen an, ihm so etwas vorzulügen. Sie logen und logen, bis sich 281
der Zar ergab. Bekanntlich verspricht ein Ertrinkender sein Beil, aber wenn er aus dem Wasser herauskommt, nimmt er auch das Beil mit sich fort; denn für Gutes wird mit Bösem bezahlt. So brach auch jener Zar sein Wort, wandte sich von dem Tölpel ab und lieferte die Bauern wieder den Gutsbesitzern aus. Den Leuten aber ging es schlechter als vorher. Die Gutsherren packten den Tölpel und übergaben ihn dem Teufel, den er betrogen hatte. Es ist ja bekannt, daß ein Tölpel nie etwas Rechtes vollbringen kann.
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17 Das Ringlein Es lebte einmal ein reicher Kaufmann, der hatte eine Frau und einen Sohn von vierzehn Jahren. Der Sohn trieb keinen Handel, sondern ging nur in der Stadt spazieren. Seine Mutter sagte zu ihm: „Du bist nun genug spazierengegangen, Sohn, es wird Zeit, daß du Handel treibst!“ „Mütterchen, wer kann denn ohne Geld Handel treiben?“ Sie gab ihm hundert Rubel. Er ging durch die Stadt, fand aber keine Ware. Als er aus der Stadt heraus war, sah er, wie ein alter Hund vorbeigeführt und mit Stöcken geschlagen wurde. „Warum schlagt ihr ihn?“ „Er ist alt geworden und bellt nicht mehr, darum wollen wir ihn aufhängen.“ „Burschen, gebt ihn mir!“ „Was gibst du uns dafür?“ „Hundert Rubel!“ „Na, dann nimm ihn!“ Er brachte den Hund nach Hause, machte ihm im Speicher ein Bett zurecht, fütterte ihn mit Fleisch und gab ihm Milch zu trinken. Die Mutter sagte zu ihm: „Was spielst du herum? Warum treibst du keinen Handel?“ „Mütterchen, wer kann denn ohne Geld Handel treiben?“ 283
Die Mutter gab ihm noch hundert Rubel. Der Sohn ging in der Stadt umher, fand aber keine Ware. Als er aus der Stadt heraus war, sah er, wie ein alter Kater vorbeigeführt und mit Stökken geschlagen wurde. „Burschen, warum schlagt ihr ihn?“ „Er ist alt geworden, fängt keine Mäuse mehr und treibt nur Schabernack, darum wollen wir ihn aufhängen.“ „Burschen, gebt ihn mir!“ „Was gibst du uns dafür?“ „Hundert Rubel!“ „Na, gib her!“ Er nahm den Kater, brachte ihn im Speicher auf einem Regal unter, fütterte ihn mit Fleisch und gab ihm Milch zu trinken. Seine Mutter sagte zu ihm: „Söhnchen, warum treibst du keinen Handel?“ „Mütterchen, wer kann denn ohne Geld Handel treiben?“ Da gab sie ihm noch einmal hundert Rubel. Er ging durch die Stadt, fand aber keine Ware. Als er aus der Stadt heraus war, sah er, daß sich am Flüßchen eine Menge Menschen versammelt hatte und auf irgend etwas einschlug. Er ging näher und fragte: „Burschen, was macht ihr hier?“ „Sieh her, wir erschlagen eine Schlange!“ Er sagte: „Brüder, gebt sie mir!“ „Und was gibst du uns dafür?“ „Hundert Rubel!“ Er nahm die Schlange, brachte sie nach Hause, streute Daunen in einen Korb, legte sie hinein und 284
fütterte sie. Die Mutter sagte zu ihm: „Söhnchen, warum treibst du keinen Handel?“ „Ach Mütterchen, wer kann denn ohne Geld Handel treiben?“ „Söhnchen, ich habe dir schon dreihundert Rubel gegeben. Zeige mir deine Waren!“ Er führte sie in den Speicher und sagte: „Mütterchen, hier ist ein Hund für hundert Rubel.“ „Na, es ist gut.“ „Und hier ist ein Kater, auch für hundert Rubel.“ „Na, es ist gut.“ „Und hier ist eine Schlange für hundert Rubel.“ „Ach du Hundesohn! Die Schlange ist doch der größte Bösewicht, bring sie dorthin, wo du sie hergeholt hast, sonst laß dich nicht wieder zu Hause sehen!“ Er nahm die Schlange, band sie in ein kleines Tuch, brachte sie an die Stelle, wo er sie hergeholt hatte, und schlug das Tuch mit ganzer Kraft gegen die Erde. Da verwandelte sich die Schlange in eine Zarentochter und sagte: „Ich danke dir, Iwan Iwanowitsch, daß du mich von dem Bösewicht losgekauft hast, setz dich auf meinen Rükken, und wir wollen in mein Zarenreich fliegen und meinen Vater besuchen!“ Er setzte sich auf ihren Rücken, und sie flogen über zwölf Meere. Dort stand ein Haus, ganz aus Gold. Sie ließ ihn ins Dünengras nieder und sagte: „So, mein Lieber, bleib hier liegen. Wenn sich mein Vater über mich freut, so schicke ich dir eine goldene Kutsche. Wenn er sich aber nicht freut, so
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bringe ich dich wieder aus seinem Zarenreich hinaus.“ Sie kam zu ihrem Vater: „Sei gegrüßt, mein Väterchen!“ Er umarmte seine Tochter, konnte aber vor Freude nicht von seinem Stuhl hochkommen. „Sei gegrüßt, meine Tochter, ich dachte schon, du wärst nicht mehr auf der Welt.“ „Ja, mein Väterchen, ich wäre nicht mehr auf der Welt, wenn mich nicht Iwan Iwanowitsch, der Kaufmannssohn, erlöst hätte.“ „Ach, meine liebe Tochter, warum hast du ihn nicht hergebracht? Ich würde ihn belohnen.“ „Väterchen, er ist hier, am Meer im Dünengras.“ Man spannte sofort sechs Pferde vor eine goldene Kutsche, um ihn zu holen. Er wurde zum Zarenpalast gebracht und direkt zum Zaren geführt. Der Zar bewirtete ihn. Iwan Iwanowitsch blieb drei Tage bei ihm zu Besuch. Die Zarentochter sagte zu ihm: „Mein Vater wird dir Gold und Silber und die Hälfte des Zarenreiches anbieten. Nimm aber nichts an, sondern bitte ihn nur um das Ringlein an seiner rechten Hand.“ Der Zar ließ ihn rufen und sprach: „Du kannst haben, was du willst, mir ist nichts zu schade.“ „Ach, Zar, mir gefällt alles, aber am meisten gefällt mir Euer Ringlein an der rechten Hand.“ „Wozu willst du ein Ringlein, das nur schön anzuschauen ist, mein Lieber?“ „Aber etwas anderes will ich nicht. Laßt mich nur wieder nach Hause bringen.“ 286
„Na, wenn das so ist, da hast du das Ringlein!“ Und damit gab es ihm der Zar. Dann wurden die Pferde vor die goldene Kutsche gespannt, und man brachte ihn wieder zu den Dünen. Die Zarentochter nahm ihn auf den Rücken und brachte ihn an die Stelle zurück, von wo er die Schlange geholt hatte. Sie setzte ihn ab und sagte: „Wenn du etwas brauchst, so wirf nur das Ringlein von einer Hand in die andere, und du bekommst alles.“ Er kam nach Hause und sagte: „Mütterchen, ich habe in fremden Ländern gelernt, Handel zu treiben. Gib mir jetzt deinen Segen, denn ich will heiraten!“ „Ich segne dich, mein Söhnchen. Suche dir eine Frau nach deinem Geschmack aus!“ „Mütterchen, ich habe schon eine Braut gefunden.“ „Was für eine?“ „Mütterchen, ich nehme eine Zarentochter!“ „Ach mein Sohn, das kann doch nicht sein. Wir sind arme Leute und wollen um eine Zarentochter freien?“ „Geh schon, Mütterchen, geh!“ Sie kam zu dem Palast und sagte zu dem Wachtposten: „Sei gegrüßt, Bursche!“ „Sei gegrüßt, Mütterchen! Wohin gehst du?“ „Ich gehe zum Zaren als Brautwerberin.“ „Na, dann geh nur!“ „Seid gegrüßt, Eure Zarenmajestät!“ „Sei gegrüßt, Großmütterchen, was hast du uns zu sagen?“ 287
„Ich bin gekommen, um für meinen Sohn, Iwan Iwanowitsch, die Hand Eurer Tochter zu erbitten. Er ist ein guter Junge und hat in fremden Städten gelernt, Handel zu treiben.“ „Schon gut, dein Sohn soll einen Marmorpalast bauen, der schöner ist als mein eigener! Schafft er das, soll er mein Schwiegersohn werden. Wenn nicht, schlage ich ihm den Kopf ab.“ Sie kam zu ihrem Sohn und sagte: „Ach mein Sohn! Du verkürzt mein Leben. Der Zar hat befohlen, einen Palast zu bauen, der schöner ist als sein Palast. Kannst du es nicht, wird er dir den Kopf abschlagen.“ „Mütterchen, leg dich schlafen! Guter Rat kommt über Nacht.“ Die alte Frau legte sich schlafen; er aber ging um Mitternacht auf die Haustreppe hinaus und warf das Ringlein von einer Hand in die andere. Da erschienen zwölf Recken. „Was wünscht Ihr?“ „Ich wünsche, daß bis morgen früh ein Marmorpalast fertig ist, der schöner ist als der des Zaren.“ Er hatte es kaum gesagt, als der Palast schon fertig war. Am Morgen sagte er: „Mütterchen, nun geh um die Zarentochter freien!…“ Sie kam zum Zaren: „Eure Majestät, ich bin als Brautwerberin gekommen!“ „Schon gut! Wenn dein Sohn so klug und weise ist, dann soll er eine Brücke bauen, aus goldenen Bohlen und aus silbernen Bohlen, dann will ich ihm meine Tochter zur Frau geben.“ 288
Sie kam nach Hause und erzählte ihrem Sohn, was der Zar befohlen hat. „Leg dich schlafen, Mütterchen! Guter Rat kommt über Nacht.“ Als seine Mutter sich schlafen gelegt hatte, ging er auf die Haustreppe hinaus und warf das Ringlein von einer Hand in die andere. Da erschienen zwölf Recken. „Was wünscht Ihr?“ „Ich wünsche, daß bis morgen früh eine silberne Brücke von meinem Hof bis zum Zarenschloß gebaut wird.“ Er hatte es kaum gesagt, da war die Brücke schon fertig. Als der Zar aufstand, sah er, daß die Brücke fertig war und derartig glänzte, daß der Glanz bis an den Himmel zu sehen war. Am Morgen ging die alte Frau wieder zur Brautwerbung. „Eure Majestät, ich bin wieder als Brautwerberin gekommen.“ „Schon gut, Großmütterchen. Er wird mein Schwiegersohn werden. Stehen aber morgen früh neben der Brücke keine silbernen Bäume und schafft er keine Paradiesvögel her, die Engelslieder singen, so schlage ich ihm den Kopf ab.“ Sie kam nach Hause und sagte zu ihrem Sohn: „Ach Söhnchen, der Zar hat befohlen, daß neben der Brücke silberne Bäume aufgestellt werden und daß auf diesen Bäumen Paradiesvögel sitzen und Engelslieder singen sollen. Wenn nicht, wird er dir den Kopf abschlagen.“ „Leg dich schlafen, Mütterchen! Guter Rat kommt über Nacht!“ 289
Die alte Frau legte sich schlafen, er aber ging hinaus auf die Haustreppe und warf das Ringlein von einer Hand in die andere. Da erschienen zwölf Recken. „Was wünscht Ihr?“ „Ich wünsche, daß bis morgen früh an der Brücke verschiedene Bäume stehen, goldene und silberne, daß auf diesen Bäumen Paradiesvögel sitzen und Engelslieder singen und daß an der Brücke verschiedene Weine aufgestellt werden.“ Er sagte es, und die Arbeit begann. Als der Zar morgens erwachte, sah er, daß alles, was er verlangt hatte, getan war. Als die alte Frau am nächsten Tag wieder zur Brautwerbung ging, sagte ihr Sohn: „Wenn er sie nicht herausgibt, dann sage ihm, daß ich sie mir mit Gewalt nehmen werde!“ Sie kam und sagte: „Eure Zarenmajestät, wenn Ihr sie jetzt nicht gebt, so nehmen wir sie mit Gewalt!“ „Nun höre, Alte, ich will meine Tochter geben, wenn dein Sohn bis morgen früh eine Kirche aus Wachs baut mit goldenen Glocken und jungen Popen und Patriarchen. Neben der Kirche soll ein Apfelbaum stehen, der blüht, wenn wir in die Kirche gehen, und reife Äpfel trägt, wenn wir aus der Kirche herauskommen. Schafft er das, dann gebe ich ihm meine Tochter zur Frau. Schafft er es nicht, dann schlage ich ihm den Kopf ab.“ Die alte Frau kam zu ihrem Sohn und sagte: „Ach, Söhnchen, morgen wird man dir den Kopf abschlagen. Der Zar hat einen Befehl gegeben, den wirst du nicht ausführen können.“
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„Sei nicht traurig, Mütterchen! Guter Rat kommt über Nacht. Leg dich jetzt schlafen!“ Die alte Frau legte sich hin und schlief ein; Iwan Iwanowitsch aber ging hinaus auf die Haustreppe und warf das Ringlein von einer Hand in die andere. Da erschienen zwölf Recken. „Was wünscht Ihr?“ „Ich wünsche, daß bis morgen früh eine Kirche aus Wachs gebaut wird, mit goldenen Glocken und jungen Popen und Patriarchen. Neben der Kirche soll ein Apfelbaum stehen, der blüht, wenn wir in die Kirche gehen, und reife Äpfel trägt, wenn wir aus der Kirche herauskommen. Und Kleider will ich, wie sie nicht einmal der Zar hat.“ Er sagte es, und die Arbeit begann. Gegen Morgen war alles fertig. Als der Zar am anderen Morgen erwachte, hörte er von irgendwoher Glockengeläut. Er sagte zu seinem Diener: „Wo läutet es?“ „In der neuen Kirche wird geläutet.“ Der Zar ging hinaus, um nachzuschauen, und sah, daß es stimmte. Um acht Uhr fuhr eine goldene Kutsche vor, man setzte die Zarentochter und den Zaren hinein und fuhr sie in die Kirche. Als sie in die Kirche hineingingen, blühte der Apfelbaum, und als sie aus der Kirche herauskamen, da waren die Äpfel schon reif. Da luden sie Lukapjer Zymbaldowitsch1 zur Hochzeit ein. Er kam in drei Tagen über zwölf Meere angefahren. Sie feierten fünf1
Lukapjer der Zymbalspieler. (Anm. d. Übers.)
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zehn Tage lang. Dann brachten sie die Braut zum Hofe des Bräutigams. Iwan Iwanowitsch führte die Zarentochter in seinen Palast, und sie feierten in seinem Hause noch drei Tage. Als sie schlafen gehen wollten, gab sie ihrem Adjutanten heimlich einen Zettel und befahl, daß Lukapjer sich bereithalten sollte. „Wir fahren fort von hier!“ Sie legten sich schlafen. Die Zarentochter streichelte Iwan Iwanowitsch und fragte ihn, wie er das Haus gebaut habe, Er sagte: „Bei allem hat mir das Ringlein geholfen.“ Als er eingeschlafen war, zog sie ihm das Ringlein von der Hand, lief aus dem Schloß zu Lukapjer und fuhr mit ihm in sein Zarenreich. Am anderen Morgen schickte der Zar den Jungvermählten eine Einladung zum Tee. Die Ordonnanz kam angelaufen. „Iwan Iwanowitsch, der Zar bittet Euch mit Eurer Frau und Eurer Mutter zum Tee.“ Iwan Iwanowitsch suchte seine Frau in allen Sälen und rief nach ihr, aber es war keine Spur von ihr zu finden. Da nahm man ihn in Gewahrsam. Der Zar sagte: „Wahrscheinlich hast du meine Tochter umgebracht, weil sie nicht da ist!“ Sie führten ihn auf einen Platz, setzten ihn auf einen Stuhl, errichteten rings um den Stuhl eine Mauer und ließen ihm nur ein kleines Fensterchen, um ihm Speise zu reichen. Er saß dort vielleicht einen Monat, vielleicht auch zehn Wochen. Seine Häuser nahm der Zar an sich, und seine Mutter brachte man in ein Altersheim.
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Der Kater und der Hund hatten nichts mehr zu essen. Da sagte der Kater zum Hund: „Überleg einmal, Hund, was Iwan Iwanowitsch für uns bezahlt hat, wir aber haben nichts für ihn getan.“ „Was könnten wir denn für ihn tun?“ „Was meinst du?“ „Ich weiß, wo die Zarentochter ist.“ „Wo denn?“ „Bei Lukapjer. Laß uns zum Ufer gehen, Hund!“ „Gehen wir!“ Sie kamen zum Ufer und legten sich unter einen Weidenbusch. Der Kater sagte zum Hund: „Hund, du bist stärker als ich, aber meine Augen sind besser als deine. Ich sehe von hier aus Lukapjers Reich.“ „Wenn du es siehst, können wir ja hinschwimmen.“ Sie schwammen zu Lukapjers Reich. Anderthalb Monate schwammen sie über das Meer. Sie kamen in Lukapjers Reich und ruhten sich drei Tage lang im Dünengras aus. Der Kater sagte: „Weißt du was, Hund?“ „Was denn?“ „In diesem Reich gibt es keine Katzen, und die Mäuse haben alles aufgefressen.“ Dann sagte er noch: „Du darfst nicht zum Zarenschloß gehen, Hund, sonst zerreißen dich die Hunde. Ich will dorthin gehen.“ Der Kater ging direkt ins Schloß. Die wunderschöne Marja bemerkte den Kater: „Ach Lukapjer! Da ist ja die Katze jenes Landstreichers. Sie hat ihn im Stich gelassen und ist zu mir gekommen.“ 293
„Na, hol sie schnell in den Palast!“ Die wunderschöne Marja nahm den Kater auf den Arm, begann ihn zu streicheln, und er miaute. Da fütterte man ihn gleich. Der Kater nahm Rindfleisch und Weißbrot und brachte es dem Hund. „Bleib hier liegen, Hund, bis ich meine Sache erledigt habe!“ Der Kater kam in den Palast gelaufen und sah Lukapjer mit der Zarentochter beim Mittagessen und um sie herum Mäuse und Ratten. Keine einzige Katze war da. Sofort begann der Kater die Mäuse zu jagen, und in fünf Stunden hatte er fünf Fuhren voll gefangen. Man setzte ihn über Nacht in den Speicher, und bis zum Morgen hatte er ungefähr zwanzig Fuhren zusammengejagt. Da wurde dem Kater eine große Ehre zuteil: Man setzte ihn an den Tisch und gab ihm Rindfleisch. Er aber aß nicht viel, sondern brachte alles dem Hund. Er fütterte den Hund gut, und der wurde sehr stark. Einmal saß der Kater auf der Türschwelle und erblickte den Mäusekönig, der hatte goldene Pfoten und Ohren. Der Kater ergriff ihn an den Pfoten und würgte ihn. „Ach Kater, hab Erbarmen, ich will auch alles tun, was du willst!“ „Wenn du mir meinen Ring nicht herbeischaffst, werde ich euch alle erwürgen!“ „Laß mich los, ich will es für dich tun!“ Der Kater glaubte ihm und ließ ihn frei. Der Mäusekönig ließ alle Mäuse nach dem Ring suchen, aber sie fanden ihn nicht. Da sagte der Ka-
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ter: „Wenn ihr meinen Ring nicht findet, werde ich euer ganzes Geschlecht vernichten!“ Eine einäugige Maus sagte: „Zwei Augen bringen Streit, ich aber habe eines, und zwar ein scharfes. Ich brauche keinen Streit zu fürchten.“ Diese einäugige Maus lief in das Schlafzimmer der wunderschönen Marja und setzte sich neben die Kerze. Die Zarentochter betete und nahm den Ring in den Mund. Die einäugige Maus lief zum Mäusekönig und berichtete: „Ich habe gesehen, daß sie den Ring in den Mund genommen hat.“ Da versammelten sich alle Mäuse und überlegten, wie sie den Ring herausholen könnten. Da war die Ratte Greifzu mit einem doppelten Schwanz, die sagte: „Niemandem außer mir wird es gelingen, ihr den Ring aus dem Mund herauszuholen. Ich werde meinen Schwanz im Klosett naß machen, und wenn die Zarentochter schläft, so fahre ich ihr mit meinem Schwanz über die Lippen; sie wird zu schimpfen beginnen und den Ring ausspucken. Dann können ihn die Mäuse ergreifen.“ Der Mäusekönig befahl den Mäusen, das Schlafzimmer zu bewachen. Sowie die Zarentochter den Ring ausspuckt, sollten sie ihn zum Mäusekönig bringen. Die Ratte machte ihren Schwanz im Klosett naß, und als die Zarentochter sich hingelegt hatte, da zog sie mit ihrem Schwanz über ihre Lippen. Die Zarentochter sprang auf und begann zu schimpfen und spuckte den Ring aus. Die Mäuse ergriffen ihn und brachten ihn zum Mäusekönig. Der Mäusekönig sagte: „Na, das ist gut für 295
mich und für euch! Jetzt wird uns der Kater in Ruhe lassen.“ Noch vor Morgengrauen brachte der Mäusekönig dem Kater den Ring. „Hier hast du den Ring, Kater! Du hast uns nun genug tyrannisiert.“ „Ich würde euch noch mehr tyrannisieren, muß jetzt aber nach Hause gehen.“ Er kam zum Hund. „Nun laß uns nach Hause ziehen, Hund!“ Der Hund sagte: „Gib mir den Ring!“ Der Kater aber sagte: „Nein, ich gebe ihn dir nicht! Du bist alt, und wenn du hustest, wirst du ihn verlieren. Aber ich habe gute Zähne und werde ihn festhalten.“ Der Hund stritt nicht mit dem Kater. So schwammen sie los. Sie schwammen anderthalb Monate, ohne zu trinken und zu essen. Sie schwammen, und als sie einander anschauten, sah der Hund, daß der Kater schon am Untergehen war. Er hatte schon ganz trübe Augen, hob den Kopf hoch, bis zum Ufer aber waren, es noch fünfzig Werst. Da wollte der Kater sagen: „Nimm den Ring!“ Er öffnete das Maul und der Ring plumpste ins Wasser. Da stöhnten sie. „Herr, bringe uns wenigstens noch lebend bis ans Ufer!“ Da erhob sich eine Welle und warf sie ans Ufer. Sie ruhten sich drei Tage lang im Dünengras aus. Drei Tage und drei Nächte lang öffneten sie ihre Augen nicht und schliefen nur. Am vierten Tage sagten sie: „Gehen wir zu unserer armen Herrin! Vielleicht füttert sie uns.“
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Sie kamen am Mittwoch nach dem Ostersonntag zu ihrer Herrin. Das Altersheim ihrer Herrin war nicht weit vom Friedhof gelegen. Am Dienstag hatte man ihr milde Gaben gebracht, die einen Piroggen, die anderen Hühnerbraten und die dritten Süßigkeiten. Als sie den Kater und den Hund erblickte, sagte sie: „Ach meine Beschützer, ihr wollt doch wahrscheinlich essen?“ Was sie hatte, gab sie ihnen. Sie aßen sich satt und lachten: „Ach, das war ein gutes Essen!“ „Nun wollen wir zum Ufer gehen, Hund!“ Sie kamen zum Meer und legten sich am Ufer unter einem Weidenbusch nieder. Als die Abendröte das Ufer beleuchtete, stieg der Krebs Chabjor mit seinen goldenen Scheren und goldenen Augen aus dem Meer. „Na Hund, ist das keine günstige Gelegenheit?“ „Ich sehe es. Was sollen wir tun?“ „Geh und ziehe ihn den Hang hinauf!“ Der Hund packte ihn an den Scheren und der Kater am Bart; so zogen sie ihn den Hang hinauf. „Ach, habt Erbarmen, warum zerrt ihr mich hinauf?“ „Wir zerren dich hinauf, weil wir an der und der Stelle im Meer einen Ring verloren haben. Wenn du ihn nicht herbeischaffst, zerdrücken wir dich!“ „Laßt mich frei, ich werde ihn euch bringen!“ „Nein, so geht das nicht. Das Meer ist groß, wie leicht kannst du dich davonmachen!“ Da rief er mit Reckenstimme, und alle Krebse versammelten sich. „Was wollt Ihr, Zar?“
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„An der und der Stelle haben diese Herren hier einen goldenen Ring verloren. Sucht ihn!“ Die Krebse zogen wie eine dunkle Gewitterwolke los, um den Ring zu suchen. Sie wühlten das ganze Meer auf, aber den Ring fanden sie nicht. Sie suchten mit ihren Scheren. Da war ein Krebs ohne Scheren, der fand den Ring und gab ihn dem Krebszaren, und der Krebszar gab ihn dem Kater. Sie ließen den Krebszaren frei und gingen nach Hause. Sie überlegten, wie sie Iwan Iwanowitsch den Ring überbringen könnten. Da sagte der Kater: „Donnerstag ist das Gefängnis geöffnet, und dann gehen die Kaufleute hin und bringen ihm Almosen. Ich werde hingehen, zu ihm durchschlüpfen und ihm den Ring geben.“ Am Donnerstag ging der Kater zum Gefängnis. Man öffnete die Türen, und die Kaufleute gingen mit ihren Gaben hinein. Der Kater aber schlüpfte durch die Tür und kroch unter den Ofen. Man jagte ihn von dort weg, aber verprügelte ihn nicht. Als alle Kaufleute das Gefängnis wieder verlassen hatten, kam der Kater unter dem Ofen hervorgekrochen und setzte sich bei Iwan Iwanowitsch auf die Knie. Der streichelte ihn, und der Kater legte ihm den Ring in die Hand. Iwan Iwanowitsch warf den Ring aus einer Hand in die andere, da erschienen zwölf Recken. „Was wünscht Ihr?“ „Ich wünsche, daß das ganze Gefängnis zerstört wird!“ Sie zerstörten es und töteten viele Menschen dabei. Iwan Iwanowitsch kam aus dem Gefängnis 298
heraus und ging zu seinem Marmorpalast. In diesem Palast aber lebte ein Neffe des Zaren. Als er dorthin kam, sagte er: „Euer Hoch wohlgeboren, erlaubt mir, in meinem Schloß zu übernachten!“ „Das kannst du!“ Um Mitternacht trat Iwan Iwanowitsch auf die Freitreppe hinaus und warf den Ring aus einer Hand in die andere. Da erschienen die zwölf Rekken. „Was wünscht Ihr?“ „Ich wünsche, daß Lukapjers Haus mit meiner Frau, der wunderschönen Marja, und Lukapjer bis morgen hierhergebracht wird!“ Am Morgen sah er, daß das Haus schon da war. Da nahm Iwan Iwanowitsch seinen goldenen Säbel und ging in das Haus. Lukapjer aber schlief. Er erstach ihn mit dem Säbel, und die wunderschöne Marja fiel vor ihm auf die Knie. „Verzeih, mein Lieber, aber an allem ist mein Vater schuld. Er hat mich gezwungen, dich zu betrügen!“ Er verzieh ihr, den Zaren aber jagte er aus dem Schloß in die kahle Steppe. Seine Mutter holte er aus dem Altersheim, behielt den Kater und den Hund bei sich, bis sie starben, und lebte glücklich mit seiner Frau zusammen.
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18 Der Zauberstab Es lebte einmal ein alter König, der hatte zwei Söhne. Er lebte und lebte, und als er starb, blieben seine Söhne sich selbst überlassen. Da sagte der jüngere zu dem älteren: „Wir wollen durch die Welt wandern und sehen, wie die Menschen leben!“ Und sie zogen los. Sie gingen, gingen und kamen schließlich an eine Wüste, so daß sie nicht weiterkonnten. Da sagte der ältere zu dem jüngeren Bruder: „Laß uns unsere Messer in einen Baum stechen. Wessen Messer verrostet, der wird nicht mehr auf der Welt sein, aber wessen Messer sauber bleibt, der ist noch am Leben.“ Sie legten sich getrennt schlafen. Am Morgen lief der ältere Bruder zu dem Baum. Er zog die Messer heraus, sie waren beide sauber. Aber der jüngere Bruder war nicht da. Die Brüder fanden einander nicht mehr und gingen verschiedene Wege, aber die Messer blieben dort stecken. Es vergingen drei Jahre. Da erblickte der Ältere einmal auf einem Baum eine Schildkröte. Er nahm die Flinte und sagte: „Na Alte, was machst du dort? Alte gehören nicht auf einen Baum. Ich werde dich totschlagen!“
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Da sagte sie: „Tue es nicht! Ich gebe dir einen Zauberstab, schlag an diesen Steinhaufen, und du wirst sehen, was daraus wird.“ Er nahm den Zauberstab und schlug zu, da erblickte er eine Hochzeitsgesellschaft. Er drohte ihr wieder: „Ich schlage dich tot, wenn du nicht alle lebendig machst!“ Sie winkte mit der Hand, und die Leute kamen alle herbei. Auf einmal begrüßte ihn auch der Bruder. „Na, wie geht es dir?“ „Weißt du, ich bin eingeschlafen, und während ich schlief, hat die Alte gewinkt, und ich bin aufgewacht.“ „Aber du warst schon zu Stein geworden.“ Sie beschlossen, die Alte totzuschlagen. Der ältere Bruder erschlug sie. Sie hatte gebettelt, daß er es nicht tun sollte, aber er erschlug sie. Er sagte: „Wie viele Menschen du zugrunde gerichtet hast!“ Und dann fragte er den jüngeren Bruder: „Wie wollen wir jetzt weitergehen, zusammen oder einzeln?“ Der jüngere Bruder sagte: „Nein, ich gehe jetzt nach Hause.“ Da sagte der ältere Bruder: „Aber ich wandere noch weiter.“ Und so ging er los. Nach einiger Zeit sah er auf dem Weg einen Mann stehen. „Woher bist du?“ „Von nicht weit her.“ „Wohin gehst du? Vielleicht hast du etwas Neues gehört?“ 301
„Nein, nur daß der König in unserem Lande eine Tochter hat und einen Bräutigam für sie sucht. Er versammelt alle Freier auf der Promenade und sucht einen aus.“ Der Bursche zog sich zerrissene Kleider an und ging zu jener Menschenmenge. Dort waren alle Recken gut angezogen, nur er (Janok hieß er) war zerlumpt. Doch die Kleider paßten ihm. Die Braut ging an allen vorbei, erblickte ihn und wurde rot. Ein Fürstensohn, der ihr folgte (der wollte sie auch heiraten), fragte: „Warum siehst du den Zerlumpten so an?“ Sie setzte sich an den Tisch und sagte: „Väterchen, ich verlange, daß dieser Bursche ausgewählt wird und daß er bei uns Herrscher wird!“ Der Vater sagte: „Warum willst du den, es gibt auch hübschere.“ „Nein, Väterchen, ich bitte dich, nimm ihn! Mir ist gesagt worden, daß ich auswählen kann, und nun wähle ich auch aus.“ Die Fürsten lachten alle darüber, daß sie den Zerlumpten ausgewählt hatte, sie aber sagte: „Wenn er auch zerlumpt ist, aber er gefällt mir!“ Sie zogen ihn an und brachten ihn in ein Arbeitszimmer. Er fragte die Königstochter: „Also gefalle ich dir?“ Sie sagte, daß er ihr gefalle. Er winkte mit dem Zauberstab, den ihm die alte Schildkröte gegeben hatte, und Vögel brachten sogleich reiche Kleidung und auch Waffen. „So einer bin ich. Ich bin ein Königssohn aus einem anderen Königreich. Ich bin mit meinem 302
Bruder auf Wanderschaft gegangen und zu Euch gekommen.“ Sie ließ bekanntgeben, daß sie keinen Fürsten heiraten wolle. Die Fürsten wurden ärgerlich und überzogen das Land mit Krieg. Der König sagte: „Mein Königreich wird untergehen, wenn sie Krieg machen.“ Janok aber sagte: „Väterchen, du kannst ruhig schlafen, denke an nichts, morgen klären wir die Sache!“ Sie fingen einen Krieg an. Janok aber regte sich nicht auf und zog in den Kampf. Als er mit dem Zauberstab winkte, wurden sie alle zu Stein. Der Vater dachte, daß niemand mehr am Leben sei, er aber kämpfte und eroberte vier Königreiche. Dann feierten sie die Hochzeit der Königstochter mit dem Sieger. Der junge Bräutigam sagte zum Vater der Frau: „Vater, regiere du über die vier Königreiche, ich will zu meinem Bruder gehen und mir unser Königreich ansehen!“ Die junge Frau fing an zu weinen, weil er nicht fortgehen sollte: „Sonst gehe ich auch mit!“ Er sagte: „Ich gehe zu Fuß, es wird für dich schwierig sein, euer und unser Königreich zu durchlaufen. Ich habe mich dem Wandern geweiht, um den Menschen ein gutes Leben aufzubauen und alles Schlechte gutzumachen.“ Sie machte sich reisefertig und sagte: „Spanne lieber die Pferde an!“ So nahm er sie mit, und sie fuhren los. Sie durchfuhren ihr Königreich und gelangten zu sei303
nem. Als sie zu jenem Baum kamen, war des Bruders Messer verrostet. Das hieß, daß der Bruder umgekommen war. Sie kamen zum Palast und erfuhren, daß der jüngere Bruder unterwegs gestorben war und daß im Palast der Verwalter wohne, den die Brüder eingesetzt hatten, als sie wandern gegangen waren. Jetzt wollte dieser Verwalter auch noch den älteren Bruder beseitigen. Da kam eine Taube geflogen und gurrte: „Nimm vom Verwalter nichts zu essen und paß auf, daß er nicht schießt!“ Janok fragte den Verwalter: „Willst du für immer hier König sein?“ „Ich will, daß du von neuem auf die Wanderschaft gehst“, antwortete der Verwalter. „Na, dann wandern wir weiter.“ Er winkte mit dem Zauberstab und machte den „König“ zu einem Haufen Dreck. Die junge Frau sagte: „Sage, mein Liebling, was hast du für eine Kraft? Damals hast du vier Königreiche besiegt und jetzt diesen König? Womit konntest du das vollbringen?“ „Das ist nun einmal so, meine liebe Frau, aber sagen kann ich dir das nicht. Das geht nicht.“ Sie fragte: „Aber du liebst mich doch und achtest mich. Ich sage dir alles, du aber nicht.“ Er sagte: „Ich sage es dir noch. Mein Bruder ist dadurch ums Leben gekommen. Ich habe ihn wieder auferstehen lassen, aber jetzt ist er wieder umgekommen, und ich kann nicht erfahren wie.“ Sie ließ sich nicht beruhigen und fragte wieder. 304
Er antwortete: „Ich will es dir sagen, aber möge uns Gott helfen, daß es niemand erfährt außer dir und mir. Mit diesem Zauberstab komme ich durch die ganze Welt. Wenn ich damit winke, so kommen alle Tiere auf mich zu und bleiben bei mir stehen, und wenn ich damit abwinke, gehen sie wieder fort. Wenn ich will, kann ich alles damit in Bäume und Steine verwandeln.“ Sie dachte nach: Ich weiß schon. Und dann bat sie ihn: „Zeig mir mal den Zauberstab.“ Er sagte: „Ich sehe, meine liebe Frau, daß du damit nicht fertig wirst. Du bittest um Sachen, die ich dir nicht zeigen darf. So ist unser Leben. Das geht dich nichts an.“ So redete er ihr zu, aber sie sagte: „Man erkennt dich kaum wieder, wenn du solche Sachen sagst.“ Er schwieg und sprach dann: „Durch diesen Zauberstab ist mein Bruder umgekommen und zu einem Stein geworden. Ich habe die alte Schildkröte auf dem Baum gesehen und bemerkt, daß sie ein ungerechtes zänkisches Weib ist. Ich wollte sie erschlagen, da sagte sie, daß sie alle Getöteten lebendig machen könnte, und auch mein Bruder stand auf. Wir beschlossen, sie totzuschlagen, und taten es auch. Den Zauberstab bekam ich. Die Knochen der Alten liegen noch dort.“ Sie sagte: „Ich sehe, daß du jetzt mein Mann bist.“ Dann dachte sie: Kann ich denn nicht auch so stark sein wie mein Mann? Wenn er eingeschlafen ist, versuche ich es an ihm. Ich versuche es nur, 305
und dann gebe ich ihm den Zauberstab wieder zurück. Sie winkte mit dem Stab und verwandelte ihn auf dem Bett in Moos. Aber als sie dann wieder winkte, half es nichts. Tag und Nacht konnte sie nichts ausrichten. Auf dem Bett war Moos. Sie saß und weinte und betete, daß man ihr vergeben solle. „Ich würde alles hingeben und nicht mehr neugierig sein, wenn ich ihn nur zurückbekäme.“ Er hörte alles, konnte aber nichts machen. Sie weinte nur immer. Dann wurde sie müde und schlief ein. Er erschien ihr im Traum. „Liebe Frau! Du hast mich verzaubert, nun bemühe dich auch, mich wieder zu entzaubern. Winke nicht nach jener Seite, nach der du gewinkt hast, sondern nach der anderen!“ Sie wachte auf, ergriff den Zauberstab, winkte, und wieder geschah nichts. Da sagte sie: „Ich bringe mich um. Aber ich will es noch ein letztes Mal versuchen!“ Sie winkte – und ihr Mann stand auf. Er sagte: „Ich habe es dir doch gesagt, aber du hast ja nicht gehört!“ Sie dachte: Solange ich lebe, werde ich es nicht mehr tun. Und nun lebten sie wieder zusammen. Einmal sagte sie: „Wir wollen den Vater besuchen fahren.“ Sie fuhren also. Nachdem sie eine Zeit gefahren waren, kamen sie an einen Fluß und mußten über eine Brücke. Es waren dicke Bohlen, die gingen
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auseinander, als sie darüberfuhren, und es entstand ein Weg. Sie fragte, wie das komme. Er antwortete: „Das kam dir nur so vor.“ Sie kamen wieder zu einem Fluß und hätten über eine Brücke fahren müssen. Er aber fuhr ins Wasser, winkte hin und her, und es entstand ein Graben. Als sie hindurchgefahren waren, kam das Wasser wieder zurück. Wieder fragte ihn die Frau: „Mein Mann, du Königssohn, warum sind wir durch das Meer gefahren, ist ein Graben entstanden und dann wieder Wasser gekommen?“ „Ach, das schien dir nur so durch das schnelle Fahren. Wir fuhren doch auf dem Land.“ Sie fuhren weiter und kamen zum Njemen. Sein Wasser floß schnell. Er sagte: „Wir fahren auf einer Brücke über den Njemen.“ Aber es war gar keine Brücke da. Er winkte, da entstand eine Brücke, und sie fuhren darüber hinweg. Sie sagte: „Mein Mann, ich weiß alles. Wirf den Stab in den Njemen, sonst werden wir alle umkommen.“ „Beruhige dich, liebe Frau, wenn wir beim Vater waren, fahren wir wieder fort. Niemand auf der Welt wird mich umbringen, solange der Zauberstab nicht in fremde Hände fällt.“ Sie fuhren weiter. Im dichten Wald stießen sie auf Räuber. Als die Königstochter diese erblickte, erstarrte sie förmlich. Er sagte: „Reg dich nicht auf, wir kommen schon durch.“ Janok sagte zu den Räubern: „Was wollt ihr?“
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Sie sagten: „Was wir gewollt haben, das haben wir bekommen. Wir haben den König gesucht und gefunden.“ Er winkte und verwandelte sie in Säulen. Sie fuhren an den Säulen vorbei, und sie sagte: „O Herrgott, sie waren Räuber und sind zu Säulen geworden.“ Sie bat ihren Mann: „Lieber Mann, mache sie wieder lebendig! Es tut mir leid um sie.“ „Warum soll man mit ihnen Mitleid haben? Sie haben viele umgebracht…“ Sie fuhren noch sechs Werst, und sie sagte wieder: „Mache sie wieder lebendig! Sie holen uns doch nicht ein.“ „Nun, wenn du es so willst, tue ich es.“ Der Wind begann zu pfeifen, es kam die Nacht, da hörten sie ein Getrappel. Janok sagte zu seiner Frau, als sie ihn fragte, was das sei: „Als wir durch den Wald fuhren, rauschten die Bäume. Das ist wohl dasselbe.“ Dann schaute er nach hinten. Die Räuber ritten ihnen auf Pferden nach und schrien: „Halt!“ Er hielt an. Er winkte, und sie erstarrten regungslos. Er bat: „Kommt heran!“ Sie kamen heran, und er sagte: „Was wollt ihr?“ „Deinen Tod!“ Er sagte: „Ja, meine Lieben, meine Frau hat euch das erste Mal gerettet, aber jetzt ist es genug!“ 308
Er winkte mit dem Zauberstab, und alle Räuber wurden zu Staub. Als sie zum Vater kamen, war die junge Frau verängstigt. Der Vater hatte Mitleid mit ihr. Sie sagte, daß sie nicht ausgeschlafen habe. Sie unterhielten sich. Die Mutter fragte sie aus: „Wie ich sehe, hast du ein schlechtes Leben.“ „Nein, Mütterchen, alles ist gut. Nur eine Sache stört mich.“ „Ach, Töchterchen, das mußt du erzählen.“ Der Vater verlangte das gleiche. Da sagte sie es. Als der Mann sich schlafen gelegt hatte, nahmen sie ihm den Zauberstab fort. Die Tochter sagte: „Mütterchen, verwende ihn nicht, sonst verwandelst du ihn und kannst ihn nicht wieder lebendig machen!“ Doch die Mutter konnte es nicht aushalten und war neugierig. Als alle eingeschlafen waren, stand sie auf und wollte es versuchen. Sie winkte, alle wurden zu Stein, und sie allein blieb zurück. Soviel sie auch weinte, sie konnte nichts tun. Bald kam sie auch um, denn ihr Herz zersprang. Die junge Frau hatte ihren Mann zu Hause gerettet, als sie ihn aber zu den Eltern gebracht hatte, kam sie auch um. Hätte sie der Mutter das Herz herausgenommen, dann würde sie ihn vielleicht wieder zum Leben erweckt haben, aber so hat sie alle Königreiche zugrunde gerichtet.
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19 Der fliegende Kaftan In einem Zarenreiche lebte einmal ein Förster in einem Walde. Er hatte jeden Tag seinen Rundgang zu machen. Einmal sagte er zu seiner Frau: „Frau, gib mir etwas zu essen, ich muß meinen Rundgang machen!“ Seine Frau gab ihm ein paar Plinsen, er aß sie und ging in den Wald. Plötzlich erhob sich ein Sturm, der Wind begann zu wehen, und es fiel ihm schwer weiterzugehen. So ging er nach Hause zurück, sattelte das Pferd und ritt mit dem Pferd in den Wald. Als er ein Stück geritten war, sah er, daß jemand ein paar Äste von den Bäumen abgehackt hatte. Er ritt aber weiter. Da traf er auf dem Wege eine alte Frau. Sie verneigte sich vor ihm und sagte: „Herr, könntet Ihr mir vielleicht etwas schenken?“ „Ich habe nichts mitgenommen“, antwortete der Förster. „Vielleicht habt Ihr einen Rubel Geld?“ „Ich habe nur einen Rubel bei mir.“ „Ich weiß, daß Ihr nur einen Rubel habt, aber schenkt mir den letzten!“ Er griff in die Tasche und gab ihr den letzten Rubel. Sie nahm ihn und sagte: „Ich danke Euch, daß Ihr mich nicht im Stich gelassen habt! Obwohl Ihr 310
bloß einen Rubel hattet, habt Ihr ihn mir doch geschenkt. Wenn Ihr jetzt nach Hause kommt, dann legt einen Rubel unter Euer Kopfkissen, und Ihr werdet immer Geld haben. Jeden Morgen werdet Ihr unter dem Kissen zwei oder drei Rubel finden. Und wenn Ihr weiterreitet, werdet Ihr eine hohe Fichte sehen, auf der viele Enten sind. Sie werden sehr viel schreien und sich beißen. Um einen Kaftan beißen sie sich. Jede wird bemüht sein, in ihn hineinzuschlüpfen. Erschreckt sie, damit der Kaftan auf die Erde fällt. Sowie er heruntergefallen ist, nehmt ihn an Euch und zieht ihn an, dann könnt Ihr herumreisen, nicht nur durch Euer Zarenreich, sondern überallhin.“ Er dankte ihr und ritt weiter durch den Wald. Er sagte sich: Das war eine Alte! Wahrscheinlich hat sie mich betrogen. Den letzten Rubel hat sie mir aus der Tasche gezogen. Als er so dahinritt, hörte er einen mächtigen Lärm. Da erblickte er auch schon einen großen Schwarm Vögel auf einer hohen Fichte. Sie bissen sich, daß die Federn flogen. Der Förster stieg vom Pferd, band das Pferd fest und dachte: Wie soll ich sie denn erschrecken? Ich werde mit der Flinte schießen. Die Vögel erhoben sich in die Luft und rissen den Kaftan mit sich, ließen ihn aber nicht los. Er schoß noch einmal, da fiel der Kaftan herunter. Da dachte er bei sich: Die Alte hat doch die Wahrheit gesprochen!
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Er nahm den Kaftan, sah ihn an und stellte fest, daß er außen noch gut war, das Futter aber schon von den Vögeln zerrissen worden war. Was soll ich schon mit einem solchen zerrissenen Kaftan anfangen? dachte der Förster bei sich. Er nahm ihn, band das Pferd los und ließ es laufen. „Geh nach Hause!“ Das Pferd lief durch den Wald und fraß Gras. Er aber zog den Kaftan an und sagte: „Wollen wir einmal sehen, ob es so ist, wie die Alte gesagt hat. Wo fliege ich jetzt hin? Natürlich nach Hause.“ Kaum hatte er es gesagt, da erhob er sich schon in die Luft. Er flog in nur zwei Minuten nach Hause, obwohl es ein Weg von acht Kilometern war, und er kam gerade auf seinem Hof herunter. Die Frau erblickte ihn durch das Fenster und kam zu ihm herausgelaufen. „Was ist denn das? Wo kommst du hergeflogen? Du bist doch in den Wald geritten? Wo warst du?“ „Ruhig, ruhig“, sagte der Förster, „jetzt wird es uns beiden gut gehen!“ Und er erzählte ihr alles. Er konnte es kaum erwarten, daß es Abend wurde und die Sonne unterging. Nun war die Sonne untergegangen. Da ging er schlafen und legte einen Rubel unter das Kissen. Ich werde mal sehen, dachte er bei sich, ob Geld kommt. Der Kaftan hat sich bewährt, aber wie es mit dem Geld wird, weiß ich nicht. In der Nacht wachte er auf und sah sofort unter das Kissen, aber dort lag noch immer der gleiche Rubel. Dann schlief er fest ein. Am Morgen stellte 312
ihm die Frau das Frühstück hin und weckte ihn. „Michas, steh auf!“ Er sprang auf und zog sich schnell an. Beim Anziehen schaute er unter das Kissen. Als er das Kissen fortgenommen hatte, sah er dort drei Rubel liegen. Da freute er sich sehr. „Siehst du, Frau, heute habe ich zwei Rubel verdient, und in der nächsten Nacht werde ich alle drei Rubel hinlegen.“ Dann sagte er: „Ich möchte mir ein anderes Zarenreich ansehen.“ Seine Frau war einverstanden. Am Morgen verabschiedete er sich von ihr und sagte: „Ich weiß nicht, wie lange ich fort sein werde. Ich weiß selbst noch nicht, wie lange ich dort bleibe.“ Er zog den Kaftan an und flog davon. Zwei Tage und zwei Nächte flog er. Dann kam er auf irgendeinem Berg herunter. Der Berg war sehr, sehr hoch. Da saß er nun auf dem Berge und schaute auf die Erde. Aber die Erde war kaum zu sehen, so weit war sie entfernt, und nichts war zu erkennen. Er bekam Hunger. Es war heiß, und die Sonne brannte. Es war sehr, sehr heiß. Da wollte er gerne schlafen. Er schlief fest ein. Wie er so schlief, hörte er Schritte. Es kam jemand. Er glaubte es selbst nicht, wer konnte auf einem solchen Berg herumgehen? Da öffnete er die Augen, erblickte riesige Menschen und dachte bei sich: Was sind das für Leute? Ich habe noch nie so große Menschen gesehen. Sie kamen nahe an ihn heran, und er schaute sie an. Es waren ihrer sechs. Sie umringten ihn 313
und sprachen zueinander: „Was ist das für ein Tier?“ „Er ist einem Menschen ähnlich, aber aus irgendeinem Grunde so klein.“ Der eine stieß ihn mit dem Fuß in die Seite. Der Förster schrie. „Siehst du, es tut ihm weh“, sagte einer von ihnen. Da sagte der dritte: „Was soll man mit ihm machen? Man sollte mit dem Fuß auf ihn treten und ihn wie einen Wurm zertreten.“ Da sagte der vierte: „Warum wollen wir ihn zertreten? Kleine und Große, alle wollen leben.“ Da sagte der fünfte: „Gehen wir fort von ihm. Warum sollen wir ihn uns ansehen?“ Und da gingen sie wieder fort. Als sie fort waren, stand er auf und dachte: Solange ich auf der Welt bin, das habe ich noch nie gesehen. Sie waren menschenähnlich, aber wie groß sie waren! Ich fliege woanders hin, dachte er, nahm den Kaftan, zog ihn an, erhob sich und flog fort. Er ließ sich an einem großen, schönen Fluß nieder, der breit dahinfloß, und wollte gern etwas trinken. Er ging am Fluß entlang mit dem Kaftan in der Hand. Da hörte er Lieder, die schön gesungen wurden, aber niemand war zu sehen. Rechts vom Fluß erblickte er ein Häuschen, ein hübsches Häuschen. In diesem Häuschen saß ein Mädchen am Fenster und sang die Lieder. Ihre Haare waren rot, und der Wind spielte in ihnen, so daß sie auseinanderflatterten. Das Mädchen gefiel ihm. Er dachte bei sich: Meine Frau ist schon hübsch, aber diese erst! Was ist meine Frau gegen diese dort! 314
Wie komme ich zu ihr hin, um mit ihr zu sprechen? Ich werde erst mal zuhören, beschloß er, und dann gehe ich hin. So setzte er sich nieder. Er hatte noch nie solche Lieder gehört. Dann beschloß er, zu dem Haus zu gehen. Er stand auf und ging darauf zu. Als er hineintrat, stürzten sich die Hunde auf ihn. Das Mädchen erblickte ihn und rief: „Mama, Mama, schau, da kommt ein fremder Bursche!“ Die Mutter kam heraus, rief die Hunde heran und sperrte sie in die Hütte. Er aber fragte: „Kann man bei Euch eintreten?“ „Was wünscht Ihr?“ „Ich möchte etwas Wasser trinken, vielleicht gebt Ihr mir auch etwas zu essen?“ „Wenn Ihr wollt, tretet ein!“ Er trat in das Haus, das Mädchen kam herbeigelaufen und sagte: „Setzt Euch bei uns hin!“ Er setzte sich hin und sagte: „Ich möchte etwas Wasser trinken, liebes Mädchen!“ Sie nahm ein Glas und goß sauersüßen kalten Kwaß1 ein. Er trank davon und dachte: Wie hübsch sie ist! Am Fenster war sie schon hübsch, aber im Hause ist sie noch dreimal hübscher. Die Mutter gab ihm etwas zu essen. Sie stellte ihm eine unbekannte Speise hin, die aber sehr gut schmeckte. Er aß sich satt und wollte vom Tisch aufstehen, da sagte die Alte: „Wartet nur, ich gebe Euch noch etwas!“ 1
Kwaß – Getränk aus Schwarzbrot mit Malz. (Anm. d. Übers.)
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Sie reichte ihm Milch, sehr dicke Milch, und ein paar nicht sehr große Brötchen. Dann ging sie zu dem Mädchen und sagte: „Sosja, er ist so angezogen, daß man gleich sieht, daß er keiner von uns ist. Er hat einen Mantel, mit dem kann er reisen, wohin er will. So ist er auch zu uns gekommen, und dich hat er liebgewonnen, mein Töchterchen. Wenn er mit dir sprechen will, dann sprich auch du mit ihm und hab ihn lieb. Und dann werden wir ihm den Mantel fortnehmen. Wir können ihn geradesogut gebrauchen. Wir haben kein Pferd und haben nichts, aber der Mantel bringt uns, wohin wir wollen.“ Die Mutter ging hinaus. Er stand vom Tisch auf, bedankte sich und bat um ein Nachtlager. Da sagten sie zu ihm: „Aber natürlich, es ist schon spät, legt Euch schlafen!“ Er zog sich aus, und die Mutter bat ihn, die Kleidung aufzuhängen. Er war einverstanden. Sie hängte sie in einen Schrank. Den Kaftan ließ er an. „Geht in das Zimmer“, sagte die Mutter, „und schlaft!“ Das Mädchen lud ihn ein, noch etwas bei ihr zu sitzen. Er setzte sich zu ihr. Sie fragte ihn, woher er käme. „Aus Asien“, sagte er, „und was für ein Ort ist das hier?“ „Ich weiß selbst nicht, wie er heißt. Wie seid Ihr denn aus Asien hierhergekommen?“ Da sagte er: „Ich reise durch die ganze Welt.“ „Wie reist Ihr denn?“
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„Ja, weißt du, Mädchen, du hast mir gefallen. Wenn du bereit bist, zusammen mit mir zu leben, dann kannst du auch mit mir fahren, wohin du willst.“ Da sagte sie: „Es wäre schön, von hier fortzufahren! Wir kommen ja von hier nirgends hin.“ Da sagte er zu ihr: „Wir können reisen, wohin du willst.“ Sie unterhielten sich und unterhielten sich; es war schon Nacht geworden, da sagte die Mutter: „Sosja, es ist Zeit zum Schlafen, und ihr unterhaltet euch immer noch.“ „Schlaf, Mütterchen, ich unterhalte mich gern und erfahre gern etwas Neues von einem Menschen.“ Sie versprach, wenn er sie liebte, dann wollte sie ihn auch lieben. „Wie alt bist du?“ „Ich bin achtundzwanzig.“ „Und du?“ „Ich bin erst siebzehn.“ „Je jünger, desto besser.“ „Ich glaube dir nicht, daß du achtundzwanzig bist. Du wirst wohl erst zwanzig sein.“ Da kam ein großer Regen, und es begann zu donnern, daß es ringsherum bebte. Sie konnten gar nicht mehr reden, da sie Angst vor dem Donner hatten. Da sagte sie: „Gehen wir jetzt schlafen!“ Sie breitete die Betten aus. Er zog sich aus und legte sich hin. Sie ging nachschauen, ob die Mutter schläft, trat in das andere Zimmer und fragte: „Mutter, schläfst du?“ 317
Da antwortete die Mutter: „Warum legst du dich nicht mit ihm schlafen?“ „Warum denn? Er ist doch gar nicht hübsch.“ Sie ging in das Zimmer, löschte das Licht und legte sich bei ihm schlafen. Als sie sich bei ihm niederlegte, sah sie, daß er schon schlief. Sie schlief ein wenig bei ihm, doch als sie sah, daß er aufwachte, stand sie auf und ging zu ihrer Mutter. Da fragte er sie: „Warum legt Ihr Euch nicht hin?“ „Ich habe schon geschlafen. Es wird bald Tag, Ihr habt so fest geschlafen, daß Ihr gar nicht gemerkt habt, daß ich bei Euch geschlafen habe.“ Die Mutter stand auf und begann das Frühstück zurechtzumachen. Das Mädchen zog sich ein schönes Kleid an. Er sagte: „Ist es denn schon Tag?“ „Natürlich!“ Er stand auf, zog sich an und machte alles zurecht. „Nun, wie ist es, seid Ihr bereit, mit mir zu leben?“ „Natürlich. Nur möchte ich heute mit Euch fortfahren, wie Ihr es gesagt habt.“ „Um so besser. Ich bin bereit, fahren wir!“ Da sagte die Mutter: „Wollt ihr frühstücken?“ „Nein, Mutter, wir reisen fort.“ „Frühstückt und fahrt dann!“ Sie brachte alles auf den Tisch, Milch, Gurken und Zwiebeln, alles, was sie wollten. Als sie vom Tisch aufstanden, da sagte die Mutter: „Aber daß ihr nicht zu lange bleibt, Sosja!“ „Wir bleiben so lange, wie es dauert.“ 318
Sie nahmen eine Tasche mit Brot und Wasser mit. Sie verabschiedeten sich und zogen beide den Kaftan an, da fragte er: „Wohin willst du?“ „Ich will auf den Berg Seron!“ Sie erhoben sich und flogen davon. Die Mutter hatte ihnen gesagt, daß sie nur drei Tage bleiben sollten, sie kamen aber erst nach drei Tagen auf dem Berge an. Sie ließen sich hinab. Auf dem Berge gab es Edelsteine und lauter Gold. Die Sonne brannte, aber die Luft war schön, ein Wind wehte, nur sehr heiß war es. Da sagte sie zu ihm: „Hier wollte ich gerade hin!“ „Und was willst du tun?“ „Wir werden Gold und Edelsteine mitnehmen.“ Natürlich faßten sie sich bei den Händen, wie Mann und Frau, und gingen Gold suchen. Sie sammelten ein Säckchen von ungefähr acht Kilogramm voll Gold und Edelsteine. „Das reicht für das ganze Leben. Laß uns nun ausruhen und dann in unser Land zurückfahren!“ Sie setzten sich auf einen großen Stein, der mit Moos bewachsen war. Doch oben war er so klar, daß sie sich darin erblickten. Da sprach er: „Laß uns Mittag essen und dann losfliegen!“ Als sie gegessen hatten, sagte er: „Weißt du, Sosja, ich möchte gern schlafen.“ „Schlaf ein wenig!“ Er legte seinen Kopf auf ihren Schoß. Das Wetter war schön. Es wehte ein warmer Wind, und die Sonne erwärmte den Berg so, daß schon Funken sprühten. Sie zog einen Kamm aus den Haaren 319
und begann ihm die Haare zu kämmen. Er spürte es, spürte es und schlief auf ihrem Schoße ein. Als sie sah, daß er schlief, sagte sie: „Ein bißchen tust du mir ja leid, aber ich werde auf die Mutter hören.“ Sie stand auf – er schlief noch immer –, nahm das Säckchen, hing es sich um, verpackte alles, zog den Kaftan an und flog nach Hause. Bald war sie wieder zu Hause. Die Mutter kam ihr entgegen. „Nun, hast du ihn dortgelassen?“ „Natürlich habe ich ihn dortgelassen. Aber viel Gold habe ich mitgebracht, Mutter!“ „Was sollen wir denn damit machen?“ „Wir können nun alles kaufen, was wir wollen.“ Als der Förster auf dem Berge aufwachte, sah er, daß Sosja nicht mehr da war, daß sie weggeflogen war. „Ach mein Gott, mein Gott, wie bin ich unglücklich! Was soll ich tun? Ich komme doch hier um!“ Er fing an zu weinen. Da erhob sich ein Wind und wurde zum Sturm. Er sprach: „Das ist ein Wind! Solch einen habe ich noch nie erlebt.“ Es hob ihn und ließ ihn wieder hinunter, hob ihn und ließ ihn wieder hinunter. Er hielt sich und hielt sich fest, aber als dann der Wind noch stärker blies, wurde er vom Berg hinuntergetragen. Er flog und flog und konnte kaum atmen. Schließlich fiel er in einem Gemüsegarten nieder. Beim Hinunterfallen sah er, daß dort rote Bete und Kohl wuchsen. Nur, solchen Kohl hatte er noch nie gesehen. Er war weiß und rot. 320
Er versuchte, den Weißkohl zu essen und dann den Rotkohl. Als er den Rotkohl gegessen hatte, wurde er zu einem Pferd. Ihm wurde klar, warum er zu einem Pferd geworden war, und da begann er schnell Weißkohl zu essen. Nachdem er davon gegessen hatte, wurde er wieder so, wie er gewesen war. Da sagte er zu sich selbst: Na, jetzt werde ich gleich jemanden überlisten! So ging er fort, ging seines Weges. Der Weg führte in einen dichten, dunklen Wald. Man soll doch niemals lieben! Hätte ich mich nicht verliebt, hätte ich mein ganzes Leben lang gut leben können und wäre durch die ganze Welt gereist. Jetzt aber kann ich hier umkommen, dachte er. Jener Wald ging zu Ende, und ein Flüßchen war zu sehen. Ihm schien es, als hätte er dieses Flüßchen schon irgendwo gesehen. Da erinnerte er sich, daß es gerade der Fluß war, wo er beim ersten Flug heruntergekommen war. Er ging noch einen halben Kilometer und sah ein Haus stehen. Es war gerade das Häuschen, wo Sosja wohnte. Er hörte auch die gleichen schönen Lieder. Sie saß am Fenster und sang Lieder. Da sagte er sich: „Na, dir werde ich es zeigen!“ Äußerlich hatte er sich ganz verändert. Sechs Monate war er unterwegs gewesen. Sein Bart war ganz dicht und lang. So ging er zu dem Hause und klopfte. Da fragte Sosja: „Wer ist dort?“ „Darf man bei Euch eintreten?“ „Tritt ein!“ „Gebt Ihr mir etwas zu essen?“ 321
„Mutter ist nicht im Hause.“ Sie rief ihre Mutter. „Da will jemand etwas zu essen haben!“ „Da müssen wir ihm etwas geben, wenn er darum bittet.“ Als er in das Haus eintrat, ließ er den Rotkohl im Flur liegen. Die Mutter brachte ihm das Essen, goß ihm noch Milch ein und ging in den Flur. Da sah sie den Kohl liegen. Sie nahm ihn, kostete ihn und wurde zu einem Pferd. Sie lief hinaus auf die Straße und um das Haus herum. Das sah die Tochter und sagte: „Wartet, da ist ein Pferd, da muß jemand gekommen sein!“ Sie lief auf die Straße und sah den Kohl liegen. Sie kostete auch und wurde sogleich zu einem Pferd. Als der Förster sah, daß nun zwei Pferde da waren, ging er hinaus und schirrte beide an. Er schirrte sie an, band sie an einen Pfahl und dachte: Jetzt will ich gleich den Kaftan suchen. Er sah den Schrank, öffnete ihn und fand seinen Kaftan. Dann zog er ihn an, trat hinaus, setzte sich auf das ältere Pferd und band das jüngere fest. Er ritt den Weg entlang, bis er zu einem Haus kam. Da trat er in die Wohnung ein und fragte den Hausherrn: „Willst du vielleicht ein Pferd kaufen?“ „Ja, ein Pferd möchte ich kaufen.“ Der Hausherr kam heraus, schaute sich das Pferd an und fragte: „Wie alt ist das große?“ „Acht Jahre!“ „Und das kleine?“ „Drei Jahre.“ 322
Sie einigten sich auf zweihundert Rubel für das ältere. „Liebt es die Peitsche?“ „Ja, natürlich, wo du auch reitest, schlag es nur kräftig!“ „So eines kann ich gebrauchen, denn die Erde ist bei uns steinig.“ Der Förster verkaufte das Pferd, dem jungen aber gab er Weißkohl zu essen, und da wurde es wieder das, was es gewesen war. Er sagte zu dem Mädchen: „Was hast du angerichtet?“ Da antwortete sie: „Ich kenne Euch nicht.“ „Wieso kennt Ihr mich nicht? Erinnert Ihr Euch nicht, wie Ihr mich auf dem Berge verlassen habt und mit dem Gold davongeflogen seid?“ „Ich habe jemanden auf dem Berg verlassen, nur nicht Euch.“ „Erkennt Ihr mich nicht?“ „Das war ein junger Bursche. Ihr aber seid alt.“ „Es tut mir leid, daß ich jung bin und Ihr jung seid und am Leben bleibt, während Eure Mutter nicht mehr da ist. Ich fahre jetzt gleich nach Hause in mein Zarenreich. Wenn zu Hause alle am Leben sind, dann komme ich in kurzer Zeit zu Euch zurück.“ Er verabschiedete sich von ihr und gab ihr die Hand. „Aber wenn meine Angehörigen nicht mehr da sind, komme ich nicht zu Euch zurück. Wartet nicht! Wenn Ihr mit mir leben wollt, werde ich zurückkommen.“ „Wenn Ihr der seid, den ich auf dem Berge verlassen habe, dann bin ich einverstanden.“
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Er rasierte sich, wusch sich und wurde wieder jung. Da erkannte sie ihn. Als er nach Hause kam, war seine Frau schon gestorben. Viele Menschen versammelten sich und kamen ihm entgegen, junge und alte. Er erzählte ihnen alles und sagte auch, daß er von ihnen fortfahren wolle. Dann flog er wieder zu dieser Sosja. Sie lebten nun zusammen und reisten durch die Welt.
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20 Die hölzerne Taube Es waren einmal ein Drechsler und ein Goldschmied, die gingen zusammen ins Wirtshaus und tranken dort. Nachdem sie viel getrunken hatten, sagte der Drechsler: „Ich bin der größte Meister!“ Darauf sagte der Goldschmied: „Nein, ich bin besser als du!“ Und so gab ein Wort das andere, und schließlich begannen sie sich zu schlagen. Sie schlugen sich eine ganze Weile, und weil das in einer Hauptstadt geschah, sagten sie: „Laß uns zum König gehen, soll er entscheiden!“ Sie kamen zum König, und der König fragte: „Wer seid ihr?“ Da sagte der eine: „Ich bin Goldschmied.“ Und der andere sagte: „Ich bin Drechsler.“ „Und was wollt ihr?“ „Ja, die Sache ist so und so.“ „Na gut“, sagte der König, „in zwei Wochen werde ich entscheiden. Bis dahin arbeite du, Goldschmied, und auch du, Drechsler, ein gutes Stück, dann werde ich sehen, wer der größere Meister von euch ist.“ Sie gingen nach Hause. Der Goldschmied überlegte und machte einen goldenen Fisch. Wenn man den ins Wasser ließ, so schwamm er, als ob er lebendig wäre. Der Drechsler aber machte eine 325
Taube mit einer Feder, wenn man die nach der einen Seite aufzog, so flog die Taube nach oben, und wenn man sie wieder zurückdrehte, so flog die Taube nach unten. So brachten sie nun ihre Werkstücke zum König. Der König befahl, Wasser in eine Vase zu gießen und den Fisch hineinzulassen. Dieser schwamm wie lebendig! Der Drechsler aber zog die Feder auf, und die Taube flog nach oben. Das waren gute Sachen! „Geht nun in den Gerichtssaal, ihr Meister“, sagte der König, „dort werden wir entscheiden!“ Sie gingen dorthin. Der König zog sich um, der Königssohn aber, ein elfjähriger Bursche, ergriff die Taube, ging auf den Hof, nahm sie zwischen die Beine und zog schnell die Feder auf. Als er sie aufgezogen hatte, stieg die Taube mit ihm in die Lüfte und trug ihn weit davon, noch weiter, als das Auge blicken konnte. Sofort begannen alle zu schreien, der König lief aus dem Gerichtssaal herbei, alles lief auf den Hof, aber der Königssohn war nicht mehr da! Da schickte der König seine Diener durch die ganze Welt, sie sollten wenigstens die Knochen von dem Jungen finden. Sie suchten und suchten, aber sie fanden nichts. Inzwischen aber flog der Königssohn und flog, und erst als er schon bis an die Sonne herangekommen war und der dritte Tag anbrach, dachte er daran, die Feder zurückzudrehen. Er begann sie zurückzudrehen, die Taube senkte sich, und dann ließ er sich bei irgendeinem Hause herunter und blieb dort stehen. Es war noch früh, und der arme Junge stand da, war 326
hungrig und weinte. Da kam ein Kaufmann, der bemerkte den Jungen und begann ihn auszufragen. Er kannte aber seine Sprache nicht, da sprach er ihn in einer anderen Sprache an, und schließlich fand er die richtige. Er fragte ihn: „Woher bist du?“ Der Königssohn aber antwortete: „Das weiß ich nicht.“ Der Kaufmann nahm ihn zu sich, gab ihm zu essen und zu trinken und erzog ihn. Er merkte, daß es ein wissensdurstiger Junge war, und er lehrte ihn ein wenig lesen und schreiben, dann nahm er ihn in seinen Laden mit, wo er verschiedene Sachen zu verkaufen hatte. Dort waren Geigen und verschiedene andere Instrumente, und der Kaufmann lehrte ihn, so schön auf einer Geige zu spielen, daß die ganze Stadt zusammenkam, um in diesem Laden zu kaufen und ihm zuzuhören. In dieser Stadt lebte ein König. Der veranstaltete einen Ball und wollte, daß ein guter Musikant käme. Da erzählte man ihm, daß ein Kaufmann einen passenden Musikanten habe. Der König schickte den Kutscher dorthin. Der holte den Jungen. In der Nähe des Königspalastes stand ein sechsstöckiger Turm. Da fragte der Junge den Kutscher: „Was ist das? Wer wohnt dort?“ Der Kutscher sagte: „Dort auf der sechsten Etage wohnt eine Königstochter.“ „Und warum wohnt sie dort?“ „Lieber Herr, als sie geboren wurde, sagte die Amme, daß sie einmal eine ganz Durchtriebene 327
werden würde. Der König, der Angst hatte, daß sie Dummheiten machen könnte, hat deshalb befohlen, diesen Turm zu erbauen, und die Königstochter lebt jetzt schon mehr als zwölf Jahre darin. Eine alte Frau bringt ihr zu essen und lehrt sie das Notwendigste, aber ringsherum stehen Wachtposten, damit die Alte niemanden hineinlassen kann.“ Darauf sagte der Junge nichts, sondern merkte sich nur alles genau. Er kam in den Palast, spielte dort die ganze Nacht, und am Morgen brachte man ihn wieder zum Kaufmann. Dauernd ging ihm diese Königstochter durch den Kopf und der Gedanke, wie er zu ihr hinkommen könnte. Plötzlich fiel es ihm ein. Am Abend nahm er die Taube, trat aus dem Laden, zog die Feder auf, setzte sich darauf und flog los. Er flog um den Turm herum und schaute sich alles an. Die Fenster in der Mitte waren offen. So setzte er sich auf die Mauer und sah hinein. Da kam aus dem anderen Zimmer ein hübsches Fräulein heraus, hübsch wie eine Blume im Sommer. Als sie eintrat, warf er einen Handschuh durch das Fenster und flog wieder davon. Am anderen Abend kam er wieder dorthin geflogen und sah, daß das Fenster nicht verschlossen war. So öffnete er es ganz langsam und stieg ein. Auf dem Tisch sah er eine Flasche Wein und schönes Gebäck stehen. Er trank und aß und dachte bei sich: Ich möchte schon dort hineingehen, aber ich habe Angst, daß sie zu schreien beginnt. Da öffnete sich die Tür, und die Königstochter kam herein. Als sie ihn erblickte, erschrak sie 328
so, daß sie aufschrie, denn sie hatte noch niemals einen Mann gesehen. Da sagte er zu ihr: „Ruhig, ruhig, ich bin genau solch ein Mensch wie du, hab keine Angst!“ Sie fürchtete sich aber und wollte nicht zu ihm kommen. Er erzählte ihr, daß er ein Königssohn sei und aus welchem Königreich er stamme, er erzählte ihr alles. Dann aber sagte er: „Sag aber nicht der Alten, daß ich hierhergekommen bin, dann ergreift man mich und bringt mich ums Leben.“ Nun kam sie näher zu ihm heran, sie setzten sich hin, dann gingen sie ein wenig hin und her, und sie wunderte sich dauernd, warum er ein Mann und sie ein Mädchen war. Da erzählte er ihr alles und brachte ihr auch bei, warum das so ist, und ohne lange zu zögern, gingen sie schlafen. Sie lagen ein wenig, und ihr gefiel das so gut, daß sie ihn bat, immer bei ihr zu bleiben. Er erklärte ihr, daß das nicht möglich sei, denn wenn es der König erfahre, würde er sie beide hinrichten lassen. Er sagte aber: „Ich werde immer zu dir kommen, nur in der Nacht. Denk aber daran und sage es niemandem, damit niemand davon erfährt!“ So verabschiedeten sie sich voneinander, er setzte sich auf die Taube und flog nach Hause. Am Morgen sagte sie der Alten, sie solle ihr mehr Wein und mehr Essen bringen. Und er kam jede Nacht zu ihr geflogen. Sie liebten einander sehr und küßten sich. Jedoch dann merkte die Alte, daß die Königstochter schwanger war, und sagte 329
es dem König. Da sagte der König zu der Alten: „Da hast du Hexe wohl jemanden hineingelassen! Ich werde dich aufhängen lassen!“ Und er befahl, die Alte ins Gefängnis zu werfen und einen Arzt zu der Tochter zu schicken, damit er feststelle, ob das stimme. Als der Arzt die Königstochter untersucht hatte, sagte er: „Es stimmt, lieber König. Eure Tochter erwartet ein Kind.“ Da versammelte der König seinen Rat und sprach: „Meine Herren, wie konnte das geschehen? Ein Vogel tut das nicht, und ein Mann kann doch dort nicht hinein.“ Die Senatoren sagten: „Wir müssen auf alle Fenster Teer gießen, lieber König, dann werden wir sehen, wessen Spuren dort zurückbleiben.“ „Gut!“ Das taten sie. Der Königssohn kam in der Nacht angeflogen, sah sich nicht vor und ließ Spuren auf dem Fensterbrett. So erfuhren sie, daß dies ein Mensch war. Am Morgen sagte der König, daß die ganze Stadt zusammengerufen werden solle, damit man sehen könne, an wessen Händen und Füßen Teer sei. Die Königstochter führte man aus dem Turm heraus und sagte: „Wenn du ihn auch nicht kennst, du Schelmin, wir hängen dich doch mit ihm zusammen auf!“ Da sagte sie: „Wenn wir schon sterben müssen, dann zusammen. Er ist hier!“ Sie ging hin, faßte ihn an der Hand und führte ihn zum König. Dann beschloß man sofort, sie beide aufzuhängen. Da sagte der Königssohn: 330
„Gut, mag es auch so sein. Gestattet ihr aber noch, von Vater und Mutter Abschied zu nehmen, und mir, von der ganzen Welt und von ihr.“ Der König erlaubte es. Da ging er zu ihr hin und umarmte sie, um sie zu küssen. Dabei aber zog er die Feder auf, und sie flogen in die Höhe. Da schrien alle: „Haltet sie! Greift sie!“ Er aber rief: „Leck mich am Hintern, bester König!“ Und so flogen sie davon. Als sie so dahinflogen, sagte die Königstochter: „Mein Bester, ich werde ein Kind zur Welt bringen.“ Da machte er schnell ein Feuer an, setzte sich auf die Taube und flog in die Stadt. Er kam dorthin und erkundigte sich, wo eine Hebamme wohnt. Als sie herauskam, packte er sie, setzte sie auf die Taube und flog mit ihr davon. Da wurde die Alte bald ohnmächtig, denn sie dachte, daß der Teufel sie ergriffen hätte. Als sie ankamen, gebar die Königstochter schon das Kind. Sie blieben dort drei Tage lang. Dann flog er die Alte wieder zurück, nahm die Königstochter und das Kind und brachte sie zu seinem Vater. Als er sich im Garten des Königs hinunterließ, hörte er in der Stadt Trommeln. Die Menschen kamen haufenweise, und er fragte: „Was ist dort los?“ „Dort bringt man einen Drechsler zum Galgen, lieber Herr, weil er eine Taube gemacht hat, die den Königssohn fortgetragen hat.“
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Da sagte er: „Habt Erbarmen! Laßt den König schnell erfahren, daß er diesen Drechsler nicht aufhängen soll, denn der Königssohn ist hier!“ Sie sagten es, und der König verbot sofort die Hinrichtung. Der Königssohn kam zum Vater, und als dieser ihn erblickte, da küßte und umarmte er ihn. Der Königssohn aber sagte: „Ich bin nicht allein hier, im Garten ist meine Verlobte.“ Der König ließ schnell nach ihr schicken, und man holte sie in den Palast. Der Sohn wurde nach der ganzen Sache ausgefragt, und der König schickte beide sogleich in die Kirche und ließ sie trauen. Man feierte eine laute Hochzeit, alle Könige waren dort und alle Fürsten, auch die Gutsherren, und man hatte auch den zur Feier eingeladen, der dieses Märchen erzählt hat. Man bewirtete uns mit Met und mit Wein, der lief mir über den Bart, aber auf die Lippen kam nichts.
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21 Die Eiche Dorochwej Es waren einmal ein alter Mann und eine alte Frau, die hatten drei Töchter. Als die alte Frau ihre Töchter großgezogen hatte, starb sie. Der Alte aber heiratete eine andere, eine junge Frau. Da die Stiefmutter nicht die leibhaftige Mutter war, konnte sie ihre Stieftöchter nicht leiden und sagte zu dem Alten: „Bring deine Töchter entweder in den Wald oder ins Wasser oder aufs freie Feld. Wenn nicht, dann gehe ich selbst aus dieser Welt.“ Dem Alten taten die Töchter leid. Noch mehr aber tat ihm seine junge Frau leid. So hörte er auf sie und nicht auf seinen Verstand und sagte zu seinen Töchtern: „Nun, meine lieben Töchter, nehmt ihr die Körbe, und ich nehme die Axt, wir wollen ins Moor gehen!“ Als sie ins Moor gekommen waren, sagte er zu ihnen: „Sammelt in diesem Wäldchen Beeren, meine lieben Töchter, ich gehe in das andere Wäldchen und hole Späne!“ Er ging so weit von ihnen fort, daß sie ihn nicht mehr sehen konnten, nahm ein Fichtenbrett und band es an eine weiße Birke. Dann stieg er schnell aufs Pferd und ritt nach Hause, damit ihm das Herz nicht wegen seiner leiblichen Töchter wehtat und damit sie ihn nicht einholen konnten. Das 333
Brett aber schlug weiter gegen die Birke. Da sagten die Mädchen: „Unser Väterchen hackt noch immer Kienspäne“, und sammelten weiter Beeren. Sie sammelten und sammelten, bis die dunkle Nacht über sie kam. Da sagte die älteste Schwester: „Wir wollen zum Vater gehen, liebe Schwestern, vielleicht hat er uns vergessen.“ Als sie zu der Stelle kamen, wo das Brett gegen die Birke schlug, war niemand da. Da weinten sie und weinten heiße Tränen. Die älteste Schwester aber sagte: „Nun ist unsere Todesstunde gekommen. Die böse Stiefmutter konnte uns nicht leiden, und da hat sie unseren Vater gezwungen, uns aus der Welt zu schaffen. Er aber wollte nicht auf sie hören und hat uns in diesen Wald gebracht.“ Da sagte die mittlere: „Wir wollen uns unter die grüne Fichte setzen und das Brot essen, das wir in dem kleinen Beutel haben, und dann wollen wir weitergehen, bis wir irgendwohin kommen.“ Sie fanden eine große Fichte, setzten sich darunter und blieben da sitzen. Wie schämten sie sich ihres leiblichen Vaters, daß er auf diese böse Stiefmutter gehört und sie hier hergebracht hatte, seine leiblichen, eigenen Töchter, damit sie in dem dunklen Wald umkommen sollten! Wie weinten sie da, wie vergossen sie da heiße Tränen! Sie weinten und weinten, bis von ihren heißen reinen Tränen Flüsse in alle vier Himmelsrichtungen flossen. Und ein Fluß floß bis an das Haus des Zaren. Der Zar stand am frühen Morgen auf, wusch sich 334
schön und betete zu Gott. Dann ging er auf den Balkon hinaus und erblickte den Fluß, von dem gestern noch nichts zu hören und zu sehen war. Der Zar konnte sich nicht genug über diesen Fluß wundern, und er wollte gern wissen, woher er kam. Er rief seine treuen Diener zusammen und befahl ihnen: „Meine treuen Diener! Geht am Ufer dieses Flusses entlang bis zu der Stelle, wo er entspringt. Was ihr dort findet, ganz gleich, ob es ein Baum ist oder ein Brunnen, ein Mensch oder ein Vogel, ein Tier oder ein Käfer, bringt es her zu mir!“ Da gingen die Diener, ob viel oder wenig, ob lange oder kurz, und als sie zu der Fichte kamen, sahen sie unter ihr die drei hübschen Mädchen, die drei Schwestern. „Nun, ihr hübschen Mädchen“, sagten sie, „wir nehmen euch mit in das Zarenhaus. So hat es uns der Zar befohlen.“ Die Mädchen gehorchten. Als sie zum Zaren kamen, verneigten sie sich tief. Da fragte sie der Zar: „Wer seid ihr, und woher kommt ihr?“ Da antworteten sie ihm: „Wir sind aus einfachem Hause. Die böse Stiefmutter konnte uns nicht leiden und hat unserem leiblichen Vater befohlen, uns in den dunklen Wald zu bringen. Wir haben dort viel gelitten, geweint und sind traurig gewesen. Da sind von unseren heißen Tränen Flüsse in alle vier Himmelsrichtungen geflossen.“ Der Zar schaute sie an, die Mädchen waren so hübsch, daß man es weder im Märchen erzählen noch mit der Feder beschreiben kann. Der Zar 335
sagte: „Ihr gefallt mir, Mädchen, und ich bin ledig. Die geschickteste von euch nehme ich zur Frau.“ Da antwortete ihm die älteste: „Wenn du mir ein Weizenkörnchen gibst, Zar, dann speise ich damit dein ganzes Königreich!“ Da sagte die mittlere: „Und ich kleide mit einem Faden das ganze Zarenreich in Seide.“ Nach ihnen fragte der Zar die jüngste: „Und was kannst du und verstehst du?“ Da antwortete sie ihm: „Du unser bester Zar, du unser liebster Vater! Ich bin nicht klug und nicht dumm. Aber wenn du mich zur Frau nimmst, werde ich zwölf Söhne zur Welt bringen, die haben alle die gleiche Stimme, die gleichen Haare, den gleichen Gang, die gleiche Sprache und das gleiche Gesicht, sind bis zum Knie aus Gold, bis zum Gürtel aus Silber und haben an der Stirn einen klaren Mond, im Rücken kleine Sterne und an den Schläfen eine rote Sonne!“ Der Zar überlegte und hielt Rat mit seinen Fürsten. Er beschloß, die jüngste zu heiraten. Den anderen aber gab er Land und allerlei Reichtümer. So lebten sie miteinander drei Jahre. Da wurde die Zarin schwanger. In dieser Zeit aber mußte der König in fremde, ferne Länder in den Krieg ziehen. Er ritt los, und die Zarin gebar zwölf Söhne, die hatten alle die gleiche Stimme, die gleichen Haare, den gleichen Gang, die gleiche Sprache und das gleiche Gesicht; sie waren bis zum Knie aus Gold, bis zum Gürtel aus Silber und hatten an der Stirn einen klaren Mond, im Rücken kleine Sternchen und an den Schläfen eine rote 336
Sonne. Die älteren Schwestern beschlossen, die Kinder zusammen mit der Mutter umzubringen. Sie bestachen deshalb die Amme. Aber die Zarendiener ließen die Alte nicht heran und hüteten die Zarin mit den Söhnen wie ihren Augapfel. Sie schickten einen Boten mit einem Brief zum Zaren, in dem sie schrieben, daß ihm Gott eine solche Freude beschert hat. Der Bote ging einen ganzen Tag. Als ihn die dunkle Nacht überfiel, suchte er sich ein Nachtlager und gelangte zu der ältesten Schwester. Als diese erfuhr, wer er war, sagte sie: „Übernachte bei uns, lieber Gast! Wir wollen dir ein Bad bereiten. Du solltest dir den Straßenstaub abspülen.“ Der Alte war einverstanden. Er legte den Brief hinter die Ikone und ging ins Bad. Als er im Bad war, nahm sie den Brief, las ihn durch und schrieb der mittleren Schwester: „Liebe Schwester! Unsere liebe Schwester hat zwölf Söhne zur Welt gebracht, wie sie es gesagt hatte. Wir wollen dem Zaren schreiben, daß sie etwas geboren hat, was weder ein Käfer noch eine Unke, noch ein Frosch ist, daß es nicht geht und nicht kriecht, keine Notdurft verrichtet und nicht trinkt. Dann wird er befehlen, sie umzubringen, und eine von uns heiraten.“ Der Bote kam aus dem Bad, aß Abendbrot und legte sich schlafen. Am anderen Morgen stand er früh auf, wusch sich, betete und machte sich wieder auf den Weg. Er ritt bis in die dunkle Nacht hinein.
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Als ihn die dunkle Nacht überfiel, gelangte er zur mittleren Schwester. Diese fragte ihn genauso wie die älteste über alles aus und machte ein Bad zurecht. Er ging ins Bad. Inzwischen las sie den Brief der Schwester und verbrannte den, der an den Zaren gerichtet war. Statt dessen schrieb sie so, wie ihr die älteste Schwester geschrieben hatte. Und sie fügte noch hinzu: „Das Tier, das deine Frau zur Welt gebracht hat, ist so häßlich, daß man es in keiner Fabel beschreiben, in keinem Märchen erzählen, noch den Menschen zeigen kann!“ Sie klebte diesen Brief zu und legte ihn hinter die Ikone. Als der Bote aus dem Bad kam, aß er Abendbrot und legte sich schlafen. Am anderen Morgen stand er früh auf, und nachdem er sich gewaschen hatte und inbrünstig gebetet, machte er sich wieder auf den weiten Weg. Er ritt und ritt, kam zum Zaren und gab ihm den Brief. Als der Zar ihn gelesen hatte, erschrak er: „Mein Gott, ach mein Gott! Was hatte sie gesagt, und was hat sie nun geboren!“ Er überlegte und schrieb dann: „Was dort auch geboren ist, sei es ein Käfer oder eine Unke oder irgendein anderes Tier, laßt es in Ruhe, bis ich wieder zurückkomme!“ Der Bote ritt mit diesem Befehl zurück und kam in der Nacht zur mittleren Schwester. Genau wie beim ersten Mal ließ sie wieder ein Bad für ihn zurechtmachen. Er legte den Befehl des Zaren hinter die Ikone und ging ins Bad. Sie aber nahm ihn, las ihn, verbrannte ihn und schrieb statt dessen,
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daß sie, die kühnen Burschen, sofort hingerichtet werden sollen. Der Bote kam aus dem Bad, aß Abendbrot und legte sich schlafen. Am anderen Tag ritt er wieder weiter. Er ritt bis in die späte Nacht hinein und übernachtete dann bei der älteren Schwester. Auch diese bereitete ihm ein Bad. Als er ins Bad gegangen war, las sie jenen Brief und fügte hinzu: „Es sollen elf Söhne in einen Ledersack eingebunden werden, die Zarin mit dem jüngsten Sohn in ein Teerfaß gesetzt und alle ins Meer geworfen werden.“ Der Bote kam mit diesem Befehl in die Hauptstadt. Und die Stadt glänzte von ihnen, den kühnen Burschen! Die Fürsten und die Bojaren ergötzten sich an ihnen und wunderten sich sehr über den Befehl des Zaren. Da war aber nichts zu machen, denn der Wille des Zaren ist der Wille Gottes, und den muß man ausführen! Sie nahmen elf Söhne und nähten sie in einen Ledersack, den jüngsten setzten sie zusammen mit der Mutter in ein Faß, teerten sie ein und stießen sie ins blaue Meer. Aber der Sack ging nicht unter, sondern schwamm. Und er schwamm in ein dreimalneuntes Land, in ein dreimalzehntes Zarenreich. In diesem Zarenreich stand die Eiche Dorochwej mit ihren zwölf Wurzeln, direkt am Ufer des blauen Meeres. Und in dieser Eiche war ein großer Hohlraum. Da sagte der älteste Bruder: „Meine lieben Brüder, Gott läßt uns ausruhen. Laßt uns den Sack zerreißen und ins Freie gehen!“ 339
Da antworteten sie ihm: „Den Sack können wir nicht zerreißen, Brüderchen!“ „Ach“, sagte er da, „uns hat die Mutter zur Welt gebracht, sie hat uns zum Glück gesegnet, segnen auch wir einander!“ Sie segneten einander einmal, zweimal und dreimal, und als sie sich nach dem dritten Mal ordentlich anstrengten, da flog jener Sack in kleine Stücke auseinander. Sie krochen heraus, die kühnen Burschen, gingen auf ein Steilufer, erblickten die Eiche Dorochwej mit ihren zwölf Wurzeln und kletterten in ihren Hohlraum. Die Zarin mit dem jüngsten Sohn schwamm drei Tage und drei Nächte auf dem Meer. Am vierten Tag sagte ihr Sohn: „Liebes Mütterchen, ich höre, daß wir auf einer Insel angekommen sind. Wie sollen wir aus dem Faß herauskommen?“ „Ach, Kindchen“, sagte die Zarin, „wie sollen wir das Faß zertrümmern?“ „Meine liebe Mutter! Du hast mich zur Welt gebracht, hast mich zum Glück gesegnet, segne mich auch jetzt!“ „Gott segnete dich, und auch ich segne dich!“ „Nun hast du mich einmal gesegnet, segne mich noch ein zweites Mal!“ Sie segnete ihn auch ein zweites Mal. „Nun hast du mich zum zweiten Mal gesegnet, segne mich auch noch ein drittes Mal!“ Und sie segnete ihn ein drittes Mal. Nach dem dritten Mal machte er sich stark, schlug mit der Faust an das Faß, und da zerplatzte es nach allen 340
Seiten. Da gingen sie hinaus auf die Insel Budai, und er baute dort die Stadt Kitai. Sie blieben dort, und einmal fragte er die Mutter: „Wo sollen wir die elf Brüder suchen, Mütterchen?“ Da antwortete ihm die Zarin: „Die finden wir nicht, Kindchen, die sind im blauen Meer umgekommen!“ Da sagte er zu ihr: „Nein, Mütterchen, im dreimalneunten Lande, im dreimalzehnten Zarenreich steht die Eiche Dorochwej mit den zwölf Wurzeln, in ihr ist ein großer Hohlraum, und in dieser Höhle sitzen sie und können nicht heraus, weil ein Vogel bei dieser Eiche ist, der Menschen frißt. Der will sie auch fressen, aber er kommt nicht in die Höhle, und sie können auch nicht heraus. Backe mir aus deiner Milch und feinem Teig zwölf Kuchen und segne mich für die weite Reise, ich will zu meinen Brüdern gehen!“ Das tat sie auch. Nun zog der kühne Bursche in das dreimalneunte Land, in das dreimalzehnte Zarenreich. Dort erblickte er die Eiche Dorochwej mit ihren zwölf Wurzeln. Es war eine große Eiche, aber der Vogel war noch größer! Der Vogel sagte zu ihm: „Sei gegrüßt, kühner Bursche! Ich habe schon ganz andere als dich gesehen und gefressen, und dich zu fressen kostet keine Mühe.“ Da antwortete er dem Vogel: „Warte ein wenig mit dem Prahlen, Vogel, laß uns miteinander kämpfen!“
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Und er ergriff den Vogel, schlug ihn gegen die starke Eiche, und da brachen die zwölf Äste von der Eiche ab. Der Bursche schlug ihn noch einmal auf die feuchte Erde, und da ging es zu Ende mit dem Vogel. Da rief er: „Wer in der Höhle ist, komme heraus! Wenn es ein alter Mensch ist, sei er mir Vater, wenn er so alt ist wie ich, sei er mein Bruder!“ Da kamen die elf kühnen Burschen heraus und baten ihn um etwas zu essen. Er holte die zwölf Kuchen hervor, gab ihnen je einen und nahm sich auch einen. Als sie die Kuchen gekostet hatten, erkannten sie sofort, daß sie aus Muttermilch gebacken waren. Und so errieten sie, daß er ihr leiblicher Bruder war. Nun gingen sie alle mit ihm in die Stadt Kitai. Einmal fuhren seefahrende Kaufleute durch die Stadt. Sie wollten in das Zarenreich ihres Vaters. Der jüngste Bruder begab sich als Fliege auf ihr Schiff und kam zum Zaren. Der Zar fragte die Kaufleute, wo sie waren und was sie gesehen hatten. Da antworteten sie ihm: „Wir waren im dreimalneunten Lande, im dreimalzehnten Zarenreich. In diesem Zarenreich gibt es eine Insel Budai und darauf die Stadt Kitai. Sie glänzt ganz hell, weil dort zwölf kühne Burschen sind, die haben alle die gleiche Stimme, das gleiche Haar, den gleichen Gang, die gleiche Sprache und das gleiche Gesicht; sie sind bis zum Knie aus Gold, bis zum Gürtel aus Silber und haben an der Stirn einen
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klaren Mond, im Rücken kleine Sternchen und an den Schläfen eine rote Sonne.“ Der Zar erriet sogleich alles und sagte: „Das sind bestimmt meine Kinder.“ Die älteste Schwester aber sagte: „Ach Zar, was ist das für ein Wunder? Das sind nicht deine Kinder. Deine Kinder sind die, die in dem dreimalneunten Lande, in dem dreimalzehnten Zarenreich den Kater Waldai finden. Dort steht die Eiche Dorochwej mit ihren zwölf Wurzeln. Auf dieser Eiche wohnt der Kater. Beim Hinunterklettern spricht er Fabeln, beim Hinaufklettern erzählt er Märchen.“ Der Zarensohn hörte alles, und als die Kaufleute zurückfuhren, da kehrte er mit ihnen in seine Stadt zurück und sagte seinen Brüdern und der Zarin: „Die Tante hat uns einen Auftrag gegeben. Ich weiß nicht, wie wir ihn erfüllen sollen! Segne uns dazu, Mütterchen!“ Sie segnete sie, und sie, die jungen Burschen, gingen ins freie Feld, auf die grünen Wiesen, in die Wälder. Sie riefen und schrien mit Reckenstimme, und in der Nacht holten sie die Eiche mit dem Kater. Die Kaufleute fuhren wiederum durch die Stadt in das Zarenreich ihres Vaters. Der kleine Zarensohn verwandelte sich wieder in eine Fliege, flog auf das Schiff und fuhr mit ihnen. Der Zar fragte die Kaufleute wieder, wo sie waren und was sie gesehen hatten. Da sagten sie, daß es auf der Insel Budai, in der Stadt Kitai, eine Eiche Dorochwej mit zwölf Wurzeln gibt. Auf dieser Eiche geht der Kater Waldai spazieren. Klettert er nach unten, spricht 343
er Fabeln, und wenn er nach oben klettert, erzählt er Märchen. Da konnte sich der Zar nicht genug wundern und sagte: „Den haben bestimmt meine Kinder geholt.“ Die älteste Schwester aber sagte wiederum: „Dieses Wunder, Zar, ist kein Wunder. Ein Wunder ist es, daß im dreimalneunten Lande, im dreimalzehnten Zarenreich ein silberner Apfelbaum steht, ein goldener Apfelbaum; ein silbernes Äpfelchen, ein goldenes Äpfelchen; ein silbernes Zweiglein, ein goldenes Zweiglein. Wer dieses Wunder herbeischafft, das werden deine Kinder sein.“ Der Zarensohn hatte wiederum alles gehört. Er kehrte mit den Kaufleuten in seine Stadt zurück und erzählte alles seiner Mutter und den Brüdern. Da sagte die Zarin zu ihnen: „Nein, ihr lieben Kinder. Dieses Wunder können wir nicht herbeischaffen, und ihr könnt auch euren Vater nicht zurückbekommen!“ Die Söhne aber baten sie um ihren Segen. Dann gingen sie wieder ins freie Feld, in die grünen Wiesen und in die Wälder, sie schrien und riefen mit Reckenstimme, und in der Nacht wuchs ein silberner Apfelbaum, ein goldener Apfelbaum; ein silbernes Zweiglein, ein goldenes Zweiglein; ein silbernes Äpfelchen, ein goldenes Äpfel. Wieder fuhren die Kaufleute durch die Stadt Kitai und zum Zaren auf Besuch. Der jüngste Zarensohn, der sich wieder in eine Fliege verwandelt hatte, kam mit ihnen. Der Zar fragte sie wiederum, ob sie ein Wunder gesehen hätten. Da erzählten sie, daß sie auf der Insel Budai, in der Stadt 344
Kitai, einen silbernen Apfelbaum, einen goldenen Apfelbaum; einen silbernen Zweig, einen goldenen Zweig; ein silbernes Äpfelchen, ein goldenes Äpfelchen gesehen hätten. Der Zar wunderte sich darüber und sagte: „Das haben bestimmt meine Kinderchen getan.“ Da sagte die älteste Schwester wiederum: „Nun, Zar, wer ins Wasser gestürzt wird, der stirbt auch! Deine Kinder sind die, die im dreimalneunten Lande, im dreimalzehnten Zarenreich eine silberne und goldene Brücke haben. Wenn du darüber gehst, hast du sie vor dir, aber hinter dir verschwindet sie.“ Der Zarensohn kehrte mit den Seefahrern nach Hause zurück und erzählte den Brüdern und der Mutter, welche Aufgabe ihnen die Tante gestellt hatte. Da sagte die Zarin zu ihnen: „Nein, liebe Kinderchen, diesen Auftrag erfüllt ihr nicht. Euren Vater bringt ihr nicht zurück!“ Da antwortete der jüngste Sohn: „Vielleicht wird es unser großes Glück, Mütterchen. Segne du uns, wie du uns vorher gesegnet hast!“ Sie segnete sie. Die Burschen zogen wieder hinaus ins freie Feld, in die grünen Wiesen und in die Wälder. Sie schrien und riefen mit Reckenstimme, und in der Nacht erschien die Brücke. Als die Kaufleute dem Zaren von diesem Wunder erzählten, da sagte er: „Das haben meine Kinder geschafft. Ich werde zu ihnen fahren!“ Darauf konnte die älteste Schwester nichts sagen, und er fuhr los. Sie fuhr ihm hinterher. Als sie zu der Brücke kamen, hatte er eine Brücke, 345
aber sie nicht. Für ihn war eine Brücke da, für sie aber nicht. Und so kam nur der Zar auf die Insel Budai, in die Stadt Kitai. Und die Stadt glänzte ganz von seinen Söhnen. Als der Zar die Zarin erblickte, erkannte er sie sofort. Sie zeigte ihm die zwölf Söhne mit den gleichen Stimmen, mit den gleichen Haaren, mit dem gleichen Gang, mit der gleichen Sprache und dem gleichen Gesicht; sie waren bis zum Knie aus Gold, bis zum Gürtel aus Silber, und an der Stirn hatten sie einen klaren Mond, im Rücken kleine Sternchen und an den Schläfen eine rote Sonne. Vor Freude veranstalteten sie ein Fest für die ganze Welt. Die älteren Schwestern aber ließ der Zar an Pferdeschwänze binden und ins freie Feld hinausjagen.
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22 Die drei Spinnerinnen Es war einmal eine Witwe, die hatte eine Tochter. Sie waren sehr arm. Sie arbeiteten nicht nur für sich selbst, sondern auch für andere, denn die Mutter spann Werg. Die Tochter aber war eine Faulenzerin und wollte nicht spinnen. Die Mutter zwang sie zur Arbeit und schlug sie, wenn sie nicht arbeiten wollte. Einmal hatte die Witwe die Tochter wieder geschlagen. Sie saß und weinte, da kam ein junger Zarensohn vorbei. Als er sie erblickte, interessierte es ihn, warum ein so hübsches Mädchen weint. Da fragte er die Mutter: „Warum weint sie?“ Die Witwe sagte: „Sie spinnt gar zu gerne, aber ich bin arm und habe kein Werg.“ Da sagte er: „Gebt sie mir, ich habe drei Lager Werg. Soll sie dort spinnen! Dafür gebe ich Euch viel Geld.“ Die Tochter erschrak. Die Mutter aber beschloß, sie ihm zu geben. Da nahm sie der Zarensohn mit in sein Zarenreich. Er brachte sie nach Hause und zeigte ihr das Werg, drei Lager voll. Nun war sie zwar erschrocken, aber sie konnte ja nirgends mehr hin. So saß sie also wieder am Fenster und weinte. Da kamen drei Spinnerinnen vorbei. Als sie sahen,
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daß sie weinte, fragten sie: „Warum weinst du, Mädchen?“ Da erzählte sie ihnen: „Hier sind drei Lager Werg, und man hat gesagt, daß ich spinnen soll. Aber ich kann doch überhaupt nicht spinnen!“ Da sagten sie: „Weine nicht, wir helfen dir in deiner Not! Aber wenn du Hochzeit hast, mußt du uns einladen.“ Da antwortete sie: „Wenn Hochzeit ist, lade ich euch ein.“ Sie gingen in das Lager und begannen das Werg zu spinnen. Die eine Spinnerin hatte einen Finger, der war so dick wie ein Balken. Die andere hatte eine Lippe, die war so dick wie ein Hut, und es war schrecklich, sie anzusehen. Die dritte aber hatte ein Bein, das war so dick wie ein Balken. Sie spannen das Werg in kurzer Zeit und gingen dann fort. Der Zarensohn kommt in das Lager und sieht, daß dort, wo vorher Werg war, Garn liegt. In allen drei Lagern war das Werg versponnen. Da verliebte er sich so in das hübsche „fleißige“ Mädchen, daß er beschloß, sie zu heiraten. Als sie nun alles zur Hochzeit herrichteten, bat das Mädchen den Zarensohn um Erlaubnis, ihre drei Tanten zur Hochzeit einzuladen. Er erlaubte es. Als die Hochzeit begann, lud sie die drei Spinnerinnen ein. Die Spinnerinnen kamen und setzten sich neben die Jungvermählten. Als der Zarensohn sie ansah, erschrak er und fragte: „Warum habt Ihr einen so dicken Finger?“
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Da antwortete die erste Spinnerin: „Das kommt vom vielen Wergrupfen.“ Da fragte er die zweite: „Warum habt Ihr so eine dicke Lippe?“ Da sagte sie: „Das kommt vom vielen Werganfeuchten.“ Da fragte er die dritte: „Warum habt Ihr so ein dickes Bein?“ Da sagte sie: „Das kommt vom vielen Spinnraddrehen.“ Er schaute auf die drei Spinnerinnen und auf seine hübsche junge Frau und sagte: „Bis zu meinem Tode werde ich meiner jungen Frau nicht erlauben, Werg zu spinnen.“ Die Hochzeit ging zu Ende, die drei Spinnerinnen gingen wieder fort, und die faule Frau des Zarensohns hat nie wieder gesponnen.
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23 Marusja Es starb einmal eine Frau und hinterließ ihrer kleinen Tochter ein Kälbchen. Als die Frau im Sterben lag, sagte sie zu ihrer Tochter: „Zieh dir dieses Kälbchen groß, Marusja, und wenn du heiratest, ist es deine Mitgift!“ Der Vater verheiratete sich mit einer anderen, und das Mädchen bekam eine Stiefmutter. Aber die Stiefmutter hatte selbst zwei Töchter. Marusja war sehr hübsch, die Töchter der Alten aber waren häßlich, und die Burschen beachteten sie nicht. Da sah die Stiefmutter, daß Marusja ihre Töchter übertrifft, und wurde böse auf Marusja. Einmal schickte sie sie auf die Weide, die Kühe und die Schafe zu hüten und gleich die Schweine mit (wie auf dem Vorwerk). Sie gab ihr auch Werg, das sollte sie bis zum Abend spinnen, auf Docken wickeln und bleichen. Das Mädchen hütete die Kühe und spann das Werg. Als sie auf die Sonne blickte, sagte sie: „Die Sonne steht niedrig, der Abend ist nah, aber das Werg ist noch nicht gesponnen. Ach mein Gott, ach Gott, da wird mich die Stiefmutter ausschimpfen.“ Da kam ihr Kälbchen heran und sagte: „Leg dich lieber schlafen, deine Arbeit wird schon gemacht!“ 350
Marusja schlief ein, und das Kälbchen nahm das Werg und die Fäden, wickelte sie auf die Hörner und machte aus dem Werg gebleichte Docken. Die Stieftochter trieb das Vieh wieder nach Hause, die Stiefmutter stand schon am Tor und wartete. Da gab sie der Stiefmutter die Docken in die Hand. Die Stiefmutter wurde ganz grün vor Wut. „Wer hat das für dich gemacht?“ „Mütterchen, ich habe es selbst gemacht.“ „Du lügst, das hat jemand für dich gemacht!“ Am anderen Tag schickte die Stiefmutter ihre Tochter mit auf die Weide und befahl Marusja wiederum, bis zum Abend das Werg zu spinnen, in Docken zu wickeln und zu bleichen. Und wieder hütete Marusja die Kühe und spann das Werg, und die Tochter der Alten beobachtete sie. Da schaute die Stieftochter auf die Sonne und sagte: „Die Sonne steht niedrig, der Abend ist nah, aber das Werg ist noch nicht alle.“ Das hörte das Kälbchen und sagte: „Bleib sitzen und spinne weiter dein Werg und singe Lieder – lalala, und dann schlafe ein! Schließe das eine Äuglein und schließe das andere!“ Als das Kälbchen dies gesagt hatte, da schliefen beide Mädchen ein. Das Kälbchen aber ging zu dem Spinnrad, nahm das Werg auf die Hörner und machte gebleichte Docken. Marusja wachte auf und weckte die Tochter der Stiefmutter: „Steh auf, es ist Zeit, nach Hause zu gehen! Meine Arbeit ist fertig.“ Als diese aufstand, sah sie, daß das ganze Werg versponnen war und die Docken gebleicht waren, 351
und sie dachte: Ich habe geschlafen, und sie hat gearbeitet. Die Mädchen trieben die Kühe und die Schafe nach Hause, die Stiefmutter stand schon am Tor und wartete. Wieder gab ihr Marusja die gebleichten Docken. Die Stiefmutter fragte die Stieftochter nicht mehr, sondern fragte ihre Tochter: „Wer hat ihr geholfen, diese Docken zu machen?“ Da sagte die Tochter der Alten: „Mütterchen, sie hat es selbst gemacht.“ Die Stiefmutter glaubte ihr nicht. „Du lügst! Das hat jemand für sie gemacht!“ „Bei Gott, sie hat es selbst gemacht.“ Am dritten Tag schickte die Stiefmutter ihre ältere Tochter zusammen mit Marusja auf die Weide und gab ihr Werg, das Marusja spinnen, in Docken wickeln und bleichen sollte. Marusja hütete die Kühe und die Schafe und spann das Werg, und die Tochter der Alten beobachtete sie. Da schaute die Stieftochter auf die Sonne und sagte: „Die Sonne steht schon niedrig, der Abend ist nah, aber das Werg ist noch nicht gesponnen.“ Das hörte das Kälbchen und sagte: „Bleib sitzen, spinne das Werg und singe Lieder – lalala, und dann schlafe ein! Schließe das eine Äuglein und schließe das andere.“ Da schliefen beide Mädchen ein. Das Kälbchen kam, nahm das Werg auf seine Hörner, und es wurden gebleichte Docken.
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Marusja wachte auf und weckte die andere: „Steh auf, es ist Zeit, nach Hause zu gehen! Meine Arbeit ist fertig.“ Die andere stand auf und sah, daß alles Werg versponnen war und die Docken schon gebleicht waren, und dachte bei sich: Ich habe geschlafen, und sie hat gearbeitet. Als sie die Kühe und Schafe nach Hause getrieben hatten, fragte die Stiefmutter wieder, wer Marusja geholfen hätte. Aber die Tochter der Stiefmutter sagte: „Sie hat es selbst gemacht. Bei Gott, sie hat es selbst gemacht.“ Und die Stiefmutter wurde noch wütender. Am vierten Tag gab die Stiefmutter der Stieftochter wieder Werg und ging selbst mit das Vieh hüten. Das Mädchen spann das Werg und sang Lieder, und die Stiefmutter beobachtete sie. Da schaute Marusja auf die Sonne und sagte: „Die Sonne steht niedrig, der Abend ist nah, aber das Werg ist noch nicht gesponnen.“ Das Kälbchen hörte das und sagte: „Bleib sitzen, spinne das Werg und singe Lieder – lalala, und dann schlafe ein! Schließe das eine Äuglein und dann das andere.“ Als das Kälbchen dies gesagt hatte, schliefen beide ein, das Mädchen und die Stiefmutter. Dann wachte Marusja auf und weckte ihre Stiefmutter: „Steh auf, es ist Zeit, nach Hause zu gehen, meine Arbeit ist fertig!“ Die Stiefmutter stand auf, schaute auf die gebleichten Docken und sagte: „Jetzt weiß ich, 353
wer das gemacht hat! Das Kälbchen ist gekommen, hat das Werg auf seine Hörner genommen, und es wurde zu Docken.“ Die Stiefmutter aber war eine Hexe. Sie hatte ein drittes Auge auf dem Rücken, und dieses Auge hatte das Kälbchen nicht mit verzaubert, denn es hatte nichts davon gewußt. Sie trieben die Kühe und Schafe nach Hause, und die Stiefmutter sagte: „Dieses Kälbchen werde ich gleich schlachten l“ Marusja umarmte das Kälbchen, küßte es und begann zu weinen. „Ach mein liebes Kälbchen, meinetwegen mußt du jetzt sterben!“ „Weine nicht, mein Mädchen, das ist so beschlossen. Aber wenn mich die Stiefmutter geschlachtet hat, dann nimm meine Hufe und Hörner und grabe sie am Brunnen in die Erde!“ Die Stiefmutter schlachtete das Kälbchen und kochte dann das Fleisch. Die Mädchen der Alten aßen mit der Mutter das Fleisch, aßen sich daran satt und legten sich schlafen. Die Stieftochter aber vergrub die Hufe und die Hörner in der Erde und begoß die Erde mit ihren Tränen. In einer Nacht wuchs aus diesen Hufen und Hörnern ein goldener Apfelbaum mit goldenen Äpfeln. Auf den Zweigen dieses Apfelbaumes saßen Himmelsvögel und sangen, und in dem Brunnen, in dessen Nähe dieser Paradiesbaum gewachsen war, verwandelte sich das Wasser zu Wein, und auf dem Wein schwamm ein goldener Becher.
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Da versammelten sich die Leute um den goldenen Apfelbaum. Welch ein Wunder! Zu der Zeit war ein hübscher Königssohn auf der Jagd, erblickte im Vorwerk die Menschenmenge und ritt dorthin. Er ritt direkt in die Menge hinein. Er wollte einen goldenen Apfel ergreifen, aber die Himmelsvögel schwirrten auf, und die Zweige mit den Äpfeln hoben sich hoch in die Luft. Er wollte einen Becher Wein schöpfen, aber der Becher ging unter. Als er fortging, neigten sich die Zweige wieder nach unten, die Vögel setzten sich wieder darauf und begannen zu singen. Auch der Becher im Brunnen kam wieder hoch. Der Königssohn wollte so gern einen goldenen Apfel und den Wunderwein probieren, so daß er sagte: „Das Mädchen, dem es gelingt, für mich einen goldenen Apfel zu pflücken und mir einen Becher Wein aus dem Brunnen zu geben, wird meine Frau.“ Da sagte die Stiefmutter zu ihrer ältesten Tochter: „Geh, vielleicht kannst du die Äpfel pflücken!“ Als die Tochter der Alten hinging, flogen die Himmelsvögel von dem Apfelbaum fort, und der Apfelbaum hob seine Äste. Sie ging an den Brunnen und wollte nach dem Becher greifen, aber der Becher war nicht mehr da. Als sie fortgegangen war, setzten sich die Vögel wieder auf den Apfelbaum, begannen zu singen, und die goldenen Äpfel hingen ganz niedrig. Auch der Becher im Brunnen kam wieder nach oben. Da sagte die Stiefmutter zur jüngeren Tochter: „Vielleicht gelingt es dir, einen goldenen Apfel ab-
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zupflücken und einen Becher Wein zu bekommen.“ Die jüngere ging hin, da hoben sich die Zweige, die Vögel flogen davon, und sie kam nicht an die Äpfel heran. Auch den Becher im Brunnen bekam die Tochter der Alten nicht zu fassen. Aber als sie davonging, senkten sich die Äpfel herunter, und der Becher kam nach oben. Dann gingen die Leute einer nach dem anderen an den Apfelbaum und an den Brunnen, aber niemandem gelang es, die Äpfel zu bekommen, und niemand bekam den Becher. Da sagten die Leute zueinander: „Vielleicht gelingt es der Stieftochter, einen goldenen Apfel zu fassen und den goldenen Becher mit Wein.“ Es wurde gefragt, wo die Stieftochter sei. Da sagten die Töchter der Alten: „Sie ist im Stall.“ Das hörte der Königssohn, und er befahl, die Stieftochter herauszulassen. Sie öffneten den Stall. Sie kam heraus, und wie sie auf den Königssohn schaute, da glänzte ihr die Sonne in den Augen. Er sagte: „Fräulein, ich bitte Euch, einen goldenen Apfel zu pflücken und mir einen Becher Wein zu holen.“ Als sie an den Apfelbaum heranging, ließ der Apfelbaum die Zweige ganz tief herunter, und sie pflückte zwei goldene Äpfel ab. Dann ging sie zu dem Brunnen, schöpfte den Becher voll Wein und brachte den Wein und die Äpfel zum Königssohn. Er trank den Wein, aß die Äpfel und sagte: „Ich danke Euch, mein Fräulein! Erwartet die Brautwerber!“ Und er ritt davon. 356
Am Morgen kamen die Brautwerber. Die Stiefmutter schloß die Stieftochter in den Stall ein und zog die ältere Tochter so an, wie die Stieftochter angezogen war. Dann führte sie ihre Tochter zu den Brautwerbern. Die Brautwerber dachten, daß dies die Braut sei. Es kam der Tag der Hochzeit. Die Stiefmutter zog wieder ihre ältere Tochter so an, wie Marusja angezogen war, und schloß Marusja in den Hühnerstall ein. Der Königssohn erkannte den Betrug nicht gleich. Er wunderte sich nur, warum seine Verlobte so häßlich geworden war, und wurde traurig und nachdenklich. Marusja aber hatte einen Hahn. Sie hatte ihm immer Weizen zu fressen gegeben, und deshalb liebte er sie. Dieser Hahn kam nun zum Königssohn und krähte. „Kikeriki!“ Was will der Hahn? dachte der Königssohn. Der Hahn hackte nach dem Königssohn und lief davon. Der Königssohn ging ihm nach. Wieder hackte der Hahn nach dem Königssohn und lief davon. Der Königssohn machte noch einige Schritte, der Hahn aber erhob sich, flog auf das Dach des Stalles und krähte: „Kikeriki!“ Der Bräutigam folgte dem Hahn. Der Hahn aber flog vom Dach herunter unter den Hühnerstall. Da dachte der Königssohn: Vielleicht hat man meine Braut vertauscht? Vielleicht ist sie im Hühnerstall eingesperrt wie damals? Er öffnete den Hühnerstall, und da fand er sie. Er nahm der Tochter der Alten den Verlobungsring fort, den er Marusja geschickt hatte, und 357
brachte Marusja zu sich in den Palast. Dort zog sie sich an, und er feierte mit ihr Hochzeit. Der goldene Apfelbaum aber verschwand in dieser Nacht, und der Wein im Brunnen wurde wieder zu Wasser. So lebte der Königssohn mit seiner jungen Frau ein Jahr. Es kam Krieg, und der Königssohn mußte in den Kampf ziehen. Marusja aber war schon schwanger. Der König versammelte sein Heer, verabschiedete sich von seiner Frau und zog in den Krieg. Da kam die Zeit für Marusja, ein Kind zu gebären. Die Stiefmutter gab sich als Hebamme aus und tauschte die Stieftochter wieder aus. Sie legte ihre älteste Tochter anstelle von Marusja auf das Bett, und Marusja trug sie in dunkler Nacht aus dem Palast und brachte sie zum Meer. Sie warf sie ins Meer und verzauberte sie in einen Meeresfisch. Der Krieg ging zu Ende, der Königssohn kam zurück und seine „Frau“ kam ihm mit dem Sohn auf dem Arm entgegen. Da bemerkte er, daß sie häßlich geworden war. Er dachte bei sich: Da hat sie nun ein Kind zur Welt gebracht und ist häßlich geworden. Die Stiefmutter aber brachte jeden Tag das Kind zum Ufer des Meeres. Wenn sie zum Meer kam, rief sie: „Marusja, Fisch, komm schnell hergeschwommen, .dein Söhnchen weint!“ Marusja schwamm durch das Meer, und das Wasser ging nach beiden Seiten auseinander. Sie kam zum Ufer geschwommen, nahm das Kind und
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stillte es. Dann sagte sie: „Es soll nicht weinen, Weinen hilft ihm nicht!“ Sie stillte es und verschwand wieder im Wasser. Die Stiefmutter aber ging nach Hause. Einmal war der Königssohn in der Nähe des Meeres auf Jagd nach Enten. Da sah er, wie eine Frau sein Kind trug. Sie brachte es zum Meer und rief: „Marusja, Fisch, komm schnell hergeschwommen, dein Kind weint!“ Der Königssohn stahl sich ganz nahe heran und versteckte sich in den Büschen. Als der Fisch herangeschwommen kam und das Kind zu stillen begann, da erkannte er seine richtige Frau. Er wollte sich auf sie stürzen, hielt sich aber zurück. Er erkannte sie am Gesicht, aber sie war jetzt ein Fisch. Der Königssohn beschloß, zum Geistlichen zu gehen und sich mit ihm zu beraten, was er tun sollte. Er war furchtbar aufgeregt. Am Morgen kam er zu dem Geistlichen und erzählte ihm alles. Der Geistliche war einverstanden, zusammen mit dem Königssohn dorthin zu gehen und sagte: „Ich nehme Weihwasser und werde diesen Fisch taufen.“ Sie kamen zum Meer, versteckten sich in den Büschen und warteten. Schließlich brachte die Stiefmutter das Kind und rief: „Marusja, Fisch, komm schnell hergeschwommen, dein Söhnchen weint!“ Da sahen sie, daß ein Fisch durch das Meer schwamm und daß das Wasser zu beiden Seiten auseinanderging. Er kam zum Ufer geschwommen 359
und nahm das Kind, um es zu stillen. Da sagte er: „Ob du weinst oder nicht, es hilft dir ja doch nichts!“ Da sprang der Pfarrer aus dem Busch und bespritzte den Fisch mit Weihwasser. Sofort verwandelte sich Marusja wieder in eine Frau. Der Königssohn stürzte sich auf seine Frau. Sie umarmten sich und küßten sich. Die Stiefmutter aber erschrak und wurde verlegen. Sie wußte nichts zu sagen. Als sie in den Palast kamen, befahl der Königssohn, die Tochter der Alten zu verjagen und die Stiefmutter ins Gefängnis zu werfen. Er fragte seine Frau Marusja, was mit der Stiefmutter geschehen solle, ob sie gehenkt oder erschossen werden soll. Da sagte sie: „Ich vergebe ihr alles, mag auch Gott ihr vergeben!“ Aber Gott vergab ihr nicht. Die Stiefmutter wurde am gleichen Tag krank und starb nach einem Monat unter furchtbaren Schmerzen. Marusja aber lebte mit dem Königssohn hundert Jahre, und sie waren glücklich.
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24 Das Geschäft mit dem Teufel Es war einmal ein armer Bursche, der hatte nichts zum Leben. Da ging er zum Gutsbesitzer, um sich Geld zu borgen. Der Gutsbesitzer borgte ihm hundert Rubel und sagte, er solle sie bald zurückgeben. Der arme Bursche aber gab das Geld aus und konnte es dem Gutsherrn nicht rechtzeitig zurückgeben. Der Gutsherr herrschte ihn streng an, und da sagte der arme Bursche: „Ich weiß nicht, wo ich es hernehmen soll.“ „Und wenn du dem Teufel deine Seele gibst“, sagte der Gutsherr, „das Geld mußt du zurückgeben!“ Da ging der arme Bursche ins Moor und rief den Teufel. Der Teufel erschien und fragte: „Was willst du?“ Da sagte der arme Bursche: „Nimm meine Seele und gib mir Geld dafür, damit ich es dem Gutsbesitzer zurückgeben kann!“ Da sagte der Teufel: „Geld gebe ich dir soviel du willst. Deine Seele aber, Armer, brauche ich nicht. Wenn du dem Gutsherrn das Geld zurückbringst, dann flüstere leise, während du ihm das Geld gibst: ‚Hol dich der Teufel mit deinem Geld!’“ Das tat er und kehrte dann wieder zum Teufel zurück. Da sagte der Teufel: „Kaufe dir ein großes Gut und lebe dort! Aber du darfst dich sieben Jah361
re nicht waschen, nicht rasieren und dir nicht die Haare schneiden lassen.“ Der Bursche kaufte das Gut und wurde ein reicher Mann. Da begann ein Krieg. Der feindliche König besiegte das Land, in dem der reiche Bursche lebte, und der besiegte König mußte dem Siegerkönig einen großen Tribut zahlen. Da erfuhr der besiegte König, daß in seinem Land ein reicher Mann lebt und daß nur dieser den Tribut zahlen kann und sonst niemand weiter. Der Teufel kam zu dem reichen Bauern und sagte: „Zu dir kommt heute der König und wird dich um Geld bitten. Sage ihm folgendes: ‚Wenn du mir deine Tochter zur Frau gibst, dann will ich dir das Geld borgen.’“ Der Reiche hatte sich sieben Jahre nicht gewaschen, nicht rasiert und sich nicht die Haare geschnitten und sah schlimmer aus als der Teufel. Als der König ihn erblickte, erschrak er. Sie begannen eine Unterhaltung, und der Reiche sagte: „Geld habe ich soviel Ihr wollt. Gebt mir Eure Tochter zur Frau, dann gebe ich Euch das Geld.“ Der König aber hatte drei Töchter. Und er antwortete: „Wenn eine meiner Töchter bereit ist, Euch zu heiraten, dann bin ich auch bereit.“ Der Bursche gab ihm ein Bild, auf dem er schlimmer aussah als der Teufel, und sagte: „Zeigt dieses Bild Euren Töchtern und fragt, welche bereit ist, mich zu heiraten!“ Der König nahm dieses Bild und kam in seinen Palast. Das war abends. 362
Am frühen Morgen kam die älteste Tochter zum König und fragte: „Vater, hast du jemanden gefunden, der viel Geld hat?“ Der Vater sagte, daß er jemanden gefunden habe, und zeigte das Bild. „Da ist er. Aber er gibt uns das Geld nur dann, wenn eine meiner drei Töchter bereit ist, ihn zu heiraten.“ Da antwortete sie: „Lieber stoße ich mir das Messer ins Herz, als ein solches Ungeheuer zu heiraten.“ Und sie ging davon. Da kam die mittlere Tochter und fragte: „Hast du jemanden gefunden, der unser Land freikaufen kann?“ Der König sagte, daß er jemanden gefunden habe, und zeigte das Bild. „Da ist er! Wenn eine von euch bereit ist, ihn zu heiraten, dann gibt er uns so viel Geld, wie wir brauchen.“ Da antwortete sie: „Lieber stürze ich mich aus dem vierten Stock herunter, als dieses Ungeheuer zu heiraten.“ Und sie ging fort. Die jüngste Tochter kam und fragte: „Nun, Vater, habt Ihr jemanden gefunden, der unser Land freikaufen kann?“ Der König zeigte das Bild und sagte: „Dieser Mann hat Geld, aber er will, daß du ihn heiratest. Wenn du ihn heiratest, dann gibt er uns das Geld.“ Sie schaute auf das Bild und sagte: „Es stimmt, daß er häßlich ist, sehr häßlich, aber wenn er unser Land freikauft, dann heirate ich ihn.“ Sie nahm einen Ring und ihr Bild und schickte es ihm. Dann sagte sie dem Vater, daß er zu ihm 363
fahren solle, das Geld holen und den Tribut zahlen; den Verlobungsring des Reichen sollte er auch mitbringen. Der Vater tat das. In dieser Zeit gingen die sieben Jahre, die der Bursche sich nicht gewaschen und nicht rasiert hatte, zu Ende. Da kam der Teufel zu ihm und sagte: „Jetzt wirf die Maske fort, wasch dich, rasier dich und laß dir die Haare schneiden! Kauf dir die sechs schönsten Pferde und das schönste Geschirr und eine Kutsche und mache dich reisefertig!“ Der Teufel half dem Burschen beim Anziehen. Und er wurde so hübsch, daß man es weder mit der Feder beschreiben noch im Märchen erzählen kann. Der Bursche setzte sich in die Kutsche und fuhr zu der Königstochter. Zu dieser Zeit aber wurde im Zarenpalast Namenstag gefeiert. Die Königstochter wußte nicht, daß er kommen würde. Da erschien plötzlich ein unbekannter Gast. Als der König den hübschen Mann erblickte, ging er ihm entgegen und lud ihn zu Tisch ein. Der Bursche aber sagte: „Ich möchte die jüngste Tochter des Zaren sehen. Wird sie mir gestatten, in ihr Zimmer einzutreten?“ Die Schwestern feierten mit ihren Männern (sie hatten sich schon verheiratet) auf dem Ball. Sie aber, die Ärmste, saß in ihrem Zimmer. Sie gestattete dem unbekannten Gast, in ihr Zimmer einzutreten.
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Der Gast kam. Sie wies auf einen Platz, er setzte sich nieder, und sie begannen ein Gespräch. Er sagte: „Seid Ihr bereit, mich zu heiraten?“ „Nein, ich habe schon einen Bräutigam, den ich heiraten muß.“ Und sie zeigte ihm das Bild. Da sagte er: „Warum heiratet Ihr einen so Häßlichen? Heiratet lieber einen wie mich, einen so Hübschen.“ Da sagte sie: „Das kann ich nicht. Er hat uns freigekauft, und ich heirate ihn dafür.“ „Aber vielleicht bin ich das gewesen?“ fragte der Bursche, und er zeigte ihr das Bild und den Verlobungsring. Da glaubte sie ihm, daß er sich so verändert hatte, und freute sich sehr darüber. Sie umarmte ihn, küßte ihn heiß und führte ihn in das Festzimmer. Sie sagte zum Vater und zu den Gästen: „Das ist er, der unser Land freigekauft hat!“ Als die älteste Schwester sah, daß er so hübsch geworden war, stieß sie sich vor Neid das Messer ins Herz. Die mittlere Tochter aber stürzte sich aus dem vierten Stock zu Tode. Da trat der Teufel unbemerkt an den Burschen heran und flüsterte ihm ins Ohr: „Nun, was willst du noch? Ich habe dir doch gesagt, daß ich nicht deine, eines Armen Seele brauche. Jetzt habe ich statt deiner drei, die Seele vom Gutsbesitzer, den du verwünscht hast, und die beiden Seelen der Königstöchter. Lebe glücklich und gehe dann, wohin du willst, in den Himmel oder in die Hölle!“
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25 Die Liebe In irgendeinem Zarenreiche, in irgendeinem Staate, lebten einmal vor langer, langer Zeit, als es uns noch nicht gab, ein König und eine Hexe, das war seine Frau. Sie hatten keine Kinder. Der König machte sich Sorgen darüber, daß keiner da war, dem er sein Zarenreich hinterlassen konnte. Er dachte daran, die Königin zu verjagen oder umzubringen und sich eine andere Frau zu nehmen, um vielleicht von dieser einen Sohn zu bekommen. Das bekam die Königin zu erfahren und beschloß, den König zu betrügen, nur um Königin zu bleiben. So sagte sie dem König, daß sie doch schließlich schwanger geworden sei. Da freute sich der König, hütete seine liebe Frau wie seinen Augapfel und wartete auf die Stunde, in der sie ein Kind zur Welt bringen sollte. Inzwischen aber hatte sie mit alten Weibern vereinbart, daß diese ihr einen fremden kleinen Jungen herbeischaffen sollten. Die alten Frauen brauchten sich nicht lange zu bemühen, denn bekanntlich gibt es sehr viele Kinder, die großgezogen werden müssen; denn Kinder zur Welt bringen ist ja kein Kunststück. Und schließlich ist auch keine Mutter ein Feind ihres Kindes; sie ist froh, wenn ihr Söhnchen ein König wird. So hielten die alten Weiber Ausschau nach schwangeren Frauen und Mädchen 366
und warteten, bis sie niederkamen. Nur, o weh! Alle, die niederkamen, brachten Mädchen zur Welt. Da erschraken die alten Weiber und wußten nicht, was sie tun sollten, denn die Zeit kam schon heran, und sie hatten noch keinen Knaben. Da gingen sie einmal an einen Teich und sahen etwas im Wasser schwimmen. Sie nahmen eine lange Rute und versuchten, es ans Ufer zu treiben. Aber so sehr sie sich auch mühten, sie stießen es noch weiter vom Ufer weg. Sie wollten schon aufgeben und ihren Angelegenheiten weiter nachgehen, als sie ein Kind schreien hörten. Das versetzte die alten Weiber in Aufregung, und sie wollten ins Wasser steigen. Sie versuchten es, aber es war zu tief. Da wollten sie Leute herbeirufen, aber sie hatten Angst, daß das dem König zu Ohren kommen könnte. Da kam ein sehr armes Mädchen, und das war die Mutter dieses Kindes. Sie setzte sich still in einen Busch und sah zu, was mit ihrem kleinen Söhnchen passierte, das sie selbst nicht großziehen konnte, weil die Leute sonst lachen und sich über sie lustig machen würden. Darum ging sie zu den alten Weibern und sagte, daß sie den Trog aus dem Wasser holen würde. Während die alten Weiber berieten, was sie tun sollten, sprang das Mädchen ins Wasser, so wie es war, und wäre bald ertrunken. Aber sie holte den Trog ans Ufer. Als die alten Weiber die Windeln auseinanderschlugen, sahen sie dort einen kleinen Jungen liegen, der war so hübsch und so kräftig, daß man 367
es im Märchen nicht erzählen kann. Die alten Weiber nahmen diesen Jungen und brachten ihn heimlich in den Palast zur Königin. Als jenes Mädchen sah, daß man ihr Kind in den Palast trug, da freute sie sich, blieb noch ein Weilchen stehen, sah hinterher, bekreuzigte sich, ging nach Hause und freute sich so, als wäre sie gerade zur Welt gekommen. Da gab die Königin bekannt, daß ihr ein Sohn geboren sei. Der König war sehr froh. Er ließ für die ganze Welt ein Fest veranstalten. So wuchs dieser Junge als Königssohn auf. Aber ihn zog es immer zu den einfachen Leuten. Besonders gerne ging er zu einer armen Frau, die ihn liebte und mehr streichelte als seine Mutter, die Königin, die eine Hexe war. Er wußte nicht, daß das nicht einfach eine Frau, sondern seine eigene Mutter war. Sie wußte es aber gut und weinte vor Freude, wenn sie ihn liebevoll streichelte. So wuchs der Königssohn auf und wurde hübscher als alle anderen Menschen. Da freiten seine Eltern für ihn um eine schöne Zarentochter, aber er wollte davon nichts hören, weil ihm ein sehr schönes Mädchen gefiel, das aber nur eine Kaufmannstochter war. Wenn ein Kaufmann auch reich ist, so ist er doch nur ein einfacher Mann. Wo hat man schon gesehen, daß ein Königssohn sich ein einfaches Mädchen nimmt? Soviel ihm der König und die Königin auch zuredeten, ein Zarensohn müsse eine Zarentochter heiraten, er sagte, daß er eher Hand an sich legen 368
als auf sie hören würde. Da wurde die Königin, die eine Hexe war, böse und versuchte auszukundschaften, warum der Königssohn nicht auf sie und den König hörte. Da fanden sich auch böse Menschen, die ihr erzählten, daß der Königssohn ein anderes, ein einfaches Mädchen liebe. Sie konnte nur nicht in Erfahrung bringen, welches. Da verwandelte die Hexe das Gesicht des Königssohnes in das eines Schweines. Als der König das sah, wurde er auf seinen Sohn wütend und brachte ihn auf eine Insel mitten im Meer. Der Königssohn hatte aber noch vorher von der Königin einen Spiegel und von dem König einen Stock mitgenommen. Das waren aber keine einfachen Sachen. Wenn er in den Spiegel schaute und an sein Mädchen dachte, dann sah er, wie sie lebte. Als er mit dem Stock auf die Erde klopfte, stand ein kühner Bursche vor ihm und fragte, was er wolle. Der Königssohn befahl ihm, eine Hütte zu bauen und ihm zu essen zu geben. Augenblicklich erschien vor ihm eine Hütte, die zwar klein war, aber schön. Wie aus dem Boden gestampft stand ein Tisch da und auf ihm allerlei Speisen und Getränke, wie im Königspalast. Der Königssohn ging am Meer entlang, sammelte Blumen und sang so traurig, daß die Vögel verstummten und auf sein Lied hörten. Da bekam der Königssohn Sehnsucht, nahm seinen Spiegel heraus, schaute hinein, was sein Mädchen macht, und rang die Hände. Er erinnerte sich jener guten Frau, die ihn betreut hatte, schaute in den Spiegel 369
und sah, daß sie weinte und die Tränen nur so liefen. Er wollte gerne erfahren, warum sie weinte und wer sie gekränkt hatte. Da rief er den kühnen Burschen und sagte zu ihm: „Bringe mir die und die Frau hierher!“ „Das geht nicht“, sagte jener, „hierher können nur die fahren, die es selbst wollen.“ Da wurde der Königssohn traurig und pflanzte sich Blumen, um nicht schwermütig zu werden vor Herzeleid. Inzwischen machte sich der Vater jenes Mädchens, das der Königssohn liebte, auf den Weg in fremde Länder, um Waren von Übersee zu holen. Er fragte seine Töchter, was für Geschenke er ihnen mitbringen sollte. Die älteste bat ihren Vater um das schönste Kleid. Die mittlere bat um eine Gusli, die selbst spielt. Die jüngste aber, die der Königssohn liebte, bat ihn, ihr eine Rose von Übersee mitzubringen. Sie glaubte, daß der Königssohn noch lebt und an sie denkt, solange die Rose nicht verwelkt. Der Kaufmann setzte sich ins Schiff und fuhr übers Meer in fremde Länder. Ob er nun lange dort war oder nicht, er kaufte sehr viele teure Waren und Geschenke für seine lieben Töchter und fuhr dann zurück. Da kam ein Sturm auf, der zerstörte sein Schiff, und es versank mit allem. Der Kaufmann hielt sich an einem Brett fest und schwamm damit weiter. Lange trug es ihn auf dem Meer hin und her, und lange versengte ihn die Sonne, bis es ihn schließlich ans Ufer brachte. 370
Mit letzter Kraft stellte er sich auf die Beine, aber er konnte nicht gehen. Da setzte er sich auf einen Stein und saß dort wie angewachsen. Er saß lange dort; schließlich merkte er, daß er großen Hunger hatte. Er erhob sich und ging am Ufer entlang, um Menschen zu suchen. Er ging ringsherum und erkannte, daß er auf eine unbewohnte Insel verschlagen worden war. Das war aber gerade jene Insel, auf die man den Königssohn verbannt hatte. Der Kaufmann ging Pilze und Beeren suchen, um sich wenigstens etwas zu stärken. Es wurde ihm schwer ums Herz, als er daran .dachte, daß alle seine Waren verloren waren, aber am meisten tat es ihm leid, daß jene Geschenke fortgekommen waren, die er für seine Töchter gekauft hatte. Da erblickte er Rosen, die noch schöner waren als die von Übersee. Er vergaß sogar seinem Hunger und dachte: Ich will hier meinem Lieblingstöchterchen eine Rose pflücken. Den älteren kann ich vielleicht etwas in meinem Lande kaufen, wenn ich nach Hause komme. Als er die Rose pflücken wollte, erschien auf einmal ein furchtbarer Mensch mit einem Schweinsgesicht. Da erschrak der Kaufmann und zitterte wie Espenlaub. „Erschrick nicht, sage mir nur, wer du bist, woher du kommst und wofür du meine Rose haben willst!“ sagte der Mensch. Der Kaufmann erzählte ihm alles, erzählte die volle Wahrheit und fügte noch hinzu, daß er die Rose für sein Lieblingstöchterchen pflücken wollte,
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um sie mit etwas zu erfreuen, denn sonst würde sie immer nur weinen und traurig sein. Da erriet der Königssohn, daß das Mädchen seinetwegen weinte, und bat den Kaufmann in seine Hütte. Er hatte den Kaufmann sofort erkannt, aber dieser konnte ihn nicht erkennen, denn er hatte noch nie jemanden gesehen, der so furchtbar und schrecklich anzuschauen war. Da gab der Königssohn dem Kaufmann zu essen und sagte: „Ich gebe dir Blumen soviel du willst und bringe dich nach Hause. Nur mußt du deine jüngste Tochter hierherschicken. Aber wenn sie nicht gern zu mir kommen will, als mein Gast, dann werdet ihr alle umkommen und ich auch.“ Der Kaufmann konnte nicht anders und erklärte sich einverstanden. Da rief der Königssohn den kühnen Burschen und befahl ihm, verschiedene Waren, die der Kaufmann wünschte, zu holen, den Mädchen als Geschenk die beste Kleidung herbeizuschaffen und auch eine Gusli, die von selbst spielt, und befahl ihm dann, den Kaufmann nach Hause zu bringen. Er hatte einen ganzen Armvoll Rosen gepflückt und zu einem Kranz geflochten, nun sagte er: „Diese Blumen hier gib deiner jüngsten Tochter von mir!“ Der Kaufmann nahm alles und fuhr nach Hause. Zu Hause freute man sich sehr über seine Heimkehr. Aber als er alles erzählt hatte, versuchten seine Frau und die älteren Mädchen die jüngste zu überreden, nicht zu fahren. Doch als sie sah, daß die Rosen so schön blühten, als wären sie gerade erst aus dem Garten gebracht worden, da wurde 372
sie so froh, lachte und klatschte in die Hände. Sie dachte bei sich, daß es vielleicht ihr Schicksal ist, zuerst so traurig zu sein, um dann um so glücklicher zu werden, wenn sie dem Königssohn wieder in die Augen schauen kann. Sie wußte, daß es ihr beschieden war, den Königssohn noch am Leben zu finden. Darum wollte sie auch gern zu jenem furchtbaren Menschen zu Besuch fahren. Vielleicht ist er gar nicht so ein Ungeheuer, dachte sie bei sich, man muß ihn erst einmal ansahen. Die Zeit kam heran. So viel die Eltern und Geschwister sie auch überreden wollten, sie hörte auf niemanden. „Ich fahre doch“, sagte sie. „Ich will nicht, daß es durch mich uns allen schlecht geht, daß wir alle umkommen. Aber vielleicht ist es auch gut so, vielleicht ist mir das alles so bestimmt. Und um das, was einem bestimmt ist, kann man weder herumgehen noch herumfahren.“ Da konnten die Eltern nichts machen, sie mußten sich einverstanden erklären, so schwer es ihnen auch fiel, ihr Lieblingskind wer weiß wohin zu schicken und noch dazu zu einem solchen Ungeheuer, das keinem Menschen ähnlich sah. So schickten die Eltern ihre jüngste Tochter auf die Reise und weinten, als brächten sie sie auf den Friedhof. Sie setzte sich auf das Schiff, das schon lange auf sie wartete und zu jener Insel fahren sollte. Inzwischen hatte die richtige Mutter des Königssohnes erfahren, warum ihr geliebter Sohn nicht mehr zu ihr kam, daß der grausame König 373
und die Königin, die eine Hexe war, ihren unansehnlichen Sohn versteckt oder vielleicht gar umgebracht hatten. Natürlich sehnt sich ein Mutterherz immer nach seinem Kind. Sie weinte und weinte, war traurig, und als sie es gar nicht mehr aushalten konnte, ging sie in die weite Welt hinaus, um den Königssohn zu suchen. Ein Hündchen lief ihr nach, das den Königssohn immer so umschmeichelt hatte, wenn er zur Mutter gekommen war. Es stimmt schon, daß so ein Hund weiß, wer sein Freund ist und wer sein Feind. Einen guten Menschen rühren Hunde nicht an, aber einen bösen sind sie bereit totzubeißen. So war es auch bei dem Hündchen. Immer, wenn der Königssohn kam, sprang es ihn an, leckte ihm die Hände, winselte und wedelte mit dem Schwanz vor Freude. Kam aber jemand anderes, dann kam der Hund wie eine Kugel herbeigeschossen, bellte, bis er heiser wurde, und war so aufdringlich, daß die Frau ihn mit den Worten „Geh fort!“ wegjagen mußte. Jetzt zog sie also durch die Welt, und der Hund lief voraus und zeigte ihr den Weg. Sie wurde müde und legte sich hin, um auszuruhen, aber das Hündchen schlief nicht, sondern schnupperte und spitzte die Ohren, damit es gleich hörte, wenn irgendwo ein Feind versteckt war. So ging sie, ging mit ihrem Hündchen durch die Welt und fragte die guten Menschen, ob sie nicht ihren lieben Sohn gesehen oder etwas von ihm gehört hätten. Die Beine wurden ihr schon müde, aber alle sagten, daß sie ihn nicht gesehen hätten 374
und nicht wüßten, wo ihr Sohn sei. Sie ging durch das ganze Königreich, aber er war nirgends zu finden. Schließlich riet ihr eine alte Frau, sie sollte versuchen, in fremde Länder, in fremde Zarenreiche, zu fremden Menschen zu gehen. „Vielleicht ist er dort“, sagte sie. Da dankte die Frau der guten Alten und wollte in die fremden Länder gehen. Als sie erfuhr, daß diese hinter tiefen, großen Meeren liegen und daß man dort nicht hingehen kann, sondern auf Schiffen fahren muß, da ging sie zum Meer und wollte auf ein Schiff, aber man ließ sie nicht hinauf. „Wo willst du hin, Alte?“ fragte man sie. „Mit diesem Schiff fahren nur Fürsten und Grafen.“ Sie begann zu weinen und ging zu einem anderen Schiff. Dort fragte und flehte sie, warf sich auf die Knie und küßte die Hände. Schließlich fanden sich gute Leute, die wollten sie auf das Schiff nehmen, aber das Hündchen nahmen sie nicht. „Was soll dieses ekelhafte Tier hier?“ sagten sie, „das wird uns noch das Schiff beschmutzen.“ Ihr tat es leid, sich von dem Hündchen zu trennen, von diesem treuen Diener, sie weinte und ging weiter. Das Hündchen, als ob es wüßte, daß die Menschen von ihm gesprochen hatten, sprang ihr vor Freude an den Hals und leckte sie. So ging sie weiter mit ihrem Hündchen und kam schließlich zu jenem Schiff, auf dem die Tochter des Kaufmanns fahren sollte. Sie trat heran und bat, sie mitzunehmen. 375
„Komm, komm, liebe Frau“, antwortete man ihr, „wir sollen alle mitnehmen, die mitfahren wollen!“ Sie ging auf das Schiff, und das Hündchen sprang voraus. Das Schiff war so groß wie eine Kirche. Sie setzte sich in eine Ecke und blieb ganz ruhig sitzen. Das Hündchen legte sich ihr zu Füßen und spitzte die Ohren. Nach einiger Zeit kam auch die Kaufmannstochter auf das Schiff, aber sie sah die alte Frau nicht. Als das Schiff vielleicht eine Stunde oder mehr auf dem Meer gefahren war, machte es am Ufer halt. Ein Mann trat zu der Frau und sagte: „Steige aus, Alte, wir sind schon da!“ Sie nahm ihre Habe, stieg ans Ufer und ging, wohin die Augen schauten oder wohin das Hündchen sie führte. Da stieg auch die Kaufmannstochter aus und ging zur Hütte des Königssohnes. Als der Königssohn sie erblickte, freute er sich so sehr, daß er kein Wort herausbringen konnte. Die Kaufmannstochter lebte dort im Überfluß. Es gab viel zu essen und zu trinken, alles was das Herz begehrte, allerlei herrliche und teure Kleider, so daß es für das ganze Leben reichte. Sie brauchte nichts zu tun, sondern ging nur zwischen den Blumen spazieren und wand sich Kränze. Sie wand einen Kranz aus Rosen, setzte ihn auf den Kopf, schaute in den Spiegel und weinte. „Was soll mir meine Schönheit“, sagte sie, „wenn sie niemand sehen kann, wenn hier nie-
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mand ist außer diesem Ungeheuer mit dem Schweinsgesicht.“ Was der Königssohn auch immer tat, welche Geschenke er ihr auch immer gab, nichts half, er konnte sie nicht wieder zurückgewinnen. Bekanntlich war er ja ein Ungeheuer mit einem Schweinsgesicht und kein Mensch. Wenn man ihn anschaute, so drehte sich einem das Herz im Leibe um. Da wurde der Königssohn traurig, trank nicht mehr und aß nicht mehr, hörte auf, sich um seine Blumen zu kümmern, und lief den ganzen Tag durch den Wald oder am Meeresufer entlang und weinte oder sang Lieder, aber solch traurige Lieder, daß der, der sie hörte, ein Gefühl hatte, als wenn jemand mit Krallen nach seinem Herzen griff, und ihm die Tränen aus den Augen flossen wie bei einem Biber. Da ging die Kaufmannstochter einmal am Meer spazieren und hörte, daß jemand sang. Da lauschte sie. Sie hörte und weinte und bewegte sich nicht, blieb so stehen, bis die Sonne hinter dem Wasser untergegangen und es ganz dunkel geworden war. Schon lange hatte der letzte Vogel im Wald zu singen aufgehört, und sie stand noch immer wie versteinert. Inzwischen war der Königssohn nach Hause zurückgekommen, hatte hierhin und dorthin geschaut, aber sein geliebtes Mädchen nicht gefunden. So lief er sie suchen. Er lief und lief, fand sie schließlich am Meeresufer und führte sie in die Hütte. Es war dunkel und kein Weg zu sehen. So 377
vorsichtig das Mädchen auch lief, es fiel immerfort hin. Als der Königssohn sah, daß sie immerzu stolperte, nahm er sie auf die Arme und trug sie. Er trug sie leicht wie eine Feder und sprach so zärtlich zu ihr, daß das Mädchen sein Schweinsgesicht vergaß und es ihr schien, als ob jemand anderes spräche: jener Königssohn von Übersee, an den sie einst in langen Nächten gedacht hatte, als sie in den weichen Betten bei ihrer Mutter gelegen hatte. Sie glaubte, ihr geliebter Königssohn habe sie wie durch ein Wunder gefunden und trage sie auf seinen starken Armen, flüstere ihr zärtliche Worte zu und drücke sie an seine Brust. Und ihr war so wohl zumute, so freudig klopfte ihr Herz, daß ihr schien, als ob er sie das ganze Leben hindurch auf den Armen getragen hätte und sie die lieben Worte, die liebe Stimme ihres Geliebten gehört habe. Er brachte sie in die Hütte und bat sie, Abendbrot zu essen. Sie aber dankte, zündete nicht einmal Feuer an, sondern legte sich auf das Bett, um jenen süßen Geschmack nicht zu verjagen, um zu liegen, nachzudenken und die Stimme ihres lieben Königssohnes noch einmal zu hören. Sie schlief die ganze Nacht nicht, sondern brannte wie im Feuer. Aber da machte Gott Tag, und die Gedanken flogen auseinander wie Rauch. Als ihr bewußt wurde, daß gar kein Königssohn da war, stach es sie wie mit Nadeln ins Herz, und die Tränen rannen nur so. Sie wollte nicht essen und nicht trinken, sondern vergrub ihren Kopf in das Kissen und weinte den ganzen Tag über. 378
Aber als der Abend kam, da ging sie wieder an das Meeresufer. Da hörte sie abermals dieses Singen, und es war so schön, so fröhlich, daß ihr leicht ums Herz wurde. Sie hörte wieder zu, bis es dunkel wurde. Der Königssohn suchte sie wieder und trug sie auf seinen Armen nach Hause. Und wieder war ihr so froh zumute, so süß drehte sich ihr der Kopf, daß sie die ganze Nacht an ihren Liebsten dachte. Am dritten Tag begegnete sie im Garten dem Ungeheuer mit dem Schweinsgesicht. Es pflückte ihr Blumen. Sie schaute es an und klagte. Es redete ihr zu, aber was half’s! Sie weinte noch mehr und raufte sich die Haare. Schließlich jagte sie es fort, es sollte sich nicht mehr sehen lassen. Sie selbst lief ans Ufer des Meeres, um jenem wunderbaren Gesang zu lauschen. Aber niemand sang, nur der Wald rauschte, das Meer toste, und die Wellen schlugen an das Ufer. Lange saß sie dort, und ihr wurde so schwer ums Herz, so übel bei dem Gedanken, daß ihr junges Leben nun vergeblich vergehen würde, daß keine Hoffnung besteht, ihren lieben Königssohn zu treffen. Da hielt sie es schließlich nicht mehr aus und warf sich ins Meer. Da stürzte sich von irgendwoher das Hündchen jener alten Frau ins Wasser und holte sie ans Ufer. Das sah die Frau, und sie zog das Mädchen aufs Land. Sie schüttelte das Mädchen hin und her, da erwachte es, und als es sah, daß die Frau, die es kannte, bei ihm war, da wurde ihm etwas leichter ums Herz.
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Sie sprachen ein wenig miteinander und gingen dann zusammen zu der Hütte. Auf dem Wege erzählten sie einander alles, was geschehen war und wie sie hierhergekommen waren. Als sie zu der Hütte kamen, war dort ein Unglück geschehen. Der Königssohn war traurig geworden, als ihn die Kaufmannstochter verjagt hatte, war so traurig geworden wie noch nie. Er hatte immer gedacht, daß ihn das Mädchen wegen seines guten Herzens lieben würde, wegen seiner Zärtlichkeit und seiner zärtlichen Worte. Aber nun hatte er gesehen, daß keine Hoffnung bestand. Da holte er den Zauberspiegel hervor, um sein liebes Mädchen zu sehen. In dem Augenblick stürzte sie sich gerade ins Meer und ging unter, und da wurde ihm so schwer zumute, daß es ihn ins Herz stach. Er fiel bewußtlos auf die Erde und lag da wie tot. Die Diener, die herbeigelaufen kamen, wußten auch nicht, was sie machen sollten. Gerade zu dieser Zeit kam die Kaufmannstochter mit jener Frau dorthin. Natürlich lief das Hündchen immer voraus. Auch dieses Mal lief es zum Königssohn, und als es ihn beschnüffelte, winselte, mit dem Schwanz wedelte und ihm die Hände und das Schweinsgesicht zu lecken begann, da erriet die Frau, daß das ihr Sohn war, nur daß er jetzt vielleicht verwünscht war. „Oh, dieser Mensch ist verwünscht“, sagte sie. Da tat er dem Mädchen leid, sie beugte sich zu ihm hinab, streichelte ihn und begann ihm zärtliche Worte zuzuflüstern.
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Da erwachte der Königssohn und sah das Mädchen und jene gute Frau, die er so geliebt hatte, vor sich knien, und ihm wurde leicht ums Herz. Er erhob sich, dankte ihnen für die Zärtlichkeit und bewirtete sie. Das Hündchen aber ging nicht fort von ihm und umschmeichelte ihn immer. Sie saßen fast bis zum Abend am Tisch. Da machte sich die Frau ein Plätzchen zum Schlafen zurecht, und das Mädchen ging mit dem Ungeheuer spazieren. Der Abend war schön. Es war warm und ruhig wie in einem Ohr. Die Sonne war schon lange untergegangen, nur die Wolken waren noch mehr rot geworden. Da begann das Ungeheuer mit dem Schweinsgesicht Lieder zu singen und sang so schön, daß die Stimme bis in die Seele drang und man zugleich weinen und lachen wollte. Und das Mädchen dachte sich, daß es so das ganze Leben lauschen wollte und nichts weiter. Es war schon ganz dunkel geworden. Am Himmel blinkten die hellen Sterne und zwinkerten mit ihren lieben Augen, als wollten sie flüstern: Schön ist die Welt, schön ist es, auf ihr zu leben und zu lieben. Liebe, dann wirst du alles überwinden. Er aber sang noch immer, sang mit solcher Liebe, daß sie in den Kopf und in das Herz des Mädchens drang. Sie wußte selbst nicht warum, als sie den fürchterlich aussehenden Mann am Kopf nahm und küßte. In diesem Augenblick verwandelte er sich wieder in den schönen Königssohn, nahm sie auf die Arme und trug sie nach Hause, wo ihn schon seine Mutter erwartete. Da hatte die Freude kein Ende. 381
Nun lebten sie glücklich zusammen und vergaßen auch die armen Menschen nicht.
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26 Der Krebs als Zarensohn Es waren einmal ein alter Mann und eine alte Frau. Sie lebten schon lange miteinander, hatten aber keine Kinder. Einmal ging die Alte in der Winterszeit nach Wasser. Als sie mit dem Eimer Wasser schöpfte, war ein Krebs im Eimer. Sie wollte ihn hinauswerfen, er aber sagte: „Wirf mich nicht fort, ich werde dein Sohn, und du wirst glücklich!“ Sie nahm ihn nach Hause mit. Der Alte sagte: „Wozu hast du einen Krebs mitgebracht?“ Da antwortete ihm die Alte: „Er hat gesagt, er wird mein Sohn! Wenn ich ihn mitnehme, werde ich glücklich!“ Da gab der Alte zur Antwort: „Wo hat man je gesehen, daß jemand einen Krebs als Sohn hat, und welches Glück hat man von einem Krebs zu erwarten?“ Da sagte der Krebs zu dem alten Mann: „Erschrick nicht, ich werde dich Vater nennen! Es wird nicht leicht sein, aber schließlich werden wir Glück haben.“ Der Krebs wärmte sich und übernachtete. Und er nannte den Alten Vater und die Alte Mutter. „Hört zu, Vater und Mutter, was ich euch sage. Geh du, Vater, zum Zaren als Brautwerber!“ „Wie kann ich denn da hingehen? Ich bin doch schlecht angezogen und alt!“ „Laß nur, Vater, sei nicht traurig darüber, dafür werde ich einstehen.“ 383
Der Alte nahm seinen Stock und ging zum Zaren. Er kam zum Zarenpalast, und dort standen Soldaten auf Wacht. „Wohin willst du, Alter?“ „Na ja, ich gehe zum Zaren als Brautwerber für meinen Sohn.“ Sie brachten ihn unter Bewachung zum Zaren. Der Zar fragte ihn: „Was willst du, Alterchen?“ „Eure Zarenmajestät, Euer Gnaden, ich will um Eure Zarentochter für meinen Sohn freien.“ „Ich bin dir dafür sehr dankbar, Alterchen. Aber was soll ich dir darauf antworten? Wenn dir meine Tochter gefällt, wirst du ihr Schwiegervater, und dein Sohn wird mein Schwiegersohn. Baue jetzt von meinem Hause bis zu deinem Hause eine schöne Brücke. Sie soll ganz und gar aus Gold und Silber sein. Wenn du dies nicht in einer bestimmten Zeit schaffst, erwarten dich das Beil auf dem Schafott und ein weißes Totenhemd!“ Der Alte ging traurig davon. Sowie er zu Hause angekommen war, schimpfte er seine Alte aus: „Warum hast du uns das Unglück ins Haus gebracht? Mir sind das Beil auf dem Schafott und ein weißes Totenhemd angedroht worden, wenn es mir nicht gelingt, etwas zu bauen, was ich in meinem Leben noch nicht gesehen habe.“ Das hörte der Krebs. „Erzähl mir, was dich bedrückt, Vater!“ „Was soll ich bloß machen? Ich soll von unserem Hause bis zum Zarenhaus in einer bestimmten Zeit eine schöne Brücke bauen, mit goldenen und silbernen Bohlen und mit goldenen und sil384
bernen Pfeilern. Aber ich weiß noch nicht einmal, ob die Frist lang oder kurz ist.“ Der Krebs antwortete: „Vater und Mutter! Legt euch schlafen! Guter Rat kommt über Nacht. Gott wird alles geben.“ Sie schliefen fest ein, und niemand hörte etwas. In der Nacht trat der Krebs auf den Hof hinaus. Unter Gottes freiem Himmel warf er seinen Panzer ab, erglänzte wie der junge Mond und rief mit lauter Stimme: „He, ihr Fische und Krebse, kommt alle her zu mir! Ich will euch einen Auftrag erteilen.“ Sie erschienen alle bei ihm, zu Pferde und zu Fuß. „Hört zu, Brüder, was ich euch sage: Bis morgen früh ist eine Brücke von meinem Hof bis zum Zarenhof zu bauen, eine schöne Brücke aus Gold und Silber, sie soll dem Zaren gefallen, wenn er auf ihr spazieren geht!“ „Wir werden uns Mühe geben, lieber Herr!“ Als der Zar am Morgen aufwachte, erleuchtete das vollbrachte Werk das halbe Zarenreich. Da dachte der Zar: Mit wem habe ich mich da eingelassen? Oder wer hat sich mit mir eingelassen? Er war doch ein alter Mann in ganz abgerissener Kleidung. Aber über das, was er da so schnell vollbracht hat, muß selbst ein Zar staunen. Als der Alte und seine Frau am Morgen aufwachten, fragten sie: „Wie kann denn der Zar in unser Haus kommen? Unser Haus ist doch so ein Dreckstall.“
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Da antwortete der Krebs wieder: „Vater, geh zum Zaren als Brautwerber!“ Der Alte nahm seinen Stock und ging. Er ging jetzt ohne Sorgen und lachte, denn es war schön, über die Brücke zu gehen. Er kam zum Haus des Zaren, und dort fragten ihn die Posten: „Wo willst du hin, Alter?“ Sie fragten ihn ganz ernst. Er gab auch ganz ernst zur Antwort: „Ich gehe zum Zaren, ich bin der Schwiegervater der Zarentochter.“ Da wunderten sie sich über die alten Lumpen, die er trug. Als der Alte in den Palast eingetreten war, sagte er: „Seid gegrüßt, Eure Zarenmajestät!“ Der Zar antwortete: „Sei gegrüßt, Schwiegervater, sei willkommen in meinem Zimmer!“ Er befahl seinen Dienern, einen Stuhl neben den seinen zu stellen (so, wie wir beide jetzt hier zusammensitzen). „Nun, Schwiegervater, da wollen wir uns mal unterhalten. Es soll also Hochzeit gemacht werden? Daß du dich auch gut darauf vorbereitest! Auf der Brücke sollen an jedem Pfeiler Fässer mit verschiedenen Getränken stehen, und wer will, der soll davon trinken können, und an jedem Pfeiler soll ein Apfelbaum stehen mit wunderschönen Zweigen aus Gold und Silber, und an ihm sollen goldene und silberne Äpfel und andere Früchte hängen, so daß man den Wein trinken und ein Äpfelchen dazu essen kann. Jetzt geh nach Hause zu deinem Sohn und laß das so machen! Sonst er-
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warten dich das Beil auf dem Schafott und ein weißes Totenhemd!“ Der Alte wurde wieder traurig und ging. Als er nach Hause kam, schimpfte er seine Alte aus: „Warum hast du uns das Unglück ins Haus gebracht?“ Der Krebs hörte diese Worte. „Ach“, sagte er, „Vater und Mutter, wovon sprecht ihr, worum sorgt ihr euch?“ „Wie sollten wir uns denn nicht sorgen? Wo sollen wir das herbekommen?“ „Vater und Mutter! Legt euch schlafen! Guter Rat kommt über Nacht. Gott wird alles geben.“ Gott ließ Nacht werden, und sie schliefen fest ein. Der Krebs trat auf den Hof hinaus unter Gottes freien Himmel, warf seinen Panzer auf die Erde und erglänzte wie der junge Mond. Er rief mit lauter Stimme: „He, ihr Fische und Krebse! Kommt alle her zu mir!“ Nun, sie kamen alle, zu Pferd und zu Fuß! „Was befehlt Ihr, Herr?“ „Hört zu, was ich euch sage: Bereitet meine Hochzeit vor! Schmückt die Brücke, stellt goldene und silberne Apfelbäume an den Pfeilern auf, laßt an diesen Apfelbäumen goldene und silberne Zweige und goldene und silberne Äpfel wachsen, stellt goldene und silberne Fässer mit verschiedenen Getränken, goldene und silberne Becher, goldene und silberne Schüsseln auf, damit die Leute, die vorbeigehen oder vorbeifahren, etwas zu trinken und zu essen haben!“ „Wir wollen es gern tun, lieber Herr! Das erledigen wir schon.“ 387
Am Morgen stand alles da. Der Zar trat hinaus und dachte lange nach. Er griff sich an den Kopf und dachte: Wie das nur so schnell geschieht? Es hat doch niemand etwas von der Arbeit bemerkt! Und wie genau meine Befehle befolgt wurden! – Am Morgen sagte der Krebs zu seinen Eltern: „Also, Vater und Mutter! Vater soll noch einmal zum Zaren gehen als Brautwerber. Öfter braucht er dann nicht mehr zu gehen.“ Der Alte nahm seinen Stock und ging. Er war froh und ging und ging, und auf der Brücke probierte er den Wein. Als er zum Palast kam, fragten ihn die Posten: „Wohin willst du, Alter?“ „Ja“, sagte er, „ich gehe zum Zaren, ich bin der Schwiegervater der Zarentochter.“ Sie brachten ihn unter Bewachung in das Zimmer des Zaren. „Seid gegrüßt, Eure Zarenmajestät! Ich grüße Euch auf einfache Art, auf Bauernart!“ „Sei gegrüßt, Schwiegervater! Sei willkommen in meinem Zimmer!“ Er befahl den Dienern, einen Stuhl neben den seinen zu stellen. Dann sagte er zu dem Alten: „Dein Sohn soll mit seinem Hochzeitszug hierherkommen. Hier werden wir dann die Hochzeit feiern. Er soll als einziger im Gefolge zu Pferde kommen, damit ich gleich erkennen kann, wer mein Schwiegersohn ist.“ Als der Alte nach Hause kam, sagte er zu seinem Sohn: „Mache dich bereit, morgen mit deinem Hochzeitszug zum Zaren zu kommen, und
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reite als einziger in deinem Gefolge, damit du gleich zu erkennen bist!“ „Legt euch schlafen! Guter Rat kommt über Nacht. Die Sache wird erledigt.“ Sie legten sich schlafen und hörten nichts in der Nacht. Der Krebs aber trat auf den Hof hinaus und rief mit lauter Stimme: „He, ihr Fische und Krebse, kommt alle mit mir zur Hochzeit! Ich möchte von einem Regiment Soldaten in schönen Uniformen mit Marschmusik begleitet werden und für mich ein schön geschmücktes Pferd haben!“ „Das wollen wir gern tun, lieber Herr! Wir werden alles erledigen!“ Sie versammelten sich und schmückten alles. Den beiden Alten blieb der Verstand stehen – sie freuten sich nicht und erschraken auch nicht. „Was soll das hier werden?“ Am Morgen machte sich der Zug auf den Weg. Als sie angekommen waren, sangen sie dem Zaren zu Ehren im Chor. Der Zar, der am Fenster stand, erkannte seinen Schwiegersohn. Er befahl seinen Dienern: „Geht, und hebt den Reiter vom Pferd!“ Die Diener hoben den Krebs ehrfurchtsvoll vom Pferd und brachten ihn auf den Schultern ins Zimmer des Zaren und setzten ihn auf einen Stuhl neben die älteste Tochter. Sie feierten zwölf Tage lang. Es war ein offenes Fest für die ganze Stadt. Die Ehe wurde nach dem Gesetz geschlossen. Dann fuhren alle wieder fort, der ganze Hochzeitszug. Nur der Schwiegersohn blieb zurück, ein Krebs, er war immer noch ein Krebs. Und er blieb beim Zaren wohnen. 389
Der Zar hatte noch zwei Töchter. Sie hatten sich hübsche und gutgekleidete kluge Männer ausgesucht. Sie begannen ihre älteste Schwester zu beschimpfen: „Unsere Männer sind hübsch, aber du, unsere älteste Schwester, wen hast du geheiratet?“ Sie aber sagte zu ihnen: „Ja, das Volk sieht ihn nur als Krebs, aber wenn ich nachts mit ihm im Bett liege, dann ist er kein Krebs, wenn er seinen Panzer abnimmt, erleuchtet er das ganze Zimmer.“ Da berieten sie miteinander: „Wir werden versuchen, den Panzer zu verbrennen.“ Als ihre Schwester und der Krebs eingeschlafen waren, stahlen sie den Panzer und verbrannten ihn im Ofen in der Wäscherei. Bekanntlich brennt ja dort Tag und Nacht das Feuer. Der Krebs roch es im Schlaf und fragte: „Was ist das für ein Gestank?“ Seine Frau antwortete: „Bei uns in der Stadt werden die Hammel und Schweine nicht am Tage geschlachtet, sondern in der Nacht, und daher kommt dieser Gestank.“ Er griff nach seinem Panzer, aber der war weg! „Nun, was ist das, liebe Frau?“ sagte er, „da bist du einem dummen Rat gefolgt! Wer jetzt zu mir gelangen will, muß drei Paar eiserne Stiefel schieftreten, drei eiserne Wanderstöcke ablaufen und dabei drei eiserne Weihbrote essen!“ Als er am Tage auf den Hof hinaustrat, sahen alle, daß er ein sehr hübscher Bursche war. Er sagte:
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„He, du grauer Brausewind, schneller Springer, Frühjahrskind, komme her zu mir geschwind. Dientest meinem Vater du, diene mir auch immerzu!“ Ein Pferd eilte zu ihm, und die Erde erzitterte. Es ließ sich vor ihm auf die Knie herab. Er packte es an der Mähne und setzte sich auf seinen Rücken. Dann sagte er: „Lebt alle wohl!“ und erhob sich in die Lüfte. An den wandernden Wolken vorbei jagte er dahin, seine Frau blieb zurück. Sie mußte allein weiterleben, und es ging ihr schlecht ohne ihren Mann, denn alle begannen sie zu kränken. Sie beschwor ihren Vater, ihr die drei Paar eisernen Stiefel, die drei eisernen Stöcke und die drei eisernen Weihbrote zu beschaffen. Der Vater ließ ihr die Sachen herstellen, und sie bat ihn um seinen Segen: „Segnet mich, Vater und Mutter, ich will fort! Mir geht es schlecht.“ Sie segneten sie, und sie ging ihren Mann suchen. Sie ging in die Richtung, wo sie ihn hatte davoneilen sehen. So ging sie nun dahin, und der Weg war lang und beschwerlich. Ein Paar Stiefel hatte sie schon durchgelaufen, ein Stock war schon entzwei, und ein eisernes Weihbrot hatte sie schon gegessen, wie es ihr Mann ihr gesagt hatte. Da stand am Wege ein Haus. Dunkle Nacht umgab sie. Am Tor stand eine Edelfrau. „Sei gegrüßt, Wanderin! Du bist doch unseres Bruders Frau? Es ist schwer, zu
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ihm zu kommen. Nun, sei willkommen und übernachte hier!“ Die Wanderin verneigte sich tief und ging ins Haus, um dort zu übernachten. Am Morgen stand sie früh auf und dankte beim Fortgehen. Die Edelfrau gab ihr ein Tuch. „Hier hast du ein Tuch als Geschenk von der großen Schwester.“ Dieses Tuch war sehr schön, es leuchtete in allen Farben und war mit goldenen und silbernen Verzierungen besetzt. Sie umarmte das Tuch wie ihren Mann. Dann bedankte sie sich und machte sich auf den Weg. Sie ging und ging immer weiter, wie schnell erzählt sich das, aber wie mühevoll war es doch. Sie lief das zweite Paar Stiefel ab, nutzte den zweiten Stock ab und aß auch das zweite Brot, wie es ihr Mann ihr gesagt hatte. Da stand an ihrem Wege ein Haus, das war noch schöner als das andere. Dunkle Nacht umgab sie schon. Am Tor stand wieder eine Edelfrau, die der ersten ähnlich sah. „Sei gegrüßt!“ sagte sie. „Bist du nicht unseres Bruders Frau und unsere Schwägerin? Es wird dir schwerfallen, zu ihm zu kommen. Du hast aber schon genug gelitten! Sei willkommen, übernachte bei uns und ruhe dich aus!“ Sie richtete ihr ein Zimmer in ihrem Hause her, gab ihr zu essen und ließ sie ausruhen. Am anderen Morgen stand die Wanderin auf und bedankte sich mit den Worten: „Ich danke Euch für das Nachtlager und für die Bewirtung! Verzeiht mir!“ Die Edelfrau aber sagte: „Da hast du ein Geschenk von mir, meine Beste!“ 392
Sie schenkte ihr eine sehr schöne Haarbürste. Die war ganz bunt und mit lauter Gold und Silber verziert. Die Wanderin nahm das Geschenk entgegen und ging. Lange Zeit mußte sie sich abmühen. Sie zog das dritte Paar Stiefel an, nahm den dritten Stock zur Hand und begann das dritte Weihbrot zu essen. Lange Zeit litt sie auf ihrem Wege und ruhte sich selten aus. Wie schnell läßt sich das erzählen, aber wie mühevoll war das doch. Sie trat das dritte Paar Stiefel schief, zerschlug den dritten Stock und aß auch das dritte Brot. Da stand am Wege wieder ein Haus. Als sie zu dem Haus kam, war ringsum schon dunkle Nacht. Am Tor dieses Hauses stand eine Edelfrau. Sie erkannte die Wanderin. „Sei gegrüßt!“ sagte sie, „du hübsche Zarentochter. Lange hast du schon gelitten, meine Beste! Morgen ist dein Leid zu Ende! Sei willkommen, übernachte hier, liebe Schwägerin, Frau unseres Bruders!“ Sie führte sie in ihr Zimmer, gab ihr zu essen und wünschte ihr gute Erholung. Am anderen Morgen stand das Mädchen auf und wollte weitereilen. Die Frau gab ihr als Geschenk Werg, ein Spinnrad und eine Spindel. „Da hast du etwas“, sagte sie, „geh in die Stadt und setz dich auf den Basar, breite das Tuch aus, das du von der ältesten Schwester geschenkt bekommen hast, lege die Bürste auf das Tuch und spinne Werg. Dann wird eine Edelfrau mit ihren Dienern kommen. Die Sachen werden ihr sehr gefallen. Sie wird sie kaufen wollen. Sie wird dir erst hundert Rubel bieten, 393
willige nicht ein. Dann wird sie tausend geben wollen, sei nicht einverstanden, nimm nichts. Stell nur die eine Bedingung: daß du mit ihrem Mann für jede Sache eine Nacht schlafen willst. Sie wird dir alle drei Sachen abnehmen. Aber laß dich auf nichts anderes ein!“ Die Wanderin bedankte sich und zog weiter. Sie kam in die Stadt und stellte sich mitten auf dem Basar auf. Es war ein schöner Tag, sie legte ihre Sachen aus, breitete das Tuch aus, legte die Bürste auf das Tuch, beschäftigte sich mit ihrer Arbeit und spann Werg. Um die Mittagsstunde ging eine Edelfrau mit ihren Dienern auf dem Basar spazieren. Sie kam zu ihr und sagte: „Sei gegrüßt! Verkaufst du mir diese Sachen, meine Beste?“ Sie aber fragte als Antwort: „Was wünscht Ihr?“ „Mir gefällt dieses Tuch dort (das Tuch, das das Mädchen vorher geschenkt bekommen hatte). Was willst du dafür haben?“ Sie antwortete: „Ich will nichts!“ „Wieso, gibst du es umsonst?“ „Nein, umsonst gebe ich es nicht! Ich will dafür mit Eurem Mann eine Nacht schlafen!“ „Ach, was bist du für eine Gewissenlose! Was hast du davon, mit meinem Mann zu schlafen? Ich gebe dir doch Hunderte von Rubeln dafür, das nützt dir mehr!“ Sie gab zur Antwort: „Ich aber will nichts anderes!“
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Die Frau ging fort von ihr, lief umher und dachte: Ich kann mir doch die Sachen nicht entgehen lassen! „Nun, dann geh mit ihm schlafen, wenn du kein Geld willst, du Törin!“ Sie nahm das Tuch und ging. „Folge mir!“ Als sie nach Hause kam, brachte die Frau das Mädchen in ein solch abgelegenes Zimmer, daß es die Stimme des Mannes nicht hören konnte. Wie ihr Mann von der Jagd kam, ließ sie ihn von den Dienern vom Pferd heben und bewirtete ihn mit verschiedenen Getränken, die betrunken machen. Als er betrunken war, legte sie ihn ins Schlafzimmer. Er war besinnungslos, und sie gestattete dem Mädchen, sich zusammen mit ihm hinzulegen. Sie legte sich zu ihm und begann mit ihm zu sprechen: „Ich habe alle deine Befehle ausgeführt. Ich habe drei eiserne Stiefel schief getreten, ich habe drei eiserne Stöcke abgenutzt und habe drei eiserne Weihbrote gegessen.“ Sie erzählte, wie sie gelitten hatte. „Ich bin zu dir gelangt, und nun liege ich hier mit dir, aber du sagst kein Wort.“ Sie neckte ihn, rüttelte ihn und kniff ihn. Er aber schlief, und sie bekam keine Antwort von ihm. Ob er das merkte oder nicht, ist nicht bekannt. Am Morgen stand sie auf, bedankte sich und ging fort. Die Edelfrau lachte über sie und nannte sie eine Törin: „Was für eine Törin bist du! Was hast du
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nun von ihm bekommen? Ich aber hätte dir viel Geld gegeben!“ Da antwortete sie der Edelfrau: „Ich will kein Geld!“ und begab sich wieder auf ihren Platz. Sie legte die Bürste hin, das Tuch war ja nicht mehr da, und spann Werg. Der Mann begab sich auf die Jagd und sagte: „Habe ich das geträumt, oder ist das wirklich mit mir geschehen? Mir war, als hätte ich die Stimme meiner früheren Gattin gehört. Ich habe die Stimme gehört und an meinem Körper die Kniffe gespürt. Ich werde mich beeilen, schnell von der Jagd zurückzukommen.“ Die Edelfrau ging wieder in der Stadt mit ihren Dienern spazieren. Da kam sie zu der Marktfrau. „Verkauf mir dieses Stück, meine Beste!“ sagte sie und zeigte auf die Bürste. „Kaufe es!“ „Was nimmst du dafür?“ „Ich will nichts dafür. Ich will mit Eurem Mann schlafen!“ Sie nannte sie wieder eine Törin. „Was hast du nur für ein Gewissen“, sagte sie, „daß du mit meinem Mann schlafen willst?“ „Laß nur!“ „Ich hätte dir aber viel Geld gegeben!“ Dann stimmte sie schnell zu und gestattete dem Mädchen, noch eine Nacht bei ihrem Mann zu schlafen. Alles verlief wieder in der gleichen Weise. Er kam von der Jagd, sie ließ ihn von den Dienern vom Pferd heben und bewirtete ihn. Er war aber noch nie so gut bewirtet worden, und so dachte er bei sich: Das ist mir noch nie passiert, 396
daß ich so gut bewirtet worden bin. Er war deshalb vorsichtig, stellte sich bald wieder so, als ob er betrunken wäre und während der Unterhaltung fest einschliefe. Nun nahmen sie ihn und legten ihn im Zimmer aufs Bett. Dann sagte die Frau zu dem Mädchen: „Geh mit meinem Mann schlafen!“ Sie legte sich mit ihm hin. Sie wartete, bis alle eingeschlafen waren, und während alle schliefen, versuchte sie ihn zu wecken. Sie sagte wieder ihren Spruch auf und erzählte von ihren Mühen: „Ich schlafe schon die zweite Nacht bei dir, aber ich höre nichts von dir!“ Er verstand alles, gab aber keine Antwort. Als die Nacht vorbei war und es Morgen wurde, weckte man sie und schickte sie hinaus. Sie stand auf und bedankte sich. Die Edelfrau lachte und nannte sie eine Törin: „Zwei Nächte“, sagte sie, „hast du mit ihm geschlafen, was hast du davon gehabt?“ Das Mädchen bedankte sich, begab sich an ihren Platz auf dem Basar und spann Werg. Ihr Mann ging an ihr vorüber. Er war nicht vornehm gekleidet, er ging wieder auf die Jagd. Sie betrachtete ihn genau, aber sie erkannte ihn nicht. Aus verschiedenen Erwägungen heraus kam er bald von der Jagd zurück. Die Edelfrau aber ging wieder mit ihren Dienern in die Stadt spazieren. Sie sehnte sich nach den übrigen Sachen und wollte sie auch haben. Sie bekam diese Sachen, das Werg und die Spindel und das Spinnrad, noch leichter, ganz schnell. „Verkaufst du mir diese Sachen?“ Das Mädchen antwortete: „Ja, ich verkaufe sie.“ 397
„Nun, was willst du dafür?“ Sie antwortete: „Ich will nichts. Ich will mit Eurem Mann schlafen.“ Da sagte die Edelfrau zu den Dienern: „Nehmt diese Sachen! Und du geh mit mir!“ Sie führte das Mädchen wieder in das Schlafzimmer, wo es zwei Nächte geschlafen hatte. Nun kam ja der Mann etwas früher von der Jagd zurück. Sie ließ ihn von den Dienern vom Pferd heben, setzte sich mit ihm an den Tisch und bewirtete ihn mit verschiedenen Getränken. Er nahm alle Kräfte zusammen und stellte sich wieder betrunken. Wieder legte man ihn ins Bett. Als es in der Nacht still geworden war, veranlaßte der Mann das Mädchen, nach ihren Wünschen umzubetten. Sie bettete um und begann zu sprechen. Er antwortete: „Daß du am Morgen nicht fortgehst!“ Am Morgen wollte man sie fortschicken. Man rief sie einmal: „Komm aus dem Zimmer, meine Beste!“ Sie ging nicht. Das zweite Mal nannte man sie schon gewissenlos. Sie ging wieder nicht. Das dritte Mal sagte man: „Es wird dir befohlen, herauszukommen!“ Doch sie gehorchte nicht. Schließlich kamen sie beide angezogen aus dem Zimmer. Er ließ den ersten besten Hengst aus dem Pferdestall holen, die Edelfrau an den Schwanz binden und sie über das freie Feld schleifen. Die beiden aber lebten und regierten nun zusammen. Auch ich war dort vor zwei oder drei Jahren, habe aber nichts gesehen. Gute Nacht, angenehme Ruhe und einen frohen Morgen! Laßt es euch gut 398
und einen frohen Morgen! Laßt es euch gut gehen!
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27 Janko und die Königstochter Es war einmal ein alter Mann, der hatte drei Töchter und einen Sohn Janko. Er hatte keine Frau mehr, dieser Alte, und war schon schwach. Weil er schon alt war und den Tod nahen fühlte, sagte er zu seinem Sohn: „Nun, Söhnchen, paß auf, wenn nach meinem Tode Brautwerber kommen, gib zuerst die älteste Schwester fort. Wenn die nächsten kommen, gib die mittlere, und wenn das dritte Mal Brautwerber kommen, gib ihnen die jüngste!“ Nach kurzer Zeit starb der Alte. Da kam der Rabe Rabensohn als Freier geflogen. Janko gab ihm die älteste. Dann kam der Adler Adlersohn geflogen, und Janko gab ihm die mittlere. Als letzter kam der Zander Zandersohn und bekam die jüngste. Obwohl er nicht wußte, wo die Schwestern hingingen, gab er sie fort. Er wollte gern zu ihnen zu Besuch fahren, aber er wußte nicht, wohin. Da beschloß er, sie suchen zu gehen, und zog los. Er ging und ging und sah, wie sich auf dem Wege Teufel schlugen. Sie hatten drei Dinge gefunden, eine Tarnkappe, Stiefel und ein gepanzertes Pferd, und wußten nun nicht, wie sie sie untereinander aufteilen sollten. Als Janko zu den Teufeln kam, freuten sie sich, und der eine fragte: 400
„Kannst du uns nicht sagen, Poleschuk1, wie wir uns die drei Sachen teilen sollen?“ Er willigte ein und sagte: „Lauft fünf Kilometer. Wer zuerst ankommt, bekommt zwei Sachen, und wer danach kommt, die dritte.“ Sie waren einverstanden und liefen los. Er aber zog sich die Stiefel an, setzte sich die Tarnkappe auf, schwang sich auf das gepanzerte Pferd und flog davon. Als die Teufel zu der Stelle zurückkamen, sagte der eine: „Nun haben wir aber gut geteilt, keiner hat etwas bekommen.“ Als Janko eine Weile geflogen war, sah er etwas leuchten. Er fragte sein gepanzertes Pferd: „Was ist das, geht die Sonne auf, oder brennt dort Feuer?“ Da sagte das gepanzerte Pferd: „Das Licht brennt im Palast deiner ältesten Schwester.“ „Dann fliege dorthin und laß dich dort hinab!“ Das gepanzerte Pferd ließ sich hinab, und er ging in den Palast. Als die Schwester den Bruder erblickte, freute sie sich. „Gut, daß du zu mir gekommen bist, Brüderchen. Aber wenn mein Mann, der Rabe Rabensohn, kommt, wird er dich umbringen, sobald er dich erblickt!“ Sie gab ihm zu essen und schloß ihn in ein besonderes Zimmer ein. Da kam der Rabe Rabensohn geflogen. Er trat in den Palast und sagte zu seiner Frau: „Ach, wie es hier nach russischem Atem riecht!“ 1
Bezeichnung für den Bewohner von Polesje, einem Gebiet mit vorwiegend Sümpfen und Wäldern. (L. B.)
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„Du bist durch die Welt geflogen, mein Lieber, hast russischen Atem gerochen und riechst ihn jetzt auch noch!“ Sie gab ihm zu essen und brachte beim Abendbrot das Gespräch auf ihren Bruder: „Ich habe doch einen Bruder, der ist allein geblieben. Was wäre, wenn er zu uns zu Besuch kommen würde?“ Da sagte der Mann: „Was dann wäre? Nun, dann würden wir trinken, feiern und lustig sein.“ Da gestand sie ihm, daß der Bruder schon da war. „Rufe ihn her!“ sagte der Rabe Rabensohn. Da tranken sie und feierten drei Tage lang. Sie tranken, sangen und waren lustig. Als drei Tage vergangen waren, sagte der Bruder: „Nun will ich wieder weitergehen, liebe Schwester“, und verabschiedete sich. Sie nahm ein Handtuch heraus und sagte: „Hier hast du ein Handtuch, mein lieber Bruder, du wirst es unterwegs gebrauchen können.“ Er flog zu seiner zweiten Schwester. Bei der zweiten Schwester, der Frau vom Adler Adlersohn, war es genauso. Auch sie schenkte ihm solch ein Handtuch. Er schwang sich wieder auf sein gepanzertes Pferd und flog zur dritten Schwester. Als er ein Licht erblickte, fragte er das gepanzerte Pferd: „Geht die Sonne auf oder unter, oder was ist das dort?“ Da antwortete das gepanzerte Pferd: „Das ist das Licht bei deiner jüngsten Schwester im Palast.“ 402
Das war ein Palast am Meer. Er ging in diesen Palast hinein. Die Schwester freute sich, als sie den Bruder erblickte: „Ach, mein liebes Brüderchen, wie schön, daß du zu mir gekommen bist! Aber wenn mein Mann, der Zander Zandersohn, heimkommt, dann wird er dich vielleicht umbringen.“ Sie gab dem Bruder zu essen und zu trinken und versteckte ihn in einem besonderen Zimmer. Das Meer toste, Zander Zandersohn schlug mit dem Schwanz auf, wurde zu einem hübschen Burschen und ging in seinen Palast. Drinnen sagte er: „Ach, hier riecht es nach russischem Atem!“ Da sagte seine Frau: „Mein Lieber, du bist durch das Meer geschwommen und hast russischen Atem gerochen, und jetzt scheint es dir, als rieche es auch hier danach.“ Sie gab ihm zu essen und fragte ihn, was wäre, wenn ihr Bruder zu ihnen kommen würde. „Gar nichts wäre, trinken würden wir, feiern und lustig sein!“ Nun, da rief sie ihren Bruder, und sie tranken, feierten und waren lustig. In der Unterhaltung sagte der Bruder: „Ich bin jetzt allein zurückgeblieben. Wie wäre es, wenn ich auch heiraten würde?“ Zander Zandersohn überlegte und sagte: „In einem Königreich lebt eine Königstochter, aber es ist nicht leicht, sie zu bekommen. Wir waren drei Brüder, und andere als du, und haben sie auch nicht bekommen, so hat es für dich auch keinen Zweck, daran zu denken.“ 403
Der Bruder aber fragte nun, wo und in welchem Königreich sie sich befindet. Dann verabschiedete er sich von seiner Schwester und ging fort. Sie gab ihm ein Handtuch. „Mein lieber Bruder, das wirst du unterwegs gebrauchen können.“ Er setzte sich auf das gepanzerte Pferd und flog fort. Als er eine Weile geflogen war, erblickte er etwas Helles. Er fragte sein gepanzertes Pferd: „Geht die Sonne auf, oder brennt dort ein Feuer?“ „Dort brennt Licht im Palast der Königstochter“, sagte das gepanzerte Pferd. „Nun, dann fliege dorthin und laß dich dort hinab!“ Das gepanzerte Pferd ließ sich hinab. Er ging zum Palast, aber die Diener des Königs wollten ihn nicht hineinlassen. Er sagte den Dienern, daß er als Brautwerber gekommen sei. Nun, da ließen sie ihn durch. Die Königstochter hatte eine Grube, wenn jemand als Brautwerber kam, ließ sie ihn in diese Grube werfen und gab ihm nichts zu essen. Wenn sie nun einen neuen Menschen hineinwarf, zerrissen ihn jene, die sich schon darin befanden, und fraßen ihn auf. Die Königstochter wollte, daß auch dieser Brautwerber gefressen wird, deshalb befahl sie ihren Dienern, ihn in die Grube zu werfen, und sie warfen ihn hinein. Nach einiger Zeit sagte sie zu einem Diener: „Geh hin und horche, was in der Grube geschieht!“ Janko hatte ein Handtuch herausgenommen und es geschüttelt, da spendete das Handtuch zu essen und zu trinken, was man wollte, und herrli404
che Musik ertönte. Als der Diener der Königstochter nun kam und lauschte, da konnte er sich gar nicht satthören an der Musik und ging lange nicht von der Grube fort. Als er dann zur Königstochter kam, fragte sie ihn: „Warum warst du so lange dort?“ „Ja, Königstochter, wenn Ihr gegangen wäret, dann wäret Ihr sicher auch lange dortgeblieben. Man kann sich gar nicht satthören und sich nicht genug freuen, solch eine wundervolle Musik wird dort gemacht.“ Da ging die Königstochter nachsehen. Wirklich, in der Grube wurde gefeiert, getrunken, gesungen und gespielt. Da rief sie: „Was ist bei euch los, Janko?“ „Das kommt alles aus diesem Handtuch“, und er zeigte es ihr. Da fragte die Königstochter: „Ist dieses Handtuch vielleicht verkäuflich?“ „Nein“, sagte er, „es ist nicht verkäuflich, es ist ein Zauberhandtuch.“ „Aber wie kann man es bekommen?“ „Die Königstochter soll mir ihre Beine bis zu den Knien zeigen, dann gebe ich es ihr!“ Nun, da zeigte sie ihre Knie und ließ sich das Handtuch geben. Sie nahm es und dachte: Jetzt werden sie ihn fressen. Nach einer Weile schickte sie wieder den Diener zum Nachsehen. Aber Janko hatte sein zweites Handtuch geschüttelt, und man konnte nun noch mehr feiern und saufen. 405
Das erfuhr die Königstochter, sie kam selbst und fragte: „Ist Euer Handtuch verkäuflich?“ „Nein, es ist nicht verkäuflich, es ist ein Zauberhandtuch.“ „Aber wie kann man es bekommen?“ „Die Königstochter soll mir ihren Körper bis zum Gürtel zeigen! Dann gebe ich es ihr.“ Nun, da zeigte sie ihm ihren Körper bis zum Gürtel, und er gab ihr das Handtuch. Aber dann schüttelte er das dritte Handtuch, und es wurde noch schöner in der Grube. Wieder schickte die Königstochter einen Diener, um nachzuschauen, was dort in der Grube los war. Dann ging sie selbst hin und rief: „Was ist bei euch los, Janko?“ Er zeigte das Handtuch. „Das ist das letzte.“ „Wie kann man es bekommen?“ „Die Königstochter soll nackt mit mir in ein Zimmer gehen.“ Nun, sie überlegte und willigte ein. Sowie sie in das Zimmer gekommen waren, sündigten sie. Sie umarmte ihn und küßte ihn. „Nun wirst du mein Mann!“ sagte sie. Dann heirateten sie und lebten zusammen. Einmal ging die Königstochter in den Garten, gab Janko die Schlüssel und sagte: „Geh, wohin du willst, aber in dieses Zimmer – und sie zeigte es ihm – geh nicht hinein!“ Sie ging hinaus, und er überlegte: Warum soll man nicht dort hineingehen?
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Es interessierte ihn, und er ging hinein. Als er das Zimmer öffnete, sah er dort einen Drachen hängen. Er hing dort, an den Pfoten gefesselt. Der Drache bettelte: „Binde mich los! Dafür wirst du drei Leben leben, binde mich los!“ Er überlegte: Es wäre gut, drei Leben zu leben. Dann band er ihn los. Kaum war er frei, da rannte der Drachen in den Garten zur Königstochter und trug sie fort. So blieb Janko ohne alles zurück. Er beschloß, sich auf sein gepanzertes Pferd zu setzen und fortzufliegen, um seine Frau zu suchen. Als er ein Weilchen geflogen war, erblickte er etwas Helles. Er fragte das gepanzerte Pferd: „Geht die Sonne unter, oder brennt dort Feuer?“ Da sagte das gepanzerte Pferd: „Das Licht brennt im Reich des Drachen.“ „Fliege dorthin und laß dich dort hinab!“ Er ging in den Palast des Drachen, aber der war nicht zu Hause, sondern nur die Königstochter. Er stieg mit seiner Frau auf das gepanzerte Pferd, und sie flogen davon. Der Drache hatte aber ein fliegendes Pferd, das alles wußte, es sagte zum Drachen: „Eure neue Frau ist nicht mehr da!“ „Wo ist sie denn?“ „Janko hat sie mitgenommen und ist auf dem gepanzerten Pferd mit ihr davongeflogen.“ Da fragte der Drache das Pferd: „Schaffen wir es noch, das Feld zu pflügen, zu besäen und Bier zu brauen?“ 407
„Ja, das schaffen wir.“ Sie pflügten, säten, tranken sich satt an Bier und jagten dann los. Als sie Janko erreichten, nahm ihm der Drache seine Frau weg und sagte: „Nun hast du schon ein Menschenleben gelebt!“ Da flog Janko ein zweites Mal zum Drachen und stahl die Königstochter. Und wieder war es dasselbe. Der Drache sagte: „Nun hast du dein zweites Leben gelebt!“ Als der Drachen ihn beim dritten Mal einholte, sagte er: „Jetzt hast du alle Leben gelebt!“, erschlug ihn, vergrub ihn, stellte einen Pfahl auf, hängte eine Tafel daran und schrieb darauf: „Janko kam um wegen seiner Frau, der Königstochter.“ Das gepanzerte Pferd aber nahm der Drache mit. Am anderen Tage ritten der Rabe Rabensohn, der Adler Adlersohn und der Zander Zandersohn auf die Jagd. Sie kamen zu diesem Pfahl, lasen die Tafel und errieten, daß dort ihr Schwager erschlagen worden war. Da sagte Zander Zandersohn: „Hab ich’s ihm doch gesagt, daß es kein Glück bringt, dieser Königstochter nachzujagen! Nun ist er ihretwegen umgekommen.“ Sie begannen das Grab zu öffnen und gruben ihn aus. Flaschen mit Lebens- und mit Heilwasser hatten sie bei sich. Als sie ihn mit dem Heilwasser bespritzten, verheilten die Wunden, und als sie ihn mit dem Lebenswasser bespritzten, wurde er wieder lebendig. Die drei Schwager verabschiedeten sich von ihm und ritten weiter ihres Weges.
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Nun ja, das gepanzerte Pferd hatte er nicht mehr. Er ging los, aber er wußte nicht wohin. So ging er ein Weilchen und kam an einen Sumpf. Dort hatte sich der Teufel eine Weidenrute herausziehen wollen und war in einem Spalt stekkengeblieben. Janko wollte dem Teufel helfen. Er rettete ihn, und dann zogen sie die Weidenrute zu zweit heraus. „Ich weiß, wohin du willst“, sagte der Teufel. „Geh dort zu jenem Vorwerk. Dort wohnt eine Hexe. Sie wird dir ein Pferd versprechen, wenn du ihr drei Tage lang dienst. Sei einverstanden, ich werde dir schon helfen!“ Er ging zu jener Hütte, sie war mit einem eisernen Zaun umgeben, und auf jedem Eisenpfahl stak ein Menschenkopf. Auf einem war noch keiner. Da dachte er: Da soll wohl mein Kopf hinkommen. Er ging aber trotzdem in die Hütte und fragte die Alte: „Habt Ihr irgendeine Arbeit für mich?“ Sie antwortete: „Ja, wenn du mein Pferd drei Tage hütest, gebe ich dir, was du willst. Wenn du aber nicht aufpaßt, kommt dein Kopf auf den Pfahl!“ Dann gab sie ihm das Pferd. Er führte es hinaus, und da rief ihn schon der Teufel. Der Teufel machte einen Zaun aus Stacheldraht (wie im Krieg). Dort ließen sie das Pferd hinein und bewachten es. Das Pferd lief umher und weidete den ganzen Tag. Als Janko das Pferd nahm, um es wieder heimzuführen, da sagte der Teufel: „Leg dich im Pferdestall schlafen! Die Hexe wird dorthin 409
kommen und das Pferd schlagen, weil es nicht fortgelaufen ist.“ Er tat es auch und nahm nichts zu essen. (Sie gab ihm Abendbrot.) Dann legte er sich in den Pferdestall. In der Nacht kam die Alte und schlug das Pferd. Sie schlug es und fragte: „Warum bist du nicht fortgelaufen?“ Das Pferd sagte: „Wie sollte ich denn fortlaufen? Hier stach es und dort stach es.“ Am nächsten Tag brachte er das Pferd wieder auf die Weide und machte alles genauso, doch ohne den Teufel. Am dritten Tag bereitete die Hexe ihm Gebratenes und Gekochtes und tat Schlaftropfen in das Essen, damit er einschlafen sollte und das Pferd davonlaufen konnte. Janko war drei Tage hungrig gewesen und aß alles, was sie ihm gab. Und als er nun hüten wollte, da wurde er müde. Der Teufel aber sagte von der Seite: „Laß mich das machen, Mensch, ich werde aufpassen!“ Nun hütete der Teufel den ganzen Tag das Pferd. Abends sagte er zu Janko: „Paß gut auf und wähle dieses Pferd. Die Alte wird es zwar so schlagen, daß es schlimmer aussehen wird als alle anderen Pferde. Aber es ist der jüngste Bruder vom Pferd des Drachen. Jetzt ist es noch jung, und wenn es älter ist, wird es auch durch die Lüfte fliegen.“ Janko brachte das Pferd zurück, aß Abendbrot und legte sich schlafen. Am anderen Morgen stand er auf und sagte zu der Alten: „Ich will dann losgehen!“ 410
„Ich habe versprochen, dir zu geben, was du willst.“ „Ich brauche ein Pferd.“ Sie führte viele Pferde und auch jenes heraus, das sie geschlagen hatte. Er sagte: „Alte, gib mir dieses, das allerschlechteste!“ Da sagte sie: „Nimm das beste, wo kommst du mit dem schlechtesten schon hin?“ „Für mich reicht das schlechteste.“ Nun, so gab sie es ihm, und er ritt los. Als er eine Weile geritten war, sagte das Pferd. „Ich bin noch schwach. Ich weiß, wohin du reiten willst. Zu dem Drachen, um die Königstochter zu holen. Aber ich kann es noch nicht mit meinem fliegenden Bruder aufnehmen. (Das ist mein Bruder, beim Drachen.) Laß mich einen Monat lang ausruhen und geh zu irgendeinem Onkelchen und arbeite bei ihm. Wenn du fortgehst, bitte ihn, daß er dir Stricke gibt. Ich werde die Zeit über weiden.“ Er stieg vom Pferd und ging in ein Dorf. In die erste beste Hütte trat er ein: „Habt Ihr vielleicht irgendeine Arbeit für mich? Ich kann einen Monat lang arbeiten.“ „Warum nicht“, sagte so ein Onkelchen, „Arbeit ist genug da, bleib nur hier!“ Janko blieb einen Monat bei ihm und sagte dann: „Jetzt muß ich von Euch fortgehen!“ Da sagte das Onkelchen: „Ich muß dich doch bezahlen.“ „Gebt mir Stricke!“ 411
Das Onkelchen lachte. „Willst du dich aufhängen?“ scherzte er, gab ihm aber dann den Strick und Brot für den Weg und bezahlte ihn noch für die gute Arbeit. Janko ging zu der Stelle, wo das Pferd weidete. Das Pferd sagte zu ihm: „Setz dich auf mich und halte dich schön fest!“ Wie das Pferd losjagte, als ob der Wind pfiff! Dieses Pferd kam schneller zum Palast des Drachen als das gepanzerte Pferd. Janko stieg ab und ging in den Palast. Der Drache war gerade nicht da, nur die Königstochter. Er nahm sie, setzte sich mit ihr auf das Pferd, und sie flogen fort. Das Pferd des Drachen sagte zu dem Drachen: „Unsere Herrin, die Königstochter, ist nicht mehr da!“ Der Drache fragte: „Wo ist sie denn?“ „Janko hat sie wieder geholt.“ „Ich habe ihn doch erschlagen.“ „Seine Schwäger haben ihn ausgegraben und wieder zum Leben erweckt, und er ist davongeritten.“ „Können wir noch pflügen, säen und Bier brauen?“ fragte der Drache. Das Pferd sagte: „Daran ist gar nicht zu denken, wir können nicht einmal mehr Tee trinken!“ „Nun, dann wollen wir losjagen!“ Sie jagten und jagten und waren schon ganz nahe herangekommen, da wandte sich das Pferd, auf dem Janko ritt, um und sagte zum Pferd des Drachen: „Lieber Bruder, ich trage hier diesen russischen Menschen, du aber trägst einen Teufel
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auf dir. Stolpere mit dem linken Fuß und wirf den Drachen ab.“ Das Pferd des Drachen stolperte und warf den Drachen ab. Er konnte nicht mehr aufstehen. Janko sprang vom Pferd und erschlug diesen Teufel. Dann nahm er dessen Pferd, saß auf und überließ der Königstochter sein Pferd. So kamen sie schnell zu ihrem Palast. Vielleicht leben sie noch heute, das weiß ich nicht.
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28 Die Teufelsfrau In einem Dorf lebte einmal ein Waisenknabe, der bei der Großmutter großgezogen wurde. Er wuchs heran, und als er achtzehn Jahre alt war, wurde im Dorf eine Kirche gebaut. Nach Sonnenuntergang konnte man jedoch nicht mehr hineingehen, weil die Teufel ihr Unwesen darin trieben und die Menschen töteten. Dem Popen gefiel das gar nicht, denn die Kirche war ja sein Brot. Da sagte er: „Wer drei Tage in dieser Kirche übernachtet, der bekommt von mir fünfhundert Rubel!“ Der Waisenknabe war bereit, für fünfhundert Rubel in der Kirche zu übernachten. Er kam nach Hause und sagte dies seiner Großmutter. Da sagte sie: „Du hast schlecht daran getan, dich bereitzuerklären. Aber ich gebe dir einen Rat. Nimm einen Sack Leinsamen mit, wenn du dorthin übernachten gehst! Leg um dich Kohlen herum und schütte die Samen in die Kirche und sage niemandem etwas! Wenn jemand sagt: ‚Laß mich hinein!’ dann sage: ‚Nein, ich lasse dich nicht herein!’ Aber wenn du die Worte hörst: ‚Dann komme ich von selbst hinein!’ dann sage: ‚Komm doch!’“ Er setzte sich in die Kirche und begann das Evangelium von rechts nach links zu lesen. (So hatte es ihn die Großmutter geheißen.) Es war 414
kaum Abend geworden, da erzitterte das ganze Gebäude. Er hörte eine Stimme: „Laß mich hinein!“ „Nein, ich lasse dich nicht herein!“ Das ging dreimal so. „Laß mich hinein!“ „Nein, ich lasse dich nicht herein!“ Dann sagte die Stimme: „Dann komme ich von selbst hinein!“ „Komm doch!“ Da kam eine schwarze Kuh herein. Aus ihren Nüstern kam Feuer, sie leckte die Samen auf und lief durch die ganze Kirche. Nun, sie leckte und leckte, leckte aber nicht alles auf. Da krähte der Hahn, und die Kuh verschwand. Da nahm der Waisenknabe Machorka und begann in der Kirche zu rauchen. Wer sollte ihn schon nicht rauchen lassen? Die Heiligen schwiegen ja. Er rauchte, denn er hatte Angst. Der Küster kam und sah, daß er noch lebte. Er ließ ihn heraus. In der zweiten Nacht bereitete ihm die Großmutter Leinsamen zu und sagte, daß er sie in der ganzen Kirche verstreuen solle, auch hinter die Altartüren und die Kragen der Heiligen, wo es gerade hinfiele. Um Mitternacht kam wieder ein Sturm auf. Die Fenster klirrten. Das Gebäude erzitterte. Wieder war eine Stimme zu hören: „Laß mich hinein!“ „Ich lasse dich nicht herein!“ „Laß mich hinein!“ „Ich lasse dich nicht herein!“ „Laß mich hinein!“ 415
„Ich lasse dich nicht herein!“ „Dann komme ich von selbst!“ „Komm doch!“ Da kam eine schwarze Kuh mit weißen Flecken herein. Aus ihrem Mund schlugen Flammen. Sie sammelte die Samen, sammelte sie aber nicht alle auf, denn als der Hahn krähte, mußte sie verschwinden. In der dritten Nacht machte ihm die Großmutter einen Sack Mohn zurecht. Den streute der Junge wieder in der Kirche aus. In der zwölften Stunde, um Mitternacht, begann wieder der Sturm. Die Türen zitterten, und die Fenster klirrten. Furchtbar! Da schrie eine Stimme: „Mach auf!“ „Nein!“ „Mach auf!“ „Nein, ich mache nicht auf!“ „Mach auf!“ „Nein, ich lasse dich nicht herein!“ „Dann komme ich von selbst hinein!“ „Komm doch!“ Da kam eine weiße Kuh. Aus ihren Nüstern schlug eine Flamme. Sie leckte alle Samen auf und ging um den jungen Burschen herum. Sie kam mit den Hörnern auf ihn zu. Da packte er sie mit der linken Hand an einem Hörn und schwang sich schnell auf den Rücken der Kuh. Er hörte eine Stimme: „Schau nach rechts.“ Er schaute hin und sah, daß er ein nacktes Mädchen an den Haaren hielt (anstelle der Hörner) und daß er nicht mehr auf der Kuh, sondern 416
auf der Erde saß. Als der Junge sah, daß das Mädchen nackt war, wickelte er es in eine Rolle ein. Dann sagte er (es war schon Morgen): „Komm mit mir nach Hause und werde meine Frau. Du mußt dich doch anziehen!“ Sie antwortete: „Das soll geschehen.“ Sie hatte ein Taschentuch bei sich, und als sie damit winkte, war sie gleich angezogen, und auch er hatte einen Anzug an. Sie waren hübsch angezogen, wie Braut und Bräutigam erster Klasse. Sie winkte noch einmal mit dem Tüchlein, da war alles für die Hochzeit bereit. Ein ganzer Zug von Kutschen mit Pferden der gleichen Rasse stand vor der Kirche, und aus den Kutschen stiegen die Brautführer. Alle einundvierzig mit Schärpe! Als der Küster die Kirche öffnete, verlangten die beiden nach dem Popen, damit sie getraut würden. Der Pope kam erstaunt angelaufen und traute sie. Sofort nach der Trauung setzten sie sich in die Kutsche und waren augenblicklich zu Hause. Zu Hause aber hatten sich alle aus dem Staub gemacht. Nichts war da, weder zu trinken noch zu essen. Da sagte sie gleich: „Schicke die Großmutter in die Kammer, dort gibt es zu trinken und zu essen.“ Oho, die Kammer war voll von den verschiedensten Getränken und Speisen! Als die Hochzeit vorbei war, mußten die Jungvermählten wirtschaften, aber sie hatten ja nichts (noch nicht einmal eine Kuh), nur ein kleines Stückchen Feld. Sie kauften eine Kuh für die fünf417
hundert Rubel, die ihnen der Pope gegeben hatte. Sie säten Getreide, und es wuchs bei ihnen besser als bei den wohlhabendsten Bauern. Die junge Frau arbeitete für vier, und der junge Mann schaffte es kaum, so schnell das Getreide zu binden. Als sie einmal auf dem Feld arbeiteten, krächzte oben eine Krähe: „Kräh, kräh.“ Da fragte er: „Was zum Teufel fliegt dort oben und weicht uns nicht von der Seite? Kommt vielleicht Regen?“ Seine Frau antwortete: „Das ist keine Krähe, sondern meine Schwester.“ „Was will sie denn?“ „Sie lädt uns zur Hochzeit ein. Ich bin die jüngste Schwester, und sie ist die mittlere und wird jetzt heiraten.“ „Wo wohnt sie denn? Wir haben doch kein Pferd?“ „Sie wohnt hinter dreimal neun Ländern.“ „Und wie kommen wir dorthin?“ „Wir reiten mit dem Pferd dorthin.“ Da kam der Abend. Als sie mit dem Tuch winkte, bekamen sie Kleidung, in der sie zur Hochzeit fahren konnten. Eine ganze Ausstattung! Als sie sich angezogen hatte, ging sie auf den Hof und winkte wieder mit dem Tuch, da stand auf dem Hof eine Kutsche mit so einem weißen Pferd, wie
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das meine dort1, aber das war ein richtiger Traberhengst. Die Frau sagte: „Zieh dich schnell an, wir setzen uns in die Kutsche! Wenn wir zur Hochzeit kommen, wird dir meine älteste Schwester entgegenkommen, die, die sich in eine schwarze Kuh verwandelt hatte. Sie wird sich bei dir rächen wollen. Sie wird dir eine gebackene Natter statt Wurst und Gift statt Wein bringen. Nimm du nichts an, erst wenn du am Tisch sitzt, kannst du dich sattessen!“ (Die älteste Schwester war nicht hübsch, die jüngste war die hübscheste.) Als sie so dahinrasten, riß ihm der Wind die Mütze vom Kopf, und kaum hatte er gesagt: „Der Wind hat mir die Mütze vom Kopf gerissen“, da waren sie schon fünfzehntausend Kilometer von dieser Stelle entfernt. So schnell zog der weiße Hengst. Als sie ankamen, kam ihnen die älteste Schwester auf der Schwelle mit einem Krug Wein und etwas zu essen entgegen. Er nahm nichts. Sie setzten sich an den Tisch und tranken soviel sie wollten. Auf der Hochzeit waren nur Teufel anwesend. Nur der Bauer war kein Teufel. Als die Teufel vom Tisch aufstanden, schmierten sie sich Pomade aus einem Topf in der Ecke auf die Stirn. Dann setzten sie sich auf einen Feuerhaken und flogen durch den Kamin davon. 1
Das Märchen wurde auf der Weide aufgezeichnet. Der Märchenerzähler deutete auf sein weißes Pferd. (L. B.)
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Der Bauer schaute betrunken auf seine Verwandten und sagte: „Soll ich nun auch so fliegen?“ Er schmierte sich die Stirn ein, setzte sich auf einen Feuerhaken und flog durch den Kamin davon. Er flog ins Moor, auf eine trockene Espe, ganz auf die Spitze. Die Espe schwankte hin und her, brach ab und fiel um. Da mußte sogar ein Betrunkener nüchtern werden. Seine Frau aber suchte wo ihr Mann war. Als sie ihn unter der Espe erblickte, winkte sie mit dem Tuch, und er war wieder auf einer trockenen Stelle. Sie nahm ein anderes Tuch heraus, verband ihm die Augen, und er war wieder am Tisch auf der Hochzeit bei denselben Getränken und Speisen. Sie sagte zu ihm: „Wenn wir nach Hause fahren, wird mein Vater dich fragen, was er dir als Mitgift geben soll. Dann sage: ‚Gib mir Kohle für die Schmiede und Felle, um einen Sack zu nähen!’ Die Kohlen sind Gold, und die Felle sind Banknoten. Aber was er dir als Gold gibt, wird zu Pferdeeiter, und die Banknoten werden zu Listen der sündigen Menschen, die gestorben sind.“ So fuhren sie wieder mit dem weißen Traberhengst nach Hause. Die Frau sagte zu ihrem Mann, daß er die Liste unterwegs auf den Gräbern wegwerfen solle. Als er das getan hatte, kamen die Menschen aus den Gräbern (die sündigen Seelen) und erwiesen ihm die Ehre. Auf der Liste standen die Sünder für das Fegefeuer, jetzt waren die armen Seelen von der Teufelsherrschaft befreit. 420
Der Mann kam mit seiner Frau zu seiner Hütte. Sie schütteten die Kohlen in einen Sack, und die Kohlen wurden zu Gold und das Fell zu Papiergeld. Und so lebten sie zusammen, einträchtig und in Wohlstand.
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29 Gib mir das, was dir zu Hause unbekannt ist Ein reicher Kaufmann ritt einmal vom Jahrmarkt nach Hause. Sein Weg führte durch einen dichten Wald, und nirgends war eine lebende Seele zu erblicken. Unterwegs überraschte ihn die Nacht, es war so dunkel, daß man nicht die Hand vor den Augen sehen konnte. Da mußte er haltmachen und übernachten. Er zündete ein Feuer an, band sein Pferd los, ließ es weiden, setzte sich ans Feuer, briet Speck am Spieß und aß Abendbrot. Da er unterwegs müde geworden war, schlief er schnell ein. Als er am anderen Morgen aufwachte, traute er seinen Augen kaum. Rings um ihn war Wasser, die Wellen schlugen nur so ans Ufer und überfluteten ihn beinahe. Da erschrak der Kaufmann. Nun ist mein Ende gekommen, dachte er bei sich, denn hier komme ich nicht heraus. Das Wasser kam immer näher und näher, und die Wellen wurden immer höher und höher. Da sah er einen Mann in einem Boot kommen. Dank sei Gott, er hat mir Rettung geschickt! „Lieber Mann, kommt schnell hergefahren, sonst ertrinke ich!“ schrie der Kaufmann, so laut er konnte. Das Boot kam immer näher, bald war es dicht am Ufer, aber es
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legte nicht an. „Rette mich, Bruder!“ bat ihn der Kaufmann, „nimm, was du willst, nur rette mich!“ „Gut“, sagte der Mann, „ich rette dich, aber nicht umsonst! Gib mir das, was dir zu Hause unbekannt ist.“ Da überlegte und überlegte der Kaufmann, was gemeint war, was ihm im Hause unbekannt sein sollte. Ihm schien es, daß es so etwas nicht gäbe. Aber mochte es sein, wie es wollte, jetzt war keine Zeit zum Feilschen, und er mußte einverstanden sein. „Gut“, sagte er, „nur rette mich! Nimm, was mir zu Hause unbekannt ist!“ „Das sagst du so einfach dahin. Das ist nichts Gewöhnliches, nachher wirst du es bereuen. Nimm ein Stück Haut, schneide dich in den kleinen Finger und schreib das auf. Das ist dauerhafter!“ Der Kaufmann tat das auch und warf das Stück Haut in den Kahn. Der Mann hob es auf und brach in ein furchtbares Gelächter aus. Auf einmal war das Wasser nicht mehr da. Da erriet unser Kaufmann, daß das niemand anderes als der Teufel gewesen war. Da war nichts zu machen. Er fing sein Pferd ein, sattelte es und ritt nach Hause. Unterwegs wurde er so traurig, daß er fast sterben wollte. Sein Herz ließ ihn ein Unglück ahnen. Er trieb das Pferd an, so sehr er konnte, denn er wollte schnell nach Hause. Als er angekommen war, eilte er schnell in die Hütte. Die Hütte war voller Gäste, seine Frau aber war nicht zu sehen.
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„Seid gegrüßt, alle zu Hause!“ sagte er. „Was gibt es Neues?“ „Eine gute Neuigkeit… Deine Frau hat einen Sohn geboren…“, sagte jemand. Als der Kaufmann dies hörte, wurde ihm schwarz vor Augen. Ihm wurde ganz schwindlig, und er erstarrte vor Schreck. Er war immer kinderlos gewesen. Nun hatte ihm Gott einen Sohn geschickt, er aber hatte ihn dem Teufel verkauft. Die Gäste dachten jedoch, daß er vor Freude so erstarrt war. Der Junge, der ihm geboren wurde, war sehr hübsch. Er wuchs wie Hefeteig. Sie nannten ihn Juri. Sie schickten ihn in die Schule, und er überflügelte alle im Lernen. Er wußte schon von Geburt an alles. Die Menschen freuten sich, wenn sie ihn ansahen, und beneideten seine Eltern. Der Vater aber wurde immer trauriger und trauriger. Der Sohn erriet bereits, daß hier etwas nicht in Ordnung war. Schließlich fragte er einmal den Vater: „Sag mal, Väterchen, warum bist du unzufrieden mit mir? Habe ich etwas getan, daß du mich nicht gern hast?“ Der Vater schwieg, und es konnte einem leid tun, ihn anzusehen. „Ich bin wohl nicht dein Sohn?“ fragte er. „Nein, mein Söhnchen… Ich habe dich dem Teufel verkauft, als du noch nicht geboren warst.“ Und er erzählte ihm alles, wie es gewesen war. „Wenn das so ist, Väterchen, dann sei beruhigt!“ sagte der Sohn, „das werden wir bald haben. Ich wette um meinen Kopf, daß ich diesen Handel zerschlage.“ Er schickte sich zur Reise an. Er machte sich einen Bogen und schnitzte sich 424
Pfeile. Dann nahm er ein Hemd zum Wechseln, einen Kanten Brot, ein Stück Speck und etwas Geld und ging nachts leise fort, um den Eltern den Abschied nicht so schwer zu machen. Als er ein Weilchen gegangen war, kam er zu einem Fluß. Die Brücke darüber war so schön, daß er etwas ausruhen wollte. Er legte sich hin, ruhte sich aus und aß Brot mit Speck. Plötzlich kamen zwölf Enten geflogen. Er wollte schon nach dem Bogen greifen, um eine abzuschießen. Da ließen sie sich auf das Wasser herab, schwammen ans Ufer und wurden zu so schönen Mädchen, daß es eine Freude war, sie anzuschauen. Sie begannen zu baden, Juri aber kroch langsam hinzu und nahm der einen die Kleider weg, die am Ufer lagen. Sie badeten, kamen aus dem Wasser heraus und zogen sich an. Nur einer von ihnen fehlten die Kleider. Da lief die Arme hin und her und fand sie nicht. Als die anderen sich angezogen hatten, wurden sie wieder zu Enten, erhoben sich in die Lüfte und flogen davon. Sie aber saß da und weinte. Schließlich rief sie laut: „Du, der meine Kleider weggenommen hat, antworte! Wenn du älter bist als ich, sollst du mein Onkel werden, wenn du jünger bist als ich, sollst du mein Bruder werden, wenn du so alt bist wie ich, mein Liebster sein.“ Da warf Juri ihr die Kleider hin. Als sie sich angezogen hatte, ging er zu ihr. Sie verglichen ihr Alter und stellten fest, daß es gleich war. Sie fragte ihn, wer er sei und woher er komme, wohin er wolle und warum. Er erzählte ihr alles ausführlich. Sie hörte ihn bis zu Ende an und sagte: „Du gehst 425
zu niemand anderem als zu meinem Vater. Wenn das so ist, bin ich deine Dienerin. Ohne mich kommst du dort um. Du wärest nicht der einzige, der dort umgekommen ist. Sei beruhigt, wir werden uns dort sehen. Jetzt aber muß ich meine Schwestern einholen.“ Sie verwandelte sich in eine Ente und flog davon. In die Richtung, in die sie geflogen war, ging auch Juri. Er kam zu einem Gehöft. Es stand auf einem Berg und war von allen Seiten befestigt. Er klopfte an das Tor. „Ich möchte zum Besitzer“, sagte er. Der Besitzer kam herrlich gekleidet heraus, das Gold glitzerte nur so an ihm. „Was willst du?“ fragte er Juri. „Die Sache ist so und so“, erzählte Juri, „ich suche den Herrn, an den mich mein Vater verkauft hat, als ich noch nicht geboren war.“ „Ich bin dein Herr“, sagte der Teufel, „und wollte schon Boten nach dir ausschicken, denn deine Kinderjahre sind jetzt vorbei. Nun bist du von selbst zur Fronarbeit gekommen. So muß es auch sein. Dafür lobe ich dich.“ „Ja, lieber Herr, aber hast du denn eine Quittung von meinem Vater?“ „Auch die habe ich. Du bist mein mit Haut und Haaren. Wenn du mir treu dienst, gebe ich dir eine Quittung und lasse dich frei. Dann kannst du gehen, wohin du willst. Aber wenn du den Dienst vernachlässigst, ziehe ich dir bei lebendigem Leibe das Fell über die Ohren. Hier hast du eine Arbeit. Pflüge in der Nacht das Feld, säe Weizen, ernte ihn, drisch ihn, mahle ihn und backe mir für morgen früh Kuchen. Machst du es, bist du frei. Die 426
Arbeit ist leicht.“ Er sagte es, drehte sich um und ging in sein Zimmer. Na, da hat er mir ja eine Aufgabe gestellt, dachte Juri. Ich war in einer guten Schule, aber wie man das macht, weiß ich nicht. Nun ist es um mich geschehen. Er begann zu weinen und ging im Hof hin und her. Am Ende des Hofes sah er eine Hütte stehen. Aus dem Fenster rief ihn eine bekannte Stimme: „Juri, Juri! Hast du mich vergessen? Ich habe dich doch gern!“ Er schaute hin und erblickte das Mädchen, dem er die Kleider weggenommen hatte. Sie stand da und rief ihn. Er trat in die Hütte und wunderte sich, daß diese so schön eingerichtet war. Er begrüßte das Mädchen und erzählte ihr, was für eine Arbeit ihm aufgetragen worden war. „Fürchte dich nicht, schlaf ruhig! Es wird alles erledigt. Ich werde dir helfen. Ohne mich würdest du deinen Kopf nicht auf den Schultern behalten. Hier sind schon viele ums Leben gekommen. Leg dich hin und schlafe!“ Er mußte dem Mädchen gehorchen und legte sich schlafen. Er schlief fest, denn er war unterwegs sehr müde geworden. Das Mädchen aber ging um Mitternacht auf den Hof hinaus, winkte mit der Rute dreimal, und es erschienen dreißig Recken, einer nach dem anderen. Da standen sie nun und warteten auf ihren Befehl. Das Mädchen sagte etwas, und die Arbeit begann. Der eine pflügte, der zweite säte, ein anderer erntete, drosch, mahlte, buk… und bald war der Kuchen fertig.
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Als Juri am Morgen aufwachte, war sein erster Gedanke, ob der Kuchen fertig wäre. Da sah er ihn auf dem Tisch liegen, und er war so schön rot und locker! Das Mädchen aber saß daneben. „Fürchte dich nicht“, sagte sie, „er ist fertig, du brauchst ihn bloß auf den Tisch zu bringen.“ Sie zeigte ihm die Stelle, wo der Weizen gewachsen war, wo das Stroh hingebracht worden war und wo die Spreu lag, damit er Bescheid wußte, wenn ihr Vater nicht glaubte, daß er das geschafft hätte. Juri bedankte sich bei ihr und brachte den Kuchen auf den Tisch. Der Herr wachte auf, trat aus seinem Zimmer – und sah Juri mit dem Kuchen stehen. „Er ist fertig, lieber Herr“, sagte Juri, „wie es der Herr befohlen hat, so ist es auch geschehen.“ Der Teufel schaute den Kuchen an, beschnupperte ihn, kostete ihn, und es war alles so, wie er verlangt hatte. „Na, du bist ja ein Prachtkerl! Wie ich sehe, bist du nicht einer der schlechtesten. Man sieht, daß du in der Schule warst. Ich habe schon gedacht, daß du es nicht schaffst. Wenn du so ein Meister bist, dann gebe ich dir eine Tochter zur Frau. Ich habe aber ihrer zwölf, alle sind noch ledig. Wähl dir irgendeine aus. Die dir gefällt, ist deine. Nur eines ist schlecht, ich habe keinen Platz zum Wohnen, habe keine Zimmer mehr. Aber ich gebe dir einen Rat. Du bist ein gelehrter Mann. Baue also in der Nacht ein Haus aus Stein. Das soll so viele Zimmer haben, wie es Tage im Jahr gibt. Die Decke soll so sein wie der Himmel, auf ihr sollen 428
die Sonne, der Mond und die Sterne entlangwandern. Am Haus soll ein Fluß vorbeifließen. Über den Fluß soll eine Brücke gebaut werden, mit goldenen und silbernen Bohlen. Und über die Brücke soll ein Regenbogen gespannt sein, der mit seinen Enden ins Wasser reicht. Mit einem Wort, es soll so sein, daß man sich nicht zu schämen braucht, es den Leuten zu zeigen. Wenn du ein solches Haus baust, wirst du mein Schwiegersohn. Baust du es nicht, verlierst du deinen Kopf. Bei mir ist das so. Wenn ich freundlich bin, bin ich freundlich; wenn ich böse bin, bin ich böse. Jetzt aber geh!“ Unser Juri wurde ganz traurig, als er diesen Befehl gehört hatte. Platzen sollst du, du Teufel, dachte er bei sich. Da hat er mir wirklich eine ganz schwere Aufgabe aufgegeben. Was soll ich tun? Da muß ich zu dem Mädchen gehen, soll sie mich aus der Not retten! Und er ging zu ihr. Er kam hin und erzählte, welche Arbeit ihr Vater ihm aufgetragen hatte. „Sei nicht traurig, das wird erledigt! Es wird rechtzeitig fertig“, sagte sie. „Jetzt aber geh über den Hof, als wenn du die Stelle aussuchst, wo du bauen wirst.“ So geschah es auch. Er ging umher und hielt Ausschau, und am Abend ging er heimlich in die Hütte des Mädchens. Bis Mitternacht war es noch weit, und so unterhielten sie sich. „Warum wohnst du allein in dieser Hütte, und warum wohnen deine Schwestern mit dem Vater im Steinhaus?“ fragte Juri das Mädchen.
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„Sie haben mich hinausgejagt, weil ich keine Mutter habe, sondern nur eine Stiefmutter. Die lebt mit ihren Töchtern herrlich in den Zimmern. Mich aber haben sie in diesen Stall gesperrt.“ Sie unterhielten sich noch lange und legten sich dann schlafen. Um Mitternacht stand das Mädchen auf, ging auf den Hof hinaus, winkte dreimal mit der Rute, und es erschienen dreißig Recken. Sie standen da und warteten auf ihren Befehl. Da sagte sie zu ihnen: „Baut in der Nacht ein Haus aus Stein! In ihm sollen so viele Zimmer sein, wie es Tage im Jahr gibt. Die Decke soll so sein wie der Himmel. An der Decke sollen die Sonne, der Mond und die Sterne entlangwandern. Am Haus soll ein Fluß vorbeifließen. Über den Fluß soll eine Brücke gehen, mit goldenen und silbernen Bohlen. Und über die Brücke soll ein Regenbogen gespannt sein, der mit seinen Enden bis ins Wasser reicht.“ Kaum hatte es das Mädchen gesagt, da begann die Arbeit auch schon. Der eine sägte, der zweite schnitt, ein anderer hobelte, und bis zum Morgen war das Haus fertig. Wie gesagt, so getan. Juri trat auf den Hof hinaus, sah es und freute sich. Das Haus stand da, darüber erstrahlte am Himmel der Regenbogen, und die Brücke glänzte wie Feuer. Er trat in das Haus, schaute nach oben und wäre fast erblindet, so glänzte die Sonne, und so erstrahlten die Sterne. Juri stellte sich auf die Brücke und wartete auf seinen Herrn. Der kam auch bald. Er schaute sich alles an und freute sich. „Du bist ein Prachtkerl, 430
Juri“, sagte er, „bist meiner Tochter wert, wenn das deine Arbeit ist! Dagegen kann man nichts sagen, du hast dich angestrengt. Nun ja, es ist gut. Aber bis wir die Hochzeit feiern, habe ich noch eine Arbeit für dich. Ich habe ein gutes Pferd, das nicht zu bezahlen ist, das aber noch nicht zugeritten ist. Reite du es bis zur Hochzeit zu!“ Da war nichts zu machen. „Gut, Herr“, sagte Juri, „morgen reite ich es zu.“ Da kam die Stiefmutter mit ihren Töchtern, um sich das Gebäude anzusehen. Sie schauten es an und wunderten sich sehr. Als sie aber hörten, daß der Vater versprochen hatte, dem Meister eine Tochter zur Frau zu geben, da wollte jede von ihnen ihn heiraten. Besonders die Frau des Teufels wollte, daß eine ihrer Töchter diesen Mann erhielt. Aber als es dunkel wurde, da zog es unseren Juri zu seinem Mädchen zum Übernachten. Als er hinkam, erzählte er ihr, welche Arbeit ihr Vater ihm aufgetragen hatte. „Aber ich fürchte mich nicht“, sagte er, „diese Arbeit ist nach meinem Geschmack. Ich reite jedes Pferd zu.“ „Nein“, sagte das Mädchen, „prahle nicht vorher. Diese Arbeit ist die schwerste. Du denkst, das sei ein richtiges Pferd? Nein, das wird mein Vater, selbst sein. Er glaubt nicht, daß du das Haus gebaut hast. Aber fürchte dich nicht, ich gebe dir auch hier einen Rat. Schlafe ruhig!“ Juri gehorchte, legte sich schlafen und begann laut zu schnarchen. Am Morgen weckte ihn das Mädchen. „Geh das Pferd einreiten!“ sagte sie. „Hier hast du mei431
ne Wunderrute: Wenn das Pferd störrisch wird, dann gib ihm mit dieser Rute eins zwischen die Ohren, und es wird ruhig!“ Juri nahm die Rute und ging. Er ging in den Pferdestall. Dort stand ein Pferd mit goldenen Haaren und silbernen Haaren, die Augen blutig unterlaufen, aus den Nüstern züngelte eine Flamme, aus den Ohren trat der Rauch, und er konnte nicht herantreten. Juri schlug mit der Rute um sich, und die Hitze traf ihn nicht. Er trat an das Pferd heran, das sich auf die Hinterbeine stellte, bis zur Decke erhob und ihn nicht aufsitzen ließ. Und wenn es wieherte, erzitterte der ganze Pferdestall. Da gab ihm Juri eins zwischen die Ohren, und es fiel auf die Knie. Juri saß schnell auf. Das Pferd sprang wieder auf und hätte ihn bald abgeworfen. Juri aber ließ sich nicht erschrecken und gab ihm eins zwischen die Ohren. Das Pferd tanzte unter ihm, er aber schlug es mit der Rute. Und das Pferd trug ihn dahin, flog, daß die Erde zu schwanken schien, und wollte Juri immer abwerfen, um ihn mit den Hufen zu zerstampfen. Er aber schlug es nur immerzu mit der Rute. Das Pferd flog dahin, flog über Berge, über Sümpfe, über Wälder, und schließlich wurde es müde und kehrte um. Bald lief es im Schritt, und so kamen sie zum Pferdestall. Juri stellte es dort ab und ging über den Hof. Aber wer ihm auch entgegenkam, niemand wollte mit ihm sprechen. So ging er zu dem Mädchen.
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„Nun, ich sehe, du hast meinem Vater ein gutes Bad bereitet, denn du bist gesund zurückgekommen. Leg dich schlafen, denn du bist wahrscheinlich müde!“ Und sie legten sich schlafen. Am Morgen kam ein Bote vom Vater und rief das Mädchen ins Zimmer. „Nun“, sagte sie zu Juri, „bald wird man dich rufen, dir eine Frau auszusuchen. Wir sehen uns alle ähnlich. Wenn du mich wählen willst, so schau mir auf die Stirn. Auf meiner Stirn wird eine Fliege sitzen.“ Wie sie gesagt hatte, so geschah es auch. Bald riefen sie Juri zum Herrn. Der Herr kam ihm mit verbundener Stirn entgegen. „Nun, mein Schwiegersohn, wähle dir eine Frau aus! Welche dir gefällt, ist deine. Wie ich gesagt habe, so soll es auch geschehen.“ Sie gingen in das Zimmer. Juri sah dort die Mädchen stehen, die alle gleich aussahen. Er schaute und schaute, da erblickte er bei dem einen auf der Stirn eine Fliege. Er griff es am Arm und sagte: „Das soll meine Frau sein!“ „Wenn du diese willst, gut“, sagte der Teufel, „meine Kinder sind alle gleich. Laßt es euch gutgehen und bleibt gesund!“ Die Stiefmutter aber wurde ganz grün vor Wut, weil er nicht eine von ihren Töchtern gewählt hatte. Na, ich werde mich schon an ihnen rächen! dachte sie. Das junge Paar ging in die Hütte übernachten, bis die Hochzeit stattfinden sollte. Als sie dort waren, sagte das Mädchen: „Wir werden jetzt schla433
fen, denn um Mitternacht müssen wir uns auf den Weg machen. Wir müssen von hier fortlaufen, sonst bringt uns meine Stiefmutter um.“ Sie legten sich hin und ruhten sich ein wenig aus. Um Mitternacht wachten sie auf und machten sich auf den Weg. Das Mädchen spuckte in jede Ecke ihrer Hütte und hieß Juri das gleiche tun. Dann brachen sie auf. Sie gingen ein ziemliches Stück. Schon war der liebe Tag gekommen und alles aufgestanden. Man wartete auf das junge Paar, aber es stand nicht auf. Da schickte man jemand zum Wecken. „Steht auf!“ sagten die Boten, „der Tag ist schon gekommen!“ „Wir stehen gleich auf!“ antwortete die Spucke. Die Sonne stand schon fast im Zenit, da kamen die Diener wieder. „Steht auf“, riefen sie, „denn es ist bald Mittag!“ „Wir ziehen uns an“, antwortete die Spucke. Als es Zeit zum Mittagessen war, kamen die Diener wieder und riefen sie. „Wir waschen uns“, antwortete die Spucke. Als sie kamen, um sie zum Mittagessen zu rufen, da war die Spucke ausgetrocknet, und niemand antwortete. Sie brachen die Türen auf, und niemand war da. Als sie das dem Teufel berichteten, ärgerte er sich so, geriet er so außer sich, daß er mit dem Kopf gegen die Wand rennen wollte. Die Stiefmutter aber schrie: „Schickt Boten hinterher, die sie lebend oder tot zurückbringen sollen!“ Da eilten die Boten hinterher und flogen dahin, so schnell die Pferde konnten. Juri und das Mädchen 434
aber flohen auch, so schnell sie konnten. Das Mädchen legte das Ohr an die Erde und hörte die Boten kommen. „Ei“, sagte sie, „die Boten eilen uns nach. Sie werden uns bald eingeholt haben. Laß uns schnell fliehen! Wenn sie uns einholen, dann verwandle ich mich in ein Schäfchen, und dich verwandele ich in einen Hirten. Sie werden dich fragen, ob du nicht gesehen hast, daß ein Mann mit einem Mädchen vorbeigekommen ist. Sag, daß du sie nicht gesehen hast!“ Bald kamen die Boten auch. Das Mädchen winkte mit der Rute und wurde zu einem Schäfchen und Juri zu einem Hirten. „Hirte, hast du nicht einen Mann und ein Mädchen vorbeikommen sehen?“ schrien die Boten. „Ich hüte hier von klein auf meine Schafe, habe aber niemanden gesehen“, sagte darauf der Hirte. Die Boten kehrten um, denn sie dachten vom Wege abgekommen zu sein und die Spur verloren zu haben. Sie kehrten zurück und sagten dem Herrn, wie es war. „Wir haben niemanden gesehen“, sagten sie. „Wir müssen die Spur verloren haben, vielleicht sind wir nicht den richtigen Weg geritten, denn wir haben einen Hirten und ein Schäfchen getroffen. Der Hirte hat uns gesagt, daß er von klein auf dort Schafe hütet, aber niemanden gesehen hat.“ „Das waren sie doch!“ schrie die Herrin. „Eilt schnell hinterher und zerhackt sie mit Beilen!“ Die Boten machten sich auf die Jagd, aber inzwischen waren Juri und das Mädchen schon weit davongeeilt. Plötzlich hörten sie die Erde beben. 435
Das Mädchen legte das Ohr an die Erde und sagte: „Sie jagen uns nach!“ Sie flohen weiter, bis die Boten zu sehen waren. Das Mädchen winkte mit der Rute, da wurde sie zu einem Garten und Juri zu einem Gärtner. Die Boten kamen heran und fragten: „Hast du nicht zwei Menschen vorbeikommen sehen, einen Mann und eine Frau?“ „Nein, ich habe niemanden gesehen, ich pflege meinen Garten hier schon leit langem“, antwortete der Gärtner den Boten. „Hat hier nicht ein Hirte Schafe gehütet?“ „Auch einen Hirten habe ich nicht gesehen.“ Da kehrten die Boten nach Hause zurück, denn sie dachten, daß sie vom Wege abgekommen seien. Juri aber eilte mit dem Mädchen weiter. Als die Boten zu Hause ankamen, sagten sie den Herrschaften, wie es gewesen war. „Wir haben niemanden gesehen. Sie sind wie Wasser zerronnen. Wir haben einen Gärtner im Garten getroffen, der uns gesagt hat, daß niemand den Weg entlanggekommen sei, auch kein Hirt, der ein Schäfchen getrieben hat. Wir sind zurückgekommen, denn sollen wir den Wind auf dem Felde fangen?“ „Dummköpfe seid ihr!“ schrien sie der Herr und die Herrin an. „Ihr hättet den Garten und den Gärtner zerhacken sollen, denn das waren unsere Flüchtlinge. Nein, auf euch ist kein Verlaß. Wir müssen selbst hinterher jagen!“ Und so machten sich der Herr und die Herrin mit den Boten auf die Jagd. Sie flogen dahin, daß 436
es rauchte, daß die Erde zitterte und es rumorte. Juri und das Mädchen waren aber schon fast zu Hause. Da hörten sie den Lärm und liefen noch schneller, denn sie ahnten, daß der Vater und die Stiefmutter ihnen nacheilten. Der Lärm wurde immer lauter und lauter. „Nein“, sagte das Mädchen, „wir kommen nicht mehr bis zu deinem Hause. Rette du dich wenigstens…“ Sie verwandelte sich in einen Fluß und Juri in einen Fischer. Bald erreichten sie die Boten und, ohne ein Wort zu sagen, schlugen sie mit ihren Beilen in den Fluß. Da wurde er über und über voller Blut. Juri aber stand am anderen Ufer und wußte sich keinen Rat. „Verrecke, du Verfluchte!“ sagten der Teufel und seine Frau zu dem Fluß. „Und du Ränkeschmied, rette dich nur, zu dir kommen wir auch noch!“ Das sagten sie zu Juri und kehrten dann nach Hause zurück. Da hörte Juri, wie der Fluß stöhnte. „Ach, wie schwer habe ich es, ich muß hier so lange liegen, bis meine Wunden verheilt sind, wir werden uns lange nicht sehen. Geh nach Hause, Juri, und vergiß mich nicht! Und damit du an mich denkst, küsse niemanden! Denn wenn du jemanden küßt, vergißt du mich. Komm mich manchmal besuchen!“ Da ging Juri traurig nach Hause, er hatte gehofft, mit einer Frau nach Hause zu kommen, doch nun war es so gekommen. Als ihn die Eltern sahen, wären sie vor Freude fast verrückt geworden. Sie wunderten sich nur sehr, daß er niemanden küssen wollte, noch nicht 437
einmal sie. Da dachten sie, wer weiß warum. Und Juri blieb zu Hause und erfreute seine Eltern. Jeden Sonnabend ging er zum Fluß, um mit ihm zu sprechen, ließ sich von ihm ein sauberes Hemd für den Sonntag geben, gab das schmutzige ab und ging nach Hause. Er wartete darauf, daß die Wunden des Mädchens verheilten. So war schon eine geraume Zeit vergangen, der Fluß wurde sauberer, die Wunden des Mädchens begannen zu verheilen, da geschah folgendes: Juri schlief einmal ein, da kam ein alter Mann und küßte ihn im Schlaf. Juri wachte auf und vergaß das Mädchen. Als eine gewisse Zeit vergangen war, dachte Juri daran, zu heiraten. Die Eltern hatten ihm schon lange ein Mädchen ausgesucht. Das Mädchen gefiel Juri, und sie feierten Hochzeit. Die Hochzeit war lustig. Aber Juri war irgendwie traurig und wußte selbst nicht warum. Man begann Brot zu backen und Blümchen und Sternchen aus Teig zu formen. Da trat eine Frau ein und sagte: „Gestattet mir, ihr Bäcker, euch einen Enterich und eine Ente aus Brot zu machen.“ Die Bäcker gestatteten es. Sie knetete einen Enterich und eine Ente. Sie setzte den Enterich auf den Brotlaib des jungen Bräutigams, hielt die Ente in den Händen und sagte: „Du hast vergessen, wie ich dich befreit habe, Enterich1!“ Dann warf sie ihm ein Stück Teig an den Kopf. „Du hast vergessen, wie 1
„Enterich“ – Kosename für den Geliebten. (Anm. d. Übers.)
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ich deinen Kopf gerettet habe!“ Sie warf ihm wieder ein Stück Teig an den Kopf. „Du hast vergessen, wie ich deinetwegen Vater und Mutter verlassen habe und mit dir fortgelaufen bin!“ Sie warf ihm noch ein Stück Teig an den Kopf. „Erinnere dich daran, daß ich deinetwegen verwundet worden bin!“ Dann warf sie ihm noch ein Stück Teig an den Kopf. Da erinnerte sich Juri an alles, was mit ihm geschehen war. Er erkannte sein Mädchen (das war sie nämlich) und fiel ihr um den Hals. „Das hier ist meine Frau, liebe Eltern!“ rief er. „Sie hat mich aus der Not befreit.“ Und man setzte sie neben den Bräutigam; der anderen aber bezahlte man ihre Ausgaben und schickte sie fort. Die beiden lebten noch lange und waren glücklich.
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30 Der Schwager der Sonne Es war einmal ein armer Tagelöhner, der nichts besaß. Er verdingte sich bei einem Gutsherrn auf ein Jahr für ein krätzekrankes Pferd. Am Georgstag1 trieb er die Herde auf die Weide und nahm sein krätzekrankes Pferd mit. Der Wolf fragte den heiligen Georg, was er fressen solle. Da antwortete dieser: „Geh hin und friß dort das krätzekranke Pferd mit der Glatze!“ Als der Tagelöhner das hörte, verschmierte er seinem Pferd die Glatze. Das Pferd hatte nämlich eine Glatze. Da kam der Wolf zum heiligen Georg. „Solch ein Pferd gibt es nicht“, sagte er. „Dann geh und friß das, was keine Glatze hat.“ Da wusch der Tagelöhner seinem Pferd die Glatze wieder sauber. Der Wolf kam nochmals zurück und sagte: „Es gibt keines ohne Glatze.“
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23. April – nach dem alten Kalender. Georg galt als Schutzherr des Viehs und auch als Herrscher über die Wölfe. Am Georgstag trieben die belorussischen, ukrainischen und russischen Bauern zum ersten Mal nach dem Winter das Vieh auf das Feld. Nach dem Volksglauben fällt der Wolf nur über das Vieh her, das ihm der heilige Georg angibt. (L. B.)
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„Dann geh“, sagte der heilige Georg, „und friß irgendeins, ganz gleich, ob es eine Glatze hat oder nicht, nur die Krätze muß es haben!“ Der Wolf ging hin und raubte das Pferd. Der Tagelöhner diente bis zum Ende des Jahres und sagte: „Ich gehe jetzt, weil der Wolf mein Pferd gefressen hat.“ Der Bauer wollte ihm ein besseres Pferd geben, aber er wollte nicht und ging davon. So ging er und ging bis in die Nacht hinein. Er kam zu einem Bauern und sagte: „Nimm mich für die Nacht auf!“ Man ließ ihn ein. „Vielleicht kannst du bei mir als Tagelöhner bleiben?“ sagte der Bauer. „Gut“, sagte der Tagelöhner, „ich bleibe!“ Sie vereinbarten, daß er für einen Streifen Weizenfeld arbeiten sollte. So blieb er. Der Tagelöhner arbeitete und arbeitete. Der Bauer säte auch für ihn Weizen. Der Weizen wuchs gut und trug schon Ähren. Da zerschlug der Hagel den Weizen, und der Wind trug ihn davon, und der Tagelöhner ging auch von diesem Bauern fort. „Ich werde nicht mehr bei dir dienen“, sagte er. Der Bauer begann ihn zu überreden. „Ich gebe dir noch mehr Weizen, bleibe nur!“ sagte er. „Nein“, sagte der Tagelöhner, „ich bleibe nicht!“ Er ging fort. Er ging und ging, ging und ging, und nirgends war eine Hütte oder sonst etwas. Er bekam großen Hunger, es war aber nichts zu essen da. Plötzlich sah er, wie ein Mann Heu auf ei441
nen Heuschober warf. Er hatte noch nicht viel geschafft, als die Sonne unterging. Der Tagelöhner bat den Mann, ihm zu essen zu geben. „Hilf mir, das Heu auf den Schober zu werfen, dann gebe ich dir auch zu essen!“ sagte der Mann. „Gut.“ Sie begannen das Heu auf den Heuschober zu werfen. Sie warfen und warfen, wurden aber vor Einbruch der Nacht nicht fertig. Da gab ihm der Bauer nichts zu essen, sondern schlug ihn. Der Tagelöhner ging fort und weinte. Da sah er plötzlich ein Mädchen in einem Busch sitzen, das ein Brötchen im Haar hatte. Er schlich heran, nahm ihr das Brötchen weg und begann es zu essen. Das Mädchen aber sah sich um. „Antworte“, sagte sie, „du, der mein Brötchen gegessen hat! Bist du alt, so sollst du mein Vater werden, bist du jung, so sollst du mein Mann werden, bist du eine alte Frau, so sollst du meine Mutter werden, und bist du ein junges Mädchen, so sollst du meine Schwester werden!“ Er antwortete, und das Mädchen nahm ihn zum Manne. „Ich habe eine Hütte, in der mein Onkel Schweine aufzieht. Gehen wir und bitten ihn, die Schweine herauszulassen, damit wir dort leben können.“ Der Tagelöhner kam zu dem Onkel und bat ihn: „Onkelchen, laß die Schweine aus der Hütte, wir wollen dort wohnen!“ Der Onkel wollte erst nicht. Da kam der Tagelöhner ein zweites und ein drittes Mal. Schließlich 442
hatte der Onkel Mitleid mit ihm und ließ die Schweine heraus. Als die Schweine herausliefen, nahmen sie den ganzen Schmutz mit. So wurde die Hütte sauber wie Glas. Das Paar zog ein und wohnte darin. Sie lebten gut und in Frieden, und der Gutsherr begann sie zu beneiden. Ebenso auch der Bauer, ihr Onkel. Der Bauer beneidete ihn wegen der Hütte, und der Gutsherr wegen der Frau. Sie berieten miteinander. „Schaffen wir ihn aus der Welt“, sagte der Gutsherr, „dann bleibt für dich eine schöne Hütte und für mich ein schönes Frauchen!“ Sie wollten ihn so sterben lassen, daß er vollkommen verschwand. So beschlossen sie, ihm zu befehlen, daß er alle Ungeheuer und Tiere der ganzen Welt bei dem Gutsherrn auf dem Hof versammeln sollte. Der Mann kam nach Hause und weinte. Seine Frau fragte: „Warum weinst du?“ „Wie sollte ich nicht weinen, wenn der Gutsherr befohlen hat, daß ich auf seinem Hof alle Ungeheuer und Tiere der ganzen Welt versammeln soll? Wenn ich sie zusammenhole, komme ich doch bestimmt ums Leben.“ „Weine nicht“, sagte sie, „ich helfe dir, und dir wird nichts geschehen!“ Sie gab ihm ein Stöckchen. „Wenn du mit diesem Stöckchen winkst“, sagte sie, „so kommen sie alle zusammen.“ Er ging hinaus. Er winkte mit dem Stöckchen, und alle Ungetüme und alle Tiere aus der ganzen Welt versammelten sich bei dem Gutsherrn auf 443
dem Hof. Der Gutsherr erschrak und bat ihn, sie zurückzujagen. Da winkte er wiederum mit dem Stöckchen, und alle liefen zurück, die einen hierhin, die anderen dorthin. Da beriet jener Gutsherr wiederum mit dem Onkel, und sie befahlen dem Mann, eine Geige zu bauen, zu deren Spiel die ganze Welt tanzen muß. Der Mann kam nach Hause und weinte. Seine Frau fragte: „Warum weinst du?“ „Wie sollte ich nicht weinen, wenn der Gutsherr sich über mich lustig macht! Er hat mir befohlen, eine Geige zu bauen, zu deren Spiel die ganze Welt tanzen muß.“ Sie sagte: „Warum nicht!“ Sie band ihm ein Garnknäuel an den Gürtel und sagte: „Wo das Garnknäuel hinrollt, da gehe auch du hin!“ Das Knäuel rollte durch den Wald, und er ging durch den Wald. Das Knäuel rollte über das Meer, und er überquerte das Meer. Da sah er am Meer eine Hütte. Er trat in die Hütte, und dort wohnte eine alte Frau. Diese Frau war seine Schwiegermutter. Sie erkannte ihn und sagte: „Man hört es und man sieht es, daß du mein Schwiegersohn bist.“ Sie begann ihn auszufragen. Da erzählte er ihr, was für eine Aufgabe der Gutsherr ihm gegeben hatte. Sie sagte: „Warte hier! Wenn mein Sohn kommt, wird er dir eine solche Geige bauen.“ Sie nahm ihn mit, versteckte ihn in einer Kiste und bohrte ein kleines Loch in die Kiste, um Luft einzulassen. Am Abend kam ihr Sohn, die Sonne. 444
Da sagte die Alte zu ihm: „Mein Schwiegersohn war hier. Der Gutsherr hat ihm die Aufgabe gestellt, eine solche Geige zu bauen, bei deren Spiel die ganze Welt tanzen muß.“ „Gut“, sagte die Sonne, „wenn er meine Stelle als Sonne einnimmt, baue ich ihm die Geige.“ Die Frau öffnete die Kiste und ließ ihren Schwiegersohn heraus. Am nächsten Tage blieb die Sonne zu Hause, und der Mann stand frühmorgens als Sonne auf. Da brachte ihm der heilige Georg das Frühstück. Der Mann packte ihn an den Haaren und begann ihn wegen des krätzekranken Pferdes zu schlagen. Dann brachte ihm der heilige Petrus das Mittagbrot, und der Mann schlug auch ihn. „Und du, mein Bester“, sagte er, „hast meinen Weizen vom Hagel zerschlagen und vom Wind verwehen lassen.“1 Zu Mittag kam er an ein goldenes Bett. Er ruhte sich aus. Als er sich ausgeruht hatte, zertrümmerte er das Bett. Am Abend kam er in die Hütte zurück. Die Sonne hatte die Geige bereits fertig. „Bleib noch einen Tag bei uns!“ sagte die Sonne. Er blieb, und die Sonne ging am nächsten Morgen fort. Der heilige Georg brachte das Frühstück
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Nach im vorrevolutionären Belorußland verbreitetem Volksglauben lenkt Petrus – der Oberheilige –, ebenso wie der heilige Elias, den Donner und schickt Regen und Hagel auf die Erde. (Anm. d. Übers.)
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und stellte es ungefähr zwei Gonjen1 von ihr entfernt hin. Da fragte die Sonne: „Warum bringst du es nicht zu mir?“ „He“, sagte er, „damit du mich wieder schlägst!“ Die Sonne wunderte sich und fragte ihn aus: Georg erzählte, daß er tags zuvor geschlagen worden war. Dann brachte der heilige Petrus das Mittagbrot und stellte es auch zwei Gonjen von der Sonne entfernt auf. Sie fragte auch ihn, und Petrus erzählte, daß er tags zuvor geschlagen worden war. Zu Mittag wollte sich die Sonne ausruhen, da war das Bett fort. Am Abend kam die Sonne nach Hause und fragte den Schwager: „Warum hast du den heiligen Georg geschlagen?“ „Wie sollte ich ihn nicht schlagen? Ich habe ein ganzes Jahr für ein krätzekrankes Pferd gedient, und er hat es den Wölfen gegeben. Wenn dir das passiert wäre, hättest du ihn auch geschlagen.“ „Das stimmt“, sagte die Sonne. „Aber warum hast du den heiligen Petrus geschlagen?“ „Ach“, sagte er, „wie sollte ich ihn nicht schlagen? Ich habe für einen Streifen Weizenfeld gedient, und er hat den Weizen vom Hagel zerschlagen und vom Wind verwehen lassen. Wärest du an meiner Stelle, hättest du ihn auch geschlagen. „Das stimmt“, sagte die Sonne, „aber warum hast du das Bett zerstört?“ 1
Gonja – altes russisches Längenmaß = 60 - 120 Sashen, 1 Sashen = 2,133 m. (Anm. d. Übers.)
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„Hast du den Tag vergessen“, sagte der Schwager, „an dem ich hungrig war und jenen Mann traf, der Heu auf den Schober warf und noch nicht viel geschafft hatte, als die Sonne unterging. Ich bat ihn damals, mir zu essen zu geben, und der Mann sagte: ‚Hilf mir, das Heu hinaufzuwerfen, dann gebe ich dir zu essen!’ Wir hatten noch nicht alles Heu hinaufgeworfen, da gingst du unter. Deshalb gab mir der Mann nichts zu essen, sondern schlug mich. Da wurde ich wütend auf die Sonne, weil sie zu früh untergegangen war. Daher habe ich auch das Bett zerstört.“ Da sagte die Sonne: „Das hätte ich auch getan.“ Nachdem der Schwager der Sonne übernachtet hatte, machte er sich wieder auf den Weg. Die Schwiegermutter steckte ihm ein Zauberkraut ins Ohr. Er kam nach Hause zurück und ging zum Gutsherrn. Sowie die Geige erklang, versammelten sich alle Tiere und Ungeheuer und tanzten. Der Gutsherr erschrak und bat aufzuhören. Da hörte er auf zu spielen, und alles ging wieder an seinen Platz. Da beriet der Gutsherr mit dem Onkel, und sie sagten: „Wenn du das kannst, dann kannst du auch in kochendem Wasser baden.“ Sie machten einen Kessel mit Wasser heiß, der Mann sprang hinein und kam noch hübscher heraus.
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Der Gutsherr und der Onkel sprangen auch hinein und wurden gekocht. Der Mann aber lebte weiter.
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31 Iwan Pechvogel Es war einmal ein Kaufmann, ein reicher Mann. Der hatte drei Söhne. Als er starb, hinterließ er nur zwei Söhnen eine Erbschaft, Iwan aber hinterließ er nichts, nicht einmal einen angebrannten Groschen. Dieser Iwan war ein hübscher Junge, aber sie nannten ihn „Iwan Pechvogel“, denn er besaß gar nichts. Da nahm er eine Tasche und zog in die weite Welt. Er wanderte einige Zeit, und überall wußte man, daß er Iwan Pechvogel war. Als die Zarentochter Iwan in seiner ungewöhnlichen Schönheit erblickte, wollte sie ihn heiraten. Sie nahm eine Tasche und Gold und Silber mit und wanderte durch die Welt, um Iwan Pechvogel zu suchen. Die Zarentochter war schon eine Zeitlang umhergewandert und hatte ihn nicht gefunden, da hörte sie von einem Kaufmann, der Arme verpflegte. Sie ging dorthin. Als sie anlangte, traf sie Iwan Pechvogel, sie verneigte sich und sagte: „Sei gegrüßt, Iwan Pechvogel!“ Das Essen für die Armen ging zu Ende, da sagte die Zarentochter: „Nimm mich zur Frau, Iwan Pechvogel!“ „Was ist da zu tun?“ „Bitte die Kaufleute, daß sie uns trauen!“ Sie sagten es den Kaufleuten. Viele Kaufleute versammelten sich und willigten ein, sie zu trau449
en, einfach so zum Spaß. Sie sammelten Geld. Der eine gab fünfundzwanzig, der andere fünfzig und der dritte soviel er konnte. Sie wurden getraut, dankten den Kaufleuten und gingen dann in eine andere Stadt. Sie kauften sich ein Haus und lebten und wirtschafteten darin. Nach einiger Zeit gab die Königstochter Iwan fünfzig Rubel. „Geh, mein Lieber, und kaufe mir Goldfäden zum Stikken!“ sagte sie. Er ging in die Stadt, lief lange umher und konnte nirgends so etwas finden. Bei einem alten Mann an der Ecke bekam er endlich Goldfäden, bezahlte sie, ging nach Hause und gab sie ihr. Sie aßen Abendbrot, Iwan legte sich schlafen, seine Frau zündete eine Kerze an und begann ein Tuch zu sticken. Nach einiger Zeit war das Tuch fertig. Iwan trank Tee und wollte in die Stadt spazierengehen. Seine Frau gab ihm das Tuch. „Verkaufe es!“ sagte sie. Er lief durch die ganze Stadt. Bei welchem Kaufmann er sich auch immer zeigte, alle hatten Angst, das Tuch zu nehmen, und wunderten sich über diese seltene Ware. Er ging durch die ganze Stadt, aber niemand kaufte es. Da ging er zu dem alten Mann, bei dem er das Gold gekauft hatte. Der fragte: „Nun, Iwan Pechvogel, willst du kaufen oder verkaufen?“ „Ich verkaufe ein Tuch.“ „Zeig her!“ Der Alte sah das Tuch an und sagte: „Nun, Iwan Pechvogel, was willst du dafür, Geld oder gute Worte?“ 450
Iwan antwortete ihm: „Ich nehme gute Worte.“ Er kam nach Hause, und seine Frau fragte ihn: „Was hast du für das Tuch bekommen, mein Lieber?“ Er antwortete: „Ich habe gute Worte genommen.“ Sie wurde traurig, weil er das teure Tuch für gute Worte weggegeben hatte. Als Iwan wieder in die Stadt ging, gab sie ihm hundert Rubel, um Goldfäden zu kaufen. Er ging durch die Stadt, da es aber in keinem Laden Goldfäden gab, ging er wieder zu jenem alten Mann. Er kaufte für hundert Rubel Goldfäden, brachte sie nach Hause und gab sie seiner Gattin. Sie stickte wieder ein Tuch. Nach einiger Zeit war es fertig. Als Iwan wieder in die Stadt ging, gab sie ihm das Tuch. „Verkaufe es!“ Er ging durch die Stadt. In welchen Laden er auch hineinging und das Tuch zeigte, überall hatten die Kaufleute Angst, es zu kaufen. Sie dachten: Woher Iwan Pechvogel nur solche Tücher nimmt!? Da ging er wieder zu dem Alten, und der Alte fragte: „Iwan Pechvogel, willst du kaufen oder verkaufen?“ „Ich verkaufe ein Tuch!“ „Was willst du dafür, Geld oder gute Worte?“ Iwan dachte: Nun habe ich einmal gute Worte genommen, so nehme ich sie auch ein zweites Mal. Und so antwortete er: „Ich nehme gute Worte.“ Er kam nach Hause, und seine Frau fragte: „Was hast du für das Tuch genommen?“ 451
„Zum zweiten Mal gute Worte.“ Da dachte seine Frau wieder: Was soll nur daraus werden? Worte, immer nur Worte. Was soll nur daraus werden? Sie schwieg aber und duldete es. Nach einiger Zeit gab sie ihm hundertfünfzig Rubel: „Geh in die Stadt und kaufe Goldfäden!“ Er ging und kaufte bei dem alten Mann für hundertfünfzig Rubel Goldfäden, brachte sie nach Hause und gab sie seiner Frau. Nun stickte sie ein drittes Tuch; das war schöner als die anderen. Als Iwan in die Stadt ging, gab sie ihm das Tuch. „Verkaufe es!“ Er dachte nach, was er für das Tuch nehmen sollte. Er ging in die Stadt und trug es durch alle Läden, um es zu verkaufen. Aber niemand kaufte es. Alle hatten Angst, solche Sachen zu kaufen. Da ging er zu dem alten Mann. Der Alte sprach: „Nun, Iwan, willst du kaufen oder verkaufen?“ „Ich verkaufe ein Tuch!“ „Zeig her!“ Der Alte sah es an und sagte zu Iwan: „Was willst du dafür? Geld oder gute Worte?“ Iwan sagte: „Gute Worte.“ Da sagte der Alte: „Sei zufrieden und vergiß nicht meinen Rat: Wenn du zum Schlage ausholst, dann schlage nicht gleich zu, sondern überlege erst!“ Iwan dankte dem Alten und ging davon. Er kam nach Hause, und seine Frau fragte: „Was hast du für das Tuch genommen?“ „Ich habe gute Worte genommen.“ 452
Seine Frau war in großer Verzweiflung, und nach einiget Zeit sagte sie: „Lieber Wanja, ich habe viel Geld ausgegeben, jetzt mußt du dir Arbeit suchen.“ Iwan ging zum Hafen und verdingte sich bei Kaufleuten, die ins Ausland fahren wollten, als Arbeiter. Er ließ sich Geld im voraus geben für den Lebensunterhalt seiner Frau. Dann verabschiedete er sich von ihr und fuhr mit den Schiffern ins Ausland. Da wurde seine Frau schwanger. Die Kaufleute verbrachten sechzehn Jahre im Ausland, kauften Waren für sieben Schiffe und fuhren dann nach Hause zurück. Auf dem Meer hatten sie Unglück, die Schiffe drohten zu sinken. Es war an einer Stelle, wo man einen Menschen ins Meer werfen mußte. Die Kaufleute holten Iwan Pechvogel, er sollte einwilligen, ins Meer zu gehen. Er war einverstanden, und das siebente Schiff wurde ihm als Eigentum übergeben. Sie warfen ihn ins Meer, und das Schiff verankerten sie. Es blieb dort stehen. Iwan Pechvogel geriet in einen Strudel und kam in die Unterwelt. Da ist es genauso wie hier auch. Dann kam er zum Zaren des Meeres, dort kannte man ihn schon. „Sei gegrüßt, Iwan Pechvogel! Schlichte du den Streit zwischen mir und der Zarin. Wir leben schon fünfzehn Jahre lang zusammen, aber immer streiten wir uns über eine Frage: Ich sage zu der Zarin, daß es auf der Welt nichts Teureres gibt als Gold, Silber und Edelsteine. Die Zarin aber sagt,
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daß Eisen und Stahl am teuersten in der Welt sind. Iwan Pechvogel, entscheide du!“ Da sagte Iwan zu ihnen: „Gold, Silber und Edelsteine sind für die Zarin, für die Fürsten und für die vornehmen Leute das Wertvollste, Stahl und Eisen sind es für die Bauern.“ Alle waren mit Iwans Entscheidung zufrieden, und sofort vertrugen sich der Zar und die Zarin wieder und küßten sich. „Wir danken dir dafür, daß du unsere Herzen besänftigt hast, Iwan Pechvogel, wir danken dir dafür!“ Sie gaben Iwan eine Kiste mit Brillanten, hängten ihm Schwimmblasen an und befestigten die Kiste mit den Brillanten daran. Dann sagten sie: „Wir danken dir, Iwan, lebe wohl!“ Iwan wurde von diesen Blasen an die Oberfläche des Meeres getragen und sah das Schiff noch stehen, das ihm die Kaufleute überlassen hatten. Er machte einige Schwimmstöße, stieg in das Schiff und fuhr den Kaufleuten nach. Nach einer Weile sah er, daß er seine Kaufleute eingeholt hatte, und sie bemerkten, daß Iwan Pechvogel sie einholte. Dann fuhren die sieben Schiffe wieder gemeinsam weiter. Ein König wohnte am Meer. Er ließ den Schiffern kundtun, daß sie nicht vorbeifahren, sondern zu ihm zu Besuch kommen sollten. Sie machten am Königspalast halt und suchten schöne Waren für den König aus. Die Kaufleute fragten Iwan im Scherz: „Iwan Pechvogel, was nimmst du denn mit?“
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Iwan antwortete ihnen: „Ihr wißt doch, Brüder, daß ihr mir ein leeres Schiff hinterlassen habt, nur mit Bastmatten, Säcken und den schlechtesten Waren. Vielleicht werde ich für eure Geschenke mitempfangen.“ Die Kaufleute wußten nicht, daß Iwan eine Kiste mit Brillanten besaß. Er nahm aus der Kiste einen hühnereigroßen Brillanten, versteckte ihn im Ärmel und ging mit den Kaufleuten mit. Die Kaufleute lachten über ihn: „Iwan ist und bleibt ein Pechvogel, jetzt geht er mit leeren Händen zum König.“ Als sie angekommen waren, gaben sie dem König ihre Geschenke. Iwan blieb immer in der Nähe des Königs, schließlich ging er mit ihm in ein anderes Zimmer. Dort gab er ihm den Edelstein. Als der König den Edelstein betrachtete, erstrahlte das ganze Zimmer. Der König wies Iwan auf einen Ehrenplatz am Tisch. Den Kaufleuten brachten die königlichen Diener Wein, Iwan aber wurde vom König selbst bedient. Da ärgerten sich die Kaufleute. Er war doch nur ihr Arbeiter, sie glaubten, daß sein Schiff leer war und er dem König nichts gebracht hatte. Sie dankten dem König und gingen zu den Schiffen. Iwan holte sie ein und lachte die Kaufleute aus: „Ihr waret meine Herren, aber der König hat mich eigenhändig bewirtet!“ Die Kaufleute ärgerten sich darüber. Schließlich lud auch die Königin sie zu Besuch ein. „Ich bitte euch, meine Herren Kaufleute, mir die Ehre eures Besuches zu erweisen!“
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Da suchten die Kaufleute ihre besten Waren heraus und fragten Iwan: „Iwan Pechvogel, was nimmst du mit?“ Da antwortete Iwan den Kaufleuten: „Brüder, ihr wißt, daß mein Schiff leer ist. Ich werde für eure Geschenke mit satt.“ Dann nahm er einen zweiten Edelstein aus der Kiste, und sie gingen zum Schloß. Die Kaufleute brachten der Königin ihre Ware. Die Ware wurde entgegengenommen, aber die Königin blieb immer in Iwans Nähe. Iwan gab ihr den Edelstein aus dem Ärmel. Die Königin ging in ein anderes Zimmer, und es erglänzte. Man wies die Kaufleute an den Tisch und bewirtete sie. Iwan aber nahm den Ehrenplatz ein. Den Kaufleuten brachten die königlichen Diener den Wein, aber Iwan wurde von der Königin selbst bewirtet. Da sahen sich die Kaufleute an: „Was bedeutet das, warum wird Iwan mehr Ehre erwiesen als uns?“ Als sie sich bedankt hatten und gingen, sagten die Kaufleute zueinander: „Wenn wir das nächste Mal zu Besuch eingeladen werden, unternehmen wir etwas, womit Iwan nicht rechnet.“ Da lud sie die Königstochter zu Besuch ein, aber nicht wegen ihrer Waren, die nicht so teuer waren, sondern weil Iwan ihr auch einen Edelstein schenken sollte. Die Kaufleute suchten die besten Waren aus und sagten zu Iwan: „Iwan, was nimmst du mit?“ „Ihr wißt doch, Brüder, für eure Waren werde auch ich satt.“
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Sie ärgerten sich darüber furchtbar, Iwan aber verbarg einen Edelstein im Ärmel. Bevor die Kaufleute in den Palast gingen, vereinbarten sie: „Es gibt nur eines: Entweder kommen wir um oder Iwan.“ Sie gaben dem König ihre Waren, aber die Königstochter hielt sich immer in Iwans Nähe auf. Er überreichte ihr heimlich den Edelstein aus dem Ärmel. Die Königstochter ging in ein Nebenzimmer und sah das Leuchten des Steines. Man wies die Kaufleute an den Tisch, Iwan aber wieder auf den Ehrenplatz und bewirtete sie. Die Kaufleute wurden von den Dienern bedient, Iwan Pechvogel hingegen von dem König, der Königin und der Königstochter selbst. Die Kaufleute standen vom Tisch auf, dankten dem König und sagten wie aus einem Munde, daß sie unzufrieden seien. Der König fragte sie: „Womit seid ihr denn unzufrieden?“ „Wir sind damit unzufrieden, daß einem, der früher für uns gearbeitet hat, mehr Ehre erwiesen wird als uns.“ Da sagte der König: „Vielleicht ist seine Ware wertvoller als alle eure Schiffe.“ Da sagten sie: „Na gut, wenn Iwan, unser Arbeiter, teurere und bessere Ware als wir hat, sind wir damit einverstanden, daß uns die Köpfe abgeschlagen werden. Aber wenn unsere Ware wertvoller ist, soll er enthauptet werden.“ Der König fragte Iwan: „Bist du damit einverstanden, daß dir der Kopf abgeschlagen wird, wenn deine Ware schlechter ist?“ „Ich bin einverstanden.“ 457
Damit war die Sache erledigt. Der König verlangte, daß die Angelegenheit in seiner Gegenwart schriftlich festgelegt wurde: Entweder Iwan oder den Kaufleuten sollte der Kopf abgeschlagen werden. Als sie unterschrieben hatten, gingen die sechs Männer und Iwan Pechvogel zu den Schiffen, um ihre Ware auszuladen. Da erwies es sich, daß die sechs Kaufleute sehr gute und wertvolle Ware hatten, während Iwan überhaupt nichts besaß. Die Kaufleute sagten: „Siehst du, lieber König, das ärgert uns ja gerade. Er war nur unser Arbeiter, aber es wird ihm mehr Ehre erwiesen.“ Man beschloß, Iwan zu enthaupten, und die Kaufleute freuten sich. Da sagte er zum König: „Gestattet mir noch einmal, auf mein leeres Schiff zu gehen!“ Er ging auf das Schiff und holte die Kiste mit Edelsteinen. Als er sie öffnete, erstrahlten die Steine heller als die Sonne. Da mußten nun die sechs Kaufleute um ihr Leben bangen, sie fielen vor Iwan auf die Knie und flehten: „Verzeih uns unsere Missetat! Richte nicht unsere Frauen und Kinder zugrunde, verzeih uns, ach verzeih uns! Wir geben dir dafür unsere sechs Schiffe mit allen Waren und versprechen dir, dich in den Hafen unserer Heimatstadt zu bringen und dir zu gehorchen!“ Er verzieh ihnen und erhielt einen Kaufvertrag für alle Schiffe. Sie brachen auf nach ihrer Heimatstadt. Als sie nachts ankamen, ließ Iwan Pechvogel die Schiffe mit den Kaufleuten im Hafen 458
und ging zu seiner Frau. Er schlich ganz leise ins Haus, weckte niemanden, machte Licht und schaute nach seiner Frau. Sie schlief, und neben ihr lagen zwei Jünglinge. Da dachte Iwan: Während ich im Ausland gewesen bin, hat sie sich hier zwei Liebhaber angeschafft. Er wurde zornig, griff nach seinem Säbel, hob ihn und wollte zuschlagen. Da dachte er an das, was ihm der Alte gesagt hatte: „Wenn du ausholst, schlage nicht gleich los, sondern überlege erst.“ Er schlug nicht zu, sondern weckte seine Frau und sagte: „Sei gegrüßt, liebe Frau!“ Seine Frau wachte auf, erschrak und sagte: „Sei gegrüßt, mein lieber Iwan Pechvogel. Lange habe ich dich nicht gesehen, schon sechzehn Jahre nicht.“ „Meine Liebe, was liegen dort für Jünglinge bei dir?“ „Das sind deine Söhne, Lieber. Als du ins Ausland gingst, war ich schwanger. Ich habe zwei Söhne geboren. Aber wie steht es bei dir?“ „Ich habe sieben Schiffe mit Waren mitgebracht.“ Die Frau glaubte ihm nicht und sagte: „Wo hast du sie ohne Geld herbekommen?“ „Gott hat sie mir geschickt, weil mir mein Vater nichts hinterlassen hat.“ Am Morgen verkaufte Iwan Pechvogel die Waren und die Schiffe und brachte das viele Geld seiner Frau. „Liebe Frau, jetzt können wir gut leben!“ 459
„Ja, mein Lieber, nun mußt du zu meinem Vater gehen und ihn um Verzeihung bitten. Weißt du, wer ich bin? Ich bin eine Zarentochter!“ Da dachte Iwan: Wie ist das möglich? Sie hat mich, einen Armen, geheiratet, obwohl sie Zarentochter ist? „Mich hat deine Schönheit dazu verlockt, dich zu heiraten“, sagte die Frau, „und ich habe jetzt noch Gold und Silber, das ich von meinem Vater bekommen habe. Höre mich an, mein Lieber. Paß auf, damit du keinen Fehler machst! Nenne ihn noch nicht Vater, sondern nimm einen Brillanten, bringe ihn dem Zaren und bitte um Erlaubnis, in der Nähe des Palastes ein Haus bauen zu dürfen.“ Iwan Pechvogel ging zum Zaren und schenkte ihm einen Brillanten. Der Zar freute sich so, daß er gar nicht wußte, womit er Iwan Pechvogel belohnen sollte. Er fragte: „Womit soll ich dich belohnen?“ Iwan antwortete ihm: „Eure Hoheit, gestattet mir, in der Nähe des Palastes ein Haus zu bauen.“ Da sagte der Zar: „Ich erlaube es dir. Wenn es dir an Kapital fehlt, dann helfe ich dir.“ Iwan Pechvogel dankte dem Zaren. Dann begann er mit dem Bau des Hauses und bestellte dazu verschiedene Meister: Maurer, Tischler, Dachdecker und alle Arbeiter, die er brauchte. Das Haus wurde in zwei Jahren fertig. In einigen Zimmern besetzte Iwan die Wände mit Brillanten. Nachdem das Haus fertig war, nahm er einen Brillanten und brachte ihn dem Zaren als Dank. Der Zar dankte Iwan: „Ich danke dir, Iwan Pechvogel, 460
du bist jetzt nicht mehr Iwan Pechvogel, sondern Iwan Glückspilz! Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll!“ „Wenn Eure Hoheit mir danken wollen, dann bitte ich Euch, mich zusammen mit Euresgleichen in meinem Haus zu besuchen. Das wünsche ich mir von Euch.“ Der Zar, der Iwans Klugheit schätzte, lud einige Könige und Fürsten ein, um mit ihnen zu Iwan zu Besuch zu fahren. Zur vereinbarten Zeit versammelten sich die geladenen Gäste bei Iwan Pechvogel. Nach einer Zeremonie tranken sie, waren lustig und gratulierten Iwan: „Nun bist du nicht mehr Iwan Pechvogel, sondern Iwan Glückspilz!“ Iwan Pechvogel kam zu seiner Frau und sagte: „Wie soll ich deinen Vater um Verzeihung bitten?“ „Geh hin und sage: ‚Verzeiht, Zar!’“ Iwan ging zum Zaren und sagte: „Verzeiht, Zar!“ „Du hast dir doch gar nichts zuschulden kommen lassen, was soll ich dir da verzeihen?“ Iwan aber wiederholte: „Verzeiht, Zar!“ Der Zar erklärte wieder, daß er ihm nichts zu verzeihen habe. Aber die anderen Zaren und Könige sagten: „Na, verzeihe ihm schon, wenn er sich auch nichts hat zuschulden kommen lassen!“ Da sagte der Zar: „Nun, gut, ich verzeihe dir, Iwan!“ Sowie der Zar „Ich verzeihe“ gesagt hatte, trat Iwans Frau herein und verneigte sich vor dem Za-
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ren. Iwan sagte: „Das ist Eure Tochter und meine Frau.“ So erfuhr der Zar, weswegen ihn Iwan um Verzeihung gebeten hatte. Der Zar war sehr froh darüber, daß sein Schwiegersohn ein so kluger Mensch war. Nun lebten Iwan und die Zarentochter zusammen und mehrten ihren Reichtum.
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32 Iwan Glückspilz Es war einmal ein armer Bauer, der hatte schon viele Kinder, da wurde ihm noch ein Junge geboren. Als die Alte das Kind zur Welt brachte, übernachtete in der Hütte gerade ein Mann, der auf dem Markt Kämme verkaufte. Da schickte Gott drei Engel zu der Alten. Ein Engel blieb auf dem Hof, der zweite lief in der Hütte umher, und der dritte blieb bei der Alten. Da fragte der erste Engel den zweiten, der in der Hütte umherlief: „Nun, hat sie das Kind schon geboren?“ „Sie ist noch dabei.“ Danach sagte der Engel, der in der Hütte umherlief: „Sie hat geboren.“ „Und was hat sie geboren?“ fragte der erste. „Einen Jungen.“ Da flog der erste Engel zu Gott, um ihn zu fragen, was für ein Schicksal er dem Jungen zuteilen würde. Der Engel kehrte zurück und sagte: „Gott schenkt ihm ein glückliches Schicksal. Er wird der Schwiegersohn des Zaren.“ Dann machten sich die Engel wieder auf den Weg und flogen davon. Der Kammverkäufer hatte das alles gehört, und ohne jemandem etwas zu sagen, stand er früh auf, fuhr davon und kam zu sich nach Hause. Er erzählte es seiner Frau, die Frau erzählte es einer Gevatterin und diese wie463
derum einer Gevatterin. So ging das Gerücht bis zum Zaren. Der Zar aber dachte bei sich: Ein einfacher Bauer soll mein Schwiegersohn werden? Das gibt es nicht. Er sagte zum Fuhrmann: „Spann die Pferde an, wir wollen ausfahren!“ Sie fuhren los und kamen in das Dorf. Sie gingen in die Hütte des armen Bauern, dem der Junge geboren worden war. Die Kinder liefen dort nackt und barfüßig herum. Der Bauer war nicht zu Hause. Als aber die Bäuerin den Zaren erblickte, erschrak sie und sprang vom Bett auf. Er sagte: „Erschrick nicht! Ich bin der Zar des ganzen Volkes. Ich bin zu euch gekommen, damit ihr mir euer Kind gebt. Mir ist eine Tochter geboren worden, und du hast einen Sohn. Ich ziehe sie beide groß, und er wird mein Schwiegersohn.“ Inzwischen war der Vater gekommen. Die Alten berieten miteinander. Der Zar bot ihnen sofort hundert Rubel an und versprach, ihnen auch zu helfen, während der Sohn aufwächst. Das konnten sie dem Zaren nicht abschlagen. So gab die Mutter ihr Kind hin. Der Zar nahm es mit, setzte sich in den Wagen und fuhr seines Weges. Der Weg war lang, und sie mußten vierzig Werst durch einen Wald fahren. Als sie die Hälfte des Weges gefahren waren, hielten sie die Pferde an. Der Zar nahm den Jungen, legte ihn ungefähr zwanzig Sashen abseits vom Wege in den Schnee und sagte: „So, nun kannst du mein Zarenreich erben!“ Er kam zum Fuhrmann und sagte: „Fahr los!“
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Als sie losgefahren waren, sagte der Zar zum Fuhrmann: „Paß gut auf! Wenn du irgend jemandem etwas davon erzählst, lasse ich dir den Kopf abschlagen!“ Da kam ein Mann des Weges. Er wunderte sich, daß im Winter die Nachtigallen sangen. Er blieb stehen und dachte: Im Winter habe ich noch nie Nachtigallen gehört. Jetzt aber höre ich sie. Als er näher zu der Stelle kam, wo der Junge im Schnee lag, bemerkte er, daß auch die Sonne ein Stück hervorgekommen war. Er blieb stehen und dachte: Was ist das? Vor wenigen Augenblicken war es noch trübe, und die Sonne war nicht zu sehen. Jetzt aber scheint sie. Na, ich will mal schauen, was dort los ist! Als er zu der Stelle kam, sah er dort einen schönen Garten mitten im Wald. Überall war Schnee, und im Schnee lag der kleine Junge und spielte mit allerlei Spielsachen, und die Vögelchen sangen. Da blieb der Mann stehen und dachte: Was soll ich tun? Soll ich das Kind hierlassen und weitergehen, oder soll ich es mitnehmen? Schließlich beschloß er: „Ich nehme es mit!“ Und er nahm es mit. Er kam nach Hause, und seine Frau fragte: „Wo hast du dieses Kind her?“ Da erzählte er ihr: „In dem und dem Wald abseits vom Wege, lag dieser Junge. Er lag in einem Garten, und die Nachtigallen sangen. Da habe ich ihn nach Hause mitgenommen.“
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Nun entstand wieder ein Gerücht. Die Frau sagte es ihrer Schwester und die Schwester einer Gevatterin. So ging das Gerücht von Dorf zu Dorf und kam zum Zaren. Da dachte der Zar: Macht nichts, mein Schwiegersohn wird er doch nicht! Er rief wieder den Fuhrmann: „Spann die Pferde an, wir wollen ausfahren!“ Sie kamen in das Dorf, in dem der Junge jetzt wohnte. Der Zar ging in die Hütte. Der Bauer und seine Frau erschraken, aber der Zar beruhigte sie und fragte: „Ihr habt einen Jungen gefunden?“ Sie antworteten ihm: „Ja, wir!“ „Gebt ihn mir! Ich habe keine Söhne. Er soll mein Schwiegersohn und mein Sohn werden.“ Sie gaben ihm den Jungen. Er gab ihnen dafür zehn Rubel. Er nahm das Kind und fuhr los. Sie fuhren ungefähr zwanzig Werst und kamen in ein Dorf. Sie fragten, wer hier Fässer herstellte. Man sagte ihnen, daß Nikita Fässer baut. Als der Zar an Nikitas Hof kam, fand er ihn dort beim Faßbauen. Da sagte der Zar: „Verkauf mir ein Faß mit zwei Böden!“ Der Zar bezahlte dreizehn Kopeken, nahm das Faß auf seinen Wagen und fuhr los. Als sie eine Weile gefahren waren, kamen sie zu einem großen See. Da sagte der Zar zu dem Fuhrmann: „Halte die Pferde an!“ Der Zar nahm das Faß vom Wagen. Dann nahm er die Reifen ab und den Boden heraus, legte den Jungen in das Faß, legte den Boden wieder ein, schlug die Reifen fest und warf das Faß in den See. Dann sagte er: „Nun ist dein Ende gekom466
men. Du wirst kein Schwiegersohn des Zaren. Fuhrmann, fahre weiter!“ Sie fuhren weiter. Als sie weggefahren waren, erhob sich ein Sturm und trieb das Faß zum anderen Ufer des Sees. Dort stand ein großes Kloster. Das Wasser trug das Faß zu der Stelle, wo die Mönche immer badeten. Am Abend hatten sie noch dort gebadet, und am Ufer nichts gesehen. Als sie am Morgen kamen, sahen sie das Faß. Da wunderten sie sich. „Was ist das?“ Sie nahmen das Faß und trugen es aus dem Wasser. Sie schlugen die Reifen ab, nahmen den Boden heraus und sahen dort den kleinen Jungen liegen. Sie wußten nicht, wie er hieß, denn er konnte noch nicht sprechen. Sie brachten ihn zum Klostergeistlichen, und der taufte ihn. Er gab ihm den Namen Iwan. Der Junge wuchs nicht in Tagen, sondern in Stunden. Nach einigen Jahren kam der Zar in das Kloster, um Steuern einzutreiben. Dieses Kloster gehörte zu seinem Land. Die Mönche schuldeten dem Zaren bereits zwanzigtausend Rubel. Da fragte der Zar: „Wieviel Mönche seid ihr jetzt?“ Sie antworteten ihm: „Die alten Mönche sind alle noch da. Doch Gott hat uns Glück gegeben. Er hat uns ein Faß mit einem kleinen Jungen geschickt. Der Junge wird bei uns großgezogen und lernt gut.“ Da griff sich der Zar an die Stirn und dachte: Das ist mir einer! Ich habe ihn in den See gewor-
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fen, und er lebt noch! Er sagte zu den Mönchen: „Gebt ihn mir, diesen Iwan!“ Die Mönche wollten ihn jedoch behalten. Da versprach der Zar: „Die zwanzigtausend schenke ich euch. Ich will sie nicht mehr haben!“ Die Mönche berieten miteinander und waren schließlich einverstanden, den Jungen fortzugeben, und sagten zum Zaren: „Wir geben ihn Euch.“ Da nahm der Zar ein Stück Papier und schrieb einen geheimen Brief. Er steckte ihn in ein Kuvert, gab ihn Iwan und sagte zu ihm: „Bring ihn in den Zarenpalast und gib ihn der Zarenfrau. Verwahre ihn gut und laß ihn niemand lesen!“ Der Zar fuhr weiter, um in den anderen Klöstern Steuern einzutreiben. Iwan ging traurig seines Weges. Da kam ihm ein Greis entgegen, der an die hundert Jahre alt war, und sagte: „Guten Tag, Iwan!“ „Guten Tag, Onkelchen!“ „Wohin führt dich Gott?“ Da sagte Iwan: „Ich gehe in den Zarenpalast und bringe einen Brief hin.“ Da sagte der alte Mann: „Zeig ihn mir, diesen Brief!“ Iwan sagte: „Mir wurde befohlen, ihn niemandem zu lesen zu geben.“ Da sagte der alte Mann: „Ich werde ihn nicht lesen, ich will ihn nur anschauen.“ Der Alte schaute ihn an, gab ihn Iwan zurück und sagte: „Jetzt geh in den Palast!“ Als Iwan zum Palast kam, stand dort eine Wache, die ihn nicht durchließ. Als er aber sagte, daß 468
er einen Brief vom Zaren bringe, führte man ihn zur Frau des Zaren. Iwan gab ihr den Brief. Sie nahm ihn und las: „Noch bevor ich zurückkomme, soll eine große Feier stattfinden und dieser Iwan mit unserer Tochter verheiratet werden.“ Die Zarenfrau lud Gäste ein und veranstaltete die Hochzeit. Iwan heiratete und lebte im Palast als Schwiegersohn des Zaren. Als der Zar nach Hause kam, gingen ihm seine Frau, seine Tochter und ihr Mann Iwan entgegen. Da wunderte sich der Zar, und er sagte zu seiner Frau: „Ich habe dir doch in dem Brief geschrieben, daß du Iwan in eine Seifenfabrik bringen, in einen heißen Kessel werfen und zu Seife verkochen lassen sollst!“ Sie zeigte dem Zaren den Brief, den Iwan gebracht hatte. Der Zar staunte und begann vor Wut zu heulen. Er dachte bei sich: Was ist das nur? Da ist ja etwas anderes zu lesen, als ich geschrieben habe. Aber es ist meine Handschrift. Daran ist nicht zu zweifeln! Er fragte Iwan: „Wem hast du den Brief zu lesen gegeben?“ Iwan sagte: „Niemandem.“ Sie lebten nun zusammen im Palast, der Zar mit seiner Frau und die Zarentochter mit ihrem Mann, Iwan dem Zarensohn. Der Zar aber dachte nur immer: Wie kann man diesen Iwan nur umbringen? Da fiel dem Zaren ein, daß es einen großen Zauberer gab, der schon viele Leute umgebracht hatte, und er sagte: „Iwan, am Ende der Welt wohnt ein großer Zauberer, der mir keine Steuern 469
zahlt. Alle Leute zahlen, er aber nicht. Gehe hin, verlange hunderttausend Rubel und bringe drei goldene Haare von ihm und das ‚Weiß-selbstnicht-was’ mit!“ Da machte sich Iwan auf den Weg. Er ging und ging und kam zu einem Flüßchen. Er fand dort keine Brücke, aber dicht am Ufer des Flusses lag ein Boot, und in dem Boot stand ein Mann. Der Mann sagte: „Steig ein, Iwan Zarensohn!“ Sie fuhren bis in die Mitte des Flusses, und der Mann, der das Boot lenkte, sagte: „Wo willst du hin, Iwan Zarensohn?“ Iwan antwortete: „Zu dem großen Zauberer am Ende der Welt.“ Da sagte der Mann: „Denke dort auch an mich und frage, wie lange ich noch Fährmann bleiben soll!“ Iwan antwortete: „Gut, ich werde daran denken.“ Er stieg aus dem Boot und ging seines Weges. Er ging weiter und kam zu einem anderen Fluß. Er fand auch dort keine Brücke. Als er ins Wasser schaute, erblickte er darin etwas Riesiges, Schwarzes. Das war ein Walfisch. Iwan ging auf dem Walfisch über das Wasser. Als er in der Mitte des Flusses war, hörte er eine menschliche Stimme: „Wo willst du hin, Iwan Zarensohn?“ „Ich gehe zu dem großen Zauberer am Ende der Welt.“ Da sagte die Stimme: „Sei so gut und frage, bis wann ich hier bleiben muß!“
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Iwan antwortete: „Gut, ich werde mich erkundigen.“ Iwan überquerte den Fluß und ging weiter. Er ging und ging, da stand ein großer Baum am Wege. Als Iwan herangekommen war, fragte ihn der Baum mit menschlicher Stimme: „Wo willst du hin, Iwan Zarensohn?“ Iwan blieb stehen, erschrak und dachte bei sich: Wie ist das möglich, daß ein Baum spricht? Dann sagte er: „Ich gehe zu dem großen Zauberer am Ende der Welt.“ Der Baum sagte zu ihm: „Denke dort auch an mich und erkundige dich, bis wann ich hier stehen soll!“ Iwan sagte: „Gut“, und ging weiter. Er kam ans Ende der Welt, wo sich das Haus des großen Zauberers befand. Dieses Haus war ganz aus Gold. Iwan trat in das Haus ein. Dort war nur die Mutter des Zauberers. Sie fragte ihn: „Warum bist du hierhergekommen, Iwan Zarensohn?“ Iwan sagte: „Mich hat der Zar nach Steuern, nach drei goldenen Haaren und nach dem ‚Weißselbst-nicht-was’ hierhergeschickt.“ Und Iwan erzählte ihr von seinen Gesprächen mit dem Fährmann, dem Walfisch und dem Baum. Die Mutter des Zauberers war eine gute Frau. Sie nahm Iwan und versteckte ihn im Schrank. Nach einigen Stunden kam der Zauberer, ein Drache mit goldenen Haaren, herbeigeflogen und sagte: „Riecht es hier nicht nach russischem Atem?“ 471
Die Mutter antwortete ihm: „Nein, du hast nur russischen Atem gerochen, als du durch die Welt geflogen bist.“ Der Sohn beruhigte sich und setzte sich nieder, um Mittag zu essen. Er hatte die Gewohnheit, sich nach dem Mittagessen ein Kissen zu holen, bei der Mutter auf dem Schoß zu liegen und sich von ihr den goldenen Kopf kraulen zu lassen. Dabei ruhte er aus. Als der Zauberer sich zur Ruhe gelegt hatte und eingeschlafen war, zog ihm seine Mutter ein goldenes Haar aus. Er erwachte und sagte: „Hast du mir ein Haar herausgezogen?“ Sie sagte: „Ich bin eingeschlafen und habe geträumt.“ Er aber fragte sie: „Was hast du geträumt?“ Sie sagte: „Ich habe von einem Mann geträumt, der sein ganzes Leben lang Leute über den Fluß fährt und mich gefragt hat, wie lange er noch Fährmann bleiben soll.“ Der Zauberer antwortete: „Er soll sein Ruder einem anderen in die Hand geben. Dann wird der andere Fährmann, er aber ist frei.“ Da begann die Mutter, ihm weiter den goldenen Kopf zu kraulen. Er schlief wieder ein, und die Mutter riß ihm ein zweites goldenes Haar heraus. Er wachte auf und begann zu schreien: „Warum reißt du mir die Haare aus?“ Da sagte sie: „Ach, mein Söhnchen, was ich Furchtbares geträumt habe! So einen Traum habe ich noch nie gehabt.“ „Was hast du geträumt?“
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Sie sagte zu ihm: „Da liegt in einem Fluß ein riesiger Walfisch, über den man geht und fährt. Man sieht schon alle seine Rippen. Er hat mich gefragt, wie lange er noch da liegen soll.“ Da antwortete ihr der Sohn: „Er soll die zwölf Schiffe aus seinem Maul lassen, dann kann er ins Meer zurückkehren.“ Da begann die Mutter ihm wieder seinen goldenen Kopf zu kraulen. Als er eingeschlafen war, zog sie ihm das dritte Haar heraus, er wachte auf und begann sie zu schlagen. „Warum reißt du mir die Haare heraus, du Alte?“ Sie antwortete: „Ach, jetzt habe ich einen noch furchtbareren Traum gehabt. Solange ich auf der Welt lebe, habe ich so etwas Furchtbares noch nicht geträumt.“ „Was war das für ein Traum?“ Die Mutter sagte: „Da steht schon über tausend Jahre ein großer Baum und fragt mit menschlicher Stimme: ‚Bis wann soll ich hier stehen?’“ Der Sohn antwortete: „Die Männer, die an diesem Baum vorübergehen, wissen nicht, daß sie ihn mit einer Hand umstoßen und dadurch viel Geld gewinnen könnten.“ Als der Sohn sich ausgeruht hatte, bat er die Mutter um das „Weiß-selbst-nicht-was“. Sie gab es ihm. Er trank, machte sich auf den Weg und flog davon. Die Frau öffnete den Schrank und sagte zu Iwan: „Hast du gehört, was mein Sohn gesagt hat?“ „Ich habe es gehört.“ 473
Sie gab Iwan die drei goldenen Haare ihres Sohnes und das „Weiß-selbst-nicht-was“. Sie streichelte Iwan und sagte: „‚Weiß-selbst-nichtwas’, erscheine!“ „Was wird verlangt?“ fragte irgendeine Stimme. „Bring etwas zu essen und zu trinken!“ Und sofort stand alles auf dem Tisch, was das Herz begehrte. „Trink und iß, was du willst!“ Dann sagte die Frau: „‚Weiß-selbst-nicht-was’, räume alles ab, als wäre nichts gewesen!“ Und alles verschwand vom Tisch. Da nahm Iwan die drei Haare und das „Weißselbst-nicht-was“ mit und machte sich auf den Weg. Er kam zu dem Baum, stieß ihn mit der linken Hand an, und der Baum fiel auf die Erde. Unter dem Baum aber war eine Kiste. Iwan nahm diese Kiste, öffnete sie und fand darin hunderttausend Rubel in Gold. Er nahm die Kiste mit und ging weiter. Er kam zu dem Fluß, wo sich der Walfisch quälte. Er ging auf ihm bis in die Mitte des Flusses und hörte wieder die Stimme: „Nun, bis wann soll ich hier liegen?“ „Warte“, sagte Iwan, „bis ich auf der anderen Seite des Flusses bin, dann sage ich es dir!“ Als er über den Fluß gelangt war, sagte er: „Spuck die zwölf Schiffe aus deinem Maul, dann kannst du ins Meer schwimmen!“ Als die zwölf Schiffe aus dem Maul des Walfisches herausgekommen waren, schlug er mit der Schwanzflosse und schwamm schnell ins Meer. Die Kapitäne und Matrosen auf
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den zwölf Schiffen begrüßten Iwan und warteten auf seine Befehle. Iwan gab den Schiffen Befehl, zur Zarenhauptstadt zu fahren. Er selbst aber machte sich wieder auf den Weg, auf dem er hergekommen war. Er kam zu dem anderen Fluß, setzte sich in das Boot und überquerte ihn. Der Fährmann fragte ihn: „Nun, wie ist es? Hast du dich erkundigt, wie lange ich Fährmann bleiben muß?“ Iwan sagte: „Wenn du mich an das andere Ufer gebracht hast, sage ich es dir.“ Als Iwan auf der anderen Seite war, sagte er: „Gib dein Ruder einem anderen in die Hand! Dann kannst du fortgehen, und der andere wird Fährmann.“ Iwan ging weiter seines Weges. Da kam ihm ein Mann entgegen. „Guten Tag, Iwan Zarensohn!“ „Guten Tag!“ „Iwan Zarensohn, hast du nicht ein Stück Brot bei dir? Ich habe Hunger.“ Iwan sagte: „Ich gebe dir gleich etwas zu essen.“ Iwan rief nach dem „Weiß-selbst-nicht-was“: „Bringe etwas zu trinken und zu essen!“ Da erschien ein Tisch, und auf ihm war alles, was das Herz begehrte, zu trinken und zu essen. Sie setzten sich beide hin und tranken und aßen. Dem Mann gefiel das „Weiß-selbst-nicht-was“, und er sagte zu Iwan: „Laß uns tauschen. Ich habe Sachen, die dir gefallen werden, ein Beil und eine Trompete. Wenn du mit dem Beil hackst, entstehen Schiffe, und wenn du die Trompete bläst, kommt ein Heer aus den Schiffen.“ 475
Iwan dachte: Diese Sachen kann ich gut gebrauchen. Aber er scheute sich zu tauschen. Da sagte das „Weiß-selbst-nicht-was“ leise zu ihm: „Tausche ruhig, ich bleibe bei dir.“ Da tauschte Iwan das „Weiß-selbst-nicht-was“ gegen das Beil und die Trompete ein, und sie gingen auseinander. Als Iwan einige Werst gegangen war, fragte er: „‚Weiß-selbst-nicht-was’, bist du da?“ „Ja!“ So kam Iwan in den Zarenpalast, gab dem Zaren die hunderttausend Rubel, die drei Haare und das „Weiß-selbst-nicht-was“. Der Zar freute sich gar nicht über das „Weiß-selbst-nicht-was“, sondern dachte nur immer: Wie kann ich dich nur umbringen, Wanka? Er fand keine anderen Mittel mehr, als den Soldaten zu befehlen, Iwan zu erschlagen. Als er dies seiner Frau sagte, hörte seine Tochter alles. Sie hatte Mitleid mit ihrem Mann. Sie ging ins andere Zimmer und erzählte Iwan, was ihr Vater machen wollte. Iwan sagte: „Es wird nicht dazu kommen. Ich habe keine Angst.“ Die Soldaten des Zaren wollten Iwan umbringen. Iwan ging zum Meer, nahm das Beil und hackte, und mit jedem Hieb entstand ein Schiff. Als er vierzig Schiffe gemacht hatte, nahm er die Trompete und blies, und aus den Schiffen kam ein Heer. Dem Heer gab er das Kommando: „Mir nach, vorwärts!“
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Iwan zog mit dem Heer vor den Zarenpalast. Der Zar sah, daß seine Sache schlecht stand. Er ging zu seinem Schwiegersohn Iwan, fiel vor ihm auf die Knie und flehte ihn an: „Schenk das alles mir! Ich werde dir nichts mehr tun!“ Iwan schenkte es ihm, und sie lebten wieder zusammen im Palast. Iwan kommandierte das ganze Heer des Zarenreiches, und der Zar trieb nur noch die Steuern ein. Als Iwans zwölf Schiffe in der Zarenhauptstadt angekommen waren, luden die Matrosen das Gold aus. Eine ganze Woche hatten sie damit zu tun, und alle Keller im Palast wurden vollgeschüttet. Da fragte der Zar seinen Schwiegersohn: „Wo hast du nur das viele Gold her?“ Iwan antwortete: „Geht dorthin, wo ich war, dann werdet Ihr auch welches bekommen!“ Der Zar machte sich auf den Weg. Er kam zum Fluß und fand keine Brücke. Da sah er am Ufer des Flusses ein Boot liegen, in dem ein Mann stand. Der Zar sagte zu ihm: „Sei so lieb und fahre mich hinüber!“ „Steigt ein, Väterchen Zar!“ Als sie ans andere Ufer gekommen waren, gab der Mann dem Zaren das Ruder in die Hand und ging seines Weges. Der Zar aber muß bis zum heutigen Tag die Leute über den Fluß rudern.
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33 Feuer im Herzen und Verstand im Kopf Das ist schon lange her. Ich war damals noch ein kleines dummes Mädchen, und eine alte Frau erzählte uns allerlei Märchen und Geschichten. Sie sagte, daß sie diese Geschichten von ihrem seligen Großvater gehört habe, als sie selbst noch ein kleines Mädchen war. Viele Märchen hat sie uns erzählt, und solch schöne, daß man nicht genug davon hören konnte. Aber ich habe sie vergessen, denn, meine lieben Kinder, ich lebe schon lange. Vielleicht werde ich bald neunzig Jahre alt. Seht nur, wie ich krumm geworden bin wie ein zusammengebogener Ast. Früher war ich eine junge Frau wie Milch und Blut, und als ich noch als Mädchen herumlief, da schlug mir der Zopf an die Waden. Manchmal saßen wir fast die ganze Nacht bei einem Kienspan auf dem Hof und spannen so feine Fäden, daß man ein Hemd aus ihnen durch einen Ring hätte ziehen können. Da saßen wir, und eine Alte erzählte uns Märchen, damit wir nicht einschliefen. – Ja, jetzt hat Gott meinem Gedächtnis nachgeholfen, und mir ist ein Märchen eingefallen. Hört also, wie das war. Es war einmal ein Mann, der war sehr neugierig und wollte alles wissen. Wohin er auch schaute, was er auch sah, immer fragte er, was das sei, wozu und warum. Die Leute sagten es ihm. Aber 478
wenn auch sie es nicht wußten, dann sagten sie zu ihm: „Du bist ein wunderlicher Mensch. Du kannst noch soviel fragen und wirst doch als Dummkopf sterben, denn alles erfährst du doch nicht!“ Er hörte nicht auf die Menschen, verließ seine Wirtschaft und ging hinaus in die Welt. „Ich will zur hellen Sonne gehen“ sagte er, „sie scheint auf alles und sieht alles. Also weiß sie auch alles. Ich werde sie fragen, warum das so und so auf der Welt ist.“ So ging er und ging, da sah er am Wege einen Mann auf einem Stein sitzen, der immerzu schrie und fragte: „Wie lange werde ich noch hier sitzen?“ Und dieser bat ihn, die Sonne zu fragen, wann er aufstehen könne. Der Mann ging weiter und sah, wie ein Mann einen Zaun abstützte. Er sah es, aber er kümmerte sich nicht weiter darum. Er ging weiter und sah zwei Frauen in einem Fluß Wasser schöpfen. Es interessierte ihn, aber er wußte nicht, weshalb sie es taten, und ging weiter. Er war schon ganz dicht an die Sonne herangekommen, dort, wo sie aus der Erde hervorkommt und den Himmel hinaufklettert. Da sah er, wie ein Mann im Müll wühlte. Er ging weiter, und als er durch den Wald schaute, mußte er die Augen zukneifen, so hell war es dort. Er ging näher heran und sah den goldenen Palast der Sonne wie Feuer glänzen. Mit letzter Kraft und von dem Glanz fast blind, ging er hinein. Da traf er die Mutter der Sonne. Sie fragte ihn, warum er gekommen sei. „Ich bin zur Sonne gekommen“, sag479
te er, „um sie zu fragen, warum das so und so auf der Welt ist.“ Sie antwortete, daß die Sonne gerade zum Himmel aufgestiegen sei, um die Erde zu betrachten: „Warte, sie kommt bald zurück!“ Der Mann zündete ein Feuer an, setzte sich, wärmte sich und briet Speck am Spieß. Er aß sich an Speck und Brot satt. Da bekam er Durst. Er ging zum Fluß, um zu trinken. Er hatte sich gerade über das Wasser gebeugt, als ein sehr hübsches Mädchen herauskam. Sie blickte ihn an, und er blieb wie versteinert stehen. Er stand da, schaute sie an und konnte die Augen nicht von ihr wenden. Er gefiel dem Mädchen, und sie sagte zu ihm: „Trinke kein Wasser aus dem Fluß, sonst verbrennt dich die Sonne!“ Sie führte ihn unter eine alte Eiche, wo eine Quelle war. Er beugte sich nieder und trank das reine kalte Wasser. Soviel er auch immer trank, er konnte sich nicht sattrinken und wollte immer mehr. „Hör auf zu trinken!“ sagte das Mädchen, „denn man muß in allem gut Maß halten. Du willst wissen, warum alles so ist und nicht anders, weißt aber nicht, daß es leichter ist, alles Wasser auszutrinken als alles zu wissen. Du hast ein bißchen getrunken, du wirst also leben, ein bißchen die Welt ansehen und alles Notwendige wissen.“ Er sah, wie die Sonne vom Himmel in ihren Palast herabstieg, und hätte dorthin gehen müssen,
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aber er konnte die Augen nicht von jenem Mädchen wenden. Da sagte sie: „Jetzt ist mein Vater1 nach Hause gekommen. Aber sag ihm nicht, daß du mich gesehen hast und was du erfahren hast!“ Sie erhob sich in die Lüfte und glänzte dort als schöner Stern. Er ging zu der Sonne in den Palast. Die Sonne sah, daß ein Mensch es gewagt hatte, zu ihr zu kommen, und sie begann ihn zu braten, daß die Wand ringsherum zitterte. Er aber hatte kaltes Wasser getrunken, und so geschah ihm nichts. Die Sonne wurde wütend und rief ihn noch näher zu sich heran. Er zog die Mütze über die Augen und trat näher. Als die Sonne sah, daß sie nichts tun konnte mit dem hartnäckigen Menschen, fragte sie, was er wolle. Er erklärte der Sonne, warum er gekommen war, und sie sagte: „Wenn du alles erfahren hast, stirbst du bald.“ Dabei leuchtete sie ihm in den Kopf. Da fühlte er zwar, daß er viel wußte, aber der Kopf brannte, und das Herz war kalt wie Eis. Er ging von der Sonne fort und traf die Mutter der Sonne. Sie sagte: „Du wirst sterben, Mensch, wenn du nicht das Herz erwärmst, denn ohne Herz verbrennt der Kopf.“ Er erführ, wie man das Herz erwärmt, suchte jenes Mädchen am Himmel und rief sie herunter. 1
Gemeint ist die Sonne, die im Russischen als männliches Wesen betrachtet wird, die Sterne dagegen als weiblich. (Anm. d. Übers.)
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Sie hörte es, der Stern fiel schnell vom Himmel herab, und das hübsche Mädchen war wieder bei ihm. Da begann es in seinem Herzen zu brennen, und er fühlte, solange es dort brennt, würde er wissen, wie es auf der Welt zugeht. Sie ließen sich trauen und gingen in sein Land. Als sie zu der Stelle kamen, wo der Mann im Müll herumwühlte, sagte er: „Oh, Mensch, du suchst im Müll verlorenes Geld und vergeudest unnütz Zeit. Geh und tue deine Arbeit, dann verdienst du schneller Geld!“ Der Mann sah seinen Fehler ein und schaffte und arbeitete von nun an. So erwarb er sich eine Bauernwirtschaft und Geld für alles, was er haben wollte. Das Mädchen und der Mann gingen weiter, bis sie zu den Frauen kamen, die immer noch Wasser schöpften. Der Mann erklärte ihnen: „Soviel ihr auch schöpft, Wasser wird immer da sein, und soviel ihr auch redet, ihr habt doch nichts zu sagen!“ Sie gingen weiter und kamen dorthin, wo der Mann den Zaun abstützte. Da sagte er zu ihm: „Stütz im Leben nichts Verfaultes ab, denn es fällt doch um!“ Schließlich gingen sie zu dem Mann auf dem Stein und gingen an ihm vorbei. Sie gingen ein Stückchen weiter und riefen ihm von weitem zu: „Du sitzt so lange hier, bis sich ein anderer hersetzt, denn das Leben bestimmt für jeden seinen Platz!“ So kamen sie in ihr Land und erreichten das Dorf, in dem er wohnte. Aber seine herrenlose 482
Hütte war schon abgerissen, die Bauern hatten Brennholz aus ihr gemacht. Da war nichts mehr zu machen, sie mußten sehen, wie sie weiterleben konnten. Der Mann baute ein Haus, um eine Bauernwirtschaft zu gründen. Nach einiger Zeit hatten sie es geschafft, führten ein gutes Leben und wurden immer reicher. Die Menschen wunderten sich, daß sie so gut zusammen lebten und sich nie zankten. Als sie den Mann danach fragten, antwortete er: „Wir leben so gut, weil wir Feuer im Herzen und Verstand im Kopf haben.“
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34 Die Glücksblume Es war einmal ein kleiner Junge, der hieß Janko. Sein Vater war gestorben, und seine Mutter war sehr arm. Sie hatten nichts zu essen. Da beschloß Janko, in die Welt hinauszuwandern, um das Glück zu suchen. Er ging und ging und kam schließlich an einen Kreuzweg. Dort saß ein alter Mann unter einer hundertjährigen Eiche mit einem Buch und las. Der Alte fragte ihn: „Wo willst du hin, Janko?“ Er sagte: „Mein liebes Großväterchen, ich gehe das Glück suchen. Rate mir, welchen Weg ich am besten wählen soll!“ Der Alte sagte zu ihm: „Diene mir ein Jahr und sechs Wochen ohne Pause, dann sage ich dir den Weg zum Glück!“ Der Junge sagte zu. Er diente die ganze Zeit fleißig und ehrlich und war gehorsam. Dann pflückte der Alte eine Blume, gab sie ihm in die Hand und sagte: „Trage diese Blume auf der Brust, sie wird dir den Weg zum Glück zeigen. Wenn du etwas brauchst, dann faß diese Blume an, und alles wird nach deinem Wunsche geschehen!“ Der Junge steckte die Blume an die Brust, bedankte sich und verließ den Alten.
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Janko kam zu einem König, der große Trauer hatte. Seine Tochter war von einem Zauberer aus dem Garten entführt worden. Die Königstochter war spazierengegangen, und der Zauberer hatte sie ergriffen und mitgenommen, niemand wußte wohin. Dieser Zauberer hieß Kokaz. Sein Bart reichte bis zum Nabel, er fegte damit seine Hütte aus und kehrte mit den Armen den Müll zusammen. Janko ging zum König, um ihn zu trösten und ihm zu sagen, daß er ihm helfen könne, seine Tochter wiederzubekommen. Die Posten aber ließen ihn nicht in das Zimmer des Königs. Sie sagten: „Der König hat Trauer. Er ist krank.“ Janko antwortete: „Ich möchte mit dem König sprechen. Ich möchte den König trösten und ihm sagen, daß ich die Königstochter zurückbringe, lebend oder tot.“ Da sagten die Wächter zu ihm: „Du Landstreicher, du Einfaltspinsel im Leinenkittel wirst gar nichts machen können! Verdreh den Leuten nicht die Köpfe!“ Janko aber sprach leise zu der Blume und faßte sie an. Da verwandelte er sich augenblicklich in eine Ameise und verschwand. Die Wächter erschraken und schrien: „Der Teufel hat ihn unseren Händen entrissen. Gehen wir schnell ein Vaterunser beten!“ Die Ameise aber kroch und kroch und kroch durch einen Spalt bis zum Bett des Königs. Dort verwandelte sie sich wieder in den Jungen. Er fiel vor dem König auf die Knie und sagte: „Lieber 485
König, ich verspreche Euch, die Königstochter lebend oder tot zurückzubringen!“ Der König antwortete: „Ach, dabei sind schon ganz andere Ritter umgekommen, und von ihnen fehlt jede Spur. Nun, so reise und versuche dein Glück! Wenn du meine Tochter findest, erhältst du einen Haufen Gold, das halbe Königreich und wirst mein Schwiegersohn.“ Janko sagte etwas zu der Blume, und sofort verwandelte er sich in einen Adler, erhob sich hoch in die Lüfte und flog fort, die Königstochter zu suchen. Die Königstochter war auf einer Insel im Meer auf einem gläsernen Berg in einem goldenen Palast eingesperrt, und kein Mensch konnte zu ihr gelangen. Wer zu ihr wollte, kam unterwegs um. Der Adler flog auf den Glasberg und verwandelte sich dort in eine Ameise. Die Ameise kroch durch einen Spalt zur Königstochter. Dort wurde Janko zu einem mit einem Eisenpanzer gerüsteten Ritter. Plötzlich erzitterte die Erde, und der Zauberer Kokaz kam angeflogen. Er hatte den Menschen gerochen. Er kam angeflogen, griff nach dem Messer und stieß es Janko in die Brust. Janko aber riß das Messer heraus und sagte: „Du hast ein gutes Messer, aber meine Rüstung kannst du damit nicht durchdringen! Wird sich das Messer verbiegen, wenn ich es dir ins Herz steche?“ Und Janko tötete den Zauberer mit dem Messer. Er schlug ihm den Kopf ab, die Königstochter machte er zu einer Ameise und sich selbst auch, 486
und sie krochen beide durch den Spalt in die Welt hinaus. Dann verwandelte sich Janko in einen Adler, setzte die Königstochter auf seine Flügel und brachte sie zu ihrem Vater. Der König freute sich sehr und kam ihnen mit Musik entgegen. Janko heiratete die Königstochter, und der König gab ihnen, wie versprochen, die Hälfte des Königreiches und einen Sack Gold. Da erinnerte sich Janko, daß er seine Mutter ohne Brot gelassen hatte. Er wollte der Mutter Gold bringen, aber er fand sie nicht mehr am Leben. Sie war bereits vor Hunger gestorben. Nur ihr Sohn hatte das Glück gefunden.
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35 Das liebe ich gerade!1 Es war einmal eine stolze und schöne Königstochter. Viele Freier kamen zu ihr. Sie aber wies jeden ab. Die Schönheit dieser Königstochter war jedoch ungewöhnlich. Wer sie ansah, der mußte sterben. Sein Herz zersprang ihm, und er starb. Lange Zeit quälte sie so die Menschen und heiratete nicht. Da bewarb sich einmal ein Zauberer um sie. Der war sehr schön. Sie gewann ihn lieb, aber auch ihn wollte sie nicht heiraten. „Ich heirate nicht!“ sagte sie. „Ich will, daß noch mehr Menschen meinetwegen sterben!“ Da verwandelte sich dieser Zauberer in einen Teufel und kam zu ihr während eines Balles. Er stieg durchs Fenster, packte sie in Gegenwart der Gäste mit seinen Krallen und trug sie davon, und niemand wußte, wohin. Die Gäste und Verwandten der stolzen Königstochter schrien und weinten. Der Zauberer brachte die Königstochter in einen großen Wald, warf sie auf eine Wegkreuzung und sagte: „Du wirst hier so lange sitzen, bis
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Wortspiel, das im Deutschen nicht gänzlich wiederzugeben ist. Das belorussische Wort „Ljublju“, der Name dieses Märchens, bedeutet sowohl „ich liebe (dich)“ als auch, ironisch gemeint, „das liebe ich gerade!“ (Anm. d. Übers.)
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sich einer findet, der zu dir sagt: ‚Das liebe ich gerade!’“ Und viele Jahre lang mußte sie sich dort in allerlei Gespenster verwandeln und die Menschen erschrecken. Jedem, der vorbeiging oder vorbeifuhr, tat sie Böses an. Auf alle erdenklichen Arten jagte sie den Menschen Angst ein. Einmal fuhr ein Mann dort vorbei, der war blind, hinkte und hatte einen Buckel. Auch ihm machte sie die Räder und seinen Wagen entzwei. Der Mann aber hatte die Gewohnheit, immer zu sagen: „Das liebe ich gerade!“ Sie konnte machen, was sie wollte, er ärgerte sich nicht, sondern sagte nur immer: „Das liebe ich gerade!“ Da verwandelte sie sich wieder in eine Königstochter, so schön, wie sie vorher gewesen war, fiel ihm um den Hals, küßte ihn und sagte: „Du hast mich von der Qual erlöst, und jetzt muß ich dich dafür heiraten, daß du mich liebst!“ Und da mußte sie mit ihrer ungewöhnlichen Schönheit diesen ungeratenen Menschen heiraten.
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36 Wie der Teufel ein Mädchen fing Es war einmal ein hübsches Mädchen. Als einst ein Freier zu ihr kam, sagte sie: „Lieber heirate ich den Teufel als dich!“ Da ging der Freier wieder fort. Am nächsten Abend kam der Teufel zu ihr und sagte: „Heirate mich!“ Sie antwortete: „Nein, ich habe eine kranke Mutter.“ Da sagte der Teufel: „Deine Mutter stirbt morgen.“ Und die Mutter starb. Am nächsten Abend kam er wieder. „Mädchen, komm mit spazieren! Ich bin gekommen, um dich zu holen.“ Sie aber sagte: „Ich kann nicht mitkommen, denn meine Schwester ist krank.“ „Morgen stirbt auch deine Schwester.“ Und die Schwester starb. Als der Teufel wieder rief: „Mädchen, komm mit spazieren!“, sagte sie: „Mein Bruder ist krank.“ Der Teufel sagte: „Dein Bruder stirbt auch.“ Da starb auch der Bruder. Der Teufel kam wieder und rief: „Mädchen, Mädchen, komm mit!“ Sie sagte: „Ich kann nicht mitkommen, denn ich bin selber krank.“ 490
„Morgen stirbst du.“ Und als er am anderen Morgen kam, da war sie nicht mehr da, denn sie war gestorben. Er fragte die Schwelle: „Schwelle, Schwelle, hat man eine Tote über dich getragen?“ Die Schwelle aber antwortete: „Nein!“ Da fragte er die Bank: „Bank, Bank, hat eine Tote auf dir gelegen?“ Die Bank antwortete: „Ja!“ „Und wo ist sie jetzt?“ Er fragte den Tisch: „Tisch, haben auf dir Hostien gelegen?“ „Ja!“ Der Teufel konnte nicht herauskriegen, wo das Mädchen hingekommen war. Sie war unter dem Fenster begraben worden. Durch die Tür hatte man sie nicht hinausgetragen, damit der Teufel sie nicht findet. Der Teufel kam am Abend wieder und rief abermals: „Mädchen, Mädchen, komm mit spazieren!“ Es gab keine Antwort. Da sah der Teufel eine Blume auf dem Tisch stehen. Als der Teufel weggegangen war, stieg in der Nacht das Mädchen aus der Blume. In das Haus waren aber schon andere Leute eingezogen. Sie hatten am Abend Essen auf den Tisch gestellt und sahen am Morgen, daß nichts mehr da war und daß der Löffel umgedreht war. Am nächsten Abend sagten sie: „Wir werden aufpassen!“ Sie paßten auf, und wieder stieg das Mädchen aus der Blume. Ein wunderhübsches Mädchen!
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Als es aus der Blume herausgestiegen war, faßten sie es am Zopf. Da erzählte das Mädchen den Leuten ihr Unglück. Als das Mädchen in der nächsten Nacht aus der Blume herauskam, kam der Teufel gesprungen und sagte: „Mädchen, komm mit!“ Sie aber sagte: „Ich komme nicht mit!“ und lief schnell davon. Sie versteckte sich in der Kirche beim Allerheiligsten. Am nächsten Tag wurde die Messe gelesen. Die Leute kamen aus der Kirche und gingen auf den Hof. Auch das Mädchen kam heraus. Der Teufel fing sie bei der Kirche und zerrte sie fort. Weil sie den Bräutigam abgelehnt hatte und gesagt hatte, daß sie lieber den Teufel heiraten wollte, war sie nun dem Teufel verfallen. Obwohl sie gestorben war und sich so gut versteckt hatte, hatte sie der Teufel doch gefangen.
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37 Der Musikant Klimjata und die Teufel Oft sind die Menschen hinter fremdem Gut und großem Reichtum her, aber wenn sie sterben, dann bleibt doch alles hier. Sie können nichts mit sich in jene Welt nehmen, sondern beladen ihre Seelen nur mit Sünden. So war einmal ein Mann sehr gierig auf fremdes Gut und hatte unzählige Reichtümer angesammelt. Da starb er. Man legte ihn in einen Sarg und stellte ihn in die Kirche. Als die Leute am anderen Tag kamen, um ihn zu begraben, da sahen sie, daß er aus dem Sarg in die Erde gesunken war. Die Erde hatte die Last seiner Sünden nicht ausgehalten. Nur ein Loch war in der Erde geblieben. Da weinte seine Frau um ihn und wollte gern wissen, wie es ihm dort in jener Welt erging und welche Qualen er zu erleiden hatte. Sie nahm einen Teller mit Geld, ging auf den Markt und hielt Ausschau nach einem Freiwilligen, der in jene Welt hinuntersteigen und ihr Nachricht von ihrem Mann bringen sollte. Er sollte dann als Belohnung den Teller mit dem Geld erhalten. Da meldete sich der arme Musikant Klimjata. „Egal, ob ich aus jener Welt zurückkomme oder nicht“, dachte er bei sich, „meine Kinderchen werden nicht hungern.“ Er beschloß es zu tun und nahm den Teller mit dem Geld. Da bestellte die 493
Witwe Sattler, und diese begannen Ochsenhäute zu Riemen zu zerschneiden und zusammenzunähen. An die Riemen banden sie eine Kiste. Klimjata setzte sich in die Kiste, er hatte einen Sack Brot und eine Geige mitgenommen. Wenn ich in jener Welt traurig werde, dachte er bei sich, dann werde ich Geige spielen und meine Seele damit ermuntern. Nun begannen sie die Kiste an den Riemen in jene Welt hinabzulassen. Sie ließen ihn immer tiefer hinab, aber da reichten die Bänder nicht mehr. Sie machten sie immer länger, bis sie merkten, daß Klimjata bereits auf festem Boden stand. Klimjata stieg aus der Kiste und ging los. Er ging und ging, ringsum sah er Feld und über sich den Himmel (dort ist doch unsere Erde der Himmel). Er ging und ging, bis er einen Palast stehen sah. Klimjata ging zu dem Palast, aber keine Menschenseele war zu sehen. Er setzte sich auf die Treppe. „Vielleicht sehe ich jemanden“, dachte er. Als er da so saß, sah er Staubwolken. Dort fuhr ein Hochzeitszug. Die Kutscher trieben die Pferde, denen schon der Schaum vorm Maul stand, mit eisernen Ruten an. Herren und Damen fuhren an die Treppe heran, sprangen aus den Wagen und gingen an Klimjata vorbei in den Palast. Dabei sahen sie ihn an, lachten und freuten sich. Da sagte ein Pferd zu Klimjata: „Bist du gekommen, um mich zu besuchen, Klimjata? Sieh nur, welche Qualen ich erdulden muß durch meine Habsucht. Ich muß die Teufel fahren. Das sind keine Herren, sondern Teufel. Sie feiern jetzt Hochzeit und ha494
ben sich sehr gefreut, als sie dich mit der Geige gesehen haben. Sie werden dich jetzt zum Spielen auffordern. Sag nicht nein, denn sonst kommst du nicht fort von hier. Wenn die Teufel so richtig ausgelassen sind, dann zerbrich plötzlich die Geige. Sie werden dir eine neue geben, du aber sag, daß sie unhandlich ist und daß es unbequem sei, auf ihr zu spielen. Dann werden sie dich mit einem Teufel in die andere Welt schicken, damit du dir eine neue Geige kaufen kannst. Du aber greif dir eine getaufte Seele und laß dir das Kreuz auflegen. Erzähle meiner Frau, wo ich hingekommen bin, und sage ihr, daß sie all meinen Reichtum an die Armen verteilen soll. Mögen sie für meine Seele zu Gott beten!“ Als das Pferd seine Rede beendet hatte, da riefen sie Klimjata auch schon in den Palast, um der Hochzeitsgesellschaft aufzuspielen. Da war nichts zu machen. Klimjata spielte, und die Teufel sprangen umher, daß der Palast erzitterte. Als sie so richtig ausgelassen waren, warf Klimjata die Geige auf den Boden, und sie ging entzwei. „Was hast du da gemacht, du Räuber?“ schrien die Teufel ihn an. „Warum hast du die Geige zerbrochen?“ „Das war unabsichtlich, meine lieben Herren, sie ist mir aus der Hand gefallen“, sagte Klimjata. Sie gaben Klimjata eine andere Geige. Er versuchte auf ihr zu spielen. Aber es ging nicht. „Sie ist unhandlich“, sagte er, „es läßt sich schlecht spielen auf ihr. Ich muß mir eine in der anderen Welt aussuchen, auf der ich spielen kann.“ Weil 495
die Teufel so viel Vergnügen daran hatten, wollten sie sich die Hochzeit nicht verderben lassen. Sie riefen einen buckligen Teufel, setzten Klimjata auf seinen Buckel und schickten beide in die andere Welt, um eine Geige zu kaufen. Klimjata saß kaum auf dem Buckel des Teufels und hatte gerade einmal mit den Augen gezwinkert, da war er schon in der anderen Welt. Er ging mit dem Teufel eine Geige aussuchen und trat in einen Laden, wo eine Frau mit geweihten Bändern und Kreuzchen handelte. Klimjata warf sich ihr an den Hals und schrie: „Ach, meine liebe Alte! Rette mich vor dem Teufel!“ Da hing ihm die Frau schnell ein Kreuz um, und der Teufel verschwand in der Erde. Klimjata aber ging und erzählte der Witwe, wie es ihrem Mann in jener Welt ergehe und was für einen Auftrag er ihr gegeben hatte.
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38 Der Zaubermusikant Es war einmal ein Musikant, der hatte seit seiner Kindheit nichts anderes getan als gespielt. Schon als Junge hatte er sich, wenn er die Ochsen oder Pferde hütete, aus Weidenruten Schalmeien gemacht, und wenn er zu spielen begann, hörten die Ochsen auf zu weiden, spitzten die Ohren und horchten. Im Wald verstummten die Vögel, und nicht einmal die Frösche quakten mehr. Im Sommer, wenn die Nächte schwül und warm waren, brachten die Jungen und Mädchen aus dem ganzen Dorf die Pferde in den Eichenwald, trieben Unfug dort, lachten und sangen Lieder, denn bekanntlich ist die Jugend immer lustig. Aber wenn der Musikant an der nächtlichen Lagerstätte der Pferde auf seiner Schalmei zu spielen begann, dann verstummten gleich alle. Da schien es ihnen, als ob sich ihr Herz mit Wonne füllte und sie eine Kraft an den Schultern packte und sie immer höher trag – zu den klaren Sternen in den blauen weiten Himmel. Dann saßen sie, dachten an nichts, vergaßen, daß ihre Hände und Füße von der schweren Arbeit wehtaten und daß ihnen vor Hunger der Magen knurrte. Sie saßen nur und hörten zu und hätten gerne so das ganze Leben dort gesessen und dam Spiel des Musikanten gelauscht. Wenn er verstummte, wagte sich nie497
mand zu bewegen, um nicht den Klang zu stören, der wie Gesang, wie Lerchentrillern durch den Eichenwald zog und zum Himmel emporstieg. Wenn der Musikant etwas Trauriges spielte, weinten der Wald und der Eichenhain, eine Wolke zog auf, und der Himmel vergoß Tränen. Männer und Frauen, die auf dem Heimweg spät vorbeigingen und diese Musik hörten, blieben stehen, lauschten und weinten, ihr ganzes bitteres Leben erstand vor ihren Augen, und es überkam sie eine so große Trauer, daß auch die Bauern, die alten bärtigen Bauern weinten wie Frauen bei der Beerdigung oder wenn sie ihre Söhne zu den Soldaten begleiten. Aber wenn nach einiger Zeit der Musikant nach dem Traurigen wieder etwas Lustiges spielte, da ließen die Männer und Frauen die Sensen, die Rechen, die Gabeln, die Töpfe und die Flaschen stehen, faßten sich an und begannen zu tanzen. Da tanzten die kleinen Kinder, da tanzten die Büsche und der Wald, da tanzten die Sterne, da tanzten die Wolken, alles tanzte und lachte. So einer war der Zaubermusikant; er machte mit den Herzen, was er wollte. Der Musikant wuchs heran, baute sich eine Geige und zog in die Welt hinaus. Wohin er kam, spielte er, und dafür gab man ihm zu essen und zu trinken, bewirtete ihn wie den liebsten Gast und gab ihm noch etwas auf den Weg mit. Lange zog der Musikant so durch die Welt, erfreute die guten Menschen, und die Bösen stach er ohne Messer ins Herz.
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Als der Musikant einmal durch den Wald ging, hetzten die Teufel zwei hungrige Wölfe auf ihn. Diese versperrten dem Musikanten den Weg, standen da und fletschten die Zähne, und ihre Augen brannten wie glühende Kohlen. Der Musikant hatte nichts in den Händen, nur die Geige unter der Jacke in einem Sack. Was war da zu tun? Der Musikant überlegte, was er machen sollte. Sein Ende schien gekommen zu sein. Da holte er die Geige und den Geigenbogen aus dem Sack, um noch ein letztes Mal zu spielen, lehnte sich an den Baum und strich mit dem Bogen über die Saiten. Die Geige sprach, als ob sie lebte, der ganze. Wald erklang. Er schien den Atem anzuhalten, bewegte nicht ein Blatt, und die Wölfe standen mit aufgerissenen Mäulern wie versteinert da. Sie standen da und lauschten, und die Tränen liefen ihnen nur so aus ihren Wolfsaugen. Als der Musikant zu spielen aufhörte, liefen die Wölfe wie im Schlafe zurück in den Wald. Der Musikant ging weiter. Er ging und ging und kam zu einem Fluß. Die Sonne war bereits hinter dem Walde untergegangen, nur die Baumspitzen beleuchtete sie noch und übergoß sie mit Gold. Es war still wie in einem Ohr, und nicht ein Blättchen bewegte sich. Es war ein sehr schöner Abend. Der Musikant setzte sich auf einen Stein am steilen Ufer des Flusses, holte seine Geige heraus und begann zu spielen, so schön, daß ihm der Himmel, die Erde und das Wasser zuhörten und alle zu tanzen begannen. Die Sterne flimmerten wie Schneeflocken im Winter. Die Wolken segelten am 499
Himmel entlang wie Schwalben vor dem Regen, und die Fische gerieten so außer Rand und Band, daß der Fluß siedete wie Wasser im Topf. Aber als sich der Nixenkönig im Fluß erhob und zu tanzen begann, da schwoll das Wasser dermaßen, daß es die Ufer überschwemmte und die Teufel erschraken und davonliefen. Als sie sahen, daß sie nirgends vor dem Musikanten Ruhe haben würden, da überlegten sie schnell, wie sie ihn umbringen könnten. Als der Musikant bemerkte, daß der Nixenkönig den Menschen viel Leid zufügte, hörte er auf zu spielen, legte seine Geige in den Sack und wollte weitergehen. Da traten zwei Herren zu ihm und baten ihn, auf einer Feier zu spielen. Sie versprachen ihm so viel zu zahlen, wie er haben wollte. Der Musikant dachte daran, daß er noch kein Nachtlager hatte und auch kein Geld, darum hörte er auf die Herren und ging mit ihnen, um abends zum Tanz aufzuspielen. Die Herren brachten den Musikanten in einen Palast. Dort waren viele Herren und Damen. Gerade als er anfangen wollte zu spielen, sah er alle diese Herrschaften an einen Tisch laufen, den Finger in eine Schüssel stecken und sich über die Augen streichen. Er tat das auch, und als er es getan hatte, da sah er, daß das keine Herren waren, sondern Teufel und Hexen und daß er nicht in einem Palast, sondern im Fegefeuer war. Da begann er so laut zu spielen, daß das ganze Fegefeuer auseinanderflog und die Teufel über die ganze Welt verstreute.
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Seit der Zeit fürchten die Teufel sich vor dem Musikanten und rühren ihn nicht mehr an.
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39 Der Musikant und die Eidechse Es war einmal ein armer Bauer, der hatte kein Glück im Leben. Seine Wirtschaft gedieh nicht, das Vieh vermehrte sich nicht, die Kinder waren krank, seine Frau war zänkisch, und in seiner Hütte herrschten immer Unruhe und Streit. Er hatte aber ein Glück, und das war seine Geige. Er war ein guter Musikant. Wenn er eine freie Stunde hatte, nahm er sie, ging hinter die Scheune auf einen Hügel, setzte sich auf einen Stein und spielte auf ihr die verschiedensten Weisen. Dann vergaß er seine Armut, sein Leid und seine Frau. Als er wieder einmal spielte, kam eine Eidechse aus ihrem Loch heraus. Wenn die Geige eine traurige Melodie spielte, senkte die Eidechse ihr Köpfchen und lauschte, aber wenn der Bauer lustig spielte, dann tanzte die Eidechse. Sie tanzte so lange, bis er aufhörte zu spielen. Dann verneigte sie sich höflich, spuckte einen Dukaten aus und versteckte sich wieder in ihrem Loch. Das gleiche geschah am anderen Tage. Jedesmal kam die Eidechse, um seiner Musik zu lauschen und zu tanzen, und jedesmal spuckte sie einen Dukaten aus. Der Musikant hatte nun Geld, und auch zu Hause wurde es besser, das Vieh vermehrte sich wieder, die Kinder hörten auf zu kränkeln, und seine 502
Frau beruhigte sich, nur fragte sie ihn jetzt immer, woher er das Geld habe. Zuerst schwieg er, aber einmal, als sie noch ärger in ihn drang und fragte: „Gehst du vielleicht stehlen oder mordest du?“, da erzählte er ihr, daß ihm die Eidechse die Dukaten bringt. Die Frau schrie ihn an: „Wo gibt es Eidechsen, die Dukaten bringen? Das ist ja noch schlimmer als ein Verbrechen. Da gibt dir vielleicht der Teufel in Gestalt einer Eidechse Geld. Wahrscheinlich hast du uns alle an den Teufel verkauft!“ Der Musikant sagte: „Ich spiele, um meinen Kummer zu vergessen, und wenn sie getanzt und mir die Dukaten gegeben hat, dann danke ich ihr. Ich habe doch kein Geld von ihr verlangt.“ Die Frau aber wollte davon nichts hören. Sie schrie: „Du mußt von dem Teufel loskommen!“ „Wie soll ich das denn anstellen?“ fragte der Musikant. Die Frau überlegte und sagte: „Nimm ein Beil mit und spiele an der gleichen Stelle, und wenn die Eidechse aus ihrem Loch kommt, zerhacke sie!“ Der Musikant hörte auf seine Frau und ging. Er setzte sich auf einen Stein, nahm das Beil aus dem Gürtel und stellte es an sein Bein. Die Eidechse kam wie immer aus ihrem Loch heraus und begann zu tanzen. Obwohl der Musikant an den Befehl seiner Frau dachte, konnte er das Beil doch nicht gegen die lustige Eidechse erheben. Er hörte auf zu spielen, die Eidechse verneigte sich höflich, spuckte einen Dukaten aus und kroch zu ihrem Loch zurück. Da griff er das Beil und warf es ihr 503
nach, konnte ihr aber nur den Schwanz abhacken. Die Eidechse drehte sich um, sprang auf ihn zu und biß ihm die Nase ab. Dann kroch sie in ihr Loch zurück. Der Musikant nahm seine Geige und ging nach Hause. Danach hatte er lange damit zu tun, seine Nase zu heilen. Oft mußte er die Ärzte aufsuchen und gab dabei sein ganzes Geld aus. Als er nun wieder arm war, hatte er auch wieder Pech mit dem Vieh, die Kinder kränkelten wieder, und die Frau war noch zänkischer als früher. Um sein Leid zu vergessen, ging der Musikant wieder zu demselben Stein und spielte auf der Geige. Als er ein trauriges Lied spielte, da kroch die Eidechse wieder aus ihrem Loch. Sie senkte ihr Köpfchen und lauschte der wundervollen Musik, und als er lustige Tänze spielte, da fing die Eidechse an zu tanzen. Der Musikant hörte auf zu spielen, die Eidechse verneigte sich, spuckte einen Dukaten aus und lief davon. So wurden der Musikant ohne Nase und die Eidechse ohne Schwanz wieder Freunde, und wieder begann der Musikant reich zu werden. Einmal, als die Eidechse aufgehört hatte zu tanzen, entschuldigte sich der Musikant bei ihr und sagte: „Verzeih, meine liebe Eidechse, daß ich auf mein treffliches Weib gehört und dir den Schwanz abgehackt habe!“ Die Eidechse aber sagte: „Ach, laß nur, ich bin wegen dieses Streiches nicht ärgerlich auf dich. Doch schau ich deine Nase an beim Tanz, dann denk ich gleich an meinen Schwanz.“ 504
40 Die verkaufte Geige Dies Märchen hier erzählt uns von der Geigenspielerkunst, der sich einst vor langer Zeit ein Zigeuner hat geweiht. Geigenspielen konnt’ er nur, stahl nicht einmal eine Uhr, denn er war sehr ungeschickt, und das wär’ ihm nie geglückt. Außer seinem Geigenspiel konnte er nicht allzuviel. Lebte einfach nur so hin, spielte, was ihm grad im Sinn. Aber wenn sein Spiel erklang, allen fast das Herz zersprang, und es schien dann gradeso, daß der Geist den Körper floh. Alle hörten ihn sehr gern, Arm und Reich, aus Nah und Fern. Jedermann, dem es gefiel, gab ihm Geld fürs Geigenspiel. Doch wer wußte um sein Leiden? Denn er saß oft bei den Weiden, dachte an die Liebste fern, hatte sie von Herzen gern.
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Eines Abends saß er wieder, spielte seine schönsten Lieder. Silbern spiegelt’ sich der Mond, der am Himmel oben thront. Und er spielte ganz, ganz leise eine schöne Liebesweise. Stille, Stille ringsumher, Frösche quakten auch nicht mehr. Er begann so süß zu träumen, Blätter fielen von den Bäumen, und sie wurden allsogleich zu Dukaten tausendreich. Eine Stimme er vernahm, die von irgendwoher kam, und sie rief ihm schmeichelnd zu: „Werde reich, Zigeuner du! Nimm das Geld, o nimm es dir, gib die Geige mir dafür!“ Aus dem Teiche trat dann bald, eine schreckliche Gestalt. Das konnt’ nur der Teufel sein: Hatte Hufe statt der Bein’ und zwei Hörner obendrauf, wackelt’ mit dem Schwanz beim Lauf. Den Zigeuner Schrecken faßt, wie ein Toter er erblaßt. „Diese Geige geb’ ich dir, doch gestatten mußt du mir,
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daß ich erst noch einmal spiel’ voller Liebe und Gefühl!“ Teufel wedelt mit dem Schwanz, hockt sich untern Busch, der Zigeuner spielt zum Tanz und beginnt mit einem Tusch. Dann spielt er ganz voll Gemüt noch einmal sein Lieblingslied, hell sein Geigenspiel erklingt über Höh’n und Täler dringt. Seine Finger wie im Schmerz greifen in die Saiten, so, als spielt’ er auf dem Herz, läßt er sie darüber gleiten. Alles ist ringsum ganz still, Blumen, Felder und der Wald, Mücke nicht mehr stechen will, fernehin der Ton verhallt. Sterne weinen, Tränen fließen, doch er läßt sich’s nicht verdrießen, und er legt sein ganzes Herz in das Lied voll Abschiedsschmerz. Übergibt dem Teufel dann, was er so schwer missen kann. Teufel gibt ihm sehr viel Geld, offen steht ihm nun die Welt. Nun versucht der Teufel gleich einzudringen in das Reich der Musik, doch alles Greifen 507
in die Saiten wird nur Pfeifen. Keinen Klang er ihr entlockt, und die Geige, wie verstockt, spielt nicht mehr, wie’s früher war, denn sie ist der Seele bar. Teufel auch nicht lang verweilt und zu dem Zigeuner eilt. „Nimm die Geige wieder hin, dein Beherrscher ich jetzt bin! Diene mir für alle Zeit, heute und in Ewigkeit!“ Und so ist es auch bis heute, daß er zu des Teufels Freude, aber nicht für Gottes Gunst zeiget seine Geigenkunst.
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41 Der Teufel und der Hirt Ein Hirt weidete einmal seine Schafe auf der Weide und spielte auf der Schalmei. Der Teufel hörte, daß er gut spielte, und ging zu ihm. „Lehre mich Schalmei spielen, dann lehre ich dich schreiben, und zwar so gut, daß du Pope werden kannst!“ Der Hirt begann dem Teufel das Spielen auf der Schalmei beizubringen. Weil der Teufel es schwer begriff, bekam er viel Schläge. Als er es schließlich gelernt hatte, war er schon ganz wund geschlagen. Nun konnte er aber gut spielen. Jetzt lehrte der Teufel den Hirten schreiben. Er brachte es ihm an einem Tag bei und brauchte ihn nicht ein einziges Mal zu schlagen. Als der Winter vor der Tür stand und das Vieh bis zu Weihnachten in die Ställe getrieben werden mußte, fuhr der Pope dieser Gemeinde zum Gutsbesitzer, um von ihm Arbeiter zu erbitten. Der Teufel lief dem Popen nach und begann sich mit ihm zu schlagen. Der Gutsherr reichte beim Konsistorium Beschwerde ein: „Bei mir soll der Hirte Pope werden.“ Da wurde der Pope ins Konsistorium bestellt. Dort setzte man ihn ab, riß ihm die Popenkleidung herunter und rasierte ihn. Den Hirten aber bestellte man auch in das Konsistorium und ernannte ihn zum Popen. 509
So wurde der Hirt Pope, und Ostern kam heran. Am Ostertag las er die Messe. Er wollte gerade mit dem Opfergebet beginnen, da kam der Teufel mit der Schalmei. „Bring die Schalmei in Ordnung!“ sagte er. „Bei mir ist Hochzeit, und da muß ich spielen.“ Der Pope nahm die Schalmei und brachte sie in Ordnung. „Jetzt spiel mir was vor!“ sagte der Teufel zum Popen während der Messe. Der Pope wölke nicht spielen, unter gar keinen Umständen. Da sagte der Teufel: „Spiele! Wenn du nicht spielst, bleibst du nicht Pope.“ Da konnte er nichts machen. Er nahm die Schalmei und begann während der Messe zu spielen. Da bekamen die Leute Angst. Sie reichten Beschwerde beim Konsistorium ein, weil der Pope während der Messe Schalmei gespielt hatte. Dort fragte man den Popen, warum er Schalmei gespielt habe. „Wenn du so gut spielen kannst“, sagte man, „dann spiele uns hier etwas vor, spiele!“ Der Teufel gab ihm die Schalmei. Der Pope begann zu spielen, und der Teufel fuhr dem Erzpriester in die Beine, so daß er tanzen mußte. Und er tanzte den ganzen Tag, bis er müde wurde. Da sagte der Erzpriester: „Genug gespielt! Das muß ein Dummkopf sein, der die Beschwerde wegen des Schalmeienspiels eingereicht hat. Es ist gut, du sollst Probst werden!“ 510
So ernannte man den Popen zum Probst. Er ist noch heute ein Geistlicher.
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42 Der listige Dummkopf Es war einmal ein alter Mann, der hatte drei Söhne. Als er starb, kauften seine ältesten Söhne alles mögliche – Schnaps, Heringe und Bier –, um den Leichenschmaus zu bereiten. Dann trugen sie den Vater zu Grabe. Der dritte Sohn, ein Dummkopf, blieb zu Hause. Er trank den Schnaps aus, verschloß die Türen, setzte sich in einen Trog und fuhr in der Hütte umher, um Heringe zu fangen, denn er dachte, er wäre auf einem Fluß beim Fischen. Die Brüder kamen zurück und klopften an die Tür. „Mach auf!“ Er aber antwortete: „Wartet, ich komme gleich hingefahren!“ Er fuhr zur Tür, und als er sie geöffnet hatte, fuhr er in dem Trog hinaus auf den Hof. Die Brüder rissen den Mund vor Erstaunen auf. Sie baten die Leute um Verzeihung, und die Leute gingen wieder nach Hause. Dann beschlossen die Brüder, dem Dummen fortzulaufen. Aber es war nicht so leicht, ihm fortzulaufen! Als er merkte, daß die Brüder nicht mehr da waren, lief er in die Rumpelkammer, holte einen Mörser und eilte den Brüdern nach. So schnell sie auch liefen, sie konnten ihm doch nicht entkommen. Er holte sie ein.
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Inzwischen wurde es Nacht, und sie ließen sich im Walde nieder. Irgendwie mußten sie die Nacht verbringen. Hätten sie auf der Erde übernachtet, wären sie von den Wölfen gefressen worden. Deshalb beschlossen die Brüder, auf einen Baum zu steigen. Der Dummkopf kam ihnen nach und nahm den Mörser mit auf den Baum. Inzwischen kamen Diebe zu diesem Baum und brachten ihr Diebesgut dorthin. Sie zündeten ein Feuer an und begannen ihr Abendbrot zu kochen. Der Dummkopf hielt den Mörser fest, bis ihm die Hände weh taten, dann sagte er leise zu seinen Brüdern: „Liebe Brüder, ich muß den Mörser fallen lassen, denn ich kann ihn nicht mehr halten.“ Er ließ ihn fallen. Der Mörser fiel auf die Diebe herab und machte einen furchtbaren Krach. Da liefen sie nach allen Seiten auseinander und ließen ihr Diebesgut zurück. Als es hell wurde, stiegen die Brüder vom Baum, und der Dummkopf blieb auch nicht oben. Unten angekommen, sagte der Dumme: „Laßt uns nachsehen, was in den Wagen ist!“ Sie schauten nach und fanden in neununddreißig Wagen allerlei Diebesgut, während der vierzigste Wagen voll Weihrauch war. Da sagte der Dumme zu seinen Brüdern: „Nehmt diese Sachen und fahrt nach Hause! Mir aber schüttet den Weihrauch auf die Erde!“ Das taten sie und fuhren fort. Der Dumme steckte den Weihrauch in Brand und stocherte mit einem Stock darin herum. Zu der Zeit saß Gott im 513
Himmel mit dem heiligen Petrus zusammen. Er sagte zu Petrus: „Geh mal hinunter auf die Erde und sieh nach, wer da so inbrünstig betet, daß es selbst im Himmel nach Weihrauch riecht! Und erkundige dich, was der Mensch will!“ Petrus gehorchte. Er flog auf die Erde hinab und fand den Mann, der dort saß und Weihrauch abbrannte. „Was willst du von Gott, weshalb betest du so inbrünstig?“ fragte der heilige Petrus den Dummen. Der Dumme sagte: „Ich bitte Gott um eine Schalmei, nach der alle tanzen müssen, die Menschen und das Vieh. Sie sollen gar nicht aufhören können, solange ich darauf spiele.“ Petrus flog wieder zurück zu Gott in den Himmel und sagte: „Dieser Mann wünscht sich eine Schalmei, nach der alle tanzen müssen, wenn er darauf spielt.“ Da sagte Gott: „Er wünscht sich sehr viel, aber bring ihm diese Schalmei! Sollen die Leute wissen, daß der liebe Gott ein guter Mann ist!“ Petrus brachte ihm die Schalmei. Der Dumme nahm sie entgegen, ließ das Feuer ausgehen und zog in die Welt hinaus. Er kam in ein Dorf und verdingte sich als Hirte. Er ging das Vieh hüten und schlief auf der Weide ein. Während er schlief, liefen die Kühe umher. Als er ausgeschlafen und gegessen hatte, nahm er die Schalmei und begann zu spielen. Da mußten die Kühe tanzen.
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Der Bauer sah am ersten Tag und am zweiten Tag wieder, daß das Stroh sich vor Angst bog, wenn seine Kühe vom Feld nach Hause kamen. So hungrig waren die Kühe. Da dachte er: „Was ist das nur? Ich werde mal aufpassen!“ Er paßte auf und mußte selbst zusammen mit den Kühen tanzen. Als er genug getanzt hatte, jagte er den Hirten davon. Da zog der Dumme mit seiner Schalmei weiter. Als ein Krieg begann, zog man den Dummen zu den Soldaten ein. Einmal war eine große Schlacht, und die Feinde hatten das Regiment, in dem er diente, eingekesselt. Aber der Dumme war listig. Er dachte an seine Schalmei. Als er auf ihr zu spielen begann, mußten alle Feinde tanzen, und sie wurden so müde, daß ihr ganzes Heer dem Regiment in die Hände fiel. Alle sprachen über den Schalmeispieler, der General zeichnete ihn aus und verlieh ihm einen Orden. Als der Krieg zu Ende war, ließ sich der Dumme in der Stadt, für die er gekämpft hatte, nieder und lebte dort als Schalmeispieler. Er schaffte sich einen Kater, einen Hund und einen Hahn an. Er spielt auf der Schalmei, und sie tanzen danach.
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43 Der Schuster und der Gutsherr Es kam einmal ein Gutsherr in ein Dorf, um Arbeiter anzuwerben. Er sagte: „Wer für ein Jahr, für dreihundertfünfundsechzig Tage, zu mir kommt, braucht nicht zu arbeiten, sondern nur zu trinken, zu essen und zu feiern… Aber am letzten Tag im Jahr muß er arbeiten.“ Da beschloß ein armer Schuster, sich bei dem Gutsherrn zu verdingen. Der Gutsherr nahm ihn mit und brachte ihn zu einem großen Berg. Dort sagte er: „Berg, öffne dich!“ Der Berg öffnete sich, und der Gutsherr stieß den Schuster hinein. Dann schloß sich der Berg wieder. Der Schuster lief im Berg umher, aber es war nichts zu trinken und zu essen da. Schließlich fand er einen Tisch, auf dem ein Stab lag. Er war wütend, weil nichts zu essen da war, nahm den Stab und schlug kräftig damit auf den Tisch. Da kamen zwölf Recken heraus und fragten: „Was willst du?“ Er sagte: „Ich will essen und trinken, ich will, daß alles da ist!“ Da bekam er zu essen und zu trinken. Als er sich sattgegessen und sattgetrunken hatte, klopfte er wieder mit dem Stab und rief: „Ich will, daß hübsche Mädchen um mich herum singen und tanzen!“ 516
Als er dies gesagt hatte, erschienen hübsche Mädchen und begannen zu singen und zu tanzen. So lebte er lustig dahin, dreihundertfünfundsechzig Tage lang. Schließlich kam der Gutsbesitzer, der ihn angeworben hatte, zu ihm und sagte: „Nun, hast du es dir gutgehen lassen? Jetzt mußt du einen Tag lang arbeiten.“ Er nahm den Schuster mit, und sie fuhren davon. Sie kamen zu einem sehr hohen Berg. Sie hielten an, und der Gutsbesitzer sagte: „Laß uns erst ein wenig essen und trinken, dann wirst du arbeiten!“ Der Gutsbesitzer trank eine Flasche leichten Wein, dem Schuster gab er jedoch eine Flasche mit solch schwerem Wein, daß der sofort, als er davon getrunken hatte, betrunken war und einschlief. Der Gutsbesitzer steckte ihn in einen Ledersack, legte ein Messer hinein und band Fleisch an diesen Sack. Dann ging er beiseite. Ein Adler sah von der Bergspitze aus das Fleisch liegen. Er kam heruntergeflogen, stieß seine Krallen in das Fleisch und trug das Fleisch zusammen mit dem Sack und dem Schuster auf die Bergspitze. Der Schuster in dem Sack wachte auf, fand das Messer und schnitt den Sack auf. Dann stieg er heraus, ging zum Rande des Berges und schaute nach unten. Dort sah er seinen Gutsbesitzer stehen und rief: „Herr, hole mich hier herunter!“ Der Gutsbesitzer sagte: „Sammle für mich acht Säcke Gold, dann hole ich dich herunter!“ Da lief der Schuster auf dem Berg herum und sammelte Gold. Er sammelte acht Säcke voll und 517
warf sie dem Gutsbesitzer hinunter. Dann rief er: „Nun, hole mich herunter, Herr!“ Der Gutsbesitzer aber lachte: „Stürz dich doch kopfüber herab!“ Der Schuster beschloß jedoch: Ich werde mich nicht hinabstürzen. Als der Gutsbesitzer weggefahren war, schüttete der Schuster einen Sack halb voll Gold und band ein Stück Fleisch an den Sack. Dann stieg er selbst in den Sack und legte sich an den Rand des Gipfels. Der Adler ergriff das Fleisch, und der schwere Sack zog ihn nach unten. Der Adler wollte das Fleisch nicht aus seinen Krallen lassen, und er flog herab bis auf die Erde. Dort stieg der Schuster aus dem Sack und ging mit dem Gold nach Hause. Es vergingen drei Jahre, da kam der Gutsbesitzer wieder in das Dorf, um sich Tagelöhner zu holen. In diesen drei Jahren aber war der Schuster durch das gute Leben dick geworden. Er hatte einen Bart bekommen und war nicht mehr so ärmlich gekleidet wie früher. Der Gutsbesitzer wußte nicht, daß er vom Berg zurückgekommen war, und fragte: „Wer will bei mir arbeiten?“ Da sagte der Schuster: „Ich!“ Der Gutsbesitzer erkannte ihn nicht und nahm ihn mit. Er brachte ihn zum Berg und sagte: „Berg, öffne dich!“ Der Berg öffnete sich, und der Gutsbesitzer stieß den Schuster hinein.
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Da begann der Schuster in dem Berg noch besser zu leben, denn ihm war ja hier alles bekannt. Der Stab erfüllte alle seine Wünsche. Einmal, als er mit dem Stab auf den Tisch schlug, kamen zwölf Recken heraus und sagten zu ihm wie zu einem alten Bekannten: „Wenn du mit dem Gutsbesitzer davonfährst, wirst du auf dem Wagen zwei Flaschen Wein sehen. Der starke Wein wird rechts stehen, der schwache links. Du mußt die rechte Flasche unbemerkt auf die linke Seite stellen und die linke Flasche auf die rechte Seite.“ Am letzten Tage, als die Jahresfrist abgelaufen war, fuhr der Schuster mit dem Gutsherrn zu dem hohen Berg. Unterwegs vertauschte der Schuster die Weinflaschen. Als sie ankamen, sagte der Gutsbesitzer: „Laß uns erst trinken, dann mußt du arbeiten!“ Sie tranken, und der Gutsbesitzer wurde gleich betrunken. Da nahm der Schuster den Sack her, steckte den Gutsbesitzer hinein und legte ihm ein Messer hinein. Er band ein Stück Fleisch an den Sack, das von dem Gutsherrn schon vorbereitet war, und ging beiseite. Der Adler erblickte von dem hohen Berg aus das Fleisch, kam heruntergeflogen, ergriff das Fleisch und mit ihm auch den Sack und brachte ihn auf die Bergesspitze. Der Gutsherr in dem Sack wachte auf, schnitt ihn mit dem Messer auf und stieg hinaus. Er schaute vom Berggipfel hinunter und erblickte den Schuster. „Hol mich herunter!“ schrie der Gutsbesitzer. 519
Der Schuster aber antwortete: „Sammle zwei Ladungen Gold, dann werde ich dich herunterholen!“ Da begann der Gutsherr das Gold zu sammeln. Er sammelte zwei Ladungen und warf sie dem Schuster hinunter. Dann rief er wieder: „Hol mich herunter!“ Der Schuster aber antwortete: „Stürz dich doch kopfüber herab!“ Der Gutsbesitzer dachte: Wenn ich mich kopfüber hinabstürze, breche ich mir das Genick. Und er blieb oben auf dem Gipfel. Dort fraßen ihn die Adler auf. Der Schuster brachte das Gold nach Hause. In dem Berg, in dem er zwei Jahre gelebt hatte, wollten ihn die zwölf Recken und die verwünschten Mädchen zu ihrem Herrscher ernennen. Er aber wollte kein Herrscher sein. Er sagte: „Geht, wohin ihr wollt! Ich gehe nach Hause.“ Und so lebte der Schuster herrlich und in Freuden.
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44 Der Reiche Manchmal sagen die Dummen: Wenn man Geld hat, ist man auch gesund. Nein, eine Krankheit kann man vielleicht für Geld bekommen, aber nicht die Gesundheit. Vor langer Zeit lebte einmal ein reicher Mann. Er hatte so viel Geld, daß er es nicht zählen konnte. Er lebte in Saus und Braus, kannte keine Not und keinen Kummer. Nur eines quälte ihn, quälte ihn und ließ ihn weder essen noch schlafen. Er wollte immer noch besser leben und konnte sich nicht vorstellen, wie. Da begann er zu vertrocknen und abzumagern, weil nichts Besseres zu finden war. Er wurde noch unzufriedener, als ihm eines Tages ein sehr armer Mensch begegnete. Er spazierte gerade um seinen Palast herum, da kam ihm ein schwarzer, zerlumpter armer Mann entgegen und sang so schöne Lieder, daß die Blumen im Garten des Reichen aufgingen. „Warum singst du?“ fragte der Reiche. „Ich singe, weil ich gesund und fröhlich bin.“ „Weshalb bist du lustig, wenn du so arm bist?“ „Was brauche ich denn schon? Heute habe ich mich an Kartoffeln sattgegessen, morgen werde ich auch Brot und Speck haben, denn ich habe etwas Geld verdient.“
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„Singst du etwa deshalb, weil du gesund bist und dich sattgegessen hast?“ „Nein, aber wie schlecht es mir auf der Welt auch geht, solange ich am Leben bin, kann es eines Tages besser werden. Deshalb singe ich!“ Als der Arme das gesagt hatte, zog er weiter und sang dabei ein Lied. Alles Unglück kommt durch den Reichtum, dachte der Reiche, ich werde den Menschen etwas von meinem Reichtum abgeben, dann ergeht es mir vielleicht besser. Als ihm dies durch ,den Kopf gegangen war, rief er dem Armen nach: „He, höre! Komm zurück, ich habe einen Auftrag für dich!“ Der Arme hörte, daß ihn der Reiche rief, und kam zurück. Inzwischen hatte der Reiche einen Beutel voll Geld aus der Tasche geholt und gab ihn dem Armen. „Hier, nimm das Geld, dann wird es dir gutgehen und mir besser!“ Der Arme dankte dem Reichen, nahm das Geld und ging weiter. Dem Reichen wurde es wirklich leichter ums Herz, weil er wenigstens einmal etwas Gutes getan hatte. Aber nicht lange freute sich der Reiche, denn als er nach Hause kam und sein Geld zu zählen begann, überkam ihn gleich Traurigkeit. Ihm tat das Geld leid, das er dem Armen gegeben hatte. Da lief der Reiche wie ein begossener Pudel umher, so traurig, als wäre er bereits unter der Erde. Je mehr er umherlief, um so trauriger wurde ihm ums Herz, so daß er sich fast das Leben nehmen wollte. Aber da kam ihm der Gedanke, was denn mit seinem Reichtum würde, wenn er stürbe. 522
Wie kann ich das nur einrichten, dachte der Reiche, daß ich auch nach meinem Tode meinen Reichtum behalte? Er überlegte und überlegte, und schließlich fiel ihm etwas ein. Er legte in seinem Lagerraum unter dem Fußboden einen Keller an und baute die Tür so fest, daß sie niemand aufbrechen konnte. Dann brachte er sein Geld und alles, was ihm teuer war, in den Keller. Er ging oft in diesen Keller hinab und ergötzte sich an seinem Reichtum. Einmal war er auch wieder in den Keller gegangen und hatte die Tür nicht richtig geschlossen. Auf einmal schlug die Tür zu und verklemmte sich derart, daß er nicht aus dem Keller herauskommen konnte. Da saß der Reiche im Keller und kam fast um vor Hunger. Er schrie um Hilfe, aber niemand hörte ihn. Nun verstand er, wie wenig Wert Geld und Gut haben, wenn keine Menschen da sind, die es brauchen. Ihm wurde klar, was Geld ist, was für einen Nutzen die Menschen davon haben, aber er konnte es niemandem mehr sagen, denn er konnte ja nicht aus dem Keller hinausgelangen. So saß er da und wußte nicht, was er tun sollte. Da sah er auf einmal, wie all sein Geld und all sein Hab und Gut sich in Menschenschweiß und -blut verwandelten. Das Blut und der Schweiß stiegen in dem Keller immer höher. Sie gingen dem Reichen schon bis an die Kehle, und er wäre beinahe in dem Menschenblut ertrunken. Da schrie der Reiche noch einmal aus Leibeskräften und hörte, daß jemand antwortete. Da freute sich der Reiche, freute sich so wie noch nie, denn nun 523
konnte er vielleicht doch noch ein Weilchen auf der Welt leben und noch einmal in das klare Sonnenlicht schauen. Inzwischen hatte der Arme den Fußboden auseinandergenommen, um den Reichen zu retten. Der arme Mann, dem der Reiche einen Beutel mit Geld gegeben hatte, war nämlich zurückgekommen. Er hatte damals das Geld genommen und zuerst geglaubt, daß es ihm damit besser gehen würde. In Wirklichkeit aber ging es ihm jetzt schlechter als vorher. Mit dem Geld war ihm Tag und Nacht furchtbar zumute. Er hatte immer Angst, daß ihn jemand erschlagen und berauben könnte. Er wußte nicht, wo er das Geld hintun sollte. Er trug es mit sich wie ein Kater ein Eselsfüllen. Er aß nicht, er trank nicht, er dachte nur immer daran, daß er das Geld nicht verlieren dürfe. Er hörte auf, Lieder zu singen, und hörte auf, lustig zu sein. Er quälte sich so, daß er schließlich darauf kam, daß er ohne Geld besser leben könne, und als ihm das klargeworden war, nahm er den Beutel mit dem Geld, um ihn dem Reichen zurückzubringen. Er kam zu dem Reichen, aber der war nicht da. Da fragte er die Leute, wo der Reiche sei. Sie antworteten, daß ihn wahrscheinlich der Teufel geholt habe, denn er war zu Hause und sei plötzlich irgendwohin verschwunden. Da stand der arme Mann nun da und kratzte sich am Kopfe, denn er wußte nicht, wo er den Reichen finden sollte. Aber gerade in diesem Augenblick schrie der Reiche im Keller. Der Arme erkannte
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ihn an der Stimme und stürzte hin, um ihn zu retten. So nahm der Arme den Fußboden auseinander und kam in den Keller. Der Reiche stieg halb tot heraus und bat um Essen. Da holte der Arme Bratkartoffeln und Zwieback aus der Tasche und gab sie dem Reichen. Der aber stürzte sich darauf wie ein hungriger Wolf. Er arbeitete mit den Zähnen, daß die Ohren zitterten. Als er sich ein wenig gestärkt hatte, bedankte er sich bei dem Armen. Der aber sagte: „Gott müßt Ihr danken, nicht mir. Ich wollte dir für das Geld danken. Hier hast du es zurück.“ Er streckte dem Reichen den Beutel mit Geld hin. Als der Reiche das Geld sah, begann er zu schreien, daß alles Menschenblut und Schweiß sei, und lief davon, daß seine Hacken nur so dampften. Er lief und lief und sprang in einen Brunnen. Der Brunnen war tief, und ehe die Leute zusammengekommen waren, um ihn zu retten, war der Reiche schon ertrunken. Da warf der Arme auch das Säckchen mit dem Geld in den Brunnen, ging weiter und sang wie vorher.
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45 Wer das Geld erdacht hat Es war einmal ein Mann, der war so geizig, daß er anderen Menschen nicht einmal einen Schluck Wasser geben wollte. Er hatte an allem Überfluß. Seine Ställe waren voll Vieh, er aber zitterte stets, daß ihm ein räudiges Kälbchen verenden könnte. Seine Scheunen barsten vor Getreide, aber das war ihm noch nicht genug. Wie ein Rabe saß er über jedem Körnchen und ließ niemanden auch nur daran riechen. Sein Getreide verfaulte in den Speichern, er aber war neidisch, wenn er bei anderen Leuten nur einen schlecht gepflügten Acker sah. Vor Habgier vertrocknete er wie ein Stock, aber nichts erfreute ihn. Er aß nur noch einmal am Tage, und zwar nur Kartoffeln. Oft mischte er Spreu unter die Kartoffeln, buk sie auf Kohlen und aß sie mit kaltem Wasser, und damit es etwas besser schmeckte, streute er Asche darauf. Die anderen Leute lachten über den dummen Menschen, dem sogar das Brot leid tat und der daher Spreu aß. Sie gaben ihm den Spitznamen Spreufresser. Spreufresser zitterte für sein Hab und Gut und war mit allen Kräften bestrebt, noch mehr zu erwerben. Aber bekanntlich kann man allein von seiner Hände Arbeit nicht sehr reich werden, denn in der Landwirtschaft kommt das eine hinzu und das andere geht weg, wie Wasser in einem Fluß. 526
Der Geizige scharrte Reichtümer zusammen und zitterte um sie, und der Teufel freute sich, denn diese Seele war ihm sicher. Spreufresser konnte es kaum mehr aushalten, er platzte förmlich vor Habgier und konnte nicht genug bekommen. Da erfuhr er von den Leuten, daß es ein Farnkraut gäbe, zu dessen Besitzer alles Hab und Gut von selbst geflossen käme. Er fragte die Leute aus, und sie erzählten ihm, daß das Farnkraut nur einmal im Jahr, am Tag des heiligen Johannes, wächst, aber daß es schwer sei, dieses Kraut zu bekommen, denn es wird von Teufeln und furchtbaren Ungetümen bewacht. Der Spreufresser war so hinter dem Reichtum her, daß er keine Angst davor hatte, und seine Habgier ließ ihn nicht mehr ruhen. Nach einiger Zeit kam der Johannistag. Vor Sonnenuntergang nahm der Spreufresser einen Sack und ging in den Wald. Inzwischen war die Sonne untergegangen. Am Himmel erglänzten die Sterne, und es waren ihrer so viele, daß man sie nicht zählen konnte. Spreufresser aber dachte nur daran, daß es soviel Reichtum auf der Welt gibt wie Sterne am Himmel. Und die Gier erfaßte ihn noch stärker, all diesen Reichtum zu besitzen. Im Walde war es jetzt dunkel wie in einem Sacke. Nur an einer Stelle schienen die Sterne durch die Zweige. So leuchtet vielleicht das Farnkraut, dachte Spreufresser und hielt Ausschau danach. Er kroch umher, kroch in das Dickicht, stach sich fast die Augen aus, lief in dem dichten Wald umher und konnte nicht wieder hinausgelangen. 527
Da lauschte er, ob nicht irgendwo ein Hund bellte, aber nichts war zu hören. Er setzte sich auf einen Baumstumpf und wußte nicht, wohin er gehen sollte. Plötzlich hörte er Lärm im Walde, die Erde erzitterte, und ihm lief eine Gänsehaut über den Rücken. Wohin er auch schaute, überall tanzten Teufel mit Hexen, und furchtbare Ungeheuer standen und klatschten in die Hände. Ihre Augen glänzten wie glühende Kohlen, und sie fletschten ihre Zähne. Er erschrak, aber er konnte nichts tun, er setzte sich hin und zitterte wie ein Hund im Frost. Da sah er, daß unweit etwas im Farnkraut glänzte wie ein Sternchen. Er erriet daß dies die gesuchte Blume war, und wollte dorthin stürzen. Aber das ging nicht. Er hatte kaum zwei Schritte getan, als einige Teufel mit Geschrei und Lärm herbeieilten und ihm den Weg versperrten. Da stand er nun und konnte sich nicht bewegen. Nur seine Zähne klapperten wie im Fieber. Zuerst wollte er sich bekreuzigen, aber dann dachte er, daß der Reichtum nur dorthin geht, wo kein Kreuz ist. Nun, dachte er, da ich ja doch verloren bin, würde ich sogar dem Teufel meine Seele verkaufen, wenn nur etwas da wäre, wofür. Er hatte das gerade gedacht, als plötzlich ein Teufel zu ihm gelaufen kam und sagte: „Du hast mich gerufen? Hier bin ich! Ich gebe dir Reichtum, soviel du willst, du aber gib mir deine erbärmliche Seele, die du sowieso nicht brauchst, so selten, wie es dir am Herzen nagt.“
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Der Spreufresser willigte ein, dem Teufel seine Seele für die Reichtümer zu geben, und fragte nur, wie lange er diesen Reichtum behalten dürfe. „Er wird immer dein sein“, sagte der Teufel, „denn die Menschen werden dich nie vergessen, solange die Welt steht. Sie werden sagen, daß aller Reichtum dir gehört.“ Und sie feilschten um die Jahre, die ihm der Teufel noch zum Leben gäbe. Sie handelten es aus, und der Teufel ließ sich vom Spreufresser eine Quittung geben, die dieser mit Blut aus seinem kleinen Finger unterschrieb. Da gab der Teufel dem Spreufuchs das Farnkraut und lehrte ihn, wie er es gebrauchen sollte. Von dieser Zeit an strömte alles Gut zu dem Spreufresser wie Bäche in den Fluß. Bald hatte er so viele Reichtümer gesammelt, daß er schon keinen Platz mehr dafür hatte. Er erkannte, daß er nicht noch mehr Reichtümer aus der ganzen Welt zusammenholen konnte, denn sie nahmen zuviel Platz ein und waren so schwer, daß sie die Erde nicht mehr tragen konnte. Da rief er wieder den Teufel zu sich. Der versprach ihm: „Gut, ich will dir etwas geben, worin aller Reichtum zusammengefaßt ist und das wenig Platz einnimmt.“ Da sammelte der Teufel von den Menschen Schweiß, Tränen und Blut, goß alles in einen Kessel, kochte und kochte und kochte daraus Gold. Der Spreufresser sah das Gold und sagte: „Gib es her, solch glänzende Sachen habe ich überhaupt noch nicht!“
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„Nein“, sagte der Teufel, „wir lassen es erst unter die Menschen. Es wird dort allen Reichtum zusammenholen und dann zu dir kommen.“ So erfand der Teufel das Geld und ließ es in die Welt hinaus, um die Menschen zugrunde zu richten. Nach einiger Zeit hatte sich bei dem Spreufresser viel Geld angesammelt, so viel, daß er die ganze Welt mit allem Reichtum und allen Menschen kaufen konnte. Aber er wußte auch, daß seine Frist bald abgelaufen war und er sterben mußte. Er versuchte den Tod zu bestechen, aber der lachte nur über die Dummheit des Menschen, daß seine Knochen klapperten. Er suchte Kurpfuscher und Doktoren auf, die ihn vom Tode retten sollten, aber sie sagten nur, daß alle Menschen sterben müssen. Da erkannte er, daß er sich nicht mehr retten konnte, und versuchte es mit einer List. Er verscharrte das Gold in einem Keller, nahm allerlei Speisen mit und setzte sich dazu, um sich vor dem Teufel zu verstecken. Aber da kam der Tod und sagte: „Woraus du entstanden bist, dazu werde auch wieder!“ Als der Tod das gesagt hatte, verwandelte sich das ganze Gold in Schweiß, Tränen und Blut der Menschen, füllte den Keller bis an die Decke und ersäufte den habgierigen Spreufresser. In dem Augenblick erschien der Teufel, um die Seele zu holen, ergriff sie und sagte: „Solange die Welt steht, wird man sich daran erinnern, daß du alle betrogen und von Schweiß, Tränen und Blut gelebt hast.“
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46 Der alte Mann und die alte Frau Es waren einmal ein alter Mann und eine alte Frau, die hatten keine Kinder. Sie hatten ausgemacht, daß keiner ohne den anderen sterben sollte, und wenn einer stürbe, sollte sich der andere mit in den Sarg legen. Eines Tages starb die Frau, und ihr Mann bestellte einen Sarg, in den zwei Menschen hineinpassen sollten. Alle Leute wunderten sich über den alten Mann, weil er einen solchen Sarg bauen ließ. Aber der Sarg wurde so breit gemacht, daß zwei darin Platz hatten. Man legte die alte Frau in den Sarg und brachte sie auf den Friedhof. Ihr Mann ging mit. Der Pope tat alles Notwendige, man ließ die Alte in die Grube hinunter; da stieg der alte Mann mit hinein, um sich zu ihr zu legen. Da sagten alle Leute zu ihm: „Warum steigst du Dummkopf mit in die Grube?“ Er aber sagte: „Weil wir es so ausgemacht haben. Wenn sie stirbt, klettere ich lebendig mit hinein, und wenn ich gestorben wäre, hätte sie es getan.“ Da sagte der Pope: „Rührt ihn nicht an, soll er bis morgen liegenbleiben. Man braucht den Sarg ja noch nicht einzugraben.“ Die Leute liefen ins Dorf zurück und gingen auseinander. Der alte Mann lag dort und lag, da sah 531
sah er um Mitternacht eine Schlange in den Sarg kriechen. Sie kroch hinein und bekam Kinder, aber diese Kinder waren alle tot. Dann lief sie fort und holte irgendein Grashälmchen. Sie rieb ein Kind damit ein, und es wurde lebendig, dann rieb sie das nächste ein, und es wurde auch lebendig. Und so erweckte sie alle wieder zum Leben. Da nahm der alte Mann der Schlange das Hälmchen weg und rieb seine Frau damit ein. So wurde auch sie lebendig. Sie gingen nach Hause und lebten weiter zusammen. Sie lebten eine Weile miteinander, da dachte sich der Alte etwas aus: „Ich werde einmal ausprobieren, ob sich die Alte mit in den Sarg legt.“ Er stellte sich tot, und die Alte weinte, weil es ihr leid tat, lebendig in den Sarg steigen zu müssen. Sie dachte: Vielleicht ist er gar nicht tot. Ich werde ihm mal kochendes Wasser auf die Augen gießen. Als sie das kochende Wasser brachte, sprang der Mann schnell auf und begann sie zu schlagen. „Habe ich dir denn kochendes Wasser auf die Augen gegossen?“ Er schlug sie ganz mörderlich, aber danach vertrugen sie sich wieder und lebten weiter zusammen. Sie sollen jetzt noch leben.
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47 Die sechs Fische Am Ufer eines Meeres stand auf einem hohen Hügel eine moosbewachsene Hütte mit kleinen Fenstern und zerbrochenen Türen. In dieser Hütte lebte ein alter Mann mit seiner Frau. Die Frau war schon uralt, über hundert Jahre alt. Ihre Haare waren grau, und ihr Gesicht war ganz faltig. Sie war blaß und buckelig. Ihr Mann war etwas flinker, aber Kraft hatte er auch nur noch sehr wenig. Das ganze Leben hatte der Alte beim Fischfang zugebracht. Jeden Morgen, wenn es hell wurde, nahm er seine Angel und ging zum blauen Meer. Seine Frau wartete auf ihn am Fenster. Einmal ging der Alte wieder fischen, und kaum hatte er die Angel ins Wasser geworfen, da fühlte er, daß etwas Schweres daran hing. Er zog die Angel heraus und sah, daß sechs große Fische angebissen hatten. Da freute sich der Alte sehr. Auf einmal aber standen schöne Zarentöchter mit seidenem Haar und Kronen auf den Köpfen vor ihm. Sie verneigten sich tief vor dem Alten, und eine von ihnen sagte: „Liebes Väterchen! Du hast uns erlöst. Der Wasserkönig hat uns hierhergebracht. Wir wollen deine Töchter sein.“ „Aber ich kann euch doch nicht in meine Hütte bringen!“
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„Das macht nichts“, sagten sie, „genier dich nicht! Wenn du in die Nähe deiner Hütte kommst, wirst du auf der Erde einen Zauberstab finden. Wenn du ihn nach rechts bewegst, wird ein Zarenpalast vor dir stehen, und wenn du ihn nach links bewegst, wird sich sein goldenes Tor öffnen.“ Der Alte hörte diese Worte und schaute sich um. Aber da waren die Zarentöchter verschwunden. Er nahm seine Angel und ging nach Hause. Da sah er auf dem Waldweg einen Zauberstab liegen. Er hob ihn auf und bewegte ihn nach rechts. Da entstand vor ihm ein Zarenpalast, der so schön war, daß man es sich nicht ausdenken und nicht beschreiben, sondern nur im Märchen erzählen kann. Er schwenkte den Zauberstab nach links, und vor ihm öffnete sich das goldene Tor. Da wunderte sich der Alte über das Reich, das sich vor ihm auftat. Er konnte es einfach nicht fassen, daß er so leben sollte. Er trat in den Zarenpalast ein und sah dort seine Alte ganz in Gold gekleidet sitzen. Da staunte der Alte aber. „Nun, Alte, jetzt sind wir Zaren.“ So wurde der Alte Zar, und die Alte wurde Zarin. Jene Zarentöchter aber, die der Alte erlöst hatte, heirateten Zarensöhne und kamen oft zu dem Alten und seiner Frau zu Besuch. Lange lebte der Alte noch mit seiner Frau, sie tranken Wein und waren glücklich.
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48 Der Geldbeutel des Kranichs Es waren einmal ein alter Mann und eine alte Frau, die hatten weder Kinder noch Verwandte, sondern lebten zu zweit in ihrer Hütte. Sie waren sehr arm und ungefähr achtzig Jahre alt, aber vielleicht auch noch älter. Kurzum, sie hatten ein langes Leben hinter sich. Da geschah es, daß sie nichts mehr zu essen im Hause hatten. Sie lebten nur noch von etwas Zwieback, den der Alte erbettelte. So warteten sie auf den schönen Frühling. Die Alte setzte ihrem Mann zu und sagte: „Alter, die anderen Leute säen alle, du solltest auch etwas säen, irgendwo müssen wir noch einen Garnetz1 Hirse haben. Dann können wir zahnlosen Alten auf unsere alten Tage wenigstens noch etwas warme, weiche Grütze oder Graupensuppe essen, dieser Zwieback ist mir nämlich schon sehr zuwider!“ Der Alte gehorchte seiner Frau und säte im schönen Frühling Hirse. Er rodete sich in einem Gehölz ein Stück Feld und säte Hirse zwischen die Baumstümpfe. Nachdem der Alte die Hirse ausgesät hatte, wartete er eine Woche lang, dann sah er nach, ob 1
Gefäß aus Holz oder Eisen, 3,28 l Inhalt; vor der Revolution in Rußland Maß für lose Ware. (L. B.)
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sie aufgegangen war oder nicht. Als er in der Woche darauf hinging, war die Hirse ihm schon bis zum Gürtel gewachsen. Gott hatte sie so schnell wachsen lassen, damit die armen Alten etwas zu essen hatten. Als er eines Tages zu seiner Hirse kam, sah er einen Kranich darin stehen, einen riesengroßen Kranich. Er warf einen Stock nach ihm, und der Kranich erhob sich in die Lüfte und flog davon. Als sich der Alte seine Hirse genauer ansah, war sie ganz zertreten, zerstampft und zertrampelt. Da ging er nach Hause und sagte zu seiner Frau: „Ach, sieh nur, Alte, Gott hat unsere schöne Hirse wachsen lassen, aber er läßt sie uns nicht ernten. Er will uns wohl nicht länger leben lassen, denn ein Kranich hat die Hirse abgefressen und alles zertreten und zertrampelt.“ „Ach, mein Alterchen, du warst doch früher Jäger. Nimm ein Gewehr, reinige es, schleiche dich heran und töte den Kranich! Dann haben wir sogar noch Fleisch.“ Der Alte gehorchte ihr, nahm das Gewehr, reinigte es und ging am Morgen in die Hirse. Der Kranich kam am Vormittag herbeigeflogen. Der Alte kroch heran und zielte auf ihn. Aber der Kranich war ein Zauberer; kaum war der Alte herangekommen, da verwandelte er sich aus dem Vogel in einen Gutsherrn. Strahlend stand er da, hatte eine schöne Uniform an und sah sehr hübsch aus. Der Gutsherr sagte zu dem Alten: „Halt, Alterchen, töte mich nicht!“ Und er fragte ihn: „Ist das deine Hirse, Alterchen?“ 536
„Ja.“ „Was willst du für deine Hirse haben?“ Der Alte war ganz erschrocken, vor ihm stand ein so reicher Herr, und er war nur ein heruntergekommener Bettler in zerlumpter Kleidung und verräuchert wie eine Badestube. „Du willst wissen, was ich haben will? Nun, ich habe weder Kinder noch Verwandte, habe niemanden zu ernähren.“ „Nun, Alterchen, wenn du keine Angehörigen und niemanden zu versorgen hast, dann komme mir auf dem grünen Pfad durch das seidene Gras nach. Wenn du den grünen Pfad durch das seidene Gras gehst, kommst du auf eine Lichtung, und dort ist mein Hof. Gehe nicht von Westen an die Treppe heran, sondern von Süden. Dort ist eine andere Treppe. Steige sie hinauf in mein Haus. Dort wird ein Wachtposten stehen und dich fragen, wohin du willst. Du aber sage: ‚Zum Kranich’, dann wird er dich durchlassen. Ich werde dich hören oder vom Fenster aus sehen und dir selbst öffnen, um dich in mein Haus einzulassen.“ Nachdem er dies gesagt hatte, wurden seine Hände zu Flügeln, er erhob sich in die Lüfte und flog davon. Der Alte aber ging den grünen Pfad durch das seidene Gras entlang. Er ging und ging und kam auf eine Lichtung, in deren Mitte ein Haus stand. Das war so schön, wie man es weder erdenken noch beschreiben kann, man kann es nur im Märchen erzählen. Wahrscheinlich gibt es so schöne Gebäude in unserem ganzen Zarenreich nicht. Das strahlte und glänzte! Der Alte ging an das 537
Haus heran und kam zu der südlichen Treppe, an der der Posten stand. Das war der Posten, von dem der Kranich gesprochen hatte. „Wohin willst du, du Lump? Wie kannst du es wagen, hier herumzulaufen?“ Das hörte der Kranich, öffnete schnell zwei Türen und sagte: „Komm nur herein!“ Der Posten trat sofort beiseite. Da ging der Alte durch ein Zimmer, durch das zweite und trat in das dritte. Der Kranich setzte ihn in einen Sessel, so ungefähr, wie ihr mich hier hingesetzt habt, und stellte ihm zu essen und zu trinken hin, Weine, Speisen und Obst. Er deckte ihm den Tisch, es gab alles außer Vogelmilch. Er bewirtete den Alten und fragte: „Was willst du für deine Hirse haben, Alterchen?“ „Ach, mein strahlender Herr, ich kann es Euch nicht sagen. Gebt, was Ihr wollt!“ Da ging der Herr in ein anderes Zimmer und brachte ihm einen Geldbeutel. Dann sagte er: „Wenn du unterwegs essen willst, Alterchen, dann sage nur: ‚Beutelchen, gib mir zu essen und zu trinken!’ Dann wird es sich öffnen, und ein Tisch, ein Stuhl, und alle die Speisen, die du bei mir gegessen hast, werden herauskommen. Und wenn du dich sattgegessen hast, dann sage: ‚Speisen und Getränke, geht zurück in das Beutelchen!’ Dann geht wieder alles zurück, du rollst das Beutelchen zusammen und gehst weiter nach Hause. Trink aber nicht zuviel, denn sonst wirst du betrunken, und man kann dir das Beutelchen stehlen!“ 538
Auf dem Heimweg wollte der Alte das Beutelchen ausprobieren. Er wollte gern wissen, ob das stimmte, was der Kranich ihm gesagt hatte. Als er die Hälfte des Weges zurückgelegt hatte, setzte er sich nieder, nahm das Beutelchen, öffnete es und sagte: „Beutelchen, Beutelchen, gib mir zu essen und zu trinken!“ Sofort erschien ein glänzendes Zimmer, und darin standen Speisen und Getränke. Der Alte probierte davon, nahm von jedem ein bißchen und sagte dann: „Speisen und Getränke, geht wieder zurück in den Beutel!“ Da ging alles wieder zurück. So kam er in sein Dorf, zu seiner Hütte. Er trat in seine Hütte ein und sagte: „Guten Tag! Lebst du noch, meine Alte?“ „Ja, ich lebe noch, Alterchen“, antwortete die Greisin. „Lebst du denn noch?“ „Ich lebe noch und bin gesund!“ „Ich habe schon gedacht, daß dich die Wölfe gefressen oder die Bären getötet, ins Moos gezogen, vergraben und mit einem Klotz bedeckt hätten.“ „Nein, Alte, die Wölfe haben mich nicht gefressen, und die Bären haben mich nicht getötet, sondern ich habe Brot und Salz mitgebracht. Jetzt können wir aber leben. Setz dich mit mir an den Tisch, Alte! Du hast vielleicht einen ganzen Monat lang nichts gegessen. Jetzt werden wir Speisen und Getränke haben.“ „Was redest du da, Alter? Woher sollen wir zu essen und zu trinken nehmen?“ „Setz dich nur, setz dich!“
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Sie setzten sich an den Tisch, der Alte nahm den Beutel und legte ihn auf den Tisch. Der Tisch war braun, so wie sie in verräucherten Hütten sind. Er öffnete den Beutel und sagte: „Nun, Beutelchen, mein Beutelchen, bringe mir zu essen und zu trinken!“ Sofort war alles da! Hatten sie vorher in einer verräucherten Hütte gesessen, so waren sie jetzt in einem Zimmer, das schöner war als dieses hier1, ja, was sage ich, vielleicht gibt es ein so schönes Zimmer im ganzen Zarenreich nicht. Und alle möglichen Speisen und Getränke standen da. Weine und Kuchen, alles war da. Wie wunderte sich da die Alte! „Ach mein Gott, mein Gott, woher ist das alles? Wo hast du das nur her?“ „Hör zu, Alte! Als du mich weggeschickt hast, den Kranich zu töten, und ich zur Hirse kam, war er dort. Ich wollte gerade zielen, um ihn zu töten, da verwandelte er sich in einen feinen Herrn, der nur so strahlte. ‚Was willst du für deine Hirse haben?’ fragte er. Da sagte ich zu ihm: ‚Ich habe keine Angehörigen und habe niemanden zu ernähren.’ Da sagte er: ‚Komm zu mir auf meinen Hof, gehe den grünen Pfad durch das seidene Gras, und ich werde dich belohnen!’ Ich kam auf seinen Hof, und er gab mir zu essen und zu trinken und dieses Beutelchen hier. Alles, was du hier siehst, kommt aus diesem Beutelchen.“ 1
Das Märchen wurde in der Wohnung des Dorfgeistlichen aufgezeichnet, die als recht ordentlich bezeichnet werden kann. (Anm. d. Sammlers.)
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Da trank die Alte, umarmte ihren Mann und küßte ihn und sagte: „Nun hab Dank, Alterchen! Ich freue mich über dich. Es kommt mir vor, als wärest du aus der anderen Welt zurückgekommen. Weißt du was, mein Alterchen? Wir haben bisher ganz allein gelebt, sind nie zu anderen Leuten gegangen, und die Leute sind nicht zu uns gekommen. Wir wollen den Dorfältesten und den Dorfschulzen einladen! Wir haben einen so schön gedeckten Tisch und eine so prächtige Hütte!“ „Wie du willst, Alte. Du kannst sie einladen, sollen sie zu uns kommen!“ Die Alte band ihr Tuch um, ging ins Dorf zu dem Dorfältesten und zu dem Dorfschulzen und sagte: „Kommt zu uns als Gäste, meine Kinderchen!“ „Wie kannst du uns einladen, alte Hexe? Lebst in einer alten Hütte, hast womöglich nichts zu essen und lädst andere zu Gast!“ „Nein, meine Kinder, ihr könnt erst schimpfen, wenn ihr bei uns gewesen seid und unser Tisch nicht gedeckt war. Vorher aber solltet ihr nicht schimpfen.“ Da dachten jene: Nun, mag es so sein, gehen wir hin zu ihr! So gingen die beiden zu ihr zu Besuch. Sie hatten es sehr gern, wenn sie eingeladen wurden. Sie kamen in die Hütte und sagten: „Guten Tag, Großvater!“ „Seid gegrüßt!“ „Was gibt’s Neues?“
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„Setzt euch nur, setzt euch auf die Bank, wir wollen uns ein bißchen unterhalten!“ Die beiden setzten sich. Der eine hielt eine geflochtene Peitsche in der Hand und der andere eine Riemenpeitsche. Denn bekanntlich waren die Dorfältesten und die Dorfschulzen ein Schrecken für die leibeigenen Bauern, gingen immer mit Peitschen durchs Dorf und jagten die Bauern aus den Hütten zur Fronarbeit. Da holte der Alte den Beutel heraus und sagte: „Beutelchen, Beutelchen, gib zu essen und zu trinken!“ Aus dem Beutel kamen allerlei Speisen und Getränke, wie viele es waren, weiß man nicht. Vielleicht fünf, vielleicht auch zehn. So wurden der Dorfälteste und der Dorfschulze bewirtet. Sie aßen und tranken und wunderten sich, woher das alles gekommen war, die Speisen, die Getränke und der Glanz in der Hütte. Sie fragten sich, ob vielleicht der liebe Gott das Paradies vom Himmel geschickt hätte. Denn noch nicht einmal der Gutsherr hatte so viele Speisen und Getränke, einen so reich gedeckten und geschmückten Tisch. Sie aßen sich satt, tranken sich voll und gingen wieder von dannen. Da sagte die Alte: „Weißt du was, Alterchen?“ „Was denn?“ „Wollen wir nicht den Gutsherrn zu Besuch einladen?“ „Was redest du da, du dumme Alte? Es stimmt wohl wirklich, wer auf Weiber hört, ist schlecht belehrt. Denkst du denn, daß der Gutsherr zu so
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alten und armen Leuten kommt? Geh mal hin, er wird dir eins mit der Peitsche überziehen!“ „Mag kommen was will, ich werde zu ihm gehen.“ „Nun, dann geh!“ Die Alte ging los, kam zu dem Gutsherrn in das Zimmer, und der Gutsherr fragte sie: „Was gibt es Neues, Alte?“ „Hör zu, lieber Gutsherr! Mein Mann und ich bitten Euch zu Gast zu uns!“ „Was sagst du da? Ach du Närrin! Du lädst mich zu dir ein? Ich soll zu einer so armen Frau gehen?“ „Lieber Herr, wenn Ihr mir nicht glaubt, dann fragt bei Euren Getreuen nach. Ihr habt doch einen Dorfältesten und einen Dorfschulzen. Fragt die, ob man zu uns kommen kann oder nicht!“ „Nun, es ist schon gut.“ Er rief sofort die Lakaien und die Kutscher und befahl, daß sie die Dorfältesten auf ein Stündchen zu ihm holen sollten. Da gingen die Diener zu den Dorfältesten und sagten ihnen, daß der Gutsherr sie zu sich bitte. Die Dorfältesten kamen zu dem Gutsherrn und fragten: „Warum habt Ihr uns gerufen?“ „Also hört zu: Da lädt mich doch diese Hexe ein. Kann man denn zu ihr gehen?“ „Oh ja, lieber Herr, das kann man. Wir haben bei Euch nie einen so reich gedeckten Tisch gesehen wie bei ihnen. Der Alte hat einen Beutel, aus dem er alles bekommt: goldenes Geschirr, ver-
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schiedene Schnäpse und Weine, einen reich gedeckten Tisch. Da könnt Ihr schon hingehen.“ Der Gutsherr hörte auf die Dorfältesten und befahl seinem Kutscher, die Pferde anzuspannen. Der Gutsherr und seine Frau zogen sich an und fuhren los, nicht so sehr, um zu essen und zu trinken, als vielmehr, um die Wahrheit zu erfahren, um festzustellen, ob das wirklich stimmte oder nicht, was die Alte gesagt hatte. Sie fuhren los, kamen zu der Hütte und stiegen aus der Kutsche. Da trat der Alte heraus und sagte: „Zürnet nicht, lieber Gutsherr! Meine Hütte ist von außen nicht sauber. Aber drinnen werdet ihr Stühle, Blumen und einen schön gedeckten Tisch vorfinden. Meine Hochachtung!“ Der Gutsherr trat in die Hütte und blieb an der Schwelle stehen. Da nahm der Alte den Beutel und sagte: „Beutelchen, mein Beutelchen, gib zu essen und zu trinken und schmücke meine Hütte!“ Sofort erschien alles, Speisen und Getränke und allerlei Schmuck. Und es gab im ganzen Zarenreich keinen so reich gedeckten Tisch wie diesen. Der Gutsherr überlegte, ob er sich denn setzen sollte. „Kommt, kommt, lieber Gutsherr, wir bitten Euch, Brot und Salz zu nehmen, mit Gottes Segen!“ Der Gutsherr begann die Weine zu prüfen und merkte, daß es die teuersten waren. Sie begannen zu essen und zu trinken. Bekanntlich will ein Edelmann nicht so sehr essen, als vielmehr allerlei Ratschläge haben. Er ist kein Bauer, von dem man sagt, daß er sich vollfrißt wenn man ihn nur läßt. 544
Als sie so aßen und tranken, sagte der Gutsherr: „Höre Alter, für dich ist es doch unangenehm, so einen Beutel zu haben. Du bist ein einfacher Bauer, aber dein Tisch und dein Haus sind besser als meines. Das ist mir meinen Freunden gegenüber peinlich. Ich bitte dich in Ehren: Gib mir dieses Beutelchen. Ich gebe dir Mundvorrat, Graupen, Mehl und Gewürze. Alles was du brauchst, wirst du bekommen. Ich gebe dir auch eine Dienerin, eine Kuh, ein Schwein und Butter, alles was du willst. Wozu brauchst du schon dieses Beutelchen? Ich werde dich beerdigen lassen, wenn du gestorben bist, werde eine Trauerfeier für dich veranstalten, werde dich trösten und werde dich durch die Klöster fahren.“ Da sprach der Alte mit seiner Frau. Er sagte: „Was sollen wir machen? Der Gutsherr will den Beutel haben, wollen wir ihn weggeben oder nicht?“ „Ja, Alter, wenn der Gutsherr etwas verlangt, müssen wir gehorchen. Wir bekommen doch alles, man wäscht uns die Kleidung und gibt sie uns sauber zurück.“ So bekam der Gutsherr den Beutel, und die beiden Alten blieben in ihrer Hütte, wo sie waren. Der Gutsherr nahm den Beutel und fuhr davon. Er gab ihnen Mundvorrat und eine Dienerin, ein Pud Mehl, ein Pud Erbsen, ein Pud Graupen, fünf Pfund Speck, drei Pfund Butter und zehn Pfund Salz, das war ihr Anteil. Sie verbrauchten alles in wenigen Tagen. Dann schickten sie ihre Dienerin zum Gutsherrn auf das Gut. 545
Der Gutsherr aber gab ihnen nichts mehr, er ließ die Dienerin nicht einmal hinein. „Ich habe euch genug gegeben! Es gibt viele, denen ich etwas geben muß. Ich muß die ernähren, die arbeiten. Die beiden Alten aber arbeiten nicht für mich. Sollen sie betteln gehen und das essen, was sie sich erbetteln. Ein erbettelter Faden ist wie ein Hemd für einen Nackten, und von einer erbettelten Krume können sich zwei ernähren.“ So betrog der Gutsherr sie und brach sein Wort. Die Dienerin berichtete es dem Alten. Sie sagte: „Der Gutsherr hat gesagt, daß er vielen Leuten etwas geben müsse. Er müsse die ernähren, die arbeiten. Euch aber läßt er sagen, daß ihr betteln gehen sollt und daß ich zurück in den Hof kommen soll.“ Dann ging sie davon. Da blieb der Alte mit seiner Alten zurück, so wie sie waren, schmutzig, zerlumpt und in großer Not. Der Alte überlegte sehr, sehr lange, was er tun solle und woher er zu essen bekommen solle. Da kam er auf den Gedanken, zu dem Kranich zu gehen und sich bei ihm zu beschweren. Vielleicht wird er Erbarmen haben und ihm ein anderes Beutelchen geben. Er wollte sagen, daß die Alte den Beutel verloren habe. Es ist schon so, wer auf Weiber hört, ist schlecht belehrt. Wenn du mit einem Weibe zusammenlebst, dann sag ihr nie die Wahrheit. Mit diesem Glauben machte er sich auf den Weg. „Ich gehe zu dem Kranich. Vielleicht gibt er uns einen zweiten Beutel“, sagte er zu seiner Alten.
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„Nun, dann geh, Alter, vielleicht gibt er dir einen, vielleicht auch nicht, aber geh!“ Er ging den grünen Pfad entlang, durch das seidene Gras. Er ging und ging und kam auf die Lichtung. Auf der Lichtung stand das Haus des Kranichs. Er ging zu dem Haus des Kranichs und trat an die Treppe. Da schrie ihn der Posten an: „Wo willst du hin, du Bettler, und was willst du?“ Das hörte der Kranich, er öffnete gleich die Tür und sagte: „Komm nur herein, komm herein!“ Der Posten aber trat augenblicklich beiseite. Sie gingen durch die beiden Zimmer und traten in das dritte. Dort fragte der Kranich: „Nun, was ist, mein liebes Alterchen? Hat dich jemand gekränkt?“ „Ja, lieber Herr, der Gutsbesitzer hat mich gekränkt. Meine Alte hat die Dorfältesten zu sich eingeladen, hat ihnen zu essen und zu trinken gegeben, und dann hat sie zu mir gesagt: ‚Laß uns auch den Gutsherrn einladen!’ Ich wollte ja erst nicht, aber der Satan holt ja selbst den Falken. Sie lud den Gutsherrn ein. Er kam mit seiner Frau zu uns und überredete mich, ihm den Beutel zu geben. Er versprach, uns immer genügend zu essen und zu trinken zu geben. Ich mußte mich mit meiner Alten beraten, und sie sagte: ‚Gib ihm den Beutel, Alter, wir müssen dem Gutsherrn gehorchen, er will uns doch alles geben!’ Ich gab ihm den Beutel, und der Gutsherr schickte uns unseren Anteil. Als dieser Anteil zu Ende ging, betrog er uns und sagte: ‚Sollen sie betteln gehen und davon leben!’“
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Der Kranich setzte sich an den Tisch, gab ihm zu essen und zu trinken. Aber der arme Bauer vergoß viele Tränen und konnte nichts essen. „Könnt Ihr mir nicht noch solch einen Beutel geben?“ fragte er ihn. „Gut, gut, ich gebe dir noch etwas. Sollen es alle wissen! Ich will dir aber keinen Beutel geben, sondern ein Fäßchen.“ Der Kranich ging in ein anderes Zimmer, brachte ein kleines Fäßchen herbei und belehrte ihn: „Wenn du nach Haus kommst, dann sage zu deiner Frau: ‚Alte, steig vom Ofen! Ich habe keinen Beutel mitgebracht, sondern ein Fäßchen.’ Wenn die Alte vom Ofen gestiegen ist, dann sage: ‚Ihr zwölf Recken, steigt aus dem Fäßchen, gebt der Alten, was sie verdient hat, zieht ihr mit den Peitschen ein paar über!’ Wenn sie es der Alten gegeben haben, dann sage nur: ‚Ihr zwölf Recken, steigt wieder zurück in das Fäßchen!’ Dann befiehl der Alten, sie soll ihr Tuch umbinden und zu dem Gutsherrn gehen, ihm aber nicht sagen, daß du so ein Fäßchen gebracht hast, sondern, daß du noch ein Beutelchen gebracht hast, das noch schöner ist als das andere! Lade den Gutsherrn und die Gutsherrin ein und auch die Dorfältesten und alle Adligen. Wenn sie alle zusammengekommen sind, dann setze den Gutsherrn mit seiner Frau in die Ecke und schicke die anderen auf den Hof. Dann sage: ‚Ihr zwölf Recken, steigt aus dem Faß und gebt ihnen allen Saures!’ Wenn sie es ihnen gegeben haben, dann sage: ‚Ihr zwölf Recken, stellt
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euch dort an der Schwelle auf!’ Und dann verlange deinen Beutel zurück.“ Der Alte bedankte sich bei ihm und ging nach Hause. Dort ließ er erst einmal die Alte verdreschen. Sie lief dann schnell zu dem Gutsherrn und lud ihn, seine Frau, die Dorfältesten und alle Adligen ein. Da gab man ihnen aber Saures, ihnen allen, den Adligen, den Dorfältesten, den Kutschern, allen! „Nun, ihr zwölf Recken, stellt euch dort an der Schwelle auf! Du aber, Gutsherr, leg den Beutel dorthin, sonst bekommst du eine Abreibung, wie weder du noch dein Vater oder deine Großväter oder deine Urgroßväter sie je erlebt haben!“ „Gib nur acht!“ Worauf sollte er schon achtgeben, die zwölf Recken auf der Schwelle mit ihren Peitschen waren ja deutlich zu sehen. Als der Gutsherr erkannte, daß es ihm schlecht gehen würde, dachte er daran, daß er vergessen hatte, den Beutel mitzunehmen. Er sagte zu dem Alten: „Ich gebe dir deinen nahrhaften Beutel zurück, Alterchen, laß mich nur lebend hier heraus! Wie lange ich auch noch lebe, ich will nur noch Gutes tun. Ruft mir meinen Diener!“ Sie riefen den Diener und ließen ihn zu dem Gutsherrn. Der Gutsherr sagte zu ihm: „Fahr bitte schnell in den Gutshof, mein Lieber, dort im Schrank, vielleicht aber auch in der Kiste, liegt mein Beutelchen. Nimm es und bringe es so schnell wie möglich hierher, sonst wird es mir hier schlecht ergehen!“ 549
„Warum?“ „Weil zwölf Teufel mit Peitschen hier stehen.“ Er gab ihm die Schlüssel, die er in der Tasche hatte. Der Diener fuhr, holte den Beutel und brachte ihn dem Gutsherrn. Da sagte der Gutsherr: „Hier ist dein Beutelchen, Alter, jetzt laß mich aber frei!“ Der Alte nahm den Beutel und sagte: „Nun gebt es ihm! Er schlägt die Bauern auch, als ob es ihnen nicht weh täte. Soll er auch einmal spüren, wie weh es uns tut!“ Die zwölf Recken verbleuten den Gutsherrn, bis der Alte sagte: „Ihr zwölf Recken, steigt zurück in das Fäßchen!“ Da lief der Gutsherr schnell davon. Ob er die Mütze mitgenommen hat oder nicht, weiß man nicht, aber seinen Pelz hatten sie ihm in Stücke gerissen. So blieb der Alte mit seinem Beutel und seinen Beschützern zurück, und niemand rührte ihn mehr an.
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49 Das Glück muß man hüten Ein reicher Mann und ein armer Mann fuhren einmal aufs Feld zum Pflügen. Sie pflügten zwei Tage lang. Am dritten Tag fuhr der Arme hinaus und sah, daß bei dem Reichen schon doppelt soviel gepflügt war. In der dritten Nacht ging der Arme aufs Feld, um aufzupassen. Er dachte bei sich: Da hilft sicherlich jemand dem Reichen. Er legte sich auf dem Feld in einer Furche auf die Lauer. Da kam auf einmal ein weißes Pferd mit einem Pflug auf des Reichen Feld, trat in die Furche und pflügte sie um. Als das Pferd dreimal über das Feld gegangen war, ging der Arme zu ihm hin, nahm es am Zügel und fragte: „Halt! Warum pflügst du für den Reichen?“ Da antwortete das Pferd: „Ich bin sein Schicksal.“ Da sagte der Arme: „Und wo ist meines?“ „Dein Schicksal liegt auf der kleinen Wiese unter einem Busch. Wecke es mit einem Stock, damit es dir hilft!“ Der Arme ging, um den Stock zu holen. Dann lief er auf die kleine Wiese und sah dort sein Schicksal unter einem Busch wie eine Schlange zusammengerollt liegen. Er schlug es mehrmals 551
mit dem Stock. Das Schicksal stand auf und fragte: „Was willst du?“ Da sagte der Arme: „Warum hilfst du mir nicht? Ich bin ein armer Mann und habe nichts zu essen.“ Da sagte das Schicksal: „Ich werde dir einen kleinen Sack geben, den trage nach Hause, setze die Frau und die Kinder an den Tisch und sage zu dem Sack: ‚Schaff Speis’ und Trank heran und sechs Musikanten dazu!’ Dann wird dein Tisch voll mit Speisen und Getränken stehen, und die Musikanten werden spielen.“ Da eilte der Arme voller Freude heimwärts. Als er zu Hause angekommen war, setzte er seine Frau und seine Kinder an den Tisch und rief aus: „Säckchen, schaff Speis’ und Trank heran und sechs Musikanten dazu!“ Da kam alles auf den Tisch, die Armen aßen und tranken sich satt, und die Musik spielte dazu. Dann sagte der Arme zu dem Säckchen: „Laß alles verschwinden!“ Da verschwand alles. Nach kurzer Zeit wurde dem Armen ein Kind geboren. Er lud die ganze Verwandtschaft zur Taufe ein. Die einen wollten kommen, die anderen nicht. Sie dachten, daß sie zur Taufe Kuchen und Wurst mitbringen müßten, denn sie glaubten ja, daß er arm sei. Der Arme aber sagte zu ihnen: „Ich habe mich angestrengt, es ist zu essen und zu trinken da, kommt nur zu mir!“ Da fand sich die ganze Verwandtschaft bei ihm ein. Sie traten in die Hütte und sahen weder Ge552
kochtes noch Gebratenes. Es war eben wie bei armen Leuten. Der arme Mann sah, daß sich die ganze Verwandtschaft schon gar nicht mehr freute, gekommen zu sein. Er führte die Gäste an einen Tisch, aber der reichte nicht aus. Da stellte er noch einen zweiten Tisch auf und führte die übrigen heran. Dann rief er die Nachbarn, um sie an den dritten Tisch zu setzen. Die armen Nachbarn kamen, die reichen aber nicht. Da ging der Arme zu dem Reichen, dem das Schicksal geholfen hatte. Er bat auch ihn, zur Taufe zu kommen. „Komm!“ sagte er zu ihm. Aber die Frau des Reichen flüsterte dem Reichen ins Ohr: „Du Dummer, warum gehst du hin? Er will doch nur, daß du ihm ein Stück Brot bringst.“ Das hörte der Arme, und er sagte: „Ich habe genug zu essen und zu trinken.“ Da ging der Reiche zu dem Armen. Nachdem sich alle an die drei Tische gesetzt hatten, nahm der Arme den Sack vom Haken und sagte: „Schaff Speis’ und Trank heran und sechs Musikanten dazu!“ Sofort standen drei volle Tische da. Da gab es alles, was man nur wollte: Wein, Bier, Honig und Schnaps. Sie aßen sich satt und tranken sich voll, und die Taufe ging zu Ende. Die Gäste erhoben sich vom Tisch, da nahm der Arme den Sack in die Hand und rief: „Laß Speisen und Getränke verschwinden!“ 553
Da verschwand alles. Der Reiche, dem das Schicksal geholfen hatte, dachte so bei sich: Der Sack wäre mein Glück! Und er sagte zu dem Armen: „Verkaufe mir den Sack! Ich gebe dir dafür tausend Rubel in Gold.“ Der Arme verkaufte ihm den Sack. Er nahm die tausend Rubel in Gold. Dann begann er wie ein Fürst zu leben. Er verbrauchte die tausend Rubel in einem Jahr und wurde wieder ein armer Mann. Da dachte er bei sich: Ich werde wieder zu meinem Schicksal gehen! Er ging zu dem Schicksal und weckte es wieder. Da fragte ihn das Schicksal: „Was willst du denn? Ich habe dir doch das Glück gegeben!“ Da antwortete der Arme: „Man hat mich betrogen und mir für viel Geld diesen Sack abgekauft. Jetzt habe ich nichts mehr zu essen.“ Da sagte das Schicksal: „Ich werde dir einen anderen Sack geben.“ Es gab ihm einen anderen Sack. Der Arme ging nach Hause und freute sich darüber, daß er den Sack bekommen hatte. Er setzte seine Frau in der Hütte an den Tisch und sagte zu dem Sack: „Schaff Speis’ und Trank heran und sechs Musikanten dazu!“ Da kamen an Stelle der Musikanten sechs Mohren mit Peitschen heraus und gerbten ihm und seiner Frau das Fell. Sie schlugen sie und schrien dazu: „Wir schlagen dich, weil du dein Glück verkauft hast!“
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Sie schlugen so lange, bis er sich besann und sagte: „Mein liebes Schicksal, schicke diese Mohren weg!“ Da verschwanden die Mohren, und der Arme blieb zurück. Er war todunglücklich, weil er das Glück nicht hatte hüten können. Er hätte nur vernünftig zu sein brauchen. Es kommt manchmal vor, daß Dummköpfe Glück haben, aber nicht für lange.
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50 Die drei Vermummten (Ein Weihnachtsmärchen) Es war einmal ein Gutsherr unterwegs. Er wollte bei einem armen Bauern übernachten. Der Bauer sagte: „Ich lasse Euch nur in meine Hütte, wenn Ihr Märchen erzählt. Ihr seid doch belesen und kennt sicher viele. „Ich weiß, ich weiß“, sagte der Gutsherr, „ich kann sie aus Büchern vorlesen und kenne sie auch auswendig.“ Da ließ der arme Bauer den Herrn in seine Hütte. Der Herr zog sich aus und setzte sich auf die Ofenbank. Da sagte der arme Bauer: „Es ist schon Abend, lieber Herr, erzählt uns etwas, bevor wir schlafen gehen.“ So begann der Gutsherr zu erzählen: „Es flog eine Eule von Insel zu Insel… Es flog eine Eule von Insel zu Insel… Es flog eine Eule von Insel zu Insel…“ Die Bauern lauschten und lauschten und schliefen ein. Da legte sich auch der Gutsherr hin und schlief ein. Alle schliefen schon, nur der Kutscher noch nicht. Da hörte er, daß sich etwas bewegte. Er lauschte, da kam die erste Vermummte ans Fenster und sagte: „Ich habe von den Leuten gehört, daß hier ein Gutsherr Märchen erzählt. Aber hier werden ja gar keine Märchen erzählt. Ich gehe und verwandle mich in eine Quelle am Wege. 556
Wenn der Gutsherr vorbeikommt und aus mir trinkt, wird er umkommen. Aber wer das hört und es dem Gutsherrn erzählt, der versinkt bis zu den Knien in die Erde.“ Dann ging sie fort. Sie war gerade gegangen, als die zweite Vermummte kam. Sie stellte sich unter das Fenster und sagte: „Ich habe von den Leuten gehört, daß hier ein Gutsherr Märchen erzählt. Aber hier werden ja gar keine Märchen erzählt. Ich gehe und verwandle mich in einen Apfelbaum am Wege mit goldenen und silbernen Blättern, mit goldenen und silbernen Äpfeln. Wenn der Gutsherr davon ißt, wird er umkommen. Wer das aber hört und es dem Gutsherrn erzählt, der wird bis zum Gürtel in die Erde versinken.“ Dann trat die dritte Vermummte an das Fenster und sagte: „Ich habe von den Leuten gehört, daß hier ein Gutsherr Märchen erzählt, aber hier werden ja gar keine Märchen erzählt. Ich gehe und verwandle mich in ein Bett am Wege. Wenn der Gutsherr vorbeikommt und schlafen will und sich auf mich legt, wird er nicht mehr aufstehen. Aber wer das hört und es dem Gutsherrn erzählt, der wird bis zum Hals in die Erde versinken.“ Dann ging sie fort. Der Kutscher aber hatte alles ganz genau gehört. Am frühen Morgen fuhr der Gutsherr weiter. Sie fuhren und fuhren und kamen zu einer klaren Quelle, an der eine goldene Kelle lag. Da sagte der Gutsherr zum Kutscher: „Halte die Pferde an, ich will etwas trinken! Ich komme vor Durst fast um.“ Er wollte gerade von der Kutsche steigen, da 557
schlug der Kutscher so auf die Pferde ein, daß sie davonliefen. Der Gutsherr schrie den Kutscher an: „Warte doch, warte doch!“ Der Kutscher aber trieb die Pferde nur noch mehr an. Da ärgerte sich der Gutsherr sehr. Er schlug dem Kutscher auf die Schulter. Der Herr schlug den Kutscher und der Kutscher die Pferde. Nur mit Mühe kamen sie von der Quelle weg. Bald kamen sie zu einem Apfelbaum mit goldenen und silbernen Blättern, mit goldenen und silbernen Äpfeln. Da schrie der Gutsherr wieder den Kutscher an: „Halte die Pferde an. Ich pflücke mir einen Apfel ab! Ich komme vor Hunger fast um.“ Er wollte gerade absteigen, als der Kutscher auf die Pferde losschlug und die Pferde zu laufen begannen. Da ärgerte sich der Gutsherr noch mehr. Er begann den Kutscher zu schlagen und sagte: „Ich bringe dich ins Gefängnis!“ Der Kutscher aber trieb die Pferde nur noch mehr an. Der Gutsherr schlug den Kutscher und der Kutscher die Pferde. Mit Mühe und Not kamen sie vom Apfelbaum weg. Sie fuhren weiter und kamen zu einem Bett. Da sagte der Gutsherr wieder: „Bleib hier stehen, ich möchte mich etwas ausruhen! Ich bin todmüde.“ Er wollte gerade aus der Kutsche steigen, da schlug der Kutscher auf die Pferde los, daß sie nur so dahinrasten. Da ärgerte sich der Gutsherr noch mehr, und er begann den Kutscher zu schlagen und zu schinden: „Bleib stehen, du Hundesohn! Wenn wir nach Hause kommen, lasse ich dich nach Sibirien schicken!“ Der Kutscher aber trieb die Pferde nur noch mehr an. Der Gutsherr schlug 558
den Kutscher und der Kutscher die Pferde, und so kamen sie von dem Bett fort. Als sie auf den Hof kamen, spannte der Kutscher die Pferde aus und ging zu dem Gutsherrn. „Also hör zu, mein lieber Gutsherr! Ich habe dir heute nicht gehorcht, und du willst mich nach Sibirien schicken. Vorher aber versammle noch die Leute aus allen Dörfern auf dem Hof, damit ich fünf Worte sagen kann. Dann kannst du mich nach Sibirien schicken!“ Der Gutsherr holte alle Leute auf den Hof zusammen. Der Kutscher bat den Gutsherrn um ein Pferd. Er setzte sich auf das Pferd und begann zu dem Volk zu sprechen, das auf dem Hofe war: „Also hört zu, Brüder!“ sagte er. „Als wir, der Gutsherr und ich, bei einem Bauern übernachteten, waren alle eingeschlafen, nur ich allein schlief noch nicht. Da hörte ich, wie eine Vermummte am Fenster erschien und sagte: ‚Ich habe von den Leuten gehört, daß hier Märchen erzählt werden. Aber hier werden ja gar keine Märchen erzählt. Ich werde gehen und mich in eine Quelle am Wege verwandeln. Wenn der Herr vorbeikommt und aus mir trinkt, wird er umkommen. Aber wer das hört und es dem Gutsherrn berichtet, der versinkt bis zu den Knien in die Erde.’ Und dann ging sie davon…“ Schwupp, da versank das Pferd bis zu den Knien in die Erde. „Siehst du also, Gutsherr, warum ich die Pferde nicht bei der Quelle halten lassen wollte? Bald hörte ich die zweite Vermummte kommen. Sie sagte: ‚Ich habe von den Leuten gehört, daß hier 559
ein Gutsherr Märchen erzählt, aber hier werden ja gar keine Märchen erzählt. Ich gehe und verwandle mich in einen Apfelbaum am Wege mit goldenen und silbernen Blättern und mit goldenen und silbernen Äpfeln. Wenn der Gutsherr vorbeigefahren kommt und einen Apfel ißt, wird er umkommen. Und wer das hört und dem Herrn berichtet, der wird bis zum Gürtel in die Erde versinken.’ Und sie ging davon.“ Schwupp, da versank das Pferd bis zum Gürtel in die Erde. „Deshalb also habe ich die Pferde am Apfelbaum nicht anhalten lassen, lieber Gutsherr. Aber höre weiter zu: Die zweite Vermummte war gerade fortgegangen, als die dritte an das Fenster trat und sagte: ‚Ich habe gehört, daß hier ein Gutsherr Märchen erzählt. Aber hier werden ja gar keine Märchen erzählt. Ich gehe und verwandle mich in ein weiches Bett am Wege. Wenn der Gutsherr auf mir schlafen will und sich auf mich legt, wird er nicht mehr aufstehen. Wer das hört und es dem Gutsherrn erzählt, der versinkt bis zum Hals in die Erde.’ Dann ging sie fort.“ Schwupp, da versank das Pferd, auf dem der Kutscher saß, bis zum Halse in die Erde. „Deshalb also habe ich die Pferde nicht am Bett angehalten.“ Er sprang vom Pferd, wollte es aus der Erde herausziehen, konnte aber nichts machen. Da liefen die Leute herzu und begannen es auszugraben. Sie gruben und gruben, ohne es herauszubekommen, denn es verschwand in der Erde. Da übergab der Gutsherr dem Kutscher die 560
Hälfte seines Gutes und veranstaltete einen Ball für alle Leute. Auch ich war dort auf dem Ball und habe Honigwein getrunken. Ein langes Messer gab man mir, und ich lief auf dem Hof umher. Dann gab man eine Pfanne mir, und ich lief in der Stadt umher. Dann gab man mir ‘nen Fiedelbogen, bin auf dem Hof herumgezogen. Alsdann bekam ich eine Stute, aus Harz war sie, oh, diese Gute! Ein Kohlkopf sollt’ der Sattel sein, aus Pastinak die Zügel fein. Auf dieser Stute ritt ich fort, kam zu der Schenke in dem Ort, Heuschrecken gleich die Burschen kamen, mich mit Gewalt vom Sattel nahmen. Den Sattel fraßen gebratene Schweine, den Zügel – Ziegen, ganz gemeine. Auf einmal aber helle ward’s, und es zerschmolz die Stut’ aus Harz.
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51 Das Märchen vom Märchen Es war einmal ein Herr, der liebte die Märchen sehr, noch mehr, als ich sie liebe. Wer auch immer zu ihm kam, den hielt er fest, damit er ihm etwas erzählte. Da kam einmal ein Soldat vom Militärdienst zurück. Unterwegs übernachtete er bei diesem Herrn. Als es Zeit war sich hinzulegen, bat ihn der Herr: „Erzählt mir ein Märchen!“ Der Soldat begann zu erzählen. Er erzählte ihm ein Märchen, ein zweites und ein drittes. Es war dem Soldaten schon leid, denn er wollte gern schlafen. Der Herr drang aber immer mehr in ihn und sagte: „Erzählt doch noch ein Märchen, noch ein Märchen!“ So quälte er den Soldaten und ließ ihn nicht schlafen. Da dachte der Soldat bei sich: Warte nur, ich werde es schon so einrichten, daß du nicht mehr um Märchen bitten wirst, wenn jemand zu dir kommt. Schließlich legten sie sich schlafen. Der Herr schickte den Soldaten auf den Hängeboden, und er selbst legte sich auf den Ofen. Am Ofen aber stand ein großer Eimer voll Spülwasser. Der Soldat kannte ein paar Zaubersprüche. Er wartete, bis der Herr eingeschlafen war, dann stand er auf und ergriff seinen kleinen Finger. Da 562
bekam der Herr einen Alpdruck und begann alles das zu träumen, was der Soldat dachte. Der Soldat aber dachte: Es war einmal eine große Hungersnot ausgebrochen, und ich flog mit dem Herrn zusammen aufs Feld. Wir flogen und flogen und hatten Hunger. Da lief das Pferd des Herrn auf dem Felde herum. Ich sagte: ‚Wir werden das Pferd essen! Wir haben Hunger.’ Da antwortete der Herr: ‚Das können wir doch nicht essen. Das ist doch mein Pferd! Es tut mir leid darum.’ Ich sagte: ‚Das darf dir nicht leid tun, der Hunger ist keine liebe Tante.’ Da sagte der Herr: ‚Nun gut, essen wir das Pferd!’ Wir aßen das Pferd auf und flogen weiter. Wir stießen auf die Kinder des Herrn, und ich sagte: ‚Es ist gut, daß wir die Kinder gefunden haben. Wir werden sie fangen und aufessen.’ Da sagte der Herr: ‚Wie können wir sie denn aufessen! Das sind doch meine Kinder!’ Ich aber sagte: ‚Der Hunger ist keine liebe Tante, wir müssen sie aufessen.’ Da aßen wir die Kinder auf. Schließlich trafen wir die Frau des Herrn. Ich sagte: ‚Wir müssen die Frau aufessen.’ Da begann der Herr zu weinen und sagte: ‚Das ist doch meine Frau, ich kann sie doch nicht essen!’ Da sagte ich: ‚Der Hunger ist keine liebe Tante. Wir müssen sie aufessen.’ 563
So verspeisten wir die Frau des Herrn. – Wir fliegen weiter und haben wieder Hunger. Da sehen wir einen Bären hinter uns herfliegen. Wir fliegen in den Wald. Dort ist eine Bude aus Rinden, die sich die Holzfäller als Schutz gegen den Regen gebaut haben. Ich sage: ‚Laß uns schnell in die Bude laufen und uns dort verstecken!’ Ich laufe als erster hinein, und der Herr hinterher. Der Bär kommt zu der Bude gelaufen und kriegt den Herrn zu fassen, denn der Herr liegt direkt am Eingang, und ich an der Wand, so daß der Bär an mich nicht herankann. Ich zerschlage die Rinde, durchstoße die Wand und sagte: ‚Komm Herr, spring über mich hinweg und laß uns fortlaufen!’ Der Soldat hatte sich das alles ausgedacht, als er auf dem Hängeboden lag. Der Herr aber hatte alles geträumt auf dem Ofen. Als er aufsprang, fiel er in den großen Eimer mit Spülwasser. Da wurde er vor Schreck gleich hellwach und schrie: „Ach du mein Gott! Ach du mein Pferdchen, wir haben dich gegessen!“ Da wachte die Frau des Herrn auf und sagte: „Was redest du da für einen Unsinn?“ Er aber schrie: „Ach, meine lieben Kinder! Wir haben euch aufgegessen!“ Die Frau erschrak und begann ebenso laut zu schreien, daß ihr Mann verrückt geworden sei. Er aber schrie weiter: „Wir haben auch meine Frau aufgegessen! Ach du mein Gott, mein Gott!“ Die Frau aber rief: „Hier bin ich doch, deine Frau!“ 564
„Nein, wir haben dich gegessen!“ Und er konnte es noch lange nicht fassen, daß er sich in seiner Hütte in dem großen Eimer mit dem Spülwasser befand. Da sieht man, was bei einem solchen Schelmenstreich herauskommen kann. Seit der Zeit bat der Gutsherr keinen mehr, der bei ihm übernachtete, Märchen zu erzählen.
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52 Wie man sich auch dreht und wendet, sterben muß man doch Man erzählt, daß vor langer Zeit einmal eine furchtbare Seuche über die Menschen gekommen sei. Niemand hatte je von einer so schrecklichen Krankheit gehört. Es gab kein Haus, in dem nicht zwei bis drei Menschen starben, und in einigen waren alle Bewohner gestorben, so daß die Bauernhöfe leer standen. Damals lebte ein Mann, der zwölf Kinder hatte, sieben Söhne und fünf Töchter. Sie waren alle hübsch und kühn. Er hatte gearbeitet, die Kinder hatten gearbeitet, und Gott hatte ihnen Reichtum und ein gutes Auskommen gegeben. Bekanntlich ist es ja so, daß in einer Familie Ordnung herrscht, wenn ihr Gott Gesundheit gibt, daß sie Vieh hat und daß ihr nichts mehr zum Glück fehlt. Die Familie war also glücklich. Aber wiederum sagt man auch, daß das Glück nicht ewig währt. So kam ein Unglück nach dem anderen über das Haus. Die Krankheit raffte in einem Frühjahr alle Kinder dahin. Es blieben nur noch der Mann und seine Frau zurück, und auch die Alte war schon krumm wie ein Ast. Im Sommer wurde das Dorf überschwemmt, und dem Manne brannte durch einen Blitzschlag der ganze Bauernhof ab. Der Hagel zerschlug ihm das Korn, und die Wiesen standen unter Wasser. Es kam der 566
Herbst, und die Seuche raffte das gesamte Vieh dahin. Der Mann blieb allein zurück, fahl und kahl, so nackt, wie ihn seine Mutter geboren hatte. Es fiel ihm schwer, betteln zu gehen. Daher ging er zum Fluß, um sich zu ertränken. Am Ufer begann er Gott Vorwürfe zu machen und den Tod herbeizurufen. Da brauste ein Sturm los, der Wald rauschte, und die Zweige krachten. Plötzlich trat der Tod heraus; er war so furchtbar, daß man es kaum beschreiben kann. „Du hast mich gerufen?“ fragte der Tod. „Ich bin gekommen, aber du wirst nicht sterben.“ „Was willst du denn? Warum quälst du mich?“ sagte der Mann und begann den Tod zu beschimpfen. Der Tod hörte sich das eine Weile an und lachte so laut, daß seine Knochen klapperten. Dann sagte er: „Es ist nicht nur so, daß du nicht so bald sterben wirst, sondern du wirst sogar noch andere heilen. Du kannst nur die nicht heilen, bei denen du mich am Kopfende des Bettes erblickst.“ Dann verschwand er. Der Mann stand da, dachte nach und verfiel in noch größeren Kummer. Er stieg auf das Steilufer hinauf und stürzte sich in den Fluß. Als er ins Wasser fiel, stand der Tod an seinen Füßen und hielt ihn am Hintern fest. Wie er sich auch drehte und wendete, er konnte nicht untergehen. Da spuckte er dem Tod in die Zähne und zog hinaus in die Welt. Kranke Menschen gibt es überall viele. Wo man auch hinkommt, überall sind welche zu heilen. So wanderte dieser Mann durch die Welt und heilte 567
viele Kranke. Er sah immer nach, wo der Tod bei den Kranken stand, stand er zu Füßen, gab er dem Kranken Wasser zu trinken, und er wurde gesund, stand er aber am Kopf, dann sagte er, daß Gott den Kranken zu sich nehmen wende. So ging die Kunde von dem Mann durch die ganze Welt. Da wurde einmal ein Zar krank. Er wollte aber nicht sterben und rief daher die Ärzte aus dem ganzen Zarenreich zusammen. Aber was sie auch immer taten, sie konnten ihn nicht gesund machen. Da versprach der Zar demjenigen, der ihn heilen würde, das halbe Zarenreich. Aber es fand sich kein Arzt, der den Zaren heilen konnte. Da erfuhr der Zar von dem Mann, der alle heilte, und schickte Boten aus, ihn zu suchen. Sie suchten eine Weile, fanden den Mann und brachten ihn zum Zaren, der kaum noch atmen konnte. Der Mann sah, daß der Tod dem Zaren zu Füßen stand und befahl, Wasser aus zwölf Quellen zu holen. Man holte das Wasser, er nahm eine Schöpfkelle von jeder Sorte, schüttete etwas Lehm darauf und gab es dem Zaren zu trinken. Nur mit äußerster Anstrengung konnte der Zar das Wasser herunterschlucken, doch bald besserte sich sein Befinden, und nach drei Tagen fühlte er sich schon ganz wohl. Er wurde wieder gesund und beschenkte den Mann mit allem, was er sich wünschte. Von dieser Stunde an lebte der Mann herrlich und in Freuden. Man gab ihm alles, und alle verehrten ihn. Er lebte in einem Palast und ließ alle 568
fünfe grade sein. Nur etwas quälte ihn, nämlich, daß er eines Tages sterben müßte. Denn er wollte jetzt überhaupt nicht mehr sterben. Bekanntlich ist ein Mensch reich, wenn er gesund ist. So überlegte er, wie er den Tod betrügen könnte, und ließ sich ein Bett machen, das man drehen konnte. Nach einiger Zeit wurde er krank. Er sah, daß der Tod an seinem Kopf stand, und drehte das Bett so, daß der Tod am Fußende stand. Als der Tod das sah, ging er weiter. So lebte der Mann noch ein Weilchen, bis der Tod wieder zu ihm kam und sich bei seinem Kopf aufstellte. Der Mann drehte das Bett, und wieder ging der Tod weiter, um einen anderen Menschen zu suchen. Als der Mann noch ungefähr zwei Jahre gelebt hatte, wurde er wieder krank, schwer krank. Also legte er sich aufs Bett und wartete, bis der Tod kam. Als er sah, daß der Tod bei seinem Kopfende stand, da lachte er nur. Er drehte das Bett, aber der Tod stand wiederum am Kopfende. Der Mann drehte das Bett nochmals herum, aber der Tod lief wieder auf die andere Seite. Noch lange drehte er das Bett, aber der Tod lief immer mit und sagte schließlich: „Wie du dich auch drehst und wendest, sterben mußt du doch!“ Und er setzte sich auf den Kopf des Kranken. Wie jener auch das Bett drehte, der Tod war immer am Kopfende. Nein, dachte der Mann, der Tod sagt die Wahrheit. Wie man sich auch dreht und wendet, sterben muß man doch. Den Tod kann man eben doch nicht betrügen. 569
53 Der unsterbliche Schmied Es war einmal ein Schmied, der lebte zu der Zeit, als Christus mit den Aposteln über die Erde ging und die Menschen zur Religion bekehrte. Christus kam auch zu dem Schmied und bat um ein Nachtlager. Er wollte sich vor dem Sturm schützen. Dann bat er auch um Abendbrot. Der Schmied freute sich sehr über diese Gäste. Trotz des Gewitters ging er Branntwein und Heringe holen und sagte zu seiner Frau, sie solle Kartoffeln kochen. All das sah der heilige Petrus und sagte: „Wohin gehst du denn? Dich wird noch der Blitz erschlagen!“ Da antwortete der Schmied: „Was bist du für ein Dummkopf! In meiner Hütte ist doch der Herr Jesus, wie kann mich der Blitz erschlagen?“ Der Schmied ging und brachte den Branntwein. Sie aßen Abendbrot und legten sich schlafen. Am anderen Morgen, als sie aufgestanden waren, bedankte sich der heilige Petrus bei dem Schmied und sagte zu ihm: „Herr Jesus wird dir für das Nachtlager alles geben, was du haben möchtest.“ Er schlug ihm vor, bei Christus um die Erlösung von den Sünden und den Einzug ins Paradies zu bitten. Da antwortete der Schmied: „Was bist du doch für ein Dummkopf, und das als Heiliger! Wozu 570
brauche ich denn die Erlösung? Ich will doch noch leben. Ich wünsche mir ein Spiel Karten, mit dem ich immer gewinne, und einen Stuhl, den keiner, der darauf sitzt, ohne meine Erlaubnis verlassen kann. Dann wünsche ich mir noch einen Apfelbaum mit goldenen Äpfeln, den man ohne meine Erlaubnis nicht mehr loslassen kann, wenn man ihn berührt hat.“ Der Herr Jesus erfüllte ihm alle drei Wünsche. Der Schmied lebte noch lange und wurde alt. Da kam der Tod, um ihn zu holen. Der Schmied bat den Tod, sich auf den Stuhl zu setzen. „Es ist noch Zeit genug, um mich zu holen. Laß uns erst ein wenig Karten spielen!“ Sie vereinbarten: Wer verliert, bekommt eine Ohrfeige. Dann setzten sie sich hin und spielten. Der Tod verlor immer und bekam Ohrfeigen. Weglaufen konnte er aber nicht, denn er konnte nicht von dem Stuhl aufstehen. Da kamen die Teufel geflogen, um die Seele des Schmiedes zu holen. Der Schmied lud sie ein und sagte: „Geht in den Garten und pflückt euch jeder einen goldenen Apfel, es ist noch Zeit genug!“ Die Teufel flogen zu dem Apfelbaum, und als sie die Äpfel berührten, konnten sie nicht mehr fortgehen. So hielt der Schmied den Tod und die Teufel zwei Jahre bei sich fest. Die Kranken und Alten starben nicht mehr, und auch die im Krieg Verwundeten konnten nicht sterben. Da bat der Tod den Schmied, ihn und die Teufel freizulassen, und 571
sie vereinbarten, daß die Seele des Schmiedes nicht in das Fegefeuer käme. Dann ließ der Schmied sie frei. Er lebte noch zwanzig Jahre und war schon steinalt. Da hatte er das Leben satt, nahm einen Sack und einen Schmiedehammer und ging den Tod suchen. Er ging und ging und kam zu einem Tor. Auf dem eisernen Tor erblickte er in feurigen Lettern die Aufschrift: „Fegefeuer“. Da stürzten sich allerlei Ungeheuer und Tiere auf den Schmied und wollten ihn nicht an das Tor heranlassen. Er ging aber doch hin. Da verschloß man vor ihm das Tor, und er begann mit dem Hammer daran zu schlagen. Er schlug und schlug, aber es war vergeblich. Die Teufel ließen ihn nicht herein, denn sie fürchteten, daß er das ganze Fegefeuer auseinanderjagen würde. So kehrte der Schmied zurück und ging einen anderen Weg entlang. Er ging und ging und kam ins Paradies. Dort war ein schönes Tor, ganz aus Glas, und es trug in goldenen Lettern die Aufschrift: „Paradies“. Aber als sie im Himmel sahen, daß der Schmied kam, verschlossen sie das Tor. Da begann er mit seinem Schmiedehammer an die Pforte zu schlagen, aber das Tor klirrte nur. Dem heiligen Petrus, dem Paradiespförtner, wurde der Lärm zu bunt, und er öffnete ihm die Pforte. Als der Schmied ihn erblickte, sagte er: „Als du mit dem Herrn Jesus bei mir warst, tat es mir nicht leid um Kartoffeln und Branntwein, ich habe euch bewirtet, aber du läßt mich noch nicht einmal auf die Schwelle.“ 572
Da schämte sich der heilige Petrus, er öffnete ihm das Tor und ließ den Schmied in den Himmel hinein. Und seitdem sind der Herr Jesus, die Mutter Gottes, der heilige Petrus und der Schmied die einzigen Bewohner des Paradieses.
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54 Der gerechte Richter Vor langer Zeit lebte einmal ein gerechter Richter. Jetzt wählt man die Richter für drei Jahre, den gerechten Richter aber wählte man damals für dreißig Jahre. In den dreißig Jahren, in denen er auf dem Richterstuhl saß, ließ er nie ungerechterweise Gnade walten, ließ sich von niemandem bestechen, beleidigte und beschimpfte auch niemanden. Es wurden immer nur so viele Schläge verabreicht, wie im Urteil standen. Als die dreißig Jahre nun um waren, kam die Gemeindeversammlung zusammen, um zu beraten, ob man ihn in seinem Amt belassen oder durch einen anderen ersetzen sollte. „Meine Herren Gemeindemitglieder, ich habe nichts gegen die Gemeindeversammlung, ich habe auch nichts gegen Gott. Wenn ihr wollt, daß ich weiter Richter bleibe, dann brennt mir die Augen aus!“ Die Gemeindeversammlung willigte ein, ihm die Augen auszubrennen, denn er arbeitete ja doch nicht mit den Händen, sollte er also ruhig blind dasitzen. Und so, wie er als Sehender gerichtet hatte, so richtete er noch dreißig Jahre als Blinder. Da trat die Gemeindeversammlung zusammen, um ihn abzusetzen. 574
Er aber war in eine Badestube gegangen. Er hatte sich gerade ausgezogen und ließ sich Wasser über den Kopf laufen, da fühlte er plötzlich am Fuße etwas Kaltes. „Wer bist du?“ „Ich bin eine Unke, gerechter Richter!“ „Warum bist du gekommen?“ „Ich habe mir für den Winter ein warmes Öfchen gebaut, um überwintern zu können. Da kam plötzlich ein Aal und hat mich von meinem Öfchen weggejagt.“ „Was ist das für ein Mann, der sich selbst kein Öfchen bauen kann und deshalb ein Weib verjagt? Bringe ihn hierher! Sage ihm: ‚Komm mit zum gerechten Richter!’“ Zuerst wollte der Aal nicht auf die Unke hören und sagte: „Ich habe keine Angst vor dem gerechten Richter, und ich gehe nicht zu ihm.“ Dann aber brachte die Unke den Aal doch zum Richter. Da fühlte der Richter wieder am Bein etwas Kaltes. „Hast du ihn mitgebracht?“ „Ja, ich habe ihn mitgebracht.“ „Aal, wie konntest du das tun? Die Unke ist ein Weib, und du bist eine so hochgestellte Persönlichkeit. Du sollst fünf Schläge bekommen.“ „Sieh mal, Unke, ich ziehe aus einem Rutenbündel fünf Gerten heraus und verabreiche ihm fünf Schläge damit.“ „Leg dich hin, du Biest! Wie konntest du ein Weib verjagen?“ Der Aal legte sich ihm zu Füßen. 575
„Mich kann man nicht bereden. Weder überreden noch kaufen, denn ich bin der gerechte Richter.“ Er hob seine Hand und schlug mit der Gerte zu, da konnte er die Unke und den Aal wieder sehen. „Denke daran, du Biest, ich erlasse dir vier Schläge dafür, daß du so schnell auf das Weib, die Unke, gehört hast und mitgekommen bist. (In Wirklichkeit aber verzieh er dem Aal, weil er wieder die Welt sehen konnte.) Denke daran, du Biest, daß man ein Weib wie die Unke nicht vom Ofen verjagt!“ Dann gingen sie wieder alle an ihre Plätze. Der gerechte Richter kam in die Gemeinde, bekreuzigte sich und hängte seine Mütze an den Nagel. Da sagte ein Wächter zum anderen: „Unser gerechter Richter kann wieder sehen!“ Man rief die Gemeindeversammlung zusammen, um zu wählen. „Ich habe nichts gegen Gott und auch nichts gegen die Gemeinde. Dreißig Jahre habe ich sehend gerichtet und dreißig Jahre blind. Es ist Zeit, den alten Knochen Ruhe zu gönnen, versetzt mich in den Ruhestand!“ Er verneigte sich vor der Gemeindeversammlung und ging davon. Er kam zu einer Schonung und dachte bei sich: Ich werde hier übernachten, sonst denken meine Söhne und Enkel, daß der Großvater schlecht gedient habe und deshalb vor Anbruch der Nacht fortgejagt worden sei. Er wollte schlafen, aber die Mücken summten um ihn herum und ließen ihn nicht ruhen. Er zün576
dete ein Feuer an und legte sich auf die Seite. Da erschien der Herrgott und sagte: „Warum übernachtet Ihr hier? Darf ich mit Euch zusammen übernachten?“ „Das darfst du nicht, denn du hast dich schuldig gemacht.“ „Wieso?“ „Die Sonne scheint für alle gleich, und wir sehen sie alle gleich, aber wir leben nicht alle gleich, denn der eine ist satt, hat Nahrung und Kleidung, der andere aber hat nichts.“ Da verließ der Herrgott den gerechten Richter und schickte den heiligen Nikolaus, den Knecht Gottes, zu ihm. Der heilige Nikolaus erschien und fragte: „Übernachtest du hier?“ „Ja.“ „Kann ich bei dir mit übernachten?“ „Wer bist du denn?“ „Der heilige Nikolaus.“ „Nein, das geht nicht, du hast dich schuldig gemacht.“ „Wodurch denn?“ „Der Reiche kauft eine Kerze oder gießt sie aus Wachs und stellt sie für dich in der Kirche auf. Du ziehst dann die Brauen hoch, sperrst den Mund auf, verdrehst die Augen und siehst dem Reichen, der dir die schöne Kerze geweiht hat, ins Gesicht. Wenn aber ein Armer für sein letztes Geld eine Kerze kauft und sie in der Kirche aufstellt, dann senkst du die Lider, verschließt die Augen, läßt den Mund hängen und siehst den Armen nicht an, 577
der dir nur eine schlechte Kerze dargebracht hat. Geh wieder, mit mir zusammen darfst du nicht übernachten!“ Und er verjagte den Heiligen. Nikolaus kam zum Herrn und sagte: „Er hat auch mir eine Schuld nachgewiesen.“ „Laß uns den Tod zu ihm schicken!“ Der Tod ging zu ihm und sagte: „Guten Tag, gerechter Richter!“ „Wer bist du denn?“ „Ich bin der Tod.“ Der Richter stand auf und verbeugte sich vor ihm, denn ihm konnte er keine Schuld nachweisen. Er nimmt kein Geld, er läßt sich nicht bereden und nicht bestechen. Sie übernachteten zusammen, und am Morgen erhob sich der gerechte Richter, um weiterzugehen. Er wusch sich vorher die Augen aus, und der Tod sah ihn an. Der Richter betete zu Gott und ging. Da sagte der Tod: „Ich gehe mit dir!“ „Ich bitte ergebenst darum.“ So gingen sie zusammen. „Gerechter Richter, ich werde dich vierzig Sashen vor deinem Hause sterben lassen.“ „Ach, lieber Herr Tod, Väterchen, du bist weder zu erweichen noch zu bestechen. Laß mich noch nach Hause, damit ich nicht ohne Beichte sterbe!“ „Geh weiter, ich werde dich aber trotzdem sterben lassen.“ So riefen sie einen Geistlichen zu dem Richter. Der nahm ihm die Beichte ab. Dann erschien der 578
Tod und sagte: „Gerechter Richter, jetzt mußt du sterben!“ „Nein, gestatte mir, Herr Tod, wenigstens noch einmal durch meinen Garten zu gehen. Ich hatte im Garten Bienen und viel Obst und Gemüse, ich möchte sehen, ob sie bei meinen Söhnen genauso gedeihen wie bei mir.“ Er kam in den Garten, und da summten die Bienen ebenso, da blühten die Blumen ebenso, und da reiften die Früchte ebenso. Dann starb der Richter. Der Tod nahm seine Seele aus dem Körper, und nur der Körper blieb auf dem Hof zurück. Lange noch ging der gerechte Richter mit dem Tod durch seinen Garten und konnte sich nicht genug daran ergötzen. „Es ist schön bei dir im Garten, gerechter Richter!“ „Alles ist gut, nun kann ich sterben!“ (Der Tod aber hatte ihn schon lange sterben lassen.) Sie kamen zu dem Hof, und dort weinte man schon an der Leiche des Richters. „Ach, lieber Tod, warum weinen die Leute in meinem Hause?“ „Sie weinen an deinem Körper, denn hier bei mir bist du nur noch eine Seele!“ „Und wohin soll ich, was hat Gott befohlen?“ „Gott hat befohlen, dich ins Himmelreich zu lassen.“
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55 Der nackte Richter In einer Stadt lebte einmal ein Richter, der war sehr grausam. Es brauchte nur einmal jemand zu husten oder ein böses Wort zu sagen, so bestrafte er ihn sofort. Einmal fuhr er mit seinen Dienern auf die Jagd. Da kam eine Füchsin gesprungen. Die Jäger zielten auf sie, der Richter aber sagte: „Schießt nicht, ich fange sie mit dem Pferd ein!“ Er jagte hinter der Füchsin her. Die Füchsin stürzte sich in den Fluß und er ihr nach. Die Füchsin lockte ihn in das Dickicht und in den Sumpf. Der Richter kam vom Wege ab, verlor das Pferd und die Kleidung. So lief er nackt umher. Dort hütete ein alter Mann mit seinem Enkel Vieh. Als sie den Nackten erblickten, erschraken sie. Er ging auf sie zu. Da faßte der alte Mann Mut und begann den Richter mit seiner Peitsche und seinem Schäferhorn zu schlagen. „Ich bin doch euer Richter!“ schrie der Nackte. Der alte Mann aber schlug ihn immer weiter auf den nackten Körper. Dann gab er ihm einen Sack. Er schnitt Löcher für die Arme hinein, und der Richter ging weiter, um seine Stadt zu suchen. In der Stadt aber nahm ihn niemand auf. Seinen Platz hatte schon ein anderer Richter eingenommen.
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Weil der nackte Richter nichts zu essen hatte, führte er die Blinden und Bettler, denn jene bekommen zuweilen ein Almosen. Als sein Nachfolger gestorben war, sagte man zu ihm: „Komm zu uns als Richter!“ „Nein“, antwortete er, „ich will lieber die Bettler führen.“ Und noch heute führt ein Richter in einem fremden Land die Blinden und Bettler.
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56 Gott, der arme Bauer und die Richter Es war einmal ein armer Bauer, der ging auf den Jahrmarkt und kaufte sich eine trächtige Stute. Als er nach Hause zurückkehrte, überfiel ihn die dunkle Nacht in einem Dorfe. Er bat um Nachtlager, aber niemand ließ ihn hinein. Schließlich sagte ein Bauer: „Da war vorhin schon ein alter Mann hier, der bat auch um Nachtlager. Er übernachtet dort hinter dem Dorf. Geh auch du dorthin!“ Nun, er ging und kam auch dorthin. „Sei gegrüßt, Onkelchen!“ „Sei gegrüßt!“ „Kann ich nicht hier bei dir mit übernachten?“ „Ja, das kannst du.“ Dieser Alte war Gott selbst. Er steckte einen Pfahl in die Erde und sagte: „Da binde deine Stute an!“ So übernachteten sie zusammen. Als sie am anderen Morgen aufstanden, hatte die Stute gefohlt. Da begann der Alte wegen des Fohlens zu streiten. Der Bauer sagte: „Meine Stute hat gefohlt!“ Der Alte aber sagte: „Nein, mein Pfahl hat gefohlt!“ Sie stritten und stritten und beschlossen, vor Gericht zu gehen.
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So führte der Bauer den Alten zum ersten Gericht, zum zweiten und zum dritten, und überall gewann der Alte. Er gab überall den Richtern Geld. Als sie alle Gerichte aufgesucht hatten, sagte der Alte zu dem Bauern: „Nun waren wir vor all deinen Gerichten, laßt uns jetzt zu meinem Gericht gehen und sehen, was mein Richter sagt!“ So kamen sie zum Erzengel Gabriel. Gott sagte: „Richte du über uns, heiliger Gabriel! Die Sache ist so und so; du sollst entscheiden, ob seine Stute oder mein Pfahl gefohlt hat.“ Erzengel Gabriel sah ihn nur an und sagte dann: „Herr, ich bin durch ein blaues Meer gegangen und habe Hafer gesät; ich weiß nicht, ob er aufgegangen ist oder nicht, lieber Herr.“ Da sagte der Herrgott: „Wie kann denn Hafer in dem Meere wachsen?“ „Und wie kann ein Pfahl ein Fohlen bekommen?“ Nach diesem Urteil schickte der Herrgott den Bauern mit Stute und Fohlen fort, und der arme Bauer ging nach Hause.
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57 Die Heiligen Elias und Petrus Vor langer Zeit, als Gott noch auf Erden wandelte, hatte er einmal die ganze Welt den Heiligen Elias und Petrus anvertraut. Aber wo zwei Herren sind, gibt es bekanntlich keine Ordnung. Der eine schickte Regen und der andere schönes Wetter. Da weinten die Wolken und wußten nicht, was sie machen und wem sie gehorchen sollten. Wenn es regnete, lief Petrus umher und schrie sie an: „Was macht ihr denn, ihr verfluchten Weiber, ihr macht ja das Heu naß, jetzt mähen doch die Leute!“ Die Wolken sagten: „Das hat uns Elias befohlen.“ „Ach, ihr Brummochsen“, brüllte Petrus, „ich werde euch euren Elias schon zeigen! Elias macht doch immer Mist!“ Petrus ergriff einen Besen, jagte die Wolken in die Ecken und fegte den Himmel sauber. Da kam plötzlich Elias herangeschossen und schrie, daß Himmel und Erde erdröhnten. Die Wolken drängten sich erschrocken zusammen, krochen aus den Ecken, und schon ging ein Regen hernieder, der nicht nur die Flußufer, sondern auch die Hügel überschwemmte. Die Leute beklagten sich bei Gott darüber, daß sich die Herren zankten, und die Bauern schüttelten die Köpfe. Sie baten Gott darum, daß er gutes Wetter schicken möge. Gott 584
rief Elias zu sich und schimpfte ihn aus. Elias aber sagte, daß es überall zuviel Ungeheuer und Teufel gäbe, die man mit Donner und Blitz erschlagen müsse, weil sie die ganze Welt besudelten. Da rief Gott auch Petrus zu sich und erklärte ihm, daß Elias zuweilen die Teufel verjagen müsse. Inzwischen ließ Elias ein solches Unwetter kommen, daß die ganze Erde bebte. Es war weder Tag noch Nacht, die Wolken drängten sich wie Tiere im Käfig, und am Himmel brodelte es wie in einem Topf. Es blitzte, daß es einem schwarz vor den Augen wurde, der Donner grollte ununterbrochen, schlug in Tannen und Eichen ein und setzte Gebäude und Heuschober in Brand. Elias aber fuhr im Himmel umher und kommandierte. „So ist es richtig, so ist es richtig! Ho – ho – ho! Noch mehr, noch mehr, verdrescht ihn, dieses Scheusal… So, so ist es richtig… Ho – ho – ho! Schlagt ihm ins Genick! Ho – ho – ho! Ins Genick, ins Genick, verdrescht ihn, dieses Scheusal! Klatsch, klatsch! So ist es richtig, so ist es richtig! Ho – ho – ho!“ Die Leute baten den lieben Gott, das Gewitter zu beenden. Elias aber hörte nicht darauf. Petrus lief umher und spie Gift und Galle aus seinem zahnlosen Mund. Als Elias genug Spaß gehabt hatte, machte er seinen Wagen sauber, und dann fuhr er zur Sonne zu Besuch. Da fegte Petrus den Himmel rein und trocknete schnell die Erde. Und als die Zeit für die Getreideaussaat herankam, war die Erde trocken wie heiße Asche, und die Menschen gerieten in furchtbare Not, weil kein 585
Regen fiel. Elias scherzte mit der Sonne und hatte die Erde ganz vergessen. Petrus und er waren aufeinander wütend und hatten keine Lust zusammenzutreffen. Eines Tages beschlossen sie, durch die Welt zu gehen und die Leute zu fragen, wen sie mehr liebten, Petrus oder Elias. Kurz nachdem sie auf die Erde herabgestiegen waren, trafen sie sich. Sie gingen zusammen weiter und stritten sich. Petrus sagte, daß ihn die Menschen mehr liebten, Elias aber meinte, daß sie ihn mehr liebten. Wie sollte man da herausbekommen, wer Recht hatte? Schließlich trafen sie einen Mann, der Buchweizen säte. „Komm“, sagte Petrus, „wir wollen ihn fragen, wen die Bauern mehr lieben!“ „Fragen wir ihn“, antwortete Elias. „Grüß Gott!“ sagte Petrus. „Danke!“ „Sag uns, lieber Mann, wen liebt ihr mehr, den heiligen Petrus oder den heiligen Elias?“ Der Mann nahm das Sätuch von der Schulter, legte es auf die Erde, kratzte sich im Nacken und sagte: „Weiß Gott, wen wir mehr lieben! Vielleicht Elias, vielleicht aber auch Peter und Paul.“ „Schwatz kein dummes Zeug“, sagte Petrus, „sondern gib uns eine richtige Antwort!“ „Elias, Peter und Paul sind alle drei gute Heilige. Wir lieben sie alle.“ „Aber wen liebt ihr am meisten?“
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Als der Bauer merkte, daß er nicht ausweichen konnte, sagte er: „Wahrscheinlich Peter und Paul.“ Da zitterte Elias vor Wut. Als sie weitergingen, sagte er: „Dafür werde ich ihm das Feld anstecken und vollkommen abbrennen lassen.“ Petrus aber antwortete: „Und ich werde es regnen lassen, damit alles gut wächst.“ Schließlich vereinbarten sie, wer zuerst Brot von diesem Acker äße, solle sich daran verschlukken. Da schmunzelte Petrus, und sie gingen weiter. Dieser Sommer war sehr schön. Am Tage war schönes Wetter, war es warm, und in der Nacht fiel entweder warmer Tau, oder es ging ein leiser warmer Regen nieder. Alles ging wie Hefeteig auf, und wenn man ein Kind auf das Feld gesetzt hätte, wäre es auch mitgewachsen. Als der Buchweizen gürtelhoch gewachsen war, wurde er geerntet. Der Bauer stopfte die halbe Scheune damit voll. Er drosch den Buchweizen, mahlte ihn, und seine Frau buk einen ganzen Ofen frischer Brote daraus. Zu jener Zeit kamen Elias und Petrus in das Dorf und übernachteten bei dem Bauern. Elias erkannte den Mann nicht mehr. So setzten sie sich zum Abendbrot nieder. „Gott sei Dank“, sagte der Bauer, „heuer ist mein Buchweizen gut gewachsen, probiert nur das frische Brot, liebe Gäste.“ Elias war sehr hungrig, langte nach dem Brot und verschluckte sich beim ersten Bissen. Man versuchte alles mögliche, er trank Wasser nach, 587
man schlug ihm mit der Faust auf die Brust und auf den Rücken und was sonst noch üblich ist. Schließlich erinnerte er sich an die verwünschten Brote, und er entschuldigte sich sofort bei dem Bauern und bei Petrus, als er wieder zu sich gekommen war. Seit dieser Zeit macht sich Elias einen Spaß daraus, die Leute bei der Heuernte zu stören. Es wäre ja noch alles gut, wenn Petrus nicht so alt und taub wäre. Gott sagt: „Schick Regen, wenn die Leute darum bitten!“ Petrus aber versteht es nicht richtig und schickt ihn zur Erntezeit.
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58 Wie die Heiligen Nikolaus und Petrus Pferde kauften Der liebe Gott hatte die Welt nicht so eingerichtet, daß alle Güter gleichmäßig verteilt waren, das Vieh, die Menschen und die Pferde. Zuerst war das meiste in der Ukraine. Als der Frühling kam, hatte ein belorussischer Bauer nichts, womit er pflügen konnte, denn es waren keine Pferde da. Es geht doch aber nicht, daß unser Bruder vor Hunger umkommt! Da gab der liebe Gott dem heiligen Nikolaus und dem Apostel Petrus Geld gegen Quittung und schickte sie in die Ukraine, um Pferde zu kaufen. Der heilige Nikolaus trank sehr gerne und ging deshalb zusammen mit Petrus in eine Kneipe. Sie tranken erst einen halben Schnaps und dann noch einen zweiten. Als Nikolaus der Schnaps zu Kopfe stieg, wurde er leichtsinnig und vertrank alles Geld, das ihm Gott gegeben hatte, bis auf die letzte Kopeke. Nikolaus und Petrus hatten jetzt nichts mehr, womit sie die Pferde kaufen konnten. Da sahen sie zwei Herden Pferde vorbeilaufen. Nikolaus schwang sich auf das erste Pferd, und die eine Herde folgte ihm. Petrus schwang sich auf das Leitpferd der anderen Herde, und sie folgte ihm auch. 589
So nahmen sie die Pferde mit, ohne daß es jemand gesehen hatte. Es gab nur drei Zeugen: der erste war eine Krähe, der zweite eine Elster und der dritte ein Kuckuck. Die Heiligen brachten Gott die Pferde und wollten ihn betrügen. Gott fragte sie: „Habt ihr diese Pferde gekauft?“ „Ja, wir haben sie gekauft.“ „Habt ihr Zeugen dafür, daß ihr sie gekauft habt?“ „Nein, Zeugen haben wir nicht.“ Da kam die Krähe herbeigeflogen und sagte: „Ihr habt wohl die Krähe vergessen! Sie wollen die Pferde gekauft haben? Sie haben sie gestohlen, gestohlen, gestohlen!“ So saß sie auf einem Zweig und rief immer dasselbe. Dann kam die Elster herbeigeflogen. „Was hast du zu berichten, Elster?“ Die Elster flog von einem Zweig auf den anderen und sagte: „Sie hat recht, Herrgott, recht, recht, recht!“ Schließlich kam der dritte Zeuge, der Kuckuck, geflogen, und der hatte Erbarmen. „Lieber Herrgott, sie haben sie gekauft, gekauft, gekauft!“ Petrus und Nikolaus freuten sich, daß wenigstens der Kuckuck zu ihnen hielt, und sie sagten: „Du mußt nur bis zum Tage des heiligen Petrus1 rufen, dann bist du frei. Ihr aber, Elster und Krähe, habt die Unwahrheit gesagt und müßt deshalb
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29. Juni – nach dem alten Kalender. (Anm. d. Übers.)
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das ganze Jahr hindurch rufen – und sollt niemals Ruhe haben.“
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59 Wozu ist Gott nötig? Gott schickte einmal seine Heiligen Freitag und Sonnabend aus, um nachzuschauen, was auf der Welt vor sich geht. So gingen die beiden Heiligen ganz früh los, als die Sonne noch nicht aufgegangen war. Sie gingen und gingen und kamen in ein Dorf. Als sie in die erste Hütte schauten, erblickten sie ein großes, hübsches und gesundes Mädchen, das war schon aufgestanden, hatte sich gewaschen und gekämmt, gebetet, die Kuh gemolken, die Hütte ausgefegt, den Ofen angeheizt und, während die Töpfe kochten, hatte sie sich hingesetzt, um zu spinnen. Da wunderten sich die Heiligen über das arbeitsame Mädchen und gingen weiter. Sie gingen durch das Dorf und kamen auf das Feld. Auf dem Feld war es noch ganz leer, keine Menschenseele war da, nur auf einem Feld war ein junger Bursche, ein hübscher Bursche. Er pflügte dort schon lange, denn ihm und dem Pferd lief schon der Schweiß herunter. Da wunderten sich die Heiligen wieder und sagten: „Wann ist er nur aufgestanden? Wie konnte er schon so viel pflügen?“ Sie gingen weiter, und da sahen sie die Sonne aufgehen. Unterwegs trafen sie immer mehr Leute, mal mit Pflügen und 592
mal mit Eggen. Als die Heiligen wieder zu einem Dorf kamen, schauten sie in die Hütten, fanden aber dort nur wenige Leute, nur lauter alte Frauen. Die Bauern waren auf den Feldern und die Bäuerinnen in den Gärten. In einer Hütte sahen die Heiligen ein großes, dickes Mädchen, das gerade die Augen geöffnet hatte. Es saß auf dem Fußboden, gähnte und reckte sich, und sein Zopf war noch ganz voll Federn, so daß es schrecklich anzusehen war. Die Heiligen betrachteten es, wunderten sich, spuckten aus und gingen weiter. Sie gingen durch das Dorf und kamen auf das Feld. Da sahen sie unter einem Busch einen jungen Burschen liegen, der schlief und schnarchte aus Leibeskräften. Neben ihm stand eine Stute vor dem Pflug und rupfte Gras. Augenblicklich hatten sie, seit sie herausgefahren waren, noch nicht gearbeitet, denn das Feld lag noch unberührt da. Die Heiligen sahen sich das eine Weile an, spuckten aus und gingen weiter. Sie kamen zum lieben Gott, und dieser fragte sie: „Nun, meine lieben Knechte Freitag und Sonnabend, was habt ihr dort auf der Erde Gutes gesehen und gehört?“ Da begannen die Heiligen von den Mädchen und von den Burschen zu erzählen, und sie sagten zu Gott: „Unserer Meinung nach müßte man den guten Burschen mit dem guten Mädchen verheiraten und den faulen mit dem faulen Mädchen. Dann hätten wir zwei Paare, die zueinander passen.“ 593
Der Herrgott aber sagte: „Dummköpfe, Dummköpfe seid ihr, wie ich sehe. Wenn ich das machen würde und sie verheiraten würde, wie ihr es mir ratet, dann würden die Menschen mich und euch vergessen. Die Arbeitsamen würden alles selbst machen und würden keinen Gott mehr brauchen, und der Faule und der Dumme würden an Gott überhaupt nicht mehr denken. Wenn ich aber den Gescheiten mit der Dummen zusammenbringe und die Dumme mit dem Gescheiten, dann werden sie mich immer anrufen. Der gescheite Bauer wird auf seine dumme Frau schauen und sagen: ‚Ach mein Gott, ach mein Gott, ich hätte mich lieber ertränken oder aufhängen sollen, als dich zu heiraten!’ Dann wird der gescheite Mann die dumme Frau schlagen, und sie wird weinen und zetern: ‚Hör mich an, lieber Gott, ach du mein Gott!’ Was sie auch immer sagt, sie wird immer Gott und die Heiligen erwähnen. Wenn ich aber nach eurer Weise, nach dummer Weise verfahre, dann brauchten die Menschen weder Gott noch Heilige.“
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60 Der weise Salomon Es gab auf der Welt keinen gescheiteren Menschen als den weisen Salomon. Salomon wußte alles, was im Himmel und auf der Erde vorging, er wußte auch, warum und wie es geschah. Nur drei Dinge wußte Salomon nicht, und zwar, warum es auf der Welt die Spinne, die Schlange und den Floh gibt. Er dachte, Gott habe einen Fehler gemacht, als er die Spinne, die Schlange und den Floh schuf, und daß sie unnütz auf der Welt seien. Da war einmal ein Aufstand im Reiche des weisen Salomon. Salomon sammelte das Heer und ging gegen die Aufständischen vor, aber der Feind kam ihnen zu Hilfe. Das feindliche Heer war wie eine dunkle Wolke. Sosehr Salomon auch kämpfte, er konnte doch nichts dagegen tun, daß sein Heer wie Gras niedergemäht wurde. Da sah Salomon, daß ein Unglück über ihn gekommen war, er verließ das Heer und floh in die Berge. Als der Feind merkte, daß Salomon in die Berge geflohen war, jagte er ihm nach. Salomon lief und lief, stolperte, die Luft ging ihm aus, und er konnte nicht weiterlaufen. Da kletterte er in eine Höhle. Dort saß er und zitterte, denn er hatte Angst, daß ihn der Feind bemerken könne. Inzwischen hatte eine Spinne am Höhleneingang ihr Netz gesponnen. Sie hatte es sehr 595
flink fertiggestellt und wartete nun darauf, daß eine Fliege käme. Als ein Feind zu der Höhle kam, sah er dort das Spinnengewebe. Nein, dachte er, hier ist lange niemand mehr gewesen, denn es ist ja schon ein Spinnengewebe davor. Und er lief weiter. Salomon wartete, bis der Feind weitergelaufen war, stieg aus der Höhle und ging davon. Er ging und ging, wurde müde und legte sich hin, um auszuruhen. Kaum lag er, da schlief er schon ein. Er hörte nicht, daß der Feind schon ganz nahe herangekommen war. Gleich würde er ihn finden und töten. Doch in dem Augenblick wurde Salomon von einem Floh an einer sehr empfindlichen Stelle gebissen. Er erwachte vor Schmerz. Als er hörte, daß seine Feinde schon so nahe waren, lief er so schnell davon, daß die Erde erzitterte und sie das Nachsehen hatten. Aber die Feinde verfolgten Salomon. Er lief und lief, stolperte und rollte den Berg hinab ins Tal. Sofort stand er wieder auf und lief weiter. In dem Tal wimmelte es nur so von Schlangen. Salomon lief schnell vorbei, die Schlangen wurden wach, aber sie konnten ihn nicht mehr beißen. Die Feinde liefen ihm nach. Als sie ins Tal kamen, fielen die ärgerlichen Schlangen über sie her und bissen sie, daß sie sich vor Schmerzen wanden. Als Salomon sah, daß das Ende der Feinde gekommen war, kehrte er in sein Reich zurück und trat seine Herrschaft wieder an. Von dieser Zeit an verstand Salomon, daß alles auf der Welt notwendig ist, denn die Welt kann nicht bestehen, 596
wenn es nicht auch das gibt, was uns als böse erscheint. Es ist wahr, daß es ohne Böses auch nichts Gutes geben kann.
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61 Vom Bauern, der so dumm wie eine Krähe und so gerissen wie ein Teufel war Vor langer Zeit, als die Welt noch nicht so gerissen war wie heute, lebte einmal ein Bauer, der so dumm war wie eine Krähe. Solange sein alter Vater noch die Wirtschaft führte, ging alles noch einigermaßen. Aber eines Tages stürzte sein Vater, lag ungefähr eine Woche darnieder und gab dann Gott seine Seele. So blieb der Dummkopf allein zurück. Da er kein Brennholz hatte, kletterte er auf die Hütte, warf Bretter vorn Dach herunter und schleppte den ganzen Haufen in die Hütte. Er steckte die Bretter in den Ofen und zündete sie an. Die Bretter ragten so weit aus dem Ofen, daß man nicht einmal mehr vorbeigehen konnte. „Warum hast du sie denn nicht zerhackt?“ fragten die Nachbarn. „Du steckst doch womöglich das ganze Dorf in Brand!“ „Die brennen auch so, wozu soll ich sie da zerhacken?“ antwortete der Dummkopf und wärmte seinen Bauch vor dem Feuer. Nun ließ es Gott Frühling werden, die Sonne wärmte und begann den Schnee zu schmelzen. Es regnete in die Hütte, und der Dummkopf hatte nirgends mehr ein trockenes Plätzchen. Da
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schleppte er einen kleinen Kübel in die Hütte, legte ihn seitlich hin und kroch hinein. Der Schnee schmolz auf den Feldern, und die Leute brachten Pflüge und Eggen in Ordnung, um den Boden bearbeiten zu können. Da wollte auch jener Dummkopf seinen Pflug zurechtmachen. Als er sah, daß der Pflug nur noch eine Sterze hatte, stieg er auf eine Eiche, setzte sich auf einen Ast und begann ihn abzusägen. „Was machst du denn da?“ fragten ihn die Leute, „du fällst doch herunter!“ „Woher wißt ihr denn das?“ antwortete der Dummkopf und hörte nicht auf zu sägen. Er sägte und sägte so lange, bis er zusammen mit dem Ast auf die Erde herabfiel. Die Erde war noch weich, und so tat ihm nur der Hintern etwas weh. Die Leute pflügten und säten nun. Auch der Dummkopf wollte das tun. Er säte, eggte dann und pflügte schließlich. „Dummkopf, was machst du denn da? Du mußt doch erst pflügen und dann säen!“ „Das ist gehupft wie gesprungen“, antwortete der Dummkopf und machte, was er wollte. „Taufe den Teufel!“ sagten die Leute und gaben es auf, den Dummen zu belehren. Aber bekanntlich hilft der Teufel den Dummen. Es kam ein sehr trockener Sommer, und bei dem Dummkopf wuchs mehr auf dem Feld als bei den anderen Leuten. Der Dummkopf hatte die ganze Scheune voll Getreide, er drosch es und füllte seine Vorratskammern.
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„Jetzt hast du viel Getreide“, sagten die Frauen, „warum willst du nicht heiraten, Dummkopf?“ „Ich warte, bis mich eine Frau heiratet“, antwortete der Dummkopf. Da lachten die Frauen und erzählten den anderen, daß der Dummkopf darauf warte, von einer Frau geheiratet zu werden. Das hörte eine junge Witwe, die keine Kinder hatte und ein so garstiges Weib war, daß ihr Mann es nicht ausgehalten und Selbstmord verübt hatte. Diese Frau kam zu dem Dummen und sagte: „Ach, Dummkopf, warum lebst du wie ein Baumstumpf? Laß uns heiraten!“ „He – he!“ lachte er, „warum nicht? Heirate mich doch!“ Die Frau ging zum Popen, lud die Leute ein und sorgte dafür, daß alles ordnungsgemäß verlief. Sie waren kaum verheiratet, da begann das Weib dem Dummen zuzusetzen und ihn mit dem Feuerhaken zu schlagen. Der Dummkopf duldete es und dachte, daß es so sein müsse, denn bekanntlich ist der Mann auch dazu da, daß das Weib jemanden hat, den es schlagen kann. Das Weib ärgerte, beleidigte und kränkte ihn, schlug ihn, daß es nur so seine Art hatte, er aber schwieg wie ein Baumstumpf. Da wurde das garstige Weib noch wütender und verdrosch ihn mit beiden Händen, abwechselnd schlug sie mit dem Rührlöffel in der einen und dem Feuerhaken in der anderen Hand zu. Schließlich ärgerte sich der Dumme so sehr über das Weib, das sich schon die Hände wundgeschlagen hatte, daß er von ihr fortlief. Darauf hatte die Frau nur gewartet. Als sie ihren Mann da600
vonlaufen sah, rannte sie ihm nach. „Ich werde dir schon zeigen, was das für ein Herr ist, der aus seiner Hütte fortläuft, ich werde es dir schon zeigen!“ Die Frau lief ihm nach und schlug ihn, wohin sie nur traf. Er lief durch den Obstgarten und sprang über den alten Brunnen, sie aber war im vollsten Lauf und fiel in den Brunnen hinab, dem Teufel genau in den Nacken. Der konnte sich kaum umsehen, als sie ihn schon mit dem Rührlöffel zu schlagen begann, wohin sie nur traf. Der Teufel drehte und wendete sich, wußte aber nicht, was er mit dem garstigen Weib machen sollte, hockte sich hin und legte den Kopf zwischen die Knie, damit ihm das Weib nicht auf die Hörner schlug. So saß er da und begann schließlich zu heulen. Als der Dummkopf merkte, daß seine Frau weiß der Teufel wohin verschwunden war, suchte er sie und schaute auch in den alten Brunnen. Inzwischen hatte es das Weib satt, den Teufel zu verprügeln, und überlegte, wie es aus dem Brunnen herauskommen könne. Als der Teufel sah, daß sich der Dummkopf über den Brunnen beugte, bat er darum, ihn vor dem Weibe zu retten. Er sagte: „Ich gebe dir, was du willst, errette mich nur von diesem garstigen Weib!“ Da warf der Dummkopf dem Teufel ein Seil hinunter. Dieser griff danach und wollte hinaufklettern, das Weib aber setzte sich ihm wieder in den Nacken. Der Teufel kletterte aus dem Brunnen und brachte das Weib mit; nur der Schwanz blieb unten hängen. Da er Angst hatte, in den Brunnen 601
zurückzukehren, zog er zu dem Gutsherrn in die Wohnung. Hier rumorte er jede Nacht und ließ die Herrschaften nicht schlafen. Da verbreitete sich das Gerücht, daß sich beim Gutsherrn der Teufel niedergelassen habe und die Herrschaften nicht schlafen lasse. Was tat der Gutsbesitzer nicht alles, um ihn loszuwerden: Er bat den Priester zu sich, ließ in den Zimmern Weihwasser versprengen, ließ sie mit verschiedenen geweihten Kräutern ausräuchern, bat Wunderdoktoren zu sich, aber nichts half, der Teufel blieb da und trieb jede Nacht sein Spiel. Der Gutsherr verlor seine Ruhe vollkommen. Da kam der Dummkopf zu dem Gutsherrn und sagte, daß er wisse, wie man Teufel vertreiben könne. Der Gutsherr freute sich und versprach dem Dummkopf viel Geld, wenn er nur die Teufel aus der Wohnung treiben würde. Der Dummkopf blieb in der Nacht allein dort und hatte nur einen kleinen Igel bei sich. Als Mitternacht herankam, begannen sich die Teufel zu versammeln. Da sagte der Dummkopf: „He, lauft fort, sonst kommt mein Weib hierher und gibt euch Pfeffer!“ – „Ich danke dir“, sagte der Teufel aus dem Brunnen, „daß du uns gewarnt hast. Hier hast du ein Geschenk dafür.“ Und so gab der Teufel dem Dummkopf ein Säckchen voll Geld. Der Dummkopf versteckte das Geld in der Rocktasche und sagte: „Paßt auf, da kommt mein Weib!“ In Wirklichkeit aber tapste nur der Igel herum und kratzte sich. Der Teufel erschrak, zog seinen Schwanz ein und wußte nicht, wohin er vor dem garstigen Weib fliehen sollte. „Bezahle mir, was du verspro602
chen hast“, sagte der Dummkopf, „und ich werde dich verstecken!“ „Gut“, sagte der Teufel, „dort und dort ist Geld vergraben, nimm es dir, aber versteck mich nur vor diesem Weib!“ Da holte der Dummkopf eine Dose mit Schnupftabak aus der Tasche, öffnete sie und sagte: „Steig hier hinein!“ Der Teufel stieg ein, paßte aber kaum hinein. Der Dummkopf verschloß die Dose und steckte sie in die Tasche. Als die anderen Teufel merkten, daß ihr Herr nicht mehr da war, verschwanden sie. Der eine durch den Kamin, ein anderer durch die Türritze und die übrigen weiß der Teufel wie. Der Gutsbesitzer zahlte dem Dummkopf einen ganzen Haufen Geld und gab ihm noch ein Geschenk dazu. Dann ging der Dummkopf weg und grub einen ganzen Topf voll Silber aus. Er nahm das Geld und Silber mit nach Hause und versteckte es unter dem Ofen. Als ihn sein Weib wieder ärgerte, öffnete er die Schnupftabakdose und ließ den Teufel herausspringen. Der sah das Weib und wurde vor Schreck zu Stein. Die Frau aber fürchtete sich vor dem Teufel und hörte auf, ihren Mann zu ärgern. Von der Zeit an lebten sie gut miteinander und verbrauchten das Geld.
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62 Über Weiberlist In Petersburg lebte einmal ein Kaufmann, der Gulitow hieß und einen sehr hübschen Sohn hatte. Einmal fuhr der Vater nach Sachsen, um dort mit verschiedenen Waren zu handeln. Der König von Sachsen hatte einen Sohn, der auch sehr hübsch war. Die Söhne Gulitows und des Königs von Sachsen waren beide bereits verheiratet. Da lud der König von Sachsen einmal Könige und Kaufleute zu sich ein. Nach dem großen Gelage rührten die Soldaten die Trommeln, weil ein großes Wunder gezeigt werden sollte. Der König von Sachsen wollte seinen Sohn zur Schau stellen und dessen Schönheit zeigen. Warum tat er das? Er tat es, um mit der Schönheit des Sohnes zu prahlen. Er sagte: „Ihr Könige alle und das ganze Volk! Wer ist hübscher als er?“ Die Könige schwiegen alle und sagten gar nichts. Gulitow aber sagte: „Dein Sohn ist schön, dein Sohn ist hübsch, aber ich habe einen Sohn, der nicht schlechter ist als deiner.“ Da wurde der König ärgerlich und sagte: „Meine Herren, ihr seid alle Zeugen! Soll sein Sohn herkommen, damit wir ihn uns ansehen können. Wenn unsere Söhne gleich schön sind, dann kann er sieben Jahre lang in Sachsen Handel treiben, aber wenn sein Sohn häßlicher ist als meiner, so 604
wird ihm auf dem Marktplatz der Kopf abgeschlagen.“ Der Kaufmann Gulitow schickte zu seinem Sohn in Petersburg eine Stafette mit einem Brief, in dem er ihn aufforderte, sofort nach Sachsen zu kommen. Als der Sohn den Brief erhalten hatte, machte er sich auf die Reise. Er hatte große Angst, denn er war noch nie zur See gefahren. Er betete zu Gott und bestieg das Schiff. Da stellte er fest, daß er seine Taschenuhr nicht bei sich hatte. Er lief zurück, aber weniger, um die Uhr zu holen, als sich noch einmal von seiner Frau zu verabschieden. Er lief nach Hause, seine Uhr lag im Schlafzimmer. So ging er direkt ins Schlafzimmer. Als er hereinkam, traf er den Verwalter mit seiner Frau an. Er war sehr wütend und entsetzt darüber, sagte aber kein Wort und fuhr nach Sachsen. In Sachsen angekommen, brachte man ihn gleich zum König. Als ihn der Vater sah, erschrak er sehr, denn sein Sohn war ganz schwarz und häßlich geworden. Der König rief die Zeugen auf dem Platz zusammen. Alle kamen. Sie sahen, daß Gulitows Sohn häßlich und der Sohn des Königs von Sachsen so hübsch wie eine Mohnblume war. Da befahl der König: „Der Kaufmann soll ins Gefängnis geworfen und seinem Sohn der Kopf abgeschlagen werden, wie ich gesagt hatte!“ Da sagten alle Könige: „Nein, das ist nicht richtig, einem unschuldigen Menschen den Kopf abzuschlagen. Er ist doch das erste Mal übers Meer 605
gefahren, das wird ihm so schlecht bekommen sein. Gebt ihm sechs Monate Zeit, gebt ihm gut zu essen und zu trinken, dann werden wir weitersehen!“ Der Königssohn nahm Gulitows Sohn zu sich ins Haus, aß die gleichen Speisen wie er, und sie gingen zu zweit im Garten spazieren. Im Garten war eine Laube, und in der Laube stand ein Sofa mit Kissen. Der Königssohn sagte zu Gulitows Sohn: „Nach dem Spaziergang wollen wir uns auf dem Sofa ausruhen.“ „Gut!“ Die Frau des Königssohnes war sehr schön. Der Königssohn fuhr eines Nachts mit seinem Vater für drei Tage fort. Gulitows Sohn aber war neugierig; als er im Garten spazierenging, dachte er bei sich: Ich will einmal unter dieses Sofa kriechen und sehen, was mittags hier geschieht. Er kroch unter das Sofa und legte sich hin. Um zwei Uhr mittags kam ein lahmer Sattler und legte sich auf das Ruhebett. Eine Minute später kam die Frau des Königssohnes, und der Sattler sagte: „Warum bist du nicht gleich gekommen? Wenn man uns hier sieht, gibt es einen großen Krach.“ „Entschuldigt bitte, ich habe erst meinen Vater und meine Mutter zu Bett gebracht.“ Sie legten sich auf das Bett…, dann gingen sie auseinander. Gulitows Sohn kroch unter dem Sofa hervor und dachte bei sich: „Warum bin ich denn bloß so wütend geworden, als ich meine Frau mit dem Verwalter angetroffen habe? Das war doch wenig606
stens noch ein Verwalter, aber hier treibt es die Königstochter mit einem lahmen Teufel.“ Er wurde wieder lustig und dachte: Aha, nicht nur meine Frau! Von nun an erholte sich Gulitows Sohn wieder. Der Königssohn kam nach Hause, und am anderen Morgen gingen sie zusammen im Garten spazieren. Gulitow war vorher in die Küche gegangen, hatte dort ein großes, scharfes Messer geholt und es in den Stiefelschaft gesteckt. Als sie zu dem Sofa kamen, sagte Gulitow: „Komm, Königssohn, wir legen uns unter das Sofa und passen auf, was geschieht. Aber wenn du über das, was du sehen wirst, nicht schweigst, Königssohn, werde ich dich mit diesem Messer hier erstechen!“ „Ich werde schweigen. Ich schwöre bei Gott, dem Allmächtigen, daß ich schweigen werde.“ „Na, dann komm!“ Sie krochen unter das Sofa, und nach einer halben Stunde kam der Sattler und legte sich darauf. Eine Minute später kam auch die Frau des Königssohnes. „Nun, Königssohn, siehst du es?“ „Ich sehe es, Bruder.“ „Schweig, sonst gibt’s was!“ „Hast du es gesehen, Bruder?“ „Ja, ich habe es gesehen, Bruder!“ „Nun, jetzt siehst du, Königssohn, was mir so zugesetzt hat. Meine Frau hat es mit dem Verwalter getrieben, aber hier war die Königstochter mit einem einfachen Mann zusammen.“
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Nun ging es dem Königssohn schlecht, und er magerte ab, der Kaufmannssohn aber wurde immer hübscher. Da sagte der Königssohn zum Kaufmannssohn: „Laß uns in die Welt hinausziehen! Wenn wir noch anderswo so etwas sehen, kehren wir zum Hofe zurück, aber wenn nicht, dann kommen wir auch nicht mehr hierher.“ So zogen sie los. Sie nahmen Gold und Silber mit und legten ungefähr dreihundert Werst zurück. Sie kamen zu einer Lichtung, auf der ein Bauer von gewaltigem Wuchs pflügte. Auf dem Rücken trug er einen Sack. Sie setzten sich hin und unterhielten sich: „Bruder, der Bauer pflügt mit einem Sack auf der Schulter, was hat das zu bedeuten?“ Da sahen sie, wie der Bauer zu pflügen aufhörte, den Sack von den Schultern nahm und aufband. Eine Frau kam heraus und gab ihm Mittagessen und sah ihm beim Essen zu. Dann wurde der Bauer müde und legte sich schlafen. Er war kaum eingeschlafen, da winkte die Frau mit einem Tuche, und aus den Büschen sprang ein Bursche heraus und begann sie zu liebkosen. Als der Bauer wieder aufgewacht war, fragte er: „Frau, wo bist du?“ „Ich bin hier!“ Ehe der Bursche es sich versah, wurde er mit in den Sack gesteckt. Das beobachteten der Kaufmannssohn und der Königssohn. Der Bauer spannte wieder die Stute vor den Pflug, legte den
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Sack auf die Schultern und pflügte weiter. „Laß uns hingehen, Königssohn, und ihn umarmen!“ Sie gingen zum Bauern. „Helf dir Gott!“ „Danke!“ „Onkelchen, was trägst du dort auf den Schultern?“ „Was geht das euch an? Nun gut, ich werde es euch sagen. Ich trage meine Frau schon drei Jahre lang so mit mir herum, weil ich Angst habe, daß fremde Burschen sie lieben.“ „Zeig sie uns, Bruder! Wir geben dir dafür eine Handvoll Gold.“ Der Bauer band den Sack auf, da sprang der Bursche in die Büsche und versteckte sich. Der Bauer verprügelte seine Frau. Sie gaben ihm eine Handvoll Gold und zogen weiter. So kamen sie in ein fremdes Königreich. Dort ernannte sie der König gleich zu Ministern. „Hört zu, meine Herren“, sagte der König zu ihnen, „ich gebe einem von euch meine Tochter zur Frau.“ „Ach, lieber König, bei uns ist das nicht so üblich.“ „Wie ist es denn bei euch?“ „In unserem Königreich haben immer zwei zusammen eine Frau.“ „Na gut, ich lasse euch beide mit ihr trauen.“ So ließ er die beiden feierlich mit der Königstochter trauen. Als sie im Garten spazierengingen, sagten sie: „Wir wollen ein breites Bett bestellen.“
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Sie ließen ein breites Bett bauen und stellten es in das Schlafzimmer. Die Königstochter legte sich in die Mitte, und die beiden an die Seiten. Da sagte sie: „Derjenige, den ich anstoße, soll sich zur Seite rollen, mit dem anderen werde ich dann schlafen. In der nächsten Nacht will ich dann den anderen anstoßen und mit dem ersten schlafen.“ Im Schlafzimmer war an der Decke über dem Bett ein Fenster, das sich öffnen ließ. Als nach einer Woche die beiden Männer im Garten spazierengingen, gab der Kaufmannssohn dem Königssohn eine Ohrfeige. Da fragte der Königssohn: „Warum hast du mich geschlagen?“ „Weil du immer mit der Frau schläfst.“ „Aber Bruder, sie stößt mich doch jede Nacht an.“ „Nein, Bruder, entschuldige, sie stößt mich auch an. Wir wollen heute einmal aufpassen. Wenn sie mich anstößt, rolle ich zur Seite, und wenn sie dich anstößt, tust du das gleiche. Danach werden wir uns wieder umdrehen und nachsehen, was geschieht.“ Sie gingen zu Bett und fragten: „Meine Liebe, warum ist dort das Fenster in der Decke?“ „Das kann man aufmachen, wenn es zu heiß ist.“ Sie schwiegen. Die Königstochter stieß erst den einen und dann den anderen an, beide rollten zur Seite und begannen zu schnarchen. Sie schliefen aber nicht, denn sie wollten ja sehen, was weiter geschah. Da öffnete sich das Fenster, und an ei-
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nem Stück Leinwand ließ sich ein Mann direkt zu ihr herab. Sie rollten sofort zur Mitte und fingen ihn. Es war der Schuster Jurko. „Wir wollen dir vergeben, denn sonst erginge es dir schlecht. Wir haben nun gesehen, daß es bei euch genauso ist wie bei uns.“ Dann ließen sie ihn frei. Sie gingen hinaus und sagten: „Komm, laß uns nach Hause fahren! Hier ist es genauso wie bei uns.“ Dann ließen sie die besten Pferde satteln, schwangen sich darauf und ritten davon, der Königssohn nach Sachsen und Gulitows Sohn nach Petersburg. Dort beschäftigten sie sich mit ihren Angelegenheiten. Der König aber, ihr Schwiegervater, sagte zu seiner Tochter: „Wo sind denn meine Schwiegersöhne?“ „Sie sind in den Garten hinausgegangen und haben gesagt: ‚Ihr seht uns nie mehr wieder!’“
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63 Der Mann, die Frau und der Teufel In irgendeinem Ort lebte einmal ein ehrbarer Mann mit seiner Frau. Sie lebten in Frieden und Eintracht wie Bruder und Schwester. Zu dieser Zeit war ein Teufel in der Hölle ohne Arbeit, und man gab ihm nichts zu essen. Da ging der Teufel zu seinem Chef, und dieser sagte zu ihm: „Wenn du diesen ehrbaren Mann nicht mit seiner Frau auseinanderbringst, enthebe ich dich deines Amtes. Bringst du sie aber auseinander, dann gebe ich dir drei Fässer Pech und Schwefel.“ Da verwandelte sich der Teufel in einen guten Menschen und ging direkt zu den ehrbaren Leuten ins Haus. Der Mann war schon früh zur Heumahd gegangen, und seine Frau war allein zu Hause. Der Teufel trat in die Hütte und sagte: „Seid gegrüßt!“ „Sei gegrüßt, mein Lieber!“ „Wo ist denn dein Mann?“ „Er ist auf dem Feld und mäht. Was willst du denn von ihm?“ „Ich bin gekommen, ihn zu bedauern.“ „Warum mußt du ihn denn bedauern?“ „Ich muß ihn bedauern, weil er ein guter Mensch ist, aber bald sterben wird.“ „Woran denn?“
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„Ja, weißt du, ihm sind am Nacken drei weiße Härchen gewachsen.“ Die Frau hatte großes Mitleid, begann zu weinen und sagte: „Ach, mein Lieber, weißt du nicht, wie man ihn vom Tode erretten kann?“ „Na gut, du bringst ihm doch das Frühstück?“ „Ja, ich brate ihm gerade Rührei, das bringe ich ihm.“ „Na gut, tue was ich sage: Nimm ein scharfes Messer, steck es in den Ärmel und bringe ihm sein Frühstück. Wenn er frühstückt, sag zu ihm: ‚Komm, ich suche dir die Läuse ab!’ Dann wird er seinen Kopf in deinen Schoß legen, du suchst seinen Kopf nach Läusen ab und schneidest ihm heimlich die drei Härchen ab, dann wird er länger leben.“ „Hab Dank für deinen Rat, guter Mensch!“ Sie bereitete das Frühstück und machte sich auf den Weg. Der Teufel aber verließ die Hütte, ging aufs Feld hinaus und sagte zu dem ehrbaren Mann: „Sei gegrüßt, Bauer!“ „Sei gegrüßt! Komm, setz dich, wir wollen uns ein bißchen unterhalten!“ Sie setzten sich, und der Teufel sagte zu dem Manne: „Sieh mal, du vertraust deiner Frau zu Hause vollkommen, sie aber ist dir nicht treu. Als ich heute in die Herberge kam, sprang deine Frau mit dem Herbergsvater herum, sie tanzten miteinander und küßten sich, und der Herbergsvater sagte: ‚Bring deinen Mann um, dann werde ich dich bis ans Lebensende lieben!’ – ‚Aber wie soll 613
ich ihn denn umbringen?’ – ‚Ich werde es dir zeigen. Wenn du ihm das Frühstück bringst, dann steck ein Messer in den Ärmel, und wenn er frühstückt, dann sag zu ihm: Komm, ich werde dir die Läuse absuchen! Wenn er dann seinen Kopf in deinen Schoß legt, dann bringe ihn um!’“ „Ach du meine Güte, ist das wahr?“ fragte der Bauer den Teufel. „Es stimmt wirklich, ich bin gekommen, weil ich Mitleid mit dir habe. Aber wenn du es nicht glaubst, dann sieh selbst bei deiner Frau nach, du wirst bei ihr ein Messer im Ärmel finden.“ Da zitterte dem Bauern das Herz. Als der Teufel verschwunden war, brach der Mann im Gebüsch eine Rute ab und versteckte sie unter dem Heu. Die Frau brachte dem Mann zu essen, sie lief schnell und rief schon von weitem: „Hör auf zu mähen, mein Lieber, und ruhe dich aus!“ Sie kam zu ihm und sagte: „Ach mein Lieber, du strengst dich so an, ruh dich aus!“ Er setzte sich zum Frühstück, konnte aber vor Aufregung nichts essen. Sie küßte ihn und streichelte ihm Kopf und Hals. Er aber dachte, sie suche die Stelle, wo sie ihn am besten erstechen könne. Schließlich sagte sie zu ihm: „Nun mein Lieber, komm, ich werde dir den Kopf absuchen!“ Da sprang er auf und sagte: „Nein, ich werde dich absuchen. Was hast du mitgebracht?“ Er fand bei ihr im Ärmel ein großes scharfes Messer und sagte: „Was ist denn das?“ Er nahm sie bei den Ohren, hob die Kleider hoch und verprügelte sie. Er schlug und schlug sie, bis sie 614
prügelte sie. Er schlug und schlug sie, bis sie kaum noch schreien konnte. Da lachte der Teufel und lief zu seinem Chef. „Wirklich, das war ein lustiger Streich“, sagten sie. Der Mann übergoß seine Frau mit Wasser. Sie wurde wieder gesund, und sie lebten besser als früher zusammen. Der Teufel aber bekam drei Fässer Pech und Schwefel dafür, daß er die ehrbaren Leute entzweit hatte.
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64 Wie eine Frau ihren Schwur hielt Auf einem Friedhof wurde einmal ein Räuber gehängt und ein junger Bursche beauftragt, aufzupassen, daß andere Räuber den Gehenkten nicht stehlen. Der Bursche begann aber sehr zu frieren. Er sah ein Licht brennen und lief darauf zu, um sich aufzuwärmen. Als er durchs Fenster schaute, sah er eine Frau beten. Er bat sie, ihn hineinzulassen, damit er sich aufwärmen könne, doch sie sagte: „Das geht nicht, denn ich habe geschworen, mit niemandem zu sprechen und mich mit niemandem zu treffen.“ Da sagte er: „Laßt mich ein, wenn Ihr an Gott glaubt, laßt mich ein! Ich erfriere sonst hier in der Kälte.“ Da dachte sie: „Warum sollte ich dem Menschen nicht helfen? Stirbt er vor Kälte, so ist das wieder eine Sünde.“ Schließlich sagte sie: „Ich lasse dich ein, bleib aber an der Schwelle stehen!“ Sie öffnete die Tür, er ging hinein, blieb an der Schwelle stehen und wärmte sich auf. Nach einem Weilchen fragte er die Frau: „Was bist du für eine Frau, daß du dich so quälst und allein auf dem Friedhof lebst?“ „Das ist meine Pflicht“, sagte sie und erzählte ihm dann: „Ich hatte einen Mann, der mich sehr liebte und den ich auch sehr lieb hatte. Einmal 616
schnitt ich mich in den Finger. Als er das Blut sah, wurde er ohnmächtig, fiel um und starb. Da habe ich geschworen, bis zu meinem Tode auf dem Friedhof zu wohnen und nicht wieder zu heiraten.“ „Ach, liebes Frauchen, was erzählst du da! Das sind doch Scherze. Du bist noch so jung und hübsch. Tot ist tot. Er war doch nicht der einzige Mann, der gestorben ist und seine Frau zurückgelassen hat. Du solltest noch einmal heiraten, solange du jung bist, und dich des Lebens erfreuen. Aber“, sagte er, „ich muß gehen und nachschauen, ob man den Gehenkten nicht gestohlen hat, denn sonst wird man mich an seine Stelle hängen.“ Er ging und schaute nach, aber man hatte ihn schon gestohlen. Er stand ein Weilchen dort, kehrte dann um, trat in die Hütte und weinte. Da fragte ihn die Frau: „Warum weinst du?“ „Ach“, sagte er, „die Räuber haben den Gehenkten gestohlen, morgen werde ich aufgehängt.“ Da tat ihr der junge Bursche leid, und sie sagte: „Vielleicht kann man dir helfen?“ „Wie könnte mir geholfen werden? Um mich ist es geschehen.“ Da sagte sie: „Weißt du was, wenn du mir schwörst, daß du mich heiratest, helfe ich dir. Mein Mann ist vor kurzem erst gestorben, und wenn wir ihn anstelle des anderen aufhängen, wird man nichts merken.“ „Dem Räuber fehlten aber vorn zwei Zähne“, sagte der Bursche. 617
„Dann schlagen wir sie meinem Manne auch aus!“ „Nun gut!“ Sie gingen los und holten den Mann aus dem Grab. Da sagte die Witwe: „Schlag ihm die Zähne aus!“ „Ich kann aber doch nicht einem unschuldigen Menschen…! Tue es lieber selbst!“ Da nahm sie einen Stein und – krach! – schlug sie ihm zwei Zähne aus. „Tragen wir ihn jetzt zum Galgen!“ Sie trugen ihn hin und hängten ihn auf. Dann gingen sie in die Hütte zurück und kamen auf die Hochzeit zu sprechen. Da sagte er: „Oho, dich soll ich heiraten! Du hast doch geschworen, bis zu deinem Tode auf dem Friedhof zu wohnen, weil dein Mann starb, als er an deinem Finger Blut erblickte. Nun aber hast du ihm selbst zwei Zähne ausgeschlagen. Was wirst du wohl nachher mit mir machen? Du bist nicht mehr wert, als auf der Stelle zu sterben.“ Und so erschlug er sie, legte sie in das Grab ihres Mannes und verscharrte sie. Am nächsten Morgen wurde nicht bemerkt, daß ein anderer am Galgen hing, und man befahl, ihn zu begraben. Den Burschen aber rührte niemand an.
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65 Brautwerber bei Edelleuten Ein Edelmann hatte einmal seinen Töchtern Geschenke gekauft, und zwar der ersten einen Ring, der zweiten ein Paar Ohrringe und der dritten ein Paar Pantoffeln. Eines Tages kamen Brautwerber zu der ersten Tochter, da zeigte sie mit dem Finger, an dem sie den Ring trug, auf die Erde und sagte zu ihrer Schwester: „Warum ist die Hütte nicht ausgefegt?“ Die aber schüttelte den Kopf, daß die Ohrringe klimperten, und sagte: „Ich habe es ihr gesagt, sie hat aber nicht auf mich gehört.“ Die dritte war inzwischen ins Zimmer gekommen, sie hob das Bein, damit man die Pantoffeln sah, schüttelte das Bein und sagte: „Alles soll ich machen, alles soll ich machen! Ich habe keine Zeit!“ Als die Brautwerber sahen, was für dumme Gänse sie vor sich hatten, verabschiedeten sie sich und fuhren wieder weg.
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66 Das Mädchen Erst jetzt haben sich die Menschen so vermehrt, daß sie die Erde kaum tragen kann. Früher gab es nur wenige Menschen, aber Land gab es, soviel man haben wollte. Es wurde aber nur wenig Boden bearbeitet, die meisten Menschen lebten nahe den Wäldern. Die Wälder waren endlos groß. Die Menschen siedelten sich an den Flüssen und auf Hügeln an, ebneten rund um die Hütten den Boden und wühlten ihn nur etwas auf. Ringsum aber rauschte Gottes Wald und war seit undenklichen Zeiten so dicht und so dunkel, daß man noch nicht einmal die Nase hineinstecken konnte. Die Menschen gingen in den Wald, um Heilpflanzen zu suchen und süßen Honig zu sammeln. Ging einmal ein Mann in den Wald, so machte er sich Zeichen an die Bäume oder Knoten in die Zweige, um den Rückweg zu finden, denn ohne solche Zeichen verirrte man sich im Dickicht und kam wegen einer Prise Tabak im Wald um. Nur die Räuber hatten keine Angst vor dem dunklen Wald, aber auch sie bauten sich die Hütten lieber irgendwo in der Nähe eines Dorfes. Ich war damals noch ein Junge von ungefähr zehn Jahren. Einmal trieben wir das Vieh auf die Weide. Es gab dort sehr viele Pilze, und das Vieh lief in den Wald. Wir liefen hinterher, aber wir ver620
loren ein Kälbchen. Auf der Suche nach dem Kälbchen liefen wir durch einen Sumpf und kamen auf eine Insel, und als wir durch den dichten Tannenwald gekrochen waren, fanden wir eine kleine Hütte und weiter nichts. Wir gingen in die Hütte, aber dort war niemand. Man sah nur, daß hier jemand gewohnt hatte. Da erschraken wir und liefen schnell davon. Wir erzählten es den Erwachsenen, und diese sahen sich um und sagten, daß dort die Räuber gelebt hätten. Sie seien aber wohl gefangen worden oder vor langer Zeit umgekommen, denn die Speise in den Töpfen hatte schon Blüten getrieben, und an der Schwelle war Gras gewachsen. Damals lebte mein Großvater noch, und wir baten ihn, uns von den Räubern zu erzählen. Mein Großvater konnte sehr schöne Märchen erzählen. Er konnte es nur nicht leiden, wenn man ihm nicht zuhörte. Es kam vor, daß er zu erzählen begann, aber sofort wieder aufhörte, wenn jemand zu sprechen anfing oder aufstand, um eine Pfeife zu rauchen. So war mein Großvater. Wir setzten also dem Großvater zu, uns von den Räubern zu erzählen. Zuerst wollte er uns nichts erzählen. Er dachte, wir jungen Burschen seien ja noch Kinder und würden ihm nicht zuhören, aber als wir ihn baten und anflehten und fest versprachen, daß wir ihm gut zuhören würden, willigte er schließlich ein, steckte seine Pfeife an und begann zu erzählen. Er sprach ganz ungezwungen. Er sagte zwei, drei Worte, spuckte aus und sagte wieder einige Worte, bis er husten mußte. Wenn er hustete, sa621
ßen wir da und bewegten uns nicht. Wir hörten ihm gern zu, er konnte so interessant erzählen. Ich kann nicht so gut erzählen und habe schon viel vergessen, denn das ist alles schon lange her. Sehen Sie, ich habe jetzt graue Haare, aber damals war ich genauso wie Sie, bin auf die Bäume geklettert und habe Nester ausgenommen. Die armen Vögelchen piepsten und schlugen mit den Flügeln, aber wir garstigen Burschen fingen und quälten sie. Also hören Sie mir zu und unterbrechen Sie mich nicht! Ich erinnere mich an etwas, das sich hier in der Nähe zugetragen hat, und werde es Ihnen erzählen. Der Großvater wußte sogar, wo das war, aber ich habe es inzwischen vergessen. Es ist mir aus dem Kopfe herausgesprungen und ist weg. Aber das macht nichts. Nicht weit von hier im dichten Wald war einmal ein kleines Dorf, das aus fünf oder sechs Bauernhöfen bestand. Dort lebten die Menschen und blickten auf den Wald, niemand rührte sie an, niemand tat ihnen etwas zuleide, denn es gab im Umkreis von vierzig bis sechzig Kilometern kein anderes Dorf und keine Ortschaft. Die Menschen lebten so frei wie die Vögel. Einmal liefen Jungen tief in den Wald hinein und sahen, daß sich dort Räuber versteckt hielten. Sie erzählten es den Eltern. Die Dorfbewohner forschten nach und erfuhren, daß es sich tatsächlich um böse Menschen handelte, die nicht arbeiteten und kein Vieh züchteten, die aber alles hatten, denn sie stahlen es entweder den Leuten, oder sie raubten es auf den 622
Gutshöfen oder auf den Landstraßen. Da beschlossen die Dorfbewohner, dem Gutsherrn und der Obrigkeit Bescheid zu sagen. Inzwischen hatten die Räuber gemerkt, daß die Leute aus dem Dorf sie aufgestöbert hatten, aber sie zogen nicht fort, weil sie glaubten, die Leute würden ihnen nichts Böses antun. Sie hatten ja gar keinen Grund dazu, da die Räuber dem Dorf keinen Schaden zufügten. Aber die Räuber irrten sich, denn die Leute tun einander so mir nichts dir nichts oft Böses an. So lebten die Räuber ruhig weiter und erwarteten nichts Böses. Aber die Gutsherren und die Obrigkeit holten Leute aus dem ganzen Bezirk, Soldaten und Kosaken herbei. Das Gebiet wurde umzingelt und abgesucht. Als die Räuber merkten, daß man sie fangen wollte, versteckten sie sich in einer Erdhütte und verhielten sich so ruhig, als wären sie gar nicht da. Die Soldaten und Kosaken liefen überall im Wald umher, durchstöberten die Büsche und durchwühlten das Reisig, aber die Erdhütte fanden sie nicht. Sie durchsuchten den ganzen. Wald, aber es waren keine Räuber da. Es schien so, als seien sie von der Erde verschluckt worden oder hätten sich im Wasser versteckt. Als die Räuber aus der Erdhütte hervorkrochen, sich die Bärte zwirbelten und durch das Reisig blickten, sahen sie, daß die Soldaten und Kosaken von den Leuten, die in dem kleinen Dörfchen wohnten, durch den Wald geführt wurden.
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„Wartet nur, eure Mütter sollen krank werden!“ sagten die Räuber, „das werden wir euch heimzahlen, laßt nur die Soldaten und Kosaken erst weg sein!“ Und so geschah es auch. Die Soldaten und Kosaken waren vergeblich im Walde umhergestreift und durch das Gestrüpp gekrochen. Da gingen sie wieder weiter, dorthin, wo sie gebraucht wurden. Als die Räuber das merkten, krochen sie aus der Erdhütte und überfielen das Dorf. Die Soldaten und Kosaken waren kaum fünf oder sechs Kilometer fort, da hatten die Räuber schon das ganze Dorf in Brand gesteckt und alle Menschen getötet, außer einem kleinen Mädchen, das zu der Zeit im Walde das Vieh hütete. Als die Räuber in den Wald zurückkehrten, trafen sie auf dem Wege das Mädchen. Sie war zwar noch klein, aber so schön, daß man sich an ihr nicht sattsehen konnte. Sie saß auf einem Baumstumpf, flocht einen Kranz aus Blumen und sang Lieder. Das Vieh spitzte die Ohren, lauschte dem Gesang und stand da wie angewachsen. Sogar die Vögel waren herbeigeflogen, saßen ringsumher auf den Bäumen und lauschten. Auch die Räuber hörten zu und konnten sich nicht bewegen, als hätte das Mädchen sie mit seinem Liede verzaubert. Das Mädchen verstummte und schickte sich an, das Vieh nach Hause zu treiben. Die Räuber folgten ihr, denn sie konnten die Augen nicht von ihr wenden. Sie trieb das Vieh dorthin, wo das Dorf gewesen war, da aber schlug sie nur die Hände über dem Kopf zusammen. Es gab dort kein Dorf mehr, 624
sondern nur noch schwelende Balken. Sie ging zu der Stelle, wo ihre Hütte gewesen war, dort lagen ihre toten Eltern, Vater und Mutter. Da begann sie zu weinen und sich die Haare zu raufen. Sie weinte und jammerte laut. „Ach mein Mütterchen, warum hast du mich verlassen? Hat dich ein wildes Tier zerrissen oder ein wilder Mensch getötet? Ach du mein liebes Väterchen, du mein heller Falke, warum schweigst du und antwortest nicht? Warum hast du mich zurückgelassen, ohne daß ich etwas habe noch etwas kann? Ach du mein liebes Mütterchen, wer wird mir jetzt das Köpfchen waschen, wer wird mir jetzt die Löckchen kämmen, und wer wird mir jetzt das Zöpfchen flechten?“ So weinte und jammerte das Mädchen, und die Räuber standen da und hörten zu. Zum ersten Mal blutete ihnen das Herz, bereuten sie, daß sie Menschen umgebracht hatten. Das Mädchen weinte und war wie versteinert, saß am kalten Körper seiner Mutter und schaute wie abwesend auf sie. Dann begruben die Räuber die Toten, nahmen das Mädchen mit, trieben das Vieh zusammen und zogen damit in den Wald. Lange mußten sie sich durch das Gestrüpp schlagen, bis sie endlich zu einer Lichtung im Walde kamen, wo sie eine weitere Hütte hatten. Dort stellten sie ein Bett auf, legten das Mädchen hinein, setzten sich um die Hütte herum und saßen da schweigend eine ganze, ganze Nacht. Das Mädchen wachte auf, schaute sich um, und als es sich an Vater und Mutter
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erinnerte, begann es wieder laut zu weinen und zu wehklagen. Aber soviel sie auch weinte und jammerte, sie mußte sich doch an das Leben bei den Räubern gewöhnen. Die Räuber aber waren von der Zeit an wie verwandelt. Sie hörten auf zu rauben und zu stehlen, sie fingen nur Tiere und Fische, hüteten Vieh und pflegten es. Schließlich begannen die Räuber zu bauen und den Boden zu bearbeiten, um Brot zu bekommen. Das Mädchen wuchs auf und wurde immer schöner, es wurde so hübsch wie vielleicht kein zweites auf der Welt. Alle Räuber gehorchten ihr und taten, was sie sagte, sie konnten nicht anders, sie mußten es tun, sie mußten gehorchen. Ich glaube, wenn sie ihnen befohlen hätte, ins Feuer zu springen, dann wäre es ihnen auch im Feuer nicht zu heiß gewesen, sondern sie hätten sich dort so wohl gefühlt wie im Paradies. Aber die Räuber hatten nicht lange das Glück, das Mädchen anzuschauen. Einmal ging sie in den Wald und kam nicht mehr zurück. Solange die Räuber auch suchten, sie konnten sie nicht finden. Es schien ihnen, als sei die Sonne untergegangen, als gingen sie nicht durch den Tag, sondern durch die Nacht, so elend war ihnen ohne das Mädchen zumute. Sie aber war inzwischen zu einem Fluß gekommen. Dort fingen die Menschen Fische, und als sie das hübsche Mädchen erblickten, vergaßen sie alles andere und sahen sie nur immerfort an. Es schien ihnen der Mühe wert, sich ein ganzes Leben lang gequält zu haben, wenn man ein ein626
ziges Mal in solche Augen schauen durfte, Augen, die wie die Sonne die Herzen entflammten und zum Brennen brachten und die Menschen so froh machten wie nichts anderes auf der Welt. Als das Mädchen sie ansah, schien den Menschen alles schön auf der Welt, die Sonne schien, das Leben war schön, sie brauchten nichts Besseres. Da warfen die Fischer ihre Netze hin, setzten das Mädchen in einen Kahn und brachten es in das Dorf. Die Menschen sahen das Mädchen an und dankten Gott, daß er ihnen wenigstens einmal im Leben vergönnt hatte, die Süße des Glükkes zu schauen, zu sehen, daß es auf der Welt nichts Schöneres gibt als den himmlischen Blick eines hübschen Mädchens. Als der Zarensohn von dem hübschen Mädchen erfuhr, fuhr er hin und nahm sie mit zu Vater und Mutter, um sie zu heiraten. Aber das Mädchen wurde unterwegs krank und starb. Da wurde im ganzen Zarenreich Trauer verkündet. Das ist schon lange, lange her, aber ein so schönes Mädchen hat es seitdem nicht mehr gegeben.
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67 Nicht mit Kraft, sondern durch Kühnheit In einem Dorfe lebte einmal ein Mädchen von geringem Wuchs. Sie hatte auch nur etwa soviel Kraft wie eine Mücke. Die anderen Mädchen lachten nur über sie. Sie sagten, wenn ein Bursche sie anbläst, fliegt sie davon wie eine Feder. Aber sie war sehr mutig und hatte vor nichts und niemandem Angst. „Wovor sollte ich denn Angst haben“, scherzte sie manchmal, „ich fordere Gott nicht heraus, ich tue nichts Böses, das ihn kränken könnte.“ Eines Tages sagten die anderen Mädchen, daß sie wohl doch nicht so mutig wäre, wie sie immer behaupte, denn sie hätte sicher auch Angst, um Mitternacht allein auf den Friedhof zu gehen. Sie antwortete, daß sie doch gehen würde, aber die Mädchen wollten es ihr nicht glauben. Da wurde das Mädchen wütend, und wenn es auch klein war, so hatte es doch die Knochen voller Wut. „Und ich gehe doch!“ sagte sie. „Gehen wirst du vielleicht, denn du bist sehr dickköpfig, aber in Wirklichkeit fällt dir das Herz in die Kniekohlen, wenn du nur einen Baumstumpf siehst“, sagten die anderen Mädchen. „Und ich gehe doch!“ piepste sie, stampfte wie eine Ziege mit dem Fuße auf und lief zum Fried628
hof, lief und sah sich nicht um. Als sie beim Friedhof ankam, blieb sie stehen und ging dann leise weiter. Um keine Angst zu zeigen, sang sie ein Lied. Nun hatten aber Diebe gerade den Gutsherrn bestohlen und brachten das Diebesgut auf einem Wagen zur Kapelle. Als sie das Lied hörten, hatten sie Angst, daß Menschen kämen, und liefen in den Wald. Das Mädchen kam zu der Kapelle und sah dort die angeschirrten Pferde stehen. Sie fragte, wer da sei, aber niemand antwortete. Sie griff in den Wagen und merkte, daß er allerlei Sachen enthielt. Da band sie die Pferde los, setzte sich auf den Wagen und fuhr nach Hause. Die Bösewichte jagten dem Mädchen nach, konnten sie aber nicht einholen, sondern nur feststellen, wohin sie gefahren war. Sie brachte dem Gutsherrn die Pferde und die gestohlenen Sachen zurück, und dieser schenkte ihr viel Geld dafür. Nun lebte sie gut und verbrauchte das Geld des Gutsherrn, die anderen Mädchen aber hatten nichts und waren neidisch auf sie. Den Dieben tat es leid um die Sachen, aber noch mehr ärgerten sie sich darüber, daß ein so kleines Mädchen keine Angst gehabt hatte, sie aber wie die Hasen davongelaufen waren. Da überlegten sie, wie sie sich rächen konnten. Nach einiger Zeit freite einer der Diebe um das Mädchen. Sie wollte aber nicht eher ja sagen, bis sie nicht wußte, wie er lebte. Das aber hatte er nur beabsichtigt. Er erzählte ihr, wo sie ihn finden könne. Sie schickte sich an, zu dem Dieb zu fahren. Die Mutter riet ihr ab und wollte sie nicht fahren lassen. Das Mädchen aber 629
ließ sich nicht beirren und beharrte auf seinem Willen. Gegen so viel Eigensinn war nichts zu machen. Es zog sie dorthin wie das Schwein in den Gemüsegarten. So sattelte sie ihre räudige Stute, setzte sich darauf und ritt übers Feld. Sie kam zum Wald und sah an einem Busch einen Knoten. Sie vermutete, daß die Diebe dort ein Zeichen gemacht hätten, um sich nicht zu verirren. Sie bog also ab und ritt durch den Wald, immer dem Zeichen nach, ungefähr fünf Werst weit. Schließlich kam sie zu einem Sumpf, und dort war der Weg zu Ende. Es begann ein so dichter Wald, daß man nicht die Nase hineinstecken konnte. Sie band ihre Stute an eine Birke und kroch ins dichteste Dickicht des Waldes. Sie bog mit beiden Händen die stechenden Äste auseinander und drang langsam durch das Dickicht. Sie war vielleicht eine Werst vorangekommen, da sah sie eine Hütte stehen. Sie schlich sich an die Hütte heran und erblickte darin eine ganze Bande von Räubern. Sie teilten gerade das gestohlene oder geraubte Gut unter sich auf. Sie schimpften dabei, schrien, schlugen sich und wären beinahe mit Messern übereinander hergefallen. Schließlich bemerkte sie auch ihren Bräutigam. „Vielleicht ist er ihr Hauptmann?“ dachte .sie, denn er stand da, fuchtelte mit einem großen Messer herum und brachte die Streitenden auseinander. Als sie gesehen hatte, was los war, versteckte sie sich in einem Gebüsch und wartete, bis sich 630
die Räuber beruhigt hatten. Schließlich sagte der Räuberhauptmann: „Die Sonne sinkt, und der Abend ist nah. Ans Werk, Burschen, ehe es dunkel wird! Es ist Zeit, in die Kirche beten zu gehen. Wir wollen morgen früh aufteilen, was wir an Geld bekommen haben.“ Kaum hatte er das gesagt, da nahmen die Räuber ihre Sachen und verschwanden im Dickicht. Das Mädchen erriet natürlich, daß die Räuber gegangen waren, um in der Nacht die Kirche auszurauben. Sie wartete ein Weilchen, kroch aus dem Gebüsch und ging in die Hütte, die voller Diebesgut war. Sie lief schnell wieder hinaus und über den Hof, denn sie wollte schnell ihre Stute erreichen, um noch rechtzeitig dem Geistlichen mitteilen zu können, daß die Räuber die Kirche ausrauben wollten. Sie rannte zu dem Gebüsch und bemerkte gar nicht, daß die Lichtung mit Zweigen und Moos ausgelegt war. Als sie auf das Moos trat, fiel sie in eine Grube, die so tief war, daß kein Strahl Licht herabdrang. Sie versuchte herauszukommen, aber es ging nicht, denn die Wände waren glatt. Sie untersuchte, was auf dem Boden der Grube lag, und stellte fest, daß es lauter tote Menschen waren. Sie hob einen nach dem anderen auf und legte sie an der Wand auf einen Haufen, setzte oben noch einen darauf, stellte sich auf seine Schultern und griff mit den Händen nach den Zweigen. Aber da brach ein Zweig ab, und das Mädchen stürzte wieder hinab auf die Toten. Als sie nach dem Zweig gegriffen hatte, war aber ein 631
starker Ast in die Grube gefallen. Sie ergriff diesen Ast, stellte sich auf den Toten, grub ein Loch in die Erde und schlug den Ast hinein. Als sie ihn in die Wand geschlagen hatte, untersuchte sie, ob er sie auch aushielte, stellte sich mit dem Fuß darauf und griff mit beiden Händen auf den Rand der Grube. So kletterte sie aus der Grube heraus, schaute sich um und kroch, mit beiden Händen die Äste auseinanderschiebend, durch das Dickicht. Sie kam zwar hindurch, hatte sich aber im Dickicht verirrt. Sie lief hin und her, aber ihre Stute war nicht zu finden, sie war weg. Das Mädchen lief umher, rang die Hände und begann zu weinen, weil sie niemanden warnen konnte, bevor die Räuber die Kirche ausraubten. Schließlich kam sie auf die Lichtung, dort begegneten ihr zwei Wölfe, die so stark wie Kälber waren. Sie fletschten die Zähne. Aha, dachte das Mädchen, die haben also meine Stute gefressen. Da wurde sie so wütend, daß sie sich mit bloßen Händen auf die Wölfe stürzte. Die aber erschraken über ihre Kühnheit dermaßen, daß sie in den Wald davonliefen. Das Mädchen lief weiter, die Sonne ging unter, und es begann dunkel zu werden. Die Vöglein verstummten, und nur der Uhu ließ seinen Ruf ertönen. Eine Eule kam auf weichen Flügeln herbeigeflogen und setzte sich dem Mädchen fast auf den Kopf. Als sie fortflog und zu rufen begann, klang es, als ob ein kleines Kind weinte, und das Echo hallte durch den ganzen Wald. Auf einmal sah das Mädchen 632
einen Mann auf ihrer Stute reiten. Sie erkannte in ihm einen Nachbarn, der Soldat war. Er war mit dem Beil in den Wald gegangen, um einen Baum zu fällen, war auf die Stute gestoßen und hatte versucht, ihren Herrn herbeizurufen, aber es war niemand gekommen, denn bekanntlich rauscht im Wald der Wind, und es ist nichts zu hören. Vielleicht haben die Räuber die Stute und den Wagen des Nachbarn gestohlen und im Walde versteckt, hatte da der Soldat gedacht. So hatte er die Stute abgebunden, sich auf den Wagen gesetzt und sich auf den Heimweg begeben. Nun kam ihm plötzlich aus dem Walde ein Wesen entgegen, und es fiel ihm ein, daß es vielleicht eine Elfe oder irgendein Gespenst sein könne. Er schwang sich auf die Stute, das Mädchen aber lief ihm entgegen und schrie: „Onkel Soldat, Onkel Soldat, bleib stehen! Das ist doch meine Stute!“ Als der Soldat merkte, daß er mit der Stute diesem Gespenst nicht entfliehen konnte, sprang er ab, holte sein Beil aus dem Wagen und lief, so schnell er konnte, davon, daß die Fersen rauchten. Das Mädchen setzte sich auf den Wagen und rief dem Nachbarn zu: „Onkel Soldat, ich bin es doch! Hast du mich denn nicht erkannt?“ Er sah sich um, bekreuzigte sich und fragte: „Wenn du es bist, warum sind dann deine Zöpfe gelöst wie bei einer Wassernixe?“ Da erst sah das Mädchen, daß ihr Tuch in dem Dickicht aufgegangen war und die Zöpfe sich ge633
löst hatten. „Hab keine Angst“, sagte sie, „du siehst doch, ich bekreuzige mich.“ Da erst glaubte er ihr und kam zu ihr. Er setzte sich auf den Wagen, und sie fuhren so schnell wie möglich zur Kirche. Inzwischen war es schon Mitternacht geworden. Als sie zu der Kirche kamen, hatten die Räuber schon die Türen geöffnet und liefen drinnen umher. Das Mädchen verschloß die Türen wieder und schlug Pfähle dagegen, so daß die Räuber nicht herauskonnten und dort bleiben mußten. Da versammelten sich die Leute, fingen die Räuber und schlugen sie in Blöcke. Am anderen Tag führte das Mädchen die Leute in den Wald und zeigte ihnen, was die Bösewichte angerichtet hatten. Es stimmt also, daß man nicht mit Kraft, sondern durch Kühnheit etwas erreicht.
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58 Die Königin und die Schustersfrau In einem Dorfe lebte einmal ein Schuster, der war sehr bösartig und trank viel, obwohl er arm, sehr arm war. Woher sollte er auch sein Auskommen haben? Für Arbeit interessierte er sich nicht, sein Wort hielt er nicht, den halben Tag arbeitete er und den andern halben trank er, und alles, was er verdient hatte, war dahin. Wenn er kein Geld hatte, ließ er die Arbeit liegen und vertrank das letzte Kleidungsstück. Wenn er dann betrunken nach Hause kam, schlug er seine Frau. Seine Frau aber war eine so gute junge Frau, wie man sie heutzutage kaum findet. Sie arbeitete stets und tat nur Gutes. Sie zog ihre Kinder groß, hielt das Haus sauber und half ihrem Mann. Sie litt aufrichtig Kummer, war flink und konnte alle Arbeiten verrichten. Ihr Mann quälte sie sehr. Er schlug sie ohne Grund und nahm dazu, was ihm gerade in die Finger kam, den Riemen oder den Leisten. Sie aber, die kein Wässerchen trüben konnte, schwieg und widersprach nicht. In diesem Reiche lebte als Königin eine bösartige Nichtstuerin. An allem hatte sie etwas auszusetzen, sie war nur ruhig, wenn sie schlief. Aber wenn sie aufwachte, keifte sie und jagte alle umher. Nicht nur ihre Höflinge, nein, das ganze Land 635
quälte sie. Sie ließ Kriege führen und Leute umbringen, ließ Berge nach Gold durchwühlen, jagte die Menschen von einem Ort zum anderen, verkaufte sie an andere oder verlangte hohe Steuern von ihnen. So stöhnte und klagte das ganze Volk. Schließlich wurde es auch Gott zuviel. Daher schickte er einen Engel, um die Schustersfrau in die Gemächer der Königin zu bringen und die Königin in die Hütte des Schusters. Der Engel führte Gottes Befehl aus. Als die Schustersfrau aufwachte, sprang sie aus dem Bett und sagte: „Ach, ich habe verschlafen, ich muß ja das Essen zubereiten und die Hütte saubermachen, bevor mein Mann aufsteht.“ Sie schaute sich um und wurde beinahe ohnmächtig. „Wo bin ich denn“, sagte sie, „bin ich denn schon im Jenseits?“ Die Zimmer waren so schön, so schön wie im Paradies. „Vielleicht schlafe ich noch? Nein, ich schlafe nicht.“ Sie fiel auf die Knie und bat Gott, ihre Gedanken wieder in die Wirklichkeit zurückzurufen. Die Diener aber liefen auf Zehenspitzen an der Tür hin und her und horchten, ob die Königin schon aufgewacht war. Sie sahen durch das Schlüsselloch und wunderten sich sehr, daß die Königin betete. Das hatte sie noch nie getan. Die Dienstmädchen kamen herein und fragten, welche Kleider die Königin haben möchte. „Die ihr mir gebt, sind mir schon recht“, sagte die Schustersfrau und sagte es mit so sanfter Stimme, daß sich die Diener noch mehr verwunderten. Der Tag verging, und niemand wurde geschlagen, niemand ins Gefängnis geworfen, und 636
alles, was getan wurde, war in Ordnung. Da verbreitete sich das Gerücht im ganzen Reich, daß die Königin ihre Natur geändert habe, daß sie ruhig, sanft, mitleidsvoll und barmherzig geworden sei. Alle Leute freuten sich, denn nun hatten sie es leichter. Ganz anders erging es der Königin. Am Abend hatte sich der Schuster betrunken und war fest eingeschlafen, denn er wußte ja, daß seine Frau ihn rechtzeitig wecken würde. Als er aufwachte, sah er jedoch, daß es schon sehr spät war. Die Hütte war noch nicht aufgeräumt, das Essen noch nicht zubereitet, und seine Frau schlief noch. Da packte ihn die Wut, er griff nach dem Leisten und begann der Königin die Seiten zu massieren. „Steh auf, du Verfluchte! Verrecken sollst du! Warum hast du mich nicht geweckt? Warum hast du die Zeit verschlafen? Warum ist die Hütte nicht aufgeräumt?“ Und er schlug sie grün und blau. Die Königin verstand gar nichts, sondern schrie nur immer wie am Spieß: „Zu Hilfe, rettet mich! Ich werde erschlagen!“ Der Schuster wurde aber nur noch wütender und schlug sie noch mehr. Er schlug sie so lange, bis sie wie ein bitterer Apfel wurde und in Ohnmacht fiel. Da erschrak der Schuster und begann sie mit Wasser zu übergießen. Sie kam ein wenig zu sich, lag da und stöhnte. „Nun, nun, genug gestöhnt, das ist doch nicht das erste Mal! Steh auf und mach dich an die Arbeit!“
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„Ich bin die Königin!“ sagte sie. Da geriet der Schuster wieder in Wut und antwortete: „Du bist eine Königin? Ich werde dir schon dein Königreich zeigen!“ und schlug sie von neuem. Da rief sie ihre Diener um Hilfe, er aber schlug sie immer mehr. Es blieb ihr nichts anderes übrig, sie mußte sich an die Arbeit machen, verstand aber nichts davon. So schlug sie der Schuster wegen jeder Kleinigkeit. Alles ist schwer zu erlernen. Die Königin aber lernte, auch Männerarbeit zu verrichten, schickte sich in ihr Los und ward sanft wie ein Lamm.
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69 Wie Pfaffen geheilt wurden Drei fette Pfaffen wollten einmal ins Heilbad fahren. Sie waren so dick wie gemästete Eber. Was sie auch alles taten, was für Medikamente sie auch einnahmen, nichts half. Die Ärzte sagten, daß sie ins Heilbad fahren müßten, um dort ihr Fett loszuwerden. Da fuhren die Pfaffen zu den Gutsherren, um Geld für die Reise zu sammeln. Sie kamen zu einem Gutsherrn und beklagten sich bei ihm über ihr Unglück. Der Gutsherr bat die Pfaffen, bei ihm zu Abend zu essen und zu übernachten. So blieben die Pfaffen bei ihm. Der Gutsherr führte sie zu Tisch und setzte ihnen so viel vor, daß die Pfaffen schon an der Tafel einschliefen. Sie schnarchten aus Leibeskräften und schliefen so fest, daß man mit Kanonen hätte schießen können, sie hätten es doch nicht gehört. Da ließ sie der Gutsherr ausziehen, in die Brauerei bringen und zu den Brauereiarbeitern legen. Am anderen Morgen waren die Pfaffen wieder etwas nüchterner, wußten aber nicht, wo sie waren. Da wurden die Burschen geweckt, das Kartoffelfeld zu jäten.
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Die Pfaffen erhoben sich und wollten nicht mit zur Arbeit gehen. Da zog ihnen der Meister eins mit der Peitsche über, und so mußten sie schon gehen. Nun arbeiteten die Pfaffen zusammen mit den anderen, machten alles, was zu tun war, aßen zusammen mit den anderen, schliefen mit ihnen zusammen und kamen überhaupt nicht aus der Brauerei heraus. So verging eine Woche, eine zweite Woche, und die Pfaffen begannen ihren Speck loszuwerden. Nach ungefähr fünf Wochen waren sie schon so dünn wie Windhunde. Sie schauten einander an und konnten nicht verstehen, wie sie diese fünf Wochen ausgehalten hatten. Die Pfaffen dachten schon, daß der Teufel sie geholt und zum Schabernack in die Brauerei versetzt hätte. Sie glaubten, daß sie dort nie mehr herauskommen würden. Da ließ der Gutsherr den Brauereiarbeitern einen Eimer Schnaps bringen. Die Pfaffen bekamen auch einen Eimer voll vom besten und stärksten. Sie tranken sich voll und wälzten sich besinnungslos in der Brauerei am Kessel. Als die Pfaffen fest eingeschlafen waren, ließ sie der Gutsherr in das Gästezimmer bringen, wo sie die erste Nacht gelegen hatten. Als die Pfaffen am anderen Tag aufwachten, schüttelten sie sich, waren erschrocken, daß sie es verschlafen hatten, und fürchteten, daß ihnen der Verwalter wieder eins mit der Peitsche überziehen würde. Sie wollten sich schnell anziehen, 640
sahen aber, daß ihre Pfaffenkleidung dalag. Da wunderten sie sich und trauten ihren Augen nicht. Als sie sich angezogen hatten, kam auch schon der Gutsherr und rief sie zum Tee. Er bewirtete die Pfaffen und fragte sie, wohin sie ins Heilbad fahren wollten. „Nein“, sagten die Pfaffen wie aus einem Munde, „jetzt brauchen wir nicht mehr ins Heilbad zu fahren, wir sind schon geheilt.“ So hatte der Gutsherr die Pfaffen geheilt.
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70 Wie ein Schuster Oberpfaffe wurde Es war einmal ein Schuster, der trank jeden Tag Schnaps. Seine Frau aber bat ihn: „Laß doch das Trinken! Geh zum Pfaffen beichten!“ Er dachte bei sich: Einmal muß man schon in die Kirche gehen. So ging der Schuster in die Kirche, beichtete und machte sich wieder auf den Heimweg. Als er an der Schenke vorbeikam, hatte er große Lust, ein wenig Schnaps zu trinken. Er suchte in den Taschen nach Geld. „Hier hab’ ich ja noch ein Vierzigkopekenstück! Das kann ich vertrinken.“ Er trat in die Schenke, trank und ging wieder. Er taumelte hin und her, denn er war betrunken. Dann stürzte er in einen Graben und schlief ein. In der Zwischenzeit hatte man dem König einen teuren Ring gestohlen, und der König hatte bekanntgegeben, daß alle Pfaffen zu ihm kommen und ihm mit Gebeten und Ratschlägen helfen sollten, die Diebe zu finden. Da ging auch der Pfaffe, bei dem der Schuster gebeichtet hatte, zum König. Er sah den Schuster im Graben liegen. Nun, dachte der Pfaffe bei sich, ich werde mir mit dem Schuster einen Spaß machen.
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Der Pfaffe zog seine Kleidung aus und zog sie dem Schuster an. Er selbst aber schlüpfte in des Schusters Kleidung. Als der Schuster aufwachte, erkannte er sich selbst nicht mehr. Er fragte sich: „Bin ich der Pfaffe oder nicht?“ Er dachte: Ja, ich werde einfach nach Hause gehen und meine Frau begrüßen. Wenn sie mich nicht erkennt, bin ich der Pfaffe. Er kam nach Hause, und als seine Frau den „Pfaffen“ erblickte, begrüßte sie ihn und fragte, ob der „heilige Vater“ nicht ihren Mann in der Kirche gesehen hätte. Der Schuster sagte, daß er ihn nicht gesehen hätte, und dachte bei sich: „Meine Frau hat mich nicht erkannt, also bin ich nicht der Schuster, sondern der Pfaffe.“ Er machte sich auf die Reise und legte sich wieder in den Graben, um noch ein wenig zu schlafen. Diesen Weg kamen aber Pfaffen aus anderen Gebieten entlang. Sie sahen den Priester im Graben liegen. Sie blieben stehen, gingen hin zu ihm und fragten: „Was ist mit dir, Kollege, bist du hingestürzt?“ Da sagte der Schuster: „Ja, mir ist schwindelig geworden. Da bin ich hingefallen.“ „Hast du nicht gehört, daß der König bekanntgegeben hat, daß wir alle zu ihm kommen sollen?“ sagten die Pfaffen. „Nein, Kollegen, das habe ich nicht gehört. Ich habe es verschlafen.“
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„Na, dann komm mit zum König. Hast du denn eine Bibel bei dir?“ „Nein, ich habe keine.“ Sie gaben ihm eine Bibel, setzten ihn in die Kutsche und fuhren zusammen mit ihm zum König. Sie kamen zum König, der die Pfaffen alle in einen Saal führte. Dort begannen sie zu beten, um zu erfahren, wo der Ring sei. Der König ging zu jedem Pfaffen, um ihm beim Beten zuzusehen. Er kam auch zu dem Schuster, der aber hielt die Bibel verkehrt herum. Der König fragte den „Pfaffen“, warum er denn so bete. Der Schuster antwortete: „Die anderen Pfaffen werden nichts herausbekommen. Ich aber werde alles erfahren, denn ich bete nach allen vier Seiten zu Gott, sie dagegen nur nach einer Seite.“ Und er drehte die Bibel nach allen vier Seiten und betete. Der König ging zu seinen Ministern und sagte: „Ich habe lauter kluge Pfaffen in meinem Königreich, aber einer scheint klüger als alle anderen zu sein. Er betet mit der Bibel nach allen vier Seiten.“ Die Pfaffen hörten zu beten auf und gingen zum Essen. Da sagte der Schuster zum König: „Gebt mir ein besonderes Zimmer, damit ich allein essen kann!“ Der König war einverstanden. Der Schuster ging in das Zimmer und setzte sich hin. Dann brachte man ihm das Essen. Er hob einen Finger und sagte: „Das ist der erste.“
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Der Lakai stellte ihm das Essen auf den Tisch und lief davon. Er kam in die Küche und sagte: „Soll ihn die Pest holen! Er hat mich erkannt.“ Da sagte der zweite Lakai: „Mich wird er vielleicht nicht erkennen“, und ging zu dem „Pfaffen“. Als er hinkam, sagte der Schuster: „Das ist der zweite.“ Der Lakai stellte das Essen auf den Tisch und lief davon. Er kam in die Küche und sagte: „Er weiß es doch, denn er hat zu mir gesagt: ‚Das ist der zweite.’“ Da sagten der erste und der zweite Lakai zu dem dritten: „Jetzt gehe du! Wenn er zu dir auch etwas sagt, dann gehen wir hin und bitten um Verzeihung.“ Der dritte Lakai kam zu dem „Pfaffen“, und dieser sagte: „Das ist schon der dritte.“ Da warf der Lakai den Teller auf den Tisch und lief davon. Schließlich kamen alle drei zu ihm und baten um Verzeihung. „Wir haben den Ring gestohlen! Bringt uns nicht ins Verderben und sagt es nicht dem König!“ Dann zeigten sie dem „Pfaffen“ des Königs Ring. Der aber fragte sie: „Habt ihr einen Truthahn?“ „Ja, wir haben einen schwarzen Truthahn.“ „Steckt diesen Ring in ein Stück Brot und gebt es dem Truthahn zu fressen. Dann wird der König nichts über euch erfahren.“ Die Lakaien bedankten sich bei dem „Pfaffen“ und liefen zufrieden davon. 645
Der „Pfaffe“ aber ging zum König und sagte: „Ich habe erfahren, wo der Ring ist.“ „Wo denn?“ „In dem schwarzen Truthahn.“ Man schlachtete den Truthahn und fand den Ring. Da schenkte ihm der König viel Geld und machte ihn zum Oberpfaffen im Königreich. Nun mußte der Schuster eine Messe lesen, wußte aber nicht, wie man das macht. Deshalb bat er den König, ihm zu erlauben, im Kloster zu leben. Da ließ der König den „Pfaffen“ ins Kloster gehen. Der Schuster kehrte zu seiner Frau zurück, jetzt aber wieder ohne Pfaffenkleidung, und führte mit ihr ein Leben in Reichtum.
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71 Der Pope und der Diakon1 In einem Dorfe lebten einmal ein Pope und ein Diakon. Beide waren Säufer, aber – wie es so ist – sie bekamen nur wenig Gehalt. Sie tranken gern, hatten aber kein Geld. Da sagte einmal der Diakon zum Popen: „Väterchen, du hast doch ein dikkes Buch. Du wirst aus diesem Buche Ratschläge erteilen, und ich werde stehlen gehen. Dann werden wir Geld zum Trinken haben.“ „Wohin gehst du denn stehlen?“ fragte der Pope. „Unser Afanas im Dorfe hat doch gute Ochsen. Ich werde einen davon stehlen, in den Wald bringen und an eine Birke binden. Dann wird Afanas gleich zu dir gelaufen kommen, Väterchen, und dich um Rat fragen. Ich aber werde einen jungen Burschen beauftragen, Wache zu stehen, damit niemand den Ochsen stiehlt.“ Wie der Diakon es gesagt hatte, so geschah es auch. Bald kam Afanas gelaufen und warf sich – schwupp – dem Väterchen in den Arm. „Warum bist du zu mir gekommen, mein Lieber?“
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Diakon – in der griechisch-orthodoxen Kirche Helfer des Popen beim Gottesdienst. (Anm. d. Übers.)
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„Ich will Euch von meinem Unglück erzählen, Väterchen! Man hat mir einen Ochsen gestohlen!“ „Und was gibst du, mein Lieber, wenn ich deinen Ochsen wieder herbeischaffe? Ich habe nämlich ein Buch, aus dem ich erfahren kann, wo dein Ochse ist.“ „Wenn das wahr ist, Väterchen, dann gebe ich Euch, was Ihr haben wollt.“ „Ich habe dir doch gesagt, daß ich es in dem Buch lesen kann. Wenn du mir fünf Rubel und einen Krug Branntwein gibst, bekommst du deinen Ochsen wieder.“ „Ja, Väterchen, ich werde deswegen mit Euch nicht streiten. Ich gehe gleich und bringe alles.“ „Bring nur gleich den Krug Branntwein, und die fünf Rubel erst später, wenn du den Ochsen wiederhast!“ Der Bauer lief, um den Branntwein zu holen. Er brachte einen Krug voll. Der Pope und der Diakon setzten sich und begannen zu saufen. Schließlich schaute der Pope in das Buch und sagte zu dem Bauern: „Weißt du, Afanas, ich habe bereits erfahren, wo dein Ochse ist. Geh in den Wald. Dort in unserer Lichtung ist dein Ochse an einer Birke angebunden. Man wollte ihn schon wegholen, hatte aber Angst, daß es zu hell war.“ Der Diakon hatte vorher zu dem Jungen gesagt: „Wenn jemand den Ochsen holen kommt, dann lauf schnell weg!“ Der Bauer ging zu der Stelle, die der Pope ihm genannt hatte, und fand dort seinen Ochsen. Als er ihn gefunden hatte, ging er zu dem Popen, be648
dankte sich bei ihm und gab ihm die fünf Rubel. Der Pope und der Diakon nahmen das Geld entgegen und begannen zu saufen. Da sie bald kein Geld mehr hatten, aber weitersaufen wollten, betrieb der Diakon die Sache schließlich als Gewerbe. Dem einen stahl er ein Schäfchen, dem anderen ein Schwein, oder er trieb ein Stück Vieh in ein anderes Dorf. Dann kamen die Leute zum Popen, brachten ihm Geld, und der Pope verriet immer, wo ihr gestohlenes Gut war. So lebten sie eine lange Zeit mit Branntwein und Heiterkeit. Da stahlen einmal ein Kutscher, ein Lakai und ein Koch ihrem Herrn ein Kästchen mit Geld. Der Gutsherr, der gehört hatte, daß der Pope alles herausbekam, ließ drei Pferde vor seine Kutsche spannen und nach ihm schicken. Als man zum Popen kam, war er betrunken, und seine Augen waren vom Branntwein so rot wie rote Rüben . „Der Herr bittet darum, daß das Väterchen zu uns auf den Hof kommt“, sagte der Kutscher. Da kämmte der Pope schnell seine Locken, zog den Priesterrock an, setzte sich in die Kutsche und fuhr zum Gutsherrn. Als er angekommen war, bewirtete ihn der Gutsherr und sagte: „Ich habe gehört, Väterchen, daß Ihr den Menschen im Unglück helft. Helft mir also bitte auch! Man hat mir viel Geld gestohlen. Wenn Ihr es wiederfinden könnt, Väterchen, dann gebe ich Euch dafür zwei Fuhren Weizen und tausend Rubel.“ „Gleich kann ich Euch nichts sagen, lieber Gutsherr. Ich habe nämlich mein Buch zu Hause, vielleicht brauche ich sogar die ganze Nacht da649
zu.“ Er dachte nur daran, so schnell wie möglich vom Hof wegzukommen (denn der Diakon hatte das Geld nicht gestohlen, und so wußte der Pope auch nicht, wo es war). Der Gutsherr sagte: „Gut! Morgen schicke ich nach Euch!“ Dann befahl er, den Popen wieder nach Hause zu bringen. Als der Pope nach Hause gekommen war, rief er schnell den Diakon zu sich und erzählte ihm alles. „Jetzt müssen wir für unseren Scherz bezahlen, denn wir können doch nicht feststellen, wer dem gnädigen Herrn das Geld gestohlen hat. Wir müssen aus diesem Dorfe fliehen.“ Da fragte der Diakon: „Wann wollen wir denn fliehen?“ „Laß uns noch bis zum Abend hier sitzen und den Branntwein austrinken“, sagte der Pope. „Sowie der Hahn zum ersten, zum zweiten und zum dritten Mal gekräht hat, fliehen wir aus dem Dorfe; denn wenn der Gutsherr dem Bischof hinterbringt, daß wir die Leute betrügen, geht es uns schlecht.“ „Gut!“ sagte der Diakon. „Du wirst dort, wohin wir gehen, wieder Pope, und ich Diakon.“ Die Nacht kam, der Pope und der Diakon saßen beim Branntwein, und sie schwatzten miteinander. Der Kutscher, der Lakai und der Koch hatten den Popen auf dem Hofe gesehen. Sie befürchteten, daß er sie verraten würde, und beschlossen, zu ihm zu gehen, wenn sich die Herrschaften zu
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Bett gelegt hätten, und ihn zu bitten, nichts davon zu sagen, daß sie das Geld gestohlen hatten. Sobald die Herrschaften eingeschlafen waren, gingen sie zu dem Popen. Als sie auf dessen Hof kamen, tranken der Pope und der Kirchendiener noch immer Branntwein. Der Kutscher trat an das Fenster. In diesem Augenblick krähte der Hahn, und der Pope sagte: „Diakon, Diakon, da ist schon der erste (Hahnenschrei)! Als der Kutscher hörte, daß ihn der Pope erkannt hatte, lief er zu den beiden anderen und sagte: „Der Pope hat mich erkannt, er hat gesagt, ich sei schon der erste.“ „Dann werde ich jetzt hingehen und horchen“, sagte der Lakai. So traten sie zu zweit an das Fenster. Da krähte der Hahn zum zweiten Mal, und der Pope sagte: „Diakon, Diakon, nun sind es schon zwei.“ Da liefen der Kutscher und der Lakai voller Angst zu dem dritten und erzählten ihm, daß der Pope sie erkannt habe, als sie beide zu ihm gekommen seien. „Laßt uns zu dritt hingehen und horchen!“ sagte der Koch. Sie gingen alle drei an das Fenster, da krähte der Hahn zum dritten Mal. Der Pope sagte: „Diakon, Diakon, nun sind es drei.“ Da liefen sie schnell in die Hütte. Der Pope erschrak, denn er dachte, daß man schon vom Hofe nach ihm geschickt hätte. Aber sie warfen sich ihm – schwupp – vor die Füße. „Väterchen, verratet nicht dem gnädigen Herrn, daß wir das Geld .gestohlen ha-
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ben! Wir geben Euch dafür jeder dreißig Rubel. Aber verratet uns nur nicht!“ Der Pope freute sich und fragte: „Aber wohin habt ihr denn das Geld getan?“ „Wir haben es im Pferdestall vergraben. Es liegt in der zweiten Box von der Tür aus.“ „Habt ihr noch nichts von dem Geld weggenommen? Ist noch alles da?“ fragte der Pope. „Wir haben nichts weggenommen, Väterchen, es ist noch alles da. So wie wir es gestohlen haben, haben wir es auch vergraben.“ „Dann geht nach Hause! Ich werde euch nicht verraten.“ Da küßten sie alle drei dem Popen die Hand und verließen die Hütte. Der Pope dachte bei sich: Da habe ich aber Glück gehabt. Dann weckte er den Diakon, der unter dem Tisch eingeschlafen war. „Steh auf, Diakon, wir wollen bis zum Morgen Branntwein trinken, denn wir haben Schwein gehabt!“ Am anderen Morgen schlief der Pope noch, als die Kutsche mit den vier Pferden ankam, die der Gutsherr zu ihm geschickt hatte. Er wurde geweckt, wusch sich, nahm das dicke Buch und fuhr zum Gutshof. Er kam ins Zimmer und sagte: „Ich habe es erfahren, gnädiger Herr. Euer Geld hat sich wieder angefunden.“ Da bewirtete der Gutsherr den Popen vor Freude, der Pope aber trank keinen Branntwein, sondern sagte nur: „Gebt mir zwei Arbeiter!“ Man gab sie ihm. Dann ging er mit ihnen in den Pferdestall. 652
Dort legte er sein dickes Buch hin. Er sah sich um, murmelte etwas vor sich hin und sagte: „Grabt in der zweiten Box!“ Sie gruben, fanden das Geld. Da mußte der Gutsherr dem Popen zwei Fuhren Weizen und tausend Rubel geben. Der Weizen machte ihm nichts weiter aus, aber um die tausend Rubel tat es ihm leid. Was konnte er nur tun, um die tausend Rubel zu sparen? Da kam ein Käfer angeflogen, und der Gutsherr fing ihn. Er kam in das Zimmer zurück und sagte zu dem Popen: „Väterchen, sagt mir, was ich hier in der Hand habe! Wenn Ihr es erratet, dann gebe ich Euch alles, was ich Euch versprochen habe, und noch Branntwein dazu.“ Der Pope kratzte sich am Kopf und sagte: „Nun hat der Herr den Käfer in der Hand.“ Der Gutsherr aber wußte nicht, daß der Pope Shukowski hieß, und sagte: „Ihr habt richtig geraten, Väterchen.“ Er zeigte ihm den Käfer und warf ihn auf den Boden.1 Da konnte der Gutsherr nichts machen. Er mußte dem Popen das geben, was er ihm versprochen hatte. Er ließ zwei Fuhren Weizen aufschütten, gab ihm tausend Rubel und einige Eimer Branntwein, bedankte sich bei ihm und ließ den Popen nach Hause fahren. 1
Wortspiel, das sich nicht ins Deutsche übersetzen läßt. „Nun hat der Herr den Käfer in der Hand“ ist ein Sprichwort und bedeutet: „Nun sitze ich in der Patsche.“ „Käfer“ heißt im Belorussischen „shuk“. (Anm. d. Übers.)
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Als der Pope zu Hause angekommen war, rief er den Diakon und sagte zu ihm: „Auch dieser Spaß ist uns gelungen. Jetzt werden wir trinken, feiern und an das Geldkästchen des Gutsherrn denken!“
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72 Der Recke als Arbeiter beim Popen Als einmal ein paar Frauen in den Wald gegangen waren, um Beeren zu sammeln, überfiel sie ein Bär. Die Frauen konnten alle fliehen, nur eine junge Frau hatte der Bär gepackt und in seine Höhle geschleppt. Dort gab er ihr zu essen und lebte mit ihr ungefähr ein halbes Jahr. Da wurde die junge Frau von dem Bären schwanger. Der Bär glaubte ganz fest daran, daß sie nicht von ihm weglaufen würde. Eines Tages ging er weit fort, um Nahrung zu suchen. Da gebar die junge Frau das Kind und lief davon. Als der Bär zurückkam und in die Höhle kroch, fand er sie nicht mehr vor. Da lief er ihr nach. Er holte sie im Dorfe ein. Sie lief in einen Bauernhof, und der Bär folgte ihr. Als die Männer sahen, daß ein Bär auf dem Hofe war, versammelten sie sich, umringten und töteten ihn. Der Mann der jungen Frau aber hatte inzwischen eine andere geheiratet und sagte: „Geh dahin, wo du dich herumgetrieben und das Kind empfangen hast! Ich will nichts mehr von dir wissen.“ Da kamen die Leute zusammen, um zu beraten, wie die junge Frau jetzt weiterleben sollte, da ihr Mann sie nicht mehr haben wollte. Sie entschieden folgendermaßen: Er sollte ihr eine Hütte bauen und einen Gemüsegarten geben, damit sie und 655
das Kind, das sie von dem Bären empfangen hatte, etwas zu essen haben. So lautete die Entscheidung. Der Mann und seine Frau waren damit einverstanden. Sie bauten der jungen Frau eine Hütte und gaben ihr einen Gemüsegarten; sie wohnte mit ihrem Kind ungefähr zwei Jahre dort. Wenn das Kind auf die Straße ging, um mit den anderen Kindern zu spielen, und dabei einen Spielkameraden nur mit der Hand berührte, so stürzte er gleich zu Boden. Da kamen die anderen Frauen zu der jungen Frau und sagten, sie solle ihren Jungen nicht mehr mit den Kindern spielen lassen. „Sonst erschlägt er uns noch unsere Kinder!“ sagten sie. Der Kleine sagte zu seiner Mutter: „Warum soll ich dir zur Last fallen, Mutter? Ich suche mir irgendwo Arbeit.“ Da sagte die Mutter zu ihm: „Wo willst du denn hingehen, du bist doch noch so klein!“ Er aber sagte: „Laß nur, ich will mir wenigstens ein Stück Brot verdienen.“ Dann ging er fort. Unterwegs traf er den Popen. Der Pope fragte: „Wo gehst du hin, Junge?“ „Ich möchte irgendwo als Knecht arbeiten, Väterchen.“ „Komm zu mir!“ sagte der Pope. „Gut!“ sagte der Junge. „Wie heißt du denn?“ fragte der Pope. „Mischa“, sagte der Junge. „Nun, setz dich zu mir, wir reiten weiter!“ sagte der Pope. Der Junge setzte sich auf das Pferd, und sie ritten weiter. Der Junge war sehr schwer, und daher 656
schwitzte das Pferd so, daß es ganz mit Schaum bedeckt war. Da fragte der Pope: „Weshalb schwitzt denn unser Pferd so?“ Da sagte der Junge: „Es scheint so zu schwitzen, weil wir so schnell reiten.“ In Wirklichkeit aber ritten sie nur langsam. Der Pope aber schwieg und dachte, daß es wohl so sein müsse, denn er wußte ja nicht, daß der Junge so schwer war. Schließlich kam der Pope zu seinem Hof und gab dem Jungen zu essen. Dann fragte er: „Wieviel soll ich dir für ein halbes Jahr zahlen?“ „Ich will nichts von Euch haben, Väterchen“, sagte der Junge. „Ich möchte Euch nur, wenn ich ein Jahr gedient habe, einen Schlag auf den Rükken geben, Väterchen, und dem Mütterchen auch.“ Der Pope willigte ein, denn er dachte: Was ist schon dabei, wenn er uns eins ins Kreuz gibt? Er wußte ja nicht, daß ihn der Schlag des Jungen töten würde. Denn der Junge war ein Recke, der Pope aber glaubte nur einen kleinen Jungen vor sich zu haben. Er gab ihm ein Beil und sagte: „Geh Holz hacken, Mischa!“ Mischa aber sagte: „Wozu brauche ich da ein Beil, Väterchen? Ich hacke das Holz so.“ Der Pope dachte: Wie soll er das denn machen? Er ist doch noch so klein. Da ging Mischa zu dem Holzhaufen auf die Straße, nahm ein dickes Holzscheit, hob es hoch und warf es auf die Erde. Es zerbrach gleich in viele Teile. Der Pope, der am Fenster stand, sagte zu seiner Frau: „Wir haben einen Arbeiter eingestellt, der ohne Beil Holz hackt.“ 657
Das war im Winter. Nun warteten sie auf den Sommer. Einmal wurde Mischa auf das Feld pflügen geschickt. Sie gaben ihm einen Pflug und ein Pferd und zeigten ihm, wo er pflügen sollte. Mischa spannte das Pferd an und begann. Das Pferd wurde überhaupt nicht müde, weil Mischa den Pflug schob. Der Pope brachte Mischa das Essen und sagte: „Nun hast du genug gepflügt, Mischa! Spann aus und iß!“ Mischa spannte das Pferd aus, und als er ihm mit der Hand auf den Rücken schlug, wälzte es sich auf dem Boden. Da fragte der Pope: „Warum wälzt sich denn das Pferd auf der Erde?“ Mischa antwortete: „Weil es ihm Spaß macht!“ Dann setzte er sich zum Essen nieder. Als er gegessen hatte, sagte er: „Nehmt Ihr den Pflug, Väterchen, und laßt uns zusammen pflügen!“ Der Pope nahm den Pflug, und Mischa legte sich das Kummet um und zog ihn. Sie pflügten, bis die Sonne untergegangen war. Da sagte der Pope: „Laß uns nach Hause gehen, Mischa!“ Als sie auf dem Hof angekommen waren, aßen sie Abendbrot und legten sich schlafen. Der Pope prahlte vor seiner Frau, daß Mischa schon sehr viel geschafft habe, mehr als eine Desjatine1. Dann erzählte er, daß Mischa dem Pferd eins auf den Rücken gegeben habe und das Pferd gleich zu Boden gestürzt sei. Da dachte die Frau nach und sagte: „Wenn sein Schlag das Pferd nie1
Altes russisches Flächenmaß = 1,09 ha. (Anm. des Übers.)
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dergestreckt hat, dann wird er uns töten, wenn er uns auf den Rücken schlägt. Wir wollen es so machen: In unseren Hafer kommen doch immer die Bären. Wir schicken Mischa in der Nacht hin und sagen: ‚Geh und jage die Kühe aus dem Hafer. Wenn du eine fängst, dann bringe sie auf den Hof!’“ So geschah es auch. In der Nacht weckte der Pope Mischa und sagte zu ihm: „Geh! Jage die Kühe aus dem Hafer, und wenn du eine fängst, bringe sie auf den Hof!“ Mischa stand auf, nahm ein Seil und ging los, um die Kühe aus dem Hafer zu jagen. Als er zum Hafer kam, sah er die Bären. Da schrie er: „Schert euch fort!“ Die Bären liefen davon. Einen aber fing er, band ihn an das Seil und brachte ihn zum Popen. Als er auf den Hof kam, sagte er: „Macht auf, Väterchen!“ Der Pope öffnete nicht, denn er hatte Angst. Da trat Mischa mit dem Fuß gegen das Tor, und es ging gleich auf. Als er den Bären auf den Hof zog, stemmte dieser sich mit seinen Tatzen gegen die Pfosten, daß der Zaun einbrach. Das Väterchen und seine Frau ängstigten sich so, daß ihnen die Nissen krepierten. Sie dachten, daß Mischa und der Bär den ganzen Hof zerwühlen würden. Mischa aber sagte: „Väterchen! Wo soll ich denn die Kuh hinstellen?“ – „Bring sie in die Scheune!“ Mischa band die Kuh (den Bären) an, ging ins Zimmer und sagte: „Mütterchen, habt Ihr die Kuh gemolken? Geht sie melken!“ „Laß nur gut sein!“ sagte das Mütterchen. Da überlegten der Pope und seine Frau wieder, und sie sagten: „Geh in der Nacht in die Mühle 659
und laß dir vom Aufseher hundert Rubel geben. Wenn er dir das Geld nicht gibt, dann bringe ihn her!“ In dieser Mühle aber mahlten am Tage die Leute und in der Nacht die Teufel. Mischa kam genau um Mitternacht dort an und sagte: „Macht auf!“ Die Teufel öffneten nicht. Als Mischa mit dem Fuß gegen die Tür trat, ging sie auf, er trat ein, und die Teufel liefen davon. Er packte einen und sagte: „Bist du der Aufseher dieser Mühle? Gib das Geld her! Väterchen hat es befohlen!“ Der Teufel schwieg. Da schleppte Mischa den Teufel zum Väterchen. Als er ihn brachte, sagte er: „Ich habe den Aufseher mitgebracht, wo soll ich ihn hinstecken?“ „Sag ihm, er soll in die Scheune gehen und warten, bis ich aufstehe!“ Mischa brachte den Teufel in die Scheune und band ihn mit dem Bären zusammen an, dann legte er sich schlafen. Als der Pope am nächsten Morgen aufstand und in die Scheune schaute, waren dort der Bär und der Teufel an einem Pfahl angebunden. Da sah er, daß sie gegen Mischa nichts machen konnten, und beriet sich mit seiner Frau, denn das Jahr ging schon bald zu Ende. Das Mütterchen sagte: „Wir machen es so: Wir schreiben einen Brief, geben ihm Pferd und Wagen und sagen zu ihm: ‚Fahre zum Zaren, Mischa, und hole dort unseren Lohn ab, achthundert Rubel!’ Während er verreist ist, ziehen wir in ein anderes Dorf, und er wird uns hier nicht mehr finden, wenn er zurückkommt. So retten wir uns vielleicht vor dem Schlag auf den Rücken.“ Der Pope rief 660
Mischa zu sich und sagte zu ihm: „Hier hast du einen Brief, nimm Pferd und Wagen und fahre zum Zaren! Dort erhältst du unseren Lohn, achthundert Rubel.“ Mischa aber nahm weder das Pferd noch den guten Wagen, sondern eine alte Mistkarre, spannte den Bären und den Teufel davor und fuhr zum Zaren. Er fuhr bis zur Treppe des Zarenpalastes. Die Posten meldeten dem Zaren, daß ein kleiner Junge mit einem Bären und einem Teufel angekommen sei und unbedingt zu ihm wolle. Da befahl der Zar: „Fragt ihn, was er will!“ Mischa sagte: „Ich habe einen Brief vom Popen, daß ich achthundert Rubel Lohn abholen soll.“ Die Posten nahmen den Brief und brachten ihn zum Zaren. Der Zar las den Brief, zählte achthundert Rubel ab, gab sie dem Posten und sagte: „Gib sie ihm und sage, daß er schnell zurückfahren soll.“ Nachdem Mischa das Geld erhalten hatte, fuhr er schnell zurück. Als er beim Popen angekommen war, nahm er den Bären und den Teufel, brachte sie in die Getreidedarre, ging in den Hof und sah, daß der Pope zur Abreise gerüstet hatte. Er hatte alles auf einen Wagen geladen und war weggegangen, um sich von seinen Angehörigen zu verabschieden. Mischa aber nahm einen Sack, in dem Zwiebäcke waren, vom Wagen, schüttete sie irgendwohin, kletterte selbst in den Sack und legte sich hin. Die Pferde wurden angeschirrt, und der Pope und seine Frau setzten sich auf den Wagen. Die Popenfrau saß auf dem Sack, in dem Mischa war, und sie fuhren los. Unterwegs bewegte sich 661
Mischa. Die Popenfrau dachte, der Wagen ginge entzwei. Sie sagte zu ihrem Mann: „Väterchen! Bei mir wackelt etwas. Geht etwa der Wagen entzwei?“ Der Pope sah nach und sagte: „Das bildest du dir nur ein.“ Als sich Mischa in dem Sack aber nochmals bewegte, fiel die Popenfrau vom Wagen. Sie banden den Sack auf und fanden Mischa. „Was willst du denn hier?“ fragte der Pope. „Wem soll ich denn sonst dienen?“ fragte Mischa. Der Pope aber schwieg. Dann setzte sich die Popenfrau nach vorn zu ihrem Mann, Mischa aber saß hinten. Unterwegs sagte der Pope zu seiner Frau: „Wir übernachten hier und nehmen Mischa in die Mitte. Wenn er eingeschlafen ist, dann legen wir die Hände unter ihn und werfen ihn in den See.“ Mischa hatte hinten alles gehört. Als sie am See ankamen, spannten sie die Pferde aus, setzten sich nieder, aßen Abendbrot und legten sich schlafen. Mischa lag in der Mitte. Der Pope und seine Frau schliefen gleich ein. Mischa aber schlief noch nicht. Er legte sich zur Seite und den Popen in die Mitte zu seiner Frau. Dann blieb er ganz ruhig liegen, damit sie weiterschliefen. Als die Popenfrau aufwachte, reichte sie Mischa unter ihrem Manne hindurch die Hand. Mischa nahm die Popenfrau bei der Hand, und sie warfen den Popen in den See. Da sagte Mischa: „So kann es einem gehen. Wir hätten nicht am See übernachten sollen.“ Da sagte die Popenfrau: „Hast du ihn etwa in die Mitte gelegt?“ „Ja, ich war es, Mütterchen.“
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Sie setzten sich auf den Wagen und fuhren dorthin zurück, woher sie gekommen waren. So ein Prachtkerl war der Mischa!
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73 Der Tagelöhner Es waren einmal ein Pope und seine Frau, die stellten einen Tagelöhner ein, und der Tagelöhner sagte zu dem Popen: „Wenn ich ‚falsch’ sage, darfst du mir das Fell abziehen, und wenn du es sagst, werde ich es dir abziehen.“ So einigten sie sich. Der Pope hatte Ochsen und schickte den Tagelöhner zum Pflügen. Er sagte: „Söhnchen, pflüge mit den Ochsen und nimm die kleine Hündin mit! Nimm auch ein Semmelchen zum Frühstück mit! Iß davon und füttere auch das Hündchen damit, aber paß auf, daß das Semmelchen ganz bleibt. Pflüge mit deinen Ochsen immer da, wo das Hündchen hinläuft.“ Das Hündchen lag morgens noch ruhig da (denn es war noch nicht heiß), und der Tagelöhner pflügte. Da fielen die Fliegen über die kleine Hündin her, und sie rannte bald hierhin, bald dorthin. Er aber folgte ihr immer mit den Ochsen. Schließlich rannte die kleine Hündin nach Hause, und er lief mit den Ochsen hinter ihr her. Der Stall war gut verschlossen. Die Hündin lief in den Stall hinein. Der Tagelöhner sah die kleine Hündin im Stall. Aber der Stall war ja verschlossen. Da pflügte er den Ochsen die Beine ab. Dann ging er zu dem Popen in die Hütte. 664
„Nun, Söhnchen, hast du überall dort gepflügt, wo die Hündin hingelaufen ist?“ „Ja, Väterchen!“ „Hast du gefrühstückt?“ „Ja, Väterchen!“ „Hast du die Hündin gefüttert?“ „Ja!“ „Ist das Semmelchen noch ganz?“ „Ja, Väterchen, es ist noch ganz!“ „Und wohin hast du die Ochsen gebracht, Söhnchen?“ „Die Hündin ist dort im Stall, Väterchen, aber den Ochsen habe ich die Beine abgehackt, denn der Stall war verschlossen.“ Dann sagte er: „War das vielleicht falsch?“ „Nein, nein!“ „Wenn nicht, dann ziehen wir den Ochsen die Felle ab, geben sie zum Bearbeiten, machen Schuhe daraus und essen das Fleisch. Schade um die beiden Ochsen!“ Der Pope hatte auch viele Schafe. Er sagte: „Geh, Söhnchen, und schlachte ein Schaf!“ „Welches soll ich denn schlachten, Väterchen?“ „Welches dich ansieht.“ Der Tagelöhner zog den Mantel an und ging in den Stall. Die Schafe aber sahen ihn alle an. Es waren ja schließlich Schafe. Nur eines lag im Sterben und schaute aufs Heu. Da begann er zu schlachten und schlachtete alle Schafe. Er blieb so lange im Stall, bis er alle Schafe geschlachtet hatte.
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Der Pope aber fragte ihn: „Warum hast du dich so lange aufgehalten, Söhnchen?“ „Weil ich alle Schafe geschlachtet habe.“ „Warum hast du alle Schafe geschlachtet, Söhnchen?“ „Das, was mich nicht angeschaut hat, weil es im Sterben lag, habe ich nicht geschlachtet. Ärgert Euch nicht darüber, daß ich die anderen Schafe alle geschlachtet habe, Väterchen. Wir ziehen ihnen die Felle ab und geben sie zum Gerben, dann haben wir Mäntel und können Fleisch essen.“ Einmal bat man den Popen zu einer Familie, in der ein Kind geboren worden war, wie das in unserem Dorfe so ist. Er wollte mit seiner Frau hinfahren. Da sagte er zu dem Tagelöhner: „Söhnchen, paß auf die Tür auf, hinter der das Fleisch liegt!“ Dann fuhren sie ab. Auf der Feier aßen und tranken sie die ganze Nacht hindurch. Der Tagelöhner aber nahm die Tür heraus und ging damit dorthin, wo die Feier stattfand. „Macht Platz, Leute, ich bringe die Tür des Popen!“ Die Leute gingen auseinander, er stellte sich mit der Tür an den Ofen und sah sich um. Der Pope glotzte mit aufgerissenen Augen, denn er war betrunken. „Du bist hier, Söhnchen? Ich habe dir doch gesagt, du sollst auf die Tür aufpassen.“ „Ich bin hier, Väterchen, und die Tür ist auch hier.“ Als sie nach Hause kamen, war kein Fleisch mehr da. Nur die Tür war noch da. 666
Da beriet der Pope mit seiner Frau, und sie beschlossen, vor dem Tagelöhner zu fliehen. Der Pope füllte ein Faß mit Branntwein. Der Tagelöhner nahm das Faß und warf es irgendwohin. Dann stieg er in einen Sack und blieb darin liegen. In den Sack aber hatte sich der Pope etwas zu essen gepackt. Der Pope holte den Sack und warf ihn auf die Schulter. Er ging voran, seine Frau folgte ihm, und der Tagelöhner steckte im Sack. Der Tagelöhner konnte es nicht mehr aushalten und machte sich voll. Da sagte die Popenfrau zum Popen: „Ein Faß ist aufgegangen, der Wein läuft heraus.“ „Das macht nichts, Mütterchen!“ Schließlich waren der Pope und seine Frau müde, aber der Tagelöhner noch nicht. Als sie zu einer Brücke kamen, band der Pope den Sack auf. „Du bist hier, Söhnchen?“ „Ja!“ „Ei, ei, ei!“ Nun übernachteten sie zu dritt. Die Popenfrau lag neben dem Popen in der Mitte. Die beiden schliefen bald ein, denn sie waren müde. Der Tagelöhner aber schlief nicht. Er stand auf, schob die Popenfrau zur Seite und legte sich zu dem Popen. Da wachte der Pope auf, packte die Popenfrau bei den Beinen, weil er dachte, es wäre der Tagelöhner, und warf sie in den Fluß. Der Tagelöhner aber sagte: „Was hast du getan?“ 667
Da sagte der Pope: „Du hast mich zugrunde gerichtet, denn deinetwegen habe ich meine Frau ertränkt!“ Da antwortete der Tagelöhner: „War das etwa falsch?“ „Was denn sonst, meine Schafe und Ochsen sind dahin, und ich habe meine Frau umgebracht. Nun bin ich ganz allein.“ Da zog der Tagelöhner dem Popen das Fell ab, rieb es mit Gerstenspreu ein und verschwand. Hier ist das Märchen zu Ende.
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74 Wie der Pope Heu aß Ein Bauer war einmal mit einem Popen in den Wald Pilze sammeln gegangen, und sie hatten sich verirrt. Sie liefen und liefen die ganze Nacht umher und fanden den rechten Weg nicht mehr. Schließlich kamen sie zu einem Heuschober im Moor. Der Bauer sagte: „Klettern wir auf den Heuschober, sonst fressen uns die Wölfe!“ Der Bauer stieg hinauf, der Pope aber konnte ihm nicht folgen und sagte: „Vielleicht werde ich hier unten auch nicht von den Wölfen gefressen. Ich übernachte unter dem Heuschober.“ Der Bauer aber hatte ein Stück Brot in der Tasche. Der Pope fragte: „Was ißt du da, Bauer?“ „Ich esse Heu.“ Da bat der Pope: „Gib mir auch Heu!“ „Zieh dir welches heraus und iß es!“ Der Pope zog etwas Heu aus dem Schober und begann zu kauen. Er konnte es aber nicht essen. Da sagte er: „Ich kann es nicht essen. Wirf mir etwas von oben herunter, vielleicht ist es dort besser!“ Der Bauer warf ihm etwas von oben herunter. Der Pope konnte das Heu nicht essen und mußte hungrig übernachten. Der Bauer aber aß sich an dem Brot satt, denn bekanntlich kann ein Bauer sieben Teufel betrügen. 669
75 Der schlaue Diakon Ein Pope und ein Diakon hatten einmal eine Kuh gestohlen. Alles hatten sie geteilt, nur über die Haut konnten sie sich nicht einig werden. Sie nahmen sie zwischen die Zähne und zerrten daran. Der Pope hielt nicht stand, ließ die Haut fahren, und – klatsch – knallte der Diakon mit dem Kopf gegen die Wand und hatte die Haut. Bald sprach es sich herum, daß jemand eine Kuh gestohlen habe. Der Diakon kam zum Popen und sagte: „Ich werde wohl nicht standhalten und die Tat gestehen.“ „Du bist wohl verrückt geworden, was?“ „Wenn mich doch aber das Gewissen plagt!“ „Hier hast du Geld soviel du willst, aber erzähle nur niemandem etwas!“ Am anderen Tage kam der Diakon wieder und sagte: „Ach du mein Gott, ich halte es nicht mehr aus!“ Da gab ihm der Pope noch mehr Geld, damit er nur nichts sagte. Am Abend hatte der Pope Gäste, und das Gespräch kam auf die Kuh. Da sagte der Diakon: „Die Kuh wurde von mir zusammen mit dem Popen gestohlen!“
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Der Pope wurde rot, schob ihm unbemerkt all sein Geld zu, und der Diakon sprach weiter: „Wir haben, scheint mir, auch alles geteilt, nur über die Haut konnten wir uns nicht einigen. Da habe ich ein Ende zwischen die Zähne genommen, er das andere, und wir haben gezogen. Der Pope hat losgelassen, und ich bin – klatsch – mit dem Kopf gegen die Wand geknallt und… aufgewacht. Alles war nur ein Traum.“ Auf diese Weise hatte der Diakon seine Sünde gestanden und obendrein dem Popen all sein Geld abgenommen. So listig war dieser schlaue Fuchs!
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76 Der Pfaffe und der Orgelspieler Es waren einmal ein Pfaffe und ein Orgelspieler. Der Pfaffe war reich und hatte an allem Überfluß. Der Orgelspieler aber war arm und hatte sieben Kinder. Als das Weihnachtsfest kam, hatte er nichts zu essen. Da überlegte er, wie er einen von den Ebern des Pfaffen umbringen könne, ohne daß der Pfaffe etwas davon erführe. Er ging zu einem guten Schlosser und bat ihn, ihm ein kleines Gewehr herzustellen. Der Schlosser baute es ihm, und der Orgelspieler ging in den Stall, wo die Eber lagen, schob einem einfach das Gewehr in den Hintern und tötete ihn, ohne daß etwas davon zu hören war. Am Morgen kam die Dienerin in den Stall und sah, daß ein Eber tot war. Sie ging zum Pfaffen und sagte: „Ein Eber ist verreckt!“ Da antwortete der Pfaffe: „Geh zum Orgelspieler und sag ihm, er soll ihn sich holen!“ Sie ging zum Orgelspieler und sagte: „Der Pfaffe hat gesagt, daß du einen toten Eber holen sollst!“ Der Orgelspieler ging zum Pfaffen und sagte: „Einen lebendigen Eber habt Ihr mir nicht gegeben, aber den verreckten wollt Ihr mir schenken.“ „Für dich armen Mann ist das doch einerlei“, sagte der Pfaffe. „Du stirbst nicht daran, und dei672
ne Familie stirbt auch nicht daran. Nehmt ihn und eßt ihn!“ Der Pfaffe befahl einem Knecht, den Eber zum Orgelspieler zu bringen und ihm das Fell abzusengen. Als der Eber aufgegessen war, wollte der Orgelspieler noch einen zweiten holen, denn das Verfahren hatte ihm gefallen. Er tat es auch, und mit dem dritten Eber machte er es ebenso wie mit dem ersten und dem zweiten. Da wunderte sich der Pfaffe und dachte: „Nirgends ist eine Krankheit ausgebrochen, alle haben gesunde Eber, nur meine verrecken dauernd.“ Einmal mußte der Pfaffe für einen Tag verreisen und schloß die Dienerin in den Schrank ein, damit sie hörte, was der Orgelspieler und seine Frau sprachen. Die Frau fragte den Orgelspieler: „Wie machst du denn das?“ Er aber sagte: „Das geht dich nichts an!“ Die Frau wollte es aber genau wissen, und so erzählte er ihr nach und nach alles. Als er es gesagt hatte, bewegte sich etwas im Schrank. Da öffnete er die Tür und fand die Dienerin. Er erwürgte sie gleich und steckte ihr eine Wurst in den Mund, damit der Pfaffe dachte, daß sie daran erstickt sei. Als der Pfaffe zurückkam und nach ihr rief, lag sie tot mit einer Wurst im Munde da. Er erschrak, lief zu dem Orgelspieler und sagte: „Komm nur und sieh, was mit ihr geschehen ist!“ Der Orgelspieler ging hin und sah es. Der Pfaffe gab ihm hundert Rubel, er solle sie so begraben, daß niemand etwas davon erfährt. 673
Es war gerade Winter, und der Orgelspieler versteckte die Leiche im Stroh. In einer mondhellen Nacht setzte er sie auf ein Pferd und band die Zügel an ihren Beinen fest. So ritt sie nachts auf dem Pferd umher. Als der Pfaffe sie auf dem Pferd reiten sah, erschrak er und gab dem Orgelspieler weitere hundert Rubel, damit er sie wieder begrabe. In der dritten Nacht setzte der Orgelspieler die Leiche auf eine Kuh. Als der Pfaffe sie sah, gab er dem Orgelspieler wiederum hundert Rubel, damit er sie begrabe. Einmal fiel es dem Pfaffen ein, all sein Geld zusammenzutragen, auf den Tisch zu legen und zu zählen. Das Fenster war offen, und der Orgelspieler nahm die Leiche und warf sie dem Pfaffen auf den Tisch. Die Tote fiel auf das Geld, der Pfaffe lief weg und sagte zu dem Orgelspieler: „Geht und nehmt sie, und auch das Geld soll alles Euch gehören. Vergrabt sie in einer tiefen Grube, damit sie nie mehr nach oben kommen kann!“ So bekam der arme Orgelspieler das ganze Geld und lebte von der Zeit an als reicher Mann.
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77 Drei Pfaffen und ein Ei In alten Zeiten trieben sich die Pfaffen in der Welt umher und redeten den Leuten ein, sie müßten den Gutsherren gehorchen, ehrlich arbeiten und der Kirche etwas geben. Gott aber sah nichts davon. Die Leute gaben, was sie konnten, aber die Pfaffen verfraßen es bei den Gutsherren. Da kamen einmal drei Pfaffen zusammen, ein Jesuit, ein Bernhardiner und ein Kapuziner. In der Nähe war kein Gutshof, wo sie essen und trinken konnten. Bekanntlich haben ja die Gutsherren die Pfaffen immer gut empfangen und bewirtet. Da blieb den Pfaffen nichts weiter übrig, als ohne Essen auszukommen. So gingen sie zusammen in eine Schenke, um sich zu stärken. In der Schenke bestellten sie Schnaps und etwas zu essen. Der Schenkwirt war ein armer Mann und hatte außer dem Branntwein nichts da, denn bekanntlich ist in einer kleinen Schenke nie etwas da. Die drei Männer tranken den Branntwein und bissen sich auf die Zunge. Wer etwas essen wollte, mußte sich von zu Hause in der Tasche oder im Rock einen Topf Sauerkohl, einen Kanten Brot, einen Fisch, Gurken oder etwas anderes mitbringen. Die Pfaffen tranken ein Glas und auch noch ein zweites, aber zu essen hatten sie nichts. Da sahen 675
sie auf dem Hof an der Scheune ein Huhn herumlaufen, und sie rannten los, um es zu fangen. Die Pfaffen liefen, die Röcke hochgehoben, konnten aber das Huhn nicht fassen. Das Huhn lief hierhin und dorthin, und die Pfaffen rannten hinterher, schließlich verlor es ein Ei und kroch unter die Scheune. Die Pfaffen hoben das Ei auf und ließen es kochen. Man kochte das Ei und gab es ihnen. Nun wußten die Pfaffen nicht, wie sie es teilen sollten. Sie rechneten und rechneten, konnten aber zu keiner Lösung kommen. Schließlich einigten sie sich darauf, daß der das Ei essen sollte, der den schönsten Spruch aufsagen konnte. Als erster nahm der Kapuziner das Ei, begann es abzupellen und sagte: „Gereinigt sei es von der Schale der Unwahrheit!“ Er wollte das Ei gerade in den Mund stecken und verschlucken, als es ihm der Bernhardiner entriß. Er streute etwas Salz darauf und sagte: „Bestreut sei es mit dem Salze der Weisheit!“ Als er dies gesagt hatte, wollte er das Ei in den Mund schieben und essen. Da riß ihm der letzte Pfaffe, der Jesuit, das Ei aus der Hand. Er schaute auf seine Kollegen und sagte: „Gereinigt bist du von der Schale der Unwahrheit, bestreut mit dem Salze der Weisheit. So also kehre ein zum Lobe deines Herrn!“ Mit diesen Worten führte der Jesuit das Ei zum Munde und verschlang es. Seit dieser Zeit sind die Kapuziner und Bernhardiner mit den Jesuiten nicht mehr befreundet.
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78 Der zu kluge Pope Ein Bauer aus dem Süden Belorußlands hatte einen Sohn, der Pope werden sollte. Der Sohn trieb sich einige Jahre herum, verbrauchte das ganz Geld des Vaters, heiratete und kam nach Hause. Inzwischen hatten die Bauern eine Kirche gebaut und waren sehr froh darüber, daß sie nun ihren eigenen Popen hatten. Am Sonntag ließ der Pope die Bauern zur Predigt kommen. Alle Leute waren in der Kirche versammelt. Der Pope trat mit seinem Buch heraus und fragte: „Leute, Leute, wißt ihr, was in diesem Buche steht?“ „Nein“, sagten sie, „das wissen wir nicht, geistlicher Vater.“ „Ich kann euch auch nichts predigen, wenn ihr solche Dummköpfe seid!“ Dann verschwand er durch das Paradiestor1 und zeigte sich nicht mehr. Die Leute standen und standen, schimpften einander aus, und einer sagte: „Warum hast du gleich geantwortet? Wahrscheinlich darf man einem Geistlichen nicht so antworten.“ Der eine sagte es dem anderen und dieser wieder dem 1
In der griechisch-orthodoxen Kirche die Mitteltür in der Ikonostase, hinter der sich der Altar befindet. (L. B.)
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nächsten. So gingen die Bauern nach Hause und ließen die Köpfe hängen. Am nächsten Sonntag ließ der Pope sie wieder zur Predigt kommen. Die Bauern hatten sich schon vorher vor der Kirche versammelt und abgesprochen, was sie dem Väterchen antworten wollten. Sie traten in die Kirche, der Pope trat heraus und fragte: „Leute, Leute, wißt ihr, was in diesem Buche steht?“ „Das wissen wir, heiliger Vater“, antworteten sie, um ihren ersten „Fehler“ zu berichtigen. „Ja, warum soll ich mir dann die Zunge wundreden, wenn ihr es schon wißt?“ sagte er. Damit drehte er sich um und verschwand. Und wieder standen die Bauern da mit Gesichtern, als hätten sie Seife gegessen. Als sie die Kirche verlassen hatten, waren sie ganz traurig, weil sie einen zu klugen Popen hatten, denn nun wußten sie wirklich nicht mehr, was sie ihm antworten sollten. Damit war die Sache erledigt.
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79 Das Fest des heiligen Malarius In einer Kirche sollte einmal das Fest des heiligen Malarius gefeiert werden. Einen Tag vor dem Fest hatten jedoch die Knechte des Pfaffen die gegossene Figur dieses Heiligen aus der Kirche gestohlen und in den Keller des Pfaffen gebracht, dorthin, wo Milch und Sahne standen. Die Knechte aßen die Sahne auf und schmierten den heiligen Malarius damit voll. Dann gingen sie fort und ließen den Heiligen im Keller zurück. Als die Wirtschafterin des Pfaffen Sahne holen wollte, war keine mehr da, nur der heilige Malarius stand dort und war ganz mit Sahne beschmiert. Die Wirtschafterin wurde wütend und schlug dem Heiligen so heftig ins Gesicht, daß er entzweiging. Bald erfuhr auch der Pfaffe, daß Malarius zerbrochen im Keller lag. Am nächsten Tag sollte das Fest des heiligen Malarius stattfinden, aber es war kein Malarius da. Im Dorfe lebte ein Schmied, der dem Malarius ähnlich sah. Der Pfaffe dingte den Schmied, während der Messe in der Kirche zu stehen. Er zog ihm die gleiche Kleidung an, die Malarius gehabt hatte. Dann stellte er ihn auf den Altar, wo auch Malarius gestanden hatte. Während der Messe schmolz über dem „Malarius“ eine Kerze, fiel auf den Heiligen herab und 679
verbrannte ihn tüchtig. Da sprang er vom Altar und lief in die Sakristei, in der sich der Pfaffe immer umzog. Der Pfaffe beendete die Messe, denn Malarius war nicht mehr in der Kirche. Er sagte zu den Leuten: „Ja, Leute, ihr habt so schlecht gebetet, daß Malarius davongelaufen ist.“ Dann hörte der Pfaffe auch zu beten auf, denn es war Zeit, nach Hause zu gehen. Die Leute verließen die Kirche. Der Pfaffe ging in die Sakristei, holte den Schmied und stellte ihn schnell wieder dorthin, wo er gestanden hatte. Dann lief er auf die Kirchentreppe hinaus und schrie: „Betet, Leute! Malarius ist zurückgekommen, und wir können die Messe zu Ende bringen.“ Da kamen die Leute in die Kirche zurück, und der Pfaffe hielt die Messe ab. So verlief das Fest des heiligen Malarius.
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80 Von den zwölf Aposteln oder Wie eine Hausfrau ihren Mann aus der Not rettete In einen kleinen Ort kam einmal ein Meister, um für die neue Kirche zwölf Apostelfiguren zu schaffen. Der Bischof hatte mit ihm einen Vertrag abgeschlossen, in dem eine bestimmte Frist für die Fertigstellung festgelegt war. Er hatte ihm viel Geld als Pfand abgenommen. Neun Figuren hatte der Meister bereits fertig, drei aber fehlten noch. Da begann er zu saufen, so stark zu saufen, daß er vergaß, die letzten drei Figuren fristgemäß fertigzustellen. Als seine Frau die Papiere durchsah, merkte sie, daß die Frist bereits ablief und ihm viel Geld verlorenging. Sie lief in den Ort, um ihren Mann zu suchen, und fand ihn in der Schenke. Dort trank er Branntwein und kümmerte sich um nichts. Da sagte sie zu ihm: „Du Dummkopf! Morgen früh kommt die Kommission, um die zwölf Apostel abzunehmen, du aber hast drei Figuren noch nicht fertig. Dein ganzes Geld geht dir verloren!“ Er sprang vom Tisch auf und griff sich an den Kopf. „Sag mir nur, was ich tun soll? Um mich ist es geschehen!“
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Da sagte sie: „Höre auf mich! Laß das Branntweintrinken! Komm nach Hause! Dort werden wir etwas unternehmen. Wenn du auf mich hörst, werde ich dir aus der Not helfen.“ „Ich werde auf dich hören“, sagte der Mann. Als sie nach Hause kamen, sagte die Frau: „Bleib du in der Hütte sitzen, bis ich zurückkomme!“ Sie zog sich ihr bestes Kleid an und lief wieder in den Ort. Sie war jung und hübsch, und da sie obendrein schön angezogen war, konnte man sich an ihr einfach nicht sattsehen. Sie lief die Straße entlang und grüßte die Bekannten (als Frau eines angesehenen Meisters hatte sie viele Bekannte in dem Ort). Da trat ein junger Offizier an sie heran und fragte: „Guten Tag, meine Dame, wohin gehen Sie?“ Sie antwortete: „Ich habe zu tun.“ „Gestatten Sie mir, Madame, mit Ihnen ein wenig zu plaudern?“ Da sagte sie: „Ich habe keine Zeit, ich habe es eilig. Wenn Sie mit mir plaudern wollen, dann kommen Sie heute abend um neun Uhr in meine Wohnung!“ Dann lief sie weiter. Der junge Offizier aber ging Wein und etwas zu essen kaufen. Dann machte er sich auf den Weg, um pünktlich um neun Uhr im Hause des Meisters zu sein. Da traf ein alter Oberst die Frau des Meisters auf der Straße und sagte: „Guten Tag, reizende Dame! Gestatten Sie mir, Sie zu begleiten und mit Ihnen ein wenig zu plaudern?“ 682
Da sagte sie: „Ich habe es eilig. Ich bin geschäftlich unterwegs. Wenn Sie mit mir plaudern wollen, dann kommen Sie um zehn Uhr in meine Wohnung!“ Dann lief sie weiter die Straße entlang. Schließlich traf sie den Popen, und der Pope sagte: „Meine Schöne, was gibt es Neues? Wollen Sie nicht zu mir nach Hause kommen, um etwas Tee zu trinken?“ „Ich habe keine Zeit, ich bin geschäftlich unterwegs“, sagte sie. „Wenn Sie gestatten, bitte ich Sie für elf Uhr zu mir in die Wohnung!“ Dann lief sie mit den teuren Sachen, die sie gekauft hatte, nach Hause. (Sie hatte nämlich zu essen und zu trinken eingekauft. Als der Meister sah, daß seine Frau so viele gute Sachen mitgebracht hatte, verstand er gar nichts mehr. Sie sagte: „Wir werden heute allerhand zu tun haben! Um neun Uhr abends kommt ein junger Offizier zu mir, um zehn Uhr ein alter Oberst und um elf Uhr das Väterchen. Du aber geh jetzt und komme um halb zwölf zurück.“ Der Meister nahm sein Werkzeug und seine Tasche und ging weg. Pünktlich um neun Uhr abends kam der junge Offizier. Er begrüßte die junge Frau des Meisters und setzte sich zu ihr an den Tisch. Sie tranken jeder ein Glas und begannen sich zu unterhalten. Er fragte: „Sag mal, was würdest du tun, wenn dein Mann plötzlich nach Hause käme?“ „Gar nichts“, sagte sie, „ich würde Euch verstecken.“ 683
Da wurde es auch schon bald zehn Uhr. Der Offizier fragte: „Warum warten wir so lange, wollen wir nicht in dein Zimmer gehen?“ Da hörte man einen Wagen vorfahren, und jemand klopfte ans Fenster. Der Offizier fragte: „Wer ist das?“ Sie sagte: „Vielleicht mein Mann.“ Da sagte er: „Was soll ich tun?“ „Zieht Euch schnell aus, Herr Offizier, zieht Euch schnell aus!“ Als er sich ausgezogen hatte, sagte sie: „Und jetzt stellt Euch neben diese Figuren!“ So wurde der Offizier zum zehnten Apostel, war und blieb es. Sie öffnete die Tür, und der Oberst trat ein. Sie begrüßten sich und setzten sich an den Tisch. Alles verlief genauso wie mit dem Offizier. Um elf klopfte der Pope ans Fenster. Der Oberst sprang auf und fragte: „Was soll ich tun?“ „Zieht Euch aus, Herr Oberst, und stellt Euch neben diese Apostel! Macht aber schnell!“ So stellte er sich daneben und wurde zum elften Apostel. Dann ließ die Frau den Popen ein. Sie begrüßten sich auf die gleiche Weise. Sie setzten sich an den Tisch, tranken und plauderten. Dann fragte der Pope: „Was wäre, wenn dein Mann nach Hause käme?“ „Gar nichts. Sie müßten sich ausziehen und neben die Apostel stellen.“
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In dem Augenblick klopfte ihr Mann ans Fenster. Sie sagte: „Zieht Euch schnell aus, Väterchen, mein Mann kommt wirklich nach Hause!“ Das Väterchen zog sich aus, stellte sich neben den Oberst und wurde so zum zwölften Apostel. Der Meister kam und sah die zwölf Apostel stehen. Seine Frau gab ihm zu essen und zu trinken und sagte: „Leg dich nicht schlafen, sondern fang zu arbeiten an, denn wenn es hell wird, kommt die Kommission, um die Apostel abzunehmen.“ Er aß und trank, dann zog er seine Arbeitskleidung an, nahm Farbe und Pinsel und malte die toten Figuren an. Dann kam die Kommission, um die Apostel abzunehmen. Sie bestand aus dem Bischof und vielen Pfaffen. Sie setzten sich erst einmal hin, um zu essen und zu trinken. Sie aßen und tranken so viel, daß es ihnen schon schwindlig im Kopf wurde. Ein Pfaffe, der nur wenig Schnaps getrunken hatte, stand auf und ging sich die Figuren ansehen. Er sah sich alle Apostel an, aber die drei letzten betrachtete er besonders genau. Dann kam er zur Kommission zurück und sagte: „Das ist ein Meister! Neun Apostel sind Lebenden ähnlich, aber die letzten drei sehen aus, als ob sie lebendig wären.“ Dann sahen sich der Bischof und die Pfaffen die Figuren an. Der Bischof sagte: „Sehr gut gemacht, nur diese drei Apostelköpfe müssen noch etwas gesäubert werden.“ Da nahm der Meister ein Messer, um sie zu säubern. Als er zu den letzten drei Aposteln kam, liefen sie schnell weg. Der 685
Pope stieß gegen eine Figur, da fiel sie um und ging entzwei. Und so flohen die drei Apostel. Da schrie der Bischof: „Macht schnell die Tür zu, sonst laufen noch alle Apostel weg oder gehen entzwei! Vier Figuren haben wir schon verloren. Wir werden das Doppelte dafür bezahlen. Wir verlängern dir die Frist, lieber Meister, und du machst sie neu.“ Dann fuhr die Kommission davon, und der Meister umarmte seine Frau und sagte: „Hab Dank, daß du mir in der Not geholfen hast!“ Und dann stellte der Meister vier neue Apostelfiguren her.
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81 Der Handwerker, seine Frau und der Soldat In einer Stadt lebte ein Handwerker (ein Tischler oder auch ein Schmied). Der hörte einmal, als er arbeiten ging, daß drei Popen bei seiner Frau verkehrten. Da dachte er bei sich: Ich werde diese Popen fangen! Er sagte zu seiner Frau: „Frau, mach mir etwas zu essen! Ich gehe zur Arbeit.“ Die Frau freute sich darüber, kochte und buk ihm, was sie da hatte, und machte alles zurecht. Dann ging er fort. Als er ein Stückchen gegangen war, stellte er sich hinter eine Hausecke. Da sah er einen Popen zu seiner Frau gehen. Er ging auf die andere Straßenseite und stemmte die Hände in die Hüften. Als seine Frau ihn erblickte, sagte sie: „Ach du Schreck, Väterchen, wo soll ich Euch verstecken? Klettert in den Ofen!“ Einen Keller hatte die Hütte nicht, und so stieg der Pope in den Ofen. Der Mann kam nach Hause und tat so, als hätte er etwas vergessen und müsse es in der Hütte suchen. In Wirklichkeit suchte er den versteckten Popen. Da sah er dessen Bart aus der Ofenklappe heraushängen. Er setzte sich auf die Bank und sagte zu seiner Frau: „Frau, hör zu! Back mir einen Eierkuchen!“
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Die Frau wollte nicht so recht mit der Sprache heraus und sagte: „Ich habe schon einen fertig, den kannst du gleich essen.“ Er aber sagte: „Den will ich nicht, mach mir einen frischen!“ Da blieb seiner Frau nichts weiter übrig, als Feuer anzumachen. Sie buk ihm einen Eierkuchen, und der Pope erstickte im Ofen. Der Mann aß den Eierkuchen, vielleicht aß er ihn auch nicht, machte sich wieder auf den Weg, trat auf die Straße hinaus und blieb hinter der Hausecke stehen. Da sah er den zweiten Popen zu seiner Frau gehen. Er ging wieder auf der anderen Straßenseite entlang, und als ihn seine Frau erblickte, sagte sie: „Ach du Schreck, Väterchen! Da kommt mein Mann! Wo soll ich Euch verstecken? Klettert in den Ofen!“ Ihr Mann kam zurück, als hätte er etwas vergessen. Sie aber sagte zu ihm: „Ach du meine Güte, was hast du für ein schlechtes Gedächtnis, alles vergißt du.“ Er aber setzte sich auf die Bank und sagte: „Frau, backe mir Plinsen!“ Sie geriet in Verlegenheit und sagte: „Ich habe schon welche fertig!“ „Die will ich nicht“, sagte er, „backe mir frische!“ Da blieb ihr nichts weiter übrig, als Feuer anzumachen und ihm Plinsen zu backen. So erstickte der zweite Pope ebenfalls. Ihr Mann aß die Plinsen, vielleicht aß er sie auch nicht, und machte sich wieder auf den Weg. 688
Als er ein Stück gegangen war, stellte er sich an die Ecke, und da sah er den dritten Popen zu seiner Frau laufen. Er stemmte wieder die Hände in die Hüften und ging auf der anderen Straßenseite entlang. Als seine Frau ihn erblickte, sagte sie: „Ach du mein Schreck, Väterchen, wo soll ich Euch verstecken? Steigt in den Ofen!“ Der Mann kam wieder zurück, als hätte er etwas vergessen. Er ging in der Hütte umher, um es zu suchen, setzte sich auf die Bank und befahl seiner Frau, ihm Grütze zu kochen. Da blieb ihr nichts weiter übrig, als Feuer im Ofen zu machen und Grütze zu kochen. Der dritte Pope erstickte auch. Dann betete der Mann zu Gott und machte sich auf den Weg. Seine Frau lief vor der Hütte hin und her, weinte, rang die Hände und wußte nicht, was sie tun sollte. Drei Popen waren bei ihr im Ofen. Da begegnete ihr ein Soldat. Er fragte: „Warum weinst du, liebe Frau?“ „Ach, lieber Soldat, ich habe solchen Kummer und kann es niemandem sagen.“ „Warum kannst du es nicht sagen? Sag es mir, liebe Frau! Vielleicht kann ich dir helfen.“ Die Frau führte ihn in die Hütte, gab ihm zu essen und zu trinken und sagte: „Ach du meine Güte, lieber Soldat, ich habe einen Popen im Ofen sitzen.“ „Das macht nichts, liebe Frau, ich werde dir helfen. Ich werfe ihn in ein Eisloch. Warte, bis es Nacht ist!“
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Als es Nacht geworden war, nahm der Soldat den Popen, warf ihn über die Schulter und ging los. Als er an einem Wachsoldaten vorbeiging, fragte der: „Wer da?“ „Der Teufel!“ „Wen trägst du da?“ „Den Popen!“ Er ging weiter, und der Wachsoldat dachte so bei sich: Da kann man lange beten, wenn der Teufel selbst die Popen holt. Der Soldat kam zurück, die Frau aber sagte zu ihm: „Ach du meine Güte, lieber Soldat, Ihr habt ihn nicht richtig ertränkt! Er ist wieder zurückgekommen.“ „Ach, verrecken soll er! Gib ihn her, Frau! Jetzt werde ich ihm einen Stein um den Hals binden. Er nahm den anderen Popen auf die Schulter und trug ihn fort. Als er an dem Wachsoldaten vorbeiging, fragte dieser: „Wer da?“ „Der Teufel!“ „Wen trägst du da?“ „Einen Popen!“ Da dachte der Soldat: Ach du meine Güte, jetzt wird bald niemand mehr da sein, der die Messe liest. Der Teufel ertränkt anscheinend alle Popen. Als der Soldat zu der Frau zurückkam, sagte sie zu ihm: „Ach du meine Güte, Soldat, wie habt Ihr ihn nur ertränkt? Er ist ja wieder zurückgekommen.“ „Er ist wieder zurückgekommen? Na, dann werde ich ihn jetzt mit einer Stange hinabstoßen. Gib ihn her, Frau!“ 690
So ging er los, um auch diesen Popen zu ertränken. Er trug ihn am Wachtposten vorbei, und dieser fragte: „Wer da?“ „Der Teufel!“ „Was trägst du da?“ „Einen Popen!“ Dann lief er zum Fluß. Der Wachsoldat konnte es nicht mehr aushalten. Obwohl er nicht von seinem Wachtposten fortgehen durfte, lief er zu seinem Regimentspopen (jedes Regiment hat seinen eigenen Popen) und sagte zu ihm: „Ach du meine Güte, Väterchen, der Teufel hat schon drei Popen geholt, lauft schnell fort!“ Der Pope sprang ganz schlaftrunken auf, griff nach seinem Leibrock und lief auf die Straße. Als er aus dem Hause rannte, kam gerade der Soldat vom Fluß zurück. Der Soldat glaubte, den Popen vor sich zu haben, den er eben zum Fluß gebracht hatte. Deshalb lief er ihm nach und schrie: „Halt, halt! Wo willst du hin?“ Der Pope lief davon und der Soldat immer hinter ihm her. Schließlich holte er ihn ein, packte ihn, zerrte ihn zum Fluß und ertränkte ihn auch. Er stieß ihn so weit unter das Eis, daß er nicht wieder herauskam.
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82 Ruß Nach dem ersten Weltkrieg kam ich mit meinen Eltern in mein Heimatdorf zurück und wollte bei einem Gutsherrn dienen, weil wir zu Hause nichts zu essen hatten. Ich begab mich zu ihm und sagte: „Laßt mich bei Euch arbeiten!“ Er war wohlhabend und hatte drei Paar Pferde. Auch Knechte hatte er, so daß er mich nicht für Lohn nehmen wollte. Ich sagte zu ihm: „Ich brauche Euer Geld nicht. Ich werde bei Euch den Ofen reinigen und den Ruß sammeln. Macht mir nur einen schönen Kasten für diesen Ruß!“ Der Mann hielt mich für einen Dummkopf und sagte: „Na gut, bleibe bei mir und arbeite! Mir fällt es nicht schwer, dir einen Kasten machen zu lassen.“ Obwohl ich erst vierzehn Jahre alt war, war ich schon groß und arbeitsam und gefiel dem Herrn besser als seine erwachsenen Knechte. Er ließ mir einen Kasten machen, ich fegte den Ofen aus und schüttete den Ruß in den Kasten. Eines Tages sagte ich: „Onkelchen, in vier Monaten, wenn ich genug Ruß gesammelt habe, gebt mir Pferde, um ihn auf den Markt zu bringen!“ Der Herr lächelte nur, und die erwachsenen Knechte sagten zu mir: „Wozu sammelst du den 692
Ruß? Den kauft ja doch niemand. Du bist ein Dummkopf! Du arbeitest für nichts.“ „Jetzt bin ich ein Dummkopf“, sagte ich, „aber es kommt vielleicht die Zeit, wo ihr sagt, daß ich sehr klug bin.“ Zu meiner Herrin kam immer ein Pope zu Besuch. Als drei Monate vergangen waren und meine Kiste schon halb voll Ruß war, da vergaß ich einmal, sie zuzuschließen und fuhr mit meinem Herrn und den Knechten auf das Feld zum Pflügen. Ich hatte meinen Ruß immer verschlossen, aber diesmal hatte ich es nicht getan. Als der Pope merkte, daß wir aufs Feld gefahren waren, ging er zu meiner Herrin. Meine Herrin gab ihm zu essen und zu trinken. Auf dem Wege zum Feld sagte ich zu meinem Herrn: „Wißt Ihr was, Onkelchen, laßt mich nach Hause gehen! Ich habe vergessen, die Kiste mit dem Ruß zuzuschließen.“ Er sagte: „Deinen Ruß stiehlt schon niemand. Den braucht ja doch keiner.“ „Ich bitte Euch aber trotzdem darum. Wißt Ihr, Onkelchen, ich arbeite für den Ruß fast schon vier Monate, und Ihr seht ja selbst, wie ich arbeite. Ich arbeite besser als die alten Knechte. Wenn man mir aber den Ruß stiehlt, ist die ganze Arbeit umsonst, die ich in vier Monaten verrichtet habe.“ Da sagte der Herr: „Lauf und mach die Kiste zu, wenn du solche Angst hast!“ Ich kam nach Hause und lauschte unter dem Fenster, was drinnen vor sich ging. Ich sah hinein und sah die Herrin mit dem Popen feiern. Nach 693
zwölf Minuten legten sie sich nackt schlafen. Da ging ich heran und klopfte an die Tür. Der nackte Pope erschrak und fragte: „Wo soll ich jetzt nur hin?“ Sie liefen beide hin und her, und da sahen sie, daß meine Kiste offen war. Da sagte meine Herrin: „Hier ist die Kiste von unserem Knecht. Sie ist offen, klettere schnell hinein!“ Dann machte sie die Tür auf und fragte: „Was willst du, Sascha?“ „Wissen Sie, gnädige Frau, ich habe vergessen, die Kiste zuzumachen.“ „Ach du Dummkopf, deine Kiste stiehlt doch niemand. Geh auf das Feld arbeiten!“ Ich aber antwortete: „Ich arbeite für den Ruß vier Monate lang, und jetzt nimmt ihn mir vielleicht jemand weg.“ Ich ging in das Haus und verschloß meine Kiste. Dann kehrte ich zu meinem Herrn zurück und fragte: „Wißt Ihr, Onkelchen, ich habe heute Leibschmerzen, laßt mich nach Hause gehen!“ Ich hatte nämlich Angst, daß meine Herrin inzwischen meine Kiste aufbrechen würde. Mein Herr sagte: „Wenn du krank bist, dann geh und leg dich hin!“ In ungefähr fünf Minuten war ich wieder zurück und sah, daß die Kiste noch ganz war. Am anderen Tage war in unserem Ort Markt. Ich bat meinen Herrn, mir die Pferde zu geben, damit ich meinen Ruß auf den Markt bringen konnte.
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Mein Herr war einverstanden und sagte: „Na gut, fahr hin und verkauf deinen Ruß!“ Dann aber lachte er mich mit den Knechten zusammen aus und sagte: „Du bist ein Dummkopf! Wer wird schon Ruß von dir kaufen?“ Ich spannte die Pferde an, bat die Knechte und meinen Herrn, mir zu helfen, die Kiste auf den Wagen zu tragen, und fuhr dann mit dem Ruß auf den Markt. Ich fuhr sehr schnell durch die Schlaglöcher auf dem Weg, so daß der Pope in der Kiste von einer Seite auf die andere rollte. Nur die Zähne blieben weiß, aber sonst war er schwarz wie Ruß. Ich kam auf den Markt, und dort waren viele Herren. Ich rief aus: „Wer will, kann für fünfhundert Złoty den Teufel sehen!“ Die Herren hatten viel Geld, und es bildete sich gleich eine Schlange von Leuten, die den Teufel für fünfhundert Złoty sehen wollten. Und sie gaben mir nicht nur fünfhundert, sondern sogar tausend Złoty, damit ich ihn so schnell wie möglich zeigte. In etwa drei Stunden hatte ich so viel Geld zusammen, daß ich nicht wußte, wohin ich es tun sollte. Da öffnete ich den Deckel der Kiste, der Pope sprang heraus und lief auf dem Markt umher, und die Frauen riefen alle aus: „Da ist der Teufel, da ist der Teufel!“ Ich fuhr vom Markt nach Hause und zeigte meinem Herrn und den Knechten das Geld, das ich für den Ruß bekommen hatte.
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Sie fragten mich verwundert: „Wer war denn so dumm, Geld für den Ruß zu zahlen?“ Dabei erinnerten sie sich an meine Worte: Es kommt die Zeit, da ihr sagen werdet, daß ich nicht dumm, sondern sehr schlau sei. Ich gab ihnen allen Geld, so viel, wie sie in einem Jahr nicht verdient hatten, sie liefen zu dem Herrn, und er sagte: „Wenn du bei mir dienen willst, Russe, dann für Geld oder für Brot, den Ruß aber werde ich selbst sammeln und verkaufen.“ Ich aber sagte: „Geld habe ich selbst genug.“ Ich ging von ihm weg zu meinen Eltern. Mein Herr aber konnte es vor Ungeduld nicht aushalten und brachte schon nach zwei Monaten den Ruß zum Markt. Er kam hin und stellte sich in die Reihe, wo die Würste und die Semmeln verkauft wurden. Dann öffnete er seine Kiste. „Was hast du da?“ „Ich verkaufe Ruß.“ In dem Augenblick erhob sich ein Sturm, ergriff den Ruß und wirbelte ihn auf die Leute, die Semmeln und die Würste. Da stürzte sich die Polizei auf meinen Herrn und verhaftete ihn. Ehe es seine Frau erfuhr, saß er eine ganze Woche lang im Gefängnis und bekam nichts zu essen. Dann wurde ihm die Strafe auferlegt, den ganzen Schaden, den er mit seinem Ruß angerichtet hatte, zu bezahlen. Seine Wirtschaft aber reichte nicht aus, um den ganzen Schaden zu bezahlen. Da erfuhr mein Herr, was es heißt,
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Ruß zu sammeln, und er ging zu anderen Leuten, um bei ihnen als Knecht zu dienen.
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83 Der Pfaffe als Teufel Es war einmal ein Gutsherr. Immer, wenn ein Bauer zu ihm kam und sagte: „Ach, welch ein Unglück, gnädiger Herr!“, dann dachte der Gutsherr: Wenn mir nur jemand so ein Unglück verschaffte, ich würde ihm alles dafür geben! Einmal beschloß der Gutsherr, im Wald spazierenzugehen. 9Plötzlich sah er am Wege einen Förster stehen und fragte ihn: „Hast du das Unglück nicht gesehen?“ Der Förster überlegte und sagte: „Es ist eben auf die Kiefer dort gestiegen.“ Da sagte der Gutsherr: „Zeig es mir schnell, und sag mir, wie man es fangen kann!“ „Ziehen Sie alle Ihre Kleider aus, klettern Sie ohne Hemd auf den Baum und fangen Sie es!“ Da zog sich der Gutsherr nackt aus und stieg auf den Baum. Der Förster aber nahm die Kleidung des Gutsherrn und ging weg. Als der Gutsherr auf die Kiefer gestiegen war, fand er dort ein Eichhörnchen. (Der Förster hatte ihm nämlich gesagt, daß dies das Unglück sei.) Er kletterte und kletterte, das Eichhörnchen aber sprang auf einen anderen Baum und lief davon. Als der Gutsherr wieder auf die Erde heruntergeklettert war, war kein Förster und keine Kleidung da. Da dachte er bei sich: Das ist wirklich ein Unglück! 698
Nicht weit entfernt war der Hof eines anderen Gutsherrn. Der nackte Gutsherr blieb bis zum Abend im Walde sitzen und beschloß dann, zu diesem Hof zu gehen. Zuerst schämte er sich, denn er war ja nackt. Aber die Not zwang ihn. Er lief schnell in die Küche, dort war jedoch niemand. Er versteckte sich hinter dem Ofen, aber dort stand schon der Pfaffe. Der Pfaffe war zum Abendbrot zur Gutsherrin gekommen, und sie hatte ihn hinter dem Ofen versteckt. Der Nackte fragte ihn: „Wer bist du?“ „Ich bin der Pfaffe. Und wer bist du?“ „Ich bin der Nackte.“ „Hier hast du mein Hemd, scher dich fort!“ Der Nackte nahm das Hemd, blieb aber stehen und sagte: „Ich halte es nicht aus, ich muß zu singen anfangen.“ Da sagte der Pfaffe: „Um Gottes Willen, singe nur nicht! Hier hast du meinen Rock, meine Stiefel und meinen Hut. Mein Pferd steht angeschirrt hinter dem Gehöft. Fahre damit weg!“ Er nahm das Pferd, fuhr an der Treppe vor und trat ins Zimmer. Der Gutsherr, der in diesem Hause wohnte, hielt ihn für einen Pfaffen, gab ihm Tee und Brot und sagte: „Ich weiß nicht, warum mein Getreide nicht recht geraten will.“ Da sagte der andere: „Wissen Sie was? Sie haben einen Teufel hinter dem Ofen stehen. Solange der dort ist, wird bei Ihnen nie etwas gedeihen.“ Da bat ihn der Gutsherr, den Teufel zu verjagen.
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„Gut, ich kann ihn verjagen, aber dazu müssen wir heißes Wasser zurechtmachen.“ Sie machten einen Topf Wasser heiß, er stellte sich einen Weihwasserwedel her und ging auf den Ofen zu. Der Gutsherr folgte ihm. Die Gutsherrin aber ging nicht mit. Er besprengte den Ofen mit heißem Wasser. Da zerschlug der Pfaffe, der nackt dahinter stand, die Fensterscheibe und sprang hinaus. Der Gutsherr sagte zu dem „Pfaffen“: „Ach, das war wahrhaftig der Teufel!“ Dann bedankte er sich bei dem „Pfaffen“, weil er den Teufel verjagt hatte, und der andere Gutsherr fuhr nach Hause.
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84 Der Schelm Mikula Es war einmal ein armer Bauer. Er besaß kein Vieh, nur eine Stute, und die war krank. Da redeten ihm die Nachbarn zu: „Bruder Mikulka, schlachte doch die Stute, wir kaufen dir dafür eine andere, eine gute.“ Da brachte er das Pferd ins Gebüsch, tötete es, zog ihm die Haut ab und brachte sie in die Stadt, um sie dort zu verkaufen. (Die Stadt war in der Nähe.) Er verkaufte die Pferdehaut, und man gab ihm dafür siebzig Kopeken. Er nahm das Geld, ging in eine Schenke, aß und trank und wollte wieder nach Hause gehen. Da begann es zu regnen, ganz stark zu regnen. So ging er zu einem Kaufmann, um sich dort solange hinzusetzen und zu warten, bis der Regen vorbei war. Der Kaufmann war gerade in seinem Geschäft, und seine Frau war allein zu Hause. Da war ein Liebhaber zu ihr gekommen. Die Kaufmannsfrau freute sich sehr darüber. Sie gab ihm zu trinken, sie waren beide lustig, und dann legten sie sich zusammen schlafen. Die Kaufmannsfrau dachte nicht daran, daß der Kaufmann bald aus dem Geschäft kommen könnte. Unser Bäuerlein aber saß da und sah alles. Bald darauf klopfte der Kaufmann an die Tür. Ja, da wußte der Liebhaber nicht wohin. Da sagte die Kaufmannsfrau zu 701
ihm: „Geh in das Vorzimmer und krieche unter den Ofen!“ Als unser Bäuerlein sah, daß sogar ein so gut angezogener Mann vor dem Kaufmann unter den Ofen kroch, bekam er Angst und sagte sich: Wenn dieser gut angezogene Herr sich versteckt, muß ich mich erst recht verkriechen. So kroch auch der Bauer unter den Ofen. Er wollte dem Liebhaber Geld abluchsen und sagte deshalb: „Bruder, heute ist mein Vater gestorben, und er hat mir vor seinem Tode noch befohlen, weder zu weinen noch traurig zu sein, sondern zu singen und lustig zu sein.“ Da sagte der Liebhaber: „Warte, Bruder! Hier hast du hundert Rubel, aber schweig!“ „Die hundert Rubel nehme ich, aber ich werde mich dennoch kaum zurückhalten können. Gleich muß ich zu singen anfangen.“ Der Bauer nahm die hundert Rubel, aber nachdem er ein Weilchen still gesessen hatte, dröhnten Lieder durch das ganze Haus. Der Kaufmann hörte es und sagte zu seiner Frau: „Was ist da los, meine Liebe? Da scheint jemand in unserem Hause zu singen.“ Seine Frau aber sagte: „Ach nein, das sind die Burschen auf der Straße, die da singen.“ Ihr Mann glaubte es und sagte: „So wird es sein.“ Da sagte der Bauer zum Liebhaber: „Bruder, mir ist übel. Nimm Dein Geld zurück, ich will singen.“
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Der Liebhaber antwortete: „Bruder, nimm meine Stiefel, sie haben zwölf Rubel gekostet, aber schweig!“ „O nein, Bruder! Nimm das Geld zurück, und die Stiefel brauche ich auch nicht. Ich kann nicht mehr warten.“ Schließlich ließ er sich doch überreden und nahm die Stiefel. Er schwieg, zog die Stiefel an und dachte: Dieser Liebhaber hat ein schönes Pferd, ich werde jetzt ein Lied anstimmen. Er begann zu singen, daß das ganze Haus wakkelte. Da sagte der Liebhaber: „Schweig, Bruder! Auf dem Hofe stehen mein Pferd und mein Wagen. Sie sind hundert Rubel wert. Nimm sie dir, aber schweig!“ Da sagte der Bauer: „Nun werde ich es noch ein Weilchen aushalten, aber ich weiß nicht, wie lange. Ich muß doch meines Vaters letzten Wunsch erfüllen, denn eines Tages kommt die große Abrechnung.“ „Dann nimm dich zusammen!“ Die Kaufmannsfrau brachte ihren Mann ins Bett, dann öffnete sie das Tor, um den Liebhaber hinauszulassen. Dem Liebhaber aber war es peinlich, sich in zerrissener Kleidung und in zerfetzten Bastschuhen zu zeigen; alles andere hatte er ja dem Bauern gegeben. Zuerst kroch der Bauer heraus und dann der Liebhaber. Die Kaufmannsfrau aber dachte, daß ihr Liebhaber zuerst hervorgekrochen wäre. Sie rief ihn und schenkte ihm einen goldenen Ring. Dann zeigte sie ihm, wo das Pferd stand. Das Bäuerlein 703
setzte sich auf das Pferd und bedankte sich bei der Kaufmannsfrau. Der richtige Liebhaber aber ließ sich nichts anmerken. So mußte er drei bis vier Werst zu Fuß zurücklegen. Das Bäuerlein fuhr auf sein Feld. Die anderen Bauern waren schon beim Pflügen. Die Alten erkannten Mikulka nicht, die Jungen aber sagten: „Da kommt Mikulka!“ Er ging zu den Bauern und sagte: „Helf euch Gott, Nachbarn!“ Da fragten sie ihn: „Bruder Mikulka, welches Schicksal hat dir nur zu einem solchen Pferd verholfen?“ Mikulka antwortete: „Ach, Brüder, ihr habt mir doch gesagt, ich solle meine Stute töten. Da habe ich sie getötet und ihre Haut verkauft.“ Da fragten die Bauern: „Was hast du denn für die Haut bekommen?“ „Ja, Brüder, ich habe hundertsiebzig Rubel bekommen. Dafür habe ich mir einen Wagen, ein Pferd und etwas zum Anziehen gekauft. Heutzutage, liebe Brüder, sind Pferde spottbillig. Ein gutes Pferd kostet ungefähr fünf Rubel, eine gute Pferdehaut dagegen etwa zweihundert.“ Da versammelten sich die Bauern, berieten miteinander und sagten: „Ja, liebe Brüder, lassen wir das Pflügen sein, töten wir unsere Pferde, verkaufen die Häute und werden Kaufleute!“ Sie hörten auf zu pflügen und fuhren nach Hause. Ihre Frauen fragten sie: „Habt ihr Mikulka kommen sehen?“ 704
„Ja, wir werden auch unsere Pferde töten und die Häute verkaufen. Er hat sich alles für den Erlös einer Pferdehaut gekauft.“ Da sagten die Frauen: „Dann ist es wirklich besser, wenn wir zu pflügen aufhören und Händler werden.“ So töteten sie alle Pferde im Dorf. Zwei Tage hatten sie damit zu tun, alle Pferde zu töten. Nur ein Paar ließen sie zum Holzfahren am Leben. Sie luden die Häute alle auf einen Wagen, um sie zum Verkauf zu fahren. So kamen sie in die Stadt auf den Marktplatz. Als die Händler diese große Fuhre sahen, sagten sie: „Ach du meine Güte, da kommt eine Fuhre Häute, die muß irgendeinem Kaufmann gehören.“ Sie gingen hin und fragten: „He, ihr Bauern, welchem Kaufmann gehört diese Ware?“ „Es ist unsere eigene.“ Da sagten einige Kaufleute: „Ach, du lieber Gott, wie seid ihr gestraft! Im ganzen Dorf sind die Pferde krepiert.“ Die Bauern blieben auf dem Marktplatz und spannten die Pferde aus. Da kamen die Lederhändler zu ihnen und fragten: „Na, wie ist es, Bauern, verkauft ihr die Häute?“ „Warum sollten wir sie nicht verkaufen?“ „Na, welchen Preis verlangt ihr denn für eine Haut?“ „Ja, Bruder, das ist ganz unterschiedlich. Wir haben Häute zu dreihundert, zu zweihundert und zu fünfzig Rubel, je nachdem, was für Häute es sind.“ 705
Da fragten die Händler einen anderen Bauern: „Sag mal, mein Lieber, ist er verrückt geworden? Er verlangt für eine Haut mehr, als man für ein lebendes Pferd aus einem Gestüt bezahlt!“ Der Bauer antwortete: „Er ist ein Dummkopf! Meine Häute sind noch teurer, denn meine Pferde waren noch schneller.“ So fragte der Kaufmann nacheinander drei Bauern, einer verlangte dreihundert, ein anderer hundert Rubel. Schließlich kam der Kaufmann, der Mikulka die Pferdehaut abgekauft hatte, und fragte, wieviel die Häute kosten sollten. Die Bauern sagten: „Wir haben welche zu dreihundert, aber auch zu hundert, es ist ganz verschieden.“ Dann erklärten sie ihm noch: „Unser Mikulka hat gestern die Haut eines todkranken Pferdes verkauft und hundertsiebzig Rubel dafür bekommen. Unsere Pferde aber waren viel besser.“ Da antwortete der Kaufmann: „Brüder, ich habe doch gestern Mikulka die Haut für siebzig Kopeken abgekauft. Wenn ihr es nicht glaubt, dann kommt und seht euch die Haut an!“ Die Bauern erkannten die Haut sofort und begannen zu weinen. Mikulka hatte sie betrogen! Sie verkauften ihre Häute, fuhren nach Hause und weinten. Schließlich beschlossen sie: Diesen Mikulka bringen wir um! Mit einem gesunden Kopf werden wir uns dann schon durchschlagen. Sie kamen nach Hause und riefen Mikulka: „Mikulka, wir werden dich umbringen, denn du hast uns betrogen!“
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Mikulka wehrte sich auch gar nicht und sagte: „Ja, Brüder, das habe ich auch verdient.“ Ohne viele Worte banden sie ihn und brachten ihn zum See. „Aber wenn einer oder zwei von uns ihn hineinstoßen, ist das eine Sünde.“ Da sagte ein alter Bauer: „Hört zu, Brüder, laßt Mikulka hier stehen! Wir gehen ins Gebüsch und holen uns jeder eine lange Stange.“ Sie gingen los und ließen ihn stehen. Das Gebüsch war ungefähr eine Werst vom See entfernt. Da schrie Mikulka: „Ach, wenn doch nur jemand meine Stelle übernehmen würde. Ich kann weder lesen noch schreiben, soll jedoch Richter werden und jeden Tag hundert und jede Woche tausend Rubel verdienen!“ Da fuhr gerade ein Mann vorbei, ein Katholik aus einem anderen Land. Als er dieses Geschrei hörte, schickte er seinen Kutscher hin. Er sagte: „Geh hin und frag, warum er so schreit!“ Der Kutscher fragte Mikulka: „Warum schreist du so?“ „Hör nur, ich soll Richter werden und kann weder lesen noch schreiben. Man will mir jeden Tag hundert und jede Woche tausend Rubel geben, aber ich möchte diese Stelle gerne einem anderen überlassen.“ Der Kutscher erzählte alles seinem Herrn. Da freute sich der Herr und fuhr mit seinen drei Pferden zu Mikulka. „Na, wie ist es, gibst du mir deine Stelle?“ „Ja, ich gebe sie dir.“ 707
Der feine Herr schenkte ihm die drei Pferde samt Kutsche und Kutscher. Dann zog er Mikulkas Kleidung an, gab ihm dafür seine eigene und stellte sich auf Mikulkas Platz. Mikulka schwang sich auf eines der Pferde und ritt davon. Die Bauern kamen aus dem Gebüsch und sagten: „Mit diesen Stangen stoßen wir Mikulka alle zusammen in den See, dann hat jeder nur ein bißchen gesündigt.“ So stießen sie den Herrn in den See. Dann sagten sie zueinander: „Soll er jetzt seine Wunder vollbringen! Er hätte ja beinahe unser ganzes Dorf zugrunde gerichtet.“ Als sie nach Hause kamen, kam ihnen Mikulka mit seinen drei Pferden, der Kutsche und dem Kutscher entgegen. „Was ist denn, Mikulka, du lebst ja noch?“ „Warum denn nicht? Ihr habt mich ersäuft, aber auf dem Grund des Sees sind so viele Pferde, wie man nur haben möchte. Ich war kaum ins Wasser gefallen und hatte gesagt: ‚Gebt mir drei Braune mit Gespann!’, da hatte ich sie schon bekommen.“ Die Bauern kamen nach Hause und sagten zu ihren Frauen: „Wir haben Mikulka vergeblich ertränkt; er lebt noch und hat uns viele nützliche Ratschläge gegeben.“ „Was für Ratschläge denn?“ fragten die Frauen. „Hört zu! Er ist mit drei braunen Pferden, einer Kutsche und einem Kutscher wieder aus dem Wasser herausgekommen.“ „Aha, dann müßt ihr euch also alle ersäufen. Wir werden euch Kapuzen nähen, damit ihr schneller untergeht.“ 708
So begannen sie zu nähen, jede Frau für ihren Mann. Sie nähten viele Kapuzen für die Alten und die Jungen, damit sie mehr Pferde aus dem Wasser brächten. Schließlich kam die Zeit, wo sich die Männer ersäufen sollten. Das ganze Dorf ging ans Ufer. Alle Männer stürzten sich ins Wasser, und die Frauen liefen am Ufer entlang und warteten darauf, daß sie mit den Pferden aus dem Wasser kämen. Sie warteten von Mitternacht bis zum Morgen. Aber niemand kam. Als der Hirt die Herde des Gutsherrn zum Fluß trieb, fragte er: „Was treibt ihr schon so früh hier, ihr Schwänchen?“ Sie erzählten es, und der Hirt antwortete ihnen: „Ach, ihr werdet eure Männer wohl nie im Leben wiedersehen!“ Da umarmten die Frauen einander, faßten sich an den Händen, gingen fort und weinten: „Mikulka hat uns betrogen!“ Mikulka war sehr hübsch und seine Frau auch. Sie waren nicht auseinanderzuhalten, so ähnlich waren sie einander. Da sagte Mikulka zu seiner Frau: „Jetzt sind keine Bauern mehr im Dorf. Ich fahre auf die Felder der Reichen zum Pflügen.“ Er pflügte mit allen seinen Pferden, und es gab keine schöneren Pferde als Mikulkas. Da hörte der Pope, daß Mikulka Wunder vollbringe. Er sagte: „Ich werde Mikulka bitten, für mich ein Wunder zu vollbringen.“ Er ging zu Mikulka aufs Feld und sagte: „Ich möchte dich um etwas bitten: Könntest du mir nicht ein schönes Wunder vollbringen?“
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„Ach Väterchen, jetzt, wo es kühl ist, kann man gut pflügen, aber wenn es erst heiß ist, dann…!“ Der Pope war sehr gut zu seiner Gemeinde, da mußte ihm Mikulka schon gehorchen und ein Wunder vollbringen. „Bleib hier sitzen, Väterchen! Ich gehe ein Wunder vollbringen.“ Er spannte die Pferde aus und ging los. Er ging durch ein Birkenwäldchen zum Hof des Popen. „Seid gegrüßt, Mütterchen!“ „Sei gegrüßt, Mikulka! Was führt dich zu uns?“ „Ja, Mütterchen, ich habe am Wege gepflügt, und Väterchen war in der Nähe. Da ist jemand vorbeigekommen und hat mit Väterchen gewettet, daß Ihr keine dreitausend Rubel im Hause habt. Wenn Ihr sie habt, dann gebt sie mir. Ich bringe sie dem Väterchen, und Ihr bekommt dann sechstausend zurück.“ Die Popenfrau gab ihm ein Kästchen mit dreitausend Rubeln. Mikulka ging in die Scheune und sagte: „Nun ja, das ist noch kein Wunder. Ich muß noch etwas unternehmen.“ Er ging wieder zur Popenfrau zurück und sagte: „Mütterchen, etwas habe ich ganz vergessen. Väterchen läßt Euch sagen, Ihr sollt Euer Haus von allen Seiten anzünden. Dann kommt jemand und baut Euch ein Haus aus Stein mit drei Stockwerken.“ Die Töchter der Popenfrau sagten: „Ach, Mütterchen, wenn das so ist, dann laß es uns anzünden! Unser Haus ist aus Holz, und dann bekommen wir eines aus Stein.“
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Mikulka ging erst los, als das Haus in Flammen stand. Als der Pope vom Feld aus sein Haus brennen sah, kam er angelaufen und sagte: „Ach, Mikulka! Da hast du wirklich ein Wunder vollbracht! Wunderbarer geht’s nicht mehr!“ Als er nach Hause kam, schimpfte ihn die Popenfrau aus: „Was hast du Mikulka nur befohlen!“ „Ich hab ihn gebeten, ein Wunder zu vollbringen.“ „Nun, wunderbarer geht’s wirklich nicht mehr!“ „Hast du ihm denn Geld gegeben?“ „Warum denn nicht? Du hast doch Mikulka gesagt, er soll dir das Geld bringen.“ „Na, da hat er ja wirklich ein Wunder vollbracht, wunderbarer geht’s nicht mehr, und beklagen kann man sich auch nicht einmal.“ Früher waren die Wälder größer. Die Gutsherren schenkten dem Popen ein Stück Wald, und er baute sich in zwei Monaten ein neues Haus. Mikulka wußte immer alles im voraus. Eines Tages sagte er zu seiner Frau: „Heute kommt der Pope zu uns, um dich als Tagelöhnerin in den Dienst zu nehmen. Mach mir einen Sarafan zurecht und ein Tuch. Ich verkleide mich als Frau.“ Er zog sich wie eine Frau an, setzte sich ans Spinnrad und spann. Da kam der Pope und sagte: „Sei gegrüßt, Mikulkas Frau!“ „Seid gegrüßt, Väterchen!“ „Na, wo ist denn Mikulka?“ „Ach, Väterchen, ein Spitzbube stirbt als Spitzbube. Nachdem Euer Hof abgebrannt war, ist er verschwunden und nicht mehr zurückgekommen.“ 711
„Wie wäre es, wenn du als Arbeiterin zu mir kämst?“ „Warum denn nicht, Väterchen? Mir ist es gleich. Irgendwie muß ich ja leben, da ist es besser, irgendwohin in Dienst zu gehen.“ Sie nahm das Spinnrad auf die Schulter und folgte dem Popen. Als sie in des Popen Haus kamen, freute sich die Popenfrau sehr über die hübsche Arbeiterin. Schließlich kam die Zeit der Heumahd. Der Diakon hatte Knechte, und der Kirchendiener hatte Knechte, aber mit des Popen Tagelöhnerin hielt keiner Schritt. Drei Jahre diente Mikulka und gab sich als Witwe aus. Da fand einmal im Dorf ein Thronfest1 statt, und ein Diakon kam zu dem Popen zu Besuch. Mikulka bewirtete ihn und gab sich als Witwe aus. Da sagte der Diakon zum Popen: „Väterchen, ich bin Witwer und habe niemanden, der mir die Wirtschaft führt. Sprecht doch einmal mit Eurer Tagelöhnerin darüber, ob sie mich nicht heiraten will.“ Da fragte der Pope: „Nun, willst du den Diakon heiraten?“ „Warum nicht? Wenn er sich vor mir nicht ekelt, dann heirate ich ihn.“ So erfuhr der Pope, daß Mikulka selbst und nicht seine Frau bei ihm gedient hatte.
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Fest zu Ehren des Heiligen, dem die Dorfkirche geweiht ist. (L. B.)
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85 Der alte Nesterka Es war einmal ein alter Mann, der hieß Nesterka und hatte sechs Kinder. Zum Arbeiten war er zu faul, zum Stehlen zu ängstlich, und zum Betteln fehlte ihm der Mut. So hatte er nichts, wovon er leben sollte. Da beschloß er, zu Gott zu gehen. Als er so ging, kam ihm der heilige Georg auf einem Pferd mit goldenem Sattel entgegen. „Sei gegrüßt, heiliger Georg!“ „Sei gegrüßt! Wer bist du?“ „Ich bin der alte Nesterka, habe sechs Kinder, bin zum Arbeiten zu faul, zum Stehlen zu ängstlich, und zum Betteln fehlt mir der Mut.“ „Wohin willst du?“ „Zu Gott!“ „Weshalb?“ „Siehst du, ich habe nichts zu leben und gehe Gott fragen, womit ich mich beschäftigen soll, ob ich lesen, schreiben oder stehlen soll. Aber wohin willst du denn, heiliger Georg?“ „Ich will auch zu Gott.“ „Warum?“ „Ich habe dort zu tun.“ „Bitte, denk dort auch an mich, heiliger Georg!“ „Gut, ich werde es tun!“ „Erkundige dich bei Gott, heiliger Georg, womit ich mich beschäftigen soll!“ 713
„Gut, ich werde mich erkundigen!“ „Du vergißt es doch nicht, heiliger Georg?“ „Nein, nein, ich werde mich erkundigen!“ „Nein, du vergißt es ja doch! Gib mir als Pfand dafür, daß du es nicht vergißt, deinen goldenen Steigbügel!“ „Womit soll ich dann aber reiten?“ Der alte Nesterka holte eine Rute, bog einen Steigbügel daraus, befestigte ihn und nahm den goldenen als Pfand. Da ritt der heilige Georg zu Gott, und der alte Nesterka wartete am Wege auf seine Rückkehr. Der heilige Georg erledigte bei Gott seine Angelegenheiten und setzte sich wieder aufs Pferd. Da sah Gott den Rutensteigbügel und fragte: „Wo ist denn dein Steigbügel?“ „Ach, lieber Gott, den hat der alte Nesterka als Pfand genommen. Er hat sechs Kinder, ist zum Arbeiten zu faul, zum Stehlen zu ängstlich, und zum Betteln fehlt ihm der Mut. Wovon soll er denn leben?“ „Soll er sich vom Lügen ernähren!“ Dann ritt der heilige Georg davon. Als er zum alten Nesterka kam, fragte dieser: „Na, heiliger Georg, was hat Gott gesagt?“ „Gott hat gesagt: ‚Soll er sich vom Lügen ernähren!’ Doch nun gib mir den goldenen Steigbügel, den du mir als Pfand abgenommen hast, zurück, Nesterka!“ „Ich soll ihn dir abgenommen haben? Im Gegenteil, ich habe dir meinen Rutensteigbügel gegeben. Er hängt dort am Sattel, gib ihn mir zurück!“ 714
Der heilige Georg hatte schon so viel Ärger mit dem alten Nesterka gehabt, und nun mußte er auch noch den Rutensteigbügel bezahlen. Nesterka aber lief in seine Hütte. „Nun habe ich wieder etwas zum Leben, Gott sei Dank! Nicht umsonst hat mir Gott gesagt, daß ich leben und mein Brot haben werde, wenn ich lüge.“ Als das Geld, das ihm der heilige Georg für den Rutensteigbügel gezahlt hatte, verbraucht war, hängte Nesterka den goldenen Steigbügel am Tor auf. Da kam ein reicher Herr vorbeigeritten. Als er den Steigbügel am Tor hängen sah, sagte er zu seinem Kutscher: „Geh mal hin und frage, ob er Sättel zu verkaufen hat!“ Der Kutscher trat in die Hütte und fragte: „Stellst du Sättel her?“ „Ja“, sagte der alte Nesterka, „aber nur gegen Bestellung, denn meine Sättel sind teuer, sie sind aus Silber und Gold.“ Der Kutscher ging zu seinem Herrn und richtete es aus. Da stieg der feine Herr aus der Kutsche und begann mit dem alten Nesterka zu handeln. Sie vereinbarten, daß Nesterka ihm einen Sattel für hundert Rubel herstellen sollte und das Geld im voraus bekommen würde. Nesterka nahm das Geld und setzte sich auf den Ofen. Als der feine Herr kam, um den Sattel abzuholen, saß Nesterka barfüßig auf dem Ofen. „Wo ist der Sattel?“ „Was für ein Sattel, lieber Herr?“ „Nun der, den ich bereits im voraus bezahlt habe!“
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Nesterka bekreuzigte sich nur und sagte: „Was soll ich denn für einen Sattel haben? Ich kann doch nicht einmal Bastschuhe flechten.“ Da schrie ihn der Herr an und sagte: „Zieh dich an, wir gehen zum Richter!“ Der alte Nesterka antwortete: „Was denn, soll ich barfuß mitkommen?“ „Ach, hol’ dich der Teufel! Kutscher, gib ihm meine Filzstiefel! Zieh dich an, wir wollen gehen!“ „Was denn, soll ich so unbekleidet mitkommen?“ „Ach, hol’ dich der Teufel, Kutscher, gib ihm meinen Pelz!“ Der Kutscher brachte den Pelz, und der alte Nesterka zog sich an. Sie traten aus der Hütte, und der reiche Herr schwang sich auf ein Pferd. Als der alte Nesterka dies sah, sagte er: „Was denn, bin ich vielleicht ein Hund, daß ich zu Fuß gehen soll?“ „Soll dich der Teufel holen! Kutscher, gib ihm ein Pferd aus dem Gespann!“ Der alte Nesterka schwang sich auf das Pferd, und sie ritten zum Richter. Sie kamen dort an, und das Gericht begann. „Nun, wie ist es, Nesterka, gibst du dem Herrn das Geld?“ „Ich schulde ihm doch gar nichts! Er belästigt mich, und ich weiß nicht warum. Wahrscheinlich will er etwas von mir. Gleich wird er noch sagen, daß ihm auch die Stiefel an meinen Beinen gehören!“ Da sagte der reiche Herr: „Du Dummkopf! Natürlich sind das meine Stiefel!“ 716
„Nun seht ihr! Er sagt, daß diese Stiefel ihm gehören. Vielleicht sagt er jetzt auch noch, daß ihm auch dieser Pelz gehört!“ Da sagte der reiche Herr: „Ach, daß dich der Teufel hole! Natürlich ist das mein Pelz!“ „Nun seht, ihr Herren Richter: Er hat es nun auch auf den Pelz abgesehen, vielleicht wird er jetzt auch noch sagen, daß ihm auch mein Pferd gehört!“ Da schrie der reiche Herr von neuem: „Ach, daß dich der Teufel hole! Natürlich gehört mir dieses Pferd!“ „Nun seht ihr, ihr Herren Richter, jetzt sagt er schon, daß auch das Pferd sein Eigentum ist!“ Da überlegten und berieten die Richter und sagten schließlich zu dem feinen Herrn: „Nein, Bruder, du scheinst wirklich zu lügen, wenn du sagst, daß alles dir gehört, der Pelz, die Stiefel, das Pferd und das Geld.“ So ließen sie den alten Nesterka straffrei ausgehen. Er setzte sich auf sein Pferd und ritt nach Hause. Nun hatte er ein Pferd, einen Pelz, ein Paar Stiefel und das Geld. Und er lebt noch heute von diesem Geld.
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86 Wie Trachim den Gutsherrn betrog Der Bauer Trachim hatte einmal ein Verhältnis mit der Gutsherrin. Der Gutsherr erfuhr es und sagte: „Dafür bringe ich dich um!“ Der Bauer aber bat ihn: „Bringt mich nicht um!“ Da sagte der Gutsherr: „Wenn du mir fünfzig Kücken ausbrütest, dann verzeihe ich dir.“ Da sagte Trachim zu dem Gutsherrn: „Ich werde es tun, wo ein Wille ist, ist auch ein Weg!“ Der Gutsherr gab ihm einen Hammel, eine Kuh und fünf Maß Getreide, damit er gut zu essen hatte. (Fünfzig Kücken auszubrüten ist nämlich kein Vergnügen.) Es verging eine Woche und noch eine zweite. Solange das Brot reichte, ging der Bauer nicht zu dem Gutsherrn. Der Gutsherr aber wartete bereits, denn die Kücken hätten schon ausgebrütet sein müssen. Als der Bauer das Brot und den Hammel aufgegessen hatte, ging er wieder zum Gutsherrn und sagte: „Die Kücken sind noch nicht ausgeschlüpft. Gebt mir noch etwas zu essen!“ „Der Teufel soll dich holen, zusammen mit den Kücken!“ sagte der Gutsherr. Dann gab er ihm noch einen Hammel und ein Maß Getreide. Nach einer Woche kam der Bauer wieder und sagte: „Herr, nun habe ich die Kücken ausgebrü718
tet. Gebt mir Getreide, damit ich sie füttern kann!“ Der Gutsherr gab ihm Weizen, damit die Kükken schneller wuchsen. Als wieder zwei Wochen vergangen waren, kam der Bauer zu dem Gutsherrn und sagte: „Herr, es sind alles Hähne geworden. Holt sie Euch, denn sie lassen mir keine Ruhe. Sie fliegen immer hoch und krähen: ‚Trachim hat den Gutsherrn betrogen, Trachim hat den Gutsherrn betrogen, Trachim hat den Gutsherrn betrogen!’“ Da wurde der Gutsherr zornig, jagte Trachim aus dem Zimmer und ließ sich nie mehr mit Bauern ein.
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87 Der Bauer und der Gutsherr Es war einmal ein Gutsherr, der war so garstig und böse, daß es ein Elend mit ihm war und niemand ihm etwas rechtmachen konnte. Alle fürchteten ihn wie den Teufel. Wenn einmal jemand zu ihm kam und um etwas bat, dann schrie er ihn gleich an: „Was willst du?“ Dann sagte der andere: „Schon gut, lieber Herr!“ und zitterte wie Espenlaub. „Wenn es gut ist, was willst du dann?“ schrie der Gutsherr. „In den Pferdestall mit diesem Schlingel!“ So ließ er niemanden zu Worte kommen. Anders konnte er gar nicht mit den Leuten reden. Die Leute hatten immer Angst, ihm etwas zu sagen, was ihm nicht paßte. Denn wenn ihm jemand etwas nicht so sagen konnte, wie er es hören wollte und wie es seiner Laune entsprach, ließ er ihn ausprügeln. Nur einen Bauern gab es, der mit dem Gutsherrn reden konnte. Er hieß Stopak. Einmal hatte der Gutsherr Karten gespielt und ein sehr schönes Gut gewonnen. Es war im Frühjahr, um den Tag des heiligen Nikolaus1 etwa, und 1
Der „heilige Nikolaus“ wurde von den Bauern – vor der Revolution – am 9. Mai gefeiert. Außer dem „Frühjahrsnikolaus“ gab es noch den „Winternikolaus“ am 6. Dezember. (L. B.)
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so blieb er den ganzen Sommer lang auf dem Gut, das ihm sehr gefiel. Man sagt ja immer, daß ein neues Teesieb an der Wand hängt und ein altes unter der Bank liegt. Da der Gutsherr nicht zurückkam und auf dem alten Hof ein Unglück nach dem anderen geschah, überlegte der Verwalter, wie er ihn benachrichtigen sollte. Er überlegte und überlegte und beschloß schließlich, einen Boten zum Gutsherrn zu schicken. Er wußte nur nicht, wen er schicken sollte, wer dem Gutsherrn einen geeigneten Bericht erstatten konnte. Wen er auch schicken wollte, keiner gehorchte, alle hatten Angst, für die Wahrheit verprügelt zu werden. Er versprach demjenigen, der zum Gutsherrn gehen würde, ein großes Geschenk. Er versammelte das ganze Dorf, aber keiner wollte gehen. Da wußte der Verwalter nicht, was er tun sollte. Er saß da und rang die Hände. Als Stopak davon erfuhr, ging er zum Verwalter und sagte: „Ich gehe zum Gutsherrn und sage ihm alles. Ich verstehe mit ihm zu reden.“ Da freute sich der Verwalter und hätte Stopak beinahe geküßt. Er gab ihm eine ganze Handvoll Geld und die Stiefel, die er trug. Dann schickte er ihn zu dem Gutsherrn auf das neue Gut. Stopak war eine ganze Weile unterwegs, ehe er zu dem neuen Gutshof kam. Dort kam ihm ein Diener entgegen. „Was treibst du dich hier herum, du Vagabund!“ schrie er Stopak an und hetzte die Hunde auf ihn.
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Stopak holte ein Stück Speck aus der Tasche und warf es den Hunden hin. Da gaben sie die Verfolgung auf. Dann trat Stopak auf die Treppe. „Was willst du?“ fragte der Diener wieder. „Ich möchte zum Gutsherrn“, sagte Stopak, „ich bin aus dem alten Gehöft, lieber Herr!“ „Gut“, sagte der Lakai, „ich werde dem Gutsherrn von dir berichten. Aber sag mir, woher du weißt, daß ich auch ein Herr bin!“ „Woher soll ich das schon wissen? Das sehe ich doch. Du bist ein Herr oder nicht, vielleicht auch nur so ein halbes Herrchen. Du hast eine flache Nase und eine glatte Stirn, daran erkennt man, daß du dem Herrn die Teller ausleckst.“ Der Diener wollte Stopak die Haare ausreißen, aber der Gutsherr rief ihn zu sich. „Was ist das für ein Bauer?“ fragte der Gutsherr. „Er kommt von der Herrin auf dem Gutshof.“ „Dann ruf ihn herein!“ Der Diener eilte, Stopak zum Herrn zu rufen. Inzwischen hatte Stopak seinen Tabaksbeutel hervorgeholt, Tabak in die Pfeife gestopft, Zunder, Stein und Feuerstahl aus der Tasche genommen und sich die Pfeife angezündet. Er rauchte und spuckte auf den sauberen Fußboden. „Geh, der Gutsherr ruft dich!“ sagte der Diener. „Nicht so hastig, er kann warten!“ sagte Stopak und rauchte seine Pfeife weiter. „Geh schnell!“ „Sofort, sofort, ich will nur meine Pfeife zu Ende rauchen!“ 722
Der Gutsherr wartete und wartete auf Stopak und wurde schließlich ungeduldig. Er schickte den Diener noch einmal zu Stopak. Stopak aber hatte es sich gemütlich gemacht. Er beeilte sich wie ein feuchter Lappen beim Verbrennen. Er rauchte seine Pfeife zu Ende, schlug die Asche heraus und steckte die Pfeife in die Tasche. Erst dann ging er langsam zum Gutsherrn. Der Diener lief wie ein Hund vorweg und öffnete die Türen. Stopak trat zu dem Herrn ins Zimmer und hustete. Stopak hustete, der Gutsherr wartete und zwirbelte seinen Bart. „Guten Tag, lieber Herr!“ „Was gibt es?“ fragte der Gutsherr. „Alles ist in Ordnung, lieber Herr.“ „Wenn alles in Ordnung ist, was ist dann?“ „Ja, lieber Herr, der Verwalter hat mich geschickt. Euer Messer ist entzweigegangen.“ „Was für ein Messer?“ „Na, Euer Taschenmesser.“ „Wobei ist es denn entzweigegangen?“ „Ja, lieber Herr, ohne Geräte kann man nicht einmal eine Laus töten. Aber jedes Gerät geht einmal bei der Arbeit entzwei, und so war es auch mit Euerm Messer. Man wollte dem Hund das Fell abziehen, um Euch Stiefel daraus herzustellen. Aber Euer Hund hatte eine sehr starke Haut, und das Messer ist entzweigegangen.“ „Von welchem Hund redest du da, du Taugenichts!“ „Na, von Euerm Hund, erinnert Ihr Euch nicht mehr? Er ist in den Brunnen gesprungen, da hat 723
man Nikita hinterhergeschickt, ihn herauszuholen, und beide sind ertrunken. Wißt Ihr, das war doch der Wachtelhund, den Ihr so gerne zur Jagd mitnahmt. Ach, Gott helfe mir, ich glaube, es war der, für den Ihr dem Gutsherrn aus dem Nachbardorf drei Bauern gegeben habt.“ „Was? Mein Hund ist tot?“ „Ja, Herr.“ „Woran ist er denn gestorben?“ „Er soll so gesund gewesen sein, lieber Herr, aber als er das Pferdefleisch gegessen hatte, hat er gleich alle viere von sich gestreckt.“ „Was für Pferdefleisch?“ „Na das Fleisch von dem Hengst.“ „Von welchem Hengst?“ „Von Euerm falben Hengst, der eine Glatze hatte.“ „Was denn, ist der auch tot?“ „Ja, er ist tot, Herr. Es ist schade um ihn, er war ein guter Hengst.“ „Oh, ich Unglücklicher!“ „Ach, Herr, warum regt Ihr Euch so auf? Es ist doch bekannt, daß ein Hengst, der mit einer Glatze geboren wird, entweder umkommt oder von den Wölfen gefressen wird.“ „Woran ist denn der Hengst gestorben?“ „Er hat sich vielleicht übernommen.“ „Was hat man denn mit ihm gemacht? Ist man vielleicht schnell geritten, oder was ist geschehen?“ „Nein, lieber Herr, niemand ist auf ihm geritten, er hat immer im Pferdestall gestanden.“ 724
„Aber was war denn sonst?“ „Er hat Wasser getragen, lieber Herr.“ „Wozu wurde denn das Wasser gebraucht?“ „Ja, lieber Herr, die Leute sagen immer, wenn man ertrinkt, greift man nach einem Strohhalm. Als auf dem Hof der Schweinestall abbrannte, befahl der Verwalter, mit dem Hengst Wasser zu holen.“ „Was denn, der Schweinestall ist abgebrannt?“ „Ja, er ist abgebrannt, lieber Herr.“ „Wie ist denn das passiert?“ „Seht ihr, Herr, er stand doch ganz nahe beim Viehhof, da ist er eben mit abgebrannt.“ „Was denn, ist auch der Viehhof abgebrannt?“ „Ja, lieber Herr, er hat gebrannt wie eine Kerze.“ „Wie konnte denn das geschehen?“ „Das weiß ich nicht genau, lieber Herr, er hat entweder von der Scheune oder von den Zimmern her Feuer gefangen.“ „Jesus Maria, sind denn auch die Zimmer abgebrannt?“ „Ja, sie sind abgebrannt, bis auf den Erdboden, als hätte jemand mit der Zunge darüber geleckt.“ „Und der ganze Hof ist abgebrannt?“ „Ja, lieber Herr, alles ist so glatt und sauber, daß man Rüben säen könnte.“ Da griff sich der Gutsherr an den Kopf und verfluchte die ganze Welt. „Wodurch ist denn das Haus abgebrannt?“ fragte er Stopak. „Durch die Kerzen, lieber Herr“, sagte Stopak. „Wozu haben die Kerzen gebrannt?“ 725
„Ja, warum denn nicht, lieber Herr, es ist doch bekannt, daß immer Kerzen brennen, wenn jemand stirbt.“ „Was? Wer ist denn gestorben?“ „Friede ihrer Asche, möge ihr der Weg ins Jenseits leicht geworden sein! Die Gutsherrin ist gestorben.“ „Was, was? Was redest du da? Die Gutsherrin ist gestorben? Oh, ich Unglücklicher!“ Da weinte der Gutsherr und wollte sich schier umbringen. „Warum weint Ihr denn, Gott hat Euch doch auch etwas gegeben.“ „Was denn? Sag es schnell!“ „Gott hat Euch einen Enkel gegeben. Eure Tochter hat einen Sohn geboren. Es ist ein hübscher Junge, ein richtiger Gutsherrensohn, sieht genauso aus wie Euer Fuhrmann Nikita.“ Als der Gutsherr das hörte, fiel er vom Stuhl, und Stopak ging in die Bäckerei Abendbrot essen. So ein Kerl war Stopak, und so konnte er mit dem Gutsherrn reden.
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88 Den Gutsherren zur Lehre Hört gut zu, denn ich erzähle euch kein Märchen, sondern die reine Wahrheit. Wo das geschehen ist, habe ich jetzt vergessen, denn wie ihr seht, bin ich schon ein alter Mann, und wenn einem die Haare ausfallen, dann schwindet natürlich auch das Gedächtnis aus dem Kopf. Ihr könnt euch daran nicht mehr erinnern, denn es ist schon sehr lange her. Es war noch zur Zeit der Leibeigenschaft. Es war schön, wenn einer einen guten Gutsherrn hatte. Aber wo gab es schon solche guten Gutsherren? Die meisten waren keine Gutsherren, sondern ekelhafte Bestien. Wer an so einen garstigen Kerl geraten war, hätte sich am liebsten hingelegt und wäre gestorben. Denn so einem war nichts recht zu machen. Nicht umsonst sagt man: Wenn man dem Teufel die Tür versperrt, kommt er durchs Fenster. So ist es auch mit einem grausamen Gutsherrn. Du versuchst ihm alles recht zu machen und arbeitest fleißig, er aber schreit dich nur immer an: „Nicht so, du Spitzbube, nicht so, du Taugenichts, nicht so, verflucht noch einmal!“ Und er frißt dich mit Haut und Haaren, verachtet dich und verhöhnt dich, und wenn du dir etwas zuschulden kommen läßt, dann zieht er dir lebendig das Fell herunter. Ach ja, sehr schwer war es 727
mit den grausamen Gutsherren! Und böse waren sie alle. Da lebte doch einmal auf einem Gutshof so ein böser Gutsherr. Was richtete der nicht alles an! Was tat er nicht alles, um die Menschen zu quälen! Er prügelte die Männer und die Frauen, die alten und die jungen. So manchen prügelte er zu Tode, und vor niemandem hatte er Angst. Er behandelte die Menschen schlimmer als die Hunde. Und was tat er erst alles den Jungen und Mädchen an! Man schämt sich, es zu sagen. Es gab schon gar nichts mehr, was sich dieser garstige Mensch noch ausdenken konnte, um die Menschen zu quälen. Da befahl er eines Tages, daß die Bauern ihre Ochsen nur auf dem Gutshof verkaufen dürfen. An beiden Enden des Dorfes stellte er Schlagbäume auf und ließ keine Kaufleute zu den Bauern. So mußten die Leute die Ochsen auf dem Hof verkaufen. Wenn aber einer einen Ochsen brachte, dann sagte der Gutsherr: „Was hast du da gebracht, du Esel? Das ist doch kein Ochse, sondern ein Ziegenbock!“ Wenn er wenigstens noch für einen Ziegenbock bezahlt hätte. Aber er schickte die Bauern sogar noch manchmal in den Pferdestall, wo sie ein halbes Hundert Stockschläge bekamen. Lange quälten sich die armen Bauern so mit diesem Gutsherrn. Lange litten sie, denn was sollten sie schon tun, bei wem sollten sie sich beschweren? Bekanntlich schützt ja ein Gutsherr den anderen. Da fand sich aber einmal ein Mann, 728
der diesem Gutsherrn alle Tränen der Menschen und alle Ungerechtigkeit heimzahlte. Und das war so: Dort lebte ein kühner, verwegener und kluger Bursche. Er war schon früh zum Waisenkind geworden, aber er war auch allein mit der Wirtschaft fertiggeworden. Es war ein guter Bursche. Nie hatte ihn jemand auch nur mit dem Finger zu berühren gewagt. Auch er brachte einen Ochsen zum Verkauf auf den Hof. Als der Gutsherr ihn erblickte, trat er hinaus auf die Treppe. „Was hast du da gebracht, du Esel? Das ist doch kein Ochse, sondern ein Ziegenbock!“ Der junge Bursche schaute um sich, ob niemand in der Nähe des Gutsherrn war, zeigte ihm eine Rute und fragte: „Ist das eine Birkenrute oder eine Weidenrute? Ich habe dir doch einen Ochsen und keinen Ziegenbock gebracht, Gutsherr!“ Dann verprügelte er den Gutsherrn mit der Rute. Er prügelte ihn und prügelte ihn, bis er genug hatte. „Das bekommst du dafür, daß du die Menschen quälst, Gutsherr! Wenn du dich davon erholt hast, warte noch mal auf mich, dann will ich dir das Fell abziehen!“ Als der Bursche dies gesagt hatte, flüchtete er in den Wald. Es gab ja damals ganz dunkle und dichte Wälder. In denen konnte man leben, solange man wollte, ohne daß man einen Menschen traf. Das Gesinde fand den Gutsherrn bewußtlos. So hatte ihn der Bursche verprügelt! Erst am dritten Tage kam er etwas zu sich und befahl, Rymscha 729
einzufangen. So hieß dieser Bursche nämlich. Aber wo sollten sie den schon fangen? Seine Spur hatte der Wind verwischt. Ungefähr sieben Wochen lag der Gutsherr darnieder und hätte bald dem Teufel seine Seele verschrieben. Was für Doktoren man auch hinbestellte, niemand konnte ihm helfen, denn Rymscha hatte ihm wahrscheinlich die Leber angeschlagen. Nach einiger Zeit kam ein fremder Doktor auf den Gutshof, der hatte allerlei Kräuter und Heilmittel. Der Gutsherr freute sich, verbeugte sich vor ihm und bat den Doktor, ihn zu heilen. Der Doktor blieb als Gast auf dem Gutshof und machte sich daran, den Gutsherrn zu heilen. Er ließ ein Bad bereiten und brachte den Gutsherrn dorthin. Er setzte ihn auf eine Bank und sagte, er solle sich mit beiden Händen an einer Stange festhalten. Dann fing er an, den Gutsherrn mit allerlei Salben einzureihen. Der Gutsherr saß da, hielt sich mit beiden Händen an der Stange fest und ächzte aus Leibeskräften. Aber nicht lange ließ der Doktor ihn so sitzen. Er zog einen Riemen aus der Tasche, band des Gutsherrn Hände an der Stange fest, stopfte ihm einen Knebel in den Mund, nahm die Rute und sagte: „Ist das eine Birkenrute oder eine Weidenrute? Ich habe dir doch einen Ochsen und keinen Ziegenbock verkauft, Gutsherr!“ Als der Gutsherr sah, daß Rymscha der Doktor war, wollte er schreien, konnte aber nicht, denn er hatte ja den Knebel im Mund. Er wand sich hin und her wie ein Fisch auf der heißen Pfanne, Rymscha aber holte eine Peitsche hervor und 730
schlug den garstigen Gutsherrn, wo er gerade hintraf. Er schlug ihn grün und blau, bis ihm fast überall die Haut abgeplatzt war, dann streute er Salz darauf. Da wurde der Gutsherr vor Schmerz ohnmächtig. Rymscha aber setzte sich aufs Pferd und ritt seiner Wege. Lange war der Gutsherr krank, fast ein halbes Jahr konnte er sich nicht bewegen. Alle dachten schon, daß es mit ihm zu Ende gehen würde, aber einen Bösen will auch der Tod nicht haben. Zum Frühjahr erholte sich der Gutsherr wieder und wollte ins Ausland in ein Bad fahren. Als er sah, daß er kein Geld mehr hatte, wollte er den Wald verkaufen. Das Gerücht verbreitete sich, und die Kaufleute kamen, um sich den Wald anzusehen. Sie feilschten und feilschten miteinander, konnten sich aber nicht über den Preis einigen, denn der Gutsherr verlangte sehr viel für seinen Wald. Da kam ein sehr reicher Kaufmann angefahren. Der Gutsherr nahm ihn mit, um ihm den Wald zu zeigen. Er lobte den Wald, der Kaufmann aber führte ihn in ein Dickicht, in einen Morast. Als sie in ein solches Dickicht gekommen waren, wo das Licht Gottes nicht mehr zu sehen war, umfaßte der Kaufmann die Bäume und maß ihren Umfang in Sashen. Aber wie der Gutsherr auch eine Fichte umfassen wollte, holte der Kaufmann schnell einen Riemen aus der Tasche und band ihn an der Fichte fest. Der Gutsherr sah, daß hier etwas nicht ganz in Ordnung war, er wollte schreien, um Hilfe rufen, 731
aber er hatte sich so erschrocken, daß er kein Wort herausbringen konnte. Der Kaufmann zeigte ihm eine Rute und fragte: „Ist das eine Birkenrute oder eine Weidenrute? Ich habe dir doch einen Ochsen und keinen Ziegenbock verkauft!“ Da erkannte der Gutsherr, daß das Rymscha war. Inzwischen hatte Rymscha dem Gutsherrn den Mund mit Moos vollgestopft und begonnen, ihn zu prügeln, wo er gerade hintraf. Dabei befahl er ihm, die Menschen nicht mehr zu quälen. Er schlug den Gutsherrn und schlug ihn und hätte ihn fast zu Tode geschlagen. Dann ließ er ihn so angebunden an der Fichte, bis das Gesinde ihn fand. Dieses Mal lag der Gutsherr ein ganzes Jahr darnieder und wurde nicht gesund. Es gab keine Heilung. Man riet ihm, in ein Bad zu fahren. Inzwischen hatte der Gutsherr den Wald, das Getreide und das Vieh verkauft. Er hatte viel Geld bekommen und machte nun Anstalten, ins Bad zu fahren. Aber Rymscha beobachtete den Gutsherrn noch weiter. Der Gutsherr war kaum aus dem Tor und in den Wald hineingefahren, da bereitete er ihm schon eine Falle. Er stellte auf dem Wege in drei Kilometer Abstand voneinander zwei berittene Burschen mit langen Ruten auf. Als der Gutsherr herankam, zeigte der erste Bursche seine Rute und schrie: „Ist das eine Birkenrute oder eine Weidenrute, Gutsherr?“ Dann sprang er schnell aufs Pferd und ritt davon.
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„Greift ihn, greift ihn!“ schrie der Gutsherr. „Das ist doch der Halunke Rymscha!“ Der Kutscher schnitt die Zugriemen durch, schwang sich auf das Pferd und jagte dem Burschen nach. Der aber war in den Wald hineingeritten und, weiß der Teufel wohin, verschwunden. Der Kutscher ritt ihm ungefähr zehn Werst weit nach. Inzwischen war der zweite Bursche vor dem Gutsherrn aufgetaucht. Er zeigte eine Rute und fragte: „Ist das eine Birkenrute oder eine Weidenrute, Gutsherr?“ „Greif ihn, greif ihn, diesen Halunken!“ schrie der Gutsherr den Diener an, „das ist doch Rymscha!“ Der Diener sprang auf das andere Pferd und jagte dem Burschen nach. Der Gutsherr blieb allein zurück. Da kam Rymscha aus einem Busch hervor und zeigte dem Gutsherrn eine Rute. „Ist das eine Birkenrute oder eine Weidenrute, Gutsherr? Ich habe dir doch einen Ochsen und keinen Ziegenbock verkauft!“ Dann verprügelte er den Gutsherrn mit der Rute. Er schlug den Gutsherrn grün und blau, nahm ihm das ganze Geld ab und ging in den Wald zu seiner Erdhütte. Man sagt, daß Rymscha später den Menschen viel Gutes getan habe. Noch bis heute ragt im dunklen Wald mitten aus dem Sumpf ein Berg hervor. Man nennt ihn Rymschaberg. Das ist zwischen Sapolje und Nowoselki. Vielleicht kennt ihr ihn. Dort soll Rymscha gewohnt haben, sagen die 733
Leute. Er hat dort viel Geld versteckt, aber keiner kann es finden. Die Erdhütte habe ich selbst gesehen, als mich der Gutsherr mit einer Karte dort hinschickte. Wenn man sucht, findet man vielleicht auch Geld dort.
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89 Wie ein alter Mann in die Schule ging und sich dadurch Geld verdiente Vor langer Zeit arbeitete einmal ein Bauer, der Apanas hieß, bei einem Gutsherrn. Er kannte nur seine Arbeit, und der Gutsherr, der Nichtstuer, kommandierte ihn. Eines Tages pflügte Apanas auf dem Felde. Da kam der Gutsherr zu ihm, und Apanas fragte ihn: „Wie kommt es, daß ich hier arbeite und pflüge, Ihr aber, lieber Herr, nichts tut?“ Da antwortete der Gutsherr: „Ich bin zur Schule gegangen und habe das gelernt.“ Da dachte Apanas so bei sich: Nun, dann gehe ich auch in die Schule. Er war aber schon ungefähr fünfzig Jahre alt. Als er in die Schule kam, fragte ihn der Lehrer: „Was gibt’s, Onkelchen?“ „Ich will lernen.“ Da sagte der Lehrer: „Zu spät!“ Da dachte Apanas: Wenn ich heute zu spät gekommen bin, dann komme ich morgen früher. Am anderen Tage kam Apanas wieder in die Schule. Ein anderer Lehrer sah ihn an und sagte: „Es ist schon zu spät für dich zum Lernen, Alter!“ Noch dreimal kam Apanas in die Schule, und jedesmal sagten die Lehrer zu ihm: „Zu spät!“ Die Arbeit beim Gutsherrn hatte er inzwischen schon 735
aufgegeben. So ging er in den Wald und war traurig. „Was soll ich nur tun?“ Da sah er plötzlich die Kutsche des Gutsherrn leer dahinjagen. Die Pferde waren aus irgendeinem Grunde scheu geworden und mit der Kutsche losgerast, der Gutsherr, der Kutscher und die Koffer waren herausgeflogen. Als Apanas weiter seines Weges ging, fand er einen Reisesack. Er hob ihn auf und ging weiter. Er brachte ihn in ein Versteck, nahm das Oberteil ab und schnitt in eine Ecke ein kleines Loch. Als er den Reisesack ein wenig schüttelte, fiel ein Goldstück heraus. Er hatte noch nie in seinem Leben so viel Geld gesehen. Da er schon einige Tage nicht beim Gutsherrn gearbeitet hatte, war er hungrig. Er versteckte den Reisesack und lief mit dem Goldstück in einen Laden, um sich etwas zu essen zu kaufen. Es kostete insgesamt fünfzehn Kopeken. Er gab der Verkäuferin das Geldstück und dachte: Das Geldstück ist klein, mal sehen, wieviel sie herausgibt. Die Verkäuferin sah es an und sagte: „Warte, ich kann nicht herausgeben!“ Dann suchte sie in ihrem Kasten nach und gab ihm vier Rubel und fünfundachtzig Kopeken. Da dachte Apanas: „Was für Geld! Da kann ich ja leben.“ Da lief er wieder zu seinem Versteck, öffnete den Reisesack und erblickte darin so viele Goldstücke, daß er laut ausrief: „Mein Gott! So viel Geld!“ Es waren ungefähr vierzigtausend Rubel. Er aber konnte das Geld gar nicht zählen. 736
Da ging er ins Städtchen und sah an einem Pfahl eine Bekanntmachung hängen. Ein wenig konnte er ja lesen und schreiben, und da stand: „Am Sonntag wird auf einer öffentlichen Auktion ein Gut versteigert.“ Da dachte er: Ich habe ja Geld. Ich gehe hin, vielleicht bekomme ich das Gut auf der Auktion. Als er nach Hause zurückkam, erwartete ihn eine unangenehme Nachricht. Der Gutsherr, der das Geld verloren hatte, hatte die Pfaffen aufgefordert, alle Leute zur Beichte zu holen. Da dachte Apanas traurig: Natürlich wird der Pfaffe fragen, ob ich das Geld gefunden habe. Dann muß ich es zurückgeben und kann mir das Gut nicht kaufen. Dann ging er auch zum Pfaffen. Der Pfaffe nahm um die Beichte ab und fragte: „Welche Sünden hast du begangen? Hast du etwas gestohlen oder gefunden?“ Apanas überlegte und sagte: „Ich habe Geld gefunden.“ Er erzählte, daß er Geld gefunden habe, als er zur Schule ging. Da dachte der Pfaffe: In die Schule ist er als junger Bursche gegangen, das Geld aber hat der Gutsherr erst gestern verloren, also ist es nicht das Geld. So vergab er dem Bauern alle Sünden. Voller Freude lief Apanas zur Auktion und kaufte für dreißigtausend Rubel das ganze Gut mit allem lebenden und toten Inventar. Einige Tage später wollte der Gutsherr, bei dem Apanas früher gearbeitet hatte, einen Ball veranstalten, und er schickte Einladungen an die ande737
ren Gutsherren. Apanas erhielt ebenfalls eine Einladung zum Ball (denn der Gutsherr konnte ja nicht ahnen, daß ein Bauer das Gut gekauft hatte). Apanas kam, trat in den Palast des Gutsherrn und setzte sich wie alle anderen Gutsherren im Saal an den Tisch. Der Gastgeber kam herein und sah Apanas in Gutsherrenkleidung sitzen. Da fragte er ihn: „Wie kommst denn du in unsere Gesellschaft?“ Apanas zeigte dem Gutsherrn die Dokumente. Der Gutsherr fragte: „Wo hast du denn das Geld her?“ „Erinnerst du dich noch, Gutsherr, du hast mir auf dem Feld gesagt, daß man zur Schule gehen muß? Siehst du, ich bin in die Schule gegangen und habe Geld verdient. Es wäre gut, wenn alle Tagelöhner aufhören würden, beim Gutsherrn zu arbeiten, und dafür in die Schule gehen würden. Dann wären alle den Gutsherren gleich, und niemals mehr würden Menschen gequält.“
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90 Wenn es dir nicht gefällt, dann hör nicht zu! Es war einmal ein Gutsherr, der sehr gern Märchen hörte. Einmal rief er einen Bauern zu sich, der ihm Märchen erzählen sollte. Der Gutsherr sagte zu ihm: „Hier ist ein Teller Gold. Wenn du mir ein Märchen erzählst, in dem nicht ein einziges Wort wahr ist, und ich zu dir sage ‚Du lügst’, dann gebe ich dir diesen Teller Gold.“ Da begann der Bauer: „Ja, lieber Herr, was gibt es nicht alles auf der Welt! Da ist mir doch neulich eine unangenehme Geschichte passiert. Ich war noch gar nicht geboren, als ich mich bei einem Herrn zum Bienenhüten verdingte. Es waren fünfzig Bienenvölker. Ich mußte sie jedesmal zählen, bevor ich sie zum Futterholen hinausließ. Wenn sie zurückkamen, mußte ich sie wieder zählen, mußte sie melken und in die Bienenkörbe jagen.“ „Die Welt ist groß, das kann schon stimmen“, sagte der Gutsherr. Der Bauer schaute auf das Gold und sprach weiter: „Eines Morgens ließ ich die Bienen wieder auf die Weide. Als sie nach Hause kamen, fehlten zwölf Bienen. Was sollte ich da tun? Vielleicht waren sie im Sumpf steckengeblieben? Ich machte mich auf, sie zu suchen. Ich lief und lief, da sah ich elf Bienen blutig und verwundet vorbeifliegen. 739
Die zwölfte aber fehlte. Welch ein Unglück! Ich lief weiter. Da sah ich, daß am anderen Ufer des Flusses ein Rudel Wölfe meine Biene umringt hatte und sie töten wollte. Sie wehrte sich nach Leibeskräften. Ich lief ihr spornstreichs zu Hilfe. Ich rannte am Fluß entlang, aber da war kein Dampfer. Ich sah, daß es nur noch kurze Zeit dauern würde, bis die Wölfe sie zerrissen. Da packte ich mich selbst am Schopf, stieß mich ab, ruderte mit den Armen und flog auf die andere Seite des Flusses.“ „Das kann schon stimmen“, sagte der Gutsherr. „Durch den Aufprall versank ich bis zum Gürtel in der Erde und blieb stecken. Ich versuchte alles mögliche, kam aber nicht heraus. Ohne Spaten ist da nichts zu machen, dachte ich bei mir. Da rannte ich los, lief so schnell ich konnte nach Hause, holte einen Spaten und lief zurück. Ich grub mich aus und eilte der Biene zu Hilfe.“ „Die Welt ist groß, das kann schon stimmen“, sagte der Gutsherr. „Ich lief hin und jagte die Wölfe weg, aber die Biene lebte nicht mehr. An den Seiten baumelte das Fleisch in Fetzen herab, und das Blut floß ohne Unterlaß! Ohne lange zu überlegen, schnitt ich ihr mit dem Messer die Gurgel durch und schlachtete sie. Dann nahm ich sie aus und brachte das Fleisch nach Hause. Zwölf Kübel voll Fleisch waren es.“ „Die Welt ist groß, das kann schon stimmen“, sagte der Gutsherr.
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„Da erinnerte ich mich, daß die Knochen noch liegengeblieben waren. Ich dachte, daß die Leute schimpfen würden, weil ich mehr als eine Desjatine Weideland mit Knochen übersät hatte. Ich lief hin und warf sie in den Fluß. Ich hob auch den Rüssel auf und warf ihn weg. Er sollte in den Fluß fallen, aber er steckte mit einem Ende in der Erde und stieß mit dem anderen an den Himmel.“ „Die Welt ist groß, das kann schon stimmen“, sagte der Gutsherr. „Ich kletterte an diesem Rüssel in den Himmel. Ich kletterte und kletterte und kam schließlich oben an. Da sah ich in einer Hütte die Heiligen feiern. Sie tranken Schnaps und Wein, aßen dazu und sangen unanständige Lieder. Da dachte ich bei mir, mit Betrunkenen laß dich nicht ein, sonst kriegst du noch eine Tracht Prügel! Ich ging also weiter. In einer anderen Hütte hatte sich der heilige Nikolaus so mit Branntwein vollaufen lassen, daß er wie ein Sack unter einer Bank lag und schnarchte, als hätte er Weizen verkauft.“ „Das kann vielleicht auch stimmen.“ „Neben ihm lag eine Mütze, ganz aus Gold und Edelsteinen. Ich hob die Mütze auf und eilte zurück. Inzwischen war der heilige Nikolaus aufgewacht und suchte seine Mütze. Er erhob ein furchtbares Geschrei. Da dachte ich mir, wenn man dich schnappt, ergeht es dir schlecht! Ich konnte aber die Stelle nicht finden, wo der Rüssel stand. Schließlich fand ich einen Haufen Sägemehl. Ich drehte mir gleich einen Strick daraus. Ich band ein Ende fest und ließ mich an dem 741
Strick hinab. Als ich am Ende des Strickes angelangt war, war die Erde noch weit entfernt. Was sollte ich da tun? Ich schnitt oben ein Stück Strick ab, fügte es unten an und ließ mich weiter hinab.“ „Die Welt ist groß, das kann schon stimmen!“ „So stand ich nun auf der Erde. Aber da sah ich, daß es gar nicht unsere Erde war. Aha, dachte ich bei mir, das ist sicherlich das Fegefeuer, und ging weiter. Da sah ich Euer Väterchen, Gott hab ihn selig, zerrissen, zerlumpt und barfuß Schweine hüten.“ „Du lügst, du Flegel!“ Der Bauer griff schnell nach dem Teller mit dem Gold und verschwand durch die Tür.
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91 Gut, aber nicht sehr gut „Ich ging meines Weges, da habe ich ein FünfKopeken-Stück gefunden, Bruder!“ „Das ist gut.“ „Gut, aber nicht sehr gut.“ „Warum denn?“ „Das Fünf-Kopeken-Stück hatte eine Scharte.“ „Das ist schlecht.“ „Schlecht, aber nicht ganz schlecht; ich habe mir Erbsen dafür gekauft.“ „Das ist gut.“ „Gut, aber nicht sehr gut.“ „Warum denn?“ „Die Erbsen waren wurmstichig.“ „Das ist schlecht.“ „Schlecht, aber nicht ganz schlecht.“ „Warum denn?“ „Ich habe einen Eber damit gefüttert.“ „Das ist gut.“ „Gut, aber nicht sehr gut.“ „Warum denn?“ „Der Wolf hat den Eber gefressen.“ „Das ist schlecht.“ „Schlecht, aber nicht ganz schlecht.“ „Warum denn?“ „Ich habe den Wolf erschlagen.“ „Das ist gut.“ 743
„Gut, aber nicht sehr gut.“ „Warum denn?“ „Der Gutsherr hat mir das Fell weggenommen.“
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92 Wie ein Gutsherr sich mit einem Bauern nicht verständigen konnte Einmal fuhr ein Gutsherr seines Weges, da kam ihm ein Bauer entgegen. Der Gutsherr sagte: „Zur Seite, Langnase!“ Der Bauer drehte seine Nase mit der Hand zur Seite und sagte: „Fahr vorbei, Gutsherr!“ Gutsherr: „Wo kommst du her?“ Bauer: „Von Vater und Mutter.“ Gutsherr: „Das meine ich nicht, ich meine, wer bei euch am größten ist.“ Bauer: „Die Jungfer Malanja ist in unserem Dorf die größte.“ Gutsherr: „Danach habe ich dich nicht gefragt. Ich meine, vor wem ihr alle Angst habt?“ Bauer: „Auf unserem Hof liegt ein Bär an der Kette. Vor dem haben wir alle Angst.“ Gutsherr: „Danach frage ich nicht. Ich will wissen, auf wen ihr hört.“ Bauer: „In unserem Dorfe kann Sidor schön auf der Schalmei spielen. Wenn er anfängt, hören wir alle zu.“ Gutsherr: „Sag mir, wann bei euch Langer Tag1 ist.“
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Mit „Langer Tag“ ist das Osterfest gemeint. (L. B.)
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Bauer: „Im Frühjahr, wenn wir nichts zu essen haben, ist der Tag lang.“ So trennten sich die beiden. Am nächsten Tage trafen sie sich wieder. Der Bauer fuhr gerade Holz. Da fragte der Gutsherr: „Was fährst du da?“ „Stroh, Herr.“ „Das soll Stroh sein? Das ist doch Holz!“ „Warum fragst du mich denn, wenn du es selbst weißt?“ Gutsherr: „Ach, du bist ja der von gestern!“ Bauer: „Wieso von gestern? Meine Mutter hat gesagt, daß ich schon zwanzig Jahre alt bin.“
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93 Wie ein Bauer den Frost besiegte Es trafen sich einmal zwei Fröste, und da sagte der eine: „Wenn du wüßtest, Bruder, wie ich heute einen Gutsherrn habe frieren lassen! Der war so in warme Pelze gehüllt, daß es wirklich kein Vergnügen war.“ Da sagte der andere: „Einen Gutsherrn frieren zu lassen ist kein Kunststück. Aber wenn du einen Bauern zum Frieren gebracht hättest, dann hättest du Grund zu prahlen.“ Da lachte der andere und sagte: „Einen Bauern frieren zu lassen ist zehnmal leichter.“ „Das wollen wir mal sehen!“ sagte der andere, und sie gingen auseinander. Als der erste Frost so seines Weges ging, sah er einen Bauern in einem zerlumpten Mantel auf einem Schlitten sitzen, vor den ein Ochse gespannt war. Als der Frost zu ihm kam und ihn abkühlen wollte, sprang der Bauer vom Schlitten, peitschte seinen Ochsen wie wild und lief nebenher. Im Wald warf er schnell Mantel und Handschuhe ab und begann Holz zu hacken, daß die Funken flogen und ihm der Schweiß in Strömen herunterlief. So konnte ihm der Frost nichts anhaben. Da überlegte er ein Weilchen und sagte zu sich selbst: Der soll noch was erleben, den erledige ich heute noch! und kroch in einen Handschuh. 747
Der Bauer bemerkte das, nahm den Handschuh, legte ihn auf einen Baumstumpf und schlug mit dem Beilrücken darauf. Er schlug und schlug und schlug dem Frost alle Knochen entzwei. Danach schüttelte er den Handschuh aus, und der Frost fiel neben den Baumstumpf. Der Bauer aber fuhr mit dem Holz nach Hause. Als sich am nächsten Tage die beiden Fröste trafen, sagte der zweite: „Nun, hast du einen Bauern frieren lassen?“ „Laß gut sein! Ich wollte ihm die Hand erfrieren lassen und bin in den Handschuh gekrochen. Da hat er mir mit dem Beilrücken alle Knochen entzweigeschlagen.“
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94 Der Wind, der Frost und die Sonne Bei uns ist man der Ansicht, daß der Wind stärker als Frost und Sonne sei. Ich glaube, das ist nicht so, sondern die Sonne ist am stärksten. Man erzählt, daß Sonne, Frost und Wind einmal miteinander spazierengingen und einen Mann trafen, der auf dem Feld Getreide säte. Sie gingen zu ihm und fragten, was nötig wäre, damit das Getreide gut wächst. „Was dazu nötig ist? Es ist nötig, daß Gott eine gute Ernte gibt“, antwortete der Mann. „Wie kann dir Gott schon helfen, wenn der Frost kommt und alles erfrieren läßt?“ fragte der Frost. „Der Frost kann gar nichts machen, wenn Gott es nicht zuläßt.“ „Und wenn die Sonne nicht scheinen will?“ „Was will die Sonne schon machen? Wenn der Wind die Wolken auseinandertreibt, muß sie scheinen, ob sie will oder nicht.“ „Und wenn sie nun alles verdorren läßt?“ „Wie kann sie das tun, wenn der Wind weht? Der Frost ist doch auch nur stark, wenn ihm der Wind hilft.“ Sie gingen weiter, und der Wind prahlte, daß er am stärksten sei. „Der Mann hat es ja auch gesagt.“
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Da bissen sich der Frost und die Sonne auf die Zunge, denn sie sahen, daß hier nichts zu machen war, denn was wahr ist, muß wahr bleiben. Schließlich sahen sie einen Mann vorbeifahren. „Laß uns unsere Kräfte an diesem Mann messen!“ sagte die Sonne zum Wind. „Laß sehen, wer von uns dreien ihm den Rock auszieht!“ „Nun, dann mal los!“ Der Wind blies die Backen auf und begann den Mann aus Leibeskräften anzublasen. Er blies und blies, da schlug der Mann den Kragen hoch, band einen Gürtel darum und zog den Gurt um seinen Leib fester. Da erkannte der Wind, daß er nichts erreichen konnte. „Na, ich sehe schon, daß ich auch nichts erreichen kann“, sagte der Frost. Da kam die Sonne hinter einer Wolke hervor und brannte auf den Mann nieder. „Gott sei Dank, jetzt wird es warm!“ sagte der Mann, setzte die Mütze ab und rieb sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. „Da werde ich mich wohl ausziehen müssen.“ Er hielt seine Stute an, band den Gürtel ab und zog sich den Rock aus. „Seht ihr nun, was man mit Güte erreichen kann?“ fragte die Sonne. „Man sagt ja immer, daß ein zärtliches Kälbchen sich von zwei Müttern tränken läßt.“
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95 Wie die Tiere einem Menschen dankten Es war einmal ein sehr armer Mann, der fuhr zum König, um vielleicht von ihm etwas zu bekommen. Als ihn aber ein Oberst beim Königspalast erblickte, ließ er ihm hundert Peitschenschläge geben und jagte ihn davon. Der Mann besaß ein räudiges Pferd, das spannte er an und fuhr in den Wald, um Holz zu holen. „Vielleicht kann ich etwas sammeln und in die Stadt bringen, dort verkaufen und mir dafür Brot kaufen“, sagte er. Er hatte aber kein Beil, und so wollte er Reisig sammeln. Aber zu allem Unglück gab es nirgends etwas. Als er nun weiterfuhr, kam er zu einer Grube, und in dieser Grube war ein Affe. Der war sehr hungrig. Er war dort hineingefallen und konnte nicht mehr heraus. Da nahm der Mann die Zügel vom Pferd, hielt sie in die Grube hinein, und als der Affe sie gefaßt hatte, zog er ihn heraus. Der Affe verbeugte sich und lief in den Wald. Da fuhr der arme Teufel wieder auf den Weg und nach Hause, aber der Affe sprang ihm voran von Baum zu Baum, brach trockene Äste ab und warf sie auf den Weg. So bekam der Mann eine gute Fuhre zusammen. Er brachte sie in die Stadt, verkaufte sie, kaufte Brot und ein Beil dafür, und es blieb noch etwas Geld übrig. 751
Am anderen Tage fuhr er wieder in den Wald, kam wieder zu der Grube und sah einen Bären darin, der war ganz ausgehungert. Als der Bär den Mann erblickte, begann er zu brüllen. Da fällte der Mann eine kleine Fichte, stellte sie in die Grube, und der Bär kletterte an ihr heraus, brummelte etwas vor sich hin, verbeugte sich und lief davon. Als der Mann genug Holz gesammelt hatte und frühstücken wollte, brachte ihm der Bär eine Scheibe Honig, legte sie ihm hin und lief davon. Als der Mann das Holz verkauft hatte und auf den Hof gefahren kam, sah er dort zwölf Fuhrwerke stehen. Vor jedes waren vier Pferde gespannt. Der Bär war auch dort. Dieser hatte Kaufleute in Stücke zerrissen und ihre Pferde und Wagen seinem Retter gebracht. Er erblickte den Mann, verbeugte sich und lief in den Wald. Als der Mann das nächste Mal zu der Grube gefahren kam, sah er dort einen riesigen Igel liegen. Das war der König der Igel selbst. Der Mann nahm ein Brett, stellte es hinein, und als der Igel auf das Brett gekrochen war, hob er ihn mit dem Brett heraus. Der Igel zischte nur vor sich hin, verbeugte sich und kroch davon. Als der Mann das Holz auflud, um es nach Hause zu bringen, sah er, daß der Igel ihm einen Diamanten vor die Füße gerollt hatte. Der Mann hob den Diamanten auf und dachte sich: Was soll ich nun damit machen? Am besten ist es wohl, ich bringe ihn zusammen mit den Waren zum König. Also spannte er noch am selben Tage die Pferde 752
an und fuhr los. Er fuhr und fuhr und traf schließlich wieder auf den Oberst. Als dieser die Waren und den Diamanten erblickte, nahm er dem Mann alles weg, ließ ihm zweihundert Peitschenschläge verabreichen und setzte ihn noch dazu ins Gefängnis. Als der König nach einem oder zwei Jahren von allem erfuhr, kam er sofort ins Gefängnis und fragte: „Warum sitzt du hier?“ Da erzählte der Mann dem König alles vom Anfang bis zum Ende. Da ließ der König Eisen glühend machen und den Oberst bei lebendigem Leibe auseinanderreißen. Dem Manne aber bezahlte er alle Waren und den Diamanten.
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96 Der betrunkene Löwe Einmal ging ein Mann in den Wald, um Holz zu holen. Da traf er einen Löwen. „Wer bist du?“ fragte der Löwe. „Wer bist du denn?“ fragte der Mann. „Du siehst von vorn wie ein Teufel aus und von hinten auch.“ „Schlag mir mit dem Beil auf die Stirn!“ Der Mann gehorchte, und der Löwe sagte: „Komm in einem Jahr wieder hierher!“ „Gut!“ sagte er und ging weiter. Als das Jahr vorüber war und der Mann hinkam, lag der Löwe da und sagte: „Nun, sieh dir meine Stirn an!“ „Was ist denn da?“ „Eine Schramme“, sagte der Löwe, „die Wunde ist zwar verheilt, aber die Worte, die du zu mir gesagt hast, sind nicht vergessen. Die verzeihe ich dir niemals!“ „Ach ja“, sagte der Mann, „ich hatte damals einen Rausch und wußte nicht, was ich sagte.“ „Was ist denn ein Rausch? Zeig ihn mir einmal!“ Da ging der Mann und kaufte einige Garnetz Met und Branntwein, goß sie in einen Eimer und brachte ihn dem Löwen. „Nun kannst du dich betrinken!“ sagte er.
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Da stand der Löwe auf und leckte einmal. „Ohne Scherz, das schmeckt aber!“ Nachdem er dreimal geleckt hatte, trank er alles auf einmal aus und sagte: „Komm morgen wieder hierher!“ Dann wälzte er sich auf der Erde. Da nahm der Mann ein Messer, schabte ihm das Fell von den Füßen bis zum Knie ab und ging weg. Als er am nächsten Tage hinkam, war der Löwe wieder nüchtern und sagte zu ihm: „Es ist wirklich so, daß man im Rausch nicht weiß, was man tut. Als ich von dem Branntwein gekostet hatte und über Steine und Wurzeln gelaufen bin, habe ich mir die Füße abgewetzt. Sieh nur! Deshalb gehe ich jetzt in ein Land, wo man keinen Rausch bekommt!“ Er lief davon, und seit jener Zeit gibt es in unseren Gegenden keine Löwen mehr.
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97 Das Stierkalb aus Pech Es waren einmal ein alter Mann und eine alte Frau, die waren sehr arm und hatten nichts in ihrer Hütte. Sie besaßen nur einen Hahn und eine Henne. Eines Tages hatten sie gar nichts mehr zu essen. Sie mußten also den Hahn oder die Henne schlachten. Da sagte die Alte: „Schlachte die Henne!“ Die Alte liebte ihren Mann sehr, und ihr Mann liebte den Hahn. Da sagte der Alte: „Nein, ich schlachte den Hahn!“ Er begann das Messer zu wetzen. Er wetzte und wetzte, der Hahn hörte es und sagte zu ihm: „Warum wetzt du das Messer, Großväterchen?“ „Ich muß dich schlachten, denn wir, meine Frau und ich, haben nichts zu essen.“ Da bat der Hahn den alten Mann, ihn nicht zu schlachten. Er sagte: „Ich gebe dir einen guten Rat, wie ihr etwas zu essen bekommen könnt.“ Dem Alten tat es leid um den Hahn, und er fragte ihn: „Was soll ich denn machen?“ „Nimm Pech, Großväterchen, forme daraus ein Stierkalb und stell es im Garten auf!“ Der Alte hörte auf den Hahn und formte ein Stierkalb aus Pech. Er wartete einen Tag und noch einen zweiten, hatte aber immer noch nichts zu 756
essen. Da wollte er wieder das Messer wetzen, um den Hahn zu schlachten. Der Hahn aber sagte zu ihm, daß er warten solle. Wie viele Tage nun noch vergingen, weiß ich nicht. Der Alte lag auf dem Ofen und hörte plötzlich ein Gebrüll. Im Garten brüllte jemand ganz fürchterlich. Da stieg der Alte vom Ofen und lief in den Garten. Dort sah er einen Bären, dessen Tatzen an dem Stierkalb aus Pech klebengeblieben waren. „Wie kommst denn du hierher?“ fragte der Alte den Bären. „Laß mich laufen, Großväterchen, ich werde es dir lohnen! Ich wollte etwas fressen und bin klebengeblieben“, sagte der Bär. „Daß dich die Wölfe holen! Du hast mein Kalb beschädigt. Geh dahin, wo du hergekommen bist!“ sagte der Alte und befreite den Bären. Als nun der Alte das Kalb wieder in Ordnung gebracht hatte und auf den Ofen steigen wollte, hörte er im Garten einen Wolf jämmerlich heulen. Der Alte ging hinaus .und sah, daß ein Wolf am Pech klebte. Er fragte ihn, wie er dorthin gekommen sei. „Ich wollte etwas fressen und bin klebengeblieben“, sagte der Wolf. Er bat den Alten, ihn freizulassen. Da sagte der Alte zu dem Wolf: „Nein, ich lasse dich nicht fort!“ Er nahm ihn mit und sperrte ihn in den Keller. Kaum hatte er den Keller zugeschlossen, da sah er, daß ein Fuchs klebengeblieben war. Er brachte ihn zu dem Wolf in den Keller. Jetzt reicht es, dachte der Alte bei sich, ich schlachte den Wolf 757
und den Fuchs, mache einen schönen Pelz und bringe ihn auf den Markt. Dann kaufe ich für mich und meine Alte etwas zu essen. Als er in den Keller gehen wollte, hörte er jemanden bei dem Kalb aus Pech schreien. Er ging hin und sah, daß ein grauer Hase klebengeblieben war. Da nahm er ihn und brachte ihn in den Keller. Dann ging er das Messer wetzen. Din, din, din machte das Messer. Das höDa rtenfragte die Tiere. der Wolf: „Warum wetzt du das Messer, Großväterchen?“ „Ich will dich schlachten und einen Pelz aus deinem Fell machen!“ Da bat der Wolf den Großvater, ihn wieder freizulassen. Er bat so lange, bis der Alte ihn schließlich laufen ließ. Aber ich habe ganz vergessen, liebe Mädchen1, euch zu sagen, daß der Wolf dem Alten versprach, es ihm zu lohnen. Nun begann der Alte wieder das Messer zu wetzen. Da fragte ihn der Fuchs: „Wen willst du schlachten, Großväterchen?“ Da sagte der Alte: „Ich schlachte dich und mache aus deinem Fell einen schönen Kragen.“ „Schlachte mich nicht, Großväterchen, ich werde es dir lohnen!“ sagte der Fuchs. Da ließ ihn der Alte frei.
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Das Märchen wurde aufgezeichnet, als der Erzähler es acht- bis neunjährigen Dorfmädchen erzählte. (L. B.)
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So blieb also nur noch der graue Hase übrig. Auch er bat den Alten, ihn freizulassen. Und auch er versprach ihm, es ihm zu lohnen. Da ließ der Alte ihn frei. Ich weiß nicht, wieviel Zeit vergangen war, liebe Mädchen. Eines Tages klopfte jemand ans Tor. Der Alte stieg vom Ofen und öffnete das Tor. Draußen stand der Bär und hatte so viele Pferde und Kühe mitgebracht, daß man sie gar nicht zählen konnte. Der Alte bedankte sich bei ihm und begann nun mit seiner Frau ein gutes Leben. Aber trotzdem dachte er: „Die anderen Tiere haben mich anscheinend doch betrogen.“ Eines Tages hörte der Alte wieder jemanden an das Tor klopfen. Er öffnete es und erblickte den Wolf. Der hatte ihm so viele Widder und Schafe gebracht, daß man sie gar nicht zählen konnte. Der Alte bedankte sich bei ihm und konnte nun mit seiner Frau noch besser leben. Wieviel Zeit seitdem nun noch verging, weiß ich nicht, ich weiß nur, meine lieben Mädchen, daß wieder einmal jemand ans Tor klopfte. Der Alte öffnete das Tor und erblickte den Fuchs, und bei ihm waren so viele Hühner und Enten, daß man sie nicht zählen konnte. Nun gut, der Alte bedankte sich auch bei dem Fuchs und führte mit seiner Alten ein gutes Leben. Nur der graue Hase wußte nicht, wie er dem Alten danken sollte. Er überlegte und überlegte, bis ihm schließlich etwas einfiel. Wenn er auch nur wenig Verstand hatte, fiel ihm doch etwas ein.
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Er lief auf die Chaussee und sah ein Fuhrwerk, auf dem Mädchen saßen, eines immer schöner als das andere. Als sie den Hasen erblickten, machten sie gleich Jagd auf ihn. Er aber lief gar nicht fort. Die Mädchen fingen ihn und nahmen ihn nach Hause mit. Das war am Nikolaustag, meine lieben Mädchen. Sie hängten dem Hasen Halsketten um und schmückten ihn mit Korallen und Bändern. Der Hase saß friedlich da und rührte sich nicht, aber als jemand die Tür öffnete, da machte er hops und war fort. So kam er zu dem Alten, gab ihm die Halsketten, die Bänder und die Korallen und lief wieder in den Wald. Der Alte aber lebte mit seiner Frau glücklich und zufrieden, und sie hatten keine Not. Sie lebten besser als die anderen im Dorf. Sie beteten zu Gott, und Gott schickte ihnen einen Sohn, der hat mir dieses Märchen erzählt.
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98 Der Löwe und das Pferd Ein Mann hatte ein ganz altes Pferd, und einmal, als er vom Eggen kam, spannte er das Pferd aus, jagte es in den Sumpf und schrie: „Geh zum Teufel! Verrecke!“ Da sagte das Pferd: „Lieber Herr, habe ich mir nicht ein stählernes Hufeisen verdient? Warum verjagst du mich denn?“ Als der Mann das hörte, nahm er Stahl, führte das Pferd zur Schmiede, ließ es vom Schmied mit stählernen Hufeisen beschlagen und jagte das Pferd dann in den Sumpf. Da das Pferd hungrig war, fraß es Gras. Als es gerade so fraß, kam ein Löwe vorbei. Als dieser sah, daß das Pferd ihn nicht grüßte, ging er zu ihm und sagte: „Na, du alter kranker Gaul! Ich bin doch der Löwe, warum grüßt du mich nicht?“ Da sagte das Pferd: „Seid nicht wütend, bester König, ich habe von Kindheit an für meinen Herrn gearbeitet und gearbeitet, und jetzt, wo ich alt bin, hat er mich verjagt. Ich aber war hungrig, habe Gras gefressen und nicht gesehen, daß Ihr vorbeigekommen seid.“ Da sagte der Löwe: „Ach du alter kranker Gaul, sieh mal, was ich kann!“ Bei diesen Worten ergriff er einen Stein, drückte ihn mit seinen Pranken zusammen, und da floß Wasser heraus. 761
„Es ist keine Kunst, Wasser aus einem Stein herauszudrücken, denn bekanntlich fallen Regen und Schnee auf den Stein. Aber Feuer aus dem Stein zu holen, das ist schon eine Kunst“, sagte das Pferd. Da schämte sich der Löwe und sagte: „Wenn du Feuer aus dem Stein holst, dann schenke ich dir das Leben.“ Da begann das Pferd mit dem Hufeisen gegen den Stein zu schlagen, daß die Funken stoben. Der Löwe sagte: „Wenn ich Wasser aus dem Stein drücken konnte, dann werde ich auch Feuer herausholen können.“ „Na, das wollen wir erst mal stehen“, sagte das Pferd. Der Löwe begann mit seinen Pranken an den Stein zu schlagen. Er schlug und schlug, bis er sich die Krallen abgebrochen und die Pranken wund gestoßen hatte, aber es kam und kam kein Feuer. Da hörte er auf zu schlagen und sagte: „Ich dachte, daß niemand auf der Welt stärker sei als ich. Aber du bist stärker als ich. Jetzt sollst du König sein!“ Er schämte sich und ging davon. Er ging und ging, da sah er einen Wolf sitzen. Als ihn dieser erblickte, heulte er zur Begrüßung. Der Löwe ging zu ihm und sagte: „Du brauchst mich nicht zu grüßen. Grüß den alten Gaul, der durch das Moor geht und Gras frißt, denn er hat mir den Königstitel genommen!“ „Wer konnte dir denn den Königstitel nehmen?“ fragte der Wolf. 762
„Wer? Das Pferd!“ Der Wolf lachte und sagte: „Ich habe in meinem Leben schon mehr als tausend solchen Königen den Garaus gemacht. Zeigt ihn mir, bester König, ich will ihn gleich zur Strecke bringen!“ Da sagte der Löwe: „Ach, du Dummkopf, du wirst schon bei seinem Anblick umkommen, so schrecklich ist er.“ Der Löwe machte ein, zwei Sprünge, und als er sich umblickte und sah, daß der Wolf weit hinter ihm zurückgeblieben war, kam er wieder zurück und sagte: „Du kommst doch nicht so schnell mit. Ich werde dich hintragen.“ Er packte ihn mit der Pranke am Hals und trug ihn fort. Er trug ihn auf einen Berg, von dem aus man das Pferd sehen konnte. Als er stehenblieb und den Wolf anblickte, sah er dessen Kopf hin und her baumeln, denn er hatte ihn erwürgt beim Tragen. „Ich habe dir ja gleich gesagt, du Dummkopf, wenn du ihn erblickst, wirst du vor Angst umkommen!“ sagte der Löwe. Damit warf er den Wolf gegen einen Stein und lief davon. Er lief und lief, trat auf einen Igel und stach sich in die Pranke. Da sagte er: „Ich bin schon durch die ganze Welt gekommen, und nirgends habe ich mich in die Pranke gestochen. Aber in diesem verfluchten Lande habe ich immerzu Unglück!“ Dann sah er sich genauer an, woran er sich gestochen hatte, und sah einen Igel liegen. „Komm Kleiner, wir wollen um die Wette rennen! Wenn 763
ich dich überhole, bringe ich dich um, aber wenn wir zusammen ankommen, will ich dich leben lassen.“ Sie maßen aus, bis wohin sie laufen wollten, und liefen dann gemeinsam los. Der Igel hielt sich am Schwanz des Löwen fest. Der Löwe begann zu laufen. Er tat ein, zwei Sprünge, kam zu der festgelegten Stelle und sah sich um, wo der Igel geblieben war. Da sagte der Igel hinter ihm: „Schau nur nach hinten, allerbester König, ich warte hier schon lange auf dich!“ Da verfluchte der Löwe dieses Land und ging nach Frankreich. Jetzt gibt es in Frankreich Löwen, und hier gibt es keine mehr.
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99 Die Rache des Spechtes Ein Specht hatte sich einmal ein Nest gebaut, hatte Eier gelegt und Junge ausgebrütet, drei kleine Spechtkinder. Da freute er sich und dachte: „Ich werde meine Kinder großziehen und meine Freude daran haben, und im Alter werden sie mich unterstützen.“ Aber nicht umsonst sagen die Leute: „Den Specht erkennt man an seiner langen Nase.“ Er konnte sich nicht für sich allein freuen, sondern posaunte im ganzen Walde aus, daß Gott ihm Kinder geschenkt habe. Alle Vögel, die er traf, lud er zum Feiern ein. Die Gäste kamen und feierten. Sie feierten so sehr, daß sie sich kaum noch nach Hause schleppen konnten. Nachher ging die Kunde von der großen Feier beim Specht durch den ganzen Wald. Auch der Fuchs hörte davon. „Warte nur, du Flegel“, sagte er zu sich selbst, „du hast mich nicht zur Feier eingeladen, dafür werde ich dir einen Denkzettel verpassen!“ Der Specht zog seine Kinder groß, gab ihnen zu essen und zu trinken, der Fuchs aber lief um das Nest herum, fletschte die Zähne und überlegte, wie er die Spechtkinder aus der Welt schaffen könne. Da kam ihm ein Gedanke. Er ging zu dem Baum, auf dem das Nest war, und klopfte mit dem Schwanz an den Baum.
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„Was machst du da, Fuchs?“ fragte ihn der Specht. „Warum erschreckst du meine Kinder?“ „Was, du hast Kinder?“ sagte der Fuchs. „Das habe ich ja gar nicht gewußt. Jag sie aus dem Nest, denn ich brauche diesen Baum als Brennholz!“ „Ach lieber Fuchs, ach Gevatterchen!“ flehte der Specht ihn an, „laß mich meine Kinder erst großziehen, dann kannst du den Baum fällen.“ „Ich kann nicht warten!“ sagte der Fuchs. „Ist es denn meine Schuld, daß du hier dein Nest gebaut hast? Hattest du denn nicht andere Bäume genug?“ „Das stimmt, es gibt noch andere Bäume“, sagte der Specht. „Aber wer konnte denn wissen, daß du gerade diesen Baum fällen willst?“ „Dann hättest du eben fragen sollen“, sagte der Fuchs. „Du hast doch eine Zunge. Du bist selbst schuld und kannst dich bei niemandem beklagen.“ „Was soll ich denn tun, Gevatter? Gib mir einen Rat!“ bat ihn der arme Specht. „Du bittest um Rat? Dann höre meinen Rat: Behalt deine Kinder nicht bei dir, sonst verwöhnst du sie, und sie werden faul. Gib sie lieber irgendwo in die Lehre, da kommen sie zu etwas, lernen arbeiten und werden Leute. Sie werden dir dafür dankbar sein und dich achten, wenn du alt bist.“ „Vielleicht hast du recht“, sagte der Specht. „Aber ich kenne keine Leute, zu denen ich meine Kinder in die Lehre geben könnte.“ „Gib sie mir“, sagte der Fuchs, „ich werde dir helfen! Ich gebe deine Kinder in die Lehre.“ 766
„Dank dir, Gevatter, daß du mir aus der Not hilfst! Ich werde dir ewig dankbar sein.“ „Bedanken kannst du dich nachher“, sagte der Fuchs, „jetzt wirf mir erst deine Kinder herunter!“ Der Specht warf ein Junges hinunter, der Fuchs packte es, lief ins Gebüsch und fraß es auf. Er leckte sich das Maul, ging wieder zu dem Specht und sagte: „Ich habe dein Kind zu einem Schmied in die Lehre gegeben, das ist eine einträgliche Arbeit. Wirf mir nun das nächste herunter!“ Der Specht warf auch das zweite Junge hinunter, der Fuchs packte es, trug es ins Gebüsch und fraß es auf. Dann ging er zu dem Specht zurück und sagte: „Ich habe dein Kind zu einem Tischler in die Lehre gegeben, das ist die richtige Arbeit für einen Specht. Da wird es immer sein Brot haben. Wirf mir das dritte herunter, ich gebe es zu einem Böttcher! Spechte können auch Böttcher werden.“ Der Specht warf auch sein drittes Kind hinunter und bedankte sich beim Fuchs, daß er sich so um seine Kinder kümmerte. Der Fuchs fraß das dritte Spechtkind ebenso wie die beiden ersten auf. Dann kam er wieder zu dem Specht und sagte: „Wirf mir das nächste herunter, wenn noch eines da ist!“ „Es waren schon alle“, sagte der Specht. „Wenn es alle waren, dann kannst du mich am Hintern lecken! Ich habe deine Kinder alle aufgefressen. Du hättest nicht so prahlen sollen.“ Als der Specht das hörte, begann er zu weinen und erhob ein Mordsgeschrei. Er trauerte um sei767
ne Kinder und war wütend, weil ihn der Fuchs noch obendrein verhöhnt hatte. Wenn er die Kraft dazu gehabt hätte, hätte er den Schurken in Stücke gerissen. Aber Gott hat dem Specht keine Kraft gegeben. Der Fuchs verhöhnte ihn und fletschte die Zähne. Wem habe ich denn Böses getan, dachte der Specht, daß der Fuchs meine Kinder getötet und mir übel mitgespielt hat? Dafür werde ich auch jemandem einen Streich spielen. Dann wird man auch an mich denken. So machte sich der Specht auf die Suche nach jemandem, an dem er seine Wut auslassen konnte. Während des Fluges sah er einen Bauern fahren, der etwas in einem Faß transportierte. An dem werde ich meine Wut auslassen, dieser Bauer soll mir alles büßen! Der Bauer hatte Wagenschmiere in seinem Faß. Die wollte er verkaufen und für den Erlös Salz kaufen. Der Specht setzte sich auf das Faß und hackte mit dem Schnabel darauf. Der Bauer bemerkte ihn und befürchtete, daß die Wagenschmiere herausfließen könnte. Er nahm das Beil, das er am Gürtel trug, und schlug mit dem Beilrücken zu, traf aber nicht den Specht, sondern das Faß. Da zerbrach das Faß. Dem Bauern war der Schaden kaum bewußt geworden, da sah er den Specht auf der Stirn des Pferdes sitzen und hacken. Er holte mit dem Beil aus und wollte den Specht erschlagen, schlug aber dem Pferd auf die Stirn, so daß es tot umfiel. Der Specht aber flog davon. 768
Da weinte der Bauer und sagte: „Das Faß habe ich entzweigeschlagen, die Wagenschmiere ist herausgelaufen, mein Pferd habe ich erschlagen, und das alles wegen des verfluchten Spechtes. Wenn ich ihn erwische, soll er an mich denken!“ Der Specht aber flog in die Hütte des Bauern. Die Bauersfrau rührte gerade Brotteig ein und schaukelte mit dem Fuß ihr Kind. Der Specht setzte sich in die Wiege und hackte dem Kind auf die Stirn. Es begann zu weinen, und die Frau wurde darauf aufmerksam, daß der Specht auf das Kind einhackte. „Verrecken sollst du!“ schrie sie und schlug – klatsch – mit der Kelle, traf aber nicht den Specht, sondern das Kind und erschlug es. Da packte sie die Wut, sie stürzte sich auf den Specht, um ihn zu fangen. Es gelang ihr auch, und sie sperrte ihn in einen Topf. Dann überlegte sie, wie sie ihn umbringen sollte. Inzwischen kam ihr Mann und weinte. „Warum weinst du?“ fragte die Frau. „So und so“, erzählte er ihr. „Ich habe zwar unser Kind erschlagen, habe aber den verfluchten Specht gefangen“, sagte die Frau zu ihrem Mann. „Zeig ihn mir, ich esse ihn lebendig auf!“ sagte der Mann. Er nahm den Topf hoch und nahm den Specht in die Hände: „Ich fresse dich, du Scheusal!“ sagte er und öffnete den Mund. Schwupp, flog ihm der Specht in den Mund und kroch von dort aus in den Magen. Dort rumorte er dann. Der Bauer wußte nicht, was er machen sollte. Der Bauch tat ihm weh, denn der Specht hackte gegen den Magen. Er konnte aber auch nicht austre769
ten gehen, denn der Specht hackte ihn in den Hintern. Er wußte nicht, wie er sich von ihm befreien sollte. Da sagte er zu seiner Frau: „Komm her, Alte! Nimm die Sense zur Hand, und sowie der Specht seinen Kopf zeigt, schlägst du mit der Sense zu.“ Die Alte nahm die Sense und paßte auf. Der Specht zeigte zwar den Kopf, zog ihn aber schnell wieder zurück, als wollte er sie foppen. Dann steckte er doch noch einmal den Schnabel heraus, und die Alte schlug schnell mit der Sense zu. „Auuuu!“ schrie der Mann, denn sie hatte ihm den Hintern abgehauen. Der Specht aber flog lustig davon.
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100 Der katholische Fuchs Ein Fuchs fand einmal ein gebratenes Stück Rindfleisch in einer Falle, rührte aber das Fleisch nicht an, sondern ging weiter. Da traf er einen Bären. „Ach, lieber Gevatter, hast du heute schon gefrühstückt?“ fragte der Fuchs. „Nein, Gevatter“, sagte der Bär, „ich hatte noch keine Gelegenheit.“ „Komm, ich bringe dich zu einem Ort, wo du ein herrliches Frühstück bekommst. Ich hätte es gern selbst gegessen, aber heute ist Freitag, und ich darf kein Fleisch essen. Ich bin nämlich katholisch.“ „Hab Dank, Gevatter, laß uns gehen!“ sagte der Bär. So führte der Fuchs den Bären zur Falle. Der Bär schob die Schnauze an das Fleisch heran, die Falle schlug zu, und er streckte den Kopf in die Höhe. Da nahm der Fuchs das Fleisch und fraß es auf. Der Bär aber sagte: „Ach, lieber Gevatter, heute ist doch Freitag!“ „Ach, lieber Gevatter, sollen die fasten, die immer nach oben schauen!“
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101 Der Schafbock und der Wolf In irgendeinem Zarenreiche, in irgendeinem Staate, und zwar gerade in dem Land, in dem wir wohnen, bei der Stadt Paris, hier ganz in der Nähe, weidete einmal ein Schäfer seine Schafe auf dem Felde. Da blieb ein Schafbock zurück, und ein Wolf stürzte sich auf ihn, um ihn zu fressen. Als der Schafbock sah, daß er dem Tod nicht mehr entrinnen konnte, bat er den Wolf: „Nein, zerreiß mich nicht, grauer Wolf! Dann gebe ich dir für immer dein täglich Brot. Wir haben schon sieben Jahre lang keinen Verwalter mehr. Du kannst seine Stelle einnehmen.“ Der Wolf war damit einverstanden und sagte: „Dann komm, Bruder, und zeig mir diese Stelle!“ „Komm mit!“ sagte der Schafbock. Er führte ihn zu einer Tenne, in der mit sechs Dreschflegeln gedroschen wurde. Der Schafbock lief hinein, und der Wolf folgte ihm. Als die Bauern sahen, daß ein Wolf dem Schafbock durch die Tenne nachlief, warteten sie, bis der Schafbock wieder draußen war, schlossen dann das Tor und jagten den Wolf mit den Dreschflegeln durch die Tenne. Der Wolf rannte hin und her und konnte nur mit Mühe lebend entkommen. Nachdem er ungefähr fünfundzwanzig Kilometer weit gelaufen war, blieb er sitzen, ließ den Kopf hängen und 772
dachte: In den sieben Jahren, in denen kein Verwalter da war, sind die Leute ganz schön außer Rand und Band geraten. Dann sagte er: „Der Teufel soll euch holen, bei euch werde ich nicht Verwalter!“
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102 Wie der Wolf und der Hund einen Prozeß führten Ein Mann besaß einmal einen ganz alten Hund. Der war schon so alt, daß er nicht einmal mehr bellen konnte. Da mochte ihn der Mann nicht mehr und gab ihm nichts zu fressen. Der Hund sagte sich von seinem Herrn los und lief davon. Als er so lief und weinte, begegnete ihm der Wolf und fragte: „Warum weinst du?“ „Wie sollte ich nicht weinen? Mein Herr mag mich nicht mehr und gibt mir nichts zu fressen, weil ich alt geworden bin und nicht mehr bellen kann.“ „Weshalb geht’s dir nicht gut? Früher, als du noch jung warst, hast du mich nicht an das Haus herangelassen. Da mochte dich dein Herr gern.“ „Was soll ich schon tun? Es ist eben jetzt so auf der Welt, daß man sich an die Alten nicht mehr erinnert.“ „Ich will dir helfen! Wenn die Frauen dieses Herrn aufs Feld gehen, legen sie das Kind in die Wiege. Dann werde ich es mir schnappen und damit in den Wald laufen. Du aber läufst mir nach, und ich gebe dir das Kind.“ Die Frauen gingen aufs Feld und legten das Kind in die Wiege. Der Wolf schlich sich heran, packte das Kind und lief damit in den Wald. Die 774
erschrockenen Frauen standen da und weinten. Da kam plötzlich der alte Hund herbei und lief dem Wolf nach. Er nahm ihm das Kind ab und brachte es den Frauen. Die Mutter des Kindes freute sich und gab dem Hund gleich Milch und Brot. Die Frauen gingen nach Hause und erzählten, was geschehen war. Da nahm der Mann den Hund wieder zu sich. Er nahm ihn zwar, gab ihm aber trotzdem wenig zu essen. Der Hund wurde ganz schwach vor Hunger und konnte seine Beine nicht mehr heben. Er ging in die Badestube und legte sich ruhig dort hin. Da kam der Wolf und sagte: „Guten Tag, wie geht es dir? Geht es dir immer noch nicht gut?“ „Wie sollte es mir gut gehen? Ich kann meine Beine kaum noch heben. Mein Herr feiert heute Hochzeit, ich Armer aber muß vor Hunger verrekken.“ „Stimmt es wirklich, daß heute Hochzeit ist?“ „Ehrenwort, es stimmt!“ „Komm mit zur Hochzeit, da werden wir aber leben!“ „Ich habe Angst davor, geschlagen zu werden.“ „Ach wo, laß uns gehen!“ „Wie kommen wir denn in das Haus, wenn die Türen geschlossen sind?“ „Jetzt sind ja doch alle betrunken, da stehen die Türen sicher sperrangelweit offen. Zwäng dich vorsichtig zwischen den Beinen der Leute hindurch und stoß mit dem Schwanz den Leuchter herunter. Dann komme ich herein, und wir lassen
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es uns gut gehen. Du wirst Plinsen und Kuchen essen und ich Fleisch und Knochen.“ Der Hund ließ sich von dem Wolf überreden, und sie gingen los. Der Hund zwängte sich zwischen den Beinen der Leute hindurch, stieß den Leuchter mit dem Schwanz herunter, und der Wolf kam herein. Sie setzten sich beide nieder, der Hund unter dem Tisch und der Wolf in einer Ecke unter der Bank. Die betrunkenen Leute saßen am Tisch und ließen versehentlich ganze Stücke Kuchen, Plinsen und Fleisch herabfallen, die der Hund und der Wolf aufsammeln konnten. Der Hund fraß Plinsen und Kuchen, und der Wolf fraß Fleisch und Knochen. Als sie sich sattgefressen hatten, sagte der Wolf: „Wie wäre es, wenn wir jetzt etwas trinken würden?“ Der Hund kroch unter eine Bank und fand dort eine Flasche mit Branntwein. Der Wolf sagte zu ihm: „Bring sie hierher! Wir trinken jeder ein Glas, dann wird’s lustiger!“ Der Hund gehorchte, brachte die Flasche herbei und trank einen Schluck. Dann saßen sie zusammen, schwatzten miteinander, tranken Branntwein und bekamen schließlich einen Schwips. Da sagte der Wolf: „Weißt du, was für ein Gedanke mir gekommen ist, Bruder?“ „Was denn für einer?“ „Ich habe gedacht, wir sollten jetzt singen!“ „Nein, singe hier nicht, sonst ergeht’s dir schlecht!“ „Nein, ich halte es nicht mehr aus, ich muß singen!“ 776
Der Hund gab nach und sagte: „Na, dann fang an zu singen!“ „Nein, fang du an, meine Stimme ist tiefer!“ „Nein, fang du an!“ Lange stritten sie sich herum, aber schließlich konnte der Hund doch den Wolf überreden. Der Wolf begann zu singen, heulte vor sich hin, und der Hund fiel ein: Wu, wu, wu! Auch die Leute sangen, aber trotzdem hörten sie den Wolf und den Hund, erschraken und schrien: „Hier sind sie, hier sind sie!“ Ein jeder nahm, was ihm gerade in die Hände fiel, der eine einen Feuerhaken, der andere eine Forke und der dritte einen Stampfer, und schlug damit auf den Wolf und den Hund ein. Mit Mühe und Not konnten die beiden entkommen. Sie liefen zurück in die Badestube und legten sich schlafen. Als sie ausgeschlafen hatten, beklagte sich der Hund beim Wolf: „Ach, wie mir mein Kopf wehtut!“ „Das macht nichts, das geht vorüber. Nach einem Rausch hat man immer Kopfschmerzen.“ Schließlich verabschiedete sich der Wolf vom Hund. „Was willst du denn jetzt machen?“ fragte er den Hund. „Das weiß ich selbst nicht. Wenn mir jemand Leder brächte, dann könnte ich vielleicht Stiefel nähen.“ „Gut, ich bringe dir Leder. Mach mir Stiefel daraus! Was für Leder brauchst du denn?“
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„Bringe mir Leder einer jungen Kuh, dann nähe ich dir die Stiefel!“ Der Wolf lief los und holte eine halbe Kuh. „Wann kann ich die Stiefel abholen?“ „Ungefähr in drei Tagen.“ Der Hund fraß die halbe Kuh in drei Tagen auf. Dann kam der Wolf und fragte: „Na, was ist, sind die Stiefel fertig?“ „Fertig sind sie schon. Du müßtest mir aber noch einen großen Hammel bringen. Dann kann ich die Stiefel wie für Edelleute inwendig mit Schafleder füttern.“ Der Wolf ging los und holte einen Hammel. „Wann sind denn nun die Stiefel fertig?“ „In ungefähr zwei Tagen.“ Der Wolf ging weg, und der Hund verspeiste den Hammel. Nach zwei Tagen kam der Wolf wieder und sagte: „Gib mir die Stiefel!“ „Ja, weißt du, Bruder, als ich die Stiefel genäht hatte, habe ich sie auf einen Haken gehängt, um sie dir zu geben. Dann bin ich ein Viertel Branntwein trinken gegangen, und als ich zurückkam, hatte sie jemand gestohlen.“ Da sagte der Wolf: „Das verzeihe ich dir nicht. Ich werde dich verklagen.“ Der Hund war einverstanden, und der Wolf sagte: „Besorg dir Zeugen und komm an dem und dem Tag zu den drei Eichen auf dem Berg, dort findet der Prozeß statt!“ Dann trennten sie sich. Der Wolf nahm einen Bären und ein Wildschwein als Zeugen, und der 778
Hund bat Denis’ Hund, für ihn zu zeugen. Der sagte aber zu ihm: „Mein Herr drischt heute, da muß ich die Schober bewachen. Geh zu Rygors Hund!“ Er ging hin, aber Rygors Hund sagte: „Geh zu Martins Hündin! Sie hinkt und ist immer ohne Arbeit. Die kommt bestimmt mit.“ Er ging hin und bat die Hündin. Sie kam mit. Dann holte er noch einen Kater und einen Hahn, und sie gingen zusammen zum Gericht. Der Bär war auf die Eiche geklettert, um nach dem Hund auszuschauen. Da sah er dessen Zeugen kommen. Der Kater hielt den Schwanz in die Höhe, der Hahn krähte, und die hinkende Hündin machte immer tap, tap, tap. Da erschrak der Bär und sagte zu dem Wolf und dem Wildschwein: „Seht nur, was er für Zeugen hat: Der eine schreit, der zweite trägt eine Lanze, und der dritte sammelt schon Steine. Wenn die über uns kommen!“ Sie versteckten sich schnell. Der Bär kletterte noch höher auf den Baum, das Wildschwein grub sich im Moos ein und ließ nur das Schwänzchen sehen, und der Wolf lief ins Moor unter einen Busch. Als der Hund mit seinen Zeugen ankam, war niemand da. Sie setzten sich hin und warteten. Da wackelte das Wildschwein, das unter dem Moos lag, mit dem Schwanz. Der Kater aber dachte, daß sich dort eine Maus bewegte, und packte schnell zu. Da fuhr das Wildschwein zusammen, sprang auf und rannte davon. Der Kater sprang vor Schreck auf die Eiche, da dachte der Bär, daß es ihm an den Kragen gehen sollte. Er sprang von der Eiche 779
herunter, genau auf den Wolf. Da liefen alle auseinander, und der Prozeß fand nicht statt.
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103 Wie sich einem Hund die Augen röteten und die Schwanzhaare sträubten Ein Wolf begegnete einem Hund und sagte: „Ich fresse dich!“ „Warum willst du mich denn fressen, ich bin doch so dürre?“ Da sagte der Wolf: „Komm zu mir in die Lehre, da wirst du satt! Komm mit!“ Der Wolf führte den Hund aufs Feld, wo eine große Stute angebunden war. Da fing er an, mit den Pfoten die Erde aufzuwühlen. Er fragte den Hund: „Sind meine Augen rot, und ist mein Schwanz dick?“ Der Hund antwortete: „Sie sind rot, und dein Schwanz ist auch dick.“ Da sprang der Wolf der Stute an die Kehle und erwürgte sie. Dann sagte er zu dem Hund: „Friß die Stute, dann wirst du satt!“ und ließ den Hund allein auf dem Felde zurück. Der Hund fraß die Stute und dachte bei sich: Jetzt kann ich auch ohne den Wolf Pferde erwürgen. Und er überredete den Kater, zu ihm in die Lehre zu kommen. Er sagte zu ihm: „Komm mit, und du kannst dich genauso sattessen wie ich!“ Hund und Kater gingen hinter die Tenne, wo ein Hengst angebunden war. Der Hund fing an, mit den Pfoten die Erde aufzuwühlen, und fragte dann 781
den Kater: „Sind meine Augen rot, und ist mein Schwanz dick?“ Da sagte der Kater: „Nein!“ Da wühlte der Hund wieder mit den Krallen in der Erde herum. Aber auch das zweite und das dritte Mal sagte der Kater: „Nein, nein!“ Da sagte der Hund: „Du verstehst auch gar nichts!“ Als der Hund nun mit den Zähnen nach dem Bein des Hengstes schnappte, da schlug ihm der Hengst mit dem Huf an den Kopf und tötete ihn so. Da kam der Kater zu dam Hund und sagte: „Ja, jetzt sind deine Augen rot, und dein Schwanz ist dick!“
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104 Wie der Teufel den Wolf erschuf Nach der Erschaffung der Welt machte der Teufel den Wolf aus Holz. Er war aber so groß wie ein Pferd. Er brachte ihn zu Gott und fragte: „Ist er so gut?“ „Aber nein, er ist viel zu groß!“ Der Teufel hobelte und hobelte wieder, und nun war der Wolf so groß wie ein großes Fohlen. Dann brachte er ihn zu Gott. Gott aber sagte: „Er ist noch zu groß.“ Da hobelte er weiter und hobelte ihn gerade so richtig. Er brachte ihn zu Gott, und Gott sagte: „Jetzt ist er gut.“ Da schrie der Teufel: „Beiße Gott, Wolf!“ Gott aber sagte: „Beiß den Teufel, Wolf!“ Der Wolf stürzte sich auf den Teufel, aber dieser stand nicht mehr da, wo er gestanden hatte. Er war auf eine Erle geklettert und hatte sich dabei die Haut abgeschürft. Wenn man jetzt die Rinde von einer Erle abmacht, wird der Baum rot. Das ist des Teufels Blut.
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105 Wie Gott die Gutsherren erschuf Als Gott die Gutsherren aus Mehlteig und die Bauern aus Lehm erschaffen hatte, legte er sie zum Trocknen hin und ging zum Mittagessen. Inzwischen aber kam ein Hund, ein ganz einfacher Hofköter, schnüffelte an einem Bauern herum, benäßte ihn, kratzte noch an ihm herum und ging dann zu den Gutsherren, die fraß er ganz auf. Er wollte sich gerade die Schnauze lecken, als der liebe Gott kam. Wie der sah, was geschehen war, ergriff er den Hund beim Schwanz und schüttelte ihn. Da purzelten die Gutsherren aus dem Hund heraus und liefen fort, immer der Nase nach, und Gott nannte sie nach dem Ort, an dem sie stehenblieben. Der Gutsherr, der unter der Birke stehengeblieben war, wurde Herr Birkemeier genannt; der unter der Eiche, Herr Eichmann; der unter der Erle, Herr Erler; der am Berg, Herr Bergmann. Wer am Sumpf oder am Fluß stehengeblieben war, hieß nun Herr Sumpfmann oder Herr Flußmann. Als Gott alle herausgeschüttelt und ihnen Namen gegeben hatte, warf er den Hund auf die Erde und sagte: „Geh jetzt, du niederträchtiger Kerl, und diene bis ans Ende der Welt nur den Bauern, weil du einen besudelt hast, und hungere! Von den Guts784
herren nimmt dich keiner, weil du sie einmal gefressen hast. Sie werden Hunde aus dem Ausland haben, die bekommen Hühnerfleisch und Bonbons zu fressen und werden auf Federbetten schlafen. Du aber wirst zusehen, wie der Bauer Brotrinde ißt, und hungrig auf dem Misthaufen schlafen.“
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106 Wie Gott den Popen Langhaar1 erschuf Einmal wollte Gott aus einem Menschen einen Löwen machen. Er hatte schon den zottigen Kopf mit den langen Haaren und großen Zähnen fertig, da fiel ihm plötzlich ein, daß der Mensch nur zwei Beine hat. Woher sollte er noch die anderen zwei nehmen? Er überlegte und überlegte, doch dann sagte er: „Nun, dann wirst du eben weder Löwe noch Mensch, sondern ein Pope!“
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Die Popen der orthodoxen Kirche tragen lange Haare, daher der spöttische Ausdruck „Pope Langhaar“. (L. B.)
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107 Der Teufel und der Mond Es geschah zu der Zeit, als die Welt erschaffen wurde. Gott hatte Himmel und Erde geschaffen und die helle Sonne aufgestellt, damit sie am Tag leuchtet und die Erde, die Tiere und die Pflanzen wärmt. Sie beleuchtete, wärmte und erfreute alle Lebewesen. Der Teufel hatte sich vor der Sonne unter der Erde im Fegefeuer verkrochen und lugte vorsichtig hervor. Schließlich wurde die Sonne müde und ging unter, um sich ein wenig ausruhen. Da wurde es auf der Erde dunkel, so dunkel, daß man sich ein Auge hätte ausstechen können. Als der Teufel sah, daß es auf der Erde dunkel geworden war, kroch er aus dem Fegefeuer und riß alles nieder, was Gott geschaffen hatte. Er ging durch den Wald, stürzte die Bäume um, scharrte vor Wut mit den Füßen in der Erde, grub Löcher und schüttete Berge auf. Wasser lief in die Gruben, es entstanden Vertiefungen, Schluchten und ein Morast, den niemand überqueren konnte. Da fand er in einem Baum etwas Klebriges. Die Bienen hatten Honig für die Menschen und Wachs zum Ruhme Gottes gesammelt. Da spuckte er in den Baum, und es kamen Hornissen und Wespen heraus. Sie stachen ihn und schwirrten vor seinen Augen herum. Er ergriff eine Handvoll Zweige, 787
streifte die Blätter ab und schlug um sich, um die Hornissen und Wespen loszuwerden. Er schlug sie mit der Rute in kleine Stücke, da entstanden aus ihnen Schnaken, Mücken und allerlei Ungeziefer. Die stachen den Teufel, daß ihm das Fell schwoll. Er wehrte sich, so gut es ging, sprang auf ein Feld und warf mit Sand um sich. Als der Sand auf die Erde fiel, wuchs allerlei Unkraut darauf. So übersäte er die ganze Erde mit diesem widerlichen Zeug, konnte aber das Ungeziefer nicht loswerden. Da versteckte er sich schließlich im Wasser und schuf sich dort einen Unterschlupf. Das Ungeziefer flog ihm nach, flog über dem Wasser hin und her, konnte ihn aber nicht erreichen. So besudelte der Teufel das Wasser, bis die Menschen ihn verjagten. Als Gott sah, was der garstige Kerl angerichtet hatte, tat es ihm leid, daß er nur eine Sonne geschaffen hatte, die nicht immer am Himmel stehen konnte. Er schuf den Mond zu ihrer Unterstützung, er sollte in der Nacht scheinen. Als der Teufel dies sah, dachte er: Wart nur, ich werde ihn abnagen und vom Himmel herunterholen! Der Teufel flog zum Mond, kämpfte mit ihm und nagte ihn mit den Zähnen an. Er nagte und nagte, bis nur noch ein kleines Stück übrigblieb. Der Mond sah, daß er mit dem Teufel nicht allein fertig würde, und ging immer näher zur Sonne hin, damit sie ihn vor dem Teufel schütze. Als der Teufel das letzte Stück auffressen wollte, war der Mond bei der Sonne angelangt. Der Teufel, der das Sonnenlicht nicht vertrug, lief davon. Dann 788
blies die Sonne den Mond an, erwärmte ihn mit ihrem Licht, er erholte sich allmählich, wuchs wieder und ging auf seinen Platz zurück, um in der Nacht zu scheinen. Daher kommt es, daß der Mond immer zwei Wochen lang wächst und Kraft schöpft und zwei Wochen lang mit dem Teufel kämpft.
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108 Das Teufelsmoor Seht nur, welch ein Dickicht, welch ein Morast! Man kann eine ganze Woche lang gehen und kommt doch nicht bis ans Ende. Vor langer Zeit war hier einmal nur reines Wasser, und alles blitzte und blinkte in der Sonne wie Glas. Da fuhr Gott in einem Kahn über das Wasser und sah sich um, wo er die Erde machen könnte. So fuhr er in dem Kahn umher und merkte sich vor, was er wie und wo einrichten wollte. Der Teufel bemerkte den Kahn und schwamm ihm nach. Er schwamm an den Kahn heran, tauchte aber vor Schreck gleich wieder wie ein Taucher unter das Wasser und schwamm weiter. Aber er wollte doch gern wissen, was Gott vorhatte. Gott sah zwar, daß ihm der Teufel wie ein Gespenst folgte, schwieg aber. Dann säte Gott die Erde. Er warf eine Handvoll Erde auf das Wasser, da teilte es sich, und es trat die trockene Erde mit Wäldern, Feldern und Wiesen hervor. Als der Teufel dies sah, wunderte er sich darüber, woher das alles kam. Gott fuhr dahin und warf von seinem Boot aus den Samen aus wie aus einem Sätuch. Als der Teufel das sah, dachte er: Das wäre etwas, wenn ich diesen Samen bekommen könnte! Dann würde ich alles besser einrichten als Gott, ich würde alles so einrichten, daß selbst Luzifer neidisch ist. Gott erriet 790
die Gedanken des Teufels und gestattete ihm, etwas von dem Samen zu nehmen. Er wendete das Boot schnell und fuhr den Teufel an. Der Teufel krümmte sich, wollte tauchen, blieb aber mit dem Schwanz hängen und drehte sich nun im Wasser herum wie eine Kaulquappe. Da wendete Gott wiederum, und der Kahn fuhr nun neben dem Teufel her. Der Teufel krümmte sich, weil er von Gottes Kahn in die Seite gestoßen worden war, ergriff aber schnell eine Handvoll Samen aus dem Kahn, und, damit Gott das nicht sehen und ihm den Samen nicht wieder wegnehmen konnte, stopfte er ihn schnell in den Mund und schluckte ihn hinunter. Gott tat, als habe er nichts bemerkt, und fuhr weiter. Da freute sich der Teufel und schwamm schnell fort. Auf einmal bemerkte er, daß sein Bauch wie Hefe aufging und so stark schwoll, daß die Seiten auseinandergingen. Der Bauch schwoll immer mehr und mehr, bis der Teufel nicht mehr atmen konnte. Da spie er den ganzen Samen aus, und überall, wo er hinspie, entstanden Baumstümpfe und Weidenbüsche. Der Teufel schleppte sich durch das Wasser und spie so heftig, daß es ihm fast den Magen heraushob. So wurden es immer mehr Weidenruten auf dem Wasser, immer mehr und mehr. Dem Teufel war furchtbar übel, er wollte den ganzen Samen aus dem Bauch heraushaben, und so lief er wie eine Spinne auf dem Wasser hin und her und spuckte. Nach einiger Zeit war das ganze Wasser mit Weiden bedeckt. Der Teufel hielt sich an einer Rute fest und rülpste so 791
stark, daß alle Samen aus dem Bauch ins Wasser fielen und dort allerlei garstiges Unkraut entstand. So besudelte der Teufel das reine Wasser und machte es zu einem garstigen Teufelsmoor. Als Gott sah, was der Teufel angerichtet hatte, griff er sich an den Kopf. Was sollte er da tun, was sollte er nur anfangen? Wie sollte er die Weiden wegbringen? Denn wo eine Weide wächst, ist sie nicht herauszukriegen. Da schickte Gott die Sonne, um die Teufelsweiden zu verbrennen. Die Sonne brannte hernieder, sie erwärmte das Wasser, aber die Weiden – als wäre nichts gewesen – wuchsen nur noch besser. So verbreiteten sie sich im ganzen Moor. Als die Sonne sah, daß sie nichts ausrichten konnte, hörte sie auf zu scheinen und ging zu Gott, um sich zu beschweren. Da befahl Gott dem Frost, die garstigen Büsche auszurotten. Der Frost machte sich an die Arbeit, knisterte und klirrte, ließ das Wasser gefrieren, aber die Weiden trotzten ihm wie Faschinen und warteten auf den Frühling. Was der Frost auch immer tat, wie er die Weiden auch immer bedrängte und frieren ließ, er erschöpfte nur seine Kräfte. Da ging er zu Gott und beschwerte sich. Gott überlegte und überlegte und befahl schließlich, daß man die Weiden weiterwachsen lassen sollte, denn es ist ja bekannt, daß im Kampf gegen das Schlechte auch das Gute meist mit umkommt! So wuchsen die Weiden und bedeckten nicht nur das Moor, sondern auch die Felder. Als der 792
Mensch die vielen Weiden sah, dachte er bei sich: Sollte man denn nicht auch aus der Weide irgend etwas Nützliches machen können? Da ging der Mensch in das Teufelsmoor, zog von der Weide die Rinde ab, machte Stricke daraus und sang ein Lied dabei. Als der Teufel dies sah, erschrak er. Er trat zu dem Menschen und fragte: „Was machst du da, Mensch?“ „Du hast wohl keine Augen, um es zu sehen?“ antwortete der Mensch. „Sehen kann ich schon gut, aber ich weiß nicht, warum du das machst.“ „Komm, ich zeige es dir!“ Der Mensch packte den Teufel und band ihn an eine dicke Eiche. „So“, sagte er, „jetzt werde ich dich verschneiden.“ Da erschrak der Teufel und riß an den Stricken, bis er die Eiche mitsamt den Wurzeln herausgerissen hatte und mit ihr fortlief. Er lief über das Moor, und die Eiche schlug mit ihren Wurzeln und Ästen auf die Erde, so daß lauter Schluchten und tiefe Gräben entstanden. Der Mensch aber saß auf den Wurzeln der Eiche und schrie dem Teufel zu: „Links entlang, rechts entlang!“ Der Teufel lief und lief und grub dabei das ganze Moor um. Und seitdem gibt es bis heute im Moor Hohlwege, kleine Seen und Wasserlöcher. Lange lief der Teufel so umher, bis er sich von den Stricken befreit hatte; und als er sich dann davonmachte, da wußte er, wohin.
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Der Mensch blieb zurück und machte sich das Teufelsmoor zunutze. Er rupfte die Weide, stellte Schuhe aus dem Bast her, beseitigte das Gestrüpp, baute mitten im Wald Häuser und pflügte das Feld. Aber bis heute kommt er mit den Teufelsstümpfen nicht zurecht. Wenn er einen rodet, entstehen zehn neue. Und so ist das Teufelsmoor bis zum heutigen Tage ein Teufelsmoor.
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109 Woher das Böse auf der Welt kommt Überall, wohin man jetzt sieht, ist das Böse auf der Welt. Man erzählt, daß einmal bei einem Herrn ein Tagelöhner gedient hat, der mußte immer den Mühlstein mit der Hand drehen. Wie er so mahlte und mahlte, kam es ihm vor, als ob der Mühlstein sagte: „Woanders ist es besser, woanders ist es besser!“ Der Tagelöhner hörte das, ging von seinem Herrn fort, dorthin, wo es besser war. So verdingte er sich bei einem anderen Herrn. Aber auch dort mußte er das Getreide mahlen und mit der Hand den Mühlstein drehen. Er mahlte und mahlte und lauschte, was der Mühlstein sagen würde. Da hörte er, wie die Mühle voller Unruhe klapperte: „So wie hier, ist es auch dort! So wie hier, ist es auch dort!“ Da ging der Tagelöhner auch von diesem Herrn fort und suchte eine bessere Stelle. Aber soviel er auch umherwanderte, überall mußte er den Mühlstein mit der Hand drehen, und immer sagte der Mühlstein: „So wie hier, ist es auch dort! So wie hier, ist es auch dort!“ „Also geht es allen Tagelöhnern auf der Welt schlecht“, sagte der Tagelöhner.
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Das hörte sein Herr, er nickte mit dem Kopf und sagte: „Wahrscheinlich geht es allen auf der Welt schlecht.“ Und nun will ich euch erzählen, wie das Böse in die Welt gekommen ist. Wenn ich die Wahrheit sage, dann merkt sie euch, aber wenn ich Unwahres sage, dann stört mich nicht und entschuldigt es, denn wenn es alt wird, wird es auch zur Wahrheit. Vor langen, langen Zeiten lebten einmal Menschen, die nichts Böses kannten. Die Welt ist groß, und überall ging es ihnen gut. Wie sie arbeiteten, so lebten sie auch. Es gab damals weder Gutsherren noch Bauern, die Menschen lebten so dahin, lebten, rühmten Gott und kümmerten sich um nichts. Gott lebte aber damals noch auf der Erde und kam zu den Menschen wie ihr Bruder. Er lehrte sie, wie sie auf der Welt leben sollen, wie sie Kinder kriegen, sie großziehen und die Erde damit füllen sollen. Es gab weder Böses noch Gutes auf Erden. Die Menschen blühten wie die Blumen. Sie lebten wie die Vögel unter dem Himmel und wie die Fische im Wasser. Sie lebten so dahin und kannten weder Glück noch Not. Aber was ist das schon für ein Leben? So lebt auch das Getier im Walde, so leben auch die Bäume. Gott sah dies alles und lehrte die Menschen, sich Nahrung zu verschaffen, sich Kleidung anzufertigen, sich vor dem Unwetter zu schützen und Fische, Tiere und Vögel zu fangen. Da erkannten die Leute, daß derjenige, dem Gott
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Verstand gegeben hatte, alles erreichen konnte, was er wollte. „Ja, wir sind auch jemand“, sagten die Menschen, „was wir wollen, das tun wir auch. Wir sind auch wie die Götter. Gott hat uns nur deshalb nicht so viel Kraft und Stärke gegeben, weil er Angst hat, daß wir die Erde beherrschen und ihn selbst vom Himmel herunterholen könnten. Da ging Gott von den stolzen Menschen fort, zurück in den Himmel. Die Engel aber baten ihn, die Menschen nicht zugrunde zu richten. Gott sagte ihnen, daß er den Menschen die Macht über die Erde geben würde, die Macht über alles, was auf Erden wächst. Über jegliches Getier, was im Walde, auf den Feldern, in den Sümpfen, auf der Erde und unter der Erde lebt; über die Vögel, die unter dem Himmelszelt dahinfliegen, und über die Fische, die sich frei im Wasser bewegen. Die Menschen würden die Macht über alles haben, was es in der Erde und auf der Erde gibt, aber es würde ihnen nur so lange gutgehen, wie sie nicht Macht übereinander haben wollten. Wenn sie einander beherrschen wollten, würden sie auch das Gute und das Böse kennenlernen. Dann sollte es ihnen so lange schlechtgehen, wie die einen Menschen Macht über die anderen haben würden. Gott gab den Menschen aber auch den Verstand, selbst zu erkennen, woher das Böse auf der Welt kommt, und dieser Verstand wird den Menschen auch den Weg zeigen, das Böse zu besiegen, friedlich miteinander zu leben und die Natur zu beherrschen zum Nutzen aller Menschen. 797
Die Engel baten Gott, sie auf die Erde zu schikken, damit sie den Menschen dienen und sie vor dem Bösen bewahren könnten. Gott erlaubte den Engeln, die Menschen zu beschützen, und der hellen Sonne befahl er, den Menschen Licht zu bringen, damit sie davon Verstand bekämen, jenen großen Verstand, der mächtiger ist als alles andere auf der Welt. Die Engel bedankten sich bei Gott und flogen zur Erde, um die Menschen zu beschützen. In der Zeit aber, in der die Engel mit Gott gesprochen hatten, hatte auch der Teufel nicht geschlafen. Als er sah, daß sich Gott von den Menschen zurückgezogen und die Erde verlassen hatte, hetzte er die stärkeren Menschen auf, die schwächeren unter ihre Macht zu bringen. Da nahmen die Stärkeren den Schwächeren alles weg, ließen sie für sich arbeiten und behandelten sie wie ihr Eigentum. So machte der Teufel die Stärkeren und Listigeren zu Gutsherren und gab ihnen die Macht über alle schwächeren Menschen, und zu der Zeit ist das Böse auf die Welt gekommen, ist so viel Böses gekommen, daß man es gar nicht sagen kann. Die Gutsherren jagten die Menschen wie Tiere, quälten und verhöhnten sie, als seien es keine Menschen, sondern Vieh. Die Engel kamen herbeigeflogen, flogen hierhin und dorthin und wollten die Menschen überreden, den Gutsherren nicht zu gehorchen. Aber was half das schon? Es wurde nur noch schlimmer. Die Gutsherren hatten die Macht über die Erde, quäl-
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ten die Menschen mit Hunger, schlugen und töteten sie und hetzten einen auf den anderen. Die Engel sagten, daß Gott im Himmel sei, daß er alles höre und sehe und daß er die Gutsherren für das Leid, was sie bringen, bestrafen würde. Als die Gutsherren das hörten, sagten sie: „Ach, was erzählt ihr uns da! Ihr habt dort im Himmel gesessen und wißt nichts von dem, was hier auf der Erde vor sich geht. Der Bauer kann doch gar nicht ohne Gutsherrn leben. Er schlägt sich und rauft sich. Man muß immer mit der Knute neben ihm stehen und dazu noch hinter dem Gehöft eine Fuhre Ruten bereithalten, denn dem Bauern juckt das Fell ohne Knute. Er wühlt wie ein Schwein, frißt sich voll, kriecht in den Dreck und denkt, er sei ein Fürst. Der Bauer kann ohne Anleitung gar nicht leben, denn er will nur das haben, was sein Herr hat, und ist zum Arbeiten zu faul. Er kann vor Hunger umkommen und wird doch faul auf der Seite liegen bleiben. Ein Elend wäre es, wenn der Bauer die Freiheit bekäme. Er würde die Welt umkrempeln und nur Not zurücklassen.“ Als die Engel das gehört hatten, flogen sie zu Gott, um sich zu beschweren. Inzwischen herrschten die Gutsherren weiter und hätten keine Not kennengelernt, wenn sie nicht inzwischen angefangen hätten, sich gegenseitig aufzufressen. Die Gutsherren rauften sich und schlugen einander, und die Bauern mußten alles ausbaden. Da schickte Gott die Engel auf die Erde, um den Teufel zu bekämpfen, und die heiligen Propheten schickte er, um die Menschen zu 799
belehren. Aber weder die Engel noch die Propheten konnten etwas ausrichten, denn sie kämpften nur mit Worten. Das Böse aber kann man nur mit dem Eichenknüppel beseitigen. Sie verkündeten Gottes Wort, aber die Gutsherren lachten nur aus vollem Halse darüber und strichen sich über die Bäuche. So müssen die Bauern bis heute arbeiten und leiden. Sie haben kein Brot und sterben vor Hunger, denn die Gutsherren nehmen ihnen alles weg. Die Gutsherren aber herrschen, arbeiten nicht und denken sich nur Böses aus, sie haben des Teufels Macht hinter sich. Es gibt für die Bauern keinen Ausweg aus diesem Leben, es gleicht einem Steinhaufen, in dem die oben liegenden schweren Steine die kleinen darunter zu Sand zerrieben haben. Die oberen Steine werden wieder von noch größeren gedrückt, die darauf liegen, und auf diesen liegen noch schwerere und drükken nach unten. Zuoberst jedoch liegt ein ganz großer Stein. Ebenso bedrückte das Böse seit undenklichen Zeiten die Menschen wie die großen Steine den Steinhaufen. Der Haufen kracht schließlich, zerdrückt die kleineren Steine, zerreibt sie zu Sand, sinkt immer tiefer ein und verschwindet dann in der Erde. Vielleicht aber wird die Spitze bald erschüttert, und der ganze Haufen fällt auseinander. So ist es auch im Leben. Den armen Menschen geht es immer schlechter, denn das Volk vermehrt sich, aber die Welt wird nicht größer.
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Für die Armen ist die Erde zu eng, alles Schöne haben die Starken an sich gerissen und halten es wie Wölfe mit den Zähnen fest. Die Menschen bringen einander um und fressen sich gegenseitig auf, sie sind schlimmer als die Tiere und wissen nicht, daß einer allein keine Kraft hat, daß er wie ein Wurm, wie ein Grashalm auf dem Felde ist. Der Wind kommt, verweht alles und macht es dem Erdboden gleich. So gehen die Menschen dahin, als wären sie nie geboren. Der Mensch ist nur dann stark, wenn er nicht allein ist, sondern mit den anderen Menschen in Frieden und Eintracht lebt. Und was können die Menschen alles schaffen, wenn sie sich gemeinsam, wie ein Mann, ans Werk machen! Aber all das wußten die Menschen noch nicht, sie wußten nicht, wie man auf der Welt leben muß, damit es allen gut geht. Jeder dachte nur an sich selbst, jeder raffte nur zusammen, soviel er konnte, jeder betrachtete die anderen als Feinde, und jeder war des anderen Feind. So vergeudeten die Menschen all ihre Kräfte dazu, ihre Feinde, die doch ebensolche Menschen waren wie sie, zu besiegen. Sie bekriegten und vernichteten sich seit undenklichen Zeiten. So ist das Böse auf der Welt entstanden. Aber schließlich wird doch Gottes Wille geschehen. Denn der klare Verstand kam auf die Welt und begann zu wachsen. Er wuchs nur langsam, weil jeder Mensch in seinem ganzen Leben nur wenige Körnchen dazu beitragen konnte. 801
Aber wenn die Menschen sterben, werden neue geboren. Sie leben ein Menschenalter lang und machen dann den Platz für andere frei. Auch diese bringen Kinder zur Welt und sterben wieder. So kommen und gehen die Menschen wie das Wasser in einem Fluß. Der Verstand aber wächst immer weiter und kommt, wenn auch nur langsam, zu Kräften. Er wird schließlich, hell wie die Sonne, den Leuten in die Augen scheinen. Dann werden sie wissen, woher das Böse auf der Welt kommt, werden die Wahrheit erkennen und sich wie ein Mann erheben, werden das widerliche Pack verjagen und auf Erden wie im Paradies leben. Wir werden das nicht mehr erleben, aber vielleicht unsere Kinder und Enkelkinder.
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110 Der Flug zur Sonne Ein Königssohn wollte einmal erfahren, was auf der Sonne vor sich geht. Also fing er sich einen gewaltigen Vogel, steckte Speckgrieben an einen Bratspieß und setzte sich auf diesen Vogel. Er hielt dem Vogel den Bratspieß mit den Speckgrieben vor, der Vogel wollte sie greifen und flog so immer höher und höher. So flogen sie drei Tage an drei Nächte und waren auch schon ziemlich nahe an die Sonne herangekommen, da brachen dem Vogel die Federn, und es verbrannten ihm die Flügel. Er fiel zusammen mit dem Königssohn wieder auf die Erde zurück. So erblickte der Königssohn die Sonne doch nicht, sondern schlug sich nur tüchtig die Knochen wund.
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111 Wie die Recken ausstarben Die alten Leute erzählen, daß die Menschen früher stärker als die Bären waren. Ja, nicht nur stärker als die Bären, sondern überhaupt ganz unbesiegbar waren die ältesten Recken. Sie hatten Teufelsrippen und einen Reif darum, daher rührte ihre ungeheure Kraft. Aber wie man richtig sagt: Wenn Gott dem Schwein Hörner gegeben hätte, würde es die Welt aus den Angeln heben. So war es auch bei diesen Recken. Als sie sich ihrer Kraft bewußt wurden, fingen sie an sich zu raufen, setzten alles aufs Spiel und drohten sogar dem lieben Gott. Darum nahm ihnen Gott den Verstand, und nun fingen sie an mit dem Kopf gegen die Felsen zu rennen. Die Recken rannten wie die Schafe mit der Stirn gegen den Stein, daß das Gehirn nur so spritzte, fielen dann wie leere Schläuche auf die Erde, wackelten noch ein wenig mit den Beinen und gaben ihren Geist auf. So starben alle Recken aus.
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112 Der blaue Brunnen Vor langer, langer Zeit lebten einmal bei Propoisk zwei Recken, Stepan und Marko, und die Reckenfrau Katharina. Beide Recken hatten sich in sie verliebt. Ihr aber gefiel nicht Marko, der stärkere, sondern der schwächere von beiden. Als es nun soweit war, daß sie sich für einen von beiden entscheiden mußte, denn sie warben schon lange um sie, wußte sie nicht, was sie tun sollte. Heirate ich Stepan, dachte sie bei sich, erschlägt ihn Marko, heirate ich aber Marko, so tut mir Stepan leid. Sie überlegte und überlegte, und endlich fiel ihr etwas ein. „Hört zu“, sagte sie, „ich gebe jedem von euch einen Stein. Wer ihn am weitesten wirft, den heirate ich.“ Ihrem Liebling gab sie einen kleineren Stein, so groß wie ein Tisch, und dem anderen, den sie nicht liebte, gab sie einen Stein, so groß wie ein Bauernofen. So warfen sie nun ihre Steine von Propoisk aus über den Sosh. Sie nahmen einen gewaltigen Anlauf und warfen ihre Steine über neun Werst weit. Dann schaute sie nach, wer am weitesten geworfen hatte. Die Reckenfrau sah den Stein ihres Geliebten liegen und stellte sich darauf, noch heute kann man ihre Fußspuren sehen. Als sie aber Markos Stein, an dem auch noch die 805
Fingerabdrücke des Recken zu sehen sind, fünfzig Sashen weiter liegen sah, sagte sie: „Ehe ich den nehme, den ich nicht liebe, gehe ich lieber ins Wasser!“ Als sie vom Stein herabsprang, trat das Wasser über die Ufer, und überall, wo es versickerte, entstanden tiefe Löcher. Ungefähr fünf Werst hinter Propoisk, in der Nähe des Sosh, tritt es wieder hervor. Dort sprudelt es mannshoch aus der Erde und ist ganz blau. Daher heißt es auch „Blauer Brunnen“.
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113 Dnepr und Sosh Es war einmal ein Vater, der hatte zwei Söhne. Der Vater hieß Newisnej, der ältere Sohn Sosh und der jüngere, der wie ein Stiefkind behandelt wurde, Dnepr. Da sagte der Vater zum Sosh: „Komm morgen zu mir, Söhnchen! Ich werde dich segnen, bevor du auf Wanderschaft gehst.“ Das hörte auch der Dnepr. Er stand am anderen Morgen auf, zog sich einen haarigen Handschuh über und ging zum Vater. Der Vater war blind, und Soshs Hand war haarig. Dnepr gab dem Vater die Hand und sagte: „Segne mich Vater, ich gehe auf die Reise!“ Da segnete ihn der Vater und sagte: „Geh durch die schönen Bezirke, Söhnchen, an Wiesen und Städten vorbei!“ Sosh war gerade nicht zu Hause. Am nächsten Tag kam er auch und sagte: „Segne mich, Väterchen!“ Da sagte der Vater: „Ich habe dich doch gestern schon gesegnet!“ „Nein, das war ich nicht. Da mußt du den Dnepr gesegnet haben.“ Da segnete ihn der Alte auch und sagte: „Geh du durch das Moos und die Sümpfe, vielleicht holst du ihn ein, bevor er ins Meer fließt. Wenn du ihn abfängst, gehört dir sein Segen.“ 807
Da lief der Sosh durch das Moos und die Sümpfe, um den Dnepr einzufangen und sich anzueignen. Der Dnepr war aber bereits ins Meer geflossen. Er war zwar ins Meer geflossen, wollte ihm aber nicht dienen. Er wollte in ein anderes Meer weiterfließen. Wo gibt es denn das? Da flog ein Rabe über das Meer, und der Dnepr sagte zu dem Raben: „Rabe, Rabe! Ich werfe dir alles zu, was in mir versinkt, paß du nur auf, daß ich nicht im Meer auseinanderfließe, sondern hier hindurch in ein anderes Meer gelange. Sowie ich das Meer durchquert habe, krächze du! Dann kann ich meines Weges gehen.“ Der Rabe sagte „Gut!“ und flog dem Dnepr nach übers Meer. Da kam auf einmal ein Geier und fiel über ihn her. Der Rabe schrie, und der Dnepr dachte, daß er das Meer schon durchquert hätte, und lief in der Mitte des Meeres auseinander. So fließt der Dnepr durch Wiesen und Städte und der Sosh durch Moos und Sümpfe.
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114 Kusma und Demjan Es waren einmal zwei Schmiede, Kusma und Demjan. Damals lebte auch ein Drache, der Menschen fraß. Er kam auch zu den beiden und wollte sie fressen. Da sagten sie zueinander: „Wir wollen uns einen eisernen Pflug bauen!“ Sie bauten den Pflug und sagten zu dem Drachen: „Wenn du drei von diesen Trögen durchleckst, dann setzen wir uns auf deine Zunge, und du kannst uns fressen.“ Er leckte einmal, zweimal, dreimal und leckte sich durch die drei Tröge hindurch. Da packten die beiden Schmiede schnell mit einer Zange seine Zunge. Der eine schlug ihm einen Nagel in den Kopf, und der andere spannte ihn vor den Pflug. Als er eingespannt war, pflügten sie mit ihm den ganzen Wald um, pflügten die Felder, pflügten alles und gaben ihm nicht eher zu trinken, als bis sie zum Dnepr vorgedrungen waren. Als sie am Dnepr angekommen waren, grub der Drache einen Graben und begann zu trinken und zu trinken, bis er sich totgetrunken hatte. Da machten auch die beiden Schmiede halt.
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115 Kyrill Koshemjak der Gerber In Kiew lebte einmal ein Fürst, der mußte jedes Jahr einem Drachen Tribut schicken, entweder einen jungen Burschen oder ein Mädchen. Schließlich kam auch die Reihe an die Tochter des Fürsten. Da konnte er nichts tun. So wie er die anderen Bürger der Stadt hingeschickt hatte, mußte er auch die Tochter opfern. So schickte er sie zum Drachen. Die Tochter aber war so hübsch, daß man es nicht beschreiben kann, und der Drache gewann sie lieb. Sie schmeichelte sich bei ihm ein und fragte ihn: „Gibt es auf der Welt einen Menschen, der dich besiegen könnte?“ „Ja“, sagte er, „es gibt einen in Kiew am Dnepr. Wenn er Feuer in seiner Hütte macht, steigt der Rauch bis zum Himmel. Und wenn er an den Dnepr geht, um seine Felle zu weichen, trägt er nicht nur eins, sondern gleich zwölf. Als sich die Felle einmal im Dnepr voll Wasser gesaugt hatten, hielt ich sie fest und wollte sehen, ob er sie herausziehen könnte. Er aber merkte es gar nicht und zog mich auch mit ans Ufer. Er ist der einzige, vor dem ich Angst habe.“ Die Fürstentochter merkte sich das und überlegte, wie sie einen Zettel zu ihrem Vater nach Hause schicken könnte. Aber bis auf eine Taube, 810
die sie voller Liebe großgezogen hatte, war keine Seele bei ihr. Nun schrieb sie an ihren Vater: „Also so und so, bei Euch, liebes Väterchen, in Kiew, lebt ein Mann namens Kyrill Koshemjak, mit dem Beinamen ‚der Gerber’. Laßt ihn durch alte Leute fragen, ob er nicht mit dem Drachen kämpfen und mich Arme aus der Gefangenschaft befreien will. Bittet ihn, liebes Väterchen, mit Worten und Geschenken, damit er sich nicht durch ein falsches Wort gekränkt fühlt! Ich werde für ihn und für Euch bis an mein Lebensende zu Gott beten.“ Das schrieb sie, band den Zettel der Taube unter den Flügel und ließ sie durchs Fenster davonfliegen. Die Taube stieg zum Himmel empor und flog nach Hause zum Fürstenhof. Da sahen die Kinder die Taube. „Väterchen, Väterchen!“ sagten sie. „Siehst du dort die Taube? Sie kommt von der Schwester.“ Der Fürst freute sich zuerst, aber dann überlegte und überlegte er und wurde schließlich traurig. Dieser Verfluchte hat sicherlich meine Tochter schon umgebracht, dachte er. Dann rief er die Taube zu sich und fand den Zettel unter ihrem Flügel. Er nahm ihn und las, was das Töchterchen geschrieben hatte. Dann rief er die ganze Obrigkeit zu sich, sie berieten miteinander und schickten die ältesten Leute zu Kyrill Koshemjak dem Gerber. Als sie zu seiner Hütte kamen und die Tür ein wenig öffneten, erschraken sie. Sie konnten es nicht fassen, daß Kyrill zwölf Felle mit bloßen Händen walkte. Als sich einer der Gesandten räusperte, erschrak Kyrill und zerriß die zwölf Fel811
le. Die Gesandten verneigten sich vor ihm und sagten: „Der Fürst hat uns mit einer Bitte zu dir geschickt.“ Er aber hörte gar nicht hin, weil er ihretwegen seine zwölf Felle verdorben hatte. Sie baten ihn vergeblich, gingen schließlich wieder fort und ließen die Köpfe hängen. Da schickte der Fürst kleine Kinder zu ihm. Als sie zu weinen begannen, konnte Kyrill nicht widerstehen, begann selbst zu weinen und sagte: „Für euch will ich es tun.“ Er ging zum Fürsten, holte zwölf Fässer Pech und zwölf Fuhren Hanf, umwickelte sich mit dem Hanf und tränkte ihn mit Pech. Dann nahm er eine zehn Pud schwere Keule und ging los, um mit dem Drachen zu kämpfen. Sie schlugen und schlugen sich, und Kyrill erschlug den Drachen, befreite die Fürstentochter und brachte sie dem Fürsten zurück. Der Fürst wußte zuerst gar nicht, wie er ihm danken und womit er ihn beschenken sollte. Aber seit der Zeit heißt der Ort, in dem er wohnte, Koshemjaki!
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116 Wie der Recke Merkuri Smolensk vor dem Einfall des Feindes rettete 1 Merkuri war ein Gerber. Er war so stark, daß er einmal aus Versehen beim Walken vierzig Felle zerriß. Als die Litauer vor Smolensk standen, schwang er sich aufs Pferd und kämpfte gegen das ganze Heer. Dabei wurde ihm der Kopf abgeschlagen. Er aber ritt auf dem Pferd weiter und trug seinen Hitzkopf auf dem Spieß, mit dem er gekämpft hatte. Als er zum Molochow-Tor kam, brachte ihm die Reckenfrau vierzig Kübel Wasser entgegen und sagte: „Ach, Merkuri, du hast ja deinen Hitzkopf verloren!“ Da erst fiel Merkuri herab, und sein Kopf rollte auf die Erde. 2 Merkuris Pferd ist im Stadtwall eingemauert. Wenn es wiehert, erzittert die ganze Stadt.
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117 Das unsterbliche Lied An der Straße, die von Stschorssy über Negnewitschi nach Nowogrudok führt, auf der Hälfte des Weges zwischen Negnewitschi und Nowogrudok, steht ein moosbewachsenes, windschiefes Kreuz. Es steht dort als stummer Zeuge vergangener Zeiten. Die Jahre gehen vorüber, Leben verlöschen, das Kreuz aber steht, immer wieder von anderen Händen aufgerichtet, als wollte es den Menschen das erzählen, was nur noch im Gedächtnis der alten Leute lebt. Manchmal singt ein Bettelsänger, wie man ihn heute nur noch selten antrifft, ein Märchenlied aus vergangenen Zeiten: Dort, wo die Wolowka in den Njemen mündet, drei Werst von der Mündung oberhalb der Wolowka, stand einmal vor langen Zeiten ein Kloster auf einem Hügel. Jetzt befindet sich an dieser Stelle das große Dorf Lawruschowo, und an der Stelle, an der das Kloster stand, wurde eine Kirche für die Rechtgläubigen gebaut. Der Ort war damals noch sehr klein. Er bestand aus fünf, sechs verräucherten Hütten. Eine halbe Werst nördlich des Dorfes stand eine einsame, von einem Flechtzaun umgebene Hütte. Ringsherum erstreckte sich endloser Wald. In den Niederungen standen Birken und Erlen und auf den Hügeln Tannen und Nadel-
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bäume. Östlich des Njemen aber gab es undurchdringliche Wälder. In dieser entlegenen Hütte lebte eine Witwe mit ihren Kindern. Sie hatte neun Söhne, stark wie die Eichen in den Wäldern am Njemen. Außer diesen gutgewachsenen, starken Söhnen hatte die alte Frau eine hübsche Tochter. Die Mutter hatte sehr viele Freude an dem Anblick ihrer Söhne, die so stark wie Eichen waren. Der jüngste war gerade sechzehn Jahre alt geworden, aber er trug das Beil schon im Gürtel, spuckte in die Hände und zog allein auf die Bärenjagd. Als der Abend kam und der Sohn noch nicht zurück war, wurde die Mutter unruhig. Die Brüder aber lachten nur. „Hab keine Angst, Mutter!“ sagten sie. „Wenn unserem Mischa der Jagdspieß entzweigeht, bringt er den Bären lebendig nach Hause.“ Die Brüder rodeten ein Stück Wald und säten Getreide, die Halme standen wie Pfähle, dicht, hoch und ährenreich. Mit jedem Jahr wurde die Stelle größer, die sie gerodet hatten, immer mehr Getreide ernteten sie, und immer besser wurde das Leben in der Hütte. Da beschlossen die Brüder, eine neue Hütte zu bauen. Holz gab es genug, denn der Wald war ja nah. Auf ihren Schultern brachten sie das Holz aus dem Wald, und in vier Wochen stand anstelle der alten Hütte ein neues Haus, das nach Teer roch. Ein zugereister Kaufmann lehrte die Brüder, wie man einen Ofen aufstellt und einen Rauchabzug anbringt. Die Mutter hatte sehr viel Freude an dem Anblick ihrer Söhne, aber sie freute sich auch über 815
ihr Töchterchen. Zwölf Jahre war Marusja schon alt. Sie war schlank und groß wie eine Pappel, hatte einen blonden Zopf und ganz blaue Augen wie Kornblumen. Im Frühjahr ging Marusja zum Dorfrand, dort warteten schon drei, vier Freundinnen auf sie. Irgendwo in der Ferne, hinter dem dunklen Wald, ging die Sonne unter und schien alles mit Gold zu übergießen. Vom Süden kam schon warmer Wind. „Lauf fort, Winter, lauf fort, du böser! Erwache Weide und grüne! Erwache Weide und grüne! Und du Mädchen, besinne dich…“ erklang Marusjas Stimme, ihre Freundinnen fielen mit ein, und silbern stieg das Frühlingslied zum Himmel hinauf. Die Brüder liebten ihr Schwesterchen Marusja. So wuchs sie heran und war den Brüdern Glück und Freude. Als die Brüder an einem warmen Sommertag mittags vom Feld zurückkamen, sahen sie auf einem Erdhaufen vor der Hütte einen grauhaarigen alten Mann sitzen. Auf den Knien hatte er eine Gusli, deren Saiten er mit seinen dürren Fingern zupfte. Gelblich graue Haare bedeckten den Kragen seines weißen Bauernkittels. Die Brüder verneigten sich tief vor dem Alten und sagten nach alter Gewohnheit: „Gelobt sei Jesus Christus!“
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Die Mutter und die Schwester waren nicht zu Hause. Der jüngste Bruder breitete ein Tischtuch über den Tisch, legte ein Brot hin und ein Messer, stellte einen Krug Milch und einen Becher auf den Tisch, und wieder verneigten sich die Brüder tief und sagten: „Wir bitten dich, Großväterchen, teile Brot und Salz mit uns und ruhe dich aus!“ „Ich danke euch, meine Kinder, ich danke euch, ihr Falken!“ antwortete der Alte. „Möge Gott euch und allen euren Angehörigen Gesundheit geben.“ Als sich der alte Mann etwas gestärkt hatte, fragten ihn die Brüder, woher er komme, wo überall er gewesen sei und wohin er ginge. Da sagte der Alte: „Ich komme aus Neswish1, wandere mit meiner Gusli durch die Welt und verdiene mir mit Singen mein Brot. Ich wandere Tag und Nacht. Die Beine wollen mir schon nicht mehr dienen, und die Augen wollen Gottes Welt auch nicht mehr sehen, doch bis zu meinem Grabe werde ich schon noch kommen.“ Der Alte verstummte und ließ den Kopf hängen. Die Brüder standen im Halbkreis um ihn herum und sahen ihn an. Da fragte der Älteste: „Sag, Großväterchen, wo bist du geboren?“ „Wo ich geboren bin? Dort, lieber Falke, wo der Himmel noch blauer ist als hier und wo die Sonne noch heller scheint. Ich bin aus der Gegend von 1
Kleiner Ort, in dem sich das alte Schloß des Fürsten Radziwill befindet; heute Bezirkszentrum des Gebietes Baranowitschi. (L. B.)
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Konatop in der Ukraine. Schon lange wandere ich durch die Welt und singe meine Lieder. Ob die anderen es wollen oder nicht, ich singe von der Wahrheit und von der Lüge, singe von Freud und Leid. Doch gibt es auf der Welt mehr Leid als Freude…“ Der Alte schwieg ein Weilchen und fuhr dann fort: „Nun war ich also in Neswish. Man hat mich in das Fürstenschloß gerufen und mir befohlen, auf der Gusli zu spielen. Gusli und Lied gehorchen mir. Wenn ich will, klingt das Lied wie Nachtigallenschlag in den Zweigen, wie das Lachen eines glücklichen Mädchens und ergießt sich wie warmes Sonnenlicht über die weiten Steppen. Aber es kann auch ein bitteres Lachen sein, das mit Krallen nach den Herzen greift. Das Lied und die Gusli gehorchen mir.“ Die Brüder standen mit gesenkten Köpfen da und lauschten dem wunderlichen Alten. Da strichen die dünnen Finger des Alten über die Saiten, die Gusli erklang, und es schien den Brüdern, als sähen sie ein Bild aus vergangenen Zeiten: Ein Morgen im Frühling. Weit in der Ferne, hinter den Wäldern am Njemen, zeigte sich die Sonne und warf Händevoll Gold auf das Waldstück, das sie gerodet hatten. Wie ein Diamantenfeld glitzerte die Wiese, die sich hinter dem Zaun ihres Hauses nach Westen erstreckte, dorthin, wo die anderen Siedler lebten und sich über diesen klaren Frühlingstag freuten. Die Hände der Brüder schmerzten nicht mehr, und es machte ihnen 818
nichts mehr aus, daß sie schon vor Sonnenaufgang fünfunddreißig riesige Eichen auf ihrem Rodeplatz geschlagen hatten. Es schien ihnen, als sähen sie zwischen den Baumstümpfen ihr fünfjähriges Schwesterchen herumlaufen. Sie sah nach der Sonne, auf dem Köpfchen hatte sie einen Kranz aus Blumen, und das weiße Hemd aus Hanf wurde in der Taille von einem Sternengürtel zusammengehalten. „Brüderchen, kommt frühstücken!“ Sie lief herbei und sprang fröhlich lachend dem ältesten Bruder auf die Knie. Seine schwieligen Hände strichen zärtlich über das Köpfchen des Mädchens. Jahre waren seit diesem Frühlingsmorgen vergangen, Jahre schwerer, anstrengender Arbeit. Die Gusli sang und sang. Die Augen des Mädchens strahlten in wundervollem Blau. Die Gusli erzählte dann, daß es auf der Welt unendlich viel Leid gibt, daß unzählige Tränen auf der Welt vergossen wurden und noch vergossen werden. Aber sie sagte auch, daß die Zeit kommen würde, in der ein mächtiger Mensch geboren wird, der alle diese Tränen an einer Stelle zusammenträgt und jene darin ertränkt, die die Tränen verursachten. Durch die Trauer vieler Jahre hindurch zeichnet sich diese Zeit ab, aber man darf nicht mit den Händen im Schoß auf sie warten, sondern muß arbeiten, muß dazu beitragen, daß sie schneller kommt. Die Spinnen1, die im 1
Gemeint .sind die Fürsten Radziwill im Schloß von Neswish. (L B.)
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Schloß Neswish sitzen und Menschenblut trinken, sollen wissen, daß die Wahrheit auf der Welt nicht untergegangen ist und daß es Menschen gibt, die dafür einstehen. Voller Zorn ertönten die Saiten der Gusli, als sie von dem fernen, fernen hellen Tag sprach, der kommen wird. Dann verstummte die Gusli. Nein, sie verstummte nicht. Oder war es nur das Rauschen des Grases in der Steppe, der Nordwind, der über die Frühlingsblumen wehte? Oder weinte eine Mutter leise über das Schicksal ihres Sohnes? Nein, die Gusli ist es, die über das Schicksal des alten Mannes weint. Der Alte wird nicht mehr in seine Heimat zurückkehren. Er wird unterwegs irgendwo sterben, und es wird nicht einmal jemand da sein, der ihm die Augen zudrücken kann. Mit ihm werden auch seine Lieder sterben. Nein, seine Lieder werden nicht sterben! Sie sind unsterblich, weil sie den Menschen den Weg zum Glück und zu einem besseren Leben gewiesen haben. Viele Menschen hat das Lied des Alten aufgerufen, für die Freiheit und Wahrheit zu kämpfen. Auch die neun Brüder verließen ihre liebe Mutter, ihr liebes Schwesterchen, ihr Heim und ihren mit viel Liebe und Mühe erarbeiteten Besitz. Sie verließen alles und zogen dem Liede nach. Das Lied ist eine große Kraft. Das Lied, daß die neun Rekkenbrüder auf den dornigen Weg geführt hat, stirbt nicht.
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Die Brüder kämpften, es brannten die Güter der Herren, und die Feuersäulen waren die Rache für die Beleidigungen, die das Volk erlitten hatte. Sogar der Fürst Radziwill in Neswish zitterte, als er sein Schloß brennen sah. Und der alte Guslispieler? Auf halbem Wege zwischen Negnewitschi und Nowogrudok steht ein Kreuz… Mitleidige Hände haben sich gefunden, die dem alten Guslispieler die Augen zugedrückt haben.
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118 Warum Fürst Radziwill so viel Land besitzt Vor langer Zeit lebte in Neswish ein Fürst Radziwill, dem im Landkreis Sluzk viele Güter gehörten. Alle Gutsherren dienten ihm, denn er war ihr Lehnsherr. Er war immer freundlich zu den Menschen. Wenn er mit jemandem sprach, sagte er nach jedem Satz: „Mein Lieber, mein Lieber!“ Deshalb gab man ihm auch den Spitznamen „Mein Lieber“. Er war ein guter Fürst, aber er liebte das Sonderbare und machte gern seltsame Spaße. Die Zarin Katharina hörte, was für ein komischer Kauz der Fürst war. Sie war schon durch ihr ganzes Reich gereist und wollte nun auch ihn besuchen. Da schickte sie ihre Generäle zu ihm und ließ ihm ausrichten, daß sie zu ihm kommen wolle, aber warten müsse, bis die Wege nicht mehr so schlecht seien. Das war im Sommer. Da ließ der Fürst den Weg mit Zucker bestreuen und schickte der Zarin seinen Schlitten, vor den sechs Bären gespannt waren. Die Zarin Katharina aber fürchtete sich davor, mit den Bären zu fahren. Da kam ihr der Fürst auf einem Elch entgegengeritten. Als die Zarin Katharina das sah, setzte sie sich auf den Schlitten und fuhr mit den Bären über den Zucker wie auf Schnee zum Palast. 822
Als der Fürst sah, daß die Bären der Zarin gefielen, schenkte er sie ihr. Dafür schenkte sie ihm eine goldene Tabakdose mit einem Diamanten, der in der Nacht wie Feuer leuchtete. Der Fürst trug diese Tabakdose immer bei sich, und wenn er sie um Mitternacht aus der Tasche nahm, konnte sie ihm als Laterne dienen. Eines Tages kamen die Gutsherren zusammen und staunten über die Tabakdose, denn sie hatten so etwas noch nie gesehen. Das erfuhr der polnische König, und er befahl dem Fürsten, zu ihm zu kommen und ihm diese Tabakdose zu zeigen. Da ließ der Fürst acht Bären vor den Schlitten spannen, setzte sich in den Schlitten und fuhr zum König. Als er in Warschau angekommen war, fuhr er geradewegs zum König in den Palast. Die dummen Hofschranzen erschraken vor den Bären und liefen davon, und der König blieb allein zurück. Der Fürst zeigte ihm die Tabakdose, und der König mochte sie nicht mehr aus der Hand legen, weil sie ihm so gut gefiel. Da bat er den Fürsten, sie ihm zu schenken. „Nimm dir, was du willst“, sagte er, „aber gib mir die Dose!“ „Gut, Eure Königliche Hoheit, ich gebe Euch die Tabakdose. Gebt Ihr mir dafür so viel Land, wie ich in einer Woche umfahren kann!“ Damit war der König einverstanden. Der Fürst aber setzte sich in den Schlitten, und seine Bären rasten los. Er fuhr in einer Woche fast um das ganze Königreich herum und erhielt so das Land mit allen Menschen und Gütern. Deshalb hat der Fürst Radziwill so viel Land. 823
119 Aus den Erzählungen über Tadeusz Kościuszko 1 Kościuszko hätte die ganze Welt erobert, wenn die Gutsherren auf ihn gehört hätten. Aber die Gutsherren feierten nur prächtige Feste und hörten nicht auf Kościuszko. Deshalb ging Polen damals zugrunde. Man sagt, daß Kościuszko einen Mantel hatte, durch den keine Kugel drang. Einmal fielen Soldaten des Zaren unerwartet über ihn her, und er kam nicht mehr dazu, den Mantel anzuziehen. So wurde er verwundet und festgenommen. 2 Als man Kościuszko gefangen hatte, brachte man ihn gleich zum Zaren und befahl ihm, auf Rußland zu schwören. Er aber sagte: „Ich bin bereit, für das Land, auf dessen Erde ich stehe, zu sterben, und leiste ihm den Treueeid!“ Er hatte aber, bevor er aus Polen fortgefahren war, Erde in seine Stiefel getan. So hatte er auf diese Erde geschworen und hatte seine Heimat nicht verraten. So scharf war Kościuszko Verstand.
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120 Kosak Platon Im Jahre 1812 fiel der Franzose Napoleon über den russischen Zaren her. Wie eine dunkle Wolke jagte er seine Truppen über das Land, brannte die Dörfer und Städte nieder und tötete die Menschen. Da versteckten sich die Menschen in den Wäldern und Sümpfen, jagten all ihr Vieh dorthin und vergruben ihr Hab und Gut in der Erde. Die Franzosen verwüsteten das ganze Land und plünderten es aus, bis sie selbst vor Hunger umzukommen drohten. Da aßen die Elenden Hunde und Katzen, fingen Mäuse und Ratten, schossen Raben ab und aßen allerlei ekelhaftes Getier. Kaiser Napoleon selbst zog durch die Sümpfe und fing Frösche und Schildkröten, um sich bei Kräften zu halten, denn der Hunger ist kein guter Freund. Wen er in seine Fänge bekommt, der möchte sich am liebsten den eigenen Arm abnagen. So taumelten die hungrigen Franzosen wie kranke Fliegen hin und her und sammelten Schnecken und Käfer, um sich wenigstens mit diesem Viehzeug den Magen vollzuschlagen. Nach und nach kamen die Leute aus dem Walde zurück und töteten die Feinde. Einmal hatten sich irgendwo Franzosen in einer Hütte versammelt, um sich zu wärmen, da tauchte plötzlich Kosak Platon auf und zündete die Hüt825
te an allen Seiten an. Da wurden die Franzosen wie Kartoffeln auf heißen Kohlen gebraten und konnten nicht aus der Hütte heraus, denn er hatte Pfähle gegen die Tür gestellt. Platon wanderte kreuz und quer durchs Land, und die Franzosen konnten ihn nicht fangen. Da versprach Napoleon demjenigen ein großes Geschenk, der den Kosaken erkennt und sein Versteck verrät. Aber niemand konnte ihn verraten, denn er flog wie ein Adler, schwamm wie ein Hecht und rannte wie ein Windhund. So verkleidete er sich einmal als Kaufmann und fuhr zu Napoleon, um ihm Brot zu verkaufen. Napoleon empfing ihn und fragte: „Ach, du großer Kaufmann, du kommst überall hin auf der Welt, siehst alles und weißt alles, vielleicht hast du auch Platon irgendwo getroffen!“ „Warum soll ich es verheimlichen? Ich kenne ihn gut!“ Da regte sich Napoleon gleich auf und sah Platon an. Der Kosak aber war kein Dummkopf und zeigte ihm die Peitsche. Er holte mit der dreischwänzigen Peitsche heftig aus, und schon rollte die Krone auf die Erde. Platon aber sprang in den Sattel und rief: „Fang Platon doch!“ So ein Kosak war er, daß er den Franzosen im Gedächtnis blieb. Er ritt über die Felder, versetzte die Armee in Furcht und Schrecken, brannte ihre Hütten ab und stahl ihr die Kanonen. Er jagte Napoleons Armee in die Beresina und ließ sie ertrinken. 826
So blieb Napoleon, der ein Millionenheer nach Rußland mitgebracht hatte, allein zurück. Der Kosak ritt über die Felder und gab seinem Pferd freien Lauf. Das Getreide stand in vollen Ähren, und ein Kreuz blitzte hinter dem Berg. Die Sonne schien und wärmte, und der Schweiß lief Platon von der Stirn. Da nahm er die Mütze ab und pries Gott, weil er geholfen hatte, das französische Heer aus der Heimat zu vertreiben.
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121 Wie der Partisanengeneral Kowpak auf Kundschaft ging 1 Man erzählt, daß in den letzten Tagen des Monats Februar 1943 ein alter Mann in das Dörfchen Chrapkow im Bezirk Choiniki kam, um Pech zu verkaufen. Das Pech war sehr billig. Arme und Reiche kamen herbei, um es zu kaufen. Als sich viele Leute um den Schlitten versammelt hatten, holte der alte Mann ein Päckchen Flugblätter hervor, gab es den Leuten und sagte: „Liebe Leute, hört und lest, was euch der alte Kowpak zu sagen hat. Heute bin ich noch allein, aber in einer Woche werde ich ein Heer haben, und wir werden die faschistischen Okkupanten vertreiben!“ Der Kundschafter war General Kowpak selbst. 2 In einem kleinen Ort verkaufte ein unbekannter alter Manu Kreide. Als gegen Abend alle fortgegangen waren, schrieb der Alte an eine Hauswand: „Wer Kreide gekauft hat, hat auch den Partisanen Kowpak gesehen.“ Dann verschwand er in unbekannter Richtung.
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3 Eines Tages kam im Winter 1943 ein alter Mann mit einem Sack in eine Hütte. Er bat wie ein Bettler um ein Stück Brot und Salz. Brot gaben ihm die Leute, aber Salz hatten sie nicht. „Sollen sie verrecken wie die Hunde!“1 sagte die Frau. „Wartet nur ein Weilchen“, sagte der Alte, „bald bekommt ihr Salz!“ Dann verließ er die Hütte. Nach einigen Tagen stolperte der Besitzer der Hütte im Dunkeln über einen Sack. Er brachte den Sack in die Hütte, und es war Salz darin. Die Kowpak-Partisanen hatten es als Geschenk des Generals hingelegt.
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Gemeint sind die faschistischen Okkupanten. (Anm. d. Übers.)
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122 Sagen und Erzählungen über den Partisanen Saslonow 1 Bereits in den ersten Monaten der faschistischen Okkupation, als Saslonow auf der Station Orscha arbeitete, zeigte er den sowjetischen Flugzeugen den Weg. Er wurde von einem Gestapo-Mann beobachtet, der ihm überall auf den Fersen war. Einmal sagte Saslonow: „Ich gehe ins Bad!“ Da folgte ihm der Gestapo-Mann und stellte am Bad eine Wache von vierzig SS-Leuten auf. Im Bad verwandelte sich Saslonow in einen alten Mann, indem er sich einen Bart anklebte. Als er als Greis herauskam, erkannte ihn der Gestapo-Mann an den Augen. Saslonow hatte nämlich sehr lustige Augen. Der Faschist rannte auf ihn zu. Saslonow aber erschoß ihn und alle vierzig SS-Leute. Dann fuhr er durch die Dörfer Töpfe verkaufen, als wäre er ein Töpfer. In Wirklichkeit aber war er Kundschafter der Partisanen. Er sammelte Kampfgefährten um sich, ging in den Wald und begann Aktionen vorzubereiten und auszuführen.
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2 Nachdem Saslonow vor den Deutschen aus Orscha geflohen war, wanderte er durch Senno und Tolotschina und verkaufte Eimer. Eimer kosteten ungefähr anderthalb Pud Getreide, er aber verlangte zwei Pud, damit niemand sie kaufte. Er wollte ja nur einen Ort für die Partisanentätigkeit auskundschaften und wählte damals den Wald von Kupowatj. 3 Einmal kamen zwei Unbekannte in das Dorf Utrilowo, um Töpfe zu verkaufen. Da mußten sie bei meinem Bruder übernachten. Sie hatten Bastschuhe und Bauernröcke an, wie richtige Bauern. Als im Sommer 1942 die Partisaneneinheiten bei uns entstanden, traf ich auch diese Töpfer wieder. Einer von ihnen lachte und sagte: „Erinnern Sie sich noch an die Töpfer, die bei Ihnen übernachteten?“ Ich sah hin, es war Saslonow. 4 Saslonow konnte sich auf alle erdenklichen Arten tarnen. Einmal verwandelte er sich in einen alten Großvater, das andere Mal verkleidete er sich als Bettler. Dann ging er die feindliche Garnison erkunden, und kurze Zeit darauf konnte man hören, daß wieder Okkupanten vernichtet worden waren.
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Saslonow hatte seine Hand im Spiel gehabt. Als einmal unser Dorf Burbino von deutschen Soldaten umzingelt war, zog sich Saslonow als alter Großvater an, stellte sich krank und beschmierte sich mit Pech. Als die Soldaten in die Hütte kamen, nahmen sie ihn nicht fest. 5 Als Saslonow vor den Deutschen aus Orscha geflohen war, kam er im Dorf Kupowatj zu einer Hütte. Ein alter Mann kam heraus und fragte: „Wer bist du?“ Da antwortete Onkel Kostja11: „Ich kämpfe für das Volk und will den Feind aus dem Sowjetland vertreiben!“ Der Alte bekreuzigte sich, gab ihm ein Pferd und sagte: „Reite in den Wald, grabe dir eine Erdhütte und lebe dort so lange, bis noch andere zu dir kommen. Dann gehe kämpfen!“ Saslonow ging, und die Polizisten jagten ihm nach, konnten ihn aber nicht einholen. Deshalb gingen sie zu dem Alten und fragten: „Wer war das? Ein Anführer oder was sonst?“ Der Alte aber antwortete: „Das weiß ich nicht, das weiß ich nicht!“ Da nahmen sie den Ärmsten mit und hängten ihn auf.
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So wurde Konstantin Saslonow von Partisanen und Kolchosbauern genannt. (L. B.)
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Saslonow aber lebte in seiner Erdhütte und sammelte gleichgesinnte Kampfgefährten um sich. Es kamen ungefähr vierzig Mann zusammen. Mit ihnen gemeinsam zerstörte er viele Züge und brachte viele Feinde um. Wenn er die Partisanen in den Kampf führte, dann rief er: „Auf, Leute, laßt uns den Feind schlagen und vernichten!“ 6 Man sagt, daß Tschapajew 1919 im Fluß Ural ertrunken sei. Das ist aber nicht wahr, Tschapajew schwamm über den Fluß, ging zu einem alten Mann und rief: „Wo ist der Hausherr?“ Da kam der alte Mann heraus und sagte: „Wer bist du denn?“ „Ich bin Tschapajew“, sagte er. Da sagte der alte Mann: „Hier hast du ein Schwert und ein Pferd, das Pferd bringt dich auf den Berg der unsterblichen Helden. Du wirst dort auf dem Berge wohnen, und wenn ein Krieg über die Russen kommt, kommst du vom Berge herab!“ Tschapajew setzte sich auf das Pferd und ritt davon. Die Weißgardisten waren hinter ihm her. Sie riefen: „Wo ist der Hausherr?“ „Was wollt ihr?“ fragte der alte Mann. „Hast du Tschapajew hier entlangreiten sehen?“ Da antwortete der Alte: „Ich habe ihn nicht gesehen.“ „Du lügst, du hast ihm ein Pferd gegeben, und er ist darauf weggeritten.“ 833
Da hängten sie den Alten an einer Birke auf. Tschapajew aber wohnte auf dem Zauberberg hinter den Wolken. Als 1941 die schwere Zeit des Krieges kam, ritt Tschapajew vom Berge herab nach Belorußland. Da traf er einen Mann von gleicher Art wie er selbst. Das war der Partisan Saslonow. Tschapajew sagte zu ihm: „Jage den Feind und schlage ihn, dann bringst du dir und dem Volke Ruhm!“ Und Tschapajew sagte ihm, wie er kämpfen sollte. Saslonow rief die Eisenbahnarbeiter zusammen und begann wie Tschapajew zu kämpfen. 7 Einmal wurde im Dorfe Kupowatj gekämpft. Die deutschen Truppen waren schon ganz nahe, und den Partisanen ging die Munition aus. Da überlegte Saslonow: Wie kommen wir hier heraus? Ich selbst komme auf meinem Pferd Poryw ja überall durch, aber ich kann doch meine Leute nicht im Stich lassen. Da beschloß er, die feindliche Umkreisung auf seinem Pferd zu durchbrechen und die Partisanen in den Wald zu führen. Er sagte zu seinem gelehrigen Pferd Poryw: „Ich werde mich hinlegen, schau nach, aus wieviel Reihen die feindlichen Schützenketten bestehen!“ Dann band er die Zügel fest. Poryw stampfte mit dem Huf auf und sagte: „Gut!“ Als es dahinjagte, schossen die Deutschen nach ihm, denn sie erkannten Saslonows gelehriges Pferd. Poryws Hufe blitzten, und die Kugeln konn834
ten ihm nichts anhaben. Es jagte dahin und sah, daß nur zwei Schützenketten da waren. Dann lief es zu Saslonow zurück und sagte ihm Bescheid. Saslonow schwang sich auf das Pferd und ritt los, und die Partisanen folgten ihm. Die Soldaten schossen auf ihn, aber die Kugeln konnten ihm nichts anhaben. Als die Geschosse explodierten, sprang das Pferd Poryw über zehn Meter hoch, trug Saslonow davon und führte die Partisanen in den Wald. Dann ritt Saslonow zu dem alten Mann, der ihm das Pferd gegeben hatte. Zu den Partisanen aber sagte er: „Bleibt solange hier!“ Bald kam jedoch die Sowjetarmee, und die Partisanen vereinigten sich mit ihr. Der Alte fragte Saslonow: „Warst du mit eingeschlossen?“ „Ja, ich war dort, und Poryw hat uns gerettet. Das Pferd hat die Partisanen in den Wald geführt. Die Partisanen sind im Wald, da wollte ich Euch als alter Bekannter einen Besuch abstatten, Großväterchen.“ Der Alte sagte zu Saslonow: „Geh in die Hütte, ich möchte dich bewirten!“ Die Frau des Alten briet Speck, und sie aßen und tranken zusammen. Der Alte sagte: „Du bist müde, geh dich ausruhen!“ Er führte Poryw in den Pferdestall und brachte ihm Heu. Saslonow aber legte sich hin, um sich auszuruhen. Er blieb bei dem Alten im Walde
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wohnen. Der Alte geht auf Jagd, und sie wohnen jetzt, nach dem Kriege, noch immer dort.
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ANHANG
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Nachwort1 I. Historischer Abriß Belorußland, im 10. Jh. ein Teil des alten Kiewer Reiches, war seit alters von den slawischen Stämmen der Kriwitscher, Radiwitscher und Dregowitscher bewohnt. Auf der Grundlage dieser Stämme bildete sich nach dem tatarischmongolischen Überfall auf die nordöstlichen und südlichen Teile des Kiewer Reiches die belorussische Völkerschaft. Die allen Ostslawen gemeinsame Kultur des Kiewer Reiches bildete die Grundlage der belorussischen Nationalkultur, die sich im zähen Kampf der Belorussen um ihre historische Existenz entwickelte. Sie hielten diesen Kampf nur mit brüderlicher Unterstützung des russischen und des ukrainischen Volkes durch, mit denen sie sich seit Jahrhunderten besonders verbunden fühlten. Vom 13. bis zum 16. Jh. gehörte Belorußland zum GroßLitauischen Fürstentum, vom 16. bis zum 18. Jh. zum Königreich Polen bzw. (in seinem östlichen Teil) vom 17. Jh. an zum Russischen Reich und in seinem westlichen Teil von 1920 bis 1939 zur bürgerlichen Polnischen Republik. Die Oktoberrevolution schuf die Grundlage für einen souveränen belorussischen sozialistischen Staat. Heute ist Belorußland eine der bedeutendsten industriell-landwirtschaftlichen Republiken der Sowjetunion mit einer Bevölkerung von etwa 11 Millionen Menschen. Einige Jahrhunderte hindurch war Belorußland ein zurückgebliebenes Grenzgebiet Polens und des zaristischen 1
Anm. d. Red.: Um die wissenschaftliche und bibliographische Auswertung zu erleichtern, werden im Nachwort und in den Anmerkungen alle russ. und beloruss. Personennamen und Buchtitel in der international gebräuchlichen „Bibliothekstranskription“ gebracht.
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Rußlands. Eine eindrucksvolle Schilderung der Isoliertheit der belorussischen Dörfer von äußeren Kultureinflüssen gibt der Reisende Jan Weyssenhof im 18. Jh. (Pamiętnik generala Jana Weyssenhofa [Erinnerungen des Generals Weyssenhof]): „Wir fuhren durch urwaldähnliche Gebiete, wo man hundert Meilen weit kaum auf ein Dörfchen traf. Die Bauern dieser kleinen Ansiedlungen waren so scheu, daß sie vor uns mit Frauen und Kindern in den Wald flüchteten.“ Der Anschluß ganz Belorußlands an das Russische Reich Ende des 18. Jh. war von großer Bedeutung für Wirtschaft und Kultur. Die Belorussen waren nun nicht mehr der gewaltsamen Polonisierung ausgesetzt. Aber der russische Absolutismus betrieb gleichfalls eine Politik der Unterdrükkung der belorussischen Nationalität. Das Joch der Leibeigenschaft wurde für die Bauernschaft noch schwerer. Ein halbes Jahrhundert nach Weyssenhof besuchte der russische Liberale A. V. Nikitenko Belorußland. In seinem Dnevnik (Tagebuch) von 1839 schildert er seine Eindrücke von den Begegnungen mit Bauern des Mogilewer Gouvernements folgendermaßen: „Diese Leute leiden augenscheinlich unter äußerster Not und Unterdrückung. Davon zeugen ihre Gesichter, Bewegungen, Kleider, oder genauer die Lumpen, die sie bedecken, sowie ihre Behausungen, die anstatt der Fenster trübe, schmutzige Glasscherben haben – selbst in Kerkern ist mehr Licht. Tiefste Unwissenheit und Aberglaube hausen in diesen finsteren Höhlen. Die religiösen Auffassungen sind hier ganz primitiv.“ Aber nicht alle Bezirke Belorußlands waren im 19. Jh. derart rückständig. Der dichtbesiedelte Kreis Nowogrudok (Gouv. Minsk) zeichnete sich schon um die Mitte des Jh. durch verhältnismäßig hohe Erträge der Landwirtschaft aus. Nach der Reform von 1861 (Aufhebung der Leibeigenschaft) entwickelten sich in den fortgeschritteneren Bezirken schnell Heimindustrie und Wandergewerbe und zeigte sich eine scharfe Klassendifferenzierung. Aber auch in diesen Bezirken konnte nur ein ganz kleiner Prozentsatz der Bevölkerung lesen und schreiben. Bis 1862 gab es im Minsker Gouvernement keine einzige Landschule.
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Die neuen, bürgerlichen Verhältnisse im Leben des belorussischen Dorfes waren auf höchst seltsame Weise mit patriarchalischen Verhältnissen und Überbleibseln der Feudalausbeutung vermischt. Das Wachstum des Kapitalismus rief einen intensiven Prozeß der Verarmung der in der Masse landarmen und besitzlosen Bauern hervor. Nach Aufhebung der Leibeigenschaft brach der Klassenkampf mit neuer Kraft aus; die Bauernunruhen nahmen immer größere Ausmaße an. Abgelegene Wald- und Sumpfgegenden bildeten den Hauptteil des Territoriums; sie waren besonders kennzeichnend für das armselige Existenzniveau der Bauernmassen im vorrevolutionären Belorußland. In den Dickichten des Polesje (im südlichen Teil Belorußlands) erhielten sich bis zur Großen Sozialistischen Oktoberrevolution einige Formen von Gentilverfassung und altertümliche folkloristische Traditionen. Auf die Bauern des Polesje paßte noch Anfang des 20. Jh. die Charakteristik Adam Mickiewicz’ von 1847: „Die Bauern des Pinsker und teilweise des Minsker und Grodnoer Gouvernements bewahrten mehr als andere ihr Slawentum. In ihren Matchen und Glaubensvorstellungen gibt es alles.“ Wenn im Laufe der letzten Jahrhunderte einzelne Winkel Belorußlands fast keine Verbindung mit der Außenwelt gehabt haben, so waren sie doch in der weiteren Vergangenheit mit den Kulturzentren des Kiewer Reiches – Turow, Drogitschin, Mstislawl u. a. –, das damals eine hochstehende Kultur besaß, verbunden. Die belorussischen Bauern bewahrten in ihren Märchen und anderen Werken des mündlichen Schaffens „mehr als andere ihr Slawentum“, weil das abgeschlossene patriarchalische Leben der Dörfer zur Konservierung ihrer altertümlichen Volkskultur beitrug. Das bis zur Revolution im belorussischen Volksmilieu weitverbreitete Erzählgut war mit reicher Phantasie und ästhetischem Empfinden der Erzähler, der Träger der alten Folkloretraditionen, verbunden. K. Moszynski führt in seiner Arbeit Kultyra ludowa slowian ([Die Volkskultur der Slawen] Teil II. 2, S. 738-742) Redensarten und Sprachbilder der Bauern des belorussischen
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Polens an, die von einer ungewöhnlich kenntnisreichen und tiefen Naturbeobachtung zeugen. Nicht zufällig spielt die Natur in den Märchen und Liedern der Belorussen eine so große Rolle wie in keinem anderen slawischen Land. Ein anderer Ethnograph bemerkte, die Weltanschauung der Bauern der belorussischen Walddörfer charakterisierend: „Der Flug der Phantasie ist ungewöhnlich; was erzählt allein der Fischer, der in seinem ‚Seelenverkäufer’ auf dem silberglänzenden Spiegel des Flusses durch die nächtliche Stille gleitet. In seiner Einbildungskraft gewinnt jeder Strauch geheimnisvolles Leben… Überall in Rußland haben sich mehr oder weniger starke Spuren heidnischer Kulte und Glaubensvorstellungen erhalten, aber Belorußland steht in dieser Hinsicht unbestreitbar an erster Stelle. Dies ist auch noch heute ein Land, von dem man sagen kann: ‚Dort gibt es noch Wunder, dort schweift der Waldgeist umher, und die Nixe sitzt auf den Zweigen.’“ (Dovnar-Zapol’skij, Issledovanija i stat’i [Untersuchungen und Aufsätze], Band I, Kiew 1909, S. 279/280). Die Märchen werden vom Volk als Dichtung aufgefaßt. Der Glaube an das Wunderbare erhält seinen Glanz erst in der schöpferischen Einbildungskraft des Erzählers und der Zuhörer von Zaubermärchen. Da für die belorussischen Erzähler die Wunderwelt eine zweite Natur war, reizte der Glaube an die phantastischen Märchen ihre Einbildungskraft besonders stark. Das verlieh der märchenhaften Erzählung ausgesprochene Lebendigkeit. Zwischen den Märchengestalten und den religiös-mythischen Sagenvorstellungen bestehen komplizierte Wechselbeziehungen. Die Märchenerzähler benutzten den aussterbenden Volksglauben weitgehend als künstlerisches Material. Belorußland bildete jedoch nicht nur für das Aufblühen der Zaubermärchen einen günstigen Nährboden. Die Volkserzähler traten in den für sie traditionellen Rollen als Volksphilosophen, -publizisten, -historiker und -satiriker hervor und benutzten so die verschiedensten Genres. Durch die historischen Bedingungen entstand in den belorussischen Erzählungen eine Verbindung von Überbleibseln aus grauer Vorzeit mit scharfen sozialen Tendenzen.
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Während des Zerfalls der patriarchalischen Lebensweise und der Entwicklung des Klassenkampfes nahm die Bedeutung der lebensnahen satirischen Erzählungen im nationalen Märchenrepertoire zu. Sie weckten den Glauben des Volkes an seine Kraft und an den Sieg der sozialen Gerechtigkeit und förderten die Verbreitung fortschrittlicher gesellschaftlicher Ideen in den Massen. Durch die besonders harten sozialen Lebensbedingungen wurde die belorussische Bauernschaft außerordentlich empfänglich für revolutionäre Zielsetzungen. Selbstverständlich gab es auch Märchen, die von Ideen der Schicksalsergebenheit und Gewaltlosigkeit durchdrungen waren. Solche Märchen waren nicht durch den belorussischen Nationalcharakter bedingt, sondern durch die dunklen Seiten des Lebens der patriarchalischen Bauernschaft und die Gegensätze in der Bauernbewegung, der fortschrittliche und rückständige Schichten angehörten. Zu jeder Zeit der Geschichte war das mündliche Schaffen die lebendige Stimme des Volkes. In dieser Hinsicht ist unter allen Werken der belorussischen Folklore die Rolle der Märchen besonders bedeutsam. „Die belorussischen Märchen haben an Lebendigkeit und Schönheit der Erzählungen nicht ihresgleichen.“ (S. V. Savčenko, Russkaja skazka [Das russische Märchen], Kiew 1914, S. 246.) Wie in der Geschichte, so gibt es auch in der Sprache, der Folklore und in der gesamten geistigen Kultur der Belorussen, Russen und Ukrainer sehr viel Gemeinsames. Zugleich wird durch das historische Schicksal und die geographische Lage Belorußlands seine Rolle als Bindeglied zwischen den Ost- und Westslawen und zwischen den slawischen und baltischen Völkern begründet. Das wirkt sich jedoch nicht auf den Reichtum und die Originalität des belorussischen Märchenschatzes aus. Im modernen sowjetischen Belorußland spielt der Märchenschatz nicht mehr die überaus gewichtige Rolle, die er früher im Leben der ungebildeten, patriarchalischen Bauernschaft spielte. Aber die Volksmärchentradition besteht weiter im vielseitigen kulturellen Leben.
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II. Belorussische Folkloresammlungen Daß es schon im Mittelalter in Belorußland Märchen gab, bezeugen Schriftdenkmäler. So rechnet zum Beispiel der Bischof Kirill (12. Jh.) der Stadt Turow in einer seiner Predigten das Erzählen von Märchen und ihre Verbreitung im Volke als Sünde an und verheißt dafür Höllenqualen. Die Belorussen bewahrten ebenso wie die Russen und Ukrainer in der mündlichen Überlieferung die durch die alte Kiewer Chronik bekannten Sagen, z. B. „Kyrill Koshemjak“. Auch in den belorussischen historischen Chroniken des 16. und 17. Jh. kommen Sagenmotive vor. Das Interesse für die belorussische Folklore erwachte bei den Gelehrten und Schriftstellern erst Anfang des 19. Jh. 1806 wies Ksaweri Bogusz in seinem Werk O początkach narodu i języka litewskiego (Über die Volkspoesie und die Sprache der Litauer) auf die wissenschaftliche Bedeutung einer systematischen Sammlung der Denkmäler mündlichen Volkschaffens auf dem Gebiet Litauens hin, worunter er nicht nur das ethnographische Litauen verstand, sondern auch belorussische Gebiete. Die ersten Texte belorussischen mündlichen Volksschaffens – einige rituelle Lieder – wurden 1817 in der Nr. 4 der Zeitschrift Dzietnik wilenskj gedruckt. Wegen ihrer naiven Einfachheit und ihres dramatischen Charakters interessierten die belorussischen Märchen und Legenden die polnischen romantischen Dichter und Schriftsteller. Viele ihrer Balladen sind Übertragungen aus der belorussischen Folklore: Switas-See von Tomasz Zan; Der Switas, Ich liebe!, Tukaj und Das Fischlein von Adam Mikkiewicz; Switas und Szczupak kołdyczewski von Jan Czeczot; Wassilok, Die Hirtin und Die Himbeere von Aleksander Chodźko; Alesjas Traum, Allerseelentag und Das Gebet von Aleksander Odyniec. Belorussische Sagen- und Märchenmotive erscheinen im zweiten Teil des Poems Die Großväter (Das Totenfest) von Mickiewicz. Anfang der 40er Jahre gab der in Belorußland geborene polnische Schriftsteller Jan Barszczewski in Petersburg in polnischer Sprache den Almanach Niezabudki (Vergißmein-
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nicht) heraus, in dem er seine gereimten Nacherzählungen belorussischen Erzählguts veröffentlichte. 1844-46 erschien Barszczewskis vierbändiges Werk Szlachcic Zawalnia, czyli Bialoruś w fantastycznych opowiadaniach (Junker Zawalnia oder Belorußland in phantastischen Erzählungen), eine von der Lebensbeschreibung des polnischen Kleinadligen Zawalnia umrahmte Sammlung literarisch bearbeiteter belorussischer Märchen des Gouvernements Witebsk. Die Motive der belorussischen Folklore sind hier nicht von literarischen Einfällen im Geist der Romantik zu trennen. Barszczewski besaß kein künstlerisches Talent, und sein „Ethnographismus“ war oberflächlich und nicht mit dem lebendigen Interesse für das soziale Schicksal der leibeigenen Bauern verbunden. Nacherzählungen belorussischer Märchen und Sagen gibt es auch in Kazimierz Wójcickis Sammlung Klechdy, staroźytne podania i powieści ludu Polskiego i Rusi (Märchen, alte Traditionen und Erzählungen der Polen und Russen). Die erste Ausgabe kam 1837 in Warschau heraus. 1839 wurde diese Sammlung in deutscher Sprache herausgegeben (Polnische Volkssagen und Märchen, Berlin 1839). Die Bestimmung der belorussischen Elemente in Wójcickis Märchen ist schwierig, weil viele von ihnen auf Grund mündlicher Varianten entstanden sind, die Wójcicki in polnischen, belorussischen und ukrainischen Dörfern gehört hatte. Eine Reihe von belorussischen Sagen und Märchen wurde ohne Angabe ihrer Herkunft in polnischer Sprache in Lucjan Siemieńskis Buch Podania i legendy polskie, ruskie i litewskie (Polnische, russische und litauische Sagen und Legenden), Posen 1845, wiedergegeben. Im selben Jahr erschien in der Wilnaer Zeitschrift Rubon (Nr. 5) der Aufsatz Rzut oka na poezje ludu białoruskiego (Blick auf die Poesie des belorussischen Volkes), in dem einige belorussische Sagen und Legenden in polnischer Sprache erzählt werden. In einer anderen polnischen Zeitschrift aus Wilna Lud i czas (1845, Nr. 1), wurde ohne Angabe des Verfassers der Aufsatz Kilka słow o podaniach gminnych (Einige Worte über volkstümliche Überlieferung) veröffentlicht. Hier wird auf den Wert der belorussischen Märchen aufmerksam gemacht.
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Unter den Arbeiten polnischer Autoren aus den 40er Jahren des 19. Jh. verdient auch Eustachy Tyszkiewiczs Opisanie powiatu Borysowkiego (Beschreibung des Kreises Borisow) Beachtung. In diesem Buch sind einige Sagen und Anekdotenmärchen der belorussischen Bauern aus dem Kreis Borisow (Gouv. Minsk) wiedergegeben. Tyszkiewicz versucht, folkloristisches Material zur Beleuchtung einiger Fragen aus der Geschichte Belorußlands heranzuziehen. In besonderem Maße lenkte der 1850 in der Wilnaer Zeitschrift Athenaeum (Nr. 4) veröffentlichte Aufsatz Kilka zarysów z życia ludu wiejskiego w Kobryńskiem pow. (Einige Skizzen aus dem Leben des Landvolkes im Kreis Kobrin) von Józef Kraszewski die Aufmerksamkeit der polnischen Intelligenz auf die belorussischen Märchen. In diesem Aufsatz streift Kraszewski die Werke volkstümlicher Märchenerzähler aus dem Polesje. 1853 wurden in Wilna in polnischer Sprache 4 Bände literarisch bearbeiteter belorussischer Märchen herausgegeben: Bajarz polski. Baśnie, powieści i gawędy ludowe. Opowiedzial A. J. Gliński (Der polnische Erzähler. Märchen, Erzählungen und Plaudereien des Volkes. Erzählt von A. Gliński). Im Vorwort weist Gliński darauf hin, daß er Volksmärchen wiedergibt, die er in den Dörfern Stschorsy und Negnewitschi (Gouv. Minsk, Kr. Nowogrudok) gehört hat, und teilt Beobachtungen über das Vorkommen von Märchen in diesen Dörfern mit. Die Nacherzählungen Glińskis wirken oft verniedlicht, doch sind die stilistischen Besonderheiten des ostslawischen Märchenschatzes recht gut wiedergegeben. Die Tiermärchen kommen dem volkstümlichen Stil am nahesten. – Obgleich die belorussischen Märchen unbedingt die Grundlage für Glińskis Sammlung bilden, sind einige Märchen originelle literarische Nacherzählungen von Märchen Puškins, Žukovskis, Erševs und Perraults. Dies wurde durch die neuesten Forschungen der polnischen Professoren J. Krzyżanowski und A. R. Wolkow in der Arbeit A. Ju. Glinskij i ego sbornik „Pol’skij skazočnik“ (A. J. Gliński und seine Sammlung „Der polnische Märchenerzähler“), Studienbe-
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richte der Czernowicer Universität, Bd. XIV, 2/1955, nachgewiesen. In Pressestimmen zum Polnischen Erzähler wurde darauf aufmerksam gemacht, daß der Titel dieser Sammlung der belorussischen Herkunft der Märchen nicht gerecht wird. Auch polnische Folkloristen haben wiederholt die Märchen Glińskis als belorussisches Material gekennzeichnet. Dem großen Leserkreis jedoch ist der Polnische Erzähler nach 11 polnischen Ausgaben nur als Sammlung polnischer Folklore bekannt. 17 Märchen Glińskis wurden in deutscher Übersetzung von A. Godin in dem Buch Polnische Volksmärchen nach der Originalsammlung von Gliński (Leipzig 1883) veröffentlicht. Eine vollständige Übersetzung ins Englische erschien in London 1920 unter dem Titel Polish fairy Tales. Man kann die weitverbreitete Auffassung nicht teilen, daß sich russische Wissenschaftler erst wesentlich später als polnische dem Studium von Sprache, Brauchtum und Volksschaffen der Belorussen zugewandt hätten. Schon 1813 verfaßte der Moskauer Professor M. P. Pogodin ein belorussisches Dialektwörterbuch (heute in der Handschriftensammlung der Leninbibliothek, Moskau). Ebenfalls Anfang des 19. Jh. sammelte K. F. Kalajdovič, Verfasser der ersten Untersuchung O belorusskom narečii (Über den belorussischen Dialekt), 1822, im Gouvernement Minsk mundartliches Material. Die Veröffentlichung übersetzter und nacherzählter belorussischer Märchen begann in russischen Zeitschriften in den 40er Jahren. Im Journal Majak (1844) wurden systematisch Nacherzählungen von Märchen, Legenden und Sagen abgedruckt. Diese Publikationen spiegelten die Tätigkeit einer Reihe von Sammlern wider, die sich für die belorussischen Märchen im Zusammenhang mit der alten slawischen Mythologie interessierten. In den Pribavlenija k Žurnalu ministerstva narodnogo prosveščenija (Beilagen zum Journal des Ministeriums für Volksaufklärung) von 1846 (Nr. 5) veröffentlichte Pavel Špilevskij unter dem Pseudonym N. Drevljanskij den Artikel Belorusskie narodnye predanija (Belorussische Volkssagen);
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darin stellte er willkürlich einen Zusammenhang zwischen den belorussischen „Göttern“ und den Göttern der antiken altslawischen Mythologie her. Im gleichen Jahr gab Jan Barszczewski in der Petersburger Zeitschrift Illjustracija eine Belorusskoe predanie (Belorussische Sage) über die Verwandlung der Braut und der Hochzeitsgäste in Vögel und Wölfe heraus. Das Material der Aufsätze Špilevskijs und Barszczewskis benutzte A. N. Afanas’ev im dritten Band seiner Arbeit Poétičeskie vozzrenija slavjan na prirodu (Poetische Auffassungen der Slawen von der Natur), 1869. Auch die grundlegenden Sammlungen der 40er Jahre, wie Skazanija russkogo naroda (Erzählungen des russischen Volkes), Band II, Buch 7, Moskau 1849, von I. Sacharov und Byt russkogo naroda (Die Lebensweise des russischen Volkes), Teil III, Petersburg 1848, von A. Terešenko enthalten Nacherzählungen belorussischer Märchen. Mit der stärkeren Beachtung der Bauernfrage kurz vor der Abschaffung der Leibeigenschaft (Reform von 1861) wuchs in den 50er Jahren des 19. Jh. das Interesse der russischen Öffentlichkeit für die Folklore Belorußlands. Das wurde auch durch die Aktivierung bedingt, mit der die zaristische Regierung in den belorussischen Gouvernements die Russifizierungspolitik betrieb. In der Einstellung zum Studium der belorussischen Volkskultur und des mündlichen Schaffens bildeten sich zwei entgegengesetzte Tendenzen: eine revolutionärdemokratische und eine reaktionäre, die Russifizierung anstrebende. Die revolutionär-demokratische Einstellung kam in der Polemik zum Ausdruck, die der große russische Kritiker Nikolaj Dobroljubov (1836 bis 1861) gegen die Ansicht richtete, die belorussische Bauernschaft sei träge und nicht für den revolutionären Kampf geeignet. Dobroljubov erklärte: „Wir werden sehen, was diese Belorussen noch zeigen werden…“ (N. A. Dobroljubov, Polnoe sobranie sočinenij [Vollständige gesammelte Werke], Band II, S. 261, Moskau 1935.) P. Špilevskij richtet in seinem Aufsatz Issledovanie o vovkolakach (Untersuchung über die Werwölfe) in der Zeitschrift Moskvitjanin (1835, Nr. 5) den Appell an die russi-
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schen Gelehrten, belorussische Märchen, Legenden und Sagen zu sammeln und zu studieren. Durch die Wiedergabe belorussischer Werwolfsagen versuchte Špilevskij zu beweisen, daß Belorußland eine „Metropole alter slawischer Mythologie“ sei und daß die belorussischen Sagen möglicherweise die Metamorphosen des Ovid beeinflußt hätten. Ähnlich naive Mutmaßungen über die belorussische Mythologie äußerte P. Revjakin in seinem Aufsatz Vovkulaki (Werwölfe) in der Zeitschrift Osnova (Okt. 1861). 1853-56 veröffentlichte P. Špilevskij in der Zeitschrift Panteon eine Reihe von Abrissen Belorussija v charakterističeskich opisanijach i v fantastičeskich ee skazkach (Belorußland in charakteristischen Beschreibungen und in seinen phantastischen Märchen). Auf die scharfen sozialen Probleme geht er nicht ein. Ausführlich und mit gekünstelten literarischen Ausschmückungen gibt er 5 Zaubermärchen aus dem Gebiet Ostbelorußlands wieder. Obwohl Špilevskij sich nicht der fortschrittlichen Bewegung der 50er bis 60er Jahre anschloß, hatte sein Skizzenzyklus Putešestvie po Poles’ju i Belorusskomu kraju (Reise nach Polesje und in die belorussische Region) in der progressivsten russischen Zeitschrift Sovremennik doch positiven Einfluß auf das wachsende Interesse der russischen Öffentlichkeit an Belorußland und seiner mündlichen Überlieferung. Die Russische Geographische Gesellschaft gab 1854 den dritten Teil der ethnographischen Sammlung Ėtnografičeskij sbornik (Ethnographische Sammlung) heraus, der dem Studium Belorußlands gewidmet war. Durch wissenschaftliche Gründlichkeit zeichnet sich unter den Aufsätzen dieser Sammlung besonders A. Kirkors Ėtnografičeskij vzgljad na Wilenskuju guberniju (Ethnographischer Blick auf das Wilnaer Gouvernement) aus. Kirkor führt darin in russischer Sprache eine Reihe von belorussischen Sagen an. In den 50er Jahren des 19. Jh. erschienen auch in den Zeitschriften der westlichen Gouvernements Rußlands belorussische Sagen und Märchen. Der Lehrer M. A. Dmitriev veröffentlichte 1846-1868 in den Grodnenskie gubernskie
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vedomosti (Grodnoer Gouvernementsverzeichnisse) die erste, nicht sehr umfangreiche Märchensammlung in belorussischer Sprache, die aus einer bestimmten Gegend stammte, nämlich dem Kreis Nowogrudok (Gouv. Minsk). Diese 16 Märchen verschiedener Gattungen wurden später in Dmitrievs Buch Sobranie pesen, skazok, obrjadov i obyčaev krest’jan Severo-Zapadnogo kraja (Sammlung von Liedern, Märchen, Bräuchen und Sitten der Bauern der Nordwestlichen Region), Wilna 1861 und 1869, übernommen. Nach Handschriften, die Dmitriev dem bekannten Folkloresammler A. N. Afanas’ev (1826-71) geliefert hatte, veröffentlichte dieser in der Sammlung Narodnye russkie skazki (Russische Volksmärchen) 10 belorussische Texte. In dieser und einer anderen Sammlung Afanas’evs, Narodnye russkie legendy (Russische Volkssagen), sind mehr als 20 Texte in belorussischer Sprache und in dem Belorussischen und Ukrainischen verwandten Dialekten abgedruckt. Dmitriev war nicht der einzige belorussische Korrespondent Afanas’evs. Die belorussischen Märchen gingen in seine Sammlung als untrennbarer Teil des ostslawischen Erzählguts ein. Nach dem polnischen Aufstand 1863, in dem sich die belorussischen Bauern unter der Führung des revolutionären Demokraten Kastus’ Kalinovskij zusammengeschlossen hatten, wuchs das Interesse für die belorussische Folklore nicht nur in Petersburg und Moskau rasch an, sondern auch in den Kulturzentren Belorußlands. Die noch nicht zahlreiche Intelligenz begann ihr Heimatgebiet zu studieren. Volksmärchenmotive wurden in den ersten Werken der belorussischen Literatur 1840 bis 1860 verarbeitet. Als erster einheimischer Organisator einer Sammlung belorussischer Folklore tat sich P. V. Šejn (1826-1890), Lehrer am Gymnasium der Stadt Witebsk, hervor. 1868 veröffentlichte er mit seinem Pros’ba (Anliegen) ein Programm für das Sammeln von Märchen und anderen Werken der mündlichen Volkskunst, das an die Intelligenz der belorussischen Gouvernements gerichtet war. In diesem Programm wird das Folklorestudium vom liberalen Standpunkt im Kampf für die Verbesserung des Schicksals des Volkes betrachtet.
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Unter Mitwirkung der vereinigten lokalen Folkloresammler gab Šejn 1847 in Petersburg die Sammlung Belorusskie narodnye pesni (Belorussische Volkslieder) heraus. In dieser Sammlung werden erstmalig anekdotenhafte Gespräche der Gutsbesitzer mit den Bauern sowie Sagen veröffentlicht, in denen die spöttische Haltung der belorussischen Bauern zur „Herrin“ und die Gleichgültigkeit gegenüber der Religion zum Ausdruck kommen. Insgesamt sind hier 15 folkloristische Prosatexte enthalten. Nach fünfzigjährigem Dienst in Witebsk siedelte Šejn 1872 in ein zentralrussisches Gouvernement über. Doch seine Verbindung mit den belorussischen Korrespondenten riß nicht ab, sondern dehnte sich weiter aus. Unter den Personen, die Šejn Märchenniederschriften lieferten, waren Lehrer, Schüler, Beamte, Gutsbesitzer, lese- und schreibkundige Bauern und Küster. Ende der 70er Jahre widmete er sich ganz und gar den Arbeiten zur Druckvorbereitung des Werkes Materialy dlja izučenija byta i jazyka russkogo naselenija Severozapadnogo kraja (Materialien zum Studium des Lebens und der Sprache der russischen Bevölkerung der Nordwestregion). 1893 kam in Petersburg der zweite Band der Materialien Šejns heraus, der rund 250 Märchen aus allen belorussischen Gouvernements enthielt. Das Erscheinen dieser Sammlung war nur durch die Vergrößerung des Nachwuchses in der belorussischen Intelligenz während der letzten Jahrzehnte des 19. Jh. möglich. In der Darstellung des Gattungs- und Ideenreichtums des belorussischen Märchenschatzes ist der zweite Band der „Materialien“ unzureichend, jedoch ist das hohe künstlerische Niveau der besten Volkserzähler Belorußlands wiedergegeben. Šejn unterzog die ihm übersandten folkloristischen Texte keiner sorgfältigen Auswahl und veröffentlichte eine Reihe von ungenauen und zufälligen Niederschriften. Fast gleichzeitig mit Šejn begann Ju. Kračkovskij belorussische Folklore zu sammeln. In seinem Buch Očerki byta zapadnorusskogo seljanina (Skizzen aus dem Leben der westrussischen Dorfbewohner), Wilna 1874, verwandte er
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Märchenmaterial, um die Beziehungen der belorussischen Bauern zur herrschenden Gesellschaftsordnung zu charakterisieren. In russischer Sprache nacherzählt gab Kračkovskij 6 belorussische Märchen heraus. Ein aktiver Mitarbeiter Šejns beim Sammeln belorussischer Märchen war der Lehrer A. Bogdanovič in Borisow (Gouv. Minsk), der Autor des Buches Pro panščinu (Über die Leibeigenschaft), Grodno 1894. Die von Bogdanovič mündlich aufgenommenen Erzählungen drücken den leidenschaftlichen Haß der belorussischen Bauern gegen Unterdrücker und Ausbeuter aus. Ein unermüdlicher Mitarbeiter Šejns beim Sammeln belorussischer Märchen und Legenden war auch der Lehrer einer Dorfschule im Gouvernement Witebsk, N. A. Nikiforovskij (1845-1901). Er nahm eine Reihe belorussischer Märchen in sein Buch Prostonarodnye primety, i pover’ja, suevernye obrjady i legendarnye skazki (Omina, Sagen, abergläubische Bräuche und Legendenmärchen des einfachen Volkes), Witebsk 1897, auf. In einem anderen seiner Bücher, Nečistiki, Svod prostonarodnych v Vitebskoj Belorussii skazanij o nečistoj sile (Die Teufel. Erzählungen des einfachen Volkes aus dem Witebsker Gebiet in Belorußland über teuflische Mächte), Wilna 1907, findet man reichhaltiges Material über den Zusammenhang belorussischer Märchen mit dem Volksglauben. 1878 erschien der zweite Band Trudy ėtnografičeskoj ėkspedicii v Zapadno-russkij kraj (Ergebnisse einer ethnographischen Expedition in die westrussische Region) des bekannten ukrainischen Folkloristen F. P. Čubinskij (18391884). Diese umfangreiche Sammlung besteht im Grunde aus ukrainischen Märchen, doch sind auch 30 Märchentexte aus den südwestlichen Gebieten Belorußlands in Dialekten aufgezeichnet, die vom Ukrainischen ins Belorussische übergehen. In den 80er Jahren sammelte V. N. Dobrovol’skij (18561920) Märchen im Westen des Gouvernements Smolensk, der von Belorussen und Russen (Großrussen) bewohnt war. Heute wird in jenen Gegenden ausschließlich russisch ge-
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sprochen, doch im 19. Jh. verlief die Verbreitungsgrenze für die belorussische Sprache wesentlich weiter östlich als gegenwärtig. Die von Dobrovol’skij mit phonetischer Genauigkeit aufgezeichneten belorussischen Märchen erschienen im ersten Band seines Werkes Smolenskij ėtnografičeskij sbornik (Smolensker ethnographische Sammlung), Moskau 1891. Auf die hervorragende Bedeutung, die dem reichhaltigen Material dieser Sammlung für das Studium von Leben und Weltanschauung des Volkes zukommt, wies V. I. Lenin in einer Unterhaltung mit V. D. Bonč-Bruevič hin (Vospominanija Bonč-Brueviča „Lenin o poėzii“ [Bonč-Bruevičs Erinnerungen „Lenin über die Poesie“], erstveröffentlicht im Journal Na literaturnom postu, Moskau 1931, Nr. 4, S. 4-8). Die Sammlung zeugte von der hohen Entwicklung künstlerischer Traditionen im Märchenschatz der Bauern aus den westlichen Waldgebieten des Gouvernements Smolensk. Mehr als 200 Märchen (unter ihnen ungefähr 50 Zaubermärchen) sind in den verschiedenen Abschnitten des ersten Bandes der Smolensker Sammlung enthalten, mitunter in ungeordneter Folge von Märchen und Sagen. 11 Texte, die Dobrovol’skij von dem hervorragenden Volkserzähler V. Michailov aufschrieb, sind wertvolles Material für das Studium des individuellen Erzählstils. Die charakteristische, historisch bedingte Eigentümlichkeit der belorussischen Folklore kommt wahrscheinlich deshalb im Märchenmaterial der Sammlung Dobrovol’skijs besonders markant zum Ausdruck, weil Mitte des 19. Jh. die westlichen Gebiete des Gouvernements Smolensk im Zentrum des belorussischen Lebens standen. Ein Mangel der Sammlung ist das Fehlen einer Abgrenzung zwischen den Materialien, die in belorussischen und in russischen Dörfern aufgenommen wurden. Ein wichtiger Platz in der Geschichte der belorussischen Folkloreforscher gebührt E. P. Romanov (1855-1923), dem ersten Folkloresammler, der lange Reisen durch belorussische Dörfer unternahm, um Volksmärchen aufzuschreiben. Als Schulinspektor im Gouvernement Witebsk zog er in den
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80er bis 90er Jahren die Dorflehrer zum Märchensammeln heran. In Romanovs Werk Belorusskij sbornik (Belorussische Sammlung), Band 3, 1887; Band 4, 1891; Band 6, 1901, sind mehr als 300 Märchen aus den Gouvernements Mogilew und Witebsk vereinigt. Obgleich diese Sammlungen in den Provinzstädten Mogilew und Witebsk herauskamen, lenkten sie in vielen Ländern Europas die Aufmerksamkeit der Folkloristen auf den außerordentlichen Reichtum des belorussischen Märchenschatzes. Eine so große Anzahl hochkünstlerischer Texte von Heldenmärchen (ungefähr 60) wie im Band 6 der „Belorussischen Sammlung“ war noch nie in einer Sammlung slawischer Märchen veröffentlicht worden. Im Band 3 sind viele Tier-, Zauber- und Alltagsmärchen enthalten, die soziale Klassenkonflikte ausdrücken. Eine besondere Vielfalt an Sagen zeichnet den Band 4 aus. Als Erzähler überwiegen leseund schreibunkundige Bauern von 40 bis 60 Jahren, die niemals über die Grenzen Belorußlands hinausgekommen waren. Von jedem Erzähler schrieben Romanov und seine Mitarbeiter in der Regel ein bis zwei Märchen auf. Einige belorussische Märchen veröffentlichte Romanov auch in Materialy dlja izučenija narodnych govorov Mogilevskoj gubernii (Materialien zum Studium der Volkssprache im Gouvernement Mogilew) in der Zeitung Mogilevskie gubernskie vedomosti 1902 (Nr. 83, 85-86). 1918 bis 1920 bereitete der damals in Stawropol im Kaukasus wohnende Romanov die Bände 11, 12 und 14 der „Belorussischen Sammlung“ zum Druck vor, in denen er etwa 400 Märchen zusammenfaßte. Die äußerst wertvollen unveröffentlichten Bände wurden zusammen mit dem ganzen Folklorearchiv der Belorussischen Akademie der Wissenschaften in Minsk während des letzten Krieges vernichtet. Parallel zu den russischen und den belorussischen Märchensammlern beschäftigten sich auch polnische Gelehrte mit dem Sammeln belorussischer Folklore. Jan Karłowicz (1836-1903) veröffentlichte in polnischer Sprache Podania i bajki zebrane na Litwie (In Litauen gesammelte Sagen und Märchen) [Zbior wiadomości do antropologii, Band 11,
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1887; Band 12, 1888. Krakau]. Von den 84 Märchen dieser Sammlung stammen 54 aus von Belorussen bewohnten Territorien. In welcher Sprache die Aufzeichnungen gemacht wurden, ist, abgesehen von einer Fußnote zum Märchen Nr. 34, in der die belorussische Herkunft des Märchens vermerkt wird, nicht gesagt. Einige Märchen der Sammlung sind in den 30er, 40er und 60er Jahren aufgeschrieben worden, die Mehrheit der Texte wurde in den 70er Jahren von Karłowicz persönlich aufgenommen. Ein anderer bekannter polnischer Ethnograph, Oskar Kolberg (1814-1890), veröffentlichte, ebenfalls in polnischer Sprache, in Baśnie z Polesia (Märchen aus Polesje) [Zbior wiadomości do antropologii krajowej, Band 13] einige zufällig aufgeschriebene belorussische phantastische und realistische Märchen aus dem Gouvernement Pinsk. Von Władysław Weryho, einem polnischen Schriftsteller und Verfasser einer Reihe von belorussischen Gedichten, wurde 1889 in Lwow in belorussischer Sprache die Sammlung Podania białoruskie (Belorussische Sagen) herausgegeben. In der Sammlung sind 33 Erzählungen verschiedener Gattungen vereinigt, die von verschiedenen Erzählern aus dem Kreis Lida (Gouv. Grodno) stammen. Jan Karłowicz wies im Vorwort der Sammlung auf den Wert der veröffentlichten Texte für das Studium von Sprache und Leben der Belorussen hin. Eine fundamentale Folkloresammlung ist Michał Federowskis Lud białoruski na Rusi litewskiej (Die Belorussen im litauischen Rußland). Federowski (1853-1932) begann in den 70er und 80er Jahren belorussische Märchen, Legenden, Sagen, Sprichwörter und Lieder zu sammeln, als er als Verwalter der Güter polnischer Grundbesitzer gezwungen war, die belorussischen Dörfer in den Grenzbezirken des Gouvernements Grodno zu bereisen. Von 1877 bis 1905 zeichnete er so viele folkloristische Werke auf, die die verschiedenen Seiten der Weltanschauung der Bauernschaft widerspiegelten, daß er beschloß, das Material in 14 Bänden herauszugeben. Es wurden jedoch nur 3 Bände mit Märchen und Sagen (I, 1897; II, 1902; III, 1903. Krakau) und 1
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Band mit Sprichwörtern und Redensarten (IV, 1935. Warschau) veröffentlicht. Bis zum Krieg 1939 wurde Federowskis belorussisches Archiv im Warschauer Ethnologischen Institut verwahrt; in diesem Archiv befand sich eine beachtliche Menge unveröffentlichter Märchen. Kürzlich wurde ein Teil dieses Materials wieder aufgefunden. Mit dem Erscheinen der 3 Bände der Sammlung „Die Belorussen“ offenbarte sich der unerschöpfliche Reichtum urwüchsiger Folklore in den zurückgebliebenen westlichen Grenzbezirken Belorußlands. Die von Federowski veröffentlichten genauen Niederschriften von Märchen und Sagen enthielten auch wertvolles linguistisches Material. Neben mittelmäßigen folkloristischen Texten findet man ausgezeichnet nacherzählte, teilweise satirische Märchen (Band III). Federowski war einer der ersten Sammler belorussischer Märchen, die den Erzählertypen und den Lebensbedingungen der Märchen Aufmerksamkeit schenkten, was im Vorwort des Bandes II zum Ausdruck kommt. Federowski ordnete das folkloristische Material ohne Erfolg nach dem unnötig komplizierten System von Jan Karłowicz. In Teilen der Sammlung, die sich mit dem Volksglauben beschäftigen, stehen z. B. auch Märchen. Einige polnische Rezensenten versuchten, das von Federowski veröffentlichte Material als Folklore der Westslawen darzustellen, nämlich der Bewohner Westbelorußlands, die sich von den „Ostbelorussen“ wesentlich unterschieden (siehe die Rezensionen in der Zeitschrift Książka von L. Krzywicki, 1903, Nr. 7, und St. Zdziarski, 1902, Nr. 2). Gleichzeitig mit dem Band III der Sammlung „Die Belorussen“ erschienen in phonetischer Transkription die von dem Krakauer Sprachforscher Edward Klich im Kreis Nowogrudok (Gouv. Minsk) aufgeschriebenen Teksty białoruskie (Belorussische Texte) [Prace komisji językowej, Band III, Krakau 1903]. Ein Teil der Sammlung besteht aus nicht gestalteten Texten, einige Märchen sind nur bruchstückweise wiedergegeben. Größtes Interesse jedoch verdienen die Alltagsmärchen, die Klich von dem belorussischen Bauern Ales Volček aufschrieb.
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Gute phonetische Niederschriften von Märchen aus verschiedenen Gebieten Belorußlands findet man auch in E. F. Karskijs Sammlungen Materialy dlja izučenija belorusskich govorov (Materialien zum Studium belorussischer Mundarten), Petersburg 1898-1903, und Materialy dlja izučenija severnomalorusskich govorov (Materialien zum Studium nordkleinrussischer Mundarten), Petersburg 1903. Anfang des 20. Jh. kamen viele Bücher mit neuen Texten belorussischer Märchen und Sagen heraus. Es seien hier nur die wichtigsten dieser Publikationen genannt: I. Bessaraba, Materialy dlja ėtnografii Sedleckoj gubernii (Materialien zur Ethnographie des Siedlcer Gouvernements), Petersburg 1903; Materialy dlja ėtnografii Grodnenskoj gubernii (Materialien zur Ethnographie des Grodnoer Gouvernements Wilna 1912; S. Malevič, Belorusskie narodnye pesni (Belorussische Volkslieder), Petersburg 1907; I. Serbov, Belorusy-sakuny (Belorussen-Sakunen), Petersburg 1915. Zu den besten Märchensammlungen gehören: A. K. Seržputovskij, Skazki i rasskazy belorusov-polešukov (Märchen und Erzählungen der Polesjer Belorussen), Petersburg 1911, und Kazki i apavjadan’ni belarusau z Sluckaga Pavetu (Märchen und Äußerungen der Belorussen aus dem Kreis Sluzk), Minsk 1926. In diesen Sammlungen sind 178 verschiedenartige, von Seržputovskij selbst aufgezeichnete Märchen veröffentlicht. In ihnen offenbaren sich deutlich die Veränderungen der erzählenden Folklore im Polesje der Neuzeit und die revolutionäre Stimmung der belorussischen Bauern. In den Sammlungen Seržputovskijs von 1911 und 1926 und in seinem Buch Prymchi i zababony belarusau z Sluckaga pavetu (Aberglauben und Omina der Belorussen aus dem Kreis Sluzk), Minsk 1930, sind ungefähr 40 Märchen des sehr talentierten Erzählers Redkij abgedruckt. Dem Repertoire anderer ausgezeichneter Erzähler ist genügend Raum gegeben. In den einleitenden Kapiteln teilt Seržputovskij biographische Einzelheiten über die Erzähler mit. In ihrer Mehrheit drücken die von Seržputovskij veröffentlichten Märchen die Ideale des fortschrittlichen Teils der belorussi-
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schen Bauernschaft aus. Aber es gibt auch Märchen, besonders in der zweiten Sammlung, die rückständige Ansichten erkennen lassen und in denen der Einfluß der reaktionären Ideen belorussischer Nationalisten erkennbar ist. Eine gewisse Rolle bei der Entfaltung der Märchensammeltätigkeit in den vorrevolutionären Jahren spielte auch die belorussische Zeitung Naša niva. In ihr wurden Programme für das Sammeln belorussischer Märchen und Sagen sowie einzelne folkloristische Werke abgedruckt. In den vorrevolutionären Jahren und besonders nach der Oktoberrevolution wurden die Sammlungen Romanovs, Šejns und Seržputovskijs in populären belorussischen Broschüren, Zeitungen und Kalendern häufig neugedruckt. Neue Veröffentlichungen von Volksmärchentexten findet man in belorussischen Zeitschriften der 20er bis 30er Jahre: Kryvič (Kaunas), Naš kraj (Minsk) u. a. m. In Warschau wurde 1928 Kazimierz Moszyńskis Buch Polesie wschodnie (Ost-Polesje) herausgegeben, in dem einige belorussische Märchen und Sagen enthalten sind. Eine bedeutende Sammlung belorussischer Märchen und Sagen wurde von einem anderen, auf dem Gebiet der Volkskunde des Polesje tätigen Wissenschaftler, von Czesław Pietkiewicz (1856-1936) in seinem Buch Kultura duchowa Polesia Rzeczyckiego (Die geistige Kultur im Retschizaer Polesje), Warschau 1938, veröffentlicht. Im sowjetischen Belorußland nahm das Sammeln von Volkskunstwerken einen vorher nie gesehenen Aufschwung. Eine Reihe von wissenschaftlichen Institutionen in Minsk, Moskau, Riga und Leningrad führten folkloristische Expeditionen mit dem Ziele durch, belorussische Märchen zu sammeln. Ein Teil der Märchen aus den Materialien dieser Expeditionen wurde in populärwissenschaftlichen Sammlungen der Belorussischen Akademie der Wissenschaften veröffentlicht: Belaruskij narod suproc’ papou i religii (Das belorussische Volk gegen Popen und Religion), 1939; Žančyna u belaruskaj narodnaj tvorčasci (Die Frau in der belorussischen Volkskunst), 1940; Soveckaja i darevoljucyjnaja Belarus’ u
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narodnaj tvorčasci (Das sowjetische und das vorrevolutionäre Belorußland in der Volkskunst), 1940. In den letzten Jahren erschienen in Minsk einige Bücher mit belorussischen Märchen, die für Kinder literarisch überarbeitet sind. Außerhalb der Grenzen Belorußlands kamen zwei populäre Bücher mit belorussischen Märchen in tschechischer bzw. russischer Sprache heraus: Běloruské lidové pohádky a povídky (Belorussische Volksmärchen und Erzählungen), ausgewählt und geordnet von Jiři Horák, Prag 1957, mit einem Vorwort von J. Horák, und Belorusskie narodnye skazki (Belorussische Volksmärchen), übersetzt unter der Redaktion von S. Vasilenok und M. Lyn’kow, Moskau 1958, mit einem Vorwort von S. Vasilenok. Beide Sammlungen bestehen hauptsächlich aus Märchen Šejns, Dobrovol’skijs, Romanovs, Federowskis und Seržputovskijs. In dem russischen Buch sind auch einige erstmalig veröffentlichte Texte enthalten. In deutscher Sprache gibt es, abgesehen von der bereits erwähnten unvollständigen Übersetzung der Glinskischen Sammlung, kein einziges Buch mit belorussischen Märchen. Dem deutschen Leser werden jedoch belorussische Märchen aus Löwis of Menars Russischen Volksmärchen (Jena 1914) bekannt sein, in denen 6 aus belorussischen Sammlungen übersetzte Texte enthalten sind. Rezensionen über belorussische Märchensammlungen wurden von Jiři Polívka und Vratroslav Jagić in der Berliner Zeitschrift Archiv für slawische Philologie (14, 1892; 19, 1897; 29, 1907) veröffentlicht. Der einzige in deutscher Sprache herausgegebene Leitfaden zum Studium belorussischer Folklore ist E. Karskijs Geschichte der weißrussischen Volksdichtung und Literatur (Berlin 1926); in diesem Abriß ist ein kleiner Abschnitt den Märchen gewidmet (S. 76-88). Einen kurzen Abschnitt über das Sammeln und die Publikation belorussischer Märchen enthält auch BP V, 155-156. Das Studium der belorussischen Märchen hielt mit der sich breit entfaltenden Sammeltätigkeit nicht Schritt. Einzelne wertvolle Beobachtungen und Bemerkungen bezüglich des belorussischen Märchenschatzes findet man in den Bü-
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chern, Aufsätzen und Rezensionen von S. Savčenko, V. Jagić, R. Wolkow, J. Polívka, E. Karskij, J. Horák, L Luščickij, K. Kabašnikov und anderen Wissenschaftlern. Es gibt jedoch bisher weder eine Monographie über belorussische Märchen noch eine grundlegende Untersuchung über den Einfluß der Volksmärchen auf die belorussische Literatur der Neuzeit, in der sich oft Märchenstoffe finden. Die großen belorussischen Schriftsteller Janka Kupala und Jakub Kolos schufen ihre besten Werke auf der Grundlage von Volkserzählungen. Aus Volksmärchen entstanden auch solche hervorragenden Werke belorussischer Kunstprosa wie „Die Nachtigall“ und „Die Polesjer Bank“ von Zmitrok Bjadula und viele andere. Die Geschichte der belorussischen Literatur ist eng mit den Volksmärchen verbunden.
III. Zaubermärchen Bei den Zaubermärchen ist nach einer treffenden Bemerkung von Maxim Gorki vor allen Dingen auf die Phantasie hinzuweisen, auf die wunderbare Eigenschaft des menschlichen Geistes, Dinge voraussehen zu können. (M. Gorkij, Sobranie sočinenij [Gesammelte Werke], Bd. 52, Moskau 1953, S. 86.) Diese fußt teilweise auf realen sozialen Vorgängen, auf den Erfolgen der menschlichen Arbeit. In ihr offenbaren sich Hoffnung und Streben des Volkes. Im Gegensatz zur Mythenphantastik erfolgt in der Märchenphantastik die Widerspiegelung historischer Prozesse und Naturerscheinungen unabhängig von einem Glauben an das Übernatürliche und vor allem mit einer der Volkskunst eigenen Überhöhung. Im Märchen werden Aberglauben und magische Bräuche bizarr wiedergegeben; indem sie ihre religiöse Funktion und ethnographische Bestimmtheit verlieren, wird das Interesse am Außergewöhnlichen hervorgerufen. Inhalt und Form der Märchen besitzen stets gewisse nationale Eigenheiten. Bei der Wanderung von einem Volk zum anderen werden Märchensujets und -gestalten Änderungen unterworfen, die durch historische Faktoren bedingt sind. Leben und Weltanschauung eines Volkes sind im Zauber-
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märchen schwerer zu erkennen als in anderen Märchentypen, weil hier Elemente der ältesten Vergangenheit und der lebendigeren Gegenwart vereinigt sind. Die (in der zweiten Hälfte des 19. und Anfang des 20. Jh. aufgeschriebenen) belorussischen Zaubermärchen zeichnen sich durch eine für Märchen dieser Gattung erstaunliche Häufigkeit sozialkritischer Motive aus, die unmittelbar mit der Wirklichkeit der Leibeigenschaft und der Entwicklung des Kapitalismus verbunden sind. Das kann man vor allem mit der wichtigen Rolle erklären, die die Kunst der Märchenerzähler im öffentlichen Leben dieser Epoche spielte, als Bauernunruhen eine alltägliche Erscheinung waren. Durch das phantastische Kolorit konnten die Klassengegensätze oft noch besser ausgedrückt werden. Nur unter den für das vorrevolutionäre Belorußland charakteristischen Verhältnissen der äußersten Zerrüttung der Bauernschaft konnte eine so eigenartige Variante des Typs „Der Hahn kräht im Leibe des Königs“ (AT 715) entstehen wie das Märchen, das mit den Worten beginnt: „Es waren einmal ein Großvater und eine Großmutter, die waren sehr arm, sie hatten nur einen Mühlstein, und den nahm der Gutsherr ihnen weg.“ (Romanov III, S. 5.) Gewöhnlich wird in den europäischen Märchen dieses Typs erzählt, daß den beiden Alten ein wunderbarer goldener Mühlstein gestohlen oder weggenommen wurde; in der belorussischen Variante nimmt der Herr den Armen ihr einziges Gut weg, nämlich einen gewöhnlichen Mühlstein. In den belorussischen Zaubermärchen sind viele ausführliche Darstellungen der Klassengegensätze während der Leibeigenschaft sowie nach deren Aufhebung, nach 1861, enthalten. In den Varianten des Typs „Der Mann als Heizer des Höllenkessels“ (AT 475) begibt sich der Bauer in den Dienst des Teufels, um dem erbarmungslosen Gutsherrn den Grundzins entrichten zu können. In den Märchen vom Typ „Der um sein schönes Weib Beneidete“ (AT 465) stellt das Motiv der schweren Arbeiten eine eigentümliche Widerspiegelung der Willkür des Gutsherrn gegenüber den Leibei-
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genen dar und ist damit wie viele dieser Märchen gegen die Leibeigenschaft gerichtet. Der Traum der Bauern von der Aufhebung der Leibeigenschaft und vollkommener Befreiung aus der Gewalt der Gutsbesitzer wurde in origineller Weise im Märchen Der Tod auf der Bank (Romanov IV, S. 79) verkörpert. Hier befreit der Schmied die Bauern von der Leibeigenschaft, als er erkannt hat, daß „die Herren auch Bauern sein sollen“. Dafür macht ihn Gott unsterblich. Eine Tat für das Wohl der unterdrückten Leibeigenen sühnt jede Schuld, das ist die Idee dieses Märchens. In vielen belorussischen Zaubermärchen, die nach der Aufhebung der Leibeigenschaft 1861 aufgezeichnet wurden, werden das Eindringen neuer kapitalistischer Verhältnisse ins Dorf und das Wachsen sozialer Unterschiede innerhalb der Bauernschaft wahrheitsgetreu geschildert. Im Zaubermärchen Iwan Iwanowitsch Stutensohn (Romanov III, S. 133) fordert der reiche Bauer von seinem armen Bruder, dem er zwölf Rubel zum Kauf eines Pferdes geliehen hat, hundert Rubel und außerdem das gekaufte Pferd zurück und ruiniert die Wirtschaft des Armen. Die Hörigkeit des Bauern gegenüber dem reichen Dorfgenossen wird in einem Märchen des Typs „Die Prinzessin im Sarg“ (AT 307) in Šejns Sammlung (II, S. 431) geschildert. In den belorussischen Märchen der Typen „Des reichen und des armen Mannes Schicksal“ (AT 735) und „Die beiden Wanderer“ (Wahrheit und Lüge) (AT 613) kommt der scharfe Protest gegen die Macht des Kulakentums im Dorf zum Ausdruck. Das in Seržputovskijs Sammlung aus dem Jahre 1926 veröffentlichte Märchen Wahrheit und Lüge gibt ein sehr konkretes Bild der reichen Ausbeuter im Dorf. Über die hoffnungslose Lage des armen Bauern wird in diesem Märchen gesagt: „So sehr sich ‚Wahrheit’ auch anstrengte, er lebte doch immer in größter Not und Armut. ‚Lüge’ dagegen arbeitete nicht, er zerbrach sich nur den Kopf, wie er mit Lügen seinen Reichtum vermehren könnte, und lebte wie ein Herr.“
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Die Kulaken herrschten vor der Revolution im belorussischen Dorf mit Hilfe der Großgrundbesitzer. Vor allem diese wurden in den Vorstellungen des Volkes für die soziale Ungerechtigkeit, „die Lüge“, verantwortlich gemacht. Dies zeigt sich in der eigentümlichen Behandlung des Sujets „Wahrheit und Lüge“ durch die belorussischen Volkserzähler. In einer ganzen Reihe von Varianten dieses Märchentyps ist nicht nur der reiche, ältere Bruder die Verkörperung „der Lüge“, sondern auch der Grundbesitzer, der ihm bei der Vernichtung des jüngeren hilft. In den traditionellen europäischen Varianten des Sujets fehlt die Gestalt des Gutsbesitzers. In einem Märchen (Romanov II, S. 325) wird erzählt, daß „Lüge“ mit Hilfe des Grundbesitzers „Wahrheit“ zu töten versuchte, beide jedoch umkamen, während „Wahrheit“ unter dem Namen des ehemaligen Gutsbesitzers weiterlebte. Das Selbstbewußtsein des Volkes, der Protest gegen die Verletzung der Menschenrechte und der Würde des belorussischen Bauern durch zaristische Obrigkeit, Gutsbesitzer, Großbauern und Kulakenpopen sind in den Märchen der Typen „Die Provianttasche und ‚Heraus Jungens, aus dem Sack!’“ (AT 564) und „Der Jude im Dorn“ (AT 592) scharf ausgeprägt. Besonders sei in dieser Hinsicht auf das Märchen Der Geldbeutel des Kranichs (Nr. 48) hingewiesen. An Lebensechtheit und satirischer Schärfe steht dieses charakteristische belorussische Zaubermärchen nicht hinter rein satirischen Märchen zurück. Beachtenswert oft sind in belorussischen Märchen der König, der Zar, aber auch der Drache, der unsterbliche Kostschej, böse Dämonen und Zauberer mit den scharfen sozialen Zügen der Gutsbesitzer versehen, um ihre Feindseligkeit gegenüber dem positiven Volkshelden zu betonen. Im Märchen Katigoroschek (Dmitriev, S. 346) besitzt der Drache, der das Bauernmädchen entführt hat, ein herrliches Landgut. Dem Bruder des entführten Mädchens begegnet er mit dem Hochmut eines Adligen, nennt ihn einen närrischen Bauern, einen Strohkopf. In einer anderen belorussischen
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Variante des Sujets „Katigoroschek“ aus dem Band 4 der „Materialien“ Karskis wird das Bauernmädchen nicht vom Drachen entführt, sondern von den „Pans“ (Gutsbesitzern). Für die belorussischen Zaubermärchen ist die Prägnanz charakteristisch, mit der der positive, demokratische Held den Vertretern der herrschenden Klassen gegenübergestellt wird. In einem Märchen des Typs „Der Kampf auf der Brükke (Drachentöter)“ (AT 300 A) aus Šejns Sammlung zeigen die Recken „Hundesohn“ und „Köchinnensohn“ im Bewußtsein ihrer Überlegenheit über den Begleiter „Herrensohn“ diesem ihre Klassenfeindschaft mit den Worten: „Warum hast du uns nichts davon gesagt, Herrenmaul?“ Im Märchen Kosak Michailo (Nr. 5) tötet der Sohn des armen Bauern seinen Beleidiger, den Zarensohn, mit dem kleinen Finger. Die Übertreibung bei der Schilderung der Kraft des Volkshelden hat eine ganz bestimmte Tendenz; sie ist der adäquate Ausdruck des Glaubens an den Sieg des Helden über die ihm feindlich gesonnenen dunklen Kräfte. Die Märchenphantastik entsteht aus dem Bestreben des schöpferischen Geistes, das Leben zu überflügeln und die Menschen über die Realität des Alltags zu erheben. Die Übertreibung ist künstlerisches Mittel beim Überleiten vom Realen ins Phantastische. Eine der wichtigsten Darstellungen der wunderbaren Kräfte des jungen Recken und seines Wohlwollens den einfachen Leuten gegenüber ist in den belorussischen Märchen seine Arbeit auf dem Acker, bei der Heumahd oder beim Bäumeroden. Durch eine besonders pathetische, übertreibende Darstellung der Feldarbeit des Recken zeichnet sich ein Märchen vom Typ „Der wilde Mann“ (AT 502) aus Dobrovol’skijs Sammlung (S. 445) aus. In solchen Märchen offenbart sich die Psychologie des kollektiven Schöpfers, des Volkes, das die Arbeit als das höchste Maß für den Wert des Menschen betrachtet. Ebenso wie die physische Überlegenheit des Volkshelden über die Grundbesitzer, den Zaren und andere Vertreter der herrschenden Klassen zeigt das Zaubermärchen auch seine geistige Überlegenheit. Im Märchen vom Kosaken Michailo wird von dessen Erfolgen in der Schule erzählt, daß er sich
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an einem Tag soviel Wissen erwarb wie die Fürsten- und Generalssöhne in fünf Jahren. Ein ähnliches Motiv ist im Märchen Die Soldatensöhne (Nr. 2) scharf ausgeprägt. Die Unabhängigkeit und das Selbstbewußtsein des demokratischen Helden im Zaubermärchen sind durch seine wunderbare Kraft, sein Wissen und seine Fähigkeiten bedingt. In Märchen wie Michas der Witwensohn (Nr. 3), Kosak Michailo (Nr. 5), Die Soldatensöhne (Nr. 2), Der Schmied (Nr. 1) wird das äußerst anschaulich geschildert. In den Märchen aller Völker hat der Held, der Arme, der viel Not erlebte, ein offenes Ohr für Unterdrückung und Unglück. Dies zeigt sich mit besonderer Schärfe in den belorussischen Zaubermärchen. In ihnen gewinnt, ebenso wie in den russischen und ukrainischen Märchen, die Darstellung der moralischen Erscheinung des Helden hohe ideelle Bedeutung. In einer originellen Variante des Sujets vom Zauberpferd (Romanov IV, S. 297-311) lassen die wunderlichen Alten, die Erzieher des Recken, diesen erst dann zur Vollbringung von Heldentaten von dannen ziehen, als sie dreimal seine moralische Standhaftigkeit erprobt haben. Er beweist, daß er nie auf fremdes Gut neidisch sein wird. Die Apotheose der weisen Gerechtigkeit und des Großmuts des Recken zeigt sich in der Schlußepisode der belorussischen Märchen über die drei unterirdischen Zarenreiche (z. B. in der Variante bei Romanov, Bd IV, S. 354-360). Der Recke im belorussischen Märchen ist gewöhnlich der Beschützer des Volkes. Im Märchen Katigoroschek (Dmitriev, S. 346) kündigt er schon im Mutterleib seinen Eltern an: „Ich werde euch und den guten Leuten ein Beschützer sein.“ Als er sich auf den Weg macht, sagt er zu seinen alten Eltern: „Haltet mich nicht zurück, die Leute warten schon lange auf mich.“ Der Beschützer der Erniedrigten und Unterdrückten, der Recke, zeichnet sich im belorussischen Märchen durch Friedfertigkeit aus. So erklärt er im Märchen Abend, Mitternacht, Morgen (Romanov III, S. 94): „Wäre ich auch durch die ganze Welt gewandert, ich hätte niemandem etwas angetan, niemandem hätte ich ein Härchen gekrümmt.“ Als wei-
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ser Lehrer des Volkes erscheint der Held im Märchen Der Recke (Nr. 9). Der Kampf des Recken gegen dämonische Wesen wird im belorussischen Märchen als Kampf für das Glück des Volkes geschildert. So befreit der Held im Märchen Der Witwensohn (Romanov III, S. 120-123) – durch seinen Sieg über Tschudo-Judo – Sonne, Mond und Sterne aus der Gefangenschaft, um mit ihnen den einfachen Leuten Freude und Glück zu schenken. Die wunderbare Kraft des Helden zielt auf die Liquidierung der sozialen Unterschiede. So zwingt z. B. der Recke in einer belorussischen Variante des Sujets „Kampf mit dem Drachen auf der Brücke“ (Romanov III, S. 164), aber auch in den Märchen Kosak Michailo (Nr. 5) und Die Soldatensöhne (Nr. 2) den Zaren, arme alte Bauern am Hofe aufzunehmen, zu ernähren und zu kleiden. Im Märchen Die Soldatensöhne wird die für belorussische Märchen traditionelle Satire gegen die Gutsbesitzer durch die revolutionäre Haltung des Volkserzählers Filipp Gospodarev verschärft. Der Bruder des Recken, des Helden dieses Märchens, haßt und verachtet den feigen, doppelzüngigen Gutsbesitzer und bestraft ihn hart. In einem anderen von Gospodarev erzählten Zaubermärchen des Typs „Der faule Knabe“ (AT 675) treibt der Bauer auf herrschaftlichem Grund Waldfrevel und verprügelt die Waldhüter mit seinem Wunderknüppel. Auf die Frage des Gutsbesitzers: „Wie konntest du es wagen, in meinen Wald einzudringen?“ antwortet der Bauer furchtlos und von seinem Recht überzeugt: „Hast du den Wald aufgezogen? Du besitzt viel und wir überhaupt nichts. Der Wald ist ein Werk der Natur.“ N. V. Novikov bemerkt im Einleitungskapitel des Buches Skazki F. P. Gospodareva (F. P. Gospodarevs Märchen), daß diese Märchen das Echo der kämpferischen Haltung und der Hoffnung der belorussischen Bauern vor der Revolution von 1905 sind. Die politischen Erfahrungen, die die belorussischen Bauern nach der Zerschlagung jener Revolution gewannen, finden ihren Ausdruck in dem originellen Zaubermärchen Der
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Dummkopf, das von Seržputovskij 1911 veröffentlicht wurde. Die wunderbaren Siege des Drachenbezwingers vereinigen sich in diesem Märchen mit Episoden aus dem revolutionären Kampf des Volkes gegen die Gutsbesitzer und den Zaren. Von den traditionellen belorussischen Märchen mit versteckten Allegorien führen Verbindungen zu jenen neuen, symbolisch-allegorischen Märchen der Neuzeit, wie Iwan Einfaltspinsel in Seržputovskijs Sammlung von 1911. In diesem Märchen ist die Gestalt des Drachen die direkte Verkörperung das verfaulten absolutistischen Staates. Der bekannte Volkserzähler Redkij, der das Märchen Iwan Einfaltspinsel erzählt hat, erzählte auch das Märchen Der Recke (Nr. 9). Hier kämpft der wunderbare Recke nicht mit phantastischen Gegnern, sondern mit den realen Feinden der Bauernschaft, den Gutsbesitzern und Zarendienern. Die Erzählung über die Abenteuer des Recken geht in einen Aufruf zum revolutionären Kampf über, aber die Art dieses Kampfes ist dem Erzähler unklar und im Märchen nicht aufgezeigt. Im Märchen ist der Einfluß der revolutionären Proklamationen und Flugblätter spürbar, die 1903-05 in den belorussischen Dörfern illegal in belorussischer Sprache und in gereimter Form verteilt wurden. Die häufige Verwendung von Symbolen und Allegorien bei den Märchenerzählern der Neuzeit hängt einmal mit Anpassungsschwierigkeiten an die politische Thematik und zum anderen mit der Annäherung ihrer Kunst an die der Schriftsteller und Publizisten zusammen. Wenn der Erzähler bei der Schaffung eines neuen Märchens von einer abstrakten politischen Idee ausgeht, verwirklicht er sie auch in abstrakter unscharfer Form. Den besten Volksmärchen liegt ein bestimmter politischer Gedanke zugrunde, sie sind von tiefem Gefühl durchdrungen und verbinden konkrete Bildhaftigkeit mit größter Allgemeinheit. Die belorussischen Volkserzähler betonen gern die ethische Seite des Gedankeninhalts eines Märchens. Seržputovskij weist im Vorwort seiner Sammlung von 1911 darauf
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hin, daß fast alle Märchenerzähler des belorussischen Polesje „einen Hang zum Philosophieren“ haben. Durch eine entschiedene moralphilosophische Haltung zeichnen sich die für die belorussische Folklore charakteristischen Zaubermärchen aus, in denen die Sujets „Des reichen und des armen Mannes Schicksal“ (AT 735) und „Die Provianttasche und ‚Heraus, Jungens, aus dem Sack!’“ (AT 564) verschmolzen sind: Ihnen liegt der Gedanke zugrunde, daß man sein Glück bewahren muß. Sehr oft geben die belorussischen Erzähler durch die Verbindung mit einem Sprichwort den traditionellen Sujets von sich aus einen Sinn, z. B. Hat man den Wolf, so hat man auch die Wölfin („Die drei goldenen Söhne“, AT 707, Federowski II, S. 174); Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein („Drei Haare vom Bart des Teufels“, AT 461, Federowski II, S. 312); Wer für Gott ist, für den ist auch Gott („Die Wünsche“, AT 403 A, Federowski II, S. 280) usw. Im Märchen der Volkserzählerin Matruna Bochmačucha Feuer im Herzen und Verstand im Kopf (Nr. 33) ist das traditionelle Sujet „Reise um die ganze Welt“ aus der entsprechenden belorussischen Redensart entwickelt. Gemäß der Redensart „Feuer im Herzen und Verstand im Kopf“ berichtet die Erzählerin von einem glücklichen Menschen, in dem sich scharfer Verstand, Lebensweisheit und ein feuriges Herz vereinen. In einem anderen philosophischen Märchen Wie man sich auch dreht und wendet, sterben muß man doch (Nr. 52) gibt der Volkserzähler Redkij entsprechend dem Titelsprichwort seine moralisch-ethische Auslegung des traditionellen Zaubersujets „Der Gevatter Tod“ (AT 332) wieder. Im Zaubermärchen Die Liebe (AT 425) legt derselbe Erzähler seine Gedanken über die alle Schranken überwindende wahre Liebe dar (Nr. 25). Die gedankliche Umdeutung und Verschärfung der traditionellen Märchengestalten und -sujets durch die fortschrittlichen Volkserzähler der Neuzeit ist im allgemeinen mit einer Psychologisierung der Gestalten verbunden, die für die alten Märchen ungewöhnlich war. So arbeitete z. B. Redkij in seinem Märchen vom Arzt und dem Tod einige Episoden origi-
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nell und psychologisch überzeugend aus, den vergeblichen Selbstmordversuch eines verzweifelten Menschen, das glückliche Leben und die dramatische Schlußszene vom Tod des Glückspilzes. Die Gestalten der phantastischen Märchen sind mit der eigenartigen Natur der belorussischen Wälder und Sümpfe verbunden. Der Sumpfwald ist die Arena für die Heldentaten des Riesenrecken, des Drachenbezwingers (Romanov III, S. 113). Im Sumpfwald handeln die Märchen Tiermilch (Romanov III, S. 113), Der gestiefelte Kater (Romanov III, S. 219), Die Hörner (Romanov III, S. 184), Die Wunderkinder (Romanov VI, S. 163), Die Wunderschalmei (Federowski II, S. 97), Reise um die ganze Welt (Šejn II, S. 379) und andere mehr. Das Motiv des undurchdringlichen Waldes spielt in den belorussischen Märchen eine so große Rolle, daß es mit einer fast immer gleichbleibenden Redewendung abgetan wird: „Der Wald war so dicht, daß selbst eine Mücke nicht ihre Nase hineinstecken kann!“ (Weryho, S. 57); „Der Wald war so dicht, daß du nicht mal die Nase hineinstecken kannst.“ (Seržputovskij 1926, S. 148) Nur in der Folklore des belorussischen Polesje gibt es Märchen, in denen Naturbeschreibungen – bedingt durch die lyrische Form – eine wesentliche Rolle spielen. So wird z. B. in Redkijs (des besten Volkserzählers des Polesje) originellem Märchen Der Zaubermusikant (Nr. 38) durch die Naturbeschreibung und den Zauber der wunderbaren Musik die strahlende, echt menschliche Kraft in der Kunst des talentierten Bauern-Geigers offenbart. Beim Studium des belorussischen Märchenschatzes wird man immer wieder auf die Urwüchsigkeit der Heldengestalten und Motive aufmerksam. Das Zaubermärchen über mächtige Recken hat in Belorußland eine sehr alte Tradition. Schon im 16. Jh. wies Stanisław Sarnicki in seiner Poloniae descriptio (1585) auf die ungewöhnliche Popularität der „Wundermärchen über Helden, die Recken oder Halbgötter genannt werden“, in „Westrußland“ hin. In der russischen Folklore sind die Heldengestalten und -sujets in den Bylinen konzentriert, in der ukrainischen in
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Liedern (Dumen), in der belorussischen Folklore findet das Heroische jedoch vorwiegend im Märchen seinen Ausdruck. In diesen Märchen sind überaus viele für die ostslawische und die europäische Folklore traditionelle Zaubersujets ins Heroische abgewandelt. Zwischen dem Heldentum im Märchen und dem im epischen Lied besteht zweifellos ein Unterschied. Der Held des Märchens zeichnet sich gewöhnlich nicht durch die Charaktervollkommenheit aus, die dem epischen Helden eigen ist, und er zeigt weniger Aktivität als jener. Im Märchen herrscht die Kausalität des Wunderbaren, und eine Heldentat wird nur scheinbar vollbracht, wenn zur Erfüllung eines beliebigen Wunsches das Drehen des Zauberringes genügt. Die Verschiedenheit des Heldentums im Märchen und im epischen Lied ist jedoch nicht absolut, sondern relativ. Sie tritt in der Folklore der einzelnen Völker nicht in gleichem Maße auf. Bei einigen Völkern sind die Märchen über die Heldentaten von Recken die älteste Entwicklungsstufe des Heldenepos, bei anderen die Sagen und Mythen. Der Lieblingsheld des belorussischen Märchens ist der mächtige Recke „Osilok“. Das Ungewöhnliche seiner Gestalt und seines Charakters wird schon ganz am Anfang des Märchens durch das ausführlich und originell geschilderte Motiv von der wunderbaren Empfängnis und Geburt unterstrichen. Manchmal wird der Held mit drei „Teufelsrippen“ geboren, und das überzeugt seine Dorfgenossen davon, daß er ein mächtiger Recke wird (im Märchen Der Recke, Nr. 9). Manchmal schließen die Verwandten dies aus dem riesigen Wuchs des Neugeborenen (Romanov III, S. 93). In einem Märchen wird erzählt, daß die neugeborenen Reckenzwillinge jeder „achtzehn Arschin in der Länge und zwölf Arschin in der Breite maßen“ (Romanov VI, Nr. 17, S. 150). In einem anderen Zaubermärchen ist der positive Held von so gigantischem Wuchs, daß er die gewöhnlichen Leute für Fliegen hält (Romanov III, Nr. 14, S. 99). Ein solcher Held lebt eingeengt im Kreis der gewöhnlichen Leute. „Nein, Bruder“, sagt ein Recke zu seinem Bruder, der auch ein Recke ist, „wir finden hier keine Mädchen,
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die unserer Kraft entsprechen, wir müssen in die Welt hinaus, um sie zu suchen.“ (Romanov III, Nr. 13, S. 99) Neben den heldenhaften Hünen treten in belorussischen Märchen auch weibliche Reckengestalten auf: Das „Reckenmädchen“ schlägt mit einem Nasenstüber den starken Rekken nieder (Romanov VI, Nr. 14, S. 126; Nr. 13, S. 120); die fliegenden „Taubenmädchen“ schlagen den mächtigen Recken Gorovik so, daß er zwei Werst zurückprallt (Romanov VI, Nr. 15, S. 139). Im belorussischen Heldenmärchen verlieren die traditionellen Märchenungeheuer beachtlich an Ungewöhnlichkeit. Der unsterbliche Kostschej, der drei Eimer Wodka auf einmal austrinkt und drei Brote verschlingt, übertrifft damit nicht den Recken-Hünen. Über den Recken-Hünen wird gesagt „Er trank einen Eimer Brennspiritus, aß neun Pfund Brot und drei Pfund Salz.“ (Romanov VI, Nr. 42, S. 206) Die belorussischen Märchenerzähler verwenden bei der Schilderung der Recken unter anderem auch deshalb Übertreibungen, weil sie immer danach streben, die grenzenlose Kraft des Helden darzustellen, dessen Gestalt mit den Idealen des Volkes verbunden ist. Zugleich tragen die belorussischen Reckenmärchen sozialkritische Züge. Das von Redkij geschaffene Bild des Riesenschmiedes, der sich über Gewitter und Sturm freut, während er den Drachen besiegt (Seržputovskij 1911, Nr. 5), drückt die aufrührerische, revolutionäre Haltung der Bauernschaft am Anfang des 20. Jh. aus. Der Recke, der Held des belorussischen Zaubermärchens und Träger des Wunderbaren, ist verhältnismäßig unabhängig von dämonischen Kräften. In den belorussischen Rekkenmärchen schwindet die Bedeutung des Wunders. Zugleich wird die Rolle der wunderbaren Helfer des Helden unbedeutender. Der von seinen Feinden gefangene Recke braucht keine wunderbaren Befreier; er sprengt selbst seine Fesseln, dann erst verwandelt er sich in einen Feuerball und verschwindet (z. B. Romanov VI, Nr. 19, S. 192). Mit größerer Zielbewußtheit als der Standardmärchenprinz, der Zarewitsch, kämpft der Recke, der Held des belo-
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russischen Zaubermärchens, beharrlich um seinen Sieg. In seiner Gestalt kommen Züge zum Vorschein, die dem Charakter des epischen Helden der Bylinen eigen sind. Der Rekke Iwan Podwej zeigt im gleichnamigen Märchen (Romanov VI) stets seine ungeheure Kraft, seinen scharfsinnigen Verstand und sein fröhliches Draufgängertum. Alle diese Wesenszüge des Helden vereinigen sich so vollkommen, daß man den Charakter Iwan Podwejs dem eines Recken aus den Bylinen gleichsetzen kann. Im Märchen Der Recke (Nr. 9) sind die wichtigsten Züge des Helden, eines ungewöhnlichen Kraftmenschen, seine Weisheit und das Streben, das Volk von seinen Unterdrückern zu befreien. Sie werden konsequent gezeigt und bestimmen die Vollkommenheit der Gestalt. Es versteht sich, daß die Züge eines vollkommenen epischen Charakters nicht nur in den belorussischen Heldenmärchen auftreten, sondern auch in denen anderer Völker. Zweifellos ist dem belorussischen Reckenmärchen auch die Eigentümlichkeit des Märchengenres, den heroischen Ton im Charakterbild zu beschränken, nicht fremd. Aber jedes Studium belorussischer Reckenmärchen führt zu dem Schluß, daß sie dem Heldenepos besonders nahe verwandt sind. Die belorussischen Reckenmärchen stehen mit den noch bis in unsere Zeit in Belorußland erhaltenen Sagen über übernatürliche Recken (Osilok) und heldenhafte Riesen (Volot) in Zusammenhang, die im Vorübergehen Föhren ausreißen, Berge versetzen, Seen zerstampfen, sich gegenseitig zum Zeitvertreib riesige Steine zuwerfen, steinerne und eiserne Pferde nach bösen Dämonen schleudern und andere Heldentaten vollbringen. Einige epische Motive alten Ursprungs in den belorussischen Zaubermärchen stammen möglicherweise unmittelbar aus den lokalen Reckensagen, z. B. das Motiv des vom hünenhaften Schmied zerschlagenen „Sonnensteines“. Nach einer in Belorußland erzählten Sage zertrümmerte ein mächtiger Osilok mit den Schlägen seines riesigen Hammers am Meeresstrand einen haushohen Stein und förderte das in diesem Stein eingeschlossene Menschenglück zutage. Ähnli-
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che Episoden treten in belorussischen Reckenmärchen auf. In einem Märchen (Romanov VI, Nr. 13, S. 123) kommt der Recke zur Meeresküste, wo ein weißer Stein liegt. „Er… schlug mit seiner Keule auf den Stein und zerbrach ihn. Da schlüpfte eine Ente heraus und watschelte ans Licht.“ In der Ente befindet sich ein Ei und in dem Ei eine brennende Kerze. Die beträchtliche Zahl von gleichen Motiven in den belorussischen Sagen und heroischen Zaubermärchen beweist den Einfluß der Sagen auf die Märchen, zeugt aber auch umgekehrt vom Einfluß der Märchen auf die Sagen. In den Märchen erhalten die Sagenmotive eine neue künstlerische Qualität und Entwicklung. Unvergleichlich vollständiger und komplizierter sind die Gestalten der Hünenrecken als Fürsprecher des Volkes und Kämpfer gegen Ungerechtigkeit in den Märchen ausgearbeitet. Vielfach wird auf die Verwandtschaft der belorussischen Sagen über hünenhafte Recken mit den Sagen der Litauer, Letten, Schweden, Russen und anderer Völker hingewiesen. A. N. Veselovskij bringt in seinen Aufsätzen Ugolok russkogo eposa o Tidreke Bernskom (Der Anteil des russischen Epos in der Sage über Dietrich von Bern) und Russkie i vel’tiny v sage o Tidreke Bernskom (Russen und Wilzen in der Sage über Dietrich von Bern) die Voloten bzw. Velyten der belorussischen und russischen Sagen in Zusammenhang mit den Helden der Thidreksaga (13. Jh.), mit Wilcinus, seinem Sohn, dem wunderbaren Schmied Welent, und seinen vier Enkeln, den Riesenrecken. Veselovskij macht auf die außerordentliche Dichte der Sagen über heldenhafte Riesen auf belorussischem Territorium, im Gebiet der westlichen Dwina, aufmerksam sowie auf die Widerspiegelung von Gestalten des russischen Bylinenschatzes (des alten Fürsten Vladimir und des Recken Elias) in der Thidreksaga. Er äußert die interessante Vermutung: „Als die Germanen ins Dwinagebiet kamen, fanden sie dort mit der ‚Allmikilsaga’ die große Sage über die Wilzen vor, die noch heute in den Voloten der lokalen Sagen weiterleben; man kann das Märchenlied vom ‚alten Vladimir
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und Ilja’ noch hören, das auf der ‚Lateinischen’ oder ‚Lettischen Straße’ entlang der westlichen Dwina und durch die ‚Schwarzen Smolensker Moore’ ins Dneprtal heraufgedrungen ist.“ (Izvestija Otdelenija russk. jazyka i slovesnosti Akad. Nauk, Petersburg 1906, Band XI, Buch 3, S. 25.) Das Bild der kulturellen Zusammenhänge in der alten Welt ist in der Darstellung Veselovskijs nicht vollständig. Die Sagen über belorussische Voloten und über Voloten-Osiloks besitzen ein bemerkenswertes Analogon in den kaukasischen Sagen über Gräber und Hügel, in denen heldenhafte Riesen begraben liegen sollen. Auf diese Weise führen von den legendären VolotenOsiloks der belorussischen Sage Verbindungen nach Westen und Osten, bis tief in die iranisch-türkische Welt. Das belorussisch-litauische Territorium und das Kaukasusvorland waren bis in die jüngste Zeit die wichtigsten Verbreitungsgebiete der altertümlichen Sagen über heldenhafte Riesen in Osteuropa. Die Erzählungen über die Voloten-Osiloks geben eine sehr allgemeine Vorstellung von den Helden. Dies ist durch den Zusammenhang der Erzählungen mit dem Familienkult der Vorfahren bedingt. In vielen Gegenden Belorußlands ist es noch heute Brauch, sich am Tage Radunitza, dem Gedenktag für die Vorfahren, mit der ganzen Familie zu den Riesengräbern der Voloten zu begeben. Erzählungen über Voloten-Osiloks gehörten während des Festes der „Herbsttage“, das auch den Vorfahren gewidmet ist, zur Tradition. Das Mythische und das Heroisch-Epische in den Erzählungen kultischen Ursprungs sind voneinander nicht vollkommen zu trennen. Das Heldenepos löste sich allmählich vom Boden des Kults und erhielt gleichzeitig seine künstlerische epische Form. Die Verbindung der Riesengestalten der Wilzen-Voloten mit den Heldengestalten des Bylinenschatzes, Vladimir und Ilja (Elias), in der Thidreksaga legte die Vermutung nahe, daß die Entwicklung der ostslawischen Bylinen mit den mythischen Erzählungen über heldenhafte Riesen zusammenhängt und die mythischen Züge der Handlungsträger von diesen Erzählungen stammen. Das byline-
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nartige Heldenepos, das als größere Form in der Entwicklung des Epos mit dem Kampf des Volkes für seinen Staat und mit dem Erwachen des Nationalbewußtseins verbunden war, verdrängte allmählich die ältesten Heldenerzählungen, sie gingen in den Bylinen und in der Märchenfolklore auf oder wechselten in den lokalen Aberglauben und in die Sagenüberlieferung über. In den belorussischen Recken-Zaubermärchen der Neuzeit sind neben den Motiven, die mit Sagen über heldenhafte Riesen zusammenhängen, auch viele für das ostslawische Bylinenepos typische Motive enthalten: die wunderbare Geburt des Recken, seine Ausstattung mit wunderbaren Kräften, das Verprügeln der Altersgenossen durch den jungen Recken, die Beschaffung und Erprobung von Pferd und Waffen, das Satteln des Pferdes, die Hilfe für die Bauern beim Wurzelroden auf dem Feld, das Zusammentreffen mit seinen Feinden, der Zweikampf u. a. m. Ein besonderer Anteil der in belorussischen Zaubermärchen auftretenden Bylinenmotive ist mit der Gestalt des Recken Ilja Muromec verbunden. Hier zeigt sich der Reichtum an Märchen im belorussischen Folklorematerial, in denen ganze Bylinensujets variiert werden. Ein charakteristisches Beispiel für die Verbindung von Bylinenmotiven mit Motiven aus Sagen über heldenhafte Riesen in den belorussischen Märchen ist Praz Iljuschku (Romanov III, Nr. 44, S. 259). Dieses Märchen stimmt teilweise mit den Bylinen über die Genesung von Ilja Muromec und seinen Sieg über den Räuber Solovej überein. Es wird auch darin erzählt, wie Iljuschka (Ilja Muromec) sich anschickt, die Erde von den „unreinen Kräften“ zu säubern. Dieses Motiv tritt oft in den belorussischen Sagen über Osiloks auf und ist dem Bylinenepos fremd. Der Zweikampf Iljuschkas mit dem zwölfhörnigen Falken (der dem Räuber Solovej in der Byline entspricht) im Märchen Praz Iljuschku unterscheidet sich kaum von den gewöhnlichen Zweikämpfen der Sagenoder Märchen-Osiloks mit dem furchtbaren Drachen. Das Märchen Der Recke ohne Beine (Nr. 4) vereinigt Bylinenmotive über Ilja Muromec mit den für belorussische
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Osilok-Sagen traditionellen Motiven wie „Das Spiel der Osiloks mit riesigen Steinen im Wald“ oder „Der Osilok zerschlägt mit seiner Keule eine unüberwindbare Steinmauer.“ Das Bylinenepos der Ostslawen entstand in seinen Grundlagen im 9. bis 11. Jh., in der historischen Periode, die der Bildung des belorussischen Volkes voranging. Es gibt unanfechtbare Angaben darüber, daß das Bylinenepos im alten Belorußland allgemein bekannt war. Im späten Mittelalter und besonders im 18. Jh., während des Kulturverfalls unter den Bedingungen der grausamsten Unterdrückung in Belorußland, mußten die Traditionen des Bylinenepos dort zurückgehen und absterben. Sie gingen an die Volkserzähler über. Die Zaubermärchen nahmen die Sagenmotive über heldenhafte Riesen und die Motive des Bylinenepos in sich auf. Die belorussischen Zaubermärchen spiegeln Ideale und Stimmung des Volkes wider. Die Verschärfung ihrer sozialen Tendenz in der Neuzeit war mit einer Erhöhung ihres heroischen Pathos verbunden. Die Volkstümlichkeit der Reckenmärchen wuchs in Belorußland Ende des 19. und Anfang des 20. Jh. ständig an. Das belorussische Märchenmaterial ist ein unlösbarer Teil des ostslawischen Märchenschatzes. Deshalb muß man bei der Erklärung der Besonderheiten belorussischer Zaubermärchen auf die Beziehung des belorussischen Repertoires an Zaubermärchensujets zu dem russischen und ukrainischen eingehen. Der Reichtum an Zaubermärchensujets im belorussischen Märchenschatz übertrifft den russischen und ukrainischen. Der Abschnitt „Zaubermärchen“ unseres belorussischen Katalogs umfaßt 230 Sujets, während im russischen Material nach dem entsprechenden Verzeichnis von Aarne-Andreev 144 und im ukrainischen nach dem handschriftlichen Katalog Andreevs 187 Zaubermärchen enthalten sind. Die populärsten belorussischen Typen sind auch die volkstümlichsten Typen des russischen und ukrainischen Märchenschatzes. Die größte Anzahl von Aufzeichnungen (2535) gehören im belorussischen Material zu folgenden Typen:
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„Die drei geraubten Prinzessinnen“ (AT 301), „Die drei goldenen Söhne“ (AT 707), „Drei Haare vom Barte des Teufels“ (AT 461), „Der Kampf auf der Brücke (Drachentöter“ (AT 300 A), „Einäuglein, Zweiäuglein und Dreiäuglein“ (AT 511). „Die ungetreue Schwester“ (AT 315 A). Von den Zaubermärchensujets, die im veröffentlichten russischen Material mit fünf oder mehr Varianten vermerkt sind und im ukrainischen und westeuropäischen fehlen, tritt nur eines im belorussischen Material nicht auf „Der Freßsack (Rotkäppchen)“ (AT 333 B). Ausschließlich in der russischen und belorussischen Folklore sind die Märchen folgender Typen enthalten: „Das Babylonische Reich“ (AT 485), „Das versteinerte Königreich (Dornröschen)“ (AT 410*), „Ein Soldat hypnotisiert den Gastwirt“ (AT 664*). Von den Zaubermärchensujets, die im veröffentlichten ukrainischen Material in mehr als fünf Varianten auftreten, in Westeuropa vorkommen, im russischen Material aber fehlen, ist im belorussischen Material nur das Sujet „Die drei Orangen“ (AT 408) nicht enthalten. Weit verbreitet sind in der Ukraine und in Belorußland die für die russische Folklore nicht charakteristischen Sujets: „Das Mädchen, das seine Brüder sucht“ (AT 451) und „Der Froschkönig oder der Eiserne Heinrich“ (AT 440). In der Regel haben die Zaubermärchensujets, die im russischen Material eine große Anzahl von Texten bilden und in der Ukraine kaum verbreitet sind, eine geringe Anzahl von belorussischen Varianten, z. B. „Vor dem Unholde versteckt“ (AT 329) und „Die starke Frau als Braut (Brunhilde)“ (AT 519). N. P. Andreev weist in seinem Aufsatz K charakteristike ukrainskogo skazočnogo materiala (Zur Charakterisierung des ukrainischen Märchenmaterials) [Sammlung „C. F. Oldenburg“, 1934] auf eine ganze Reihe von Sujets ukrainischer Zaubermärchen hin, die in den Verzeichnissen russischer und westeuropäischer Sujets fehlen. Fast alle diese ukrainischen Märchensujets haben ihr Gegenstück im belorussischen Material, z. B. „Der eiserne Wolf“, „Der Jüngling dient bei dem blinden Alten und der blinden Alten“, „Der
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Soldat erhält von jedem Loch Antwort“, „Die Drachenfrau verwandelt sich wieder in einen Drachen“. In den belorussischen Katalog wurden von uns ungefähr 70 Zaubermärchensujets aufgenommen, die in Andreevs russischem und ukrainischem und in Aarne-Thompsons Verzeichnis nicht vermerkt sind. Nur sehr wenige von ihnen sind mit mehr als fünf Texten belegt. Durch eine bemerkenswerte Unterschiedlichkeit bei gleichzeitiger innerer Einheit zeichnet sich das Bild der Varianten einiger Zaubermärchensujets aus, die in westlichen und östlichen Gebieten Belorußlands aufgeschrieben wurden. Das vergleichende Studium der Zaubermärchen der drei ostslawischen Völker erweist den Reichtum des ostslawischen Typenrepertoires und die besonders enge Verwandtschaft des belorussischen Materials mit dem ukrainischen.
IV. Alltagsmärchen1 Im Repertoire der weitaus meisten modernen belorussischen Erzähler überwiegen die Alltagsmärchen. In ihnen spiegelt sich das alltägliche Leben unmittelbar wider, Klassenzugehörigkeit und nationale Wesenszüge der handelnden Personen sind wesentlich stärker hervorgehoben. Die relative Freiheit der Komposition des Alltagsmärchens, seine Dynamik, sein Humor und die scharfen Dialoge geben den Erzählern nationaler mündlicher Kunst eine besondere Möglichkeit, ihre Meisterschaft zu offenbaren. Die belorussischen Alltagsmärchen haben in ihrer Mehrheit eine satirische soziale Zielsetzung; charakteristisch ist für sie die scharfe Gegenüberstellung der Volkshelden mit den Gutsbesitzern, Popen, Kaufleuten, Zaren und anderen Vertretern der herrschenden Klassen. Nur ein einziger Alltagsmärchentyp der in großer Zahl vorliegenden ukrainischen und russischen Texte ist in der belorussischen Folklore nicht vermerkt: „Rampsinit“ (AT 1
Schwank- und Tiermärchen. (Anm. d. Red.)
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950). Der größte Teil des belorussischen Materials erstreckt sich, wie auch im russischen und ukrainischen, auf die Sujets „Die kluge Bauerntochter“ (AT 875), „List und Leichtgläubigkeit“ (AT 1539), „Meisterdieb“ (AT 1525). In einigen belorussischen Varianten dieser Sujets wird der soziale Konflikt originell dargestellt. So tritt z. B. der Held in einem Märchen des Typs „Meisterdieb“ aus Seržputovskijs Sammlung von 1926 (Nr. 87) als Ankläger gegen die soziale Ungerechtigkeit auf. Als er sich zum Stehlen auf das Gut des Gutsbesitzers begibt, erwägt er: „Stehlen wir beim Pan einen Ochsen, dann wird es auch etwas zu essen geben. Beim Pan zu stehlen ist keine Sünde, denn der Pan ist reich. Er hat uns bestohlen, und wir nehmen unser Gut zurück.“ Genauso haben wahrscheinlich die belorussischen Bauern gedacht, als sie in den Jahren der ersten russischen bürgerlich-demokratischen Revolution (1905) und am Vorabend der Oktoberrevolution Vieh, Brot und Land der Gutsherren in Besitz nahmen. Durch besondere soziale Schärfe zeichnen sich die in Belorußland sehr beliebten Märchen über den frechen, gerissenen und geistreichen Armen Nesterka aus, in denen das traditionelle ostslawische Sujet „Vom Goldenen Steigbügel“ mit Sujets über die „Täuschung des Gutsbesitzers“ verschmolzen ist. In einer ganzen Anzahl belorussischer Schwankmärchen wird die Überlegenheit des werktätigen Volkes über die Ausbeuter kraß ausgedrückt, speziell in den Lügenmärchen und den komischen Antworten eines Bauern an den Gutsbesitzer, der ihm begegnet: Indem er sich einfältig stellt, verspottet der Bauer den hochmütigen „allerehrwürdigsten Herrn“ und parodiert dessen Manier der Unterhaltung. Die äußerste Zuspitzung des Klassenkampfes Ende des 19. und Anfang des 20. Jh. in Belorußland brachte Märchen hervor wie Der Bauer und der Gutsherr (Nr. 87). Hier werden die Gestalten des herzlosen, moralisch verkommenen polnischen Gutsbesitzer-Despoten und des leibeigenen belorussischen Bauern Stopak lebensecht geschildert. In der Unterhaltung bringt der schlaue und vorsichtige Stopak den
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Gutsbesitzer allmählich vollkommen zur Verzweiflung und kostet seine Rache an der „Volksplage“ mit Genuß aus. Der Dialog des Bauern und des Gutsbesitzers läßt ihre Mimik, ihre Gesten und ihre Gedankengänge ganz deutlich werden. Stopaks geheime, ungeheure Erbitterung gegenüber dem Gutsbesitzer ist die treibende Kraft des Dialogs. Wie ein scharfes Messer dringt jede Phrase des scheinbar treuherzigen Berichts über den Stand der Dinge auf dem Landgut in das Herz des Besitzers. Jede Antwort des Gutsbesitzers zeigt dessen immer stärker werdende Erregung und Verzweiflung. Dieses bemerkenswerte satirisch-sozialkritische Märchen wurde vom belorussischen Volkserzähler Redkij nach dem in Rußland und in Westeuropa weitverbreiteten kleinen Schwank Alles in Ordnung (AT 2040) geschaffen. Mit der nationalen Eigenart der Gestalten hängen die Besonderheiten der künstlerischen Struktur zusammen. Weil z. B. die Gestalt Rymschas, des Helden unseres Märchens Nr. 88 Den Gutsherren zur Lehre (AT 1538), den Gestalten der belorussischen Aufständischen nahekommt, erinnert dieses Alltagsmärchen bis zu einem gewissen Grade an historische Sagen. Wie in ihnen sind die Taten des Helden an konkrete geographische Angaben geknüpft. Das für die europäische Folklore traditionelle Sujet vom Bauern, der sich am Gutsherrn rächt, ist durch den belorussischen Volkserzähler Dudar künstlerisch weiterentwickelt worden, wobei wahrscheinlich die zahlreichen Überlieferungen, nach denen leibeigene Bauern ihre Gutsherren töteten, und die verschiedenen Erzählungen über belorussische edle Räuber eine Rolle gespielt haben. Grell und leidenschaftlich enthüllten die belorussischen satirischen Märchen die hoffnungslose Lage der armen Bauern und Tagelöhner im zaristischen Rußland. In dem Märchen Der wandernde Tagelöhner (Valačyščycja Parabak) in Seržputovskijs Sammlung von 1911 wird das Schicksal eines Tagelöhners besonders eindrucksvoll geschildert. Nach der Oktoberrevolution, als in Belorußland die ersten Kolchosen gegründet wurden und die Kulaken hartnäckig gegen die sozialistische Gesellschaftsordnung im Dorf Wi-
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derstand leisteten, gewannen die satirischen Märchen über Kulaken außerordentlich an politischer Schärfe; hier seien nur einige Titel angeführt: Kulak und Tagelöhner, Wie die Kulaken entlarvt wurden, Wie der Kulak den Tag verlängerte (siehe: Dorevoljucyjanaja i soveckaja Belaruc’ v narodnaj tvorčasci [Das vorrevolutionäre und das sowjetische Belorußland in der Volkskunst], 1938). Eine ganze Anzahl volkstümlicher Schwankmärchen, besonders satirischer, ist nur im belorussischen Märchenmaterial zu finden, z. B.: Der alte Nesterka (Nr. 85), Wie Trachim den Gutsherrn betrog (Nr. 86), Drei Pfaffen und ein Ei (Nr. 77), Wie Pfaffen geheilt wurden (Nr. 69) u. a. In den genannten Märchen über Pfaffen zeigt sich, daß der fortschrittliche Teil der belorussischen Bauernschaft vor der Revolution die reaktionäre Rolle der Popen sehr wohl erkannte. Großes Interesse verdienen die novellistischen Alltagsmärchen nichtsatirischen Charakters. Die für die Folklore Südbelorußlands (Polesje) charakteristischen novellistischen Märchen, wie z. B. Das Mädchen (Nr. 66) und Nicht mit Kraft, sondern durch Kühnheit (Nr. 67), sind in ihrer künstlerischen Struktur ungewöhnlich. Der Erzähler legt darin weniger Wert auf die Entwicklung des Sujets als auf die lyrische Darstellung der Bauerntöchter und auf Betrachtungen über den veredelnden Einfluß menschlicher Schönheit und die Überlegenheit des Mutes über die Kraft. Das Sujet des Märchens Das Mädchen ist eigenständig, während das Sujetschema des Märchens Nicht mit Kraft, sondern durch Kühnheit im Grunde dem für die europäische Folklore traditionellen Schema „Der Räuberbräutigam“ (AT 955) entspricht. Jedoch sind diese belorussischen Märchen, die von ausgezeichneten Erzählern stammen, beide wegen ihrer nationalen Eigenart bemerkenswert. Einen besonderen Platz nehmen die den Alltagsmärchen nahestehenden Märchen über den dummen Teufel ein. Dem Sinn nach schwankhaft, sind sie mit phantastischen Motiven durchsetzt. Im Gegensatz zu den Zauber- und Legendenmärchen ist jedoch in ihnen das Wunderbare nicht die treibende Kraft der Handlung.
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Alle in Belorußland sehr volkstümlichen Märchen über den dummen Teufel sind auch in der Ukraine weit verbreitet. Dagegen klingt nur eines von ihnen im russischen Material an: „Die alte Frau als Unruhestifter“ (AT 1353). Märchen vom dummen Teufel, die im belorussischen und westeuropäischen, nicht aber im russischen und ukrainischen Material auftreten, sind selten: „Die heiße Grütze in den Rachen des Teufels“ (AT 1131, 4 veröffentlichte belorussische Varianten), „Der Bärenführer und sein Bär“ (AT 1161) und „Flinte als Tabakspfeife“ (AT 1157). Nur in belorussischen Sammlungen treten Märchen folgender Typen auf: „Der dumme Teufel im Dienst der bösen Frau“ (Federowski II, Nr. 275; Šejn II, Nr. 64), „Der Teufel und die Frau, die auf seinen Hörnern einschläft“ (Romanov IV, Nr. 62; Federowski II, Nr. 276), „Das Bad des Teufels und der Frau“ und einige andere. Im belorussischen Folklorematerial finden sich Märchen sozialkritischen Inhalts, in denen das Sujet vom dummen Teufel durch Sagenmotive kompliziert wird oder mit ihnen verschmilzt. Ein solches Märchen ist z. B. Der Dieb, der Gutsherr und der Teufel (Šejn II, S. 146), in dem von der Verwandlung eines reichen und untätigen Gutsbesitzers in den Leibeigenen seines Kutschers erzählt wird, der vom besiegten Teufel Geld erhalten und des Gutsherrn Besitz gewonnen hat und nun selbst Gutsbesitzer ist. Der Gutsherr wird zum Ackermann und hungert, erschöpft von der schweren Arbeit. Als ihn der Kutscher eines Tages niederwirft und mit der Knute verprügelt, ruft der ehemalige Gutsbesitzer den Teufel zu Hilfe. Der Teufel fürchtet den Kutscher wie das Feuer und stürzt sich auf den ehemaligen Gutsbesitzer, um ihn zu erwürgen. Zweifellos steht dieses Märchen mit der aufrührerischen Stimmung und den Unruhen der belorussischen Bauern in der zweiten Hälfte des 19. Jh. in Zusammenhang. Für die Folklore Südbelorußlands ist das Märchen Das Teufelsmoor (Nr. 108) charakteristisch, in dem Motive vom dummen Teufel mit Sujets über die Entstehung der Sümpfe und Wälder verschmolzen sind. Es drückt die Unzufrieden-
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heit mit dem Erreichten im Kampf gegen die elementaren Naturkräfte aus, indem es Wollen und Verstand des Menschen verherrlicht, der durch seine harte Arbeit das Antlitz der Erde umgestaltet. Sehr gut wird die Härte und Rauheit der Natur im belorussischen Polesje, dem Land der Sümpfe und Wälder, geschildert. Geschlossener als die Schwankmärchentypen vom dummen Teufel ist das Genre der Tiermärchen. Die Sujets haben eine alltägliche Grundlage, und die Handlungsträger treten mit Zügen auf, die – im entsprechenden Milieu – herrschende bildhafte Vorstellungen über Tiere widerspiegeln: Der Fuchs ist listig, der Wolf gefräßig, der Bär gutmütig. Während das Zaubermärchen die Tiere in die Sphäre des Wunderbaren überführt, versetzt sie das Tiermärchen in alltägliche Verhältnisse, indem es sie mit allen allgemein menschlichen und sozialen Mängeln ausstattet. S. Savčenko bemerkte in seiner Monographie Russkaja narodnaja skazka (Das russische Volksmärchen), S. 246, treffend, daß die „Tiermärchen wirklich die Perlen des belorussischen Märchenschatzes“ sind. Von allen ostslawischen Tiermärchen sind nach den Beobachtungen E. Karkis die belorussischen die einfachsten und für die kindliche Auffassungsgabe zugänglichsten. Darüber hinaus zeichnen sie sich oft durch eine besondere Ausdruckskraft des Alltagskolorits und durch die Schlagfertigkeit des humorvollen Dialogs aus. Als Beispiel für die hervorragende volkstümliche Meisterschaft mag die vielseitige Schilderung des Fuchses als satirische Gestalt im Märchen die Rache des Spechtes (Nr. 99) dienen. In seinen Beziehungen zum gutmütigen Specht erweist sich der Fuchs erst als neidisch, nachtragend, dabei frech, verlogen und schließlich als höhnisch und sehr grausam. An diesen lakonischen Zügen ist sehr leicht und vollständig der Charakter des gewaltsamen Unterdrückers in der Klassengesellschaft zu erkennen. Zu den am weitesten verbreiteten Typen belorussischer, aber auch russischer und ukrainischer Tiermärchen gehören „Die wilden Tiere verstecken sich vor dem seltsamen Tiere“ (AT 103), „Der Wolf, vom Hunde zu Gast gebeten, singt“
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und „Der alte Hund als Retter des Kindes (Schafes)“ (AT 100, 101). Nur für die belorussische, russische und ukrainische Folklore sind die gegen die Popen gerichteten Märchen Der katholische Fuchs (Nr. 100) und Wie sich einem Hund die Augen röteten und die Schwanzhaare sträubten (Nr. 103) charakteristisch. Im belorussischen, ukrainischen und westeuropäischen Material treten die im russischen fehlenden Märchen der Typen „Der Löwe erschrickt vor dem Pferde“ (AT 118), „Der Fuchs droht den Baum umzustoßen“ (AT 56 A) und eine Reihe anderer Typen auf. Nur im belorussischen und ukrainischen Material sind die Märchen Das Stierkalb aus Pech (Nr. 97), Der Schafbock und der Wolf (Nr. 101), Der Ochse und der Wolf enthalten. Ausschließlich im belorussischen Material gibt es die Märchen Spatzenhochzeit und Der betrunkene Löwe (Nr. 96).
V. Legenden- und Sagenmärchen Von den Zauber- und den Alltagsmärchen unterscheiden sich die Legendenmärchen wesentlich. Ihr Inhalt ist direkt oder unmittelbar mit der christlichen Religion verbunden und enthält gewöhnlich einen Lehrgedanken. Das belorussische Märchenmaterial ist ungewöhnlich reich an Legendentypen. Im Abschnitt „Legendenmärchen“ im belorussischen Katalog des Verfassers sind ungefähr 500 Sujets verzeichnet. Im russischen Material sind gemäß dem entsprechenden Verzeichnis von Aarne-Andreev insgesamt nur 56 und im ukrainischen nach Andreevs handschriftlichem Katalog nur 196 Sujets von Legendenmärchen enthalten. Während der Glaube an das Wunderbare nur in der künstlerischen Phantasie der Erzähler und der Zuhörer von Zaubermärchen existiert und in ihnen das Interesse am Ungewöhnlichen weckt, ist die Aufnahme von Legendenmärchen im Volk meist mit religiösen Tendenzen und Gedanken verbunden. Jedoch gibt es neben diesen Legendenmärchen auch solche, die frei von religiösem Lehrgehalt sind. Die Grenzen zwischen den Legendenmärchen und den Märchen anderer Genres sind oft kaum wahrnehmbar.
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Die in Šejns „Materialien“ (Bd. III) zahlreich veröffentlichten Berichte seiner Korrespondenten und Mitarbeiter über das Sammeln ethnographischer Materialien bestätigen überzeugend, daß schon im 19. Jh. viele belorussische Bauern der Religion gleichgültig gegenüberstanden. Das konnte nicht ohne Auswirkungen auf die Legendenmärchen bleiben. In den Legendenmärchen von habsüchtigen, hochmütigen Heiligen und dem grausamen Gott drückte das Volk seine Unzufriedenheit mit der sozialen Ordnung aus. Mit besonders scharfen satirischen Zügen, die an irdische Gutsherren, Beamte und Popen erinnern, sind in den belorussischen Märchen die Heiligen Petrus und Ilja (Elias) dargestellt. Petrus wird als starrsinniger, zahnloser und schwerhöriger Alter gezeigt, der vor Betrug und Diebstahl nicht zurückschreckt und (manchmal gemeinsam mit Elias) ohne Wissen Gottes handelt. Im Himmel kehrt er die Wolken und spielt als ältester Heiliger die Rolle des Amtsvorstehers. Seine Pflichten versieht er schlecht. Auf Grund seiner Stumpfsinnigkeit und Taubheit schickt er Regen auf die Erde, wenn dies gar nicht nötig ist, und stört die Bauern bei der Ernte. Elias wird als Säufer und Gauner gezeichnet, der manchmal den Bauern, zum Ärger des Petrus, Schutz gewährt und zuweilen sehr zornig wird. In den hier abgedruckten Legendenmärchen (Nr. 56, 59) werden die Existenz einer göttlichen Gerechtigkeit und die Notwendigkeit der Verehrung Gottes scharf und originell negiert. Von der Idee, daß die von Gott auf der Erde eingeführte Ordnung nur den Unterdrückern und Beleidigern der Armen nutzt, ist das Märchen vom Vertreter Gottes (Romanov IV, S. 184) durchdrungen. Beißende und scharfsinnige Kritik am christlichen Prinzip der Nichtvergeltung des Bösen üben die in Belorußland sehr populären Märchen vom Typ „Der heilige Petrus und Christus im Nachtquartier“ (AT 791). Gegen die religiöse Moral ist ein belorussisches Märchen aus Dobrovol’skijs Sammlung (I, S. 335) gerichtet, das von einem Menschen handelt, der im Kloster keine „Rettung“ finden kann und erst „heilig“ wird, als er sich verheiratet hat und ein unermüdlich arbeitender Bauer ist.
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Der Schwager der Sonne (Nr. 30) wurde in Westbelorußland in den 60er Jahren des 19. Jh. aufgeschrieben, als dort der durch das Wachstum des Kapitalismus bedingte Prozeß der Massenverarmung der Bauern begann. Es erzählt warm und mitfühlend von einem armen Knecht, der in völligem Elend lebt und gegen die Heiligen Georg und Petrus zu murren beginnt. Als er sie, die Urheber seiner Armut, im Himmel findet, verprügelt er sie erbarmungslos. Einen tiefen, verallgemeinernden Sinn hat die Gestalt des erbitterten und hungrigen belorussischen Bauern in einem vorrevolutionären Märchen über die Heiligen Mittwoch und Freitag (Seržputovskij III, S. 259), die sich als Pilgerinnen verkleidet haben und den Bauern fragen: „Wer wird vom Bauern mehr verehrt, Mittwoch oder Freitag?“ Der Bauer weicht einer offenen Antwort aus, doch als sie weggehen, beschimpft er sie beide: „Solche Dirnen, sie fragen noch, wen wir mehr verehren! Beide lassen uns hungern und fordern noch Verehrung!“ Der Protest der Mehrheit der Bauern Rußlands, die an den revolutionären Aufständen des 19. Jh. und an den Ereignissen von 1905 teilnehmen, war spontan, ohne politische Einsicht. Deshalb überwiegen in der vorrevolutionären belorussischen Folklore nicht zufällig die Werke, die nur die offizielle kirchliche Religion negieren, gegenüber den konsequent atheistischen Werken. In unserer Zeit indessen treten atheistische Volkserzähler nicht mehr vereinzelt auf, sondern sind typische Vertreter der Gemeinschaft von Sowjetmenschen. Die belorussischen Varianten einer Reihe von Legendensujets zeichnen sich durch eine besonders scharfe Anklage gegen die Unterdrückung aus, gegen die Willkür der Grundbesitzer und ihrer Handlanger. Z. B. wird in einem Märchen des Typs „Der Vertrag mit dem Teufel“ (AT 756 B) aus Šejns Sammlung folgendes Bild gezeichnet: „Der Verwalter geht zwischen den Arbeitern hin und her, schreit und peitscht sie vor sich her. Diese heulen und zittern, der Verwalter aber brüllt wütend und schlägt sie mit der Peitsche.“ (S. 373) Der Held des Märchens, ein großer Sünder, wird
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dadurch wunderbar errettet, daß er den gewalttätigen Aufseher erschlägt. Eine große Anzahl belorussischer Märchen mit Sagenmotiven wurde auf Grund von Tatsachen über die Willkür der Großgrundbesitzer zur Zeit der Leibeigenschaft geschaffen. Eines dieser Märchen wurde von W. Korolenko in der bekannten Erzählung Der Wald rauscht nacherzählt. Ähnlich lebendige Quellen hat augenscheinlich das originelle westbelorussische Märchen Wie der heilige Georg ein Mädchen rettet (Federowski II, Nr. 338, S. 306), in dem von der wunderbaren Rettung eines vom Gutsbesitzer zum Tode verurteilten leibeigenen Bauernmädchens berichtet wird: Sie wird auf dem Landsitz des Gutsherrn in einen weißen Wolf verwandelt, den Anführer eines Wolfsrudels, das auf Befehl des heiligen Georg gerechte Rache nimmt. In den belorussischen Märchen des Typs „Die Königin (Gutsherrin) wird in wunderbarer Weise mit einer Schustersfrau vertauscht“ (AT 905 A*) und in anderen Märchen wird der leidenschaftliche Traum von sozialer Vergeltung ausgedrückt. Für einen wesentlichen Teil der belorussischen Legendenund Sagenmärchen ist ebenso wie bei den Alltagsmärchen die satirische Tendenz gegen die Geistlichkeit charakteristisch. Verachtung und Haß für den gierigen Popen kommen in zahlreichen Varianten des Sujets „Der betrügerische Priester“ (AT 831) zum Ausdruck. In einem Märchen (Romanov IV, Nr. 58) vom Typ „Wer aß das Herz des Lammes?“ (AT 785) wird erzählt, wie ein habgieriger Pope einen alten Bettler mit Hunden jagt und dafür verflucht wird. In einer anderen Variante (Romanov IV, Nr. 42 B) wird der Pope zur Strafe für seine Habsucht erdrosselt. Das Motiv vom habgierigen Pfaffen wird in einigen belorussischen Legendenmärchen der Typen „Die rachsüchtigen Heiligen“ (AT 846*) und „Der reuige Teufel“ originell ausgebaut. In der zweiten Hälfte des 19. und Anfang des 20. Jh., als sich die Klassendifferenzierung im belorussischen Dorf entwickelte, wurden unter dem Einfluß der Realität immer neue Varianten von Märchen über die wunderbare Bestrafung des
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habgierigen und räuberischen reichen Bauern und die Belohnung des unglücklichen, zur Verzweiflung getriebenen, redlich arbeitenden Armen geschaffen. Mit lebensechten Zügen eines Dorfkulaken ist der Geizhals im Legendenmärchen „Die dem Bettler nachgeworfene Semmel“ versehen. Eine Variante dieses Sujets, die in Pietkiewiczs Buch Kultura duchowa Polesia Rzeczyckiego (Geistige Kultur im Retschizaer Polesje), S. 140, veröffentlicht wurde, besitzt nicht nur eine religiös-belehrende, sondern auch sozial-satirische Tendenz. Die Legendenmärchen zeigen authentisch Lebensweisheit und sittliche Ideale des Volkes, das alle schändlichen Daseinsformen und moralischen Laster streng verurteilt. Ein ausgezeichnetes Beispiel moralischer Standhaftigkeit und Tapferkeit zeigt das Märchen von Osip Milostiv (Romanov IV, S. 191-195). Die belorussischen Bauern zitieren noch heute Legendenmärchen als lehrhafte Beispiele in Gesprächen über moralisch-ethische Fragen: „Er ist kühn und geht durch die Hölle“, heißt es in einem westbelorussischen Legendenmärchen vom Kühnen, der durch das Höllenfeuer schreitet (Federowski II, Nr. 268). Einen übersättigten Menschen, der sein ganzes Leben nur dem Wohlstand geweiht hat, nennt ein Märchen „einen geizigen Reichen, der danach trachtet, von Gott die Fähigkeit zu erhalten, nicht mehr essen zu müssen“ (Federowski II, Nr. 309). In dem in Belorußland sehr populären Märchen Strafe nach vierzig Jahren (siehe Romanov IV, S. 137-139; Federowski II, S. 278 bis 279; Materialien zur Ethnographie des Graudenzer Gouvernements II, S. 359; Karłowicz, Nr. 34, S. 275-277; Ethnographische Rundschau 1896, Nr. 2-3, S. 111-116) wird die Möglichkeit persönlichen Glücks, das sich auf dem Unglück anderer gründet, verneint. Auf die vorrevolutionäre belorussische Folklore wirkte sich die kulturelle und politische Rückständigkeit der in patriarchalischen Verhältnissen lebenden Bauern aus, deren Bewußtsein von Aberglauben und Glauben an Wundertäter vergiftet war. „Die schwerste körperliche Arbeiten verrich-
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tenden Menschen“, sagte Maxim Gorki, „wurden ein Jahrtausend lang im Sinne eines sie beherrschenden allmächtigen ‚Schicksals’ erzogen.“ Dadurch wird der Überfluß an Märchen mit fatalistischem Gedankengut verständlich. In den Legenden- und Sagenmärchen zeigen sich deutlich die Gegensätze der Lebenseinstellung der patriarchalischen belorussischen Bauernschaft während der Epoche von 1861 bis 1905. Zum Beispiel kommt im Märchen Das Schicksal des Pflügers und des Kaufmannes (Romanov IV, S. 46) einerseits die Unzufriedenheit mit dem sozialen Unrecht zum Ausdruck, während es andererseits mit der fatalistischen Feststellung gerechtfertigt wird, daß dem reichen Kaufmann das „Schicksal hold“ sei. Die Märchengestalten entstehen auf der Grundlage sozialer Realität, nicht auf der des Glaubens an das Übernatürliche. Im Laufe der Jahrhunderte wurden sie jedoch in einem komplizierten Wechselwirkungsprozeß mit dem lokalen Volksglauben weiterentwickelt. Die Motive der mit dem lokalen Volksglauben verbundenen belorussischen Sagenüberlieferung, die zusammen mit Märchenmotiven von den Erzählern künstlerisch verwertet wurden, sind ihrerseits unter dem Einfluß des Märchenschatzes einer Veränderung unterworfen. Deshalb entstanden zahlreiche Übergangsformen zwischen den Sagen, an die geglaubt wird, und den Märchen. Ende des 19. und Anfang des 20. Jh., als in Belorußland der mit der alten patriarchalischen Lebensweise verbundene Volksglaube rasch verfiel, wurde das phantastische Märchen der Nährboden für zahllose Aberglaubenserzählungen (bylička). Mit der Entwicklung zu Bylitschkas, zu Erzählungen mit künstlerischer Funktion, bewiesen diese ihre Tendenz zur Verkettung mit Märchen und verwandelten sich selbst in Märchen. Eine Reihe von künstlerisch interessanten und unterhaltsamen Bylitschkas, die ihre frühere Bedeutung als Aberglaubenserzählungen verloren haben, ist in Seržputovskijs Sammlung Kazki i apavjadan’i belarusau z Sluckago pavetu (Märchen und Äußerungen der Belorussen aus dem Kreis Sluzk), 1911, abgedruckt. So kann man z. B. den Text Nr.
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49 dieser Sammlung in seinen äußeren formalen Merkmalen zu den Bylitschkas zählen. Der Volkserzähler Redkij berichtet über die Angst, die er und sein Begleiter Danilo eines Nachts auf dem Weg vom Dorf Ljutowitschi zum Flecken Groß-Roshin ausgestanden haben. Die Angstgefühle der Helden werden realistisch motiviert; der Erzähler steht auf dem nächtlichen Weg unter dem Eindruck der grausigen Geschichten von einem Gehenkten, der an der Straße zwischen Ljutowitschi und Roshin begraben liegt. Danilo, der sich etwas „Mut angetrunken“ hat, steckt mit seiner Angst den nüchternen und mutigeren Gefährten an, als ihm in der Dunkelheit der Gehenkte zu erscheinen beginnt. Der ironische Gehalt der Erzählung vom Gehenkten, für den der Erzähler und sein Freund die Pferdeherde mit den Hirten halten und die Hirten ihrerseits die nächtlichen Reisenden, wird durch den komischen Schluß hervorgehoben. Bylitschkas lustigen Charakters werden von den alten Erzählern des Pinsker Polesje noch heute erzählt. Dabei bemerken weder die Erzähler noch die Zuhörer einen prinzipiellen Unterschied zwischen jenen unterhaltsamen Bylitschkas und eigentlichen Märchen. Am populärsten sind (mit mehr als zehn publizierten Varianten vertreten): Wer aß das Herz des Lammes? (AT 785), Wie der Teufel beim Bauern für den Brotkanten arbeitete, den er bei ihm aufgegessen hat, Der Musikant beim Teufel auf der Hochzeit, Der Gerechte in der Kirche (Das Sündenregister auf der Kuhhaut) (AT 826), Nesterka oder der goldene Steigbügel, Die rachsüchtigen Heiligen (AT 846) und Die Farnblüte im Bastschuh. Diese Märchen sind sowohl für das ost- wie für das westbelorussische Material charakteristisch. Ein Sujet, „Wie der Teufel beim Bauern arbeitete“, ist in Belorußland, der Ukraine und in Polen verbreitet, während es im russischen Material nur in einem einzigen Text (in Erlenweins Sammlung) auftritt. Die anderen aufgezählten Texte sind im folkloristischen Material aller ostslawischen Völker häufig anzutreffen. Die Verschiedenheit in den Repertoires der Belorussen, Russen und Ukrainer ist bei den Legenden- und Sagenmär-
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chen bedeutender als bei den Zaubermärchen. Das liegt vor allem an der relativen Formbeständigkeit dieser Gattung sowie daran, daß nur wenige ihrer Sujets eine so weite territoriale Verbreitung wie die Mehrzahl der Zaubermärchensujets besaßen. Die Legenden- und Sagenmärchen sind indessen unmittelbar mit dem lokalen Aberglauben, den lokalen Sagen und Lebensumständen verbunden. So geht z. B. die Entstehung der zahlreichen westbelorussischen Legendenmärchen über Begegnungen mit der „Cholerafrau“ auf die Choleraseuchen zurück, die 1848-1855 und Ende des Jahrhunderts im westlichen Belorußland wüteten. Eine Reihe belorussischer Märchen mit Sagensujets entstand wahrscheinlich auf Grund der Hexenprozesse im mittelalterlichen Polen, z. B. die Märchen Die Hexentochter (Federowski II, Nr. 245), Die alte Hexe (Federowski II, Nr. 141), Die wunderbare Nähnadel der Hexe (Federowski I, Nr. 256), Der überkochende Trank (Pietkiewicz 1938, S. 225-226). Die Entstehung von Legendenmärchensujets beruht bisweilen auf Faktoren, die die Zaubermärchen fast überhaupt nicht beeinflußt haben. So hatte z. B. die polnische Kirchenpredigt in den westlichen, von Katholiken bewohnten Gebieten Belorußlands auf die Legendenmärchen bestimmenden Einfluß. Trotz der Verwandtschaft des belorussischen Märchenmaterials mit dem russischen und ukrainischen ist die Untersuchung belorussischer Varianten einzelner Legendenmärchensujets sehr kompliziert. Charakteristisch in dieser Hinsicht sind die Texte, die von N. P. Andreev in seiner Monographie Die zwei Erzsünder (FFC Nr. 54, Helsinki 1924) untersucht worden sind. Andreev hatte bei der Einordnung der belorussischen Varianten in eine der von ihm aufgestellten geographischen Gruppen Schwierigkeiten, weil jede dieser Varianten die Besonderheiten verschiedener Gruppen enthielt. Die vielfältigen belorussischen Märchen über die Erzsünder bilden deshalb für die Klassifikation des Märchenmaterials nach der Methode der finnischen geographischen Schule ein Hindernis.
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An diese Märchen grenzen ätiologische und kosmogonische Sagen an, von denen einige aus den mittelalterlichen Apokryphen hervorgegangen sind. Unter den folkloristischen Werken dieser Art sind die Texte Die Strafe des Storches und Die Verwandlung in einen Bären für den Versuch, Gott zu erschrecken mit der größten Anzahl von Aufzeichnungen (12) im belorussischen Material vertreten. Ein beachtlicher Teil der populären Sujets belorussischer ätiologischer und kosmogonischer Sagen tritt auch im ukrainischen und westslawischen Material auf, während er für die russische Folklore nicht charakteristisch ist. Dabei haben die belorussischen und ukrainischen Varianten wesentliche charakteristische Besonderheiten und unterscheiden sich stark von den westslawischen Varianten. Eine ganze Reihe ätiologischer und kosmogonischer Sagen ist nur im belorussischen und ukrainischen Material vermerkt: Mücken und Heilige, Weshalb bittet der Kiebitz um Regen?, Woher kommt der Specht?, Woher kommt die Linse?, Woher kommt der Frosch?, Wie wuchsen dem Teufel Hörner?, Die Erschaffung des Geldes und viele andere. Nur in der belorussischen Folkloretradition sind einige alte Apokryphensujets über den König Salomon (z. B. Nr. 60 Der weise Salomon) erhalten. Charakteristisch für die belorussische Folklore sind Märchen, die auf Grund der künstlerischen Umdeutung traditioneller ätiologischer und kosmogonischer Sagen durch die Volkserzähler entstanden: Der Teufel und der Mond (Nr. 107), Wer das Geld erdacht hat (Nr. 45), Woher das Böse auf der Welt kommt (Nr. 109). In diesen und in weiteren hier veröffentlichten Märchen (Nr. 104, 110) verbinden sich naive Vorstellungen über das Weltall mit tiefen Einsichten in das Leben und eindringlicher poetischer Naturdarstellung. Das Märchen Wer das Geld erdacht hat drückt durch seinen ethisch-moralischen Gedankeninhalt den zornigen Protest des Volkes gegen die Macht des Geldes im Kapitalismus und gegen die Unmenschlichkeit der Dorfkulaken aus. Der sozialphilosophische Inhalt des Märchens Woher das Böse auf der Welt kommt sprengt in noch stärkerem Maße den Rahmen der Gattung ätiologischer Sagen.
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Durch starke soziale Zuspitzung zeichnen sich viele Schwanksagen aus, die in der belorussischen und ukrainischen Folklore gemeinsam auftreten, z. B. Wie Gott die Gutsherren erschuf (Nr. 105) oder auch die nur im belorussischen Material vermerkten, z. B. Wie Gott den Pflüger und der Teufel den Beamten erschuf, Wie Gott den Popen Langhaar erschuf (Nr. 106). In das Repertoire der Volkserzähler gingen zuweilen auch lokale poetische Überlieferungen ein, speziell über heldenhafte Riesenrecken (Osiloks). In einigen dieser Sagen werden Gotteskämpfermotive ausgebaut. Die Sympathie der Volkserzähler gehört den mächtigen und freien Riesen. In der belorussischen mündlichen Überlieferung blieben sagenartige historische Erzählungen erhalten, die alte Denkmäler ostslawischen Schrifttums wiedergeben, während sie im russischen und ukrainischen Material fehlen, z. B. die Erzählung vom Smolensker Recken Merkuri. Neben einer Anzahl von Märchenüberlieferungen und Anekdoten, die der belorussischen, ukrainischen und russischen oder auch der belorussischen und polnischen Folklore gemeinsam sind, enthält das belorussische Material einzigartige Sagenerzählungen über den Fürsten Jźaslav Černyj, über die Bauernerhebungen des 17. Jh., über Tadeusz Košciuszko, über die Partisanen von 1812. Unter den gegenwärtigen Bedingungen wird die belorussische Folklore durch neue Sujets bereichert. Die Behandlung der berühmten Partisanen aus dem Großen Vaterländischen Krieg der Sowjetunion, Konstantin Zaslonov und Artemi Kovpak, in der belorussischen Folklore zeigt die Liebe des Volkes zu diesen Helden. Die Sujets der hier veröffentlichten Sagenmärchen (Nr. 121, 122) über sowjetische Partisanen erreichten eine relative Beständigkeit und gingen in die belorussische Folkloretradition ein. Anhand dieses lebendigen Materials aus jüngster Vergangenheit kann man verfolgen, wie unter der Einwirkung konkreter Ereignisse das Sujet entstand und die herkömmlichen Folkloremotive und -gestalten eine neue Entwicklung, einen neuen Gedankeninhalt erhielten. Die Ideen des sowjetischen Patriotis-
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mus, von denen die Erzählungen über Zaslonov und Kovpak durchdrungen sind, bestimmen ihre qualitative Verschiedenheit von den Werken der vorrevolutionären belorussischen Folklore.
VI. Form und Stil Die Stärke der emotionellen Wirksamkeit des Volksmärchens und das Interesse, das es bei den Zuhörern erweckt, hängen von der Meisterschaft der Erzähler, von der Lebendigkeit der Schilderung und des Dialoges ab. Der eigenartige Verbalstil der belorussischen Märchen wird vor allem durch die Besonderheiten in der Umgangssprache der belorussischen Bauern bestimmt. So findet z. B. die einzigartige Schlagfertigkeit des alltäglichen Dialogs in den besten belorussischen Märchen ihren Ausdruck, vor allem in den Alltagsmärchen. Durch einen besonders hohen szenischen Wert zeichnet sich der gedrängte, vorwärtsstrebende Dialog im bereits erwähnten Märchen Der Bauer und der Gutsherr (Nr. 87) aus. Viele Bauern Westbelorußlands beherrschen die polnische Sprache, in der Gutsbesitzer, Geistliche und polnische Beamte in früheren Jahren gewöhnlich mit ihnen redeten. Dadurch ist die eigenartige Verwendung eines zweisprachigen Dialogs seitens der belorussischen Erzähler bedingt. In westbelorussischen Märchen bedienen sich neben dem König, dem Gutsbesitzer, dem Geistlichen und dem katholischen Heiligen auch so hohe Persönlichkeiten wie der Tod und die Cholera der polnischen Sprache. Die Bauern sprechen in diesen Märchen belorussisch. Der polnische Wortschatz dient den Erzählern auch als künstlerisches Mittel, die fremdländische Herkunft der einen oder anderen handelnden Person hervorzuheben. So nennen sich z. B. die aus fremden Ländern stammenden Freier in einem Märchen über Tierschwäger (Federowski I, S. 117) „Pan“ und unterhalten sich polnisch. In den Alltagsmärchen ergibt die kontrastreiche Verbindung der vom hochnäsigen Herrn benutzten polnischen
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Sprache mit der belorussischen Sprache des scharfsinnigen Bauern einen satirischen Effekt, der die Gegensätzlichkeit in den Ideen und Interessen der beiden Handlungsträger betont. Der Reichtum an Sprichwörtern und Redensarten in der Umgangssprache der belorussischen Bauern schlägt sich auch in den Märchen nieder. Die Erzähler des belorussischen Polesje flechten zahllose Sprichwörter und Redensarten in ihre Erzählung ein. Manchmal werden beim Märchenerzählen neue Sprichwörter geboren. So fügte z. B. der Bauer Dudar aus dem Dorf Tschudin (Gebiet Pinsk)1 beim Erzählen des Märchens Das böse Schicksal eigene Sentenzen in flüssiger gereimter Form hinzu (Seržputovskij 1911, S. 107-108). Besonders lebensecht wirken in den belorussischen Märchen die bildhaften Vergleiche, die für die Umgangssprache des Volkes charakteristisch sind, z. B. die Vergleiche großer Gegenstände mit Heuschobern, riesiger Steine mit Ochsen, des Recken mit einer Eiche, des weißhaarigen Greises mit einer weißen Taube, der Säufernase mit einer roten Rübe usw. Die tägliche Umgangssprache der Bauern führt mit ihrem überschäumenden Humor in den satirischen Märchen auch zu Übertreibungen. So wird im Märchen Der Recke als Arbeiter beim Popen (Nr. 72) erzählt, daß der Pope und seine Frau sich vor ihrem Arbeiter so fürchteten, daß ihnen vor Angst „die Nissen krepierten“. Ungewöhnlich farbig sind in den Märchen des Polesje die bildlichen Vergleiche für Naturerscheinungen, z. B.: „Der Wald heult wie ein Tier. Der Wind bricht riesige Bäume, wie ein Weib den Flachs, und wirft sie zu Boden und in den Fluß.“ (Seržputovskij 1926, S. 70); „Die Wolken drängen wie Schmerle im Sieb.“ (Seržputovskij 1911, S. 16). Die belorussische Volkssprache ist außerordentlich reich an spezifischen Interjektionen, die bestimmte bildliche Vorstellungen ausdrücken. Einige werden von den Märchener1
Nach heutiger administrativer Einteilung; früher gehörte Tschudin zum Kr. Sluzk im Gouv. Minsk. (L. B.)
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zählern zur Wiedergabe der Überraschung über irgend etwas verwendet, z. B.: „Der Tölpel beugte sich zum Brot nieder. Er packt ihn, grab!, beim Kragen, aber der Tölpel, ga!, stand fest auf den Beinen.“ (Federowski I, S. 133) Andere dienen zur Kennzeichnung bestimmter Vorgänge: für das Herabfallen aus der Höhe (buch, bubuch, babuoch, bach, hoch), den Sprung (schmorg, schmurganez), das LeblosUmfallen (bryk), das Ins-Wasser-Fallen (chlop- chlip- schabaldach), einen kräftigen Schlag (benz), einen Schwertschlag (tschach, ziach, schach, tscharach), den Flügelschlag (loplop), das heftige In-die-Luft-Fliegen (furkiez, wuum, kows) u. a. m. Eine eigentümliche lyrische Nuance bringen die Verkleinerungssuffixe, die für die Volkssprache charakteristisch sind, in belorussischen Märchen und Liedern jedoch besonders oft auftreten. Die Verbindung einer Reihe von Wörtern mit Verkleinerungsendungen in einer Phrase ist ein traditionelles Verfahren der Erzähler, das u. a. indirekt das Mitgefühl mit dem Schicksal des Helden wiedergibt. So heißt es z. B. von einem von Wölfen zerrissenen Waisenkind: „Ihr Köpfchen rollte unter das Tränketröglein.“ (Romanov III, S. 354) Manchmal dient die emotionell bestimmte Anhäufung von Verkleinerungsformen in der direkten Rede der Märchenpersonen zur psychologischen Vertiefung der Gestalten. Zum Beispiel überredet die Vogelfrau in einem Märchen die Mutter ihres Mannes, ihr das gestohlene Flügelkleid wiederzugeben: „Sage deinem Sohn, Mütterchen, er soll mir mein Flügelkleidchen zurückgeben.“ (Federowski II, S. 192) Die Dialoge in den belorussischen Volksmärchen sind reich an epithetischen Wendungen, was für die Umgangssprache des Volkes charakteristisch ist: Schwan, Täuberich, Falke usw. – Ebenso wie in der Umgangssprache sind in den Märchen zahlreiche Kosebeiworte in bestimmten Wendungen fest verankert: Väterchen-Täuberich, GevatterchenTäuberich, Väterchen-Falke, Söhnchen-Falke, JungferleinFisch. Die rhythmische Wiederholung einander ähnlicher Kosebeiworte im Gespräch der handelnden Personen wird zur stilistischen Formel: „Liebstes Väterchen, bestes Väter-
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chen, nimm dich meiner an!“ (Romanov VI, S. 150); „Meine liebe Frau, meine teure Frau“ (Romanow VI, S. 219); „Mein liebes Pferd, mein gutes Pferd“ (Romanow VI, S. 173, 174) usw. – Durch eine Fülle lyrischer Epitheta (liebe Äuglein, liebe Sprache, liebes Töchterchen, helle Äuglein, lieber Königssohn) zeichnen sich einige Polesjer Märchen aus, besonders die von Redkij erzählten. Die ostslawischen Zaubermärchen sind außerordentlich reich an traditionellen „ständigen Beiworten“, die der Schilderung besondere Farbenpracht verleihen. Die Mehrheit der „ständigen Beiworte“ haben die belorussischen, russischen und ukrainischen Märchen gemeinsam: das weiße Licht, der gelbe Sand, der grüne Garten, der grüne Eichenwald, die grüne Wiese, das gelbe Kraut, der Perlentau, der helle Falke, der graue Wolf, die schnelle Taube, die brennenden Tränen u. a. Nur wenige treten ausschließlich in belorussischen Märchen auf (der dichte Wald, der stille Nadelwald u. a.). Besonders vielfältig sind sie in den ostbelorussischen Märchen. Die Anhäufung von zu einem bestimmten Wort gehörigen Epitheta ist eine eigenartige Erscheinung individuellen künstlerischen Ursprungs, z. B. „der klare, blaue, weite Himmel“ (Seržputovskij, 1911, S. 2). Die ständigen Beiworte stehen in den ostslawischen Zaubermärchen mit den für diese Märchen traditionellen stilistischen Formeln im Zusammenhang: mit einleitenden, abschließenden und an bestimmten typischen Stellen auftretenden Formeln. Neben Formeln, die in verschiedensten Märchen erscheinen, gibt es solche, die nur in Märchen bestimmter Typen gebraucht werden. So wiederholen sich in fast jedem belorussischen, russischen und ukrainischen Märchen vom Zauberpferd Sivka Burka (AT 530) einige Male die stereotypen Formeln: „Er rief mit lauter Stimme, er pfiff mit flottem Pfiff“, „Sivka Burka, weise Kaburka, komm zu mir, wie das Blatt zum Gras“, „Das Roß läuft, die Erde dröhnt, aus dem Maul lodert Feuer, aus den Ohren steigt Rauch auf.“ Die Mehrheit der traditionellen stilistischen Formeln der belorussischen Zaubermärchen steht zum russischen und
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ukrainischen Material in enger Beziehung. Der „stilistische Ritus“ gibt dem ostslawischen Zaubermärchen die ihm eigene epische Breite, die Leichtigkeit und den damit abgestimmten rhythmischen Klang. Wie im Liedepos dient die stilistische Formel in den Zaubermärchen hauptsächlich zur Darstellung von Motiven, die mehrfach wiederholt, retardiert werden. Die Wiederholung stereotyper Formeln verstärkt die Ausdruckskraft der dreiteiligen Komposition im ostslawischen Zaubermärchen. Die Märchen der westslawischen und westeuropäischen Völker haben auch ihre typischen Formeln, sie treten aber seltener auf und bilden selten solch komplizierte und integre Wortornamente wie in den ostslawischen Märchen. Der stilistische Ritus der ostslawischen Zaubermärchen trägt die historischen Spuren der Moskauer Reiche des 16. und 17. Jh. und der beruflichen Erzählkunst in der Feudalepoche. Erst im 16. Jh. entstanden im Moskauer Staate die traditionellen stilistischen Formeln: „In irgendeinem Zarenreiche, in irgendeinem Staate…“; „Auf dich warten ein Beil auf dem Richtblock und ein Totenhemd“; „Das war noch gar kein Dienst, der Dienst steht noch bevor“. Eine Reihe von traditionellen stilistischen Formeln der belorussischen, russischen und ukrainischen Zaubermärchen stammt aus dem 17. und 18. Jh. So kann die Formel „Das wurde noch in keinem Märchen erzählt und noch von keiner Feder aufgeschrieben“ erst in jener Zeit entstanden sein, als das Schreiben mit einer Vogelfeder im Reich üblich wurde (17. Jh.). Der stilistische Ritus der belorussischen Zaubermärchen bildete sich unter dem Einfluß der russischen Märchen aus. Dieser Einfluß stand im Zusammenhang damit, daß sich bei den Belorussen allmählich Begriffe einbürgerten, die auf russischem Kulturboden entstanden waren und ihren Ausdruck in den traditionellen russischen Märchenmotiven gefunden hatten. Der Reichtum an Russismen in den stilistischen Formeln der belorussischen Märchen gibt Grund zur Annahme, daß sich diese Formeln im belorussischen Märchenschatz vor dem 16. Jh. nicht weit verbreiteten. Die ost-
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belorussischen Zaubermärchen der Sammlungen von Romanov und Dobrovol’skij zeichnen sich durch einen ebenso reichen stilistischen Ritus aus wie die traditionellen russischen Märchen. Die für das belorussische Material charakteristischen stilistischen Formeln sind jedoch im wesentlichen weniger ausführlich, weniger beständig und nicht so ebenmäßig in rhythmischer Beziehung wie die des russischen Märchenmaterials. Speziell die stereotypen „Gemeinplätze“ änderten sich in den belorussischen Märchen unter dem Einfluß der elementaren Umgangssprache des Volkes. – Die weitverbreitete Ansicht von der Unveränderlichkeit der stilistischen Eigenarten des ostslawischen Märchens ist im allgemeinen übertrieben. Die Volkserzähler unterzogen die „Gemeinplätze“ einer künstlerischen Umdeutung. Das belorussische Märchenmaterial ist in dieser Hinsicht besonders aufschlußreich. So benutzt der belorussische Bauer Kuzma Andreev aus dem Dorf Kuprejewka (Kr. Gomel), wenn er von der Abrechnung des Märchenrecken mit seinen Gegnern spricht, die stereotype russische Formel: „Auf eine Hand setzen, die andere drauflegen, ein Dreck bleibt übrig.“ Diese Formel wurde jedoch von ihm neu ausgeführt: „Dann ergriff er den Zaren Idol, hob ihn an den Haaren empor, nahm alle Zotteln zusammen und setzte ihn auf die Handfläche; und wie er ihm mit der anderen Hand einen Schlag versetzte, war er platt wie eine jüdische Matze.“ (Romanov VI, S. 12) In den belorussischen Märchen treten oft spezifisch lokale stilistische Formeln auf. So gibt es nur in Südostbelorußland die Schlußbemerkung: „Drei Tage lang zechten sie und tanzten den Ljanowich (ein belorussischer Tanz) bis zum Umfallen.“ Die nur für lokale Märchen charakteristischen stilistischen Formeln wurden ursprünglich aus Liedertexten gebildet. So ist in einem belorussischen Märchen von der verachteten Stieftochter der traditionelle Dialog zwischen der Stieftochter und ihrer toten Mutter einem lokalen Waisenlied entlehnt (Federowski II, S. 74 f.). Die stilistischen Eigenheiten der Erzähler von Alltags-, Legenden- und Sagenmärchen sind kaum mit stereotypen
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Wortformeln verbunden; in ihnen ist die Ausdruckskraft der lebendigen Umgangssprache besonders stark. Die klarsten stilistischen Formeln besitzen die Alltagsund Legendenmärchen aus Polesje. In charakteristischen Einleitungen beruft sich der Erzähler darauf, das Märchen oder die Erzählung in längst vergangener Zeit, in der Kindheit, gehört zu haben, und erinnert an die weit zurückliegenden Verhältnisse, z. B. in Das Mädchen (Nr. 66), und Feuer im Herzen und Verstand im Kopf (Nr. 33). Manchmal wenden sich die belorussischen Erzähler von Alltagsmärchen oder Legendenmärchen, bevor sie mit dem Bericht beginnen, ungezwungen mit Fragen an die Zuhörer, die sie dann selbst beantworten, oder sie rufen das Interesse mit ausführlichen Einleitungserörterungen wach. I. A. Serbov weist in seiner Monographie BelorusySakuny (Belorussen-Sakunen) auf den lokalen Stilcharakter der Märchen hin, die er im Flußgebiet des Putsch (Bobruisker Gebiet) kennenlernte. Der Erzähler des Dorfes Djatlowitschi, Vasil’ Vojtovič, bei dem Serbov 1911 die Märchen aufzeichnete, war gebürtiger Einwohner des Dorfes Bostyn. Vojtovič wies nach der Erzählung eines Märchens stets darauf hin, ob es ein Bostyner oder ein Djatlowitscher Märchen war. Das Lokalkolorit der Märchen entsprach dem scharf ausgeprägten lokalen Charakter des Lebens und Brauchtums in der Patriarchalordnung, aber auch den Dialektmerkmalen in der Sprache der Djatlowitscher und der Bostyner Bauern. Unter den neuen Kulturbedingungen unserer Zeit beginnt sich das Lokalkolorit der Volksmärchen naturgemäß zu verwischen. Der erweiterte Inhalt des Volksmärchens in unserer Zeit und die allmähliche Angleichung des künstlerischen Denkens der Volkserzähler an die Denkweise der Schriftsteller bedingen Änderungen im Sprachstil und in der Bildhaftigkeit der belorussischen Märchen und führen zu einem allmählichen Absterben des stilistischen Ritus.
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VII. Erzählgelegenheiten und Erzähler In den belorussischen Dörfern werden Märchen heute wie in früherer Zeit hauptsächlich an Herbst- und Winterabenden erzählt. Nach altem Brauch versammelten sich die Bauernburschen und -mädchen in der weihnachtlichen Fastenzeit gewöhnlich zu geselligen Abenden, erzählten dort Märchen und sangen Lieder. In Gegenden, wo die Arbeitslöhne die Männer in die Stadt lockten, wurden die Märchen ungeachtet dessen von den Mädchen weiter bei den abendlichen Zusammenkünften erzählt. Fast den ganzen Winter hindurch kamen Freundinnen abends zusammen, um Garn zu spinnen; bei Arbeit und gegenseitigen Erzählungen verging die Zeit bis spät in die Nacht. Solche Mädchenzusammenkünfte finden noch heute in vielen Dörfern Westbelorußlands, des Polesjer und des Bobruisker Gebietes statt. Traditionsgemäß werden in den Dörfern die abendlichen Zusammenkünfte im Haus des jeweiligen ortsansässigen Erzählers oder der Erzählerin durchgeführt. Solche geselligen Abende sind im Poem Večernicy (Abendzusammenkünfte) des belorussischen Schriftstellers V. Dunin-Marcinkovič Mitte des 19. Jh. beschrieben. Im Dorf Poretschi (Gebiet Minsk, Bz. Puchowitschi) trafen sich im Winter 1944/45, als wir dort Märchen aufzeichneten, die verheirateten Frauen jeden Abend zum Hanfspinnen im Haus des redseligen Greises Nikolaj Gurjanovič, der ausgezeichnet Zauber- und Alltagsmärchen erzählte. Noch Mitte des 19. Jh. war in Belorußland der Typ des halbprofessionellen Märchenerzählers weit verbreitet, der die Häuser der Bauern und Gutsbesitzer besuchte. A. Gliński bemerkt im Vorwort zur Sammlung belorussischer Märchen aus dem Kreis Nowogrudok Bajarz polski (Polnischer Erzähler): „Die während der langen Winterabende beim Volk so beliebten Märchenerzähler ziehen, wie einst die Minstrels und Troubadoure, von Haus zu Haus und unterhalten die gastfreundlichen und arbeitsamen Bauern mit ihren Märchen.“ Auch im Vorwort zum zweiten Teil von Federowskis Sammlung Lud białoruski (Die Belorussen) stehen Mitteilun-
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gen über die fahrenden Märchenerzähler. Das Märchenerzählen war bis in die jüngste Zeit im belorussischen Alltag die traditionelle Bezahlung für Nachtlager und Gastfreundschaft, die Durchreisenden und Wanderern in der Winterszeit gewährt wurden. Dieser Brauch spiegelt sich im Märchen Die drei Vermummten (Nr. 50) wider. Vor der Revolution wurden die belorussischen Erzähler auch in die Häuser der Gutsbesitzer eingeladen, um dort ihre Märchen für Geld zu erzählen. In den Dörfern des belorussischen Polesje lädt die Jugend manchmal populäre Märchenerzähler zu ihren Zusammenkünften an Winterabenden ein und bewirtet sie. Auch in den schweren Jahren des letzten Krieges hatten gute Erzähler in den Waldgebieten Belorußlands viele Zuhörer und großen Erfolg. Im Walddorf Selistsche (Gebiet Minsk, Bz. Puchowitschi) erzählte der Greis Trofim Bobko an den Winterabenden der Jahre 1942 bis 1944 den Partisanen, die ihre Mußestunden bei ihm verbrachten, Märchen. Damals erschienen in Trofim Bobkos Hütte bis zu 30 Zuhörer aus den nahe gelegenen Partisanenabteilungen. In einem anderen Walddörfchen des Bezirks Puchowitschi, in Kletschino, erzählte auch die hervorragende Erzählerin Elena Strelcova (geb. 1902) den Partisanen an den Winterabenden Märchen. Heute erinnert sie sich: „Ich lebte in einer Erdhütte, unser Dorf war zerstört. Unweit im Wald befand sich eine Partisanenwache. Da kommen im Winter Partisanen in meine Erdhütte, um sich zu erholen und etwas aufzuwärmen. Einer oder zwei stehen an der Tür Wache. Nun beschäftigt sich jeder mit seinen eigenen Angelegenheiten. Aber da sage ich zu ihnen: ‚Hört zu, Jungens, ich werde euch Märchen erzählen!’ Aber dann war plötzlich Gefechtsalarm. So kam ich gar nicht zum Märchenerzählen. Nur einen von den Jungens sah ich wieder.“ In keiner anderen Zeit des Jahres werden im belorussischen Dorf so viele Märchen erzählt wie während der „Koljady“, der Tage der Vermummten (vom 27. Dezember bis zum 6. Januar). Das Märchenerzählen gehört in Belorußland seit jeher zu den Weihnachtsunterhaltungen. – In der Zeit
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des „großen Fastens“, am Tag vor Ostern und zum Osterfest war es im belorussischen Dorf vor der Revolution üblich, Legendenmärchen zu erzählen. Diese Märchen wurden von blinden Leierkastenbettlern erzählt, die im Vorfrühling in die Dörfer kamen. – Im Sommer wurden oft auf entlegenen Wiesen, Rodungen und Viehweiden am nächtlichen Lagerfeuer Märchen erzählt, aber auch an Feiertagen irgendwo auf der Dorfstraße auf Holzklötzen und Holzstößen. Das Erzählen von Alltagsmärchen, teilweise auch von Zaubermärchen, ist im belorussischen Dorf zu allen Festmahlzeiten oder Unterhaltungen üblich; manche Erzähler erzählen überhaupt nur bei diesen Gelegenheiten Märchen. In den belorussischen Dörfern und Siedlungen wurden vor der Revolution Alltagsmärchen und Anekdoten gewöhnlich in der Schenke erzählt. Einige Wirte benutzten ihre eigene Erzählkunst dazu, eine große Anzahl von Gästen in die Schenke zu locken. Als Überbleibsel der rituellen Verwertung von Legendenmärchen blieb in Belorußland bis Mitte des 19. Jh. der Brauch erhalten, zur Zeit des Sippengedenkfestes im Herbst Familiensagen zu erzählen. Im 19. Jh. war es in vielen Gegenden noch üblich, zu Hochzeiten besondere Hochzeitsmärchen zu erzählen. Vor einigen Jahren haben wir auf einer Hochzeit im Dorf Niwa (Gebiet Minsk, Bz. Puchowitschi) 2 Hochzeitsmärchen der hervorragenden Interpretin von Hochzeitsliedern, Nastasa Seml’ (geb. 1887), aufgezeichnet. Vor noch nicht allzulanger Zeit setzte sich ein Teil des Repertoires einiger Volkserzähler aus Legendenmärchen zusammen, die, ähnlich den rituellen Liedern, an den Kalender anknüpften. Den charakteristischen Typ eines alten Erzählers, dessen Repertoire sich dem landwirtschaftlichen Kalender anlehnte, stellte Nester Kupreev (gest. 1942) aus dem Dorf Brjusa (Gebiet Minsk, Bz. Borisow) dar. Er begann die „Saison“ der Zaubermärchen zur Zeit der Obstreife. Eines seiner ersten Herbstmärchen war das vom Feuervogel, dem Dieb und den goldenen Äpfeln. Später, wenn die Wildgänse nach Süden flogen, erzählte er den Dorfkindern das Märchen von den Soldaten, die auf den Gänsen zu einem
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kurzen Aufenthalt ins Heimatdorf flogen. In diesem Märchen wird der Flug der Wildgänse und ihre Landung auf der Erde ganz ausführlich geschildert. An die Druschzeit knüpfte er Märchen der Typen „Der Teufel beim Dreschen“ und „Der wunderbare Drusch“ an. Im Spätherbst und Winter erzählte Kupreev den jungen Leuten Zaubermärchen. Dabei erzählte er jedes Märchen seines Repertoires nur einmal im Jahr. Im März beendete der alte Kupreev die Zaubermärchensaison. Im Vorfrühling, ehe das Vieh auf die Weide getrieben wurde, versammelte er die Hirtenjungen um sich und erzählte ihnen lehrhafte Märchen vom Riesenochsen, der den Wolf mit den Hörnern aufspießt, und vom leichtsinnigen Hirten Sankt Georg. Nicht nur die sachkundigen Erzähler erzählen den Kindern Märchen, sondern auch fast alle Mütter, Großmütter und Großväter. Im belorussischen Polesje erzählen auch die Väter, Männer mittleren Alters, sehr oft Zauber- und Tiermärchen. Mit der Veränderung der Lebensbedingungen in Belorußland nach der Revolution änderten sich auch die Märchenerzähler-Typen. Heute gibt es in Belorußland keine Märchenerzähler mehr, die in einer Welt der Phantasie leben, der Realität nicht Rechnung tragen und treuherzig an die Macht von Zaubersprüchen glauben. Vor 50 Jahren jedoch traten an entlegenen Orten des westlichen Polesje noch solche Erzähler auf. Über einen dieser belorussischen Erzähler, Matvej Bondarčuk, der sein ganzes Leben in den finsteren Pinsker Sümpfen und Wäldern verbrachte, wird in L. Vojtolovskijs Buch Po sledam vojny (Über die Kriegsfolgen) berichtet. Im Herbst 1915 erzählte Matvej Bondarčuk Vojtolovskij eine Anzahl hervorragender Legenden- und Sagenmärchen. Als er einmal einen Zeppelin am nächtlichen Himmel sah, zog er ein Messer aus dem Stiefelschaft und beobachtete genau den Schatten auf der Erde. Als der Zeppelin verschwunden war, erzählte er eine Legende vom bösen Dämon Chut, der auf der Erde zerschellt, wenn man dreimal mit einem Mes-
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ser in seinen Schatten sticht und dazu „Einmal, zweimal, dreimal“ sagt. Es wäre falsch zu behaupten, jene abergläubischen Leute wie Bondarčuk wären die typischen Volkserzähler in Belorußland vor der Revolution gewesen. In ihrer Mehrheit waren die besten belorussischen Märchenerzähler Vertreter des fortschrittlichen Teils der arbeitenden Bauernschaft. Heute ist der Typ des lese- und schreibkundigen, aktiv am gesellschaftlichen Leben teilnehmenden Erzählers für das sowjetische belorussische Dorf charakteristisch. In unserer Zeit kennt jeder, auch der analphabetische Erzähler, Märchen, die den Einfluß des Buches widerspiegeln oder unmittelbar aus literarischen Quellen stammen. Unter dem literarischen Einfluß erlangt das Märchen manchmal wesensfremde sentimentale und melodramatische Züge. Hierin sind die Märchen der kaum lesekundigen Erzähler aufschlußreich. Die besten Erzähler überwinden geschmacklose Schablonen und bereichern die Volkskunst mit Elementen der literarischen Kultur. Die mündliche Volkskunst ist eine überwiegend kollektive Kunst der einfachen werktätigen Menschen. Aus der Masse der Erzähler treten besonders begabte hervor, die sich durch künstlerische Individualität auszeichnen. Das Schaffen jener Meister der Volkskunst, der besten Wortführer für das Denken und Hoffen der werktätigen Massen, bestimmt das künstlerische Niveau des nationalen Märchenschatzes. In der neuen Zeit wird die künstlerische Rolle der Erzählerpersönlichkeit besonders wichtig. Einer der bedeutendsten Erzähler war der belorussische Bauer Redkij aus dem Dorf Groß-Roshin des früheren Kreises Sluzk1. Von 1890 bis 1907 schrieb Seržputovskij bei dem greisen Redkij mehr als 50 folkloristische Texte auf, die jedoch nur einen Teil seines Repertoires bildeten. Redkij s Märchen enthalten viel alte Volksweisheit und sind zugleich vom Geist der revolutionären Ereignisse seiner Zeit durch1
Heute gehört das Dorf zum Bz. Ganzewitschi im Gebiet Pinsk. (L. B.)
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drungen. Wie andere Erzähler des belorussischen Polesje begann Redkij gewöhnlich mit seinen Zuhörern über moralphilosophische Themen zu sprechen und erzählte dann zur Bestätigung der von ihm dargelegten Gedanken ein Märchen. Das Spannungsmoment des Sujets interessierte ihn wenig. Er richtete sein Augenmerk beim Erzählen auf das menschliche Leben. In seinen Märchen propagiert er revolutionäre Ideen (Der Recke, Nr. 9; Iwan Einfaltspinsel), verkündet er das Ideal der sozialen Gleichberechtigung und freien Arbeit (Die Schwalben, Der Bär), weckt er den Haß gegen die parasitären Ausbeuterklassen (Wie der Teufel die Gutsherren zugrunde richtete, Den Gutsherren zur Lehre, Nr. 88) und veranlaßt seine Zuhörer, an der Macht der Dorfzauberer und an der Möglichkeit „heiliger Wunder“ (Salomka, Die Absolution) zu zweifeln. Ohne das folkloristische Sujet zu zerstören, vertiefte Redkij es originell, indem er es mit neuem Inhalt füllte. Ein unbedeutendes Schwanksujet wird bei Redkij zur Grundlage eines satirischen Märchens mit tiefem sozialem Sinn. Die autobiographische Erzählung Von der nächtlichen Wanderung erhält den Wert einer hervorragenden humoristischen Novelle. Redkijs Zaubermärchen enthalten viele lyrische Stimmungen und psychologische Feinheiten. Lyrik und Humor vereinigen sich in der Schilderung des Gemütszustands der alten Großmutter, die den wunderbaren Recken (Osilok) im Märchen Der Recke (Nr. 9) zur Welt gebracht hat. Voller Innigkeit gibt der Erzähler die Stimmung des Mädchens wieder, das von dem in ein Ungeheuer verwandelten Königssohn in den finsteren Wald gebracht wird. Für die Wiedergabe der Gemütsbewegungen seiner Helden verzichtet Redkij auf eine genaue Naturbeschreibung. Die Landschaft spielt in seinen Märchen die gleiche Rolle wie in den lyrischen Volksliedern. Redkij, der beste uns bekannte Erzähler des belorussischen Polesje, war jedoch nicht eine zufällige Ausnahme. Zu den großen Meistern der Volkskunst zählen auch Danilo Kuleš, Levon Lebedzik, der alte Savickij, Matruna Bochmačicha, Petr Grickevič und andere Polesjer Erzähler, deren Mär-
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chen in das vorliegende Buch aufgenommen wurden. Diese Märchen zeugen von der hohen Kultur der Volksdichtung der Polesjer Belorussen, trotz der – oftmals schablonenhaften – Behauptung von der hoffnungslosen Finsternis und Zurückgebliebenheit Polesjes vor der Revolution. Nicht nur in Polesje, sondern auch in anderen Bezirken Belorußlands gab es vor der Revolution und gibt es noch heute sehr talentierte Volkserzähler. Der bedeutendste Volkserzähler des 20. Jh., Filipp Gospodarev (1865-1938), wurde in der Familie eines armen belorussischen Bauern im Dorf Sabadja (Gouv. Mogilew) geboren. Für seine aktive Teilnahme an den revolutionären Aufständen der belorussischen Bauern wurde er 1906 in den Norden verbannt, nach Petrosawodsk, wo er bis zu seinem Lebensende als Schlosser in einem metallurgischen Betrieb arbeitete. Ungefähr 100 von Gospodarev aufgezeichnete Märchen sind in dem Buch Skazki F. P. Gospodareva (F. P. Gospodarevs Märchen), Vorwort von Prof. M. K. Azadovskij, Einleitungsaufsatz und Anmerkungen von N. V. Novikov, Petrosawodsk 1941, veröffentlicht. Fast alle Märchen seines umfangreichen Repertoires hat sich Gospodarev auf dem Lande in Belorußland angeeignet, aber in ihrer Sprache und ihrem künstlerischen Stil erscheinen neben der belorussischen Grundlage stellenweise nordrussische Besonderheiten. In Gospodarevs Sammlung herrschen traditionelle Zaubermärchentypen vor. Sie besitzen die für ostslawische Märchen typischen kompositorischen und stilistischen Merkmale. Gleichzeitig enthalten sie wesentliche neue sozialpsychologische und satirische Motive und spiegeln die Haltung der fortschrittlichen, revolutionären belorussischen Bauernschaft Anfang des 20. Jh. wider. Die traditionelle Form und der neue Inhalt harmonieren gut miteinander. Die Helden Gospodarevs sind Wunderrecken, die die „dickwanstigen Gutsherren“ zwingen, ihren Reichtum mit den armen Bauern zu teilen, edle Räuber, die den Ausbeutern wegnehmen, was gerechterweise den Werktätigen gehören müßte, revolutionär gesinnte Soldaten, die erfolgreich bei den Helfern des Gutsherrn agitieren. Charakteri-
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stisch für Gospodarevs Zauber- und Alltagsmärchen sind der prächtige Volkshumor im Dialog und die klare Individualisierung und psychologische Beschreibung der Gestalten. Ein Glanzstück ist Gospodarevs Märchen Die Soldatensöhne (Nr. 2). Das kann man von vielen mittelmäßigen Märchen Gospodarevs allerdings nicht sagen. Aber können überhaupt alle Märchen eines Erzählers mit so großem Repertoire in gleichem Maße kunstvoll sein und seine schöpferische Individualität ausdrücken? Die Volksmärchen sind ja nicht Werke eines bestimmten Autors. Der Erzähler schafft eigentlich keine Märchen, er vervollständigt mit darstellerischen Mitteln vorhandene Volkstraditionen, erweitert und interpretiert sie. Wenn nun Die Soldatensöhne ein Glanzstück ist, so ist das nicht nur durch die künstlerische Meisterschaft Gospodarevs bedingt, sondern auch dadurch, daß er – wie man weiß – dieses Märchen von dem hervorragenden belorussischen Volkserzähler K. Ševcov übernahm. Unter den lebenden belorussischen Erzählern zeichnet sich I. J. Mokej (geb. 1882), ein alter Arbeiter aus dem Flecken Daretschin (Gebiet Grodno), durch hohe künstlerische Individualität aus. Das Märchenerzählen schließt stets theatralische Elemente ein. Die Kunst Mokejs hat besonders viel mit der Kunst eines Regisseurs und Schauspielers gemeinsam. Seine Zuhörer eignen sich das Märchen wie eine Aufführung an. In einer Ecke seiner mit Zuhörern überfüllten Hütte spielt Mokej das Märchen mit verteilten Rollen vor, indem er die verschiedenen Stimmen und Bewegungen, Mimik und Gang der Märchenpersonen nachahmt. Die Schilderungsepisoden gibt er auf dem Schemel sitzend mit gleichmäßiger, leiser Stimme wieder. Wenn der Dialog beginnt, wird Mokej plötzlich lebendig, erhebt sich von seinem Platz und verwandelt sich gleichsam in seine Handlungspersonen. Mokejs Repertoire enthält etwa 60 für das belorussische Märchenmaterial sehr charakteristische Sujets, vorwiegend für Alltagsmärchen. Die berichtenden Episoden sind in Mokejs Märchen als Zwischenglieder zu bewerten, die die dramatischen Szenen miteinander verbinden. Um dem traditio-
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nellen Märchen eine höhere Sujetintensität zu verleihen, kürzt er einige Episoden oder ändert ihre Reihenfolge, zuweilen ändert er sogar den traditionellen Handlungsausgang ab. So wird z. B. im Märchen Der Zauberstab (Nr. 18) der glückliche Ausgang durch einen dramatischen ersetzt: Alle Helden werden für immer versteinert. Oft kontaminiert Mokej originell komische und dramatische Sujets. Der traditionelle Märchenritus wird von ihm schroff zerstört. In dem von Mokej erzählten Märchen Tiermilch wird die dreimalige Reise nach Tiermilch dadurch ersetzt, daß der Held eine Reise durchführt, auf der er von drei Tieren Milch erhält. Eine hervorragende Erzählerin unserer Zeit ist auch die Kolchosbäuerin Josefa Ždanovič (geb. 1913) aus dem Dorf Dorsha (Gebiet Molodetschno, Bz. Oschmjany). Sie behandelt traditionelle Zauber- und Legendensujets lyrisch. Ihre Märchen über verschiedene Sujets sind ähnliche Variationen eines lyrischen Themas, z. B. der glücklichen Liebe. Die Sprache ist sehr rhythmisch. Einige Märchen sind originelle Nacherzählungen literarischer Märchen, die Jozefa Ždanovič gelesen hat. Für unsere Zeit ist der Typ des gebildeten Bauernerzählers charakteristisch, den Andrej Sazanovič (geb. 1893) aus dem Dorf Kasennye Lytschizy (Gebiet Baranowitschi, Bz. Ljubtscha) verkörpert. Dieser Erzähler schloß die Landschule ab und bildete sich durch Selbststudium weiter; er besitzt eine kleine Bibliothek. Andrej Sazanovič bewahrt einen großen Vorrat an alten Legendenmärchen, die er von seinem Vater und seinem Großvater gehört hat, in seinem Gedächtnis und erzählt sie hin und wieder der Dorfjugend. In seiner Erzählung verwandelt sich jedoch jede traditionelle Legende in eine originelle Prosadichtung. Er bereitet sich ernst und sorgfältig auf das Erzählen von Legendenmärchen vor, mit Hilfe von Papier und Bleistift ergänzt er das traditionelle Sujet nach seiner eigenen Phantasie. Im Stil Andrej Sazanovičs offenbaren sich Liebe zum Wortornament und Gefühl für musikalischen Rhythmus. Das hier aufgenommene Legendenmärchen Das unsterbliche Lied (Nr. 117) liegt auf der Grenze zwischen folkloristischer und literarischer Kunst.
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So ändern sich die Daseinsbedingungen des Volksmärchens zugleich mit den grundlegenden Lebensbedingungen des Volkes. Auch die Märchen selbst ändern sich. Sie werden durch neue soziale Motive bereichert. Die Elemente des psychologischen Realismus entwickeln sich in ihnen weiter. Die gattungsmäßige Abgeschlossenheit des Zaubermärchens wird zerstört. Die Komposition der Märchen wird komplizierter. Ein ständiger Annäherungsprozeß zwischen der Volkskunst der Märchenerzähler und der individuellen Kunst der Schriftsteller geht vor sich. Sehr aufschlußreich sind in dieser Hinsicht die neuen Sagenmärchen und Feuilletonmärchen, die in den Kriegsjahren bei den Partisanen entstanden (Sagen und Erzählungen über Zaslonov und Kovpak, Wie Hitler zu schielen begann, Warum es in Belorußland so viele Partisanenabteilungen gibt, Hitler in Mogilew usw.). Diese folkloristischen Werke sind mit den Traditionen der belorussischen Volkskunst verbunden, erfüllen jedoch neue agitatorisch-politische Aufgaben. Einige dieser Werke wurden sowohl mündlich als auch auf literarischem Wege verbreitet; es ist unmöglich, in ihrem Stil das Folkloristische vom Literarischen abzugrenzen. Die Ansicht ist weit verbreitet, daß mit dem Eindringen von Motiven der Gegenwart und der modernen Kultur die Phantastik des Märchens zerstört wird. Das scheint jedoch nicht so zu sein. Die phantastischen Abenteuermärchen sind für die heutige belorussische Folklore ebenso charakteristisch wie die alltäglichen. Das freie Spiel der künstlerischen Phantasie, dem sich viele Märchenerzähler heute hingeben, schafft neue Möglichkeiten für die Entstehung von Märchengestalten und -sujets. Den Entwicklungsweg des Volksmärchens vorauszusagen erscheint kaum möglich. Unbestreitbar ist jedoch, daß das Märchen sich nicht überlebt hat, sondern auch heute eine Zukunft besitzt. Moskau/Ufa 1963
L. G. Barag
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Anmerkungen In der vorliegenden Sammlung werden belorussische Volksmärchen verschiedenster Gattungen vorgestellt, die in allen Gebieten Belorußlands und im angrenzenden Smolensker Gebiet der RSFSR aufgeschrieben wurden. Den Märchen aus Polesje ist in der Sammlung mehr Raum als den Märchen anderer Gebiete Belorußlands gewidmet, weil hier im Volksmilieu das mündlich tradierte Märchen bis heute künstlerisch am lebendigsten fortbesteht. Die ältesten von uns veröffentlichten Texte wurden in den 60er Jahren des 19. Jh. aufgeschrieben, die jüngsten 1945 bis 1951. Die Sammlung spiegelt eine hundertjährige Entwicklungsperiode des belorussischen Märchenschatzes in hauptsächlich bei den besten Volkserzählern aufgenommenen Texten wider. Das Repertoire einiger herausragender Erzähler (Redkij, Michajlov) ist mit mehreren Texten vertreten. Im Bestreben, die Märchen in Ideen- und Themenzyklen zu gruppieren, wichen wir wesentlich vom formalen Ordnungsprinzip ab, das im Aarne-Thompson-Katalog dargelegt wird. Alle Märchen aus den Jahren 1945 bis 1951 stammen aus unseren Aufzeichnungen und werden hier zum ersten Mal veröffentlicht. In den Anmerkungen werden Hinweise auf entsprechende Nummern folgender Kataloge gegeben: 1. The Types of the Folktale. A Classification and Bibliography. Antti Aarnes Verzeichnis der Märchentypen (FF Communications Nr. 3). Translated and enlarged by Stith Thompson. Second Revision, Helsinki 1961 (= FFC 184) (abgekürzt AT). 2. N. P. Andreev, Ukazatel’ skazočnych sjužetov (russkych) po sisteme Aarne (Verzeichnis der russischen Märchensujets nach dem System von Aarne), Leningrad 1929 (abgekürzt AA).
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Wo ein von uns publiziertes Märchen nicht nach diesen Katalogen numeriert werden konnte, erscheint in den Anmerkungen „AT–“. Ein Hinweis auf den Katalog von AarneAndreev bei fehlendem Hinweis auf den Aarne-ThompsonKatalog bedeutet, daß das entsprechende Märchen nur nach dem Verzeichnis russischer Märchensujets klassifiziert werden kann. Wenn es zum Sujet eines veröffentlichten Märchens entsprechende bibliographische Hinweise in den Anmerkungen Zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm, neubearbeitet von J, Balte und G. Polívka (abgekürzt BP) oder in der Bibliographie des ouvrages arabes von V. Chauvin (abgekürzt Chauvin) gibt, so wird auf diese Werke aufmerksam gemacht. In der Regel haben wir zu jedem Märchen alle veröffentlichten belorussischen Varianten aufgezählt. Falls wir nicht über vollständige Daten ihrer Erzähler, Zeit und Ort der Aufzeichnung des Märchens verfügen, müssen wir uns auf die Mitteilung der bekannten Daten beschränken. In den Anmerkungen wird auch auf die wichtigsten wissenschaftlichen Arbeiten hingewiesen, die in direkter Beziehung zum Sujet des einen oder anderen veröffentlichten Märchens stehen. – In die 3. Auflage des vorliegenden Buches sind einige Änderungen und Ergänzungen in den Anmerkungen zu den Nummern 39, 68, 100 und 119/2 aufgenommen worden. Der Herausgeber dankt Frau Dr. Helena Kapełus (Warschau) für die Hinweise auf polnische Sujetparallelen. Die Texte unseres Bandes sind den folgenden Sammlungen belorussischer Volksmärchen entnommen: Barag, Hs.: Handschriftliche Sammlung belorussischer Volksmärchen, aufgezeichnet von L. G. Barag in verschiedenen Bezirken Belorußlands in den Jahren 19451951. Čubinskij II: P. P. Čubinskij, Trudy ėtnografo-statističeskoj ėkspedicii v zapadno-russkij kraj (Ergebnisse einer ethnographisch-statistischen Expedition in die westrussische Region), Bd. II, Petersburg 1878.
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Dobrovol’skij I: V. N. Dobrovol’skij, Smolenskij ėtnografičeskij sbornik (Smolensker ethnographische Sammlung) I, Petersburg 1891. Federowski I: Michał Federowski, Lud białoruski na Rusi litewskiej (Die Belorussen im litauischen Rußland), Bd. I, Krakau 1897. Federowski II: M. Federowski, Lud białoruski na Rusi litewskiej, Bd. II, Teil 1, Krakau 1902. Federowski III: M. Federowski, Lud białoruski na Rusi litewskiej, Bd. II, Teil 2, Krakau 1903. Gospodarevs Märchen: Skazki Filippa Pavloviča Gospodareva (Die Märchen Filipp Pavlovič Gospodarevs). Mit einem Vorwort von M. K. Azadovskij und einem Einleitungsaufsatz von N. V. Novikov, Petrosawodsk 1941. Klich: Edward Klich, Teksty białoruskie z powiatu nowogródskiego (Belorussische Texte aus dem Kreis Nowogrudok). Materialy i Prace Komisji językowej, Bd. III, Krakau 1903. Romanov III: E. R. Romanov, Belorusskij sbornik (Belorussische Sammlung) III, Mogilew 1887. Romanov IV: E. R. Romanov, Belorusskij sbornik IV, Mogilew 1891. Romanov VI: E. R. Romanov, Belorusskij sbornik VI, Witebsk 1901. Šejn, Belorussische Volkslieder: P. V. Sejn, Belorusskie narodnye pesni (Belorussische Volkslieder), Petersburg 1874. Šejn II: P. V. Šejn, Materialy dlja izučenija jazyka i byta russkogo naselenija Severo-Zapadnogo kraja (Materialien zum Studium des Lebens und der Sprache der russischen Bevölkerung der Nordwestregion), Bd. II, Petersburg 1893. Seržputovskij I: A. K. Seržputovskij, Skazki i rasskazy belorussov-polešukov (Märchen und Erzählungen der Polesjer Belorussen), Petersburg 1911. Seržputovskij II: A. K. Seržputovskij, Skazki i apavjadani belarusau-paljašukou z Sluckaga pavetu (Märchen und
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Erzählungen der Belorussen aus dem Kreis Sluzk), Minsk 1926. Seržputovskij III: A. K. Seržputovskij, Prymchi i zababony belarusau-paljašukou z Sluckaga pavetu (Aberglauben und Omina der Belorussen aus dem Kreis Sluzk), Minsk 1930. Weitere Titel siehe S. 843-859. 1. Der Schmied (Serzputovskij I, S. 152-166, Nr. 71) ähnelt AT 650 A (Der starke Hans, BP II, Nr. 90), 554 (Die dankbaren Tiere, BP II, Nr. 62), 410 (Die schlafende Schöne [Dornröschen], BP I, Nr. 50). Erzählt vom hundertjährigen Bauern Redkij im Dorf Bolschoj-Roshin (Gouv. Minsk, Kr. Sluzk) in den Jahren 1890 bis 1907. Über Redkij vgl. Nachwort (Abschn. VII) und den Aufsatz: L. Barag, Skazočnik Redkij (Der Erzähler Redkij), in der Zeitschrift Polymja, Minsk 1946, Nr. 4, S. 143-151. Gewisse Ähnlichkeit mit Redkijs „Schmied“ hat ein Märchen aus Glińskis Sammlung (III, Nr. 2): Der mächtige Recke erweckt die versteinerte Zarin und zwölf versteinerte Recken zum Leben, die vor ihm ausgezogen waren, sie zu suchen. Redkij entwickelt das traditionelle Märchensujet, „indem er von sich aus viele Nebenumstände hinzufügt und seine Erzählung durch bildhafte Beschreibungen der Natur und des psychischen Zustands der handelnden Personen ausschmückt“ (Seržputovskij I, S. V). So wird z. B. das Motiv vom „Mäuschen, das auf der Brust des Schmiedes sitzt und ihn an seine Pflicht erinnert, den Leuten Gutes zu tun“, durch die künstlerische Phantasie des Erzählers weiterentwickelt. Interessant ist, daß der Einfluß von Redkijs Märchen über die Grenzen des ethnographischen Belorußland hinausdrang. 1931 wurden in den Acta et commentationes universitatis Tartuensis XXII, 3, Tartu 1931 (Estland), einige litauische Volksmärchen in litauischer Sprache herausgegeben. Im Text Nr. 1, der von Jones Smilgins im Dorf
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Bebrjanki im Wilnaer Gebiet aufgenommen wurde, herrscht erstaunliche Übereinstimmung mit Redkijs „Schmied“. Ähnliche Übereinstimmung kann man leicht zwischen dem litauischen Text Nr. 7, der von Jozefa Bojkova im Dorf Lushinej im Wilnaer Gebiet stammt, und Redkijs Märchen „Der Recke“ (s. Anm. zu Nr. 9) feststellen. In den genannten Fällen haben offenbar Redkijs Märchen, die in dem Buch Belorusskie skazki (Belorussische Märchen), Ausg. I, Wilna 1929, in belorussischer Sprache abgedruckt waren, die litauischen Erzähler des Wilnaer Gebiets unmittelbar beeinflußt. Weitere Märchen Redkijs siehe Anm. Nr. 9, 25, 38, 45, 67, 87. 2. Die Soldatensöhne (Gospodarevs Märchen, Nr. 2) AT 303; BP I, Nr. 60, II, Nr. 85. Monographie: K. Ranke, Die zwei Brüder, Helsinki 1934, FFC 114. Siehe auch die Untersuchung von E. S. Hartland, The Legend of Perseus, 18941896, und den Aufsatz von A. I. Nikiforov, Pobeditel’ smeja (Der Drachentöter), in der Sammlung Sovetskij folklor, 1934, Nr. 4-5, S. 143. Hartland verfolgt die Entstehung und Entwicklung der Märchen von den zwei Brüdern in ihrer Gesamtheit in der orientalischen Folklore des Mittelalters. Im veröffentlichten belorussischen Material sind folgende Varianten des vorliegenden Sujets enthalten: Romanov III, S. 133-142, Nr. 17; IV, S. 60-69, Nr. 6, S. 382-394, Nr. 42; Dobrovol’skij I, S. 478-491, Nr. 13; Klich, S. 159-160. – Zu S. 66 unseres Textes: „Marienhain“ ist der Name einer sentimentalen Erzählung von W. A. Šukovskij (17831852), deren Handlung in einem Vorort von Moskau, in Marienhain, spielt. Wahrscheinlich ist dieser Name aus dem literarischen Werk in das Volksmärchen übergegangen. – Über den hervorragenden Volkserzähler Filipp Gospodarev siehe Nachwort (Abschn. VII). Er übernahm das Märchen in seiner Jugend von dem Erzähler K. Ševcov im Heimatdorf Sababja (Gouv. Mogi-
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lew). Ševcov beendete dieses Märchen mit den Worten: „Es kommt die Zeit, Bauern, wo es keine Gutsbesitzer mehr geben wird. Wir haben uns aus der Leibeigenschaft befreit und werden uns auch von den Gutsbesitzern befreien.“ Die gegen die Gutsherren gerichtete Tendenz wurde von Gaspodarev, dem aktiven Teilnehmer an einem der revolutionären Bauernaufstände im Jahre 1903, wesentlich verstärkt. Das Motiv des Zusammenstoßes der Soldatensöhne mit den Gutsbesitzern und dem Lehrer fehlt in anderen veröffentlichten Varianten des vorliegenden Sujets. Die satirische Behandlung der Gestalt des Gutsbesitzers und die Darstellung der Soldatensöhne als mächtige Rekken, die die Interessen der werktätigen Bauernschaft vertreten, sind für die belorussischen Zaubermärchen charakteristisch. 3. Michas der Witwensohn (Barag, Hs.) AT 301 A + 300 A; BP II, Nr. 91, III, Nr. 166. Die älteste Version des weltbekannten Sujets „Die drei geraubten Prinzessinnen“ ist die Erzählung des griechischen Schriftstellers Konon (1. Jh.) vom Hirten, der von seinen Gefährten in eine unterirdische Höhle geworfen und von einem riesigen Geier wieder herausgetragen wird. Ein Märchen des Typs 301 A ist auch in der mongolischen Sammlung Siddhi Kür und in der altindischen Sammlung Vêtâlapañ-cavimśatika (Nr. 3) enthalten. Das Sujet „Der Kampf auf der Brükke“ (AT 300 A) tritt nur im ostslawischen Material häufig auf; es gibt aber auch slowakische, tschechische und livländische Varianten dieses Sujets. Das von uns veröffentlichte Märchen erzählte der Bauer Vasilij Zubač, 43 Jahre, im Dorf Wolka-Obrowskaja (Gebiet Pinsk, Bz. Telechany) 1946. Die Dorfgenossen nennen den redseligen und schlagfertigen Zubač einen „geborenen Erzähler“ mit „spitzer Zunge“. Das Märchen „Michas der Witwensohn“ wurde von uns im Juli am nächtlichen Lagerfeuer aufgeschrieben, als Zubač mit
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seinen Dorfgenossen Eschenklötze auskochte und sich anschickte, sie zu Reifen zu biegen. Die ganze Nacht hindurch erzählte er damals Zaubermärchen. Eine Verschmelzung der Sujets wie in dem veröffentlichten Märchen tritt im belorussischen Material hin und wieder auf, siehe Dobrovol’skij I, S. 410-416, Nr. 6. Es gibt zahlreiche belorussische Märchen über ein unterirdisches Königreich: Romanov III, S. 78-110, Nr. 12, 13, 14; S. 154-164, Nr. 20; IV, S. 117-149, Nr. 13, 14, 15, 16; S. 335-360, Nr. 36 a, 36 b, 37, 38; Šejn II, S. 86-88, Nr. 45; S. 102-116, Nr. 53, 54; Federowski I, S. 126-130, Nr. 345; S. 133-135, Nr. 348; II, S. 87-90, Nr. 64; S. 332-333, Nr. 390; Klich, S. 134-136; Čubinskij II, S. 229-333, Nr. 390 (Gouv. Grodno); Dobrovol’skij I, S. 410-416, Nr. 6; S. 501510, Nr. 17; Afanas’ev, Nr. 132 (Gouv. Smolensk). Wir weisen auch auf die veröffentlichten Märchen des Typs 300 A hin: Romanov III, S. 110-113, Nr. 15, 16; S. 154-164, Nr. 20; IV, S. 248-276, Nr. 27, 28, 29; S. 335-354, Nr. 35, 36, 37; S. 360-370, Nr. 39; Federowski I, S. 131-132, Nr. 347; Dmitriev, 1869, S. 146 (Afanas’ev, Nr. 126); Afanas’ev, Nr. 135 (Gouv. Smolensk); Dobrovol’skij I, S. 405-433, Nr. 5, 6, 7; S. 444-451, Nr. 9. Die folgenden in Zubačs Märchen verarbeiteten Motive sind im ostslawischen Material nicht anzutreffen: 1. „Die Zarinnen in den Türmen“; 2. „Der Zauberer umgibt den Helden mit einer hohen steinernen Wand“; 3. „Die Krähe schenkt drei Zauberzügel“; 4. „Die Flucht aus dem Turm auf goldenem Roß“; 5. „Das goldene Pferd zertritt den Turm und den Zauberer, der die Gestalt eines Bräutigam-Nebenbuhlers angenommen hat.“ 4. Der Recke ohne Beine (Seržputovskij II, S. 47-52, Nr. 23) ähnelt den Drachentötermärchen (AT 300), teilweise auch den Märchen von dankbaren Tieren (AT 554; BP I, Nr. 60, II, Nr. 62). Das belorussische Material enthält folgende
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Varianten des Sujets 300: Romanov III, S. 78-85, Nr. 10; S. 99-110, Nr. 14; S. 142-154; Nr. 18 (zwei Varianten); S. 198-205, Nr. 26; VI, S. 370-378, Nr. 40; Federowski I, S. 120-126, Nr. 342, 343; S. 131-132, Nr. 347; II, S. 187-188, Nr. 162; Dobrovol’skij I, S. 501-510, Nr. 17; Karłowicz, ZWdAK XI, 1887, S. 237238, Nr. 5. Die Episode von der Genesung des Jünglings ohne Beine und seiner Ausstattung mit Reckenkräften ist wie in dem Märchen über Ilja Muromec (AA *650 I) behandelt. Der Erwerb des Reckenpferdes und der Waffen wird in dem für die ostslawischen Reckenmärchen charakteristischen Stil geschildert. Das Märchen enthält Nachklänge der Sagen über RiesenOsiloks, die zu ihrem Vergnügen Bäume ausreißen und gewaltige Steine transportieren. Es wurde von dem alten Bauern Danilo Kuleš im Dorf Tschudin (Gouv. Minsk, Kr. Sluzk) Anfang des 20. Jh. erzählt. Nach der Charakteristik Seržputovskijs war er ein glänzender Erzähler, der nur dann Märchen erzählte, wenn er einen leichten Rausch hatte. Ein Märchen des gleichen Erzählers siehe Nr. 61. 5. Kosak Michailo (Romanov IV, S. 36-60, Nr. 5) umfaßt eine Reihe von Sujets: AT 650 + 314 + 554 + 300. Die Episoden vom Schulbesuch des Riesen und seinem Zusammenstoß mit dem Zaren erinnern an das Märchen „Die Soldatensöhne“ (Nr. 2). Der letzte Teil hat gewisse Ähnlichkeit mit den Märchen über das unterirdische Zarenreich (Romanov III, Nr. 14, und Afanas’ev Nr. 161): das Zusammentreffen zweier mächtiger Recken, ihr Sieg über Baba-Jaga. Erzählt vom Bauern Makar Alekseev im Dorf Bolschoj-Babinitschi (Gouv. Mogilew, Kr. Gorki) in den 80er Jahren des 19. Jh. 6. Wie ein Soldat nach Hause zurückkehrte (Barag, Hs.) AT 475 + 508 + 300; BP II, Nr. 100, III, Nr. 213, 217, I, S. 547-551, Nr. 60. Erzählt von Daniil
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Račinskij, 47 Jahre, am 20. Februar 1946 im überfüllten Zuhörersaal des Dorfsowjets in Stschorsy (Gebiet Baranowitschi, Bz. Ljubtscha). Račinskij ist ein ausgezeichneter Erzähler und besitzt ein sehr großes Märchenrepertoire, das er sich bei alten Soldaten angeeignet hat. Das Sujet „Der Mann als Heizer des Höllenkessels“ (AT 475) wird im veröffentlichten belorussischen Material in folgenden Varianten dargestellt: Seržputovskij II, S. 192-197, Nr. 77; Dobrovol’skij I, S. 284, Nr. 50; Federowski I, S. 225-226, Nr. 1084. In Račinskijs Märchen wird dieses Sujet nur unvollständig behandelt. Originell wird in dem Märchen das Sujet „Der dankbare Tote“ (AT 508) dargestellt. Die Episode, in der ein Mensch von einem Toten wunderbare Kräfte erhält, ist aus einer Reihe von belorussischen Texten bekannt, vgl. z. B. Romanov VI, S. 468, Nr. 52; Dobrovol’skij I, S. 165-166, Nr. 104. Märchen des Typs 508 sind jedoch im veröffentlichten belorussischen Material nicht vorhanden. Das Sujet „Der Drachentöter“ (AT 300) wird von Račinskij in einer für Soldatenmärchen typischen Weise behandelt (Motiv der Rivalität zwischen Soldat und General). Belorussische Variante dieses Sujets: siehe Anm. zu Nr. 4. Die Meisterschaft des Erzählers Račinskij erweist sich deutlich in den Schilderungen alltäglicher Details und in den komischen Szenen. In Račinskijs Märchen treten oft Elemente des Lebens und der Kultur der Neuzeit auf. Im vorliegenden Märchen wird z. B. von einer Asphaltstraße und Wunderpferden, die im Stall bestimmte Nummern haben, erzählt. 7. Erbse und der Drache (Šejn II, S. 171-178, Nr. 83) AT 312 D; BP III, S. 429-431, Nr. 197. Es gibt nur wenige westeuropäische oder orientalische Varianten, eine der ältesten ist in der Sammlung Tausendundeine Nacht enthalten. Märchen des vorliegenden Typs sind im russischen Material selten, jedoch in Belorußland und der Ukraine weit-
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verbreitet und erhielten dort charakteristische Eigenschaften des Heldenepos. Belorussische Varianten: Šejn II, S. 89-91, Nr. 46; Federowski I, S. 110-113, Nr. 338, 339; II, S. 84-85, Nr. 62; Dobrovol’skij I, S. 624-630, Nr. 37; Dmitriev, 1869, S. 146-162 (Afanas’ev, Nr. 133); Karskij, Materialy III, S. 122-123; Čubinskij II, S. 229, Nr. 67 (Kr. Kobrin im Gouv. Grodno). Unser Text wurde im Flecken Petrikow (Gouv. Minsk, Kr. Mosyr) in den 70er bis 80er Jahren des 19. Jh. aufgeschrieben. Die Züge des furchtlosen, leidenschaftlichen und feinfühligen Recken, die der Held Erbse trägt, sind für die Helden der belorussischen Märchen des vorliegenden Typs charakteristisch. 8. Ilja Muromez (Barag, Hs.) AA *650 I; vgl. AT 650 A. Erzählt vom Bauern Aleksandr Kosenčuk, 46 Jahre, Analphabet, im Dorf Dywen (Gebiet Brest, Bz. Dywen) 1947. Märchen über den Helden alter epischer Lieder (Bylinen) Ilja Muromec sind für die russische, aber auch für die belorussische und ukrainische Folklore charakteristisch. Belorussische Texte: Romanov III, S. 259-262, Nr. 44; IV, S. 17, Nr. 11; Dobrovol’skij I, S. 398-402, Nr. 2; Federowski II, S. 82-84, Nr. 61; Kwartalnik litewski, 1910, Nr. 23, S. 68-100. In handschriftlichen Sammlungen befinden sich noch mehr Märchen über Ilja Muromec, die in den westlichen und in den östlichen Gebieten Belorußlands aufgezeichnet wurden. Dem Inhalt unseres Märchens dienen 3 Bylinensujets als Grundlage: „Iljas Genesung“, „Ilja und der Räuber Solovej“ (im Märchen: der Drache) und „Ilja und Swjatogor“ (im Märchen: der Recke Sorka). Eine derartige Verbindung ist im veröffentlichten belorussischen Material nicht vorhanden. Die Episode vom Händedruck des Riesen ist aus Liedtexten nicht bekannt, kommt jedoch in russischen Sagen über Ilja und Swjatogor (Rybnikov, Pesni [Lieder], Žurnal Ministerstva Narodnogo prosveśčenija, 1868, V, S. 624), in einem tschuwa-
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schischen Märchen über Ilja Muromec (Magnitckij, Materialy k ob-jasneniju staroj čuvaškoj very [Materialien zur Erläuterung der alten tschuwaschischen Religion]) und in einigen belorussischen Märchen über den Kampf mit dem Drachen (Barag, Hs.) vor. In Kosenčcuks Märchen dominiert der gedrängte, abgehackte Dialog gegenüber dem Bericht, das Sujet wird sehr rasch abgehandelt. 9. Der Recke (Seržputovskij I, S. 87-89, Nr. 48) AT-. Erzählt von Redkij (vgl. Anm. zu Nr. 1). Auf der Grundlage von Märchenmotiven (die wunderbare Geburt, die Heldentaten des Recken) und von Motiven sagenhafter Erzählungen über riesige Recken mit „Teufelsrippen“ schuf Redkij ein originelles Märchen. In ihm kommen Hoffnung und Streben der belorussischen Bauern in der Epoche der Revolution von 1905 deutlich zum Ausdruck. Der herzliche belorussische Humor, mit dem Redkij über die wunderbare Empfängnis berichtet, verbindet sich mit leidenschaftlichem Haß gegen die Gutsherren. Dieses Märchen kann von den gereimten revolutionären Proklamationen, den „Scherzreden“ (Gutarkas), die um die Jahrhundertwende bei den Bauern des Sluzker Polesje und anderer Bezirke Belorußlands weitverbreitet waren, beeinflußt worden sein. 10. Der kluge Bursche (Barag, Hs.) ähnelt AT 516. Erzählt vom Bauern Ivan Mozalevskij, 49 Jahre, im Dorf Walinowitschi (Gebiet Grodno, Bz. Mosty), August 1945. Vom Märchen dieses Typs ist nur ein veröffentlichter folkloristischer Text bekannt: Chudjakov, Velikorusskie skazki (Großrussische Märchen) III, 1862, Nr. 83. Varianten des Sujets befinden sich in A. Nikiforovs russischer handschriftlicher Sammlung, vgl. die Sammlung Skazočnaja komissija v 1927 godu (Die Märchenkommission im Jahre 1927), Leningrad 1928, S. 46. Es gibt russische
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pseudovolkstümliche Märchen über den schlauen Burschen, aus ihnen gingen die eigenständigen folkloristischen Varianten dieses Sujets hervor. Ivan Mozalevskij übernahm das Märchen vom klugen Burschen von einem anderen belorussischen Erzähler. In Mozalevskijs Variante fehlen die folgenden Motive, die in dem Märchen aus Chudjakovs Sammlung enthalten sind: 1. „Die Verwandlung des klugen Burschen in einen Fuchs“; 2. „Die Auferstehung der begrabenen Zarin-Zauberin“. – Die folgenden Episoden des belorussischen Märchens fehlen in der Variante aus Chudjakovs Sammlung und in den pseudovolkstümlichen Texten: 1. „Der kluge Bursche beleidigt den General“; 2. „Der Bursche schreibt mit Kreide auf die Rücken der ausländischen Generäle.“ 11. Der listige Trunkenbold (Romanov III, S. 212-214, Nr. 30) AT 485. Märchen des vorliegenden Typs sind nur im ostbelorussischen und im russischen veröffentlichten Material enthalten. Belorussische Varianten: Romanov III, S. 205-211, Nr. 28; Dobrovol’skij I, S. 150-152, Nr. 86. Siehe auch Romanov III, S. 246, Variante: Das Motiv vom Drachen, der mit seinem Schwanz die ganze Stadt umfaßt. Das Sujet vom Diebstahl des leichtfertigen Jarischka, der in dem fernen Zauberreich die Krone raubt, stammt aus der altrussischen „Erzählung von der Stadt Babylon“ (15. Jh.), in der die Idee vertreten wird, daß die politische Macht des Kaisers des alten byzantinischen orthodoxen Reiches an den Moskauer Großfürsten übergegangen sei. Diese Erzählung entstand teilweise auf der Grundlage byzantinischer literarischer Quellen, die heute verschollen sind, und z. T. auf der Basis der russischen Märchenfolklore. A. N. Veselovskij weist in seiner Untersuchung Otryvki bizantijskogo ėposa v russkom (Fragmente des byzantinischen Epos im Russischen) nach, daß das im Westen bekannte mittelalterliche Poem Heinrich von Neu-
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stadts, „Apollonius von Tyrus“, aus der gleichen byzantinischen Quelle stammt wie die „Erzählung von der Stadt Babylon“. In der Mehrheit der ostslawischen Märchen des Typs 485 kommt die Episode der Befreiung des Helden von dem durch ihn geblendeten einäugigen Riesen („Polyphem“, AT 1137; BP III, Nr. 191 a) vor. Seltener tritt die Episode mit dem Recken Opletaw auf, die in der „Erzählung von der Stadt Babylon“ auch fehlt. Das Sujet vom einäugigen Riesen wurde in der belorussischen Folklore sehr häufig selbständig bearbeitet (Romanov III, Nr. 29, 35; Šejn II, Nr. 71; Federowski I, Nr. 354). Unser Text wurde vom Bauern Jakov Samsonov, 61 Jahre, im Dorf Gorodistsche (Gouv. Mogilew, Kr. Bychow) in den 80er Jahren des 19. Jh. erzählt. 12. Die goldene Feder (Romanov III, S. 232-238, Nr. 38) AT 531; BP III, Nr. 126. Die älteste schriftliche europäische Version dieses Sujets befindet sich in Straparolas Piacevoli notti (1550-1553). Erzählt vom Bauern Onufrij (Familienname vom Sammler nicht vermerkt), 64 Jahre, im Dorf Andrejtschiki (Gouv. Mogilew, Kr. Senno) in den 80er Jahren des 19. Jh. Belorussische Varianten: Romanov III, S. 239-244, Nr. 39; S. 247-250, Nr. 41; VI, S. 360-370, Nr. 38; Šejn II, S. 50-52, Nr. 23; S. 276-283, Nr. 133, 134; Federowski II, S. 299, Nr. 330; S. 328; Weryho, S. 26-31; Karłowicz, ZWdAK XI, 1887, S. 264-266, Nr. 25; ZWdAK XII, 1888, S. 5457, Nr. 82; Gliński I, Nr. 8; II, Nr. 1; III, Nr. 16; Gospodarev, S. 233-249, Nr. 9. Unser Märchen und eine Reihe anderer belorussischer Texte (Šejn II, Nr. 134; Gospodarev, Nr. 9) spiegeln einen gewissen Einfluß des russischen literarischen Märchens „Das bucklige Pferdchen“ von P. Eršov (1815-1869) wider. Eine Reihe von Episoden der Reise zur Sonne haben keine Analoga im westeuropäischen Material, sind jedoch aus Eršovs Märchen und aus russischen, künstlerisch
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minderwertigen Texten bekannt, z. B. die Episode von der Begegnung mit dem Riesenfisch. Die Einleitungsepisode „Die Brüder übergeben das Kind und das Fohlen, das sie auf der Straße gefunden haben, dem Gutsbesitzer“ ist nur in belorussischen Varianten vorhanden. Einige Details, die in unserem Märchen enthalten sind, spiegeln das Leben der belorussischen Bauern in der Leibeigenschaft wider. In dem Märchen treten für den ostslawischen Märchenschatz typische stilistische Formeln auf wie „Doch das ist noch kein Unglück, das ganze Unglück steht uns noch bevor“ oder „Wenn du es nicht tust, wird dir mein Schwert den Kopf von den Schultern schlagen!“ 15. Vom wunderlichen fliegenden Alten und Iwan dem Zarensohn (Dobrovol’skij I, S. 471-477, Nr. 12) AT 502 + 531; BP III, Nr. 136. Die Verschmelzung dieser Typen ist für die europäische Folklore traditionell. Einzelne Motive des Sujets über den von einem wunderbaren Alten befreiten Zarensohn sind schon in den isländischen Sagas des 13. Jh. zu finden (Heimskringla, Halfdanar saga svarta, Kap. 8). Der Ursprung des Märchensujets „Der Held verschweigt seinen Namen“ (Der falsche Gefährte – AT 531) steht mit den Ritterromanen im Zusammenhang. Unser Text wurde vom alten Bauern Vasilij Michajlov im Dorf Berdebjaki (Gouv. Smolensk, Kr. Elnja) in den 70er bis 80er Jahren des 19. Jh. erzählt. In Dobrovol’skijs Sammlung befinden sich 11 Märchen dieses Erzählers. Ausführlichkeit und Schönheit der Schilderung verbinden sich in Michajlovs Zaubermärchen mit einer besonderen Lebendigkeit des Dialogs. Solche Namen und Benennungen wie Zar Demjan, Zar Kabardinski, Zarensohn Lukaper sind allerdings geschmacklosen Büchern entlehnt. Wir weisen auf belorussische Märchen hin, in denen die gleichen Sujets verschmolzen sind wie hier: Romanov VI, S. 395-404, Nr. 43, Šejn II, S. 53-55, Nr. 24; Afanas’ev,
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Nr. 126 (Gouv. Minsk, Kr. Nowogrudok). Sujet 502 allein ist in folgenden belorussischen Varianten verarbeitet: Dobrovol’skij I, S. 444-453, Nr. 9; Federowski II, S. 332-337, Nr. 390. Belorussische Varianten des Sujets 531: Romanov III, S. 142-154, Nr. 18 a, 18 b; VI, S. 26-36, Nr. 4; Karłowicz (ZWdAK XI, 1887), S. 270272, Nr. 28; Gospodarev, S. 145-180, Nr. 5; Gliński II, Nr. 1. Weitere Märchen Michajlovs siehe Nr. 17, 62, 63. 14. Janko und die Teufel (Barag, Hs.) ähnelt teilweise AT 330; BP II, Nr. 82. Belorussische Märchen des Typs 330: Romanov III, S. 340-345, Nr. 84; IV, S. 48-51, Nr. 38; Federowski II, S. 282-283, Nr. 321, 322; Demidovič (Ėtnografičeskie obozrenie), S. 94-95; Gliński II, Nr. 6. Erzählt vom Bauern Vasilij Daniljuk, 46 Jahre, im Dorf Pljanti (Gebiet Brest, Bz. Kobrin) 1945. Nahe Parallelen zu Daniljuks Märchen nur im ukrainischen Material vorhanden, vgl. z. B. Ėtnografičnij zbirnik (Ethnographische Sammlung), Lwow 1902, S. 42, Nr. 242. 15. Von den drei Brüdern, dem Wolf und der Wunderquelle (Federowski II, S. 42-43, Nr. 41) AT–. Manche Sujets ähneln Motiven aus AT 550; siehe BP III, Nr. 136; III, Nr. 57. Erzählt von Iozik Šyc’ka im Dorf Wiltschuki (Gouv. Grodno, Kr. Wolkowysk) Ende des 19. Jh. Unserem Märchen ähnliche befinden sich im westslawischen Material, z. B. in Ciszewskis Sammlung Krakowiacy (Krakauer) II, S. 18, Nr. 131. Eine Bibliographie der Märchen des vorliegenden Typs wird in den Kommentaren zu A. Lavrovs und J. Polfvkas Sammlung Lidové povidky jihomakedonské (Südmazedonische Volksmärchen), S. 404-406, angegeben. Im ostslawischen Material nahe Varianten nicht bekannt. Die Gestalt des Helden unseres Märchens vereinigt in sich originell die Züge zweier traditioneller Handlungsträger des ostslawischen Märchenschatzes: des gutmütigen
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Narren und scheinbaren Einfaltspinsels Iwanuschka und des hartnäckig sein Ziel verfolgenden Zarensohns Iwan. In Iozik Šyc’kas Märchen kommen für das ostslawische Material typische stilistische Formeln vor. 16. Der Tölpel (Seržputovskij II, S. 112-119, Nr. 50) AT–. Erzählt vom Bauern Kruglik im Dorf Tschudin (Gouv. Minsk, Kr. Sluzk) kurz vor Ausbruch der Revolution von 1905. Im Kampf des Helden für die Interessen des Volkes und in der Abschlußperiode, in der die Bauern und der durch das Versprechen des Zaren getäuschte „Dummkopf“ mit den Gutsherren abrechnen, spiegeln sich die politischen Ereignisse jener Jahre und die revolutionäre Haltung des Erzählers wider. Indem er einzelne Motive traditioneller Sagen und Märchen künstlerisch neu interpretierte, schuf Kruglik ein Märchen eines neuen Typs. Solche Motive sind: der Tod des Zauberers (vgl. Dobrovol’skij I, S. 122, Nr. 54; Šejn III, S. 258; Federowski II, 143-144, Nr. 119), der Diebstahl des Schatzes bei den Teufeln (vgl. Romanov IV, S. 86, Nr. 48), drei Nächte auf dem Grab des Vaters, der Teufel für seine Schuld im Dienst des Menschen, der Zauberring, die Befreiung der vom Drachen geraubten Zarentochter. Ein Märchen desselben Erzählers siehe Nr. 44. 17. Das Ringlein (Dobrovol’skij I, S. 607-615, Nr. 33) AT 560; BP II, Nr. 104 a. Untersuchung: A. Aarne. Vergleichende Märchenforschungen. Das Märchen vom Zauberring (Mémoires de la societé Finno-Ougrienne, XXV, Helsingfors 1908), S. 1-82. Eine der ältesten Versionen dieses überall in der Welt bekannten Sujets ist das Märchen „Der Brahmane, der Kaiser wird“ aus der mongolischen Sammlung Siddhi Kür, die nahe mit dem altindischen Vêtâlapañcavimśatika verwandt ist. Die ältesten europäischen Texte des Märchens vom Zauberring stammen aus dem 17. Jh. (Basiles Pentamero-
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ne [IV, Nr. 1, und III, Nr. 5]). Erzählt von Vasilij Michajlov im Dorf Berdebjaki (Gouv. Smolensk, Kr. Elnja) in den 70er bis 80er Jahren des 19. Jh. Belorussische Varianten: Dobrovol’skij I, S. 444-454, Nr. 9; Romanov III, S. 345-350, Nr. 85; VI, S. 404-412, Nr. 44; Šejn II, S. 15-18, Nr. 9; Federowski II, S. 75-78, Nr. 58, 59, 60; Klich, S. 129, Nr. 2; Čubinskij II, S. 59-63, Nr. 13; Gliński I, Nr. 16 (in der Ausgabe von 1862 S. 108-127). Der Zar der Krebse und der Zar der Mäuse treten ähnlich in einigen russischen Märchen vom Zauberring auf, vgl. z. B. Afanas’ev, Nr. 191. Das Motiv von der Brautwerbung des Helden und der Bewältigung der schweren Aufgaben wird in Michajlovs Märchen auch ähnlich wie in russischen Varianten behandelt. Im farbenreichen Stil Michajlovs ist eine Spur des Einflusses künstlerisch minderwertiger Bücher zu bemerken, aus denen auch solche Namen wie Lukaper und Krebs Chabjor entlehnt sind. 18. Der Zauberstab (Barag, Hs.) vereinigt Sujets aus AT 303 und AT 304. Erzählt vom Arbeiter Ivan Mokej im Bz. Selwin (Gebiet Grodno) 1945 (über Mokej siehe Nachwort). Den Märchen dieses Erzählers ist ein spezieller Aufsatz gewidmet: L. Barag, Majstra sučasnaj kazki (Meister des Märchens heute), Literatura i mastactva, Minsk 1945, Nr. 21. Nahe verwandt damit ist ein Märchen aus M. Dragomanovs Sammlung Malorusskie narodnye predanija i rasskazy (Kleinrussische Volkssagen und Volkserzählungen), S. 283-286, Nr. 9. Entfernt erinnert es an einen Text Jan Barszczewskis in polnischer Sprache in dem Buch Szlacbcic Zawalnia, czyli Białoruś w fantastycznych opowiadaniach (Junker Zawalnia, oder Belorußland in phantastischen Erzählungen), Bd. III, Petersburg 1845, nacherzähltes Märchen (S. 3550). Das Motiv vom blutigen oder verrosteten Messer, durch das einer der Brüder vom Tod des anderen er-
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fährt, kommt in europäischen und orientalischen Märchen des Typs 303 häufig vor. 19. Der fliegende Kaftan (Barag, Hs.) AT 566; BP I, Nr. 54, III, Nr. 122. Vgl. die Untersuchung A. Aarnes, Vergleichende Märchenforschungen. Die drei Zaubergegenstände und die wunderbaren Früchte (Mèmoires de la Societè FinnoOugrienne XXV, 1908), S. 85 ff. Im veröffentlichten belorussischen Material befinden sich 9 Märchen des Typs 566; Romanov III, S. 181-195, Nr. 23, 24, 25; Eremin und Falev, Russkaja dialektologija (Russische Dialektforschung), 1928, S. 140-141 (aus Romanovs nicht herausgegebenem Band XIV der „Belorussischen Sammlung“); Federowski II, S. 299-300, Nr. 331; Šejn II, S. 163-165, Nr. 78; Dobrovol’skij I, S. 511517, Nr. 18; S. 570, Nr. 27. Märchenvarianten mit den Motiven vom fliegenden Kaftan und vom Wunderkraut fehlen im veröffentlichten belorussischen Folklorematerial. Unser Märchen fällt im wesentlichen mit dem Inhalt des deutschen Volksbuches über Fortunatus (Erstausgabe 1509) zusammen. Ausführliche Bibliographie der mit diesem Roman verwandten Märchen von V. Tille in Sborník prací venovanỷch prof. dr. J. Polívkovi k šedesátym narozeninám (Sammlung der Prof. Dr. Polívka zum siebzigsten Geburtstag gewidmeten Arbeiten), Prag 1918. Erzählt vom Bauern Ivan Komar, 43 Jahre, im Dorf Poplawa (Gebiet Baranowitschi, Bz. Ljubtscha), Januar 1946. 20. Die hölzerne Taube (Federowski II, S. 122-125, Nr. 83) AT 575; BP II, Nr. 77 a; Chauvin V, S. 221, Nr. 103. Eine der ältesten Versionen in Tausendundeiner Nacht (Nächte 358371). Vgl. die Erzählung aus dem Pantschatantra über den künstlichen Vogel Garuda (Buch I, Nr. 8) und das Märchen vom „Sohn des Reichen“ in der altindischen Sammlung Vêtâlapañcavimśatika bzw. der mongoli-
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schen Sammlung Siddhi Kür. Erzählt vom Bauern Jan Dzežko im Dorf Chodarowka (Gouv. Grodno, Kr. Sokółka; heute Wojewodschaft Białystok in Polen) Ende des 19. Jh. Im belorussischen Material keine Varianten. Weitere Texte Dzežkos siehe Nr. 64 u. Nr. 119. 21. Die Eiche Dorochwej (Romanov VI, S. 163-169, Nr. 18) AT 707; BP II, Nr. 96. Aufgeschrieben im Amtsbezirk Wirowlja (Gouv. Witebsk, Kr. Gorodok) Ende des 19. Jh. Das überall in der Welt bekannte Sujet von den wunderbaren Kindern hat zwei Versionen: 1. „Die Beine bis zu den Knien aus Gold, die Arme bis zu den Ellenbogen aus Silber“; 2. „Der singende Baum und der sprechende Vogel“. Unser Text gehört zur ersten Version, deren besondere Volkstümlichkeit bei den Ostslawen mit Puškins Märchen vom Zaren Saltan zusammenhängt. Im belorussischen Material sind folgende Märchen der Version „Die Beine bis zu den Knien aus Gold…“ enthalten: Romanov III, S. 298-304, Nr. 62 a, 62 b; VI, S. 150-202, Nr. 17, 18, 19, 20, 21, 22; Dmitriev, 1869, S. 170-172 (Šejn II, S. 55, Nr. 25; Afanas’ev, Nr. 287); Federowski II, S. 121, Nr. 82; S. 174-176, Nr. 150; Karskij, Materialy dlja izučenija belorusskych govorov (Materialien zum Studium der belorussischen Mundarten) III, S. 99-101; Weryho, S. 31, Nr. 7; S. 42-45, Nr. 10; Karłowicz (ZWdAK XI, 1887), S. 256257, Nr. 18; Gliński II, Nr. 2; Gospodarev, S. 255263, Nr. 14. Märchen über den „singenden Baum und den sprechenden Vogel“ kommen im belorussischen Material seltener vor als im westeuropäischen und häufiger als im russischen, siehe: Romanov III, S. 295-298, Nr. 61; VI, S. 202-204, Nr. 23; Federowski II, S. 57-58, Nr. 49; S. 329-331, Nr. 389. Die Einleitungsepisode in unserem Märchen von der plötzlichen Entstehung eines neuen Flusses ähnelt der Einleitungsepisode eines anderen belorussischen Märchens vom Typ „Die wunderbaren Kinder“, das in der dritten
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Ausgabe von Romanovs Sammlung enthalten ist (S. 302-304, Nr. 62 b). Vgl. auch die Einleitungsepisoden in Märchen aus Glińskis Sammlung (II, Nr. 2) und aus Weryhos Sammlung Podania litewskie (Litauische Sagen), S. 192: Die Mechanik (das im Wind schlagende Brettchen) fällt zusammen mit ihrem Schöpfer vom Baum. Dessen Tod schmerzt die drei Schwestern so, daß aus ihren Tränen ein Fluß entsteht. Im russischen und im ukrainischen Material sind keine Parallelen zu dieser Episode vorhanden, wohl aber in der Folklore asiatischer Völker. So findet z. B. der Zar Geser in einem mongolischen Epos im Wald drei Schwestern, als er stromaufwärts an einem von einem Regenguß neu gebildeten Fluß entlanggeht. In dem Märchen „Die Eiche Dorochwej“ treten auch Motive auf, die nur für das ostslawische Material charakteristisch sind und die eine Reihe von belorussischen Varianten des Sujets von den wunderbaren Kindern nicht enthalten: 1. Die Katze auf dem Baum singt Lieder und erzählt Märchen (vgl. den Prolog zu Ruslan und Ljudmilla von Puškin, der russische folkloristische Quellen als Vorbild hat); 2. die aus Muttermilch hergestellten Semmeln; 3. der Zarenbote im Bade. Im vorliegenden Text sind viele für den ostslawischen Märchenschatz typische Namen und Bezeichnungen, stilistische Formeln und bildhafte Ausdrücke enthalten. 22. Die drei Spinnerinnen (Barag, Hs.) AT 501; BP I, Nr. 14. Dieses Sujet fand zuerst in Nordeuropa Verbreitung, in den germanischen Ländern, später wurde es bei den slawischen und romanischen Völkern bekannt. Vgl. die Untersuchung von C. von Sydow, Tvá Spinnsagor (Lund 1909). Belorussische Variante: Seržputovskij II, Nr. 89. Im veröffentlichten ukrainischen Material gibt es zwei Varianten, im russischen Folklorematerial ist der vorliegende Typ nicht vertreten. Erzählt von Valentina Koljada, 19 Jahre, im Dorf Stschorsy (Gebiet Barano-
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witschi, Bz. Ljubtscha), Februar 1948 bei einer abendlichen Zusammenkunft von Mädchen. Ein weiteres Märchen dieser Erzählerin siehe Nr. 47. 23. Marusja (Barag, Hs.) AT 511; BP III, Nr. 130, S. 60-65. Neueste Untersuchung: A. B. Rooth, Cinderella-Cycle, Lund 1951. Belorussische Varianten: Romanov III, S. 289292, Nr. 59 ( 2 Var.); Šejn II, S. 91-92, Nr. 47; S. 94101, Nr. 49, 50; Dobrovol’skij I, S. 153-157, Nr. 88, 89; Federowski II, S. 48-55, Nr. 43, 44, 45; S. 192194, Nr. 165; Kolberg, Baśnie z Polesia (Märchen aus Polesje), ZWdAK XIII, 1889, S. 203-205, Nr. 3, 4; Karłowicz (ZWdAK XI, 1887), S. 246-247, Nr. 12; S. 253-256, Nr. 17; Weryho, S. 59-62, Nr. 15; Gliński I, Nr. 11. Erzählt vom Bauern Makar Spirida (1867 bis 1950) im Dorf Semerniki (Gebiet Molodetschno, Bz. Oschmjany) 1947. Er erzählte fast jeden Tag Märchen. Wir haben von ihm 20 Märchen verschiedener Gattungen aufgezeichnet. Durch einen besonders begeisternden Ton zeichnet sich das Märchen „Marusja“ aus. Es enthält Episoden, die für die belorussischen Varianten des Märchens über die Wunderkuh typisch sind, z. B. die Episode, in der die Stiefmutter die Stieftochter ins Meer wirft. Das entsprechende Moment wird auch in Varianten Federowskis (II, Nr. 43, 44), Karłowiczs (Nr. 12, 17), Weryhos (Nr. 15) und Glińskis (I, Nr. 11) und in einer Reihe nicht veröffentlichter belorussischer Texte entwickelt. Das Studium dieser Varianten führte A. M. Smirnov-Kutačevskij in seiner Dissertation Skazki o mačeche i padčernice (Märchen über Stiefmutter und Stieftochter), Moskau 1941, zu der Schlußfolgerung, daß das Motiv von der Versenkung der Stieftochter viel älter als das von der Verzauberung in ein Tier ist und daß die belorussischen Märchen verhältnismäßig archaische Formen des Sujets „Das Wunderkalb“ erhalten haben. Charakteristisch für die westbelorussischen Varianten vom „Wunderkalb“ ist die Episode
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„Der Pope spritzt Weihwasser auf die Fisch-Nixe, und jene nimmt wieder Frauengestalt an“ in Spiridas Märchen. Ähnlich wird diese Episode in der Variante aus Glińskis Sammlung behandelt. Der gereimte Dialog der Stiefmutter mit der Nixe in Spiridas Märchen stimmt teilweise mit dem gereimten Dialog in der Variante aus Glińskis Sammlung überein, aber auch mit dem aus anderen belorussischen und einigen ukrainischen Varianten (Čubinskij II, S. 453; Levčenko, S. 494; Kuliš II, S. 24-25 u. a.). Märchen des gleichen Erzählers siehe Nr. 51 u. Nr. 79. 24. Das Geschäft mit dem Teufel (Barag, Hs.) AT 361; BP II, Nr. 101. Siehe auch die Untersuchung J. Gaismaiers, Der Bärenhäuter (1904). Dieses Sujet ist ausschließlich in Europa verbreitet, seine älteste Version ist das Märchen „Der Bärenhäuter“ in Grimmeishausens Simplizissimus (1670). Erzählt vom Bauern Vladimir Borisevič, 49 Jahre, im Dorf Petrowitschi (Gebiet Molodetschno, Bz. Oschmjany) 1949. Dieser gute, mimisch begabte Erzähler erzählte einige Tage lang Märchen in der Mühle, wo die Bauern der umliegenden Dörfer Getreide mahlten. – Im veröffentlichten belorussischen Material befindet sich nur ein Märchentext des Typs 361: Romanov IV, S. 51, Nr. 39. Russische und ukrainische Varianten nicht zahlreich. Gewöhnlich ist der Held der Märchen des vorliegenden Typs wie bei Grimmelshausen ein Soldat. Das Motiv „Der Schuldner des Gutsherrn begibt sich zum Teufel in die Hölle“ tritt auch in belorussischen und ukrainischen Märchen vom Typ „Der Mann als Heizer des Höllenkessels“ (AT 475) auf: Federowski I, S. 225226, Nr. 1083, 1084; Miloradovič, S. 61-62 (Gouv. Poltawa). Ein Märchen desselben Erzählers siehe Nr. 103.
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25. Die Liebe (Seržputovskij II, S. 183-192, Nr. 76). Besondere Version des weltbekannten Sujets „La Belle et la Bête“ (AT 425 C); PB II, Nr. 88. Zu diesem Sujet gibt es eine Reihe von Spezialarbeiten, von denen wir nur die bekanntesten nennen: E. Tegethoff, Studien zum Märchentypus von Amor und Psyche, 1922; Jan-Öjvind Swahn, The Tale of Cupid and Psyche, Lund 1955. Varianten zu unserem Märchen fehlen im veröffentlichten belorussischen Material, vgl. Čubinskij II, S. 444-445, Nr. 136 (Gouv. Grodno). Erzählt von Redkij (vgl. Anm. zu Nr. 1) Anfang des 20. Jh. Ungewöhnlich für die Märchen des Typs 425 C ist der erste Teil von Redkijs Märchen: Die Kindheit des Helden, die Verwandlung des Königssohns in ein Untier durch die Königin. Zum Stil dieses Märchens vgl. Nachwort. 26. Der Krebs als Zarensohn (Romanov VI, S 419-426, Nr. 46) AT 425. Das Motiv von der Bewältigung der wunderbaren Aufgaben erinnert an die Märchen vom Zauberring (AT 560), das Motiv vom Zauberpferd an die Märchen von SiwkaBurka (vgl. AT 530; siehe auch BP I, Nr. 1). Die Märchen vom Gatten Krebs (Drachen, Frosch, Vogel usw.) sind mit uralten totemistischen Glaubensvorstellungen verbunden. So führt z. B. Levy-Brühl eine bei den Negern des Stammes Torodsha aufgeschriebene Aberglaubenserzählung an, in der die Ehefrau die Haut verbrennt, die von ihrem Krokodilgatten für die Zeit abgeworfen wird, in der er Menschengestalt annimmt (L. Levy-Brühl, L’Ame primitive, Paris, 1927, S. 3235). Eine der ältesten Versionen des Sujets 425 ist das Märchen „Im Besitz eines Flügelkleides“ aus der mongolischen Sammlung Siddhi Kür bzw. der indischen Sammlung Vêtâlapañcavimśatika. Außer unserem Text, der im Flecken Gorki (Gouv. Mogilew, Kr. Tschausy) aufgeschrieben wurde, findet man im belorussischen Material folgende Märchen vom Typ „Za-
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rensohn Krebs“; Federowski II, S. 172-174, Nr. 149; S. 181-185, Nr. 156, 157, 158, 159; S. 342-343, Nr. 400; Dobrovol’skij I, S. 274-278, Nr. 40; Karłowicz (ZWdAK XI), S. 246-247, Nr. 12; Čubinskij II, Nr. 146 (Drogitschin, Gouv. Grodno); Gliński II, Nr. 12; Sbornik Otdelenija Russkogo jazyka i slovesnosti Akademii Nauk (Sammlung der Sektion für russische Sprache und Literatur der Akademie der Wissenschaften), Bd. 86, 1906, S. 20-22. Im belorussischen und im ukrainischen Material treten diese Märchen viel häufiger auf als im russischen. Der veröffentlichte Text ist für die der ostslawischen Folklore eigene Bildhaftigkeit und Durchsetzung mit stilistischen Formeln charakteristisch. 27. Janko und die Königstochter (Barag, Hs.) AT 552 + 518 + 302; BP II, Nr. 82 a, 92, III, Nr. 197. Die Grundlage bildet das Sujet von den „Tierschwägern“ (552). Die älteste europäische Variante dieses bei allen Völkern bekannten Sujets ging in Basiles Pentamerone (1634) ein. Erzählt von dem Analphabeten Sidor Čečko, 42 Jahre, im Dorf Budtscha (Gebiet Pinsk, Bz. Ganzewitschi), Mai 1945. Der Text Čečkos ähnelt dem für das russische Material charakteristischen komplizierten Märchentyp „Marja Morewna“ (siehe Afanas’ev, Nr. 159). Es sind die Sujets „Tierschwäger“ und „Der unsterbliche Kostschej“ (AT 302) verschmolzen, die in einer Reihe von veröffentlichten belorussischen Texten auftreten: Romanov VI, S. 213-233, Nr. 24, 25, 26 (in Verbindung mit dem Motiv AT 554). Das Sujet 552 ist für sich in folgenden Märchen verarbeitet: Romanov VI, S. 205-213, Nr. 23; Federowski II, S. 219-220, Nr. 206. Eine eigenständige Bearbeitung erfährt manchmal auch das Sujet „Der unsterbliche Kostschej“: Romanov VI, S. 105-107, Nr. 12. Čečkos Märchen zeichnet sich durch eine besonders gute psychologische Motivierung für die Handlungen der Märchenpersonen aus.
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28. Die Teufelsfrau (Barag, Hs.) AT–. Erzählt von Stepan Šalestnyj, 55 Jahre, im Dorf Ugrin (Gebiet Grodno, Bz. Selwina), August 1945. Šalestnyj arbeitete fast das ganze Leben lang als Tagelöhner bei reichen Bauern. Der autodidaktische Poet tritt oft in dörflichen Abendveranstaltungen mit seinen Gedichten auf. Märchen erzählt er nur Kindern. Im belorussischen Material ist eine Reihe von Varianten des Sujets von der Teufelsfrau anzutreffen: Romanov IV, S. 90-91, Nr. 52; Federowski I, S. 39-40, Nr. 116; Gospodarev, S. 320-322, Nr. 17; Barag, Hs., 3 Texte. Nur in Šalestnyjs Märchen bemerkten wir das Motiv von den drei Zauberkühen. Die Episode „Die Teufel tauchen auf der Hochzeit ihre Finger in eine Flüssigkeit und schmieren sie sich in die Augen“ erstreckt sich auch auf die Sagenmärchen vom Musikanten, der beim Teufel zur Hochzeit aufspielt; siehe auch Anm. zu Nr. 37. 29. Gib mir das, was dir zu Hause unbekannt ist (Šejn II, S. 285-296, Nr. 136) AT 756 B + 313. Erzählt von Rozalija Osmak im Flecken Chlopenitschi (Gouv. Minsk, Kr. Borisow) in den 70er bis 80er Jahren des 19. Jh. Auch in den russischen Märchen des vorliegenden Typs treten Details aus dem Leben in der Leibeigenschaft auf, vgl. z. B. Afanas’ev, Nr. 215. Belorussische Varianten: , Romanov III, S. 164-181, Nr. 21 a, 21 b, 21 c; VI, S. 168-170, Nr. 81; Gospodarev, S. 86-112, Nr. 3. 30. Der Schwager der Sonne (Čubinskij II, S. 7-11, Nr. 1) AT 465 (592 in Verbindung mit in den Verzeichnissen nicht vermerkten legendenhaften Erzählungen). Aufgeschrieben im Flekken Drogotschin (Gouv. Grodno) in den 60er Jahren des 19. Jh. in einer Mundart, die vom Ukrainischen ins Belorussische übergeht. Belorussische Varianten des
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Sujets 465: Romanov VI, S. 486-488, Nr. 54; Federowski II, S. 300-301, Nr. 33; Šejn II, S. 388-397, Nr. 222; Dobrovol’skij I, S. 669-673, Nr. 1; Karłowicz (ZWdAK XI, 1887), S. 239-240, Nr. 7; Kwartalnik litewski, Nr. 2, 1910, S. 239-240 (Kreis Wilna); Serbov, Belorusy-sakuny (Belorussen-Sakunen), S. 169-173; Sbornik Otdelenija Russkogo jazyka i slovesnosti Akademii Nauk (Sammlung der Sektion für russische Sprache und Literatur der Akademie der Wissenschaften), Bd. 82, 1907, S. 400-403, Nr. 113 (Gouv. Siedlce, Kr. Bielsk). Das Sujet von der Zaubergeige (Gusli, Schalmei) geht in Form einzelner Episoden in eine ganze Reihe veröffentlichter belorussischer, ukrainischer und russischer Märchen des Typs „Reise um die ganze Welt“ ein, z. B.: Šejn II, Nr. 222; Rudčenko II, Nr. 34; Afanas’ev, Nr. 216. Das Sujet vom heiligen Georg und dem betrogenen Wolf erhält in belorussischen Märchen indessen eine eigenständige Bearbeitung: Šejn II, S. 344-345, Nr. 191; S. 360-362, Nr. 210. Demidovič in Ėtnografičeskoe obozrenie (Ethnographische Umschau), 1896, Nr. 1, S. 96; auch ukrainische Varianten bekannt. Ähnlich wie in unserem Text wird das Sujet „Reise um die ganze Welt“ in einem ukrainischen Märchen aus Rudčenkos Sammlung (I, S. 89-96, Nr. 45) durch das Motiv „Der Bauer rechnet mit dem Heiligen für die ihm zugefügte Kränkung ab“ erweitert. Sowohl das Märchen aus Rudčenkos Sammlung als auch besonders unser Märchen spiegeln klar das soziale Elend der armen Bauern Rußlands in der Leibeigenschaft und den Protest des Volkes wider. Diese Märchen haben eine entfernte Ähnlichkeit mit einigen Märchen der Völker des Orients vom unglücklichen Armen, der die Tochter eines Gottes heiratet, vgl. z. B. das gagauskische Märchen aus V. Radlovs Sammlung Obrazcy narodnogo tvorčestva tjurkskych plemen (Beispiele der Volkskunst türkischer Stämme) X, Petersburg 1904, S. 13-15.
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37. Iwan Pechvogel (Dobrovol’skij I, S. 538-540, Nr. 21) AT 910 B + 677. Zum Typ 910 B vgl. Chauvin, S. 138-139, Nr. 136. Eine der ältesten Versionen des Sujets vom Mann, der die Stickereien seiner Frau für drei gute Ratschläge weggibt und dadurch sein Glück macht, ist die Geschichte von Ali Schah und Sumurud aus Tausendundeiner Nacht (Nächte 308 bis 327). Märchen über Unterwasser-Königreiche (677) sind nur im ostslawischen, estnischen und finnischen Material vorhanden. Die Episode von der „Reise in das Reich auf dem Meeresgrund“ erinnert an die im alten Rußland entstandene Byline über Sadko. Aufgeschrieben im westlichen Teil des Gouvernements Smolensk (Ortsangabe fehlt) in den 70er bis 80er Jahren des 19. Jh. Einzige belorussische Variante: Dobrovol’skij I, S. 540547, Nr. 22. Ähnliche russische Varianten: Afanas’ev, Nr. 332, 333; Ončukov, Nr. 85. Unser Text zeichnet sich durch ausführliche und markante Verarbeitung der Motive aus. 32. Iwan Glückspilz (Barag, Hs.) AT 461; BP I, Nr. 29. Untersuchungen: A. Aarne, Der reiche Mann und sein Schwiegersohn, 1916, FFC 23; N. F. Sumcov, Skazki i legendy o Marke Bogatom (Märchen und Sagen über „Marko den Reichen“), Ėtnografičeskoe obozrenie (Ethnographische Umschau), 1894, Bände XX, XXI. Die älteste schriftliche Fassung des Sujets 461 ist in einer chinesischen Sammlung enthalten. Der französische Märchenforscher Cosquin stellte einen Zusammenhang zwischen den europäischen Märchen dieses Typs und einem antiken assyrischen Keilschrifttext über die Reise Isdubars zu den Ahnen her. Erzählt von Vasilij Stupak, 38 Jahre, aus dem Dorf Podstarin (Gebiet Brest, Bz. Kossowo) 1949. Belorussische Varianten: Romanov III, S. 198-205, Nr. 27; S. 336-340, Nr. 81, 82, 83; VI, S. 301, Nr. 32; Klich, S. 16-18, 108-114, 128-130, 133;
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Federowski I, S. 4, Nr. 2; K. 289-295, Nr. 325, 326; S. 300-301, Nr. 333; S. 312-313, Nr. 344; S. 314, Nr. 346; Weryho, Nr. 6; Čubinskij II, S. 341-344, Nr. 88 (Gouv. Grodno); Karłowicz, ZWdAK XII, 1888, S. 4042, Nr. 75; Gliński III, Nr. 10; Dobrovol’skij I, S. 293295, Nr. 2; Gospodarev, S. 313-319, Nr. 16. Das Motiv „Drei Haare vom Barte des Teufels“ ist für die westslawischen und westeuropäischen Varianten des Sujets 461 typisch, fehlt jedoch in den veröffentlichten belorussischen und russischen Varianten, während es in belorussischen Märchen vom Traum (AT 725) auftritt: Karłowicz, Nr. 27; Weryho, Nr. 12. Das Motiv vom Zusammentreffen des Helden mit dem Wal ist für die ostslawischen Märchen über den Reichen Marko charakteristisch. 33. Feuer im Herzen und Verstand im Kopf (Seržputovskij II, S. 94-96, Nr. 71) fällt teilweise mit den Episoden von der Reise zur Sonne oder um die ganze Welt zusammen: AT 460 A, vgl. auch 461; BP I, Nr. 29. Erzählt von der Bäuerin Matruna Bochmačicha aus dem Dorf Tschudin (Gebiet Minsk, Kr. Sluzk) zu Beginn des 20. Jh. Über dieses für den Stil der Erzähler des belorussischen Polesje charakteristische Märchen vgl. auch das Nachwort. 34. Die Glücksblume (Barag, Hs.) AT–. Erzählt von der Bäuerin Juzefa Ždanovič, 27 Jahre, im Dorf Dorshi (Gebiet Molodetschno, Bz. Oschmjany) 1949. Über diese Erzählung vgl. Nachwort. Das Motiv von der Verwandlung des Helden in Ameise und Adler und von seiner Flucht mit der befreiten Königstochter tritt in den Märchen des Typs „Der Pflegesohn des Waldgeistes“ (AT 667) auf: Romanov VI, S. 91-101, Nr. 10. Das Motiv „Der Held dient bei einem Greis (Teufel, Waldgeist) und erhält dafür eine wunderbare Gabe“ ist aus Märchen verschiedener Typen bekannt. Man vergleiche dieses Mo-
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tiv im vorliegenden Märchen und in einem Märchen aus Karłowiczs Sammlung (ZWdAK XI, 1887), S. 247249, Nr. 13. Der König spricht in Juzefa Ždanovics Märchen polnisch, die übrigen Personen belorussisch. 35. Das liebe ich gerade (Barag, Hs.) ähnelt teilweise AT 900. Erzählt von Juzefa Ždanovic. Das Sujet des Märchens erinnert an Adam Mickiewiczs Ballade „Das liebe ich gerade“, die auf folkloristische Quellen, wahrscheinlich belorussische, zurückgeht. Mickiewicz ist in Belorußland geboren und verbrachte dort seine Kindheit. Bekannt sind eine Reihe von belorussischen Märchen des vorliegenden Typs: Romanov IV, S. 162, Nr. 14; Weryho, S. 235-236, Nr. 3; Aufzeichnungen unserer handschriftlichen Sammlung aus den Gebieten Grodno und Molodetschno. Polnische Variante: Kolberg, Lud, XVII, S. 86. Im Gegensatz zu Juzefa Ždanovičs Märchen und der Ballade wird in einer Reihe von belorussischen Varianten die Seele des Mädchens von Gott in einen Türriegel oder einen Ziegelstein eingesperrt. An die Stelle des schüchternen Jünglings Jozek, des Balladenhelden, tritt in Juzefa Ždanovičs Märchen der Teufel, an die Stelle des Mädchens Maryli eine schöne Königstochter, an die Stelle des Wanderers der Dichter; im Märchen ist der Befreiet ein blinder und lahmer Buckliger, der der Gatte der Königstochter wird. 36. Wie der Teufel ein Mädchen fing (Barag, Hs.) verbundene Sujets von der toten Frau und von dem Mädchen als Blume: AT 365, 407; BP II, S. 125-127, Nr. 76, und BP III, Nr. 160. Im veröffentlichten Material sind belorussische Märchen dieses Typs nicht vermerkt, aber sie existieren in handschriftlichen Sammlungen. Im veröffentlichten russischen Material ist ein Text „Lilien“ (Afanas’ev, Nr. 363) enthalten, im ukrainischen und polnischen Material eine beachtliche Anzahl von Varianten. J. Polívka sprach auf
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Grund der Volkstümlichkeit der Märchen des vorliegenden Typs in den Karpaten und in der KarpatoUkraine die umstrittene Vermutung aus, daß die ursprüngliche Verschmelzung der Typen 365 und 407 in den Karpaten stattfand. Erzählt von Alena Grečna, 42 Jahre, Analphabetin, im Dorf Obrowo (Gebiet Pinsk, Bz. Telechany) 1947. Diesem und dem Märchen Nr. 35 entsprechen eine ganze Reihe von Sagenmärchen über die Bestrafung eines lieblosen Mädchens: Das grausame Mädchen wird Beute eines menschenfressenden Vampirs (Federowski II, S. 238-239, Nr. 237); weil das Mädchen nur den Besitzer eines roten oder grünen Bartes heiraten will, muß es schließlich einen Toten, den Teufel oder einen Räuber nehmen (Federowski II, S. 252, Nr. 267; Čubinskij II, S. 608-610, Nr. 82); die grausame Königstochter wird in einen Kuckuck verwandelt (Federowski I, S. 58-59, Nr. 174); dem Mädchen wächst zur Strafe für seine Grausamkeit ein Vollbart (Romanov IV, S. 43, Nr. 32; Federowski I, Nr. 402; II, Nr. 238; Karłowicz, ZWdAK XI, 1887, S. 235236, Nr. 3); vgl. die Legende vom heiligen Swat (Brautwerber). 37. Der Musikant Klimjata und die Teufel (Šejn II, S. 98-101, Nr. 51) AT–. Aufgeschrieben im Flecken Chlopenitschi (Gouv. Minsk, Kr. Borisow) in den 70er bis 80er Jahren des 19. Jh. Das Sujet vom Wucherer, der in der Kirche aus seinem Sarg in die Hölle fährt, ist aus einer ganzen Reihe belorussischer und ukrainischer folkloristischer Texte bekannt: Romanov IV, S. 121-123, Nr. 64; Dobrovol’skij I, S. 374376, Nr. 16; V. Kravčenko, Ėtnografičeskie materialy, sobrannye v Volynskoj i sosednych c neju gubernijach (Ethnographische Materialien, gesammelt im wolhynischen und benachbarten Gouvernements), 1911, S. 54-56, Nr. 62. Das vorliegende Sujet stammt aus der altrussischen „Sage vom Nowgoroder Stadthalter Stschil“ (erste Fassung Mitte des 15. Jh., sechste und
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letzte Fassung im 18. Jh.). In der Neuzeit wurde die Sage plump überarbeitet, und diese Vorlage beeinflußte die Märchen. Das Motiv von der Verwandlung des Wucherer-Kaufmanns in ein Pferd fehlt in der Sage. In unserem Märchen ist, wie in dem obenerwähnten Märchen aus Romanovs Sammlung, das Sujet der StschilSage mit dem Sujet vom „Musikanten auf der Hochzeit der Teufel“ verschmolzen. Im belorussischen und ukrainischen Material ist das letztere Sujet recht häufig. Belorussische Varianten: Seržputovskij I, S. 2-4; III, S. 15, Nr. 119; Pietkiewkz, 1938, S. 75; Demidovič, Ėtnografičeskoe obozrenie (Ethnographische Umschau), 1896, Nr. 1, S. 103-104; Federowski I, S. 1819, Nr. 60; Majak 1844, XV, S. 20. Vgl. auch bei Afanas’ev das russische Märchen Nr. 371; hier wird ähnlich wie in unserem Märchen die Episode vom Musikanten behandelt, der sich aus der Hölle hinausstiehlt, indem er absichtlich seine Geige beschädigt. 38. Der Zaubermusikant (Seržputovskij I, S. 2-4, Nr. 1) AT–. Gehört zu der Gruppe von Märchen über einen Geiger, der auf eine Teufelshochzeit gerät; belorussische Texte solcher Märchen siehe Anm. zu Nr. 37. Die Episode „Der Musikant erfreut den Meereskönig mit seinem Spiel, und dieser beginnt zu tanzen“ hat Parallelen in den russischen Märchen des Typs „Sadko“ („Eisen ist teurer als Gold“ AT 677) und in der russischen Byline über Sadko. Erzählt von Redkij (vgl. Anm. zu Nr. 1). In diesem ungewöhnlichen Märchen hat die bildhafte Beschreibung des Spiels des Musikanten und der Natur grundlegende Bedeutung. Das poetische Bild des Zaubermusikanten ist von humanistischem Pathos durchdrungen. Der Schluß von Redkijs Märchen – der Musikant treibt mit seinem hinreißenden Spiel die ganze Hölle auseinander – hat in keinem anderen Text seinesgleichen.
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39. Der Musikant und die Eidechse (Barag, Hs.) AT 285 A. Vgl. Aufsatz: L. Bødker, Kviden der mistede sin Næse, Lund 1945. Unser Text erinnert teilweise an das Märchen aus dem indischen Pantschatantra vom Brahminen Garidata, dem ein Drache Goldstücke gibt; die Freundschaft zwischen dem Brahminen und dem Drachen geht zu Ende, als jener dem Drachen auf den Kopf schlägt (T. Benfey, Pantschatantra, 1859, II, S. 244-247). Analoge Sujets in Äsops Fabeln (Nr. 65 und Nr. 42), aber auch in den Fabeln des Phaedrus und des Romulus. Im 13. Jh. ging ein Märchen, in dem ein Mensch einen Drachen, der ihm Goldstücke geschenkt hat, den Schwanz abhaut, in die Sammlung Directorium humanae vitae des Johann von Capua ein und danach in die Gesta Romanorum, die weitverbreitet waren, speziell in polnischen und russischen Übersetzungen (16. u. 17. Jh.). Ein Märchen über das vorliegende Sujet erzählte der ukrainische Hetman und Feldherr Bogdan Chmelnickij (ungefähr 1595-1657) einem polnischen Botschafter. Nach Ansicht M. Dragomanovs ist Bogdan Chmelnickijs Märchen unmittelbar mit folkloristischen Quellen verbunden (siehe Rozvidki M. Dragomanova [M. Dragomanovs Forschungen], Bd. 2, Lwow 1900, S. 1-24). Besonders stark erinnert unser belorussisches Märchen an Nr. 118 in A. Lavrovs und J. Polívkas mazedonischer Märchensammlung Lidové povídky jihomakedonské (Südmazedonische Volksmärchen), wo auch über einen Musikanten und eine Eidechse berichtet wird. Westslawische Varianten des Sujets vermerkt V. Tille in Sbornik prací věnovanỷch prof. dr. J. Polívkovi h šedesátỷm narozeninám (Sammlung der Prof. Dr. Polívka zum siebzigsten Geburtstag gewidmeten Arbeiten), Prag 1918, S. 48-49. In der ukrainischen Sammlung Ėtnografičnij sbirnik (Ethnographische Sammlung), Bd. XXXVII-XXXVIII, Lwow 1916, S. 465-467, Nr. 368, ist ein Märchen enthalten, das dem Typ AT 285 und teilweise dem Typ 285 A entspricht. Weitere
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Varianten des vorliegenden Sujets sind im veröffentlichten ostslawischen Folklorematerial nicht bekannt. Aufgeschrieben beim Bauern Pavel Naguj, 68 Jahre, im Dorf Melewitschi (Gebiet Grodno, Bz. Mosty). 40. Die verkaufte Geige (Seržputovskij II, S. 169-170, Nr. 71) AT–. Erzählt von der Bäuerin Tyčina im Dorf Pestschinka (Gouv. Minsk, Kr. Sluzk). Varianten nicht bekannt. Vgl. Pietkiewicz, 1938, S. 161-162: Der junge Musikant verkauft dem Teufel seine Seele; Federowski I, S. 48, Nr. 148: Der Musikant versucht dem Teufel an Stelle seiner Seele die seiner Geige zu verkaufen (ebenso in einem ukrainischen Märchen, Grinčenko I, S. 40-41, Nr. 76). 41. Der Teufel und der Hirt (Romanov IV, S. 41-42, Nr. 30) AT–. Erzählt vom Bauern Gapej Jakovlev, 55 Jahre, Analphabet, im Dorf Lubnizy (Gouv. Mogilew, Kr. Gorodok) in den 80er Jahren des 19. Jh. Ein verwandtes ukrainisches Märchen über eine Zauberschalmei ist in V. Jastrebovs Sammlung Materialy po ėtnografii Novorossijskogo kraja (Materialien zur Ethnographie der neurussischen Region), Odessa 1894, S. 137-138, Nr. 11, enthalten. Vgl. auch Der musikalische Pope in E. Pomerancevas Sammlung Russkie narodnye skazki (Russische Volksmärchen), Moskau 1957, S. 469-470, Nr. 86 (Deutsche Ausgabe: Russische Volksmärchen, hrsg. v. E. Pomeranzewa. Berlin 1964, S. 548, Nr. 81). In den Anmerkungen weist E. Pomeranceva darauf hin, daß eine Variante dieses Sujets von der zaristischen Zensur aus A. Afanas’evs Sammlung Narodnye russkie skazki entfernt wurde. 42. Der listige Dummkopf (Barag, Hs.) AT 1685 A + 1653 + 592. Eine ähnliche Verbindung fehlt im veröffentlichten belorussischen
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Material, tritt jedoch in ukrainischen Märchen auf, vgl. z. B.: Dragomanov, Malorusskie predanija i rasskazy (Kleinrussische Sagen und Erzählungen), S. 339-343, Nr. 27. Einzeln tritt jedes der 3 genannten Sujets häufig im belorussischen Material auf. Zum Sujet „Die Räuber unter dem Baume“ vgl. BP I, Nr. 59; zum Sujet „Der Jude im Dorn“ vgl. BP II, Nr. 110. Märchen über eine Zaubergeige mit der Einleitungsepisode „Gott belohnt verbrannten Weihrauch“ treten in einer ganzen Reihe ostslawischer und südslawischer veröffentlichter Märchen auf; belorussische Variante: Romanov VI, S. 486-488, Nr. 54. Das Motiv von der Weihrauchverbrennung ist auch in slawischen Märchen von der schönen Frau (Die Reise in die andere Welt – AT 465 C) enthalten; vgl. die belorussischen Texte: Šejn II, S. 388-397, Nr. 222; Serbov, Beloruskysakuny (Belorussen-Sakunen), S. 169-173. Erzählt 1947 von Vincent Jurevič, 43 Jahre, einem Wächter in einem Getreidespeicher im Dorf Galmany (Gebiet Molodetschno, Bz. Oschmjany). 43. Der Schuster und der Gutsherr (Barag, Hs.) AT 936*; BP III, S. 413-414, Nr. 193; Chauvin VII, S. 29-39. Vgl. das umfangreiche Märchen von Hassan aus Basra aus Tausendundeiner Nacht (Nächte 778-831). Erzählt von Roman Saganovič, 35 Jahre, einem Arbeiter in einer Ziegelfabrik im Dorf Turnaja (Gebiet Pinsk, Bz. Telechany) 1946. Saganovič besitzt ein umfangreiches Märchenrepertoire (mehr als 180 Nummern) aus mündlicher Überlieferung. Im veröffentlichten belorussischen Material Märchen vom goldenen Berg nicht vermerkt; jedoch in Barag, Hs.: belorussische Varianten. Im Unterschied zu den russischen novellistischen Märchen des Typs 936, denen eine gegen die Kaufleute gerichtete Tendenz eigen ist, sind die belorussischen Märchen vom goldenen Berg phantastisch und haben einen gegen die Gutsherren gerichteten Charakter. Die in Saganovičs Märchen
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enthaltenen Motive „Der Zauberstab im Berg“ und „Der Schuster befreit die verzauberten Gefangenen“ sind in anderen ostslawischen Märchen nicht zu finden, doch sind sie aus dem Märchen aus Tausendundeiner Nacht bekannt. 44. Der Reiche (Seržputovskij I, S. 180-183, Nr. 79) AT–. Erzählt von Kruglik (vgl. Anm. zu Nr. 16) in den Jahren 1890 bis 1907. Die Herkunft dieses Märchens ist mit Lafontaines Fabel „Le Savetier et le Financier“ (Der Schuster und der reiche Mann) verbunden, die dank der hervorragenden Übersetzung I. A. Krylovs in Rußland weitverbreitet war. Die zentrale Episode des Märchens – der Reiche versinkt in Blut und Schweiß – hat im Fabeltext kein Analogon und ist offensichtlich aus der künstlerischen Phantasie der belorussischen Erzähler erwachsen. Im Märchen wird der Reiche nicht wie in der Fabel als ein wegen seiner Sorgen unglücklicher Mensch geschildert, sondern als Ausbeuter und Blutsauger mit schlechtem Gewissen. Der Reiche aus der Fabel lebt im Reichtum weiter, als er vom Schuster sein Geld zurückerhalten hat. Der Reiche im Märchen erhält seine Strafe, er begeht Selbstmord. Das Märchen zeichnet sich durch scharfe soziale Kritik aus. Varianten wurden von uns 1945 im Dorf Bolschoj-Roshin (Gebiet Ganzewitschi, früher Gouv. Minsk, Kr. Sluzk) aufgenommen. 45. Wer das Geld erdacht hat (Seržputovskij II, S. 204-207, Nr. 81) AT–. Erzählt von Redkij (vgl. Anm. zu Nr. 1) Anfang des 19. Jh. Varianten nicht bekannt. Vgl. Gliński II, 1862, S. 173190, Nr. 8, und zahlreiche Sagenerzählungen über Abenteuer in der Nacht vor dem Fest Ivan Kupalas (24. Juni): Dobrovol’skij I, S. 162, 540; Dmitriev 1869, S. 147, Wisła X, 1896, S. 140-141 (Kreis Wilna).
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46. Der alte Mann und die alte Frau (Romanov III, S. 258-259, Nr. 88) AT 612; BP I, Nr. 16; siehe auch A. Wesselski, Märchen des Mittelalters, Berlin 1925, S. 12-15, Anmerkung S. 188-192. In Wesselskis Anmerkung sind zahlreiche alte westeuropäische und oriental. Versionen des Sujets von der Frau, die von ihrem Mann wieder zum Leben erweckt wird, angeführt. Sie haben aber nur eine sehr entfernte Ähnlichkeit mit unserem Märchen. Aufgezeichnet im Dorf Gontscharowo (Gouv. Mogilew, Kr. Senno) in den 80er Jahren des 19. Jh. Gewöhnlich wird in den Märchen des Typs 612 berichtet, daß die im Grab wieder lebendig gewordene Frau ihren Mann mit Untreue belohnt, er wird erschlagen, von einem Kameraden vom Tode erweckt, gibt der toten Königin das Leben wieder und heiratet sie. Dieses Sujet wurde in der russischen Byline vom Recken Potyk behandelt. In unserem Text wird nur der erste Teil des traditionellen Sujets erzählt, und zwar in einzigartig lebensechter humoristischer Weise. Belorussische Varianten nicht bekannt. 47. Die sechs Fische (Barag, Hs.) AT–. Erzählt von V. Koljada (vgl. Anm. zu Nr. 22) 1948. Märchen des vorliegenden Typs sind im südslawischen und im oriental. Folklorematerial zu finden. So erzählen z. B. ein mazedonisches Märchen in der Sammlung A. Lavrovs und J. Polívkas, Lidové povidky jihomakedonské (Südmazedonische Volksmärchen), S. 162-170, Nr. 62, ein persisches Märchen aus Lorimers Sammlung Persian Tales, S. 345, Nr. 55, und ein armenisches Märchen aus der Sammlung Sbornik opisanij plemen i mestnostej Kavkaza (Sammlung von Beschreibungen der Stämme und Gegenden des Kaukasus), Bd. XVII, Ausg. 2, S. 48, Nr. 4, von drei Fischen, die Menschengestalt annehmen und den armen Hirten, seine Amme oder die Befreier vom bösen Zauber auf wunderbare Weise belohnen. Nach den Worten
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V. Koljadas ist das Märchen von den sechs Fischen eines von denen, die sie Kindern erzählte. 48. Der Geldbeutel des Kranichs (Romanov III, S. 217-276, Nr. 50) AT 564; BP I, Nr. 36. Aufsatz: A. Aarne, Die Zaubergaben. Eine vergleichende Märchenuntersuchung (Journal de la Societé Finno-Ougrienne XXVII, Helsingfors 1909). Die älteste Variante dieses Sujets ist ein Märchen aus einer chinesischen Sammlung vom Anfang des 6. Jh. Hier holt sich ein armer Mann den Wunderkrug zurück, der ihm von einem Mönch geschenkt und vom Kaiser weggenommen worden war. Ein Märchen des vorliegenden Typs ging auch in Basiles Pentamerone ein. Erzählt von dem Bauern Ivan Mel’nikov, 38 Jahre, Analphabet, im Dorf Gorodistsche (Gouv. Mogilew, Kr. Bychow) Ende des 19. Jh. Belorussische Varianten: Romanov III, S. 276-277, Nr. 51; Federowski I, S. 161-162, Nr. 489; Čubinskij II, S. 354, Nr. 292; Gliński I, Nr. 12; Gospodarev, S. 346-349, Nr. 22. In diesen Varianten werden ebenso wie in dem gegen die Gutsbesitzer gerichteten Märchen I. Mel’nikovs die sozialen Verhältnisse im belorussischen Dorf zur Zeit der Leibeigenschaft widergespiegelt. Unser Märchen zeichnet sich jedoch durch besondere Lebendigkeit der Alltagsszenen aus, durch besonders ausdrucksvolle Schilderung des armen belorussischen Bauern und seiner Unterdrücker; vgl. Federowski II, Nr. 489, und eine verwandte polnische Variante: Kozłowski, Lud, 1869, S. 331-335, Nr. 9. Die Gestalt des Kranichs, der einen Zaubergegenstand verschenkt, tritt in ostslawischen Märchen häufig auf. 49. Das Glück muß man hüten (Barag, Hs.) AT 735 + 564. Aufsätze: A. Potebnja, O Dole i srodnych suščestvach (Über das Schicksal und verwandte Wesen) (Drevnosti [Altertümer] in: Trudy Moskovskogo Archeologičeskogo obščestva, Bd. 1); A.
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Sonin, Gore i dolja v narodnoj skazke (Gram und Schicksal im Volksmärchen), Kiew 1906. Erzählt von Vasilij Sazanovič, 75 Jahre, im Dorf Wesselowo (Gebiet Baranowitschi, Bz. Negnewitschi) 1948. Dieser Erzähler, von dem wir 30 Texte aufgezeichnet haben, gibt den Märchensujets fast immer eine moralphilosophische Nuance. Er nennt seine Märchen „geistig“. Als guter Tischlermeister arbeitete er in vielen Städten Rußlands und Polens und erfreute sich überall großer Beliebtheit als Erzähler. Das Sujet von den zwei Schicksalen gehört zu den populärsten Sujets der belorussischen und der ukrainischen Folklore: Romanov IV, S. 46-48, Nr. 35 u. 36; S. 204-209, Nr. 54 u. 55; Šejn II, S. 157-158, Nr. 75; Seržputovskij I, S. 102107, Nr. 56; II, S. 203-204, Nr. 21. Belorussische Varianten des Sujets 564 sind in den vorangegangenen Anmerkungen genannt. Eine ebensolche Sujetverschmelzung wie in V. Sazanovičs Märchen liegt in einem Text Gospodarevs (Nr. 21) und in einer Reihe ukrainischer Texte vor. Die moralische Schlußformel „Das Glück muß man hüten“ ist in Märchen über wunderbare Gaben aus Glińskis Sammlung (I, Nr. 12) und aus den ukrainischen Sammlungen Kravčenkos und Jastrebos enthalten. Die individuelle Meisterschaft des Erzählers V. Sazanovič zeigt sich darin, daß er diese moralistische Endthese dramatisch erschließt, indem er den Menschen einem Übergang vom unerwarteten Glück in die Armut unterwirft. 50. Die drei Vermummten (Romanov IV, S. 146-149, Nr. 83) Märchen des vorliegenden Typs treten nur im belorussischen und im ukrainischen Folklorematerial auf. Varianten: Dobrovol’skij I, S. 327-331, Nr. 21; Romanov IV, S. 149-152, Nr. 84; Rudčenko II, Nr. 24 (ukr.). Das Motiv von der Versteinerung des Dieners nähert dieses Märchen dem Typ „Der treue Johannes“ (AT 516); vgl. BP I, Nr. 6. In der Monographie E. Röschs, Der getreue
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Johannes (Helsinki 1928, FFC 77), werden die obenerwähnten belorussischen Texte zusammen mit den folgenden belorussischen Varianten des Sujets 516 betrachtet: Romanov IV, Nr. 87; VI, Nr. 1 u. 2; Weryho, Nr. 7. Die belorussischen Märchen von den drei Vermummten erinnern auch an ein Märchen des indischen Kathâsaritsâgara Somadewas (11. Jh.), in dem drei Dämonen, die sich über einen Menschen geärgert haben, der nachts ein Märchen nicht zu Ende erzählt hat, diesen als schreckliche Gespenster zu verfolgen beginnen; vgl. C. Tawney, The Kathâsaritsâgara or Ocean of the Streams of Story, Kalkutta 1880, I, S. 253. In unserem Text sind Reste alter Vorstellungen von der magischen Rolle der Märchen enthalten. Gleichzeitig hat er eine direkte Verbindung zu dem im vorrevolutionären Belorußland verbreiteten Brauch, von einem Reisenden, der im Dorf übernachtete, als originelle Belohnung für erwiesene Gastfreundschaft zu verlangen, daß er Märchen erzählt. Jan Barszczewski berichtet in seinem Buch Szlachcic Zawalnia (Junker Zawalnia), daß der Junker Zawalnia den durchreisenden belorussischen Bauern nur dann bei sich im Haus zu übernachten erlaubte, wenn sie ihm bis spät in die Nacht hinein Märchen erzählten. Aufgeschrieben im Amtsbezirk Pustynino (Gouv. Mogilew, Kr. Senno) Ende des 19. Jh. 51. Das Märchen vom Märchen (Barag, Hs.) AT 664 B*. Die komischen Märchen des vorliegenden Typs „Maroka“ sind im belorussischen und ukrainischen Material in einheitlichen Texten dargestellt und im russischen in gewissen Varianten. Sie ähneln den Märchen von Dämonen, die den Menschen als schreckliche Gespenster verfolgen, wenn er beim Märchenerzählen einschläft, vgl. auch Anm. zu Nr. 53. Erzählt von M. Spirida (vgl. Anm. zu Nr. 23) 1947.
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52. Wie man sich auch dreht und wendet, sterben muß man doch (Seržputovskij I, S. 34-36, Nr. 14) AT 332; BP I, 44. Die ältesten Versionen dieses überall in der Welt bekannten Sujets befinden sich im hebräischen Talmud und in der indischen Sammlung Vêtâlapañcavimśatika. Belorussische Varianten: Dobrovol’skij I, S. 314-318, Nr. 10, 11; Romanov IV, S. 66, Nr. 44; Šejn II, S. 414-419, Nr. 10 u. 11; Klich, S. 27-28; Demidovič (E. O. 1896, I), S. 92-93; Karłowicz (ZWdAK XI, 1887), S. 272-273, Nr. 29; Federowski I, S. 132, Nr. 333; S. 141-142, Nr. 368; II, S. 132-133, Nr. 102. Erzählt von Redkij (vgl. Anm. zu Nr. 1). Zum eigenständigen Stil dieses Märchens vgl. das Nachwort. 53. Der unsterbliche Schmied (Barag, Hs.) AT 330; BP II, S. 163-189, Nr. 82. Die ältesten literarischen Versionen dieses im Norden und Osten Europas verbreiteten Sujets liegen in deutschen Schwänken des 16. Jh. vor: Der Tod auf dem Stühllein von Hans Sachs (1551), Historia von Sancto (1570) u. a. Erzählt von Česlav Jagalo, 70 Jahre, im Dorf Slobodka (Gebiet Molodetschno, Bz. Oschmjany). Das Repertoire dieses hervorragenden Erzählers besteht aus einer Menge von Legendenmärchen, die er sowohl in russischer als auch in polnischer Sprache erzählt. Belorussische Varianten: Šejn II, S. 412-414, Nr. 229; Federowski II, S. 281-282, Nr. 320; II, S. 131-139, Nr. 101; Romanov IV, S. 79, Nr. 45; Seržputovskij I, S. 25, Nr. 13; Majak 1844, XV, S. 20-21. Die Einleitungsepisode von Jagalovs Märchen („Christus und der Apostel auf dem Nachtlager“ – AT 791) tritt in den westslawischen Märchen des vorliegenden Typs häufig auf, vgl. z. B.: Wisła V, 1891, Nr. 3-4, S. 625. Jagalo vereinigt im Märchen die Motive „Der Tod im Lehnstuhl“ und „Die Teufel auf dem Baum“. Gewöhnlich wird in den Märchen des Typs 330 eines dieser Motive
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behandelt. Die Abschlußepisode unseres Märchens erinnert an die bekannte Fabel des 17. bis 18. Jh. „Über einen Trick, durch einen Prozeß das Paradies zu erlangen“, die in den Ländern Westeuropas zahlreichen Bearbeitungen unterzogen wurde. Im 16. Jh. entstand auf der Grundlage dieses Sujets das russische „Gleichnis vom Zecher“; es spiegelt sich in der ostslawischen Folklore wider. Vgl. z. B. das Märchen „Vom Trinker, der die Heiligen übertraf und dadurch ins verbotene Paradies kam“ (Dobrovol’skij I, S. 285-296, Nr. 51). 54. Der gerechte Richter (Dobrovol’skij I, S. 310-313, Nr. 9) AT–. Aufgeschrieben im Dorf Pretschistoe (Gouv. Smolensk, Kr. Duchowstschina) in den 80er Jahren des 19. Jh. Vgl. Romanov IV, S. 186-187, Nr. 46. In unserem Text ist der Protest des Volkes gegen das soziale Elend nicht von der Erkenntnis der Klassenungerechtigkeit in der Religion zu trennen: Der positive Held, der gerechte Richter, erhebt Anklage gegen Gott und den heiligen Nikolaus, weil sie stets für die Machthaber, die Reichen, Partei ergreifen. Verschiedene Motive unseres Märchens (z. B. die Blendung des Richters und die Wiedererlangung des Augenlichtes bei der Schlichtung des Streites zwischen Frosch und Aal) haben Analoga im Talmud, in alten mohammedanischen und christlichen Legenden und in der Sammlung Gesta Romanorum, die im 17. Jh. ins Russische übersetzt wurde. Der letzte Teil des Märchens erinnert entfernt an folkloristische Texte aus Federowskis Sammlung (I, S. 141, Nr. 367; II, S. 132-133, Nr. 102 – Der Greis und der Tod). 55. Der nackte Richter (Barag, Hs.) AT–. Dieses Märchen wurde von Taras Sečko, 78 Jahre, im Dorf Bolschoj-Roshin (Gebiet Pinsk, Bz. Ganzewitschi, früher Kr. Sluzk) im Mai 1945 jungen Hirten auf einer Wiese erzählt. Es erinnert an AT 757; BP III, S. 217, Fußnote 2, Nr. 152; Chauvin
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II, S. 161, Nr. 51. Untersuchungen: A. N. Veselovskij, Rozyskanija v oblasti russkogo duchovnogo sticha (Untersuchungen auf dem Gebiet des russischen geistlichen Gedichtes) in: Zapiski imperatorskoj Aka-demii Nauk, Bd. 40, Petersburg 1881; H. Varnhagen, Ein indisches Märchen auf seiner Wanderung durch die asiatische und europäische Literatur, Berlin 1882. Meist wird der stolze Kaiser, der auf der Jagd seine Kleidung verlor, in den Märchen des Typs 757 und in damit verwandten Erzählungen durch einen Engel ersetzt; nachdem er einige Jahre als wandernder Bettler gelebt hat, erhält er vom Engel den Thron zurück. Vgl. z. B. Afanas’ev, Narodnye russkie legendy (Russische Volkssagen), Nr. 42. In Sečkos Märchen tritt an die Stelle des stolzen Kaisers ein ungerechter Richter; das Motiv vom „Engel, der den Platz des Stolzen einnimmt“ entfällt; das Ende des Märchens vom „nackten Richter“ ist eigenständig: Der Richter bleibt freiwillig für immer Blindenführer der Bettler. Eigenständig ist auch das Motiv von der Begegnung des Richters mit den Hirten. Nach Aussage des Erzählers hat er das Märchen von einem blinden Bettler übernommen. Ein weiteres Märchen von T. Sečko siehe Nr. 96. 56. Gott, der arme Bauer und die Richter (Romanov IV, S. 23-24, Nr. 20) AT–. Erzählt von Fedor Fedotov, 38 Jahre, Analphabet, im Flecken Gaischin (Gouv. Mogilew, Kr. Bychow) in den 80er Jahren des 19. Jh. In einem anderen Märchen des gleichen Typs (Romanov IV, S. 186, Nr. 45) tritt an die Stelle Gottes der heilige Nikolaus. Unser Text ist besonders ausdrucksstark in der Negierung der Gerechtigkeit und Güte Gottes. M. Gorkij erzählt in seinem Aufsatz O skazkach (Über Märchen) ein ähnliches Märchen nach, in dem Gott als habsüchtiger Ränkeschmied auftritt. Gorkij hatte es in seiner Kindheit von einer Kinderfrau gehört (M. Gorkij, Sobrannye sočinenij [Gesammelte Werke], Bd. 27, 1953, S. 394). Das Sujet „Der Streit
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um das Fohlen“ enthält in den belorussischen Märchen keine so scharfe soziale Kritik, siehe Federowski III, S. 59-60, Nr. 117 (Wie der Gutsbesitzer den Streit zweier Bauern um ein Fohlen schlichtete). Häufig ist der Streit darüber, wer gefohlt hat, in den Märchen des Typs „Die kluge Bauerntochter“ anzutreffen (AT 875): Šejn II, S. 197-199, Nr. 92; Weryho, S. 71, Nr. 136. Märchen über gerechte und ungerechte Richter gingen aus alten europäischen, mohammedanischen und christlichen Legenden hervor. 57. Die Heiligen Elias und Petrus (Seržputovskij I, S. 16-20, Nr. 7) AT 846*. Erzählt vom Bauern Ivan Azemša, 70 Jahre, im Dorf Lutschizy (Gouv. Minsk, Kr. Mosyr) in den Jahren 1890-1907. Über diesen ausgezeichneten Erzähler gibt Seržputovskij im Vorwort seiner Sammlung einige biographische Notizen. – In den westslawischen Märchen wird der auf der Erde weilende Christus von dem rachsüchtigen Apostel Petrus begleitet. Das Motiv vom Wettstreit zweier Heiliger, von denen der eine an den Menschen Rache übt und der andere ihnen hilft, ist für die ostslawischen Varianten dieses Sujets charakteristisch; den Knotenpunkt dafür bildet die Beleidigung des einen Heiligen dadurch, daß die Menschen den anderen ihm vorziehen. Die ostslawische Version des Sujets vom „Rachsüchtigen Heiligen“ ist eng mit der Folklore der Völker des Orients verbunden. J. Polívka weist auf ein bengalisches Märchen aus der Sammlung von Lal Behori Day hin, Folk-Tales of Bengal, S. 108, Nr. 8, in dem der Gott Sani und die Göttin Lakschmi darüber streiten, wer von ihnen höher stehe; ein Mensch, der nicht die dem Gott zusagende Antwort auf ihre Frage gibt, wird von Lakschmi auf einen goldenen Lehnstuhl gesetzt; Sani beginnt sich an ihm zu rächen. (J. Polívka, Pohadkoslovné studié, Prag 1904, S. 187). Die südbelorussische Variante (aus dem Polesje) aus Seržputovskijs Sammlung steht ukrainischen Märchen
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sehr nahe. Das Motiv von der Bewirtung der Heiligen mit den von ihnen verwünschten Fladen, das in unserem Märchen behandelt wird, findet sich auch in einem ukrainischen Märchen aus Grinčenkos Sammlung (II, S. 148, Nr. 99). Das Motiv „Der Heilige droht am Brot oder Fladen zu ersticken“ wird in Seržputovskijs Varianten ähnlich behandelt wie in ukrainischen Varianten aus Kravčenkos Sammlung (1914, S. 113-116, Nr. 105), aus Ėtnografičeskij obozrenie (1890, Nr. 4, S. 74-75), aus Ėtnografičeskij sbornik (IX, 1900, S. 26, Nr. 12; S. 40, Nr. 20), aber auch wie in einer polnischen Variante Kolbergs (Lud VIII, S. 26, Nr. 12) und in einer tschechischen Variante aus Kubins Sammlung Lidové povidky z českého Podkrkonoši (Volksmärchen aus dem Riesengebirgsvorland) I, 1922, Nr. 49. In den russischen Varianten ist diese Episode nicht vermerkt. Das Märchen aus Seržputovskijs Sammlung wurde vielfach in belorussischen Zeitschriften und Kalendern nachgedruckt. Oft wurden von Folkloristen Nacherzählungen dieser Texte bei belorussischen Bauern aufgeschrieben, die diese Ausgaben gelesen hatten. Azemśas Märchen ist wegen der besonders ironischen Darstellung der Heiligen und der poetischen Naturschilderungen bemerkenswert. Belorussische Varianten zahlreich: Šejn II, S. 365-370, Nr. 214 u. 215; Romanov IV, S. 19-22, Nr. 15, 15 b, 16 u. 17; Dobrovol’skij I, S. 298-302, Nr. 5 u. 6; Naša niva, Nr. 14, 1912; Gospodarev, S. 554-556, Nr. 74; s. auch Seržputovskij III, S. 259-260, Nr. 2223 (Mittwoch und Freitag). Das Motiv von der Taubheit des Heiligen, aus der den Menschen Schaden erwächst, findet man auch in belorussischen Volksschwänken selbständig verarbeitet, z. B. bei Federowski III, S. 284, Nr. 555. Märchen desselben Erzählers siehe Nr. 60 u. Nr. 69. 58. Wie die Heiligen Nikolaus und Petrus Pferde kauften (Dobrovol’skij I, S. 290-291, Nr. 61) AT–. Aufgeschrieben im Westen des Gouvernements Smolensk in
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den 80er Jahren des 19. Jh. Variante: Pietkiewicz 1938, Nr. 59. 59. Wozu ist Gott nötig? (Šejn, Belorussische Volkslieder, S. 426-427, Nr. 757) AT 822. Der älteste europäische Text stammt aus dem 13. Jh. Hans Sachs trug mit seiner literarischen Bearbeitung der Legende (1547) wesentlich zu deren mündlicher Verbreitung bei. Vgl. A. Wesselski, Märchen des Mittelalters, Berlin 1925, S. 63, Nr. 22, Anm. auf S. 214. Unser Text wurde im Kreis Witebsk in den 60er Jahren des 19. Jh. aufgeschrieben. Die Negierung der Notwendigkeit, an Gott zu glauben, kommt auch in den folgenden Varianten zum Ausdruck: Dobrovol’skij I, S. 319-320, Nr. 13; Gospodarev, S. 559-561. Im AT-Verzeichnis ist nur eine russische Variante des Sujets 822 (AA 770*) vermerkt: Smirnov, Sbornik velikomsskicb skazok (Sammlung großrussischer Märchen), 1917, Nr. 89. Ähnliche Märchen auch im ukrainischen Material: Grinčenko, Ėtnograficeskie materialy (Ethnographische Materialien) II, Tschernigow 1897, S. 145, Nr. 198; Journal Ėtnografičeskoe obozrenie, Moskau 1891, Nr. 2, S. 117-118. 60. Der weise Salomon (Seržputovskij I, S. 79-80, Nr. 44) AT–, vgl. 967. Erzählt von I. Azemša (vgl. Anm. zu Nr. 57). Variante: Seržputovskij III, S. 256-257, Nr. 2200. Das Märchen ging aus alten apokryphen Legenden hervor. 61. Vom Bauern, der so dumm wie eine Krähe und so gerissen wie ein Teufel war (Seržputovskij I, S. 337-340, Nr. 1) gehört im Grunde zum Typ „Böses Weib in der Grube“ (AT 1164); siehe auch Chauvin VIII, S. 152-153, Nr. 154. Aufsatz: Axon, The Story of Belfagor in Literature and Folklore, 1902 (Transactions of the Royal Society of Literature). Dieses überall in der Welt bekannte Sujet heißt ge-
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wöhnlich „Belfagor“, wie die Novelle von Macchiavelli, in der es literarisch bearbeitet ist. In unserem Text wird das Sujet originell durch eine Reihe von Zusatzmotiven erweitert. Die Episode „Der Dummkopf sägt den Ast ab, auf dem er sitzt“ (AT 1240) hat Analoga nicht nur im europäischen, sondern auch im asiatischen Material; vgl. A. Wesselski, Nasreddin I, S. 216, Nr. 49; II, S. 128, Nr. 447. Besonders sind in unserem Märchen die Episoden „Die Witwe heiratet den Dummkopf“ und „Der Teufel in der Tabakdose“ herausgearbeitet, ähnlich wie in Märchen des Typs „Der Geist im Glas“ (BP II, S. 144, Nr. 99). Ungewöhnlich ist der Schluß: Der Teufel wird aus Angst zu Stein. Erzählt von D. Kuleš (vgl. Anm. zu Nr. 4). Im belorussischen Material gibt es eine Reihe von Märchen des Typs 1164: Romanov IV, S. 120-121, Nr. 63; Federowski II, S. 256-258, Nr. 275 u. 276. 62. Über Weiberlist (Dobrovol’skij I, S. 337-340, Nr. 1) vgl. AT 1426, 1355*, 1511. Ein wesentlicher Teil des Märchens ist nahe mit der Einleitungserzählung der Sammlung Tausendundeine Nacht verwandt; die Episode „Die Frau des Riesen im Sack“ erinnert auch an die russische Byline vom Recken Swjatigor. Ein analoges russisches Märchen ist in Zapiski Krasnojarskogo Podotdela Vostočno-Sibirskogo Otdela Russkogo Geografičeskogo Obščestva (Po ėtnografii), Bd. 1, Ausg. 2, Tomsk 1906, S. 179-183, Nr. 42 veröffentlicht. Im sibirischen Märchen sind ebenso wie in dem belorussischen die in Tausendundeiner Nacht fehlenden Motive verarbeitet: „Der Kaufmannssohn verliert aus Zorn über die Untreue seiner Frau seine Schönheit“ und „Der Kaufmannssohn und der Königssohn heiraten dieselbe Frau“. Erzählt vom greisen Vasilij Michajlov (vgl. Anm. zu Nr. 13) in den 80er Jahren des 19. Jh.; die Darstellung ist sehr bilderreich.
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63. Der Mann, die Frau und der Teufel (Dobrovol’skij I, S. 346-348, Nr. 1) AT 1353; Chauvin II, S. 158, Nr. 48 u. S. 195 Nr. 20. Erzählt von V. Michajlov (vgl. Anm. zu Nr. 13). Dieses Sujet stammt aus dem Orient. Die älteste europäische Version ist eine Erzählung des Juden Josif bin Sabara, der im 12. Jh. in Barcelona lebte. Anfang des 13. Jh. wurde Sabaras Erzählung von Adolfus in seinem Werk De astucia mujerum (Von der Arglist der Frauen) bearbeitet, im 14. Jh. vom spanischen Schriftsteller Juan Manuel in seiner Sammlung El Conde Lucanor (Prinz Lucanor). Später ging sie in die Sammlung Speculum Exemplorum und in andere mittelalterliche Beispielsammlungen für Prediger ein. Nach der Übersetzung des Speculum Exemplorum in die polnische und russische Sprache im 16. u. 17. Jh. wurde das Sujet oft von polnischen, belorussischen und ukrainischen Predigern ausgenutzt und auf mündlichem Wege verbreitet. Siehe A. Wesselski, Märchen des Mittelalters, Berlin 1925, S. 17-18 und S. 194-195 (Anm.); J. Polívka, Baba chuže čerta (Das alte Weib ist schlimmer als der Teufel) in der Zeitschrift „Russkij filosofičeskij vestnik“, Warschau 1910, Nr. 1, S. 342-366. Mannigfaltige belorussische Varianten: Seržputovskij I, S. 67-71, Nr. 37; Šejn II, S. 135-140, Nr. 61 u. 62; Demidovič (E. O. 1896, Nr. 1), S. 117-118; Gliński, Bajarz polski III, 1862, S. 216, Nr. 13. Das gewöhnlich in den Märchen dieses Typs auftretende Motiv „Das alte Weib ist schlimmer als der Teufel“ fehlt in dem von Michajlov erzählten Text; die Hauptrolle spielt der Teufel, er selbst, nicht die böse Alte, entzweit die Eheleute. Polívka wies darauf hin, daß diese belorussische Variante besondere Einzelheiten enthält, die Handlung ist wesentlich reicher und besser motiviert als in anderen Märchen des gleichen Typs; vgl. die deutschen, westslawischen, ostslawischen, südslawischen, litauischen, italienischen, tatarischen und neuaramäischen folkloristischen Versionen des Sujets 1353.
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64. Wie eine Frau ihren Schwur hielt (Federowski III, S. 25-26, Nr. 63) AT 1510; Chauvin VII, S. 210, Nr. 254. Die europäischen Märchen dieses Typs gehen auf eine Novelle des römischen Schriftstellers Petronius, Matrona Ephesi, (Mitte des 1. Jh. u. Z.) zurück, die ihrerseits wieder aus folkloristischen Quellen stammt (Petronius, Satyricon, Kap. CXI). Vgl. Griesbach, Die Wanderung der Novelle von der treulosen Witwe durch die Weltliteratur, 1866. Erzählt von J. Dzežko im Vorwerk Dryga (Kr. Sokołka; vgl. Anm. zu Nr. 20). Varianten in ostslawischen Märchensammlungen nicht vorhanden. 65. Brautwerber bei Edelleuten (Federowski III, S. 168, Nr. 311) AA *2084. Erzählt von I. Kovalicha im Dorf Kosinzy (Gebiet Grodno, Kr. Wolkowysk) Ende des 19. Jh. Russische Variante: Afanas’ev III, Nr. 463; ukrainische Variante: Grinčenko, Veselyj opovidač (Der fröhliche Bote), S. 32-33, Nr. 81. Den gegen die Junker gerichteten satirischen Charakter erhielt dieses Sujet in belorussischen Märchen. 66. Das Mädchen (Seržputovskij II, S. 148-150, Nr. 64) AT–. Erzählt vom „alten Großvater Savickij“ (wie ihn Seržputovskij nennt) im Dorf Bochowo (Gouv. Minsk, Kr. Sluzk) Anfang des 20. Jh. Im Vorwort seiner Sammlung aus dem Jahre 1926 gibt Seržputovskij eine Charakteristik dieses hervorragenden Erzählers und hebt besonders hervor: „Er war ein launenhafter Großvater, er war schwer zu überreden, mit dem Märchenerzählen zu beginnen, aber wenn er dann erzählte, dann gleich die ganze Nacht. Er sprach leise, gleichmäßig, langsam. Zuweilen hörte er für eine Minute auf, rauchte seine Pfeife oder räusperte sich und begann von neuem: dudu-du, wie das Wasser über ein Mühlrad läuft.“ Die lange Einleitung zur Erinnerung ist für Erzähler des be-
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lorussischen Polesje charakteristisch. Lebendig und lyrisch zeichnet Savickij das Bild der Natur und gibt den starken Eindruck wieder, den Schönheit und Gesang des Mädchens auf die Räuber gemacht haben. Sagenmärchen des gleichen Erzählers siehe Nr. 111 u. 118. 67. Nicht mit Kraft, sondern durch Kühnheit (Seržputovskij II, S. 212-216, Nr. 83) vgl. AT 955, 956 B; BP I, S. 370-373, Nr. 40. Vgl. die belorussischen Märchen: Federowski III, Nr. 94, 95, 96, 97; Dmitriev. 1869, S. 172-174. Erzählt von Redkij (vgl. Anm. zu Nr. 1). Eine Reihe von Motiven dieses Märchens ist in anderen veröffentlichten Märchen vom Typ 955 u. 956 B nicht anzutreffen: „Das Mädchen besiegt die Wölfe“, „Der Nachbar hält das kühne Mädchen für eine Nixe“ u. a. Mit großer künstlerischer Ausdruckskraft arbeitet Redkij die Episode der Flucht des Mädchens vor den Räubern heraus. Indem er den Gedanken von der Überlegenheit der Kühnheit über die Kraft folgerichtig entwickelt, zeichnet er ein poetisches Bild des tapferen Bauernmädchens. 68. Die Königin und die Schustersfrau (Šejn II, S. 407-409, Nr. 228) AT 905 A*. Aufgeschrieben im Flecken Chlopenitschi (Gouv. Minsk, Kr. Borisow) in den 70er bis 80er Jahren des 19. Jh. Ukrainische Variante: Ėtnografičnij zbirnik (Ethnographische Sammlung) VI, Lwow 1899, S. 151, Nr. 347; Russische Varianten: Sokolov, Skazki i pesni Belozerskogo kraja (Märchen und Lieder des Gebiets von Belosersk), Moskau 1915, Nr. 45; Zapiski Krasnojarskogo Podotdela Vostočno-Sibirskogo Otdela Russkogo Geografičeskogo Obščestva. Po ėtnografii (Schriften der Krasnojarsker Abteilung der Ostsibirischen Russischen Geographischen Gesellschaft. Ethnographie) Bd. 1, Ausg. 2, Tomsk 1906, Nr. 16. Sehr nahe mit unserem Märchen ist ein polnisches verwandt: „Cudowna odmiana księzny i szewcowej“ (Die
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wunderbare Verwandlung der Fürstin und der Schusterfrau.), s. J. Krzyżanowski, Polska bajka ludowa w układzie systematycznym (Das polnische Volksmärchen in systematischer Anordnung), Bd. 1, 1962, Nr. 757 A. Während in der Variante bei Sokolov das Sujet als Alltagsmärchen behandelt wird und die sibirische Variante zur Gattung der Zaubermärchen zu zählen ist, zeichnet sich unser Märchen durch ein Legendenkolorit aus, das die Idee von der sozialen Vergeltung besonders scharf wiedergibt. 69. Wie Pfaffen geheilt wurden (Seržputovskij I, S. 64-65, Nr. 35) AT–. Erzählt von I. Azemša (vgl. Anm. zu Nr. 57). Das sehr originelle satirische Märchen hat im Sujet Ähnlichkeit mit einer westukrainischen Erzählung vom Spaßvogel Pan Kan’ovski, welcher einen Pfaffen, der wegen seiner Fettleibigkeit in einen Kurort fahren will, dadurch heilt, daß er ihn in eine Hütte sperren und ihm nichts zu essen geben läßt (Ėtnografičnij zbirnik [Ethnographische Sammlung] IV, Lwow 1899, S. 313-314, Nr. 639). Vgl. auch das ukrainische Märchen von der „Heilung“ der Nichtstuerin durch Arbeit (Rudčenko, Narodnye južnorusskie skazki [Südrussische Volksmärchen] I, Nr. 67) und Nr. 73 unserer Sammlung. 70. Wie ein Schuster Oberpfaffe wurde (Barag, Hs.) AT 1641; BP II, Nr. 98. Ein ähnliches Märchen befindet sich in der altindischen Sammlung Somadevas: siehe Th. Benfey, Somadevas Märchenschatz „Orient und Occident“, I, S. 347-382. Asiatische, afrikanische und europäische Varianten bekannt. Im veröffentlichten belorussischen Material sind folgende Varianten zu finden: Šejn III, S. 213-219, Nr. 100, 101; Federowski III, S. 52-53, Nr. 98, 99; Dobrovol’skij I, S. 675-676, Nr. 3; Materialy po ėtnografii Grodnenskoj gubernii (Materialien zur Ethnographie des Gouvernements Grodno) II, S. 376-377, Nr. 19.
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Erzählt vom Bauern Sergej Nikitin im Flecken Soly (Gebiet Molodetschno, Bz. Smorgon) 1947. Version des Typs 1641, „Doktor Allwissend“. Die Variante vom Wahrsager ist im veröffentlichten ostslawischen Material nicht anzutreffen, jedoch in einigen westlichen Bezirken Belorußlands verbreitet und tritt im polnischen Material auf, vgl. z. B. O. Kolberg, Lud XIII, S. 226; XIV, S. 273. 71. Der Pope und der Diakon (Šejn II, S. 213-217, Nr. 100) AT 1641. Aufgezeichnet im Kreis Sluzk (Gouv. Minsk) in den 70er bis 80er Jahren des 19. Jh. Unser Text ist eine für das ostslawische Material charakteristische Variante des Typs „Vom Wahrsager“ (1641); vgl. Anm. zu Nr. 70. Märchen des Typs 1641 mit dem Kuhdiebstahl des Popen und seines Helfers als Einleitung treten in westeuropäischen und westslawischen Sammlungen nicht auf. 72. Der Recke als Arbeiter beim Popen (Šejn II, S. 36-42, Nr. 19) AT 650 A + 1132 + 1120. Verschiedene Motive des Märchens vom Popen und seinem Knecht sind aus der Literatur des 16. Jh. bekannt, z. B. bei Hans Sachs (siehe BP III, S. 421). Aufgezeichnet im Dorf Swjatoschizy (Gouv. Mogilew, Kr. Gorki) in den 70er bis 80er Jahren des 19. Jh. Belorussische Varianten: Šejn II, S. 230, Nr. 106; S. 296, Nr. 137; Čubinskij II, S. 336-337, Nr. 85; Federowski III, S. 89-91, Nr. 180. Nach einem russischen Märchen des vorliegenden Typs schuf Puškin sein Gedicht „Das Märchen vom dummen Popen und seinem Arbeiter Balda“, das rückwirkend die ostslawische Folklore beeinflußte. Das einleitende Motiv vom Bärensohn ist in einer Reihe russischer Volksmärchen vom Popen und seinem Arbeiter enthalten (vgl. z. B. Afanas’jev, Nr. 152). Die warmherzige Schilderung des Recken ist in unserem Märchen nicht nur der Habsucht des Popen-Kulaken gegenübergestellt, sondern auch
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der Bedeutungslosigkeit des Zaren, der die Kraft des Knechtes fürchtet. Die Gestalt dieses Knechtes erinnert an die Reckengestalten in belorussischen Zaubermärchen. 73. Der Tagelöhner (Barag, Hs.) AT 1000 + 1007 + 1006* + 1009 + 1132 + 1120. Zum Motiv „Vereinbarung, sich nicht zu ärgern“ siehe BP II, Nr. 90; zum Motiv „Die bewachte Tür“ siehe BP I, Nr. 59, die älteste Variante dieses Motivs steht in Somadevas indischer Sammlung aus dem 11. Jh. Eine derartige Verschmelzung von Motiven tritt in den ostslawischen Märchen vom Popen und dem Tagelöhner oft auf. Erzählt von Tat’jana Saenja, 92 Jahre, im Dorf Bolschoj-Roshin (Gebiet Pinsk, Bz. Ganzewitschi), Mai 1945. Ungeachtet ihres hohen Alters erzählte T. Saenja oft und gern Märchen. 74. Wie ein Pope Heu aß (Barag, Hs.) vgl. AT 1775; osteuropäische und südeuropäische Varianten. Erzählt von der Bäuerin Ekaterina Lučic, 45 Jahre, im Dorf Obrovo (Gebiet Pinsk, Bz. Telechany) 1946. Im veröffentlichten belorussischen Material Varianten nicht bekannt. Das vorliegende Sujet ist jedoch im Pinsker u. in anderen Gebieten Belorußlands sehr populär. 75. Der schlaue Diakon (Federowski III, S. 178, Nr. 337) AT 1790. Erzählt von Boleš Matvejčuk im Vorwerk Gnesny (Gouv. Grodno, Kr. Wolkowysk) Ende des 19. Jh. Vgl. die ukrainischen Varianten: Ėtnografičnij zbirnik (Ethnographische Sammlung) VI, Lwow 1899, S. 117-118, Nr. 222; I. Manžura, Skazki, poslovicy (Märchen, Sprichwörter), Charkow 1890, S. 106-107. Im veröffentlichten russischen Material fehlen Märchen des vorliegenden Typs.
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76. Der Pfaffe und der Orgelspieler (Barag, Hs.) AT 1007 + 1536. Erzählt von Michail Rybak, 74 Jahre, im Dorf Baruki (Gebiet Grodno, Bz. Selwjanka), August 1945. Der zweite Teil („Der gewaltsame Tod der Dienerin im Schrank und ihre dreimalige Beerdigung“) fällt im Grunde mit einem Märchen aus Klichs Sammlung, S. 22-24, Nr. 15, zusammen. Märchen vom Pfaffen und vom Orgelspieler, die dem hier veröffentlichten ähneln, wurden von uns auch in den Gebieten Brest und Pinsk aufgezeichnet. Märchen des vorliegenden Typs findet man auch im veröffentlichten westukrainischen und polnischen Material: Ėtnografičnij zbirnik (Ethnographische Sammlung) VIII, Lwow 1900, S. 54-58, Nr. 21; Kolberg, Lud VIII, Krakau 1875, S. 224-226, Nr. 93. 77. Drei Pfaffen und ein Ei (Seržputovskij II, S. 218-219, Nr. 85) AT–; vgl. AT 1626 u. 1553 A (BP II, S. 360-361, Fußnote). Erzählt vom Bauern Jasinskij im Dorf Bolschoj-Roshin Anfang des 20. Jh. Varianten nicht bekannt. 78. Der zu kluge Pope (Federowski III, S. 209-210, Nr. 411) AT 1826. Eine nahe ukrainische Variante in Ėtnografičcnij zbirnik (Ethnographische Sammlung) VI, Lwow 1899, S. 106107, Nr. 273. Bekannt sind auch russische und estnische Varianten. Das Sujet ist hauptsächlich in der orientalischen Folklore verbreitet: in Anekdotenmärchen der Aserbaidshaner, Baschkiren und Tataren spielt der findige Nasreddin die Rolle des Popen, vgl. Wesselski, Nasreddin I, S. 5 und S. 205. In der belorussischen Folklore haben die Märchen des Typs 1826 teilweise eine antiklerikale, satirische Tendenz, meist sind es jedoch Schwänke über die Einfalt der Bewohner zurückgebliebener Gebiete. Erzählt von Marysja Gorbačycha im Vorwerk Dwortschany (Gouv. Grodno, Kr. Wolkowysk, Amtsbezirk Swislotschy) Ende des 19. Jh.
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79. Das Fest des heiligen Malarius (Barag, Hs.) AT–. Erzählt von M. Spirida (vgl. Anm. zu Nr. 23). Im veröffentlichten belorussischen Material ist nur ein Märchen dieses Typs zu finden: in der Sammlung Belorusskij narod suproc’ papou i religii (Das belorussische Volk gegen Popen und Religion), Minsk 1939, S. 40-41. Ukrainische Variante: Ukrainski narodni kazki, legendi, anekdoti (Ukrainische Märchen, Sagen und Schwänke), hg. unter der Redaktion von P. Popova, Kiew 1957, S. 349-351. Teilweise fällt mit Spiridas Märchen die Einleitungsepsiode eines russischen Märchens (Typ AT 785) aus Ončukovs Sammlung (Nr. 41) zusammen. Das Sujet unseres Märchens ist in den westslawischen Ländern bekannt. 80. Von den zwölf Aposteln oder Wie eine Frau ihren Mann aus der Not rettete (Barag, Hs.) AT 1359 C. Erzählt von Kazimir Zimnickij, 58 Jahre, im Flecken Soly (Gebiet Molodetschno, Bz. Smorgon) 1949. Ein verwandtes Sujet hat ein Märchen aus Klichs Sammlung (S. 19-21, Nr. 13), in dem ein Bildhauer an Stelle der bei ihm in Auftrag gegebenen Statue des heiligen Antonius einen nackten Popen (im Schrank), den er als Gast bei seiner Frau ertappt hat, ins Nonnenkloster bringt. Von L. Barag wurden 3 Varianten des Sujets von den zwölf Aposteln im Bz. Smorgon aufgenommen. Im veröffentlichten russischen Material gibt es 2 Märchen des vorliegenden Typs, im ukrainischen ist ein Text vorhanden: Ukrain’ska narodna satira i gumor (Ukrainische Volkssatire und ukrainischer Volkshumor), hg. unter der Redaktion von M. Nagornij. Verschiedene Motive unseres Märchens haben Analoga in orientalischen und abendländischen Literaturerzählungen und Volksmärchen „Von der pfiffigen Frau, die ihre Verehrer in einem Schrank oder in einer Truhe einschließt“ (AT 1730): in Tausendundeiner Nacht, Nächte 593-596, in der persischen Erzäh-
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lung von der Truhe, in der französischen Verserzählung Constant du Hamel, in der russischen Sage des 17. Jh. vom Kaufmann Karp Sutulow und seiner klugen Frau, in belorussischen, ukrainischen und russischen Märchen von Popen als Liebhabern. Ausführliche bibliographische Hinweise: Chauvin VI, 185; Bédier, Fabliaux, Paris 1895; J. Sokolov, Povest’ o Karpe Sutulove (Die Sage von Karp Sutulow), Moskau 1914. 81. Der Handwerker, seine Frau und der Soldat (Šejn II, S. 210-213, Nr. 99) AT 1359 + 1536 B; Chauvin VIII, Nr. 72. Siehe auch Bédier, Fabliaux, 1895, S. 236 ff.; Pillet, Das Fabliau von den trois bossus ménestrels, 1901. In den ostslawischen Märchen enthielt dieses aus einem mittelalterlichen Fabliau stammende Sujet stets eine scharfe antiklerikale, satirische Tendenz. Belorussische Varianten: Dobrovol’skij I, S. 690-692, Nr. 9; Federowski III, S. 179-181, Nr. 340; Seržputovskij II, S. 197-199, Nr. 78 (Drei Gutsbesitzer als Liebhaber); Klich, S. 22-24, Nr. 15 = AT 1536. Das vorliegende Märchen wurde im Amtsbezirk Kirolew (Kr. Witebsk) Ende des 19. Jh. aufgezeichnet. 82. Ruß (Barag, Hs.) vgl. AT 1725; BP II, S. 131, Nr. 77. Erzählt von Aleksandr Rusak, 37 Jahre, im Dorf Mogilcy (Gebiet Baranowitschi, Bz. Byten) 1947. Diese besondere Version des Sujets vom verliebten Pfaffen und dem Knecht hat im belorussischen Material Varianten: Klich, S. 24-25, Nr. 16; Federowski III, S. 183-184, Nr. 344; Barag, Hs., 6 belorussische Märchen des Typs „Ruß“. Das Motiv „Der Pfaffe im Ruß“ kommt auch in Märchen anderer Typen vor; vgl. z. B. Romanov III, S. 410-412, Nr. 19. A. Rusak, der das Märchen in der Ich-Form erzählt, vervollständigt das Sujet durch eine Reihe von Details. Besonders deutlich ist die Episode „Der Knecht kehrt in die Hütte zurück, um die Truhe zu schließen“ herausgearbeitet. In A. Rusaks Märchen
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erscheint neben dem Popen auch der Kulak, der sich durch den Rußverkauf bereichern will, in satirischem Licht. Dieses Motiv ist in anderen Märchen nicht zu finden. 83. Der Pfaffe als Teufel (Federowski III, S. 175-176, Nr. 329) vgl. AT 1528 u. 1360 A; BP II, S. 18, Nr. 61. Erzählt von Juzefa Oslavskaja im Vorwerk Mstibow Ende des 19. Jh. Eine Verschmelzung der Sujets „Die Suche nach dem Unglück“ und „Der Liebhaber als Teufel“ ist sowohl für das ukrainische als auch für das belorussische Material charakteristisch, vgl. z. B. Čubinskij II, S. 510-514, Nr. 11; S. 623-627, Nr. 92; S. 627-632, Nr. 94; S. 636-639, Nr. 97. Das Sujet von der Suche nach dem Unglück wird in belorussischen, ukrainischen und russischen Schwankmärchen auch selbständig bearbeitet. Einige solcher Texte haben wir 1945 im Bz. Ganzewitschi (Gebiet Pinsk) aufgeschrieben. In J. Oslavskajas Text ist der Dialog zweisprachig: Der Pfaffe spricht polnisch, der Förster und der Gutsherr sprechen belorussisch miteinander, während die Gutsherren sich polnisch unterhalten. 84. Der Schelm Mikulka (Dobrovol’skij I, S. 681-686, Nr. 7) AT 1535; BP II, Nr. 61, S. 15, Liste der Märchen vom Spaßmacher, der die Leute hinters Licht führt (Das Bürle). Die älteste europäische Fassung des Sujets von der „kostbaren Haut“ (1535) ist ein lateinischer Text aus dem 10. oder 11. Jh.: Versus de Unibove. Der Held dieses lateinischen Gedichtes, der Narr, findet einen großen Schatz, als er aus der Stadt, wo er seinen Ochsen verkauft hat, nach Hause geht. Oft erlangt der Narr ebenso wie in unserem Text seinen Reichtum auf andere Weise: Er plündert einen in einem fremden Haus ertappten Liebhaber aus. Erzählt vom Bauern Evdokim Chatulja im Dorf Prowershenka (Gouv. Smolensk, Kr.
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Elnja) in den 80er Jahren des 19. Jh. Die Episode „Ein Mensch, der in einem Sack ertränkt werden soll, lockt einen anderen an seinen Platz“ tritt nicht nur in den Märchen dieses Typs auf, siehe z. B. die belorussischen Märchen vom „Dummkopf“: Romanov, Materialy, Mog. gub. vedomosti, 1902, Nr. 86, S. 2; Karskij, Materialy IV, S. 70-71. Das Motiv „Der Narr veranlaßt die Popenfrau, ihr Haus anzuzünden“ ist außer in Chatuljas Märchen nur in einem veröffentlichten Text – in einem russischen – anzutreffen: Afanas’ev, Nr. 399. Varianten des Sujets „Der Narr als heiratsfähiges Mädchen“ sind im belorussischen Material nicht vorhanden. Chatuljas Märchen besteht aus einer Reihe klar herausgearbeiteter Komödiendialoge und zeichnet sich durch seinen hohen szenischen Wert aus. 85. Der alte Nesterka (Romanov III, S. 400-401, Nr. 15) AT–. Erzählt vom Bauern Kondratij Rynkevič im Dorf Telcy (Gouv. Mogilew, Kr. Senno) in den 80er Jahren des 19. Jh. Zur ersten Hälfte des Märchens („Der goldene Steigbügel“) vgl. AT 1642 A; BP I, S. 67, Nr. 7; auch FFC 66, Nr. 790. Im zweiten Teil („Wie der Gutsherr mit Nesterka prozessierte“) herrscht keine volle Übereinstimmung mit den Verzeichnissen, vgl. AT 1642 V. Die Verschmelzung der Sujets vom goldenen Steigbügel und vom Prozeß zwischen dem Gutsherrn und dem gerissenen Bauern ist für die Folklore Belorußlands charakteristisch. Nesterka heißt der gerissene Betrüger öfters in belorussischen, russischen und ukrainischen Märchen verschiedener Typen, die dann mit einer ähnlichen gereimten Einleitungsformel beginnen wie unser Märchen. Aber nur ein Sujet ist so unzertrennlich mit dem Namen Nesterka verbunden, das in Belorußland sehr verbreitete Sujet vom goldenen Steigbügel. Eine nahe Variante unseres Märchens findet sich in Romanovs Sammlung: III, S. 401, Nr. 15 b. Siehe auch: Romanov IV, S. 209, Nr. 56; Federowski II, S. 306-308, Nr. 339 (eine Reihe
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308, Nr. 339 (eine Reihe von Varianten); III, S. 231, Nr. 461; Šejn II, S. 200-201, Nr. 93 u. 94; Klich, S. 11, Nr. 7; Seržputovskij I, S. 71, Nr. 38; Karskij, Materialy III, S. 121; Serbov, Belolurusky-sakuny (Belorussen-Sakunen), S. 177-178, Nr. 4; Gospodarev, S. 554-558, Nr. 74. Der wendige und scharfsinnige Arme Nesterka ist der populärste Held der belorussischen Schwankmärchen. Der belorussische Schriftsteller Vitalij Vol’skij hat nach Motiven dieser Märchen die Volkskomödie Nesterka geschrieben, die über die Bühnen belorussischer Theater geht. 86. Wie Trachim den Gutsherrn betrog (Barag, Hs.) vgl. AT 1218. Erzählt von T. Sečko (vgl. Anm. zu Nr. 55). Schwankmärchen dieses Typs sind in vielen Dörfern des Sluzker Polesje (südlicher Teil des früheren Kreises Sluzk) bekannt, doch treten sie nicht im veröffentlichten belorussischen Material auf. 87. Der Bauer und der Gutsherr (Seržputovskij I, S. 83-86, Nr. 47) vgl. AT 2040; Motiv-Index Z 46. Deutsche Variante: J. P. Hebel, Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes, S. 110. Belorussische Varianten: Šejn II, S. 321, Nr. 158; Federowski II, S. 150, Nr. 262; Tyszkiewicz, Opisanie powiatu Borysowskiego (Beschreibung des Kreises Borisow), S. 428. Erzählt von Redkij (vgl. Anm. zu. Nr. 1). 88. Den Gutsherren zur Lehre (Seržputovskij I, S. 103-106, Nr. 55) AT 1538; BP III, S. 394-395, Nr. 5. Die Geschichte dieses Sujets kann man in der westeuropäischen Literatur bis ins 13. Jh. zurückverfolgen (Altfranzösischer Roman Trubert). Belorussische Variante: Dobrovol’skij I, S. 704-707, Nr. 17; russische Varianten: Afanas’ev, Nr. 497; Ončukov, Nr. 223. Besonders zahlreich sind ukrainische Varianten: Čubinskij II, S. 643-644, Nr. 103; Jastrebov, S.
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167-168; Levčenko, Nr. 306; Malinka, Nr. 86. Die Einleitungsepisode „Der Herr versucht dem Bauern einzureden, daß er keinen Ochsen, sondern einen Ziegenbock mitführt“ ist für südbelorussische und ukrainische Varianten des Sujets 1538 charakteristisch. Diese Episode hat in alten Fazetien ihren Ursprung; siehe dazu N. Sumcovs Aufsatz Razyskanija v oblasti anekdotičeskoj literatury (Forschungen auf dem Gebiet der Schwankliteratur) in: Sbornik Charkovskogo Istoriko – filologičeskogo obščestva, Bd. XI, 1889, S. 268-269. Unter den ostslawischen Märchen des Typs 1538, die sich durch scharfe Sozialkritik auszeichnen, ist unser Text einer der markantesten und eigenständigsten. Erzählt vom Bauern Dudar’ im Dorf Tschudin (Gouv. Minsk, Kr. Sluzk) in den Jahren 1890 bis 1907. 89. Wie ein alter Mann in die Schule ging und sich dadurch Geld verdiente (Barag, Hs.) AT 1381 E; vgl. FFC 66, Nr. 1645. Erzählt von Vasilij Moroško, 72 Jahre, im Dorf Negnewitschi (Gebiet Baranowitschi, Bz. Ljubtscha) 1948. Dieser Analphabet verbrachte fast sein ganzes Leben in N. und kennt viele Schwankmärchen. In unserem Text wird die Gesellschaftsordnung, die sich auf der sozialen Ungleichheit gründet, auf originelle Art verspottet. 90. Wenn es dir nicht gefällt, dann hör nicht zu! (Šejn II, S. 245-246, Nr. 114) AT 1920 C, F. Ähnliche folkloristische Texte treten nicht nur in europäischen, sondern auch in orientalischen Sammlungen auf, vgl. z. B. O. Mann, Die Mundarten der Lurstämme im südlichen Persien, Berlin 1910, S. 5-12, Nr. 13. Die ältesten europäischen (deutschen) Lügenmärchen sind dem 12. bis 13. Jh. zuzuordnen, L. Uhland geht in seinen Schriften zur Geschichte der Dichtung und Sage darauf ein. Die Erzählung vom Bauern, der vom Gutsbesitzer für eine Lüge einen Teller mit Goldmünzen erhält (AT 1920 C, F), dient besonders oft als Rahmen-
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sujet für die ostslawischen Lügenmärchen mit ihrer gegen die Gutsbesitzer gerichteten satirischen Tendenz. In ihnen kommt auch oft das Motiv „Ein Mensch steigt in den Himmel hinauf und läßt sich von da an einem aus Stroh geflochtenen Seil herab“ (AT 1889 K; BP II, S. 513, Nr. 112) vor. Die Motive „Wölfe (Bären) zerreißen eine Biene“ und „Die Heiligen betrinken sich im Himmel“ sind nur für das belorussische und das ukrainische Material charakteristisch. Aufgezeichnet im Dorf Chlopenitschi (Gouv. Minsk, Kr. Borisow) in den 70er bis 80er Jahren des 19. Jh. Belorussische Varianten: Šejn II, S. 246-252, Nr. 115, 116 u. 117; Seržputovskij I, S. 43-44, Nr. 20; Materialy po ėtnografii Grodnenskoj gubernii (Materialien zur Ethnographie des Gouvernements Grodno) II, S. 374-375, Nr. 18; Federowski II, S. 119-122, Nr. 214, 215, 215 a; Dobrovol’skij I, S. 467-470, Nr. 11; Romanov III, S. 413418, Nr. 20, 20 b. 91. Gut, aber nicht sehr gut (Šejn II, S. 328, Nr. 181) AT 2014 A; vgl. FFC 25, S. 112, Nr. 2014. Erzählt im Dorf Dubrovny (Gouv. Mogilew) in den 70er bis 80er Jahren des 19. Jh. Belorussische Varianten: Šejn II, S. 334, Nr. 179; S. 336, Nr. 180; S. 339, Nr. 182; Dobrovol’skij I, S. 658-659, Nr. 6; Federowski III, S. 172-173, Nr. 321; Karski, Materialy belorusk II, S. 42. Der markante Schluß unseres Textes verleiht dem traditionellen Stoff eine scharfe sozialkritische, gegen die Gutsbesitzer gerichtete Note. Einen ähnlichen Schluß hat die ukrainische Variante: Grinčenko, Iz ust naroda (Aus dem Volksmund), Tschernigow 1901, S. 351-352. Gewöhnlich enden ähnliche belorussische und ukrainische „Gespräche“ mit den Worten: „Der Wolf hat den Eber gefressen.“
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92. Wie ein Gutsherr sich mit einem Bauern nicht verständigen konnte (Šejn, Belorussische Volkslieder, S. 430-431, Nr. 764) vgl. AT 1702 C*. Aufgeschrieben im Gouv. Witebsk in den 60er Jahren des 19. Jh. Belorussische Varianten: Šejn, Belorusskie narodnye pesni (Belorussische Volkslieder), S. 429-430, Nr. 762 u. 763; Šejn II, S. 319, Nr. 155; S. 323-327, Nr. 162, 163, 164. Ähnliche folkloristische Texte sind im ukrainischen Material enthalten, vgl. z. B.: Sammlung Ukrainska narodna satira i gumor (Ukrainische Volkssatire und ukrainischer Volkshumor), hg. unter der Redaktion von M. Nagornij, Kiew 1940, S. 53-55; Grinčenko, Ėtnografičeskie materialy (Ethnographische Materialien) II, Tschernigow 1897, S. 215-216, Nr. 158. 93. Wie ein Bauer den Frost besiegte (Federowski I, S. 160, Nr. 488) AT 298 A. Erzählt von der Bäuerin Magdusija Alonikova im Dorf Kolentaj (Gebiet Grodno, Kr. Wolkowysk) Ende des 19. Jh. Varianten: Gospodarev, S. 361, Nr. 26; ein in Andreevs Verzeichnis angegebener Text aus Smirnovs Sbornik velikorusskich skazok (Sammlung großrussischer Märchen), Nr. 147. 94. Der Wind, der Frost und die Sonne (Seržputovskij III, S. 17-18, Nr. 146) AT 298. Erzählt vom Bauern Levon Lebedzik im Dorf Bolschoj-Tschudin (Gouv. Minsk, Kr. Sluzk) Ende des 19. Jh. Originelle Polemik eines Volkserzählers gegen die für die belorussische Folklore traditionelle Apologie von der Vormachtstellung des Windes gegenüber Frost und Sonne. Im veröffentlichten Material sind folgende belorussische Varianten enthalten: Afanas’ev, Nr. 91 (Gouv. Grodno); Federowski I, S. 157, Nr. 462; Gospodarev, S. 361, Nr. 26. Eine Reihe ähnlicher Texte wurde von uns 1945 in Bolschoj-Tschudin und Bolschoj-Roshin (Bz. Ganzewitschi, früher Kr. Sluzk) auf-
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gezeichnet. Ukrainische Variante: Ėtnografičnij zbirnik (Ethnographische Sammlung) XIV, Lwow 1904, S. 231, Nr. 37; russische Variante: Sacharov, Skazanija russkogo naroda (Erzählgut des russischen Volkes) I, 1841, S. 104; rumänische Variante: Schott, Walachische Märchen, Stuttgart 1845, Nr. 28. Im Vorwort zu seiner Sammlung von 1926 nannte Seržputovskij Lebedzik den „interessantesten aller Erzähler“, einen „fürsorglichen Hausherrn“ und „sehr guten Menschen“. Er bemerkte außerdem, daß „Lebedzik in seine Erzählung immer alle möglichen Sprichwörter und Redensarten einflocht, von denen er mehr als alle kannte“. Ein Märchen des gleichen Erzählers siehe Nr. 107. 95. Wie die Tiere einem Menschen dankten (Federowski II, B. 55-57) vgl. AT 156 C* u. 160. Erzählt von Jusub Smoljar im Dorf Wischnewitschi (Gouv. Grodno, Kr. Wolkowysk) Ende des 19. Jh. Eine der ältesten Versionen des Sujets vom Menschen, dem die Tiere dafür danken, daß er ihnen aus der Grube geholfen hat, ist ein buddhistisches Märchen aus der chinesischen Sammlung Tripitaka des 3. Jh.: E. Chavannes, Cinq cent contes et apologues extraits du Tripitaka chinois, Paris 1910-1934, Bd. I, Nr. 49. Eine analoge Erzählung ging in das Pantschatantra (ungefähr 350-450 n. u. Z.) ein (Buch I, Erzählung 9). Auf der Grundlage dieses Sujets wurde später das „Gleichnis von einem Würdenträger“ geschaffen (Gesta Romanorum, im 16. Jh. ins Polnische, im 17. Jh. ins Russische übersetzt). Es diente auch als Quelle für das Volksmärchen. 96. Der betrunkene Löwe (Federowski I, S. 189-190, Nr. 712) vgl. AT 485 B*. Die Episode „Die Kraft des Rausches“ geht in die russischen Märchen vom Typ „Das babylonische Reich“ (AT 485) ein, manchmal auch in Märchen anderer Typen (AT 910 B, 1651); eine selbständige ausführliche Be-
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arbeitung des vorliegenden Themas ist selten. Unser Text hat nur entfernte Ähnlichkeit mit den russischen Märchen über die Kraft des Rausches, die vom Löwen ausprobiert wird (z. B. Ončukov, Severnye skazki [Nördliche Märchen], S. 400-401, Nr. 161). – Erzählt von Vinčuk Ščymuc im Dorf Wischnewitschi (Gouv. Grodno, K. Wolkowysk). Ähnliche belorussische Varianten: Barag, Hs. 97. Das Stierkalb aus Pech (Barag, Hs.) AT–, vgl. 156 C*. Erzählt vom Bauern Petrus Jakimovič, 62 Jahre, im Dorf Senjaski (Gebiet Bobruisk, Kr. Krasnaja Sloboda) Juni 1945. Barag, Hs.: 3 belorussische Varianten. Märchen des vorliegenden Typs sind in den südlichen Gebieten Belorußlands verbreitet. Ukrainische Varianten: Rudčenko, Narodnye juznorusskie skazki (Südrussische Volksmärchen) II, S. 13-16, Nr. 7; Grinčenko, Ukrainski narodni skazki (Ukrainische Volksmärchen), S. 77-81; vgl. F. Held, Märchen und Sagen der afrikanischen Neger, S. 34-39. 98. Der Löwe und das Pferd (Federowski II, S. 31-32, Nr. 34) AT 118 + 275. Zum Thema „Der Hase und der Igel laufen um die Wette“ siehe BP III, S. 350-354, Nr. 187. Erzählt von Juzub Chvirančuk im Dorf Wischnewitschi (Gouv. Grodno, Kr. Wolkowysk) Ende des 19. Jh. Märchen des vorliegenden Typs sind in den westlichen Gebieten Belorußlands und der Ukraine verbreitet. Ukrainische Varianten: Ėtnografičnij zbirnik (Ethnographische Sammlung) IV, Lwow 1898, S. 164-167, Nr. 1; Bd. XXXVII-XXXVIII, Lwow 1916, S. 24-26, Nr. 10; I. Franko, Koli šče zviri govorili (Wenn die Tiere erzählen könnten), Kiew 1946, S. 1-5, Nr. 1.
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99. Die Rache des Spechtes (Šejn II, S. 27-31, Nr. 17) AT 56 + 248; BP I, Nr. 58. Ähnliche Texte sind im persischen und im indischen Material enthalten: M. Sobschi, Afsanechaje kuchan (Alte Märchen), Teheran 1949-1952, Die Krähe und der Fuchs; Th. Benfey, Pantschatantra I, S. 602. In einer Erzählung aus dem mittelalterlichen Roman de Renart (15. Jh.) rächt sich die Krähe, deren Nestlinge der Fuchs herausgelockt hat. Aufgezeichnet im Flecken Chlopenitschi (Gouv. Minsk, Kr. Borisow) in den 70er bis 80er Jahren des 19. Jh. Belorussische Varianten: Karłowicz (ZWdAK XI, 1887), S. 277-279. In der ukrainischen Folklore sind entsprechende Märchen recht häufig vertreten; vgl. z. B.: Grinčenko, Ėtnografičeskie materialy (Ethnographische Materialien) I, Tschernigow 1895, S. 145-147; II, Tschernigow 1897, S. 4-6, Nr. 5; Jastrebov, Materialy po ėtnografii Novorossijskogo kraja (Materialien zur Ethnographie des neurussischen Gebietes), Odessa 1894, S. 164-165, Nr. 24. In russischen Sammlungen sind ähnliche Varianten nicht vorhanden, nur ein russisches Märchen des Typs 56 B: Afanas’ev, Nr. 32. Der Text zeichnet sich durch eine besondere Lebendigkeit des Dialogs und einen drastischen Volkshumor aus. 100. Der katholische Fuchs (Romanov III, S. 28, Nr. 20) AT 35*. Aufgeschrieben im Dorf Uljanowitschi (Gouv. Mogilew, Kr. Senno) in den 80er Jahren des 19. Jh. Vgl. die ukrainischen Varianten: Grinčenko, Ėtnografičeskie Materialy (Ethnographische Materialien) II, Tschernigow 1897, S. 239240, Nr. 178; Rudčenko, Narodnye južnorusskie skazki (Südrussische Volksmärchen) I, S. 21, Nr. 11. Die Märchen des vorliegenden Typs sind zusammen mit den Märchen vom Fuchs als Beichtgänger (AT 61 A) die mit der schärfsten, gegen den Klerus gerichteten Satire ausgestatteten Märchen des ostslawischen Tiermärchenschatzes. Das Sujet vom fastenden Fuchs,
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der den Wolf in die Falle lockt, ist im Iran besonders populär. Von alters her sind im Orient auch andere Märchen vom hinterlistigen Fuchs bekannt, deren scharfe Satire sich gegen die Scheinheiligkeit des Klerus richtet; z. B. das persische Märchen Der Fuchs als Scheich aus M. Sobschis Sammlung Afsanechaje kuchan (Alte Märchen). Dieses Sujet ist in der Bearbeitung des armenischen Fabeldichters Vardan (15.-16. Jh.) bekannt. 101. Der Schaf bock und der Wolf (Šejn II, S. 262-263, Nr. 123) AT–. Aufgeschrieben im Dorf Tschertowitschi (Gouv. Tschernigow, Kr. Surosh) in den 80er Jahren des 19. Jh. Zum Teil an die für das südbelorussische und ukrainische Material charakteristischen Märchen des Typs „Ein Schaf lockt den Wolf in die Falle“ angrenzend: Čubinskij II, S. 113, Nr. 36 (Gouv. Grodno); Ėtnografičnij zbirnik (Ethnographische Sammlung), Bd. XXXVII-XXXVIII, Lwow 1916, S. 38-39, Nr. 26; I. Franko, Koli šče zviri govorili (Wenn die Tiere erzählen könnten), Kiew 1946, S. 28-29. Vgl. im mittelalterlichen Roman über Reineke Fuchs die Erzählung vom vergeblichen Versuch des dummen Wolfes, das Amt eines Heiligen zu bekleiden. 102. Wie der Wolf und der Hund einen Prozeß führten (Romanov III, S. 15-17, Nr. 10) AT 101 + 100 + 102 + 103. Das Gericht auf dem Berge, wo die drei Eichen stehen, erinnert an die lokalen Volkssagen vorn Gerichtsberg, z. B. an die aus Pskow über den Berg Sudom (s. F. Buslaev, Istoričeskie očerki russkogo narodnogo slovenosti [Historischer Abriß der russischen Volksliteratur], Bd. I, 1861, S. 464). Aufgezeichnet im Dorf Kropiwitschi (Gouv. Mogilew, Kr. Senno) in den 80er Jahren des 19. Jh. Hinsichtlich der Lebendigkeit und Schönheit des Sprachstils gehört unser Text zu den besten Beispielen des belorussischen Märchenschatzes. Varianten sind in Romanov III, S. 17, ange-
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geben; siehe auch Šejn II, S. 258-262, Nr. 121, 122; Federowski II, S. 27-30, Nr. 30, 31; Materialy po ėtnografii Grodnenskoj gubernii (Materialien zur Ethnographie des Gouvernements Grodno) II, S. 386, Nr. 27; Dobrovol’skij I, S. 653, Nr. 2. 103. Wie sich einem Hund die Augen röteten und die Schwanzhaare sträubten (Barag, Hs.) AT 119 C*. Erzählt von V. Borisevic (vgl. Anm. zu Nr. 24). Belorussische Varianten: Dobrovol’skij I, S. 655-657, Nr. 3; Romanov III, S. 36, Nr. 26. In der westeuropäischen Folklore sind solche Gleichnismärchen nicht vorhanden. 104. Wie der Teufel den Wolf erschuf (Federowski I, S. 191, Nr. 726) AT–. Erzählt von Jas’ Šimuc im Dorf Wischnewitschi (Gouv. Grodno, Kr. Wolkowysk) Ende des 19. Jh. Belorussische Varianten: Federowski I, S. 191-192, Nr. 727; II, S. 193-194, Nr. 735; Šejn II, S. 344, Nr. 190; Seržputovskij III, S. 29, Nr. 301; Dobrovol’skij I, S. 230-231, Nr. 9; Demidovič 1896, Nr. 1, S. 116; Nikiforovskij, Prostonarodnye primety i pover’ja, suevernye obrjady i legendarnye skazki (Omina, Sagen, abergläubische Bräuche und Legendenmärchen des Volkes), S. 130, Nr. 957; Bessaraba, Materialy po ėtnografii Sedleckoj gubernii (Materialien zur Ethnographie des Siedlcer Gouvernements), S. 41, Nr. 1. Dieses Sujet ist auch im ukrainischen und im westslawischen Material vertreten. Die belorussischen und ukrainischen Märchen des vorliegenden Typs haben gemeinsame Eigentümlichkeiten und unterscheiden sich wesentlich von den westslawischen. Im westslawischen Material ist nur ein Text eines solchen Märchens mit dem Motiv „Die Erle bleibt, mit dem Blut des Teufels besudelt, für immer rot“ vorhanden: ZWdAK VI, S. 221-227, Nr. 17. Die slawischen Legendenmärchen über die Erschaffung des Wolfes sind mit den alten europäischen und orien-
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talischen Mythen über einen am Fuß verwundeten Dämon und über die Erschaffung des Wolfes durch einen Dämon verbunden. Die Vereinigung dieser Motive mit dem Motiv „Der Wolf fällt den Teufel an“ kam im Altertum und augenscheinlich im slawischen Raum zustande; vgl. K. Moszyński, Kultura ludowa slowian (Kultur der slawischen Völker), Bd. II, Ausg. 2, Warschau 1939, S. 1487-1488. 105. Wie Gott die Gutsherren erschuf (Pietkiewkz, 1938, S. 78-79) AT–. Aufgeschrieben in der Umgebung des Städtchens Retschiza (Gebiet Gomel) in den 60er bis 80er Jahren des 19. Jh. Nahverwandte Varianten im veröffentlichten belorussischen und ukrainischen Material: J. Kračkovskij, Byt zapadno-russkogo seljanina (Die Lebensweise der westrussischen Bauernschaft), Wilna 1874, S. 221-222; Ėtnografičnij zbirnik (Ethnographische Sammlung) VI, Lwow 1899, S. 172, Nr. 379. Ein entsprechender Schwank wurde von uns 1949 im Dorf Sagornjata (Gebiet Molodetschno, Bz. Oschmjany) aufgezeichnet. Vgl. den Schwank Gott schuf den Ackermann und der Teufel den Beamten (Pietkiewicz, 1938, S. 73) und ein Märchen über die Erschaffung der Grundbesitzer durch die Teufel (siehe Nr. 109). Weitverbreitet sind in Belorußland und in der Ukraine die Legendenschwänke „Gott erschuf den Junker aus Teig“ und „Gott erschuf den Hahn und der Teufel den Pfau“. 106. Wie Gott den Popen Langhaar erschuf (Romanov IV, S. 22, Nr. 16). Aufgeschrieben im Flekken Shlobin (Gouv. Mogilew, Kr. Rogatschew) Ende des 19. Jh. Dieser satirische Schwank, der die Menschenähnlichkeit des Klerus negiert, ist eine originelle Parodie auf die religiösen Legenden über die Erschaffung der Welt. Varianten sind im veröffentlichten Material nicht anzutreffen.
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107. Der Teufel und der Mond (Seržputovskij II, S. 19-20, Nr. 10) AT–. Eine vollständige Vereinigung dreier Legendensujets über den Wettstreit des Teufels mit Gott: 1. „Der Teufel verändert das von Gott Geschaffene“ (vgl. Šejn II, S. 340341, Nr. 183-184; Dobrovol’skij I, S. 229, Nr. 8; Pietkiewicz, 1938, S. 186-187; Seržputovskij I, S. 24, Nr. 75; III, S. 24, Nr. 247); 2. „Wie Mücken und Schnaken entstanden“ (Varianten: Seržputovskij II, S. 8789, Nr. 37; III, S. 225, Nr. 228; siehe auch Dähnhardt, Natursagen I, S. 167, 188, 334); 3. „Der Teufel nagt den Mond an“ (vgl. Seržputovskij II, Nr. 37). Ähnliche Varianten sind in der Ukraine verbreitet und fanden in Gogols Erzählung Die Nacht vor Weihnachten ihr Echo. Vgl. die russische Legende von Teufel, Sonne und Mond in Ėtnografičeskoe obozrenie (Ethnographische Rundschau) 1891, Nr. 3. S. 239-240. Erzählt von L. Lebedzik (vgl. Anm. zu Nr. 94) Anfang des 20. Jh. 108. Das Teufelsmoor (Seržputovskij I, S. 171-173, Nr. 75) vgl. AT 1045 u. 1052. Erzählt vom Bauern Petr Grickevič im Dorf Tschutschewitschi (Gouv. Minsk, Kr. Sluzk) in den Jahren 1890-1907. Durch originelle Vereinigung der Märchensujets vom dummen Teufel („Die Drohung, den See mit einem Seil zusammenzuziehen“, AT 1045, und „Umhertragen eines Baumes“, AT 1052; BP I, Nr. 20) mit Legendensujets über die Erschaffung der Sümpfe und ihre Vegetation wird die ganze Erzählung einem einzigen Gedanken untergeordnet, dem Gedanken an die Macht des Menschen, durch seine Arbeit die Natur zu verändern. Die Legende von der Entstehung der Sümpfe aus Samen und Erde, die der Teufel ausgespien hat, stammt aus alten Apokryphen und ist in vielen belorussischen folkloristischen Varianten bekannt: Romanov IV, S. 1-7, Nr. 1; Šejn, Belorussische Volkslieder, S. 426-429, Nr. 760; Sbornik Otdelenija
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Russkogo jazyka i slovesnosti Akademii Nauk (Sammlung der Sektion für russische Sprache und Literatur der Akademie der Wissenschaften) 1890, S. 67; Nikiforovskij, Prostonarodnye primety i pover’ja, suevernye obrjady i legendarnye skazki (Omina, Sagen, abergläubische Bräuche und Legendenmärchen des Volkes), Witebsk, S. 301-302. In Grickevičs Märchen wurden die Motive dieser Legende künstlerisch weiterentwickelt. 109. Woher das Böse auf der Welt kommt (Seržputovskij I, S. 123-127, Nr. 61) AT–. Erzählt vom Bauern Michail Kravec im Dorf Gawriltschizy (Gouv. Minsk, Kr. Sluzk) in den Jahren 1890 bis 1907. Traditionelle Legendenmotive ausnutzend (über die Erschaffung der Grundbesitzer durch den Teufel, über den Kampf der Engel mit den Teufeln), schuf Kravec ein originelles publizistisches Märchen über die Entstehung des sozialen Elends, das vom festen Glauben an die Kraft der menschlichen Vernunft und an den Triumph der Gerechtigkeit durchdrungen ist. Die sich verstärkende revolutionäre Stimmung im belorussischen Dorf wird widergespiegelt. 110. Der Flug zur Sonne (Federowski I, Nr. 388) AT–. Erzählt von Jas’ Šimuc im Dorf Wischnewitschi (Gouv. Grodno, Kr. Wolkowysk) Ende des 19. Jh. Teilweise erinnert das Märchen an den antiken Mythos von Ikaros. An die Wahrheit des mythischen Inhalts ähnlicher Erzählungen glaubte das Volk nicht, es verhält sich zu ihnen wie zu unterhaltsamen „Gesprächen“ oder „kleinen Märchen“. 111. Wie die Recken ausstarben (Seržputovskij III, S. 263-269, Nr. 2226) AT–. Erzählt von Savickij (vgl. Anm. zu Nr. 66). Vgl. die deutschen Sagen über den Untergang der Riesenrecken (riesischen Teufel), die eine Leiter oder eine Straße in den
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Himmel zu bauen versuchten: V. Höttges, Typenverzeichnis der deutschen Riesen- und riesischen Teufelssagen (FFC 122), 1937, S. 241-242. 112. Der blaue Brunnen (Romanov IV, S. 173, Nr. 32) AT–. Erzählt von Semen Alekseev, 72 Jahre, im Flecken Propoisk (Gouv. Mogilew) in den 80er Jahren des 19. Jh. Topographische Sagen über große Steine, die von Riesenrecken geworfen wurden, und über Spuren der Reckenfinger an diesen Steinen existieren noch bis zur Gegenwart in vielen Gebieten Belorußlands. N. Sumcov weist in Razbor ėtnografičeskich trudov E. R. Romanova (Analyse der ethnographischen Arbeiten E. R. Romanovs), Zapiski Imperatorskoj Akademii Nauk, Bd. 75, Buch II, Petersburg 1895, gewisse Sujetparallelen zu einer Sage über einen Blauen Brunnen in der armenischen und in der usbekischen Folklore nach und hebt die rätselhafte Verwandtschaft des Inhalts unserer Sage mit dem Inhalt eines bulgarischen Liedes über Marko Königssohn und die Witwe hervor. Die Namen der Helden des südslawischen Liedes und der weißrussischen Sage stimmen überein. 113. Dnepr und Sosh (Romanov IV, S. 176-177, Nr. 34, Ergänzung) AT–. Aufgeschrieben im Dorf Rjasno (Gouv. Mogilew, Kr. Senno) in den 80er Jahren des 19. Jh. Belorussische Varianten: Dobrovol’skij I, S. 233, Nr. 12; Naša niva, Nr. 2, 1911; Majak XV, 1844, S. 30; ukrainische Variante in der Zeitschrift Kievljanin, Nr. 35, 1875. Vgl. die russische Sage über die Flüsse Wolga und Wasus in Afanas’evs Märchensammlung (I, Nr. 94). Bekannt sind auch analoge russische Sagen über Dnepr und Desna, Don und Schata u. a. In der von uns veröffentlichten legendenartigen Sage wird folgender realer Umstand gedeutet: Die Quellen der Flüsse Sosh und Dnepr liegen dicht beieinander; am Sosh, der durch
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Wälder und Sumpfgebiete fließt, liegen außer Gomel keine größeren Städte; beim Zusammenfluß von Sosh und Dnepr in der Nähe der Stadt Loewa ist der Sosh breiter und wasserreicher; am Unterlauf des Dnepr befanden sich bis in die jüngste Vergangenheit Stromschnellen. 114.Kusma und Demjan (Romanov IV, S. 17, Nr. 12). AT–. Aufgeschrieben im Kreis Gorki (Gouv. Mogilew) Ende des 19. Jh. Noch bis heute blieben in einigen Gegenden Belorußlands verschiedene Sagen über riesenhafte Schmiede erhalten. So befindet sich z. B. unweit des Fleckens Kamenez (Gebiet Brest) zwischen Narew und Bug die Ruine eines Turmes. In der lokalen belorussischen Überlieferung wird erzählt, daß den Turm ein alter Schmied und Ritter baute, um in ihm einen furchtbaren Drachen zu erwarten. Mit den Schlägen seines mächtigen Hammers zwang der Schmied den Drachen, sich vor einen riesigen Pflug zu spannen, den er, der Ritter, geschmiedet hatte. Besonders oft treten in derartigen Sagen die Heiligen Kusma und Demjan als Helden auf. Diese Heiligen vereinigten sich in der Legendenfolklore der Ostslawen zur Gestalt des göttlichen Schmieds. Ähnliche Sagen findet man auch im ukrainischen Folklorematerial; sie dienen zur Erklärung der Entstehung des „Drachenwalls“ am Dnepr: Russkaja beseda (Russisches Gespräch), 1856, III, S. 74; Grinčenko, Iz ust naroda (Aus dem Volksmund), S. 308; siehe auch Gruševskij, Istorija ukrainskoj literatury (Geschichte der ukrainischen Literatur) IV, S. 563. Das Motiv von dem vor einen riesigen Pflug gespannten Drachen ist aus dem antiken griechischen Theseusmythos bekannt. In der Folklore der Ostslawen wird dieses Motiv auch mit den Heiligen Boris und Gleb und mit dem Recken Kyrill Koshemjak in Verbindung gebracht. Eine Episode von der Zügelung des Drachen durch Kusma und Demjan, die der aus unserer Sage entspricht, tritt
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oft in den belorussischen, russischen und ukrainischen Märchen des Typs „Der Kampf auf der Brücke“ (AT 300 A) auf; Romanov III, S. 129; Dobrovol’skij I, S. 427, 440. 115. Kyrill Koshemjak der Gerber (Šejn II, S. 170-172, Nr. 82) vgl. AT 300. Das Märchen gehört vorwiegend zur Gattung der historischen Reckensagen. Der unter den Belorussen, Russen und Ukrainern weitverbreiteten Sage über Kyrill Koshemjak steht eine Erzählung aus der sehr alten Kiewer Chronik nahe, die von dem jungen Handwerker Koshemjak berichtet, der 922 einen mächtigen Petschenegenrecken im Zweikampf besiegte und so seine Heimatstadt Perejaslawl vor der Plünderung bewahrte. Die Petschenegen waren ein türkisches Nomadenvolk, das im 9. bis 10. Jh. oft in das Kiewer Reich einfiel. Besonders nahe stehen die ostslawischen Sagenmärchen über den Recken Koshemjak dem Text einer Erzählung der Moskauer Nikonov-Chronik aus dem 16. Jh. Diese Erzählung über den gewaltigen Gerber Jan Usmoschewez geht auf die ältere Kiewer Chronik zurück, die ihrerseits wieder mit folkloristischen Heldenerzählungen im Zusammenhang stand. Die Befreiung der Fürstin aus der Gefangenschaft des Drachen fehlt in der Chronikerzählung, tritt jedoch außer in den Märchen über Koshemjak auch im Heldenliederschatz auf, z. B. in der Byline über Dobrin Nikititsch. Unser Sagenmärchen ist besonders lyrisch, es wurde im Dorf Ioditschi (Gouv. Minsk, Kr. Sluzk) in den 70er bis 80er Jahren des 19. Jh. aufgeschrieben. Belorussische Varianten: Romanov III, S. 214, Nr. 32; Čubinskij II, S. 217-218, Nr. 45 (Kr. Brest). 116. Wie der Recke Merkuri Smolensk vor dem Einfalt des Feindes rettete (Dobrovol’skij I, S. 379-380) AT–. Eine sich mündlich verbreitende Sage über Merkuris Rettung der Stadt
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Smolensk entstand bald nach der tatarischmongolischen Invasion von 1237-1238 auf der Grundlage der sehr alten Sagen des Kiewer Reiches über Recken, die ihre Heimatstadt retten. Eine dieser Überlieferungen ist dem Inhalt nach nahe mit der Smolensker Sage verwandt, sie spiegelt sich in der Chronikerzählung vom Recken Demjan Kudejanowitsch wider (Nikonov-Chronik, 1148). Die Smolensker Sage erklärt ein für die Geschichte des Smolensker Fürstentums wichtiges Ereignis: Die Kriegsschar des Khans Batyj, die sich Smolensk näherte, bog plötzlich seitwärts ab, und die Stadt wurde nicht zerstört. Der Held der Sage ist eine erfundene Person. Historisch glaubhafte Fakten dafür, daß die Verteidiger die Einnahme der Stadt durch die Feinde verhinderten, gibt es nicht. Durch das wahrscheinlich aus westlichen folkloristischen oder literarischen Quellen stammende Motiv von dem enthaupteten Menschen, der seinen eigenen Kopf mit sich trägt, steht die Smolensker Sage einer katholischen Legende über Dionysius Areopagita und der Lebensbeschreibung des byzantinischen Heiligen Merkurius Caesarius nahe. Aus der zweiten Hälfte des 15. Jh. stammt eine schriftliche Fassung der Erzählung über den Heiligen Merkuri von Smolensk. Die mündlich überlieferte Sage über den Smolensker Recken Merkuri blieb jedoch bis in unsere Zeit in der Folkloretradition bewahrt. „Die Litauer“, mit denen der legendäre Gerber Merkuri kämpft, sind in der Smolensker Sage Sammelbegriff für fremde Truppen. In der Buchfassung der Sage kämpft der Kaufmannssohn mit dem Heer des Tatarenkhans Batyj. Die Reckenfrau, die in der mündlich überlieferten Sage den enthaupteten Merkuri am Molochowo-Tor der Stadt Smolensk trifft, ist in der Buchfassung durch die Mutter Gottes ersetzt. Unser Text wurde in den 80er Jahren des 19. Jh. im Westen des Gouvernements Smolensk in einem vom Belorussischen ins Russische übergehenden Dialekt aufgezeichnet. In Dobrovol’skijs Sammlung ist noch
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eine weitere Sage über einen enthaupteten Jüngling, der seinen Kopf auf der Lanze trägt, enthalten. Ihr Ursprung steht mit der Merkuri-Sage im Zusammenhang. Vgl. Dobrovol’skij I, S. 379, Nr. 21. 117. Das unsterbliche Lied (Barag, Hs.) AT–. Erzählt vom Bauern Andrej Sazanovič, 53 Jahre, im Dorf Kasennye Lytschizy (Gebiet Baranowitschi, Bz. Ljubtscha) 1948. Über Sazanovič siehe Nachwort (Abschn. VII). Das vorliegende Sagenmärchen hat eine konkrete historische Grundlage: Im 17. Jh. zerstörten und verbrannten die belorussischen Bauern zusammen mit den Kosaken des Hetmans Bogdan Chmelnickij die Schlösser des vom Volke gehaßten Fürsten Radziwill in Neswish und Bielsk (heute Stadt in der Wojewodschaft Białystok in Polen). Verschiedene Motive des „Unsterblichen Liedes“ haben im veröffentlichten Material Analoga. Vgl. z. B. die „Sage von den zehn Reckenbrüdern“, den Rächern des Volkes, in Federowskis Sammlung (I, S. 152, Nr. 149). A. Sazanovič erweiterte die lokale Sage vom Kreuz am Wege durch bildhafte Beschreibungen und lyrische Abschweifungen, die in folkloristischen Werken nicht üblich sind. 118. Warum Fürst Radziwill so viel Land besitzt (Seržputovskij II, S. 145-148, Nr. 63) AT–. Erzählt von Savickij (vgl. Anm. zu Nr. 66). Mit dem Namen des reichen Würdenträgers und Sonderlings Fürst Karol Stanislaw Radziwill (18. Jh.) verbinden sich im westlichen Teil Belorußlands volkstümliche Schwänke. Die Fürsten Radziwill gehörten zu den größten Magnaten des alten Polen. Ein Großteil der Ländereien im vorrevolutionären Belorußland und in Polen gehörte ihnen. Einzelne Motive in Savickijs Märchen haben in Märchen über Radziwill, die in I. Bessarabas Werk Materialy dlja ėtnografii Sedleckoj gubernii (Materialien zur Ethnographie des Siedlcer Gouvernements), S. 63-
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67, veröffentlicht wurden, und in einer Reihe von folkloristischen Texten unserer handschriftlichen Sammlung Analoga. 4 Schwänke über den „Pan ‚Mein Lieber’“ wurden von Federowski (III, S. 6-8, Nr. 13, 14, 15, 16) veröffentlicht. Einige davon sind auch in der Ukraine bekannt. Dort werden sie jedoch mit dem Namen des freundlichen polnischen Würdenträgers und Landwirts Graf Nikolai Potocki (18. Jh.) verbunden, den die ukrainischen Bauern „Pan Kan’ovskij“ nannten, wahrscheinlich von Kaniew (Stadt in der Ukraine) herrührend. 119. Aus den Erzählungen über Tadeusz Kościuszko (Federowski III, Nr. 20 u. 21) Text 2 entspricht Thompson, Motif-Index J 1161.3. In den folkloristischen belorussischen Sagen-Erzählungen über Tadeusz Kościuszko (1746-1817) wird die Teilnahme an dem heldenhaften Kampf des polnischen Volkes um seine Unabhängigkeit ausgedrückt und der Nationalheld Polens poetisch behandelt. Gleichzeitig wird in diesen Sagen-Erzählungen die wahre Ursache für die Niederschlagung des von Kościuszko geleiteten Freiheitskampfes gegen den russischen Absolutismus 1794 hervorgehoben: die Klassenschranken der adligen Anführer dieses Aufstandes. Der Aufstand flammte 1793 in seinem zweiten Abschnitt stürmisch auf, doch wurde er recht schnell niedergeschlagen, als sich die Massen der polnischen und westbelorussischen Bauern von ihm zurückzogen. Kościuszko, der Befehlshaber des Aufstandes, wurde von russischen Soldaten gefangengenommen. 1796 befreite man ihn aus dem Kerker und brachte ihn über die Grenze. – Text 1 erzählte J. Dzežko (vgl. Anm. zu Nr. 20) 1877. – Text 2 stammt von Benedikt Čebelko, Vorwerk Malye Oseranki (Gouv. Grodno, Kr. Wolkowysk; heute Gebiet Grodno) aus dem gleichen Jahr. Sehr ähnliche belorussische Varianten der Erzählung über den Eid Tadeusz Kościuszkos wurden von M. Federowski im Kr.
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Prushany (Gouv. Grodno) aufgezeichnet. Ähnliche polnische Märchen über Kościuszko sind in Krzyżanowskis Katalog (s. Anm. zu Nr. 68) vermerkt: Bd. 2, 1963, Nr. 1590. Vgl. auch AT 1590. 120. Kosak Platon (Seržputovskij II, S. 166-167, Nr. 71) AT–. Erzählt vom Bauern Kolesnik im Dorf Perewalaki (Gouv. Minsk, Kr. Sluzk) Anfang des 20. Jh. Diese Erzählung entstand z. T. auf Grund von Erinnerungsberichten alter Augenzeugen über das Jahr 1812, teilweise aber auch auf der Basis historischer Volkslieder über den Kommandeur eines Kosakenreiterkorps, General Matvej Platov (1751-1818), der die Armee Napoleons auf dem Rückzug durch Belorußland, besonders bei ihrem Übergang über die Beresina, vernichtete. Die Episode von der Reise des als Kaufmann verkleideten Kosaken Platon zu Napoleon ist ganz ähnlich in einem gereimten Lied über Platov und Napoleon anzutreffen, das in vielen russischen und einigen belorussischen Varianten bekannt ist. Ebenso wie in den Liedern ist in der mündlich überlieferten belorussischen Erzählung Platov (Kosak Platon) ein kühner und für seine Feinde unerreichbarer Patriot und Rächer des Volkes. Diese sagenhafte Gestalt entspricht bei weitem nicht ihrem historischen Vorbild. Auch russische Sagenmärchen über Platov sind bekannt: Golovačev und Loščilin, Donskie skazy i skazki (Märchen und Erzählungen vom Don), Stalingrad 1947, S. 27. 121. Wie der Partisanengeneral Kowpak auf Kundschaft ging (Sovetskaja ėtnografija, 1948, Nr. 2, S. 151, 152) AT– Die zahlreichen Sagenmärchen über den zweifachen Helden der Sowjetunion, Sidor Kovpak (geb. 1887, im Text immer Kowpak) haben eine reale Grundlage. In Eilmärschen zogen die Partisaneneinheiten Kovpaks im Winter 1943 durch die besetzten Gebiete des belorussischen Polesje. 1944 waren die Kovpak-Partisanen
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erneut in Belorußland, und zwar in den Gebieten Pinsk und Brest. Überall, wo die Partisanenabteilungen Kovpaks hinkamen, bildeten und verbreiteten sich Sagenmärchen über sie. Besonders oft tritt Kovpak als Kundschafter auf, obgleich er in Wirklichkeit nie Kundschafter war. Die Gestalt des Kundschafters Kovpak ist eine künstlerische Verallgemeinerung, die aus den Fakten der Agitations- und Erkundungstätigkeit der Partisanen und den Vorstellungen des Volkes über den alten, erfahrenen und listigen Partisanengeneral und Patrioten erwuchs. Vgl. die Abhandlung von L. G. Barag und M. S. Meerovič, Belorusskie narodnye predanija i skazki-legendy o Zaslonove i Kovpake (Belorussische Volkssagen und Sagenmärchen über Saslonov und Kovpak), in der Zeitschrift Sovetskaja ėtnografija, der unsere Texte entnommen sind. Die Texte 1 und 3 wurden im Flecken Narowlja (Gebiet Polesje) bei der Lehrerin A. K. Demidčik aufgeschrieben, die an den Partisanenfeldzügen Kovpaks in den Karpaten und in Polen teilnahm. Text 2 erzählte der Bauer N. K. Omel’čenko aus dem Dorfe Berbowitschi (Bz. Narowlja). 122. Sagen und Erzählungen üaer den Partisanen Saslonow (Sovetskaja ėtnografija, 1948 Nr. 2, S. 148-154). AT–. Schon in den ersten Monaten der faschistischen Okkupation Belorußlands begann der Held der Sowjetunion Konstantin Zaslonov (1909-1942, im Text Saslonow), einer der berühmtesten Führer der Partisanenbewegung in Belorußland. der damals als Ingenieur im Lokomotivdepot der Station Orscha (Gebiet Witebsk) arbeitete, seine illegale Tätigkeit gegen die Okkupanten. Im Februar 1942 floh er in die Wälder und organisierte eine Partisanenabteilung, die bald darauf durch ihre Heldentaten berühmt wurde. Er fiel am 14. November 1942 im Kampf in der Nähe des Dorfes Kupowatj (Gebiet Witebsk, Bz. Senno). Aus den zahlreichen belorussischen Sagen-Erzählungen über Zaslonov kann
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man erkennen, wie ein Sagenmärchensujet auf der realen historischen Grundlage entsteht. Die halb sagenhaften und die sagenhaften Erzählungen über den Kundschafter Zaslonov bildeten sich auf der Grundlage zuverlässiger Fakten über seine wichtige Fähigkeit, sich zu tarnen und im Rücken des Feindes Erkundungen durchzuführen, indem sie „wandernde“ folkloristische Motive in sich aufnahmen. Zaslonov war in der Vorstellung des Volkes ein Meister der Tarnung, und so wurde die folkloristische Gestalt Zasjonovs naturgemäß zu einem Anziehungspunkt verschiedener Erzählungen über geschickte Verkleidungen und plötzliche Partisanenüberfälle auf Garnisonen der Hitlerarmee. Die unsterblichen Heldentaten des Partisanen Zaslonov stehen im Volksbewußtsein mit den Taten des berühmten Helden des Bürgerkrieges und Kommandeurs der roten Kavalleriedivision Vasilij Čapaev (1887-1919) im Zusammenhang, der am 5. Sept. 1919 im Kampf mit den Weißgardisten am Flusse Ural beim Dorf Lbistschinsk fiel. Dies wird in den Sagenerzählungen über die Hilfe Čapaevs für Zaslonov ausgedrückt. In einigen dieser Sagenmärchen zeigen sich deutlich Motive des Heldenepos, z. B. in der Erzählung über die Rettung Zaslonovs durch das Wunderpferd Poryw. Die Texte 1 und 5 erzählte die Kolchosbäuerin Julija Gvozdeva, 75 Jahre, im Dorf Kupowatj (Gebiet Witebsk, Bz. Senno). Text 2 wurde beim Kolchosbauer Ivan Žabickij, 60 Jahre, im Dorf Smoljany (Gebiet Witebsk) aufgeschrieben. Text 3 stammt von der Kolchosbäuerin Fedora Gvozdeva, 80 Jahre, aus dem Dorf Utrilowo (Bz. Senno), Text 4 von der Kolchosbäuerin Pelageja Burčuk. 36 Jahre, aus dem Dorf Burbino (Bz. Senno). Text 6 erzählte Anastasija Koržen, 66 Jahre, aus der Stadt Orscha, und Text 7 Vanja Vizner, 14 Jahre, aus dem Dorf Mashulewo (Gebiet Witebsk, Bz. Rossony). Alle Niederschriften erfolgten im Frühjahr 1947. Vgl. auch den in der Anmerkung zu Nr. 121 genannten Aufsatz über die belo-
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russischen Volkssagen und Sagenmärchen über Zaslonov und Kovpak.
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