Terra Nova 120
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Terra Nova 120
Randall Garrett Virus Y und andere Stories Inhalt: Virus Y (What’s eating you?) Die geheimnisvolle Stadt (Dead giveaway) Ursprung der Menschheit (No connections)
Virus Y »Den ewig unveränderlichen Mond« nannten sie ihn. Gewiß, in mancher Hinsicht mochte das stimmen. Wenn man ihn mit bloßem Auge von der Erde aus betrachtete, sah er aus wie in den letzten fünfzig Millionen Jahren auch. Aber mit einem einigermaßen guten Teleskop erkannte man hier und da kleine Flecken und Tupfen, die eine Änderung verrieten. Man mußte wissen, in welcher Richtung sie lagen, aber es war nicht sonderlich schwer, die Gebäude aufzuspüren, die der Mensch bei seiner Eroberung der Sterne errichtet hatte. Da waren beispielsweise die Atomwerke; sie hatten das Problem zur Beseitigung des Atom-Mülls gelöst. Den Mondkratern war es egal, ob man sie auffüllte oder nicht, und es gab weder Wasser noch Luft, um das Zeug zu verbreiten. Dann waren noch die großen interplanetarischen Raumhäfen da, und auf der Seite, die der Erde abgewandt war, befanden sich die beiden Mondobservatorien. Aber für die Öffentlichkeit gab es ein Bauwerk, das viel geheimnisvoller und umstrittener war: die Quarantänestation der Interstellaren Forschungs– und Kolonisierungsgemeinschaft. Sie beherbergte Männer und Frauen, die ihre körperliche und geistige Gesundheit riskiert hatten, um neue Planeten für die Menschheit aufzusuchen und zu erforschen Männer und Frauen, die nun in Einzelhaft saßen. Einige von ihnen hatten mehr als fünf Jahre keinen direkten Kontakt mehr mit anderen Menschen gehabt.
Alex Zavacki gehörte zu ihnen. Er hatte sich vor vier Jahren mit einem Kuß von seiner Verlobten verabschiedet. Und seit drei Jahren befand er sich nun in einer versiegelten Wohnung der Quarantänestation. Er hatte weitere zwei Jahre vor sich. Während er eine Liste von Neologismen studierte, die er auf Purvis, einem der ältesten kolonisierten Planeten, aufgezeichnet hatte, wurde ihm zum ersten Male klar, daß sich der Mann von der Straße stärker als gewöhnlich für die QSIFK-Station interessierte. Zavacki war Linguist, und kein schlechter. Er wußte, daß ein Job auf ihn wartete, und er hatte sechs Jahre seines Lebens geopfert, um ihn durchzuführen. In den acht Jahrzehnten, die seit Errichtung der ersten Kolonie vergangen waren, hatte sich die englische Sprache nach mindestens zwanzig Richtungen hin entwickelt, und Zavacki wollte die Abweichungen festhalten und studieren. Die Notizen waren vor ihm auf dem Schreibtisch ausgebreitet. Er ging sie sorgfältig durch, übertrug hin und wieder Bemerkungen von einem Blatt auf ein anderes, überprüfte Begriffsbedeutungen, -aussprachen und -wurzeln, und hatte seine behagliche Umgebung vollständig vergessen. Es war eines von hundert ähnlichen Apartments gut beleuchtet, bequem, beinahe luxuriös. Es sollte einem Menschen die Einsamkeit so leicht wie möglich machen. Ein leises Ping! Ping! kam vom Solidiphon. Zavacki sah stirnrunzelnd auf. Herrgott, sind das Störenfriede, dachte er mürrisch, als er auf die Kontaktplatte drückte. Würden sie es niemals lernen, daß er bei der Arbeit nicht gern unterbrochen wurde? Die Wand hinter dem Schreibtisch verschwand, und die schwerfällige Gestalt von Abteilungschef Baedecker saß ihm plötzlich gegenüber. Das runde Gesicht wirkte äußerst besorgt. Bevor er etwas sagen konnte, meinte Zavacki: »Deck, wenn du deine Wehwehchen bei mir abladen willst, dann kannst du gleich wieder verschwinden. Ich höre sie mir gern nach Feierabend an, aber nicht jetzt. Schließlich bin ich weder Psychologe noch Beantworter eines Kummerkastens.« »Es geht um ernste Dinge«, sagte Baedecker in seinem dunklen Bariton. »Und wenn du nicht höflich sein kannst, halte lieber gleich den Mund. Du willst wohl, daß ich dich hinauswerfe?« Zavacki grinste. »O lala! Diese Drohung dringt bis in die tiefste Tiefe meines reuevollen Gemüts. Meinetwegen ich höre zu.«
Baedecker fuhr sich mit der Hand über die Stirn und wischte die Schweißtropfen weg, die im Scheinwerferlicht glänzten. Er war aufgeschwemmt, aufgedunsen, fett und wirkte wie eine riesige Gummipuppe, die man so weit wie möglich aufgeblasen hatte. »Hast du die Reden des Delegierten O’Dowd gelesen oder gar gehört?« Zavacki zog die dichten, schwarzen Brauen zusammen. »Nein. Die Nachrichten von der Erde interessieren mich nicht. Weshalb?« »Das ist es ja«, sagte Baedecker mit einem schweren Seufzer. »Hier kümmert sich jeder nur um sein eigenes Projekt. O’Dowd will dafür sorgen, daß die Forschungsgesetze abgeändert werden.« »Was hat das mit meinen Sprachstudien zu tun?« Zavacki schlug mit der flachen Hand auf die Schreibtischplatte. »Wenn du einen Moment lang still bist, erkläre ich es dir. O’Dowd nörgelt jetzt seit mehr als einem Monat an unserer Quarantänestation herum. Wir haben Presseberichte herausgegeben, um ihm entgegen zuarbeiten, aber niemand nimmt sie mehr ernst, sobald O’Dowd sie durchgehechelt hat. Vor kurzem behauptete er, daß die Menschen hier, gegen ihren Willen eingesperrt würden. Sie seien arme, unterdrückte Helden, die alles für die Menschheit geopfert hätten und nun dafür leiden müßten.« Zavacki lachte leise. »Und was sagt er nun?« »Nun, wir konterten mit einer Art Interview. Wir sagten, daß die meisten Forscher hier vollkommen zufrieden seien und sich bei ihrer Arbeit wohlfühlten. Eine Zeitlang redete er um den Brei herum, aber nun stellt er unsere Jungs so hin, als säßen sie hier faul herum und bekämen ein dickes Gehalt dafür auf Kosten der Steuerzahler und so fort.« Zavacki schüttelte den Kopf., Ich hätte dir gleich verraten können, daß das nicht der richtige Weg ist.« »Wahrscheinlich«, erwiderte Baedecker. »Und deshalb komme ich jetzt auch zu dir. Ich habe noch ein paar Presseartikel ausgearbeitet. Vielleicht könntest du sie so umformen, daß sie auf die breite Öffentlichkeit wirken. Du verstehst, was ich meine?« »Ganz genau«, erklärte Zavacki. »Aber du hast dich an den falschen Mann gewandt. Du brauchst keinen Sprachwissenschaftler, sondern einen Psychologen.« * Baedecker schloß die Augen und preßte die Lippen zusammen.
Einen Moment lang sagte er gar nichts. Dann fuhr er mit langsamen, abgemessenen Sätzen fort. »Jetzt hör mir genau zu, Alexander Dubois Zavacki. Ich bin zufällig Abteilungschef und ständiger Aufsichtsbeamter der Mondbasis. Ich poche nicht gern darauf, aber du zwingst mich dazu.« Seine Augen öffneten sich wieder, und Zavacki entdeckte ein hartes Glitzern in ihnen. »Die QSIFK ist seit dreißig Jahren mein Lebensinhalt, und sie soll es weitere dreißig oder vierzig Jahre bleiben, bis ich so alt bin, daß ich nicht mehr klar denken kann, oder bis mich die Arbeit langweilt. Im Moment ist keines von beiden der Fall, und ich werde nicht stillsitzen und zusehen, wie ein Schwätzer namens Daniel O’Dowd mir meine Arbeit zunichte macht. Ich werde jede verfügbare Waffe einsetzen, um gegen ihn anzukämpfen und du bist im Augenblick meine stärkste Waffe.« Zavacki wartete ruhig. Baedecker meinte das, was er sagte, offensichtlich ernst. Und trotz seiner gewaltigen Fettmassen hatte er gute Aussichten, älter als hundert Jahre zu werden. Auf der Erde hätte sein Gewicht wahrscheinlich bald zu einem schwachen Herz geführt, aber hier auf dem Mond machte es kaum etwas aus. »Und komme mir nicht wieder mit dem Unsinn, daß das hier eine Sache für Psychologen sei«, fuhr Baedecker fort. »Massenpsychologie ist eine Kunst, keine Wissenschaft, und du beherrschst sie.« Er schloß wieder die Augen. »Am 18. November 2084 fand im Linguistik-Institut des Berliner Polytechnikums eine Demonstration statt, ein Aufstand der Studenten gegen eine geplante Machtübernahme des Professorenausschusses. Die Rädelsführer der Demonstration wurden exmatrikuliert, aber später wieder aufgenommen. Und der Professorenausschuß gab nach. Eines erfuhr dieser Ausschuß nie: Der Mann, der die Fäden der Demonstration in der Hand hielt, hieß Alex Zavacki.« Baedeckers Augen sahen ihn an, kleine Punkte in dem großen, runden Gesicht. »Und dann in Omaha, im Jahre 2091…« Zavacki hob beide Hände. »Bitte, Deck! Ich ergebe mich. Erspare mir das. Ich weiß, daß ich ein mißratener Jüngling war.« »Na schön. Wirst du dir jetzt die Presseveröffentlichungen ansehen und versuchen, sie möglichst wirksam zu gestalten?« »Schicke sie her, Deck. Ich werde sehen, was sich machen läßt. Und wenn du die Reden von O’Dowd hast, kannst du sie gleich mitschicken. Sorge dafür, daß sie mit Datum versehen sind, damit ich sie richtig einordnen kann.«
Baedecker nickte und unterbrach die Verbindung. Die Wand wurde wieder zur Wand, als die Leinster-Projektoren verlöschten. Minuten später spuckte das Reproduktionsgerät auf Zavackis Schreibtisch Faksimiles der Presseveröffentlichungen Baedeckers und die Reden O’Dowds aus. Eine Stunde später starrte Alex Zavacki aus dem großen Fenster seines Apartments und betrachtete den Stein des Anstoßes. Auf einer Kuppel in der Ferne stand in großen schwarzen Blockbuchstaben: MONDQUARANTÄNESTATION, und darunter, in kleineren Buchstaben: Fünfjahres-Abteilung. Hinter dem Gebäude ragten die schlanken Spitzen der interstellaren Schiffe zum Himmel. Es gab nicht viele davon. Bis jetzt befanden sich nur eine Handvoll in Betrieb, und sie waren kostbar und sehr teuer. Die Interplanetarische Konstruktionsgesellschaft von Nordamerika stellte sie her wie auch die Flotten der interplanetarischen Boote, die zur Venus und zum Mars flogen. Über all dem hing die schimmernde Scheibe der Erde, größer und heller als jeder Erntemond, und vergoß ihr Licht über die Landschaft. Schön und imposant. Aber für einen Mann, der fünf Jahre hier verbringen mußte, die ödeste Gegend, die man sich vorstellen konnte. Zavacki dachte an die anderen, die in der Abteilung eingeschlossen waren. Raoul Jackson, der merkwürdige, einsame Mann mit der scheckigen Haut sie war teils weiß, teils braun —, der sein eigenes Gesicht nicht ausstehen konnte. Er war so. auf die Welt gekommen, und er haßte sich darum. Er verbrachte seine Zeit damit, eine perfekte Waffe zu konstruieren gegen fremde Lebewesen, wie er sagte, aber wie Zavacki ahnte, um seinen Haß gegen die ganze Menschheit auf irgendeine Weise loszuwerden. Dann waren Jack Wessier und seine Frau da, das einzige Paar in der Isolierstation. Sie hatten das Forschungsjahr gemeinsam verbracht und waren dann gemeinsam in Quarantäne gegangen. Und sie hatten keine Zeit verschwendet. In den vergangenen vier Jahren hatten sie drei Töchter in die Welt gesetzt, entzückende Mädchen. Und er dachte an Jennifer. An die sanfte, warme, schöne Jennifer. War es falsch gewesen, sie auf der Erde zurückzulassen, als er seine verrückte Reise in die Galaxis antrat? Man verlangte viel von einer Braut, wenn man sie sechs Jahre warten ließ. Wenn er zurückkam, war sie siebenundzwanzig. Wäre es besser gewesen, wenn sie ihn begleitet hätte?
Er schüttelte den Kopf. Jennifer Sterling war nicht Lana Wessier. Jen war kein Feigling, und sie war auch nicht schwach, aber die Forschungsarbeit auf einem rauhen, unbewohnten Planeten war einfach nichts für sie. Nein. Die sechs Jahre mußten ertragen werden. Sie hatten nie davon gesprochen, einander freizugeben. Aber Zavacki hatte einfach gehen müssen. Man hatte ihm seinen Planeten zugewiesen, und er hatte die ihm zugeteilte Arbeit erledigt, um Zugang zu den Aufzeichnungen der neunzehn Kolonien zu erhalten. Sein Thema behandelte eine einmalige Situation, und es war fast jedes Opfer wert. Aber nicht Jen. Einige der Forscher kehrten niemals zurück, und so hatte man die Einmann-Boote mit automatischen Umkehrsteuerungen ausgerüstet. Wenn ein Forscher innerhalb der vereinbarten Zeit nicht zu seinem Schiff zurückkehrte, flog das Schiff ohne ihn zurück ins Sonnensystem und brachte die Aufzeichnungen mit, die er gemacht hatte. Jeder Forscher hatte ein Funkgerät bei sich, das dauernd mit dem Schiff verbunden war. Das Mikrophon nahm jedes Wort auf und gab es weiter. Einige Männer waren einen gewaltsamen Tod gestorben. Wenn man die plötzlichen, schmerzerfüllten Schreie auf den Bändern hörte, wurde man von Grauen erfüllt. Andere starben an irgendeiner Krankheit, und ihr Gestammel war manchmal noch schrecklicher. Das Wort »Krankheit« ist wie das Wort »Wahnsinn«. Beide beinhalten eine Unzahl von Leiden, die sich in den verschiedensten Formen äußern können und oft nicht das geringste miteinander zu tun haben. Lungenentzündung, Masern, Arthritis, Angina pectoris, chronischer Schluckauf, Blinddarm, Grauer Star, Leukämie, Krebs, Brand und Nesselsucht können alle als Krankheiten bezeichnet werden, weil sie Fehlfunktionen irgendwelcher Organe oder Körpergewebe darstellen. Aber weshalb sind eigentlich Moskitostiche oder Sonnenbrandwunden keine Krankheiten? Nun, sie sind es eben nicht, und daran kann man nichts ändern. Die Sprache ist launisch. Da oben, in der Schwärze des Mondhimmels, war die Erde. Seit etwa zwei Milliarden Jahren entwickelte sich auf diesem einsamen Planeten Leben. Während dieser riesigen Zeitspanne hatten Milliarden und aber Milliarden Lebewesen agiert und reagiert. Für das Recht, leben zu dürfen, hatten sie gekämpft und getötet, und sie waren selbst dafür gestorben. Ambroce Beirce hatte eßbar so definiert: »Die Fähigkeit, verzehrt zu werden. Beispiel: Das Schwein verzehrt den Wurm, der Mensch das Schwein, und der Wurm den Menschen.«
Es war ein dynamischer Kreislauf, eine Auslese zur Erhaltung des Gleichgewichts. Hin und wieder besiegte ein Organismus den anderen, und eine ganze Rasse starb aus, weil sie sich nicht schnell genug anpassen konnte. Und das Urteil der übrigen Natur war hart: »Geschieht ihnen recht. Wer es nicht schafft, am Leben zu bleiben, hat gar kein Recht dazu.« Der Mensch war einer der unzähligen Organismen, der sich in diesem äonenlangen Kämpf um die Vorherrschaft entwickelt hatte, und der Mensch hatte verbissen und zäh darum gekämpft, die Vorherrschaft nicht nur zu behalten, sondern sie auch noch auszudehnen. Einzelwesen versagten und wurden von ihrer Umgebung getötet, aber die Überlebenden lernten von den Versagern und schoben sich immer weiter vor. Die großen Tiere waren bald besiegt. Ein Wal kann mit der Harpune erlegt, ein Rhinozeros in einer Falle gefangen, ein Elefant erschossen, ein Wolf zu Tode getreten und ein Leopard erwürgt werden. Aber die kleineren Tiere sind zahlreicher und können besser ausweichen. Mäuse und Ratten blieben für den Menschen gefährlich, lange nachdem der Tiger zum Jagdziel von Sportlern geworden war und der Gorilla vor der Ausrottung geschützt werden mußte. Und Fliegen, Läuse, Zecken und Moskitos fielen noch heute über ihre Opfer her. Mit einer 45er Automatik bringt man einen wild gewordenen Bullen zum Stillstand. Aber wer hat schon einmal versucht, damit nach einer Hausfliege zu schießen? Und die gefährlichsten von allen waren die Mikroorganismen die Amöben, Pilze, Bakterien und halb lebendigen Viren. Zavacki sah an der Erde vorbei zu den Sternen. Was mochte da draußen warten? Welches Ding lauerte nur darauf, daß der Mensch kam, um ihn dann zu vernichten? Der Mensch hatte sich seinen Weg zur Vorherrschaft schwer erkämpft mit Waffen, Giften und Chemikalien. Aber die Erde genügte dem Menschen nicht; er hatte größere Pläne. Schließlich lag das ganze Universum vor ihm. Außer ein Idiot wie O’Dowd macht uns verwundbar. Was wollte O’Dowd erreichen? Und weshalb? Zavackis linguistische Studien waren von großem Wert für die Zukunft. Aber O’Dowd war ein Problem der Gegenwart. Er nahm einen Bleistift in die Hand und machte sich Randnotizen. Zwei Stunden später las er sie sorgfältig durch, legte sie in den Arbeitskorb und wandte sich seinem Bandgerät zu. Er begann zu diktieren: »Presseveröffentlichung der Mond-Quarantäne-Station, vom 27. Oktober
2106…« * Allerheiligen hatte sich in Groß New Orleans mit ein paar zarten Wolkenfedern angekündigt, und gegen Mittag waren selbst diese verschwunden. Eine zarte blaue Kuppel wölbte sich über der Stadt. Jennifer Sterling schlenderte durch die Promenade im zweiten Stock und atmete die würzige Herbstluft tief ein. Es war ein schöner Tag. Ein herrlicher Tag! Selbst hier in der Stadt kribbelte es einem in allen Gliedern. Einen Moment lang dachte sie voll Sehnsucht an Vermont. Wie es dort jetzt aussehen mochte? Ob die Bäume schon ihre goldrote Pracht verloren hatten? Waren sie jetzt nackt und kahl, umgeben von raschelndem, braunem Laub? Oder schmückten sie die Landschaft Neuenglands immer noch mit ihren lodernden Feuern? Sollte sie hinfliegen und nachsehen? Es war eine verlockende Idee, aber sie tat sie gleich wieder ab. Sie hatte viel zu tun, und auf eine Weise war auch New Orleans schön. Im Stockwerk unter ihr dröhnten die Autos über die Fahrbahn, und über ihr ragten die hohen Gebäude in einen reinen, hellen Himmel. Es war fast eine Meile von St. Philip’s zu ihrer Wohnung, aber sie war zu Fuß zur Arbeit gegangen und ging nun zu Fuß wieder heim. Lächelnd dachte sie an die Geschichte von der Brieftaube, die sieben Stunden zu spät an ihrem Ziel angekommen war und sich mit den Worten entschuldigt hatte: »Es war so ein herrlicher Tag, und da wollte ich lieber laufen.« Von dem Armband an ihrem Handgelenk kam ein leises Summen. Sie drückte auf den kleinen Bolzen. »Jennifer Sterling«, sagte sie und hielt das Band ans Ohr. »Ein Gespräch von Luna. Könnten Sie sich innerhalb von fünfzehn Minuten an einem Solidiphon einfinden?« »Von Luna?« Ihre Stimme klang aufgeregt. »Ich bin in fünf Minuten daheim.« Sie rannte zum nächsten Lufttaxistand. Es dauerte keine fünf Minuten, bis sie in ihrer Wohnung war, den Hut in die nächste Ecke gefeuert hatte und vor dem Solidiphon Platz nahm. Dann verschwand plötzlich die Wand, und Alex saß ihr gegenüber. »Hallo, Liebling…« Seine Stimme klang ein wenig heiser. »Alex… oh, Alex!« Und dann sagte einen Moment lang niemand etwas.
Sie war groß, schlank und feingliedrig. Ihr ovales Gesicht bildete den perfekten Hintergrund für ihre haselnußbraunen Augen. Das dunkelbraune Haar war in einer weichen Welle aus der Stirn gestrichen. Manchmal konnte sie königlich und unerreichbar dreinsehen. Dann wieder wie jetzt zeigte sie sich warm und sanft und verliebt. Seine Hände wollten nach ihr greifen, aber er krampfte sie auf dem Schreibtisch zusammen, der sie zu trennen schien. In Wirklichkeit war es mehr als nur ein Schreibtisch, es waren Jahre und Tausende Meilen leeren Raumes. Dennoch war das Bild der Leinster-Projektoren so echt, daß es ihm beinahe wehtat, Jennifer anzusehen. »Ich liebe dich, Jen«, sagte er zum tausendstenmal. Und während der nächsten Minuten war ihre Unterhaltung ein leises Flüstern. Sanfte Worte, bedeutungsvolle, gefühlsbetonte Worte. Worte, die Liebe und Zärtlichkeit übermittelten. Schließlich sagte Jennifer: »Es war so lieb von dir, daß du angerufen hast, Alex aber die Kosten! Die Erde-Mond-Verbindung ist bestimmt nicht die billigste.« »Die Firma zahlt«, lachte Zavacki. »Ich brauche einen Spion.« »Einen Spion? Wozu in aller Welt?« »Hast du in letzter Zeit etwas über die Reden oder Presseerklärungen gelesen, die der Delegierte O’Dowd vom Stapel läßt?« Jen zuckte leicht mit den Schultern. »Einige. Er möchte die interstellare Kolonisierung vorantreiben. Die Erde entlasten und so fort.« »Genau. Freies Land. Jedem Farmer sein Huhn, beziehungsweise seine zwei Farmen. Ausholzung der übervölkerten Gebiete.« Sie nickte. »Und er versucht, die Steuergelder zusammenzuhalten. Ich hörte etwas, daß er das Budget des Interstellaren Programms einschränken möchte aber wie will er das machen, wenn gleichzeitig die Kolonisierung vorangetrieben werden soll?« »Oh, er hat seine Methoden«, sagte Zavacki mit leichter Ironie. »Wir versuchen jetzt zurückzuschlagen. Vor ein paar Tagen ließ ich ein paar Presseerklärungen los, die seine Aussagen zum Teil widerlegen. Heute nachmittag will er dazu Stellung nehmen. Ich möchte, daß du zuhörst und alle seine Reden vom vergangenen Monat liest. Ich muß erfahren, wie die Öffentlichkeit von O’Dowd denkt. Verstehst du mich?« Jen griff nach ihrem Notizbuch. »Natürlich. Zu schade, daß du keine Umfrage anstellen kannst wie unser Institut.«
»Leider habe ich nicht soviel Geld. Rufe mich wieder an, sobald du etwas erfahren hast. Auf meine Kosten natürlich.« Er lächelte. »Bis später, Baby.« Sie erwiderte mühsam das Lächeln. Dann unterbrachen sie wortlos die Verbindung. * Jen saß einen Moment lang einfach da und sah den Bildschirm an. Dann warf sie den Kopf zurück und holte sich eine Zigarette aus dem Automaten. Sie zündete sie an und starrte nachdenklich zur Decke hinauf. Es dürfte nicht schwer sein, die öffentliche Reaktion zu untersuchen. Schließlich war es ihr Beruf. Als Alex vor vier Jahren seine Aufgabe im Interstellaren Programm erhalten hatte, war sie von der Universität abgegangen und hatte eine Stelle bei der Werbefirma Continental Advertising angenommen. Sie brauchte während der langen Abwesenheit von Alex eine Beschäftigung, die sie ausfüllte. Und Continental Advertising verlangte nur eine Abschlußprüfung in Psychologie. Um die Massenreaktionen auf die Werbekampagnen vorherzusehen, mußte man in die Psyche des »Durchschnittsmenschen« eindringen das hieß, man mußte testen und Tabellen anlegen und genau berechnen, welche Art der Werbung die Öffentlichkeit beeinflussen würde. Die Aufgabe, die Alex ihr gestellt hatte, war ähnlich. Welchen Eindruck hatte O’Dowd auf die Öffentlichkeit gemacht? Wie gut war seine Reklame? Sie ließ die Zigarette in den Abfallschacht gleiten und wählte den Informationssender. Eine Blondine sang mit rauchiger Stimme sentimentales Blabla. Jen schaltete auf Kanal D-62 um, und die Blondine machte einem kleinen, verrückten Kerl Platz, der zur Melodie von »Es tanzt ein Bi-Ba-Buzimann …« folgenden Text sang: »Wer heute Magna-Vita nimmt, wird zweihundert Jahre alt, wer heute Magna-Vita nimmt, den läßt das Alter kalt …« Jen zuckte zusammen. Gesungene Begleittexte in Werbespots waren jetzt achtzig Jahre lang verpönt gewesen, aber allmählich schienen sie wieder in Mode zu kommen. Offensichtlich gab es zu jeder Zeit Bevölkerungs-
schichten, die auf so etwas ansprachen. Nun ja, das Männchen war recht niedlich. Sie hörte sich den Börsenbericht an und wartete die Schaltpause ab. Dann wurde in Großbuchstaben die nächste Sendung angekündigt: LEUTE VON HEUTE Sie zündete sich eine Zigarette an und lehnte sich zurück. * Daniel O’Dowd war untersetzt, mit einem leichten Hang zur Korpulenz. Man konnte sein breites Gesicht mit dem schwachen Bartanflug durchaus als angenehm bezeichnen. Sein Haar war blauschwarz und wellig, und es rutschte ein wenig aus der Stirn. O’Dowd mußte um die Fünfundvierzig sein, aber er wirkte jünger. Er saß lässig da, ein freundliches, beinahe joviales Lächeln auf den Lippen, während der Reporter ihn einführte. »Daniel O’Dowd, Kongreßabgeordneter in direkter Wahl, hat sich bereit erklärt, heute hierherzukommen und uns einige Fragen zu beantworten, die seinen Gesetzänderungsvorschlag im Kongreß betreffen. Wir haben einige Punkte zu besprechen, welche die jüngsten Presseveröffentlichungen von der Mondstation betreffen, aber zuvor wird uns Mister O’Dowd kurz darüber berichten, worum es eigentlich geht. Bitte, Herr Abgeordneter.« O’Dowd beugte sich leicht vor. »Das Gesetz betrifft, wie Sie sicher wissen, ein Gebiet, das für uns alle lebenswichtig ist die Eroberung des Raumes durch die Menschheit.« Seine Stimme war glatt und gefällig, und die Dringlichkeit wurde mit feinen Nuancen dargestellt. »Vor mehr als hundert Jahren«, fuhr er fort, »brachte der Bell-KimballAntrieb die Menschen zu den Sternen. Sie alle kennen ja die Geschichte von Projekt Fernziel. Nun, zur gleichen Zeit traten die Forschungsgesetze in Kraft. Diese Gesetze sollten die Menschheit vor Lebensformen schützen, die es vielleicht irgendwo da draußen gibt.« Er deutete vage nach oben. »Bitte, verstehen Sie mich richtig, meine Freunde. Die Gesetze waren vollkommen in Ordnung für die damalige Zeit. Aber durchleuchten wir sie einmal näher. Vor hundert Jahren wußte man noch weniger über Krankheiten als heute, und so führte man für die Heimkehrer von extrasolaren Planeten eine Quarantäne ein, fünf Jahre für Leute, die sich auf unerforschten Welten aufgehalten hatten, und weniger für Leute, die bereits erforschte, aber unbewohnte Welten besucht hatten.
Dann, wenn ein Planet nach gründlicher Forschungsarbeit als sicher erklärt worden war, schickte man ausgewählte Kolonisten hin, die für die erste Zeit von der Erde aus unbeschränkt mit allen Gütern versorgt wurden, welche sie verlangten und für notwendig erachteten. Danach wurde das Band zur Erde abgeschnitten für volle zwei Generationen!« Er hob beschwörend die Hände. »Bis auf ihre halbjährlichen Berichte haben wir keinen Kontakt mehr mit ihnen.« Er schüttelte den Kopf. »Wie gesagt, vor hundert Jahren waren diese Gesetze völlig in Ordnung. Aber die Zeiten ändern sich, meine Freunde. Je größere Fortschritte wir auf dem Gebiet der Medizin und der extrasolaren Forschung erzielen, desto mehr sollten wir uns dazu entschließen, die Gesetze den veränderten Bedingungen anzupassen. Wir dürfen sie nicht zum Hemmschuh der Forschung werden lassen!« Seine Augen wurden einen Moment lang schmal, und er hob den Zeigefinger. »Und daß Sie mich richtig verstehen die Forschungsgesetze sind ein Hemmschuh! Unsere Vermessungsteams finden ständig neue, bewohnbare Welten. Im vergangenen Jahrhundert erforschte man mehr als neunzig Planeten und kolonisiert wurden ganze neunzehn. Nach der Vorvermessung, die vom Raum aus erfolgt, betreten die Forscher den Planeten. Sie bleiben ein Jahr und kehren dann nach Luna zurück. Und was geschieht? Sie werden fünf volle Jahre eingekerkert!« * Der Delegierte machte eine eindrucksvolle Pause und fuhr dann fort: »Freunde, auf der Erde leben mehr als vier Milliarden Menschen. Viele davon haben den echten Pioniergeist ihrer Vorväter geerbt. Wir brauchen die neuen Planeten sie müssen für unsere Leute zugänglich gemacht werden. Da’ draußen herrscht kein tödlicher Existenzkampf. Land ist genug da, und es kann mit Hilfe der terranischen Technik bequem bearbeitet werden. Das Land gehört euch, und ich werde dafür sorgen, daß ihr es bekommt.« Dann lehnte er sich zurück. »Ich glaube, Sie hatten ein paar Fragen?« wandte er sich an den Reporter. »Gewiß, Herr Abgeordneter.« Der Reporter zog sich einen Stuhl heran. (»Welch trautes Bild!« dachte Jen.)
»Soviel ich weiß, möchten Sie zwei Änderungen der Forschungsgesetze herbeiführen«, sagte der junge Mann. »Worin bestehen sie nun?« »Eigentlich sind es drei«, meinte O’Dowd, »aber die beiden ersten sind eng miteinander verbunden.« Er hielt den Daumen hoch. »Erstens: Die Isolationsperiode für kolonisierte Planeten muß auf eine Generation beschränkt werden. Zweitens: Nach Ablauf der Isolationsfrist sollen die neuen Planeten allen Kolonisten zugänglich gemacht werden. Und drittens: Die Quarantänezeit von Forschern soll von fünf auf drei Jahre herabgesetzt werden.« »Würde der letzte Punkt nicht eine große Gefahr für die Erde bedeuten?« Der Abgeordnete schüttelte den Kopf. »Nicht im geringsten. Nach den bisherigen Aufzeichnungen hat sich jede extraterrestrische Krankheit innerhalb des ersten Jahres gezeigt. Die meisten Krankheiten werden sogar innerhalb der ersten Monate deutlich. Drei Jahre sind ein vollkommen sicherer Zeitraum.« »Welche Folgen hätte die Gesetzesänderung für die interstellare Forschung, Herr Abgeordneter?« »Gut, betrachten wir diese Frage einmal genauer. Einmal ist die Forschungsabteilung für unbekannte Welten sehr schwach belegt. Nur wenige Menschen lassen sich fünf Jahre in Quarantäne stecken, nachdem sie ein einziges Jahr in der Forschung tätig waren. In der zweiten Abteilung haben wir sehr viel mehr Personal – Weshalb? Weil die Isolationszeit kürzer ist. Zudem dürfen wir die finanzielle Seite nicht außer acht lassen. Während der fünf Jahre leisten die Männer nichts Produktives. Ich will damit nicht sagen, daß sie das Geld nicht verdienen beileibe nicht. Aber wäre es nicht besser für sie und uns, wenn sie nur drei Jahre auf dem Mond blieben und dann ein Jahr Urlaub auf der Erde bekämen? Auf diese Weise könnte ein Forscher alle vier statt wie bisher alle sechs Jahre eine Reise auf einen unbekannten Planeten unternehmen und somit die Zahl der Erforschungen um insgesamt ein Drittel erhöhen. Außerdem wird der Beruf dann verlockender.« Er klopfte mit dem Finger auf die Stuhllehne, um seine Sätze zu unterstreichen. »Falls dieses Gesetz durchkommt, kann jeder Forscher, der sein drittes Jahr in der Isolierstation verbracht hat, sofort auf die Erde zurückkehren.« Es kamen noch mehr Fragen und Antworten. Aber Jennifer nahm sie nicht allzu deutlich wahr. In ihrem Gehirn war nur ein Gedanke. Wenn O’Dowds Gesetzesänderung durchgeht, ist Alex in vier Monaten daheim.
* Alex Zavacki warf den Aschenbecher nach dem Gerät und rief: »Dummkopf! Spatzenhirn!« Der Aschenbecher prallte harmlos von der unsichtbaren Wand ab und fiel zu Boden. O’Dowd lächelte, während der Reporter ihm dankte. Zavacki schaltete aus, und die Wand wurde wieder fest. Als sein Ärger einigermaßen verraucht war, bückte er sich und hob den Aschenbecher auf. Er wurde von neuem wütend, als er merkte, daß der Verschlußmechanismus nicht mehr funktionierte. Am liebsten hätte er den Ascher mit einem Tritt quer durch das Zimmer befördert, aber die Vernunft siegte. Er legte das Ding auf den Schreibtisch. Dann setzte er sich und stellte die Verbindung zu Baedecker her. »Hast du ihn gehört, Deck?« fragte er, sobald sich der Dicke am Solidiphon zeigte. Baedecker nickte schwerfällig. »Ja. Er hat unsere Presseveröffentlichungen überhaupt nicht beachtet, oder?« »Und ob er sie beachtet hat!« fauchte Zavacki. »Ich habe genau hingehört! Er hat sie studiert. Sonst hätte er nicht so leicht um den Brei herumreden können.« Baedecker nickte wieder. »Was ich mir gedacht habe. Unsere Jungs versuchen seit Wochen, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zu bekommen. Ich hatte gehofft, daß es dir besser gelingen würde.« Er seufzte tief. Zavacki schob das Kinn vor. »Ich werde es schaffen. Ich bin jetzt nämlich wütend.« Seine Stimme klang nicht sonderlich erregt eher kalt. »Weißt du, was los ist? Neunundneunzig Prozent der Bevölkerung auf der Erde haben nicht die leiseste Ahnung, wogegen wir ankämpfen oder was hier oben überhaupt los ist. Ich werde es ihnen verraten. Du mußt mir freie Hand geben. Ich kann jetzt niemanden gebrauchen, der mir ins Handwerk pfuscht. Einverstanden?« Baedecker kam langsam zu sich. »Äh…« Er blinzelte. »Das ist ziemlich viel verlangt, Alex. Ich weiß nicht…« »Eben, Deck«, unterbrach ihn Zavacki. »Eben du weißt nicht, und das ist das Schlimme.« Der Dicke rutschte auf seinem Stuhl hin und her, und seine Blicke wurden kühl. »Hör mir gut zu, Zavacki. Ich arbeite seit zwei Monaten an
dem Problem seit O’Dowd seinen Mund aufgemacht hat. Das Schwierige an der Sache ist, daß wir keine Waffen zum Zurückschlagen haben. Die Fünfjahres-Quarantäne ist die kürzeste Frist, mit der wir arbeiten können. Krankheiten wie Krebs zeigen sich nicht früher. Aber bis jetzt sind wir noch auf keine extraterrestrische Krankheit gestoßen, die so spät ausbrach. Wir versuchten, O’Dowd mit Tatsachen zu bekämpfen, aber wir haben keine Beweise. Wir stehen dem gleichen Problem gegenüber wie die Atomwissenschaftler vor anderthalb Jahrhunderten. Sie wußten, daß gewisse Strahlungsarten gefährlich für das Genplasma waren, aber sie hatten keine Möglichkeit, es experimentell zu beweisen. Heute kennen wir die Antwort, aber müssen wir so eine Art von Beweis noch einmal durchmachen?« »Du weißt eben nicht, wie man kämpft«, erwiderte Zavacki. »Hast du überhaupt eine Ahnung, weshalb O’Dowd das Gesetz ändern will? Ich meine, kennst du seine persönlichen Gründe?« Baedeckers schwere Augenbrauen hoben sich. »Ich weiß nicht. Daran habe ich noch nie gedacht. Weshalb?« »Er muß welche haben«, sagte Zavacki ruhig. »Diese O’Dowds haben alle ihre persönlichen Gründe. Macht, Geld, Prestige. Die Massen sind ihnen im Grunde egal. Wenn wir herausbringen können, was ihn anstachelt, haben wir vielleicht einen Ansatzpunkt. Deine Leute müssen zuallererst die Verbindungen untersuchen, die er auf der Erde hat. Du hast genug Agenten setze sie ein. Möglicherweise wird er bestochen. Die Nachforschungen sind bestimmt nicht leicht, und die Beweise reichen wahrscheinlich nicht aus, um O’Dowd vor Gericht zu bringen, aber wir könnten das Wissen bei unserem Kampf ausnützen. Laß untersuchen, wer einen Vorteil davon hat, wenn die Gesetzesänderung durchgebracht wird. Vielleicht findet sich eine Verbindungslinie zu O’Dowd. Ich werde inzwischen einen anderen Gesichtspunkt unter die Lupe nehmen. Meiner Meinung nach strebt O’Dowd eine höhere politische Stelle an. Wenn er diese Kampagne durchführt, um sich Wählerstimmen zu sichern, können wir hier einhaken.« Der Dicke schwieg geraume Zeit. Dann nickte er langsam und sagte: »Also gut, Zavacki. Ich lasse dir freie Hand. Vielleicht hast du doch Waffen, von denen ich nichts verstehe.« Alex Zavacki grinste ihn schief an. »Waffen hat man nicht, Deck. Waffen macht man sich.« Dann unterbrach er die Verbindung.
* Erst wenn Sie ganz sicher wissen, was Sie wollen, dürfen Sie etwas unternehmen. Jen Sterling wußte nicht, wer den Satz gesagt hatte vermutlich ein Politiker -, aber ihr gefiel der Charakter, der dahintersteckte. Sie hatte sich zwei Stunden lang gründlich durchforscht, bis sie sicher war, was sie wollte. Und nun unternahm sie etwas. Was sie tun mußte, gefiel ihr gar nicht, aber nachdem sie die Entscheidung getroffen hatte, gab es kein Zurück mehr für sie. Es dauerte fast zwei Tage, bis sie die entsprechenden Verbindungen hergestellt hatte, und sie nahm dazu die Bekanntschaft mit Regierungsbeamten und ihren ganzen persönlichen Charme zu Hilfe. Am Morgen des dritten Tages ließ sie sich mit der Strato-Fähre nach Long Island bringen. Fünf Stunden später war sie in der Schweiz. Ein Lufttaxi beförderte sie zum Gebäude der Weltorganisation, und dort frage sie sich bis zum Büro von Daniel O’Dowd durch. O’Dowd sah in Wirklichkeit nicht viel anders als auf dem Bildschirm aus. Zwar wirkte er ein wenig aufgelöst, aber er hatte immerhin einen Vormittag harter Arbeit hinter sich. Er bot Jennifer einen Stuhl an und lächelte gewinnend. Jennifer erwiderte das Lächeln ebenso strahlend. »Miß Sterling«, sagte er, »soviel ich höre, liegt Ihnen sehr viel daran, daß mein Änderungsvorschlag hinsichtlich der Forschungsgesetze durchgebracht wird. Allerdings -« er deutete auf einen schmalen Papierstreifen »haben Sie keinen Grund dafür angegeben.« Das Mädchen hob die Augenbrauen. »Ich hielt es für unklug, die Gründe zu nennen. Immerhin ist das Verbindungsnetz öffentlich.« »Sie hätten ja anrufen können.« »Sind Sie überzeugt davon, daß Ihre Gespräche nicht abgehört werden?« O’Dowd runzelte die Stirn. »Ich muß gestehen, Miß Sterling, daß ich keinen Grund für diese Geheimnistuerei sehe. Schließlich ist mein Änderungsvorschlag nichts Ehrenrühriges oder Verbotenes.« Jennifers Blick wurde plötzlich vertrauensvoll und unschuldig. Als sie sah, daß O’Dowd darauf reagierte, sagte sie: »Aber das weiß ich doch! Nur, sehen Sie ich habe ein ganz persönliches Interesse daran, daß die Änderung angenommen wird.« »Tatsächlich?«
Sie schwieg einen Moment lang und sah sich in der metallischen Nüchternheit des Büros um. Es hatte starke Ähnlichkeit mit dem Raum, in dem Alex arbeitete, in dem sie ihn während der letzten drei Jahre so oft gesehen hatte, ohne ihm näher kommen zu können. »Also gut, Miß Sterling«, meinte er nach einer Pause. »Ich möchte nicht in Ihr Privatleben eindringen. Wenn Sie meinen Vorschlag unterstützen, bin ich Ihnen sehr dankbar. Ein Leserbrief vielleicht…« Sie schüttelte schnell den Kopf. »Herr Abgeordneter, verstehen Sie etwas davon, wie man die öffentliche Meinung untersucht?« »Umfragen? Gewiß. Die meisten Kongreßmitglieder versuchen ihre Wähler auszuhorchen. Sie wären schlechte Volksvertreter, wenn sie es nicht täten.« Wieder ein Kopfschütteln. »Das meine ich nicht«, sagte Jen. »Eine andere Frage: Was verstehen Sie von Reklame?« Sie wartete seine Antwort nicht ab, sondern fuhr rasch fort: »Angenommen, Sie machen Reklame für ein Produkt wie Frühstücksfleisch oder Zahnpasta. Sie sind nicht daran interessiert, ob die Leute Ihr Produkt mögen. Sie wollen, daß sie es kaufen.« O’Dowds Augen verengten sich ein wenig. »Ich verstehe den Unterschied. Machen Sie weiter.« »Sie stellen Ihr Produkt her, und dann machen Sie Reklame dafür. Nehmen wir Zahnpasta. Solange sie die Zähne reinigt, angenehm schmeckt und ein wirksames Mittel gegen Karies enthält, haben Sie alle Bedingungen erfüllt. Mehr können Sie nicht tun.« Sie machte eine Pause. »Aber nun kommt der Verkauf. Und der hängt von der Werbung ab von der Verpackung, von den Reklamesendungen und so fort. Es ist nicht schwer zu überprüfen, ob die Werbung gut ist, denn schließlich ist sie eine Funktion des Verkaufes. Wenn Sie anfangs wenig verkaufen, werden Sie die Art der Werbung ändern. Aber in welcher Richtung? Wie? In welchem Ausmaß? Das müssen Sie erfahren, nicht wahr?« O’Dowds Augen waren noch schmaler geworden, und um seinen Mund spielte ein kleines Lächeln. »Daran habe ich bisher noch nicht gedacht.« »O doch«, sagte Jen ruhig. »Politiker arbeiten schon immer mit diesen Mitteln, und Sie sind ein sehr guter Politiker. Aber Sie setzen Ihre Begabung gefühlsmäßig ein, aufs Geratewohl. Wie lange würde Ihrer Meinung nach ein moderner Geschäftsmann durchhalten, wenn er auf diese Weise Reklame machen müßte?« Sie schnippte mit den Fingern. »Nicht sehr viel länger als das.«
»Ich höre, Miß Sterling.« »Gut. Die Werbung ist heutzutage so etwas wie die Medizin. Sie ist eine wissenschaftlich fundierte Kunst. Durch die Werbung haben wir mehr über Massenpsychologie als über jeden anderen Zweig der Psychologie erfahren. Über den Einzelmenschen können wir nahezu nichts aussagen. Aber bei einer Bevölkerung von vier Milliarden nähern wir uns ziemlich genau den Asimov-Gleichungen über Psychomathematik. Die AsimovFormeln können perfekt nur bei einer unendlich großen Bevölkerung angewandt werden, so wie die Gasgleichung nur für ein Idealgas gilt…« »Einen Moment, Miß Sterling.« Der Abgeordnete hob die Hand. »Leider verstehe ich nichts von den Formeln, die Sie eben erwähnten. Aber wollen Sie damit sagen, daß man durch geeignete Reklame den Ausgang der Gesetzesabstimmung beeinflussen kann?« »Ja. Und zwar könnte ich Ihnen zwischen sechzig und achtzig Prozent der Wählerstimmen garantieren.« O’Dowd lachte leise. »Ich kann mir jetzt schon vorstellen, wie das aussieht. Ein Singvers, vorgetragen von hüpfenden Mädchen: ’Wer in die Zukunft schaut, wählt mit O’Dowd!« Er lachte wieder. »Nein, Miß Sterling, ich fürchte, so geht es nicht.« Jen wartete geduldig, bis er wieder ernst wurde, dann fuhr sie fort: »Ich glaube, Sie mißverstehen mich, Herr Abgeordneter. Wir wissen recht gut, daß diese Art der Werbung in der Politik nicht ankommt. Gewiß, auch hier wirkt sich die kommerzielle Reklame aus. Sprüche wie, ’Wählt Sowieso!’ oder ’Staatsbürger, auch du mußt wählen!’ werden wohl nie untergehen. Aber davon spreche ich nicht. Ich möchte lediglich auf Ihrer eigenen Werbung aufbauen. Was Sie brauchen, ist eine Art Reaktionsmessung auf Ihre Reden. Wir müssen untersuchen, in welcher Form Sie dem Volk Ihr Anliegen am besten nahebringen können. Daran dachte ich, als ich von einer Untersuchung der öffentlichen Meinung sprach. Wir können genau herausfinden, welchen Klang, welche Ausdrücke und welche Rhetorik Sie benützen müssen, um Erfolg zu haben.« O’Dowd sah nachdenklich drein. »Weshalb sind nicht schon andere Politiker auf diese Idee gekommen?« »Ganz einfach«, erwiderte Jen, »es ist eine Geldsache. Eine wissenschaftliche Werbekampagne, die Erfolg haben soll, geht ins Geld. Ein Projekt wie dieses ist so teuer, daß nur eine Regierung oder ein großer Handelskonzern es sich leisten kann. Wenn es anders wäre, hätte wohl
jeder Kramladen Aussichten, ganz auf die Spitze der Erfolgsleiter vorzudringen.« »Oh? Sie sind so felsenfest von der Methode überzeugt?« »Ja wenn das Produkt wertvoll ist. Und Ihr Änderungsvorschlag ist wertvoll.« »Schön und gut, aber ich habe bisher meine Wünsche auch ohne Sonderunterstützung durchgebracht«, meinte O’Dowd. »Waren sie so groß wie dieses Projekt? Und wie steht es mit der Opposition, die von der Stellaren Forschungsgemeinschaft ausgeht?« O’Dowd schwieg. »Und«, fuhr Jen fort, »was ist mit dem Mann von der Straße, der den Gedanken an eine extraterrestrische Krankheit mit Angst und Entsetzen aufnimmt?« »Ich gebe zu, daß der Widerstand nicht gering ist«, sagte O’Dowd ruhig. »Wieviel würde die Kampagne kosten?« Jen nannte eine Zahl. O’Dowd hob überrascht die Augenbrauen, aber er sagte nichts. »Ich glaube, die Sache wäre es wert, Herr Abgeordneter«, sagte Jen. O’Dowd warf einen Blick auf seine Armbanduhr und stand auf. »Ich habe in ein paar Minuten eine Besprechung, Miß Sterling. Ich danke Ihnen für Ihr Interesse. Wenn ich Ihre Hilfe brauchen sollte, werde ich mich an Sie wenden.« Fünf Minuten später stand sie nachdenklich auf dem Dach und wartete auf ein Lufttaxi. * Alex Zavacki starrte das Mädchen an. »Du hast es ihm gesagt? Jen!« Er suchte nach Worten, aber er konnte keine finden. »Ich habe es ihm gesagt«, wiederholte sie. »Ich redete eine halbe Stunde auf ihn ein.« »Aber weshalb?« Sie versuchte ihre Stimme ruhig zu halten. »Ich habe lange darüber nachgedacht, Alex. Bitte, unterbrich mich nicht. Ich werde es dir erklären. Ich erkannte nicht, was O’Dowd eigentlich tat. Ich wußte nicht, daß du in ein paar Monaten heimkehren könntest, wenn sein Gesetzesvorschlag durchgeht.
Anfangs kränkte es mich, daß du so ein Gesetz bekämpfen konntest. Ich, ich dachte, du wolltest mich nicht sehen…« Zavacki zwang sich zum Sprechen. »Jen! Jen, Liebling! Natürlich will ich heimkommen. Aber verstehst du denn nicht…« »Ich weiß, Alex, ich weiß. Laß mich bitte zu Ende reden. Mir ist klar, daß es wichtig für dich ist und du glaubst, daß es allen wichtig ist. Deshalb kannst du persönliche Gefühle unterdrücken. Aber ich bin eine Frau, Alex. Ich denke anders. Ich kann die Angelegenheit nicht so gut verstehen wie du. Und solange du mich magst, will ich, daß du zu mir kommst. Andererseits wäre es mir unmöglich, gegen dich zu arbeiten. Wenn die Gesetzesänderung durchgeht und wenn es eine falsche Entscheidung wäre, dann würde ich mich ewig hassen. Ich könnte nicht weiterleben. So mußte ich dafür sorgen, daß die Aufgabe richtig angepackt wurde. Das Projekt braucht eine gründliche Durchleuchtung. Nachforschungen, die ich allein nicht führen kann. Die größten und besten Computer der Continental Advertising müssen eingesetzt werden. Alles muß richtig gemacht werden. Wenn das Gesetz eingeführt wird und die Erde dadurch in Gefahren gerät, wird es einer der größten Fehler sein, die unsere Firma je begangen hat. Aber ich bin nicht sicher, ob die Quarantäne fünf Jahre lang dauern muß. Und wenn es sich herausstellt, daß sie nicht nötig ist, sollte man sie auch verkürzen. Du siehst, wie notwendig die Untersuchungen sind. Und da O’Dowd am meisten von ihnen profitiert, soll er oder seine Hintermänner auch dafür bezahlen.« »Was hast du ihm gesagt?« fragte Zavacki ruhig. Sie wiederholte ihr Gespräch mit dem Abgeordneten. »Ich verstehe«, sagte er. »In anderen Worten, er erwartet also, daß ihr ihm helft, seine Kampagne so wirksam wie möglich zu führen. Wir haben beide Seiten des Spieles unter Kontrolle. Wir können ihm ziemlich genau vorschreiben, was er sagen soll und er muß unsere Ratschläge annehmen, weil er dafür bezahlt.« Dann sah er ihren Gesichtsausdruck. »Ach so«, sagte er sehr leise. Ihr Stimme klang ein wenig gequält, als sie sagte: »Ich darf das nicht zulassen, Alex. Wenn die Continental Advertising ihm die falschen Ratschläge gibt, wird er sie vernichten. Und dazu braucht er keine Gesetzesänderung. Mein Job ist mir ziemlich egal, aber ich möchte meine Mitarbeiter nicht in Gefahr bringen. Sie sind immer nett zu mir gewesen.«
Wenn Jennifer so sprach, meinte sie jedes Wort ernst. »Ich glaube, du hast richtig gehandelt, Jen«, sagte er. »Wir geben ihm die besten Ratschläge, die er sich wünschen kann und hoffen, daß er sich selbst zu Fall bringt.« »Noch eines, Alex.« Sie machte eine Pause und holte tief Atem. »Du mußt dich höchstpersönlich darum kümmern, was er am besten sagt. Wie du weißt, sind die Asimov-Gleichungen für weniger als hundert Billiarden Menschen bedeutungslos.« Er nickte langsam. »Ich weiß, ich weiß.« Er sah an ihr vorbei. Das breite Fenster ihres Apartments ließ die schimmernde Herbstsonne herein, und auf dem Teppich zeichnete sich ein goldenes Viereck ab. Sie hatte ihm beide Seiten eines Schachspiels anvertraut und erwartete, daß er für beide Seiten ehrlich spielte. Er mußte für Baedecker und für O’Dowd spielen - ach ja, und für Jen. Das Schlimmste daran war, daß er gegen sich spielen mußte. Sie schien seine Gedanken zu lesen. »Alex! Alex, ich weiß, daß du es schaffst.« Es war ersehreckend, welches Vertrauen das Mädchen zu ihm hatte. Und er wußte, daß er dieses Vertrauen nicht enttäuschen durfte niemals. Aber ein Ausrutscher ein einziger Ausrutscher war so schnell geschehen. Er hoffte fast, daß O’Dowd ihr Angebot nicht annehmen würde. »Sieh mich nicht so an, Alex bitte! Es wird am Ende noch alles gut.« Und dann, ganz plötzlich, lächelte er wieder. Das war es! Wenn ein Problem von zwei Seiten absolut ethisch behandelt wurde, dann mußte am Ende das Recht siegen. »Ich werde schon damit fertig, Liebling«, sagte er. »Und vielen Dank.« Aber als er ein paar Minuten später die Verbindung unterbrach, war sein einziger Gedanke: »Bitte, lieber Gott, hilf mir, daß ich es richtig mache!« * Es dauerte nicht lange, bis O’Dowd anbiß. Die unleugbare Tatsache, daß Jennifer Sterling eine warmherzige schöne Frau war, hatte vielleicht ein wenig damit zu tun, aber O’Dowd war ein so gewitzter Politiker, daß er sich von solchen Dingen nicht allzusehr beeinflussen ließ. Wie alle guten Politiker, die einigermaßen erfolgreich waren, hatte er seine eigenen Informationsquellen. Er hätte schnell herausgefunden, daß Jennifer tatsächlich die Stellung innehatte, von der sie gesprochen hatte. Und er
erfuhr auch rasch, daß sich ihr Verlobter auf dem Mond befand in Quarantäne. Er wußte, daß eine gute Werbung zum Erfolg führte, und er hatte keinen Grund zu der Annahme, daß Jennifer ihn an der Nase herumführen könnte. Schließlich war er es gewöhnt, sich auf Experten zu verlassen, und diese Frau war eindeutig eine Expertin. Sie hatte Psychologie studiert, nahm einen wichtigen Platz in einer wichtigen Werbeagentur ein und hatte, wie O’Dowd zumindest glauben mußte, ein gutes Motiv für ihre Mitarbeit. Das war seiner Meinung nach alles, was er wissen mußte. Die Vereinbarungen mit der Continental Advertising wurden streng geheim getroffen. Niemand hätte beweisen können, daß der Abgeordnete Daniel O’Dowd die riesige Summe gezahlt hatte, welche Jen ihm genannt hatte, und weder er noch einer seiner Mitarbeiter konnte irgendwie direkt mit dem Handel in Beziehung gebracht werden. Der Continental Advertising war das gleichgültig. Man verlangte schließlich nicht von ihr, daß sie Wahlreden für O’Dowd hielt, sondern daß sie lediglich eine private Meinungsumfrage veranstaltete. Was O’Dowd mit den Informationen anfing, war seine Privatsache. Als Jennifer Alex erzählte, daß die Summe in bar bezahlt worden war, pfiff er leise durch die Zähne und ließ sich mit Baedecker verbinden. »Weißt du schon, wer hinter O’Dowd steht, Deck?« Der Dicke schüttelte langsam den Kopf. »Nein. Jede von einem Dutzend Gesellschaften kann die Finger im Spiel haben. Aber ich habe das Gefühl, daß O’Dowd mehr anstrebt als den Abgeordnetenposten im Kongreß. Und dazu muß er vorsichtig mit fremden Geldern umgehen.« »Wenn ich dir nun sage, daß er eine halbe Million in ein verrücktes Schema investiert hat, das vielleicht nicht einmal funktioniert?« Baedeckers Augen wurden schmal. »Woher weißt du das? Und worin besteht das Schema?« Zavacki lachte und schüttelte den Kopf »Nicht so, Deck. Du hast mir den Job übergeben und mich gebeten, ihn durchzuführen. Genau das tue ich. Ich frage dich auch nicht, woher du deine Informationen beziehst.« Baedecker zuckte mit den Schultern. »Na schön. Meine Politik heißt: Wenn du Macht abgibst, dann tue es wirklich und mische dich nicht mehr ein!« Er sah zur Decke. »Eine halbe Million, was? Das heißt, daß ein paar große Bosse dahinterstecken. Könnte ein ganzer Konzern sein.« Zavacki schüttelte den Kopf. »Bei einem Konzern ist es schwierig, die Zustimmung aller Mitglieder zu erlangen selbst wenn man im Endeffekt
mehr Geld dadurch herausschinden könnte. Ich tippe auf eine unserer drei großen Firmen.« Baedecker sah immer noch zur Decke. »Möglich. Atom-Werke, Interplanetarische Konstruktionsgesellschaft oder General Powers. Weshalb nicht alle drei?« »Vielleicht, aber ich bezweifle es. Es würde die Abbuchungen zu kompliziert machen. Eine Gesellschaft kann einmal so ein Geschäft vertuschen. Aber wenn es gleich drei sind, wird die Untersuchungsbehörde wach.« Zavacki überlegte einen Moment und fuhr dann fort: »Nein. Suchen wir erst einmal nach einem Hintermann. Sollten es mehrere sein, wird es sich im Laufe der Recherchen ohnehin zeigen.« Baedecker rieb sich die Nase mit drei seiner Wurstfinger. »Und wenn wir ihm die Untersuchungsbehörde auf den Hals schicken? Entdecken werden die Leute vermutlich nichts, aber vielleicht schreckt es die Firmen ab.« »Dafür ist es zu spät. Der Delegierte hat das Geld bereits in der Hand und kann es am richtigen Ort einsetzen. Nein, du brauchst lediglich nachzuforschen, wer ihn unterstützt.« Baedecker nickte schwerfällig. »Wie du meinst. Ich werde meine Fühler ausstrecken. Sobald ich etwas weiß, sage ich dir Bescheid.« Er unterbrach die Verbindung.. Zavacki stand auf und zündete sich eine Zigarette an. Er ging vorsichtig auf und ab. Wenn man auf dem Mond auf und ab gehen wollte, mußte man es vorsichtig tun oder ganz lassen. Schließlich warf er die halb gerauchte Zigarette in einen Aschenbecher, fauchte ärgerlich vor sich hin und ging zur Zentrifuge, um seine Muskeln zu üben. Einige Leute wie Baedecker dachten gar nicht daran, sich in Form zu halten sie hatten ohnehin nicht die Absicht, auf die Erde zurückzukehren. Aber Zavacki legte Wert auf tägliche Übung, und er blieb eine Stunde in der Zentrifuge. Während er trainierte, dachte er unaufhörlich nach. * Raoul Jackson fluchte leise vor sich hin und steckte den Finger in den Mund. Es war keine schlimme Brandblase sie schmerzte nicht einmal aber Raoul Jackson hatte etwas gegen schlampige Arbeit, und wenn sich jemand mit dem Schweißgerät verbrannte, war er seiner Meinung nach schlampig. Den Finger immer noch im Mund, trat er von dem Labyrinth aus Silber und Kristallen zurück, das auf dem Arbeitstisch lag. Die silberne
Sammelschiene, die er eben verschweißt hatte, verlor ihren rötlichen Schimmer und wurde dunkel, als sich die Hitze durch das Metallgewirr verteilte. Raoul schob die Schutzbrille hoch und betrachtete liebevoll den Apparat. »Freundchen«, sagte er, »du bist ein ganz verflixtes Stück Blech.« Aber sein dunkler Bariton hatte etwas Väterliches an sich. Beinahe unterbewußt hob er den schweren Schweißapparat und sah ihn an. Dann drückte er auf den Auslöser. An der Düsenöffnung zeigte sich ein kleiner Feuerpunkt grell und heiß und nicht stärker als seine Daumenkuppe. Langsam schaltete Raoul das Gerät wieder aus und sah seine Konstruktion an. Die Anregung hatte er eigentlich vom Schweißbrenner erhalten. Das kleine Gerät erzeugte genug Hitze, um zwei Sammelschienen von drei Zoll Stärke zusammenzuschweißen so rasch, daß das Silber die Hitze nicht ableiten konnte. Das Kraftfeld, das den Feuerpunkt umgab, hielt den größten Teil der Wärme fest, so daß nur ein kleiner Prozentsatz als nutzlose Strahlung verlorenging. Das Gerät, an dem Raoul herumbastelte, war auf dem gleichen Prinzip aufgebaut. Wenn es funktionierte - und warum sollte es eigentlich nicht? -, würde es einen unheimlich heißen, gesteuerten und gebündelten Energiestrahl erzeugen, einen Strahl, der sich in Bruchteilen einer Sekunde durch eine dicke Stahlplatte fressen konnte. Ein größeres Modell würde sogar mit Wolfram fertig werden. Raoul Jackson besaß eine Wahnvorstellung. Eines Tages würde die Menschheit irgendwo auf eine andere intelligente Rasse stoßen. Da draußen wartete ein Etwas mit einem scharfen Gehirn und einer technisch hochentwickelten Kultur. Und der Mensch mußte Waffen besitzen, um sich zu verteidigen. Natürlich gab es Zeiten, in denen Raoul Jackson sich fragte, ob das Gerät rechtzeitig fertig würde, bevor er seine nächste Reise antrat. Er arbeitete jetzt seit vier Jahren daran und hatte nur noch ein Jahr Zeit. Dabei waren noch eine Menge Fehler in dem Ding. Bis jetzt gab es erst drei Prozent der theoretisch berechneten Energie ab. Aber es würde schon noch klappen. Und wenn es diesmal nicht ging, dann eben das nächste Mal. Er rückte die Schutzbrille zurecht und setzte das Schweißgerät von neuem an. Automatisch verdunkelten sich die Gläser, als der helle Strahl aufleuchtete. Das Solidiphon summte.
Jackson ließ es eine Zeitlang summen, bis er mit dem Schweißen fertig war. Dann erst schob er die Brille hoch und wandte sich dem Apparat zu. Weshalb mußten die Leute ihn anrufen? Weshalb konnten sie ihn nicht zufriedenlassen? Gewiß, sie wollten nett und freundlich sein. Aber das verlangte er gar nicht. Sie brauchten ihn nicht anzusehen; es war ihm sogar unangenehm. Als ob es nicht reichte, daß er selbst hin und wieder sein scheckiges Gesicht sehen mußte! Vorsichtig legte er das Schweißgerät ab und ging zum Solidiphon. Er setzte sich und schaltete es ein. Jack Wessier war der Störenfried. »Fleißig?« fragte Wessier. Sein ewiges Grinsen verließ ihn auch jetzt nicht. Raoul nickte. »Ja. Was gibt es?« Wessier grinste weiter. Er war nicht gekränkt. Wie alle anderen wußte er, daß man Raoul besser nicht zu oft anrief und daß man sich auf Grobheiten gefaßt machen mußte, wenn man es doch einmal tat. »Es tut mir ehrlich leid, daß ich dich gestört habe, Raoul, aber ich wollte doch erfahren, ob du über diese O’Dowd-Angelegenheit Bescheid weißt.« »O’Dowd? Wer ist O’Dowd?« Jack Wessier erklärte es ihm. Raouls fleckiges Gesicht wurde hart. »Was will er denn erreichen? Ich kann mein Projekt niemals zu Ende führen, wenn ich jetzt schon wieder hinaus muß. Ich habe mich einverstanden erklärt, jedes sechste Jahr eine Forschungsfahrt zu machen, und damit basta.« »Nicht, wenn sie das Gesetz ändern. Außerdem heißt es, daß sie einige von uns zu einer Kongreß-Untersuchung vorladen wollen.« Jacksons Stirnrunzeln vertiefte sich. »Ist das dein Ernst?« Dann fuhr er fort: »Das können sie mit mir nicht machen! Ich lasse mich nicht auf die Erde schleppen. Nicht um alles in der Welt!« Er ließ eine Tirade über die Erde, den Kongreß, die Kongreßmitglieder und die Menschen im allgemeinen los. Er bemerkte weder, daß Wessier ihn nachdenklich betrachtete, noch, daß dessen Grinsen nachgelassen hatte. »Hör mal«, unterbrach ihn Wessier, »ist dein Solidiphon in Ordnung?« Jackson hörte die Frage nicht. »…ist doch zu komisch. Ich verlange nur, daß sie mich in Ruhe lassen diese Dowds und alle anderen.« »Fühlst du dich wohl, Raoul?« Jackson unterbrach seinen Wortstrom mit einemmal. Seine Kinnmuskeln zitterten einen Moment lang, doch dann beherrschte er sich. »Ja, ich fühle mich wohl. Kopfschmerzen, aber das ist alles. Wahrscheinlich habe ich in
die Flamme des Schweißgerätes gesehen. Ich … es tut mir leid, Jack. Wahrscheinlich bin ich im Moment ein wenig nervös. Du verstehst, ich möchte mein Projekt zu Ende führen.« »Natürlich«, meinte Wessier besänftigend. »Tut mir leid, daß ich dich belästigt habe. Aber Zavacki sagte, wenn einer von uns etwas wüßte, um O’Dowd abzuwehren, sollte er sich an ihn wenden. Einverstanden?« »Ja. Ich, ich bin froh, daß du angerufen hast. Danke.« Und er unterbrach die Verbindung. Als Jack Wessiers Gesicht verschwand, sah Jackson seine fleckige Hand an. Ein Teil davon war dunkelbraun, der Rest rosa. Raoul hatte seit Jahren nicht mehr in den Spiegel geschaut, aber er wußte, wie sein Gesicht aussah genauso’ wie seine Hand. Er vergrub das Gesicht in den Händen. Oh, Herr, Herr, warum konntest du mir nicht eine normale Hautfarbe geben? Warum mußtest du mich zu einem häßlichen, scheckigen Ungeheuer machen? Warum? * Jack Wessier starrte an die Wand, wo noch Sekunden zuvor Raoul Jacksons Bild gewesen war. War mit Raouls Abtastgerät etwas nicht in Ordnung? Oder stimmte das Farbgleichgewicht der Leinster-Projektoren nicht mehr? Oder bildete er sich etwas ein? Oder hatte sich mit Jacksons Haut wirklich etwas verändert? Er stand nachdenklich auf und ging in die Küche. Lana sah ins Kodebuch und wählte das Abendessen aus der automatischen Küchenmaschine. Sie sah auf, als er hereinkam. »Liebling, kannst du die Mädels holen, während… Jack! Was ist los?« Wenn Jack Wessier nicht grinste, war etwas nicht in Ordnung. »Du kennst doch Raoul?« sagte er. »Was ist mit ihm?« Sie kümmerte sich nicht mehr um die Einstellung, sondern sah ihren Mann neugierig an. »Ich weiß es nicht genau. Er ist ein wenig empfindlich wegen seines Aussehens, und deshalb rufen wir ihn so selten wie möglich an.« Lana lächelte. »Du rufst auch die anderen selten an.« Er grinste. »Weshalb auch? Ich bin der Glücklichste von allen hier in der Quarantänestation.« »Bleiben wir einmal bei Raoul«, meinte sie.
»Sein Gesicht sieht komisch aus als würden die dunklen Flecken heller werden. Und er kommt mir nicht sonderlich gesund vor er klagte über Kopfschmerzen.« »Wenn er krank ist, dann rufe lieber Dr. Fleischmann an. Wann wurde Raoul zum letztenmal untersucht?« Jack runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht. Vor ein paar Wochen, nehme ich an. Dennoch, er könnte eine Krankheit erwischt haben.« Sie sahen einander stumm an. »Rufe Fleischmann an«, sagte sie schließlich. »Ich mache das Essen fertig. Wenn du zurückkommst, kannst du gleich die Mädchen aus dem Spielzimmer holen.« Jack nickte und ging ans Solidiphon. Lana warf einen Blick auf ihr Kodebuch und merkte, daß sie vergessen hatte, an welchem Punkt des Menüs sie unterbrochen worden war. Sie drückte auf die AUS-Taste und begann noch einmal von vorn. * Jennifer Sterling sah zu, wie Moe, der Computer, die Zahlen verdaute, die ihm von den Hauptlinien aus allen Großstädten der Welt zugeführt wurden. Sie wußte nur über den ganz allgemeinen Aufbau eines Roboters Bescheid. Von den Einzelheiten hatte sie keine Ahnung. Aber irgendwie faszinierten sie die großen, summenden Dinger. So beobachtete sie Moe, wie er die Daten verschluckte und die Antworten ausspie. Das Mädchen an der Maschine, eine kesse kleine Blondine namens Tess, betrachtete die Lichter am Anzeigepaneel, die Jen überhaupt nichts sagten. »Das Letzte!« sagte Tess. »Ganz ehrlich, Jen, das ist der merkwürdigste Auftrag, den wir je hatten.« »Weshalb?« fragte Jen. »Na, wer hat schon mal gehört, daß ein Politiker von einer Werbeagentur eine Umfrage starten läßt? Weshalb ging er nicht zu einem der großen Meinungsforschungsinstitute? » »Vielleicht will er etwas Neues ausprobieren.« »Vielleicht. Aber es würde mich doch interessieren, wer auf die schlaue Idee kam.« Jen zuckte kühl mit den Schultern. »O’Dowd scheint zu wissen, was er tut.« Tess schien die letzte Bemerkung nicht auf sie gemünzt zu haben aber konnte man wissen?
Tess ließ die Finger über die verschiedenen Tasten gleiten. »Wenn du mich fragst, so ist O’Dowd ein eingebildeter Esel. Aber ich kann dir natürlich nicht verdenken, daß du auf seiner Seite stehst. Wie lange hast du diesen netten jungen Mann auf dem Mond nicht mehr gesehen?« »Vier Jahre«, sagte Jen ruhig. »Und es wird noch zwei weitere dauern.« »Nicht, wenn O’Dowds Gesetzesänderung durchgeht.« »Nein, dann nicht.« Wußte Tess etwas? Unmöglich. Nein, sie wollte sich nur mit ihr unterhalten. »Wann soll denn die Abstimmung stattfinden?« Die Finger von Tess glitten immer noch über die Tasten. »Anfang Januar. Gleich nach Neujahr.« »Mm-m-m.« Sie drückte auf zwei weitere Tasten, trat zurück und schob das lange blonde Haar mit einer schnellen Geste zurück. Dann lächelte sie Jen zu. »Ich stehe auf deiner Seite, Liebes. Hoffentlich ist Alex bis Ostern daheim.« Jen zwang sich zu einem Lächeln. »Ja, ich hoffe es auch.« Moe knurrte und summte. »Er wird sich gleich an die Arbeit machen«, sagte Tess. Jen war froh, das Thema wechseln zu können. »Du behandelst das Ding, als wäre es ein Mensch.« Tess lachte. »Moe erinnert mich an einen Mann. Du weißt schon, wie sie es machen. Sie lehnen sich zurück, lassen sich die Tatsachen durch den Kopf gehen und haben dann eine Antwort parat. Und sie können so eitel dabei aussehen.« Auf der Anzeigetafel flammten neue Lichter auf. Irgendwo im Innern surrte es, und der Fotoschreiber warf Zahlen auf den Faksimile-Film. Das Ding rollte in einer langen, breiten Schleife heraus. Ein letztes Klicken, die Lampen gingen aus, und die Maschine stand still. »Verstehst du, was ich meine?« fragte Tess. Jen nickte und nahm die Rolle auf. Die große Maschine hatte tatsächlich etwas Eitles und Selbstzufriedenes an sich. »Es kommt noch mehr nach«, meinte Tess. Dann blinzelte sie. »Und ich stimme für O’Dowds Vorschlag.« Jen bedankte sich und ging in ihr Büro zurück. Sie setzte sich an den Schreibtisch und preßte die Handflächen gegen die Schläfen. *
Als Jens Anruf von der Erde kam, wollte Zavacki die Sache so geschäftsmäßig wie möglich erledigen. Anfangs gelang es ihm nicht sonderlich. Es dauerte eine ganze Minute, bis sie zu den Tatsachen kamen und das trotz des Wissens, daß jedes private Wort die innere Qual nur verstärkte. Aber schließlich sagte er: »Nun was gibt es Neues?« Und dann lachten sie beide über die hölzerne Bemerkung. Jennifer breitete das Faksimile-Blatt auf dem Schreibtisch aus. »Später bekommst du eine detaillierte Analyse, aber das Wesentliche kann ich dir jetzt schon erzählen. Bis heute sah es so aus, als würde O’Dowd die Sympathie des Volkes genießen. Sie scheinen die Erschließung von neuen Planeten zu begrüßen. Im allgemeinen sind die Wohlhabenden der Meinung, daß man den Armen eine Chance in den Kolonien geben sollte anders ausgedrückt, sie wollen sie auf der Erde nicht mehr sehen. Die Armen wollen ebenfalls zu den Kolonien, natürlich aus anderen Gründen. Dazwischen liegen die Angehörigen des Mittelstandes. Stadtbewohner scheinen das Gesetz eher zu befürworten als Landbewohner. Sie spüren die Enge am meisten. Die meisten wollen nicht selbst auswandern, aber sie glauben, daß es andere tun werden. Einige allerdings wünschen sich ein Häuschen im Grünen ein paar Lichtjahre von der Erde entfernt. Den Farmern scheint das Gesetz im Grunde genommen gleichgültig zu sein. Sie sind nicht dafür und nicht dagegen. Der Industrieblock einschließlich der Weltgewerkschaft…« Zavacki hörte zu, stellte hin und wieder eine Frage und machte sich Notizen. Es sah schlecht aus. Den meisten Leuten war das Gesetz gleichgültig, aber es gab doch einen beträchtlichen Kern, der aus irgendeinem Grund dafür stimmte. Und nur eine winzige Minderheit sah eine Gefahr in dem neuen Änderungsvorschlag. Das Schlimme war, daß es sich nicht um eine allgemeine Wahl handelte, sondern um eine Abstimmung im Kongreß. Das hieß, daß die Gleichgültigen sich kaum an ihren Abgeordneten wenden würden, während ihn die Befürworter sicher mit Briefen bestürmten. Ein Abgeordneter richtet sich nach den schriftlich geäußerten Wünschen seiner Wähler, und die O’Dowd-Befürworter überwogen die Gegner bei weitem. Wenn nicht noch etwas Drastisches geschah, ging das neue Gesetz durch. Zavacki spürte plötzlich einen Schauder. Wenn jemand, nur ein einziger, je mit einer Krankheit auf die Erde kam, die der Menschheit noch unbekannt war, dann konnte die gesamte Zivilisation vernichtet werden.
Die Rasse ging vielleicht nicht unter aber eine Handvoll Überlebende konnte eine moderne Zivilisation nicht aufrechterhalten. Der Mensch hatte schon schwere Schläge hinter sich, den Schwarzen Tod im siebzehnten Jahrhundert, die Grippe in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, und die tödlich verlaufende Gehirnlähmung, die vor achtzig Jahren gewütet hatte und deren Virus immer noch unbekannt war. Jen sagte: »Und nun zu den Presseveröffentlichungen von heute morgen. Wir haben noch nicht alle Berichte bekommen, aber es sieht so aus, als wäre eure Nachricht sehr wirksam. Mit Gewißheit kann ich es allerdings noch nicht sagen.« Zavacki sah sie erstaunt an. »Welche Presseveröffentlichung?« Jen war verwirrt. »Die Sache mit Raoul Jackson. Geht sie denn nicht von dir aus?« »Nein! Was steht darin?« * Sie blätterte den Papierstoß auf ihrem Schreibtisch durch. »Ich habe sie doch… Ach ja, da ist sie.« Sie nahm das Blatt und las vor: »Die Mediziner auf dem Mond haben heute angekündigt, daß der Forscher Raoul Jackson nach einer vierjährigen Quarantäne Symptome einer Hautkrankheit aufweist, welche die normale Pigmentschicht langsam zerstört. Mister Jackson, der vor vier Jahren von einem erdähnlichen Planeten des Systems Spika zurückkehrte, ist der erste Quarantänefall, der nach dem zweiten Jahr irgendwelche unbekannte Symptome zeigt. Die Ursache der Krankheit ist bis jetzt nicht bekannt.« Sie sah von ihrem Blatt auf. »Es könnte sein, daß ihr es damit schafft. Ist es wahr?« Zavacki war wütend. »Ich weiß es nicht, Jen aber ich werde es herausfinden.« Er wollte ausschalten. »Warte!« sagte Jen. »Was sage ich O’Dowd?« »Die Wahrheit. Zeige ihm die Trend-Analyse und sage ihm, daß du den Gegenangriff erst ausarbeiten mußt. Ich rufe dich an, sobald ich etwas Näheres weiß.« Er unterbrach die Verbindung. Bevor er Baedecker anrufen konnte, summte das Solidiphon. Es war Baedecker. »Ich wollte dich eben anrufen«, sagte Zavacki düster. »Ich muß gestehen, daß ich selbst eben erst von der Sache erfahren habe.« Zavacki wollte etwas sagen, aber Baedecker winkte ab.
»Einen Augenblick, Alex. Keine Aufregung, ich werde dir alles erklären. Es ist meine Schuld, daß die Sache mit Raoul in die Presse kam, aber ich wollte dir nicht absichtlich den Teppich unter den Füßen wegziehen.« »Was war los?« »Fleischmann hat den Bericht veröffentlicht. Es war sein gutes Recht. Ich hatte nämlich vergessen, ihm mitzuteilen, daß ab jetzt alle Veröffentlichungen über dich laufen.« Er rutschte unbehaglich in seinem Stuhl hin und her. »Ich bekam eben einen Anruf aus dem Verwaltungssekretariat. Offenbar sind mehrere Delegierte an der Geschichte interessiert.« »Und was hast du ihnen gesagt?« »Nur, daß Fleischmanns Bericht stimmt und daß ich noch nichts Neues wüßte.« Er sah seine dicken Hände an, und sein Blick war irgendwie mitleiderregend. »Ich sagte Dr. Fleischmann, daß ab jetzt alle Veröffentlichungen durch mein Büro gehen müßten. Und ich werde dafür sorgen, daß du sie sofort erhältst.« Er schüttelte den Kopf, und seine Hängebacken zitterten. »Ich bin an solche Dinge nicht gewöhnt. Von Politik verstehe ich nichts.« Zavacki holte tief Atem und zwang sich zu einem kleinen Lächeln. »Nur keine Angst, Deck. Es ist noch kein Schaden angerichtet worden. Ich war lediglich wütend, daß man mir nicht Bescheid gesagt hatte. Ich werde jetzt einmal mit Fleischmann sprechen.« »Gut, gut. Wenn noch irgend etwas ist, rufe ich dich an. Danke, Alex.« * Zavacki starrte die blanke Wand an und fluchte leise, aber ausgiebig. Nicht, weil er wütend war, sondern weil ihn die Sache überrascht hatte. Er hatte seine ganze Selbstbeherrschung gebraucht, um sich nicht anmerken zu lassen, was er plötzlich erkannt hatte. Baedecker hatte Angst. Er wollte Zavacki alles überlassen, weil er wußte, daß er damit nicht fertig wurde. Denn falls eine Untersuchung im Kongreß stattfand, falls Baedecker eine Vorladung bekam, dann mußte er auf die Erde. Und er war seit dreißig Jahren nicht mehr auf der Erde gewesen. Zavacki wischte sich die Hände an den Hosenbeinen ab. Plötzlich hatte er das Gefühl, daß sie klebrig waren. Nach einiger Zeit rief er Fleischmann an. Der Arzt war ein kleiner, drahtiger Mann zwischen vierzig und fünfzig. Er entschuldigte sich sofort für seine Presseveröffentlichung, aber Zavacki
winkte ab. »Alles in Ordnung Doktor, Deck hat es mir bereits erklärt. Es ist weder seine noch Ihre Schuld. Ich möchte folgendes wissen: Wie steht es tatsächlich mit Raoul? Ist er sehr krank?« Fleischmann hüstelte trocken. »Nicht eigentlich krank, das könnte ich nicht sagen. Leichte Kopfschmerzen. Die Haut scheint gerötet zu sein. Der Melaningehalt der Epidermis ist erstaunlich gesunken, aber ich kann keine Spuren von Mikroorganismen über dem Virus-Stadium erkennen. Wir arbeiten noch an der Analyse.« »Komisch, daß ein Virus so lange stilliegen kann und dann plötzlich ausbricht.« »Das ist nichts Außergewöhnliches. Herpes simplex, die einfache Fieberblase, rührt von einem Virus her, das jahrelang im Körper bleiben kann, bis es dann an einer geschwächten Stelle ausbricht.« »Tja.« Zavacki nagte an seiner Unterlippe. »Ist die Krankheit überhaupt gefährlich?« »Ich weiß es nicht«, erwiderte Dr. Fleischmann. »Ehrlich gesagt, ich bezweifle es. Im allgemeinen sind Viren, mit denen der Körper so lange fertig wird, harmlos wie die Fieberblase. Außerdem scheint es sich um eine lokale Sache zu handeln. Im Gesicht, an den Armen und am Oberkörper hat es Raoul erwischt, aber der Rücken und der übrige Körper sind nicht davon befallen.« Zavacki nickte langsam. »Ich verstehe. Nun, wir werden sehen, wie sich die Dinge entwickeln. Ich weiß nicht, ob viel Schaden mit der Veröffentlichung angerichtet wurde, aber das ließ sich nicht vermeiden. Vielen Dank, Doktor.« »Gern geschehen.« Fleischmann schaltete ab. Zavacki lehnte sich in seinem Sessel zurück und blies Rauchwolken in die Luft. Sie schwebten zur Decke und verschwanden in den Auslaßschlitzen der Klimaanlage. Wo stand er eigentlich? Wie sahen die Dinge aus? Verdammt, er wußte es nicht. Wie sollte man einen Kampf gegen einen unbekannten Feind austragen? Besonders, wenn in dem Kampf der unbekannte Feind die beste Waffe war, die man aufzubieten hatte. Was fehlte Raoul? Niemand konnte es genau sagen. Immerhin, bewies es nicht, daß der menschliche Körper mehr als drei Jahre eine fremde Krankheit in sich tragen konnte? Er konnte dem Abgeordneten keinen ethischen Rat erteilen. O’Dowd mußte selbst seine Entscheidung treffen. Er konnte ihm nur eines sagen: »Da es sich gezeigt hat, daß dein Gesetzesvorschlag gefährlich sein kann,
solltest du lieber die Finger davon lassen.« Aber das würde und konnte O’Dowd nicht tun. Also lag der nächste Schachzug bei O’Dowd. * Es vergingen ein paar Tage, bevor der Abgeordnete zuschlug. So lange dauerte es, bis er die nötigen Informationen hatte, aber sobald er sie besaß, brachte er die Lawine ins Rollen. In den Nachrichten hatte man die Sache natürlich gebracht, Raouls Krankheit war eine echte Sensation. Die Sensation steigerte sich noch, als man ein Bild von ihm brachte und betonte, daß die fleckige Haut ein Geburtsfehler war. O’Dowd ließ zwei Tage verstreichen, dann »zwang« ihn ein Reporter zur Stellungnahme. Seine Antworten waren absichtlich ausweichend. Er vermittelte den Eindruck, daß er die QSIFK wirklich nicht irgendwie verdächtigen wollte, aber für die Öffentlichkeit war klar, daß die großen Bosse der QSIFK alles taten, um die Quarantäne und damit die Geldquelle der Regierung aufrechtzuerhalten. Mit anderen Worten das Ganze war ein Schwindel. Jennifers Umfrage-Ergebnisse zeigten deutlich den Umschwung. Leute, die dem Gesetzesvorschlag bis dahin gleichgültig gegenübergestanden hatten, waren plötzlich auf O’Dowds Seite. Man befragte terranische Ärzte, aber ihre Meinung war wie üblich geteilt, und die Öffentlichkeit schenkte ihren Aussagen wenig Beachtung. Einen Tag nach dem Erntedankfest bekam Zavacki einen Anruf von Fleischmann. Der drahtige kleine Mann wirkte besorgt. »Sie sagten, ich sollte anrufen, sobald sich eine Veränderung bei Raoul bemerkbar machte. Wir steckten ihn seit der Untersuchung in seinen Isolierraum. Die Rötung verging, und einen Tag sah seine Haut ganz normal aus. Aber nun wird sie wieder dunkler.« »Dunkler? Weshalb?« »Hm. Wir konnten nichts entdecken, das auch nur entfernte Ähnlichkeit mit einem Virus hatte. Dazu kam, daß nur Gesicht, Brust und Arme befallen waren. Das brachte einen der Jungen auf eine Idee. Sie kennen diesen Wärmeprojektor, an dem Raoul seit vier Jahren arbeitet? Das Kraftfeld, das ihn umgab, schwankte. Wir überprüften die Frequenz und sie stimmt genau. Sie baut das Melamin ab. Durch diesen Abbau wurde die Haut gereizt und löste Kopfschmerzen sowie ein leichtes Fieber aus. Sobald wir
ihn vom Projektor abschirmten, besserte sich sein Zustand. Das Melamin kehrt allmählich wieder zurück.« »Ich verstehe«, sagte Zavacki. »Und ich muß sagen, daß ich etwas Ähnliches befürchtet hatte. Haben Sie schon mit jemand darüber gesprochen?« »Nein. Raoul weiß natürlich Bescheid, ebenso wie meine Assistenten. Aber das ist alles.« »Verraten Sie im Moment noch nichts. Vielleicht können wir es später besser anbringen.« »Gut.« Fleischmann räusperte sich. »Ich sage es nicht gern aber was wir brauchen, ist ein zweiter Vandervere.« »Vandervere?« wiederholte Zavacki. »Sie kennen ihn vermutlich nicht mehr«, sagte Fleischmann. »Vandervere kam von Sargas IV zurück und wurde in Quarantäne gesteckt. Wir führten alle Voruntersuchungen durch RöntgenDurchleuchtung, Blutanalyse und so fort. Wir fanden nichts. Etwa anderthalb Jahre später litt er plötzlich unter Bewegungsstörungen. Er konnte Hände und Füße nicht mehr rühren. Es war uns bald klar, daß mit seinem Gehirn etwas nicht in Ordnung war. Wir durchleuchteten ihn und stellten eine Art Tumor fest. Wir trepanierten. Es war ein Wurm.« »Ein was?« »Ein Wurm«, sagte Fleischmann. »Oder zumindest etwas Wurmähnliches. Wahrscheinlich hatte Vandervere das Ei verschluckt oder inhaliert, die Dinger waren mikroskopisch klein. Es gelangte in den Blutstrom und von dort ins Gehirn. Eine Zeitlang brauchte es zum Wachsen, und dann wurde der Wurm aktiv. Wenn er einen anderen Teil von Vanderveres Gehirn angegriffen hätte, wären Jahre vergangen, bevor wir etwas bemerkt hätten und dann hätten wir mit einer Operation nichts mehr erreicht.« »Wie vermehrte sich der Wurm?« fragte Zavacki. »Durch Eier. Sie gelangten in den Blutstrom und dann in den Kot. Sie blieben eingekapselt, bis sie wieder die richtigen Bedingungen vorfanden. Dann steuerten sie das nächste Gehirn an.« Zavacki konnte sich vorstellen, was so eine Krankheit auf der Erde anrichten würde, und er war plötzlich froh, daß die Abfälle der Quarantänestation durch den Atom-Müll der Atomwerke geleitet wurden. Die Strahlung tötete alle Keime.
»Ich verstehe, was Sie meinen. Wenn der Wurm nach drei Jahren aufgetaucht wäre, hätten wir einen Fall daraus machen können. Die meisten Leute wären entsetzt von dem Gedanken, daß ihr Gehirn wie ein Apfel von einem Wurm zerfressen werden konnte.« »Leider nützt uns die Sache nichts.« Fleischmann räusperte sich. »Ich hatte einen Gedanken«, sagte er leise. »Vielleicht ist er nicht ethisch, aber wir müssen schließlich etwas unternehmen. Medizinische Dinge wie Quarantänezeiten dürfen einfach nicht von Politikern festgesetzt werden.« »Und was schlagen Sie vor, Doktor?« »Nun, angenommen, einer der Männer wäre tatsächlich krank. Nicht so, daß er Schmerzen hat, aber doch so, daß die anderen überzeugt von seinem Leiden wären.« »Sie würden ihm selbst etwas einimpfen?« »So ähnlich.« Zavacki dachte darüber nach, doch dann schüttelte er den Kopf. »Das geht nicht. Es wäre eine terranische Krankheit. Denn wir müssen sie heilen können, sonst würden wir es niemals wagen, sie jemandem einzuimpfen. Und wenn sie geheilt werden kann, ist sie ungefährlich. Nein, Doktor, es muß etwas sein, das den Leuten richtige Angst einjagt.« »Ich hätte noch einen Einwand«, meinte Fleischmann. »Was ist, wenn ich nun tatsächlich bei einem der Männer eine Krankheit entdecke? Das gäbe ein fürchterliches Durcheinander.« »Ja. Sie haben recht. Damit kommen wir nicht weiter.« Fleischmanns Schultern schienen einzufallen. »Dann haben wir also kaum noch eine Chance, oder?« »Ich weiß nicht«, sagte Zavacki langsam. »Ich glaube, Sie haben mir eine Idee vermittelt. Aber ich muß noch alles ganz genau durchdenken.« Fleischmann nickte und verabschiedete sich. Zavacki saß da und brütete. Weshalb gebe ich nicht einfach auf? Gegen die Politiker bin ich machtlos. Wie bin ich überhaupt auf den Gedanken gekommen, daß ich mit so einem großen Unternehmen fertig werden könnte? Etwas flüsterte ihm zu: Gib auf! In ein paar Monaten bist du wieder auf der Erde bei Jen. Sie wird nicht einmal merken, daß du aufgegeben hast. Er hob den, Kopf und sah direkt in die Haselnußaugen Jens. Nein, sagte er zu dem Bild, du merkst es vielleicht nicht, aber ich weiß es. Er stand auf, ging in sein Schlafzimmer und starrte in den Spiegel. »Zavacki«, sagte er zu seinem Gegenüber, »in dir schmort etwas. Was ist
es?« Und als keine Antwort kam, fuhr er fort: »Also gut. Denke darüber nach. Arbeite daran. Denke, Mann, DENKE!« »Nacht« und »Tag« sind auf dem Mond relative Begriffe. Die Sonne geht einmal pro Monat auf und unter. Zwei Wochen Tageslicht, zwei Wochen Dunkelheit. Ein Mensch kann auf dem Mond nicht nach dem Rhythmus der Sonne leben. Wenn man die Erde beobachtet, ergeht es einem nicht viel besser. Die Erde bleibt praktisch stets am gleichen Fleck, und wenn sie klar sichtbar ist, herrscht strahlender Tag. So kümmert sich der Mensch nicht weiter um die Gestirne und lebt nach dem Uhrenrhythmus. Nach altmodischen Greenwich-Uhren, die in vierundzwanzig Stunden eingeteilt sind. Auf dem Mond gibt es keine Zeitzonen. Weshalb auch? Was hätte es für einen Sinn? Wenn es in Greenwich Mitternacht ist, so ist auch auf dem Mond Mitternacht überall auf dem Mond. Als Alex in jener Nacht um zwölf Uhr aufwachte, war es zufällig dunkel. Die Sonne befand sich nämlich seit zwei Tagen unter dem Horizont. Er setzte sich auf. Irgend etwas hatte ihn aus dem Schlaf gerissen. Er hatte noch keine Ahnung, was es war, aber er wußte, daß es etwas Ungewöhnliches sein mußte. Er schaltete das Licht ein und durchsuchte seine Wohnung. Alles schien in Ordnung zu sein. Was war es dann gewesen? Er fühlte sich unbehaglich, ohne recht zu wissen, weshalb. Dann ging er ans Fenster und sah hinaus. Anfangs fiel ihm nichts auf. Das Gebiet war von hellen Lichtern durchsetzt. Hoch über ihnen hing die immer gegenwärtige Erde, eingefaßt von funkelnden Sternen. Und dann sah er die Bewegung auf der anderen Seite des Gebäudes. Männer in Raumanzügen kamen durch eine Luftschleuse und eilten auf ein hell erleuchtetes Fenster zu. Und dann erkannte er, daß das Fenster zerbrochen war! Irgend etwas hatte das Fenster zerstört! eine mehr als zwei Zentimeter starke Scheibe aus verschweißtem Transit. Die Leute in den Raumanzügen liefen zu dem Fenster, aus dem immer noch kleine Dampfwolken kamen. Zavacki hatte nicht gewußt, daß da drüben jemand wohnte. Das Fenster war seit seinem Einzug in die Quarantäne polarisiert gewesen. Ihm fiel ein, daß er keine Ahnung hatte, wo die anderen Männer der Station lebten. Wozu auch? Er konnte sie nicht besuchen, und per Solidiphon waren sie jederzeit zu erreichen.
Er lief ans Solidiphon und versuchte Baedecker zu erreichen. Er hatte kein Glück. Entweder war Baedecker nicht daheim, oder sein Solidiphon funktionierte nicht. Zavacki ging zurück ans Fenster. Das Loch in dem fremden Fenster war groß die Atmosphäre mußte sofort entwichen sein. Und den Splittern nach zu schließen, die ins Freie trieben, war auch die Einrichtung ein Trümmerhaufen. Ein Mondjeep fuhr heran, gefolgt von einem zweiten. Die Männer wimmelten so um die Unglücksstelle, daß Zavacki nichts Genaues erkennen konnte. Einige der Leute räumten die Trümmer aus dem Weg. Zwei holten einen schweren Gegenstand aus dem Fenster und verluden ihn in den vorderen Jeep. Zavacki hatte das Gefühl, daß es sich um einen Menschen handelte, aber er war nicht sicher. Er hatte sich noch nie im Leben so hilflos gefühlt. Er war eingesperrt. Es gab keinen Weg ins Freie. Und sein Solidiphon funktionierte nicht. Ping! Er wirbelte herum und rannte an den Schreibtisch. Es war Baedecker. »Raoul Jackson«, sagte er dumpf, als Zavacki aufgeregt zu dem erleuchteten Fenster deutete. »Ich habe den Bericht eben erhalten. Offensichtlich tötete er sich mit seiner selbstkonstruierten Waffe. Er sah direkt in die Mündung und sein Kopf ist verkohlt. Die Energie des Strahlers genügte, um das Fenster zu schmelzen. Mehr weiß ich im Moment selbst noch nicht.« Zavacki schüttelte sich vor Übelkeit. Er hatte Raoul nicht gut gekannt, aber diesen Tod wünschte er keinem Menschen. »Selbstmord oder Unfall?« fragte er. »Das steht noch nicht fest.« Baedecker breitete die Hände aus. »Sie bringen seinen Leichnam in den Operationssaal der Isolierstation. Durch das Entweichen der Atmosphäre ließ sich die Tür nicht öffnen, und die Männer mußten über das Fenster in den Raum eindringen.« Etwas summte in Baedeckers Zimmer, und er winkte müde ab. »Die nächsten Anrufer. Ich melde mich später wieder bei dir.« Zavacki ging in die Küche und kochte sich Kaffee. Selbstmord oder Unfall? Zavacki wußte, daß es Selbstmord war. Er saß in der Küche, schlürfte den schwarzen Kaffee und versuchte den Vorfall einzuordnen. Weshalb würde sich Raoul umbringen? Es war ganz klar. Raoul hatte sich wegen seines Aussehens gehaßt. Dann hatte er für kurze Zeit das Gefühl genossen, ein normaler Mensch zu sein. Als er erkennen mußte,
daß die Haut nicht hell bleiben würde, hatte er den schnellsten Ausweg gewählt. Was würde nun geschehen? Welches Echo würde sein Tod auslösen? Als Zavacki endlich eine Lösung vor sich sah, hatte er eine Kanne Kaffee leergetrunken und kochte sich die nächste. Erst dann handelte er. Zuerst rief er Jack Wessier an. Dann Dr. Fleischmann. Und zuletzt führte er ein langes Gespräch mit Jen. Es war in New Orleans acht Uhr abends, als Jennifer Sterling den Anruf bekam. Sie hatte ihr Haar eben zu einem Pferdeschwanz hochgebunden, als das Summen ertönte. Sie zog einen Morgenmantel über und ging ans Solidiphon. Alex begann sofort zu sprechen. »Jen! Du siehst wunderbar aus! Hör mal, ich glaube, ich habe die Lösung. Wenn ich es so nicht schaffe, wird es mir nie gelingen, denn dann wird es zu spät sein.« »Langsam, Alex. Wovon sprichst du eigentlich?« Er erzählte ihr, was mit Raoul geschehen war. »Das ist entsetzlich. Kein Wunder, daß er sich für Forschungsreisen entschloß.« Sie preßte die Hand an die Stirn. »Ja, aber das ist noch nicht alles. Ich habe erfahren, daß unser Freund O’Dowd ihn zu einer Untersuchung des Raumforschungs-Subkomitees vorgeladen hat. Das war der Anstoß, der noch gefehlt hatte. O’Dowd unterschätzte Raouls Krankheit, das steht fest. Jetzt, da der Junge tot ist, gibt es eine Untersuchung, darauf kannst du deinen weißen Pelzhut wetten. Man wird sogar von Mord flüstern. Wenn das Ganze ein Betrug war, wie unsere Gegner argumentieren, dann mußten wir ihn umbringen. Hör mir jetzt gut zu. Hier in der Quarantänestation ist ein Mann, der Raoul Jackson besser als wir anderen kannte. Er hat auch gute Gründe, um auf die Erde zurückzukehren. Ich nenne dir seinen Namen nicht, denn je weniger du weißt, desto besser ist es. O’Dowd wird den Informationen, die er sich selbst beschaffen muß, am meisten glauben. Schlage ihm vor, daß er Jacksons Freund ausfindig macht und ihn verhören läßt. Hast du das verstanden?« »Ja, aber…« »Schön. Ich rufe später wieder an.« Und er war fort. Jen saß einen Moment lang da, immer noch ein wenig schwindlig von dem hastigen Anruf Dann zuckte sie mit den Schultern und zog sich wieder an.
* Wieder schlug O’Dowd zu diesmal härter. Es dauerte nicht länger als eine Woche, bis er herausgefunden hatte, daß Jack Wessier Raouls Freund gewesen war soweit man überhaupt von einem. Freund sprechen konnte. Um diese Zeit war die Kongreß-Untersuchung bereits in vollem Gange. Raoul Jacksons Tod hatte auch die Gleichgültigsten hochgerissen. Noch war niemand vorgeladen worden, aber die Welt-Untersuchungsbehörde schickte einen Stab von Ermittlungsbeamten auf die MondQuarantänestation. Während O’Dowd alle Privathebel in Bewegung setzte, gelang es Zavacki, von Baedecker ein paar Neuigkeiten zu erfahren. »Allem Anschein nach steckt die Interplanetarische Konstruktionsgesellschaft Nordamerikas hinter O’Dowd. Also, die Hersteller unserer Raumschiffe! Die Bosse der Gesellschaft möchten den interstellaren Raum ebenso rasch der Öffentlichkeit zugänglich machen wie Venus und Mars. Wenn während der nächsten Jahre viele neue Kolonien eröffnet werden, machen sie ein Bombengeschäft durch den Bau neuer Schiffe. Sie wollen endlich von der Einzelanfertigung zur Massenproduktion übergehen.« »Stichhaltige Argumente«, meinte Zavacki. »Wenn es ihnen gelingt, diese Gesetzesänderung durchzubringen, haben sie in den nächsten zehn Jahren keine Finanzsorgen mehr.« »Richtig. Keine Firma außer ihnen ist in der Lage, diese großen Schiffe zu bauen. Kein Wunder, denn es wird höchstens alle sieben Jahre eines fertiggestellt.« Baedecker redete ununterbrochen. Er versuchte seine Furcht zu übertönen. Zavacki konnte es in jeder seiner Fingerbewegungen erkennen. »Übrigens«, fuhr er fort, »O’Dowds Sekretär hat vor einer Stunde wieder angerufen und sich beschwert, daß Jack Wessiers Solidiphon immer noch außer Betrieb sei. Ich erzählte ihm genau das, was du mir aufgetragen hattest. Er nahm mir die technischen Schwierigkeiten nicht ab, sondern bezichtigte mich geradewegs der Lüge.« Er lachte, aber man sah, daß ihm nicht danach zumute war., »Gut. Halte durch, Deck. Ich will, daß O’Dowd Jack öffentlich vorlädt.« »Was ist, wenn sie mich vorladen?« Seine Stimme klang erstickt. Wenn Wessier vor den Kongreß befohlen wurde, galt für ihn immer noch das Gesetz, das geändert werden sollte: Er konnte Luna nicht verlassen.
Baedecker besaß keinen solchen Schutz. Er mußte persönlich erscheinen. Und das hieß, daß er auf die Erde zurück mußte. »Wenn sie Jack nicht vorladen, laden sie dich auch nicht vor«, erklärte ihm Zavacki. »Sie sind nicht an dir, sondern an ihm interessiert. Und Dr. Fleischmann kann dich krankschreiben, bis Jack seine Aussage gemacht hat. Danach wird man dich nicht mehr brauchen.« Baedecker entspannte sich ein wenig. »Hoffentlich hast du recht, Alex.« Er machte eine Pause. »Ich glaube, das war alles.« »Wenn du etwas Neues erfährst, rufe mich gleich an.« »Natürlich. Bis später.« Männer wie O’Dowd, dachte Zavacki, würden Männer wie Baedecker, Jackson oder auch Zavacki niemals verstehen. Helden? Gewiß. Doch die meisten Menschen machten sich von einem Helden einen falschen Begriff. Eine Arbeit muß getan werden ein Mann sieht ein, weshalb sie getan werden muß, und er verrichtet sie, so gut er kann. Er ist ein Held, wenn es sich um eine gefährliche Arbeit handelt. Und wenn ihm die Arbeit nun gefällt? Wenn sie ihm einen Nervenkitzel verschafft? Nun, dann ist er ein Schwadroneur. Ein bewunderter Mann. Ein echter Held. Ein Mann, der lächelnd der Gefahr entgegengeht. Ein Idiot. Einige von dieser Sorte waren Forscher geworden. Und ihre Schiffe waren leer zurückgekommen. Ein Mann, der die Gefahr liebt, ein Mann ohne Vorsicht, stirbt schnell, da er seine Grenzen nicht kennt und niemals weiß, wann er aufhören muß. Nicht alle von ihnen waren getötet worden. Einige waren zurückgekommen. Aber die wenigsten konnten die Einsamkeit der Quarantäne ertragen. Ein Mann, dem die Gefahr Freude bereitet, wird mit der Geborgenheit und Sicherheit einer Quarantänestation nicht fertig. Die Leute verloren den Verstand oder versuchten zu fliehen. Und ein Fluchtversuch von der Quarantänestation wurde mit dem Tode bestraft. Es mußte so sein. Nein, ein guter Forscher, einer von denen, die immer wieder hinausfuhren, war ein Mann, der die Einsamkeit liebte. Er war gewillt, seinen Hals zu riskieren, wenn man ihn nur in Ruhe ließ. Natürlich gab es Ausnahmen. Zavacki hatte seine Sprachstudien; Wessier hatte sein ehrgeiziges Kolonisierungsprojekt. Doch sie waren Einzelgänger. Sie riskierten auch ihr Leben aber nur ein einziges Mal. Wenn sie dann heil zurückkamen und die Quarantänezeit überstanden hatten, wartete ein normales Leben auf sie.
Die Erforschung eines fremden Planeten war ein harter Job. Wenn jemand dabei umkam, wurde ein neuer Mann hinausgeschickt. Einen der Mizar-Planeten hatte man Hölle genannt, weil zehn Männer auf ihm geblieben waren. Und doch, Nummer Elf bereitete sich auf die Reise vor. Die Arbeit mußte getan werden, und es fanden sich Männer, die sie taten wenn es auch wenige waren. Ein O’Dowd konnte das nicht verstehen. Er konnte es im Grunde ebensowenig verstehen, wie ein Raoul Jackson verstehen konnte, daß jemand in der Öffentlichkeit eine Rede hielt. Raouls mangelndes Verständnis war letzten Endes sein Tod gewesen. Auch O’Dowd wollte nicht verstehen, und daran mußte er einmal scheitern. Mangelndes Mitgefühl kann bei einem Kampf manchmal nützlich sein. Aber mangelndes Verständnis führt meist zur Katastrophe. Und O’Dowd würde niemals verstehen, daß die meisten Forscher nichts gegen die fünfjährige Quarantäne hatten. * O’Dowds Subkomitee lud schließlich Jack Wessier vor. Man hatte noch einige andere vorgeladen, doch das war nichts als Tarnung. Wessier war der Mann, auf den sich O’Dowd konzentrierte. Baedecker hatte es diesmal nicht erwischt, doch er mußte immer noch bangen. Zuerst befragte man die Leute von der Weltuntersuchungsbehörde. Das Verhör wurde nicht öffentlich abgehalten, aber es waren Reporter zugegen, und Zavacki las die Nachrichten, sobald sie hereinkamen. Es stand fest, daß zur Zeit von Jacksons Tod niemand außer ihm in der Wohnung gewesen sein konnte. Es stand fest, daß Raoul seit vier Jahren an dem Hitzestrahler gearbeitet hatte. Die Leute von der Untersuchungsbehörde hatten die Waffe getestet und eindeutig als Todeswaffe identifiziert. Sie war lange nicht so wirksam, wie Raoul sie sich gewünscht hatte, aber sie reichte aus, um einen Menschen zu töten. Der medizinische Bericht war in allen Einzelheiten verlesen worden. Der Strahl hatte Raoul Jacksons Kopf vollständig zerstört. Die Brandwunden am Hals waren so schwer gewesen, daß es zu kleinen Blutungen gekommen war. Man hatte den Toten eindeutig anhand von Fingerabdrücken identifiziert. War der Tod auf einen Unfall oder auf Selbstmord zurückzuführen? Dafür gab es keinen endgültigen Beweis.
Man besprach Raouls Hautanomalie sehr gründlich, aber es kam nichts Entscheidendes dabei heraus. Erst in der zweiten Woche des Verhörs hatte man Jack Wessiers Solidiphon so verändert, daß man ihn vernehmen konnte. Zavacki hatte ein paar Kabel so verlegen lassen, daß er die Szene beobachten konnte, ohne selbst gesehen zu werden. Mister John Abel Wessier, Forscher der Interstellaren Forschungs – und Kolonisierungsgemeinschaft, wurde in den Zeugenstand gerufen. Er wies sich aus und legte den Schwur ab. Nach ein paar nebensächlichen Fragen von anderen Mitgliedern des Subkomitees (O’Dowd hatte es gern, wenn andere die Kugel ins Rollen brachten), fragte der Abgeordnete O’Dowd: »Mister Wessier, soviel ich weiß, kannten Sie den Verstorbenen. Ist das richtig?« »Ja, Herr Abgeordneter. Ich stand ihm nahe, wenn man das bei seiner Art so nennen kann.« »Ich verstehe.« O’Dowd lehnte sich bequem zurück. »Gibt es Ihrer Meinung nach einen Grund, aus dem sich Mister Jackson das Leben hätte nehmen können?« Jack runzelte die Stirn. »Hm, schwer zu sagen. Sehen Sie, ich sage hier unter Eid aus, aber ich kann Ihnen nur meinen persönlichen Eindruck schildern und wenn ich mich täuschen sollte…« Abgeordneter Vegler, ein hagerer, grauhaariger Mann mit dem Aussehen eines Anwalts, meldete sich zu Wort. »Bitte, Mister Wessier, Sie sind hier nicht vor einem Gericht. Wir wollen kein Urteil aussprechen, sondern uns nur klar darüber werden, ob eine Gesetzesänderung in diesem besonderen Fall nötig ist. Sie können also frei Ihre persönliche Meinung äußern.« Wessier nickte. »Also gut. Meiner Meinung nach hat er den Tod seiner unheilbaren Krankheit vorgezogen.« Einen Moment lang schwiegen die Abgeordneten, und von den Reportern war ein schwaches Murmeln zu hören. Dann beugte sich O’Dowd vor und sagte: »Es steht noch nicht fest, daß der Verstorbene krank war.« »Ich weiß«, sagte Wessier. »Zumindest wurde die Krankheitsursache noch nicht entdeckt.« (Wessier log nicht, denn man hatte ihm nichts von dem oszillierenden Kraftfeld gesagt.) »Aber er verriet mir, daß er starke Schmerzen hatte.«
»Halten Sie es für normal, daß sich ein Mensch aus Furcht vor einer unbekannten, vielleicht nichtexistenten Krankheit tötet?« fragte einer der Delegierten. »Ich weiß nicht«, meinte Wessier. »Ich würde es nicht tun aber meine Krankheit ist auch nicht schmerzhaft.« »Ihre was?« O’Dowds Stimme klang scharf. »Was Sie eben sagten: meine unbekannte, vielleicht nichtexistente Krankheit.« »Sie sehen eigentlich recht gesund aus, Mister Wessier.« »Ich fühle mich auch völlig in Ordnung.« O’Dowd runzelte die Stirn und kramte in seinen Papieren, während Vegler fragte: »Worin besteht Ihre Krankheit, Mister Wessier?« »Sie hat bisher noch keinen Namen.« O’Dowd hatte das Papier gefunden, das er suchte. »Mister Wessier, das Ganze ist doch ziemlich lächerlich. Soviel ich weiß, teilt Ihre Gattin die Quarantäne mit Ihnen und obendrein leben Ihre drei Töchter bei Ihnen. Fühlt sich Ihre Familie auch krank?« »Nein, ganz im Gegenteil. Wenn die Ärzte recht behalten, werden sie die Krankheit nicht bekommen.« O’Dowd rümpfte die Nase. »Ich finde es merkwürdig, daß eine nichtübertragbare Krankheit, die obendrein keine Schmerzen verursacht, überhaupt als Krankheit bezeichnet werden kann. Was sagen denn die Mediziner zu dieser furchtbaren Krankheit?« »Ich bin kein Arzt, Herr Abgeordneter, und deshalb verstehe ich die Zusammenhänge nicht so genau. Aber soviel ich weiß, ist sie nur auf Männer übertragbar, und sie bewirkt, daß kein männlicher Nachwuchs mehr gezeugt werden kann. Wie Sie wissen, habe ich nur Mädchen.« »Noch einmal«, mischte sich ein anderer Abgeordneter ein. »Sie sagen also, daß diese Krankheit bei den Betroffenen männliche Nachkommen ausschließen würde?« »Genau so ist es, Sir.« Es entstand eine leise Diskussion am Tisch der Abgeordneten. O’Dowd sah Wessier ausdruckslos an, bevor er Vegler eindringlich etwas zuflüsterte. Es war tatsächlich geschehen. Sie hatten sich einwickeln lassen. Und sie mußten jetzt mit der Untersuchung weitermachen. Die Reporter würden sie dazu zwingen. Schließlich sagte O’Dowd: »Angesichts der Tatsache, daß es sich um eine rein medizinische Frage handelt, müssen wir die Sitzung bis auf
morgen verschieben, um dann die Lage mit Experten zu besprechen.« Er sagte es nicht gerne. Er wußte, daß er blind nach vorwärts ging. Aber er konnte nichts anderes tun. Innerhalb von wenigen Minuten war das Ziel der Untersuchung vergessen gewesen. Der Tod von Raoul Jackson hatte keine Bedeutung mehr. Alex Zavacki nahm noch einen Schluck schwarzen Kaffee. Seine Anspannung hatte nicht nachgelassen. Schließlich war die Sache noch nicht zu Ende. Die Nachrichten brachten die Neuigkeit ganz groß. Schlagzeilen in allen offiziellen Sprachen der Erde jagten um den Globus. Die Leute lasen von der »mysteriösen extraterrestrischen Krankheit« und begannen sich Sorgen zu machen. Was würden die Ärzte dazu sagen? Dr. Fleischmann wurde gebeten, auf die Erde zu kommen. Er nahm die nächste Fähre, ohne erst die offizielle Vorladung abzuwarten. Ein dickes Bündel Papiere begleitete ihn. Das Subkomitee zog Dr. Nathan Preston, den Leiter des Weltgesundheitsdienstes, und seinen Assistenten, Dr. Krishna Chang, zu den Verhandlungen hinzu. Es lag eine gewisse Anspannung in den Gesichtern, als Jack Wessier am Solidiphon erschien. Der erste Zeuge war Dr. Preston. Er war ein untersetzter, muskulöser Mann mit grauschimmerndem Haar und einem klugen, entschlossenen Gesicht. Nach den Einleitungen sagte O’Dowd: »Dr. Preston, soviel ich weiß, haben Sie und Dr. Chang von Dr. Fleischmann Dokumente erhalten und gelesen.« »Das ist richtig, Herr Abgeordneter.« »Und was beinhalten diese Dokumente?« O’Dowds Stimme war deutlich nervös, wenn auch seine Miene so ruhig wie immer wirkte. »Sie behandeln eine medizinische Theorie, welche die sogenannte unbekannte Krankheit von Mister John Wessier zu erklären versucht. Doch bevor ich diese Theorie vortrage, würde ich gern selbst Dr. Fleischmann einige Fragen stellen.« Fleischmann trat in den Zeugenstand. Man konnte sehen, daß sich O’Dowd etwas entspannt hatte. »Bitte, fangen Sie an, Dr. Preston«, sagte O’Dowd. »Dr. Fleischmann«, begann Preston, »wenn ich Sie richtig verstanden habe, sind Sie der Auffassung, daß die Krankheit durch ein Virus
verursacht werden könnte, welches Ähnlichkeit mit dem Y-Chromosom des Mannes hat. Könnten Sie das dem Komitee genauer erklären?« Fleischmann hüstelte trocken. »Ja. Das Geschlecht eines Kindes wird durch zwei Chromosomen bestimmt, die Erbeinheiten, die den Zellkern bilden. Man nennt sie X - und Y-Chromosomen. Das X ist rezessiv, während das Y dominant bleibt. Bei einer Kombination von zwei X-Chromosomen entsteht ein Mädchen, bei der X-Y-Kombination ein Junge.« »Und was geschieht bei einer Y-Y-Kombination?« wollte einer der Delegierten wissen. Fleischmann sah ihn entsetzt an. »Unmöglich. Wenn sich die Geschlechtszellen in den Fortpflanzungsorganen spalten, werden die Chromosomen geteilt. Ein weibliches Ei kann nur X-Chromosomen enthalten, während die männlichen Samenzellen ein X oder ein Y besitzen. Verbindet sich nun das Y mit einem Ei, so entsteht ein Junge, während das X bei der Vereinigung mit dem Ei zu einem Mädchen führt. Da die Eier keine Y-Chromosomen enthalten, ist die Y-Y-Kombination unmöglich.« »Ach so.« Der Abgeordnete war ein wenig verlegen. »Um nun die Virus-Theorie zu erklären, muß ich ein wenig weiter ausholen«, fuhr Fleischmann fort. »Es ist seit hundertfünfzig Jahren bekannt, daß man einen Organismus am leichtesten abtötet, wenn man ihn irreführt. Einige unserer ältesten Medikamente wie die Sulfonamide haben genau diese Wirkung. Die Moleküle dieser Mittel haben eine ähnliche Struktur wie gewisse Chemikalien, welche die Bakterien brauchen. Die Ähnlichkeit verführt die Bakterien dazu, das Medikament anstelle des eigentlichen chemischen Stoffes anzunehmen. Und das hat zur Folge, daß die Bakterien abgetötet werden oder sich nicht weitervermehren können.« »Mit anderen Worten«, fügte Dr. Preston hinzu, »einige der Medikamente nehmen den Bakterien die Fortpflanzungsmöglichkeiten.« »Ganz richtig.« Preston wandte sich an die Abgeordneten. »Ich darf betonen, meine Herren, daß sich dieser Vorgang tatsächlich beweisen läßt. Und die moderne Anwendung dieses Prinzips liegt einigen unserer besten chemotherapeutischen Prozessen zugrunde.« Er sah Fleischmann an. »Fahren Sie bitte fort, Doktor.« »Was ist nun ein Virus? Ein komplexer chemischer Stoff, ein Protein, das in vieler Hinsicht Ähnlichkeit mit gewissen Proteinsubstanzen in den Zellen des Wirtskörpers hat. Wir nehmen nun an, daß dieses Virus - wir
nennen es Virus Y eine strukturmäßige Ähnlichkeit mit dem YChromosomen der männlichen Samenzelle hat. Es ist in der Lage, den Platz des Y-Chromosoms im Spermium einzunehmen und somit eine Befruchtung des weiblichen Eies zu verhindern. Auf das X-Chromosom hat es keinerlei Einfluß, deshalb kann eine Frau das Virus weder bekommen noch übertragen. Es handelt sich also auf keinen Fall um eine Geschlechtskrankheit.« Einen Moment lang betrachtete er seine Fingernägel, dann sah er wieder die Abgeordneten an. »Wenn ein Mann diese Krankheit hat, ist er nicht in der Lage, männlichen Nachwuchs zu zeugen.« »Konnten Sie das Virus bereits isolieren, Dr. Fleischmann?« fragte Vegler. »Nein. Selbst bei modernen Techniken ist es unmöglich, ein Virus nachzuweisen, wenn man keine geeigneten Versuchstiere hat, um die Reaktion zu prüfen.« Preston sah ihn mit einem schwachen Lächeln an. »Würden Sie das dem Komitee bitte genauer erklären?« »Niemand wird sich freiwillig melden«, sagte Fleischmann hart. »Denn die Versuche können nur an einem Mann vorgenommen werden.« O’Dowd hatte finster an seinem Schreibtisch gesessen und rieb sich über das Kinn. »Einen Moment«, sagte er nun. »Sie haben eine Theorie, die vielleicht die Erklärung für eine Krankheit darstellt - für eine Krankheit, die nicht einmal unbedingt existieren muß. Das einzige Symptom ist bisher die Tatsache, daß Mister Wessier nur Mädchen hat.« »Das ist eine Auswirkung, aber kein Symptom«, sagte Fleischmann. »Aber ich verstehe, was Sie meinen. Ja, Sie haben vollkommen recht. Wir können keine Beweise vorzeigen.« O’Dowd knurrte und wandte sich Dr. Preston zu. »Verstehen Sie diesen Fall?« Preston zögerte einen Moment und nickte dann langsam. »Ja. Ich möchte keine direkte Aussage über den Gesundheitszustand des Mannes machen, solange ich ihn nicht gründlich untersucht habe, aber ich finde, daß Dr. Fleischmanns Theorie zumindest auf den richtigen Weg weist.« »Ich schließe mich Dr. Prestons Meinung an«, unterbrach Dr. Chang. O’Dowd war rot angelaufen. »Aber Tausende von Männern hatten nur Töchter oder nur Söhne oder überhaupt keine Kinder. Aber kein Mensch hätte daran gedacht, ihnen deshalb eine geheimnisvolle Krankheit zuzuschreiben.«
»Das stimmt«, entgegnete Fleischmann. »Aber diese Männer waren auch nicht auf einem fremden Planeten. Sagen Sie, Herr Abgeordneter, würden Sie es wagen, diesen Mann frei in der Gesellschaft herumgehen zu lassen?« Er deutete mit spitzem Finger auf Jack Wessier. O’Dowd sah unwillkürlich auf den Bildschirm. Er sagte nichts, aber die Antwort stand deutlich in seinem Gesicht. * Es vergingen vierundzwanzig Stunden, bevor Jennifer Zavacki anrief. »Die Ergebnisse kommen jetzt herein«, sagte sie. »Es kann kein Zweifel mehr bestehen. Mehr als fünfundachtzig Prozent der Bevölkerung wenden sich heftig gegen den Änderungsvorschlag von O’Dowd.« Alex Zavacki wirkte hohlwangig, aber er brachte ein Lächeln zustande. »Ja«, sagte er, »wir haben sie an einer empfindlichen Stelle getroffen. Einem Einzelmenschen würde die Krankheit kaum etwas ausmachen. Aber wenn sie sich ausbreitet, muß die Menschheit in einem Jahrhundert untergehen. Außer ihr Mädchen entwickelt so etwas wie Parthenogenese.« Jennifer schnitt eine Grimasse. »Das verhüte der Himmel. Aber ganz im Ernst, ich finde die Krankheit von Mister Wessier schrecklich!« Zavacki lachte schallend. »Was! Du bist auch darauf hereingefallen?« »Alex! Was soll das heißen?« »Liebling, diese Theorie weist Riesenlöcher auf. Wie sollte sich beispielsweise so ein Virus entwickeln? Wenn der einzig mögliche Wirt der terranische Mann ist, dann kann doch das Virus nicht auf einer Welt entstanden sein, wo es keine Menschen gibt.« »Und du willst behaupten, daß keiner der Ärzte das gemerkt hat?« Zavackis Lächeln wurde hart. »O’Dowd ist ein Mann, der weder Ethik noch Ehrlichkeit kennt. Und aus diesem Grund bringt er die beiden Begriffe durcheinander. Er dachte sich, daß wir ihm irgendeinen Streich spielen würden. Er nahm sogar an, daß Dr. Fleischmann mit einer raffinierten Theorie aufwarten würde. Deshalb ließ er die besten Ärzte der Welt kommen und die Theorie überprüfen. Siehst du, Liebling, er nahm an, daß Preston und Chang ehrlich sein würden, weil sie ethisch denken, und er wußte, daß sie klug genug waren, um Fehler in Fleischmanns Theorie zu erkennen.« »In deiner Theorie, meinst du wohl?« »Zum Teil. Ich hatte den Einfall zuerst, aber Fleischmann und seine Assistenten arbeiteten ihn aus.
Jedenfalls beging O’Dowd einen Fehler, als er annahm, Preston würde ihn unterstützen. Preston und Chang wissen, worum es geht. Sie wissen, daß O’Dowds Gesetzesvorschlag gefährlich ist oder war. O’Dowd ging in die Falle. Ein schlechter Mediziner hätte sich von Fleischmanns Theorie täuschen lassen. Und jeder gute Mediziner war sich im klaren darüber, daß er das Spiel mitmachen mußte. Es gibt eine höhere Ethik als die direkte Wahrheit. Es gibt die Wahrheit auf lange Sicht. Mit ihr haben wir gearbeitet.« »Aber wenn O’Dowd und die Interplanetarische Konstruktionsgesellschaft mit unethischen Mitteln arbeiten, werden sie es dann nicht noch einmal versuchen auf irgendeine Weise?« »Schon möglich. Aber nicht in der nahen Zukunft. Und in zehn Jahren sind mindestens drei Planeten für die Kolonisierung bereit. Damit dürften alle Teile befriedigt sein. Allerdings sollten wir dafür sorgen, daß sich noch andere Firmen außer der Konstruktionsgesellschaft am Bau der Raumschiffe beteiligen.« Jennifer sah ihn lange an und sagte: »Du bist großartig. Hast du das gewußt?« Alex lachte. »Du auch. Was wünschst du dir zu Weihnachten?« »Weihnachten? Du liebe Güte, ich habe gar nicht gemerkt …« »Es hat uns alle überrumpelt, was?« »Tja. Das wird wohl ein schönes Weihnachtsfest.« Er nickte. »Sogar Baedecker wird glücklich sein.« »Aber was wird aus den Wessiers? Sie können jetzt nicht auf die Erde zurückkehren nicht einmal, wenn die fünf Jahre um sind.« »Das wollten sie auch nicht. Sie wollen auf eine Kolonie hinaus. Jack ist nun mal so. Ich kann ihn nicht verstehen, aber schließlich habe ich dich auf der Erde.« Sie unterhielten sich noch eine Zeitlang, aber keiner von ihnen konnte die Anspannung ertragen. Als sie die Verbindung abgebrochen hatten, vergrub Jennifer Sterling das Gesicht in den Händen und weinte. Eine Viertelmillion Meilen entfernt saß Alex Zavacki an seinem Schreibtisch und tat das gleiche.
Die geheimnisvolle Stadt
»Mendez?« fragte der junge Mann mit der blaugrün gemusterten Schottenjacke. »Ja, gewiß habe ich davon schon gehört. Weshalb?« Der Mann hinter dem Schreibtisch warf einen Blick auf den Informationsschirm. »Das ist das Reiseziel, das wir für Professor Duckworth eingetragen haben, Mister Turnbull. Die Information ist ein halbes Jahr alt.« Er sah vom Schirm auf und wartete, ob Turnbull noch weitere Fragen hatte. Turnbull betrachtete einen Moment lang seinen Daumennagel und zuckte dann leicht mit den Schultern. »Hat er irgendeine Adresse hinterlassen?« »Jawohl, Sir. Hotel Byron, Landing City, Mendez.«, Turnbull nickte. »Und was kostet die Reise nach Mendez?« Der Angestellte drückte auf einen Knopf, und die Informationen änderten sich. »Siebenhundertfünfundachtzig fünfzig, Sir«, sagte er. »Soll ich Ihnen das Ticket ausstellen?« Turnbull zögerte. »Wie verläuft die Route?« Wieder löschte der Mann die Informationen, und eine neue Liste erschien auf dem Schirm. »Sie müssen mit der normalen Fähre zum Mond fliegen und von dort aus die Stellar Queen oder die Oriona bis Sirius VI nehmen. Auf Sirius VI steigen Sie in ein Schiff der Zentralwelten um und fliegen entweder nach Vanderlin oder nach BenAbram. Von dort aus können Sie Mendez dann direkt erreichen. Eigentlich keine besonders komplizierte Route. Inklusive Wartezeiten dauert die Reise nicht länger als drei Wochen.« »Gut«, meinte Turnbull, »ich werde es mir überlegen. Ich rufe Sie an, sobald ich mich entschlossen habe.« »In Ordnung, Sir. Die Stellar Queen startet mittwochs und die Oriona samstags. Sie müßten uns drei Tage im voraus verständigen.« Turnbull dankte dem Angestellten und schlängelte sich an den Menschentrauben im Wartesaal vorbei zum Ausgang der Long-IslandStation. Er hatte überhaupt nichts erfahren. Daß Duckworth nach Mendez aufgebrochen war, wußte er bereits. Auch die Hoteladresse kannte er. Zusätzlich hatte er ein paar negative Informationen: Der Professor konnte auf Mendez nicht gefunden werden. Offensichtlich hatte er es versäumt, die Adressenänderung anzugeben. Ebenso offensichtlich hatte er es geschafft, den Planeten spurlos zu verlassen. Es gab natürlich immer die Möglichkeit, daß er umgebracht worden war. Auf einer schwach besiedelten Welt wie Mendez bestand für einen Mörder kaum Gefahr,
erwischt zu werden. Selbst hier auf der Erde konnte man dem Gesetz entkommen, wenn man einigermaßen geschickt zu Werke ging. Aber wer würde wohl Duckworth umbringen wollen? Und weshalb? Turnbull schob den Gedanken beiseite. Es mochte sein, daß Duckworth tot war, aber er hielt es für unwahrscheinlich. Viel vernünftiger war die Annahme, daß der alte Professor aus irgendeinem privaten Grund sein Ziel geändert hatte und daß er nicht mehr dazu gekommen war, sich mit Turnbull in Verbindung zu setzen. Schließlich hatte sich vor einem Jahr das gleiche mit umgekehrten Vorzeichen abgespielt. Nachdem Turnbull die Station verlassen hatte, ging er zu einem Taxistand und drückte auf den Signalknopf der Kontrollsäule. Ein leeres Taxi löste sich aus dem Verkehrsstrom und fuhr an die Barriere heran, die den Fahrzeugverkehr von der Fußgängerzone trennte. Das Tor in der Barriere öffnete sich zur gleichen Zeit wie die Taxitür, und Turnbull stieg ein und nahm Platz. Er speiste seine Adresse ein, zahlte die angegebenen Münzen und lehnte sich in die Polster zurück, als der Wagen in Richtung Manhattan brauste. Er war jetzt seit drei Tagen wieder auf der Erde, und die Sache mit James Duckworth ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Dabei hatte er von dem Problem nicht die geringste Ahnung gehabt, als er nach einjähriger Abwesenheit in seine Wohnung zurückkehrte. * Die Wohnungstür knarrte ein wenig, als Dave Turnbull das elektronische Schloß mit dem Doppelschlüssel öffnete. Die eine Hälfte des Schlüssels war in seinem Besitz gewesen, und er hatte während seines Aufenthalts auf Lobon sorgsam darauf geachtet, daß sie nicht verlorenging. Die andere Hälfte hütete der Hausverwalter der Excelsior-Apartments. Turnbull bemerkte den schwach moderigen Geruch, den die auf Spargang geschaltete Klimaanlage verbreitete. Ein Jahr lang war hier nicht mehr richtig gelüftet worden. Die Tür schloß sich leise hinter ihm. Die Wohnung hatte sich nicht verändert der hellblaue Teppich, die passenden Möbel, der bequeme Lehnstuhl alles stand an seinem Platz. Er fuhr mit dem Finger über den Tisch. Eine hauchdünne Staubschicht hatte sich auf die glänzende Fläche gelegt. Er grinste vor sich hin. Trotz
der aufregenden Forschungen auf Lobon war es herrlich, wieder daheim zu sein. Turnbull betrat die kleine Küche und öffnete das Wandpaneel, hinter dem sich die Versorgungsanlage befand. Dann drehte er den Schalter von »Wartung« auf »normal« zurück. Das Licht strahlte auf, und mit einem leisen Seufzer setzte sich die Klimaanlage in Bewegung. Er öffnete die kleine Hausbar und überprüfte den Inhalt. In all ihrer Pracht standen die sechs Flaschen englischer Sherry nebeneinander, wie er sie verlassen hatte. Ein ganzes Jahr hatte er von ihnen geträumt. Er holte eine der Flaschen heraus und löste den Verschluß beinahe andächtig. Natürlich hatte es auch auf Lobon alkoholische Getränke gegeben. Dinge dieser Art konnte keine noch so hochtrabende Universität verbieten. Aber die Auswahl war auf Bourbon und Scotch beschränkt gewesen. Turnbull war kein begeisterter Whisky-Anhänger, und er hatte sich. nach dem samtigen Bristol Cream Sherry gesehnt, wenn er an dem rauchigen Scotch oder dem schweren Bourbon nippte. Er schenkte sich eben das erste Glas ein, als der Gong anschlug. Stirnrunzelnd ging Turnbull an den Sichtschirm. Es war der Hausmeister. Wie hieß er gleich? Samson? Nein, Sanders. Turnbull drückte auf den Öffner und sagte: »Kommen Sie nur herein, Mister Sanders. Ich bin gleich bei Ihnen.« Sanders war ein rundlicher, gutmütiger Mann mit leiser Stimme etwa zehn Jahre älter als Turnbull. Er stand im Eingang als Turnbull das Wohnzimmer betrat. In einer Hand trug er einen kleinen Kasten, die andere streckte er Turnbull entgegen. »Freut mich, daß Sie wieder hier sind, Dr. Turnbull«, sagte er. »Sie haben uns gefehlt.« Turnbull erwiderte den Händedruck mit einem Lächeln. »Ich bin auch froh, daß ich endlich wieder einmal ein anständiges Bett unter mir habe. Da draußen steht es schlecht um die Bequemlichkeit.« Der Hausmeister hob den Kasten. »Ich bringe die Post, die sich während Ihrer Abwesenheit angesammelt hat. Es ist nicht viel, da wir alle Absender von Ihrer neuen Adresse verständigten.« Er holte sieben Rohrpostzylinder aus dem Kasten und reichte sie Turnbull. Der junge Wissenschaftler sah sie durch. Drei waren von verschiedenen Freunden, einer stammte von der Standard Recording Company, und die restlichen drei trugen den Absender von James M. Duckworth, Prof., Dr. phil., Universität von Kalifornien, Groß-Angeles Kalifornien.
»Vielen Dank, Mister Sanders«, sagte Turnbull. Es wunderte ihn, daß der Mann die Post so prompt nach seiner Ankunft gebracht hatte. Sie hatte nun ein Jahr lang gewartet und hätte sicher noch ein paar Minuten Zeit gehabt. Sanders sah ihn entschuldigend an. »Äh Dr. Turnbull ich wollte nur fragen, ob in einem der Zylinder vielleicht Geld oder ein Scheck war…« »Ich weiß nicht. Weshalb?« fragte Turnbull überrascht. Sanders wurde immer verlegener. »Sehen Sie, man hat vor einem halben Jahr einen Einbruchversuch unternommen. Jemand öffnete gewaltsam Ihren Briefkasten. Es war natürlich nichts darin. Wir räumten alles in den Tresor, sobald es hereinkam. Die Polizei meinte nun, daß es vielleicht jemand gewesen sein könnte, der wußte, daß Sie per Post Geld bekamen. Es wurde nämlich keiner der anderen Kästen geöffnet, und da…« Er sprach den Satz nicht zu Ende, als Turnbull die Zylinder öffnete. Sie enthielten nur Korrespondenz. »Vielleicht haben sich die Einbrecher zufällig an meinen Kasten herangemacht«, sagte Turnbull. »Oder es kam ihnen etwas dazwischen, bevor sie die anderen Behälter plündern konnten.« »Das könnte es sein«, meinte Sanders. »Die Polizei sagte, daß die Leute wie Amateure vorgegangen sind. Immerhin schafften sie es aber, die Alarmanlage außer Betrieb zu setzen.« Der erleichterte Hausmeister wechselte noch ein paar belanglose Worte mit ihm und verabschiedete sich. Turnbull ging zurück in die Küche, trank seinen Sherry und setzte sich in die Eßnische, um die Briefe zu lesen. Das Schreiben von der Standard Recording Company war einige Tage nach seinem Aufbruch eingetroffen. Man teilte ihm mit, daß man seine Mitgliedschaft für ein Jahr aussetzen wolle, wie er es gewünscht habe. Die drei Briefe von London, Kairo und Luna City waren Privatmitteilungen, die keinerlei Bedeutung hatten. Aber die Schreiben von Duckworth machten ihn nachdenklich. Das erste war am 21. August 2187 angekommen, ein Vierteljahr nach seiner Abreise. Es war säuberlich an Dr. Dave F. Turnbull adressiert. Lieber Dave, ich weiß, daß ich mich viel zu selten bei meinen früheren Schülern melde. Und ich kann mir nur heftig an die Brust schlagen und mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa murmeln. Ich kann nicht einmal behaupten, daß mir die Arbeit keine Zeit zum Schreiben gelassen hätte, denn im Moment habe ich mehr zu tun als seit Jahren und muß mir dennoch die Zeit für diesen Brief nehmen.
Natürlich ist es andererseits ein Brief, der zu meiner Arbeit gehört, und so fällt es mir leichter, ihn einzuplanen. Aber glauben Sie nicht, daß ich Ihre Fortschritte nicht beobachtet hätte. Ich lese jeden Ihrer Artikel in den verschiedensten Journalen, und in meiner Bibliothek befinden sich Ihre vier Bücher. Columbia sollte stolz darauf sein, einen Mann von Ihren Fähigkeiten als Mitarbeiter zu besitzen (wahrscheinlich ist sie auch stolz!). Wenn Sie so weitermachen, können Sie sich sicher bald habilitieren. Um zum Thema zu kommen ich mache Ihnen den Vorschlag, mich auf einer Forschungsreise zu begleiten. Ich bin vielleicht kein Genie wie Metternik oder Dahl, aber mein Ruf beim Studienausschuß zählt doch etwas. (Das war übertriebene Bescheidenheit, dachte Turnbull. Duckworth war kein so brillanter Showman wie Metternik und kein so fleißiger Bücherschreiber wie Dahl, aber er war intelligenter und menschlicher als beide zusammen.) Wenn Sie es also fertigbrächten, ein paar Monate Urlaub bei der Columbia-Universität zu nehmen, würde ich Sie als meinen Assistenten mit offenen Armen empfangen. (Wiederum Bescheidenheit, dachte Turnbull. Jeder junge Mann würde sich eine Ehre daraus machen, für Duckworth zu arbeiten.) Es geht, falls Sie das interessiert, um das Centaurus-Geheimnis. Ich glaube, ich habe eine neue Annäherung gefunden, die alle übrigen Theorien über die Entstehung dieser Stadt einstürzen lassen wird. Würde Sie die Mitarbeit reizen? Der Brief müßte Sie mit der Spätnachmittagspost erreichen. Wenn Sie zwischen neunzehn und zwanzig Uhr zu Hause sind, rufe ich Sie an und erzähle Ihnen die Einzelheiten. Sollten Sie aus einem zwingenden Grund abwesend sein, hinterlassen Sie bitte bei der Vermittlung eine Nachricht. Mit den herzlichsten Grüßen Jim Duckworth
Turnbull steckte den Brief wieder in den Zylinder und nahm das zweite Schreiben in die Hand. Es war einen Tag später, am 22. August 2187, abgegeben worden. Lieber Dave, ich rief gestern abend an, und da hieß es an der Vermittlung, daß Ihr Apparat vorübergehend außer Betrieb sei. Ich nehme an, daß diese Briefe
an Ihre augenblickliche Adresse weitergesandt werden. Bitte, teilen Sie mir Ihren jetzigen Aufenthalt mit. Ich bin gewöhnlich zwischen 18 und 23 Uhr daheim. Rufen Sie mich bitte im Laufe der nächsten Tage an (selbstverständlich R-Gespräch!). Ihr Jim
Der dritte Brief stammte vom 10. November 2187. Turnbull wunderte sich, weshalb Duckworth ihn abgeschickt hatte. Ganz bestimmt hatte ihm der Manager der Excelsior-Apartments mitgeteilt, daß Dr. Turnbull sich auf Lobon befand und nicht erreicht werden konnte. Wahrscheinlich hatte er die Nachricht am Nachmittag des 22. August erhalten. Das erklärte auch, weshalb er den zweiten Brief abgeschickt hatte. Aber das dritte Schreiben? Lieber Dave, ich weiß, daß Sie diesen Brief erst in etwa einem halben Jahr lesen werden, aber zumindest wissen Sie dann, wo ich mich befinde. Ich habe Ihre Arbeit eben doch nicht so genau verfolgt, wie es nötig gewesen wäre, sonst hätte ich von der Expedition nach Lobon gewußt. Wahrscheinlich ernten Sie auf dieser Reise so viel Ruhm, daß der Studienausschuß ohnehin auf Sie aufmerksam wird. Und ärgern Sie sich nicht, daß Sie auf meine beiden ersten Schreiben und Anrufe nicht antworten konnten. Es war eine falsche Spur, die ich verfolgte. Sie haben also nicht viel versäumt. Im Gegenteil, die Sache war so enttäuschend für mich, daß ich meinen längst fälligen Universitätsurlaub antrat. Ich verbringe ihn auf Mendez und verbinde ihn vielleicht mit ein paar Studien über die halbintelligenten Eingeborenen dieses Planeten. In einem Jahr bin ich vermutlich wieder zurück. Bis dahin Ihr Jim Duckworth
Das war es also, dachte Turnbull. Selbstverständlich wurmte es ihn, daß er die Gelegenheit versäumt hatte, mit dem berühmten Gelehrten Duckworth eine Forschungsreise zu unternehmen - aber wenn ohnehin nichts dabei herausgekommen war… Er runzelte die Stirn und las noch einmal den ersten Brief.
»Eine Annäherung, die alle bisherigen Theorien über die Entstehung dieser Stadt einstürzen lassen wird« so hatte er sich ausgedrückt. Komisch. Duckworth war sonst bei der Formulierung neuer Theorien sehr zurückhaltend. Weshalb hatte er sich hier so überschwenglich ausgedrückt? Vor allem, wenn ihm anschließend der Erfolg versagt geblieben war? Turnbull goß sich noch ein Glas Sherry ein und ließ den ersten Schluck langsam auf der Zunge zerrinnen. Das Centaurus-Geheimnis. So hatten es im Jahre 2041, mehr als hundert Jahre in der Vergangenheit, die Forscher genannt, als sie die große Stadt auf einem Planeten des Alpha-Centaurus-Systems entdeckt hatten. Die erste interstellare Reise des Menschen mit Unterlichtgeschwindigkeit hatte fast fünf Jahre gedauert und sie hatte sofort zu einer Sensation geführt. Man hatte zwar keine bewohnbaren Planeten im Centaurus-System entdeckt, aber die Stadt hatte den Wissenschaftlern genügt. Man hatte sie vom Raum aus gesehen - eine riesige Kuppel, die wie ein Juwel in der Wüstenlandschaft schimmerte. Der Planet selbst erinnerte an Mars. Ein großer Teil des Landes war flach und ausgetrocknet, und die dünne Atmosphäre enthielt viel Kohlendioxyd und wenig Sauerstoff. Von Anfang an war klar gewesen, daß die Erbauer der Stadt auf diesem Planeten nicht beheimatet sein konnten. Eine sorgfältige Bodenuntersuchung hatte ergeben, daß die höchsten Lebensformen aus primitiven Flechten bestanden. Humanoide Lebewesen konnten sich hier unmöglich entwickelt haben, ohne irgendwelche Spuren außer der Stadt zu hinterlassen. Kein Mensch wußte, wann die Stadt erbaut worden war. Vor Jahrtausenden? Vor Jahrmillionen? Es gab keine Anhaltspunkte. Man hatte alles dicht versiegelt, so daß der Sand, der von den Stürmen über den Planeten getrieben wurde, nicht ins Innere dringen konnte. Man hatte sie auf einem Felsplateau errichtet, so hoch über der Wüste, daß der Sand sie nicht verdecken konnte. Und die transparente Kuppel bestand aus einem starken Aluminiumoxidglas, dem die Reibung der Sandkörner nichts anhaben konnte. Durch die trockene Luft im Innern waren fast alle Gegenstände erhalten geblieben, als die Bewohner der Stadt irgendwann in der Vorzeit ihr Domizil verlassen hatten. Ja, verlassen. Nirgends sah man Spuren von Lebewesen. Sie hatten einfach ihre Habseligkeiten zurückgelassen und waren aufgebrochen.
Eine Datierung mit Hilfe radioaktiven Kohlenstoffs war unmöglich. Einige der Kohlenstoffverbindungen zeigten schwache Radioaktivität, andere überhaupt keine. Aber da man bei dieser Methode wissen mußte, wieviel Stickstoff sich in der Atmosphäre des Ursprungsplaneten befand, wie oft diese Atmosphäre von schnellen Teilchen getroffen wurde und so fort, nützte das Vorhandensein von Radioaktivität überhaupt nichts. Obendrein bestand die Wahrscheinlichkeit, daß der Kohlenstoff in den verschiedenen polymeren Harzen von Öl oder Kohle herrührte und daher für eine Untersuchung nicht in Frage kam. Auch modernere Methoden führten zu keinem Erfolg. Es hatte Jahrhunderte sorgfältiger Vergleiche und Überprüfungen erfordert, bis der Mensch die Entwicklungsgeschichte seines eigenen Planeten enträtselt hatte, bei der fremden Stadt war es ein Ding der Unmöglichkeit. Es war, als versuchte man von einer Uhr ohne Zeiger die Zeit abzulesen. Da stand nun die Stadt, ein Gebilde von zehntausend Quadratmeilen, geheimnisvoll und unerforschlich. Es war der erste Schritt des Menschen auf das große Gebiet der Xenologie hin gewesen. Dave Turnbull trank seinen Sherry zu Ende, stand auf und ging ins Wohnzimmer hinüber, wo er seine Nachschlagewerke stehen hatte. Kleistmeistenoppoulos’ Werk »Die Stadt von Centaurus« war jahrelang unberührt im Regal geblieben. Nun holte er es heraus und öffnete es. Er hatte schnell die Stelle gefunden, die er suchte. »Alle Anzeichen deuten in die gleiche Richtung. Die Stadt konnte sich auf keinen Fall selbst versorgen. Auf dem Planeten selbst ist kaum organisches Material zu finden, also mußte man Nahrungsmittel importieren. Andererseits muß man sich überlegen, daß eine Stadt dieses Ausmaßes nicht ohne Grund auf einem Wüstenplaneten errichtet wurde. Es kann nur eine Antwort geben: Die Erbauer der Stadt taten nichts anderes als die Erbauer von New York, Los Angeles, Tokio und London sie schufen einen Verkehrsknotenpunkt für wichtige Handelsrouten. Nur solche Handelsrouten erklären die Existenz der Centaurus-Stadt. Und als im Laufe der Zeit neue Handelsrouten eröffnet und die alten unwichtig wurden, verließen die Bewohner die Stadt und siedelten sich an anderer Stelle an.« Turnbull schloß das Buch und stellte es wieder ins Regal. Die Theorie erschien sinnvoll und mehr als ein Jahrhundert hatte niemand daran gezweifelt. Besaß Duckworth neue Informationen?
Der Planet selbst eignete sich perfekt als Landefläche für interstellare Schiffe. Er war völlig eben, und man brauchte den Boden. nicht erst mit einer harten Startschicht zu versehen. Und es gab noch mehr Anzeichen. Alles sprach dafür, daß die Theorie des deutsch-griechischen Xenologen richtig war. Hatte Duckworth etwas Neues ermittelt? Und wenn ja, weshalb hatte er sein Ziel so schnell aufgegeben? Wenn nicht, weshalb hatte er dann überhaupt von einer neuen Theorie gesprochen? Turnbull zündete sich eine Zigarette an und sah verdrießlich dem Rauch nach. Weshalb machte er sich eigentlich Sorgen? Er war zu lange von der Erde weg gewesen, daran lag es. Wahrscheinlich hatte er sich das vergangene Jahr zu sehr mit der Erforschung Lobons befaßt. Da reichte ein kleiner Hinweis aus, und er stürzte sich sofort wieder auf Xenologie. Vergiß es, mahnte er sich. Duckworth hatte geglaubt, auf einer heißen Spur zu sein, und als sich das als Trugschluß herausstellte, hatte er die Idee aufgegeben. Und wenn ein Mann wie Duckworth beschloß, etwas aufzugeben, dann konnte sich ein Dr. Turnbull getrost danach richten. Besonders, wenn er keine Ahnung hatte, wie Duckworth überhaupt zu seiner Theorie gekommen war. Das brachte ihn wieder an den Anfang seiner Gedankengänge. Wenn Duckworth sich so auf der neuen Idee begeistert hatte, weshalb war er dann wieder abgesprungen? Wie war er überhaupt darauf gekommen, daß es eine andere Erklärung für die Stadt gab als die des Deutschgriechen? Ach, verdammt! Er würde Duckworth eben fragen, wenn er zurückkam. Das hatte Zeit. Er ging ans Telefon, wählte eine Nummer und machte es sich in seinem blauen Polstersessel bequem. Eine halbe Minute summte der Apparat, dann glimmte die Sprechlampe auf. Aber der Schirm blieb dunkel. »Dave!« sagte eine Frauenstimme. »Bist du zurück?« »Ja«, erwiderte er. »Weshalb hast du den Schirm nicht eingeschaltet?« »Weil ich schon im Bett war, du Dussel. Wie geht es dir?« »Prächtig, danke. Hör mal, Dee, zieh etwas an und schalte deinen Schirm ein. Ich spreche nicht gern zur Wand.« »Sekunde.« Eine Minute lang hörte man nichts, dann leuchtete der Schirm auf und Dees Gesicht erschien. »So, was hast du inzwischen ausgeheckt?« »Weißt du, ich habe jetzt ein Jahr lang nur bärtige Gesichter gesehen und Baritonstimmen gehört. Wenn es dir nicht zu unverhofft kommt, würde ich
dich gern zum Abendessen einladen. Anschließend können wir ja ausgehen.« »Wird gemacht. Wann?« »Gegen acht? Bei dir?« »Gut, ich warte.« Dave Turnbull lächelte und unterbrach die Verbindung. Das Problem Duckworth war fast vergessen. Fast. Aber es kam ihm wieder in den Sinn, als er die drei Zylinder auf dem Schreibtisch sah. »Oh, verdammt«, sagte er. Er ging wieder ans Telefon und wählte wütend eine neue Nummer. Einen Augenblick später lächelte ihn eine hübsche, aber sehr geschäftsmäßige Blondine an. »Interstellarer Nachrichtendienst. Womit kann ich Ihnen dienen, Sir?« »Wie lange dauert es, bis eine Nachricht nach Mendez durchkommt? Und was kostet sie?« »Einen Augenblick, Sir.« Sie wandte sich zur Seite und sah einen Schirm an, den Turnbull nicht erkennen konnte. »Mendez«, sagte sie knapp. Dann lächelte sie wieder Turnbull zu. »Die Nachricht ist in fünf Stunden sechsunddreißig Minuten dort. Dazu kommt noch eine Verzögerung von einer Stunde, bis die Botschaft umgespult ist und ausgestrahlt werden kann. Die Kosten betragen fünfundsiebzig pro Symbol. Ein freier Zwischenraum wird als Symbol berechnet, ebenso, ein Satzzeichen. Und, oder, ein, gelten als Symbol.« Turnbull überlegte einen Moment. Es war teuer, verdammt teuer. Aber schließlich verdiente er nicht schlecht. »Ich rufe Sie wieder an, sobald ich die Botschaft aufgesetzt habe«, sagte er. »In Ordnung, Sir.« Er unterbrach die Verbindung, nahm einen Bleistift in die Hand und begann zu schreiben. Als er die Nachricht auf ein Minimum zusammengestrichen hatte, rief er nochmals die Vermittlung an. Doch mitten im Wählen unterbrach er sich mit einem Stirnrunzeln. Er drückte auf die Unterbrechertaste und wählte eine andere Nummer. Diesmal zeigte sich ein junger Mann mit einem freundlichen Gesicht am Bildschirm. »Universität von Kalifornien, Los Angeles. Personalabteilung. Kann ich etwas für Sie tun?« »Hier spricht Dr. Dave Turnbull, New York. Soviel ich weiß, hat
Professor Duckworth seinen Jahresurlaub genommen. Könnten Sie mir bitte seine gegenwärtige Adresse mitteilen?« Der junge Mann blieb höflich, aber fest. »Tut mir leid, Doktor. Wir sind nicht befugt, Informationen zu geben.« »Ach, du liebe Güte! Hören Sie, ich weiß, wo er ist…« Er unterbrach sich. »Ach, lassen wir das. Verbinden Sie mich bitte mit Thornwald.« Mit Thornwald kam er besser zurecht. Sie waren Kommilitonen gewesen und kannten Duckworth beide. Turnbull zeigte dem Freund Duckworths Brief. »Ich weiß, daß er auf Mendez ist, aber ich möchte nicht den ganzen Planeten nach ihm abklappern.« »Natürlich, Dave. Ich weiß, daß bei dir alles in Ordnung geht. Die Adresse lautet: Landing City, Hotel Byron, Mendez.« »Danke, Thorn. Vielleicht kann ich mich einmal revanchieren.« »Schon gut. Wiedersehen.« Turnbull unterbrach die Verbindung, wählte die Vermittlung und gab seine Botschaft auf. Dann entspannte er sich. Er wollte heute abend richtig loslegen. Die erste Nacht auf der Erde mußte gefeiert werden. Er hielt seinen Vorsatz. * Am nächsten Morgen war er ziemlich fahrig. Er schoß sinnlos durch die Wohnung und sang einen blödsinnigen Schlager vor sich hin. »Liebling, nur ein Kuß von dir macht den Himmel blau. Ich bin so verrückt nach dir, ich nehme dich zur Frau. Donna, bella, bella Donna …« Auch als das Telefon klingelte, ließ er sich nicht aus seiner rosigen Stimmung bringen. Aber drei Minuten später war er mit einem harten Plumps auf die Erde zurückgekehrt. Seine Botschaft nach Mendez war nicht angekommen. Im Hotel Byron in Landing City war kein Professor Duckworth und es war nie einer dort gewesen. Er zwang sich, die Sache zu vergessen. Er hatte an diesem Abend wieder eine Verabredung mit Dee und wollte sich nicht die Laune verderben lassen. Aber so etwas konnte man nicht steuern. Er war an diesem Abend
alles andere als ein charmanter Begleiter. Dee spürte seine schlechte Laune, legte sie falsch aus, schützte Kopfschmerzen vor und ging früh heim. Turnbull schlief in dieser Nacht sehr schlecht. Am nächsten Morgen hatte er eine Verabredung mit einem der Professoren der Columbia-Universität. Auf dem Rückweg hielt er am Raumhafen an, um zu sehen, ob er dort etwas erfahren konnte. Aber niemand war in der Lage, ihm Auskunft zu geben. Während er im Taxi nach Manhattan saß, rauchte er nachdenklich. In seiner Wohnung ging er eine Stunde lang auf und ab, trank drei Gläser Sherry, ohne daß es ihm zum Bewußtsein kam, und rauchte ein halbes Dutzend Zigaretten hintereinander. Dave Turnbull hatte wie jeder Spitzenforscher das intuitive Denken zu einer besonderen Kunst entwickelt. Seit durch die Lancaster-Methode bewiesen worden war, daß die Naturgesetze auch für das intuitive Denken galten, versäumte es kein Forscher, dieses Denken konsequent in seine Untersuchungsmethoden aufzunehmen. Man wandte die Logik höchstens noch in Fällen an, wo genaue Berechnungen möglich oder nötig waren. Jemand, der logisch denkt, zählt zwei und zwei zusammen und erhält vier. Ein intuitiver Denker multipliziert die beiden Zahlen und kommt zu dem gleichen Ergebnis. Wenn jedoch noch eine Zwei hinzukommt, erhält der logische Denker eine Sechs und der intuitive Denker eine Acht. Das heißt, daß der intuitive Denker aus der gleichen Anzahl von Fakten zu höheren Lösungen kommt als der logische Denker. Turnbull wandte nun seine Intuition bei den gegebenen Fakten an und kam zu einer Lösung. Dann rief er die Öffentliche Bibliothek von New York an, ließ sich mit dem Hauptmagazin verbinden und suchte eine Stunde lang nach Daten, die seine Theorie stützen oder abschwächen konnten. Er fand eine Menge Positives und überhaupt nichts Negatives. Schließlich rief er seine Vorgesetzten an der Universität an. Er bat um einen halbjährlichen Urlaub, damit er die Forschungsergebnisse von Lobon ordentlich zusammenschreiben und auswerten konnte. Niemand hatte gegen seine Bitte etwas einzuwenden. Am folgenden Samstag befand sich Dr. Dave F. Turnbull auf der Oriona, deren Ziel Sirius war. Wenn es je eine Goldmine am Himmel gegeben hatte, so war es die Stadt von Centaurus. Für die Kulturxenologen, die das Geheimnis zu entschlüsseln suchten, bot sie einen unermeßlichen und unerschöpflichen Reichtum an neuen Daten. Die früheren Bewohner hatten alles zurückgelassen, als sei es wertlos für sie geworden. Man hatte bisher in der
erforschten Galaxis keine weitere Spur von ihnen entdeckt, aber sie hatten auf Centaurus genug Informationsmaterial hinterlassen, um die Gelehrten über Jahre hinaus zu beschäftigen. Für den Durchschnittsbürger ist nur schwer verständlich, wie viele Informationen sich in einer Stadt von der Größe Manhattans zusammendrängen können. Aber die Sache wird klarer, wenn man sich überlegt, wie lange ein Marsianer brauchen würde, um New York oder London gründlich zu durchsuchen. Man konnte nicht behaupten, daß der technische Stand der Fremden »höher« oder »niedriger« war als der des Menschen. Er war lediglich »anders«. Es schien, als könnten sich die beiden Zivilisationen ergänzen. Die Wissensgebiete, welche die Fremden erforscht hatten, waren von den Menschen bisher kaum gestreift worden, während es wieder andere Gebiete gab, die den Menschen vertraut waren und von denen die Fremden keine Ahnung hatten. Aus dieser Kombination hatte sich den Menschen viel geistiges Neuland eröffnet. Man hatte keine Spur der fremden Raumschiffe entdeckt, aber die Antischwerkraftvorrichtungen in ihren Atmosphärenflugzeugen hatten zusammen mit dem Antrieb der terranischen Raumschiffe zu einem neuen Überlichtgeschwindigkeitsantrieb geführt. Ihr Wissen über soziale Ordnungen und Strukturen überragte das der Menschen bei weitem, und die Schriften, die man entziffert hatte, dienten als Vorlage zur Regierungsumbildung der Terraner. Nun konnte die Menschheit eine galaktische Zivilisation aufbauen eine Einheit, die weder eine reine Demokratie noch eine absolute Diktatur darstellte, sondern höchste Regierungskontrolle mit größter individueller Freiheit verband. Technisches Material fand man kaum, besonders was Chemie und Physik betraf. Lediglich Elementartexte wurden entdeckt und das war gut so, denn mit ihrer Hilfe war es den Wissenschaftlern gelungen, die Sprache und Schrift der Fremden zu erforschen. Doch da jegliche Aufzeichnungen über komplizierte chemische oder physikalische Vorgänge fehlten, fiel es sehr schwer, die unzähligen technischen Geräte zu durchschauen, welche die Fremden zurückgelassen hatten. Die Elementartexte schienen die gleichen grundsätzlichen Dinge zu behandeln, die auch von den Menschen erkannt worden waren, aber irgendwo, waren dann die Fremden von der Gedankenlinie der Menschen abgewichen und hatten andere Wege eingeschlagen. So war es bisher nur gelungen, die einfachsten Apparaturen zu analysieren. Aber die Forscher
lernten aus den primitiven Dingen, und sie drangen immer weiter vor. Dennoch waren sie von der Wahrheit noch so weit entfernt wie James Clerk Maxwell von einem Transistor. Auf dem Gebiet der Sozialwissenschaften hatte man die Daten verhältnismäßig rasch entziffert. Die Fremden schienen sich sehr auf diese Dinge konzentriert zu haben. Psionische Wissenschaften andererseits waren ihnen fremd gewesen, und sie hatten sich nie damit befaßt. Und doch gab es wiederum in der Stadt auf Centaurus Vorrichtungen, die eine merkwürdige Ähnlichkeit mit den terranischen Psionik-Maschinen aufwiesen. Allerdings wurden sie schriftlich nicht erwähnt. Und die Naturwissenschaften wurden nur mühsam und unter vielen Fehlschlägen erarbeitet. Die Forschungen würden lange dauern. Nur wenige Männer arbeiteten an den Problemen, welche die fremde Stadt stellte. Gewiß, es gab genug Wissenschaftler, die ihre Zeit und ihre Kraft der geheimnisvollen Stadt geopfert hätten, aber der Planet war so unwirtlich, daß er nicht viele Forscher tragen konnte. Nachdem man die wichtigsten Fakten erarbeitet hatte, erschien es unwirtschaftlich, noch mehr Leute und Material nach Centaurus zu schaffen. Theoretisch wäre es möglich gewesen, die Kuppel der Stadt zu versiegeln und dann eine Atmosphäre hineinzupumpen, in der Menschen leben und arbeiten konnten aber abgesehen von allen möglichen anderen Erwägungen befürchtete man, daß die Feuchtigkeit die gut erhaltenen Gegenstände vernichten könnte. Außerdem erforderte die Arbeit in der Stadt Spitzenforscher und davon gab es nicht sehr viele. Nichts für mich, dachte Turnbull. Naturwissenschaften waren nicht sein Spezialgebiet, und die fremden Werke ließen sich auch auf der Erde entziffern, nachdem man Kopien von ihnen angefertigt hatte. * Sirius VI war ein geschäftiger Planet man hätte ihn beinahe für die Erde halten können. Er besaß einen einzigen Mond, etwas kleiner als Luna und etwas näher. Auf diesem Mond landete die Oriona, und Dave Turnbull nahm die Fähre nach Sirius VI. Sie landete in der Nähe von Noiberlin, der Hauptstadt. Turnbull hatte in weniger als einer Stunde herausgebracht, daß Duckworth auf seiner Reise nicht weiter als bis Sirius VI gekommen war. Er hatte sich den Rest der Fahrkarte nicht einlösen lassen, das hätte man
auf der Erde erfahren. Aber es stand auch fest, daß er kein Schiff zu den Zentralwelten genommen hatte. Turnbull mietete ein Hotelzimmer und studierte den Stadtplan von Noiberlin. Da war es auch schon in Riesenlettern: Rawlings WissenschaftsGmbH. Turnbull beschloß, den Stier bei den Hörnern zu packen. Es hatte keinen Sinn, lange um den heißen Brei herumzugehen. Er ging ans Telefon. Nachdem er sich mit mehreren Empfangsangestellten und Sekretärinnen herumgeschlagen hatte, schaffte er es, eine Unterredung mit Lawrence Drawford, dem stellvertretenden Direktor, zu arrangieren. Professor Jason Rawlings, der eigentliche Direktor, befand sich im Moment nicht auf Sirius VI. Das Treffen war auf neun Uhr des folgenden Tages festgesetzt worden, und Turnbull erschien pünktlich. Er ging mit festen Schritten auf das Empfangspult zu. »Bitte?« fragte das Mädchen. »Guten Tag. Mein Name ist Turnbull. Ich werde erwartet.«, »Einen Augenblick.« Sie blätterte ein paar Formulare auf ihrem Schreibtisch durch und sagte dann: »In Ordnung, Mister Turnbull. Nehmen Sie Lift Vier, und fahren Sie bis in den achtzehnten Stock. Dort wenden Sie sich nach links. Dr. Drawfords Büro ist am Ende des Korridors.« Turnbull folgte den Anweisungen. Drawford war ein untersetzter Mann mit einem rosigen Gesicht und einem strahlenden Lächeln. »Kommen Sie nur, Dr. Turnbull, ich freue mich, Sie kennenzulernen. Was kann ich für Sie tun?« Er bot Turnbull einen Sessel an und nahm hinter seinem Schreibtisch Platz. Turnbull sagte vorsichtig: »Ich brauche eine Information, Dr. Drawford.« Drawford wählte umständlich eine Zigarre und bot auch Turnbull eine an. »Zigarre? Nein? Nun, wenn ich Ihnen helfen kann, werde ich es selbstverständlich tun.« Aber seine Miene wirkte verwirrt, als er sich die Zigarre anzündete. »Erstens«, sagte Turnbull. »Stimmt es, daß die Rawlings-GmbH das Forschungsprogramm in der Stadt von Centaurus leitet?« Drawford blies ihm eine Wolke blaugrauen Rauches entgegen. »Nicht ganz. Wir stellen das Bindeglied zwischen der Studienkommission und der Centaurus-Gruppe dar, und wir liefern die Ausrüstung, die für die Arbeit dort draußen erforderlich ist. Wir bauen Instrumente auf Bestellung und
Ähnliches. Professor Rawlings ist natürlich ein Mitglied des Studienausschusses, wodurch die Verbindung enger als gewöhnlich wurde. Aber ich möchte nicht sagen, daß wir das Projekt leiten. Es untersteht einzig und allein den Forschungsleitern in der Stadt selbst.« Turnbull zündete sich eine Zigarette an. »Was ist mit Professor Duckworth geschehen?« fragte er plötzlich. Drawford sah ihn erstaunt an. »Wie bitte?« Wieder setzte Turnbulls intuitives Denken ein. Er wußte, daß Drawford wirklich keine Ahnung vom Aufenthaltsort des Professors hatte. »Ich hatte den Eindruck«, sagte er leichthin, »daß Professor Duckworth mit Professor Rawlings zusammenarbeitet.« Drawford lächelte und breitete die Hände aus. »Also, das ist durchaus möglich, Dr. Turnbull. Wenn es aber der Fall ist, dann hat man mich nicht hinzugezogen.« »Oh?« Drawford preßte einen Moment lang die Lippen zusammen. Dann sagte er: »Ich muß gestehen, daß ich kein guter intuitiver Denker bin, Dr. Turnbull. Ich habe wohl nicht die Fähigkeit dazu. Deshalb arbeite ich als Ingenieur und nicht als Grundlagenforscher. Und deshalb werde ich mich wohl auch nie habilitieren können.« Wieder machte er eine Pause, bevor er fortfuhr: »Aus diesem Grund überläßt mir Professor Rawlings die logischen Arbeiten und belastet mich nicht mit seinen eigenen Dingen. Nominell ist er der Direktor der Gesellschaft. In Wirklichkeit führen wir beide die Firma von verschiedenen Gesichtspunkten aus. Natürlich überschneiden sich die Gebiete manchmal, aber meistens weichen sie stark voneinander ab.« »In anderen Worten«, meinte Turnbull, »wenn Duckworth und Rawlings zusammenarbeiten, wissen Sie es nicht unbedingt.« »Nicht, wenn Professor Rawlings es mir verschwiegen hat«, sagte Drawford mit einem Nicken. Er legte die Zigarre sorgfältig auf den Rand des Aschenbechers. »Wenn ich ihn fragen würde, gäbe er mir natürlich sicher Auskunft. Aber es geht mich schließlich nichts an.« Turnbull nickte und änderte seine Taktik. »Professor Rawlings befindet sich nicht auf Sirius VI, soviel ich weiß?« »Sie haben recht. Aber es steht mir nicht frei, etwas über seinen derzeitigen Aufenthalt zu sagen.« »Das verstehe ich. Aber ich würde gern eine Botschaft an ihn weitergeben lassen.«
Drawford sog wieder an seiner Zigarre, bevor er antwortete. Dann meinte er: »Dr. Turnbull, halten Sie mich bitte nicht für pedantisch, wenn ich nach dem eigentlichen Grund Ihres Hierseins frage.« Turnbull lächelte. »Aber nein. Ich hätte längst eine Erklärung abgeben müssen.« Er hatte sich seine Lüge bereits gut zurechtgelegt. »Ich bin gerade dabei, einen Bericht über die kulturelle Bedeutung der Funde auf Lobon zu schreiben Sie haben vielleicht von den Ausgrabungsstätten gehört?« »Der Name ist mir bekannt«, erwiderte Drawford. »Es liegt irgendwo im Sagittarius-Sektor, wenn ich mich recht erinnere.« »Ja. Nun, wie Sie wissen, nimmt man an: daß die Stadt auf Centaurus früher ein bedeutender Verkehrsknotenpunkt war angelegt von einer Rasse, die inzwischen aus der Galaxis verschwunden ist.« Drawford nickte langsam. Er ließ Turnbull weiterreden. »Ich vertraue darauf, daß Sie unser Gespräch geheimhalten, Doktor«, fuhr Turnbull fort und drückte seine Zigarette aus. »Ich bin nämlich zu dem Schluß gekommen, daß die Funde von Lobon eine Beziehung zu den Funden der Centaurus-Stadt aufweisen.« Es war eine unverschämte Lüge, aber er wußte, daß Drawford sie nicht als solche erkennen konnte. »Ich glaube, daß Lobon in Wirklichkeit eine Kolonie jener Rasse war einer der Planeten, die zum Nahrungsnachschub dienten. Wenn ich recht habe, muß man unbedingt die Daten von Lobon mit denen der Centaurus-Stadt vergleichen.« Drawfords Miene verriet Erregung. »Also, das ist erstaunlich! Ich verstehe natürlich, daß Sie sich mit Professor Rawlings in Verbindung setzen möchten. Glauben Sie wirklich, daß sich irgendwelche Zusammenhänge nachweisen lassen?« »Ja«, sagte Turnbull fest. »Wäre es möglich, daß ich eine Nachricht an ihn absende?« »Gewiß«, erwiderte Drawford rasch. »Ich sorge dafür, daß er sie sobald als möglich erhält. Was wollen Sie ihm übermitteln?« Turnbull griff in die Gürteltasche, holte einen Schreibblock und einen Stift heraus und formulierte die Nachricht. Ich habe Grund zu der Annahme, daß ich die Verbindung zwischen den beiden Datenquellen betreffs des Centaurus-Geheimnisses gefunden habe. Ich würde auch gern über die Duckworth-Theorie mit Ihnen sprechen. Er unterzeichnete das Schreiben und reichte es Drawford. Der Mann las es stirnrunzelnd durch und sah dann Turnbull fragend an.
»Er wird wissen, was ich meine«, sagte Turnbull. »Professor Duckworth war schon vor Beginn meiner Forschungen überzeugt davon, daß Lobon uns Informationen für die Centaurus-Stadt liefern würde. Das war, ehrlich gesagt, auch der Grund für meine Annahme, Professor Duckworth könnte sich bei Professor Rawlings befinden.« Drawfords Miene hellte sich auf. »Also schön. Ich gebe die Botschaft sofort durch, Dr. Turnbull. Und machen Sie sich keine Sorgen. Ich werde über die Sache schweigen, bis Sie oder Professor Rawlings sich selbst zum Sprechen entschlossen haben.« »Ich weiß das sehr zu schätzen«, sagte Turnbull und erhob sich. »Und nun will ich Sie nicht länger aufhalten, Dr. Drawford. Sie können mich jederzeit im Mayfair-Hotel erreichen.« Die beiden Männer verabschiedeten sich voneinander, und Turnbull ging. Turnbull wußte intuitiv, wo sich Rawlings befand. Auf dem CentaurusPlaneten auf dem Planeten der fremden Stadt. Aber wo war Duckworth? Die Vernunft sagte, daß er sich ebenfalls in der Stadt aufhielt. Aber unter welchen Bedingungen? War er ein Gefangener? Oder hatte man ihn gleich getötet? Gewiß nicht. Das paßte nicht zu seinem heimlichen Verschwinden von der Erde. Wenn jemand ihn zum Schweigen hätte bringen wollen, dann wäre es besser gewesen, das auf der Erde zu erledigen. Seine Spur bis Sirius VI war zu leicht zu verfolgen. Andererseits wie hatte Duckworth verschwinden können, wenn die Spur tatsächlich so breit war? Wenn die Polizei… Nein. Er täuschte sich. Das Schwierige beim intuitiven Denken war die Tatsache, daß man oft ganze Teile ausließ, die für einen logischen Denker unbedingt nötig waren. Duckworth hatte keine Verbindung zu Rawlings, keine logische Verbindung. Die Polizei konnte nur mit der Tatsache arbeiten, daß Professor Duckworth zu einer Reise nach Mendez aufgebrochen war und nicht weiter als nach Sirius VI gelangt war. Dort war er verschwunden. Weshalb? Wie konnte sie etwas beweisen? Andererseits war er, Turnbull, in Sicherheit. Die Briefe von Duckworth, sein Besuch bei Drawford und das amtlich bestätigte Ziel Sirius VI würden genügen, um die beiden Fälle miteinander in Verbindung zu bringen, falls ihn jemand beiseite schaffen wollte. Rawlings würde sich hüten… Dave Turnbull fühlte sich Vollkommen sicher.
Er befand sich in seinem Hotelzimmer, als der Besuchergong anschlug. Auf dem Bildschirm zeigte sich ein junger Mann in Arbeitskleidung, der ziemlich gelangweilt dreinsah. »Ja bitte?« fragte Turnbull. »Eine Nachricht für Dr. Turnbull von der Rawlings-GmbH«, sagte der junge Mann mit einer Stimme, die zu seinem Gesichtsausdruck paßte. Turnbull seufzte und öffnete die Tür. Einen Moment lang sah er, worin die Botschaft bestand. Der junge Mann hatte einen Betäubungsstrahler in der Hand. Bevor Turnbull reagieren konnte, wurde ihm schwarz vor den Augen. * Aus einem wirren Farbengemisch tauchte ein Gesicht auf, verschwand und tauchte wieder auf. Die Lippen bewegten sich. »Wie fühlen Sie sich, Junge?« Turnbull sah das Gesicht an. Es gehörte zu einem verhältnismäßig alten Mann, der sich die Vitalität seiner Jugend erhalten hatte. Es wies Falten auf, aber die Umrisse waren straff. Einen Moment dauerte es, bis er das Gesicht erkannte doch er erinnerte sich rasch an die Stereos, die er gesehen hatte. Professor Jason Rawlings. Turnbull wollte sich aufrichten und konnte es nicht. Der Professor lächelte. »Tut mir leid, daß wir Sie fesseln mußten«, sagte er. »Aber ich bin lange nicht so stark wie Sie, und ich wollte keine Niederlage riskieren, bevor ich mit Ihnen gesprochen hatte.« Turnbull entspannte sich. Es drohte ihm keine unmittelbare Gefahr. »Sie wissen, wo Sie sind?« fragte Rawlings. »Auf Centaurus«, erwiderte Turnbull ruhig. »Die Reise dauert drei Tage, also konnten Sie den Weg nicht so rasch zurücklegen. Sie ließen mich entführen, sobald Sie meine Botschaft in die Hand bekamen.« Der alte Mann runzelte ein wenig die Stirn. »Technisch gesehen war es wohl tatsächlich eine Entführung, aber wir mußten Sie aus dem Verkehr ziehen, bevor Sie alles verrieten.« Turnbull lächelte schwach. »Und Sie haben keine Angst, daß Ihnen die Polizei auf die Spur kommt?« »Oh, das tut sie sicher«, meinte Rawlings. »Aber bis es soweit ist, können Sie auch wieder frei sprechen.«
»Ich verstehe«, sagte Turnbull ruhig. »Gehirnoperation. Haben Sie das auch bei Professor Duckworth gemacht?« Der Gesichtsausdruck des Professors war so ganz anders, als Turnbull es erwartet hatte, daß er mit einem Ruck sein ganzes bisheriges Denken umkrempeln mußte. »Dr. Turnbull, was dachten Sie eigentlich von uns?« fragte der alte Professor langsam. Turnbull wollte antworten, doch im gleichen Moment ging die Tür auf. Der rundliche, lächelnde Mann, der hereinkam, war Turnbull gut bekannt. »Hallo, Dave«, sagte Professor Duckworth. »Tut mir leid, daß ich nicht hier war, als Sie aufwachten, aber ich…« Er unterbrach sich. »Was ist los?« »Ich tippe mir eben an die Stirn und nenne mich einen Idioten«, sagte Turnbull grinsend. »Ich benutzte nämlich Ihr Verschwinden als eine Information bei meinem Problem, obwohl das ganz und gar unnötig war.« Professor Rawlings lachte auf. »Dann dachten Sie…« Duckworth mußte ebenfalls lachen. Er hob die Hand. »Warten Sie, Jason. Er soll es uns selbst sagen.« »Nehmen Sie mir zuerst die Fesseln ab«, bat Turnbull. »Ich bin nach der dreitägigen Bewußtlosigkeit ohnehin steif genug.« Rawlings drückte auf einen Knopf in der Wand, und die Fesseln schnappten zurück. Turnbull setzte sich mühsam auf und rieb sich die Muskeln. »Nun?« ermunterte ihn Duckworth. Turnbull sah den alten Mann an. »Ihre ersten beiden Briefe brachten mich eigentlich auf die Spur.« »Das habe ich befürchtet«, sagte der Professor achselzuckend. »Ich, äh, versuchte sie zurückzuholen, bevor ich die Erde verließ, und als mir das nicht gelang, schickte ich Ihnen einen dritten Brief, um Sie abzulenken.« »Haben Sie wirklich geglaubt, daß Sie das schaffen würden?« fragte Turnbull. »Sicher war ich nicht«, gab Duckworth zu. »Ich dachte mir, wenn Sie die Sache durchschauen würden, hätten Sie es auch verdient, die Wahrheit zu erfahren.« »Ich glaube, ich weiß sie bereits.« »Sieht so aus«, lächelte Duckworth. »Aber verraten Sie uns zuerst, wie Sie zu der falschen Schlußfolgerung kamen.«
Turnbull nickte. »Wie gesagt, die Briefe ließen mich nicht in Ruhe. Ich wußte, daß Sie einer großen Sache auf der Spur sein mußten, wenn Sie sich so überzeugt äußerten. Also überprüfte ich alle Daten, die ich von der Stadt erhalten konnte besonders diejenigen, die man kurz vor Ihren ersten beiden Briefen an die Öffentlichkeit gebracht hatte. Ich sah, daß man in Sektor Neun der Stadt verschiedene neue Gegenstände entdeckt hatte in den sogenannten Bankgebäuden. Das erinnerte mich an etwas. Ich schlug in früheren Ausgaben nach und sah, daß dieser Sektor vollkommen ausgeräumt worden war schon vor neunzig Jahren. Mein Fehler war, daß ich annahm, man hätte Sie mit Gewalt entführt und Sie gezwungen, jenen dritten Brief zu schreiben. Es hatte natürlich diesen Anschein, da ich mir nicht vorstellen konnte, daß Sie etwas vor mir verbergen würden. Die ganze Sache sah so abgekartet und hinterlistig aus, daß ich Sie nicht damit in Verbindung bringen konnte. Ich nahm also an, daß Sie unter Zwang handelten.« Professor Rawlings lächelte. »Aber mich hielten Sie schon für hinterlistig? Nicht sehr schmeichelhaft für mich, junger Mann.« Turnbull grinste. »Ich traute Ihnen zu, daß Sie einen Mann entführen konnten. Habe ich mich getäuscht?« Rawlings lachte dröhnend. »Fahren Sie fort.« »Da man in einem bereits untersuchten Teil der Stadt neue Fundgegenstände hob, dachte ich, Jim hätte einen Schwindel aufgedeckt. Es sah für mich so aus, als wollte jemand die anderen Forscher verwirren, um einen ganz besonderen Fund zu verheimlichen beispielsweise eine Waffe oder eine Vorrichtung, die dem Menschen zuviel Macht verliehen hätte.« Rawlings nickte nachdenklich. »Eine ausgezeichnete Intuition wenn man bedenkt, daß Sie von ein paar falschen Informationen ausgingen.« »Genau. Ich dachte, daß die Rawlings-GmbH oder Sie persönlich den übrigen Wissenschaftlern und dem Studienausschuß etwas verbergen wollten und daß Professor Duckworth Ihnen auf die Schliche gekommen war. Das brachte natürlich den Schluß nahe, daß Sie den Professor entführt hatten, um ihn zum Schweigen zu bringen.« »Es sah wohl so aus«, meinte Duckworth. »Und nun? Wie erklären Sie sich die Situation jetzt?«
Turnbull runzelte die Stirn. »Das Bild hat sich natürlich völlig gewendet. Sie kamen her, um Ihre eigenen Daten nachzuprüfen. Eine Frage geht hier alles ehrlich und ordentlich zu?« Duckworth machte eine Pause, bevor er antwortete. »Alles, was uns Menschen betrifft«, sagte er langsam. »Das dachte ich mir«, murmelte Turnbull. »Wenn man den Faktor Mensch teilweise eliminiert, dann läßt sich die Intuition wunderbar anwenden. Man versorgt uns mit neuen Informationen.« »Genau so ist es«, erklärte Rawlings. »Jemand oder etwas bringt neues Material in die Stadt. Offenbar ist sie eine Art kosmischer Futterkrippe, die von Zeit zu Zeit aufgefüllt werden muß.« Turnbull betrachtete seine großen Hände. »Sie war also, nie ein Handelsbrennpunkt«, sagte er. »Sie ist nicht einmal eine Stadt in unserem Sinn des Wortes ebensowenig wie eine Futterkrippe ein Nest ist.« Er sah auf. »Die Stadt hatte nur einen Zweck, die Menschheit mit gewissen Informationen zu versorgen. Und es sind offensichtlich Daten, die wir schnell brauchen, um überleben zu können.« »Wie kommen Sie darauf?« fragte Rawlings ein wenig überrascht. »Durch die gleiche Analogie. Weshalb stellt man eine Futterkrippe auf? Aus zwei Gründen: entweder um die Tiere zu beobachten und zu studieren oder um freundlich zu ihnen zu sein. Und man füttert sie vor allem im Winter, weil sie sterben könnten, wenn sie nicht genug zu fressen bekommen.« »Dann werden wir vielleicht beobachtet und studiert?« meinte Duckworth forschend. »Möglich. Aber wir werden es wenn überhaupt sehr spät erfahren.« Duckworth lachte. »Richtig. Ich habe diese Stadt gesehen. Ich habe sie während der letzten Monate genau beobachtet. Die Geschöpfe, die sie gebaut haben, stehen so hoch über uns, daß wir uns nicht vorstellen können, wie wir je etwas über sie erfahren sollen. Und wir würden sie ebensowenig verstehen, wie die Tiere uns verstehen.« »Wer weiß über diese Sache Bescheid?« fragte Turnbull plötzlich. »Der gesamte Studienausschuß«, erwiderte Rawlings. »Und sicher noch einige andere. Aber bis jetzt hat jeder, der das Geheimnis der Stadt erkannte, gleichzeitig erkannt, daß dieses Geheimnis gewahrt bleiben muß. Die breite Masse ist für das Wissen noch nicht bereit.« »Und die Techniker, die hier arbeiten?« fragte Turnbull.
Rawlings lächelte. »Die Gegenstände werden sehr sorgfältig wieder aufgestellt. Soweit wir das beurteilen können, haben sie gelernt, das zu akzeptieren, was sie sehen.« Turnbull war noch nicht zufrieden. »Aber es gibt sicher eine Unmenge Menschen in der Galaxis, die sich nicht mit dem Gedanken vertraut machen könnten, daß es im Universum etwas Höheres als den Menschen gibt. Können Sie sich den Sturm vorstellen, wenn etwas über das Geheimnis der Stadt nach draußen durchsickert? Ganze Kulturgruppen würden sich weigern, die Stadt anzuerkennen. Die Regierung würde zusammenbrechen, da sie auf den Theorien der Stadt aufbaut. Man würde das intuitive Denken ablehnen weil man nur mit Hilfe des intuitiven Denkens die Wahrheit erkennen könnte. Ich finde, daß man einige Vorsichtsmaßnahmen…« Er unterbrach sich und lachte verlegen. »Ach so«, sagte er. »Jetzt versteht ich.« Rawlings erwiderte das Lachen. »Es ist gar nicht nötig, die Wahrheit zu verbergen. Jeder, der psychologisch unfähig ist, höhere Wesen als den Menschen anzuerkennen, ist auch psychologisch unfähig, sich die Wahrheit zusammenzureimen.« Professor Duckworth fügte hinzu: »Man braucht viel Bescheidenheit und echte Demut um zugeben zu können, daß es klügere Lebewesen als den Menschen gibt. Die meisten Leute schaffen es nicht, weil sie ihre Unterlegenheit nicht eingestehen können.« Turnbull nickte. »Nehmen wir nur die nordamerikanischen Indianerstämme als Beispiel. Sie hatten noch nicht die Kultur der Azteken oder Inkas erreicht. Sie konnten es nicht zulassen, unterworfen zu werden mit anderen Worten, sie konnten sich nicht belehren lassen. Sie kämpften bis zum letzten Mann gegen den Weißen an und wir wissen ja, wie die Sache ausging.« »Genau«, pflichtete ihm Duckworth bei. »Während die Mexikaner und Peruaner heute nahtlos in die Zivilisation eingegliedert sind. Sie konnten lernen.« »Und wir müssen verhindern, daß die Menschen den Weg der nordamerikanischen Indianer einschlagen«, sagte Turnbull. »Ich glaube, wir werden es schaffen«, meinte Rawlings. »Die Erbauer der Stadt steuern uns sehr vorsichtig auf die nächste Stufe der Zivilisation zu. Vielleicht können wir dort ihre Lehren direkter als jetzt aufnehmen.« Duckworth lachte vor sich hin. »Bevor wir feine Herren werden, müssen wir erst erkennen, daß wir bisher keine waren.« Turnbull wußte, was er meinte. Eine alte Binsenwahrheit sagt, daß ein Barbar nie ein Gentleman wird, weil er nicht weiß, daß er kein Gentleman
ist. Sobald er diese Tatsache aber erkennt, hört er auf, ein Barbar zu sein. Er ist noch kein Gentleman, aber er kann zumindest lernen, einer zu werden. »Die Stadt selbst«, erklärte Rawlings, »trennt die Demütigen von den Servilen. Ein serviler Mensch haßt seine Position so sehr, daß er jeden bekämpft, der ihm die Wahrheit über diese Position sagt. Der unterwürfige Sklave ist überzeugt davon, daß er ebenso hoch steht wie sein Herr und Meister und’ daß er nur durch Gewalt unterdrückt wird. Also widersetzt er sich ebenfalls mit Gewalt und wird letzten Endes vernichtet.« Turnbull sah ihn verwirrt an. »Aber weshalb trennt die Stadt…« Und dann überkam ihn die volle Intuition. Duckworth strahlte über das ganze, runde Gesicht. »Sie sind der erste, der es geschafft hat«, sagte er. »Um ein Mitglied des Studienausschusses zu werden, muß man das Geheimnis der Stadt lösen. Ich bin sehr viel älter als Sie, und ich habe es erst in den letzten Monaten durchschaut. Sie sind der erste, der ohne Habilitation in den Studienausschuß aufgenommen wird. Herzlichen Glückwunsch.« Turnbull sah wieder seine Hände an und lächelte. Dann wandte er sich an Duckwarth. »Haben Sie eine Zigarette, Jim? Danke. Mein Gott, wir haben so viel Arbeit vor uns. Zuerst einmal müssen wir erfahren, was die Erbauer der Stadt uns eigentlich beibringen wollen.« Duckworth gab ihm Feuer und meinte ruhig: »Wer weiß? Vielleicht wollen sie auch nur, daß wir mehr über sie erfahren.«
Ursprung der Menschheit »Imitation«, sagte Ducem Palver, »kann als die ursprünglichste Form der Schmeichelei angesehen werden, nicht wahr?« Dr. Nikol Buth betrachtete seinen Zigarrenstummel und entschied, daß zwischen der Asche und dem zerkauten Mundstück nicht mehr genügend Tabak für den nächsten Zug war. Er warf den Stummel in den Abfallschacht und beobachtete das kurze Aufglühen vor seinem endgültigen Verschwinden. Dann erst wandte er sich Palver zu. »In gewisser Weise ja wenn Sie es als Imitation betrachten, einen Hinweis aus einem Mythos zu holen und ihn weiterzuentwickeln.« Ducem Palver lehnte sich zurück. Die blauen Augen unter den leicht gewölbten Brauen schienen zu funkeln, wenn auch sein rundes Gesicht
völlig ernst blieb. »Für Sie ist die mathematische Erfassung von Menschen also ein Mythos?« Dr. Buth überlegte einen Moment. Er wußte nicht recht, wie er sich gegenüber diesem Besucher verhalten sollte. Palver hatte einen kleinen Posten im Imperium inne - Bibliothekar dritter Klasse -, aber Buth war sich nicht sicher, wie wichtig der Mann war und weshalb er ihn aufgesucht hatte. Und er hatte auch keine Ahnung, wieviel Palver von Archäologie verstand. »Mir ist klar, daß die Leute früher an so etwas glaubten«, sagte er nun. »Das war vor sieben oder achthundert Jahren. Aber die Barbaren-Periode des Interregnums, die Zeit vor der Errichtung des Zweiten Galaktischen Imperiums, brachte keine großen wissenschaftlichen Geister hervor.« Er machte eine lässige Handbewegung. »Oh, ich gebe zu, daß etwas an der alten Geschichte wahr sein mag. Vielleicht hat ein Wissenschaftler des Ersten Imperiums wirklich die Aktionen großer Menschenmassen mathematisch untersucht. Vielleicht ging das Werk im Interregnum verloren. Aber ich persönlich glaube nicht daran.« »Oh?« Palvers Gesicht blieb höflich. »Weshalb nicht?« »Es ist auf den ersten Blick hin lächerlich. Eigentlich ist uns keine einzige Entdeckung verlorengegangen. Wir besitzen das technische Wissen des Ersten Imperiums und vieles andere; Mythen und Legenden andererseits haben keine Basis, außer in Übertreibungen, die sich ohne weiteres erklären lassen.« Palver ging ein wenig in Abwehrstellung. »Weshalb sprechen Sie von Legenden? Ich finde, man macht es sich zu einfach, wenn man das verlorene Gut einfach als Legende abtut und als selbstverständlich annimmt, daß uns alles Wissen erhalten blieb.« Dr. Nikol Buth war bereits seit einiger Zeit zu dem Schluß gekommen, daß Ducem Palver auch nur einer der vielen kleinen Streber war, die sich aus irgendeinem unerfindlichen Grund entschlossen, vom Hauptplaneten des Imperiums herzureisen, um ihn, Buth, zu ärgern. Innerlich seufzte er. Wie oft mußte er das noch mitmachen? Äußerlich war er die Freundlichkeit selbst. »Ich gebe zu, daß es merkwürdig klingt, wenn Sie es so ausdrücken. Aber betrachten wir es einmal von einer anderen Seite: Wir haben ziemlich genaue Informationen über die Geschichte des Ersten Imperiums. Die letzten zehntausend Jahre sind genau aufgezeichnet und in der alten Imperiums-Bibliothek verwahrt. Dabei kommt nirgends der Ausdruck ›verlorenes Gut‹ vor. Keine der Informationen ist irgendwie verwirrend oder lückenhaft. Wir wissen
beispielsweise, daß eine nichthumanoide Rasse gefunden wurde. Auch dabei wurde nichts Rätselhaftes entdeckt. Wir wissen, was mit ihnen geschah, wie sie der Regierung des Ersten Imperiums entkamen und schließlich doch untergingen.« Dr. Buth suchte in seiner Tasche nach der nächsten Zigarre und fand keine. Er ging zu seinem Zigarrenkasten am Schreibtisch und fuhr fort: »Im Gegensatz dazu sind die Aufzeichnungen des Interregnums spärlich, ungenau und in manchen Fällen absichtlich verfälscht. Und gerade während des Interregnums sind die Legenden von Supermenschen, geistigen Riesen und, verlorenen Wissenschaften aufgetaucht.« Buth zündete seine Zigarre an, und Ducem Palver nickte langsam. »Ich verstehe«, sagte der Bibliothekar schließlich. »Dann glauben Sie also nicht, daß man das zukünftige Verhalten von großen Menschenmassen mathematisch berechnen kann?« »Das habe ich nicht gesagt«, erwiderte Dr. Buth etwas gereizt. »Ich sagte, daß es meiner Meinung nach in der Vergangenheit niemals berechnet wurde.« Dann zwang er sich wieder zu einem Lächeln, und seine Stimme wurde freundlicher. »Da ich kein mathematisches System für die Vorhersage von menschlichen Verhaltensweisen kenne, kann ich auch nicht vorhersagen, was in Zukunft auf diesem Gebiet geschieht.« Ducem Palver drückte feierlich die Fingerspitzen aneinander. »Ich bin geneigt, Ihnen recht zu geben, Dr. Buth aber man sagte mir, daß Sie so ein System entwickelt hätten.« Dr. Buth stieß langsam eine Rauchwolke aus. »Ich möchte eines wissen, Mister Palver. Weshalb interessiert sich die Regierung des Imperiums dafür?« Palver lachte leise und ein wenig mißbilligend. »Das tut mir aber wirklich leid, Dr. Buth. Ich wollte keineswegs den Eindruck erwecken, daß das Imperium an der Sache interessiert sei. Soviel ich weiß, kümmert sich die Regierung nicht darum.« Er unterbrach sich, und seine blauen Augen blitzten einen Moment lang mit kaum verhohlenem Vergnügen auf. »Ah, ich sehe, Sie sind enttäuscht. Ich kann es Ihnen nicht verdenken. Es wäre ein Triumph für Sie, wenn das Imperium Ihre Arbeit anerkennen würde, nicht wahr? Es ist mir so peinlich, daß ich Ihnen falsche Hoffnungen machte.« Buth schüttelte den Kopf. »Lassen Sie nur. Wenn ich ganz ehrlich sein soll, so wäre es mir im Moment gar nicht recht, im Blickpunkt der Regierung zu stehen. Aber…«
»Aber weshalb ich dann hergekommen bin?« beendete Palver den Satz für ihn. »Rein aus persönlicher Neugier, mein lieber Doktor. Natürlich befinden sich die Abdrucke Ihrer veröffentlichten Werke in der Bibliothek des Imperiums. Und meine Aufgabe ist es, die Abdrucke zu verwalten. Haben Sie je die Halle gesehen?« Dr. Buth zuckte mit den Schultern. »Nein aber ich habe schon einiges darüber gelesen.« »Das kann ich mir denken. Es ist nicht einfach, alle Informationen der Galaxis in die große Maschine zu speisen, wo sie miteinander verglichen, verbunden, ausgesiebt, verdaut und so abstrahiert werden, daß sie jederzeit griffbereit sind. Nur ein winziger Bruchteil des Gesamtwissens, das in diese Maschine fließt, kommt mir unter die Hände, und selbst dieses Wenige kann ich nur flüchtig überfliegen, bevor ich es weitergebe. Aber ich habe ein Hobby. Geschichte.« Er sprach das Wort ehrfürchtig aus. »Mich interessiert ganz besonders die wie Sie richtig bemerkten unvollständige Geschichte des Interregnums. Als mir deshalb Ihre mathematischen Theorien über die Archäologie vor Augen kamen, war ich sofort daran interessiert. Zufällig bekam ich einige Wochen später meinen Jahresurlaub, und ich reiste hierher, um mich mit Ihnen, äh, zu unterhalten.« Dr. Buth ließ die Zigarrenasche in den Schacht fallen und sah zu, wie sie zerstob. »Hm, ich fürchte, Sie sind umsonst gekommen, Mister Palver. Wir sind hier nämlich nicht auf der Suche nach der Interregnum-Geschichte.« Ducem Palvers blaue Augen wurden größer, und ein verwirrter Ausdruck huschte über sein rundes Engelsgesicht. »Aber ich hörte, daß Sie Nachforschungen über das Pre-Imperium anstellen…« Dr. Nikol Buth lächelte tolerant. »Das stimmt, Mister Palver. Aber wir erforschen die Kultur, die noch vor dem Ersten Imperium lag. Wir versuchen mehr als dreißigtausend Jahre zu überbrücken. Wir wollen den Ursprung der menschlichen Rasse ergründen.« Palvers Gesicht war wieder ruhig und freundlich geworden. »Ich verstehe. Hm-m-m.« »Wissen Sie über das Ursprungsproblem Bescheid, Mister Palver?« fragte Buth. »Einigermaßen. Ich glaube, es gibt zwei Haupttheorien, nicht wahr?« Buth nickte. »Die Zusammenschluß-Theorie und die Ausbreitungstheorie. Nach der Zusammenschluß-Theorie ist die Menschheit das natürliche Entwicklungsprodukt aller Welten mit einer Wasser-Sauerstoff-Chemie, auf denen geeignete Temperaturen und
Druckverhältnisse herrschen. Nach der Ausbreitungs-Theorie hingegen stammt die Menschheit von einem einzigen Planeten ab und verteilte sich nach der Erfindung eines primitiven Hyperraumantriebs in der ganzen Galaxis. Ich darf vielleicht hinzufügen, daß die moderne Forschung die Zusammenschluß-Theorie ablehnt.« »Und Sie selbst?« erkundigte sich Palver. »Ich schließe mich dieser Meinung an. Die Zusammenschluß-Theorie ist unwahrscheinlich. So viele Zufälle, wie bei ihr erforderlich wären, gibt es in Wirklichkeit gar nicht. Die Ausbreitungstheorie ist die einzig vertretbare ich möchte sogar sagen, die einzig mögliche Erklärung für die Existenz des Menschen in der Galaxis.« * Palver beugte sich vor und nahm die Tragtasche, die er neben seinem Stuhl abgestellt hatte. »Ich ließ einen Abdruck Ihres Werkes ›Transformationen der Symbolischen Psychologie und ihre Anwendung auf die Verbreitung des Menschen‹ rückentwickeln. Wegen dieses Werkes habe ich mich entschlossen, hierher nach Sol III zu kommen. Ich bin selbst kein großer Mathematiker, aber das Buch erinnerte mich so an die alten Legenden, daß ich nun Feuer fing.« Buth lachte leise. »Soviel ich weiß, gibt es Legenden, daß sich manche Menschen unsichtbar machen können, um ihre Mitbürger ungestört zu beobachten. Hätten Sie sich auch für mich interessiert, wenn ich ein Werk über die Durchsichtigkeit von Glas geschrieben hätte?« »Und wie wollen Sie das auf diesen Fall hier übertragen?« fragte Ducem Palver. Buth sog heftig an der Zigarre. »Die Legende dreht sich um ein mathematisches System, das die Aktionen von großen Massen vorhersagen kann von der gesamten Bevölkerung der Galaxis. Meine Arbeit hat mit einer Vorhersage überhaupt nichts zu tun wenn Sie nicht von einer Vorhersage im umgekehrten Sinne sprechen wollen. Ich entwickelte das System, um in die Vergangenheit vordringen zu können nicht um zu entdecken, was die menschliche Rasse tun würde, sondern um herauszubringen, was sie getan hat. Jedes mathematische Vorhersage-System hat nämlich einen grundsätzlichen Fehler: Wenn die Menschen wissen, was sie tun werden, versuchen sie unweigerlich, diesem Muß auszuweichen und etwas anderes
zu tun. Und das kann kein System miteinbeziehen. Es wird zu einer Rückkoppelung, die das ganze System zerstört.« Palver nickte wortlos und wartete, bis Dr. Buth fortfuhr. »Aber dieser Fehler taucht in meinem System nicht auf, da es keine solche Rückkoppelung in die Vergangenheit geben kann. Ich habe die Spur der menschlichen Rasse nach rückwärts verfolgt über dreißigtausend Jahre hinweg, über die großen Völkerwanderungen von einem Stern zum nächsten. Ich habe jede Spur verfolgt, und sie alle führten zu einem Brennpunkt.« »Sie haben den Brennpunkt gefunden?« fragte Palver. »Ja. Er ist hier auf Sol III. Mein System zeigt eindeutig, daß hier und nur hier die Geburtsstätte der Menschheit war.« Ducem Palver warf einen Blick durch die transparente Wand am Ende des Raumes. »Ich weiß, daß die Archäologen den Ursprungsplaneten schon immer im Sirius-Sektor vermuteten, aber ich kann mir nicht vorstellen, daß diese öde Welt der Ausgangspunkt der größten Zivilisationen aller Zeiten sein soll.« Er lachte. »Nun ja, vielleicht sind die Menschen ausgezogen, weil es ihnen hier zu häßlich war.« Dr. Buth sah ebenfalls hinaus auf das sturmgepeitschte, schneeüberzogene Land. »Es war nicht immer so wie jetzt«, sagte er. »Dieser Planet hat ein zyklisches Klima weshalb, das wissen wir noch nicht. Es scheint lange Eiszeiten zu geben, unterbrochen von kürzeren Wärmeperioden. Jedenfalls war es vor dreißig- bis fünfzigtausend Jahren hier recht warm.« »Und davor?« fragte Palver. Buth runzelte die Stirn. »Wahrscheinlich auch eine Eiszeit. Wir stehen natürlich erst am Anfang unserer Forschungen. Es sind noch so viele Rätsel zu lösen.« »Zweifellos. Äh, haben Sie bisher schon etwas entdeckt?« Dr. Buth erhob sich. »Würden Sie unsere Funde gern sehen? Ich zeige Ihnen das Labor.« »Vielen Dank.« Ducem Palver erhob sich ebenfalls. »Das freut mich.« * Ein gut ausgerüstetes, reibungslos funktionierendes archäologisches Labor kann mit keinem gewöhnlichen Labor verglichen werden. Und dieses hier war mehr als typisch für seine Art. Riesige Datiermaschinen füllten eine Wand aus. Eine zweite wurde von chemischen
Analysiergeräten gesäumt. Dazwischen standen Instrumente aller Größen, Formen und Funktionen. Und es herrschte reges Leben. Maschinen summten, Techniker beugten sich über Materialproben, und Archäologen beobachteten die Aufzeichnungen der Prüfgeräte. Dr. Buth führte seinen Besucher durch den Raum und erklärte ihm kurz die Maschinen. Dann kamen sie an eine Tür mit der Aufschrift: FUNDE. Dr. Buth öffnete sie und winkte Palver ins Innere. »Hier sind die Gegenstände, die wir ausgegraben haben.« Der Raum sah im wahrsten Sinn des Wortes wie eine Abfalltonne aus, wenn auch jedes einzelne Stück Abfall sorgfältig numeriert und bezeichnet war. »Und all das sind Funde aus einer Zeit, als der Mensch den Raum noch nicht erobert hatte?« fragte Palver. Buth lächelte. »Natürlich nicht, Mister Palver. Wie Sie wissen, gehörte der Planet zum Ersten Imperium. Diese Dinge hier sind etwa zehn- oder elftausend Jahre alt. Sie beweisen nichts. Sie stammen aus den oberen Schichten des Planeten und wurden alle identifiziert und katalogisiert. Ich schätze, daß man sie bald vergessen wird. Nein, diese Dinge sind unwichtig. Erst unterhalb der K-Schicht werden wir auf bedeutsame Gegenstände stoßen.« »K-Schicht?« »Wir nennen sie so. K für Katastrophe. Es ist eine durchgehende Lage, soweit wir das überprüfen konnten, und sie wurde unserer Ansicht nach durch eine atomare Bombardierung geschaffen.« »Eine atomare Bombardierung? Auf dem ganzen Planeten?« Ducem Palver sah ihn schockiert an. »Es stimmt. Allem Anschein nach wurden gleichzeitig auf dem ganzen Planeten unkontrollierte atomare Reaktionen ausgelöst. Weshalb? Wir wissen es nicht. Aber wir wissen, daß die Schicht beinahe fünfundzwanzigtausend Jahre alt und noch jünger als die Raumfahrt ist.« »Tatsächlich?« »Es ist ganz klar«, meinte Buth trocken. »Wenn sich diese Katastrophe ereignet hätte, bevor die Menschheit den Hyperraumantrieb besaß, wäre niemand dem Unheil entgangen. Die Menschheit wäre ausgerottet worden, und man hätte nie wieder von ihr gehört.« »Natürlich, natürlich. Und was haben Sie unterhalb der K-Schicht gefunden?«
Die dunklen Augen des Archäologen wurden nachdenklich. »Bis jetzt nur wenig. Kommen Sie hierher.« * Ducem Palver folgte seinem Gastgeber quer durch das Zimmer zu zwei Gegenständen, die sich auf dem Boden befanden. Sie hatten, grob betrachtet, die Form einer umgestülpten Schale. Von dieser unregelmäßigen, verätzten, grauen Schale ging ein niedriger Zylinder des gleichen Materials aus. Nach Palvers Schätzung waren die Dinger etwa fünfunddreißig Zentimeter hoch. Der Durchmesser war am unteren Rand am breitesten und betrug etwa dreißig Zentimeter. »Wir haben die beiden noch nicht von der Steinkruste freigelegt«, sagte Dr. Buth. »Aber sie werden nichts anderes sein als die Dinger, die wir bereits untersucht haben.« »Und wozu dienten sie?« Buth schüttelte langsam den Kopf. »Wir wissen es nicht. Wir haben keine Ahnung von ihrer Funktion. Sie sind hohl, wie Sie sehen der Lehm hier oben im Zylinder sammelte sich im Laufe der Jahrtausende an. Sehen Sie den Ring hier um den unteren Sockel? Er ist auch hohl, und er steht in Verbindung mit dem Loch hier hinten.« Er deutete auf ein Loch unten am Sockel, das etwa den Durchmesser des Zylinders hatte. »Und Sie können sich wirklich nicht vorstellen, wozu diese Gegenstände benutzt wurden?« fragte Palver. Buth breitete hilflos die Hände aus. »Noch nicht. Ober Sutt, einer meiner Assistenten, glaubt, daß es sich um eine Art Verbrennungskammer gehandelt hat. Er ist der Ansicht, daß man Gase Wasserstoff und Sauerstoff beispielsweise hineingeleitet hat und die entstehende Wärme zu irgendwelchen Produktionszwecken ausnützte. Oder vielleicht wurde in den Vorrichtungen ein Produkt unter hohen Temperaturen künstlich hergestellt. Eine ziemlich primitive Methode, aber man hätte beispielsweise Ammoniak dadurch erhalten können. Ich bin kein Chemiker, aber Sutt wird die Sache noch genauer untersuchen.« »Weshalb glaubt er, daß man die Geräte für hohe Temperaturen verwendete?« Dr. Buth deutete mit der Zigarre auf die beiden Gegenstände. »Sie bestehen aus einem primitiven Porzellan eine schwere Masse aus gebranntem Silizium und Aluminiumoxyden. Jetzt sind sie natürlich
erodiert und ziemlich zerbrechlich, aber es dürfte ein Zeichen ihrer Stabilität sein, daß sie dreißigtausend Jahre durchgehalten haben.« »Vielleicht verwendete man das Porzellan wegen seiner Festigkeit?« meinte Palver fragend. »Das bezweifle ich. Wir wissen, daß die Menschen von damals Metalle kannten. Wir haben Oxyde von Eisen, Kupfer, Zink, Chrom und Aluminium überall da gefunden, wo wir Bauwerke oder größere Gegenstände vermuteten. Es wäre unlogisch, das spröde Porzellan zu verwenden, wenn man Metalle zur Verfügung hat.« »Sie halten also den Gedanken mit der Verbrennungskammer für die wahrscheinlichste Lösung?« Dr. Buth nahm einen langen Zug und betrachtete geistesabwesend die glühende Asche der Zigarre. »Nun, Ober Sutts Argumente sind nicht von der Hand zu weisen, aber ich bin nicht so sicher…« Er deutete wieder auf die Gegenstände. »Diese Dinger haben nämlich keinen Boden, und es sieht auch nicht so aus, als hätten sie je einen gehabt. Sutt entgegnet, daß sie wahrscheinlich auf Porzellanplatten saßen, aber bis jetzt haben wir keine Platten gefunden.« Palver betrachtete die beiden Gegenstände genau und zuckte dann mit den Schultern. »Was haben Sie sonst noch gefunden?« »Abgesehen von ein paar Scherben nichts.« Dr. Buth war nachdenklich. »Aber wir haben ja erst begonnen.« * Als sie wieder in Buths Büro waren, ließ Ducem Palver seine Reisetasche zuschnappen. »Es tut mir leid, daß ich Sie belästigt habe, Dr. Buth«, sagte er. »Und ich muß zugeben, daß die Frage nach dem Ursprung der Menschheit mich nicht sonderlich fesselt. Die letzte Phase des Ersten Imperiums und das Große Interregnum ja, das ist etwas ganz anderes. Aber wie der Mensch sich in der Galaxis ausbreitete…« Er zog die Augenbrauen hoch und hielt den Kopf schräg. Einen Moment lang wirkten seine blauen Augen sehr dunkel. »Nun, der Mensch ist hier. Ich überlasse es anderen, sich den Kopf über diese Tatsache zu zerbrechen.« Dr. Buth lächelte großzügig. »Es wäre auch schlimm, wenn wir uns alle für die gleichen Dinge interessierten, nicht wahr?« Er ging an die transparente Wand und sah hinaus auf die öde, sturmgeschüttelte Schneelandschaft. »Mich fasziniert, was den Menschen immer wieder vorwärtstreibt. Stellen Sie sich eine Zeit vor, in der es noch keine
Raumschiffe, noch keine modernen Instrumente gab. Wie müssen sich die Menschen gefühlt haben, als sie zu den Sternen hinaufsahen? Sicher kamen sie sich auf ihrem kleinen Planeten eingeengt vor.« Ducem Palver trat hinter ihn. »Vielleicht könnten Sie eine Parallele von dem Planeten Kaldee ziehen. Während des Interregnums wurde er von der übrigen Galaxis abgeschnitten. Die Leute vergaßen ihre Geschichte. Sie wußten nichts von Raumschiffen und fremden Sternen. Sie glaubten, daß die Lichter am Himmel nichts anderes als kleine Glassplitter waren, in denen sich ihre Sonne spiegelte. Und der Nachthimmel war für sie eine dunkle Kuppel, über die jemand die Glasscherben gestreut hatte.« »Tatsächlich?« Dr. Buth drehte sich nicht um. »Und wie konnten sie ihre Isolierung ertragen?« »Sie wußten nicht, daß sie isoliert waren. Im ganzen betrachtet, waren sie eigentlich recht glücklich. Sie hatten keineswegs den brennenden Wunsch, ihren Planeten zu verlassen im Gegenteil, sie räumten dieses Recht ihren Toten ein.« Dr. Buth runzelte die Stirn. »Weshalb wollte dann der primitive Mensch seinen Heimatplaneten verlassen? Weshalb war er nicht glücklich und zufrieden? Was weckte in ihm den Drang zum Wandern?« Und plötzlich schien sich sein ganzes Sein auf diese Frage zu konzentrieren. Weshalb hatte der Mensch beschlossen, den Raum zu erobern? Weshalb? Wodurch entstand dieser Trieb? »Ich muß es erfahren«, sagte er leise. Ducem Palver schien es nicht gehört zu haben. Nach langem Schweigen sagte Palver endlich: »Ich muß jetzt gehen, Dr. Buth. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg.« »Ja«, sagte Buth und starrte immer noch auf die Eisebene. »Ja. Vielen Dank, Mister Palver, vielen Dank. Leben Sie wohl.« Ducem Palver ging, und Buth starrte immer noch in das Weiß von Sol III. * Es war ein alter Planet von der Zivilisation her betrachtet. Natürlich nicht so alt wie Sol III, dachte Dr. Nikol Buth, aber doch sehr alt. Vor dem Interregnum hatte er als Regierungsplanet des Ersten Imperiums gedient, und noch früher war er der Kern gewesen, aus dem das Imperium sich entfaltet hatte. Es war einst eine mächtige Welt gewesen, geschützt und umgeben von dem eisernen Arm der Galaktischen Flotte. Und dann war
das Imperium gefallen, zusammengebrochen, und mit ihm war sein Hauptplanet versunken. Einst war er berühmt gewesen. Und jetzt? Jetzt war er schön. Der Hauptplanet des Zweiten Imperiums befand sich weit weg im Raum, und der alte Planet spielte keine Rolle mehr. Aber er war schön. Er war jetzt ein Gartenplanet, eingehüllt von grünen Wäldern, weiten Grasebenen und bunten Blumenfeldern. Es war ein Planet, an dem sich ein junger Mensch einige Wochen erholen konnte, bevor er in das geschäftige Leben des Imperiums zurückkehrte; und es war ein Planet, auf dem ein Alter nach der harten Arbeit seines Lebens Ruhe und Erholung finden konnte. Dr. Nikol Buth war jetzt alt, und die Jahre waren rauh mit ihm umgesprungen. Nachdem er sich dreißig Jahre lang auf ein unerreichbares Ziel zugekämpft hatte, suchte er nur noch Frieden. Hier, auf dieser Gartenwelt, würde er ihn finden. Es war nicht leicht, hier für immer seßhaft zu werden. Der Planet stand unter dem Protektorat des Imperiums und war persönlicher Besitz des Imperators, auch wenn Seine Majestät ihn nie besuchte. Touristen hatten zu manchen Teilen Zugang, aber es gab riesige Flächen, die allein verdienten Bürgern des Imperiums vorbehalten waren. Hier verbrachten sie ihren Lebensabend in Stille und Bescheidenheit. Doch es war schwer, sich ein Plätzchen zu erkämpfen. Der Herrscher persönlich verlieh die Besitzurkunden. Und Dr. Nikol Buth hatte das kostbare Dokument nun in seiner Tasche, unterzeichnet und versiegelt von Seiner Majestät, dem Imperator. Er war am Hafen gelandet, wie an jedem Hafen herrschte hier ein lebhaftes Treiben und hatte dafür gesorgt, daß seine persönlichen Habseligkeiten in sein neues Heim in dem kleinen Dorf Mallow gesandt wurden. Dann war er selbst mit einem Luftauto hingeflogen. An der Landestelle in Mallow empfing ihn ein freundlicher junger Mann, der sich als Wilm Faloban vorstellte »Faktotum und Polizeichef, falls man so etwas einmal hier brauchen sollte«, so hatte er gesagt. Er überprüfte Buths Ausweis und die Urkunde des Imperiums und meinte dann beiläufig: »Ich nehme an, Sie haben Ihr neues Heim noch nicht gesehen?« Buth schüttelte den Kopf. »Nicht direkt. Auf Stereoaufnahmen natürlich schon es ist genau so, wie ich es mir gewünscht habe. Ich…« Er unterbrach sich, weil er merkte, daß er ins Stammeln kam. »Ich weiß wirklich nicht,
wie ich mir hier einen Platz verdient habe. Du liebe Güte, es bewerben sich sicher ein paar Milliarden Menschen pro Jahr.« »So etwa«, bestätigte Faloban. Er öffnete die Tür seines Bodenautos. »Steigen Sie ein«, sagte er. »Ich fahre Sie zu Ihrem Haus.« Buth nickte dankbar und betrat vorsichtig die kleine Maschine. Er mußte auf seine spröden alten Knochen und die müde gewordenen Muskeln achtgeben. »Und wie viele werden angenommen?« fuhr er fort. »Nur einige.« Faloban glitt in den Fahrersitz. »Durchschnittlich zehntausend pro Jahr«, sagte er. »Es muß streng ausgewählt werden.« »Ich habe keine Ahnung, wodurch ich das verdiene«, murmelte er. Faloban lachte vor sich hin, als er auf den Gashebel trat und das kleine Fahrzeug glatt dahinjagte. »Ihr großen Männer seid doch alle gleich. Ihr denkt immer, daß ihr nichts erreicht habt.« »Aber bei mir ist es wirklich so«, erklärte Buth. »Ich habe einfach nichts erreicht. Nichts.« Wieder lachte Faloban. »Da müssen Sie sich mal mit dem alten Ducem Palver unterhalten. Das ist Ihr Nachbar. Er sagt das gleiche wie Sie. Komisch, was, daß der Imperator immer die Taugenichtse erwischt?« Aber Dr. Nikol Buth hörte nicht mehr zu. Ducem Palver, dachte er. Ducem Palver. Wo habe ich den Namen schon einmal gehört? Und dann erinnerte er sich. Laut sagte er: »Ja, ich werde mich mit Mister Palver unterhalten. Er wohnt in der Nähe?« »Nur einen Kilometer von Ihnen entfernt. Wir kommen unterwegs an seinem Haus vorbei.« * Eine Frau machte auf, eine kleine, rundliche, freundliche Frau, deren weißes Haar fast silbrig schimmerte. Sie war alt, gewiß, aber in ihrem Gesicht stand immer noch die Schönheit der Jugend durch die Jahre in eine schlichte, beinahe königliche Anmut verwandelt. »Bitte?« Ihre Stimme war sanft, ebenso wie ihr Lächeln. »Ich…« Buth spürte das Zögern in seinen Worten und versuchte es zu überwinden. »Ich suche Mister Ducem Palver. Mein Name ist Buth Dr. Nikol Buth. Ich weiß nicht, ob er sich noch an mich erinnert…« Die Frau trat zur Seite. »Kommen Sie herein, Mister Buth, bitte. Ich bin Mrs. Palver. Ich hole meinen Mann gleich.«
Sie bot ihm einen Sessel an und ging erst, als er es sich bequem gemacht hatte. Komisch, dachte Buth. Ich hätte nie gedacht, daß Palver verheiratet sein könnte. Nun ja, das alles ist mehr als dreißig Jahre her. Vielleicht hat er später geheiratet… »Ah, Dr. Buth! Was für eine Freude, Sie hier begrüßen zu dürfen!« Buth zuckte ein wenig zusammen und wandte sich dann rasch seinem Gastgeber zu. Ein Stich im Rücken warnte ihn bei der unvorsichtigen Bewegung. Palver hatte sich natürlich auch verändert. Sein früher so dichtes, dunkles Haar war schütter und grau geworden. Sein Gesicht wirkte immer nach voll, aber es war ein wenig schlaff, und die Augen glänzten nicht mehr so wie früher. Buth hatte das Gefühl, daß das Blau stumpf geworden war. Aber seine bestimmte Art war geblieben. Er streckte Buth die Hand entgegen und sagte: »Ich bin wohl der erste, der Sie auf Mallow und Forest Glade begrüßen darf?« Buth drückte die ausgestreckte Hand. »Wenn Sie den jungen Mann namens Faloban nicht mitzählen ja. Vielen Dank für den herzlichen Empfang.« »Sie mochten früher Zigarren, nicht wahr?« Palver ging an ein Wandfach und holte einen kleinen Zigarrenkasten heraus. »Ich selbst rauche sie nicht«, sagte er. »Aber ich hebe sie für Freunde auf.« Buth nahm die Zigarre an und rauchte mit Genuß. »Ich muß mich jetzt auch einschränken«, erklärte er. »Wahrscheinlich habe ich mich in den letzten Jahren übernommen. Die Lunge will nicht mehr so recht.« »So, so…« Palver zog sich einen Sessel heran und nahm Platz. »Wie ist es Ihnen denn ergangen? Ich hätte nicht geglaubt, daß Sie sich noch an mich erinnern würden. Ich war ja nur ein kleiner Niemand. Haben Sie eigentlich auf Sol III etwas Bedeutendes gefunden? Leider habe ich Ihre Arbeit nicht weiterverfolgt. Ich wurde befördert und dann nach hierher abserviert. Seitdem erreichen mich die Neuigkeiten aus der großen Welt sehr spät.« »Da gibt es nicht viel zu erzählen«, sagte Buth. »Sol III war eine Sackgasse. Ich konnte überhaupt nichts beweisen.« Palver sah ihn verständnislos an. »Ich… Was meinen Sie damit?« Dr. Buth lehnte sich bequem zurück. »Ganz einfach. Ich bin ein Versager, das ist alles. Das ist kein Scherz und keine falsche Bescheidenheit aber auch keine Bitterkeit. Ich habe dreißig Jahre meines
Lebens vergeblich nach einer Antwort gesucht. Es gelang mir nicht, mein Problem zu lösen.« Ducem Palver wirkte ein wenig unbehaglich. Buth bemerkte es, und ihm wurde klar, daß Palver wahrscheinlich keine Ahnung mehr hatte, wovon er eigentlich sprach. Dreißig Jahre sind lang, wenn man sich an eine Unterhaltung erinnern soll, die nicht einmal eine Stunde gedauert hat. Auch Buth hatte nicht mehr daran gedacht, bis Faloban Ducem Palvers Namen erwähnt hatte. »Wie Sie vielleicht noch wissen«, erklärte er rasch, »suchte ich mit meinen Leuten auf Sol III die K-Schicht ab, um einen Beweis für meine Theorie zu erlangen, daß der Planet die ursprüngliche Heimat der Menschheit war. Über der K-Schicht fanden sich nur Gegenstände aus späteren Zeitaltern. Sie bewiesen überhaupt nichts. Aber wir hofften, unterhalb der Schicht auf Beweismaterial zu stoßen.« »Ach ja«, sagte Palver. »Und die Funde gehörten auch einer späteren Zeit an?« Eine Spur Bitterkeit war in Buths Lachen. »Ich weiß es nicht das ist es ja. Ich konnte bis heute nicht erfahren, ob die Funde einer Zeit vor oder nach der Atomkatastrophe angehörten. Ich weiß nicht einmal, wer sie herstellte und welchen Zweck sie erfüllten.« »Was war mit diesen Porzellandingern?« fragte Palver. »Haben Sie außer ihnen noch andere Gegenstände entdeckt?« Diesmal klang Buths Stimme wütend. »Andere Gegenstände nein. Aber diese Porzellandinger in Hülle und Fülle. Wenn Sie es genau wissen wollen: In dreißig Jahren buddelten wir zwölftausendvierhundertfünfundneunzig aus.« Er schöpfte Atem, und Palver beobachtete ihn schweigend. »Nach den ersten paar Tausend kümmerten wir uns nicht mehr darum. Sie wurden uns lästig. Wir hatten zweihundert Abwandlungen unter neun Hauptgruppen klassifiziert. Allmählich behandelten wir sie wie Tiere und untersuchten sie nach Einzel- und Gruppenmerkmalen.« Seine Stimme klang mit einemmal aufgebracht. »Dreißig Jahre habe ich gearbeitet und versucht, einen Schlüssel zur Zivilisation vor dem Raumzeitalter zu entdecken. Es war mein einziger Lebenszweck. Ihm habe ich meine ganze Kraft gewidmet. Und was habe ich gefunden? Nichts außer geheimnisvollen Porzellanschalen.« Er saß einen Moment lang schweigend da und sah mit zusammengepreßten Lippen auf seine Hände.
* Palver fragte freundlich: »Und Sie haben sonst gar nichts entdeckt?« Buth sah auf und lächelte schwach. »O doch, wir fanden natürlich ein paar Kleinigkeiten. Aber sie ergaben auch keinen Sinn. Das Schlimme ist, daß sich außer Steinen und Steingut nichts erhalten hat. Metalle korrodierten, Kunststoffe faulten. Wir fanden einige Gegenstände aus Polyäthylentetrafluorid, aber sie waren völlig verformt. Wir konnten das Zeug nicht einmal zeitlich einordnen. Es war mindestens zwanzigtausend Jahre alt, konnte aber auch hundertfünfzigtausend Jahre im Boden gelegen haben. Wir besaßen keinerlei Normen. Ja, wir fanden auch Knochen. Die damaligen Menschen hatten zweiunddreißig Zähne und nicht achtundzwanzig wie wir, doch das will nicht viel heißen. Wir entdeckten Schutt, der auf ehemalige Gebäude schließen ließ, aber nach all den Jahrtausenden konnten wir nicht sicher sein. An einer Stelle gruben wir ein paar Tonnen Goldbarren aus. Wahrscheinlich hatte hier einmal ein Lagerhaus gestanden. Wir schätzten daraus, daß sie Gold chemisch herstellten, denn es ist ziemlich selten und hat so wenige Verwendungsmöglichkeiten, daß sich der Abbau aus den Minen nicht lohnt. Das wiederum heißt, daß sie wahrscheinlich die Atomkraft und damit die Raumfahrt kannten. Aber etwas Definitives wissen wir nicht. Was uns jedoch auf die Dauer wahnsinnig machte, waren diese Porzellankuppeln. So viele! Welchem Zweck mögen sie nur gedient haben? Weshalb brauchte man diese riesige Menge?« Buth rieb sich mit dem Handrücken über den Nacken und lachte ein wenig. »Wir konnten es nicht erfahren. Vielleicht bleibt es für ewig ein Rätsel.« Palver beugte sich vor. Er hatte Feuer gefangen. »Hatte nicht einer Ihrer Leute ich weiß seinen Namen nicht mehr die Theorie entwickelt, daß man mit dem Gerät eine Synthese bei hohen Temperaturen durchführen könnte?« »Möglich«, sagte Dr. Buth. »Aber welche Synthese? Außerdem fanden wir einige fast unbeschädigte Exemplare, und sie wiesen keine Spuren von längerer Hitzeeinwirkung auf. Sie waren von einem Silikatgemisch überzogen, aber das Innere und das Äußere hatten die gleiche Konsistenz.« »Was müßten Sie finden, um herauszubringen, wozu die Kuppeln dienten?« fragte Palver.
Buth sog an seiner Zigarre und überlegte. »Die Verbindungsstücke«, sagte er schließlich. »Wie bitte?« »Die Kuppeln gehörten ohne jeden Zweifel zu einer größeren Vorrichtung«, erklärte Buth. »Sie haben Ausgänge, die mit irgendwelchen metallischen Gliedern verbunden waren. Wie sie aussehen, wissen wir nicht, da sich das Metall längst aufgelöst hat. Auch die sorgfältigste elektrolytische Rekonstruktion konnte uns keinen Aufschluß mehr geben. Und es befinden sich Löcher in den oberen und unteren Flanschen.« Er griff in seine Tasche. »Warten Sie ich habe hier eine Aufnahme unseres besten Exemplars. Ich werde Ihnen zeigen, was ich meine.« Der kleine transparente Würfel, den er aus der Tasche holte, enthielt eine Miniatur-Reproduktion des rätselhaften Gegenstands. Buth reichte ihn Ducem Palver. »Aber was, ach so, Sie müssen das Ding umdrehen. Sie sehen es ganz verkehrt an.« »Woher wissen Sie das?« fragte Palver und sah den Würfel an. »Was?« »Ich meine, woher wissen Sie, was oben und unten ist«, erklärte Palver. »Wie können Sie das unterscheiden?« »Ach so. Nun, sicher sind wir natürlich nicht, aber wir nehmen an, daß das breitere Teil sich unten befindet. Die Konstruktion wäre instabil, wenn der Sockel einen kleineren Durchmesser als das obere Teil hätte.« Er zuckte mit den Schultern. »Wie gesagt genau wissen wir es leider nicht.« * Palver drehte die kleine Rekonstruktion nachdenklich in den Händen hin und her. Sie war wirklich rätselhaft. »Vielleicht ist es ein Schmuckgegenstand oder so etwas«, meinte er dann. »Könnte sein. Ober Sutt, der zwanzig Jahre lang mein Assistent war, meint, daß die Dinger vielleicht als Heizkörper dienten. Das würde ihre Häufigkeit erklären. Aber sie weisen keine Wärmeeinwirkungen auf, und weshalb sollte man sich so primitiver Heizmethoden bedienen, wenn man die Atomkraft kannte?« Wieder lachte er ein wenig bitter. »Nach dreißig Jahren hatten wir also ebensowenig in der Hand wie zu Beginn. Nichts.« »Es ist zu schade, daß Sie keine Schriften entdecken konnten«, sagte Palver und gab seinem Besucher die Stereoaufnahme zurück. »Oh, wir haben einige Schriftzeichen entdeckt, aber sie nützten uns überhaupt nichts. In der Nähe mancher Kuppeln befanden sich kleine
Platten, höchstens so groß.« Er deutete ein Quadrat von etwa zehn Zentimetern Seitenlänge an. »Und sie enthielten eingravierte Zeichen. Zuerst dachten wir, daß mit diesen Platten die Verbrennungskammern ausgekleidet waren aber auch an ihnen waren keine Spuren von Hitzeeinwirkung zu sehen. Und sie waren durch irgendeinen Klebstoff aneinandergereiht, denn wir fanden Gravierungen, die über mehrere Platten hinweggingen. Warten Sie, ich zeige es Ihnen.« Er holte einen Schreibstift und ein Notizbuch aus der Tasche und malte sorgfältig einige Zeichen darauf. Dann reichte er das Buch Ducem Palver. »Diese Zeilen waren flach eingebrannt. Wir wissen nicht, ob es eine Art Schrift war oder ob es sich um Kanäle handelte, die einen anderen Zweck hatten. Allerdings neigen wir zu der Ansicht, daß es Schriftzeichen sind, da wir ähnliche Gravierungen auch auf anderen Platten fanden.« »Und sie waren in der Nähe der geheimnisvollen Kuppeln?« fragte Palver. »Genau.« »Sie ergeben keinen Sinn.« »Eben. Und sie werden auch nie einen ergeben, wenn wir keine Möglichkeit finden, sie mit unserer Sprache und Schrift zu vergleichen.« Palver schwieg eine Zeitlang, und Dr. Buth starrte das glimmende Ende seiner Zigarre an. Schließlich ließ Buth den Rest in einen Abfallschacht fallen, wo er zerstob. »Dreißig Jahre«, sagte er. »Und ich habe nichts vorzuweisen. Oh, die Arbeit hat mir Spaß gemacht, das will ich nicht leugnen. Aber es ist komisch, daß man an nutzloser Arbeit Spaß finden kann. Eine Zeitlang dachte ich sogar daran, meine mathematischen Theorien wiederaufzunehmen und zu sehen, ob sie auch zu einem Totpunkt führen würden.« Palver nickte unbehaglich und gab ihm das Notizbuch zurück. »Dennoch«, fuhr Buth fort und warf einen Blick auf die Schriftzeichen, »kein Mensch verschwendet gern dreißig Jahre. Und eine Verschwendung war es.« Wieder sah er die Schriftzeichen an. Bedeutungslose Linien mit einem bedeutungslosen Muster: BITTE VOR VERLASSEN DES RAUMES DIE SPÜLUNG BETÄTIGEN!
»Verschwendung«, sagte er leise. »Alles Verschwendung.« ENDE
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Der Clan der blauen Schlangen von Hans Kneifel Sie wollten keine Hilfe – denn sie haßten die Menschen … Das dritte, völlig in sich abgeschlossene Abenteuer der Männer vom ALLROUND-SERVICE!