Freder van Holk Violan
SUN KOH-Taschenbuch erscheint vierwöchentlich
im Erich Pabel Verlag KG, Pabelhaus, 7550 Rast...
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Freder van Holk Violan
SUN KOH-Taschenbuch erscheint vierwöchentlich
im Erich Pabel Verlag KG, Pabelhaus, 7550 Rastatt
Neu bearbeitet von Heinz Reck
Copyright © 1979 beim Autor und Erich Pabel Verlag, Rastatt
Agentur Transgalaxis
Titelbild: Nikolai Lutohin
Alle Rechte vorbehalten
Gesamtherstellung: Clausen & Bosse, Leck
Vertrieb: Erich Pabel Verlag KG
Verkaufspreis inkl. gesetzl. MwSt.
Unsere Romanserien dürfen in Leihbüchereien nicht verliehen
und nicht zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden:
der Wiederverkauf ist verboten.
Alleinvertrieb und Auslieferung in Österreich:
Pressegroßvertrieb Salzburg, Niederalm 300
A-5081 Anif
Abonnements und Einzelbestellungen an
PABEL VERLAG KG, Postfach 1780, 7550 RASTATT,
Telefon (0 72 22) 13-2 41
NACHDRUCKDIENST:
Edith Wöhlbier. Burchardstraße 11, 2000 Hamburg 1,
Telefon (0 40) 3 01 96 29, Telex 02 161 024
Printed in Germany
September 1979
Scan by Brrazo 03/2006
1.
Lerat war ein übler Bursche, der ein übles Gewerbe betrieb. Man nannte ihn wohl deshalb die »Ratte«, weil Nase und Mund aus seinem graubleichen, pik kelfleckigen Gesicht nach vorn stießen und ihm, zu sammen mit der niedrigen Stirn und den kleinen Au gen, etwas Rattenähnliches gaben. Vielleicht sollte der Name aber auch eine Anspielung auf seinen Be ruf sein. Lerat pflegte zwischen Abend und Morgen um alleinstehende Häuser herumzuschleichen und jede Gelegenheit wahrzunehmen, wo er durch einen schnellen Griff oder einen mühelosen Einstieg Beute machen konnte. Gelegentlich kam es ihm sogar nicht darauf an, mit einem Schlag nachzuhelfen. Die Polizei von Paris kannte ihn gut. Er war für sie einer der kleinen Dunkelmänner, die scheinbar un ausrottbar, wie das Böse überhaupt, durch die Vor städte schlichen und dann und wann von sich reden machten. Diese Sorte gab der Polizei fortlaufend Kleinarbeit. Große Verbrechen begingen sie nicht, deshalb wanderten sie immer nur für Monate ins Ge fängnis. Lerat befand sich noch keine zwölf Stunden in Freiheit, als er durch die Straßen von La Villette auf Montmartre zuhielt. Acht Monate hatte ihn die letzte Unvorsichtigkeit gekostet, acht Monate lang hatte er 5
Staatskleidung getragen. Er mußte nun schleunigst seine alten Freunde aufsuchen, um die gewohnten Verbindungen wieder aufzunehmen. Deshalb ging er gleich am ersten Abend in seine Stammkneipe. Es war ein kleines Lokal mit einer Gaststube und einem Dutzend Tischen, in dem überwiegend Hand werker und Geschäftsleute aus den anliegenden Stra ßen verkehrten. Auch Lerat und seine Freunde. Aber sie traten ja auch ehrsam auf und konnten mühelos unter die an deren eingereiht werden. Lerat konnte sich sehen lassen. Er trug sogar einen Anzug, der als elegant gelten konnte. Wenige Stun den zuvor hatte er ihn von einem Trödler erhandelt, und dieser hatte ihm hoch und heilig versichert, daß der letzte Besitzer ein vornehmer Mann gewesen sei. Lerat fühlte sich denn auch ganz wohl in seiner neuen Hülle. Die Kühle des Abends ließ ihn gele gentlich einen Mantel vermissen, aber er tröstete sich damit, daß es bei Vater Bonnet gemütlich warm sein würde. Und er war frei und hatte vorläufig von der Polizei nichts zu fürchten. Er konnte unbesorgt sein Gläschen genießen. So stemmte er zufrieden die Hand in die Jackenta sche und schlenderte seines Wegs. Wie von ungefähr kam ihm etwas zwischen die Finger, das in der Ta schenfalte gelegen hatte. Er hielt es für eine abgebro chene Nadel und nahm es zwischen die Lippen, wie 6
er früher einen Strohhalm zwischen die Zähne ge nommen hatte. Bei der Kneipe angekommen, trat Lerat wie ein Stammgast ein, der sich allabendlich sehen läßt. Der Wirt nickte ihm vertraulich zu und machte eine harmlose Bemerkung über die lange Abwesenheit, ein paar Leute, mit denen er gelegentlich Karten ge spielt hatte, erwiderten seinen Gruß. Die Freunde, die Lerat suchte, standen am Billard und machten ein Spielchen. Sie zwinkerten ihn an, schüttelten ihm die Hand und stellten einige kurze Fragen, um dann wieder weiterzuspielen. Die Rück kehr Lerats bedeutete keine Sensation. Es geschah immer einmal, daß einer für längere Zeit ausblieb. Lerat hatte nichts anderes erwartet. Er lehnte sich an die gußeiserne Säule, die die Decke trug, und nahm wohlig die Wärme des Kanonenofens auf, der dicht neben der Säule hinter einem schwarzen Ofen schirm sanft glühte. »Absinth«, bestellte Lerat beim Wirt. Während er die Nadel in den anderen Mundwinkel rollen ließ. Einer der Spieler trat heran und stieß ihn an. »Lange keinen Grünen gehabt, was?« Lerat nickte. »Der erste seit acht Monaten. Und eine Zigarette …« Der andere hielt ihm die Schachtel hin. »Hier.« »Danke.« 7
Lerat wollte die Zigarette in den Mund stecken und merkte dabei, daß er immer noch die Nadel zwi schen den Zähnen hielt. Er nahm sie heraus. Eigent lich war das keine Nadel, eher ein Stück Draht. Es besaß weder Kopf noch Spitze, ließ sich aber auch nicht biegen wie Draht. Und es war so leicht, daß man kein Gewicht spürte. Nun, Lerat untersuchte nicht lange. Er warf einen gleichgültigen Blick darauf und schleuderte es mit einer lästigen Handbewegung zur Seite. Es fiel genau auf die rötlich glühende Ofenplatte. Lerat sah es aus dem Augenwinkel heraus. Im nächsten Augenblick schoß von der Ofenplatte eine weiße Stichflamme auf, und gleichzeitig hatte Lerat das Empfinden, daß ihm ein Ochse mit voller Wucht gegen die Brust stieß. Er schoß nach rück wärts, krachte gegen etwas und verlor für kurze Zeit das Bewußtsein. Er war nicht der einzige, der seine Lage plötzlich veränderte. Die wenigsten erlebten es jedoch mit so viel Bewußtsein wie Lerat. Als der furchtbare Krach die Trommelfelle wieder freigab, als fast eine Minute lang die Stille der Reg losigkeit über der Gaststube gelegen hatte, rappelten sich die ersten Gäste auf. Der Raum hatte sich völlig verändert. Stühle und Tische lagen zum Teil ganz, zum Teil als Kleinholz an den Wänden. Die gußeiserne Säule 8
stand schräg im Raum. Die Decke hing wie ein Trichter. Die Wände zeigten an mehreren Stellen be drohliche Risse. Vom Ofen war nichts übriggeblie ben, aber dafür zuckte hier und dort zwischen den Holztrümmern Feuer auf. Der Ofenschirm deckte mit großen Fetzen die Theke, unter der der Wirt mit dem abgerissenen Bierzapfer lag. Die Fensterscheiben waren verschwunden, von den Gardinen hingen nur noch Reste. Soviel ungefähr sahen die Männer, die sich als er ste aufrappelten und verstört um sich blickten. Sie hielten sich nicht erst mit langen Betrachtungen auf, sondern taumelten schleunigst ins Freie. Auch Lerat wankte hinaus. Es zeugte für seine Benommenheit, daß er nicht einmal daran dachte, in diesem Zwischenfall eine günstige Gelegenheit zu sehen. * Sun Koh befand sich mit Nimba und Hal in Paris. Eine bemühte Hotelleitung veranstaltete, wie oft in diesen Tagen, eine Rundfahrt für ihre Gäste durch die Vergnügungsstätten von Paris, vor allem auf den Montmartre. Erstens muß man den Gästen etwas bie ten, und zweitens ging die Zeche unter diesen Um ständen auf Hotelrechnung, um leicht geschwollen als Pauschalarrangement auf den Rechnungen der 9
Gäste wieder aufzutauchen. Nimba hatte seine Neu gier auf die Genüsse des Pariser Nachtlebens nicht ganz verbergen können und die Reize einer derarti gen Ausfahrt so lange von allen Seiten her beleuch tet, bis Sun Koh zugestimmt hatte. So kam es, daß sie mit einer ganzen Gesellschaft eben in dem Augenblick in das »Moulin Rouge« hi neingehen wollten, als um die Ecke herum die Gaststube des Vater Bonnet in die Luft flog. Die Ex plosion war stark genug, um auch an der Vorderfront noch den Luftdruck erheblich spüren zu lassen. Und der Krach war nicht zu überhören. Sie kamen gerade zurecht, um einige Männer aus der zerstörten Gaststube heraustaumeln zu sehen. Drinnen war alles Licht erloschen, aber die Bogen lampe über der Straße gab so viel Helligkeit, daß man wenigstens das Notwendigste erkennen konnte. Sie drangen ein. Dort lagen Menschen. Über den Köpfen knisterte es. Zu dritt griffen sie zu. Unmittelbar nach ihnen kam ein Polizist, der eifrig mithalf. »Haben Sie denn kein Licht?« schrie Sun Koh ihn an. Der Polizist erinnerte sich jetzt erst an seine Lampe. »Ah – doch …« Draußen griffen andere zu, einige Beherzte dran gen ein und halfen mit. Das hetzende Signal von Po lizei und Feuerwehr schnatterte heran. »Alles raus?« 10
»Hier, unter der Theke.« »Achtung, die Decke!« »Raus!« Sun Koh riß die Theke weg und nahm den Wirt auf. Er kam gerade noch vor der niedergehenden Decke hinaus, durch die ein Klavier hindurchrutschte. Draußen quirlte alles durcheinander. Die Feuer wehr sprang eben ab, die Polizei versuchte, Luft zu schaffen. Die Betäubten und Verletzten waren bereits zur Seite geschafft worden. Sun Koh, Hal und Nimba wichen mit den anderen zurück zur anderen Straßenseite. Für einen Besuch im »Moulin Rouge« sahen sie nun freilich nicht mehr gut genug aus. Nimba blickte bekümmert an sich herunter und meinte kopfschüttelnd: »Und so etwas war einmal ein guter Anzug. Nun kann ich mir an dem Hemd auch die Hände abwischen. Zu verderben ist da nichts mehr.« Sun Koh trat etwas zur Seite. Ein Stück hinter ihm redeten zwei Männer heftig miteinander. Was die beiden da sagten, schien ihm recht bemerkenswert. »Was willst du denn?« knurrte Lerat wütend. »Laß mich bloß in Ruhe. Ich kann doch schließlich nichts dafür.« Malette, einer der Freunde Lerats, nahm sein Ta schentuch von der aufgeschlagenen Stirn, um zu se hen, ob er immer noch blutete. »Darüber kann man verdammt anderer Meinung 11
sein«, setzte er dagegen. »Ich habe schließlich genau gesehen, wie du das Ding auf die heiße Ofenplatte geworfen hast.« »Das Ding!« höhnte Lerat ärgerlich. »Das war doch weiter nichts als ein Stückchen Draht.« »Ach ja, weiter nichts als ein Stückchen Draht?« »Jawohl«, sagte Lerat heftig. »Aus meiner Tasche habe ich’s herausgeangelt, und zwischen die Zähne genommen. Ich hielt es für eine Nadel. Oder denkst du etwa, ich nehme etwas in den Mund, was mich auseinanderreißen kann?« Malette fand den Einwand beachtlich. »Hm, allerdings«, gab er nachdenklich zu. »Du hattest es im Mund. Aber es war bestimmt nichts an deres als dieses Stückchen Draht. Ich habe es hochzi schen sehen.« »Ich auch«, knurrte Lerat. »Aber hol mich der Teufel, wenn ich an das glaube, was ich gesehen ha be. Dieses Stückchen, kaum so lang und so stark wie eine Stecknadel, soll die ganze Bude auseinanderge sprengt haben? Da lachen ja die Spatzen! Ausge schlossen!« »Aber ich habe genau gesehen, wie die weiße Stichflamme daraus hochschoß«, beharrte Malette. »Und die Explosion kannst du ja nicht bestreiten.« »Natürlich nicht, aber wer weiß, was da losgewe sen ist. Vielleicht war es Leuchtgas oder sonst etwas, das sich gerade in dem Augenblick entzündete.« 12
»Das glaubst du doch nicht wirklich, he?« »Verdammt noch mal«, fluchte Lerat, »willst du mich mit aller Gewalt beschuldigen? Am liebsten möchtest du mich wohl anzeigen, was? Aber ich kann dir versichern, daß ich …« Sun Koh trat noch einen Schritt zurück und wand te sich plötzlich um, so daß er die beiden, die nicht mit seinem scharfen Gehör gerechnet hatten, vor sich sah. »Eine Frage, meine Herren. Was war das für ein Stück Draht, das Sie auf den Ofen geworfen haben?« Lerat zog sofort den Kopf ein und murmelte mür risch: »Ich weiß nicht, wovon Sie reden. Was wollen Sie?« »Nur eine kleine Auskunft«, sagte Sun Koh und hielt einen Hundertfrancschein hin. »Ich möchte gern mein Wissen bereichern.« Lerat griff zögernd zu. »Sind Sie von der Polizei?« »Nein. Also, was war das, was Sie auf den Ofen warfen?« »Ich habe es nur weggeworfen«, berichtigte Lerat verdrossen. »Es fiel ganz zufällig auf die Ofenplatte.« »Und zischte weiß auf, woraufhin die Explosion erfolgte?« »Eine Stichflamme gab es. Sie hat mir die Haare versengt. Ich habe es für eine Stecknadel gehalten. Es sah aber schwarz aus und war gleich stark. Biegen 13
ließ es sich nicht. Und so genau habe ich mir das nicht angesehen, ich dachte eben, es sei eine Nadel. Hier, in dieser Tasche habe ich es gefunden, unten in der Futternaht. Es kam mir zwischen die Finger, als ich zu Vater Bonnet ging. Und ich habe es ganz in Gedanken zwischen die Zähne genommen.« »Welches Glück für Sie, daß die Explosion nicht durch Druck erfolgte. Ist das Ihre Jacke?« »Heute nachmittag habe ich sie gekauft«, murrte Lerat, dem die Fragen unangenehm nach Verhör klangen. »Bei dem Trödler Fromard in der Rue Ba gnolle, wenn Sie es genau wissen wollen. Hm, ich werde mir den Schleicher vornehmen, wenn ich auch nicht glaube, daß dieses Stück Draht an der Explosi on schuld war. Komm, Malette.« Sie wollten sich entfernen, aber da trat von der an deren Seite ein Mann an sie heran und hielt sie auf. »Augenblick, ihr beiden. Ich glaube, eure Aussage wird eben noch gebraucht.« »Himmel und Hölle!« protestierte Lerat. »Was wollen Sie denn?« »Kriminalpolizei. Eure Unterhaltung war recht in teressant. Los, macht keine Flausen. Ich kenne euch beide schon. Und Sie, mein Herr, wollen doch sicher ebenfalls Ihre Aussage machen. Ich nehme an, daß Sie sich Ihrer Zeugenpflicht nicht entziehen werden.« »Ich komme sofort«, beruhigte Sun Koh den Kri minalbeamten und trat zu seinen beiden Begleitern. 14
»Kommt, wir wollen unsere Aussage machen.« »Wir wissen doch gar nichts«, meinte Nimba. »Wir waren immerhin die ersten an der Unfallstelle.« Die Absperrung ließ sie durch, aber bevor sie den Hauseingang erreichten, wurden sie von einem Mann aufgehalten, der sich durch Notizblock, Bleistift und Kamera genügend als Berichterstatter auswies. »Meine Herren!« schrie er aufgeregt und reckte die eine Handfläche entgegen, als wolle er sie be schwören. »Einen Augenblick, wenn ich bitten darf. Millefleurs vom ›Journal‹. Sie waren Zeuge der Vor gänge? Erlauben Sie mir nur einige Fragen. Welchen Eindruck hatten Sie von der Explosion?« »Lassen Sie sich die Erlaubnis geben, an den Ver hören teilzunehmen«, sagte Sun Koh kurz. »Unsere Zeit ist bemessen.« »Nur diese Frage«, beharrte der Berichterstatter.
Sun Koh nickte Hal zu.
»Du erledigst das wohl. Ich mache inzwischen un
sere Aussage.« Er ging mit Nimba weiter. Hal verstand vollkommen. »Also schön«, sagte er, »was wollen Sie denn wis sen?« »Welchen Eindruck hatten Sie von der Explosion?« »Es war eine sehr schöne Explosion!« »Wieso? Ah, ich verstehe, eine starke Explosion. Sie befanden sich in unmittelbarer Nähe?« »Am Eingang von ›Moulin Rouge‹.« 15
»Ausgezeichnet.« »Das sehe ich nicht ein.« »Was?« »Warum es ausgezeichnet ist, daß wir uns dort be fanden.« Der Berichterstatter blickte verdutzt, faßte sich aber schnell. »Ah, ich verstehe. Ausgezeichnet. Ich meinte selbstverständlich, daß Sie dadurch in die Lage ge kommen sind, sich so schnell an dem Rettungswerk zu beteiligen. Sie werden mir zugeben, mein Herr, daß es etwa vom Eingang des Louvre aus zu weit gewesen wäre.« »Das wäre zu untersuchen. Welche Entfernung schätzen Sie?« »Wieso?« »Vom Louvre bis hierher?« »Oh lá lá, einige Kilometer. Aber wenn ich fragen darf …« »Warten Sie«, bat Hal. »Einige Kilometer sind ei nige Kilometer. Man läuft sie nicht in einer halben Minute herunter. Ich finde, Sie haben vollkommen recht, wenn Sie es für ausgezeichnet halten, daß wir uns am Eingang vom › Moulin Rouge‹ aufhielten.« »Gewiß – aber was ich fragen wollte: Waren Sie der erste?« »Der zweite.« »Ausge – ich meine, Hervorragend! Und …« 16
»Das kann man nun wieder nicht sagen«, bedachte Hal gewissenhaft. »Der erste ragte noch mehr her vor.« »Sie besitzen Humor, mein Herr. Eine köstliche Gabe in der Stunde der Gefahr. Wie fanden Sie die Gaststube von Vater Bonnet?« »Ich lief hinter meinem Vordermann her. Wie er bei dem lauten Krach so schnell auf den Gedanken gekommen ist, daß dort etwas explodiert sein könnte, weiß ich nicht.« Die Augen des Berichterstatters bekamen etwas Starres. Seine Miene verriet, daß er sein Opfer merk würdig fand. »Ausge – ich meine, sehr schön. Aber wie fanden Sie nun die Gaststube, ich meine, in welchem Zu stand befand sie sich?« Hal überlegte. »Hm, das will ich Ihnen genau sagen. Sie sah un gefähr so aus, als sei in ihr etwas explodiert.« Der Berichterstatter schnappte, dann atmete er tief. »Lieber Himmel, natürlich sah die Gaststube so aus. Wo lagen die Gäste?« Hal hob die Schultern. »Tja, das läßt sich nicht so genau sagen. Der eine lag auf dem Rücken, der andere auf der Seite, der dritte …« »Ah, welches Mißverständnis. Ich meinte, auf dem Fußboden, oder …« 17
»Auf dem Fußboden, richtig. An der Decke haben wir jedenfalls keinen gefunden. Wie alt sind Sie ei gentlich?« »Vierundzwanzig – aber …« »Verheiratet?« »Nein – aber …« »Kinder?« »Natürlich nicht – doch …« »So natürlich kann ich das nicht finden. Das ist wohl die erste Explosion, die Sie erleben?« »Nein!« schrie der Berichterstatter verzweifelt. »Aber was geht es Sie um Himmels willen an, wie alt ich bin und ob ich Frau und Kinder habe?« »Genau genommen nichts«, sagte Hal friedlich. »Ich suche nur nach einem Milderungsgrund, um zu verstehen, warum Sie so geistlose Fragen an mich stellen.« »Mein Herr …« »Regen Sie sich nicht auf, mein Lieber. Die Unter stellung, daß die Gäste dieser Kneipe an der Decke gehangen haben könnten, ist doch wahrhaftig …« »Aber Sie haben mich mißverstanden!« versicher te der andere erschüttert. »Vollkommen mißverstan den!« »Oh, das beruhigt mich ungemein. Wollten Sie sonst noch etwas wissen?« Der Berichterstatter kaute, dann deutete er auf ir gend jemand, der im Hintergrund ging. 18
»Ah – ich muß doch – tausendmal Verzeihung …« Damit lief er schleunigst fort. * Kommissar Maurier war Südfranzose. Sergeant Lui son, sein Hilfsarbeiter und Vertrauter, kam aus dem Norden Frankreichs. Dieser Gegensatz prägte sich genügend aus. Maurier war zierlich, beweglich, tem peramentvoll und leicht erregt. Luison dagegen ging schwer und unerschüttert geruhsam durch diese Welt, in der er verdammt war, den Blitzableiter für Maurier zu spielen. Die beiden saßen sich am nächsten Morgen in ih rem Arbeitszimmer gegenüber und sichteten das Ma terial, das sich unter dem Stichwort »Explosion Bonnet« angesammelt hatte. »Es ist wieder einmal, um aus der Haut zu fah ren«, schimpfte Maurier, der reden mußte, wenn er arbeiten sollte. »Eine Unmenge Zeugenaussagen und Feststellungen, aber dabei bleibt die Sache selbst völ lig dunkel. Was sagen die Zeitungen?« »Was sollen die Zeitungen schon sagen?« sagte Luison gemächlich, während er einen Artikel aus schnitt. »Sie wissen halb so viel wie wir und machen doppelt soviel Lärm darum.« »Lassen Sie mich mit Ihren philosophischen Ver allgemeinerungen in Frieden«, gab Maurier gereizt 19
zurück. »Sie wissen, daß unsere Auffassungen in die sem Punkt völlig verschieden sind. Die Zeitungen sind die Wiege des Ruhms und bedeuten eine wert volle Unterstützung für die Polizei.« »Na ja.« »Also, was steht drin?« »Bombenattentat der Rechten – Bombenattentat der Linken – Wo bleiben die Kapuzenmänner – Pariser Unterwelt rührt sich – Ein Kanonenofen explodiert – Leuchtgasansammlungen – Übler Scherz angeheiter ter Barbesucher – Wann wird der heilige Berg des Pariser Lasters gründlich saniert – Ein geheimnisvol les Stück Draht – Die Bombe in der Kohle«, leierte Luison die Überschriften herunter, die er im Kopf be halten hatte. »Also lauter verschiedene Meinungen ohne Wert. Was halten Sie von der Aussage Lerats?« »Die Brandsachverständigen haben weder eine Bombe noch Gas noch sonst eine Explosionsursache gefunden. Lerats Erzählung bleibt als einziger An haltspunkt.« »Eine bequeme Methode«, sagte Maurier bissig. »Sie halten bedenkenlos zum Unmöglichen, wenn die üblichen Möglichkeiten versagen.« Luison lächelte friedlich. »Tja, wissen Sie, in meinem Alter hat man sich noch etwas Romantik bewahrt.« »Scheren Sie sich zum Teufel damit!« 20
»Und außerdem besteht nach den amtlichen Fest stellungen und den Beobachtungen verschiedener Gäste nicht der geringste Zweifel, daß die Explosion vom Ofen her erfolgte.« »Aber nicht durch das Stück Draht.« »Es wäre zu ermitteln, ob es sich tatsächlich um ein Stückchen Draht handelte.« »Und wenn es Dynamit war?« Maurier sprang erregt auf. »Nitroglyzerin meinetwegen auch. Sie scheinen sich recht romantische Vorstellungen von Sprengwir kungen zu machen. Um das Lokal in den Zustand zu bringen, in dem wir es gesehen haben, braucht man schon eine ganze Handvoll Sprengstoff, aber nicht ein Stäbchen wie eine Stecknadel. Damit können Sie höch stens Ihre traurigen Gehirnwindungen demolieren.« Luison beugte sich stumm über seine Zeitungen. Aber damit war Maurier nicht einverstanden. Er nahm sie Luison weg. »Stehen Sie mir jetzt gefälligst Rede und Antwort. Ich halte zwar nichts von Ihren kriminalistischen Fä higkeiten, aber manchmal findet ein blindes Huhn auch ein Korn.« Luison seufzte. »Sie sind ja wieder einmal gut aufgelegt, Herr Kommissar. Ich überlege eben, ob es Zweck hat, Sie wegen Beamtenbeleidigung zu belangen. Aber wahr scheinlich ist es zwecklos. Versöhnen Sie mich lieber mit einer der guten Zigarren.« 21
»Man nennt das Erpressung«, knurrte Maurier und reichte die Zigarren hinüber. »Also nun aber ernst haft, wir müssen den Fall aufklären. Ich verlasse mich auf Ihren Instinkt.« »Danke. Wie gesagt, es muß schon mit diesem Drahtstück zusammenhängen, das Lerat auf den Ofen geworfen hat. Ich habe mir den Trödler vorge nommen, von dem er gestern die Jacke gekauft hat. Der frühere Besitzer ist natürlich unbekannt.« »Wie gewöhnlich«, erwiderte Maurier sachlich. »Aber ich verspreche mir überhaupt nichts von die ser Spur. Es gibt keinen Sprengstoff, der in so kleiner Menge derartige Wirkungen auslösen kann.« Luison schüttelte den Kopf. »Solche Behauptungen gelten immer nur für einen bestimmten Zeitpunkt und können einen Tag später bereits überholt sein. Die Technik schreitet vorwärts. Was ahnen wir denn von den Sprengstoffen, die heutzutage in den Laboratorien hergestellt werden?« »Gehen Sie unter die Munkelmänner«, riet Mau rier wegwerfend. »Ich halte nichts von diesen Phan tasien. Wenn ich Ihnen versichere, daß es einen der artigen Sprengstoff nicht gibt, dürfen Sie mir das ge trost glauben.« »Das Fleisch ist willig, aber der Geist ist schwach genug, Zweifel zu hegen. Darf ich Ihnen mal eine Zeitungsnachricht vorlesen, die ich aus meiner Sammelmappe ausgekramt habe?« 22
»Lesen Sie schon.« Luison las: »Explosion in New Castle. Heute morgen ereignete sich in dem Laboratorium von Dr. H. Tunbridge in New Castle eine folgen schwere Explosion. Das Laboratorium, das glückli cherweise am Rand der Stadt lag, wurde mit den da zugehörigen Gebäuden völlig zerstört. Einige Häuser in der Nachbarschaft wurden schwer beschädigt. In zahllosen Häusern der Stadt wurde durch den Luft druck kleinerer Schaden angerichtet. H. Tunbridge und sein Assistent Maldon sowie zwei Angestellte des Hauses kamen ums Leben. Sie sind wie die Ge bäude durch die Explosion völlig zerstäubt worden. Die außergewöhnliche Heftigkeit der Explosion er klärt sich daraus, daß H. Tunbridge Versuche mit einem neuen Sprengstoff anstellte, der nach sicheren Mitteilungen die Wirkung aller bekannten Spreng stoffe um das Zehnfache übertreffen soll. Wie wir erfahren, war für heute vormittag der Besuch einer Kommission von Sachverständigen vorgesehen, die den Erwerb der Erfindung für Zwecke der Landes verteidigung sichern sollte. Infolge der Explosion dürfte sich der Besuch nunmehr erledigt haben. Da der Erfinder bisher keine Mitteilungen über die Art seiner Erfindung gemacht hat, ist diese endgültig ver loren. Das ist um so bedauerlicher, als an dem Wert der Erfindung und der außergewöhnlichen Wirksam 23
keit des neuen Sprengstoffs kein Zweifel herrschen kann.« Luison steckte den Zeitungsausschnitt wieder ein und blickte auf Maurier. »Nun, was sagen Sie dazu?« »Wo haben Sie das her?« »Times. Und zwar stammt die Meldung – beach ten Sie das bitte – vom 26. Oktober 1956.« Maurier stutzte. »Was? So alt schon?« »Ja. Sie verstehen, was ich damit sagen will?« »Bin ich ein Dummkopf? Sie meinen, was diesem Tunbridge geglückt war, kann auch einem anderen glücken?« »Genau das wollte ich sagen. Man könnte allen falls noch erwägen, daß eigentlich eine derartige Ex plosion eine ganz brauchbare Gelegenheit für jemand ist, der unauffällig zu einem Totenschein kommen will. Angenommen, die Leute, die damals für tot er klärt wurden, waren tatsächlich nicht alle tot…« Maurier stieß einen Pfiff aus. »Auch nicht schlecht. Freilich ziemlich unwahr scheinlich.« »Zugegeben«, sagte Luison. »Ist ja auch nicht wichtig für uns. Es genügt mir, wenn Sie es über haupt für möglich halten, daß es Sprengstoffe von außergewöhnlicher Wirkung gibt.« »Habe nie daran gezweifelt«, knurrte Maurier. 24
»Aber deswegen braucht das Stück Draht Lerats noch lange nicht die Ursache der Explosion gewesen zu sein. Wenn man bedenkt – ein Stück wie eine Stecknadel… Hallo? Ja – so? Ja, bringen Sie ihn her auf.« Er legte den Hörer auf die Gabel. »Da ist je mand, der eine Aussage zur Explosion Bonnet ma chen will.« Sie schwiegen eine Weile, dann trat ein Polizist ein und brachte den Mann, der eine Aussage machen wollte. Der Anblick dieses Fremden bedeutete für Maurier wie für Luison eine Überraschung. Ein Greis in länd licher Kleidung trat ein. Er machte einen einfachen Eindruck, aber seine weißen Haare und die Schlicht heit seines zerfurchten Gesichts erzwangen Achtung. Seine Haltung bewies Rüstigkeit, aber augenblicklich einige Verlegenheit. Maurier ging ihm entgegen und bat höflich, Platz zu nehmen. Dann sagte er: »Sie wollten eine Aussa ge machen?« »Ich heiße Meunier, Claude Meunier«, sagte der Greis bedächtig. »Meine Enkelin meinte, daß ich verpflichtet sei, Ihnen das zu erzählen, was ich weiß.« »Zweifellos«, bestätigte Maurier. »Wir sind Ihnen sehr dankbar, wenn Sie uns einen Hinweis geben können, der diese Explosion aufklärt.« Meunier wiegte den Kopf hin und her. 25
»Ich möchte nicht behaupten, daß da ein Zusam menhang besteht, mein Herr. Es war meine Enkelin, die ihn vermutete. Doch lassen Sie mich erzählen. Kennen Sie zufällig Laferme? Das ist eine kleine Ortschaft an der Seine, Sie werden wohl kaum je mals hingekommen sein. Dort habe ich bis vor weni gen Jahren gewohnt. Ich besaß an der Straße nach Melun ein kleines Gut, ein Häuschen und einige Ak ker Land, die ich aber in Pacht gegeben habe. Ja, es ist mir noch jetzt der liebste Fleck auf der Erde. Es war so still und friedlich dort, nicht einmal Nachbar schaft störte die Ruhe meines Häuschens.« »Sie wollten …« Der Greis nickte. »Sie müssen etwas Geduld haben, Herr Kommis sar. Ich muß Ihnen schon sagen, daß ich ziemlich abgelegen wohnte, sonst verstehen Sie nicht, warum Monsieur Labrasse ausgerechnet bei mir wohnen wollte.« »Ah, wer ist Monsieur Labrasse?« »Er kam eines Tages zu mir und unterhielt sich mit mir. Er war offenbar leidend und sah aus wie sechzig. Er hatte Schweres hinter sich, wie er sagte, und er wollte eine Zeitlang in Frieden leben und ei nige Bücher lesen. Er bestand darauf, bei mir zu wohnen. Nun, Platz war vorhanden, und ich fand, daß er ein Mensch sei, den man täglich bei sich se hen könnte. Meine liebe Frau lebte damals noch und 26
konnte ihn recht gut versorgen. So nahmen wir ihn auf, und ich muß gestehen, daß wir es keinen Au genblick bereut haben.« »Wann war das?« »Warten Sie – das war sieben – nein, sechsund fünfzig, neunzehnhundertsechsundfünfzig. Er hat zwei Jahre bei uns gewohnt, bevor er uns verließ.« »Ah, und was hat das nun mit dieser Explosion zu tun?« Meunier schneuzte sich umständlich und brachte damit Maurier fast zur Verzweiflung. »Sie müssen wissen, daß vor meinem Haus eine Eiche stand. Es war ein stattlicher Baum, der mein Häuschen überdeckte. Aber er war schon sehr alt und wurde morsch, so daß ich ihn fällen mußte. Zwei Männer aus dem Dorf halfen mir dabei. Später wollte ich dann den Wurzelstock ausroden. Ein Eichenstock läßt sich aber schwer aus dem Boden nehmen. Mon sieur Labrasse fand es auch nicht richtig, daß ich mich derart abmühte. Er ließ mich auf der Seite, die nach dem Haus zu lag, einen Wall aufwerfen. Dann zeigte er mir etwas, das ich für ein Stück Draht hielt, wobei er versprach, daß er damit den Wurzelstock heraussprengen werde.« »Wie sah das aus?« »Es war so lang«, sagte Meunier und zeigte mit den Fingern das Maß. »Nicht länger als eine Steck nadel, auch nicht stärker, aber ganz schwarz. Ich 27
hielt das, was er sagte, für einen Scherz. Aber er ließ sich Wollfäden geben und drehte daraus eine Lunte. Dann legte er das Stäbchen an die Wurzel, unten, wo sie sich verzweigt. Ich kann es beschwören, daß er keine Patrone oder etwas Ähnliches anbrachte. Ich blieb bei ihm stehen, bis er die Lunte angezündet hat te, dann liefen wir hinter das Haus. Nicht viel später gab es einen starken Knall, und dann lag der Wurzel stock völlig zerfasert und zerrissen neben der Grube. Leider hatte auch mein Häuschen einige Sprünge ab bekommen, aber sehr groß war der Schaden nicht. Das wäre alles, mein Herr. Meine Enkelin meinte, daß Sie sich dafür interessieren könnten.« »Aber gewiß«, versicherte Maurier lebhaft. »Ich bin Ihnen außerordentlich dankbar, daß Sie zu uns gekommen sind. Ihre Mitteilung ist für uns von größ ter Wichtigkeit, denn sie beweist, daß es offenbar doch einen Sprengstoff von unbekannter Wirkungs kraft gibt.« »Na also«, murmelte Luison. Der Kommissar warf ihm einen ärgerlichen Blick zu, dann fuhr er fort: »Ihr Mieter hieß also Labrasse? Kennen Sie seinen jetzigen Aufenthalt?« »Nein, Herr Kommissar.« »Sie haben auch keine Ahnung, wo er sich aufhal ten könnte?« »Ich dachte damals, er würde nach Paris fahren.« »Was war er von Beruf?« 28
»Das weiß ich nicht. Ich habe ihn für einen stu dierten Herrn gehalten.« »Hm, das sagt nicht viel. Wie sah er aus?« »Er war groß, schlank und ging leicht geneigt. Sein Gesicht war fast immer blaß. Man sah ihm an, daß er leidend war, wenn er sich auch allmählich er holte. Er hatte graue Haare und trug manchmal eine Brille.« »Besondere Kennzeichen?« »Davon ist mir nichts aufgefallen.« »Sprach er etwa wie ein Ausländer?« warf Luison hin. Meunier zögerte. »Er sprach gut Französisch, aber ich dachte, er könnte Engländer sein. Ich weiß nur nicht, ob er aus einem anderen Distrikt kam, wo man etwas anders spricht als bei uns.« »Hat er nichts von sich erzählt?« fragte wieder Maurier. »Nur sehr wenig. Er schien keine Verwandten zu haben.« »Haben Sie seine Papiere gesehen?« »Nein.« Maurier überlegte einige Sekunden, dann schloß er ab: »Ich danke Ihnen, Monsieur Meunier. Vielleicht führt uns Ihre Aussage zum Erfolg. Würden Sie uns bitte Ihre Anschrift geben?«
29
*
In der gleichen Stunde unterhielt Sun Koh sich mit Hal und Nimba über die Angelegenheit. »Offenbar hat dieser Lerat nicht die geringste Ah nung gehabt, was er anrichtete«, sagte er. »Er muß durch Zufall einen Sprengstoff in die Hand bekom men haben, der über eine außergewöhnliche Kraft verfügt. Der Trödler weiß natürlich nicht, wo die Jacke herstammt?« »Er hat keine Ahnung«, bestätigte Hal, der den Besuch schon hinter sich hatte. »Also dürfte es für uns wie für die Polizei schwer fallen, der Angelegenheit weiter nachzugehen. Es ist ja auch nicht weiter wichtig.« »Ich glaube aber, es wird eine Menge Leute geben, für die ein derartiger Sprengstoff von größter Bedeu tung ist.« »Zweifellos. Deshalb wundert es mich eben, daß eine Probe davon fahrlässig in irgendeiner Tasche hängengeblieben ist, auch noch in der Tasche eines Mannes, der gezwungen war, seine Sachen zu veräu ßern. Die Umstände machen den Fall rätselhaft.« Es klopfte. »Herein!« Im Türrahmen erschien Lerat. »Ich bitte um Verzeihung«, sagte er unterwürfig. »Ich habe mich nicht anmelden lassen, weil ich dach 30
te, sie könnten mir unten Schwierigkeiten machen, und ich weiß ja nicht, ob Sie sich an mich erinnern.« »Schließen Sie die Tür«, bat Sun Koh und trat auf den Besucher zu. »Wir sprachen uns doch gestern abend?« »Ganz recht, Monsieur«, sagte Lerat. »Sie hatten Interesse für dieses Stück Draht, das ich auf den Ofen geworfen habe. Sie dürfen nicht denken, daß ich wegen der hundert Franc gekommen bin, aber ich dachte mir, Sie würden sich dafür interessieren, was ich noch weiß.« »Nämlich?« »Ja – hm – wenn Sie meine Auslagen …« Sun Koh verstand. »Es soll mir auf hundert Franc nicht ankommen. Was haben Sie mir mitzuteilen?« »Sehen Sie«, sagte er, »ich habe darüber nachge dacht, was da gestern abend geschehen ist. Und dann habe ich mir die Jacke noch einmal gründlich ange sehen. Und dabei habe ich etwas gefunden.« »Was?« »Das Herstellerschild. Es war in der inneren Sei tentasche angenäht.« »Geben Sie her.« Lerat hielt ein schmales Viereck aus weißem Stoff hin. »Hier ist es. Aber die hundert…« »Gib ihm das Geld, Hal.« 31
Sun Koh trat an das Fenster. Der kurze Streifen bestand aus weißem Satin, der ziemlich mürbe ge worden war. Auf ihm waren noch Buchstaben einer Maschinenschrift zu erkennen. »Mr. Ma – don 16. – 34«, las Sun Koh heraus. Die Monatszahl war nicht mehr festzustellen, im Namen fehlte ein Buchstabe, vermutlich ein »1«. Unter die ser oberen Zeile befand sich noch ein Vermerk: »Reg. 1237/4.« Das war noch deutlich, gab aber offenbar nur das Buchungszeichen der Herstellerfirma an. Sun Koh ging wieder auf Lerat zu. »Ist das der Rock?« »Jawohl, Monsieur.« »Augenblick. Danke.« Bevor Lerat richtig begriff, hatte Sun Koh seinen Rockkragen wieder losgelassen. »Wo ist das Firmenschild?« »Das war schon herausgetrennt. Der Trödler sagte aber, das sei ein englischer Anzug und stamme sicher von einem Londoner Schneider.« »Das beruhigt mich ungemein. Können Sie mir sonst noch etwas mitteilen?« »Nein – ich …« »Danke«, sagte Sun Koh, und Lerat ging zögernd hinaus. »Wie eine Ratte«, murmelte Hal hinter ihm her. »War er das Geld wert?« 32
»Nur dann, wenn man den Schneider dazu findet. Die Vermutung, daß er in London sitzt, hat etwas für sich. Der Name ist englisch, der Rock war ausge zeichnet gearbeitet. Hast du Lust, nach London zu fahren?« »Warum nicht? Wollen Sie der Sache nachge hen?« »Man läßt ein Kreuzworträtsel selten liegen, wenn man mit der Lösung einmal begonnen hat.« * Gegen zehn Uhr abends fiel dem Polizisten Paul La martine, der seine Runde am Seine-Ufer abging, ein Motorboot auf. Es knatterte in einiger Entfernung vom Ufer über den Strom, ohne die Lichter eingeschaltet zu haben, wie es die Vorschrift erforderte. Gerade auf der Höhe des Polizisten setzte der Motor aus. Lamartine lauschte einige Augenblicke, dann schaltete er seine Stablampe ein und richtete sie auf den Fluß hinaus, während er gleichzeitig das Boot anrief. Er erkannte es eben noch an der Grenze des Licht scheins. Zwei Männer standen darauf, die gemein sam einen schweren Gegenstand, vermutlich einen Sack, über Bord hoben. Er plumpste auf den Anruf hin ins Wasser. Der Polizist hörte so etwas wie einen Fluch, dann knatterte der Motor wieder auf, und das Boot entfernte sich in schneller Fahrt. 33
Paul Lamartine fand dieses Verhalten verdächtig. Er überlegte, daß es seine Pflicht sei, die Wasserpoli zei zu verständigen. Bevor er jedoch die nächste Te lefonzelle suchen konnte, entdeckte er eins der Poli zeiboote, das dicht am Ufer langsam stromaufwärts kam. Er rief das Boot an und verständigte die beiden Polizisten. Der Fluß war an dieser Stelle nicht tief, und La martine konnte die Stelle ziemlich genau bezeichnen. So brauchten die Polizisten nicht lange mit ihrer Stange zu suchen. Sie brachten einen Sack hoch, der nicht einmal beschwert worden war. In dem Sack befand sich ein Toter. Keine zwei Stunden später standen Kommissar Maurier und sein Gehilfe Luison vor dem Toten. »Tatsächlich Lerat«, stellte Maurier fest. »Er war tot, bevor er ins Wasser geworfen wurde. Sehen Sie die Würgemale?« »Und das«, brummte Luison und wies auf die Fin ger. »Was sagen Sie dazu?« »Gefoltert?« »Tja.« »Bestien. Ich möchte wissen, was es aus Lerat her auszuholen gab. Burschen seines Schlages pflegen ihre Geheimnisse gewöhnlich schon zu verraten, wenn man ihnen einige Franc hinhält.« Luison nickte. »Sicher. Aber vielleicht wollte man etwas aus ihm 34
herausholen, das er überhaupt nicht wußte.« »Nämlich?« »Vielleicht, woher jenes merkwürdige Stück Draht stammte, das die Explosion Bonnet verursachte?« Maurier kniff die Augen zusammen. »Hm, glauben Sie wirklich, daß da ein Zusam menhang besteht?« »Lerat ist gestern vormittag aus dem Gefängnis entlassen worden. Am Abend ereignete sich die Ex plosion. Es ist natürlich nicht ausgeschlossen, daß er von gestern auf heute bereits etwas unternommen hat, was zu einem derartigen Enderfolg führte, aber wahrscheinlich ist es das nicht. Ein Mann wie Lerat pflegt nichts zu unternehmen, was mit dem Tod en det. Er kann höchstens durch eine dumme Verket tung in eine derartige Zwangslage geraten sein. Dazu paßt diese Explosionsgeschichte. Ich kann mir den ken, daß es Leute gibt, die ihm seine Erklärung von den Fund in der Rocktasche nicht geglaubt haben.« »Ihre Phantasie ist unermüdlich«, spöttelte Mau rier. »Sie setzen damit zugleich voraus, daß es Leute gibt, die selbst eine Untat nicht scheuen, um Genaues über die Ursache jener Explosion zu erfahren.« Luison zuckte mit den Schultern. »Das Rezept zu diesem Sprengstoff ist zweifellos Millionen wert. Es soll vorgekommen sein, daß schon um geringerer Dinge willen Gewalttaten aller Art begangen wurden.« 35
Dieser Einsicht konnte sich Kommissar Maurier nicht gut verschließen. Fast zur gleichen Zeit, also um Mitternacht herum, erwachte Sun Koh mit dem unangenehmen Gefühl, daß auf seiner Brust etwas Schweres laste. Im Auf blitzen des Bewußtseins wurde ihm jedoch klar, daß der Druck nicht von außen, sondern von innen her kam. Die Lungen keuchten schwer. Gas? Er taumelte benommen hoch. Dämmerlicht lag über dem Raum. Von dem Tep pich, ein Stück seitlich vom Bett, stiegen ziehende Nebel auf. Am Türschloß klickte es. Sun Koh wollte gehen, aber die Knie knickten ihm ein, und auf seine Schultern legte sich eine ungeheu re Last, unter der sich der Körper müde strecken wollte. Da ging die Tür auf. Sun Koh sah die Umrisse zweier Männer, dann fiel das kalte Licht von Lam pen auf ihn. Ein überraschter Ausruf folgte. Gewaltsam riß Sun Koh das schwindende Bewußt sein zurück. Er drückte sich hoch und stürzte sich gegen die Eindringlinge. Er wußte nicht mehr recht, was er tat. Er schlug und rang, hörte einen der beiden fluchen und kollerte mit den anderen auf dem Boden entlang. Irgendwann in dem kurzen Kampf verlor er den letzten Rest von Bewußtsein. 36
2.
Hal flog mit der Mittagsmaschine nach London. Am Nachmittag begann er bereits mit seinen Ermittlun gen. Seine Aufgabe bestand darin, bei einigen Dut zend Schneidern nachzufragen. Eine Garantie für den Erfolg gab es nicht. Der gesuchte Schneider konnte auch ganz woanders wohnen. Gute englische Herren schneider gab es nicht nur in London. Die hohe Re gisternummer ließ zwar auf Großbetrieb und Groß stadt schließen, aber selbst dann blieb die Auswahl noch groß genug. Hal suchte an diesem Tag noch eine Reihe von Herrenschneidereien auf, kam aber nicht zum Erfolg. Die Nacht verbrachte er in London. Am nächsten Morgen setzte er seine Bemühungen fort. Es war gegen Mittag, als er eine der Firmen auf suchte, die mit ihren versteckten und altertümlich aufgemachten Läden den Ansprüchen des Englän ders an Tradition genügten. Der Laden sah so be scheiden aus, daß Hal ohne seine Liste und die Hin weise des Hoteldirektors darauf verzichtet hätte, ihn aufzusuchen. Ein steifbeiniger Herr alter Schule empfing ihn so würdevoll und umständlich, daß sich Hal um einige Jahrzehnte zurückversetzt fühlte. Der Inhaber jedoch, zu dem er wunschgemäß geführt wurde, erwies sich 37
als jüngerer, beweglicher Mann, der nach frischer Luft und Sport roch. Mit ihm ließ sich entsprechend sachlich verhandeln. Hal übergab ihm das Arbeitsschild. »Ich möchte feststellen, wo und für wen der zuge hörige Anzug gefertigt wurde.« Er sagte das nicht zum erstenmal, und er erhielt nicht zum erstenmal die unverbindliche Antwort: »Es ist möglich, daß dieses Arbeitsschild von uns stammt. Bitte einen Augenblick, ich will nachsehen lassen.« Aber in diesem Fall kam der Inhaber nach Minu ten mit einer gelben Karte zurück und erklärte: »Das Arbeitsschild dürfte von uns stammen. Die Eintra gung stimmt mit unserer Karte überein. Am 13. 3.1934 wurde ein Sportanzug aus Homespun an Mr. Maldon geliefert.« »Wer ist das?« »Die Lieferung erfolgte in das Hotel ›Victoria‹. Der Wohnort von Mr. Maldon ist mit Newcastle an gegeben. Es war nicht die erste Lieferung für Mr. Maldon. Sie erfolgte stets auf die gleiche Weise. Das ist kein seltener Fall bei unseren auswärtigen Kun den.« »Läßt sich Mr. Maldon auch jetzt noch seine An züge bei Ihnen machen?« »Nein. Die letzte Lieferung erfolgte 1955.« »Das ist ziemlich lange her. Können Sie mir mehr 38
über Mr. Maldon sagen?« »Leider nicht. Das Geschäft wurde damals noch von meinem Vater geführt. Ich will aber sehen, ob sich einer der Angestellten erinnert.« Er ging hinaus und kam nach einer Weile mit dem würdigen Herrn zurück, der Hal empfangen hatte. »Ja, ich erinnere mich an Mr. Maldon«, sagte die ser. »Er kam regelmäßig zweimal im Jahr, um seine Garderobe zu ergänzen. Ich habe gelegentlich einige Worte mit ihm gewechselt und bedauerte es daher sehr, als die Firma diesen Kunden auf so entsetzliche Weise verlieren mußte.« »Wurde er das Opfer eines Unglücks?« fragte Hal. »Mr. Maldon wohnte in Newcastle. Er war Che miker und arbeitete mit einem Dr. Tunbridge zu sammen, wie er mir einmal sagte. Eines Tages las ich dann in der Zeitung, daß das Laboratorium der bei den Herren explodiert sei. Mr. Maldon ist dabei, wie alle anderen, ums Leben gekommen. Die Explosion muß schrecklich gewesen sein. Aber man muß das verstehen. Die Herren hatten nämlich einen neuen Sprengstoff erfunden, wie in der Zeitung stand, und dieser Sprengstoff sollte zehnmal so stark wirken wie Dynamit. Das Unglück geschah an dem gleichen Tag, an dem eine Kommission die Erfindung ankau fen sollte. Man bedauerte es damals sehr, daß sie durch das Unglück verlorengegangen war.« »Wissen Sie zufällig, ob Mr. Maldon an seiner 39
Arbeitsstätte, die durch die Explosion zerstört wurde, gewohnt hat?« Der andere wiegte den Kopf hin und her. »Ich möchte es nicht beschwören, aber ich habe es angenommen.« »Es steht fest, daß Maldon damals ums Leben ge kommen ist?« »Er ist nie wieder hier gewesen. Es stand auch in der Zeitung.« »Sie wundern sich nicht, daß ich Ihnen dieses Ar beitsschild bringe?« »Ich wundere mich sehr.« »Es stammt aus einem Anzug, der noch jetzt von einem Mann in Paris getragen wird. Haben Sie eine Erklärung dafür, daß einer der Anzüge Mr. Maldons jener Katastrophe offenbar entgangen ist?« »Nein.« Hal verzichtete auf weitere Fragen. Was es noch zu erfahren gab, mußte er sich wohl in Newcastle zusammensuchen. Der Inhaber begleitete ihn hinaus. Als sie durch den kleinen Laden gingen, stand am Ladentisch ein Kunde und breitete eben einen getragenen Rock aus, wobei er zu dem Angestellten hinter dem Tisch sag te: »Ich habe hier einen Rock, dessen Herkunft ich feststellen möchte. Bitte, versuchen Sie zu ermitteln, ob er bei Ihnen gearbeitet wurde. Er ist wahrschein lich im Jahre 1954 angefertigt worden. Als Besteller 40
könnte ein Mr. Maddon oder Maldon oder so ähnlich in Frage kommen.« Hal hörte es ebenso deutlich wie der Inhaber. Und den Rock erkannte er auf den ersten Blick. Das war die gleiche Jacke, die gestern jener rattenähnliche Bursche getragen hatte. Der jetzige Besitzer war ein ganz anderer. Er sprach fließend Englisch, wenn auch mit fremdem Tonfall, war gut angezogen und besaß ein erträgli ches Dutzendgesicht. Der Inhaber, der an Hals Seite ging, machte eine Bewegung, als wollte er sich einmischen. Hal faßte ihn jedoch rechtzeitig beim Arm und bedeutete ihm durch eine Geste, zu schweigen. So gingen sie vor über. Der Fremde achtete überhaupt nicht auf sie. Hal nahm den Inhaber mit hinaus und zog ihn et was zur Seite. »Ich brauche Ihnen nicht viel zu sagen«, meinte er draußen. »Das war der Rock, aus dem das Arbeits schild stammt. Ich weiß nicht, wie der Mann dazu gekommen ist, aber es scheint Verschiedenes nicht in Ordnung zu sein. Können Sie verhindern, daß er er fährt, was mir erzählt worden ist?« Der Inhaber nickte und ging wieder hinein. Hal entfernte sich ein Stück, rief einen Wagen heran und wartete ab. Diese Angelegenheit nahm überraschende Wen dungen. Auf einmal erschien diese Jacke in London, 41
und mit ihr ein unbekannter Mann, der offenbar auf den gleichen Spuren ging wie Hal. Der geschäftstüch tige Lerat hatte auch noch seine Jacke verkauft und das Geheimnis des Arbeitszettels dazugegeben, denn sonst konnte der Fremde die Daten ja nicht wissen. Löste nun jener Mann auch nur Kreuzworträtsel, oder hatte er bestimmte Interessen? Hal beschloß, dem anderen auf den Fersen zu bleiben. Es konnte höchst wichtig werden, den Ge genspieler näher kennenzulernen. Annähernd eine Viertelstunde dauerte es, bevor der Fremde aus dem Laden trat. Er ging ein Stück, dann winkte er ein Taxi heran und setzte sich hinein. Der andere Wagen, in dem Hal saß, blieb dicht hinter ihm. Die Fahrt endete zunächst an einer Postanstalt. Der Fremde bezahlte den Fahrer nicht, wollte also offen bar die Fahrt fortsetzen. Hal lief hinter ihm her. Er sah ihn an einen Schal ter treten. Einige Minuten würde er sich wohl dort aufhalten. Hal ging in das Nebengebäude. Dort hatte ein Au tohaus seine Vertretung. Das glückliche Zusammen treffen wollte Hal nicht ungenützt lassen. Wenn der Fremde, wie zu erwarten war, etwa nach Newcastle hinausfuhr, war es so gut wie ausgeschlossen, in ei nem Londoner Taxi nachzufahren. Das würde auffal len. Deshalb brauchte Hal einen anderen Wagen. 42
»Haben Sie einen fahrbereiten Wagen zur Hand?« erkundigte er sich bei dem ersten Angestellten, der ihm über den Weg lief. »Gewiß. Mit Fahrer oder ohne?« »Besser mit.« »Wie sagt Ihnen der Wagen draußen zu?« »Ausgezeichnet. Wo ist der Fahrer?« »In einer Minute zur Stelle. Sie hinterlegen zehn Pfund. Mietpreis für jede Stunde zehn Shilling.« »Einverstanden. Hier ist das Geld. Verständigen Sie den Fahrer.« »Ich will Ihnen zunächst eine Quittung …« »Damit können Sie sich in einer stillen Stunde Ih res Lebens beschäftigen. Den Fahrer!« »Sofort!« Hal eilte hinaus, bezahlte das Taxi und setzte sich in den weniger auffälligen Privatwagen, nachdem der Fahrer erschienen war. Gleich darauf kam auch schon der Fremde aus der Post heraus. Es wurde eine lange Fahrt. Sie dauerte fast zwei Stunden und endete in einem Städtchen, das auf der Karte als Newcastle bezeichnet war. Der Fremde begab sich sofort ins Rathaus. Hal setzte sich in die Gaststube des gegenüberlie genden Hotels und unterhielt sich mit dem Wirt. So kamen beide auf ihre Kosten. Hal erfuhr alles, was man von einem Einwohner Newcastles über die Explosion des Laboratoriums 43
Tunbridge und über die damit verbundenen Schick sale erfahren konnte. Der Wirt schwatzte gern und beantwortete bereitwillig jede Frage. Nach seiner Darstellung gab es keinen Zweifel, daß Maldon damals gestorben war. Man hatte die Leichen der Verunglückten zwar nicht identifizieren können, aber es war nie die Vermutung aufgetaucht, daß jemand von den Bewohnern jenes Hauses am Leben geblieben sein könne. Maldon hatte nicht nur mit Tunbridge zusammen gearbeitet, sondern auch mit ihm zusammengewohnt. Sein gesamtes Eigentum und sicher auch sämtliche Sachen und Kleider waren bei der Explosion ver nichtet worden. Er hatte weder Erben noch Verwand te gehabt, und eine Hinterlassenschaft hatte es über haupt nicht gegeben. Tunbridge und Maldon hatten immer als gute Freunde gegolten. Zu dem Verdacht, daß einer ohne das Wissen des anderen besondere Pläne verfolgte, bestand nie ein Anlaß. Kurz und gut – wo Hal auch immer hineinhorchte, er hörte nichts, das ihm einen neuen Faden in die Hand gegeben hätte. Die außerordentliche Wirksam keit des unbekannten Sprengstoffs wurde ihm nach drücklich bestätigt. Die Unzulänglichkeit der Toten schau ließ eine schwache Möglichkeit für die Erklä rung, die sich Hal zurechtgelegt hatte, aber alles an dere sprach dagegen. 44
Nach dem allgemeinen und auch behördlich fest gelegten Eindruck hatte die Geschichte des unbe kannten Sprengstoffs mit der Explosion und dem Tod der Erfinder restlos ihr Ende gefunden. Es gab von Newcastle aus keine Verbindung zu den Ereig nissen in Paris. Zu einer ähnlichen Erkenntnis schien der Fremde im Rathaus gekommen zu sein. Er blickte ziemlich mißvergnügt. Entgegen aller Erwartung kehrte er nicht erst ein, sondern fuhr sofort zurück. Hal folgte in weitem Ab stand. Er ließ erst an der Stadtgrenze von London wieder aufholen. Diesmal endete die Fahrt nach einer Durchquerung der Stadt auf dem Flugplatz. Das war Hal recht. Er wollte auch nach Paris zurück. Im Vertrauen darauf, daß der andere noch nicht viel von ihm zu sehen be kommen hatte, belegte er einen Platz im gleichen Flugzeug. Bei der Eintragung konnte er aus der obe ren Spalte den Namen des Verfolgten ablesen. Du bois nannte er sich. Während des Fluges saß Hal hinter Dubois. Er hat te aber keinen Nutzen davon. Dubois las beharrlich in einigen Zeitungen, die er sich mitgenommen hatte. Die Verfolgung in Paris bereitete keine Schwie rigkeiten, da Dubois offenbar frei von jedem Miß trauen war. Er fuhr zur Rue Auvergne und betrat das Haus Nr. 16. Das war ein zweistöckiges, villenartiges 45
Haus, aus dem Dubois offenbar nicht so schnell zu rückzukehren beabsichtigte. Jedenfalls bezahlte er den Fahrer. Hal unterhielt sich an der nächsten Straßenecke mit einer Blumenfrau. Von ihr erfuhr er, daß in je nem Haus ein gewisser Crossard wohne. Monsieur Dubois sei sein Sekretär und zugleich ein sehr netter junger Herr. Hal fuhr daraufhin zum Hotel. Unterwegs überleg te er, was wohl der Sekretär eines gewissen Crossard für Interessen an dieser Angelegenheit haben könne. * Sun Koh sah einen schweren Gurtbogen über sich, als er zum erstenmal wieder die Augen aufschlug. Ringsum in der Dunkelheit war ein großer Raum zu ahnen. Sun Koh spürte Hände an sich, versank dann wie der. Als er zum zweitenmal die Augen aufschlug, lag er in einem Kellerraum, von dessen rohen Wänden es feucht und kühl dunstete. An der gewölbten Decke hing eine Lampe, die trüb durch Spinnweben glühte. Ein Fenster gab es nicht. In der einen Wand befand sich eine Holztür. Er lag auf einigen groben Wolldecken, die die Feuchtigkeit des Kellers angenommen hatten. Hände und Füße waren gefesselt. 46
Während er die Festigkeit der Schnüre prüfte, die man zur Fesselung verwendet hatte, ging die Tür auf. Zwei Männer traten hintereinander ein. Der eine trug einfache Kleidung und paßte mit seiner breiten Schwerfälligkeit und seinem groben unangenehmen Gesicht durchaus in die Umgebung. Der andere machte neben ihm einen auffallend gepflegten Ein druck. Sein Gesicht war etwas düster und hart, die dunklen Augen unter den schwarzen Brauen wirkten sogar unangenehm gefährlich, aber man konnte ihm Klugheit und Kultur nicht absprechen. Zweifellos war er ein Mensch, der sich in der Öffentlichkeit zei gen konnte, ohne aus dem Rahmen zu fallen. Dieser Mann trat an Sun Koh heran und betrachte te ihn von oben. Er äußerte zunächst nichts, sondern suchte sich nur mit den Augen mit Sun Koh zu mes sen. Nach einer Weile machte er eine Bewegung zu seinem Begleiter hin. »Aufsetzen.« Der andere zerrte Sun Koh hoch und lehnte ihn mit dem Rücken an die Wand. Dann trat er zurück. »Sie sind Monsieur Sun Koh?« fragte der gepfleg te Mann. Sun Koh verzichtete auf jede Beschwerde und gab zurück: »Ja, und wer sind Sie?« »Sagen wir Piscot«, schlug der andere höflich vor. »Ich bin erstaunt, daß Ihre einzige Sorge zu sein scheint, meinen Namen zu erfahren.« 47
Sun Koh stand ihm an Höflichkeit nicht nach, nur war er merklich kühler. »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir erklären würden, was diese Verschleppung bedeuten soll.« »Ich kann Ihnen keine Erklärung geben, die mich entschuldigt. Meinen dringenden Wunsch, mit Ihnen eine ungestörte Unterredung haben zu können, wer den Sie kaum gelten lassen. Ich bin darüber untröst lich, aber die Verhältnisse zwangen mich nun ein mal. Um so größer wird jedoch mein Vergnügen sein, Ihnen die Freiheit zurückgeben zu dürfen, wenn unsere Unterredung befriedigend verlaufen ist.« »Das bedeutet?« »Gut, kommen wir zur Sache. Ich möchte von Ih nen erfahren, welche Bewandtnis es mit dem Spreng stoff hat, der die Explosion in Bonnets Kneipe verur sachte. Ich verbinde schon jetzt mit diesem Wunsch das Angebot, das Rezept zu diesem Sprengstoff zu einem für Sie bestimmt annehmbaren Preis zu er werben.« Sun Koh verhehlte sein Erstaunen nicht. »Ich fürchte, Sie haben sich in der Person vergrif fen. Ich hatte zufällig Gelegenheit, nach jener Explo sion Hilfe zu leisten, das ist aber auch meine ganze Verbindung mit der Angelegenheit. Ich weiß selbst nichts von diesem Sprengstoff und kenne weder den Erfinder noch das Rezept.« Piscot lächelte spöttisch. 48
»Sie erwarten doch nicht, daß ich dieser Erklärung Glauben schenke? Die Explosion wurde zweifelsfrei durch eine Probe des unbekannten Sprengstoffs ver ursacht, die ein gewisser Lerat absichtlich oder fahr lässig auf den Ofen warf. Wollen Sie auch bestreiten, daß Lerat einer Ihrer Verbindungsleute ist?« »Gewiß.« »Ah, und womit wollen Sie dann begründen, daß Sie unmittelbar nach der Explosion mit ihm sprachen und ihm sogar Geld aushändigten?« Sun Koh wartete eine Weile. »Ihr Nachrichtendienst scheint ausgezeichnet zu arbeiten«, sagte er dann. »Ich bestreite die Unterhal tung nicht. Lerat erhielt von mir Geld für eine Schil derung der Vorgänge, für die ich mich begreiflicher weise interessierte.« »Aus reiner Neugier natürlich. Leider hat man auch beobachtet, daß Sie den gleichen Lerat in Ihrem Hotel empfingen und ihm Geld aushändigten. Finden Sie nicht, daß es unter diesen Umständen schwerfällt, an ein nur allgemeines Interesse zu glauben?« Sun Koh lächelte. »Ich nehme das Lob über Ihren Nachrichtendienst zurück. Lerat selbst muß Ihnen das erzählt haben, was in meinem Hotelzimmer getan wurde.« »Nehmen wir es an.« »Dann wissen Sie auch, daß ich über jenen Sprengstoff nichts weiß, sondern etwas über ihn zu 49
erfahren hoffte.« »Ich kann weder Lerat noch Ihnen den Gefallen tun, diese Darstellung für wahr zu halten. Die Ver hältnisse liegen doch so, daß Sie über den Spreng stoff verfügen und Lerat für Sie Aufträge ausführte.« »Diese Meinung erklärt mir meine augenblickliche Lage genügend, beruht jedoch auf einem Irrtum.« »Das heißt, daß Sie mit mir nicht verhandeln wol len?« »Ich weiß vermutlich weniger als Sie.« »Überlassen Sie ihn mir«, knurrte der Mann aus dem Hintergrund, »dann wird er schon reden.« Piscot wandte sich wieder kurz um. »Nein. Du hast Lerat zum Schweigen gebracht und nicht zum Reden. Der Mann ist zu wertvoll für uns.« Gleich darauf drehte er sich wieder zu Sun Koh herum und sagte höflich: »Ich bedaure es ungemein, daß Sie sich nicht freiwillig zu einer sachlichen Ver handlung bereitfinden wollen. Sie begreifen doch wohl, daß das einige Unannehmlichkeiten für Sie nach sich zieht. Ihr Verbindungsmann Lerat hat es leider nicht rechtzeitig begriffen und hatte außerdem ein schwaches Herz, so daß er einige peinliche Be fragungen nicht überstand.« »Sie haben ihn getötet?« Piscot hob die Schultern. »Wie gesagt, er hatte ein schwaches Herz. Man kann nie sagen, wie solche Befragungen ausgehen. 50
Ich würde Ihnen jedenfalls empfehlen, lieber vorher zu sprechen. Sie brauchen wirklich nicht zu befürch ten, daß wir Sie geschäftlich übervorteilen. Das Geld ist unwesentlich, wichtig allein ist uns der Besitz je nes Sprengstoffs.« »Sie werden auf keine Weise etwas von mir erfah ren können, von dem ich nichts weiß.« »Warten wir es ab. Solange wir Sie bei uns wis sen, haben wir Zeit. Vielleicht begingen wir tatsäch lich einen Irrtum, indem wir uns Ihre Person sicher ten, aber dieser Irrtum dürfte sich dann heute oder morgen herausstellen. Ich würde mich in Ihrem In teresse ungemein freuen. Im anderen Fall empfehle ich Ihnen ernsthaft, die kommenden Stunden zu einer vernünftigen Abwägung Ihrer Verhältnisse und Aus sichten zu benutzen. Sie erlauben, daß ich mich zu rückziehe?« Er verbeugte sich formvollendet und ging zusam men mit dem anderen hinaus. Sun Koh bedauerte nichts mehr, als diese geschliffene Höflichkeit nicht mit einem Gewaltstreich durchbrechen zu können. Sie war gefährlicher als offene Derbheit, denn hinter ihr verbarg sich die kalte, berechnende Grausamkeit. Die fortschreitende Zeit brachte keine nennens werten Ereignisse. Ungefähr alle Stunden erschien der Breitschultrige, der offenbar den Wächter spielte, blickte flüchtig durch den Türspalt nach den Fesseln des Gefangenen und entfernte sich wortlos. 51
Um Essen und Trinken schien man sich nicht kümmern zu wollen. Sun Kohs Hände waren auf dem Rücken zusam mengebunden. Er drückte sich hoch und hüpfte zur Tür. Die Innenkanten der Laibung boten die einzigen Stellen mit scharfen Steinkanten, an denen er versu chen konnte, die Fesseln durchzureiben. So vertrieb er sich die Stunden damit, daß er die Schnüre, die einen geringen Spielraum der Hände überbrückten, an den Steinkanten auf und nieder rieb. Die Steine waren weich und griffen nur schlecht, die Schnüre waren um so widerstandsfähi ger. Sun Koh mußte viel Geduld aufbringen und durfte die brennenden Reibstellen der Haut nicht be achten. Es war ein Glück für ihn, daß er herankommende Schritte hören konnte. Er hatte immer gerade Zeit genug, um die Decken aufzusuchen und die zerfa sernden Stricke zu verbergen. Endlich gab es den ersten Ruck. Eine der Schnüre war durchgeschliffen. Der Spielraum wurde größer. Das bedeutete eine Erleichterung, aber noch lange nicht freie Bewegung. Und als Sun Koh endlich so weit war, daß er die Hände bald frei zu haben hoffte, kam der Wärter auf den Einfall, auch die Handfesse lung zu untersuchen. Er beugte sich über Sun Koh. Dieser schnellte den Oberkörper hoch und riß mit aller Kraft, die ihm zur 52
Verfügung stand, die Arme auseinander. Der Wächter stieß einen Fluch aus und griff zu. Aber gerade das war das dümmste, was er tun konn te. Sun Koh packte seine Füße und warf sich gegen die Knie des Mannes. Dieser schlug nach hinten. Be vor er sich zu weiterer Gegenwehr fassen konnte, schlug Sun Koh mit der Faust nach. Der Steinboden kam ihm zu Hilfe, als der Wärter versuchte, mit dem Kopf hochzukommen, und hart hinten aufschlug. Sun Koh riß den Rest der Fesselung von seinen Händen herunter, und dann suchte er in den Taschen des Reglosen. Er fand das Messer, das er brauchte, und schnitt sich damit die Stricke von den Füßen. Das zurückkehrende Blut stach wie mit hundert Messern, aber Sun Koh hatte keine Zeit, darauf zu achten. Er nahm dem Betäubten noch die Pistole aus der Jackentasche, dann eilte er hinaus. Die Tür ver schloß er hinter sich. Er stand am hinteren Ende eines schwach beleuch teten Ganges. Nach zwanzig Metern schon mündete er in ein großes Kellergewölbe, dessen starke Gurt bogen auf stämmigen Pfeilern standen. Zwischen diesen standen an der Seite Kisten und Ballen, sonst war das Gewölbe leer. Aber auf der entgegengesetzten Seite befanden sich ein Tisch und einige Stühle. Dort saßen drei Männer beim Kartenspiel. Es war unmöglich, an sie 53
heranzukommen. Sie mußten ihn bemerken, sobald er den Gang verließ. Da sie mit größter Wahrschein lichkeit bewaffnet waren, konnte er nicht hoffen, sie zu überwältigen. Die Aussichten standen gegen ihn. Und noch mehr. »Wo bleibt er denn?« fragte einer der Männer. »Ich will lieber einmal nach dem Rechten sehen. Mir war doch, als hätte es einen Krach gegeben.« »Ich komme mit«, sagte ein anderer. Die beiden Männer erhoben sich und kamen auf den Gang zu. Sun Koh zog sich zu einer dunklen Stelle zurück und preßte sich gegen die Wand. Viel leicht bemerkten sie ihn erst so spät, daß er den Vor teil der Überraschung für sich hatte. Im Rücken fühlte er einen vorstehenden Gegen stand. Als er danach griff, bekam er eine Klinke in die Hand. Unwillkürlich drückte er. Eine Tür öffnete sich. Einen Augenblick später stand Sun Koh auf der anderen Seite. Stufen führten hinunter in eine lichtlo se Finsternis. Schade, daß er keine Lampe bei sich hatte. Da trat er schon ins Wasser. Irgendetwas huschte an seinen Füßen vorbei, an einigen Stellen quiekte es dünn. Ratten! Die Augen fingen schwachen Lichtschimmer. Das war wohl ein Siel, ein Schleusenrohr, in dem er sich befand. Es war gerade so hoch, daß man gebückt dar 54
in gehen konnte. Aber ein Stück vorn kam ihm stär keres Licht entgegen. Oben rumorte es. Sun Koh tapste hastig durch das Wasser. Wenn die Burschen nachkamen, fanden sie in dem engen Rohr leichtes Ziel, zumal er gegen hel leren Hintergrund lief. Da tönte auch schon eine Stimme hinter ihm her. »Er muß hier hinunter sein. Vorwärts, wir werden ihn fangen!« Sun Koh rannte. »Halt!« schrie jemand hinter ihm her, da stürzte er aus der Enge heraus und warf sich seitlich aus dem Rohr hinaus. Damit befand er sich im Strang einer Hauptschleu se. Sie war gut zwei Meter hoch. Für gewöhnliche Begriffe mußte sie als dunkel gelten, aber Sun Kohs Augen hatten sich schon auf größere Dunkelheit ein gestellt und empfanden diese Schleuse als leidlich hell. Auf dem Grund floß bis in Kniehöhe das Schleusenwasser, ein übelriechender, widerlicher Strom, über dem bedrückend und luftzersetzend die Gase standen. Überall huschten die Ratten als graue Schatten und fauchten ärgerlich oder quiekten er schreckt. Sun Koh hätte hier eine Sperre legen können, aber er sagte sich, daß er damit den Verfolgern wohl nur Gelegenheit gäbe, geeignete Maßnahmen zu treffen. Sie würden zögern, zu folgen. Das mußte er ausnüt 55
zen. Also lief er voran, so schnell es in dem knieho hen, schlammigen Strom möglich war. Nach einigen Minuten kam er an eine Stelle, an der sich ein zwei ter Strang mit dem seinen vereinigte und ; als breitere Schleuse wegführte. Der breitere Strang besaß seit lich eine Laufschwelle, die im Trockenen lag. Sun Koh lief darauf ein Stück entlang, sprang dann ins Wasser und kehrte zurück, um den anderen Strang zu benutzen. Die Verfolger kannten sich je denfalls hier unten aus. Sie mußten annehmen, daß er den einfachsten Weg wählte. Sie konnten sich da nach richten und ihn möglicherweise dort empfan gen, wo er die Oberwelt zu erreichen hoffte. Und sie würden ihn auch auf diesem Weg verfolgen. Sun Koh watete weiter, bis er eine eiserne Steig leiter entdeckte. Dort oben befand sich ein Schleu sendeckel. Und darüber lag die Straße. Er kletterte hinauf. Der Innendeckel mußte zunächst heraus. Es war ein schweres Stück Arbeit, ihn zusammenzubiegen. Sun Koh hatte durch Andrücken des Rückens zwar beide Hände frei, aber der Deckel erwies sich trotz seiner geringen Dicke als ziemlich steif, und die Hände mußten beim Druck immer wieder den Spiel raum nehmen. Es war zum Verzweifeln. Die Verfolger konnten nun jeden Augenblick erscheinen und ihn herunter holen. 56
Er legte das Auge unter einigen Verrenkungen an das Loch, das sich in dem Deckel befand. Er blickte gegen die Unterseite eines Lastwagens. Sun Koh überlegte. Wenn er jetzt durch das Loch hindurchschoß, vielleicht gar in den Reifen des Wa gens hinein, um auf sich aufmerksam zu machen, dann konnte es eine Weile dauern, bevor draußen jemand begriffen hatte. Aber er hatte nur die Wahl, zu schießen oder sein Glück an einem anderen Schleusendeckel zu versu chen, den er dann auch erst wieder mühsam bearbei ten mußte. Die Wahl fiel nicht leicht – aber die Entscheidung wurde Sun Koh glücklicherweise erspart. Der Schleusendeckel kam ins Zittern. Der Motor des Wagens lief. Eine Minute später stach ein heller Lichtstrahl in Sun Kohs Augen. Der Deckel war frei. Und nun er wies sich die vorangegangene Beanspruchung durch den Wagen als Segen. Der Deckel war in seiner Füh rung nicht fest verklebt, wie das oft bei Schleusen deckeln zu finden ist. Als sich Sun Koh mit dem Ge nick einstemmte und mit beiden Händen drehte, ging der Deckel mit und lüftete sich bereitwillig an, als die Führung frei geworden war. Gleich darauf rutschte er zurück. Sun Koh stieg heraus. Nun stand er in der schmalen Straßen eines armen 57
Wohnviertels. Die Häuser waren alt und vernachläs sigt. Die Läden, die sich aneinanderreihten, wirkten nicht sonderlich sauber. Die Menschen gingen sehr einfach gekleidet, die Kinder hatten schmutzige Ge sichter. Sie standen bald alle um ihn herum. Der Aufschrei der Frau, die ihn kommen sah in seiner schmutzigen Kleidung, hatte die Aufmerksamkeit auf ihn gerich tet. Die Kinder rannten auf Sun Koh zu und blieben in einiger Entfernung von ihm stehen, die Erwachse nen folgten hastig. Sie gaben bereits ihre Meinung in Zurufen laut kund, wobei sich die einen sittlich ent rüstet zeigten, während die anderen mehr auf wohl wollende Anteilnahme eingestellt waren. Sun Koh verließ schleunigst die Mitte der Straße und ging auf einen älteren Mann in blauer Bluse zu, dessen ruhiges Gesicht eine vernünftige Auskunft erhoffen ließ. »Verzeihung, Monsieur«, sagte er höflich, »wür den Sie mir sagen, in welchem Stadtteil ich mich be finde?« »In Reuilly«, gab der Mann Auskunft. »Wie sind Sie denn in die Schleuse hineingekommen?« Sun Koh hielt es für richtig, seine Geschichte lie ber nicht dieser Öffentlichkeit zu unterbreiten. »Ach, es handelt sich um eine Wette. Ich bin durch die Schleusen gegangen, wußte aber nicht, wo ich mich nun befand.« 58
»Ah, ich verstehe«, sagte der andere. »Sie sollten Ihre Wetten aber wirklich nicht im Schlafanzug aus tragen. Wenn ein Polizist kommt…« »Können Sie mir einen Wagen besorgen?« »Ein Taxi? Hm, der nächste Stand ist an der Rue Bapaume. Ich will gern meinen Jungen hinschicken, denn so weit können Sie nicht gut in diesem Aufzug laufen.« Er gab dem halbwüchsigen Jungen, der neben ihm stand, entsprechenden Auftrag. Inzwischen drängte sich eine dicke Frau mit gutmütigem Gesicht neben ihm vor. »Welch unverantwortlicher Leichtsinn, Monsi eur!« schimpfte sie. »Sie sind natürlich Ausländer, aber Sie dürfen trotzdem hier nicht so herumlaufen. Das ist eine anständige Gegend. Außerdem werden Sie sich erkälten. Und wie Sie stinken! Ah, lieber Himmel, man kann Sie einfach nicht so stehen las sen. Kommen Sie, ich will Ihnen Wasser geben.« »Sie sind sehr liebenswürdig, Madame«, sagte Sun Koh lächelnd. »Ich würde Ihnen für etwas warmes Wasser recht dankbar sein.« Die Frau nahm ihn einfach beim Arm. »So, kommen Sie nur mit. Mon Dieu, in den Rat tenlöchern herumzulaufen!« Sun Koh wusch sich den Schmutz herunter, soweit es die Umstände erlaubten, dann stieg er in Wäsche und Anzug des seligen Gemahls von Madame hinein. 59
Er war eben fertig, als Madame Moustard den Kopf durch den Türspalt steckte. »Das Auto ist vorgefahren«, teilte sie mit. »Ah, Sie sind bereits fertig? Das lasse ich mir eher gefal len. Wollen Sie noch eine Tasse Kaffee trinken?« »Danke«, sagte Sun Koh, »das hieße Ihre Lie benswürdigkeit mißbrauchen. Ich möchte vor allem, daß ich schnellstens in mein Hotel komme. Den Schlafanzug darf ich doch wohl hierlassen?« »Gewiß. Sie werden ihn gewaschen und gebügelt zurückerhalten.« »Aber nein«, sagte Sun Koh lächelnd. »Werfen Sie ihn fort.« Dann stieg er in den Wagen und fuhr endlich ab. »Monsieur Sun Koh?« fragte der Portier fassungs los, als er in das Hotel hineinging. »Ein Unglücksfall«, erklärte Sun Koh. »Bitte, zah len Sie den Fahrer aus.« »Jawohl, sofort.« Drinnen am Empfang ruckten die Köpfe vor. »Monsieur …« »Schon gut!« Sun Koh lachte. »Die Polizei sucht Sie. Wir dachten …« »Die Polizei?« »Sie waren verschwunden …« »Ah, ich verstehe. Ist einer meiner Mitarbeiter oben?« »Beide Herren.« 60
»Gut, alles andere später. Ich fürchte, daß ich Ihr Hotel augenblicklich um seinen guten Ruf bringe.« Der Fahrstuhl brachte ihn hoch. Hal und Nimba strahlten vor Freude, als Sun Koh zurückkam. Aber Hal wurde dann blaß, als er Sun Koh näher betrachtete. »Du liebe Güte«, stöhnte er, »so sind Sie durch die Weltgeschichte gegangen? Das ist ja – das ist ja …« »Madame Moustard hat mich ganz ansehnlich ge funden«, sagte Sun Koh lächelnd und berichtete von seinen Erlebnissen wie von der hilfsbereiten Gemü sehändlerin. 3. In Ivry-sur-Seine, einem der Vororte von Paris, wur de ein altes, baufälliges Häuschen abgebrochen. Eines Morgens – es war der Morgen nach jenem Abend, an dem unweit von »Moulin Rouge« die Kneipe eines gewissen Bonnet unter geheimnisvollen Umständen in die Luft geflogen war – machten die Arbeiter, die zur Baustelle kamen, eine überraschen de Entdeckung. Sie fanden in dem noch stehenden Keller einen alten Mann auf dem Boden liegend. Er war bewußtlos. Seine rechte Hand umklammer te den Stiel einer der Hacken, die die Arbeiter zum Abbruch benutzten. Es sah aus, als hätte er damit ar beiten wollen. Das Gesicht unter den weißen, ver 61
wirrten Haaren war hager und abgezehrt. Der Mann trug außer den Schuhen nur eine alte, abgeschabte Hose. Ein baumwollener Schal ersetzte ihm Hemd und Kragen. Offenbar lebte er in ärmlichsten Ver hältnissen. »Sieht fast so aus, als wäre er vor Hunger schwach geworden und umgefallen«, brummte der Polier, nachdem er sich vergeblich bemüht hatte, den Ohn mächtigen zu Bewußtsein zu bringen. »Ich möchte nur wissen, wie er hereingekommen ist.« »Er muß über die Planke geklettert sein«, murmel te einer der Arbeiter. Sie bemühten sich noch eine Weile, dann ging der Polier ans Telefon und benachrichtigte den ärztlichen Notdienst. Eine Viertelstunde später kam der Kran kenwagen. Man brachte den Unbekannten in das Hospital. Auf der Baustelle war er bald vergessen. Einer der Heimatlosen hatte nächtliche Zuflucht gesucht. Armer Bursche – aber so ist das Leben. * Am Nachmittag des folgenden Tages entging Amelie Michaud eben noch dem Zugriff des Todes. Amelie Michaud wohnte mit ihrem Mann und ihrem zehn jährigen Jungen im dritten Stock einer Mietskaserne am Rand von Berry. Michaud war Schlosser. 62
Aber an jenem Nachmittag trat das Ungewöhnli che erschreckend an Amelie Michaud heran. Sie war eben im Begriff, Kohlen nachzulegen, als es an der Wohnungstür klingelte. Etwas hastiger als sonst leer te sie die Schaufel und lief dann zur Tür. Wie erwar tet, stand der Postbote mit einem Paket draußen. Das veranlaßte sie, die Tür ganz zu öffnen. Dieses Zusammentreffen glücklicher Umstände rettete ihr das Leben. Sie hörte plötzlich einen furchtbaren Krach und fühlte sich zugleich mit un widerstehlicher Gewalt gegen den Postboten gewor fen, um mit diesem zusammen gegen die jenseitige Tür zu rutschen. Als sie wieder einigermaßen ihre Sinne gebrau chen konnte, sah sie die Wohnungstür zerrissen in einer Angel hängen, und dahinter fand sie statt der vertrauten Räume ein wüstes Chaos. Amelie Michaud überwand die erste Verstörung in einer Wohnung im Erdgeschoß. Es fiel ihr aber noch schwer, ihre Gedanken zusammenzuraffen, als ein Beamter auf sie einredete und alles Mögliche von ihr wissen wollte. »Ich kann doch nichts sagen«, erklärte sie wei nend. »Ich habe nichts getan.« »Aber man beschuldigt Sie doch auch gar nicht«, sagte der Beamte ärgerlich. »Bitte nehmen Sie sich zusammen. Es steht fest, daß Ihre Wohnung durch eine Explosion völlig zerstört wurde. Die Explosion 63
war so stark, daß sie das ganze Haus in Mitleiden schaft gezogen hat. Sie ging von der Küche aus, ja, man kann sagen, von Ihrem Kohlenherd. Sie müssen doch die Ursache der Explosion angeben können?« »Ich weiß nichts«, beteuerte Amelie Michaud. »Was haben Sie denn zuletzt getan?« »Kohlen aufgeschüttet.« »Ah, befand sich etwa ein fester Gegenstand in den Kohlen?« »Ich habe nichts bemerkt.« Dabei blieb es. Amelie Michaud konnte über die Ursachen der Explosion keine Auskunft geben. Da bei stellten die Brandsachverständigen mühelos fest, daß die Explosion außergewöhnlich heftig gewesen war und daß es sich weder um eine Benzin- noch um eine Gasexplosion handelte. Der Befund lautete wohl oder übel: Explosion aus unbekannter Ursache. * Am gleichen Nachmittag ereignete sich in Ivry die Katastrophe, die den Erwachsenen zwar schrecklich erschien, aber zahllosen Schulkindern zur angenehm sten Erinnerung ihrer Schulzeit wurde, weil sie ihnen außer der Reihe zu längeren Ferien verhalf. Das Schulhaus von Ivry flog in die Luft. Das Gebäude war nicht groß. Die Explosion, die 64
vom Keller ausging, riß es auseinander, hob es aus seinem Grund und warf große Brocken über erhebli che Strecken. Die Fenster der Umgebung gingen da bei in Trümmer, auch sonst wurde einiger Schaden angerichtet, aber wie durch ein Wunder blieben die Bewohner von Ivry verschont bis auf einige, die leichte Verletzungen davontrugen. Selbst die Frau des Hausmeisters kam mit dem Schrecken davon. Der Hausmeister selbst wurde er heblich verletzt unter den Trümmern hervorgeholt. Er befand sich jedoch nicht in Lebensgefahr und konnte sogar noch seine Aussage machen. Danach hatte er zuletzt die Heizung in der Schule für die Nacht fertiggemacht, also ausgeschlackt und neuen Koks aufgeworfen. Beim Einkippen des zwei ten Eimers war der Ofen auseinandergeflogen. Die Stichflamme hatte ihn verbrannt, aber der Druck hat te ihn durch das Fenster hindurchgeschleudert und damit wohl vor Schlimmerem bewahrt. Die Ofenex plosion hatte dann unmittelbar anschließend eine Dampfexplosion hervorgerufen, die das begonnene Zerstörungswerk fortgesetzt hatte. Der Hausmeister konnte über die Ursachen der Explosion nichts angeben. Er konnte nur vermuten, daß in dem Koks eine Bombe versteckt gewesen war. Er hatte jedoch beim Einfüllen nichts davon bemerkt. *
65
Im Hoteleingang lag die schwere Stille der Nacht. Auch hinter den Türen war es still. Der Nachtkellner bewegte sich unruhig hin und her, ging bald zur Haupttreppe und bald zur Neben treppe, sah auch wiederholt nach seiner Uhr. Zwei Männer kamen über die Nebentreppe herauf. Sie sahen wie Träger aus und hatten zwischen sich einen großen Schrankkoffer, der aber wohl kein son derlich großes Gewicht besaß. Sie wechselten mit dem Kellner einige Worte, dann trugen sie den Kof fer durch den Gang. Vor der Tür, hinter der Sun Koh schlief, setzten sie ab. Der Kellner ging zu seinem Tischchen weiter, von dem aus er die Haupttreppe übersehen konnte. Die beiden Träger klappten den Koffer auf, zogen einen Schlauch heraus und preßten das eigenartige geformte Mundstück gegen das Schlüsselloch der Tür, vor der sie standen. Der eine machte eine leise Bemerkung dazu, der andere grinste. Diese Beschäftigung fand jedoch ein schnelles Ende. Zugleich riß die nächtliche Stille jäh ab. Vor und hinter den beiden Trägern öffneten sich die Türen. Aus der einen kam Hal heraus, aus der anderen Nimba. Beide sprangen unverzüglich die beiden Träger an, als ob sie es eingeübt hätten. Bevor sie heran waren und bevor die Träger die Veränderung noch richtig begriffen hatten, riß auch 66
Sun Koh die Tür auf, hinter der er lange genug auf die heimtückischen Angreifer gewartet hatte. So waren sie auf einmal zu dritt über den beiden, die nicht mehr fliehen konnten und nicht die Geistes gegenwart und Schnelligkeit besaßen, sich zu weh ren. Hal und Nimba mußten sich beeilen, um wenig stens noch einige der vorgenommenen Schläge fühl bar anzubringen. Sun Koh traf schon zu gut, als daß sie noch ihre Entrüstung hätten austoben können. »Wir müssen die Polizei verständigen«, sagte Sun Koh. Der kurze Kampf hatte immerhin einigen Lärm verursacht. Die Schläfer waren aufgewacht. Jetzt öffneten sich teils vorsichtig, teils stürmisch die Tü ren. Neugierige erschienen auf dem Flur. Sun Koh telefonierte inzwischen von seinem Zimmer aus mit der Polizei. Er konnte zwar Maurier nicht erreichen, aber der Kommissar vom Nacht dienst versprach, sofort jemand zu schicken. Als er wieder auf den Gang hinaustrat, drängte sich eben ein Polizeileutnant durch die Sperre der Gäste. Er blickte neugierig auf die beiden, die sich neben dem Koffer eben um ihr Bewußtsein bemüh ten, dann legte er die Hand an die Mütze und ver neigte sich höflich vor Sun Koh. »Guten Abend, Monsieur. Ich wurde eben im Vor beifahren angehalten und verständigt, daß hier ein Über fall geschehen sei. Würden Sie mich unterrichten?« 67
»Gern«, sagte Sun Koh. »Ich telefonierte zwar eben, aber es wird nichts schaden, wenn Sie die bei den gleich mitnehmen. Sie ließen Gas in mein Zim mer ein und hatten offenbar die Absicht, mich zu be täuben und wieder zu verschleppen. Ich bin gestern schon einmal auf die gleiche Weise überfallen wor den, konnte mich aber wieder befreien.« »Ah, deshalb rechneten Sie mit einem Überfall. Meinen Glückwunsch, Monsieur. Ich habe meinen Wagen unten und werde die beiden sofort zum Ver hör bringen. Den Koffer können wir inzwischen in das Zimmer stellen. Ich hoffe, daß Sie einverstanden sind?« »Durchaus.« »Ich möchte Sie jedoch bitten, sich uns anzu schließen, damit ich Ihre Anklage und Aussage auch gleich zu Protokoll nehmen kann.« Sun Koh zog flüchtig die Brauen zusammen. »Ist das nötig? Kommissar Maurier ist über alles unterrichtet.« »Es ist wünschenswert«, erwiderte der Polizeileut nant höflich. »Sie verstehen, daß gewisse Förmlich keiten beachtet werden müssen. Es wird nicht lange dauern.« »Gut«, sagte Sun Koh. »Ich bitte Sie jedoch, auch diesen Kellner gleich mitzunehmen.« Der Mann wollte zurückweichen, aber Sun Koh griff schnell zu und zog ihn heran. 68
»Darf ich fragen, welche Bewandtnis es mit ihm hat?« »Ich habe mich unterrichten lassen, daß der Nachtkellner den Flur zu überwachen hat und für Fremde kaum die Möglichkeit besteht, sich ohne sein Einverständnis hier zu betätigen. Als ich die Tür öff nete, stand er völlig unangefochten dort drüben an seinem Tisch. Er dürfte ein Verbündeter der beiden sein.« Der Kellner wollte etwas sagen, aber der Polizei leutnant schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab. »Schweigen Sie«, befahl er barsch. »Das genügt. Sie kommen mit. Sergeant, nehmen Sie die beiden Leute dort.« Der Polizist rüttelte die beiden aus ihrer Benom menheit hoch. »Tragt den Koffer einstweilen hinein«, sagte Sun Koh zu Hal und Nimba. »Ich komme bald zurück.« Die Gäste wichen zur Seite. Die beiden Verbre cher schwankten vorwärts. Der Kellner folgte, der Polizeileutnant und Sun Koh schlossen sich an. Wenige Schritte vom Hoteleingang entfernt stand der geschlossene Wagen des Polizeileutnants. Sun Koh wunderte sich flüchtig, daß es kein Dienstwagen war. Der Polizist setzte sich ans Steuer. Er nahm einen der Verbrecher neben sich. Die beiden anderen ka 69
men auf die Klappsitze, dahinter setzten sich der Leutnant und Sun Koh. So fuhren sie los. Anfänglich rollte der Wagen in mäßigem Tempo, aber sehr bald erhöhte sich die Ge schwindigkeit. Der Wagen schoß durch die nächtli chen Straßen und rutschte um die Kurven herum, als gälte es ein Rennen zu gewinnen. »Sind Sie verrückt geworden?« schimpfte der Po lizeileutnant nach vorn. »Nein«, knurrte der Polizist derb zurück, »aber hinter uns ist es nicht geheuer.« Der Polizeileutnant ruckte zum Rückfenster her um. Die Verhafteten drückten sich hoch und blickten nach hinten, als seien sie Teilnehmer einer beliebigen Fahrt. Auch Sun Koh wandte den Kopf. Der Wagen legte sich eben in eine Kurve. Er konnte hundert Meter zurück gerade noch ein ande res Fahrzeug sehen, das mit hellen Scheinwerfern um die Biegung nachkam. Der Fahrzeugtyp und die In sassen waren jedoch infolge der Blendung nicht zu erkennen. Unmittelbar darauf gellte das helle Zwitschersi gnal der Polizei auf. »Verdammt!« fluchte der Polizeileutnant. Sun Koh hörte das Signal und den Fluch, sah die Gesichter der Männer und wußte plötzlich, was ge spielt wurde. An dem Polizeileutnant und an dem Polizisten waren nur die Uniformen echt. Die beiden 70
hatten zur Deckung der anderen bereitgestanden. Da fühlte er auch schon den harten Lauf einer Pi stole an seiner Seite. »Sie haben begriffen«, sagte sein Nachbar hä misch. »Nun, das kann nichts mehr schaden. Bewe gen Sie sich nicht, sonst drücke ich ab. Werden wir es schaffen, Raoul?« »Sobald wir glatte Straße vor uns haben«, kam die Antwort. »Ich glaube nicht, daß sie durchhalten.« »Sie vergessen, daß ich telefoniert habe«, mischte sich Sun Koh ein. »Das merken wir«, knurrte der Polizeileutnant. »Sie werden es erst noch merken«, erwiderte Sun Koh langsam und vieldeutig, denn seine Gelegenheit war noch nicht gekommen. »Was wollen Sie damit sagen?« »Ach, nicht viel. Aber Sie müssen berücksichti gen, daß ich mit allen Möglichkeiten rechnete und …« Er sprach nur, um die Zeit zu überbrücken. Aber nun kam der geeignete Augenblick. Der Wagen rutschte wieder um eine Kurve herum. Der Leutnant saß außen und wurde gedrückt und aus dem Gleich gewicht gebracht. In der gleichen Sekunde unter brach Sun Koh seinen ruhigen Tonfall und rief hef tig: »Sehen Sie, dort vorn!« Angesichts der schlechten Gleichgewichtsverhält nisse genügte die flüchtige Ablenkung. Der Pistolen 71
lauf löste sich von der Stelle, an der er eben noch ge legen hatte, und schwankte nach vorn. Da ließ Sun Koh den Arm, auf den er sich dicht am Rückpolster gestützt hielt, vorschnellen und warf seinen Körper seitlich gegen den seines Nachbarn. Der Schuß löste sich noch, aber der Mann, der vor Sun Koh saß, schrie auf. Die Kugel hatte ihn in die Schulter getroffen. Sun Koh stieß mit der linken Faust zu. Irgendein Knochen im Gesicht des Polizeileutnants knackte. Dessen Vordermann warf sich nach hinten und griff mit ein, auch der andere versuchte das Seine zu tun. Der Kellner zog sich über die vorderste Lehne und mischte sich ebenfalls ein. Auf beschränktem Raum entspann sich ein Kampf, bei dem Sun Kohs Gegner versuchten, ihn durch ihre Überzahl zu erdrücken. Sie flogen jedoch unter den wirkungsvollen Hieben zurück, um vom Verdeck abzuprallen und sich mehr unfreiwillig als freiwillig wieder in den Kampf zu mischen. Sun Koh hatte selbst keine Bewegungsfreiheit, aber er konnte sich mit kurzen Hieben die unmittelbare Bedrohung vom Leib halten. Und plötzlich bremste der Wagen so scharf ab, daß es selbst Sun Koh weit nach vorn stauchte. Wäh rend der Wagen noch schlenkernd schwarze Spuren zog, sprang der Fahrer hinaus und rannte weg. Der Kellner wollte folgen, aber Sun Koh konnte 72
ihn gerade noch festhalten. Dann tauchte nebenan der Polizeiwagen auf. Die Polizisten zerrten heraus, was sich im Wagen befand. »Donnerwetter«, staunte einer, »hier scheint ja al lerhand losgewesen zu sein! Wo hast du denn die Nase erwischt, mein Freund?« Der »Freund« war einer der Träger, der einen Schlag gegen die Nase gefaßt hatte und damit für den Rest seines Lebens zu einem besonderen Merkmal gekommen war. Er war nicht der einzige, dem man die Schlagkraft Sun Kohs ansah. Sun Koh stieg als letzter aus. »Danke«, sagte er und wehrte den kräftigen Griff der Polizisten ab. »Ich möchte von der richtigen Po lizei nicht auch noch verhaftet werden.« »Sie sind Monsieur Sun Koh?« fragte der Führer der Streife. »Ja.« »Gut. Ich freue mich, daß es uns gelungen ist, rechtzeitig zu Hilfe zu kommen. Ich glaube aller dings, Sie hätten sich bald selbst Luft geschafft.« »Nicht ohne Sie. Ich bin Ihnen für die schnelle Verfolgung dankbar. Waren Sie unterrichtet, mit wem ich hier fuhr?« »Ich wurde unterrichtet. Wir trafen unmittelbar nach Ihrer Abfahrt ein. Ein junger Herr rief mir zu, daß Sie eben in einem Privatwagen mit einem Poli 73
zeileutnant, einem Polizisten und drei Verbrechern weggefahren seien und daß es sich vermutlich um falsche Polizei handle. Da es nicht üblich ist, daß je mand im Privatwagen Dienstfahrten unternimmt, folgten wir sofort und konnten Anschluß bekommen. Ich denke, es hat sich gelohnt.« Hal war wieder einmal auf der Höhe gewesen. Ein glücklicher Zufall war ihm zu Hilfe gekommen. Er sah vom Hoteleingang zu, wie Sun Koh mit den anderen in den Wagen stieg. Da bemerkte der Pfört ner neben ihm: »Welches Glück, daß die Polizei be reitstand. Sonst sucht man sie vergebens, aber dies mal schienen die Herren geradezu darauf zu warten, eingreifen zu können.« »In der Halle? Um diese Stunde?« »Gewiß. Er unterhielt sich mit mir und fragte mich aus, ob in den letzten Tagen an unseren Gästen ver dächtige Beobachtungen gemacht worden seien. Eine Bande von Hoteldieben sei unterwegs. Wir sprachen über alles Mögliche, als es plötzlich oben Lärm gab. Daraufhin eilten die beiden nach oben.« Da kam der kleine Streifenwagen mit den Polizi sten herangeschossen und bremste vor dem Eingang ab. In dem Augenblick wichen alle Zweifel von Hal. Er lief auf den Wagen zu und verständigte den Füh rer der Streife von seiner Auffassung der Dinge. So war es zu der schnellen Verfolgung gekommen.
74
4.
Die Ereignisse entwickelten sich aber doch wesent lich anders, als die drei in dieser Nacht vermuten konnten. Sun Koh befand sich am nächsten Morgen in der Sûrete bei Kommissar Maurier, als die telefonische Nachricht eintraf, daß es im Stadtteil Berry eine neue Explosion gegeben hatte. Diesmal hatte es einen Straßenbahnwagen getroffen, der mitten in der Fahrt auseinandergerissen worden war. Maurier brach sofort ab und fuhr nach Berry. Sun Koh folgte dem Dienstwagen in einem anderen Wa gen, in dem Hal und Nimba vor dem Polizeigebäude auf ihn gewartet hatten. An der Unglücksstelle war schon alles abgeriegelt worden. Die Menschen drängten sich hinter den ab sperrenden Polizisten. Sanitäter brachten die Verletz ten fort. Die Trümmer des Straßenbahnwagens lagen seitlich von einem aufgerissenen Erdloch. Das vorde re Fahrgestell war gänzlich zerrissen, der Wagen selbst hatte schwer gelitten. Glücklicherweise war er nur schwach besetzt gewesen und hatte sich in lang samer Fahrt befunden. Sun Koh und seine Begleiter kamen mit Hilfe des Kommissars durch die Sperre und konnten die vor liegenden Berichte mit anhören. Danach hatte sich der Unfall blitzschnell abgespielt. Der Wagen fuhr 75
gerade, als es plötzlich einen furchtbaren Krach gab und der Wagen zerstört dalag. Die Insassen konnten nur von einem entsetzlichen Stoß berichten. Über die Ursache der Explosion ließ sich nichts, auch nicht das geringste sagen. Damit wurde das Rätsel nur größer. Da stand ein halbes Dutzend Jungen zwischen zehn und fünfzehn Jahren. Einen der Jungen hatte ein älterer Mann beim Ohr und grollte ihn an: »So? Nur ein Stückchen Draht? Was habt ihr gemacht? Ihr seid an der Schiene gewesen, kurz bevor die Straßenbahn kam, und du vor allen Dingen. Na?« Der Junge begann zu weinen und stieß halb trot zig, halb ärgerlich heraus: »Ich habe doch gar nichts getan, ich sage es meiner Mutter und …« Der Mann ließ den Jungen los, als Hal in den Torweg eintrat. »Lausejungen«, knurrte er, als müßte er sich vor Hal entschuldigen. »Man müßte diese Burschen über das Knie legen. Sie richten nur Unfug an.« Hal nickte verständnisvoll. »Was hat’s denn gegeben?« Der Mann machte eine Geste. »Ach, es war nur deshalb, weil der Junge eben an der Schiene gespielt hat. Irgendeinen Grund muß doch die Explosion ge habt haben?« Hals Anwesenheit machte die Jungen mutiger. Sie begannen gleich zu dritt zu sprechen. 76
»Wir haben überhaupt nichts gemacht. Wir haben bloß gespielt.« Hal grinste vertraulich. »Klar. Mit euren Knallkorken könnt ihr die Stra ßenbahn ohnehin nicht umwerfen. Was habt ihr denn gespielt?« Die Jungen stießen sich an. »Na?« fragte Hal grinsend. »Habt ihr den Schaff ner bremsen lassen?« Diese Kenntnis der kleinen Vergnügungen sicherte ihm das Vertrauen. »Nein«, platzte einer heraus, »wir haben Säbel gemacht.« Hal wußte Bescheid. »Aha, mit Stecknadeln?« Zwei nickten, aber der, den der Mann am Ohr ge habt hatte, drängte sich jetzt vor. »Ich habe Draht genommen.« »Du hast dir wohl gleich einen Schleppsäbel ge macht?« »Es ist ja überhaupt keiner geworden. Die Stra ßenbahn ist doch geplatzt.« »Schade. Nun ist dein Draht weg.« Der Junge griff in seine Tasche. »Ach, ich habe schon noch ein paar Stückchen. Aber nachher muß man an allem schuld sein. Als ob da was dabei wäre, wenn man sich ein paar Schwer ter macht.« 77
Hal hatte es früher selbst getan. Wenn die Stra ßenbahn über eine Stecknadel fuhr, war die Steckna del schön flach gequetscht und zu einem winzigen Degen geworden. Der zum Griff gewordene Kopf war das Beste daran, deshalb wunderte sich Hal über die Verwendung von Draht. »Quatsch«, sagte er deshalb. »Aber Draht ist doch nichts. Was hast du denn für Draht?« Der Junge öffnete die Hand und zeigte einige kur ze Stücke tiefschwarzen Drahtes, soweit man von Draht sprechen konnte. Das war genau das, was Hal insgeheim zu sehen erwartete. »Da«, sagte er. »Das ist aber kein gewöhnlicher Draht.« Hal nahm sie dem Jungen scheinbar gleichgültig aus der Hand. »Na, warum denn nicht? Ich kann da nichts Be sonderes dran finden. Hast du ihn geschenkt bekom men?« »Gefunden. Aber das ist mein Draht.« »Sowieso«, beruhigte Hal. »Aber du hast recht, das ist schon ein komischer Draht. Wo hast du denn das Zeug gefunden?« »In Ivry draußen«, berichtete er. »Da wird ein al tes Haus abgebrochen. Ich habe es aus dem Erdhau fen herausgeholt.« »Das kannst du deiner Großmutter erzählen«, sag te Hal. »Den schwarzen Draht sieht man doch gar 78
nicht, wenn er in der Erde liegt.« Der Junge tat überlegen. »Es war doch auch ein Zigarettenbehälter, so ein ganz altes, verrostetes Ding. Aber da waren die Drahtstückchen drin, eine ganze Menge.« »Na, vier oder fünf sind aber nicht eine ganze Menge.« »Es waren mehr, aber ich habe doch den anderen auch ein paar gegeben.« Hal wandte sich an die anderen. »Habt ihr auch welche?« »Meine sind fort«, sagte einer. »Ich habe noch zwei«, sagte ein anderer und griff in die Tasche. »Meine sind auch alle«, sagte ein dritter. Hal sammelte die Drahtstücke, die ihm gezeigt wurden, einfach ein. Es lief ihm dabei kalt über den Rücken, aber er ließ sich nichts anmerken, sondern sagte verwundert: »Das ist aber ein komischer Ein fall, die Drahtstückchen in den Zigarettenbehälter zu tun. Zeig mal her, ob das die gleichen sind. Tatsäch lich. Und deine? War denn sonst nichts drin?« Der Junge zuckte mit den Schultern. »Ein paar alte Papiere, weiter nichts.« »Hast du die auch noch?« »Nein, die habe ich fortgeworfen.« »Und das Etui?« »Das liegt bei uns zu Hause. Ich wollte es erst 79
wieder putzen, aber ich glaube, es wird nichts mehr draus. Mein Bruder sagte, es sei bloß Blech.« Hal überlegte einige Sekunden, dann sagte er ernsthaft: »Hm, also hört einmal zu, Jungens. Mit dem Draht hier hat es schon seine besondere Be wandtnis. Es wird euch komisch vorkommen, aber das Zeug ist mächtig gefährlich und explodiert. Du hast mit deinem Stück Draht die Straßenbahn in die Luft gesprengt. Dafür könnt ihr nichts, und bestimmt wird euch kein Mensch etwas tun deswegen. Ihr müßt es aber der Polizei erzählen, sonst sucht sie sich einen Bruch und kann nichts finden. Ihr müßt die Po lizisten auf die Sprünge bringen. Einverstanden?« Der Gedanke, der Polizei zu helfen, gefiel. Die Jungen nickten, obwohl sie lange nicht alle begriffen. »Also schön«, fuhr Hal fort. »Ihr bleibt vorläufig hier und überlegt euch, wo die anderen Drahtstück chen hingekommen sind. Und du kommst gleich mit, ich will dich mal mit dem Kommissar bekanntma chen.« »Die Polizei wird mich doch nicht…« »Auffressen wird sie dich«, sagte Hal lachend. »Mensch, wie kann man denn soviel Angst vor den Leuten haben. Komm nur, ich helfe mit.« Der Junge holte tief Atem. »Ich komme mit«, sagte er dann entschlossen. »Ich habe ja schließlich nichts ausgefressen und werde ihnen schon Bescheid stoßen.« 80
Also gingen sie gemeinsam durch die Zuschauer und durch die Sperre. »Wen bringen Sie denn da?« erkundigte sich Mau rier wohlwollend und etwas spöttisch zugleich. »Den Attentäter«, erwiderte Hal gelassen. »Dieser junge Mann kann Ihnen einiges über das Geheimnis des schwarzen Drahtes erzählen.« »Was? Wieso?« staunte Maurier und wandte sich dann aufgeregt dem Jungen zu. »Du hast die Stra ßenbahn in die Luft gesprengt? Wie hast du das ge macht? Was weißt du von dem schwarzen Draht? Erzähle!« Der Junge kniff die Augen zusammen, zog ein trotziges Gesicht und schielte auf Hal. »Auf diese Weise werden Sie ihn nicht zum Reden bringen, Herr Kommissar«, sagte Hal. »Ich will Ih nen die Geschichte lieber gleich selbst erzählen, wie ich sie von dem Jungen erfahren habe.« »Scheint mir ein verstockter Bursche zu sein. Aber – hm, Sie würden mir natürlich einen großen Gefal len tun.« Hal hielt ein Stück von dem schwarzen Draht hin. »Bitte, sehen Sie sich zunächst das an. Das ist wohl das gleiche Zeug, wie es Lerat in seiner Tasche gefunden hat. Ich nahm es dem Jungen ab. Er hat ein solches Stück auf die Schiene gelegt, weil er dachte, es würde von den Rädern plattgedrückt werden.« »Donnerwetter, Sie meinen, das ist das Zeug? Un 81
glaublich! Hier, meine Herren. Und wo hat es der Bursche her?« »Gefunden. In Ivry wird ein Haus abgebrochen. Dort hat er aus einem Erdhaufen ein altes Zigaretten etui herausgewühlt. In ihm befanden sich die Stük ke.« »Das ist ja – das ist ja geradezu sensationell!« er regte sich Maurier. »Aber – es ist doch noch eine ganze Menge unklar. Wir haben doch verschiedene Explosionen gehabt, die…« »Auch dafür gibt es eine überraschende Erklä rung«, fiel Hal ein. »Der Junge hat nämlich einen Teil der Stäbchen an seine Spielkameraden ver schenkt, und diese haben sie wohl überall verstreut, ohne zu ahnen, was sie in der Hand hieben.« »Das ist wirklich – ich muß sagen …« »Dort drüben im Torweg sind die anderen Kinder. Ich dachte, Sie würden sie auch noch fragen wollen. Vielleicht ist es am besten, wenn Sie gleich das Not wendigste erledigen, bevor sie weglaufen.« »Richtig, sehr richtig«, meinte der Kommissar. Die ganze Gruppe bewegte sich zum Torweg hin über. Unterwegs erkundigte sich Hal beiläufig bei dem Jungen nach der Baustelle, an der er den Fund gemacht hatte. Als sich die Sperre und der Ring der Zuschauer öffneten und damit der Blick auf den Torweg frei wurde, entdeckte Hal einen Mann, der sich mit 82
schnellen Schritten von den Kindern entfernte. Das war das gleiche Gesicht, das ihm vorhin schon flüchtig aufgefallen war. Dubois, der Sekretär des gewissen Crossard. Hal machte flüsternd Sun Koh aufmerksam. Du bois war schon nicht mehr zu sehen. »Er hat die Kinder ausgefragt«, vermutete Hal. »Wenn er erfahren hat, was sie wissen …« »… werden wir wohl endgültig Ruhe bekommen.« »Ja, aber da ist noch etwas anderes. In dem Ziga rettenbehälter haben sich auch Papiere befunden. Der Junge hat sie für wertlos gehalten und fortgeworfen. Wenn Dubois nach ihnen sucht und sie findet, könnte er vielleicht zu dem Rezept kommen. Und dem Bur schen gönne ich es am wenigsten.« Sun Koh überlegte kurz. »Hat er das Papier an der Baustelle fortgeworfen?« Hal gab die Frage leise an den Jungen weiter. »Ich weiß nicht – ich glaube. Nach Hause habe ich es nicht mitgenommen.« Sun Koh hatte es gehört. »Frage die Kinder noch, was sie erzählt haben. Ich verabschiede mich inzwischen.« Da waren sie schon am Torweg. Sun Koh hielt Maurier auf und sagte, daß er nicht weiter an der Un tersuchung teilnehmen wolle. Hal drängte sich vor und griff sich einen der Jungen. »Da war doch eben ein Mann bei euch?« 83
»Ja«, sagte der Junge sofort. »Er hat uns Geld ge geben.« »Ihr habt ihm alles erzählt?« »Er wollte wissen, warum Jean bei der Polizei steht. Wir haben es ihm gesagt.« »Auch, wo Jean den Draht gefunden hat?« »Ja.« »Und daß Papier in dem Zigarettenbehälter war?« »Das wußte er schon.« »Kunststück«, murmelte Hal, schüttelte im Vor beigehen dem Kommissar die Hand und drückte sich aus dem Torweg. * Die Baustelle in Ivry war leicht zu erreichen. Sie lag an einer Straße, die von der geraden Verbindung zwischen Berry und Ivry abzweigte. Es gab nur we nige Häuser an dieser Straße, die Baustelle war die einzige und somit kaum zu verfehlen. Sie war einge plankt worden, aber augenblicklich fehlte die ganze vordere Plankenwand. Die Radrinnen schwerer Fuhrwerke kurvten auf das Grundstück zu. Vom Neubau selbst war noch nicht viel zu sehen. Die Grundmauern waren eben erst angelegt worden. Als Sun Koh mit seinen Begleitern heranfuhr, konnte er keine Arbeiter entdecken. Sie machten eben Frühstückspause und saßen in der Baubude. 84
Kurz vor dem Bauplatz stand ein Auto. Die drei Männer, die zu ihm gehörten, stiegen auf den Erd haufen herum und suchten offenbar etwas. Der eine kam jedoch zur Straße, stellte sich neben seinem Wagen auf und erwartete die Ankömmlinge. Er war groß und breitschultrig. Sun Koh ging auf den Bauplatz und damit auf den Mann zu. Dieses Gesicht kam ihm bekannt vor. »Halt!« knurrte der Mann drohend und nahm die schweren Fäuste aus der Tasche. »Wo wollen Sie hin?« Sun Koh deutete mit dem Kopf zum Bauplatz. »Genau dorthin, wie Sie vermuten.« Der Breitschultrige trat etwas zur Seite und damit Sun Koh in den Weg. »Machen Sie ja, daß Sie fortkommen, sonst pas siert was. Auf der Baustelle haben Sie nichts zu su chen!« Sun Koh lächelte über die kindliche Art, ihn ein schüchtern zu wollen. »Sie irren«, erwiderte er. »Wir haben dort genau soviel zu suchen wie Ihre Freunde. Ich wundere mich übrigens, daß Sie so leichtsinnig sind, schon wieder Ihr Gesicht zu zeigen.« »Was wollen Sie damit sagen?« grollte der andere. »Nun, heute nacht spielten Sie einen Polizisten und beteiligten sich an einem Verbrechen. Sie sind nicht nur von mir, sondern auch von verschiedenen 85
anderen Leuten gesehen worden. Ich fürchte sehr, daß die Polizei Sie verhaften wird, wenn sie nachher eintrifft.« »Ich weiß nicht, wovon Sie reden«, brummte der Mann mürrisch. »Ich habe für heute nacht ein Alibi, das von einem halben Dutzend Leuten beschworen werden kann.« »Möglich, aber ich glaube nicht, daß Kommissar Maurier viel von solchen Alibis hält. Und nun ver sperren Sie mir nicht dauernd den Weg.« Der andere pendelte bedeutsam mit seinen Armen. »Hier kommen Sie nicht weiter. Verschwinden Sie schleunigst, sonst…« »Sonst?« Sun Koh lächelte. »Sonst schlage ich Ihnen sämtliche Knochen ent zwei!« knurrte der andere gefährlich. »Machen Sie ja, daß Sie fortkommen!« Er fuchtelte drohend. Sun Koh aber schlug leicht und spielerisch zwi schen den Fäusten des Mannes hindurch in dessen Gesicht. Es war nicht mehr als eine Kampfansage. Der Gegner schlug sofort zu. Er schlug daneben und brachte sein ungedecktes Kinn mit der Wucht seiner angreifenden Bewegung gegen den harten Hammer der vorschießenden Faust Sun Kohs. Der Kopf ruckte zurück, und der Körper folgte langsamer. Das grobe Gesicht sah einige Se kunden lang sehr erstaunt aus. 86
Sun Koh ging weiter. Hal klatschte dem Benom menen im Vorübergehen einen feuchten Lehmbrok ken von der Seite auf den Kopf. Jetzt kamen auch die beiden von ihren Erdhügeln herunter. »Was wollen Sie hier?« fauchte Dubois. »Was fällt Ihnen ein, meinen Fahrer zu überfallen und nie derzuschlagen! Ich werde das zur Anzeige bringen!« »Lassen Sie sich nicht aufhalten«, sagte Sun Koh spöttisch. »Die nächste Polizeiwache kann nicht weit sein.« Dubois stutzte und wurde ruhiger. »Mich können Sie nicht einschüchtern. Wenn Sie glauben, daß ich davonlaufe und Ihnen den Platz überlasse, haben Sie sich getäuscht.« »Mir genügt es zunächst, wenn Sie aus dem Weg treten.« Dubois ging sofort zur Seite und zog seinen Be gleiter mit weg. Sie tuschelten miteinander, dann ging der zweite Mann zum Wagen. Dort blieb er und beobachtete die Straße. Dubois ging suchend über den Platz. Das tat er aber nur zum Schein, denn er nahm so ziemlich den kürzesten Weg zur Baubude, die an der Hintergrenze des Grundstücks stand. Dubois kam nicht mehr in die Baubude hinein. Als er kurz davor stand, öffnete sich die Tür. Die Arbei ter schoben sich heraus. Aus dem kleinen Nebenge laß trat der Polier. Die Frühstückspause war vorüber. 87
Dubois mußte die beabsichtigte Verhandlung im Freien führen. Sun Koh und seine Begleiter brauch ten also bloß heranzutreten, um alles mitanzuhören. Der Polier hatte ihn offenbar von seinem Fenster aus schon beobachtet, denn er kam Dubois zuvor und sagte ziemlich unfreundlich: »Auf dieser Baustelle scheint der Teufel los zu sein. Ich möchte nur wis sen, was Sie hier herumzusteigen haben. Wenn dann was passiert, muß ich die Schuld tragen. Das Betre ten der Baustelle ist verboten. Haben Sie denn das Schild nicht gelesen?« »Entschuldigen Sie«, erwiderte Dubois höflich, »ich habe es schon gelesen, aber ich konnte mich nicht darum kümmern. Mir ist hier etwas verlorenge gangen. Kann ich Sie unter vier Augen sprechen?« »Ach was«, lehnte der Polier barsch ab, »ich habe zu arbeiten. Sagen Sie schnell, was Sie wollen, sonst müssen Sie warten, bis Feierabend ist.« Dubois schielte nach rückwärts und zog eine är gerliche Grimasse, als er Sun Koh und seine Beglei ter ziemlich dicht hinter sich sah. Er fügte sich je doch in die Lage. Es war leicht für ihn auszurechnen, daß Sun Koh das gleiche fragen würde wie er, wenn er verzichtete. »Ich habe hier etwas verloren«, setzte er neu an. »Es sind wertvolle Papiere.« Die Arbeiter, die sich schon in Bewegung gesetzt hatten, blieben neugierig stehen. Der Polier zog die 88
Brauen hoch. »Hier auf der Baustelle? Was hatten Sie denn hier zu suchen? Nach Feierabend wird doch alles abge sperrt.« »Es war schon früher«, wich Dubois aus, »als das Haus noch stand, vor einigen Tagen.« »Ach.« Von der Straße her kamen kurz hintereinander ei nige scharfe Pfiffe. Dubois wandte sich um und lief einfach weg. Hal wollte ihm in den Weg springen, aber Sun Koh hielt ihn fest. »Laß ihn laufen. Die Polizei wird ihn schon fin den, wenn sie ihn braucht.« Der Polier trat heran. »Was soll denn das wieder bedeuten?« »Vermutlich dürfte die Polizei bald hier sein.« »Die Polizei? Was hat die damit zu tun?« »Es handelt sich um einen wichtigen Kriminalfall. Monsieur Dubois steht mit der Polizei nicht auf gu tem Fuß.« »Und Sie? Warum bleiben Sie dann hier?« »Wir gehören nicht zu ihm«, sagte Sun Koh. »Sonderbar. Entschuldigen Sie, aber können Sie mir sagen, was hier gespielt wird?« Sun Koh nickte. »Haben Sie von den Explosionen in den letzten Tagen gelesen?« »Allerdings, Monsieur.« 89
»Sie wurden durch einen neuartigen Stoff verur sacht, nach dem die Polizei fahndet. Die Jungen, die Sie vorgestern vom Platz gewiesen haben, haben ihn hier gefunden.« »Hier?« »Ja, in einer alten Zigarettendose, die Sie vermutlich ausgegraben haben. In ihr befanden sich auch Papiere. Der Finder hat sie fortgeworfen. Auf ihnen stand wohl die Herstellungsformel für den Sprengstoff, sie besa ßen also außerordentlichen Wert. Das erklärt die ver schiedenen Bemühungen, die Papiere zu finden.« Der Polier schob seine Mütze beiseite und kratzte sich am Kopf. »Donnerwetter, so ist das? Das gefährliche Zeug war hier? Dann hat der Alte vielleicht danach ge sucht? Ich dachte mir doch gleich, daß diese Baustel le verhext ist. Donnerwetter!« »Was ist das für ein Alter, von dem Sie spre chen?« fragte Sun Koh. »Ach, das war auch so eine komische Geschich te«, berichtete der Polier. »Vor einigen Tagen, wir hatten den Abbruch schon fast herunter, fanden wir frühmorgens einen alten, halbverhungerten Mann im Keller. Ich habe ihn ins Hospital bringen lassen. Wir dachten, er habe sich nur eine Unterkunft gesucht, aber jetzt kommt es mir fast so vor, als ob er auch etwas hat finden wollen. Und ich weiß, daß er eine unserer Spitzhacken in der Hand hielt.« 90
»In welches Hospital ist der Mann gebracht wor den?« »Nach St. Anna, Monsieur.« Sun Koh zog einen Schein aus der Tasche. »Danke. Das ist für den frohen Tag, den Sie sich mit Ihren Kameraden machen wollen.« »Vielen Dank, Monsieur, vielen Dank.« Auf der Straße hielt schon der Polizeiwagen. Mau rier kam an der Spitze seiner Leute herangestürmt. Er beschwerte sich zunächst heftig und unterstellte Sun Koh, daß er versucht habe, das Rezept an sich zu bringen. Er beruhigte sich jedoch, als ihm Sun Koh die Zusammenhänge erklärte und von Dubois sprach. »Das ist ja eine unglaubliche Geschichte!« seufzte er wieder versöhnt. »Stellen Sie sich vor, daß diese Kinder einfach mit gefährlichem Sprengstoff gespielt haben, als sei es Draht. Ah, sie haben es mir erzählt. Sie haben das Zeug mit nach Hause genommen und einfach in den Grudekasten geworfen. Kein Wunder, daß die Küche dieser Frau Michaud explodierte. Einer hat ein Stück mit in der Schule gehabt und dann durch das offene Kellerfenster auf den Koks geworfen, ohne sich dabei etwas zu denken. Deshalb ging das ganze Schulhaus in Ivry in die Luft. Und einer ist zu seinem Onkel gefahren, um ihn zu besuchen. Er hat auf dem Oberdeck des Omnibusses mit dem Draht gespielt und ihn verloren. Da haben Sie die Ursache für die Explo sion im Kabelschacht. Der gefährlichste Sprengstoff 91
der Welt in der Hand von Kindern! Ah, Monsieur, Sie haben noch mehr von dem Zeug?« Die Frage galt Hal. »Möglich. Ah, hier haben wir sie schon.« Er reichte dem Kommissar zwei Stücke. »Nicht mehr?« fragte Maurier mißtrauisch. »Die Kinder sprachen von sechs oder sieben …« »Das wird alles sein«, vermutete Hal und stülpte bereitwillig seine Taschen um. Maurier gab sich damit zufrieden, und Hal behielt die anderen Proben in der anderen Tasche. Er dachte sich, daß man sie vielleicht gebrauchen könnte, um die Zusammensetzung festzustellen. Sun Koh erzählte dem Kommissar, was er durch den Polier erfahren hatte. Dieser stand inzwischen abseits und sprach mit einem Arbeiter, der eben erst gekommen war und sich noch in Straßenkleidung befand. Als sie sich trennten, trat er auf Sun Koh zu. Er kam gerade zurecht, um die Fragen des Kommis sars zu beantworten. Maurier machte es kurz. Er war entschlossen, sich zunächst jenen alten Mann vorzunehmen, in dem er Maldon vermutete. Es genügte, wenn auf der Bau stelle ein Posten blieb. Der Polier hatte noch etwas auf dem Herzen. »Ich habe noch etwas erfahren«, sagte er zögernd. »Perraud hat es mir eben erzählt. Er ist eben vom Arzt gekommen.« 92
»Ah, und was hat er Ihnen erzählt?« drängte Mau rier. »Ist es jener Mann dort? Heda, kommen Sie doch her, schnell, wenn ich bitten darf!« »Er kann nicht so schnell laufen«, entschuldigte der Polier. »Er macht deswegen bei uns auch nur den Boten.« »Was wissen Sie?« fragte Maurier. »Erzählen Sie!« Perraud war sichtlich verlegen. »Ich – ich weiß nichts«, stotterte er. »Es fiel mir nur auf, als ich den Mann plötzlich im Hospital wie dersah. Ich ging heute früh gerade hier weg, als die beiden auftauchten. Ich habe ein gutes Gedächtnis für Gesichter, und als ich den einen Mann dann auf einmal als Krankenwärter sah, dachte ich, das müßte ich dem Polier erzählen.« »Ja, wovon reden Sie denn eigentlich?« Maurier ging hoch. »Ich denke, Sie wissen etwas über die Pa piere? Und nun …« »Er meint die beiden, die heute morgen zuerst nach den Papieren geforscht haben«, fiel der Polier erklärend ein. »Den einen hat er erst vor einer halben Stunde in der Tracht eines Krankenwärters gesehen, und zwar im Hospital St. Anna. Dort war er nämlich zur Behandlung.« »Ah!« Der Kommissar begriff. »Das ist allerdings wichtig. Damit hätten wir die Verbindung zu diesem Alten. Ausgezeichnet. Aber sagten Sie nicht noch etwas von den Papieren?« 93
Perraud nickte. »Ich habe solche Papiere mit komischen Zahlen in der Hand gehabt. Sie sahen aus, als ob einer seine Aufgaben darauf gemacht hätte, nur war es dünnes, altes Papier.« »Ja – und?« »Ich wollte Feuer machen für unseren kleinen Ka nonenofen in der Bude. Da habe ich mir Papier zu sammengesucht. Auf dem Aushub trieben sich ein paar Jungen herum. Der eine warf gerade Papier fort, und das habe ich auch aufgehoben.« »Und was haben Sie mit dem Papier gemacht?« »Feuer.« »Sie haben es angezündet?« »Freilich«, sagte der Arbeiter etwas trotzig. »Verbrannt!« ächzte Maurier. »Dieses unersetzli che Rezept einfach verbrannt – es ist unglaublich!« Perraud rieb sich an der Nase. »Hm, ich weiß ja nicht, ob Ihnen damit geholfen ist, aber alles habe ich nicht verbrannt.« Maurier beugte sich vor. »Nicht alles? Wo haben Sie den Rest?« Perraud grinste und wies mit dem Daumen zu der kleinen Bretterbude, die im Winkel des Grundstücks stand. »Auf dem Abort?« »Ja.« »Auf dem Abort!« seufzte Maurier. »Das ist ja – 94
das ist ja eine Tragikomödie! Lachen Sie gefälligst nicht, Luison! Ich werde Sie beauftragen, nach die sem Papier zu suchen!« Maurier ließ Posten zurück, selbst neben dem kleinen Häuschen, dann fuhr er zum Hospital. Sun Koh folgte mit seinen Begleitern. Der Kommissar freute sich, als der zweite Wagen bald zurückblieb. Seine Freude schwand jedoch, als er den Wagen an der Auffahrt des Krankenhauses bereits vorfand. Dieser Sun Koh hatte es fertiggebracht, den Polizei wagen auf anderem Weg zu überholen. Oben, im Sterbezimmer des Krankenhauses, traf Maurier Sun Koh am Bett des Unbekannten. Der Arzt hoffte, daß der Sterbende noch einmal zu Be wußtsein kommen würde. Die Männer warteten. Endlich schlug der Sterbende die Augen auf. Maurier beeilte sich, war jedoch klug genug, be hutsam zu sprechen. »Monsieur, können Sie mich verstehen? Ich bin Kommissar Maurier von der Kriminalpolizei?« »Ja«, hauchte der Sterbende. »Haben Sie Warton gewarnt?« »Warton?« »Lionel Warton«, flüsterte der Sterbende. »Er soll nicht auch …« Die Stimme erlosch. Der Kommissar blickte fragend zu dem Arzt hin. Dieser hob die Schultern. 95
»Hören Sie«, versuchte es Maurier noch einmal. »Sie heißen doch Maldon, nicht wahr?« »Ja«, bestätigte Maldon kräftiger und sprach dann hastig mit fiebriger Lebendigkeit weiter. »Ich bin Maldon. Ich entging damals der Katastrophe, weil ich die Versuche für die Kommission vorbereiten mußte. Sie sollten draußen, weit entfernt vom Ort, stattfinden. Als das Unglück geschah, wußte ich, daß nichts mehr zu retten war. Mir graute vor den Ergeb nissen unserer Arbeit. Ich hielt die Explosion für eine Mahnung des Himmels. Ich entschloß mich, das Ge heimnis zu bewahren. Ich verließ England mit den Proben für die Kommission und dem Rezept. Ich vergrub beides in einem alten Haus in Ivry, in dem ich wohnte.« Er schwieg eine Weile mit geschlosse nen Augen und sprach dann hastig weiter: »Ich habe die Katastrophe nie überwunden. Ich war namenslos und fristete mein Leben, so gut es ging. Ich wurde alt, und es ging schlecht. Dann las ich in der Zeitung von dieser Explosion. Ich dachte, jemand hätte aus Versehen die Proben ausgegraben, und wollte sie wegholen, aber ich hatte keine Kraft mehr …« »Sie haben irgendwann Ihren Anzug verkauft und eine Probe in der Tasche gelassen«, murmelte Mau rier. »Ich weiß nicht«, flüsterte Maldon. »Vielleicht – ich war damals so durcheinander. Sagen Sie Warton, er soll die Finger davonlassen.« 96
»Wer ist Lionel Warton?« fragte Sun Koh und riß damit den Sterbenden noch einmal aus dem Ver dämmern. »Warton? Der Junge hat es in sich, aber es ist Un sinn, so früh zu heiraten. Aber welches Glück, daß er Hochzeit hatte. Zäh, geduldig und vorsichtig – aber er sollte trotzdem gewarnt werden. Wir dachten da mals auch …« Mitten im Satz streckte sich sein Körper. Der Arzt beugte sich vor. »Es ist vorbei.« Der Kommissar und Sun Koh verließen zusammen den Raum. »Zuletzt scheint er phantasiert zu haben«, sagte Maurier. »Immerhin, die Angelegenheit ist wohl ziemlich klar. Diese alte Explosionsgeschichte ist durch den Abbruch des Hauses in Ivry noch einmal lebendig geworden und hat ein paar Gauner in Be wegung gesetzt. Jetzt dürfte sie endgültig erledigt werden, vorausgesetzt, daß wir die Burschen vor Ge richt bringen können, die Lerat ermordeten.« Sun Koh nickte nur dazu. Kommissar Maurier konnte am nächsten Tag den Sekretär Dubois und den falschen Polizisten verhaf ten, doch mußte er sie am übernächsten Tag schon wieder gegen Kaution freilassen. An einen gewissen Crossard kam der Kommissar überhaupt nicht heran, geschweige denn an den Mann, der sich Sun Koh gegenüber Piscot genannt hatte. 97
Sun Koh erfuhr schon am nächsten Tag ohne allzu große Mühe, daß es in England, und zwar in dem Städtchen Bolton, einen Professor Lionel Warton gab, der sich auf die Verhaltungsweise von Materie unter hohen Drücken spezialisiert hatte und vor rund fünfundzwanzig Jahren einige Monate lang in Dr. Tunbridges Labor gearbeitet hatte. Am übernächsten Tag flog er nach Bolton. 5. Professor Lionel Warton war ein Mann von annä hernd fünfzig Jahren. Er sah stattlich aus. Gesicht und Haltung verrieten jedoch, daß er den größten Teil seiner Zeit am Schreibtisch oder im Laboratori um verbrachte. »Maldon?« sagte er nachdenklich, nachdem ihm Sun Koh den Anlaß zu seinem Kommen genannt hat te. »Ja, ich erinnere mich an ihn. Er war der Mitar beiter von Tunbridge. Ich habe einige Monate lang bei ihnen gearbeitet, war aber schon nicht mehr in Newcastle, als sich die Katastrophe ereignete. Ich begreife nur nicht, warum er mich warnen läßt.« »Vielleicht hat er sich über Ihre Arbeiten unter richtet und vermutet, daß Sie ähnlichen Gefahren ausgesetzt sind wie er und Tunbridge?« »Aber nein.« Warton schüttelte entschieden den Kopf. »Dazu hat er keinen Grund. Gewiß, Tunbridge 98
experimentierte auch schon mit hohen Drücken und hat seinen damaligen Sprengstoff einem solchen Ex periment zu verdanken, aber ich habe ihn schon da mals gewarnt, soweit man es als junger Mensch wa gen kann, einen anerkannten Gelehrten zu warnen. Ich möchte nichts gegen Tunbridge sagen, aber er war – hm, in gewissem Sinn ein Hasardeur. Es ge nügt nicht, Blei in Gold zu verwandeln, sondern man muß auch wissen, warum und wie das geschieht, und man muß jede Einzelheit des Vorgangs verstehen und beherrschen.« »Das leuchtet mir ein«, sagte Sun Koh. »Vielleicht brauchen Sie keinen Wert auf Maldons Warnung zu legen. Immerhin wollte ich Ihnen die Warnung we nigstens überbringen.« »Ich bin Ihnen sehr verbunden dafür«, versicherte Warton höflich. »Und nebenbei bin ich auch etwas neugierig«, sag te Sun Koh lächelnd. »Ich interessiere mich für Ihre Arbeiten.« »Sehr freundlich von Ihnen«, erwiderte Warton zurückhaltender. »Ich fürchte jedoch – nun, ich glau be nicht, daß meine Arbeiten einen Außenstehenden interessieren könnten. Es handelt sich um reine Grundlagenforschungen, die weder Nutzen noch Sensationen enthalten.« »Sie unterschätzen den Wert Ihrer Forschung«, antwortete Sun Koh verbindlich. »Immerhin sind Sie 99
zur Zeit der einzige Wissenschaftler, der in dieser Hinsicht Neuland erschließt. Soweit ich unterrichtet bin, finanzieren Sie Ihre Arbeiten und Ihr Labor selbst. Falls Sie etwa geldliche Unterstützung brau chen, sind wir gern bereit, Ihnen zu helfen.« Lionel Warton biß sofort an. Er lachte kurz. »Fragen Sie einen Forscher, ob er Geld braucht. Aber darf ich fragen, ob Sie im Ernst sprechen?« »Natürlich im Ernst«, versicherte Sun Koh. »Ich vertrete das A-Syndikat, eine amerikanische Organi sation, von deren Existenz Sie sich leicht überzeugen können.« »Interessant, interessant«, murmelte Warton. »Ich habe mir bis jetzt zwar immer selbst geholfen, aber wenn da eine Möglichkeit besteht… Wir müßten wohl noch ausführlich darüber sprechen, aber ver mutlich müßte ich Sie erst einmal über meine Arbei ten unterrichten. Wenn ich Sie bitten dürfte, mit in das Labor hinüber zu kommen – an Ort und Stelle läßt sich manches einfacher erklären.« Wenige Minuten später standen sie in einem gro ßen und vorzüglich eingerichteten Laboratorium. Die Einrichtungen des Labors wichen wesentlich von den sonst üblichen ab. Man konnte sogar annehmen, sich in einem Maschinenraum zu befinden. Der Eindruck kam von einer Gruppe massiger Maschinen, deren fast klobige Mächtigkeit durch eine Unzahl feinster Meßeinrichtungen noch unterstrichen wurde. 100
»Das sind unsere Überdruckmaschinen«, erklärte Warton. »Hier haben Sie die Fenster und die Beob achtungseinrichtungen, mit deren Hilfe wir die Vor gänge im Zylinder unmittelbar überprüfen und ver folgen können.« »Sie erzeugen außerordentlich hohe Drücke?« »Einen Überdruck von 80 000 Atmosphären.« »Alle Achtung! Das ist achtzigtausendmal soviel wie der Druck unserer Lufthülle.« »In Meereshöhe gemessen«, ergänzte Warton. »Sie wissen ja wohl, daß man den Druck der Luft auf einen Quadratzentimeter als Atmosphäre geeicht hat, das ist aber ein Druck von rund ein Kilogramm auf den Quadratzentimeter. Der Grenzdruck von 80 000 Atmosphären, den ich hier erzeugen kann, bedeutet also einen Druck von 80 000 Kilogramm auf den Quadratzentimeter.« »Sie erzeugen also hier einen Druck, den es sonst auf der Erde nicht gibt?« Warton lachte. »Auf der Erde nicht, aber in der Erde und im Weltraum.« »Haben Sie bestimmte Stoffe dem Überdruck un terworfen?« »Ja, viele – aber wir stehen trotz zahlreicher Ver suche eigentlich noch am Anfang. Doch sind die Er gebnisse schon bemerkenswert genug.« »Würden Sie mir einiges darüber erzählen?« 101
»Gewiß, gern. Ich kann Ihnen aber nur eine bunte Auswahl bieten. Zunächst stellt man wohl gewöhn lich die Frage nach der Wirkung solcher Überdrücke auf das Lebende. Nun, diese Frage ist leicht zu be antworten. Lebende Organismen sind für Druckver änderungen ziemlich empfindlich, und zwar um so stärker, je höher entwickelt sie sind. Es leuchtet ein, daß ein so durchgebildetes Lebewesen wie der Mensch nur einen recht geringen Überdruck auszu halten vermag, genauso wie seine Widerstandsfähig keit gegen Unterdruck außerordentlich gering ist. Hier wie dort spielen einige Atmosphären bereits ei ne Rolle. Nehmen wir aber zum Beispiel Infusorien, also etwa Wasserflöhe. Diese Tierchen vertragen schon einen Überdruck bis zu 500 Atmosphären. Merkwürdig ist dabei, daß der Überdruck, der also nicht zu den gewohnten Lebensbedingungen gehört, zunächst anregend auf die Lebensvorgänge wirkt. Die Wasserflöhe benehmen sich bei zunehmendem Druck merklich lebhafter, ihre Lebenskraft wird of fenbar nicht gehemmt, sondern gestärkt. Das geht bis zu einer gewissen Grenze, an der sie dann plötzlich völlig bewegungslos werden.« »Also tot?« »Nicht, wenn man den Überdruck nicht stark wei ter erhöht. Sie werden aber wieder sehr lebendig, wenn der Druck nachläßt. Bei etwa 500 Atmosphä ren erfolgt somit zwar ein völliger Stillstand der Le 102
bensäußerungen, aber kein Sterben. Übrigens kann man von diesen Versuchen her wichtige Rückschlüs se auf das Leben in der Tiefsee ziehen.« »500 Atmosphären würden einer Meerestiefe von 5000 Metern entsprechen.« »Ganz recht, da der Wasserdruck von zehn zu zehn Metern um eine Atmosphäre steigt. 5000 Meter sind eine gute Durchschnittstiefe, wo denn auch noch ein beträchtliches und lebhaftes Treiben herrscht. Es ist zu berücksichtigen, daß unsere Versuchstiere an keinen Überdruck gewöhnt sind, während die Lebe wesen der Tiefsee gleich unter Überdruck geboren werden.« »Wo haben Sie die Grenze des Lebenden gefun den?« Warton lächelte flüchtig. »So gefragt, muß ich Ihnen eine recht hohe Zahl nennen. Die Grenze, nach der Sie fragen, liegt näm lich erst bei rund 25 000 Atmosphären Überdruck. Geringere Drücke werden noch von verschiedenen Bazillen ausgehalten. Bakterien werden überhaupt erst gefährdet durch Drücke, die über 3000 Atmosphären liegen, man kann sogar sagen, über 4000. Ein Über druck von 3000 Atmosphären macht jedenfalls kei nem Bazillus und keiner Bakterie etwas aus. Sie sind widerstandsfähiger als alles andere Lebende.« »Eine erstaunliche Widerstandskraft. Wie verhal ten sich nun anorganische Stoffe unter Überdruck?« 103
»Das ist ein äußerst bemerkenswertes Kapitel«, sagte Warton. »Grundsätzlich kann man sagen, daß sie sich anders verhalten, als man das bisher ange nommen und nach bisherigen Erkenntnissen berech net hat. Nehmen wir etwa unser Wasser. Man hat gerade Wasser immer für einen Stoff gehalten, der nicht mehr zusammengedrückt werden kann. Und doch haben wir ihn zusammengepreßt, ganz beträcht lich sogar. Der Rauminhalt kann um mehr als ein Drittel verringert werden.« »Das ist überraschend«, staunte Sun Koh. »Ja«, sagte der Professor. »Wir haben die stärkste Pressung bei 25 000 Atmosphären erreicht. Sie be trägt 35 Prozent. Eine Wassersäule von 100 Zentime ter ist also unter diesem Überdruck nur mehr 65 Zen timeter hoch. Ein Glück, daß man das vorführen kann, sonst würde man den, der die Möglichkeit ei ner derartigen Rauminhaltsverringerung bei Wasser behauptet, für einen Narren halten.« »Das übliche Schicksal aller, die einen Schritt wei ter als die Gegenwart denken. Das Wasser ist bei dem genannten Überdruck natürlich fest?« »Ja, fest wie Eis. Und es bleibt auch fest, wenn man es erhitzt. Selbst bei 80 Grad Wärme wirkt es noch wie Eis, obwohl es ja tatsächlich keins ist. Auch eine ungewohnte Vorstellung – Wasser von 80 Grad fest und starr.« »Ähnliche Erscheinungen werden sich wohl auch 104
bei anderen Flüssigkeiten unter Überdruck einstel len?« »Allerdings. Öl wird zum Beispiel fest und hart wie Stahl. Das nächste Ergebnis des Überdrucks ist ja verständlicherweise die größere Dichte. Luft ist bei rund 5000 Atmosphären bereits dichter als Was ser, ohne freilich flüssig zu werden. Das geschieht dann erst bei der zugehörigen Temperatur von minus 140 Grad. Insofern herrschen gewisse Gesetzmäßig keiten, die bereits bekannt waren. Andererseits zei gen sich aber, wie ich schon sagte, Verhaltensweisen, die allen gewohnten Vorstellungen zuwiderlaufen. Der Rauminhalt des Wasserstoffs läßt sich zum Bei spiel für jeden beliebigen Druck genau bestimmen – wenigstens glaubt man das. Unsere Versuche haben gezeigt, daß Wasserstoff bei 5000 Atmosphären ei nen siebenfach größeren Rauminhalt besitzt, als er nach den üblichen Berechnungen haben dürfte.« »Demnach werden unsere physikalischen Gesetze unter diesen besonderen Bedingungen beschränkt?« »Mehr als das, sie werden sogar aufgehoben, min destens aber verlagert. Die Stoffe weisen unter Über druck ganz andere Eigenschaften als sonst auf. Der Schmelzpunkt des Kaliums liegt zum Beispiel ge wöhnlich bei 60 Grad. Bei 12 000 Atmosphären Überdruck schmilzt Kalium jedoch erst bei etwa 180 Grad. Phosphor ist ein Stoff, den man sonst auf keine Weise dazu bringen kann, Wärme oder Elektrizität 105
zu leiten. Unter 10 000 Atmosphären leitet er beides. So könnte man die Reihe fortsetzen. Tatsächlich be hauptet man nicht zu viel, wenn man feststellt, daß sich die chemischen und physikalischen Eigenschaf ten der Stoffe unter Überdruck ganz wesentlich ver ändern. Das bedeutet aber zugleich, daß die Gesetze der Chemie und Physik hier ihre Gültigkeit verlie ren.« »Eine weittragende und folgenschwere Behaup tung, Herr Professor.« »Und doch nicht mehr als eine nüchterne Feststel lung.« »Die neuen Erkenntnisse werden sich einordnen lassen.« »Zweifellos, denn sie stürzen ja das Bestehende nicht um, sondern beschränken es nur. Allenfalls zer stören sie die Selbstherrlichkeit einiger Lehrsätze, die absolute Gültigkeit beanspruchten. Daran ist je denfalls nicht zu zweifeln, daß unsere Gesetze der Physik und Chemie nicht allgemeingültig sind, son dern nur für die Druckverhältnisse der Erdoberfläche gelten. Sie gelten nicht oder nur in veränderter Form für Überdruckverhältnisse.« »Und für Unterdruck?« »Die gleichlaufende Schlußfolgerung liegt nahe, aber Sie werden verstehen, wenn ich mich auf mein Gebiet beschränke.« »Durchaus verständlich«, sagte Sun Koh. »Und 106
welches sind die praktischen Auswirkungen Ihrer Feststellungen? Ich denke daran, daß diese Versuche, die Sie unter so eigenartigen Bedingungen durchfüh ren, vielleicht überhaupt zu neuen Stoffen mit bisher unbekannten chemischen und physikalischen Eigen schaften führen könnten, also zu Stoffen, die diese neuartigen Eigenschaften auch unter gewöhnlichen Druckverhältnissen beibehalten. Sie könnten viel leicht chemische Verbindungen erzwingen, die sonst nicht erzwungen werden können, Sie könnten diese merkwürdigen Zustandsformen zwischen gasförmig, flüssig und fest auszunutzen versuchen und anderes mehr, um daraus Bleibendes zu schaffen.« Professor Warton wiegte nachdenklich den Kopf hin und her. »Hm, da haben Sie wohl nicht unrecht. Ich muß gestehen, daß ich diese Seite der Angelegenheit noch nicht so ins Auge gefaßt habe, sondern mehr Wert auf die Untersuchung der auftretenden Eigenschaf ten, also auf eine Analyse, legte.« »Sie ist natürlich die unerläßliche Vorarbeit für ei ne Synthese, für einen Neuaufbau. Dieser allein führt zu praktischen Erfolgen.« »Die reine Wissenschaft…« »… findet Sinn und Daseinsberechtigung letzten Endes nur in der angewandten Wissenschaft«, sagte Sun Koh lächelnd. »Doch darüber wollen wir uns nicht streiten. Ich hoffte jedenfalls vergebens, daß 107
Sie mir einen neuen Werkstoff oder sonst ein Wun der vorführen würden.« »Leider.« Auch Warton lachte. »Ich fürchte auch, daß es nicht so einfach sein wird, aus dem Praktischen Nutzen zu ziehen, was uns der Überdruck zeigt. Aber ich werde Ihren Hinweis nicht vergessen und auch meine Mitarbeiter entsprechend beauftragen.« »Ihre Mitarbeiter? Ich wollte schon lange fragen, ob es immer so ruhig bei Ihnen ist, Herr Professor. Ich dachte, Sie arbeiten allein?« »Das würde mir schwerfallen. Heute ist aber ein besonderer Tag. Meine Mitarbeiter werden mir heute auf dem Standesamt und in der Kirche behilflich sein. Ich heirate nämlich heute.« Er knöpfte bei diesen Worten seinen weißen Schutzmantel auf und zeigte darunter den Festtags anzug. Sun Koh erschrak. »Ihr Hochzeitstag? Und ich nehme Ihre Zeit in Anspruch?« »Ich hätte diese Stunde nicht besser verwenden können. Sie haben mich davor bewahrt, nutzlos hin und her zu laufen und die Minute zum Aufbruch ab zuwarten.« Sun Koh streckte seine Hand hin. »Bitte entschul digen Sie mich und lassen Sie mich zugleich mit meinem Dank meine herzlichsten Glückwünsche aussprechen.« 108
Warton, der jetzt wirklich wie ein Hochzeiter aus sah und eine festliche Miene zur Schau trug, wollte seinen Gast noch eine Weile halten, aber es blieb ihm nichts übrig, als Sun Koh zur Tür zu bringen. Sie sprachen sich erst am nächsten Tag wieder, und an diesem Tag stellte Sun Koh dem Professor erhebliche Geldmittel zum Aufbau seines Laborato riums zur Verfügung. * Hochzeit! Lionel Warton feierte seine erste Hochzeit vor fast einem Vierteljahrhundert. Damals heiratete er als junger Mann die Frau, der seine erste Liebe gehörte. Sie starb bei der Geburt von James Warton. Lionel Warton lebte für seine wissenschaftlichen Arbeiten und für die Erziehung seines Sohnes. Mit achtundvierzig Jahren lernte er durch einen Zufall Viola Mayrick kennen. Sie war knapp zwan zig, ein entzückendes Geschöpft mit wundervollen blauen Augen, das ebenso durch seine Schönheit wie durch seine reizende Kindlichkeit gefiel. Sie wurde die große Liebe Lionel Wartons. Er durchlebte zarte Sehnsüchte und wilde Stürme. Lionel Warton galt allgemein als vermögender Mann. Sein Name besaß Weltruf. Wissenschaftler aller Länder gingen bei ihm ein und aus. 109
Viola Mayrick stammte aus einfachsten Verhält nissen. Sie verdiente sich ihr tägliches Brot als Schreibmaschinenkraft. Für sie wie für ihre Ver wandten und Bekannten war die Liebe Wartons das große, unerhörte Glück. Wartons Freunde und Mitarbeiter vermieden es, klar und deutlich Stellung zu nehmen. Nur einer hielt mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg. James Warton sagte seinem Vater, was er über seine Pläne dachte. Er versuchte es mit zarten Andeutungen und vorsichtigen Hinweisen, er bat behutsam und stach gelegentlich mit Spott. Da Lionel Warton keine ernsthaften Folgerungen daraus zog, kam es im Lau fe der Zeit zu recht deutlichen und erregten Ausein andersetzungen. Der Sohn warnte seinen Vater vor einer Frau, die weder geistig noch seelisch mit ihm etwas gemein habe. Ihre Schönheit bestritt er nicht, aber sie sei nichts als leere Fassade. Der Vater verteidigte sich im Bemühen um gegen seitiges Verständnis zunächst sachlich, aber es blieb nicht dabei. Das Ergebnis aller Auseinandersetzungen bestand darin, daß James Warton das Haus seines Vaters ver ließ und Lionel Warton die Frau, die er liebte, heira tete. Das geschah an jenem Frühlingstag, an dem Sun Koh den Professor aufsuchte. Viola Mayrick, die von jenem Tag an Viola War 110
ton hieß, glich in ihrem Wesen dem Bild, das sich der Sohn von ihr gemacht hatte, und nicht dem, das der Vater von ihr im Herzen trug. Sie brachte geistig und seelisch kaum etwas in die Ehe, doch bösartig und bewußt niederträchtig war sie nicht. Sie begriff nicht einmal, was sie anrichtete. Oberflächlich, ge dankenlos, eitel und lebenshungrig ging sie durch ihr Leben. Er ahnte nicht im entferntesten, daß sie von ihm eigentlich nur den Geldbeutel sah. Sie ahnte ebenso wenig, daß Lionel Warton kein Millionär war, son dern höchstens ein gutgestellter Mann. Sie äußerte ihre Wünsche vom ersten Tag an. Sie stellte nicht etwa Forderungen, aber sie fand vieles selbstverständlich, und Lionel Warton dachte in der ersten Zeit nicht darüber nach. Es war reizend, Violas Wünsche zu erfüllen. Lio nel Warton hatte nie ein größeres Vergnügen gekannt als dieses. Er wurde erst nüchterner, als sich Rech nung auf Rechnung ansammelte und er kein Geld mehr besaß. Er nahm Darlehen auf, kam aber damit nicht hinter den sich häufenden Ausgaben nach, zu mal seine wissenschaftliche Arbeit ja ebenfalls dau ernd größere Beträge forderte. Er sprach ernste Worte mit seiner Frau. Sie hörte ihm aufmerksam zu und versprach ihm, nicht mehr so viel Geld auszugeben. Leider hielt sie dieses Ver sprechen nicht. 111
In dieser Zeit gab es ein Unglück im Labor. Bei einem Versuch, gewisse Stoffe unter Überdruck an einander zu binden, entstand eine Explosion, die ei nem Mitarbeiter Wartons das Leben kostete und al lerhand Sachschaden anrichtete. Er ließ sich verhält nismäßig schnell beseitigen, aber dazu waren Mittel erforderlich, über die Warton nicht mehr verfügte. Und seine Bekannten hatte er schon in Anspruch ge nommen, um sich aus vorübergehenden Verlegenhei ten zu helfen. In seiner Not wandte er sich schriftlich über den Generalbevollmächtigten des A-Syndikats an Sun Koh, schilderte ihm den entstandenen Schaden und bat um Hilfe. Er erhielt sehr schnell einen hohen Be trag angewiesen, der ihm nicht nur den Wiederauf bau, sondern auch die Abdeckung einiger Schulden ermöglichte. Viola Warton kümmerte sich nicht um diese Din ge. Sie lebte fröhlich in den Tag hinein und brachte das Geld unter die Leute. Lionel Warton sprach zum zweitenmal ernsthaft mit ihr, aber man konnte ihr nicht recht böse sein. Warton brach das Gespräch seufzend ab. Er kämpfte hinterher gegen das Gefühl an, daß seine Frau doch recht wenig Verständnis für ihn zeigte. Es dauerte nicht sehr lange, da mußte er ihr zum drittenmal Vorhaltungen machen. Diesmal war Lio nel Warton, der eben eine beachtliche Rechnung über 112
sinnlos luxuriöse Dinge in der Hand gehabt hatte, ernstlich böse. Er verbot seiner Frau, solche Ausga ben zu machen und ihn damit zu ruinieren. Sie war sehr betroffen. Sie wunderte sich, daß er so wenig Geld besitze. Sie war entzückend, wenn sie schmollte. Lionel Warton konnte nicht hart bleiben. Er versuchte ihr ruhig, vernünftig und väterlich klar zumachen, welche Arbeit er leiste, welche Hoffnun gen und Erwartungen er habe und warum er zur Zeit das Geld nicht mit beiden Händen scheffeln könne wie andere. Sie hörte sehr aufmerksam zu, aber sie begriff nur das eine, daß ihm bei seinen Versuchen auch ein ganz großer Wurf gelingen könne, der ihn zum Mil lionär mache. Aber es blieb so, wie es zuvor gewesen war. Viola Warton gab das Geld, das schon lange nur noch im Kredit bestand, mit beiden Händen aus. Und Lionel Warton wagte nicht gewaltsam dagegen einzuschrei ten, weil er die Frau zu verlieren fürchtete. Der Gedanke an die große Erfindung setzte sich immer fester. Ein großer Erfolg, den man sofort in bare Münze umsetzen konnte, schien die gegebene Rettung aus allen mißlichen Verhältnissen zu sein. Seine Arbeit verlagerte sich, wie die Verhältnisse in seinem Labor überhaupt. Er überwarf sich mit sei nen Mitarbeitern und behielt nur einen, der eigentlich mehr Labordiener als wissenschaftlicher Hilfsarbei 113
ter war. Er arbeitete nicht mehr planmäßig, sondern versuchte immer gewagtere Experimente, ohne sie genügend durch Vorarbeiten zu unterbauen. Er wur de aus einem gewissenhaften Forscher zu einem spe kulativen Erfinder. Er stand nicht mehr zu sich selbst, sondern klam merte sich an die Frau und stützte sich auf sie. Ihr Anblick machte ihn froh und heiter. Die Befürch tung, daß sie ihn verlassen könnte, ließ ihn erzittern. Viola Warton war aber stets übler Laune, wenn sie sich einen Wunsch versagen sollte. Sie merkte all mählich, in welchem Ausmaß ihr Mann seelisch von ihr abhängig war. Sie wurde sich bewußt, daß er sie liebte, sich um ihre Launen sorgte und nichts uner träglicher fand als die Drohung, sie zu verlieren. Das stachelte Machtgefühle in ihr auf. Und dabei ver brauchte sie unentwegt Geld. Lionel Warton schrieb abermals an Sun Koh. Er schrieb von Unterschätzung der damaligen Wieder herstellungskosten und von sehr kostspieligen Ver suchen. Er ließ durchblicken, daß er einen bedeuten den Erfolg greifbar nahe vor sich sähe und daß er das Ergebnis seiner Arbeit vor allem Sun Koh zur Verfü gung stellen wolle. Kurz, er bat um Geld und ver sprach dafür das Vorkaufsrecht für eine große Erfin dung, von der er selbst noch keine Ahnung hatte. Sun Koh überwies abermals umgehend eine große Summe, die Warton für eine Weile aller Sorgen ent 114
hob. Aber Viola Warton war unersättlich. Der Zusammenbruch drohte mit jedem Tag. Die Rechnungen häuften sich, die Gläubiger wollten Geld sehen und verweigerten weitere Kredite. Da gelang Lionel Warton der große Schlag! Irgendwelche Stoffe hatte er da unter vollem Überdruck von 80 000 Atmosphären zusammen ge bracht. Helium war es diesmal gewesen, viel Helium, da zu Berillium und einige Zusätze, auf die er sich erst mühsam wieder besinnen mußte. Er hatte alles auf hohe Temperatur gebracht. Und dann war das Ge misch bei zurückgehendem Druck in seinem Zustand geblieben, dann hatte er einen Stoff, einen festen Körper herausgenommen … Lionel Warton wurde kühl, ruhig und klar wie seit Monaten nicht, als er die spannenlange Walze aus dem Druckzylinder nahm. Sie war so erstaunlich leicht, daß man sie kaum auf der Hand spürte. Und sie schwebte auf den kleinsten Ruck hin ein Stück nach oben, um dann langsam wieder herunterzu kommen. Fast so leicht wie Luft war dieser Stoff. Warton nahm sich Zeit, ihn zu prüfen. Er unter suchte dieses Neue mit allen üblichen Verfahren und kam dabei immer mehr zur Erkenntnis, daß er das große Geschenk des Schicksals vor sich hatte. Das Ergebnis des letzten Druckversuchs war ein Werkstoff, der sich wie irgendein Metall mit den ge 115
bräuchlichen Maschinen verarbeiten ließ, die Härte und Festigkeit besten Stahls besaß, säurefest war und neben diesen Eigenschaften über ein so geringes Gewicht verfügte, daß man kaum noch von einem Gewicht sprechen konnte. Das war der große Erfolg! Um diesen Leichtstoff würde sich die Welt reißen. Maschinen, Flugzeuge, Autos, die ganze Technik brauchte diesen neuen Werkstoff, um sich endlich vom hemmenden Ballast all der Eisen- und Stahl- und Leichtmetallmassen zu befreien. Ungeahnte Möglichkeiten ergaben sich, die Welt würde Kopf stehen. Viola! – Warton rannte zu ihr und verkündete ihr seine Freude und seinen Erfolg. Sie lauschte seinen Schilderungen. Große Pläne bewegten Viola Warton. Wenn sie je mals von der Arbeit ihres Mannes auch nur eine Spur begriff, dann in diesen Stunden. Sie verstand, daß er etwas erfunden hatte, was ihm zu Ruhm und Geld verhalf. Und sie verfehlte nicht, ihren Freunden von der Sensation zu erzählen. Sie trug selbstverständlich dick auf und schwelgte in Zukunftsphantasien. Lionel Warton genoß seinen Erfolg natürlich eben falls. Vor allem schrieb er an seinen Nothelfer Sun Koh und machte ihm entsprechende Mitteilung. Er war es Sun Koh nicht nur schuldig, sondern hoffte sogar stark, daß dieser die Erfindung übernehmen würde.
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6. Drei Tage später kam der Zusammenbruch! Lionel Warton saß in seinem Labor und arbeitete. Er hatte eine Reihe von Druckkörpern des neuen Stoffes in den letzten Tagen hergestellt und arbeitete an ihnen. Er ergänzte die ersten noch oberflächlichen Untersuchungen durch genaue Nachprüfungen und stellte Eigenschaften wie Verhaltungsweise fest. Das erste Stück, das Warton später einmal unter Glas und Gold zu legen gedachte, befand sich in ei nem der Wandschränke. In diesem Wandschrank gab es ohne jede Voran kündigung eine Explosion, die ihn völlig auseinan derriß und sogar das Mauerwerk erheblich beschä digte. Warton wurde wie von einem Schlag getroffen und gegen seinen Arbeitstisch geworfen. Als Warton seinen ersten Schreck überwunden hat te, trat er kopfschüttelnd an den zerstörten Wand schrank heran. Er verstand nicht, was da hatte explo dieren können. Und es war eine höchst eigenartige Ex plosion gewesen, stark und kräftig, aber in ihrer Wir kung doch auf einen recht engen Umkreis beschränkt, offenbar ganz ohne Feuer- und Hitzeentwicklung. Er ging in Gedanken den Inhalt des Schränkchens durch. Nichts – alles völlig harmlose Stoffe, harmlos selbst dann, wenn sie miteinander in Berührung ka men. 117
Aber dann fuhr ihm der Schreck in die Glieder. Das Violan – so hatte er den neuen Stoff einstwei len getauft – hatte sich im obersten Fach befunden. Hastig, aufgeregt, mit unruhigen Händen durch suchte er die Trümmerstücke. Die Probe Violan war nicht mehr zu finden. Sie war verschwunden, restlos verschwunden, sie hatte sich einfach aufgelöst. Sie war explodiert! Lionel Warton knickte auf einen Stuhl nieder, als ihn diese Erkenntnis überkam. Wenn das richtig war, wenn seine Vermutung stimmte, wenn das Violan jetzt eben einfach verpufft war, dann besaß es nicht mehr Wert als irgendein Stück Dreck, dann war es kein Werkstoff, sondern ein bemerkenswerter, aber nutzloser Versuchsbeleg. Dann konnte er nicht verkaufen, nicht berühmt werden, nicht Millionen verdienen, nicht alle Wün sche seiner Frau erfüllen. Warton hing schlaff auf seinem Stuhl. Es war ihm schlecht, erbärmlich schlecht. Violan! Eine Hoffnung gab es freilich noch. Diese Explo sion konnte ein Zufall sein, konnten irgendwelchen Nebenumstände zugeschrieben werden, die mit dem Stoff eigentlich nichts zu tun hatten. Der Zerfall nach drei Tagen ohne jeden äußeren Einfluß brauchte also nicht zwangsläufig zu sein. Lionel Warton griff nach den späteren Proben, die neben ihm auf dem Tisch lagen. Gedankenlos spielte 118
er damit. War es möglich, daß dieser feste Stoff ein fach wieder zerfiel, als sei er nie dagewesen? Dann mußte die nächste Probe am kommenden Morgen verschwinden. Irgendwie vergingen die Stunden. Lionel Warton ließ sich nicht sehen. Stunden um Stunden hockte er müde auf seinem Stuhl und grübelte. Die Nacht ver brachte er zwischen Wachen und unruhigen Träu men. Seine Frau kümmerte sich nicht um ihn. Sie nahm an einem Fest teil, aber sie versicherte bereitwillig jedem, daß ihr Mann an einer Erfindung arbeite. Dann graute der Morgen. Lionel Warton brachte die Probe, die noch immer nicht die geringste Verän derung zeigte, an eine Stelle, wo sie nur wenig Scha den anrichten konnte, wenn sie explodierte. Dann wartete er die restliche Zeit. Und dann kam die kritische Stunde. Die Probe Violan, die vor drei Tagen hergestellt worden war, flog unter einem heftigen Knall ausein ander und löste sich spurlos auf. Also doch! Lionel Warton erhob sich von seinem Platz und ging mit schleppenden Schritten zu seiner Frau. Sie lag noch im Bett. Sie stützte sich in den Kissen hoch und fragte entsetzt. »Wie siehst du denn aus? Das ist ja zum Fürchten! Wie ein alter Mann!« Lionel Warton trat zögernd näher heran. 119
»Ich – ich habe dir etwas zu sagen«, brachte er stockend heraus. »Es ist etwas Furchtbares gesche hen!« Sie riß die Augen auf. »Was denn?« »Das Violan«, würgte er, »der neue Stoff – die er ste Probe ist gestern im Schrank explodiert!« »Wie entsetzlich! Da hast du ja in Lebensgefahr geschwebt? Du bist wirklich ein Held! Oder – ist der Schaden vielleicht recht groß?« »Das ist er nicht«, erwiderte er gequält. »Der Wandschrank ist zerstört, aber das hat nicht viel zu besagen.« »Na also«, meinte sie heiter. »Du läßt ihn einfach wieder herrichten. Wir werden ja ohnehin bauen müssen, wenn du deine Erfindung verkaufst, ein ent zückendes Haus mit…« »Du verstehst mich falsch«, unterbrach er be drückt. »Der angerichtete Schaden ist nicht so wich tig, aber das Violan ist doch explodiert und ver schwunden!« »Aber dann machst du eben neues!« Er nickte einige Male vor sich hin. »Ja, ich kann immer neue Proben herstellen, aber immer nur für drei Tage. Heute früh ist die zweite Probe explodiert, und die anderen werden das gleiche tun, immer nach drei Tagen.« »Wie ulkig«, sagte sie lächelnd. »Ulkig?« stieß er in einer Aufwallung von Zorn 120
heraus. »Ulkig nennst du das? Ja, begreifst du denn nicht, was das bedeutet, daß das Violan immer nach drei Tagen explodiert? Begreifst du das nicht?« »Ach geh«, schmollte sie, »ich bin doch kein Ge lehrter? Was ist denn schon dabei?« Lionel Warton atmete tief durch, um sich gewalt sam zu beruhigen. Man konnte es ihr ja nicht übel nehmen. Sie war noch so kindlich und so reizend un befangen. »Es bedeutet, daß alle meine Hoffnungen vergeb lich waren«, sagte er ruhiger. »Das Violan ist kein Werkstoff. Seine sonst vorzüglichen Eigenschaften nützen uns und der Welt nicht das geringste. Man kann mit einem Stoff, der binnen drei Tagen zerfällt, keine Maschinen und Flugzeuge und Geräte bauen. Das Violan ist also wertlos!« Das begriff sie ungefähr. »Willst du damit sagen, daß du deine Erfindung nicht mehr verkaufen kannst?« »Sie ist wertlos. Selbstverständlich kann von ei nem Verkauf keine Rede mehr sein.« »Und – und dann wirst du nicht das viele Geld be kommen, das du mir versprochen hast?« »Wir werden uns so weiterbehelfen müssen«, seufzte er. Das verstand sie nicht nur ungefähr, sondern sehr genau. Ihr Gesicht war jetzt voll Spannung. »Du, meinst du das im Ernst?« 121
Lionel Warton hob die Schultern. »Ich kann dir leider nichts anderes sagen. Es tut mir sehr leid, aber wenn du vernünftig bist und wir beide zusammenhalten, dann …« Er wollte seine Hand auf ihre Schulter legen, aber sie schleuderte sie angewidert weg. »Geh weg!« fauchte sie. »Wie denkst du dir denn das? Ich habe doch schon allen Leuten von deiner großen Erfindung erzählt. Mrs. Pitcher ist ganz gelb vor Neid geworden. Soll ich nun wieder hingehen und mich auslachen lassen? Soll ich die alten Kleider immer weitertragen?« »Du sprichst sehr häßlich«, sagte er bitter. Sie wechselte sofort ihr Verhalten, schlug die Hände vor das Gesicht und schluchzte: »Oh, ich hät te nie einen alten Mann heiraten sollen. Das ist der Dank für meine Liebe! Wenn du mich lieb hättest, würdest du viel Geld haben und mich auf Händen tragen und …« Es war die alte Leier, aber da Warton seine Frau nun einmal liebte und ihre Tränen nicht ertragen konnte, fiel ihm das nicht weiter auf. Er versuchte zu trösten und zu beschwichtigen. »Es tut mir sehr leid«, murmelte er unbeholfen. »Aber es ist vielleicht alles gar nicht so schlimm. Ich werde schon über die augenblicklichen Schwierig keiten hinwegkommen. Und eines Tages wird mir vielleicht doch der große Erfolg beschieden sein. Er 122
wird sogar sicher kommen, und dann bekommst du alles, was du dir wünschst.« »Das hast du mir früher auch schon gesagt, und dabei habe ich immer auf alles verzichten müssen. Warum hast du mich geheiratet, wenn du mich nicht ernähren kannst? Du brauchst ja nur ein Wort zu sa gen, dann gehe ich zu meinen Eltern zurück.« »Du meinst es vielleicht gut, aber das wäre das letzte, was du mir antun dürftest. Komm, laß das Weinen, du machst mir das Herz nur noch schwerer. Das Violan ist eine Enttäuschung, die wir verwinden müssen. Ich werde einen Stoff finden, der nicht wie der auseinanderfällt. Und Mr. Sun Koh wird viel leicht noch einmal aushelfen. Ich habe ihm geschrie ben, daß ich die Erfindung gemacht habe. Er wird bald von sich hören lassen.« »Ist das der Mann, dem du die Erfindung verkau fen wolltest?« »Ja, ich habe ihm ja sogar gewissermaßen schon das Vorkaufsrecht versprochen.« »Ja«, sagte sie zögernd, »und warum verkaufst du ihm dann die Erfindung nicht?« »Warum? Sie ist doch nichts wert! Das Violan zer fällt doch nach drei Tagen.« »Und vorher? Sieht man vorher etwas davon?« »Nein, das nicht. Der Zerfall kommt dann ganz plötzlich. Vorher merkt man dem Stoff nichts an.« »Aber dann kannst du ihn doch auch verkaufen.« 123
Er trat einen Schritt zurück, als er begriff, was sie meinte. Plötzlich sah er ein häßliches Lauern in dem Gesicht, das ihm bisher immer als rein erschienen war. Etwas zerriß in ihm. Er beugte sich vor und reckte ihr beide Fäuste entgegen. »Hör auf! Wie kannst du so etwas überhaupt er wägen und aussprechen? Ich will das von dir nicht hören, Viola, verstehst du? Ich bin kein Betrüger und will es nicht werden. Bis jetzt habe ich mir wenig stens meinen ehrlichen Namen bewahrt!« »Für deinen ehrlichen Namen kann ich mir nichts kaufen. Und hast du nicht diesem Sun Koh geschrie ben, daß du Geld für deine Arbeit brauchst, obwohl du es für ganz andere Dinge verwendet hast? Damals hast du ihn auch schon betrogen.« »Traurig genug«, gab er leise zurück und ging zum Fenster. »Das genügt auch gerade. Aber das hier wäre ein regelrechter Betrug.« »Ein Geschäft.« »Eine Lumperei, die mich auch ins Gefängnis bringen kann.« »Du willst nur nicht.« Lionel Warton ging wieder auf sie zu. »Aber, Viola, begreifst du denn nicht, daß ich et was Derartiges einfach nicht tun kann?« Lionel Warton wehrte sich gegen das, was da an ihn heranschlich. Und Viola Warton hatte sich auf 124
ihren glänzenden Einfall verbissen und machte in ihrem Mann immer von neuen Seiten mundgerecht. Lionel Warton liebte sie noch immer fast so blind wie am Anfang. Und sie besaß alle Waffen, die einer Frau zur Verfügung standen, und nützte sie. Es sprach für Lionel Warton, daß trotz allem in ihm noch Hemmungen standen, nachdem das Ge spräch endlich sein Ende gefunden hatte. Aber dann sah er wieder einmal die zahllosen Rech nungen. Und dann kamen die langen Stunden des Grü belns, in denen er vergebens nach Auswegen suchte. Und dann suchte ihn wieder seine Frau auf und brachte ihm zu Bewußtsein, daß er sie verlieren wür de, wenn er die Erfindung nicht verkaufen konnte. So wurde Lionel Warton mürbe. * Am nächsten Morgen traf ein Telegramm von Sun Koh ein. Es bestätigte den Empfang von Wartons Schreiben und teilte mit, daß Sun Koh bereits unter wegs sei und vermutlich am nächsten Tag eintreffen werde, um über den Ankauf der Erfindung zu ver handeln. Lionel Warton steckte das Papier geistesabwesend in die Tasche. Er war noch immer unentschlossen. Eine Stunde später erschien James Warton, sein Sohn aus erster Ehe. 125
James erschrak, als er seinen Vater aus der Nähe sah und die verheerenden Veränderungen, die in den verflossenen Monaten mit ihm vorgegangen waren, feststellen mußte. Behutsam begann er zu sprechen. »Ich komme, um mich nach deinem Befinden zu erkundigen.« Lionel Warton blickte nicht auf. »Das ist nett von dir«, sagte er fast teilnahmslos. »Ich bin gesund, völlig gesund.« »Gesund?« fragte der Sohn zweifelnd. »Vielleicht täuschst du dich über deinen eigenen Zustand. Du hast dich sehr verändert. Bist du überarbeitet oder hast du Sorgen?« Kalt, fast feindlich wehrte Lionel Warton ab. »Nichts von allem. Mir fehlt nichts. Was kümmern dich überhaupt meine Angelegenheiten?« »Ich erinnere mich nur daran, daß wir einst die be sten Freunde waren.« Lionel Warton blickte rasch auf, dann machte er eine Gebärde der Entschuldigung. »Verzeih, ich meinte es nicht so. Ich freue mich selbstverständlich, wenn du trotz allem noch Anteil an mir nimmst.« Für eine Weile schwiegen sie, dann sagte der Sohn: »Ich möchte dich auch noch beglückwün schen. Wie man hört, ist dir eine bedeutende Erfin dung gelungen.« »Was weißt du davon?« 126
»Nicht mehr, als man sich allerorten erzählt. Du sollst einen neuen Werkstoff von erstaunlichen Ei genschaften erfunden haben, der dir viele Millionen einbringen wird.« Lionel Warton lachte verächtlich. »Millionen! Kommst du deswegen?« »Vater!« »Entschuldige«, bat der Vater sofort. »Ich wollte dich nicht verletzen. Komm, setz dich und erzähle mir etwas von deinem Leben.« »Da ist nicht viel zu erzählen«, meinte James War ton. »Doch. Bedenke, daß ich nichts über dich weiß. Und früher hatten wir kein Geheimnis voreinander. Lebst du in der Stadt?« »Ich wohne draußen in Farnworth«, sagte er, »also gerade am entgegengesetzten Ende von Bolton. Es ist eine friedliche Gegend, schon mehr Land als Stadt. Ich wohne am Rande des Tannenwaldes zusammen mit einem alten Herrn, einem Baumeister, und des sen Tochter Mary, und ich – wir wollen eines Tages heiraten.« »Du bist verlobt?« »Das nicht, aber wir lieben uns. Du wirst – doch wie gesagt, es ist schön, dort draußen seine Tage zu verleben.« »Ist es nicht sehr friedlich dort?« James Warton lächelte. 127
»Deine Befürchtungen treffen daneben. Dort drau ßen wird auch gearbeitet. Mr. Stone ist zwar bald sechzig, aber er ist sehr rührig und von früh bis spät auf den Beinen. Er ist übrigens auch ein Erfinder und hat ebenfalls einen neuen Werkstoff erfunden.« »Na, na?« »Er nimmt es genauso ernst, wie jeder andere sei ne Liebhaberei ernst nimmt, aber die Erfindung be trifft natürlich nur einen Mauerstein. Sie ist mit dei ner Erfindung nicht zu vergleichen. Handelt es sich dabei übrigens um ein Ergebnis deiner Überdruck versuche?« »Ja«, gab Warton zögernd Antwort. Aber dann schämte er sich wegen seiner Zurückhaltung. Er schob eine Probe und einen Zettel mit verschiedenen Vermerken hin. »Da, das ist es«, ergänzte er. »Ich brauche dir ja nicht viel dazu zu sagen.« Der Sohn wog die Probe in der Hand, sah die Auf zeichnungen durch und tastete die Probe ab. »Donnerwetter«, sagte er schließlich. »Das ist frei lich eine ganz große Sache. Wunderbar! Meinen herzlichsten Glückwunsch zu dieser Leistung.« »Danke«, gab Warton mit einem seltsamen Ton fall zurück. Die Blicke des Sohnes wurden scharf und prüfend. »Freust du dich nicht darüber?« »Doch, doch. Ich bin nur etwas überarbeitet.« James Warton legte seine Hände auf die Schultern 128
des Vaters und fragte besorgt: »Bist du wirklich nur überarbeitet, Vater? Ich habe das Empfinden, daß du ungeheuer bedrückt bist. Ich möchte dir gern helfen.« In Lionel Warton arbeitete es. Er spürte, daß bei sei nem Sohn auch die bessere Seite seines Lebens war. Sehnsucht schoß in ihm hoch, alles zu erzählen. Aber da war eine Barriere, über die er nicht hinwegkam. »Es ist lieb von dir, aber ich bin wirklich nur über arbeitet.« James Warton seufzte leicht. Er kannte seinen Va ter zu gut, um zu wissen, daß er ihn jetzt belog. »Man sagt, daß du Geldsorgen hast«, versuchte er von einer anderen Seite heranzukommen. Er traf eine wunde Stelle. Lionel Warton fuhr auf. »Die Leute sollten sich um andere Dinge küm mern als um meine geldlichen Angelegenheiten.« »Gewiß, aber du darfst nicht vergessen, daß deine geldlichen Angelegenheiten auch die deiner Gläubi ger sind.« Lionel Warton lachte bitter auf. »Schön, du sollst recht haben. Aber meine Gläubi ger haben nichts zu befürchten. Morgen trifft Mr. Sun Koh ein, um meine Erfindung zu kaufen. Über morgen haben wir Geld. Ich werde durch die Erfin dung mehr verdienen, als ich brauche.« »Ja – aber – ein Mann kann selten so viel verdie nen, wie eine gewisse Art von Frauen braucht.« Mit dieser Bemerkung stieß James Warton zum 129
Kern vor. Er wollte erfahren, wie sein Vater innerlich zu seiner Frau stand, die ihn gewaltsam um Ansehen und Vermögen brachte. Sofort verschwand bei Lionel Warton alles wieder, was eben an Vertrauen und Zuneigung vorhanden gewesen war. Mit einem Schlag verwischte und ver zerrte sich alles. Er sprang auf. Sein Gesicht wurde abweisend. »Was willst du damit sagen?« James Warton wußte, daß er vorsichtig sein mußte. »Ich will dich nicht etwa verletzen«, sagte er be hutsam. »Erinnere dich bitte daran, daß du mein Va ter bist. Wenn ich deine persönlichsten Angelegen heiten noch einmal berühre, dann geschieht es be stimmt nur aus Liebe und Sorge. Man hat mir er zählt, wie sinnlos deine Frau dein Vermögen, wie deinen Kredit vernichtet hat.« »Hüte deine Zunge!« fuhr Lionel Warton ihn an. »Viola ist ein liebenswertes Geschöpf, meine Frau und deine zweite Mutter!« »Mein früheres Urteil über sie ist trotzdem unver ändert geblieben«, antwortete der Junge beharrlich. »James!« »Schon gut«, sagte der Sohn mit bitterem Lächeln. »Ich sehe, dir sind die Augen immer noch nicht auf gegangen. Du liebst diese Frau noch immer?« »Jawohl.« »Aber – du gehst zugrunde dabei.« 130
Lionel Warton schwieg. Sein Kopf senkte sich langsam. »Vater.« »Geh«, sagte er leise. »Es hat keinen Zweck, daß wir uns darüber unterhalten. Ich – so geh doch!« Es kam wie ein Aufschrei. James Warton konnte nicht unterscheiden, ob Qual oder Haß darin lag. Er wandte sich stumm um und ging hinaus. * Viola Warton war geistig eine Null, aber die Klug heit der Selbstsucht fehlte ihr durchaus nicht. Sie war von dem Gedanken, den sie ihrem Mann eingeimpft hatte, nicht wieder abgegangen. Sie wuß te, daß er die Erfindung verkaufen würde, obwohl sie wertlos war. Es bestand aber die Gefahr, daß die Wertlosigkeit des Stoffes rechtzeitig erkannt und der Verkauf nicht vollzogen wurde. Sie dachte darüber nach und fand schließlich einen wunderbaren Ausweg aus allen Schwierigkeiten. Sie sagte sich, daß die verräterische Probe eben gestohlen werden müsse. Es würde dem Käufer si cher genügen, wenn er sie einen Tag lang im Besitz gehabt hatte. Wurde sie dann gestohlen, konnte der Kauf trotzdem abgeschlossen werden. Der Käufer erfuhr nicht, daß der Stoff explodierte. Er würde ah nungslos abreisen. 131
Freilich, Lionel würde vielleicht eine zweite Probe liefern müssen. Aber da fand sich schon noch ein Ausweg. Die zweite Probe mußte eben auch gestoh len werden, vielleicht konnte Lionel auch einen Schaden an seiner Maschine vortäuschen. Auf jeden Fall würde es nicht besonders schwer sein, das Ge heimnis so lange zu bewahren, bis der Käufer das Geld gezahlt hatte und abgereist war. Zu diesem Schlachtplan brauchte sie ihren Bruder. Jeff Mayrick war ein Jahr jünger als seine Schwe ster, besaß aber im kleinen Finger mehr Verstand und Grundsätze als sie. Er arbeitete als Tischler, pfiff auf das Geld seiner Schwester und wußte ziemlich genau, was von ihr zu halten war. Sein Gesicht sprach Bände, als er in das Schlaf zimmer seiner Schwester trat. »Ich dachte, diese ganze verrückte Bude wäre end lich abgebrannt«, brummte er, »weil du mich so drin gend bestellt hast. Und im Bett liegst du auch noch? Na, ich müßte dein Mann sein!« »Komm, setz dich«, sagte sie sanft. »Hier hast du etwas zu rauchen. Du sollst mir einen kleinen Gefal len tun.« »Du hast doch genug Leute.« »Das ist etwas Besonderes, wozu ich sie nicht ge brauchen kann.« »So?« Er zog die Brauen hoch. »Na, dann schieß mal los.« 132
»Es ist ganz einfach«, sagte sie. »Du weißt doch, daß Lionel eine große Erfindung gemacht hat?« »Ich habe genügend davon gehört!« »Er will sie verkaufen …« »Damit du das Geld weiter zum Fenster hinaus werfen kannst!« »Verkaufen«, wiederholte sie, »und zwar an einen alten Freund, der ihm einmal geholfen hat. Du mußt wissen, daß Lionel sehr gutmütig ist.« »Das sehe ich an dir.« »Er ist zu gutmütig«, fuhr sie unbeirrt fort. »Er will natürlich die Erfindung halb verschenken, indem er sie aus lauter Gutmütigkeit für einen lächerlichen Preis verkauft. Davor muß man ihn bewahren.« »Warum? Verdammt anständig von ihm, daß er sich dankbar zeigen will.« »Du bist genauso blöd wie er!« fuhr sie auf. »Mir brauchst du kein Theater vorzuspielen. Je denfalls will dein Mann die Erfindung billig verkau fen, aber du willst es nicht. Nun, weiter?« »Ich will nur, daß er das viele Geld nicht ver schenkt. Deshalb soll er nicht an diesen Sun Koh verkaufen. Und du sollst es verhindern.« »Ach nee. Und wie hast du dir das so ungefähr ge dacht?« »Es ist ganz einfach. Du brauchst bloß die Probe und die Papiere, um die es sich handelt, dem Sun Koh rechtzeitig wegzunehmen, dann muß er abrei 133
sen, ohne gekauft zu haben. Er kann sich nämlich nur kurze Zeit hier aufhalten.« »So – einen Diebstahl mutest du mir also zu? Du, sei ja froh, daß du eine Frau bist, sonst hätte ich dir jetzt eine gelangt. Na, so was von Frechheit ist mir doch …« Viola Warton hatte sich die Unterhaltung etwas anders vorgestellt. Sie fand, daß ihr Bruder nicht der geeignete Gegenspieler sei. Immerhin versuchte sie zu retten, was zu retten war. »Es ist doch nur wegen euch«, klagte sie. »Mir könnte es ja gleich sein, aber ich muß doch die Eltern unterstützen. Und du willst doch auch bald heiraten.« »Mach dich nicht lächerlich«, unterbrach er grob. »Was ich brauche, verdiene ich mir selbst, verstan den? Und die Eltern werden sich ihren Quatsch wie der abgewöhnen. Dem Vater würde es ohnehin bes ser bekommen, wenn er wieder arbeiten und weniger trinken würde.« »Du bist herzlos!« »Rutsch mir den Buckel runter«, knurrte er und knallte die Tür hinter sich zu. Viola Warton rief allerlei Häßliches hinter ihm her, dann begann sie aufs neue zu überlegen. * Am nächsten Tag traf Sun Koh in Bolton ein. 134
Er erschrak, als er Professor Warton wiedersah. Wie hatte sich doch der Mann in den wenigen Mona ten verändert. Er war stark gealtert. Das Haar war grau geworden, das Gesicht zeigte viele Falten, die bei ihrem Treffen nicht vorhanden waren. Haltung wie Kleidung verrieten Vernachlässigung. Lionel Warton überreichte eine Probe des neuen Stoffes, die er erst eine Stunde zuvor aus dem Druck zylinder genommen hatte. Sun Koh prüfte sehr aufmerksam. Er zeigte dabei so viel technisches Verständnis und so viel Vertraut sein mit den einschlägigen Fragen, daß Warton er schrak. Sun Koh fand alles in bester Ordnung. »Das ist ein Werkstoff von ganz hervorragenden Eigenschaften. Ich muß natürlich Ihre Aufzeichnun gen noch Schritt für Schritt überprüfen. Da ich in je der Hinsicht bevollmächtigt bin, darf ich aber jetzt schon erklären, daß ich Ihre Erfindung kaufen werde. Würden Sie mir bitte Ihre Forderung nennen.« In Warton drängte zum letztenmal das Gewissen. Gewaltsam unterdrückte er die Bedenken. Heiser stieß er heraus: »Tja, ich habe darüber noch nicht so nachgedacht. Ich nahm an, man würde mir ein Ange bot machen.« Sun Koh warf ihm einen schnellen Blick zu. Was hatte Warton nur? Warum war er so unruhig? »Ein Angebot?« erwog er. »Nun, die Erfindung ist 135
zweifellos Millionen wert. Es kommt nun darauf an, ob Sie Wert darauf legen, an der Auswertung betei ligt zu sein. In diesem Falle dürften einige Schwie rigkeiten entstehen, da die Form und die Art der Auswertung uns überlassen werden müßte.« »Es wäre mir am liebsten, wenn ich eine bestimm te Abfindung sofort erhalten könnte. Ich würde also meine Rechte gern gegen eine einmalige Zahlung abtreten. Vielleicht 500 000 Pfund?« fühlte Warton vor. »Das ist wahrscheinlich zu wenig. Ich dachte an den doppelten Betrag. Würde Ihnen das recht sein?« Lionel Warton strich sich über die schmerzenden Schläfen. »Gewiß, selbstverständlich – es ist sehr großzügig. Nur – ich würde einen größeren Betrag sehr bald be nötigen. Ich – ich bin gewisse Verpflichtungen ein gegangen, die …« »Der Kaufpreis steht zu Ihrer Verfügung, sobald die Verträge unterzeichnet sind«, fiel Sun Koh ein. »Wenn es Ihnen recht ist, setze ich mich gleich heute mit einem Notar in Verbindung. Ich werde dann im Laufe des Tages die Unterlagen prüfen, so daß wir morgen, spätestens übermorgen den Vertrag vollzie hen können. Ich möchte mich nicht länger als drei Tage hier aufhalten.« Lionel Warton stützte sich. Er fühlte sich reichlich schwach. 136
»Ja«, sagte er mechanisch, »mir ist alles recht, al les.« »Sind Sie krank?« erkundigte sich Sun Koh besorgt. »Nein, nein, nur – ich bin vielleicht doch überar beitet.« »Dann will ich Sie nicht länger belästigen. Sie er lauben, daß ich die Probe und die Aufzeichnungen an mich nehme?« Lionel Warton hatte nichts dagegen. Er fühlte sich gerade noch imstande, seinen Gast zur Tür zu beglei ten. Sun Koh ging sehr nachdenklich aus Wartons Haus. Er grübelte darüber nach, warum sich der Mann nicht wie ein glücklicher Erfinder benahm, sondern wie ein gehetzter und gequälter Mann. Sun Koh nutzte den Tag gut aus. Am Abend war er mehr als zuvor davon überzeugt, daß Wartons Erfin dung in Ordnung war. Einige Fragen hatte er sich aufgeschrieben, um deren Beantwortung er Warton noch bitten wollte. Am nächsten Morgen konnte von ihm aus der Ver trag unterzeichnet werden, falls der Notar seine Vor bereitungen getroffen hatte. Aber zwischen Abend und Morgen verschwand die Probe, die Sun Koh mitgenommen hatte. Und mit ihr verschwanden die Aufzeichnungen, die die Erfin dung selbst bedeuteten. 137
7.
Von draußen drang die gedämpfte Unruhe des Hotels und des Straßenverkehrs in den Raum. Sun Koh saß vor dem eng umzirkelten Schein der Lampe am Tisch. Vor ihm lagen Blätter mit Aufzeichnungen, an denen er arbeitete. Hal lehnte in einem Sessel in der dunklen Ecke. Da näherten sich draußen auf dem Flur zögernde Schritte. Der Läufer dämpfte sie. Irgendwer blieb vor der Tür stehen. Die Klinke ging langsam mit ganz feinem Reiben nieder. Hal drückte sich hoch und ging mit weichen Schritten zur Tür. Eben verharrte die Klinke im Tot punkt, da riß er von innen die Tür auf. Draußen fuhr ein junger Mensch erschrocken zurück. »Ich fürchte, Sie irrten sich in der Zimmernum mer«, sagte Hal sanft. Der andere lachte nervös auf. »Ja – ich glaube auch – ich …« Er fühlte sich unter Hals Blicken unbehaglich. »Und ich würde mich an Ihrer Stelle nicht wieder in der Nähe dieser Tür sehen lassen!« Der junge Mann hob unsicher die Schultern, mur melte etwas Unverständliches und wandte sich ab. Hal schloß die Tür. Sun Koh blickte ihn fragend an. 138
»Was gab es, Hal?« »Ein Anfänger, der nach einer offenen Tür suchte, Sir. Darf ich anläßlich dieser kleinen Unterbrechung darauf aufmerksam machen, daß es fast neun Uhr abends ist?« »Du darfst«, sagte Sun Koh lachend. »Ich bin fast fertig. Der Rest bleibt für morgen. Professor Warton hat wirklich ausgezeichnete Arbeit geleistet. Mich wundert nur, daß er so schnell zu einem derartigen Ergebnis gekommen ist.« »Das Violan ist also einwandfrei?« »Ein hervorragender Stoff«, erwiderte Sun Koh und wog die kaum spürbare Probe in der Hand. »Fast so leicht wie Luft und trotzdem mit allen Vorzügen eines maschinentechnisch verwertbaren Leichtme talls ausgezeichnet. Ein Überdruck von 80 000 At mosphären gibt eben neue, überraschende Möglich keiten. Ich muß aber Warton noch fragen, wann die erste Probe hergestellt wurde und ob er Aufzeich nungen über irgendwelche Veränderungen des Stof fes gemacht hat. Doch das hat morgen Zeit. Jetzt ge hen wir Abendbrot essen.« In der Wand war ein Stahlfach eingebaut. Es hob sich kaum ab, da es ebenso tapeziert war wie die Wand. Sun Koh öffnete es, legte die Papiere und die Probe hinein und schloß wieder ab. »Kein besonderer Schutz«, sagte er dabei, »aber wir bleiben ja im Haus.« 139
Etwa eine Stunde später gingen Sun Koh und Hal wieder nach oben. Als ihre Zimmertüren in ihr Blick feld gerieten, entdeckten sie einen jüngeren Mann, der eben eine der Türklinken losließ. Er schrak zu sammen, als er die beiden sah, dann kam er ihnen entgegen und ging hastig vorüber. »Das kam mir fast so vor, als ob er sich an Ihrer Tür zu schaffen gemacht hätte«, murmelte Hal. »Ich hatte den Eindruck, daß er eben die Klinke losließ, aber ich kann mich auch getäuscht haben. So könnte übrigens der Sohn von Professor Warton aus sehen. Die Ähnlichkeit war recht stark.« Die Tür, die in Sun Kohs Zimmer führte, war ord nungsgemäß verschlossen. Nichts deutete darauf hin, daß der Versuch gemacht worden war, einzudringen. Trotzdem öffnete Sun Koh das Stahlschränkchen, um sich zu überzeugen, daß die Papiere und die ViolanProbe noch vorhanden waren. Die Überzeugung blieb ihm versagt. Das Violan war ebenso verschwunden wie die zu gehörigen Papiere! * Der Befund war eindeutig. Die ganze Rückseite des Schrankes fehlte. Man konnte in das Nebenzimmer hineinblicken. Die Ver 140
brecher hatten von der anderen Seite her die dünne Wand entfernt. Die stählerne Rückwand des Schränkchens war nicht angeschweißt, sondern nur angeschraubt gewesen. Es hatte noch weniger Mühe bereitet, die Verschraubung zu lösen. »Kunststück!« urteilte Hal verächtlich. Sun Koh blickte in die Öffnung. Seine Brauen wa ren scharf zusammengezogen. »Es war meine Schuld, daß ich dieses Kunststück ermöglicht habe«, sagte er etwas geistesabwesend. »Das Vorhandensein dieses Schränkchens war wohl ein offenes Geheimnis, aber – der Durchbruch hat immerhin Zeit gekostet.« Hal wollte sich in die Öffnung hineinzwängen, aber Sun Koh hielt ihn zurück. »Wir wollen das Nebenzimmer lieber durch die Tür betreten. Von hier aus können wir zu leicht Spu ren verwischen. Und vor allem müssen wir die Poli zei verständigen. Das ist nicht nur unsere Angele genheit, sondern auch die Professor Wartons. Wir dürfen nichts auslassen, was zur schnellen Entdek kung der Einbrecher führt. Wartons Erfindung ist noch nicht patentiert!« »Soll ich telefonieren?« »Ja. Verständige auch den Geschäftsführer, damit er…« Sun Koh brach ab und bückte sich. In der Mitte des Raumes lag auf dem Teppich ein silberner Blei 141
stift. Die Kopf platte zeigte eingeritzt zwei ver schlungene Buchstaben. »WV oder VW«, las Sun Koh heraus. »Das könnte Viola Warton heißen. Hast du den Bleistift vorhin hier bemerkt?« »Es ist ausgeschlossen, daß er vorhin schon dort gelegen hat.« »Also befand sich eine fremde Person in diesem Raum, während wir uns unten aufhielten. Recht merkwürdig! Doch – verständige inzwischen die Po lizei.« Hal entfernte sich. Sun Koh untersuchte den Raum weiter. Es blieb ihm jedoch kaum mehr als eine Mi nute Zeit, dann klopfte schon jemand an die Tür. Professor Warton trat ein. Seine Augen und die Bewegung seiner Hände deuteten innere Unruhe an. »Ein Glück, daß Sie noch nicht zu Bett gegangen sind«, sagte Warton. »Ich bitte um Entschuldigung, daß ich Sie um diese Stunde noch überfalle, aber mir fiel gerade ein, daß in meinen Berechnungen ein Fehler stecken könnte. Dürfte ich die Unterlagen noch einmal für einen Augenblick haben?« Sun Koh wies auf einen Sessel. »Bitte, nehmen Sie Platz, Herr Professor.« »Danke, danke«, wehrte Warton ab. »Ich will Sie nicht länger stören. Ich will mich nur schnell über zeugen, ob mir ein Irrtum unterlaufen ist. Haben Sie die Papiere hier?« 142
»Ich bin leider nicht in der Lage, sie Ihnen auszu händigen«, eröffnete Sun Koh schonend. »Die Unter lagen …« Warton ließ ihn nicht erst ausreden. Er fuhr zu sammen und stieß hervor: »Sie wollen nicht?« »Ich kann nicht«, verbesserte Sun Koh. »Die Pa piere und die Probe sind gestohlen worden.« »Gestohlen?« »Aus diesem Schränkchen«, sagte Sun Koh und öffnete die Tür des Stahlfaches. Warton stand wie vom Blitz gerührt da. Dann würgte er hervor: »Barmherziger! Wer hat das ge tan?« »Das ist mir noch unbekannt. Ich lasse gerade die Polizei benachrichtigen.« Warton zerrte sein Taschentuch aus der Tasche. Dabei zog er eine schmale Walze mit heraus, die langsam zu Boden fiel. Sun Koh fing sie auf und reichte sie Warton. Dieser griff hastig zu, als habe er ein schlechtes Gewissen. »Danke – das ist – ich wollte – ich muß das Stück in der Eile eingesteckt haben.« »Beruhigen Sie sich bitte«, mahnte Sun Koh sanft. »Es wird sicher gelingen, die Einbrecher zu fangen, bevor sie die Erfindung weiterverwerten können. Für alle Fälle stehe ich zu meinem Kaufgebot, da der Verlust durch meine Schuld eingetreten ist.« »Ja, ja«, murmelte er. 143
»Noch eine Frage, Herr Professor. Kennen Sie zu fällig diesen Bleistift?« Warton blickte verwirrt auf den Silberstift und griff danach. »Er ist mir also auch aus der Tasche gefallen?« sagte er unsicher. »Er gehört Ihnen?« »Gewiß, das heißt, meiner Frau. Das sind die An fangsbuchstaben ihres Namens. Ich muß ihn ganz in Gedanken an mich genommen haben.« Sun Koh zog ihm den Bleistift aus den Fingern. »Sie haben ihn nicht aus Ihrer Tasche verloren, Herr Professor. Der Bleistift lag vorhin hier auf dem Teppich. Er ist von jemand verloren worden.« Warton blickte mit entsetzten Augen auf Sun Koh. »Das – wollen Sie damit sagen, daß meine Frau …« »Der Gedanke ist mir bisher überhaupt noch nicht gekommen«, erwiderte Sun Koh. »Vielleicht irren Sie sich sogar, so daß der Bleistift gar nicht Ihrer Gattin gehört.« Warton zögerte, stieß dann aber gepreßt heraus: »Doch, ich kenne ihn genau. Bitte, entschuldigen Sie mich, ich muß …« Er rannte förmlich hinaus. Gleich darauf wurden Stimmen auf dem Gang laut. Sun Koh trat hinaus. Hal war mit einem jungen kräftigen Mann zu sammengeraten. 144
»Was geht das Sie an?« fauchte dieser eben wild. »Lassen Sie mich durch!« Er wollte Hal beiseite schieben, aber plötzlich drehte er sich mit einem Schmerzensschrei um seine Achse. Hal drückte ihm den Arm am Rücken hoch und stieß ihn vor sich her. »Ich traf ihn eben wieder vor unserer Tür, Sir. Es ist der Mann von vorhin.« »Bring ihn herein«, sagte Sun Koh kurz. Sun Koh trat dicht an ihn heran. »Was haben Sie an unserer Tür zu suchen?« »Ich? Ich war doch gar nicht an Ihrer Tür.« In diesem Moment klopfte es. Auf Sun Kohs An ruf trat ein untersetzter Herr ein, dem der Geschäfts führer folgte. Hinter den beiden wurde ein Polizist sichtbar. »Inspektor Kennath.« »Sun Koh. Das ist mein Begleiter Hal Mervin. Diesen Herrn stellten wir, weil er sich zum zweiten mal an der Tür zu schaffen machte.« »Das ist nicht wahr!« »Langsam. Da haben Sie vielleicht gleich den richtigen Vogel geschnappt, wenn hier ein Diebstahl begangen wurde. Wer sind Sie?« »Jeff Mayrick.« »Mayrick? Hm, handelt es sich nicht um die Er findung des Professor Warton, die gestohlen wur de?« 145
»Ja«, bestätigte Sun Koh. »Wartons Frau ist eine geborene Mayrick, nicht wahr?« sagte Kennath zu dem jungen Mann. »Sie ist meine Schwester«, gab dieser widerwillig zu. »Ausgezeichnet! Ich denke, wir werden uns noch miteinander unterhalten müssen. Smith, geben Sie ein bißchen acht, daß sich Mr. Mayrick nicht ver läuft. Haben Sie einen Raum in der Nähe frei?« Die Frage galt dem Geschäftsführer, der sich dar aufhin verbeugte. »Gleich gegenüber.« »Gut, gehen Sie dorthin, Smith.« Mayrick ließ sich widerwillig hinausführen. Der Inspektor holte einen zweiten Polizisten herein. »Sie übernehmen die Wachen im Nebenzimmer. Wenn ich mich recht entsinne, ist doch die Wand durchgebrochen worden, nicht wahr? Schön, lassen Sie aufschließen, wir kommen dann hinüber. Und Sie sagen dem Zimmerkellner, er möchte sich bereithal ten.« Der Geschäftsführer war damit verabschiedet und ging hinaus. »So«, sagte Kennath, »und nun berichten Sie bitte.« Sun Koh wies auf einen Stuhl. »Nehmen Sie bitte Platz. Es handelt sich um fol gendes: Professor Warton hat eine Erfindung ge macht. Ich wollte die Erfindung kaufen. Warton 146
überließ mir die Papiere und eine Probe zur Prüfung. Gegen neun Uhr drückte dieser Jeff Mayrick die Klinke herunter. Er wollte offenbar eintreten, ent fernte sich aber, als Hal Mervin die Tür öffnete. Kurz darauf schloß ich die Papiere wie die Probe in diesen Schrank ein, dann gingen wir in den Speisesaal. Dort haben wir uns bis kurz nach zehn Uhr aufgehalten. Als wir nach oben kamen, begegneten wir einem Herrn, von dem wir den Eindruck hatten, daß er sich an unserer Tür zu schaffen gemacht habe.« »Wer war das?« »Wir kennen ihn nicht. Mir fiel auf, daß er überra schende Ähnlichkeit mit Professor Warton besaß.« »Professor Warton hat einen Sohn.« »Wir kennen ihn nicht. Die Begegnung veranlaßte mich, den Schrank noch einmal zu öffnen. Wir fan den ihn in diesem Zustand.« Inspektor Kennath prüfte lange die Öffnung. Dann fragte er: »Sonst noch etwas?« Sun Koh nickte. »Zunächst dieser Silberstift. Er lag dort auf dem Teppich. Als wir hinuntergingen, hat er bestimmt noch nicht dort gelegen. Das Zimmer war ordnungs gemäß verschlossen.« Kennath zog die Stirn in Falten. »Hm, nicht schlecht, VW oder …« »Viola Warton soll es heißen«, unterbrach Sun Koh. »Der Stift ist Eigentum von Frau Warton.« 147
»Woher wissen Sie das?« »Während mein Begleiter Sie benachrichtigte, be suchte mich Professor Warton. Er wollte einen kur zen Einblick in die Papiere nehmen, weil er fürchte te, es sei ihm ein Fehler unterlaufen.« »Und?« »Er war sehr bestürzt, als ich ihm von dem Dieb stahl erzählte. Seine Bestürzung wurde noch größer, als ich ihm den Stift vorwies. Eine Erklärung dafür hatte er nicht. Er nahm ursprünglich an, der Bleistift sei ihm mit der Violan-Probe aus der Tasche gefal len.« »Mit welcher Probe?« »Er trug eine Probe seines Stoffes bei sich.« »Die gestohlene?« »Wohl kaum«, sagte Sun Koh lächelnd. »Wie soll te er auf den Einfall kommen, sich selbst zu besteh len?« »Alles schon dagewesen«, brummte Kennath. »Je denfalls scheint die Sache ziemlich verdreht zu sein. Haben Sie noch etwas erlebt?« »Nein.« »Welchen Wert besaß die Erfindung?« »Einige Millionen.« »Donnerwetter! Hm, wir wollen zunächst mal hi nübergehen.« Sie betraten das Nebenzimmer. Erwartungsgemäß lagen dort Steine und Kalkbrocken an der Wand. 148
»Schwer war es nicht, diese Wand zu durchbre chen«, stellte Kennath fest. »Aber immerhin kann es nicht ohne Geräusche abgegangen sein.« Er ließ den Geschäftsführer und den Zimmerkell ner hereinrufen. »Ein Mr. Hendrick hat das Zimmer gemietet«, be richtete der Geschäftsführer. »Ich habe bereits her umgefragt und festgestellt, daß er vor etwa einer Stunde das Haus verlassen hat. Er hat das Zimmer erst gegen Abend belegt. Nach seinen Angaben war er Geschäftsreisender.« »Gepäck?« »Er führte nur einen kleinen Koffer mit sich, trug ihn jedoch vorhin nicht bei sich.« »Hier ist kein kleiner Koffer.« »Den wird der andere Herr mitgenommen haben«, meldete sich der Kellner. »Mr. Hendrick erhielt ge gen acht Uhr Besuch. Der Koffer enthielt sicher ei nen Radioapparat. Ich hörte lange Zeit Musik aus diesem Zimmer.« »Wann?« »Zwischen neun und zehn.« »Wie sahen die beiden aus?« Der Kellner gab eine Beschreibung, die auch auf tausend andere Leute paßte. Kennath äußerte sich recht unzufrieden darüber. Der Kellner hob die Schultern. »Ich weiß nicht, ob es dazugehört, aber ein Herr 149
fragte mich nach der Zimmernummer von Mr. Sun Koh. Ich hielt ihn für einen Verwandten Professor Wartons, weil er diesem sehr ähnlich sah.« »Kennen Sie den Professor?« »Die ganze Stadt kennt ihn. Ich sah ihn auch vor hin erst.« »Kennen Sie den Sohn des Professors?« »Nein.« »Haben Sie eine fremde Dame auf dem Gang be merkt?« »Nein.« Sun Koh gab Hal einen Wink und verließ mit ihm unauffällig den Raum. »Dieser Sohn von Warton«, sagte er draußen. »Wir müssen uns vor allem nach ihm umsehen.« Sie fuhren mit dem Lift in die Hotelhalle hinunter. Als sie aus dem Lift heraustraten, sahen sie an der Drehtür einen Mann, bei dessen Anblick Sun Koh stutzte. »Piscot!« verständigte er Hal. »Der Mann aus Pa ris.« Piscot hatte nur einen Blick benötigt. Er ver schwand hastig durch die Drehtür. Als Sun Koh und Hal auf die Straße traten, saß er bereits am Steuer seines Wagens, der von der Bordkante wegschoß. Als der Wagen um die nächste Straßenecke rutschte, nahmen Sun Koh und Hal die Verfolgung auf.
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8.
Kennath war durchaus der Überzeugung, diese etwas verwickelte Geschichte klären zu können. Er nahm sich zunächst Jeff Mayrick vor. »Sie sehen wie ein vernünftiger junger Mann aus«, redete er ihm gut zu. Jeff Mayrick versuchte, seinen bedrückten Zustand hinter einer trotzigen Haltung zu verbergen. »Sie können mich nicht einsperren, wenn ich nichts getan habe«, begehrte er auf. »Sie haben sich zweimal an dieser Tür zu schaffen gemacht. Warum?« Die Antwort auf diese Frage hatte sich Jeff May rick offenbar in der Zwischenzeit überlegt. »Ich dachte, ich würde hier jemanden treffen. Heute nach Feierabend hielt mich nämlich ein Frem der an und sagte, ich könne mir etwas Geld verdie nen. Ich möchte heute abend hierher kommen und in dieses Zimmer gehen, da wolle er mir Näheres sagen. Hinterher habe ich daran gedacht, daß er mir keine genaue Zeit angegeben hat. Da bin ich denn einfach hergegangen und habe es später noch einmal ver sucht.« »Da haben Sie aber einen schlechten Witz ge macht«, meinte Kennath scharf. Doch Jeff Mayrick blieb bei seiner Aussage, ob wohl Kennath noch lange in ihn hineinbohrte. Dem 151
Inspektor blieb schließlich nichts übrig, als ihn ab führen zu lassen. Das geschah kurz vor Mitternacht. Kennath fand, daß es noch zu zeitig sei, um sich schlafen zu legen. Er rief Professor Warton an. Er mußte eine ganze Weile warten, bevor sich je mand am anderen Ende der Leitung meldete. »Hier Laboratorium Professor Warton!« »Inspektor Kennath von der Kriminalpolizei. Spreche ich mit Herrn Professor Warton selbst?« »Nein, Bill Dagger, ich bin der Assistent.« »Ich möchte Ihren Chef sprechen.« »Mr. Warton? Ja – er ist aber – es wird schwer ge hen.« »Ich muß ihn persönlich sprechen«, sagte Kennath schärfer. »Sie brauchen ihn jetzt nicht an den Appa rat zu rufen, aber wecken Sie ihn. Ich komme in ei ner halben Stunde vorbei. Sagen Sie Ihrem Chef, daß es sich um den Diebstahl handelt.« »Ja – aber …«
»Schon gut, ich komme dann.«
Eine halbe Stunde später klingelte Inspektor Ken
nath bei Professor Warton. Bill Dagger, der alte Gehilfe des Professors, öffne te ihm. Er war erregt und unruhig. »Der Herr Professor ist überfallen worden!« »Was? Ist er tot?« »Um Himmels willen, nein! Er erwartet Sie!« 152
»Na, dann ist doch alles gut.« Das fand aber nur Kennath. Warton war ebenso wie sein Gehilfe anderer Meinung. »Man hat mich von hinten überfallen«, berichtete er verstört. »Ich wollte gerade die Tür aufschließen, als ich einen Schlag gegen die Schläfe bekam. Als ich wieder zu mir kam, lag ich mit verbundenen Au gen und gefesselten Gliedern hier auf dem Bett. In den Mund hatte man mir mein eigenes Taschentuch gesteckt.« »Man hat Ihnen die Augen verbunden?« vergewis serte sich Kennath. »Ja.« »Dann dürften Sie den Mann, der Sie überfiel, per sönlich kennen«, folgerte der Inspektor. »Hat denn Ihr Assistent nichts von dem Überfall bemerkt?« »Erst nach Ihrem Anruf«, gab Dagger Antwort. »Ich suchte den Professor in seinem Schlafzimmer und fand ihn dann hier. Ich wußte nicht, daß er noch einmal ausgegangen war.« »Aber Sie müßten doch gehört haben, wie man ihn hereingetragen hat?« Der Alte schüttelte unsicher den Kopf. »Ich habe nichts gehört. Ich schlafe sehr fest.« »Hm – und was ist Ihnen gestohlen worden, Herr Professor?« »Offenbar nichts. Ich habe aber drüben im Labor noch nicht nachgesehen.« 153
»Dann wollen wir hinübergehen.« Warton übernahm selbst die Führung. Er zuckte gleich nach dem Eintritt heftig zusammen. »Das ist ja – unerhört!« stieß er ebenso verblüfft wie entrüstet aus. »Man hat die Maschinen arbeiten lassen! Einen Druckversuch hat man unternommen. Hier ist noch die Leitung festgelegt. Und hier – das Helium ist angezapft worden – ja, wie ist denn das möglich?« »Es gehören doch sicher besondere Kenntnisse da zu, um die Maschinen in Betrieb zu setzen?« Warton hob die Schultern. »Ja. Mir ist das überhaupt alles unverständlich. Ich habe zum Beispiel in der letzten Zeit einige neue Anordnungen getroffen, mit denen niemand außer mir und Bill vertraut sind. Außer uns beiden sollte eigentlich überhaupt niemand in der Lage sein, einen Versuch zu bewerkstelligen. Ich begreife das nicht.« »Sie wollen sagen, daß selbst ihre früheren Mitar beiter einschließlich Ihres Sohnes nicht in der Lage gewesen wären, die Maschinen zu bedienen?« »Nicht bis zu diesem Überdruck.« Kennath winkte den Gehilfen heran. »Sie haben das gehört, nicht wahr? Wem haben Sie bei dem Versuch geholfen?« »Ich habe niemandem geholfen. Ich weiß von nichts.« »Sie sind der zweite, der von dieser Angelegenheit 154
nichts wissen will«, stellte Kennath drohend fest. »Wenn niemand außer Ihrem Chef und Ihnen die Maschinen einwandfrei bedienen konnte, so müssen Sie dem unbekannten Eindringling geholfen haben. Also, wer war es?« »Ich habe geschlafen«, beharrte Dagger. »Aber, Herr Inspektor«, fuhr Warton dazwischen. »Sie werden Bill doch nicht ernsthaft verdächtigen wollen? Er dient mir seit Jahrzehnten treu und ehr lich.« Der Inspektor zuckte mit den Schultern. »Na schön, lassen wir es einstweilen. Sie wissen, daß Mr. Sun Koh, der Ihre Erfindung kaufen will, bestohlen wurde?« Warton nickte nur, aber Bill Dagger machte eine so heftige Bewegung, daß der Inspektor ihn for schend ansah und fragte: »Na, wissen Sie was da von?« »Nein, nein«, erwiderte Dagger hastig. »Ich – ich war nur erschrocken.« »Laß uns allein«, bat Warton. »Immerhin scheint manches bei ihm nicht zu stimmen«, meinte Kennath nachdenklich. »Ich lege meine Hand für ihn ins Feuer.« »Hm, Sie sagten das schon. Wie kam es eigentlich, Herr Professor, daß Sie die Probe Ihres Violans bei sich trugen, die Mr. Sun Koh vorher gestohlen wor den war?« 155
Warton warf einen schnellen Blick in das Gesicht des Inspektors. »Mr. Sun Koh hat Ihnen das erzählt? Nun, ich hat te offengestanden im ersten Augenblick den gleichen Eindruck wie Sie. Aber es war eine ganz andere Pro be. Ich hatte sie aus Versehen in die Tasche gesteckt. Der Stoff ist so leicht, daß man ihn nicht spürt. Oder nehmen Sie etwa im Ernst an, daß ich den Diebstahl selbst ausgeführt habe?« Kennath wich aus. »Als Kriminalist kann ich mir leider keine An nahmen erlauben, Herr Professor. Ich muß alle sich ergebenden Hinweise untersuchen. Sie suchten Mr. Sun Koh zu einer ungewöhnlichen Stunde auf. Ist es nicht wahrscheinlich, daß Sie bei diesem Besuch den Silberstift, der Ihrer Gattin gehört, verloren haben?« »Ich nahm das an«, erwiderte Warton beherrscht. »Mr. Sun Koh sagte mir jedoch, daß er den Bleistift schon vor meinem Eintritt gefunden habe.« »Und wie erklären Sie sich das?« »Es gibt wohl viele Möglichkeiten. Meine Frau kann zum Beispiel den Stift auch irgendwo verloren haben. Ich würde Ihnen empfehlen, sie morgen darüber selbst zu fragen. Sie schläft schon seit mehreren Stunden.« »Das werde ich tun. Ich will Sie nun nicht länger von Ihrer Nachtruhe abhalten.« Professor Warton brachte den Inspektor ins Freie.
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*
Früh am Morgen fuhr Kennath nach Farnworth hin aus. Mit einiger Mühe fand er das Häuschen, in dem der Baumeister Stone wohnte. Es lag am Rande des Ortes halb zwischen Tannen versteckt. Auf sein wiederholtes Klingeln kam endlich eine junge Frau an die Tür des Vorgartens. »Sie wünschen bitte?« erkundigte sie sich. Kennath reichte ihr seinen Ausweis hin. »Inspektor Kennath von der Kriminalpolizei Bol ton. Mr. James Warton wohnt hier?« »Ja, bei meinem Vater. Ich bin Mary Stone.« »Sehr erfreut. Kann ich ihn sprechen?« Sie blickte ihn prüfend an und zögerte. »Gewiß«, sagte sie schließlich. »Er ist da. Aber er wird noch nicht aufgestanden sein.« Kennath lächelte sie vertraulich an. »Aha, Mr. Warton ist ein Langschläfer, nicht wahr? Nun, ein Ausgleich muß ja sein, wenn man spät ins Bett kommt…« »Um diese Stunde dürften nur die Herren von der Polizei auf sein«, erwiderte sie kühl. »Oder wollten Sie nur gern erfahren, ob Mr. Warton gestern spät ins Bett gekommen ist?« Kennath verschluckte einen Fluch. »Hm, Sie haben recht«, gab er zu. »Mr. Warton ist also gestern spät zu Bett gegangen?« 157
»Allerdings«, bestätigte sie harmlos. »Wir sind ungefähr bis Mitternacht spazierengegangen.« »Sie? Ach! Da waren Sie wohl zusammen in Bol ton?« »Wir sind über Farnworth nicht hinausgekom men.« »Hm, hm, und wie erklären Sie sich dann, daß Mr. Warton in Bolton gesehen wurde?« »Vielleicht hat er einen Doppelgänger?« »Zweifellos«, knurrte Kennath. Er war davon überzeugt, daß sie ihn belog, und er ärgerte sich dar über. Andererseits war er doch nicht so fest davon überzeugt, um seiner Vermutung Ausdruck zu geben. »Bitte, treten Sie ein, wenn Sie Mr. Warton spre chen wollen.« Sie führte ihn in einen kleinen Raum. Dort bat sie ihn, Platz zu nehmen. Sie versprach, Ja mes Warton zu verständigen, und verschwand. Wenig später trat Stone ins Zimmer. Er schüttelte Kennath liebenswürdig die Hand. »Ich hörte eben, daß schon Besuch eingetroffen sei. Mary sagte mir, daß Sie Mr. Warton zu sprechen wünschen. Sie sind von der Polizei? In der Familie Warton ist doch hoffentlich nichts Unangenehmes geschehen?« »Nichts von Belang«, beruhigte Kennath schnell. »Ich wollte nur eine kleine Auskunft einholen. Hätte ich jedoch gewußt, daß Mr. Warton noch schläft, wä re ich später gekommen.« 158
»Nicht so schlimm«, meinte Stone lächelnd. »Mr. Warton und Mary sind gestern noch lange spazieren gewesen. Sie müssen wissen, daß die beiden heiraten wollen.« Kennath war beträchtlich enttäuscht, weil auch Stone bestätigt hatte, daß James Warton gestern abend spazieren gegangen war. So manche Annahme entfiel damit. Er war froh, als endlich James Warton eintrat und Stone das Zimmer verließ. James Warton machte einen guten Eindruck auf Kennath, nur die greifbar deutliche Verschlossenheit und Zurückhaltung mißfielen ihm. »Gewiß«, beantwortete er die erste Frage Wartons. »Ich bin gekommen, weil ich Sie um einige Aus künfte bitten möchte. Es wäre mir lieb, wenn Sie mich nicht von vornherein als Gegner betrachten würden, da es sich um Dinge handelt, die einiges Vertrauen benötigen. Ich habe mich zum Beispiel heute nacht mit Ihrem Vater unterhalten. Er hat sich gewundert, warum Sie nicht offen an ihn herangetre ten sind, wenn Sie einen Versuch mit seinen Appara ten machen wollten.« Fast sah es so aus, als habe der Schuß ins Schwarz getroffen. James Warton zuckte zusammen. Aber er schwieg zu lange, um sich durch Worte zu verraten. »Ich verstehe Sie nicht«, erwiderte er mit belegter Stimme. »Wie kommt mein Vater zu einer derartigen Behauptung?« 159
»Hat er sich falsch ausgedrückt?« fragte Kennath verwundert. »Ich wurde jedenfalls um Mitternacht herum zu ihm gerufen. Man hatte ihn hinterrücks überfallen. Später stellte sich dann heraus, daß ein Fremder im Labor Ihres Vaters gearbeitet hatte. Da gewisse Apparate nur von Ihrem Vater oder von sei nem Assistenten bedient werden können, ergab sich zwangsläufig, daß Bill Dagger mit der Sache zu sammenhängen müsse. Dagger wurde befragt und gestand.« James Warton beugte sich vor. »Bill hat gestanden?« Kennath war sehr befriedigt. »Jawohl, es hat deswegen durchaus keinen Zweck, wenn Sie mir etwas vorlügen. Sie haben heute nacht Ihren Vater überfallen und heimlich Versuche unter nommen.« Wider Erwarten schüttelte Warton jetzt heftig den Kopf. »Nein.« »Wieso nein? Sie haben es doch eben zugegeben.« »Ich war nur erschrocken, daß der alte Bill an ei nem Verbrechen beteiligt gewesen sein soll.« Der Inspektor wurde ärgerlich, weil ihm der Fisch wieder aus der Hand schlüpfen wollte. Er warf War ton einen merkwürdigen Blick zu. »Übrigens soll ich Ihnen einen Gruß von Ihrem Vater ausrichten. Er sprach da etwas von einem Blei 160
stift, den Sie dieser Tage versehentlich mitgenom men haben, als Sie ihn besuchten. Der Bleistift ge hört wohl seiner Frau, und es wäre ihm ganz lieb, wenn er ihn gelegentlich zurückerhalten könnte.« Wartons Gesicht zeigte genügend echte Verwun derung, um den Inspektor darüber zu belehren, daß er sich auf falscher Fährte befand. »Wovon sprechen Sie? Ich kann mich an keinen Bleistift erinnern, und ich habe auch bestimmt keinen mitgenommen.« Kennath hielt es für richtig, diesen Punkt nicht weiter zu behandeln. »So?« fragte er. »Nun, dann hat sich Ihr Vater wohl geirrt. Ich werde es ihm sagen. Haben Sie sich eigentlich gestern lange im Hotel ,Zur Stadt London’ aufgehalten?« Wieder konnte Warton nicht ganz verbergen, daß ihn die Frage erschreckte. »Nein – das heißt, ich war überhaupt nicht dort.« »Aber, aber!« Kennath schüttelte den Kopf. »Sie sind doch von mehreren Personen erkannt worden.« »Ein Irrtum.« »Ihrerseits?« Jetzt zeigte sich, wie Warton unter den Fragen litt. »Nein!« schrie er fast. »Was wollen Sie denn ei gentlich mit Ihren Fragen? Warum verhören Sie mich? Was geht es Sie an, ob ich im Hotel gewesen bin oder nicht?« 161
Kennath verzichtete auf seine bequeme Haltung. Straff und dienstlich richtete er sich auf und sagte bestimmt: »Sie wissen genau, was es mich angeht. In der Zeit, in der Sie sich gestern im Hotel befanden, ist die Erfindung Ihres Vaters aus dem Zimmer Mr. Sun Kohs gestohlen worden!« Das traf. James Warton prallte erst zurück, dann reckte er sich weit vor. »Gestohlen worden? Gestohlen?« »Jawohl! Und Sie stehen unter Verdacht, zumin dest an dem Diebstahl beteiligt gewesen zu sein.« Warton verharrte eine Weile, als begriff er nicht, dann lachte er plötzlich laut auf. »Gestohlen? Haha, an die Lösung habe ich nicht gedacht, sonst hätte ich mich wahrhaftig selbst an die Arbeit gemacht. Gestohlen? Nun, dann ist ja vorläu fig wenigstens alles in Ordnung.« Der Inspektor fand die Antwort recht merkwürdig. »Wie meinen Sie das?« fragte er. »Ich meine, daß der Dieb ein gutes Werk getan hat«, erwiderte Warton ruhiger. »Sie werden das nicht verstehen, und ich kann es Ihnen leider auch nicht erklären. Ich würde mich an Ihrer Stelle jeden falls nicht mehr um die Angelegenheit kümmern.« »Das könnte Ihnen wohl so passen?« brummte Kennath grob. »Also kommen Sie mit der Sprache heraus.« 162
»Ich habe Ihnen nichts zu sagen.« »Schön, dann sind Sie mir noch immer die Aus kunft schuldig, was Sie gestern in jenem Hotel zu suchen hatten.« »Ich war nicht dort.« »Natürlich«, höhnte Kennath grimmig. »Sie waren überhaupt nicht in Bolton. Sie sind gestern mit Miß Stone spazieren gegangen. Sie und ihr Vater haben es mir ja genügend unter die Nase gerieben.« »Wahrscheinlich sind sie entsprechend befragt worden. Kann ich Ihnen sonst noch mit etwas dienen, Herr Inspektor?« Kennath erhob sich. »Von Rechts wegen müßte ich Sie verhaften«, knurrte er mißgelaunt. »Ich bin davon überzeugt, daß Sie viel wissen und mir noch mehr verschwiegen ha ben. Das kann Ihnen übel bekommen. Ach, hol Sie der Teufel. Auf Wiedersehen!« * Viola Warton lag noch im Bett, als sich Inspektor Kennath bei ihr melden ließ. Sie wollte ihn abweisen lassen, aber Kennath ging nicht. Endlich wurde er vorgelassen. »Ich wußte nicht, daß Sie Ihren Mittagsschlaf schon so zeitig halten«, sagte er trocken und ver beugte sich. 163
Sie fand das offenbar belustigend. »Aber nein, ich war heute noch gar nicht aufge standen. Sie wissen wohl nicht, wie lange eine Dame schläft?« Kennath bezwang sich. »Oh, ich habe es bis jetzt noch nicht gewußt«, murmelte er. »Im übrigen handelt es sich um diesen Bleistift. Er ist doch Ihr Eigentum?« »Aber gewiß«, bestätigte sie. »Wie kommt er in Ihre Hände?« »Er ist gefunden worden«, begann er vorsichtig. »Ach, dann muß ich ihn verloren haben. Gestern war er noch in meiner Handtasche.« »Sicher. Sie haben ihn im Hotel ›Zur Stadt Lon don‹ verloren. Sie waren gestern abend dort«, beton te er sicher. »Das steht fest. Sie haben dort Ihren Bleistift verloren.« »Ich war nicht dort«, widersprach sie. »Es ist ja auch völlig unwichtig. Für mich handelt es sich doch nur darum, festzustellen, ob Ihnen der Bleistift auch wirklich gehört. Sonst kann ich ihn nämlich nicht zurückgeben. Wenn Sie im Hotel gewesen sind, ist ja alles in Ordnung.« Sie wehrte unruhig mit der Hand ab und sagte schroff: »Nein, nein, Sie wollen mich reinlegen. Ich war nicht im Hotel.« Kennath sah sie scharf an. »Natürlich, aber Ihr Bleistift lag trotzdem dort. 164
Zudem ist gestern abend die Erfindung Ihres Mannes gestohlen worden, und der Bleistift lag am Tatort. Was sagen Sie dazu?« »Was weiß ich denn?« Sie zuckte mit den Schul tern. »Glauben Sie etwa, daß ich einbreche, um mir die Violan-Probe zu holen? Solche Proben könnte ich dutzendweise von meinem Mann haben.« »Um die Probe allein handelt es sich ja nicht«, be richtigte er ahnungslos. »Die Papiere sind ebenfalls gestohlen.« Da sprang sie auf. »Was? Die Papiere sind auch fort?« »Allerdings.« »Aber – aber – die Papiere können doch nicht fort sein?« »Warum nicht?« erkundigte er sich lauernd. Sie griff sich an den Kopf. »Aber da kann doch mein Mann seinen Vertrag nicht abschließen.« »Das wird wohl vorläufig nicht möglich sein«, sagte er bedauernd. Viola Warton fand sich augenscheinlich nicht mehr zurecht und tat darum das, was ihr in solchem Fall am nächsten lag. Sie weinte. Kennath ließ sie weinen. Erst als sich Viola Warton wenig später be ruhigt hatte, fragte er weiter: »Sie sind also gestern abend in jenem Hotel gewesen?« »Mein Gott, nein«, gab sie heftig zurück. 165
»Dann ist festzustellen, wer ihren Bleistift dorthin gebracht haben kann. Ihr Hausmädchen will be schwören, daß sie ihn gestern morgen noch bei Ihnen gesehen hat.« »Ich weiß es nicht.« »Ihr Bruder hat Sie gestern besucht?« »Nur für eine Minute.« »Kann er den Bleistift genommen haben?« »Nein – ja – ich weiß es nicht.« »Waren Sie gestern fort?« »Ich bin einkaufen gegangen. Aber ich weiß nichts. Lassen Sie mich in Ruhe. Sie sind ein ganz ungebildeter Mensch!« Damit lief sie einfach hinaus. Inspektor Kennath blieb allein zurück. Es blieb ihm nichts übrig, als das Haus zu verlassen. 9. Sun Koh erwachte, als sich die rostigen Angeln einer Tür widerwillig und kreischend rieben. Durch ein kleines Fenster drang nur schwach das Tageslicht, das bereits durch Pflanzen und Ma schenwerk eines Drahtgitters gehemmt wurde. Die Winkel des Raumes blieben dunkel, die huschenden Schatten am Boden wurden nicht deutlich. Die Wand dunstete feuchte Kälte. An der anderen Wand, keine zwei Meter entfernt, 166
ruhte auf einem dürftigen Holzgestell Hal. Die Enden der Stricke, mit denen man seine Hände und Füße umwickelt hatte, hingen seitlich herunter. Sein Kopf bewegte sich. Er war also ebenfalls wach geworden. Sie waren in eine Falle gegangen. Sie hatten den Wagen, in dem Piscot geflüchtet war, im Auge be halten können, bis er draußen am Stadtrand in einer Nebenstraße verschwunden war. Sie hatten ihn we nig später vor einem Haus mit erleuchteten Fenstern wiedergefunden. An einem der Fenster hatten sie deutlich den Verfolgten erkannt. Sun Koh hatte dar aufhin kurz entschlossen geklingelt und war zusam men mit Hal in das Haus eingetreten, als die Tür ge öffnet worden war. Sie hatten eine freundliche Diele vor sich gesehen, dann war das Licht plötzlich erlo schen, und dann hatten sich einige Männer auf sie geworfen, die sich auf ihr Handwerk verstanden. Und jetzt lagen sie gefesselt in einem Keller, und dort in der Tür stand verbindlich lächelnd der Mann, den Sun Koh in Paris schon einmal in ähnlicher Si tuation kennengelernt hatte – Piscot. »Sie sind verstimmt?« fragte er liebenswürdig. »Ich bedaure natürlich, daß ich Sie in diese Situation bringen mußte, aber ich versichere Ihnen, daß Sie außer einigen Unannehmlichkeiten nichts zu be fürchten haben.« »Sind Sie nach Bolton umgezogen?« Piscot lächelte freundschaftlich. 167
»Oh, ich bin überall zu Hause, überall, wo es Neues und Interessantes gibt. Es ist mein Beruf, verste hen Sie. In Paris hatten wir leider kein Glück mitein ander. Immerhin, es gab geschwätzige Zungen, die mir die letzten Worte Maldons erzählten, und es fiel nicht schwer, ebenfalls den Weg zu Professor War ton zu finden. Ein uninteressanter Mann mit uninter essanten Arbeiten – bis sich ergab, daß er von einem gewissen amerikanischen Syndikat unterstützt wur de, und bis er eines Tages eine weltbewegende Er findung machte. Wir verstehen uns, Monsieur?« »Vollkommen«, erwiderte Sun Koh trocken. »Und wozu nun dieser Aufwand?« »Oh, nur zu unserer Erleichterung. Sie können heute schon wieder frei sein, wenn Sie mir sagen, wo Sie die Violan-Probe versteckt haben.« »Befindet sie sich nicht in Ihrem Besitz?« fragte Sun Koh zurück. »Leider nicht. Wozu hätte ich Sie sonst belästigt?« »Haben Sie nicht den Wandschrank aufgebro chen?« »Gewiß, aber leider zu spät. Sie hatten die Probe schon einige Minuten vorher herausgenommen.« »Das müßte dann ein zweiter Dieb gewesen sein.« »Bedauerliche Ausreden«, seufzte Piscot. »Sie halten mich offenbar für dumm. Zimmertür und Schranktür wurden richtig geschlossen, und die Schlüssel besaßen Sie allein. Aber bitte, wie Sie wol 168
len. Sie werden sich eben gedulden müssen, bis wir uns eine andere Probe verschafft haben. Leider kann ich Ihnen ein Schlafmittel nicht ersparen. Meine Er fahrungen in Paris raten Ihnen gegenüber zur Vor sicht, Monsieur.« Er zog ein Kästchen aus der Tasche, entnahm ihm eine Spritze und trat an Sun Koh heran. Sun Koh ließ ihn noch einen Schritt weiter heran kommen, dann riß er die Beine hoch und schnellte sich seitlich hinaus. Die Spritze flog gegen die Dek ke. Der Mann krümmte sich mit einem Laut zusam men und fiel nach rückwärts. Hal schwang seine gefesselten Füße herum, mach te einen kleinen Satz und warf sich über den Ober körper des Gestürzten. Als dieser abwehren wollte, fand er seine Arme bereits eingeklemmt und seinen Hals durch den Ellbogen des Jungen bedroht. Sun Koh hatte sich durch seinen Tritt von der Prit sche heruntergerissen. Er kam aber schnell wieder hoch und begann sofort, die Taschen des anderen zu durchsuchen. Es bereitete einige Schwierigkeiten, da die Hände aneinandergebunden waren, aber das Ta schenmesser wurde trotzdem bald gefunden. Der Mann am Boden wagte nicht, sich zu rühren, als die beiden ungefesselt neben ihm standen. »Wo sind die Papiere?« fragte Sun Koh. »Oben. Die beiden anderen haben sie.« »Wer?« 169
»Der eine heißt Sam, der andere Philipp. Ich kenne sie selber nicht weiter. Sie haben die Papiere gestoh len!« »Und Sie?« »Ich habe ihnen bloß davon erzählt. Ich bin kein Verbrecher.« »Das Urteil darüber wollen wir der Polizei über lassen. Fesseln wir ihn!« Sie legten ihn auf eine der Pritschen und gingen nach oben. Sie bewegten sich sehr vorsichtig und leise, aber sie hätten darauf verzichten können. Die beiden Männer, die sie suchten, lagen in so tiefem Schlaf und schnarchten so heftig, daß sie sogar das Öffnen der Zimmertür überhörten. Sie wachten auch nicht auf, als Sun Koh und Hal die Pistolen von den Nachttischen nahmen. Sie durften weiterschlafen. Hal setzte sich auf ei nen Stuhl, so daß er beide beobachten konnte. Sun Koh ging zwei Zimmer weiter zum Telefon und ver ständigte die Polizei. * Inspektor Kennath kehrte zusammen mit Sun Koh und Hal ins Hotel »Zur Stadt London« zurück. Er hatte frische Witterung gefaßt und war nicht geson nen, die Spur kalt werden zu lassen. Während sich 170
Sun Koh und sein Begleiter umzogen, begab er sich in den zweiten Stock, wo das Verwaltungsbüro des Hotels lag. Er hatte Glück. Die Sekretärin, Miß Nelly Adams, die er suchte, saß allein im Büro. »Sie wünschen?« Kennath ging dicht heran und setzte sich halb auf die Tischkante. »Wir müssen uns noch ein bißchen unterhalten, Miß Adams«, eröffnete er gemütlich. Sie warf einen schnellen, mißtrauischen Blick nach oben. »So? Und was wünschen Sie?« »Tja, das läßt sich nicht mit zwei Worten sagen. Es ist eigentlich dasselbe, worüber wir uns schon heute morgen unterhalten haben. Sie halten doch hier oben die Doppel zu den Zimmerschlüsseln in Ver wahrung, nicht wahr?« »Das bestätigte ich Ihnen bereits heute morgen«, erwiderte sie kühl. »Ich befand mich zur Zeit des Diebstahls noch hier oben, weil viel Arbeit zu erledi gen war, und die fraglichen Schlüssel sind von nie mand benutzt worden.« »Auch nicht von Mrs. Warton?« »Wie kommen Sie auf diese Vermutung?« fragte sie nach einer kleinen Pause hochmütig. »Wenn ich Ihnen sage, daß die Schlüssel von niemand benutzt wurden, dann auch nicht von Mrs. Warton.« 171
»Natürlich, das ist ganz folgerichtig«, sagte er. »Ebenso folgerichtig wird Sie der Richter nicht nur wegen Beihilfe bei einem Verbrechen, sondern auch noch wegen Meineids bestrafen. Es ist erwiesen, daß Sie an der Geschichte beteiligt sind. Es steht ein wandfrei fest und wird bezeugt, daß Zimmertür und Schranktür bei Mr. Sun Koh mit Hilfe von Nach schlüsseln aufgeschlossen wurden. Das geschah in der Zeit, in der Sie hier oben die Schlüssel bewach ten. Die einzige Erklärung liegt darin, daß Sie die Schlüssel ausgehändigt haben. Sie können das jetzt natürlich noch abstreiten. Wir werden uns aber um Ihre Verhältnisse kümmern und Schritt für Schritt das Beweismaterial zusammentragen, auf Grund des sen Sie dann verurteilt werden, während Sie jetzt noch eine Dummheit wiedergutmachen können. Das sollten Sie sich überlegen!« Der ruhige, väterliche Ton verfehlte seine Wir kung nicht. Die Sekretärin blickte sorgenvoll vor sich hin. »Gut, ich will alles sagen, aber es war wirklich nur eine Dummheit. Ich habe mir nichts dabei gedacht, und ich hätte mir doch gern das Geld verdient. Ich wußte ja nicht, daß sie ihren Bleistift liegen läßt! Aber sie ist ja so dumm, und …« Kennath war höchst befriedigt. Jetzt hatte er wie der etwas in der Hand. »Also, erzählen Sie mal schön der Reihe nach«, 172
drängte er behutsam. »Es geschieht Ihnen wirklich nichts. Mrs. Warton – sie war es doch …« »Ja«, bestätigte Nelly Adams. »Sie kam gestern abend zu mir. Wir sind früher Freundinnen gewesen und haben zusammen die Schule besucht. Sie sagte, sie befinde sich zufällig im Hotel und wolle mich wieder einmal sehen. Ich habe mir wirklich nichts dabei gedacht. Sie war früher auch schon gelegent lich hier oben. Wir haben uns unterhalten, dann bat sie mich, frisches Wasser aus dem Waschraum zu holen. Ich ging über den Flur, weil der Waschraum auf der anderen Seite liegt. In der Zeit muß sie die Schlüssel an sich genommen haben. Sie ging dann bald und sagte, sie würde noch einmal raufkommen.« »Haben Sie die Schlüssel nicht vermißt?« »Nein, sie hängen dort alle hinter dem Vorhang, und es sind sehr viele.« »Hm, und was geschah weiter?« »Sie kam schon nach zehn Minuten zurück, viel leicht sogar noch etwas früher. Sie war ziemlich auf geregt und wollte gleich wieder Wasser haben. Das machte mich mißtrauisch. Ich ging hinaus, ließ aber die Tür etwas offen und beobachtete sie. Da sah ich, daß sie die Schlüssel anhängte. Ich habe sie natürlich zur Rede gestellt, aber ich weiß nicht, ob sie mir die Wahrheit erzählt hat.« »Was hat sie erzählt?« »Sie hat mir von der Erfindung erzählt, die ihr 173
Mann gemacht hat. Er wollte sie für ganz wenig Geld aus lauter Dankbarkeit verkaufen, obwohl sie viel wert sei. Und sie wollte das seinetwegen verhindern. Deshalb habe sie heimlich die Violan-Probe aus dem Wandschrank herausgeholt, damit die Erfindung nicht verkauft werden könne.« »Aber das ist doch Unsinn! Bei einer derartigen Erfindung werden die Formeln verkauft, aber nicht das Probestück. Das ist ziemlich unwichtig. Außer dem konnte der Professor jederzeit ein anderes lie fern. Na ja, Miß Nelly, ich danke Ihnen. Sie werden Ihre Aussage beeiden müssen, das wissen Sie doch?« »Das kann ich mit gutem Gewissen«, versicherte sie stolz. »Ich habe nie etwas anderes als die Wahr heit gesprochen.« Kennath war höflich genug, seine Meinung nicht zu äußern. * Eine Viertelstunde später fuhr Kennath mit Sun Koh zusammen zum Haus des Professors. »Die Angelegenheit ist ja nun ziemlich geklärt«, sagte er unterwegs, »aber ich bin immerhin gespannt, was man uns als Gründe für dieses seltsame Verhal ten angeben wird.« Sun Koh schwieg. Erst als sie ausstiegen, sagte er zu Kennath: »Überlassen Sie die Verhandlung bitte 174
mir. Ich hoffe, daß Warton freier sprechen wird, wenn er nicht den Eindruck eines Verhöres ge winnt.« »Selbstverständlich«, meinte Kennath. Professor Warton empfing die Besucher in einem der Nebenräume seines Labors. »Nun, was bringen Sie Neues?« fragte er bewußt heiter. »Ihre Aufzeichnungen befinden sich wieder in meinem Besitz«, gab Sun Koh Auskunft. »Ach, das ist ja sehr erfreulich. Und wer hatte sie gestohlen?« »Ein Agent, der vom Verkauf der Erfindung erfah ren hatte.« Jetzt erst atmete Warton auf. »Also doch«, murmelte er. »Ich wußte es doch, ich wußte es doch. Ja, und sind alle Papiere vollzählig?« »Die Aufzeichnungen sind lückenlos«, erklärte Sun Koh. »Unserem Vertragsabschluß steht nichts mehr im Wege. Sie wollten allerdings noch einige Formeln überprüfen?« Warton schob die Blätter hastig zurück. »Nein danke, es ist nicht mehr nötig. Es stimmt al les ganz genau. Wollen Sie heute noch abschließen?« »Mir ist es recht. Sie können mir doch eine andere Probe zur Verfügung stellen?« Der Professor blickte rasch auf. »Eine andere Probe?« 175
»Gewiß, die andere wurde doch gestohlen!« »Aber, Sie haben sie doch zurückbekommen?« »Nur die Papiere. Das Violan wurde nämlich von dem Verhafteten nicht gestohlen, weil es schon vor her von jemand anderem aus dem Schrank genom men wurde.« Warton wendete sich etwas ab. Seine Hände gin gen unruhig über die Tischplatte. »Ach, dann gibt es also noch einen Dieb?« mur melte er. »Wer ist es?« »Ich hoffte, Sie könnten uns einen Hinweis ge ben«, sagte Sun Koh freundlich. »Es ist eine Tatsa che, daß jemand mit Hilfe von Doppelschlüsseln bei mir eindrang und die Probe an sich nahm. Zu dieser Zeit lagen die Papiere noch im Schrank. Der Ein dringling ließ aber die Papiere liegen, obwohl diese allein wertvoll waren. Dieses Verhalten ist völlig un verständlich.« Warton zerrte an seinen Fingern. »Allerdings, das verstehe ich auch nicht«, preßte er mühsam heraus. »Ich bin auf die Vermutung gekommen, daß es mit dieser Probe irgendeine besondere Bewandtnis hat te«, fuhr Sun Koh abwägend fort. »Darüber müßten Sie aber dann einiges sagen können, Herr Professor.« Warton ließ eine Weile verstreichen, bevor er den Kopf schüttelte. »Ich begreife es auch nicht. Es war eine Violan 176
Probe wie jede andere. Ich kann mir nicht vorstellen, was der Dieb beabsichtigt haben könnte. Aber es wird sein eigener Schaden sein, weil…« »Warum?« fragte Sun Koh, als Warton abbrach. »Ich meinte, er kann doch nichts damit anfangen«, erklärte Warton verlegen. Sun Koh und der Inspektor tauschten einen Blick. So manches am Verhalten des Professors schien son derbar. »Es ist jedenfalls ein sonderbarer Diebstahl«, fuhr Sun Koh fort. »Haben Sie übrigens Ihrer Gattin mit geteilt, zu welchem Preis Sie die Erfindung verkau fen wollen?« Warton versteifte sich. »Meiner Frau? Wie kommen Sie in diesem Zu sammenhang auf meine Frau?« »Ihre Gattin hat sich dahingehend geäußert, daß Sie die Erfindung aus Gründen der Dankbarkeit um ein Spottgeld verkauften.« Warton konnte das nicht fassen. »Aber – das ist doch unmöglich!« stieß er verwirrt hervor. »Viola – sie weiß doch ganz genau – woher wollen Sie das überhaupt wissen? Wer hat Ihnen et was Derartiges gesagt?« Der Tonfall verriet deutlich Feindseligkeit. Warton stellte sich mit aller Heftigkeit vor seine Frau. »Wir wollen uns ruhig unterhalten«, bat er nun. »Ich muß Ihnen leider einige Eröffnungen ma 177
chen, die ich Ihnen gern erspart hätte«, sagte Sun Koh ruhig. »Jene Äußerung wird bezeugt durch die Sekretärin meines Hotels. Ihre Frau wollte damit be gründen, warum sie die Violan-Probe aus meinem Zimmer holte.« Warton drückte sich hoch. Er schwankte wie ein angeschlagener Baum. »Das – wollen Sie damit sagen, daß meine Frau das Violan gestohlen hat?« »Ja. Sie ist gestern im Hotel gewesen, hat sich die Doppelschlüssel verschafft und ist damit in mein Zimmer eingedrungen. Bei dieser Gelegenheit verlor sie ihren Bleistift. Das sind nicht Vermutungen, son dern beweisbare Tatsachen!« Wartons Gesicht wurde unter den ruhigen Worten immer röter. Eine ungeheure Erregung mußte in ihm arbeiten. »Das – das habe ich nicht gedacht«, keuchte er kaum hörbar. »Meine Frau – ich begreife alles – ich …« »Sie brauchen das nicht so schwer zu nehmen«, versuchte Sun Koh zu beschwichtigen. »Es wird sich um ein Mißverständnis handeln, das sich aufklären läßt. Von einem Diebstahl kann ja kaum die Rede sein, da es sich um Ihr Eigentum handelt. Uns lag nur daran, diesen dunklen Punkt aufzuklären, und …« Warton griff sich plötzlich mit beiden Händen an den Kopf. 178
»Himmel!« stöhnte er plötzlich wie unter einem furchtbaren Schreck auf. Dann drehte er sich herum und blickte nach der Uhr, die an der jenseitigen Wand hing. Ein unverständlicher Laut kam über seine Lip pen, dann rannte er wie ein Verzweifelter hinaus. Sun Koh und Kennath blickten sich verwundert an. »Sonderbar, höchst sonderbar«, fand Kennath. »Kommen Sie, wir gehen ihm nach.« Gerade als sie aus der Tür traten, erschütterte eine dumpfe Explosion, die weiter oben im Haus statt fand, die Wände. Sun Koh lief über die Verbindungstreppe nach oben in das Wohnhaus. Eine Angestellte lief verstört vorbei. »Wo ist…«, setzte Sun Koh an, aber da hörte er schon die keuchenden Worte Wartons. »Mach doch auf, ich bin es doch! Lieber Him mel!« Sun Koh jagte den Gang hinunter. Da stand War ton vor einer Tür. Mit der einen Hand rüttelte er an der Klinke, mit der anderen schlug er wie von Sinnen auf die Füllung ein. Seine Augen blickten fast irr. Sun Koh packte seinen Arm. »Was ist geschehen?« »Meine Frau!« schrie Warton wild. »Lassen Sie mich los! Sie ist da drin. Mach doch auf, Viola!« »Reißen Sie sich zusammen«, herrschte Sun Koh ihn an. »Wo hat die Explosion stattgefunden?« 179
Warton schlug mit der freien Hand gegen die Tür. »Hier, hier! Die Probe ist explodiert. Sie ist tot!« Sun Koh stand für eine Sekunde wie gelähmt. Wie ein Blitzstrahl fuhr die Erkenntnis der Wahrheit durch ihn hindurch. »Das Violan explodiert also?« fragte er leise und fast nachdenklich. »Natürlich explodiert es!« höhnte Warton, der den Verstand verloren zu haben schien. »Nach drei Ta gen explodiert es. Sie hat es gewußt, und sie hat die Probe gestohlen, damit Sie es nicht zu früh merken. Für mich hat sie gestohlen, verstehen Sie das? Aber ich beging einen Irrtum. Ich gab Ihnen eine Probe, die schon zwei Tage alt war, die heute explodieren mußte. Und als ich sie umtauschen wollte, war es schon zu spät. Viola hatte die Probe schon. Und jetzt liegt sie …« Er schrie und heulte das alles heraus. Sun Koh riß ihn von der Tür weg und stieß ihn dem heranlaufen den Inspektor in die Arme. Dann nahm er kurzen An lauf und warf sich gegen die Tür. Schon beim ersten Stoß brach ein Stück weg, so daß Sun Koh durchgreifen und aufschließen konnte. Sun Koh trat in den Raum. Viola Warton lag in ei nem halb zerrissenen Sessel. Sie war tot, getötet durch das Violan, das sie ge stohlen hatte. Es war ein schrecklicher Anblick. Sun Koh trat 180
schnell wieder auf den Flur, zog die Tür hinter sich zu und hielt Warton, der den Inspektor hinter sich herschleppte, zurück. »Fassen Sie sich, Herr Professor«, mahnte er, wäh rend er den Rasenden bei der Schulter packte. »Meine Frau?« keuchte Warton. »Sie ist tot. Ich will Ihnen die Erinnerung ersparen. Kommen Sie!« sagte Sun Koh fest und nahm Wartons Arme zwischen seine Hände. »Kennath, benachrichti gen Sie einen Arzt und veranlassen Sie alles sonst Nötige. Wo ist das Schlafzimmer von Mr. Warton?« Die letzte Frage galt einer Frau, die schreckens bleich in der Nähe stand. Sie wies mit dem Finger auf eine der Türen. Warton sträubte sich, aber Sun Koh zwang ihn mit unwiderstehlicher Gewalt. Und Warton stellte seine erschütternden Schreie und seinen Widerstand ein, bevor er sein Schlafzimmer noch betreten hatte. Sein Körper wurde schlaff. Er sprach weiter, aber jetzt flüsterte er mehr vor sich hin. Er begann zu phanta sieren. Ab und zu enthielten seine Worte den hellen Schimmer des Bewußtseins, aber meist kamen sie aus einer dunklen Tiefe heraus. Sun Koh legte den zuckenden, sich aufbäumenden Körper auf das Bett. Dort hielt er ihn fest, bis endlich der Arzt kam. »Schweres Nervenfieber«, stellte dieser nach kur zer Untersuchung fest. »Er muß sofort in die Klinik.« 181
»Veranlassen Sie alles. Was ist mit der Frau?« »Sie muß sofort tot gewesen sein. Die Explosion hat nicht weit gewirkt, dafür um so furchtbarer.« Damit ging er wieder hinaus. Kurze Zeit später wurde Professor Warton auf eine Bahre geschnallt und fortgetragen. Inspektor Kennath sah noch ganz verstört aus, als Sun Koh ihn aufsuchte. »Gut, daß Sie kommen«, sagte er. »Das Notwen dige ist getan, die Frau ist auch fortgebracht worden. Aber es war furchtbar. Was ist mit dem Professor?« »Nervenfieber. Es läßt sich nicht sagen, ob er es überwindet.« »Man muß es seinem Sohn mitteilen.« »Überlassen Sie das mir. Ich wollte ohnehin nach Farnworth fahren. Haben Sie schon mit dem Assi stenten gesprochen?« »Noch nicht, ich habe ihn nicht wieder gesehen. Vielleicht ist er unten?« Sie machten sich auf die Suche. Bill Dagger saß im Labor. Seine Arme lagen auf der Tischplatte, sein Kopf war tief gesenkt. Als die beiden eintraten, wischte er sich mit dem Ärmel hastig über die Augen und drehte sich um. Er hatte geweint. »Wir müssen noch mit Ihnen reden, Bill«, sagte Sun Koh freundlich. 182
»Ich habe darauf gewartet«, erwiderte der Gehilfe leise. »Wird er wieder gesund werden?« »Wir müssen auf Gott und auf die Kunst der Ärzte vertrauen. Kein Schlag ist so schwer, als daß ihn ein Mensch nicht überwinden könnte. Die Zeit wird ver gessen lassen.« Dagger schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht – er hat keine Kraft mehr. Aber es mußte wohl früher oder später so kommen. Ich habe es gefürchtet und konnte es doch nicht ändern. Die Frau war stärker als alles andere.« »Sie wußten, daß das Violan explodiert?« Dagger nickte. »Ja, ich wußte es. Sie können mich deswegen be strafen, aber ich hätte ihn doch bloßgestellt, wenn ich etwas gesagt hätte. Die Frau hat ihn dazu gebracht. Er ist immer sehr gewissenhaft gewesen, aber die Frau verschleuderte sein Vermögen und machte Schulden, so daß er nicht mehr ein noch aus wußte. Da hat er mit waghalsigen Versuchen begonnen, so daß ich oft gedacht habe, ich erlebe den nächsten Tag nicht mehr. Und dann gelang das Violan. Er hielt es für seine große Erfindung. Als es nach drei Tagen explodierte, wurde er fast verrückt. Und dann hatte er Ihnen schon geschrieben. Er wußte wirklich nicht mehr, wie er sich helfen sollte, deshalb hat er sich von seiner Frau eben beschwatzen lassen. Ich habe ihn gewarnt, aber ich konnte ihm auch nicht helfen. 183
Er wollte Ihnen das Violan verkaufen, obwohl es nichts wert war.« »Von dem Diebstahl der Probe wußte er nichts?« »Nicht das geringste, das kann ich beschwören. Er hegte nur ganz allgemeine Befürchtungen, weil der Bleistift seiner Frau gefunden worden war. Sie hat das ganz allein gemacht. Ja, sie stellte sich gern dumm, aber sie war in mancher Hinsicht schlauer als er. Sie hat sich wohl gesagt, daß es gar nicht zur Auszahlung des Geldes kommen würde, wenn Sie das Violan in der Hand behielten. Deshalb hat sie es weggenommen.« »Und der Professor hat mir aus Versehen die fal sche Probe ausgehändigt?« »Ja, er war eben schon ganz durcheinander. Er hat die Proben vertauscht. Soll ich mitkommen?« »Niemand rechnet Ihnen eine Schuld zu. Doch sa gen Sie noch, was heute nacht hier vorgefallen ist. Wer hat die heimlichen Versuche vorgenommen?« »Es war James, der Sohn des Professors«, gestand Dagger. »Ich habe ihm geholfen, aber wir wurden gestört.« »Welchen Zweck hatte der Versuch?« Der Alte schüttelte den Kopf. »Ich kann darüber nichts sagen. Sie müssen mit dem jungen Herrn selbst sprechen. Er wird es Ihnen sicher verraten, aber ich habe ihm mein Wort gege ben.« 184
Sun Koh reichte ihm die Hand. »Es ist gut. Ich will ihn persönlich sprechen. Er befindet sich doch draußen in Farnworth?« »Ja.« Die beiden Männer verließen das Haus. Auf Kennaths Vorschlag hin fuhr Sun Koh zuerst noch mit zum Präsidium, um zu hören, was Jeff Mayrick zu den Vorfällen sagen würde. Jeff Mayrick, Viola Wartons Bruder, erschien mit offener Feindseligkeit im Gesicht. Diesmal über nahm der Inspektor die Verhandlung. »Ihre Unschuld hat sich herausgestellt«, erklärte er gleich zuerst. »Sie sind frei. Mr. Sun Koh hat mir eben erklärt, daß er Sie für das erlittene Unrecht ent schädigen will.« Das schien Jeff Mayrick doch reichlich überra schend. Er blickte von einem zum anderen und ver gaß darüber seine trotzige Haltung. »Frei?« sagte er endlich. »Nun, das ist nicht schlecht. Sie wollen damit sagen, daß sich die Ge schichte aufgeklärt hat?« »Ja«, bestätigte Kennath. »Es ist alles klar bis auf einen Punkt, nämlich, warum Sie sich an Mr. Sun Kohs Tür zu schaffen gemacht haben. Darüber möchte ich gern noch etwas von Ihnen hören.« Jeff Mayrick zog die Brauen hoch, überlegte eine Weile und schüttelte dann den Kopf. »Nein, nichts zu machen. Erstens weiß ich nicht 185
genau, ob das mit meiner Freilassung stimmt, und zweitens will ich die Sache für mich behalten. Wer hat denn das Zeug gestohlen?« »Ihre Schwester.« »Ach verdammt – äh, ich meine, das hat mir gera de noch gefehlt. Wissen Sie das genau?« »Ja, das steht einwandfrei fest.« Jeff Mayrick nickte einige Male bedeutungsvoll vor sich hin. »Hm, also doch! Ich habe mir schon so ungefähr gedacht, daß sie eine Dummheit begehen und damit reinfallen wird. Sie werden ihr ja nicht viel tun, weil sie die Frau des berühmten Professors ist, aber es kann ihr wahrhaftig nichts schaden, wenn sie eins auf die Finger bekommt.« »Sie wußten von dem geplanten Diebstahl?« »Wie man’s nimmt. Jetzt kann ich Ihnen ja verra ten, was los war. Eigentlich sollte ich die Sache erle digen. Meine Schwester wollte mich überreden, das Zeug zu stehlen, damit es ihr Mann nicht so schnell und so billig verkauft. Nun, für solche Dinge bin ich aber nicht zu haben. Sie kriegt vielleicht einen Ver weis, aber ich wäre ins Gefängnis gewandert. Ich ha be ihr jedenfalls Bescheid gestoßen und bin einfach meiner Wege gegangen. Hinterher habe ich mir dann überlegt, daß sie es vielleicht nun selbst versuchen würde. Deshalb bin ich ein bißchen um das Hotel gegangen, weil ich dachte, ich könnte sie abfangen. 186
Dann wollte ich auch diesem Herrn einen Wink ge ben, aber ich habe mich doch nicht recht getraut. Schließlich handelte es sich ja um meine Schwester. Wir haben nie viel voneinander gehalten, aber ich denke, wenn was Besonderes vorliegt, muß man schon lieber seiner Schwester helfen als anderen.« Kennath zweifelte nicht an der Richtigkeit der ge gebenen Darstellung. »Gewiß«, stimmte er freundlich zu. »Ihre Verhal tensweise ist auch völlig verständlich. Wir machen Ihnen keinen Vorwurf daraus. Und was Ihre Schwe ster betrifft, so hat sie sich gewissermaßen selbst be straft. Es hat einen Unglücksfall gegeben.« Jeff Mayrick nahm die Hände aus der Tasche. »Einen Unglücksfall? Was ist mit ihr?« »Die Probe, die sie wegnahm, bestand aus einem explodierenden Stoff. Ihre Schwester ist tot.« »Tot? Teufel noch – du lieber Himmel, das dum me Ding. Sie hätte mehr von ihrem Leben haben können. Wissen es meine Leute schon?« Er war betroffen, aber nicht übermäßig erschüttert. Seine Schwester spielte in seinem Leben wohl schon lange keine Rolle mehr. »Noch nicht«, antwortete der Inspektor. »Sie wer den am besten sofort nach Hause gehen, um Ihre El tern vorzubereiten.« Jeff Mayrick nickte, nahm seine Mütze und ging stumm hinaus. 187
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James Warton empfing Sun Koh, hielt sich aber sehr zurück. »Ich komme eben von Ihrem Vater«, sagte ihm Sun Koh. »Sie wissen, daß er mir das Violan angebo ten hat?« »Ich hörte davon.« Das klang so abweisend und verschlossen, daß Sun Koh lächelte. »Sie sehen in mir einen Gegner. Deswegen will ich Ihnen erst einen Abriß dessen geben, was ge schehen ist. Die Aufzeichnungen Ihres Vaters wur den mir samt einer Probe des neuen Stoffes gestoh len. Der Diebstahl erfolgte durch zwei verschiedene Parteien, die gegenseitig nichts voneinander wußten. Die Papiere wurden durch einen Agenten wegge nommen, der inzwischen der Polizei übergeben wer den konnte. Die Papiere befinden sich wieder in meinen Händen. Zuvor wurde das Violan aus dem Schrank gestohlen. Der Dieb oder vielmehr die Die bin war die Frau Ihres Vaters, Mrs. Viola Warton!« »Auch das hörte ich bereits«, bemerkte James Warton gepreßt. »Die Beweggründe waren mir und der Polizei ziemlich unverständlich«, fuhr Sun Koh fort. »Ich suchte deshalb vorhin Ihren Vater auf. Während wir 188
uns unterhielten, gab es eine Explosion im Haus, de ren Opfer Mrs. Warton wurde.« Der junge Mann wurde blaß. »Ach, wollen Sie sagen, daß …« »Mrs. Warton ist tot«, bestätigte Sun Koh die Vermutung. »Und mein Vater?« Sun Koh drückte den jungen Warton auf seinen Sitz zurück. »Ihr Vater ist durch das tragische Ereignis natür lich stark betroffen worden. Er hat einen Nervenzu sammenbruch erlitten, befindet sich aber in guter ärztlicher Obhut. Er wird sich wieder erholen.« James Warton wollte sich wieder erheben. »Ich muß zu ihm gehen.« »Daran wird Sie niemand hindern, aber Sie kön nen ihm jetzt nicht helfen, und ich würde Wert dar auf legen, mich mit Ihnen auszusprechen.« »Ja, aber …« »Ich bringe Sie nachher in meinem Wagen nach Bolton«, schlug Sun Koh vor. »Sie kommen so im mer noch schneller zu Ihrem Vater.« »Gut«, fügte sich Warton, »das nehme ich an. Wie geht es Bill Dagger?« »Für ihn kamen die Ereignisse wohl am wenigsten unerwartet. Er schickte mich zu Ihnen, als ich ihn um die Beantwortung einiger Fragen bat.« »Ja?« 189
»Ich überschaue die Zusammenhänge noch nicht restlos. Ihr Vater hat das Violan erfunden. Es handelt sich dabei um das Ergebnis verwegener Experimen te, nicht um das planmäßiger wissenschaftlicher Ar beit. Das Violan besitzt vorzügliche Eigenschaften, hat aber den einen Nachteil, daß es nach drei Tagen explodiert.« »Das wissen Sie?« »Es war unter diesen Umständen nicht mehr schwer, es festzustellen, da ja Mrs. Warton daran starb. Sie hatte die gestohlene Probe in ihrem Zim mer aufbewahrt.« »Aber wie konnte das Violan explodieren? Mein Vater hat Ihnen doch sicher nicht eine Probe überge ben, die bereits zwei Tage alt war?« »Eben doch. Es ist ihm ein Versehen unterlaufen. Er wollte es später wieder gutmachen, aber da war die Probe schon fort. Mrs. Warton hat natürlich auch nicht mit einer so baldigen Explosion gerechnet, sonst hätte sie die Probe wohl einfach fortgeworfen.« »Gewiß.« »Die Beweggründe Ihres Vaters liegen klar. Er war – wenn ich mich so ausdrücken darf – dieser Frau hörig. Übermäßige Schulden und der verderbli che Einfluß seiner Frau veranlaßten ihn zu solcher Handlungsweise. Und seine Frau nahm die Probe an sich, weil sie fürchtete, der Betrug könne vor Aus zahlung des Kaufpreises entdeckt werden. Soweit ist 190
alles klar. Unverständlich ist nur noch Ihr Eingreifen und Ihre Stellung, zum Beispiel der nächtliche Be such bei Ihrem Vater. Ich bitte Sie, darüber offen zu sprechen.« James Warton nickte. »Ja, das will ich tun. Es hat ja keinen Zweck mehr, etwas zu verheimlichen. Eigentlich wollte ich weiter nichts, als die Katastrophe verhüten. Ich wollte mei nen Vater davor bewahren, dieser Frau wegen zum Verbrecher zu werden. Sie dürfen mir glauben, daß er immer ein Mann gewesen ist, der Hochachtung und Verehrung verdiente. Erst die Frau hat ihn zu allem fähig gemacht.« »Ich rechte nicht mit Ihrem Vater.« »Ich danke Ihnen dafür. Also, es begann damit, daß ich vor einigen Tagen meinen Vater besuchte. Ich hielt ihn für krank und wollte ihm helfen, nach dem wir uns anläßlich seiner Heirat getrennt hatten. Er erzählte mir bei dieser Gelegenheit, daß ihm eine große Erfindung gelungen sei. Er gab mir sogar die Aufzeichnungen über die Versuchsreihen und Analy sen in die Hand, so daß ich sie überlesen konnte. Ich muß nun einfügen, daß ich bis zu Anfang dieses Jah res der engste Mitarbeiter meines Vater war. Ich bin wissenschaftlich vorgebildet und mehr als irgendein anderer mit allem vertraut, was die Arbeit meines Vater betrifft. Ich darf sogar behaupten, daß gewisse grundsätzliche Erkenntnisse zunächst von mir ge 191
macht wurden. Als ich mich von meinem Vater trennte, verlor ich die Möglichkeit, praktisch weiter zuarbeiten. Ich habe aber gedanklich weiterentwik kelt und weitergearbeitet. Deshalb sagten mir die Aufzeichnungen meines Vaters außerordentlich viel. Vor allem fiel mir eine Kleinigkeit auf, aus der ich nun entnahm, daß mein Vater sein Ergebnis doch vielleicht nicht sorgfältig genug überprüft hatte. Es war da eine Unstimmigkeit, die mich einen Irrtum meines Vaters fürchten ließ. Anfänglich war das nur ein flüchtiges Stutzen, aber je länger ich darüber nachdachte, um so schwerwiegender erschien mir alles. Ich setzte mich daher am selben Abend noch mit Bill Dagger, dem Gehilfen meines Vaters, in Verbindung. Von ihm erfuhr ich dann auch die ganze Wahrheit, nämlich, daß der neue Stoff nur drei Tage Lebensdauer besaß.« Er machte eine Pause. Sun Koh wartete geduldig, bis er fortfuhr: »Bill Dagger sagte mir auch, daß mein Vater das Violan trotzdem zu verkaufen beab sichtigte, daß er also auf einem ebenso groben, wie gefährlichen Betrug ausging. Versetzen Sie sich bitte in meine Lage. Ich hielt es für zwecklos, mich mit meinem Vater auszusprechen, da er völlig unter dem Einfluß der Frau stand. Andererseits wollte ich ihn auch nicht zum Verbrecher werden lassen. Ich sah nur einen einzigen Ausweg – nämlich meinem Vater die bessere Erfindung unterzuschieben. Sie sollten 192
den Stoff kaufen, der das hielt, was Ihnen verspro chen worden war.« Sun Koh sah Warton aufmerksam an. »Soll das heißen, daß Sie die gleiche Erfindung ohne die Mängel der Erfindung Ihres Vaters gemacht haben?« James Warton fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Ich hoffte es, aber ich muß gestehen, daß ich wieder etwas unsicher geworden bin. Solche Sachen lassen sich eben schlecht übers Knie brechen.« »Sie erhoffen Erfolg von einer Wiederholung?« James Warton hob langsam die Schultern. »Ich sagte schon, daß ich unsicher geworden bin. Es scheint mir, daß diese Versuche doch noch zu sehr ein Glücksspiel sind. Man müßte erst noch aus führliche Vorversuche unternehmen, um den Erfolg zu unterbauen. Die Verhältnisse, die hier eine Rolle spielen, sind noch viel zu wenig erforscht. Wenn es nach mir ginge, würde ich jedenfalls lieber noch ei nige Jahre auf gründliche Vorarbeit verwenden, als einige Tage auf gewagte Spekulationen.« »Liegt es nicht an Ihnen? Ihr Vater wird es als selbstverständlich voraussetzen, daß Sie an seine Stelle treten.« Warton lachte kurz. »Das schon, und ich wäre sofort dabei, aber ich denke, daß von dem Labor meines Vaters nicht viel 193
übrig bleiben wird, wenn die Gläubiger erst zu stür men beginnen.« »Ich werde sämtliche Gläubiger befriedigen und Ihnen genügend Mittel zur Verfügung stellen.« James Warton drückte sich langsam hoch. »Meinen Sie das im Ernst?« »Ja.« »Und Ihre Gegenforderung?« »Das Vorkaufsrecht für zukünftige Erfindungen.« »Damit könnten Sie aber sehr schlecht wegkom men. Oder glauben Sie, daß ich nun waghalsig drauf los arbeite, um Ihnen einen Gegenwert zu bieten?« »Ich mache Ihnen das Angebot, weil ich von Ih rem wissenschaftlichen Ernst und von Ihrem Ver antwortungsbewußtsein überzeugt bin.« James Warton zögerte erst, dann streckte er seine Hand hin. »Gut, daraufhin will ich Ihr großzügiges Angebot annehmen.« Sun Koh erhob sich. »Ich freue mich darüber. Die Einzelheiten bespre chen wir noch. Jetzt will ich Sie zu Ihrem Vater bringen.« Damit schlossen die Ereignisse um das Violan ab. Viola Warton wurde begraben. Professor Warton schwebte viele Tage zwischen Leben und Tod. Er überwand die Krise, brauchte aber Wochen und Mo nate, um wieder leidlich zu genesen. Und dann war 194
er ein müder, stiller Mann, der nicht mehr die Kraft zur Arbeit fand. Sein Sohn James trat an seine Stelle und rechtfertigte sehr bald das Vertrauen, das Sun Koh in ihn gesetzt hatte. ENDE Bitte beachten Sie die Vorschau auf der nächsten Seite.
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Als SUN KOH Taschenbuch Band 22 erscheint:
Freder van Holk
Das Tal der Abenteurer
Sun Koh erblindet und Joan Martini befindet sich in der Gewalt Joan Garcias. Ein Palast wird gestürmt, und das Tal der Abenteurer gerät in Gefahr. Dr. Crage setzt Dr. Crage fest, und selbst die Polizei hilft dem Teufel. Aber Zipp at met, und Hal Mervin gibt keine Ruhe. Während der blinde Sun Koh ahnungslos an einer senk rechten Felswand absteigt, gellt fünfhundert Me ter unter ihm der Alarm im Tal der Abenteurer auf. Der Kampf gegen Garcias Banditen be ginnt. Er endet mit dem Sieg, und Sun Koh kommt rechtzeitig in die Hände des Arztes, aber Juan Garcia entflieht. Die SUN KOH-Taschenbücher erscheinen vier wöchentlich und sind überall im Zeitschriftenund Bahnhofsbuchhandel erhältlich.