Das neue Abenteuer 474
Hans Bach - Vierhundertachtzig Minuten
Verlag Neues Leben, Berlin
V 1.0 by Dumme Pute
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Das neue Abenteuer 474
Hans Bach - Vierhundertachtzig Minuten
Verlag Neues Leben, Berlin
V 1.0 by Dumme Pute
Mit Illustrationen von Karl Fischer ISBN 3-355-00090-6 © Verlag Neues Leben, Berlin 1986 Lizenz Nr. 303 (305/111/86) LSV 7503 Umschlag: Karl Fischer Typographie: Walter Leipold Schrift: 9 p Timeless Gesamtherstellung: (140) Druckerei Neues Deutschland, Berlin Bestell-Nr. 644 004 4 00025
Munitionsalarm, dachte Hauptmann Hans Werg, während er ein wenig Gas gab, den Wartburg geschickt aus der Garage lenkte, leicht holpernd über den Plattenweg durch das offene Gartentor zur Straße rollte, wo der Funkstreifenwagen mit zuckenden Blaulichtern, aber ohne Sondersignal bereitstand, ihm wie ein Lotse die Straßen frei zu machen. Eile tat not, denn wenn Munition gefunden worden war, solche, die im Erdreich steckte, dann war sie auch dabei berührt worden. Und da konnte es schon um Minuten gehen. Dem Streifenwagen folgend, verließ Hauptmann Werg die heimatliche Gegend, erreichte schließlich die Fernverkehrsstraße. Von jetzt an gellte das Martinshorn des Polizeiautos. Werg folgte dichtauf. Sie ließen die kleine Stadt hinter sich und fuhren immer der sinkenden Sonne entgegen, die die Frontscheiben rötlich aufleuchten ließ. So ein Mist, dachte Hans Werg, gerade das neue Bezirkskrankenhaus muß es treffen. Ein Stückchen Land, an dem der zweite Weltkrieg spurenfrei vorübergegangen war. Keine Kämpfe, keine Bombardements, nichts höchstens: der Bombennotabwurf eines angeschossenen Bombers . Werg erinnerte sich der Einweihungsfeier das imposante fünfstöckige Gebäude, strahlend weiß; der Ärztliche Direktor, den ganzen Nachmittag lachend, immer neue technische Einzelheiten nennend, eine Technik, die ihnen gestattete, nicht mehr reihenweise Patienten anderswohin zu schicken, von nun an würde man selbst die kompliziertesten diagnostischen und therapeutischen Methoden anwenden können. Das war noch nicht lange her. Danach hatte man begon-
nen, die Heiztrasse zum Großheizwerk zu bauen; sobald diese fertig ist, wäre er, Sprengmeister Werg, sowieso erschienen, um den Schornstein der alten Heizanlage umzulegen. Und beim Bau der Trasse, vor wenigen Stunden, hatten sie Munition gefunden. ,Einen ganz schönen Koffer", hatte man ihm gesagt. Ein ganz schöner Koffer, das konnte heißen: eine Bombe, eine Mine, ein Torpedo oder ein Objektzerstörer, wie die als Wunderwaffen deklarierten sprengstoffgefüllten Ungetüme des letzten Kriegsjahres genannt wurden. Als der Hauptmann das schmiedeeiserne Tor des Krankenhauses erreicht hatte, schaltete der Funkstreifenwagen seine Sondersignale aus, die Insassen grüßten ihn noch einmal wortlos und fuhren davon, ihrem weiteren Dienst entgegen. Werg passierte das Tor, sah die Schlange der Fahrzeuge, die, nicht sonderlich ordentlich geparkt, vor dem Verwaltungsgebäude standen. Mit seiner Werkzeugtasche unter dem Arm stand der Sprengmeister schließlich in dem hallenden Korridor, folgte dem Stimmengewirr und gelangte schließlich zu dem ,Konferenzzimmer", in dem man versammelt war. Als Werg den Raum betrat, als er ,'n Abend!" sagte, fand er kaum Beachtung. Mehrere Männer redeten aufeinander ein, versuchten sich gegenseitig von etwas zu überzeugen, tippten immer wieder auf ein und dieselbe Stelle einer ausgebreiteten Karte. Dann sah Werg Oberstleutnant Kladd von der Bezirksverwaltung. Der Offizier kam ihm entgegen, hob, als wollte er für die Diskutierenden um Verständnis bitten, leicht die Schultern und begrüßte Hans Werg durch Handschlag. ,Eine böse Geschichte", sagte der Oberstleutnant. Er führte den Sprengmeister zu dem Tisch, rief zweimal ,Einen Moment!", ehe die anderen begriffen hatten, daß jetzt der
Fachmann angekommen war. Stille kehrte ein. Irgendwer zündete sich eine Zigarette an. Das Streichholz knisterte. ,Der Neubau", sagte der Oberstleutnant, ,und hier, wo das rote Oval eingezeichnet ist, liegt sie." ,Direkt unter .", murmelte Werg. ,Wie denn das?" Ein hagerer Mann, er schien Werg hier um Jahre gealtert, trat auf den Sprengmeister zu. Der Ärztliche Direktor. Ohne sein Lachen, ohne den Stolz auf die neue Technik. Unruhig die Augen, Hilfe suchend. ,Ich war unten", sagte der Direktor, ,riesig ." ,Es sind alle Patienten draußen?" fragte Hans Werg und warf einen prüfenden Blick auf die Karte. ,Ja", antwortete der Ärztliche Direktor, korrigierte sich aber sofort wieder: ,Nein." Der Sprengmeister hob den Kopf. ,Also JA oder NEIN?" fragte er. ,Drei neurochirurgische Patienten konnten nicht verlegt werden. Das ging nicht", erklärte er, ,sie würden keinen Transport überstehen." ,Wo Munition ist", sagte Werg, ,darf kein Mensch sein. Vielleicht ist er schwierig, der Transport, aber er muß durchgeführt werden. Er muß . Wir stehen manchmal vor ganz ähnlichen Problemen . Da geht es auch um Menschenleben." Das letzte sagte der Sprengmeister leise. ,Können Sie immer das transportieren, was Sie wollen?" fragte der Ärztliche Direktor und rückte an seiner Goldrandbrille. Und als Hans Werg verneinend den Kopf bewegte, fuhr er fort: ,Sehen Sie, und wir können das auch nicht. Es gibt Transporte, die übersteht man nicht." ,Das sind Aussichten", Werg richtete sich auf, blickte den Direktor an, ohne ihn recht zu sehen, ,na ja - wenn meine Leute kommen, sie sollen warten. Ich bin im Keller." -
Die Bombe lag dort, wo zukünftig die neuen Heizungsrohre mit dem Neubau verbunden sein würden. Bei ebenden Ausschachtungsarbeiten war man auf den metallenen Fremdkörper gestoßen. Zwei Baulampen standen bereit, und Hans Werg schaltete sie an. Grelle Schatten, an tiefe Risse erinnernd, entstanden. Es war fast taghell. Sie steckte schräg in der Wand eines alten Fundaments. Ihr Bug wies nach oben. Nur wenig war von ihr freigelegt, das meiste wurde noch von der Erde verborgen. Der Zünder war mit einer feinen Erdschicht bedeckt, noch nicht erkennbar. Werg nahm einen Pinsel aus der Werkzeugtasche und begann damit vorsichtig die Erde vom Zünder zu entfernen. Ein metallener Konus kam zum Vorschein. Oben, an der Spitze, die Reste eines abgescherten kleinen Propellers. Werg fuhr sich das erstemal über die Stirn, obwohl er nicht schwitzte. Ein Zeichen für Unbehagen. Seine Augen bekamen einen ungesunden Glanz. Nur seine Hän-
de arbeiteten mit der gleichen Ruhe und Bedächtigkeit wie vorher. Oberhalb des zerfetzten Propellers war eine Schraubenmutter. Darunter war eine in einer zweiwandigen Metallfassung steckende Feder zu sehen. Der matt glänzende Metallkonus bildete mit der Bombe eine solche Einheit, daß Werg die Grenzen der beiden Teile nicht sah. Der Sprengmeister stieß hörbar die Luft aus, kratzte sich den Kopf, preßte die Lippen zusammen. Nein, dachte er, wir sind keine Gladiatoren, die um ihr Leben kämpfen müssen. Wir leisten Präzisionsarbeit. Unmögliches schaffen auch wir nicht .
Als Werg zum zweitenmal das Konferenzzimmer betrat, erwiderte er die Grüße der eingetroffenen Kollegen nur flüchtig. Er sah die Gesichter der Verantwortlichen, und er wußte, wie sie sich verändern würden, wenn er sagte, was er sagen mußte. ,Kippzünder achthundertfünfundvierzig", erklärte Werg halblaut, ,englisches Fabrikat. Seit neunzehnhundertdreiundvierzig im Einsatz durch die Royal Air Force . Wer weiß, vielleicht stand die Kiste schon in Flammen, als sie sich ihrer Last entledigt haben. Und jetzt ist sie hier." ,Wie lange werden Sie benötigen?" fragte der Ärztliche Direktor schnell. ,Wir haben Patienten verlegt, die Sauerstoff bekommen. Sie werden durch Flaschen versorgt." ,Dann müssen Sie schon einen Waggon Sauerstoff bestellen", riet der Sprengmeister, und seine Augen waren ungewöhnlich ernst, ,es gibt keine Antwort auf Ihre Frage ." Er ging an den anderen vorbei, trat ans Fenster und blickte hinaus, wo die sinkende Sonne die Baumkronen und die obersten Stockwerke des Neubaus rot beschien,
während sich der Himmel über dieser stummen Idylle glasig gelbgrün färbte. Werg hörte im Hintergrund jemanden telefonieren. ,In der von mir genannten Reihenfolge die Kontakte herstellen", sagte der Telefonierende, ,zuerst VEB Technische Gase und dann die umliegenden Krankenhäuser. Es geht um Sauerstoff." Der Ärztliche Direktor trat an das Fenster. ,Es wird lange dauern?" fragte er, und seine Stimme zitterte leicht. Werg drehte sich um, sah dem anderen gerade in die Augen. ,Der Kippzünder", entgegnete er gepreßt, ,ist unentschärfbar. Tief in seinem Innern, für uns unfaßbar, ist ein kleines Glas, zur Hälfte gefüllt mit Quecksilber. Und mit eingelassenen Kontakten. Die kleinste Bewegung, die feinste Erschütterung reicht, und das Ding geht hoch . Und Sie wollen die drei Patienten im Haus lassen?" ,Schaffen Sie sie doch fort", sagte der Mann, der für einen Atemzug lang seine Fassung verlor, ,übernehmen Sie die Verantwortung!" Eine gespannte Stille trat ein. Die beiden so unterschiedlichen Männer musterten sich schweigend, und jeder entdeckte an dem anderen Züge, die er nie mehr vergessen würde. ,Wir haben gar keine Chance, Chef?" fragte Kurt Lobig, einer der Männer des Hauptmanns Werg. Niemand kann uns zwingen, dachte Werg, wir alle haben Frauen und Kinder . Er dachte mit seltsamer Klarheit an seine beiden Töchter, dachte auch an den Nachruf, der in der Bezirkspresse stehen würde, und fragte sich: Und dann .? ,Schwerkranke", sagte er, sagte es dem Ärztlichen Direktor, ,und es gibt keine Möglichkeit? Wir könnten Ihnen Außenaufzüge besorgen ., erschütterungsdämpfende
Unterlagen. Sie meinen, es gibt keinen Weg?" Und er dachte daran, was dann, wenn es einen Weg gab, folgen würde: Fünf Etagen voller Technik müßten in kürzester Zeit ausgeräumt werden. Stück für Stück. Vom billigsten Stuhl bis zum tonnenschweren Röntgengerät. Von der Wandverkleidung bis zum Computertumographen. Von der eingetüteten Kanüle bis zum Fensterrahmen, um den Schaden so klein wie möglich zu halten. Und das andere? Die Arbeit, die Hoffnungen, die Zufriedenheit der Patienten . Und während des ganzen Ausbaus würde man dazu auf Zehenspitzen gehen müssen, denn die Bombe reagiert auf feine Erschütterungen und nimmt alles, was sich in ihrer Nähe befindet, mit . ,Im Augenblick", sagte Werg und horchte auf seine eigene Stimme, die ihm fremd in den Ohren klang, ,sieht es so aus, als wären wir ohne die geringste Chance. Im Augenblick . Ich gehe noch einmal nach unten." ,Chef, meldete sich Reuter aus dem Hintergrund, ,wir kommen mit."
,Ach", stieß Reuter ärgerlich aus, ,so ein Scheißding ist das. Die kennen wir ja schon. Haselgarten, unter dem Schweinestall." Das steinerne Gebäude war völlig zerfetzt worden. Ein nach Pulverdampf stinkender Krater war entstanden. Sie erinnerten sich daran, während sie schweigsam den fast nachtschwarzen Leib der Bombe betrachteten. Werg strich mit den Fingern die letzten Erdkrumen vom Zünder. Kurt Lobig rauchte. Siggi Reuter wickelte einen Bonbon aus. Lutschte. Aber in ihrem Innern, da waren sie hellwach, überwach. Hans Werg ging die Schnittzeichnung des Zünders, die in seinem Kopf klar wie in einem Lehrbuch
existierte, durch. Er prüfte gedanklich jedes Teil. Suchte eine Schwachstelle. Suchte den Punkt, von dem aus man sich Schritt für Schritt dem tödlichen Quecksilber nähern konnte. Aber der Konstrukteur hatte an alles gedacht. Er hatte den bösartigsten Zünder des zweiten Weltkriegs geschaffen. Chancenlos waren die Sprengmeister, die sich an ihm versucht hatten. Tot waren sie. Werg beherrschte alle Techniken, um Zünder unschädlich zu machen. Er hatte Bomben aufgeschnitten, den Sprengstoff herausgespült oder herausbrennen lassen, er hatte Löcher in Zünder gebohrt, Federn blockiert und dann die Zünder einfach abgeschraubt. Es gab viele Wege, den Tod in seine Schranken zu weisen. Aber nichts davon konnte den Kippzünder unschädlich machen. Die Minuten vergingen. Werg drehte den Kopf. Sah seine Männer prüfend an. Lange. ,Hat einer eine Idee?" fragte er, doch sie schwiegen. ,Nichts zu machen", sagte Peter Drechsler schließlich, ,da geht nichts." Jedes technische Gebilde, dachte Werg, hat eine Schwachstelle. Es gibt keine hundertprozentige Perfektion. Und diese Stelle gilt es zu finden .
Als Hans Werg aus dem Keller trat, begann sich die Dämmerung über das begrünte Krankenhausgelände auszubreiten. Die Kronen der Bäume wirkten fahl und staubgrau. Die Wege verschmolzen mit den Grasflächen zu einer einheitlich nebligen Fläche. Die ersten Sterne blinkten im Zenit. Werg ging schweigend um den Neubau herum, fand den tiefen Kanal, durch den die Rohre geführt werden sollten. Die Erdschicht über der Bombe, dachte der Sprengmeister, wird ungefähr zwei Meter dick sein. Wenn wir sprengen
müssen, muß diese Schicht weg sein. Die Bombe braucht Luft, damit ihre Wirkung klein bleibt. Im Keller werden wir alles verdammen. Mit vielen Tonnen Beton. Vielleicht . Hans Werg stieg in den Kanal hinab, maß in Gedanken den Freiraum, den die Bombe brauchte. Er kletterte wieder nach oben, fühlte, wie die Erdschollen unter seinen Schuhsohlen zerbröckelten. ,Peter", er wandte sich an Drechsler, ,sorg für Licht. Hier muß viel Licht her. Und holt Schaufeln und Spitzhacken. Schafft Platz. Aber Vorsicht! Die Lady da unten mag gar keine Berührungen. Da wird sie verrückt."
Im Konferenzzimmer des Ärztlichen Direktors herrschte gedrückte Stimmung. Als Werg, jetzt allein, eintrat, sagte niemand ein Wort. ,Herr Werg", sagte der Ärztliche Direktor, und der Sprengmeister hob bei dieser ungewohnten Anrede erstaunt den Kopf, ,ich bin telefonisch mit dem neurochirurgischen Chefarzt noch einmal die drei Fälle durchgegangen. Einen von ihnen verlegen wir. Aber zwei müssen bleiben. Der eine ist ein zwölfjähriges frischoperiertes Mädchen und der andere ein Kfz-Schlosser. Fünfundvierzig Jahre. Mehr kann ich nicht tun." Zwölf, dachte Werg, zwölf, wie Petra . Er konnte nicht anders, als sich einen langen Augenblick lang die eigene Tochter in dem Krankenbett vorzustellen, und er, der Vater, sagte: Sprengen! Verlegen! Verlegen das Kind und sprengen! Ferne Schweißperlen standen auf Wergs Oberlippe. Er wischte sie fort. Taktik, dachte er, Taktik des Ärztlichen Direktors, mir das Alter zu nennen . Gerade so, als würde ich dann sagen: Na, dann wollen wir mal zaubern,
und die Bombe ist entschärft . Werg wandte sich an den Oberstleutnant. ,Ich könnte Gehrd gebrauchen", sagte er rauh, ,bringst du das zustande?"
Blutrot versank die Sonne in den kahlen, schneebedeckten Gipfeln der Hohen Tatra. Zuckende Lichter hüllten die Bergspitzen ein. Der Himmel spannte sich endlos hoch und sehr hell über der Szenerie. Die Abendgesellschaft saß auf der weitgeschwungenen Terrasse des Hotels und genoß die milde Wärme des Abends. Man scherzte, erzählte über die Abenteuer des vergehenden Tages, trank sich zu. Ein wenig abseits von den anderen lehnte ein Mann an dem Stamm einer kräftigen Kiefer, betrachtete schweigend den Sonnenuntergang und genoß es offensichtlich, sich nicht unterhalten zu müssen. Er hörte irgendwo in weiter Ferne einen Motor. Eigenartig abgehackt. Sportflugzeug, dachte er zuerst, dann: Hubschrauber. Bergrettungsdienst sicher. Und dann tauchte der Mi auf, anfangs nichts als eine brummende Hummel mit zwei leuchtenden Augen. Wurde größer und größer. Der Lärm nahm zu. Näher und näher kam der Helikopter, zog eine weite Kurve und landete, Sand und Staub aufwirbelnd, auf der Wiese vor der Terrasse. Die Menschen erhoben sich, kamen interessiert näher. Der Kommandant des Hubschraubers sprang heraus, lief auf das Hotel zu, wo ihm zwei Männer entgegengingen. Und während sie noch miteinander sprachen, ging jener Mann, der an dem Baum gelehnt hatte, ruhig auf das Luftfahrzeug zu. Einer der beiden, die mit dem Hubschrauberkommandanten verhandelten, hatte den Mann entdeckt. ,Da geht
er", sagte er, und der Offizier wandte den Kopf. Er lief wieder los, holte den Mann ein und fragte: ,Genosse Gehrd?"
,Ja", antwortete der, ,wo brennt es denn?" Sie verschwanden im Innern. Die Tür schloß sich, und mit dröhnenden Motoren erhob sich der Mi und nahm Fahrt auf.
Es war stockdunkel, als Gehrd ausstieg. Überall standen Baulampen, die kleine Flächenstücke erhellten. Ein zweiter Helikopter, ein Kamow der Volkspolizei, stand nicht weitab von dem gelandeten Mi. Aus der Dunkelheit kam ein Mann auf Gehrd zu, der ihm bestens bekannt war. ,Paul", sagte Hans Werg und ergriff die Hand des Älteren, drückte sie. ,Was ist passiert, Hans?" Paul Gehrd erwiderte den Händedruck. ,Als es nach Norden ging, wurde mir ver-
dammt mulmig. Ich dachte schon ." Er sagte nicht, was er gedacht hatte. Er mußte es auch nicht. Hans Werg wußte sehr genau, was es bedeutet, in einen Bezirk gebracht zu werden, in dem ein anderer tätig ist. ,Ich brauche dich", sagte Werg, ,vielleicht schaffen wir es zu zweit." Und Hans Werg berichtete, worum es ging. ,Das habe ich immer gesagt", Gehrd machte eine ausholende Handbewegung, die alles einschloß, ,man sollte keinen Neubau beginnen, wenn wir nicht vorher da waren . Und es stimmt auch, was man mir geantwortet hat: ,Und wo nehmen wir die Leute dafür her?' . Es stimmt eben immer alles."
Im Konferenzzimmer gab es Kaffee. Sie erfuhren, daß zweihundert Flaschen Sauerstoff unterwegs waren. Währenddessen studierte Paul Gehrd, Wergs einstiger Lehrer in Sachen Fundmunition, die Karte. Hans Werg, dachte er, dein Meisterschüler ruft dich. So mag dies der Schlußpunkt meiner Laufbahn sein. In wenigen Monaten würde Gehrd berentet werden. ,Mann, liegt die günstig", schimpfte er, ,dort würde ich auch Sprengstoff deponieren, wenn ich das ganze Haus mit einemmal zu Fall bringen wollte . Und da sind noch welche drin?" Er hob den Kopf, suchte den Ärztlichen Direktor, der sich von seinem Stuhl erhob und zu den beiden Männern ging. ,Zwei", sagte der Ärztliche Direktor, ,zwei . Sie hängen an stationären Geräten. Absolut nichts zu machen." ,Und wenn man Strom von außen liefert", fragte Gehrd, ,und die Geräte loslöst und alles zusammen mit einem Kran herunterbringt?" ,Denken Sie im Ernst an so etwas?" Der Ärztliche Direktor rückte nervös an seiner Brille.
,Sie müssen am Leben bleiben", antwortete Paul Gehrd, und seine großen hellen Augen, die einen lebhaften Kontrast zu seiner dunklen, von tausend Fältchen überzogenen Gesichtshaut bildeten, unterstützten den Sinn seiner Worte, ,nur daran denke ich. Am Leben." ,Theoretisch ist das denkbar", stimmte der Ärztliche Direktor zu, ,allerdings klingt das im Augenblick allzu abenteuerlich." ,Es gibt noch andere, sehr abenteuerliche Sachen", sagte Gehrd, an alle gewandt, ,da unten im Keller ist ein altes Fundament. Und zugleich bekommt mein Kollege Hans Werg die Meldung, daß dieses Gebiet weder in Kampfhandlungen verwickelt war noch je bombardiert wurde. Ich hoffe nur, niemand wollte die zwei oder drei Tage Verzögerung einsparen, die es gekostet hätte, wenn wir vorher gekommen und alles nach Munition abgesucht hätten." ,Wir versuchen es", entschied Hans Werg, der diesen Aspekt der Angelegenheit noch gar nicht gesehen hatte, weil er ununterbrochen mit der Bombe und ihrem Teufelszünder beschäftigt war, Jetzt. Wir versuchen die Verlegung des leichteren Falls. Mit Kabeltrommel und Außenaufzug. Der schwerere Fall bleibt liegen, bis wir wissen, daß ein solcher Transport machbar ist. Mit Kran. Hubschrauber geht nicht."
Der ganze Keller war hell erleuchtet. Auch im Graben brannten grelle Baulampen. Unnatürlich klar ragten der abgescherte Propeller und der Bombenbug in die Luft. Paul Gehrds Blick blieb darauf haften. ,Der ist mir in der Praxis noch nicht begegnet", sagte Gehrd gedankenvoll, ,kennst du Einzelheiten?"
,Sicherungsvorstecker", erklärte Hans Werg ruhig und deutete auf die Stelle des Metalls, wo sich die genannten Teile im Innern befanden, ,Windrad, dreht sich und schärft den Zünder. Druckfeder für den Windflügel. Nut für die Rasten. Sicherungsspindel. Der Festlegering. Ringnut. Die Feder. Die Haltekugel und der Konus. Die innere Druckfeder. Die Trockenbatterie. Der Kontaktbolzen und der Brückenzünder. Das Herzstück: der Quecksilberkontakt. Der Verzögerungsring und die Kontaktplatte. Die Vergußmasse und der Schwarzpulverpreßling. Ende." ,Richtig", erinnerte sich Gehrd, ,richtig ., wohldurchdacht und tückisch. Und was hast du vor, Hans?" Hans Werg antwortete nicht. Er setzte sich auf eine Kiste, betrachtete die hell erleuchtete Bombe. ,Mindestens zwei Tonnen Sprengstoff hängen an diesem Zünder", sagte er statt einer Antwort, ,sieh dir nur die Schultern und Hüften unserer Schönen an . Ist sie nicht groß wie ein Oderkahn?" ,Und da kannst du verdammen, wie du willst", kommentierte Gehrd, ,die rüttelt das Haus wie ein mittelprächtiges Erdbeben durch. Es wird Risse im Mauerwerk geben. Statische Veränderungen in den Trägern. Den Kasten rettest du nicht durch Verdammen. Und wenn wir einen Teil des Sprengstoffs wegschwemmen?" ,Dachte ich auch schon", gab Werg zu bedenken, ,aber wenn bei der Fräserei das Quecksilber zittert, dann ., dann würden wir den fehlenden Zehntelmillimeter zum Kontakt überbrücken . Wenn man nur etwas sehen könnte ." ,Ja", stimmte Gehrd gedehnt zu, ,natürlich." Sie verstummten, dachten jeder für sich nach. ,Sag mal", Paul Gehrd fühlte mit einemmal so etwas wie Müdigkeit in
sich, ,warum hast du mich holen lassen? Ist die Niederlage von zwei Männern keine Niederlage mehr? Brauchst du ein Alibi?" ,Du hast oben", erinnerte sich Werg, ,bei dem Ärztlichen Direktor etwas gesagt, Paul. Einen unerhört wichtigen Satz. Du hast gesagt: Die beiden Patienten müssen leben . Als er mich fragte, ob ich die Verantwortung übernehmen würde bei einem Transport, da habe ich geantwortet: ,Es ist Ihr Problem.' Verstehst du, Paul . Das war so ein Gedanke, der wichtig ist. Ein einfacher, aber ebenso wichtiger Gedanke: Sie müssen überleben. Nichts weiter. Und so einen Gedanken brauche ich hier unten auch. Soll er simpel sein, wenn er nur weiterhilft. Und wenn ihn einer haben kann, dann du, Paul ." ,Du hast mich doch fachlich längst überrundet", antwortete Paul Gehrd leise und lächelte Werg zu, ,was soll ich für einen Gedanken haben, den du nicht vorher hattest." ,Zwei Punkte, Paul", überging Hans Werg die letzte Bemerkung, ,zwei Punkte sind da, um die es geht: das Trockenelement und das Quecksilber. Das Metall darf sich keinen Millimeter bewegen. Wenn man es festhalten könnte, hätten wir gewonnen. Man müßte also durch das Metall und die Vergußmasse hindurchfassen können. Das ist es." ,Hast du dich schon für ein Vorgehen entschieden?" fragte Paul Gehrd. ,Nein", sagte Werg, ,sie sind darauf eingestellt, daß wir sprengen müssen, und - sie warten alle auf dasselbe Wunder wie ich." Die Finsternis war undurchdringlich geworden. Nur einige erleuchtete Fenster, die grellen bläulichen Kreise der
Baulampen erhellten Teile des Geländes unwirklich. Werg und Gehrd gingen um die Ecke des Neubaus, näherten sich dem Graben. ,Hört hier draußen auf, sagte Werg, ,legt unsere Lady frei. Vollständig. Immer nur einer ist da. Die anderen sind weg. In Deckung. Und nur von oben freilegen. Sie braucht ihre stabile Auflage. Alles klar?" ,Klar, Chef, antwortete Reuter für die anderen, ,ist schon erledigt." ,Und noch etwas", Wergs Gesicht wurde fremd, ,achtet schön darauf, ob sie vielleicht noch einen Heckzünder hat. Bei solchen Wundertüten weiß man nie, was einen am anderen Zipfel erwartet." ,Ich gehe als erster", sagte Reuter und verschwand in dem Durchstieg zum Keller, während die anderen Männer die schräge Grabenwand nach oben kletterten und in der Dunkelheit verschwanden. ,Reuter ist mein bester Mann", sagte Werg leise zu Gehrd, ,es ist Zeit, daß ich ihn zum Sprengmeister mache. Ich verliere ihn dann zwar, aber der Junge muß auf eigenen Beinen stehen." ,Dann weißt du jetzt", antwortete ihm Paul Gehrd und lächelte melancholisch, ,wie mir zumute war, als ich dir zur bestandenen Sprengmeisterprüfung gratulierte. Auch das war ein Abschied." ,Der Ärztliche Direktor und ich", sagte Werg, den die Erinnerungen in seinen Gedanken störten, ,wir haben dasselbe Problem: Etwas soll bewegt werden und darf dabei auf keinen Fall seine Lage ändern." ,Und der da?" Paul Gehrd deutete auf den erleuchteten Kamow-Hubschrauber, der weitab auf einem Wiesenstück stand und in der Dunkelheit wie ein gewaltiges Insekt
aussah. ,Würde die Bombe ganz flach liegen", verwarf Werg den Plan, ,ganz waagerecht, vielleicht. Aber so ." ,Und ein Loch ins Glas bohren", dachte Gehrd laut nach, ,geht auch nicht, weil sicher bei Erwärmung die Dämpfe den Kontakt schließen." ,Haargenau", stimmte Werg zu. Sie betraten das Konferenzzimmer, in dem es Auseinandersetzungen gegeben hatte, denn niemand sprach, und es herrschte eine Nervosität, die Hans Werg augenblicklich fühlte. ,Doktor", wandte er sich an den Ärztlichen Direktor, ,Sie haben doch sicher im OP ein elektrisches Skalpell. Kann man das auch im Keller benutzen? Und: Kann man damit auch Metalle zerschneiden?" Ganz kurz war Hoffnung in dem Gesicht des Ärztlichen Direktors aufgeflackert, nun war sie wieder erloschen. ,Es ist stationär", gab er müde zur Antwort, ,und da hilft Ihnen auch keine Kabeltrommel . Und ob es Metall schneidet, weiß ich nicht. Darüber liest man verständlicherweise nichts in der medizinischen Literatur." ,Laser .", ging es Paul Gehrd durch den Kopf, ,die Frage ist nur: Was ist leichter, ein solches Labor hierherzubringen oder die Bombe in eine solche Anstalt zu überführen ." Er sah den Oberstleutnant fragend an. Der schüttelte nur stumm den Kopf, winkte ab. ,Das ist merkwürdig", faßte Paul Gehrd die Überlegungen der letzten Minuten zusammen, ,es gibt allerhand technische Möglichkeiten, aber man bekommt sie nicht an einem Ort zusammen. Es ist an der Zeit, daß wir uns mehr und mehr auf eine tragbare Technik konzentrieren . Was macht die Verlegung?" ,Im vollen Gange", erklärte der Ärztliche Direktor, ,der
Mann ist bereits über den Balkon abgesenkt. Samt Bett und der beiden wichtigsten Systeme. Er ist provisorisch in einem geräumten Zimmer der ehemaligen Verwaltung untergebracht. Scheint gut gegangen zu sein . Aber da ist noch das Mädchen ." Hans Werg verließ den Raum, verließ das Gebäude. Draußen stieß er auf seine Männer. ,Hier sind wir, Chef", sagte Lobig, ,Reuter ist noch unten." ,Alle fünfzehn Minuten wechseln", wies Werg an, ,und bloß nicht mechanisch buddeln, hört ihr, nicht müde vor euch hinwuchten. Wach sein." ,Geht schon in Ordnung", stimmte Lobig zu, ,er buddelt ja erst sechs Minuten." ,Sechs?" Werg betrachtete den anderen skeptisch, ehe er begriff, daß ihm jedes Zeitgefühl abhanden gekommen war. Er meinte nicht anders, als daß Reuter schon Stunden grub. ,Und wie sieht es drin aus?" fragte Lobig verhalten. ,Ich glaube", sagte Werg, ,es gibt Dinge, mit denen kann und darf man sich nicht abfinden . Und das da unten .", er deutete in Richtung Keller, in dem die Bombe lag und in dem ein Mann mit äußerster Vorsicht Erde und alte Ziegeltrümmer abtrug, ,das gehört dazu." Hauptmann Hans Werg ging den Hauptweg des Parks entlang. Er atmete tief die klare Nachtluft ein, lauschte auf die fernen Geräusche der Stadt und vernahm das Wispern des Windes in den Baumkronen. Er roch die sommerliche Erde, das Gras, die jetzt unsichtbaren Blumen rundum. Und er fühlte sich mit einemmal mit allem verbunden, fühlte sich nahe all den Menschen, die nicht weitab von ihm das taten, was sie immer machten. Ein einziger gewaltiger Herzschlag verband sie alle miteinander. So fühlte er.
Nein, dachte er, nein - ich gebe nicht auf. Es schien ihm sogar, als bewahre er mit dem Leben dieses kranken Mädchens das Leben aller Menschen dieser Stadt. ,Das elektrische Skalpell können wir vergessen", empfing ihn Gehrd, als Hans Werg in das Konferenzzimmer zurückkam, ,wir haben die Fachleute am Telefon gehabt. Nichts. Metalle werden spröde, erhitzen sich aber so stark, daß du auf ihnen Eier braten kannst. Darauf wartet das Quecksilber nur." ,Ja", sagte Hans Werg, unbegründet abweisend, Ja, das weiß ich." Er blieb noch einen Augenblick in der Tür stehen. Dann ging er, plötzlich müde und mit glanzlosen Augen, zum Tisch, goß sich Kaffee in eine Tasse. Er sah zu, wie sich der Kaffee in der Tasse drehte. Nahm einen Teelöffel und tauchte ihn ein. Die rotierende Flüssigkeit brach sich an dem Hindernis, erzeugte Wirbel und Strudel, warf flache Wellen zum Rand, die sich ihrerseits brachen und zur Mitte zurückwollten, aber allmählich träger und langsamer wurden. Schließlich verebbte die letzte Bewegung. Hans Werg hob den Kopf, sah den Technischen Direktor an. ,Haben Sie schon einmal einen kompakten Quecksilberblock gesehen?" Seine Frage klang undeutlich, wie abwesend. Etwas beschäftigte ihn. ,Nein", antwortete der Gefragte. ,Und du, Paul", Werg wandte sich an den Kollegen, ,hast du?" Der schüttelte nur den Kopf. ,Aber ich kann dir sagen, was Kinder tun, wenn ihre Taschenlampenbatterie runter ist und sie sie wieder halbwegs funktionsfähig haben wollen."
,Das weiß ich selbst." Hans Werg blickte wieder in die Tasse. Irgendein Gedanke saß ihm im Kopf. Er spürte es deutlich. Ein Gedanke, der wie eine undeutliche Hoffnung war. Aber dieser Gedanke ließ sich nicht fassen. Draußen polterte es. Kurz darauf kam der Posten vom Tor herein. ,Da ist ein Wagen, Genosse Oberstleutnant", meldete er, ,und der Fahrer behauptete, daß er erwartet wird." ,Hat er Sauerstoffflaschen geladen?" Oberstleutnant Kladd trat näher. ,Ja, er hat Flaschen", sagte der Posten. ,Wo sollen sie hin?" Der Oberstleutnant sah den Technischen Direktor fragend an. Der verließ zusammen mit dem Posten den Raum. Auch Hans Werg schloß sich den beiden an. Nur hatten sie draußen andere Wege. Werg ging zu den Munitionsbergern. ,Arbeit beenden", rief er Kurt Lobig zu, der gerade grub, ,los, aufhören. Komm hoch." ,Was ist denn los?" Die Silhouette Siggi Reuters näherte sich dem Lichtkreis. ,Sie bringen Sauerstoff für die Kranken", erklärte Werg, ,so lange laßt ihr hier alles, wie es ist. Geht ins Konferenzzimmer und trinkt einen Kaffee. Das tut gut." Die drei verschwanden, laut miteinander redend, in der Finsternis. Sprengmeister Hans Werg blieb am Graben stehen. Betrachtete das schwach schimmernde Metall, das wie der Buckel eines Wales aus dem Erdreich aufgetaucht war. Der Leviathan erscheint, dachte Werg, er taucht auf und zeigt seinen häßlichen Leib . Aber wir werden nicht erstarren. Noch nicht. Ein Block Quecksilber. Ein Würfel
. Das soll es nicht geben . Warum nicht? Warum nicht? Hans Werg hörte den Automotor hinter sich. Er sah die Scheinwerfer, die sich wie Finger vorantasteten. Dann stand der Sprengmeister im grellen Licht und gab Zeichen, daß der Wagen einen weiten Bogen machen sollte. Der Fahrer kam der Aufforderung sofort nach. Die Lichter wanderten zur Seite. Werg befand sich wieder im Dunkeln, das jetzt tiefer und undurchdringlicher schien. ,Warum nicht", murmelte er undeutlich und ballte die Fäuste. ,Na", Paul Gehrd war leise herangekommen und tauchte unvermittelt auf, ,wie sieht es aus?" ,So sieht es aus." Hans Werg deutete auf den schräg liegenden Rücken der Bombe. ,Wenn die losgeht, legen wir gleich noch das Schwesternwohnheim da drüben flach." ,Das meine ich nicht", sagte Paul. ,Ich schinde Zeit", Hans Werg sprach leise, ,ich schinde doch nur Zeit. Begreifst du das nicht? Ich habe keinen Einfall. Keine Idee. Das mit dem elektrischen Skalpell war das letzte, was mir einfiel. Mein Kopf ist leer. Aus. Nichts mehr. Hast du eine Rakete? Dann schießen wir die Bombe in die Luft, und da oben kann sie keinen Schaden anrichten. Jedenfalls, wenn sie erst in einigen hundert Metern Höhe losgeht ." Hans Werg stockte, überlegte einen Moment. ,Sag nichts", fügte er dann hinzu, ,ich spinne. Aber ich will noch nicht aufgeben. Ich will nicht." Er sah sich suchend um. ,Warum sind eigentlich die Wege dunkel", fragte er unerwartet, ,denken die, daß im Finstern eine Bombe nicht losgeht?" ,Laß sie doch", beschwichtigte ihn Paul, ,was soll's. Ob hell oder dunkel, ändert das etwas an unserer Hilflosig-
keit?" ,Da ist ja das verfluchte Wort", Hans Werg starrte unverwandt auf den Bombenkörper, ,Hilflosigkeit . Ich will nicht hilflos sein, verstehst du? Alles, aber das nicht," ,Dann bereite die Sprengung so vor", sagte Paul Gehrd knapp, ,daß der entstehende Schaden minimal bleibt." ,Beton", sagte Werg, ,zuerst Faschinen und dann Beton. Vielleicht sollte man ihn feucht lassen. Nicht erst trocknen. Und immer wieder Schichten von Ästen und Stroh dazwischen . Aber weißt du, wieviel Zeit wir überhaupt noch haben?" Sie gingen, ohne daß ein Wort zwischen ihnen fiel, erneut in den Keller. Blieben unmittelbar vor dem Windflügelrest stehen, der sie magisch anzog. Betrachteten das Zündoberteil. ,Sie hat alles überstanden", sagte Gehrd gedehnt, ,Bagger, Krane, tonnenschwere Lastwagen über sich. Sie hat alles überstanden ." ,Du meinst", fuhr Hans Werg fort, ,sie ist tot. Irgend etwas ist zerrissen. Blockiert. Du denkst, daß wir sie mit unserer Ladung überhaupt erst zu einer Bombe machen?" ,Wir sollten wenigstens versuchen", Paul Gehrd deutete auf die Stellen, an die er dachte, ,den Zünder wegzusprengen. Mit einer Metallsäge eine Bruchstelle schaffen und dann schräg weg das Ding!" Sie stiegen nach oben. Auf der Treppe zum Verwaltungsgebäude begegneten ihnen Lobig, Reuter und Drechsler. ,Der Kaffee war ordentlich", rief ihnen Lobig zu, ,wir machen jetzt weiter, denn der Lkw fährt hinten raus, haben sie gesagt. Der kommt nicht mehr bei uns vorbei."
,Gut", antwortete Werg in Gedanken, ,ausgezeichnet." Er wünschte in diesem Augenblick, daß die Treppe kilometerlang sein sollte. Viele Kilometer lang. Er wünschte sich Jahre, bis er bei den anderen war. In der mächtigen Eingangstür blieb er noch einmal stehen. ,Petra ist zwölf, sagte er zu Gehrd und meinte seine Tochter, ,die hat Sachen drauf, zum Totlachen. Aber dabei muß man ein ernstes Gesicht machen. Wegen der Autorität und so ." ,Ich weiß", Paul Gehrd lächelte verstehend, ,ich weiß." ,Das Mädchen da drin", der Sprengmeister deutete in Richtung Neubau ,das sie nicht transportieren können, das ist auch zwölf . Hast du das gewußt?" Paul Gehrd antwortete nicht. Schweigend gingen sie die letzten Meter bis zum Konferenzzimmer. Eisiges Schweigen empfing sie, als sie die Tür öffneten. ,Fünf Tieflader", sagte Oberstleutnant Kladd, ,und die
gesamte Mannschaft und die Technik eines Pionierbataillons stehen bereit, euch mit Material und Arbeitskräften beim Verdammen zur Seite zu stehen." ,Danke", antwortete Gehrd an Wergs Stelle und sah, ganz gegen seine Gewohnheit, niemanden an, ,dumm ist nur, daß der Druck von schräg unten gegen alle tragenden Teile des Gebäudes wirken wird . Was ist mit dem Patienten?" ,Er mußte reanimiert werden", sagte der Ärztliche Direktor dumpf, ,wegen des Fahrstuhls. Da bekamen sie keinen Strom durch. Aber wir hatten Erfolg, er lebt. Nur, ob das mit dem Mädchen auch so glimpflich ablaufen wird? Doch wir werden sie schon irgendwie wegbringen." Hans Werg ließ sich auf einen Stuhl fallen. Paul Gehrd öffnete ein Fenster. Rauchschwaden zogen nach draußen, und frische Abendluft strömte herein. ,Sprechen wir es aus", sagte Paul Gehrd vom Fenster her, ,wir müssen sprengen. Es hat keinen Sinn. Wir können die Bombe nicht bewegen und kommen auch nicht an sie heran. Das Gebäude ist nicht zu retten. Es muß geräumt werden. Vollständig und schnell." ,Und wie stellen Sie sich das vor?" Der Technische Direktor sprang auf. ,Sie sind der Technische Direktor", sagte Gehrd eisig, ,das zu wissen ist Ihre Aufgabe und nicht meine. Aber wenn Sie es nicht wissen, gebe ich Ihnen einen Tip: Im Stadtkern ist eine Großbaustelle. Dann haben wir auch noch eine Unterkunft mit Bereitschaftspolizei. Da hat jeder seinen Facharbeiter. Und die Pioniere, die uns ihre Unterstützung zugesagt haben ." ,Und wieviel Zeit kalkulieren Sie dafür ein?" Der Ärztliche Direktor blickte über seine Brille hinweg.
,Es ist jetzt einundzwanzig Uhr achtundzwanzig", antwortete Hans Werg, ,um fünf Uhr früh darf nur noch das Mauerwerk des Hauses übrig sein. Länger kann ich nicht warten. Punkt fünf Uhr dreißig zünde ich." ,Fünf Uhr dreißig ." Der Ärztliche Direktor senkte den Kopf, blickte aus stumpfen Augen auf die helle Tischdekke. Hans Werg tauchte unerwartet am Graben auf. Da saß Reuter am Rand, während Drechsler schachtete. ,He", Werg stieß Reuter an, ,was ist denn hier los? Arbeiten wir ab jetzt ohne Sicherheitsabstand?" ,Hören Sie, Chef, Siggi Reuter lächelte, ,ich werde doch bestimmt einmal Sprengmeister, was? Und da will ich sehen, wie andere schuften. Sie haben auch keine Ruhe. Außerdem sind eine Schwester und ein Arzt da hineingegangen." Er zeigte auf den Neubau, der in der Finsternis himmelhoch aufragte. ,Ach so", sagte Werg, lief um das Gebäude herum und betrat es. Fuhr mit dem Fahrstuhl in die erste Etage. Die blauen Notlichter wiesen ihm den Weg. Dann orientierte er sich an den leisen Stimmen, die in der Verlassenheit des Gebäudes schwach heranwehten. Der Sprengmeister folgte den Lauten, und als er um eine Ecke bog, stand er vor einer Glasscheibe, einer jetzt offenen Glastür. Er sah den Arzt, der mit übereinandergeschlagenen Armen der Schwester zusah, die mit einem dünnen Schlauch etwas aus dem Mund der Patientin absaugte. Die Patientin war ein Mädchen mit einem dicken Kopfverband. Sie lag das Gesicht schneeweiß, die Lippen tiefrot und ebenso abstechend die dichten schwarzen Wimpern und Brauen - halb auf der Seite. Schlief. Ihr rechter, im blauen Licht ungemein zierlich wirkender Arm war schräg wegge-
streckt, die Handinnenflächen nach oben gekehrt. Ihre Hand war schlank, schien gläsern zerbrechlich. In dem Augenblick fuhr der Arzt herum. ,Wer sind Sie denn?" Seine Frage stand wie ein Keil zwischen ihnen. ,Der", antwortete Werg, ,der nicht verhindern kann, daß dieser Neubau zu Bruch gehen wird." ,Was können Sie denn dafür", die Stimme des Arztes klang nun warm, fast mitleidig, ,Sie haben das Ding doch nicht abgeworfen. Aber es ist trotzdem . Wir haben lange auf den Neubau gewartet . Wir haben uns in den alten Häusern rumgequält. Viele schwere Fälle gingen nach Berlin. Weil uns die Apparaturen fehlten. Und jetzt konnten wir es selbst machen. Fast alles . Das Mädchen hier ist beim Sport zusammengebrochen. Tumor. Vielleicht wäre sie nie lebend in Berlin angekommen. War auch nicht nötig. Wir sind rangegangen. Wir. Das Hirn haben wir unterkühlt, damit die Blutung auf ein Minimum beschränkt blieb, und wir haben es wohl geschafft. Bis hierher. Und jetzt soll sie transportiert werden ." Die Schwester beendete ihre Arbeit, stellte die Pumpe ab. ,Ich bin fertig", sagte sie, ,kommen Sie mit, Doktor?" ,Ich komme nach", antwortete ihr der Arzt und sah der davoneilenden Schwester hinterher. ,Was haben Sie gemacht?" Hans Werg trat näher an die Liegende heran, nahm ihre Hand in die seinen, blieb einen Moment so stehen. ,Was meinen Sie mit ,Was haben Sie gemacht'?" fragte der Arzt. ,Die Operation", erkundigte sich Werg und gab die Hand des Mädchens frei, ,Sie haben vorhin etwas gesagt, was ich nicht weiß."
,Ach so", der Arzt lächelte, ,wir haben das Hirn unterkühlt. Haben das Blut träge gemacht und die Verblutungsgefahr gesenkt." Hans Werg betrachtete kopfschüttelnd das schlafende Mädchen. ,Ich habe zu Hause auch so eine", sagte er knapp, ,aber ich muß wieder runter." ,Ich komme mit." Der Arzt schloß sich ihm an, und sie gingen nebeneinander den Gang entlang, ließen die Aufzugtüren hinter sich, stiegen die breite Treppe nach unten. In der Dunkelheit trennten sich ihre Wege. Der Arzt steuerte auf die flachen, fernen einstöckigen Gebäude zu, die den Patienten nunmehr als Notunterkunft dienten.
,Alles halt!" Hans Werg stand in der Tür des Konferenzzimmers, hörte, wie die vier Männer, die gleichzeitig telefonierten, ,Einen Moment!" sagten, sah, wie sie die Hörer senkten und zu ihm hinblickten. ,Bitte unternehmen Sie noch nichts", sprach er längsam weiter, ,noch keine Räumkommandos. Noch keine Verdammung. Warten Sie ." Die Telefonate wurden nach einer kurzen Erklärung beendet. ,Ich habe einen Einfall", sagte er, ,vielleicht ist etwas zu machen. Ich muß mit Paul sprechen."
Als Werg nach draußen ging, waren zwei Gedanken in ihm: Ich kann dir sagen, hatte Paul gesagt, was Kinder tun, wenn ihre Taschenlampenbatterie runter ist - war der eine Gedanke. Der andere: Wir haben das Hirn unterkühlt. Haben das Blut träge gemacht. Diese Gedanken jagten durcheinander, wurden wirr. Dahinter aber entstand etwas, tauchte etwas auf. Ein Silberstreif Hoffnung. Wie, wie .,
wenn man alles unterkühlte. Den Kopf der Bombe. Das Quecksilber erstarren lassen. Der Metallblock. Und das Trockenelement totfrieren. Bis es keinen Strom mehr liefert. Kein Strom und starres Quecksilber. Das war es doch . Und dann: In rasender Eile den Zünder raus. Weg von der Bombe damit. Irgendwo nach vorn in den Graben werfen. Es knallt leise, und alles ist ausgestanden. Wenn das gehen würde . Hans Werg traf Paul Gehrd am Graben. ,Läuft die Evakuierung?" Gehrd sah Werg fragend an. ,Nein, Paul", antwortete der, ,ich habe es noch einmal gestoppt." ,Das geht nicht", sagte er schroff, ,man muß Realist genug sein, um auch zu wissen, wo man aufgeben muß. Du verschenkst Zeit. Wertvolle Abbauzeit. Und machst dich da drinnen unglaubwürdig." ,Mensch, Paul", Hans Werg sah seinen Lehrer im Dunkeln an, ,ich habe manchmal zu meinen jungen Leuten gesagt, wenn ihnen partout nichts einfiel: Ich kenne da einen jungen Burschen, der ist jetzt dreiundsechzig . Und ich meinte das auch so. Aber was du eben gesagt hast ." Er hielt inne. ,Du wolltest sagen", fuhr der andere hart fort, ,ich bin alt geworden. Tief drinnen. Das wolltest du sagen ." ,Ich habe einen Gedanken", Werg brachte die Unterhaltung in eine andere Richtung, ,uns stört die Beweglichkeit des Quecksilbers und das Trockenelement. Das stört uns doch. Stell dir vor, wir frosten alles ein. Mit flüssiger Luft. Machen das Element tot. Und das Quecksilber wird starr. Fest. Unbeweglich. Zieht sich sogar etwas zusammen." Paul Gehrd sah Hans Werg lange schweigend an. ,Ich wußte doch", seine Stimme war wieder versöhnlich, ,daß
ich ein Genie unter meinen Schülern hatte. Ich wußte es, Hans."
Die Sterne schienen milchig trüb am Nachthimmel. Eine feine, kaum wahrnehmbare Wolkenschicht hatte sich vor sie geschoben. Der Wind erstarb. Es war endlos still. Der zunehmende Mond stand jetzt über dem Dach des Verwaltungsgebäudes. Hans Werg blickte nach oben, sah sich um. So stand er, noch ohne jeden Zeitbegriff, und nahm das feine Leuchten in sich auf. Stand scheinbar gedankenlos. Stand immer noch, als Paul Gehrd angelaufen kam. ,Minus sechzig Grad", sagte Paul, schwer atmend, ,minus sechzig Grad reichen, um alle Trockenelemente dieser Welt leer werden zu lassen. Bei minus siebzig Grad müßte Quecksilber fest wie Beton sein. Das sind doch erreichbare Werte, Junge. Das schaffen wir!" ,Wir brauchen also flüssige Luft", Hans Werg wandte den Blick von den Sternen ab, sah dem anderen gerade in die Augen, ,ungeheure Mengen davon. Und wir müssen eine Tüte oder einen Maulkorb für die Bombe basteln, damit die flüssige Luft da bleibt, wo sie sein soll. So lange, bis alles kalt, starr und tot ist. Und dann den Zünder runter und wegwerfen . Wir machen das." ,Und das Mädchen?" Gehrd deutete auf das erleuchtete Fenster im ersten Stock des Neubaus. ,Sie wird mir zusehen", sagte Werg, ,sie hat ein Recht darauf." Er hielt inne. Ein mächtiger Motor begann zu arbeiten. Lichter zuckten auf. Der Kamow erwachte zum Leben. Schneller und schneller begann sich die Luftschraube zu drehen. Der Helikopter hob ab, blieb einige Sekunden in
der Standschwebe und stieg dann schräg nach vorn auf. Als er, Laub und Staub aufwirbelnd, über Gehrd und Werg hinwegbrauste, deutete letzterer mit der Hand nach oben und hob fragend die Schultern. ,Flüssige Luft", schrie Paul Gehrd ihm zu, ,er holt sie. Schneller geht es nicht."
Als sie den Konferenzraum betraten, war der Ärztliche Direktor schon neben der Tür. Seine Augen glänzten fiebrig. Der Technische Direktor trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte. Oberstleutnant Kladd stand neben dem offenen Fenster. ,Wir brauchen eine Tüte mit dickem Bauch", sagte Werg, ,aus einem dünnwandigen Material. Metall. Unten mit einem aufklappbaren und fest abzudichtenden Ring. Das Ding muß genau um die Bombe passen." Der Technische Direktor benutzte einen der Hausapparate. Am anderen Ende meldete sich eine verschlafene Stimme. ,Nimm dir noch Peter", sagte er, ,und geht sofort zur Werkstatt. Da kommen zwei Männer, die werden euch sagen, was ihr bauen müßt. Sofort ." Dann legte er auf, wandte sich an die Anwesenden. ,Gleich geht es los", verkündete er lächelnd, ,die bauen euch alles, was ihr braucht." ,Und was ist mit dem Mädchen?" Der Ärztliche Direktor stand direkt vor Werg. ,Lassen Sie sie, wo sie ist", antwortete der. ,Gibt es hier eigentlich nichts zu essen", erkundigte sich der Technische Direktor, ,ich habe plötzlich Hünger. Ungeheuren Hunger." Wieder benutzte er den Hausapparat. ,Ja", rief er ins Telefon, ,mach uns ein paar Bockwürste. Und bring Buletten. Und Brot."
Hans Werg und Paul Gehrd konnten sich an der erleuchteten Werkstattür orientieren. Sie traten ein, sahen sich zwei Männern gegenüber, deren zerzauste Haare ebenso wie ihre verschlafenen Augen davon zeugten, daß sie noch müde waren. Einer der beiden rauchte. Der andere saß auf einem Stuhl. ,'n Abend", sagte Hans Werg, und Gehrd schloß sich dem Gruß an. ,Gute Nacht ist passender." Einer der Männer gähnte. ,Also, Leute, wo brennt es?" Hans Werg erklärte, so genau es ging, was er meinte. Die Schlosser nickten. Begriffen. Erkundigten sich nach Maßen und Spielräumen. Werg hatte alle Maße im Kopf, beantwortete präzis alle Fragen. Als die Schlosser mit der Arbeit begannen, war ihren Händen nichts mehr von der Müdigkeit anzusehen. Schnell und geschickt bogen sie Drähte, schnitten Bleche zu, verbanden, was zueinander sollte, entrosteten und ölten das Scharnier, bevor sie es an den Bandstahl punkteten. Schweigend sah ihnen Hans Werg zu. Paul Gehrd saß nun auf dem Stuhl, auf dem der Schlosser bei ihrem Eintritt gesessen hatte. ,Und ich dachte", sagte einer der Schlosser unerwartet, ,daß das alles schon längst erledigt ist . Es war so still am Abend." ,Hm", machte Werg mechanisch. Als das gleißende blaue Licht des E-Schweißgerätes aufzuckte, schlossen Werg und Gehrd wie auf Kommando die Augen, blieben so. Entspannt. Hoffentlich, dachte Werg, funktioniert das so, wie ich es mir vorstelle. Auch als das Schweißgerät verstummte, blieb der Sprengmeister so sitzen. Erst als einer der Schlosser ,Zu-
frieden?" sagte, öffnete er die Augen, zog sich ein Paar herumliegende Schutzhandschuhe an und nahm die Tüte in die Hand. Prüfend drehte er sie in alle Richtungen, zog und drückte, klappte den runden Bandstahl auf und zu und sagte nach einer geraumen Weile: ,Hier. Hier solltet ihr es auch noch anpunkten. Ist besser." Noch einmal erklang das durchdringende Knacken und Fauchen, dann wurde es still. ,Sag mal", Paul Gehrd deutete auf die Schutzhandschuhe, ,können wir die vielleicht mitnehmen? Wir haben nachher mit flüssiger Luft zu tun." Schweigend reichte einer der Schlosser dem Sprengmeister zwei Paar Handschuhe. Mit den Materialien bepackt, verließen sie die Werkstatt. Ein feiner Nebel stieg vom Boden auf, machte die Wege unkenntlich. Es wurde deutlich kühl. Die Sprengmeister gingen langsam, vorsichtig, suchten mögliche Hindernisse mit den Füßen zu spüren. Sie orientierten sich nach dem einen blauen Licht in dem Neubau und den Scheinwerfern am Graben. Als sie bei den Munitionsbergern eintrafen, kamen die ihnen entgegen. Die Bombe war weitgehend freigelegt. Ein schmaler Durchbruch reichte von draußen in den Keller des Gebäudes. ,Wunderbar", sagte Hans Werg, ,ausgezeichnete Arbeit. Geht ins Konferenzzimmer. Da gibt es Bockwurst und Kaffee. Macht es euch gemütlich." Er blickte den dreien, die vor Erschöpfung schweigend und langsam davongingen, noch einige Sekunden hinterher. Dann wandte er sich an den einstigen Lehrer. ,Jetzt kann man es sehen, Paul", sagte er, ,zwei Tonnen Sprengstoff unter ebensoviel Stahl ." Sie verließen den Graben, betraten den Krankenhausbau, gingen in den Keller hinunter.
Hans Werg schlug mit vorsichtigen Schlägen den ersten Metallfuß ins Erdreich. Dann den zweiten. Verband die beiden mit den Querstreben, die er festzog, bis es nicht mehr ging. Danach versenkte er das dritte Metallbein in den Boden. Fügte dies mit den anderen zusammen. Jetzt kam das Schwierigste: Er mußte die mächtige Metalltüte über den Bombenkopf heben, sie hinablassen und schließlich mit dem stationären Dreibein verbinden. ,Warte", sagte Gehrd, ,ich fasse an." ,Nein", Hans Werg schüttelte den Kopf, ,du faßt nicht an." Er balancierte vorsichtig, ließ die Tüte hinab und staunte, wie gut sie paßte. Nur an einer Stelle war ein Schlitz, den er mit etwas Erde abdichtete.
In der Stille der Nacht war der Helikoptermotor schon weit zu hören. Hans Werg, der immer wieder die Festig-
keit und vor allem die Kippsicherheit der Konstruktion prüfte, trat an den Kanaldurchbruch und blickte hinaus. ,Ich gehe", sagte Paul Gehrd und legte Werg die Hand auf die Schulter. Ihr uraltes Zeichen, was soviel bedeutete wie: Ist alles in Ordnung, auch wenn es nicht so aussieht. Paul Gehrd machte sich dünn, zwängte sich durch den Ausstieg, ging neben dem massigen Bombenkörper durch den Kanal und begann wenige Meter weiter den Aufstieg. Ein Scheinwerfer glitt über die Ausschachtung, und mit dröhnenden Rotorblättern zog der Kamow dicht an ihnen vorbei. Flüchtig sah Hans Werg, daß mehrere Gestalten wer es war, konnte er nicht ausmachen - in dieselbe Richtung liefen. Dorthin, wo der Hubschrauber landete. Hans Werg schaute zu, wie der Hubschrauber rasch an Höhe verlor, dann hinter dem Dach eines Gebäudes verschwand. Nur noch der Motor dröhnte. Der Sprengmeister wandte sich der Konstruktion zu. Er trat das Erdreich rund um die drei Metallfüße fest. Immer wieder. Vorsichtig und doch kräftig. Behutsam versuchte er an dem Dreibein eine Ortsveränderung vorzunehmen. Es ging offensichtlich nicht mehr. Alles war nun haltbar und sicher. So, wie es sein mußte. Von draußen her erklang erneut der Motor. Nicht so laut wie beim erstenmal. Aber das Geräusch füllte alles aus. Sie hatten den Hubschrauber diesmal in größerer Entfernung vom Neubau abfliegen lassen. Vielleicht wegen der Bombe. Oder wegen des kranken Mädchens. Gleichzeitig erklangen Schritte auf der Kellertreppe. Hans Werg hob den Kopf, blickte den Gang entlang. Zuerst tauchte Paul Gehrd auf. Lächelnd. Zwei Thermophoren mit flüssiger Luft in der Hand. Ihm folgten Lobig, Reuter, Drechsler. Auch von ihnen hatte jeder zwei Thermophoren. Sie ka-
men, stellten die Gefäße ab. ,Einen Moment, Chef", sagte Reuter, ,ich hole noch schnell die beiden letzten." Er lief nach draußen. Kam Minuten später keuchend zurück. Zehn Thermophoren mit flüssiger Luft, zehn Gefäße, aus denen es weißlich dampfte, standen also bereit. Dazu drei Paar Schutzhandschuhe, die der VEB Technische Gase auch noch mitgeschickt hatte, wohl wissend, daß man so etwas nicht herumliegen hat. Lobig, Reuter und Drechsler gingen. Werg sah ihnen hinterher. Er blickte skeptisch. ,Sie sind nicht überzeugt", wandte er sich an Gehrd, ,daß wir Erfolg haben. Hast du ihre Gesichter gesehen?" ,Ist eine komische Vorstellung", antwortete Gehrd, ,mit einer Eiswaffel eine Bombe in ein Spielzeug zu verwandeln. Findest du nicht?" ,Aber Reuter", beschwerte sich Werg, ,Reuter müßte es begreifen, daß es weder Hokuspokus noch ein Selbstmordunternehmen ist. Er sieht doch technisch durch." Er hob die Rechte, wollte sie Paul zum Abschied geben. Der faßte kräftig zu und hielt sie fest. ,Mich hat mal einer weggeschubst", sagte er, und in seinem Gesicht erschien ein Zug, der ihn abwesend, vielleicht ein wenig traurig erscheinen ließ, ,das ist unheimlich lange her. Ich war noch ziemlich klein. Und da habe ich mir vorgenommen: Dich schubst nie wieder einer weg, wenn du es nicht willst. Bisher hat es geklappt. Warum sollte es jetzt nicht mehr gehen?" Und mehr noch als seine Worte war der kräftige Druck seiner Rechten die Zusage hierzubleiben. ,Es ist gegen die Vorschrift ." Hans Werg lächelte ein wenig.
,Ja, die Vorschrift", antwortete Paul, ,die Vorschrift besagt: Das Mädchen im ersten Stock muß leben bleiben. Das ist die Vorschrift, und nur so kann sie gemeint sein. Sie besagt auch: Du mußt am Leben bleiben. Ich muß am Leben bleiben. Das Gebäude muß erhalten werden. Das alles steht in der Vorschrift. Und danach richten wir uns, und davon weichen wir kein Jota ab. Und wenn du mir nicht glaubst, dann frage Kladd. Und nun los, keine Mattigkeit vortäuschen. Fangen wir an. Da liegen die Handschuhe." Die Handschuhe reichten ihnen bis zu den Ellenbogen hinauf. Im Keller war es jetzt drückend warm. Feine Nebelschwaden zogen am Durchbruch nach innen, schlugen sich als Millionen Wassertropfen an der Bombe, den Wänden und dem Gestell nieder. ,Das ist hier wie in einem Gewächshaus", murrte Werg. Paul Gehrd schnaufte bestätigend. Die schlanken Leuchtröhren an den Kellerwänden zeigten ihnen das vielfältige nächtliche Leben. Kanker huschten über die geweißten Wände, und Asseln bewegten sich wie winzige Fernlenkautos an Bauschutt und den Werkzeugen entlang. Nachtfalter umgaukelten gemeinsam mit einigen Fliegen die Baulampen, deren helles Licht die Nebelstreifen am Durchbruch zu phantastischen Figuren und Gestalten werden ließ. Die Stille war nunmehr vollkommen. Die Zeit schien stillzustehen. Hans Werg stand neben Paul Gehrd, der eine Zigarette rauchte. In diesem Licht, umgeben von den eindringenden feinen Schwaden, die Tüte auf dem Bug, sah die Bombe
wie ein Wal aus, den eine Woge aus dunkler Erde hereintrug. Gefährlich hatte er sein Maul aufgerissen und war mitten in dieser gierigen Bewegung erstarrt. Schien vorübergehend leblos und unbeweglich. Aus den Thermophoren drang Dampf, der, von der Wärme der Heizungsröhre und der Lampen angezogen, wie flache Wolken den Gang entlangzog. ,Also los", sagte Hans Werg, ,nehmen wir die Schutzbrillen auch noch. Wäre doch gelacht, wenn man uns noch erkennen soll." Die Brillengläser beschlugen ihnen sofort. Abwischen half kaum etwas, denn man verschmierte sie nur. Hans Werg spähte durch zwei große Wassertropfen hindurch. Da sah er alles klar, wenn auch stark verkleinert. Vorsichtig schraubte er von der ersten Thermophore den Deckel, der an einem Kettchen hing. Er hob das Gefäß hoch, ging zu der Bombe, stellte sich da auf Zehenspitzen und goß ganz vorsichtig den Inhalt hinein. Es sah aus, als brodelte und kochte die flüssige Luft in der Tüte. Schwaden, jetzt mächtig und sanft über den Rand fließend, bildeten sich ununterbrochen. ,Möchte nur wissen", sagte er unwirsch, ,wieviel eigentlich in die Tüte paßt." Werg merkte es, als die ersten Spritzer zu Boden fielen, dort zischend und zuckend neue Nebelgebilde erzeugten. Er setzte den Deckel nur provisorisch auf und blieb neben der Konstruktion stehen. ,Die Tüte ist tatsächlich dicht", rief er Paul Gehrd zu, während er gebückt dastand und genau beobachtete, was nun geschah. Er trat zurück, erreichte Gehrd und lächelte. Dann zog er sich den linken Handschuh aus, schob den Ärmel der Kombination nach oben, blickte auf die Uhr. ,Null Uhr zweiundzwanzig, was denkst du, wie lange
müssen wir das Zeug wirken lassen, ehe wir loslegen können? Ist schon ein seltsames Gefühl, daß wir nur einen Versuch haben." Paul Gehrd wußte, wie das ist. Doch er antwortete nicht. Sprengmeister arbeiten sonst immer allein. Was sie sagen, laut denken und fluchen, hören nur sie selbst. ,Das Zeug riecht nicht schlecht", meldete er sich erst nach einer Weile, ,mir kömmt es vor, als ob es mich erfrischt. Gibt es so etwas eigentlich?" ,Stimmt", Hans Werg lehnte sich gegen die Wand, ,es erfrischt. Vielleicht ist viel Sauerstoff dabei." Sie beobachteten die dahinziehenden Schwaden, die tiefer und tiefer in den Kellergang hineinzogen. ,Paß auf, Paul Gehrd deutete auf die Dampffetzen, ,ich gehe und besorge einen großen Ventilator. Noch eine halbe Stunde - und wir stehen im Dunkeln. In undurchdringlichem Nebel." Er wartete keine Antwort ab, drehte sich um und ging durch den Kellergang davon. Verschwand hinter einer Ecke. Seine Schritte verhallten, und es wurde still. Hans Werg nahm die bereits geöffnete Thermophore und kehrte zurück zu der Bombe. Goß ganz vorsichtig nach. Sehr sacht. Als der erste Tropfen, eine lange weiße Spur hinter sich herziehend, auf den Boden klatschte, nahm er die Thermophore nach unten, schraubte den Deckel zu, stellte sie ab. Hans Werg stand hinter den Baulampen. Jetzt, dachte er, jetzt würdest du rückfällig werden und wieder rauchen, wenn du eine Zigarette hättest. Er nahm die Schutzbrille ab, rieb sie mit einem Zellstofftaschentuch von innen klar, setzte sie wieder auf. Die Sicht war nun einwandfrei.
Hans Werg wollte den Rest der ersten Thermophore nachgießen. Ihm war es, als sei der Flüssigkeitsspiegel gefallen. So reckte er sich hoch, als es geschah. Irgend etwas löste sich unter Werg, rutschte nach hinten weg. Werg verlor das Gleichgewicht, kippte nach vorn. Er würde so mit voller Wucht zusammen mit der Thermophore gegen das Dreibein oder die Tüte fallen, und die Konstruktion würde abkippen. Die flüssige Luft mußte dann unten herausströmen und sich über dem Sprengmeister ergießen. Vielleicht würde auch der Zünder ansprechen . Hans Werg wußte es. Im Bruchteil einer Sekunde sah er alles vor sich. Und er wollte es verhindern. Mit seiner gesamten Kraft riß er die Thermophore nach schräg oben.
Das Metallgefäß vollführte einen Halbkreis, riß den Sprengmeister mit sich, schlug gegen einen Rest der Mauer, sprang dort weg und knallte auf den Boden. Ein Spritzer der gefährlichen Flüssigkeit flog in Richtung des
stürzenden Werg, der sich noch im Fall zur Seite kullerte, und klatschte auf die Erde. Dann war es vorbei. Hans Werg saß auf der Erde. Erhob sich und riß sich die Brille vom Gesicht. Er wischte sich ein paar unsichtbare Stäubchen von der Kombination. Blickte zu Boden. Da lag seit Jahrzehnten ein Stück dickes Glas auf einem ovalen Kiesel. Ein zufälliges Kugellager, das darauf wartete, daß jemand drauftrat. Er hob beide Dinge auf, steckte sie in seine abgewetzte Aktentasche. Begutachtete die Dreibeinkonstruktion. Er hatte sie nicht berührt. Alles war in Ordnung. Nun erst prustete Werg und stieß heftig die Luft aus. ,Puh", sagte er dann, ,das war verdammt eng." Jetzt betrachtete er die Wand. Feiner Staub rieselte aus den Zwischenräumen der alten Ziegel. Das war vorher nicht, dachte Werg, aber die Wand muß halten. Schließlich trägt sie die Bombe zumindest teilweise . Hans Werg ging den Gang entlang bis nach draußen. Er hatte neben dem Kanal einige stählerne Streben liegen sehen. Er nahm so viele, wie er tragen konnte, kehrte in den Keller zurück und setzte die einzelnen Streben als Stützen für die Bombe an. Sicherheitshalber. Für den Fall, daß das Mauerwerk brach. Als er sein Werk beendet hatte, begutachtete er es kritisch. In der Mitte, dachte Hans Werg. Zwei Stützen müssen noch in die Mitte, dann ist alles haltbar. Er nahm die erste Metallschiene und paßte sie an. Fast augenblicklich wurde sie belastet, so mächtig belastet, daß Werg die Strebe nicht einen Zentimeter bewegen konnte. Aber sie hielt das Bombenvorderteil schräg. Sie stand noch nicht senkrecht. Und an die zweite Stütze kam der Sprengmeister nicht heran, um die eine zu entlasten.
Verdammt, dachte er, hoffentlich kommt Paul bald .
,Nimm doch zwei", sagte der Schlosser zu dem Elektriker, ,ein Miefquirl schafft das überhaupt nicht." Der Elektriker nickte stumm. Holte einen zweiten Ventilator vom Regal und begann, bei beiden die Stecker abzuschrauben. Er wollte sie zusammenführen und in einem Stecker vereinen, weil er nicht wußte, wie viele Steckdosen den Sprengmeistern zur Verfügung standen. Paul Gehrd beobachtete, was der Elektriker machte. Er fühlte sich unbehaglich. Es war ein Gefühl in ihm, als werde er augenblicklich im Keller gebraucht. Etwas drängte ihn zur Eile, sie hatten festgelegt, mindestens neunzig Minuten lang den Zünder zu kühlen und, wenn es sein mußte, die gesamte flüssige Luft zu verbrauchen, aber dennoch: Da war ein ungutes Gefühl in ihm. ,Macht mal hin, legt mal einen Gang zu!" Der Elektriker sah kurz auf. Als er die besorgten Augen, die vielen Furchen auf Gehrds Stirn sah, verschluckte er die Antwort, die ihm auf der Zunge gelegen hatte. Seine Hände bewegten sich schneller. Virtuos bog er Drähte, zog Schrauben an. ,Ist ein Scheißspiel, was?" Er sah Paul Gehrd fragend an, schien unter dem neuen Tempo wacher zu werden. ,Nur ist es leider kein Spiel", antwortete der Sprengmeister, ,und wenn wir systematisch suchten, dann müßten noch viele Teile unseres Bodens entseucht werden. Außerdem: In den Städten, in denen die meisten Bomben, also auch die meisten Blindgänger, runtergekommen sind, da kannst du überhaupt nicht suchen. Die Sonde meldet dir dort jedes Rohr, jedes Kabel. Du müßtest alles um und um wühlen, ehe du an eine Bombe rankommst. Da bleibt es
dem Zufall überlassen. Und die Zünder werden mit der Zeit nicht harmlos, sondern empfindlicher, bösartiger. Rechne nach - gehe dabei von zwanzig Prozent Blindgängern aus -, wie lange es uns noch geben muß, damit der Schaden so klein wie nur möglich gehalten wird." ,Was?" Der Elektriker riß erstaunt die Augen auf, ohne seine Arbeit zu unterbrechen. ,Mann, eh! - und ich dachte, es gibt so was schon gar nicht mehr . Uh, jede fünfte Bombe ist nicht hochgegangen ." ,Ja", sagte Paul Gehrd sorgenvoll, ,was damals für die Betroffenen ein Glücksumstand war, ist für die Nachgeborenen eine ungeheure Gefahr. Der Zünder ist so gut wie unzerstörbar. Nicht aber die Sicherungen. Das ist Verschleißmaterial. Also werden von der Zeit und dem Rost zuerst die Sicherungen zernagt. Was das heißt, könnt ihr euch vorstellen. Es ist theoretisch denkbar, daß in zweitausend Jahren, wenn niemand mehr weiß, was Krieg ist, eine Bombe irgendwo hochgeht. Es ist denkbar." Die beiden Handwerker lauschten aufmerksam. ,Was uns fehlt", sagte Gehrd, ,ist eine Sonde, die das, was sie findet, als Bild wiedergibt. Dann wären die Städte dran. Und natürlich tief müßte sie reichen. Zehn Meter. Zwanzig Meter. Je tiefer, desto besser." ,So hat jeder seine Probleme", sagte der Schlosser und rekelte sich. Der Elektriker drückte den Stecker, an dem jetzt beide Ventilatoren hingen, in eine Steckdose. Leise summend liefen die Luftschrauben an. ,Hier", sagte er und zog den Stecker heraus, ,ist fertig. Wird euch sicher helfen." Hans Werg rührte sich nicht. Er stand unbeweglich, das Stützbein gegen eine Bodenunebenheit gestemmt. Sein
Kopf war ohne Gedanken. Hans Werg stand einfach. Er mußte warten, das wußte er, bis Paul kam. Nichts weiter war wichtig. Nur stehen und zusehen, wie die flüssige Luft ihre Arbeit leistete, falls sie es tat. Und Hans Werg wußte, daß er nur so lange hier stehen konnte, wie dort oben nichts undicht war. Würde sich aber ein Leck zwischen Tüte und Bombenhaut zeigen, würde die flüssige Luft heraustropfen, dann ., dann . Er durfte nicht weglaufen, ohne daß die Bombe ihre Lage veränderte. Er verfluchte seinen Entschluß, den Bombenkörper freilegen zu lassen. Dadurch war das mächtige Ding erst beweglich geworden. Vorher hatte es sich nicht gerührt. Immer wieder ging sein Blick nach oben zu dem Rand der Tüte. Sie hielt, sie mußte einfach halten. Die Bombe lag ruhig auf der Stütze, und die Tüte stand ebenso sicher auf dem Bug, festgehalten von dem Stahlband, das auf den drei Füßen ruhte. Hans Wergs Hände umklammerten wie Schraubstöcke die Stütze. Für den Sprengmeister begann eine undurchdringliche Ewigkeit, gefüllt mit weißblauen Wolken, einer ständig zunehmenden Kälte und gleichzeitig mit Schwaden stickiger Wärme, die durch den Gang kamen. Seine Gedanken kehrten an viele Punkte des Lebens zurück, brachten ihm andere, scheinbar ebenso ausweglose Situationen ins Gedächtnis, begegneten den Eltern und den Arbeitskollegen, Freunden und Mädchen. Werg war in seine Gedanken verstrickt, daß er die leisen Schritte, die durch den Kellergang kamen, nicht wahrnahm. ,He, Hans", hörte er, neu erwachend, Pauls Stimme, ,wo
bist du denn? Man sieht ja überhaupt nichts mehr." ,Ich stecke in der Klemme", antwortete Hans Werg leise, ,komm mal her, ich glaube, daß meine Hände eingeschlafen ." Noch ehe er den Satz beendet hatte, war Paul an seiner Seite. Sah augenblicklich, was geschehen war, und blickte sich suchend um. Er fand die restlichen drei Stützen, schob eine neben die, die Werg immer noch hielt, schlug sie mit dem Hammer sehr vorsichtig und tatsächlich fast erschütterungsfrei in die Senkrechte und nahm die letzten beiden Stahlstangen. Als sie befestigt waren, sagte er: ,Kannst loslassen, Hans." Hans Werg wollte die Hände lösen, aber das ging nicht. Sie schienen mitsamt den Handschuhen festgewachsen an der Stütze. Wortlos nahm Paul die Finger des anderen und löste sie nacheinander von dem Metall. Der Krampf verflog, und Werg zog seine Hände zurück. Massierte sie ausgiebig. Ging dabei, nachdem er sich stöhnend aufgerichtet hatte, auf und ab. Und er fluchte. Verfluchte das Glas und das Ausrutschen, die freigelegte Bombe und diese Nacht. Dann reckte er sich, sah, daß kaum noch flüssige Luft in der Tüte war, holte den zweiten Thermosbehälter und goß wieder nach. Währenddessen hatte Paul Gehrd den Doppelventilator angeschlossen, und die Schwaden wurden jetzt gewaltsam durch den Durchbruch hinausgeweht. Gleichzeitig saugte der Ventilator die warme Luft aus dem Kellergang an und brachte dem erstarrten Hans Werg Wärme und Beweglichkeit. ,Endlich sieht man wieder etwas", sagte Werg und beobachtete in kurzen Abständen den Spiegel der flüssigen Luft, den er mehr schätzen als sehen konnte. Erneut goß er flüssige Luft nach. Das jetzt rauhreifweiße
abgescherte Windrad verschwand in der undurchsichtigen Flüssigkeit. Paul Gehrd stand hinter Werg und schaute ihm interessiert dabei zu. ,Wie ist es passiert?" ,Das glaubt mir kein Mensch", antwortete Werg, ,dümmer ging es nicht."
Er hat nicht weiter gefragt, dachte Hans Werg plötzlich, er wollte es sicher nicht wissen. Also ist Nichtfragen Stärke und Vertrauen. Das muß es wohl sein . ,Was meinst du", Paul riß den Freund aus dessen Überlegungen, ,wie mag es da drin jetzt aussehen?" Er deutete auf die Bombe. ,Vielleicht ist die Batterie tatsächlich schon tot", antwortete Hans Werg lächelnd, ,oder das Quecksilber liegt als träger Block unbeweglich in seinem Glasgehäuse . Oder das Glas ist gesprungen?" ,Das denke ich auch fast", stimmte Gehrd zu, ,trotzdem wollen wir die Zeit einhalten, die wir uns vorgegeben haben. Wie ist das Wetter draußen?" Hans Werg sah hinaus. ,Der Nebel ist weg", sagte er, ,und auch der Wind hat sich gelegt. Ist nicht mehr so kalt." ,Meine Frau wird Augen machen", Paul Gehrd erinnerte sich unerwartet an die Situation vor dem Hotel, ,sie wollte ein wenig schlafen. Wir hatten eine lange Bergtour hinter uns. Und wenn sie runterkommt, werden ihr die anderen Gäste sagen, daß mich ein Hubschrauber weggeholt hat . Ob sie das glaubt?" ,Alles schon vorbei", korrigierte Werg den Freund, ,das war gestern. Aber jetzt ist schon heute. Fast zwei Uhr . Sie schläft bereits wieder." ,Sie schläft nicht", widersprach Gehrd, ,sie weiß doch,
wo ich bin. Sie schläft die ganze Nacht nicht. Sie wird erst schlafen, wenn ich ankomme . Da habe ich noch was vor mir." ,Der Mi steht noch auf der Wiese", Hans Werg deutete nach draußen, ,vielleicht bringt er dich wieder zurück?" ,Schön war's schon", Paul lächelte vor sich hin, ,aber es geht auch anders, wenn mir einer Fahrgeld leiht. Ich habe nicht einen Pfennig bei mir ." Die beiden Männer lachten. Hans Werg goß erneut flüssige Luft nach. ,Ein Scheißspiel", sagte Paul, ,hat der Elektriker unsere Arbeit genannt ." ,Abenteuer, er wollte sicher Abenteuer sagen. Taucher, Pilot, Feuerwehrmann, Lokführer, Sprengmeister, Dompteur und Fernfahrer. Das wirft man alles in einen Topf und schreibt mit verschnörkelten Emaillebuchstaben Abenteuer darauf. Und eigentlich meint man nicht einmal das Abenteuer, wie es vor hundert Jahren war. Nicht die lebensgefährliche Saharadurchquerung, die Polarbezwingung, sondern den Zweikampf. Mann steht gegen Technik. Mann steht gegen Zeit. Immer einer allein gegen etwas anderes. Und? Der eine ist auf sich allein gestellt, keiner hinter ihm, keiner vor ihm. Und er muß dafür geradestehen. Steht gegen den Zufall und die Unberechenbarkeit der Elemente ." ,Laß es gut sein, Hans", sagte Paul beruhigend und legte dem Gefährten die Hand auf die Schulter. Hans Werg goß den Rest flüssige Luft aus der dritten Thermophore nach. ,Wenn sie alle ist", sagte er fest, ,fange ich an. Wenn sie es jetzt nicht geschafft hat, dann nie ." ,Ja", stimmte Paul zu, ,Ja."
Sie standen schweigend, blickten auf die Tüte, aus der es ununterbrochen dampfte. ,Es dauert noch fünfzehn Minuten", sagte Hans Werg und drehte sich entschlossen um, verschwand in dem Gang. Er stieg die Kellertreppe nach oben, ging weiter, bis in den ersten Stock. Hier folgte er dem Notlicht, erreichte schließlich den mit Glas vom Gang abgetrennten Raum. Verdutzt blieb er stehen. Sah den Arzt fragend an, der neben dem Bett des Mädchens stand. ,Sie dürfen hier nicht sein", sagte der Sprengmeister ruhig. ,Die zweite Unkorrektheit", antwortete lächelnd der Mediziner, ,die erste war, als ich den verzweifelten Eltern versprach, daß wir es wieder hinkriegen. Das darf man nicht, weil es immer Unberechenbarkeiten gibt. Dinge, die kein Mensch vorhersagen kann. Ich habe es trotzdem getan. Also ist das jetzt die zweite." Der Sprengmeister trat an das Bett, betrachtete das weiße, zarte Gesicht des Kindes, das ruhig schlief, während die Maschinen über sein Leben wachten. ,In zehn Minuten fange ich an", murmelte er kaum hörbar, ,und ich garantiere dir, daß wir dich nicht aufwecken werden." Er strich mit seiner feinnervigen Hand dem Kind über die Wange. Drehte sich dann um. Betrachtete den Arzt. ,Vielleicht wollen Sie doch gehen", sagte er. Der Mediziner schüttelte den Kopf. ,Ich glaube Ihnen", sagte er, ,ich glaube Ihnen. Deshalb bleibe ich ." Gemächlich stieg Hans Werg die Treppen nach unten. Jetzt weiß ich auch, dachte er, warum ich darum bat, Paul Gehrd zu holen. Jetzt weiß ich das.
So erreichte er den Keller. Lief die Gänge entlang und hörte von weitem, wie Paul Gehrd leise vor sich hin pfiff. Werg lächelte und bog um die letzte Ecke, die ihm die Sicht verwehrt hatte. Da stand Paul und hatte sich schon eine Zange genommen. Die andere lag für Hans Werg griffbereit. Der zog sich die Handschuhe über. ,Weißt du", sagte er, ,du nimmst den Heckzünder. Ein Membranzünder. Keine Gefahr ." ,Ich habe ihn schon gesehen", antwortete Paul und ging zu dem Durchbruch. ,Du gibst das Kommando hier drinnen, und dann geht es los. Also Hans, viel Erfolg, was?" ,Viel Erfolg, Paul", antwortete Werg und sah den Freund und Lehrer nach außen verschwinden. In der Tüte war keine flüssige Luft mehr. Die letzten Schwaden zogen ab. Hans Werg löste die Schraube, öffnete das Stahlband und trug die Konstruktion an die Kellerwand, legte sie dort ab. Mit harten Fußtritten löste er das Dreibein und brachte es etliche Meter weiter. Dann faßte er die Zange. Setzte sie an den gefährlichen Kippzünder an. Versuchte eine Drehung. Es ging nicht. ,Das Scheißding", rief er nach draußen, ,ist festgefroren. Fang an, Paul ." Hans Werg setzte die Zange neu an. Hängte sich daran. Nichts rührte sich. Er ruckte immer wieder an. Unbeweglich saß der Zünder. ,Verdammter Mist", fluchte Werg, legte die Zange zu Boden, holte die Fräse. Das Ding schrie auf, als es Strom hatte und Werg es einschaltete. Das Kreischen zerriß die Nacht. Die Fräse dröhnte, wimmerte, schrillte, als sie auf das gefrostete Metall traf Hans Werg führte sie am Bombenbug immer rundherum. Immer herum. Sie fraß sich tiefer und tiefer. Hans Werg schaltete sie wieder aus; zu sehr fürchtete er die Erwärmung, die bei ihrem Gebrauch
unweigerlich eintreten mußte. Wieder nahm er die Zange. Faßte zu. Zog daran. Gab immer mehr Kraft. Er fühlte, wie sich etwas in dem Gewinde tat. Noch keine eigentliche Bewegung, aber es tat sich etwas. Das Metall ächzte und stöhnte. Es schien sich zitternd aus der eisigen Umklammerung des Frostes zu lösen, seine Fesseln abzustreifen. Wergs Gesicht, sein Körper waren durch die Anspannung verändert. Er gehörte in diesem Augenblick nur zu der Zange und dem Zünder. Jede Zelle seines Körpers übertrug den lautlosen Kampf des Gewindes gegen die endlose Kälte, gegen die Fesselung. Hans Werg ließ mit der Rechten die Zange los. Faßte sie mit der Linken näher am Kopf. Jetzt holte er etwas aus, schlug zu. Gegen die Zangenschenkel. Immer wieder schlug er zu. Schlag auf Schlag. Und immer deutlicher empfand er, daß sich die Gewinde gleich voneinander lösen mußten, daß sich der Zünder gleich bewegen würde. Die Zeit arbeitete nun gegen den Sprengmeister. Die drückende Schwüle des Kellerganges war sein ärgster Gegner. Das Quecksilber durfte sich nicht erwärmen, bevor der Zünder heraus war. Auch das Trockenelement mußte so lange tot bleiben, wie Zünder und Bombe miteinander verbunden waren. Hans Werg fühlte den Schweiß. Er stand ihm auf der Stirn, der Nase, der Oberlippe. Schweiß näßte ihm die Kleidung, ließ ihn besser als alles andere erkennen, daß er noch nicht gewonnen hatte. Wieder ein Schlag. Der Zünder bewegte sich. Nur wenige Millimeter. Langsam. Widerwillig. Aber er hatte sich bewegt. Ganz sacht. Jetzt faßte Hans Werg die Zange wieder mit beiden Händen. Hielt sie so und übte Druck aus. Der Zünder kam. Lautlos und folgsam. Das Gewinde tauchte silberglänzend auf. Immer mehr. Es war gefettet,
aber das Fett war von der Kälte bröcklig, sah aus wie gelber Staub. Das ist die Kälte, dachte Hans Werg zufrieden, das ist die Kälte. Ihm wurde bewußt, daß die Bombe nicht explodiert war. Sie lag ruhig wie zuvor. Und der Zünder war schon zur Hälfte herausgeschraubt.
Und während Hans Werg ruhig und gleichmäßig schraubte, erinnerte er sich eines Gefährten, der vor langen Jahren getötet worden war. Von einer Schützenmine aus dem zweiten Weltkrieg, die den anderen beim Suchen entgangen war. Und als der Mann schon zurückging, als er seinen Streifen nach getaner Arbeit verlassen wollte, stieß er mit dem Fuß gegen einen der neun Drähte, die im Gras unsichtbar waren. Es sah aus, als stieße ihn jemand vor sich her. Und dann war er gestürzt. Lag da, ohne sich noch einmal zu rühren, ohne etwas zu sagen, ohne begriffen zu
haben, was mit ihm geschehen war . Hans Werg sah diese Bilder plötzlich überdeutlich. Es fiel ihm auch ein anderer ein. Einer, der eine amerikanische Tankmine aufgehoben hatte, ohne sich zu überzeugen, ob sie gesichert war. Und als er sie in den Händen hielt, starrte er entsetzt auf die darunter liegende abgezogene Eihandgranate, auf die schreckliche Sicherung der Mine. Dann krachte es, und der Mann brach tot zusammen . Es schien Werg, als hätten sich diese Erinnerungen in seinen tiefsten Tiefen verborgen, um ihm jetzt, im Moment des greifbaren Sieges, gegen diese Bombe zu sagen: Vorsicht, du, sei vorsichtig. Man kann nicht vorsichtig genug sein. Hans Werg schraubte weiter. Gegen den klammernden Griff der Kälte. Gegen die Erinnerungen, die ihn frösteln ließen. Frösteln, während der Schweiß an seinem Körper herablief. In dem Durchbruch tauchte Paul auf. Er hatte den Membranzünder, der im Heck eingeschraubt gewesen war, in der Hand. In Sekundenschnelle überblickte er alles. Die Fräse hatte er draußen gehört. Hell, klirrend, kreischend. Jetzt sah er die Späne, die wie winzige Diamantsplitter auf dem Boden lagen, das Licht vielfach reflektierten. Und er sah dem einstigen Schüler und Freund zu, der mit ruhigen, fast bedächtigen Bewegungen den Zünder herausschraubte. Er sah die feinen Dämpfe, die von dem Bombenbug und dem Zünder aufstiegen und von der lähmenden Kälte kündeten, sah auch das fast kristallin wirkende Fett, das von den Metallwindungen abplatzte und als heller Staub durch den Lichtkreis der Lampe schwebte. Das alles sah er, und in seinem Innersten ergriffen über die Leistung des Freundes, schwieg er, unfähig, die richtigen Worte zu finden.
Hans Werg atmete hörbar aus. Noch ein letztes Mal löste er die Zange, die seinen Bestrebungen nur widerwillig Folge leistete, setzte sie wieder an und drehte weiter. Er fühlte das volle Gewicht des Zünders in seinen Händen, den das Gewinde nicht mehr trug. Mühevoll, so als hinge ein Zentnergewicht an dem Metallstück, hob er den Zünder heraus, betrachtete ihn einige Sekunden lang, wie er, durch nichts mehr mit der Bombe verbunden, unscheinbar wie ein Pilz in der Zange hing. Hans Werg machte den ersten Schritt zittrig, beinahe unsicher. In seinem Innern ausgehöhlt und leer, frei von allen Gedanken des Triumphes, ging er mechanisch nach draußen, ging gefaßt an der massigen Gestalt der Bombe vorbei und legte den Zünder einige Meter entfernt auf die schwere, feuchte Erde. Betrachtete noch einmal alles aus dieser Sicht und kehrte dahin zurück, wo Paul Gehrd, stolz lächelnd, auf ihn wartete. ,Wenn sich der Zünder erwärmt hat", sagte Werg, ,geht er los. Warten wir noch so lange und geben dann Entwarnung ." ,Die haben heute sehr viel zu tun", erinnerte ihn Gehrd, ,alles wieder zurückzubringen. Die Patienten, die medizinischen Geräte ., all das, was sie ausgelagert haben." Hans Werg zog sich die Handschuhe aus und nahm die Schutzbrille ab. Gehrd zündete sich eine Zigarette an, hielt Werg die Schachtel hin. ,Vorhin", antwortete der, ,als ich allein unter der Bombe stand und die Stütze hielt, da hätte ich eine genommen. Aber jetzt nicht mehr. Schon lange nicht mehr ." Paul Gehrd rauchte ruhig. Werg sah ihm dabei zu. Er sah einfach zu, ohne sich zu bewegen. Alles in ihm war zur
Ruhe gekommen, hatte sich entspannt. Als Paul Gehrd die Kippe ausdrückte, knallte es draußen. Nicht sehr heftig, aber unüberhörbar. Werg lief zum Durchbruch, ging die Grabensohle entlang. Von dem Zünder war nichts als nur feine, rundum verteilte Metallsplitter übriggeblieben. ,Das war es also", sagte Hans Werg von draußen und begann den schrägen, rutschigen Grabenhang hinaufzuklettern. Gehrd kam aus dem Keller, benutzte die nun harmlose Bombe als Steg und war fast ebenso schnell oben wie Hans Werg. Ein leichter Morgenwind kam von Osten, strich über Wergs erhitztes Gesicht. Er spürte nichts davon. ,Schrott", sagte er, auf die Bombe deutend, ,mehr als zwei Tonnen bester Schrott. Ich lasse sie abholen, dann schwemmen wir den Sprengstoff raus, und ab zum Stahlwerk mit dem Rest." Paul Gehrd lächelte noch immer. Sie wandten sich zum Gehen. Hans Werg blieb noch einmal stehen, als sie die Front des Neubaus erreicht hatten. Er sah hoch in den ersten Stock, wo ein einzelnes blaues Licht brannte. ,Na", murmelte er vor sich hin, und seine Stirn legte sich in Falten, ,ich habe meins getan. Nun seid ihr dran. Macht sie gesund . So klein, wie sie noch ist." Sie gingen auf das Verwaltungsgebäude zu, und schon im voraus glaubte Hans Werg die freudigen Gesichter zu sehen, die Gratulationen zu hören, ungezählten Telefonaten zu lauschen, die hier alles rundum zu neuem Leben erwachen lassen würden, wenn er die Tür öffnete und, noch auf der Schwelle stehend und an Kladd gewandt, dienstlich meldete: Genosse Oberstleutnant, die Bombe ist
unschädlich gemacht . Paul Gehrd schaltete alle Scheinwerfer aus. Nur eine einzige Lampe ließ er brennen. Sofort griff die Finsternis nach ihnen, hüllte sie ein, machte sie wacher. Der Mond stand fast am Horizont, und sein Leuchten schien schwächer geworden zu sein. Eine einzelne Amsel begann noch verschlafen den Tag anzukünden und ihn zu loben. Irgendwo zwischen den Parkbäumen war ein kaum wahrnehmbarer heller Streif, ein winziger Pinselstrich der Natur. Aber Hans Werg sah ihn. Und er hob die Rechte, deutete in die Richtung, um auch Paul Gehrd jenes Licht sehen zu lassen.