Manfred H. Rückert
Verschollen in der � er Paraspur � Professor Zamorra Hardcover � Band 12 �
ZAUBERMOND VERLAG
Par...
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Manfred H. Rückert
Verschollen in der � er Paraspur � Professor Zamorra Hardcover � Band 12 �
ZAUBERMOND VERLAG
Para-Spuren bestehen zwischen den meisten magischen Orten der verschiedensten Welten und Unterwelten. Man muss sie nur sehen, um sie benutzen zu können. Als Asmodis und die Hexe Seanzaara einen Tonkan verfolgen, bleiben sie in der Para-Spur hängen, ohne jede Chance, sich wieder befreien zu können. Diese Gelegenheit nutzen Stygia, die Fürstin der Finsternis, und Rico Calderone, der Herrscher der Hölle, um sich an ihren alten Feinden Merlin und Zamorra zu rächen. Die beiden Dämonen wollen nicht nur die Vernichtung ihrer langjährigen Widersacher. Sie wollen weit mehr, und das auf perfideste Art und Weise. Ihr teuflischer Plan lautet: Zamorra und Merlin sollen sich gegenseitig töten!
Vorwort � In diesem Roman nimmt der Autor ein Thema wieder auf, das er bereits in der Heftserie behandelte, die die Basis für die PZ-Bücher des Zaubermond-Verlags darstellt. Seit mehr als 30 Jahren, insgesamt bereits mit über 800 Ausgaben, ist die »Professor Zamorra«-Serie des Bastei-Verlags die zweitgrößte Mystery-Serie der Welt. Alle zwei Wochen erscheint ein Romanheft und entführt uns in spannende Geschehnisse, die unsere Fantasie bis an ihre Grenzen beanspruchen. Hauptfigur der Serie ist Professor Zamorra, ein Parapsychologe, dessen Berufung die Dämonenjagd ist und der mit seinen Gefährten gegen Höllenkreaturen ebenso antritt wie gegen bösartige Geschöpfe aus anderen Welten, der durch Dimensionen reist, von Planet zu Planet, und sogar durch die Zeit. M. H. Rückert hat die Geschichte der Welt K'oandar und die der Seelentränen bereits vor einigen Jahren in den Heften geschildert. In diesem Roman führt er das Thema fort, das mittlerweile den Rahmen der Heftserie sprengen würde. Zugleich verknüpft er es gekonnt mit anderen Handlungsfäden wie den geheimnisvollen ParaSpuren und auch mit dem Zauberwald des geheimnisumwobenen Merlin, der als Zamorras Mentor eine gewichtige Rolle in der Serie spielt. Chronologisch einzuordnen ist dieses Abenteuer zwischen den Heften 783 und 800. Aber wie immer muss man die Hefte nicht unbedingt gelesen haben, um die Bücher genießen zu können. Es vergrößert diesen Genuss nur … Schon einmal übrigens hat M. H. Rückert den Zauberer Merlin in den Mittelpunkt eines PZ-Buches gestellt: In Band 5 mit dem provozierenden Titel »Merlins Mörder«. Erhältlich ist dieser Roman – wie alle PZ-Bücher – exklusiv bei Zaubermond, Postfach 1402, 21233 Buchholz, http://www.zaubermond.de.
Tschüss bis demnächst – Ihr und euer Werner K. Giesa Altenstadt, im Januar 2005
»Niemand weiß, wie es ist, � der böse Mann zu sein …« � (The Who, 1973: ›Behind blue eyes‹)
Mein Dank gilt Dagmar und Benjamin Rückert für ihre Hilfe.
Prolog � »Was man zu verstehen gelernt hat, fürchtet man nicht mehr.« (Marie Curie, 1867-1934, polnische Physikerin und Chemikerin)
»Nein! Nicht noch einmal! Nein, ich will das nicht!« Da war es schon wieder! Rallant zuckte zusammen, als habe er einen Peitschenhieb erhalten. Ein endlos erscheinender Abgrund schien auf ihn zuzustürzen. Es wirkte wie eine sich unaufhörlich drehende Spirale, die ihn verschlingen wollte. Farben und Formen verschwammen vollständig vor seinen Augen. Er war nicht mehr imstande, etwas sehen zu können. Rallant hielt vor Schreck die Luft an. Er versuchte die Augen zu schließen, als könne er so dem Unheil entgehen, aber es gelang ihm nicht. Sein Herz schlug bis zum Hals; die Arme und Beine zitterten vor Angst. Er war unfähig, etwas dagegen zu unternehmen. Ein eiskalter Stein schien in seinem Magen zu liegen. Sein Herz schlug so wild, dass er das Pochen an den Adern sah. Unartikulierte Laute entrangen sich seiner Kehle. Er hielt beide Hände gegen die Brust gepresst, dabei sank er auf die Knie. Feurige Räder kreisten vor seinen Augen. Ihm war übel. Und dann war es vorbei. Genauso schnell, wie es begonnen hatte. Rallant atmete tief ein und aus. Jetzt brachte er es endlich fertig, die Augen zu schließen. Er stützte sich mit beiden Händen am Boden ab. Das Zittern seiner Gliedmaßen ließ langsam nach. Auch sein Herz schlug wieder normal. Rallant erschien es wie eine Ewigkeit, bis er sich wieder in der Gewalt hatte.
»Was war das?«, keuchte er voll Unglauben über das soeben Geschehene. Er setzte sich ins Gras, öffnete die Augen und blickte in den bewölkten Himmel empor, als könne er dort eine Erklärung für das soeben erlittene Grauen finden. Ein paar dunkle Vögel zogen dort ihre Bahn. Ihr Krächzen war weithin zu hören. Derlei Erscheinungen wie eben hatte er öfter in den letzten Tagen gehabt. Aber noch nie war es so schlimm gewesen. Waren es am Anfang nur eine Art von Lichtblitzen gewesen, so zeigten sich die Eingebungen jetzt als alles verschlingende Monstren. So kam es ihm zumindest in den Momenten des Schreckens vor. Schlimmer noch, er hatte das Gefühl gehabt, als wollte ihn die Erscheinung an einen anderen Ort entführen, um ihn dort zu verschlingen. Es wurde mit jedem Mal schlimmer. Rallant blickte sich lange und gründlich um, ob ihn jemand beobachtete. Zu seiner Erleichterung war niemand zu sehen. Er atmete auf. Das hätte ihm noch gefehlt, dass ihn jemand in dieser hilf- und würdelosen Position sah. Schon gar nicht seine Artgenossen. Besonders eine Person wollte er nicht sehen. Wenn er dabei erwischt wurde, wie er das Verbot übertrat, Broceliande zu verlassen, mochte ihn eine harte Strafe ereilen. »Nichts wie weg von hier!«, zischte er in seiner kehligen Sprache. Rallant erhob sich langsam vom Boden, dabei wischte er den Schmutz von seiner Lederbekleidung. Zufrieden stellte er fest, dass ihn keine Schwäche mehr plagte. Ein eiskalter Wind streifte ihn. Zuerst schien es nur ein leichter Hauch zu sein. Doch nach wenigen Sekunden stellte er fest, dass die Kälte bis in sein Innerstes reichte. Der Wind schien ihn regelrecht zu umarmen. Das gibt es nicht, dachte er verwundert. Ich bilde mir nur etwas ein. Die Angst und meine überreizten Sinne spielen mir einen Streich. Rallant rieb sich mit den Händen die Oberarme warm. Er bildete sich ein, es würde ihm helfen. Er musste sich sputen und schnell wieder zu den Regenbogenblu-
men zurücklaufen. Und das, ehe sein Fortbleiben bemerkt wurde. Er kannte doch seine Artgenossen. Sie würden ihn aus lauter Wichtigtuerei bei ihm verpetzen. Wenn nicht heute, so dann, wenn er wieder einmal im Zauberwald weilte. Und das durfte einfach nicht geschehen. Nicht, dass Rallant anders gehandelt hätte als seine Leute. Im Gegenteil, war er doch derjenige unter ihnen, der sich stets besonders mit seinem losen Mundwerk hervortat. Und wer kaum Gnade mit anderen kennt, der nimmt an, dass jeder andere so ist wie er selbst. Das Knacken eines Astes riss Rallant aus seinen Gedanken. Er hielt den Atem an, um besser hören zu können. Seine spitzen Ohren bewegten sich dabei langsam vor und zurück. Die feinen Härchen auf seinen Armen stellten sich auf. Vorsichtig blickte er sich wieder um. Sein schlechtes Gewissen war enorm. Er konnte niemand sehen, trotzdem fühlte er sich unbehaglich. Nichts wie weg von hier! Bloß zurück in den Zauberwald und seinen Schutz. Dieser Wunsch erfüllte ihn bis in die letzte Faser. Vergessen war die beispiellose Erregung, als er seine Erkundungstour startete. Zu allem Überfluss umspielte ihn erneut der eiskalte Windhauch. Wieder versuchte er durch Reiben seiner Arme, Wärme in seinen Oberkörper zu bringen. Doch dieses Mal schien es nicht zu helfen. Er lief den Regenbogenblumen entgegen, durch die er hierher gereist war. Während des Laufens bemerkte er, dass er sich weiter von ihnen entfernt hatte als gedacht. Je näher er den Blumen kam, umso ruhiger wurde er. Bald hatte er es geschafft. Ein erneutes Knacken schreckte ihn auf. Er blieb stehen und lauschte weiter. War das Geräusch nicht direkt vor ihm erklungen? Etwas ertönte rechts von ihm. Rallant sprang zur anderen Seite. Gleich darauf ertönte ein Krachen von dort. Der Tonkan zitterte vor Furcht wie Espenlaub. »Wer ist dort?«, rief er mehr im Selbstgespräch. Er erhielt keine Antwort und hatte auch nicht mit einer gerechnet.
Ein erneutes Knacken erklang direkt vor ihm, dazu brüllte augenscheinlich ein Raubtier auf. Die dunklen krähenartigen Vögel krächzten so laut wie nie zuvor. Rallant schrie und rannte vor Schreck dorthin zurück, wo er herkam. Dass er dabei die vollkommen falsche Richtung einschlug, kam ihm in diesen Sekunden nicht in den Sinn. Und dann wurde er regelrecht in den Monsterrachen hineingesogen. Er hatte keine Chance, sich dagegen zu wehren …
Das Auftauchen aus der Dunkelheit schien eine Ewigkeit zu dauern. Dabei waren es nur wenige Sekunden gewesen, die er in der düsteren Röhre verbracht hatte. Welche Röhre?, wunderte er sich. Er konnte nicht erkennen, wo er herausgekommen war. Die Umgebung hatte sich von einem Wimpernschlag zum nächsten verändert, ohne dass er etwas von der örtlichen Versetzung gespürt hätte. Aber was hatte er dort gemacht? Woher hatte er das Wissen über ein röhrenähnliches Objekt? Auf welche Art und Weise hatte er sie betreten und wieder verlassen können? Sein gesamter hagerer Körper war angespannt, als erwarte er einen Angriff. Rallant blickte sich auf der Lichtung um, auf der er gelandet war. Die Bäume und Büsche sahen genauso aus wie jene, die um die Regenbogenblumen wuchsen. Die Schwerkraft schien sich auch nicht verändert zu haben. Er schloss daraus, dass er sich noch auf dem gleichen Planeten befand. Niemand war zu sehen, weder intelligente Lebewesen noch Tiere. Noch nicht einmal die Krähen. »Und schon gar kein Tonkan«, knurrte Rallant im Selbstgespräch. Er war froh, dass er keinem seiner Artgenossen begegnete. Doch weshalb sollte einer von ihnen hier erscheinen? Die meisten von ihnen waren Angsthasen, glücklich, dass sie im Zauberwald Unterschlupf gefunden hatten. Aber er, Rallant, war schon immer risikobereiter gewesen als die anderen. Seine Vorfahren waren Elfen gewesen, die in Broceliande wohn-
ten, bis die russische Hexe Baba Yaga alles zerstörte. Nachdem Merlins Zauberwald wieder aufgeforstet war, trauten sich auch die ehemaligen Elfen wieder hervor. Doch sie hatten sich verändert, körperlich wie geistig. Und sie nannten sich nicht mehr Elfen, sondern »Tonkan«. Dies bedeutete in ihrer Sprache so viel wie »die Dunklen«. Alles an den Tonkan wirkte dunkel und schmutzig. Von den dünnen langen, schwarzen Haaren und den spitzen Ohren über die ausgemergelte, von dunklem Leder verhüllte Gestalt bis zu den ausgetretenen Lederstiefeln. Von daher war die Bezeichnung für diese Spezies perfekt gewählt. Rallant verzog die Lippen. Er sollte sich nicht in philosophischen Gedanken verlieren, sondern die Gegend sondieren. Wo mochte die Gefahr sein, vor der er geflohen war? Dieser unbekannte, eiskalte Wind aus dem Nichts. »Der soll doch bleiben, wo der Pfeffer wächst!«, stieß er hervor. Selbst hier wollte seine Angst nicht vergehen. Fluchen war seine Art, die Furcht erträglicher zu gestalten. Das Rascheln der Blätter ließ ihn zusammenzucken. Er kniff die Augen zusammen, aber er konnte nicht den kleinsten Hinweis darauf erkennen, dass ihm jemand folgte. Ich mache mich selbst verrückt und vermute Feinde, wo keine sind, dachte er. Aber er war nicht imstande, gegen dieses Gefühl anzugehen. Das hohe Knacken eines dürren Astes ließ seine ohnehin kaum vorhandene Selbstsicherheit weiter schwinden. Das Geräusch ging ihm durch Mark und Bein. Erneut stellten sich die Härchen auf seinen Armen auf. Er presste eine Faust vor den Mund, um einen Schrei zu unterdrücken. Weiteres Krachen verriet, dass jemand auf ihn zugerannt kam, aber er konnte niemanden erkennen. Und wieder strich eiskalter Wind über seinen Körper und umarmte ihn. Rallant fuchtelte wild mit den Armen hin und her, als könne er so den Windhauch abwehren. Sein angstvolles Keuchen war weithin zu hören. »Weg da!«, schrie er in höchster Furcht. »Geh weg von mir!«
Aber die Erscheinung tat ihm selbstverständlich nicht den Gefallen. Sie umarmte ihn noch stärker, so dass er schon nach kurzer Zeit unter Atemschwierigkeiten litt. Rallant begann zu schluchzen. Tränen liefen über seine Wangen. Doch sein Gegner kannte keine Gnade. »Lass mich doch … endlich in Ruhe«, flehte der Tonkan mit sich überschlagender Stimme. »Weshalb sollte ich?«, stellte sein unbekanntes Gegenüber eine Frage. Rallant war nicht sicher, ob diese Stimme wirklich war oder nur in seinen Gedanken existierte. »Ich … ich habe dir doch nichts getan«, stammelte Rallant mit letzter Kraft. Anstatt ihm eine Antwort zu geben, drückte ihn der Unbekannte noch fester. Das Herz des Tonkan schlug fest wie noch nie. Seine Schläfenadern schienen zu zerbersten. Und dann ließ ihn sein Feind in Ruhe. Er warf Rallant ins Laub, wie man ein Stück Abfall wegschmeißt. »Du hast nichts getan?«, fragte die Stimme. Sie war ihm bekannt, aber in der Aufregung hatte er sie nicht einordnen können. Vielleicht hatte der Unbekannte sie auch verändert. »Bist du sicher, dass du nichts Verbotenes getan hast?« »Etwas Verbotenes?« Rallant erhob sich langsam. Ihm taten alle Knochen weh. Er stellte sich dumm. Sicher hatte er das Verbot übertreten, aber das wollte er nicht zugeben. »Du hättest nie hierher kommen dürfen«, erklärte die unbekannte, trotzdem irgendwoher vertraute Stimme. Dann wurde der Tonkan erneut angehoben und einige Meter durch die Luft geworfen. Auch dieser Aufprall schmerzte ungemein. Tränen des Schmerzes liefen über seine Wangen, als er sich langsam erhob. Er stöhnte leise auf. »Fasst ihn!«, schrie der Unsichtbare. Und dann hörte Rallant das Trampeln vieler Füße auf dem Waldboden. Er blickte sich um und konnte noch immer niemanden erkennen. Doch er sah Laub und Gras, das von unsichtbaren Personen niedergetreten wurde. Gegen einen Gegner, den er sah, konnte er etwas
unternehmen. Aber was sollte, was konnte er gegen eine Armee Unsichtbarer ausrichten? Panik erfüllte ihn bis ins Innerste. Rallant wusste nicht mehr, was er unternehmen sollte. Sein Verstand war ausgeschaltet, er verließ sich nur noch auf sein Gefühl. Er rannte wieder dorthin, wo er aus der unbekannten Röhre herausgekommen war. Und dort nahm ihn das Maul des Monsters wieder in sich auf …
»Hast du endlich genug, oder soll ich dir noch einmal zeigen, was es heißt, meinen Befehl zu missachten?« Nun wusste Rallant, wem die Stimme gehörte. Er hätte es gleich wissen müssen, doch seine Panik hatte ihm einen Streich gespielt. Der Tonkan lag zitternd auf dem Boden. Er zog die Beine näher an den Körper und stützte sich auf die Arme. Dann blickte er hoch. Seine Augen glühten, gleichermaßen vor Zorn wie vor Angst, als er den Unbekannten erkannte. »Ich hätte wissen müssen, dass du es bist, Asmodis«, krächzte er, während er aufstand. Seine Lippen bebten. Der Angesprochene grinste ihn an. Auf den ersten Blick wirkte er wie ein Südeuropäer oder Südamerikaner mit seinem dunklen Teint, den glatt nach hinten gekämmten schwarzen Haaren, die im Nacken in einem Zopf endeten, der von einem Lederband gehalten wurde, sowie der Hakennase und den dichten Augenbrauen, die ein Eigenleben zu führen schienen. Eben wie ein echter Macho. Die über sechs Fuß große, schlanke, beinahe hagere Figur wies nicht ein überflüssiges Gramm Fett auf. Asmodis verzog die schmalen Lippen zu einem spöttischen Lächeln. Er wusste genau um seine Wirkung. Selbst im Ruhezustand glich er einer gespannten Bogensehne. Seine düstere Ausstrahlung übertrug sich als Nervosität auf andere Personen. »Du hast mich nicht sofort erkannt?« Der Tadel in Asmodis' Stimme war unüberhörbar. Er zog fragend eine Augenbraue hoch. Schon alleine dadurch wirkte er düsterer und gefährlicher, als es jeder Mensch vermocht hätte. Er verzog
missmutig den Mund und schüttelte den Kopf. »Das kann ich gar nicht glauben.« Rallant biss auf die Unterlippe. Nur nichts Falsches sagen, redete er sich ein. Er konnte kaum einen festen Gedanken fassen. Bloß nicht seinen Zorn erregen. Das ist gefährlich. Ich muss ihn besänftigen … Aber wie er das anstellen sollte, wusste er nicht. Schließlich hatte er schon mehr als einmal Prügel vom einstigen Fürsten der Finsternis bekommen. »Nein, ich erkannte dich nicht sofort«, gestand er kleinlaut. Seine Stimme war einzigartig, schleimerisch und wichtigtuerisch zugleich. »Aus … aus Angst.« »Ach so, aus Angst«, echote Asmodis unendlich langsam. Und er hörte sich dabei sehr gemütlich an. »Na, wenn's nur das ist.« Rallant ließ sich nicht täuschen. Selbst diese so harmlos dahergesagten Worte schienen ihn wie Messer zu stechen. Kein Wesen, das er kannte, konnte durch einfache Betonung oder Änderung der Stimmlage solche Stimmungen erzeugen wie Asmodis. »Dabei braucht niemand Angst zu haben, der meine Befehle befolgt«, fuhr der Ex-Dämon in jovialem Tonfall fort. Trotzdem bekam der Tonkan eine Gänsehaut. »Es ist nur so, dass Gesetz ist, was ich sage. Und Gesetze sollte man doch befolgen, oder?« Rallant wusste, was die Stunde geschlagen hatte. Seine Bestrafung würde gleich erfolgen. Er blickte sich um, ob er sich irgendwo verstecken konnte. Dabei wusste er um die Nutzlosigkeit eines solchen Unterfangens. Er hatte es noch nie geschafft, sich vor Asmodis zu verstecken. Er entging seiner Strafe bestimmt nicht. »Habe ich da vielleicht Unrecht?« Rallant antwortete nicht auf die Frage. Er biss sich auf die Lippen und hoffte, dass alles schnell vorübergehen würde. Hinter ihnen standen die in allen Farben des Spektrums schillernden Regenbogenblumen. Eigenartigerweise fiel ihm in diesem Augenblick auf, dass sich wieder Krähen über den Regenbogenblumen aufhielten. Das verwirrte ihn. Sollte er aufspringen und versuchen, über die magischen Transportmittel zu fliehen? Wollten die Tiere ihm damit einen Ausweg zeigen? Er verwarf den Gedanken sogleich wieder. Er hatte keine Chance.
Selbst wenn er für kurze Zeit entfliehen könnte, wäre er seines Lebens nicht mehr sicher gewesen. Asmodis hätte ihn überall aufgespürt. Aber wie bin ich hierher gekommen? »Über eine Para-Spur«, grollte Asmodis mit dunkler Stimme, als hätte er die Gedanken des Tonkan gelesen. »Para-Spur?« Rallant wusste nicht, was das sein sollte. Asmodis' Lächeln wirkte mehr als überheblich. Er wusste, dass er Rallant damit bis aufs Blut reizen konnte. Und genau das bereitete ihm ein riesiges Vergnügen. Seine ganze Körperhaltung verriet, dass er sich über den Tonkan amüsierte. Als würde ein Wort alles erklären, sagte er nur: »Genau.« Rallant senkte den Kopf. War das seine Chance, der Bestrafung zu entgehen? »Was ist das, eine Para-Spur?«, fragte er und setzte leise hinzu: »Vater …« Asmodis' Grinsen wurde eine Spur breiter. Er kannte seine Pappenheimer. Die Tonkan nannten ihn meist nur dann Vater, wenn sie ihn besänftigen wollten. Nun, er würde das Spiel bis zu einer gewissen Grenze mitmachen. »Para-Spuren bestehen zwischen den meisten magischen Orten der verschiedensten Welten und Unterwelten, man muss sie nur sehen, um sie benutzen zu können«, erklärte er bereitwillig. »Nicht jeder kann das. Um an einen anderen Ort zu gelangen, muss man, wie beim zeitlosen Sprung, eine exakte Zielvorstellung haben.« Was er Rallant nicht erklärte: Im Gegensatz zum zeitlosen Sprung verstrich jedoch eine kleine Zeitspanne. Aber das brauchte er dem Tonkan nicht auf die neugierige Nase zu binden. »Und ich besitze ebenfalls diese Fähigkeit.« Es war eine Feststellung von Rallant, keine Frage. »Ich muss sie nur trainieren und ausbauen.« »Zweifelsohne«, bestätigte Asmodis. »Auch aus diesem Grund habe ich dir verboten, Broceliande zu verlassen. Dein Volk ist zahlenmäßig so klein, dass es sträflicher Leichtsinn ist, es zu verlassen. Du könntest das Leben verlieren. Abgesehen davon weiß ich, dass
du auf K'oandar Seelen-Tränen stehlen willst.« Woher er dieses Wissen bezog, verriet er nicht. Der Tonkan wusste, dass Asmodis unbekannte Quellen zur Verfügung standen, von denen andere Wesen nichts ahnten. »Ich weiß.« Rallant zeigte sich zerknirscht. »Aber ich kann nicht anders. Es ist ein innerer Zwang, der mich beherrscht. Ich kann einfach nicht dagegen ankämpfen.« »Mir ergeht es ebenso«, gestand Asmodis. Sein Lächeln verschwand, die dunklen Augen glühten. Er spie verächtlich aus, und unter seinem Speichel begann der Boden zischend zu brodeln und zu verdampfen. Die Krähen schrien auf und flogen davon. Deutlicher konnte er nicht zeigen, was er von Rallants Ansicht hielt. »Aber eins ist bei mir anders, Söhnchen«, knurrte er laut. »Ich will nicht dagegen ankämpfen.« Dann erhielt sein Ziehsohn die größte Tracht Prügel seines Lebens. Seine Genesung sollte drei volle Wochen dauern.
Asmodis zog den bewusstlosen Rallant mit sich und trat zwischen die Regenbogenblumen. Wer eine exakte Vorstellung von seinem Zielort oder seiner Zielperson hatte, trat zwischen den dortigen Blumen wieder ins Freie – es erfolgte ein zeitlos kurzer Transport. Wobei es unerheblich war, ob sich das Ziel in der gleichen Welt befand oder in anderen Dimensionen. Der Ex-Dämon zögerte noch einige Augenblicke. Mit einem fragenden Ausdruck im Gesicht blickte er noch einmal zurück. Fast so, als wäre ihm etwas aufgefallen, was er nicht einordnen konnte. Dann schüttelte er den Kopf. Er konzentrierte sich auf die Gegenstation am Rand von Merlins Zauberwald. Eine Sekunde später war er mit seiner zerschundenen Last verschwunden. Kurz darauf kamen die Krähen wieder zurück. Ihr erregtes Krächzen erfüllte die Lichtung bis weit in den Wald hinein. Es schien, als riefen sie jemanden. Ein unbekleidetes menschenähnliches Wesen materialisierte Augenblicke später zwischen den Regenbogenblumen. Es sah so hager
aus, als könne es einem starken Wind nicht lange Widerstand leisten. Die Arme und Beine wirkten wie die Gliedmaßen einer überdimensionalen Spinne. Alles an diesem Wesen sah untergewichtig aus. Die dunkelroten Augen ohne Pupillen lagen tief in den Höhlen. Die Nase ragte spitz hervor, als gehörte sie nicht zu dem grausamen Gesicht. Augenscheinlich handelte es sich um eine Frau. Sie blickte sich vorsichtig um, ehe sie einen Schritt auf die Krähen zu machte. Das Krächzen wurde augenblicklich lauter. Die Vögel erhoben sich wieder in die Luft. Es war ersichtlich, dass sie Angst vor der Fremden hatten. Deren Sinne sondierten die Umgebung. Sie schien mit dem Ergebnis ihrer Beobachtung zufrieden zu sein. Sie hielt den Kopf schräg, als lauschte sie voller Wohlbehagen den Lauten der Vögel. »Wen haben wir denn da?«, fragte sie und erhob einen Arm. Spärlicher, kurzer Pelz überzog ihren Körper wie ein Flickenteppich. Dort, wo die Haut sichtbar war, wirkte sie wie graugelbes verschrumpeltes Leder. Ihre Stimme klang heiser und gleichzeitig holprig; fast schon, als gehörte sie selbst zu den Krähen. Ihre erhobene Hand zeigte auf einen der Vögel. Er vollführte heftige Flügelbewegungen, um sich in Sicherheit zu bringen. Vor Angst und Anstrengung schrie er, so laut er konnte. Es half ihm nichts. Wie von einer unsichtbaren Schnur gezogen, flog die Krähe langsam auf die dürre Frau zu. Die kleinen Krallen hatte sie eingezogen, als weigerte sie sich, auf der Hand zu landen. Die Fremde verzog den Mund zu einem überheblichen Lächeln. Ein erneuter Gedankenbefehl sorgte dafür, dass die Krähe auf ihrer Hand landete. Mit der anderen Hand packte sie den Vogel am Hinterkopf. Es sah aus, als wollte sie ihn sanft streicheln. Alles, was die Krähe von Asmodis und Rallant gesehen und gehört hatte, übermittelte sie an die Fremde. Nicht ein Detail blieb verborgen. Die Frau schürzte die Lippen. Viel war es nicht gewesen, was sie erfahren hatte. Aber selbst Kleinigkeiten konnten ihr weiterhelfen.
Sie packte fester zu und tötete die Krähe mit einem brutalen Händedruck. Dann warf sie die Überreste des Vogels achtlos weg. Dankbarkeit kannte sie nicht. Er hatte seine Schuldigkeit getan, und sie tötete auch ohne besonderen Grund. »Ein Tonkan, der oft aus Broceliande flieht?«, überlegte sie laut. »Und Asmodis kümmert sich extra um ihn? So hilfsbereit kennen wir den Abtrünnigen ja gar nicht. Da steckt doch mehr dahinter. Aber was, verdammt noch mal, sind Seelen-Tränen?« Nach kurzem Nachdenken hatte sie einen Entschluss gefasst. »Das wird Stygia bestimmt interessieren …«
1. Die Spur des Gesichtslosen � »Ist das das wirkliche Leben, oder ist es nur Fantasie?« (Queen, 1975: ›Bohemian Rhapsodie‹)
Einige Wochen später Tjellkronn rannte um sein Leben. Hinter sich hörte er das Trampeln und die Schreie seiner Verfolger. Er bog von der geräumigen Höhle ab, die er gerade untersucht hatte, rannte einen schmalen Gang entlang und blickte über die Schulter zurück. Hinter ihm entstand ein chaotisches Durcheinander, weil jeder seiner Verfolger der erste sein wollte, der ihn erwischte. Jeder drängte sich nach vorn und behinderte dabei die anderen. Tjellkronn steigerte seine Geschwindigkeit, um die Situation zu nutzen. Dabei wischte er sich mit einer Hand über die blutverschmierte Stirn. Ein geworfener Stein hatte ihn zum Glück nur gestreift. Vor ihm wurde der Gang niedriger, gleichzeitig gewundener. Schließlich verengte er sich bis auf Kopfeshöhe. Der Gejagte duckte sich, um besser durchzukommen. Er drehte sich halb zur Seite und stürzte nach vorn. Im letzten Augenblick gelang es ihm, den Kopf einzuziehen. Trotzdem stürzte er zu Boden. Er fluchte und rappelte sich wieder auf. Er tastete die Arme schnell ab, ob er sich etwas gebrochen hatte. Aber außer kleinen Prellungen war ihm nichts geschehen. Verzweifelt blickte er sich um, aber neben sich sah er nur nacktes Gestein. Der vielfach gewundene Gang war so eng im Durchlass,
dass jeweils nur eine Person hindurchlaufen konnte. Nicht auszudenken, was geschah, wenn ihm jemand entgegenkam. Erneut wischte er sich über die Stirn, diesmal mit dem Ärmel seines Lederhemdes. Die Blutung wurde schwächer. In der Wunde pochte es. Er verspürte keine Schmerzen, doch die Blutstropfen störten ihn beim Sehen. Hier unten war es mittlerweile so düster, dass er höchstens zehn Meter weit sehen konnte. Alle paar Meter wurde die Sicht schlechter. »Nicht stehen bleiben!«, feuerte er sich an. Er begann wieder zu rennen. »Weiter! Schnell!« Dabei hatte er keine Ahnung, was die Meute von ihm wollte. Auf einmal waren sie da gewesen. Es mochte sich um acht bis zehn grobschlächtige Höllendiener handeln. Aber was hatten Höllendiener hier verloren? Tjellkronn befand sich auf Anweisung von Merlin Ambrosius in den Höhlen von Asotar. Er sollte Überwachungsarbeiten für den uralten Druiden vornehmen und ihm nach dieser Arbeit Bericht erstatten. Dass der Auftrag lebensgefährlich war, davon hatte Merlin nichts gesagt. Seinen Worten nach war die Aufgabe wichtig, aber ansonsten harmlos. Dem glaube ich so schnell nichts mehr!, nahm sich Tjellkronn vor. Aber dazu musste er erst einmal seinen Verfolgern entkommen. Und das würde ihm schwer fallen. Er hörte das Schreien und glaubte, dass die Horde näher gekommen war. Hatten sie sich also doch auf eine Reihenfolge geeinigt. Wenn ich sie nur irgendwie abschütteln könnte … Der Gang wurde höher, gleichzeitig nahm die Sicht weiter ab. Er wünschte sich, dass der Weg breiter wurde, doch sein Wunsch wurde nicht erfüllt. Von der Höhle bis hierher besaß der Gang eine unveränderte Breite. Er konnte schon froh sein, dass der Boden größtenteils eben war. So konnte er nicht so leicht stolpern. Was natürlich kein Vorteil für ihn war. Seine Verfolger konnten ebenso leicht hindurchlaufen wie er. Tjellkronn hustete mehrere Male. Seine Lunge rasselte, ihm fehlte
Atemluft. Solche Anstrengungen war er nicht gewohnt. Zumeist führte er den Umständen entsprechend ein geruhsames Leben. Meist übernahm er Botendienste oder Überwachungsarbeiten für den Zauberer Merlin. So hatte er es auch gehalten, bevor ihn die Horde verfolgte. Tjellkronn war ein kleiner, schlanker Mann. Sein Gesicht wirkte eingefallen, als litte er an einer Krankheit. Die fleischige Hakennase sah aus wie ein Fremdkörper in seinem Gesicht. Er besaß eine dröhnende Bass-Stimme, die überhaupt nicht zu seinem Typ passte. Er wurde etwas langsamer und hielt die Hände gegen die Hüften gepresst. Ihn plagte zusehends Seitenstechen. Sein Herz klopfte so laut; er befürchtete, dass seine Verfolger es hören konnten. »Was für ein Unsinn!«, schimpfte er mit sich selbst über diesen absurden Gedanken. »Tjellkronn, du Narr! Seit wann kann man klopfende Herzen hören?« Im diesem Augenblick vernahm er ein überlautes Pochen. Es war weithin zu hören. Es schlug im gleichen Takt wie sein Herz. Tjellkronn wusste sofort, dass seine Verfolger es irgendwie geschafft hatten, seinen Herzschlag hörbar zu machen. Wie sie das vollbracht hatten, war ihm ein Rätsel. Ihm war nur daran gelegen, dass der dumpfe, hämmernde Ton so schnell wie möglich abgestellt wurde. Es brachte ihn um den Verstand und die Verfolger auf seine Spur. Er atmete einige Male tief durch. Dann steigerte er wieder die Geschwindigkeit. Er musste den Fremden einfach entkommen. Er glaubte nicht, dass sie Gefangene machen wollten. Ihre Absicht war eindeutig. Sie wollten ihn töten! Tjellkronn wusste nicht, wie weit er sich von der Höhle entfernt hatte. Es war ihm auch egal. In dieser Umgebung verlor er die Fähigkeit, Entfernungen zu schätzen. Und dann geschah genau das, was er befürchtet hatte. Mitten in einer Kurve kamen ihm Gestalten entgegen. Tjellkronn erkannte sie erst, als er in den vordersten von ihnen hineingerannt war. Höllendiener! Merlins Diener hatte keine Chance gegen die Übermacht. Die Untertanen der Hölle besaßen stählerne Muskeln. Derjenige, gegen den
er prallte, hielt ihn mit allen Kräften fest, bis der Trupp der anderen Seite heran war. Gemeinsam schlugen sie ihn zusammen. Danach führten sie ihn ab. Tjellkronn biss sich vor Zorn auf die Unterlippe. Bis zur nächsten Höhle waren es höchstens noch 300 Meter. Innerhalb kurzer Zeit wäre er also fort gewesen. Aber woher sollte er das wissen? Auf der anderen Seite konnte er nach seinem Sturz nicht schneller rennen. Trotzdem machte er sich insgeheim Vorwürfe. Seine Feinde sprachen kein Wort mit ihm. Er erhielt keine Aufklärung, warum sie ihn gejagt und geschlagen hatten. Er wunderte sich darüber, dass sie ihn noch nicht getötet hatten. Welchen Wert stellte er für die Unbekannten dar? Er bemühte sich, ein gleichgültiges Gesicht zu machen. Die Höllendiener sollten nicht wissen, dass er innerlich bebte. Sie sollten auch nicht mitbekommen, dass er starke Schmerzen litt. Diesen Triumph gönnte er ihnen nicht. Die Höllendiener unterhielten sich in ihrer kehligen Sprache. Wesen, die sie nicht verstanden, kam es wie eine Mischung zwischen Knurren, Bellen und Heulen vor. Mit Sicherheit nahmen sie an, dass ihr Gefangener nichts von ihrer Unterhaltung mitbekam. Tjellkronn zeigte mit keiner Miene, dass er verstand, was sie sagten. Vielleicht konnte er so wichtige Informationen erfahren. »Weshalb können wir dem Kleinwüchsigen nicht gleich die Seele rauben?«, wollte ein Höllenknecht wissen, dem drei Hörner auf der Stirn wuchsen. »Ist doch alles nur Zeitverschwendung.« »Genau«, stimmte einer bei, dem lederne Schwingen aus dem Rücken wuchsen. Geifer tropfte aus seinem Mund. »Wenn wir ihn fangen sollen, dann können wir ihn auch entsorgen.« Der Rest der Horde grölte zustimmend zu seinen Worten. Die Höhle, die kaum genug Platz für sie alle bot, hallte dumpf von ihren Schreien wider. Einzelne Redner konnte Tjellkronn bei dem Lärm nicht unterscheiden. Auf jeden Fall besaßen sie den Befehl, ihn gefangen zu nehmen. Also sollte er vorerst nicht getötet werden. Er fragte sich, wie lange seine Schonzeit dauern würde.
»Das wird nicht geschehen«, dröhnte die Stimme des Anführers. Er war der Größte und Kräftigste unter ihnen. »Wir sollen ihn hier festsetzen und Bescheid geben. Und das werden wir auch tun.« Seine Leute protestierten laut gegen diesen Befehl. Sie waren damit nicht einverstanden. Der Anführer schlug seine Untergebenen und schrie sie zusammen, um sie einzuschüchtern. Als sie sich beruhigt hatten, knurrte er den mit den drei Hörnern an: »Hol Taronn!« Diesmal verzichtete der Gehörnte auf einen Protest. Er hatte genug von den Schlägen, deshalb beeilte er sich, dem Befehl seines Anführers nachzukommen. Der hieb Tjellkronn eine Faust auf die Schulter. Ächzend ging Merlins Diener in die Knie. »Was soll …?«, stöhnte Tjellkronn. »Halts Maul, du Wurm!«, fuhr ihn der Anführer an. »Du redest nur, wenn du gefragt wirst.« Er blickte ihn verächtlich an. »Ausgerechnet einen solchen Stümper wie dich sollen wir fangen. Ha! Du kannst dich noch nicht einmal beherrschen. Am Funkeln deiner Augen habe ich gesehen, dass du unser Gespräch verstehst.« »Dann reißen wir sie ihm doch heraus«, mischte sich der Geflügelte ein. Die Horde jubelte zu seinen Worten. »Reißt ihm die Augen raus!« – »Nagelt ihn an die Wand, damit er nicht entfliehen kann!« – »Bringt ihn um!« »Wir machen überhaupt nichts mit ihm«, stellte der Anführer klar. »Unsere Befehle lauten anders.« Natürlich murrten seine Leute, doch er blieb standhaft. »Gehen wir in die nächste Höhle«, schlug einer vor. »Bis dorthin ist es nur ein Steinwurf, außerdem haben wir dort mehr Platz.« Dem Argument konnte sich niemand verschließen. Tjellkronn erhielt einige Hiebe gegen den Rücken, dann schloss er sich notgedrungen den Höllischen an. Niemand hielt es für erforderlich, ihn zu fesseln. Was sollte er auch schon gegen sie ausrichten? Als sie die nächste Höhle betraten, hielt Tjellkronn unvermittelt an. Sofort erhielt er einige schmerzhafte Stöße in den Rücken. Er hatte die Nähe von etwas Besonderem gespürt.
Kann das wirklich wahr sein? Ein Kribbeln erfüllte seinen Körper. Das war vielleicht die Rettung. Er musste nur nahe genug herankommen. Aber ob seine Feinde das zulassen würden? »Stopp, Bastard!« Die Stimme des Anführers klang hart. »Erst soll ich laufen, dann wieder anhalten. Weißt du, was du willst?« Der Anführer war mindestens zwei Köpfe größer und baute sich vor Tjellkronn auf. Er blickte ihm von oben ins Gesicht. Sein fauliger Atem ließ Tjellkronn unwillkürlich den Atem anhalten. »Solltest du dich noch einmal ungefragt zu Wort melden, passiert etwas«, drohte er. »Und deine Befehle?« Tjellkronn hielt dem Blick stand. »Lassen sich teilweise anders interpretieren. Und das mache ich auch, wenn du mir keine andere Wahl lässt«, grinste sein Gegenüber. »Schlecht für dich.« Tjellkronn beschloss, ihn nicht weiter zu reizen. Wichtig war, dass er die Verbindung bekam. »Besetzt die beiden Ausgänge«, ordnete der Anführer an. Das war Tjellkronn recht, so waren die Höllenhunde abgelenkt. Er schloss die Augen und konzentrierte sich erneut. Ja, da ist es! Es kostete ihn ungeheure Mühe, ein Lächeln zu unterdrücken. Zwei Höllendiener stellten sich vor die beiden Ausgänge. Der Anführer gab weitere Befehle an seine Leute. So musste er Tjellkronn einige Sekunden aus seiner Aufmerksamkeit entlassen. Der wiederum setzte sich langsam in Bewegung. Noch fünf Schritte … vier … drei … Die Höllischen bemerkten, dass etwas nicht stimmte. Einige brüllten und machten den Anführer damit aufmerksam. Der sprang hinter Tjellkronn her und griff nach ihm. Er erwischte ihn am Lederhemd. Das Hemd riss ein, und der Anführer musste loslassen. Mit der anderen Hand versuchte er, Tjellkronn erneut zu ergreifen. Doch zu spät! … zwei … einer! Tjellkronn fädelte sich in die Para-Spur ein und ließ fast alles hin-
ter sich zurück. Die Höhle und die Schwarzblütigen. Aber etwas nahm er trotzdem mit, obwohl er es nicht wollte …
Über ihr erstreckte sich ein glühender Himmel ohne Sonne. Der Weg erschien ihr endlos lang. Und trotzdem beeilte sie sich nicht. Nichts hasste Stygia mehr, als wenn sie in den Thronsaal von Satans Ministerpräsident befohlen wurde. Er behandelte sie dann, als wäre sie klein und unbedeutend. Und beides war sie nicht in den sieben Kreisen der Hölle. Ganz im Gegenteil. Sie war die Fürstin der Finsternis und somit automatisch die Nachfolgerin von Asmodis und Leonardo deMontagne. Nach Rico Calderone, dem gegenwärtigen Ministerpräsidenten, stand sie an Nummer zwei der Höllenhierarchie. Ihm war sie verantwortlich über alle Unternehmungen, die sie oder ihre Untergebenen durchführten. Doch selbst wenn alle Aktionen hundertprozentig nach seinen Anweisungen durchgeführt wurden, hatte er die widersinnigsten Einwände. Sollte er doch auf sie warten! Sie sah überhaupt nicht ein, dass sie auf diesen Emporkömmling hören sollte. Sie hielt die Schultern und Flügel gestrafft und das gehörnte Haupt stolz erhoben. Als Fürstin durfte sie keine Unsicherheit zeigen, aber auch kein Verständnis für etwaige Hindernisse oder Verspätungen aufbringen. Sie musste ihre Diener knallhart behandeln, sonst würde sie nicht mehr lange ihr Amt bekleiden. Dem Ministerpräsidenten gegenüber durfte sie diesen Ton nicht anschlagen. Bei ihm musste sie gegebenenfalls schleimen, damit er sie nicht bestrafte. Wie sie das hasste! Unter Lucifuge Rofocale war es schon schlimm gewesen. Dessen Nachfolger Astardis war einigermaßen zu ertragen. Aber Rico Calderone – früher ein Mensch, jetzt durch die Magie des vom dunklen Lord ermordeten Lucifuge Rofocale ein Dämon, und das auch durch ihre Schuld – konnte und wollte sie sich nicht beugen. Sie unternahm hinterrücks alles, um ihm zu schaden. Nur musste sie dabei das elfte Gebot beachten: »Du sollst dich nicht erwischen lassen!« Es war nur sehr schwer möglich, den ehemaligen Sicherheitsbeauf-
tragten der Tendyke Industries zu hintergehen. Calderone schien seine Augen und Ohren nämlich überall zu haben. Wie er das schaffte, war Stygia ein Rätsel. Dabei war sie selbst eine Meisterin in dieser Disziplin. Abgesehen von ihren anderen Lieblingsdisziplinen Lug, Betrug, Mord und Totschlag. Calderone würde vor Zorn kochen darüber, dass sie ihn so lange warten ließ. Aber das machte ihr heute noch weniger aus als sonst. Klagende Schreie wurden vom Wind zu ihr herübergetragen. Es handelte sich um das Wehgeschrei auf ewig verdammter Seelen, für die es kein Entrinnen aus dem Fegefeuer gab. Unwillkürlich kam Stygia zu Bewusstsein, dass Calderone vor nicht allzu langer Zeit noch ein Mensch gewesen war, dem dieses Schicksal ebenfalls gedroht hatte. Einzig dadurch, dass sein Vorgänger Lucifuge Rofocale ihm drei Schatten angehext hatte, ehe er getötet wurde, hatte er Calderone zum Dämon gemacht und ihm die Möglichkeit beschert, eigene magische Kräfte zu entwickeln. Was wäre uns alles erspart geblieben, wenn ich ihn damals getötet hätte, statt ihm zu helfen, dachte Stygia verärgert. Zeit und Raum spielten hier nur eine untergeordnete Rolle. Die Hölle war größtenteils instabil und damit ständigen Veränderungen unterworfen. Richtungen existierten kaum, und Zeit war ohne Bedeutung. Sie existierte, sie verstrich, aber sie war hier unwichtig. Das, was die Menschen Hölle nannten, war eine in sich geschlossene, komplexe Welt. Sie war teilweise variabel und veränderte ihr Aussehen und ihre Struktur ständig. Wo heute noch Wege waren, konnte morgen das absolute Nichts sein, und übermorgen konnte dort ein neuer Berg emporwachsen … Langsam näherte sie sich dem Thronsaal. Er befand sich in einem der wenigen festen, nahezu unveränderlichen Bereiche. In der Höllensphäre glühten verlorene Seelen und schrien um Erlösung von ihrer Qual. Gespenstische Schemen huschten einher, verwirrten die ewig Verfluchten damit und lenkten sie auf diese Weise ein wenig von ihren Schmerzen ab. Deutlich spürte sie den Hauch von Macht, die von hier ausging und die gesamte Hölle beherrschte. LUZIFER, der eigentliche Herr-
scher, bestehend aus der höllischen Dreieinigkeit Satan Merkratik, Beelzebub und Put Satanachia, kümmerte sich um nichts. Er verbarg sich hinter der Flammenwand und griff nicht in das Geschehen ein. Nicht einmal, als Stygia mit einem Trick Fürstin der Finsternis wurde. Und auch später nicht, als Rico Calderone den Höllenthron bestieg. Gerade zu diesen Gelegenheiten hätte LUZIFER widersprechen und beide davonjagen oder vernichten müssen. Und nun ging das Gerücht um, dass der KAISER der Hölle gar nicht mehr existierte. Nur konnte es niemand beweisen. Und Stygia und Calderone, die als Einzige unversehrt hinter die Flammenwand gelangen konnten, hüteten sich davor, den Beweis zu erbringen. Da waren sie sich ausnahmsweise einmal einig … Irrwische, Hilfsgeister und dämonische Höllendiener befanden sich im Thronsaal, als Stygia eintrat. Sie hielten in ihrem Treiben inne und verstummten, als sie die Fürstin der Finsternis erkannten. Es war unverkennbar, dass Calderone sich stark zusammennehmen musste, um nicht sofort loszuschreien, als er sie sah. Sie stand vor ihm, den Kopf in den Nacken gelegt, ein abfalliges Lächeln im Gesicht, als würde sie den Mann auf dem Knochenthron über ihr nicht ernst nehmen. Es war nicht ratsam, ihn zu unterschätzen. Diejenigen, die das gemacht hatten, lebten längst nicht mehr. Rico Calderone war in eine mönchsartige Kutte gekleidet. Sie wurde allmählich zu seinem Markenzeichen. Die roten Haare standen nach allen Seiten ab, was ihm das Aussehen eines Wahnsinnigen verlieh. Und irgendwo war er das auch. Er wirkte ungehalten und leicht verwirrt. Stygia zeigte sich als eine wunderschöne, unbekleidete, schwarzhaarige Frau mit südländischem Einschlag. Lederartige Schwingen, die aus ihrem Rücken wuchsen, sowie glühende rote Augen ließen sie fremdartig auf Menschen erscheinen. Doch konnte sie ihr Aussehen jederzeit verändern, so dass sie nicht von normalen Frauen zu unterscheiden war. Minutenlang starrten sie sich an, ohne dass einer von beiden das Wort ergriff. Die Spannung zwischen ihnen war greifbar. Keiner der Geister und Diener wagte, einen Ton von sich zu geben.
Calderone brach das Schweigen auf seine Art. Er schrie seine Untergebenen an und warf sie aus dem Thronsaal. Als er mit Stygia allein war, blickte er sie stumm an. Dann hieb er mit der Faust auf die totenkopfverzierte Armstütze des Thrones. »Was glaubst du eigentlich, wer du bist und wen du vor dir hast? Weshalb lässt du mich warten?« Seine Stimme hallte im Saal wider. Sie brach sich und kam als vielfaches Echo zurück. Stygia gab ihm keine Antwort auf die Frage. »Mach das nicht noch einmal!« Seine Stimme überschlug sich vor Zorn. Der Tonfall war ungewöhnlich hoch. »Nie mehr! Verstehst du?« Stygia wich seinem Blick nicht aus. Äußerlich wirkte sie so ruhig wie selten zuvor. Sie hätte Calderone am liebsten sofort umgebracht, doch das durfte sie nach den Gesetzen der Hölle nicht. Er musste sich erst etwas zu Schulden kommen lassen. Ein Dämon müsste ganz erheblich gegen die Gesetze der Hölle verstoßen, um ihn danach anklagen oder direkt erschlagen zu können. »Sonst?« »Sonst was?« »Welche Drohung hast du für den Fall, dass ich das nächste Mal nicht schneller vor dir erscheine?« Calderone kniff die Augen zusammen. Er rutschte etwas vor und blickte von oben auf die Fürstin. Seine Hände hielten die Armlehnen umklammert. Es sah aus, als wollte er sich jeden Augenblick auf sie stürzen. »Ich drohe nicht, Weibchen«, verkündete er. »Ich bestrafe ohne Vorwarnung.« Sie zog die Augenbrauen in die Höhe. Das allein genügte schon, um ihn in erneute Raserei zu versetzen. Er beherrschte sich mit letzter Kraft. »Ach.« Stygia sagte nur dieses eine Wort, aber ihr Tonfall reichte schon, um seine Stimmung weiter kippen zu lassen. Das Schweigen zwischen ihnen dauerte fort. Die Grenzen waren abgesteckt. Beide wussten, dass nur ein außergewöhnlicher Grund hinter dem Befehl steckte, Stygia zur Audienz zu laden. Die Fürstin
nahm sich vor, erst dann das Wort zu ergreifen, wenn Calderone ihr diesen Grund nannte. Darauf musste sie nicht lange warten. Der Ministerpräsident kam schon nach kurzer Zeit auf kleinen Umwegen zum Thema. »Ich habe etwas äußerst Interessantes gehört.« Stygia hob die Schultern etwas an. Sie hatte keine Ahnung, worauf ihr Boss anspielte. »Es wird viel erzählt, was nicht stimmt«, versuchte sie, dem Gespräch etwas an Brisanz zu nehmen. »Stimmt, meine Teuerste«, gab er zu und setzte sich wieder zurück. »Aber das, was ich dir gleich erzähle, ist die Wahrheit.« Scheiße, was weiß der, was mir noch nicht bekannt ist?, durchfuhr es sie. Sie fühlte sich unbehaglich bei dem Gedanken. Wenn Calderone so reagierte, dann hatte mit Sicherheit einer ihrer Leute Bockmist gebaut, und der Ministerpräsident ergriff garantiert die Gelegenheit, ihr das unter die Nase zu reiben. »Ach, und was sollte das sein?« Sie gab sich Mühe, ihrer Stimme einen gelangweilten Klang zu verleihen. Calderone beugte sich erneut vor. Er streckte sich noch etwas mehr als vorhin. Sein Lächeln als dämonisch zu bezeichnen, war sicherlich die Untertreibung des Jahres. »Kennst du Tjellkronn?« Stygia rann es kalt die Wirbelsäule hinunter. Trotz der mindestens 35 Grad Celsius, die ständig in diesem Teil der Hölle herrschten. Sie hatte befürchtet, dass er von der Sache Wind bekam, aber nicht, dass es so schnell gehen würde. »Wer oder was sollte das sein?«, stellte sie sich unwissend. Sie wusste sehr wohl um Merlins Diener. Schließlich war die missglückte Gefangennahme auf ihre Veranlassung hin erfolgt. Dass der Zwerg wieder entflohen war, dafür konnte sie nichts. Und die Diener, die das verbockt hatten, lebten schon längst nicht mehr. Stygia hatte ihnen ihr Versagen nicht verziehen. »Mit Schwund muss man leben«, lautete schon der Lieblingsspruch ihres Vorgängers Asmodis. Und daran hatte sie sich gehalten. Calderone schloss für wenige Sekunden die Augen. Innerlich zähl-
te er bis zehn, dann öffnete er sie wieder. »Tjellkronn ist ein Diener des Abtrünnigen Merlin«, erklärte er langsam. »Und das weißt du.« Er verschränkte seine Finger ineinander, drehte die Handflächen nach außen und streckte beide Arme von sich. Es gab ein hässliches trockenes Knacken. Der Blick aus seinen Augen war härter als sonst. »Ein Diener, den deine unfähigen Truppen entkommen ließen«, setzte Calderone noch einen drauf, wohlwissend, dass er sie in der Hand hatte. »Das …« »Spar dir deine Lügen.« Calderone winkte sichtlich genervt ab. »Solltest du allen Ernstes erklären wollen, dass du davon angeblich keine Ahnung haben willst, so sagst du die Unwahrheit.« Stygia kniff die Augen zusammen. Sie ballte die Hände zu Fäusten. Ihre Krallen bohrten sich dabei schmerzhaft in die Handteller. Woher hat der Kretin das schon wieder erfahren? Wenn ich den Verräter erwische, soll er tausend Tode sterben. »Mach dir keine Gedanken über denjenigen, der mir das verraten hat«, fügte Calderone wie beiläufig hinzu. Gerade so, als habe er ihre Gedanken gelesen. »Du kannst ihn nicht mehr bestrafen, denn … du hast ihn selbst getötet!« Er grinste breiter, als er ihr verwirrtes Gesicht sah. Keine Frage, Rico Calderone kostete die Situation voll aus. »Es war einer aus der Horde, die du dem nachgemachten Zwerg nachschicktest«, lachte er meckernd. Er wollte sich überhaupt nicht beruhigen. »Und das Tollste daran war, dass der Narr keine Ahnung von seiner Funktion hatte.« In ohnmächtigem Zorn stand Stygia vor dem Herrscher der Hölle. Schultern und Flügel hatten sich regelrecht verkrampft, ihr Gehörn schien ein Eigenleben zu führen. »Wenn du schon alles weißt, weshalb riefst du mich dann zu dir?«, herrschte Stygia Satans Ministerpräsident an. Rico Calderone erhob sich vom Knochenthron. Er ging ihr einige Schritte entgegen, bis die Stufen begannen, die auf Stygias Ebene hinunterführten. Sie musste immer noch zu ihm aufblicken. Er wollte ihr auch damit zeigen, dass er der Ranghöhere war.
Stygia spürte die Macht, die von diesem Thron ausging. Fast wäre sie die Nachfolgerin des Astardis geworden. Calderone war nur an die Macht gekommen, weil er etwas wusste, mit dem er sie erpressen konnte. Damals schloss sie nach der Vernichtung des falschen Astardis einen Pakt mit Zamorra und dessen Gefährtin Nicole Duval. Und dieses Druckmittel nutzte er oft genug aus. »Weshalb ich dich rief, willst du allen Ernstes wissen?«, donnerte seine Stimme durch den Saal. »Weil ich der Herr der Hölle bin und über alles informiert sein muss!« »Aber …« »Ich will kein Aber hören!«, fuhr er sie an. »Wenn ein Einsatz gegen die Feinde der Hölle stattfindet, dann hast du mir darüber Bericht zu erstatten. Und wenn dieser Einsatz so gründlich in die Hose ging wie der, von dem wir reden, dann hast du mich erst recht zu benachrichtigen.« Stygia bleckte die Zähne. Sie war wütend über seine Anschuldigung. Wenn sie ehrlich gegenüber sich selbst wäre, dann würde sie zugeben, dass sich diese Wut gegen die Hilflosigkeit richtete, die sie in diesem Moment empfand. Normalerweise beherrschte sie die Situation und bestrafte andere für ihre Vergehen, und hier befand sie sich in der Rolle der Verliererin. »Hast du als unser aller Herrscher nicht genug zu tun, als dass ich dich mit solchen Nichtigkeiten belästige?« Ihre Stimme troff vor Spott. Sie konnte diese Bemerkung nicht unterdrücken, selbst wenn sie gewollt hätte. Calderone zuckte zusammen. Er zielte mit dem Zeigefinger auf sie. »Pass auf, in welchem Ton du mit mir sprichst. Noch einmal lasse ich dir eine solche Verhöhnung meiner Person nicht durchgehen.« Er sagte dies leise und ruhig, und gerade deshalb wusste Stygia, dass sie sich nichts mehr erlauben durfte. Jeder weitere Spott oder jede Widerrede hätte eine Katastrophe heraufbeschworen. Hier zeigte sich einer der größten Anteile ihres Charakters. Wenn es darum ging, Hilfsgeister in großer Zahl vernichten zu lassen, verspürte die Fürstin der Finsternis keine Skrupel. Ging es aber um ihr Leben, dann versuchte sie, jedes Risiko zu vermeiden. In dem Fall war sie
einer der größten Feiglinge, die es im Multiversum gab. Er drehte sich um, ging zurück zum Knochenthron und setzte sich wieder. Dann gab er ihr mit der Hand ein Zeichen. »Ich höre«, sagte er und blickte sie auffordernd an. Stygia biss sich auf die Lippen und schnaufte tief durch. Er hatte sie gerade dort, wo sie nie sein wollte. Jetzt musste sie aufpassen, dass sie ihm nicht zu viel erzählte. Einige Geheimnisse in dieser Sache wollte sie noch für sich behalten. »Ich will alles hören, meine Teuerste«, setzte er hinzu. »Auch was diesen Tonkan … Rallant betrifft und deine Freundin Taronn.« »Sie ist nicht meine Freundin«, beschwerte sich Stygia. Sie schloss die Augen für Sekunden. Es war genau das eingetroffen, was sie unter allen Umständen vermeiden wollte. Beim Erzengel. Er weiß fast alles!, durchfuhr es sie wie ein Stromstoß. »Sondern? Eine deiner Dienerinnen?« »So ist es«, gestand sie. Jetzt war sowieso alles egal. »Ich übertrage ihr oft schwierige Aufträge, weil sie am zuverlässigsten ist. Vor einiger Zeit fand sie heraus, dass sich der Abtrünnige Asmodis oft mit jenem Tonkan namens Rallant trifft. Tonkan sind …« »Ich bin über die ehemaligen Schwarzelfen informiert«, unterbrach Calderone und winkte ab. Selbstverständlich erwähnte er nicht, woher er dieses Wissen bezog. »Rallant befindet sich oft außerhalb von Broceliande. Mittels Regenbogenblumen reist er zu den verschiedensten Welten. Vor kurzem hat er die Existenz der Para-Spuren entdeckt. Ich habe ihm Taronn hinterhergeschickt, damit sie mir Bericht erstattet, wohin er reist und wie weit er seine Fähigkeit ausgebaut hat.« »Das ist keine schlechte Idee«, lobte Calderone ausnahmsweise. »Aber warum das alles?« »Er ist ein Schützling von Asmodis«, antwortete Stygia. »Vielleicht können wir meinen Vorgänger durch Rallant empfindlich treffen. Eventuell könnten wir ihn sogar vernichten.« »Oder durch ihn Zamorra vernichten lassen?« Calderone hielt beide Hände gegeneinander, die Fingerspitzen zu einer Pyramide zusammengelegt.
»Das war Teil meines Planes«, beeilte sich Stygia zu versichern. Das stimmte zwar nicht ganz, aber wer wollte das schon nachprüfen? »Und was wolltest du mit diesem Tjellkronn anfangen?« »Der Dreckskerl hat mir ein Geschäft verdorben und den Tod verdient«, zischte Stygia erbost. »Ich wollte ihn dafür büßen lassen, dass er mir Schaden zugefügt hat.« »Du wirst es überleben«, grinste der Ministerpräsident. »Mir kommt da eine Idee, wie wir ihn gegen unsere Feinde verwenden können …« Sie wartete darauf, dass er ihr die Idee erklärte, aber er dachte nicht im Traum daran. Stattdessen hatte er ein erneutes Anliegen: »Um zu diesem Rallant zurückzukommen … Ich habe da einen Begriff, den ich nirgends einordnen kann. Dieses eigenartige Wort habe ich noch nie zuvor gehört.« »Wovon sprichst du?« Stygia wusste nicht, worauf er anspielte. »Was sind Seelen-Tränen?«
Sie erschienen von einer Sekunde auf die nächste. Zuerst flimmerte die Luft, dann materialisierte etwas. Zwei absolut menschlich aussehende Frauen traten aus der Regenbogenblumenkolonie, die am Rand von Broceliande wuchs. Regenbogenblumen gab es nur an wenigen Stellen der Erde sowie auf einigen Planeten. Die fantastischen Pflanzen tauchten in keinem biologischen Lehrbuch auf. Ihre Blüten welkten nie, sie befanden sich das ganze Jahr über in voller Pracht. Wer zwischen die Blumen trat und eine exakte Vorstellung von seinem Zielort hatte, trat zwischen den dortigen Blumen wieder ins Freie. Der Transport erfolgte ohne Zeitverlust. Es war unerheblich, ob sich das Ziel auf der gleichen Welt befand oder in einer anderen Dimension. Oder auch in einer anderen Zeit. Darum war es ratsam, die Gedanken nur an den Bestimmungsort zu lenken. Es musste nur eine Gegenstation in Form weiterer Regenbogenblumen bestehen.
Unterschiedlicher konnten Frauen kaum sein. Die eine war etwa einssiebzig groß und sehr schlank. Sie trug eine hellblaue, fast schon weiße Korsage. Ein Pelzmantel hing ihr locker über die Schulter, das sorgfältig gestraffte und mit Spangen befestigte blonde Haar reichte ihr bis zum Rücken. In der Hand hielt sie einen Stock, dessen Handgriff ein Drachenkopf zierte. Eine aus einem Stück Stoff zusammengebundene Umhängetasche hing über ihrer Schulter. Die andere war über einen Kopf kleiner, maß höchstens einsvierzig und ihre hüftlangen rötlichbraunen Haare schimmerten im Glanz der Sonne. Als einzige Kleidungsstücke trug sie einen grünen Tangaslip und Sandalen. Um den Hals hing eine Kette, an der sich ein Medaillon befand. Über der Schulter trug sie eine beigefarbige Umhängetasche aus Lakxaleder, in der sich drei von D'Halas SeelenTränen befanden. Die Hexe D'Hala war die Erste, die es schaffte, ihre magischen Kräfte nach ihrem Tod zu hinterlassen. Durch ein spezielles Verfahren schaffte sie es, ihre Kräfte zu manifestieren, bevor sie mit ihrem Tod verwehten. Die gespeicherte Magie konnte abgerufen und dosiert eingesetzt werden. Seanzaara war derzeit D'Halas Nachfolgerin. Die harten dunklen Augen und der stets spöttisch verzogene Mund wiesen darauf hin, es mit einer besonderen Person zu tun zu haben. Ihre Körperhaltung allein drückte schon aus, dass sie sich allen anderen absolut überlegen fühlte. »Was ICH will, geschieht!« Es schien, als habe die Frau sich diese Worte auf die Stirn tätowiert. Ihre Ausstrahlung war so enorm, dass sie nachdrücklich auf andere wirkte. Es war nicht ratsam, sie zur Gegnerin zu haben. Beiden Frauen gemeinsam war die meist kühle Art zu reagieren. Sie schienen auf den ersten Blick kaum Emotionen zu kennen. Und trotzdem war schon auf den ersten Blick ersichtlich, dass die kleinere die Befehlshaberin war. Ihr enormes Durchsetzungsvermögen war einzigartig. Sie sahen sich um. Jedes kleinste Detail erfassten sie mit sezierenden Blicken. Auch dass der Zauberwald von undurchdringlichem Nebel umgeben war. Broceliande war ein Realität gewordenes Wunder. Der Wald wirkte auf Außenstehende wie ein eigenständiges,
denkendes, sogar fühlendes Lebewesen. Und auf eine gewisse Art war er das auch. Es war Magie, die alles zusammenhielt. Wobei sich der Zauber auf alle Pflanzen und Wesen des Waldes erstreckte. Vor vielen Jahren pflanzte Merlin Ambrosius hier die ersten Bäume und Sträucher an. Danach besiedelte er das Gebiet mit Tieren und mit magisch begabten Wesen. Darunter befanden sich die absonderlichsten Geschöpfe. Menschengroße Käfer existierten genauso wie denkende Pflanzen oder Phönix-Vögel, die sich nach ihrer Vernichtung selbst erneuerten. Und alle konnten sprechen oder sich per Telepathie mitteilen. Es gab praktisch nichts und niemanden im Zauberwald, der nicht irgendeine Beziehung zu Magie hatte. Teilweise war der Wald dicht bewachsen, manchmal erschien er wie ein undurchdringlicher Dschungel. Andererseits gab es, ähnlich einem Park, angelegte Bäche, Seen und freie Wiesenflächen. »Wo sind wir denn hier gelandet, Keanor?«, fragte die kleinere Frau. Die Umgebung schien ihr nicht sehr zu gefallen. Am Waldrand wallte Nebel auf und versperrte die Sicht auf die Welt draußen. Keanor bezweifelte, dass jemand sehr weit gelangen konnte. Irgendwo in oder hinter dieser Nebelwand war Schluss mit der realen Welt, dessen war sie sicher. Aber sie wollte nicht ausprobieren, ob ihre Vermutung stimmte; so wichtig erschien ihr die Idee nicht. Ihre Aufgabe war wichtiger. »Ich habe keine Ahnung, Seanzaara«, bekannte die blonde Schönheit. Sie machte die caltarische Geste der Ratlosigkeit und hielt der anderen beide Handflächen entgegen. Die humanoiden Caltaren lebten auf dem Planeten K'oandar; viele Lichtjahre von der Erde entfernt. K'oandar war der vierte von sechs Planeten einer blauweißen Doppelsonne. Er war etwas kleiner als die Erde und besaß geringfügig weniger Schwerkraft. K'oandar war ein Schnittpunkt zwischen den Dimensionen. Auf dem Planeten wurde Magie verstärkt. Caltaren ähnelten Steinzeitmenschen, wirkten ausgemergelt, verfügten aber über enorme Kräfte. Beide Frauen lebten auf K'oandar, aber sie waren keine reinen Caltaren. Trotzdem besaßen sie auf ihrer Welt höchstes Ansehen. »Aber die Spur von An'dean führt hierher.« Seanzaara verzog das Gesicht.
»Lange genug hat's ja gedauert, bis wir auch die letzte Spur von ihm fanden«, fügte Keanor hinzu. »Das stimmt, aber mich interessiert nicht, wo der verfluchte Gesichtslose sich befindet oder was er macht«, sagte die k'oandarische Hexe. »Weiter bestrafen kann ich ihn eh nicht mehr, es sei denn, ich nehme ihm sein nutzloses Leben.« »Ich glaube nicht, dass das eine Strafe für ihn wäre. Schließlich hat er schon einige Selbstmordversuche hinter sich.« Ein schmaler Pfad führte in das undurchdringliche Dickicht des Zauberwaldes. Schon nach wenigen Metern schien der Weg versperrt zu sein. Kein normaler Urwald konnte dermaßen zugewuchert sein. Aber Broceliande ließ sich auch nicht mit irgendeinem Ort des Multiversums vergleichen. Merlins Zauberwald existierte seit Tausenden von Jahren. Andere Büsche und Bäume benötigten Licht und Wasser zum Wachsen. Bei Broceliande kam eine dritte Komponente hinzu: Alle Tiere und Pflanzen enthielten Magie. Das war auch nach der Aufforstung so. »Aber ich will wissen, wo der verfluchte Hurensohn die drei Seelen-Tränen versteckt, die er aus der Mauer der Schmerzen entwendete«, zischte Seanzaara. »Ich will die Tränen zurückhaben, koste es, was es wolle!« »Dazu müssen wir ihn erst einmal haben.« Seanzaara setzte sich auf den weichen Moosboden, ohne ein Wort zu Keanors Meinung zu verlieren. Sie schloss die Augen und konzentrierte sich auf die Umgebung. Mit ihren magischen Sinnen suchte sie nach Spuren des Gesichtslosen und der Seelen-Tränen. Die Hände legte sie an die Schläfen, um sich besser konzentrieren zu können. Ihr Oberkörper hob und senkte sich langsam, als habe sie eine schwere Arbeit hinter sich gebracht. Schweiß rann in Strömen über Gesicht und Brüste. Sie ballte die Hände zu Fäusten und presste sie gegen den Kopf. Leises Stöhnen entwich ihrem Mund. Keanor ging vor Seanzaara in die Hocke. Sie legte die Hand auf den Kopf der Hexe. Den Stock mit dem Drachenkopf hielt sie gegen die Stirn ihrer Begleiterin. Kraft floss auf die kleine Frau über.
Nach wenigen Sekunden nahm Seanzaara Keanors Hände weg. Sie öffnete die Augen und sah ihre Begleiterin an. Dann kam sie auf die Knie und stand kopfschüttelnd wieder auf. »Es ist schon zu lange her, dass er hier ankam«, ächzte sie. »Ich konnte nur einen Hauch von ihm wahrnehmen.« »Und wohin ging er?« Keanor blickte kurz zu dem schmalen Pfad, der ins Innere des Zauberwalds führte. »Dorthin?« »Du hast es erraten«, sagte Seanzaara. »Die Spur führt dort hinein.« »Was hindert uns daran, ihm zu folgen?« Seanzaara wischte sich den Schweiß von der Stirn. Sie grinste leicht überheblich. »Die Vorsicht«, antwortete sie. »Lieber etwas Zeit lassen und einmal mehr vorsichtig sein als für immer tot.« Keanor trat auf den Waldrand zu. Sie betrachtete die mannshohen Regenbogenblumen. Eine Blüte erregte ihr Interesse. »Schau mal, sieht aus, als habe jemand der Blume einen Riss versetzt«, mutmaßte sie. Dabei strich sie über die Narbe. Seanzaara konzentrierte sich wieder. »Diese Bilder sind neueren Datums«, erklärte sie. »Eine dunkelblaue Frau mit animalischer Ausstrahlung hat die Blume verletzt. Aber das ist nicht wichtig für uns.« »Verletzt? Du redest von den Transportblumen, als seien sie Lebewesen«, beschwerte sich Keanor. Seanzaara blickte sie bitterböse an. »Für mich sind sie das auch«, entgegnete sie. Dann drehte sie sich abrupt um und blickte auf den Waldrand von Broceliande. Mittels ihrer Gabe spürte sie, dass dieser Ort etwas Besonderes war. »Versuchen wir einzudringen«, befahl sie. »Weshalb versuchen?« Keanor war leicht verwirrt. »Wir durchstreifen diesen Wald, bis wir An'dean haben und …« Seanzaaras erhobene Hand brachte sie zum Schweigen. »Konzentriere dich, ehe du Unsinn redest«, herrschte sie ihre Untergebene an. Keanor zuckte zusammen; sie hatte nicht mit einer Zurechtwei-
sung gerechnet. »Warum sollte ich?« Seanzaaras Gesicht zeigte ihre Enttäuschung. »Ich habe dir mehr Können zugetraut«, zischte sie. Keanor biss sich auf die Unterlippe. Womit hatte sie ihre Begleiterin schon wieder erzürnt? Manchmal legte die Hexe einzelne Worte auf die Goldwaage. Dann war sie kaum zu ertragen. Das Schlimme war nur, dass solche Stimmungsschwankungen unerwartet kamen. Man konnte sich nicht darauf einstellen. Die blonde Schönheit lenkte ihre Aufmerksamkeit auf den Zauberwald. Gut, wenn Seanzaara meinte, dann würde sie das Gebilde vor sich geistig abtasten. Aber sie konnte sich nicht vorstellen, dass … Es durchzuckte sie wie ein Stromstoß. Ihre Sinne wurden von der Erkenntnis förmlich überspült. Es war unfassbar, der Wald lebte! Aber nicht wie normale Wälder. Diese unübersehbar große Anzahl von Bäumen, Büschen, Gras und Moos besaß eine – Seele! »Du fühlst es auch«, flüsterte Seanzaara. Sie band ihre hüftlange Mähne mit einem Lederband im Nacken zusammen. In den dichten Dornenranken und Ästen konnten sich ihre Haare verfangen. Falls sie reagieren musste, wollte sie Bewegungsfreiheit haben. »Du willst wirklich dort hinein?« Keanor war mit einem Schlag nicht mehr so begeistert von der Idee. Sie traute der Waldseele nicht. »Aber selbstverständlich«, antwortete Seanzaara. »Ich sagte nur, dass wir vorsichtig sein müssen.« An der Grenze von Broceliande blieben sie stehen. Deutlich fühlten sie die Abwehr des Zauberwaldes. Es prickelte unangenehm auf der Haut. Die Sehkraft schwand, und in den Ohren rauschte es. Dabei handelte es sich dabei um die sogenannte M-Abwehr, die Broceliande ebenso wie Zamorras Schloss Château Montagne vor schwarzmagischen Angriffen schützte. Jedes Höllenwesen starb daran innerhalb kürzester Zeit und unter unsagbaren Schmerzen. »Nicht zurückbleiben«, knurrte Seanzaara. »Da müssen die sich etwas anderes einfallen lassen.« Sie drangen wenige Meter in den Wald ein. Es wurde dunkler, von einem Meter zum nächsten. Dornenranken peitschten durch die
Luft, ohne sie zu treffen. Äste versperrten ihnen den Weg. Gras wuchs in Sekundenschnelle in die Höhe. Der Angriff erfolgte so spontan und überraschend, dass er nur einer instinktiven Reaktion, nicht aber einer überlegten Planung entstammen konnte. »Was soll denn das bedeuten?« Keanors Gesicht war zornrot. Sie hatte sich an dem Gras geschnitten und schlug mit ihrem Stock nach dem Gewächs. »Der Wald will uns verscheuchen«, vermutete Seanzaara. »Bisher tut er uns nichts. Das ist alles nur Abwehr.« »Aha, und was unternimmt er, wenn's ernst wird?«, ätzte die Blonde, während ihr das Gras entgegenwehte. Im gleichen Augenblick erhielt sie von einer Dornenranke einen Schlag gegen die Brust. Sie schrie vor Schmerz und presste eine Hand dagegen. Mit der anderen Hand fasste sie ihren Stock und gab ihm einen Gedankenbefehl. Ein Energiestrahl schoss hervor und entzündete das Gras. Hoch loderten Flammen auf. »Dir werde ich zeigen, was es heißt, mich anzugreifen!«, schrie Keanor. Ein Windstoß von ungeheurer Kraft blies das Feuer aus. Gleichzeitig wurden beide Frauen mehrere Meter durch die Luft gewirbelt. Zum Glück landeten sie auf dem so schnell gewachsenen Gras und zogen sich dadurch nur leichte Prellungen zu. »Das … ich glaub's ja nicht«, hauchte Keanor. »Der Wald wehrt sich gegen uns.« »Aber das wird ihm nichts helfen.« Seanzaara war sich ihrer Sache sicher. Sie konzentrierte sich auf ihre Magie. »Wir werden ihm schon zeigen, dass wir ihm überlegen sind.« Als wollte Broceliande ihnen das Gegenteil beweisen, wurden sie von Dornenranken an Händen und Füßen erfasst und durchgeschüttelt. Gleichzeitig kam wieder der starke Wind auf. Äste prügelten auf sie ein. Seanzaara war nicht in der Lage, mittels Zauberei zu kontern. Sie hatte genug damit zu tun, den Angriff abzuwehren. Ihr Körper wurde von schmerzhaften Krämpfen geschüttelt. Augenblicke darauf fanden sie sich wieder vor dem Eingang am
Boden liegend. Der Zauberwald hatte sie hinausgeworfen!
Er stand so weit unten in der Höllenhierarchie, dass er keinen Namen besaß. Solche wie ihn gab es milliardenfach in den Schwefelklüften. Hilfsgeister, Fußabstreifer und Kanonenfutter für die Erzdämonen. Gerade gut genug, dass sie niederste Arbeiten erledigten. Für sie gab es so gut wie keine Chance, im Rang aufzusteigen. Oft genug kam es vor, dass sie nach erfolgter, zufriedenstellender Arbeit eliminiert wurden; sei es, um den Zorn ihrer Auftraggeber zu befriedigen oder damit kein lästiger Mitwisser existierte. Und sie konnten nichts dagegen unternehmen. Jedes Auflehnen, jeglicher Widerstand wurde mit dem sofortigen Tod bestraft. Unser Namenloser bekam einen Spezialauftrag. »Von der Fürstin persönlich«, hauchte er beeindruckt und verängstigt zugleich. Es galt als Auszeichnung, von den oberen Dämonen auserwählt zu werden. Aber wer den Auftrag vermasselte, wusste, dass sein Leben verwirkt war. Das Können und Wissen des Hilfsgeistes war eher beschränkt zu nennen. Aber für seine Aufgabe benötigte er keine besondere Qualifikation. Lediglich ein wenig Aufmerksamkeit. Er sollte wachsam sein, ob ein bestimmtes Ereignis eintrat. Und dann sollte er Stygia persönlich benachrichtigen. Der Auttrag der Fürstin war so wichtig, dass sie sich selbst darum kümmern wollte. Das war alles. Er getraute sich nicht mehr zu schlafen, seit er den Befehl erhalten hatte. Selbst Essen und Trinken vernachlässigte er. Aus Angst, dass er das Ereignis nicht bemerken würde. Unruhig huschte er hin und her. »Wann passiert es denn endlich?«, fragte er sich. »Wie lange muss ich denn noch warten?« Schon nach wenigen Tagen trat ein, was Stygia erhoffte. Der Tonkan mit Namen Rallant benutzte eine bestimmte Para-Spur. Unser Namenloser setzte sich auf seine Spur und sah nach, wo sich der
Tonkan aufhielt. Er überwachte Rallant eine ganze Zeit lang. Dann benachrichtigte er seine Herrin. Rallant hatte das Gefühl, dass er ständig beobachtet wurde. Er schob diese Ahnung auf Asmodis' Vorhaltungen. Sein Ziehvater würde ihn nicht aus den Augen lassen. Nach seiner Genesung hatte er das Gespräch mit Asmodis gesucht. Dem Erzdämon verkündete er, dass er nicht von seinen Unternehmungen lassen wollte und dass es ihm egal sei, ob er dabei totgeschlagen wurde. Die einzige Gefahr bisher stellte für ihn Merlins dunkler Bruder dar. Asmodis hatte kopfschüttelnd nachgegeben. Mehr, als Rallant zu warnen und ihn zu züchtigen, wollte er nicht gegen dessen Abenteuerlust unternehmen. Zwar hätte er ihn mit Leichtigkeit hypnotisieren und ihm Gehorsam einreden können, aber das widerstrebte ihm. Also brachte er Rallant bei, wie er Para-Spuren nutzen konnte und was er dabei zu beachten hatte. Die Para-Spur brachte ihn auf jene Welt, auf der er von Asmodis die gnadenlosen Prügel bezogen hatte. Die Regenbogenblumenverbindung zu dieser Welt benötigte er nicht mehr, worauf er stolz war. Er wollte dort noch etwas nachsehen, was ihm beim letzten Aufenthalt aufgefallen war. Rallant lief am Ufer eines großen Sees entlang. Er blickte auf die unruhige Wasseroberfläche. Dann bückte er sich, klaubte einige flache Steine auf, warf sie und ließ sie auf dem Wasser tanzen. Er war zufrieden mit sich und der Welt. Doch nur für kurze Zeit. Mit einem Mal hatte er wieder das Gefühl, beobachtet zu werden. Doch sosehr er sich umblickte, er konnte niemand erkennen. »Leide ich schon unter Halluzinationen?«, murmelte er im Selbstgespräch. Hätte er sich bloß nicht so weit von der Para-Spur entfernt. Er fasste den Entschluss, nach Broceliande zurückzukehren. Auf dem schnellsten Weg! Etwas sagte ihm, dass es sich bei demjenigen, der ihn observierte, nicht um Asmodis handelte. Er wusste nicht, woher er die Gewissheit nahm, er war nur sicher, dass es so war. Kurz bevor er die Para-Spur erreichte, passierte es. Stygia nutzte
die Gelegenheit, während Rallant sich auf den Rücktransport konzentrierte. In dieser Zeit war der Tonkan so abgelenkt, dass er sich nicht gegen ihre Beeinflussung wehren konnte. Davon abgesehen hätte er ihr sowieso nicht lange Widerstand leisten können. Die Fürstin der Finsternis hypnotisierte ihn und stellte ihm ihre Fragen. »Rallant, was sind Seelen-Tränen? Woher kommen sie? Zu was kann man sie gebrauchen?« Seelen-Tränen waren manifestierte magische Energie gestorbener Zauberer des Planeten K'oandar. Sie waren für dessen entropische Zerstörung verantwortlich, die durch ein von der caltarischen Hexe Seanzaara erbautes Mosaik aus leuchtenden Steinen aufgehalten wurde. Diese waren die materialisierten, »zeitlich eingewebten« Seelen von Mitgliedern einer Para-Sekte ihres Stammes. Beides, Mosaik und Seelen-Tränen, waren im Grunde dasselbe, man konnte es ähnlich wie bei einem elektrischen Plus- und MinusPol erklären: Die Mosaiksteine stabilisierten K'oandar, die SeelenTränen beschleunigten die Entropie rapide. Sie ließ sich alles genauestens erklären, damit sie wiederum Rico Calderone Bericht erstatten konnte. Sie war zufrieden mit dem Ergebnis. Während sie den Tonkan verhörte, übernahm Taronn eine wichtige Aufgabe. Es schien, als könnten sie ihren Feinden eine herbe Niederlage bereiten. Der namenlose Hilfsgeist wollte sich still davonschleichen. Bloß nicht die Aufmerksamkeit der Fürstin erregen! Stygia lächelte ihm zu, dann winkte sie ihn näher. »Du hast deine Aufgabe perfekt erfüllt«, gestand sie, und der Namenlose war stolz auf sich. »Danke, Fürstin«, brachte er krächzend hervor. »Es wird Zeit, dass ich dir meinen Dank bezeige«, lachte sie. Im nächsten Augenblick brachte sie ihn um.
Keanor wollte es nicht wahrhaben: Der Wald hatte sich gegen sie gewehrt! Und das mit einer Leichtigkeit, die sie verblüffte. All ihre Ma-
gie hatte ihnen nicht dabei geholfen. »Das darf es doch nicht geben«, knurrte sie, ihre Augen glühten vor Wut. Sie aktivierte ihre Selbstheilungskräfte, damit die vielen kleinen Blutungen, die sie durch die Dornenranken erhalten hatte, geschlossen wurden und die Wunden vernarbten, bis sie nicht mehr zu sehen waren. Seanzaara ging am Rand von Broceliande entlang. Sie rief sich alle Ereignisse chronologisch ins Gedächtnis. Was passierte zuerst? Welche Aktion hatte eine entsprechende Reaktion ausgelöst? Woher kamen Gräser, Ranken und Wind, die vorher noch nicht da waren? Sie hoffte, den Wald mit ihren Erkenntnissen effektiver bekämpfen zu können. Keanor beobachtete sie bei ihren Bemühungen, einen Weg ins Innere des Waldes zu finden. Sie setzte sich und fragte sich immer noch, wie es möglich war, dass die lebenden Bäume und Sträucher sie so schnell hinauswerfen konnten – und das ohne nennenswerte Gegenwehr von ihrer Seite. Sie strich mit den Händen über ihre Haare. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte sie alles vollständig abgefackelt. Aber ihr wurde oft vorgeworfen, dass sie extrem reagierte. Sie sah das anders. Wenn sie einen Feind sofort tötete, war sie aller Sorgen ledig. »Wir versuchen es noch einmal«, befahl Seanzaara nach kurzer Denkpause. »Hast du herausgefunden, wie wir dieses Zeug vernichten können?«, wollte Keanor wissen. Seanzaara furchte die Stirn. Es war deutlich zu erkennen, dass sie mit den Worten ihrer Begleiterin nicht einverstanden war. »Wer spricht von vernichten?«, stellte sie eine Gegenfrage. »Hat dir die Zeit deiner Bestrafung nicht bewiesen, dass es sich lohnt, seinen Verstand zu gebrauchen? Und die Sternensteine setze ich erst als allerletztes Mittel ein.« Keanor senkte den Kopf. Seanzaaras Worte rissen eine tiefe seelische Wunde auf. Vor Jahren war sie die engste Vertraute der Hexe gewesen, eine Art persönliche Beraterin. Dann überschritt sie ihre Kompetenzen, und sie wurde zu einer geduldeten Person abgestuft. Nicht abgestuft, dachte sie voller Abscheu, degradiert!
Mittlerwelle besaß sie wieder ihren alten Status. Die letzten Jahre dienten als eine Art Bewährungsfrist. Und sie hatte diese Zeit bravourös bestanden, indem sie half, K'oandar zu retten. Nein, sie wollte nicht mehr an diese erbärmliche Zeit denken. Zu würdelos erschien sie ihr. Sie blickte Seanzaara an und stand auf. »Du hast ja Recht«, sagte sie. »Aber dieser Wald erscheint mir so groß, dass es aussichtslos sein dürfte, einfach so hineinzugelangen.« Die Hexe antwortete ihr nicht. Sie ging voran und überzeugte sich nicht, ob ihre Begleiterin folgte. Keanor fluchte lautlos über diese Angewohnheit. Am Waldrand angelangt, begann das Medaillon zwischen Seanzaaras Brüsten zu leuchten. Sie ging vorsichtig einen Schritt in den Trampelpfad hinein. Keanor folgte ihr langsam. Sie hob ihren Stock, jederzeit bereit, dessen Energie zur Zerstörung zu gebrauchen. Die feinen Härchen in ihrem Genick stellten sich auf. Keanor blickte ständig um sich. Sie hatte Angst, dass wieder ein Angriff der Dornenranken erfolgen würde. Sie atmete so lautlos wie möglich. Gleichzeitig musste sie über sich selbst grinsen. Ich bilde mir tatsächlich ein, die Bäume könnten mich hören, dachte sie. So würde ich mich nur verhalten, wenn ich mich an eine Person anschleiche. Aber das ist nur schwer möglich. Sie nahm eine Bewegung wahr, so schnell, dass sie nicht mehr reagieren konnte. Eine Dornenranke traf sie mit voller Kraft auf dem Rücken, eine andere peitschte ihr gegen die Schienbeine. Keanor schrie vor Schmerz auf und fiel zu Boden. Trotzdem hielt sie ihren Stock fest. Eine weitere Ranke versuchte, sie blitzschnell zu umwickeln. Keanor versuchte, die Schmerzen zu ignorieren. Sie konzentrierte sich auf den Stock. Ein grelles Licht entstand um die ehemalige Geduldete herum. Die Ranken und Äste um sie herum verglühten. Keanor glaubte schon, Erfolg zu haben, da kam ein Angriff aus der Luft. Es handelte sich nicht um Pflanzen, die sie attackierten. Ein Schwarm von Sternenfalken flog über sie in einer Höhe von etwa fünfzehn Meter hinweg. Sie ließen Steine verschiedenster Größen
fallen. Keanor versuchte mittels ihres Stockes, die Brocken zu eliminieren. Das gelang ihr nur in den seltensten Fällen. Für jeden zerstörten Stein ließen die Sternenfalken zehn neue fallen. Aber selbst die kleinsten Steinchen ließen brennende Wunden entstehen. Seanzaara ließ einen Feuerball gegen die Falken los. »Nichts wie weg!«, rief sie und zerrte Keanor mit sich. Sie stolperten mehr aus Broceliande hinaus, als dass sie liefen. Während ihrer Flucht rasten die Sternenfalken im Sturzflug herab und stießen die beiden Frauen gegen den Rücken. Sowohl Keanor als auch Seanzaara stürzten hin. Die restlichen Falken ließen in diesem Moment einen wahren Steinhagel herunterfallen. Keanor stöhnte auf. Sie biss sich vor Schmerz auf die Lippen. Ein größerer Stein hatte sie auf den Kopf getroffen. Sie hielt beide Hände zum Schutz hoch. »Mein Stock!«, schrie sie entgeistert. Dann teleportierte sie sich zurück zum Zauberwald. Auf ihrer Welt nannte man diesen Vorgang den distanzlosen Schritt. Während des Vorgangs der Entmaterialisierung schienen Stromstöße ihren Körper zu durchrasen. Keanor begriff sogleich, dass dies eine Abwehrreaktion des Zauberwalds war. Doch sie war nicht fähig, sich dagegen zu wehren. »Bleib hier!« Seanzaara blickte ihr fassungslos hinterher. Keanor hatte Schwierigkeiten, das Schlachtfeld zu überblicken, nachdem sie rematerialisierte, doch den Stock sah sie nicht. Für Augenblicke sah sie alles verschwommen. Das schienen Nachwirkungen der Abwehr von Broceliande zu sein. Sie hob einen Arm und rief ihr magisches Utensil. Währenddessen flogen die Falken weitere Angriffe. Keanor versuchte auszuweichen, doch es gelang ihr nicht. Ein Falke flog genau auf sie zu. Der Stock schwebte vom Boden hoch. Rot glühende Dornenranken hatten sich um ihn gewickelt. Auf einen Gedankenbefehl von Keanor hin verbrannte der Stock die Dornenranken, und er teleportierte in ihre erhobene Hand. Gerade noch rechtzeitig. Kurz bevor der Falke sie erreichte, aktivierte sie den Stock. Der Sternenfalke explodierte in einer Leuchterscheinung. Seine sterblichen Überreste trudelten dem Boden entgegen. Es geschah wie in Zeitlupe. Mit einem fremdartigen klatschenden Geräusch
schlug der Kadaver des Falken auf dem Boden auf. Blut schoss in Strömen aus den Überresten und versickerte im Boden. Die Artgenossen des Falken hielten erschrocken inne. Dieses Überraschungsmoment nutzten die Frauen, um den Rand von Broceliande zu verlassen. Im Nu befanden sie sich außerhalb des Zauberwalds. Seanzaara blickte erschrocken hoch. Der Nebel kam näher; er wurde noch höher und dichter. Sie konnte keinen Meter hineinsehen. Auch magisch ließ sich nichts erfassen. »Ich glaube, das war ein Fehler«, fauchte sie ratlos. Der Falkenschwarm flog genau bis zur Grenze seines Gebietes. Unablässig ließen die Vögel ihre Steine fallen. Seanzaara fiel erst später auf, dass sie sich nur bis zum Waldrand vorwagten. Dies schien eine magische Grenze für sie zu sein. Oder handelte es sich dabei um die Linie, die Broceliande von der Außenwelt trennte? Bäume wuchsen innerhalb von Sekunden in die Breite und verschlossen den Pfad nach Broceliande. Dornenranken wickelten sich um das Geäst. Sie bezogen die Regenbogenblumen mit ein. Seanzaara und Keanor blickten ungläubig auf das Geschehen. Sie besaßen nun keine Möglichkeit mehr, von hier zu entkommen. Der Eingang zum Zauberwald war versperrt. Der Ausgang über die Regenbogenblumen ebenfalls.
2. Ohne Rücksicht auf Verluste � »Keine Gewalt hat Dauer.« (Leonardo da Vinci, 1452 – 1519, italienisches Alroundgenie)
Er war den Höllendienern entkommen! Und das ohne große Anstrengung. Lediglich ihr Anführer hätte ihn fast erwischt. Tjellkronn wollte es zuerst nicht glauben. Irgendwie erschien es ihm zu leicht, wenn er jetzt darüber nachdachte. Sie hatten ihn kaum aufgehalten. Er wusste bloß nicht, was ihn daran störte. Er sollte sich doch freuen, dass er lebte und in Freiheit war. Aber er tat es nicht. »Ich sollte besser auf meinen Weg achten!«, zischte er, als er ein Knacken hörte. Gerade so, als sei jemand auf einen Ast getreten. Befanden sich Späher auf seiner Spur? Das Gelände war dazu ideal. Er befand sich auf einer großen Lichtung. In der Nähe befanden sich Laubbäume, die sich im Wind wiegten, sowie ein breiter Bach. Das Wasser schoss mit lautem Brodeln einen Wasserfall hinunter. Hinter dem Wasserfall erhoben sich felsige Hügel. Falls sich jemand heranschlich, so konnte er ihn kaum hören. Diese Umgebung war gefährlich, das wusste Tjellkronn aus Erfahrung. Hinter der nächsten Biegung musste er besonders vorsichtig sein. Dort wollten ihn vor wenigen Wochen einige Strauchdiebe überfallen. Er konnte ihnen damals gerade noch entkommen. Tjellkronn blieb weiterhin wachsam. Die Tatsache, dass er damals Glück hatte, verleitete ihn nicht zu Unachtsamkeit. Das konnte heute ganz anders sein. Wusste er denn, ob die Höllenhunde seine Spur nicht wieder gefunden hatten? Was wollten sie überhaupt von ihm? Und wer steckte hinter dem Ganzen? »Wenn ich das nur wüsste«, murmelte er. Mit einer Hand massierte er seine fleischige Nase. Er hielt den Atem an und konzentrierte
sich darauf, ob er weitere Geräusche hörte. Doch er vernahm nur die Schreie einiger Vögel aus der Ferne. Ich sollte mich nicht selbst verrückt machen, nahm er sich vor, als er wieder ausatmete. Wahrscheinlich spielten ihm nur seine überreizten Sinne einen Streich. Ein weiteres Knacken ließ ihn erneut zusammenfahren. Es klang, als wäre jemand mit einem Fuß auf einen trockenen Ast getreten. Er drehte sich in die Richtung, aus der das Knacken kam. Doch konnte er niemand sehen. Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Ruhig, Tjellkronn, ganz ruhig bleiben, versuchte er sich selbst die Furcht zu nehmen. Er spürte, wie sich sein Pulsschlag beschleunigte. Er war ganz bestimmt kein ängstlicher Mann, aber die unwirkliche Situation jagte ihm Furcht ein. Seine Nervosität stieg mit jeder weiteren Sekunde. In seinen Ohren pochte es. Das rhythmische Klopfen schien von seinem Herzen zu kommen. Dir kann nichts passieren!, wisperte eine Stimme in ihm. Abermals fuhr er zusammen. Waren das wirklich seine Gedanken, oder hatte er eine telepathische Botschaft erhalten? Niemand ist hinter mir her, lautete ein neuer Gedanke. Tjellkronn furchte die Stirn. »Niemand ist hinter mir her«, wiederholte er laut. Er war geneigt, seinen eigenen Worten zu glauben. Und doch fühlte er sich mit einem Mal unbehaglich. Woher kamen diese Gedanken, die er selbst nicht dachte? »Woher will ich wissen, dass niemand hinter mir her ist?«, krächzte er verwirrt. Wie alle Diener von Merlin besaß auch er latente magische Fähigkeiten. »Wer gibt mir diese Gedanken ein?« Er griff sich an den Brustkorb. Schwindel erfasste ihn. Er öffnete und schloss die Augen in schnellem Wechsel. Luftmangel quälte ihn. Er holte tief Atem und hoffte, dass der Anfall schnell vorbeiginge. Was ist das? Sind das die Nachwirkungen des letzten Auftrags? Er konnte sich keine Antwort auf diese Fragen geben. Schwarze Kreise tanzten rasend schnell vor seinen Augen. Helle Blitze schossen ihm entgegen. Es fiel ihm immer schwerer zu atmen.
Der Zwergenähnliche sank auf die Knie. Ein Röcheln entfloh seiner Kehle. Er versuchte verzweifelt, Luft zu bekommen. Beide Hände griffen automatisch an den Hals. Gerade so, als könne er sich damit helfen. Doch das war ein Irrtum. Tjellkronn sank vornüber und fiel mit voller Wucht auf den Boden. Sein Bewusstsein war wie ausgelöscht.
Seanzaara stand wie erstarrt da; genau wie ihre Begleiterin. Sie wollten nicht glauben, dass Broceliande sie so genarrt hatte. Der Eingang zum Zauberwald war versperrt. Der Ausgang über die Regenbogenblumen ebenfalls. »Dieser Wald lebt wirklich«, knurrte sie. Derartiges hatte sie weder auf ihrer Heimatwelt K'oandar noch auf einem der vielen anderen Planeten gesehen, die sie über die Transportblumen besucht hatte. »Darüber hat dein Liebhaber ja auch schon berichtet«, sagte Keanor. Sie hielt ihren Stock in beiden Händen, unschlüssig darüber, ob sie mit seiner Hilfe die Sperre beseitigen könnte. »Damals, als wir zusammen mit Zamorra gegen den Schlund kämpften.« »Mein was?«, zischte Seanzaara. Die kleinwüchsige Hexe blickte ihre Begleiterin scharf an. »Wen meinst du damit?« »Na, diesen Sid Amos oder Asmodis, oder wie er sich sonst auch nennt«, antwortete die ehemalige Geduldete. »Der Mann mit den tausend Namen. Oder auch der Typ mit der animalischen Aura. Du weißt schon, wen ich meine …« »Ach, den meinst du.« Ein Lächeln huschte kurz über Seanzaaras Gesicht. Eine Hand wanderte zum Tangaslip, ihrem einzigen Kleidungsstück, und verharrte davor. Sie erinnerte sich an die seltenen Besuche des Ex-Dämons. Beim Sex war er einfach verteufelt gut. Etwas vergleichbar Erregendes wie bei ihm hatte sie noch nie erlebt. Ihre Hand presste sich fest gegen den Slip. Als sie Keanors erstaunte Blicke wahrnahm, warf sie den Kopf fast trotzig in den Nacken. Die Hand hielt sie trotzdem gegen die Leibesmitte gepresst. Das ging nur sie etwas an, noch nicht einmal ihre
Vertraute. Wobei ihr Verhältnis sowohl zu Asmodis als auch zu Keanor in einer Art Hassliebe bestand. Sie brauchte beide und wünschte sich oft, auf sie verzichten zu können. »Was machen wir jetzt?«, holte Keanor sie aus ihren Gedanken zurück. »Den Wald abfackeln oder mittels Magie fällen? Oder setzen wir jetzt endlich die Dhyarras ein?« Die blonde Schönheit war eine Frau der schnellen Entschlüsse. Was ihr nicht nutzte oder im Weg stand, wollte sie zerstören. Für Seanzaaras Gefühl geschah das noch viel zu oft. Die Hexe versuchte meist erst, Wesen oder Gegebenheiten für ihre eigenen Zwecke zu nutzen. Schlug dies fehl, dann konnte sie immer noch mit der Vernichtung beginnen. Seanzaara wiegte den Kopf unschlüssig hin und her. Sie stemmte beide Hände gegen die Leisten und blickte suchend auf den dichten Nebel, der die Sicht aus Broceliande hinaus versperrte. Sollten sie mit Gewalt versuchen, über die Transportblumen wieder zu verschwinden? Aber dazu waren sie doch nicht hergekommen. Sie wollten doch eine Spur des Gesichtslosen finden, und jetzt, wo sie kurz vor dem Ziel waren, sollten sie aufgeben? Das kam überhaupt nicht in Frage! Nur, was sollten sie unternehmen? Trotz ihres hohen Magiepotentials hatten sie keine Chance gegen den einzigartigen, lebenden Organismus. Was ließ die Abwehr des Zauberwaldes zu? Würde er sich nur auf Reaktionen beschränken oder beim nächsten Mal von sich aus agieren? Die Ausmaße des Waldes waren ihr unbekannt. In diesem Punkt konnte sie sich aus Asmodis' Erzählungen kein Bild machen. So viel wusste sie: Entweder war Broceliande in seiner magischen Ausdehnung unendlich groß, trotz seiner normalweltlichen geografischen Begrenztheit, oder die Pfade veränderten sich ständig. Aber dieses theoretische Wissen nutzte Seanzaara nichts, solange sie nicht in den Wald hineingelangte. In Gedanken versunken hielt sie Keanor beide Handflächen entgegen, das k'oandarische Symbol für Ratlosigkeit. »Ich muss erst über dieses Problem nachdenken.«
»Und dein Liebhaber?« Keanor zog die Augenbrauen in die Höhe, wie um ihre Frage zu bekräftigen. »Der ist doch hier zu Hause, also könnte er uns helfen.« »Er hat einen Namen«, brummte Seanzaara. Ihr gefiel nicht, dass Keanor oft respektlos über die Leute sprach, die ihr etwas bedeuteten. Sie war doch nicht etwa eifersüchtig? »Er heißt Asmodis.« Sie selbst nannte ihn stets Sid. »Er hat so viele Namen«, berichtigte Keanor. »Weshalb rufen wir ihn nicht telepathisch zu uns? Wenn ihm wirklich etwas an dir liegt, dann wird er seine Hilfe nicht versagen.« Seanzaara blieb die Antwort schuldig. Sie setzte sich ins Gras, schloss die Augen und konzentrierte sich auf den telepathischen Ruf. Sie versuchte ein ums andere Mal, Asmodis zu erreichen, doch sie hatte keinen Erfolg. Merlins dunkler Bruder schien nicht erreichbar zu sein. Nach zwei Stunden ohne Erfolg wollte sie den Versuch schon abbrechen, doch Keanor redete ihr zu, nicht aufzugeben. Sie massierte Rücken und Genick, damit Seanzaara wieder entspannter wurde. Und dann, als sie schon gar nicht mehr damit rechnete, hatte die k'oandarische Hexe Kontakt …
Es war dunkel um ihn herum. Die ganze Welt schien aus Schmerzen zu bestehen. Aus einem Brennen und Stechen, das ihn schier verrückt machte. Er stöhnte leise auf. Seine Stimme hörte sich seltsam an. Gerade so, als würde sie jemand anderem gehören. Es kostete ihn ungeheure Anstrengung, die Augen zu öffnen. Es kam ihm unendlich lange vor, bis er wieder etwas sehen konnte. Er lag auf dem Rücken und blickte in den wolkenlosen hellblauen Himmel. Minutenlang dauerte dieser Zustand. So lange konnte er nichts unternehmen. Ihm fehlte einfach die Kraft dazu. Mit einem Ächzen drehte er sich auf den Bauch und stützte den Oberkörper mit den Ellenbogen ab. Mit der größten Anstrengung seines Lebens kam er quälend langsam wieder auf die Beine. Das Leuchten in seinen Augen war verschwunden. Er blickte
stumpf zum Waldrand hinüber. Ein Teil des Lebens schien aus ihm gewichen zu sein. Und trotzdem bewegte er sich. Automatisch, wie eine Maschine. Nicht wie ein denkendes, fühlendes Wesen. Er wusste plötzlich, wohin er sich wenden musste. Nicht zu den Höhlen von Asotar, um dort Überwachungsarbeiten vorzunehmen. Diesen Auftrag hatte er gänzlich vergessen. So wie er auch seinen Namen vergessen hatte. Und den seines Auftraggebers. Und noch viel mehr. Alles, was er vorher kannte, war mit einem Schlag unwichtig geworden! Seine Lebenswünsche, die Gedanken an seine Familie. Nichts davon war mehr vorhanden. Es war gerade so, als habe das nie für ihn existiert. Ihn erfüllte ein neues Verlangen. Er wusste nicht, woher dieses Verlangen kam und wer es in ihm geweckt hatte. Es war ihm auch egal. Er hatte einen neuen Auftrag erhalten, und den würde er selbst mit seinem Leben verteidigen. Langsam setzte er einen Fuß vor den anderen. Nach wenigen Metern erhöhte er sein Tempo. Er wurde immer schneller. Die Schmerzen registrierte er nicht mehr, auch nicht, dass er einen Fremdkörper empfangen hatte. Etwas, das überhaupt nicht zu ihm gehörte. Es zog ihn zu seinem vorläufigen Ziel. Er musste die Para-Spur erreichen, um damit Weiterreisen zu können. Dass eine Begleiterin neben ihm her lief, bemerkte er nicht. Aufgrund eines hypnotischen Befehls war sie unsichtbar für ihn. Er stellte sich nicht die Frage, was eine Para-Spur war. Er wunderte sich auch nicht darüber, woher er den Begriff kannte. Oder woher er den Namen seines Bestimmungsortes wusste. Alles hatte an Gewicht verloren. Ein Krächzen entrang sich der Stimme, die ihm nicht mehr zu gehören schien. »Zum Zauberwald. Ich muss nach Broceliande … Aber zuerst nach Chkalln.«
»Verdammt noch mal! Was, zum Erzengel, sollte das bedeuten?« Asmodis' Augen glühten vor Ärger. Der ehemalige Fürst der Finsternis war inmitten einer übel stinkenden Schwefelwolke aufgetaucht. Über Seanzaaras telepathischen Ruf war er nicht sehr erbaut. »Ich habe Wichtigeres zu erledigen!« Seanzaara hielt den Atem an und wartete, bis sich die gelbe Wolke verzogen hatte. »Das kannst du doch jetzt noch nicht wissen!«, knurrte sie zurück. Sie hatte sich das Wiedersehen mit ihrem Liebhaber anders vorgestellt. Nicht romantisch, darauf stand sie nicht, sie verabscheute so etwas. Aber zumindest hätte Sid zeigen können, dass er sich über ihren Anblick freute. Aber nichts dergleichen geschah. »Also, was ist los?« Der dunkle Mann sah aus, als wollte er sofort wieder verschwinden. Gerade das musste Seanzaara verhindern. Sie blickte kurz zu Keanor. Die Geduldete sollte sich zurückhalten und nur ihre Anführerin reden lassen. Keanor senkte einmal kurz den Kopf als Zeichen dafür, dass sie verstanden hatte. »Sid, wir haben ein großes Problem«, begann Seanzaara. Keanor riss die Augen auf. Weshalb sollte sie den Mund halten, wenn Seanzaara doch gleich undiplomatisch mit der Tür ins Haus fiel? Keanor traute Asmodis nicht weiter, als sie ihn werfen konnte. Sie hätte das Gespräch anders begonnen. »Und das wäre?« Der Ex-Dämon wirkte immer noch extrem ungehalten über die unwillkommene Störung. Sie mussten ihn von etwas ungemein Wichtigem abgehalten haben. Wahrscheinlich wollte er gerade wieder mit einer hübschen Frau ins Bett, dachte Keanor abfällig. Sie nahm an, dass Asmodis einen ganzen Harem williger heißer Damen hatte. Zumindest Letzteres stimmte. Sein Verschleiß an fügsamen Bettgefährtinnen war enorm. Seanzaara kniff die Lippen zusammen. Es fiel ihr schwer, ihre Hilflosigkeit einzugestehen. »Sag's doch endlich!«, forderte Keanor unbeherrscht.
Asmodis hob eine Augenbraue. Es wirkte, als wolle er sie für ihre Reaktion tadeln. Keanor hielt unwillkürlich den Atem an. »Du musst uns helfen, Sid«, forderte Seanzaara. Mit Bitten hielt sie sich nicht auf, sie forderte wie gewöhnlich. Asmodis blickte sie lange an, ohne ein Wort zu sagen. »Ach, ich muss? Ich wüsste nicht, dass mich jemand zu etwas zwingen kann.« »Sid, bitte.« »Was ich mache, geschieht immer freiwillig.« Asmodis legte eine Kunstpause ein und besah sich Seanzaaras fast nackten Körper. Er legte beide Hände auf ihre Leisten und fuhr aufreizend langsam hinunter bis zu den Schenkeln. Unwillkürlich stöhnte Seanzaara leise auf. »Oder es geschieht fast freiwillig«, ergänzte er. »Du kannst mich ja überreden …« »Aber nicht hier und nicht jetzt!«, fuhr ihn Keanor an. »Und diesen saublöden, strafenden Blick kannst du dir sparen. Das wirkt nicht bei mir.« »Keanor, was soll das?« Seanzaara warf ihr wütende Blicke zu. »Wie sprichst du mit mir, mein Kind?« Asmodis' Lächeln wirkte wölfisch, als wollte er sich jeden Augenblick auf die ehemalige Geduldete stürzen. »Ich sagte schon einmal, dass ich nicht dein Kind bin«, lautete ihre Antwort. »Und wenn ich das wirklich wäre, dann …« »Es reicht, Keanor!« Seanzaara mischte sich ein, ehe ihre Untergebene noch mehr kaputtmachen konnte. »Sei ruhig.« »Ich denke gar nicht daran«, ereiferte sich die blonde Schönheit. »Wir benötigen dringend Hilfe, und derjenige, der sie uns geben kann, würde dich am liebsten auf der Stelle vernaschen, obwohl er doch angeblich Wichtigeres zu erledigen hat!« Das Grinsen von Merlins dunklem Bruder wurde breiter. Seine faszinierenden Augen blickten jedoch so hart wie zuvor. Die Farbbezeichnung schwarz wurde seinen Augen nicht gerecht, aber Seanzaara fand einfach keinen passenden Ausdruck. »Was habt ihr überhaupt hier zu suchen?«, wollte er wissen. »Dieser Wald gehört meinem Bruder Merlin Ambrosius, und nur Privile-
gierte dürfen ihn betreten.« »Das haben wir bemerkt«, sagte Seanzaara. »Dein so genannter Zauberwald hat sich gegen uns gewehrt.« Asmodis lachte laut auf. Ihn schien der Gedanke an einen gegen die Frauen kämpfenden Wald zu erheitern. »Man meint fast, das Miststück von Zauberwald hätte so was wie eine Seele«, ergänzte Keanor. »Und etwas davon kommt mir irgendwie bekannt vor.« »Das muss es auch«, erklärte Asmodis. Er wusste, dass seine nachfolgende Erklärung wie eine Bombe einschlagen würde. »Ein Teil der Waldseele gehörte schließlich dem Gesichtslosen An'dean.« Seanzaara blieb wie vom Blitz getroffen stehen. Sie blickte Sid ungläubig an. Keanor richtete die nun rot glühende Spitze ihres Stockes auf den Ex-Dämon. »Was soll die Lügerei, Sid?«, fauchte sie. »Ich zwinge dich, die Wahrheit zu sagen.« »Das würde ich dir nicht raten, meine Kleine«, raunte Asmodis zurück. »Wer oder was sollte mich daran hindern?« »Das«, antwortete Asmodis nur. Im nächsten Augenblick warf er seine künstliche rechte Hand einen Gedanken weit. Gleich darauf befand sich die Hand wieder am Gelenk, und Asmodis hielt den magischen Stock in seiner linken. Keanor verharrte nur für einen Moment, dann griff sie in eine Innentasche ihrer Korsage. In ihrer Hand schimmerte ein kleiner, blau funkelnder Kristall. Ein Dhyarra! Ein Sternenstein mit ungeheurer magischer Kraft, der seine Energie aus Weltraumtiefen holte. Um ihn zu verwenden, musste der Benutzer ihn mit unmittelbarem Hautkontakt berühren und eine klare, bildhafte Vorstellung von dem haben, was durch die Magie bewirkt werden sollte. Speziell bei abstrakten Geschehnissen bedingte dies Konzentration und Fantasie. Um einen Dhyarra zu benutzen, bedurfte es eines entsprechenden Para-Potentials. Ein zu starker Kristall brannte dem Nutzer das Gehirn aus.
Noch bevor sich Keanor auf Asmodis konzentrieren konnte, hatte der schon reagiert. Mittels Magie ließ er den Dhyarra in ihrer Hand glühend heiß werden. Keanor schrie vor Schmerz auf und ließ den Sternenstein fallen. »Du verdammtes Miststück!«, heulte sie auf. »Ich an deiner Stelle wäre vorsichtig«, sagte Asmodis im ruhigsten Tonfall. Trotzdem begriff Keanor, dass sie sich nichts mehr erlauben durfte. Er wirkte auf sie wie eine bis zum Äußersten gespannte Bogensehne. Sie blies Luft in die geöffnete Hand, um den Schmerz zu lindern. Bei näherem Hinsehen bemerkte sie, dass keine Brandspuren vorhanden waren. Seanzaara blickte ihre Vertraute scharf an. Sie war absolut nicht zufrieden mit deren Verhalten in den letzten Minuten. »Wenn du jetzt nicht die Klappe hältst, dann stufe ich dich wieder zurück zur Geduldeten«, knurrte sie. Keanor sah sie nur erschrocken an. Sie wollte alles, nur das nicht. Asmodis bückte sich und hob den Dhyarra auf. Er betrachtete sich das gute Stück und nickte anerkennend. Er selbst hatte Keanor den Sternenstein vor einiger Zeit geschenkt. Sie hatte ihn bestens behandelt. »Normalerweise müsste ich den behalten, damit du keinen weiteren Blödsinn machst«, grummelte er. Dann wog er den Dhyarra kurz in der Hand und warf ihn Keanor zu. Die fing ihn wortlos auf und steckte ihn wieder in die Innentasche ihrer Korsage. Sie sagte nichts, doch ihr Blick sprach Bände. Sid setzte sich ins kniehohe Gras und bedeutete beiden Frauen, sich ebenfalls niederzulassen. Er fragte sie, was sie am Rand des Zauberwaldes suchten. Seanzaara erklärte ihm ihre Lage. Sie suchten erstens nach den drei Seelen-Tränen, die der Gesichtslose An'dean gestohlen hatte. Und zweitens: Sie kamen wegen ihrer eigenen Dickköpfigkeit nicht fort von hier. Asmodis wiederum berichtete ihnen über An'deans Schicksal. Der Gesichtslose ging eine Symbiose mit dem Zauberbrunnen ein, der im Zentrum von Broceliande stand. Dazu benötigte er die gestohle-
nen Seelen-Tränen. Dass An'dean zwei der Tränen als Abwehr gegen die Tonkan gebrauchte, verriet er lieber nicht. Er wusste um die manchmal eigenartigen Reaktionen der Caltarinnen. »An'dean verschmolz förmlich mit dem Zauberbrunnen«, erzählte Asmodis. »Sein Körper existiert nicht mehr. Seitdem gibt es im Brunnen wieder magisches Wasser.« Seanzaara hielt es bei seinen letzten Worten nicht mehr auf ihrem Platz. Sie stand auf und ging unruhig hin und her. Mit einem Mal fühlte sie sich wie erschlagen. »Die ganze Mühe war für nichts und wieder nichts«, schimpfte sie leise. Sie bemühte sich nicht, ihre Enttäuschung zu verbergen. »Wir sind seinen Spuren umsonst gefolgt. So viel vertane Zeit …« »Ihr seid über zwei Jahre zu spät gekommen«, sagte Sid. »Aber warum hast du uns nie etwas darüber erzählt?« Asmodis hob die Schultern. Er blickte Seanzaara in die Augen. Selbst im Sitzen war er fast so groß wie sie. »Ich kann es dir nicht genau sagen. Für mich war das wohl so unwichtig, dass ich nie daran gedacht habe.« »Das ist toll!«, rief sie erbost. »Ich versuche seit Jahren alles, um die Tränen zu finden, und du findest das unwichtig!« »Hey, jetzt krieg dich wieder ein«, versuchte Sid sie zu beruhigen. »So habe ich das nicht gemeint.« »Aber du hast es so gesagt.« Seanzaara wandte sich an ihre Begleiterin. »Und du hast nichts dazu zu sagen? Sonst fällt dir doch immer etwas ein, und du führst immer das große Wort.« Keanor zuckte mit den Schultern. »Ich soll doch die Klappe halten«, versetzte sie schnippisch. »Hast du deinen Befehl schon vergessen?« »Du weißt genau, wie ich das meinte.« Asmodis konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Ob in der Hölle, auf der Erde oder auf K'oandar, irgendwie sind fast alle Frauen gleich, dachte er vergnügt. »Das Beste kommt erst noch«, versuchte er, beide wieder auf andere Gedanken zu bringen. »An'dean fungiert seit dieser Zeit als eine Art Guter Geist von Broceliande. Er ist Teil der Seele des Waldes.«
»Deshalb hat sich der Zauberwald so gegen uns gewehrt«, flüsterte Keanor. »Er hatte Angst, dass wir uns an dem Gesichtslosen rächen wollen.«
Der Saal des Wissens bildete das Zentrum von Merlins Burg Caermardhin. In seinen kristallinen Wänden war ungeheures Wissen gespeichert. Leider konnten nur wenige Wesen mit dieser einzigartigen Datenbank umgehen. Merlin, der König der Druiden, blickte in die große Bildkugel, die über einem Sockel frei in der Luft schwebte. Nur Unsterbliche waren in der Lage, diesen riesigen Saal ungefährdet zu betreten; jeder Sterbliche verlor auf der Stelle sein Leben. Keiner von Merlins Freunden verstand diese Absicherung, die aber zuverlässig verhinderte, dass Unbefugte den Saal und seine magischen Einrichtungen missbrauchten. Caermardhin selbst war weit in eine andere Dimension hineingebaut und innen weit größer als außen und scheinbar auch umformbar. Die auf einem Berggipfel in Wales nahe dem kleinen Ort Cwm Duad gelegene Burg des Zauberers war unsichtbar und auch nicht zu ertasten. Wenn sie den Menschen sichtbar wurde, bedeutete das bestätigter Legende nach größte Gefahr für den Ort und die Welt. Die Burg konnte generell nur mit Merlins Erlaubnis betreten werden. Nur eine Hand voll Wesen besaßen eine Generalerlaubnis. »Wo bleibt Tjellkronn nur?«, fragte sich der Zauberer von Avalon zum wiederholten Male. »Er wollte doch schon seit einigen Tagen wieder hier sein.« Etwas konnte nicht stimmen. Tjellkronn pflegte bisher immer pünktlich zu sein. Noch nie war er zu spät zu einem festen Termin erschienen. Merlin wollte es sich selbst gegenüber nicht zugeben, aber er machte sich große Sorgen um den kleinwüchsigen Mann. Noch dazu hatte er die geistige Verbindung zu ihm verloren. »Er wird schon bald zurückkommen und mich wegen meiner trüben Gedanken auslachen«, versuchte er, sich selbst zu beruhigen. Aber es half nicht viel.
Er glaubte selbst nicht daran, was er vor sich hin redete. Seinem Gefühl konnte er bisher immer vertrauen. Und dieses Gefühl sagte ihm, dass etwas passiert war. In der Bildkugel hatte er seinen Helfer nicht gefunden. Das war ungewöhnlich, denn jeder Ort rund um die Erde und jede Person, die sich auf der Erde befand, konnte damit beobachtet werden. »Er sollte doch nur zu den Höhlen von Asotar und wieder zurück. Das kann doch nicht so lange dauern«, murmelte er und fuhr sich mit den Fingern durch die langen weißen Haare. Die Höhlen von Asotar befanden sich nicht auf der Erde, daher konnte er sie mit der Bildkugel nicht beobachten. Mittels Para-Spur konnte sein Helfer dorthin und wieder zurück gelangen. Weshalb war er noch nicht wieder zurückgekehrt? Um das herauszufinden, müsste Merlin genau den gleichen Weg benutzen wie Tjellkronn. Es war möglich, herauszufinden, ob seinem Helfer etwas zugestoßen war. Nur bedeutete das einen erheblichen Zeitaufwand. Und Zeit für Detektivarbeiten besaß Merlin schon gar nicht. Er brauchte Tjellkronn dringend als Überwachungsleiter. Merlin war ein Diener des Wächters der Schicksalswaage und wachte als solcher nicht nur über die Erde, sondern über verschiedene Welten, auf denen er überall Stützpunkte wie Caermardhin besaß. Aus diesem Grund hatte er zahlreiche Helfer für sich rekrutiert, die ihm einen Teil dieser Sisyphusarbeit abnahmen. Selbst ein unsterbliches Wesen mit seiner Machtfülle konnte sich nicht überall zugleich aufhalten. Und fähige Helfer waren nur schwer zu bekommen. Wesen, die den hohen Ansprüchen von Merlin und dem Diener der Schicksalswaage gerecht wurden, gab es selten. Männer und Frauen, die alles andere zurückstellten – Familie oder Freunde – und ihren Dienst als Berufung sahen. Wesen wie Tjellkronn. Merlin musste unter allen Umständen wissen, was mit seinem Helfer geschehen war. So schnell wie möglich. Doch hatte er im Augenblick niemand, der
sich um Tjellkronn kümmern konnte. So musste er die Suche noch etwas verschieben. Hätte er gewusst, dass Tjellkronn sich in Stygias Klauen befand, er hätte alles stehen und liegen lassen und selbst nach seinem Helfer gesucht.
Etwas war mit ihm geschehen. Er erinnerte sich noch daran, dass er auf einem See Steine tanzen ließ. Danach brach seine Erinnerung ab. Und sooft er versuchte, sich die nachfolgenden Bilder ins Gedächtnis zu rufen, sooft verließ ihn sein Erinnerungsvermögen. Er hatte das Gefühl, einen nicht wieder gutzumachenden Fehler begangen zu haben. Woher diese Empfindung kam, konnte er selbst nicht erklären. Es war eine innere Gewissheit, die er zu beschreiben nicht in der Lage war. »Und das darf nicht wahr sein«, knurrte er. Rallant hatte Angst, sein zahlenmäßig kleines Volk verraten zu haben. »Alles, nur das nicht.« Ihn beherrschte nur ein Gedanke: »Ich muss unbedingt nach Broceliande, nach meinen Leuten sehen!« Er wusste nicht, dass dieser Befehl in ihm eingebrannt war. Stygia hatte ihn ihm aufoktroyiert und jede Erinnerung an ihre Begegnung gelöscht. Rallant befand sich immer noch an diesem See auf der Welt Chkalln, doch er achtete nicht auf ihn. Er sah weder nach rechts noch nach links. Er wusste, wo sich die nächste Para-Spur befand, die ihn wieder zurück bringen sollte. Alles andere war unwichtig. Broceliande!, hämmerte es hinter seiner Stirn. Ich muss nach Broceliande … Er durfte sich auf keinen Fall aufhalten lassen. Es ging ihm alles zu langsam. Er fühlte sich, als würde er in einem See aus Sirup waten. Die Situation bereitete ihm unsagbare seelische Qualen. Ich will das nicht!, schrie er innerlich. Äußerlich blieb er vollkommen ruhig. Stygia hielt sich im Hintergrund. Rallant konnte sie auf keinen Fall wahrnehmen. Die Fürstin der Finsternis lachte über Rallants Pein.
Sie ergötzte sich an seinem Flehen, dass nichts geschehen durfte, was seinen Leuten schadete. »Du armer Narr«, grinste sie. »Falls mein Plan aufgeht, dann wird keiner deiner Leute überleben.« Du ebenfalls nicht und Asmodis erst recht nicht, fügte sie in Gedanken hinzu. Sie gab Rallant den Hypno-Befehl, zu warten. Erst auf ein bestimmtes Stichwort hin durfte er sich in Bewegung setzen. Dass sie den Tonkan damit in schlimmste Gewissensnöte brachte, war beabsichtigt. Sie bemerkte ihrerseits nicht, dass der Beeinflusste einige Erinnerungssplitter aus dem Unterbewusstsein erhielt. »Wo bleibt Taronn?«, fragte sie sich. »Sie müsste bald hier sein.« Sie musste nur kurz auf ihre Dienerin warten. Die dürre Frau mit dem Fleckenpelz erschien zusammen mit dem, was einmal Tjellkronn gewesen war. Merlins Helfer bestand nur noch aus der sterblichen Hülle. Den Geist hatte Taronn vernichtet. Stattdessen hatte sie den Überresten eine Art Programm oktroyiert, nach dem der Kleinwüchsige funktionieren sollte. Weder Tjellkronn noch Rallant nahmen sie beide wahr. Aufgrund zweier hypnotischer Befehle waren sie unsichtbar für die Männer. »Es lief besser als gedacht«, berichtete sie ihrer Herrin. Die zeigte sich zufrieden, als sie Tjellkronn betrachtete. Aber sie hütete sich, Taronn zu loben. Ihrer Meinung nach machte dies die Hilfskräfte unverlässlich. »Ein Diener sollte stets vor dem Zorn seiner Herren zittern«, war ihr Motto. »Ich habe einige Irrwische sowie ein paar Hilfsgeister ausgeschickt«, fuhr Taronn mit ihrer krächzenden Stimme fort. Manchmal war sie kaum zu verstehen. »Und? Was willst du damit sagen?« Stygia furchte die Stirn. Sie verlangte vollständige Meldungen und hasste Andeutungen. »Zum einen ist der Narr hier«, sie zeigte auf Tjellkronn, »nach meiner Behandlung ein mehr als williges Werkzeug, zum anderen haben wir Glück.« »Weshalb?« »Der verfluchte Asmodis befindet sich jetzt mit zwei Weibern, die
ich nicht kenne, vor Broceliande.« Stygia zuckte zusammen. Das war allerdings eine mehr als günstige Nachricht. »Dann lass uns mit dem nächsten Schritt meines Planes beginnen«, verlangte sie. Taronn verzog das Gesicht, aber sie sagte nichts zu Stygias Worten. Schließlich stammte der Plan von Rico Calderone, und Taronn hatte ihn um einige Nuancen erweitert. Sie wandte sich zuerst an Tjellkronn, dann an Rallant. Sie gab beiden Männern die verankerten Stichworte. Dann wartete sie gespannt auf die Reaktionen. Zuerst erhob sich Tjellkronn. Er ging der unsichtbaren Para-Spur entgegen. Als er sich nicht mehr auf Chkalln befand, setzte sich Rallant langsam in Bewegung, als müsse er gegen etwas ankämpfen. Die Erinnerungssplitter wurden vor seinem geistigen Auge immer klarer. Trotzdem blieb ihm nichts anderes übrig, als zu gehorchen. Beide Männer hatten das gleiche Ziel. Tjellkronn über die Para-Spur. Rallant über die Regenbogenblumen. Broceliande.
»Du glaubst doch nicht im Ernst, dass wir einfach so passieren dürfen.« Unglaube schwang in der weiblichen Stimme mit. »Ich glaube es nicht, ich weiß es. Na, ich hoffe es zumindest für euch.« Der volltönende Bass des Mannes drückte Belustigung aus. Er schien sich über seine Bemerkung köstlich zu amüsieren. »Du verstehst es perfekt, einem Mut zu machen, Sid«, beschwerte sich Seanzaara. Asmodis drehte sich zur zweiten Frau um. »Und was sagt deine mehr als entzückende Begleiterin dazu?« »Leck mich doch, du Scheißkerl«, brummte Keanor kaum hörbar vor sich hin. Asmodis lachte kehlig über die Beleidigung. Er streckte ihr die überlange Zunge entgegen und tat, als würde er etwas Bestimmtes abschlecken. »Das hättest du wohl gern, du kleines Luder«, lachte er.
Keanor verzichtete auf jeden weiteren Kommentar. Zum einen kam sie gegen den Ex-Teufel nicht an, zum anderen hielt Seanzaara im Zweifelsfall sowieso zu ihrem Liebhaber. Und der hatte ihren Fluch wieder auf seine eigene Art interpretiert. Nicht, dass sie etwas gegen sexuelle Praktiken zum richtigen Zeitpunkt hatte. Aber dazu hätte sie jeden anderen Mann genommen, nur nicht Sid Amos, oder wie er sich sonst nannte. Je näher sie den Dornenranken kamen, die den Zauberwald verschlossen, umso unruhiger wurde Keanor. Sie musste an die Sternenfalken denken, die den Tod eines der ihren nicht einfach so hinnehmen würden. Asmodis' Behauptung, dass er sie an den Zauberbrunnen führen würde, glaubte sie nicht. Wie wollte Sid die Dornenranken entfernen? Wie die so unheimlich schnell gewachsenen Bäume? Auch auf K'oandar gab es Magie, aber gegen Broceliande war das ein Nichts. »Ich wollte den Eintritt am liebsten mit unseren Dhyarras erzwingen«, sagte sie, als sie vor die Regenbogenblumen traten, die für sie jetzt unerreichbar hinter Bäumen und Dornenranken standen. »Aber Seanzaara war dagegen.« »Ich wollte nichts zerstören«, erklärte die Hexe. »Nach deinen Erzählungen wäre uns das schlecht bekommen.« Asmodis nickte zustimmend, dann fiel ihm ein, dass die beiden Frauen nicht viel mit dieser menschlichen Ausdrucksweise anfangen konnten. Die Caltaren hielten dazu beide Hände mit den Greifflächen nach oben. »Und das war auch richtig«, bestätigte er. »Ihr hättet es nicht überlebt, da Broceliande manchmal allergisch gegen Dhyarra-Magie reagiert.« »Du redest genau wie Seanzaara, als ob der Wald ein Lebewesen wäre«, beschwerte sich Keanor. »Das ist er auch, in jeder Hinsicht«, sagte Asmodis. »Eigentlich ist er mehr als nur ein Wesen.« Er musste es wissen, schließlich musste er einst auf Befehl der thessalischen Hexen den Wald aufforsten. Die Frauen warteten auf weitere Erläuterungen, aber Asmodis hielt sich zurück. Er wollte nicht an die damaligen Ereignisse erin-
nert werden. »Wo du deinen Dhyarra versteckt hältst, weiß ich jetzt«, grinste er und ließ seine Blicke langsam und genussvoll über Keanors Korsage wandern. Dort, wo sie den Sternenstein verborgen hielt, sah er besonders lange hin. »Aber du sagtest, unsere Dhyarras. Wo hast du deinen Stein, Seanzaara?« Er schaute erst fragend auf das Medaillon zwischen ihren Brüsten, dann auffällig lange auf ihren knappen Tangaslip. Weder Medaillon noch Slip waren groß genug, den Kristall aufzunehmen. Die k'oandarische Hexe lachte laut auf. »Da habe ich ihn bestimmt nicht, mein Lieber«, prustete sie los. Sie konzentrierte sich mit offenen Augen. Sie hielt beide Hände wie Schaufeln unter die linke Brust, als wollte sie etwas auffangen, das vom Hals abwärts rutschte. Nach wenigen Sekunden leuchtete die Haut unter der linken Brust blau auf, und der Dhyarra schob sich aus dem Körperinneren. Kaum zwei Herzschläge später hielt Seanzaara den Sternenkristall in der linken Hand. Ihre Haut nahm wieder die gewohnte Farbe an. »Schau an, auf den Gedanken ist auch noch keiner gekommen«, lobte der Ex-Dämon. »Das werde ich mir merken.« Seanzaara hielt die linke Hand an eine Stelle oberhalb ihres Magens. Die Haut leuchtete erneut blau auf. Und dann war der Dhyarra wieder verschwunden. Keine Narbe war zu erkennen. »So kann ich ihn nicht verlieren«, lächelte die Hexe, nachdem sie wieder aussah wie vor der Demonstration. »Ich trage ihn nicht bei mir, sondern in mir.« »Einfach genial«, staunte Asmodis. »Die Sternenfalken sind weg«, mischte sich Keanor ein. »Ich weiß«, sagte der Ex-Dämon. Ohne ein weiteres Wort drehte er sich den Dornenranken zu, die die Regenbogenblumen verschlossen. Er legte beide Hände auf die Dornen. Magie schien von ihm überzufließen. Und dann geschah das Unglaubliche. Die Dornenranken zogen sich langsam, fast schon widerspenstig, zurück. Ebenfalls die so unwahrscheinlich schnell gewachsenen
Bäume. »Das ist fantastisch«, flüsterte Keanor. Asmodis grinste die Frauen in seiner unnachahmlich arroganten Art an. Er beugte sich etwas vor und streckte Seanzaara seinen rechten Arm entgegen. »Darf ich ihnen meinen Arm anbieten, Mademoiselle? Ich ziehe meinen Hut.« Von einem Moment zum anderen saß ein breitkrempiger Hut, auf dem eine riesige Feder steckte, auf seinem Kopf. Asmodis nahm ihn in die Hand, verneigte sich vor Seanzaara, und im nächsten Augenblick war der Hut wieder verschwunden. »Du weißt schon, dass du ein verrückter Hund bist!« Seanzaara musste unwillkürlich lachen. Dann hakte sie sich unter. Der hochgewachsene Mann und die kleinwüchsige Hexe bildeten optisch ein eigenartiges Paar. Keanor verzog das Gesicht, als habe sie auf eine Zitrone gebissen. Lieber keinen Mann im Nachtlager haben als so einen Kotzbrocken, dachte sie angewidert. Sie kamen an der Stelle vorbei, an der Keanor den Sternenfalken abgeschossen hatte. Nur ein dunkler, verbrannter Fleck auf dem Gras zeigte noch an, dass hier vor wenigen Stunden ein Lebewesen gestorben war. »Aber … wo ist er hin?«, fragte Keanor. »Wurde er von anderen Tieren gefressen?« »Er ist in der Erde versunken«, antwortete Asmodis, und das meinte er in vollem Ernst. Er zeigte auf eine kleine Senke im Boden. Zwei goldbraune Federn lagen dort und versanken im Boden von Broceliande. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, fasste er Keanor am Oberarm und schleifte sie einige Meter in den Zauberwald hinein. Bevor sie den ersten Schritt in den Wald hinter sich bringen konnte, fühlte sie, dass sie auf eine unbekannte Weise geistig abgetastet wurde. Ein Fluidum der Gewissheit durchzog sie, dass sie anerkannt und berechtigt war, den Wald zu betreten. Sie wusste nicht, dass dies eine Art Auszeichnung darstellte, die nur den wenigsten Wesen zuteil wurde. Diejenigen, die aufgrund ihrer Ausstrahlung
nicht in den Zauberwald durften, hätten noch so viele Versuche unternehmen können, einzudringen; Merlins Magiebann hätte sie nicht hineingelassen. Und wenn er sie aus einem unbekannten Grund eingelassen hätte, der nur dem Zauberer bekannt war, dann wären sie auf die sich verändernden Pfade gelenkt worden. Es war möglich, dass Wege ständig andere Positionen einnahmen, die den Besucher im Kreis führten, ohne dass er es bemerkte. Eine Umgebung, die ständig neues, verändertes Aussehen vorgaukelte, weil auch die Bäume und Büsche sich jeweils anders gruppierten. Asmodis hatte ihnen erzählt, dass das eine der Abwehrmaßnahmen gegen unbefugte Eindringlinge sein sollte. Weshalb Seanzaara und sie auf einmal befugt sein sollten, war Keanor ein Rätsel. »Keine Angst, ich habe vorgesorgt«, brummte Sid in seinen nicht vorhandenen Bart. »Der Zauberwald weiß jetzt, dass ihr meine Begleiterinnen seid. Und er hat akzeptiert, dass ihr mit mir zusammen auf dem Hauptweg geht. Entfernt euch nicht zu weit von mir. Oder besser noch, lasst euch nicht von eventuellen Bewohnern des Waldes von mir trennen.« »Na, die werden doch wohl nicht gefährlich sein«, vermutete Seanzaara, als sie sich schon fünfzehn Meter tief im Zauberwald befanden. Broceliande schien nur die ersten zwanzig Meter von seinem Rand bis ins Innere so dunkel zu sein. Mit jedem Meter, den die drei weiter hineingingen, kam er ihnen heller und freundlicher vor. »Da wäre ich mir an eurer Stelle nicht so sicher.« Asmodis hob den Kopf etwas an und blickte sich um. Der k'oandarischen Hexe fiel das sofort auf. »Was ist los, Sid?«, wollte sie wissen. »Ich weiß nicht so recht, aber ich spüre etwas … eine bekannte Aura«, antwortete er. »Feinde? Oder Bewohner des Waldes?«, fragte Keanor. Asmodis zuckte mit den Schultern. »Vermutlich beides, aber ich bin mir nicht ganz sicher«, gab er zu. »Oder sind es Sternenfalken, die sich für den Tod eines Artgenossen rächen wollen?« Keanor hatte immer noch ein ungutes Gefühl,
seit Asmodis erzählt hatte, dass die Falken denkende Wesen waren. Es war weniger ein Schuldgefühl als Furcht vor Rache. »Auf keinen Fall«, meinte Sid und schüttelte den Kopf. »Es sind …« In diesem Augenblick erschien ein erschreckend dürrer, kleinwüchsiger Mann aus dem Nichts. Als er die drei sah, rannte er ihnen entgegen. Dabei zuckte sein Körper ständig wie unter großen Schmerzen. Ihm folgte Sekunden später eine dunkle Gestalt zwischen den Regenbogenblumen. Auch dieser Mann hatte sie als Ziel. Er lief so verkrampft, als würde er sich gegen etwas wehren. »Tjellkronn und Rallant … Was suchen die denn zusammen hier?« »Vater, hilf mir!«, schrie der Tonkan, als er sie sah. »Geht weg von mir! Ich will das nicht!« Es geschah selten, dass Asmodis ratlos war. Hier war es für Sekunden so weit. Die Ausstrahlung von beiden Männern war gestört. Trotzdem bemerkte er, dass beiden fremde Befehle aufgepfropft worden waren. Kurz bevor Tjellkronn sie erreichte, rief er: »Vorsicht, er soll uns töten!« Im gleichen Augenblick ging der kleinwüchsige Mann in Flammen auf.
Rallant � Etwas in mir drängt mit aller Gewalt darauf, nach Broceliande zu gehen. Und obwohl das bis vor kurzem auch meine Absicht war, wünsche ich mir aus tiefstem Herzen, dass ich nicht dorthin zurückkehre. Zumindest nicht, bis die Gefahr vorbei ist. Ein Mann hat kurz vor mir Chkalln verlassen. Ich habe ihn schon oft in Broceliande gesehen. Es handelt sich um einen Vertrauten von Merlin. Tjellkronn ist sein Name. Er soll mit mir zusammen einen Auftrag durchführen. Ich wehre mich mit allem dagegen, aber mei-
ne Kräfte sind dafür zu gering. Ich weiß, dass ich beeinflusst wurde, aber nicht, von wem. Ich kann wieder frei denken, trotzdem muss ich den Befehl erfüllen. Aber warum wurde ich auserwählt? Ich bin doch nichts Besonderes. Jeder andere, der Magie nur ansatzweise beherrscht, ist besser geeignet als ich. Ich habe ein Ziel! Und eine Aufgabe … Und dieser Befehl erfüllt mich bis ins Innerste. Ich will das nicht!, schreie ich in Gedanken. Aber es hilft mir nicht. Unendlich langsam setze ich einen Fuß vor den anderen. Ich wate in einem See aus dickem, fast schon festem Leim. Vielleicht hilft es, wenn ich Asmodis anrufe. »Vater, hilf mir!«, flüstere ich, während ich auf die Regenbogenblumen zugehe. Natürlich kann er mir nicht helfen. Woher soll er von meinen Qualen wissen? ›Aber er weiß doch sonst immer alles!‹, ruft eine Stimme in mir. ›Wo bleibt er nur? Warum hilft er dir jetzt nicht?‹ Ich weiß es nicht. Tjellkronn ist gerade verschwunden. Jetzt kommt meine Aufgabe. Ich trete zwischen die mannshohen Regenbogenblumen und denke an meinen Zielort. Während des Transports rufe ich: »Nein, geht weg von mir! Ich will das nicht!« Dann befinde ich mich schon zwischen den Regenbogenblumen von Broceliande. Im diesem Augenblick geht Tjellkronn in Flammen auf. Tjellkronn brannte lichterloh. Sein Körper stand in Flammen, sein Gesicht wirkte irreal, fast wie ein Negativfoto. Seanzaara und Keanor fragten nicht, wer die beiden fremden Männer waren. Ihnen genügte, dass Asmodis sie warnte. Wenn der ExTeufel sie zur Vorsicht mahnte, dann hatte er seine Gründe. »Wir müssen ihm helfen! Wir müssen ihn so schnell wie möglich löschen!«, rief Seanzaara. Da fiel ihr ein, dass sie nur zwei Wasserflaschen als Vorräte mitgenommen hatten. Als Löschflüssigkeit war
das buchstäblich der Tropfen auf dem heißen Stein. »Wie können wir nah genug an ihn herankommen, ohne dass wir ebenfalls entzündet werden?« »Das ist kein natürliches Feuer«, behauptete Keanor. »Da ist schwarze Magie im Spiel. Mit den Seelen-Tränen können wir …« »Wendet bloß eure Magie nicht an, sonst werdet ihr von der Seele des Waldes vernichtet«, warnte Asmodis. »Versucht auch keinen distanzlosen Schritt. Nicht so nahe am Eingang. Broceliande wehrt sich dagegen. Das ist eine Schutzmaßnahme.« Das wollten weder Keanor noch Seanzaara ausprobieren. Sie hatten noch genug vom Angriff der Sternenfalken. Der brennende Tjellkronn kam auf sie zu. Unartikulierte Laute drangen aus seinem Mund. Beide Frauen teleportierten einige Meter weit weg. Der Waldaura schien das nicht zu gefallen. Leichte Stromstöße durchzuckten sie. Es prickelte unangenehm auf der Haut, gerade so, als würden sie von tausend Nadeln gestochen. Ihre Sehkraft schwand für Sekunden, und in den Ohren rauschte es. Aber auch gegen Tjellkronn und Rallant ging die Seele des Waldes vor. Sie litten unter den magischen Angriffen von Broceliande. Rallant schrie seine Qual hinaus: »Nein, geht weg von mir! Ich will das nicht!« »Was meint er damit?«, fragte Keanor. »Versucht der das jetzt auf diese primitive Art und Weise?«, grollte Asmodis. »Der will uns bestimmt nur täuschen.« Er wollte Rallant durch Magie an seinen Platz bannen. Gleichzeitig versuchte er, Tjellkronn zu helfen, indem er geballte Energie zu ihm hinüberschickte, um die Flammen regelrecht auszublasen. Der brennende Kleinwüchsige bewegte sich schon wieder auf Seanzaara zu. Aus seinen Fingerspitzen züngelten Blitze heraus. Die Hexe wusste im Augenblick nicht, wie sie sich verhalten sollte. In Selbstverteidigung war sie nicht sehr geübt. Und gegen die Flammen hätte sie sowieso keine Chance gehabt. Der Pfad in den Zauberwald hinein war zu eng, um auszuweichen, und die Bäume rechts und links wuchsen so dicht, dass an ein Hineingelangen nicht zu denken war. Asmodis spielte mit dem Gedanken, seine Hand einen Gedanken
weit zu werfen und Tjellkronn so aufzuhalten. Für kurze Zeit würde sie die Hitzegrade aushalten. Er wartete nur auf eine günstige Gelegenheit. Seanzaara rannte in den Wald hinein, in der Hoffnung, dass sie dort freies Gelände finden würde. Dort konnte sie dem kleinen Mann schneller entkommen. Sie war erst einige Meter weit gekommen, als die herunterhängenden Äste eines Baumes sie erfassten und hochhoben. Dicht hinter ihr befand sich Tjellkronn. In genau dem Augenblick, in dem Seanzaara hochgehoben wurde, explodierte Merlins ehemaliger Überwacher! Der Ast, der Seanzaara hielt, brach ab. Die Hexe rutschte auf jener Seite etwas hinunter. Die anderen Äste konnten sie gerade noch vor dem Absturz bewahren. Die beigefarbene Umhängetasche mit den drei Seelen-Tränen, die sie über der Schulter getragen hatte, fiel auf den Waldboden. Mitten in die sterblichen Überreste von Merlins Helfer. Asmodis besah seine künstliche Hand. »Da habe ich noch einmal verdammt viel Glück gehabt«, knurrte er und bewegte unwillkürlich die Finger. Er besaß die neue Prothese noch nicht lange. Die alte war vor einiger Zeit zerstört worden. Auf Rallant hatte in dem Chaos niemand geachtet. Der Tonkan bückte sich, hob die Tasche aus Lakxaleder auf und legte sie um seine Schulter. Die beige Farbe wurde durch das schwarzrote Blut von Tjellkronn besudelt. Er beachtete es nicht. »Aber ich will das doch nicht!«, klagte Rallant laut. Er begann laut zu weinen. »Vater, hilf mir! Sie zwingen mich dazu!« Asmodis' nachtschwarze Augen blickten in den Tonkan hinein. Der Ex-Teufel hob eine Hand und versuchte, seinen Schützling mittels Magie zu beruhigen. Keanor stand hinter Rallant, bereit, ihn aufzuhalten. Seanzaara wurde von den Ästen wieder auf den Boden hinabgelassen. »Rallant, das gehört nicht dir!«, donnerte Asmodis' Stimme über den Pfad. »Gib es seinem rechtmäßigen Besitzer.« »Vater, ich will das nicht!«, schrie Rallant, als litte er die größten Qualen. »Warum hilfst du mir nicht?«
Er wandte sich um, trat Keanor in einer reflexhaften Bewegung in den Bauch, noch ehe sie sich wehren konnte, und verschwand von einem Augenblick auf den nächsten. Keanor kniete zusammengekrümmt auf dem Waldweg. Sie stützte sich mit einer Hand auf ihren Stock, während sie die andere gegen den schmerzenden Magen presste. Es handelte sich nicht nur um die körperliche Pein. Viel mehr bedrückte sie, dass Rallant sie so schnell außer Gefecht setzen konnte, ohne dass sie nur den Hauch einer Chance zur Gegenwehr besaß. »Wie geht es dir?«, fragte Seanzaara und kniete sich neben ihre Begleiterin. »Was war das?«, ächzte Keanor statt einer Antwort und zeigte mit der Hand dorthin, wo der Tonkan mitten im Sprung verschwunden war. »Wie hat der Bastard das geschafft?« »Das war eine Para-Spur«, erklärte Asmodis. »Er beherrscht das Reisen auf diese Art. Und genau an dieser Stelle beginnt oder endet eine solche Spur.« Er verriet aus gutem Grund nicht, dass er derjenige war, der Rallant das beigebracht hatte. »Er ist über die Regenbogenblumen hierher gelangt und über die Para-Spur wieder verschwunden. Vermutlich, um seine Fährte zu verwischen, obwohl ich darin keinen Sinn sehe. Wir müssen ihm nach.« »Er hat meine Seelen-Tränen geraubt«, zischte Seanzaara. »Das ist das Wichtigste, was ich besitze.« Sie stellte sich wieder auf. »Sid, egal, ob er dich Vater genannt hat oder nicht. Dafür bringe ich ihn um!«
3. Verschollen im Nichts � »Du kannst keinen Schatten bekämpfen, du kannst keinen Toten ermorden …« (John Fogerty, 1986: ›Eye of the Zombie‹)
Merlin fuhr zusammen. Er stöhnte auf und hielt beide Hände gegen den Kopf gepresst. Der plötzliche Schmerz raubte ihm den Atem. Er traf ihn so unvorbereitet wie eine Kugel aus dem Hinterhalt. Zu den meisten seiner Helfer hielt Merlin eine feste geistige Bindung. Dadurch wusste er nicht, wo sie sich befanden, aber er hatte die Gewissheit, dass sie lebten. Nun spürte er, dass einer seiner Diener gestorben war. Nicht nur einer. Sondern der Wichtigste von allen. »Tjellkronn lebt nicht mehr«, hauchte er. Er wollte es nicht glauben, dass der kleine hagere Mann tot war. In all den Jahrtausenden war er der fähigste Helfer gewesen, an den Merlin sich erinnern konnte. Aus welchem Grund hatte er die Verbindung zu seinem Diener verloren? Selbst wenn Tjellkronn sich auf einer anderen Welt seines zuständigen Bereichs befände, hätte er ihn finden müssen. Merlin musste dieses Rätsel lösen, damit nicht noch mehr seiner allzu wenigen Helfer starben. Aber dazu musste er die sterblichen Überreste von Tjellkronn finden. Er sollte würdig bestattet werden. Als der Schock über Tjellkronns Tod langsam wieder nachließ, spürte Merlin eine geistige Verbindung zu seinem Zauberwald. Die Waldseele von Broceliande wollte ihm etwas Wichtiges mitteilen. Er eilte in den Saal des Wissens und aktivierte die Bildkugel. Er besah sich die aktuellen Vorkommnisse in Broceliande. Um den Zauberbrunnen herum sah er einige Tonkan und Sternen-
falken miteinander spielen. »Hier ist also nichts«, flüsterte er, obwohl sich außer ihm niemand im Saal des Wissens aufhielt. Einige Tonkan schauten auf und liefen einem bestimmten Punkt entgegen, den Merlin noch nicht eingrenzen konnte. Es ergab keinen Sinn, blindwütig alle Bereiche von Broceliande abzusuchen. Wer wusste, wohin die Tonkan wollten. Er gab der Bildkugel den Befehl, nach Tjellkronn zu suchen. Am Eingangsbereich des Zauberwaldes wurde er fündig. Er sah zwei Frauen, die er nicht kannte. Vor ihnen lag der tote, durch die Explosion fast schon unkenntliche Tjellkronn, daneben stand Merlins dunkler Bruder Asmodis. Rallant war soeben verschwunden, der Zauberer konnte ihn nicht mehr sehen. Er sah einige Tonkan am Horizont auftauchen. Merlins sonst ewigkeitsjung funkelnde Augen wurden mit einem Mal trübe. Er atmete tief ein und aus, als könne er so das Bild vertreiben. Aber es ließ sich nicht rückgängig machen. Ausgerechnet sein Bruder sollte am Mord an seinem Helfer schuld sein? Das konnte er nicht auf sich sitzen lassen. »Was hast du da nur wieder angestellt, dunkler Bruder?«, keuchte er.
»Nun übertreibe nicht«, versuchte Asmodis, die wütende k'oandarische Hexe zu besänftigen. »Du hast doch gehört, dass er geistig gezwungen wurde. Außerdem müssen wir sofort …« »Das ist mir doch scheißegal!«, fuhr ihn Seanzaara an. Sie legte die Hände auf die Hüften. »Sobald ich D'Halas Tränen wiederhabe, wird der Junge bestraft! Und dir gnade dein Erzengel, oder was auch immer du vor dir her brabbelst, falls du ihm helfen willst, seiner Strafe zu entgehen.« Asmodis stand bewegungslos wie eine Statue an seinem Platz. Einzig die schwarzen, trotzdem glühenden Augen bewiesen, dass Leben in ihm steckte. »Ich glaube, du weißt nicht, wen du vor dir hast«, knurrte er, »und dass deine Aussichten, von hier zu entkommen, vergleichsweise be-
scheiden sind.« Keanor hatte sich wieder erhoben. Sie stützte sich mit einer Hand auf ihren Stock, mit der anderen hielt sie sich den schmerzenden Bauch. Sie wollte nicht glauben, dass Seanzaara in diesem Ton mit Sid sprach. Sie waren auf den Ex-Teufel angewiesen. Außerdem schien die Hexe vergessen zu haben, dass sie Keanor erst vor knapp einer Koltan mit neuem Geduldetsein gedroht hatte. Koltans waren caltarische Zeiteinheiten. Eine Koltan war etwa mit 85 Minuten identisch. »Ihr führt euch beide so was von lächerlich und kindisch auf«, ätzte sie beide an. Seanzaara warf den Kopf in den Nacken. Ihre Blicke schienen Dolche zu werfen. »Was erlaubst du dir?«, fauchte sie wie eine Wildkatze. »Noch einmal, und du wirst wieder zur …« »Ich pfeife auf deine Drohungen!«, unterbrach Keanor sie. »Es gibt jetzt weitaus Wichtigeres.« Seanzaara ballte beide Hände zu Fäusten. Sie atmete mehrere Male tief ein. Sie konnte sich nur mit Gewalt zurückhalten. »Wir verlieren die Spur des schmutzigen Elfen, wenn wir weiter streiten«, sagte Keanor. »Sie hat Recht«, stimmte Asmodis ihr zu. Seanzaara fasste es nicht. Ausgerechnet Sid war gegen sie? »Wir müssen Rallant so schnell wie möglich nach. Sonst erwischen wir ihn nicht mehr.« »Und wie willst du das anstellen, du Oberschlauer?«, giftete die Hexe weiter. »Willst du etwa auch über eine solche Spur reisen?« »Selbstverständlich«, antwortete Sid. »Schließlich beherrsche ich diese Art zu reisen.« »Und weshalb sagst du das nicht gleich?« Asmodis schüttelte den Kopf und beschloss, nicht darauf zu antworten. Durch das Gehabe der Hexe hatten sie kostbare Zeit verloren. »Ich kann nur einen Passagier mitnehmen«, sagte er deshalb schnell. »Entscheidet euch sofort, wer das sein soll.« »Ich natürlich, wer denn sonst«, sagte Seanzaara provozierend.
»Schließlich bin ich die Bestohlene.« Keanor protestierte gegen die Zurückstellung. »Was soll ich allein hier anfangen? Der Wald ist gegen mich.« »Dann halte dich stets in der Nähe der Transportblumen auf«, riet Seanzaara. »Nehmt mich mit«, forderte Keanor. Asmodis lehnte ihr Ansinnen ab. Er nahm Seanzaara an die Hand. »Wie wird eine Para-Spur aktiviert?«, wollte Seanzaara wissen. »Gar nicht. Sie ist einfach da«, antwortete Sid. »Ich bin derjenige, der sie öffnen und benutzen muss.« Dann verschwanden sie vor Keanors Augen.
Selbst während der Zeit als Geduldete fühlte sich Keanor nicht so alleingelassen wie in Broceliande. Sie drehte sich um und sah auf die mit äußerster Vorsicht näher kommende Tonkanhorde. Die so genannten Schmutzelfen wussten nicht so recht, die unbekannte Frau mit dem atemberaubenden Aussehen einzuordnen. Keanor wiederum traute den Tonkan nicht über den Weg. Deren Name, die Dunklen, sollte sich laut Sid Amos nicht nur auf ihr Aussehen beziehen, sondern auch auf ihre Gesinnung. Wobei Keanor nicht alles glaubte, was der ehemalige Fürst der Finsternis erzählte. Zweifel am Wohlwollen der Tonkan blieben trotzdem. Sie streckte langsam die Hände zur Seite, um den Bewohnern des Zauberwaldes ihre friedlichen Absichten zu zeigen. Innerlich verfluchte sie Seanzaara und Sid, dass sie einfach mittels der Para-Spur verschwunden waren und sie alleine ließen. »Wartet nur, bis wir uns wieder sehen, ihr nichtsnutzigen Kröten«, fluchte sie. Die Tonkan kamen näher, ein Trupp von fünf Männern und drei Frauen. Nach der bitteren Erfahrung mit Rallant wollte Keanor keine weitere Bekanntschaft mit den Selbstverteidigungsfähigkeiten der Tonkan schließen. »Ich komme mit friedlichen Absichten«, beteuerte sie mit fester Stimme. Hoffentlich können mich diese Schmutzgestalten auch verstehen,
dachte sie. Nicht, dass sie erst umständlich deren Sprache lernen musste. »Das sehen wir«, antwortete ein Tonkan mit spöttischem Tonfall. Er war fast so groß wie Keanor. Seine schulterlangen schwarzen Haare glänzten wie Seide. Trotz der unangenehmen Situation stellte Keanor fest, dass sie ihn außerordentlich attraktiv fand. Er deutete auf die Überreste des kleinwüchsigen Mannes. »Es ist ja auch überhaupt nichts passiert. Nicht wahr? Hier hat doch niemand gebrannt …« So froh Keanor war, dass sie dieselbe Sprache verwendeten, so vorsichtig wurde sie bei diesen Worten. Eigentlich war es absolut logisch, dass sie als Erste in Verdacht geriet, Tjellkronn ermordet zu haben. Sie zumindest hätte es so gehalten, wenn sie an der Stelle der Tonkan wäre. »Mein Name ist Keanor, und mich hat Sid Amos hergebracht.« Der Tonkan sah zweifelnd drein und legte den Kopf etwas schräg. Er blickte seine Leute an und zuckte mit den Schultern, dann sah er wieder zu der Fremden. »Wer?« Die hohe, zweifelnde Stimme tat Keanor körperlich weh. »Wen meinst du? Den Namen habe ich noch nie gehört.« Keanor holte tief Atem. Das hatte ihr gerade noch gefehlt, dass die Schmutzigen den zweiten Namen ihres Stammvaters nicht kannten. »Ich meine Asmodis«, sagte sie mit äußerster Beherrschung. »Sag das doch gleich«, erklang die kratzige Stimme einer Tonkanfrau. Und dann, als ob es alles erklären würde, sagte sie mit seltsamer Betonung: »Ach so, Asmodis hat sie hergebracht.« Sie versammelten sich um Keanor und um Tjellkronns Leiche. Kleine Flammen züngelten hervor; es stank nach verbranntem Fleisch. Der erste Sprecher kniete sich nieder und untersuchte die wenigen Überreste. »Da kann man nichts machen«, stellte er fest. »Der arme Kerl lebt zum Glück nicht mehr. Er war wohl schon im Augenblick der Explosion tot. Es dauert nicht mehr lange, dann wird er im Boden versinken.« »Warst du das?«, fragte die Frau mit der kratzigen Stimme. Genau
diese Frage hatte die Caltarin befürchtet. »Hast du ihn getötet?« »Nein, daran bin ich unschuldig«, antwortete sie mit Nachdruck. »Das müsst ihr mir glauben.« »Das kann jeder sagen«, behauptete der bisherige Sprecher der Gruppe. Er erhob sich wieder und blickte Keanor fragend, fast schon anklagend an. »Ich bin aber nicht jeder«, widersprach sie. »Ich bin noch nicht mal eine unter vielen.« Die Schmutzelfen sahen sich bedeutungsvoll an. Keanor wusste nicht, ob sie für voll genommen wurde. Sie kamen noch einen Schritt näher. Es kribbelte unter Keanors Kopfhaut. Sie fühlte sich bedroht und hatte Angst vor einem Ausrasten ihrerseits. Dann würde ihr kein Tonkan mehr je ein Wort glauben. Sie nahm sich mit äußerster Gewalt zusammen. »Mag sein, dass du glaubst, etwas Besonderes zu sein«, sagte eine andere Frau, »aber du musst deine Worte erst beweisen.« »Ich habe euch doch schon gesagt, dass mich Asmodis hergebracht hat«, verteidigte Keanor sich. »Mich und meine Gefährtin.« »Nun, ich sehe aber niemand, der deine Worte bestätigen kann.« Sie wandte sich an ihre Artgenossen. »Oder könnt ihr Vater und eine unbekannte Frau sehen?« »Asmodis ist mit meiner Gefährtin weg«, sagte die Caltarin verärgert. »Ihr habt doch noch gesehen, wie die beiden dem Schuldigen über die Para-Spur gefolgt sind.« Die Tonkan blickten sich an und tuschelten miteinander. Nach kurzer Beratung verkündete der bisherige Sprecher das Ergebnis: »In dem Fall kommst du mit uns, bis Asmodis wieder zurück ist.« »Seid ihr noch bei Trost?« Keanor fühlte sich überrumpelt. »Sid … Asmodis sagte mir extra, dass ich mich nur hier vorne aufhalten darf.« »Ich heiße Barktan«, stellte sich der bisherige Sprecher vor. »Ich bin das stellvertretende Oberhaupt der Tonkan. Und ich übernehme die Verantwortung für diese Entscheidung. Entweder du kommst mit uns, oder du musst außerhalb von Broceliande warten.« »Und ich bin Carjana«, sagte die Frau mit der Kratzstimme.
Schwarze, hüftlange Haare umwehten sie. Ihre dunklen Augen glühten. »Glaubst du ernsthaft, dass du dort draußen ohne Wasser und Nahrungsmittel lange überleben kannst?« Sie hat Recht, musste Keanor zugeben. Ihre Vorräte waren stark zur Neige gegangen. Mit dem wenigen, was sie hatte, konnte sie höchstens drei Tage auskommen. Sie sah auch vorerst keine Möglichkeit zu entkommen; schließlich hatte Asmodis ihr verboten, Magie anzuwenden. Und ohne guten Grund hätte er das nicht gemacht. Sie hob beide Hände und sagte widerwillig: »Ich begebe mich in eure Gewalt. Wenn Sid … Asmodis und meine Gefährin Seanzaara wieder hier sind, wird sich alles als Missverständnis herausstellen.« »Das wäre uns am liebsten«, antwortete Barktan. »In dem Fall entschuldige ich mich gern bei dir.« Innerlich kochte Keanor vor Zorn. Und je näher sie dem Tonkandorf kamen, umso mehr erfüllte sie das Gefühl, aus Broceliande nicht mehr herauszukommen. Sie blickte sich immer wieder um, in der irrigen Hoffnung, dass Seanzaara und Asmodis wieder erschienen. Doch jedes Mal wurde ihre Hoffnung enttäuscht. »Verdammt noch mal, wo bleibt ihr nur …?«, flüsterte sie.
Alles ging so rasend schnell, dass Seanzaara nicht unterscheiden konnte, wie lange die ungewöhnliche Reise dauerte. Im einen Augenblick standen sie noch vor den Regenbogenblumen, im nächsten Moment stürmten Sterne oder Blitze auf sie ein. Sie konnte nicht sagen, ob das nur Einbildung war oder Realität. Und dann standen sie auf einer fremden Welt. »Das ist phantastisch«, murmelte sie und ärgerte sich darüber, dass sie, allem magischen Können zum Trotz, von dieser Art zu reisen noch nie gehört hatte. Anders als beim caltarischen distanzlosen Schritt oder beim zeitlosen Sprung der Silbermond-Druiden, die in Nullzeit abliefen, war in der Para-Spur eine merkliche Zeitspanne vergangen. Seanzaara wusste
nicht zu sagen, ob die Zeitspanne kurz oder lang war. Zwischen einem Lidschlag und Jahrhunderten war alles möglich. Sie war beherrscht genug, um sich sofort auf die neue Situation einzustellen. Gedanken über die Para-Spur konnte sie sich später noch machen. Aber dies hier war eine unbekannte Welt, und da musste sie vorsichtig sein. Unvorsichtig waren sie eh schon gewesen. Sie konnten vor Beginn der Reise nicht wissen, ob sie auf einem atmosphärelosen Planeten herauskamen – und trotzdem hatten sie keine Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Das hätte mit ihrem Tod enden können. Gut, sie hatten Glück gehabt, aber bei der nächsten Reisegelegenheit sollten sie besser aufpassen. Als sie Asmodis von ihren Befürchtungen erzählte, schüttelte der nur den Kopf. »Glaubst du im Ernst, ich würde nicht daran denken?«, fragte er erstaunt. »Ich habe Maßnahmen getroffen, dass so etwas nicht passiert. Man wird nicht umsonst so alt, wie ich jetzt bin.« Was das für Maßnahmen waren, erzählte er natürlich nicht. Sie atmete tief ein. Die Luft war extrem trocken, und die Temperaturen extrem hoch. Der Himmel besaß ein ungewohntes Orange. Eine rote Sonne brannte erbarmungslos herab. Die Hexe lief einige Schritte voraus, dann winkte sie Asmodis, ihr zu folgen. Sie wollte sich umsehen. Als Sid neben ihr stand, stellte sie zufrieden fest, dass die Anziehungskraft des Planeten nicht weit von der von K'oandar abwich. Eine höhere Gravitation und die Hitze hätte sie nicht lange ausgehalten. Seanzaara blickte sich um. Die Spur endete – oder begann, je nachdem, aus welcher Richtung man es sah – in einem Gebirge; in der Nähe eines Vulkans. Unaufhörliches Grollen ertönte aus dem Krater. Hier war alles felsig, mit dunklen Steinen aller Größen übersät. So weit man sehen konnte, gab es keine Vegetation. Sie liefen nebeneinander und hielten Ausschau nach dem Gesuchten. »Es ist so öde hier«, sagte sie. »Da möchte man nicht mal begraben sein.« »Sehe ich nicht so«, widersprach Asmodis. »Es erinnert mich an einige Gebiete in der Hölle.«
»Das klingt fast so, als hättest du Heimweh«, grinste sie ihn an. Ihre schlechte Laune ihm gegenüber schien mit einem Schlag wie verflogen. Sie hob einen Zeigefinger. »Heimweh nach der Hölle.« Asmodis grinste zurück. »Weiß man's?«, fragte er nur. Seanzaara verzog den Mund. Sie war so schlau wie zuvor. Er ließ sich noch nicht einmal von ihr in die Karten schauen und verfolgte stets seinen eigenen Weg. »Wichtiger ist doch, wo sich Rallant befindet«, raunzte Sid sie an. »Such du auf deine Art nach ihm«, befahl Seanzaara. »Ich versuche, D'Halas Tränen zu orten. Sie haben eine eigene Frequenz, die nur wenigen Wesen bekannt ist.« Außer mir kennen sie nur zwei weitere Caltaren, aber das werde ich dir nicht auf die Nase binden. Du sagst mir auch nicht alles, dachte sie, während sie ihn anlächelte. »Das wird das Beste sein«, nickte Asmodis. »Wenn er sich auf dieser Welt befindet, werde ich ihn finden.« Die Hexe setzte sich auf den Boden. Sie legte die Hände gegen den Kopf und schloss die Augen. Ihr Geist trieb zwischen den Räumen dahin. Sie suchte noch nicht lange, da erhielt sie auch schon den ersehnten Kontakt. Die Seelen-Tränen sehnten sich nach K'oandar. Sie wollten unbedingt zurück zur »Mauer der Schmerzen«, zum sogenannten Mosaik des Todes. Dort wurden alle Tränen von D'Hala gesammelt. Seanzaara verstand sie. Auch sie wollte so schnell wie möglich wieder zurück, aber aus anderen Gründen. Seanzaara war auf ihrer Heimatwelt eine der bekanntesten und gefürchtetsten Hexen. Aus allen Gegenden von K'oandar kamen Leute zu ihr. Ihr Rat wurde gesucht, ihr Urteil war gefürchtet. Sie war auf ihrem Planeten eine hoch geachtete Persönlichkeit. Ohne sie lief in ihrem Bereich fast nichts. Dafür hatte sie schon vor vielen Jahren gesorgt. Dass sie ihren eigenen Vorteil nicht aus den Augen ließ, verstand sich dabei von selbst. Mit anderen Worten: Sie war ziemlich gerissen! Wer nicht aufpasste, wurde hemmungslos von ihr übers Ohr gehauen. Sie war imstande, zu behaupten, die Betrogenen hätten noch
darum gebettelt, dass ihnen die Taschen erleichtert wurden. Das Schlimme dabei war, dass viele Caltaren ihr diese Lüge glaubten. Wesen, die um die Wahrheit wussten, sagten aus gutem Grund keine Widerworte. Sie fürchteten ihren Zorn. Als letzten Ausweg aus einer Nodage sorgte sie dafür, dass ihre Kontrahenten vor Gericht gestellt wurden – natürlich unter ihrem Vorsitz. Die Verurteilten wurden magisch verseucht, und danach verloren sie das Gesicht. Dies war die grausamste Strafe, die das Volk der Caltaren kannte. Nur zwei Personen überhaupt hatten diese unmenschliche Tortur überlebt. Und auch diese beiden waren mittlerweile verstorben. An'dean war einer von ihnen gewesen. Das sagte mehr als genug über Seanzaaras Verhältnis zur Macht aus. Trotzdem liebte sie ihr Volk und, mehr noch, ihre Welt. Wer über dies alles informiert war, wusste, weshalb sie es eilig hatte, wieder nach K'oandar zu kommen. Sie wollte verhindern, dass jemand ihre Position einnahm. In dieser Hinsicht traute sie niemand, auch wenn ihr Berater Kroan während der Zeit ihrer Abwesenheit als Stellvertreter fungierte. Auf der anderen Seite wollte sie die Verfolgung von An'dean selbst durchführen, da sie auch hier keinem anderen traute. Sie hatte sich also selbst mit in diese Lage manövriert. Wäre das ständige Misstrauen nicht gewesen, befände sich ein anderer Verfolger an ihrer Stelle. Und sie könnte ihre Leute auf K'oandar besser überwachen. Sie atmete tief ein. Was sollten die trüben Gedanken? Sie hatte die Tränen nach wenigen Minuten lokalisiert. Sobald sie Rallant hatten, konnte sie wieder nach Hause. Gerade als Seanzaara die Augen öffnete, wurde sie unsanft von Asmodis an den Armen hochgerissen. »Was soll …«, begann sie ärgerlich, da bemerkte sie es. Das Grollen aus dem Krater wurde ständig lauter. »Der steht kurz vor dem Ausbruch!«, rief Sid. »Wir sollten von hier verschwinden.« »Gerade jetzt? Ich weiß nun, dass D'Halas Tränen auf dieser Welt
sind«, rief sie zurück. »Und ich habe Rallant gewittert«, erklärte Asmodis. »Irgendetwas auf dieser Welt stört seine Ausstrahlung, aber ich bin mir sicher, dass er in der Nähe ist.« »Also, dann nichts wie los und …« Der Steinboden erzitterte unter ihren Füßen, gleichzeitig ertönte ein gewaltiges Grollen und Donnern. »Nichts wie weg von hier«, schrie Seanzaara, um sich bei dieser Lautstärke verständlich zu machen. Sid hieb ihr mit der Hand auf die Schulter. Er rief nur zwei Worte: »Dort, Rallant!« Wo sie aus der Para-Spur herausgekommen waren, stand der Tonkan. Gerade als sich Asmodis mittels Teleport zu ihm versetzen wollte, war der Schwarzelfe schon wieder verschwunden. »Ihm nach! Sofort«, stieß Seanzaara hervor und versetzte sich und ihren Liebhaber per distanzlosem Schritt dorthin, wo Rallant verschwunden war. Er spielte mit ihnen Katz und Maus. Und sie wollten ihn schnell einfangen. Das machte beide unvorsichtig. Asmodis tastete nach Seanzaaras Hand, ergriff sie – und zog sie mit sich in die Para-Spur. Doch dieses Mal war alles anders als gewohnt. Schon der Einstieg in die Para-Spur bereitete ihnen Unbehagen. Stromschläge durchzuckten ihre Körper, das Bewusstsein wollte schwinden. Vom gewünschten Zielpunkt her rollte eine Welle aus Schwärze auf sie zu. Weder Sterne noch Blitze waren zu erkennen wie bei der Herreise. Wolken von Schmerz lähmten jedes Denken. Und dann, nach unendlich lang erscheinender Zeit kam die wahnsinnig machende Gewissheit: Die Para-Spur gab sie nicht mehr frei!
Die Erkenntnis, dass sein Bruder gegen ihn arbeitete, versetzte Merlin einen Stich. Er wollte es einfach nicht glauben. Er traute Asmodis
eine Menge zu, aber das? Merlin sah in der Bildkugel im Saal des Wissens, dass die Tonkan eine Gefangene machten. Bei näherem Hinsehen erkannte er die ehemalige Geduldete. Vor jetzt fast drei Jahren hatte er unerkannt einige Seelen-Tränen von der Mauer der Schmerzen gestohlen. In Verkleidung hatte er die Ereignisse am Schlund betrachtet. Auch die stolze blonde Frau hatte er dort gesehen. Keanor aber kannte ihn nicht. Was suchte die Frau vom fernen Planeten K'oandar in seinem Zauberwald? Sie hatte keine Berechtigung dazu. Dieser Sache musste er nachgehen. Er hatte sowieso vor, nach Broceliande zu gehen, um die Überreste von Tjellkronn zu bergen. Das war er seinem Helfer schuldig. Asmodis und Seanzaara befanden sich nicht mehr im Zauberwald. Wohin sie verschwunden waren, das würde er noch in Erfahrung bringen. Er versetzte sich nach Broceliande. Den zerfetzten Körper von Tjellkronn barg er und versetzte sich zum Zauberbrunnen, dem Zentrum des Gartens. Vielleicht konnte das magische Wasser des Brunnens noch helfen. Am Zeitbrunnen angelangt, der im Schatten dreier Bäume stand, blickte er sich um. Der Brunnen selbst sah aus wie viele normale Brunnen auf der Erde; er besaß die Gestalt einer hochgemauerten Röhre von etwa zweieinhalb Meter Durchmesser. Er war bis in die Höhe von knapp einem Meter vierzig aus Backstein gebaut. Wenn das magische Wasser Tjellkronn nicht helfen konnte, dann half nichts auf der Welt. Merlin Ambrosius beugte sich über den Brunnenrand. In einer Tiefe von etwa einem Meter sah er dunkel das Wasser unter sich schimmern. Doch konnte er sich nicht selbst auf dem Wasserspiegel erkennen. Dazu reichten die Lichtverhältnisse nicht aus. Er füllte den stets neben dem Brunnen stehenden Eimer mit magischem Wasser. Dann zog er den Eimer mit dem daran befindlichen Strick hoch. Er verharrte eine Sekunde, bevor er das Wasser vorsichtig über
Tjellkronns zerschundenen Körper schüttete. Nach wenigen Minuten hatte er die grausige Gewissheit, dass nichts auf der Welt Tjellkronn wieder zum Leben erwecken konnte. Selbst das magische Wasser nicht! Während der ganzen Aktion blieb er unsichtbar. Er wollte aus verschiedenen Gründen nicht gesehen werden. Einer der Gründe war, dass er die Tonkan und Keanor heimlich belauschen wollte.
»Dort vorn beginnt das herbe Land«, erklärte Barktan. Er zeigte mit der Hand zur Seite zu einem besonders abgetrennt liegenden Areal. Man konnte selbst bei angestrengtestem Hinsehen nichts Genaues erkennen. Entweder herrschte darin Nebel, oder dort schienen Wirbelstürme zu toben. »Ich warne dich ausdrücklich davor. Es ist der schlimmste Teil von Broceliande. Alle, die sich hineinwagten, kamen nie wieder zurück.« Na prima, dachte Keanor. Das macht einem doch so richtig Mut. Sie dachte nicht im Traum daran, still im Tonkandorf auszuharren. Sollte ihr eine Flucht gelingen, dann wäre das herbe Land die erste Adresse, die sie aufsuchen würde. Falls sie sich dann noch hier auskennen würde. Sie hatte schon bemerkt, dass sich die Wege änderten, während sie beschriften wurden. Den Bewohnern von Broceliande machte das seltsamerweise nichts aus. Sie waren daran gewöhnt, außerdem mussten sie eine Art inneren Kompass besitzen. Auf jeden Fall verliefen sie sich nicht einmal. Trotz des Verbots von Asmodis spielte sie mit dem Gedanken, einen distanzlosen Schritt zu wagen. Was konnte ihr schon groß passieren? Die Übelkeit und Stromstöße konnten hier nicht schlimmer sein als im Eingangsbereich. Wir sind jetzt schon knapp zwei Koltans unterwegs, überlegte sie. Wie lange soll das noch dauern, bis wir ihr Dorf erreicht haben? Sie dachte belustigt daran, ob die paar Holzhütten genauso schmutzig waren wie ihre Bewohner. Auf jeden würde es zu ihnen passen. »Wir sind gleich da«, sagte Barktan, als habe er ihre Gedanken er-
raten. Keanor beschloss, vorsichtig zu sein und alle Gedanken an eine Flucht zu unterdrücken. Sie besaß zwar eine Art Mentalsperre, die Telepathen in die Irre führte. Aber wer wusste, welche Fähigkeiten der Tonkan besaß. Mit einem Schlag war das Dickicht zu Ende. Eine große Lichtung erstreckte sich vor der Gruppe. Am Waldrand standen zehn ärmliche Holzhäuser. Etwa zweihundert Meter entfernt sah Keanor einige Bäume und davor einen Brunnen. Auf K'oandar sahen sie ähnlich aus. »Das also ist der berühmte Zauberbrunnen von Merlin«, sagte sie und deutete hinüber. Es war eine Feststellung, keine Frage. »Das ist er«, bestätigte Carjana, die Frau mit der kratzigen Stimme. »Aber auch hier gilt …« »… dass ich mich von ihm fern halten soll«, ergänzte Keanor. Was ich aber bestimmt nicht vorhabe. »Gut erkannt«, grinste Carjana. »Woher weißt du das bloß?« Keanor atmete tief ein. »Weil für mich alles hier verboten ist. Fehlt nur noch, dass ich fürs Luftholen um Erlaubnis nachfragen muss.« »Das wäre eine Überlegung wert.« Carjana lachte meckernd, als sie Keanors bitterbösen Blick bemerkte. Sie ist eine exotische Schönheit, stellte Keanor voller Widerwillen fest. Sie nahm sich vor, so wenig wie möglich zu sagen, denn sie kannte ihr aufbrausendes Verhalten. Verspotten konnte sie sich selbst. Barktan wechselte einen Blick mit Carjana. Er winkte zwei Männer seines Stammes herbei und deutete mit den Armen auf Keanor und das Holzhaus, vor dem sie standen. »Solange du dich ruhig verhältst, wirst du als unser Gast behandelt«, sagte er und blickte sie scharf an. Keanor kam es vor, als würde sie in seinen schwarzbraunen Augen versinken. Das war ihr noch nie passiert. Reiß dich zusammen, dummes Ding!, schalt sie sich in Gedanken. »Solltest du allerdings etwas gegen uns unternehmen, dann wird dir der Aufenthalt in Broceliande schlecht bekommen«, drohte Barktan.
»Ach ja?« Keanor hob beide Augenbrauen. Sie versuchte, ihrer Stimme einen spöttischen Klang zu geben. »Ist das die berühmte tonkanische Gastfreundschaft?« Barktan trat näher zu ihr. Ihre Gesichter berührten sich fast. »Es liegt alles an dir«, sagte er mit überfreundlicher Stimme. »Wir reagieren nur.« »Schön für euch«, knurrte Keanor und wandte sich ab. Barktans Nähe verwirrte sie. »Du kannst dich in diesem Haus aufhalten«, erklärte er. »Wir geben dir Nahrung. Wir reden auch mit dir, aber ohne Rat von Merlin oder Asmodis kommst du nicht von hier weg.« »Und die beiden hier?« Keanor zeigte auf die Tonkan-Männer, die neben ihr standen. »Sind allein zu deinem Schutz da.« Kein Spott lag in seiner Stimme, und doch fühlte sie sich nicht für voll genommen. »Ich bin kein kleines Kind!«, fauchte sie ihn an. »Das ist mein letztes Wort in dieser Sache«, entgegnete er ruhig. Er beachtete sie nicht weiter und lief einer Gruppe Kinder entgegen. Carjana drehte sich um. Sie ergriff einen Holzeimer und ging mit wiegenden Hüften in Richtung des Zauberbrunnens davon. Keanor blickte ihr nach. Gern wäre sie auch einmal zum Brunnen gegangen, nach allem, was sie über ihn gehört hatte. »Blödmann!«, zischte sie Barktan hinterher. Sie schaute in die Gesichter ihrer Beschützer. Beide unterdrückten ein Schmunzeln. Sie hatten bemerkt, dass die blonde Wildkatze ihrem Anführer gefiel. Nur Keanor schien das noch nicht aufgefallen zu sein. Sie bezog das Grinsen der Männer auf die Situation, in der sie sich befand. Na wartet!, dachte sie verärgert. Ihr werdet mich noch für voll nehmen! Ihre Chance kam schneller, als sie dachte.
Eine andere Welt
Stygia blickte unwillig auf. Sie wurde gerufen. Lieber wäre ihr gewesen, wenn Rico Calderone seine Geschäfte selbst erledigt hätte, als sie mit hineinzuziehen. Er wollte ihr nicht verraten, was er vorhatte. »Das soll auch für dich eine Überraschung sein«, hatte er mit süffisantem Grinsen auf ihre Frage geantwortet, bevor er verschwand. Stygia wob mit den Fingern komplizierte Muster in die Luft. Dabei legte sie den gehörnten Kopf in den Nacken und murmelte Formeln und Beschwörungen. Sie benötigte nur einige Augenblicke der Konzentration, um ihre Kräfte wirken zu lassen. In den feurigen Streifen, die den Thronsaal der Fürstin der Finsternis in seinen unwirklichen Schein tauchten, bildete sich eine winzige Aussparung, die geradewegs aus dem Nichts entstand. In wenigen Sekunden wurde sie größer und erweiterte sich zu einem Durchgang, den sie trotz ausgebreiteter Schwingen mühelos durchschreiten konnte. Sie konnte nicht erkennen, was sich auf der anderen Seite des Weltentors befand, aber das war auch nicht nötig. Als sie durch das Weltentor trat und auf der anderen Seite herauskam, veränderte sich die Umgebung schlagartig. Eine rote Sonne glomm über ihr. Der Himmel war schwarzblau und hing voller Sterne. Der scheinbare Widerspruch interessierte sie nicht. Sie überschaute das Tal mit einem Blick. Bis zu 5.000 Meter hohe, zerklüftete, dunkelgraue Berge erhoben sich rings um eine Arena. Das ockergelbe Bauwerk erhob sich mindestens 100 Meter und besaß einen Durchmesser von bestimmt 500 Meter. Stygia erinnerte das Bauwerk an das Colosseum in Rom. Sitzreihen für zigtausend Personen zogen sich von unten nach oben. Ungeschlacht wirkende Wesen tobten in der Arena herum. Von beiden Ellenbogen bis über den Rücken zog sich eine gefährlich aussehende rasiermesserscharfe Stachelreihe. Die Oberarme wurden von kräftigen Muskeln durchzogen. In den Händen hielten die Höllendiener bajonettähnliche Hiebwaffen. Einige der Höllenkreaturen streuten magisch aufgeladenes Pulver aus. Sie markierten damit einen bestimmten Bereich. »Nur lässt du das zu auffällig machen, du alter Narr«, empörte sie sich. »Jeder magisch Begabte würde das innerhalb weniger Sekun-
den durchschauen.« Plötzlich sah sie einen Lichtfleck vor sich. Etwas glühte da wirklich, und es waren nicht die Felsen. Es bewegte sich, flackerte unablässig. Ein Irrwisch?, fragte sie sich. Ein Irrwisch flog auf sie zu und bedeutete ihr, ihm zu folgen. Irrwische gehörten nicht unbedingt zu den Bösen innerhalb der Höllenhierarchie. Sie wurden eher von den Dämonen und Teufeln ausgenutzt. Stygia glaubte daran, dass sie sich gern ausnutzen ließen. Es stellte sozusagen ihren Lebenszweck dar. »Du sollst sofort zum Herrscher kommen, Herrin«, trieb der Namenlose sie an. Ihr kam ein bösartiger Gedanke, und sie erteilte dem Irrwisch einen neuen Befehl. »Aber dabei werde ich bestimmt verletzt, und vielleicht werde ich daran sterben, Herrin!«, gab er ängstlich zu bedenken. Stygia runzelte die Stirn. Ihre Augen schienen Dolche zu verschleudern. »Du wirst mir gehorchen!«, befahl sie. »Ich dulde weder Widerrede, noch dulde ich jegliches Versagen. Wenn du dabei stirbst, dient dein Tod wenigstens einer guten Sache!« Nämlich allein ihrer Sache – und was ihr nützte, war gut. Was ihr schadete, war schlecht. So einfach definierte Stygia den Unterschied zwischen gut und schlecht. Andere Lebewesen sahen das ein wenig anders, aber das berührte sie nicht. »Geh und handle wie befohlen!«, befahl sie schroff. Der Irrwisch raste wie ein Tobsüchtiger. »Ich höre und gehorche«, kreischte er die uralte Floskel und jagte mit ungeheurer Geschwindigkeit davon. Dann begann er mit seiner Arbeit. Sie bestand darin, die Markierungen, die Calderones Diener mit dem magisch aufgeladenen Pulver angelegt hatten, zu entfernen und an anderen Stellen anzubringen. Die dauernde Berührung mit artfremder Magie verursachte dem Irrwisch große Schmerzen. Doch er hatte keine andere Wahl. Er
musste der Fürstin der Finsternis gehorchen, ob er wollte oder nicht. Und wenn es ihn das Leben kostete. Als er mit seiner Arbeit fertig war, war er beinahe tot und zu nichts anderem mehr zu gebrauchen. Er schaffte es gerade noch, Stygia die Vollzugsmeldung zu überbringen. Dann verlosch sein Bewusstsein für immer. Die Fürstin der Finsternis war zufrieden! Rico Calderone weit weniger. Satans Ministerpräsident tobte einmal mehr, als er die Veränderung seiner Markierungen bemerkte. »Was hast du dir dabei gedacht, du Närrin?«, schalt er sie voller Zorn. »Ich habe bemerkt, dass du einen Fehler begangen hast, mein Herrscher«, antwortete sie im allerfreundlichsten Tonfall. Er registrierte wohl die spöttische Betonung. »Und den wollte ich ausbügeln, ehe etwas Schlimmes passieren kann.« »Einen Fehler?« Calderone zog die Stirn in Falten. Sein Gesicht war ein einziges Fragezeichen. Stygia wies ihn widerwillig auf eine Unrichtigkeit seines Planes hin. Am liebsten hätte sie das nicht gemacht, aber sie hatte keine andere Wahl. Mitgefangen, mitgehangen, dachte sie voller Grimm. Calderone biss sich auf die Unterlippe. Er sollte Stygia dankbar sein, obwohl er sie am liebsten vernichten ließe. Na, vielleicht klappt das ja während meines Vorhabens, wünschte er sich. »Ausnahmsweise bin ich sehr zufrieden mit dir und deinen Leuten«, lobte er sie wenigstens einmal. Stygia sagte nichts dazu. Sie wusste, dass der nächste Anschiss sehr bald wieder folgen würde. »Ich habe alles mitverfolgt«, gestand Rico Calderone. »Sowohl deine Arbeit als auch die von Taronn.« Er zeigte auf die verkrüppelt wirkende Dämonin, die aus dem Hintergrund trat. Sie führte ein dunkles, schmutzig aussehendes Wesen mit sich. Rallant, den Tonkan! Taronn grinste ihre Chefin an. Bei ihr wirkte das Verziehen der
Gesichtsmuskeln, als würde ein Totenkopf lachen. »Hier habe ich noch etwas, Herrin«, krächzte sie. Über ihrer Schulter trug sie eine beigefarbige Umhängetasche aus Lakxaleder. Sie ergriff die Ledertasche und schwenkte sie hin und her. Dabei lachte sie auf ihre meckernde Art. »Weißt du, was da drin ist, Herrin?«, fragte Taronn. »Woher soll ich das wissen?«, fuhr Stygia sie an. Vor Calderone wollte sie nicht dumm dastehen. Taronn verzog das Gesicht. Sie wusste um die Abneigung ihrer Chefin gegen Satans Ministerpräsident. Gerade deshalb ärgerte sie Stygia auch so gern. Und sie wusste genau, dass ihre Botschaft einschlagen würde wie ein Blitz. »Herrin, da drin, das sind Seelen-Tränen!«
Carjana hatte ebenfalls bemerkt, wie Barktan die Fremde mit seinen Blicken regelrecht verschlang. Die Tonkan mit der außergewöhnlichen Stimme stand am Zauberbrunnen. Sie ließ sich ungewohnt viel Zeit zum Wasserholen. Sie wollte ihre Gedanken ordnen. Carjana selbst hielt Keanor für unschuldig am Tod von Tjellkronn. Der Kleinwüchsige hatte selbst im Tod noch eine Aura verstrahlt, die unmöglich zu Keanor passte. Barktan hatte Recht, wenn er verlangte, dass einer der ungleichen Brüder sich um Keanor kümmern sollte. Merlin oder Asmodis würden wissen, wie sie mit der Blonden weiter verfahren sollten. Die Tonkanfrau hätte sie am liebsten so schnell wie möglich freigelassen. Sie sah in ihr eine Konkurrentin, die aufgrund ihrer Exotik den Männern im Dorf den Kopf verdrehte. Dazu kam eine kühle erotische Ausstrahlung, die auch Carjana bemerkte. »Und das darf nicht sein!«, grummelte sie und ballte die Hände zu Fäusten. »Es ist für uns Tonkan am besten, wenn sie wieder verschwindet.« Ähnliche Gedanken erfüllten Keanor im Tonkandorf. »Es wäre für mich am besten, wenn ich verschwinde«, hauchte sie so leise, dass ihre Wächter nichts mitbekamen.
Sie sah Carjana am Zeitbrunnen stehen. Ein schneller Blick nach rechts und links zeigte ihr, dass die Männer die Aufgabe des Bewachens nicht ganz ernst nahmen. Sie plauderten miteinander und sahen den Kindern beim Spielen zu. Jetzt oder nie, durchfuhr es Keanor. Wenn sie nicht sofort reagierte, war es zu spät. Sie konzentrierte sich auf einen distanzlosen Schritt. Flüssiges Feuer schien durch ihre Adern zu fließen. Eine Welle aus Schmerz überschwappte sie förmlich. Ihre Lippen öffneten sich zum Schrei, doch nur ein heiseres Krächzen entwich ihrer Kehle. Und dann entmaterialisierte sie. Gerade in dem Augenblick, als ihre Bewacher durch das Krächzen aufmerksam wurden. Die Männer sahen sich erschrocken an. Es dauerte Sekunden, ehe der Erste sprechen konnte. »Wo … ist sie hin?« »Ich weiß nicht«, antwortete sein Gegenüber. Zufällig blickte er zum Zeitbrunnen hinüber. Er streckte einen Arm aus und rief: »Sie ist bei Carjana am Brunnen.« Der erste Tonkan rief nach Barktan, während der zweite sich erhob und die Bewohner des Dörfchens alarmierte. Am Brunnen materialisierte Keanor hinter Carjanas Rücken. Sie sah, dass die Tonkan den mit magischem Wasser gefüllten Eimer auf den Brunnenrand gestellt hatte und gedankenverloren auf die große, von einem Bach durchzogene Lichtung starrte. »Bist du immer so unvorsichtig?«, fuhr sie die Tonkan an. Die durch den distanzlosen Schritt verursachte Übelkeit hatte zum größten Teil wieder nachgelassen. Carjana zuckte zusammen, dabei stieß sie den Eimer um. Magisches Wasser ergoss sich zum Teil über das vor dem Brunnen befindliche Gras. »Bist du wahnsinnig, mich so zu erschrecken?«, herrschte sie Keanor an. »Was suchst du überhaupt hier? Es wurde dir doch verboten.« Die Caltarin verzog abfällig die Mundwinkel. »Nun hab dich nicht so«, entgegnete sie. »Ist doch noch überhaupt nichts passiert.« »Aber du darfst nicht hier sein«, zischte Carjana.
»Was ich darf und was nicht, entscheide immer noch ich«, erklärte Keanor großspurig. »Und da der distanzlose Schritt ohne große Schwierigkeiten klappte, sehe ich keine Veranlassung, noch länger hier zu bleiben.« Sie verschwieg wohlweislich, dass sie Schmerzen und ein Schwindelgefühl hatte. Nie im Leben hätte sie Derartiges zugegeben. Das war für sie ein Zeichen von Schwäche. Und wenn man die Schwäche seines Gegners kannte, dann konnte man ihn umso leichter besiegen. Carjana bückte sich und hob den umgestürzten Eimer wieder auf. Keanor fasste sie am Arm und entwendete ihr das Traggefäß. In diesem Augenblick sah sie die Bewohner des kleinen Dorfes näher kommen. »Bist du verrückt?« Carjana war empört über das unschickliche Verhalten der Fremden. »Ich glaube nicht«, lachte Keanor. »Ich war wohl noch nie so klar im Kopf wie jetzt.« Sie griff in den Eimer hinein und schöpfte mit einer Hand Wasser. Dann fuhr sie sich mit der Hand über Gesicht und Genick. Sie schöpfte ein zweites Mal Wasser und trank es gierig. Augenblicklich fühlte sie sich besser. Schmerzen und Schwindel verflogen im Nu. Sie fand, dass die Begriffe Zeitbrunnen und magisches Wasser perfekt gewählt waren. Sie fühlte sich um Jahre verjüngt. Dabei war sie schon zwei Tage unterwegs, ohne zu schlafen. Nur konnte ihr selbst das magische Wasser den fehlenden Schlaf nicht ersetzen. Es half lediglich, dass sie eine geraume Zeit durchhalten konnte. Danach musste sie den Schlaf nachholen. »Und jetzt wird es Zeit, dass ich von hier verschwinde«, sagte sie voller Zufriedenheit. Sie machte sich keine Gedanken darüber, weshalb die Tonkan auf einmal stehen blieben. »Aber dich, mein Täubchen, nehme ich mit mir.« Sie ließ den Eimer fallen und griff mit beiden Händen nach Carjanas Armen. Die Tonkan sträubte sich mit allen Kräften, aber Keanor ließ nicht locker. Sie konzentrierte sich kurz und vollführte einen distanzlosen Schritt.
Das heißt, sie wollte einen distanzlosen Schritt durchführen. Sie entmaterialisierte mit ihrer Gegnerin, und beide flackerten halbstofflich zwischen den Dimensionen. Dann materialisierten sie wieder. Keanor ließ Carjana los. Sie stierte ungläubig auf ihre Arme, dann auf ihr Gegenüber. Wie konnte es geschehen, dass sie mitten im distanzlosen Schritt zurückkam? Das war ihr noch nie passiert. Sie wusste auch nichts von Berichten über derartige Vorgänge. »Du wirst niemand mitnehmen«, sagte eine dunkle, männliche Stimme. Beide Frauen drehten sich um. Ein Mann mit in der Mitte gescheitelten schulterlangen weißen Haaren und einem ebenso langen weißen Vollbart stand neben dem Zeitbrunnen. Der Mann trug eine weiße kapuzenlose Kutte mit einem breiten Gürtel, in dem eine goldene Sichel steckte, sowie einen flammend roten Umhang. »Im Gegenteil«, fuhr der Unbekannte fort. »Du wirst schön hier bleiben und mir erzählen, was mit meinem Helfer geschah.« Keanor sah von dem Mann zu Carjana. Die Tonkan lächelte, sogar ihre Augen schienen von innen heraus zu leuchten. »Das ist der Herr des Zauberwaldes«, beantwortete sie die unausgesprochene Frage. »Der König der Druiden, auch der Zauberer von Avalon genannt.« »Du meinst …« Keanor fehlten die Worte. »Das ist der Besitzer von Broceliande?« Carjana nickte dazu, eine Geste, die Keanor kaum bekannt war. »Richtig. Das ist Merlin!«
4. Unerwünschter Besuch � »Irgendwo weht der Wind, aber das hat keine Bedeutung mehr für mich …« (Queen, 1975: ›Bohemian Rhapsodie‹)
Zwei grundverschiedene Dinge waren allumfassend: Stille und Dunkelheit. Sie sah nur ewige Schwärze. Nicht das geringste Leuchten erfüllte die Sphäre, in der sie sich befand. Allein diese Tatsache konnte einen an den Rand des Wahnsinns bringen. Auch die Stille zehrte an ihren Nerven. Sie war so total, dass sie glaubte, das Gehör verloren zu haben. Kein Geräusch drang an ihre Ohren. Nur das Echo ihrer Gedanken war zu vernehmen. Es handelte sich um einen wilden Schwarm von Ideen, ein wüstes Durcheinander an Empfindungen. Wenn ich wenigstens meinen Atem hören oder den Herzschlag fühlen könnte, dachte sie verzweifelt. Aber das war nicht möglich. Sie hatte keinen Körper mehr. Augenscheinlich existierte sie nur noch als Geistwesen. Diese Tatsache erschreckte sie nicht. Sie hatte schon so viele Situationen durchgestanden, dass sie das meiste nicht fürchtete. Aber das, was ihr jetzt widerfahren war, brachte sie an die Grenze dessen, was sie zu ertragen imstande war. Ihr geschocktes Bewusstsein wirbelte über einem unerklärlichen Abgrund und versuchte vergeblich, sich gegen die schreckliche Wahrheit zu wappnen. Ich kann nicht sehen! Ich kann nicht hören! Ich kann nicht reden!
Ich kann nicht fühlen, schmecken, spüren … Alle meine Sinne habe ich verloren. Sie konnte nicht einmal weinen oder ihre Qual hinausschreien. Und Qual erfüllte sie. Nicht enden wollende Stromschläge durchzuckten ihr Bewusstsein, das wieder schwinden wollte. Wellen von stechendem Schmerz lähmten jedes Denken. Aber wo Schmerz ist, muss sich doch auch ein lebender Körper befinden!, schrie es unaufhörlich in ihr. Wie in Zeitlupe tropften die Gedanken träge dahin. Alles schien ebenso Minuten wie Jahre zu dauern. Traurig und verzweifelt dachte sie daran, dass der Denkprozess ihre einzige Lebensfunktion blieb. Wer bin ich, und wo komme ich her? Das Denken fiel ihr unendlich schwer. Und wo wollte ich hin, als es mich erwischte? Sie hätte nicht zu sagen vermocht, was schlimmer war: die Stille, die Düsternis oder die Bewegungslosigkeit. Ihr Zeitgefühl existierte nicht mehr, sie wusste nicht, wie lange sie sich schon in diesem Zustand befand. ›Das ist doch scheißegal!‹, empfing sie ein Fluchen, einen Gedankensplitter ungeheurer Stärke von irgendwoher. ›Die Hauptsache ist, dass wir so schnell wie nur möglich von hier entfliehen können.‹ ›Das ist doch …‹ Sie kannte die Gedankenstimme. ›Bist das …. Sid?‹ Auf der einen Seite war sie erleichtert, dass sie nicht mehr alleine war. Auf der anderen Seite nutzte ihr die Erkenntnis wenig. Sie befand sich gleich ihm in diesem unsagbar fremden Raum, körperlos geworden und ohne die Möglichkeit einer Rückkehr dorthin, woher sie kam. ›Wer sollte es sonst sein?‹, erhielt sie eine Gegenfrage als Antwort. Und obwohl es angeblich unmöglich sein sollte, Gefühle in eine Telepathieverbindung zu legen, klangen die Worte für sie mürrisch und erheitert zugleich. ›Oder warst du nicht mit mir unterwegs?‹ ›Ich glaube schon‹, antwortete sie zögernd. Obwohl sie nur die Gedanken des unnahbaren Mannes mit dem markanten Gesicht empfing, glaubte Seanzaara, ihn direkt vor sich stehen zu sehen. ›Wie sind wir hierher gekommen, und wie kommen wir wieder weg? Was ist das überhaupt, worin wir feststecken?‹ Die Antwort traf Seanzaara
schlimmer als ein Keulenschlag. Die k'oandarische Hexe hätte viel für möglich gehalten, aber was Asmodis sagte, versetzte sie in eine Art geistigen Schock. ›Wir befinden uns mitten in der Para-Spur und kommen nicht mehr raus.‹
Rallant »Herrin, da drin, das sind Seelen-Tränen!«, sagt die verkrüppelt aussehende Frau mit der Krähenstimme. Dabei verzieht sie ihr Gesicht, dass mir angst und bange wird. Ich kenne sie nicht und habe sie noch nie gesehen. Ich will sie auch nicht kennen. Ich ekle mich vor ihr, wie ich mich noch nie vor etwas geekelt habe. Auch der rothaarige Mann in der Mönchskutte, der behandelt wird, als wäre er der Herrscher der Frauen, ist mir unbekannt. Aber die andere Frau kenne ich. Es handelt sich um Stygia, die Nachfolgerin von Asmodis. Sie ist die Herrscherin der Hölle. Bei ihr ist äußerste Vorsicht angebracht. Wo sie ist, herrscht Tod und Zerstörung. Am besten, man geht ihr aus dem Weg, solange man kann. Asmodis hat mich vor ihr gewarnt, obwohl er sie auf der anderen Seite nicht ernst nimmt. Sie hat meine Erinnerung blockiert. Langsam fällt mir wieder ein, was verschüttet gehen sollte. Ich weiß nicht, wieso das so ist, aber wahrscheinlich liegt es daran, dass Asmodis meine Magiefähigkeiten trainierte. Letztlich ist es auch egal. Wichtig ist nur, dass die drei nicht bemerken, dass ich nicht mehr voll beeinflusst bin. Ansonsten würden sie mich sofort töten. Erschüttert bemerke ich, dass sie mich nur für das Stehlen der Seelen-Tränen missbrauchten. Mit ihrer Höllenaura hätten sie den Zauberwald nicht betreten können. Die Seele von Broceliande hätte sie sofort getötet. Den armen Tjellkronn missbrauchten sie als Ablenkung für Asmodis und die Waldseele.
Sobald er Broceliande betrat, wurde sein Geist abgetötet, und der Zauberwald wehrte sich gegen ihn. So konnte ich ohne Gefahr D'Halas Tränen mitnehmen. Sie haben uns beide nur missbraucht und wie ein Instrument benutzt. Mit dem Unterschied, dass Tjellkronn sofort sterben sollte – seinen Tod hatten sie fest eingeplant – und ich erst dann, wenn ich nicht mehr von Nutzen für sie bin. Und das wird schon bald der Fall sein. Das ist wahrhaft teuflisch ausgedacht; im Sinne des Wortes. Ich kam über eine Para-Spur hierher. Es kribbelt in mir, aber ich kenne das. Ich fühle diese Spur wie eine Hand, die sich auf meinen Kopf legt. Sie lockt mich, sie scheint nach mir zu rufen. Wenn mich Stygia und ihre Begleiter doch nur einmal aus den Augen lassen würden. Nur für wenige Sekunden. Mehr brauche ich doch nicht. Dann könnte ich die Spur aktivieren. Mein Herz schlägt so stark, dass ich befürchte, sie könnten es hören. Natürlich ist das Unsinn, aber was kann man gegen Todesangst unternehmen? Mir ist klar, dass sie mich noch für einen Auftrag benötigen, den sie nicht erledigen können oder wollen, sonst hätten sie mich längst schon getötet. Die Frau, die Taronn genannt wird, öffnet die Umhängetasche, die ich aus Broceliande raubte. Stygia und der Mann in der Kutte blicken fasziniert auf den Inhalt. Die Seelen-Tränen leuchten grell auf. So eine Gelegenheit kommt kein zweites Mal. Ich bereite mich darauf vor, mich in die Para-Spur einzufädeln. Anders kann ich es nicht ausdrücken; ich kenne den Fachausdruck dafür nicht. Und wenn, wäre es mir auch egal. Ich bewege mich langsam auf die Para-Spur zu, um die drei Mitglieder der schwarzen Familie nicht auf mich aufmerksam zu machen. Sie sondieren den Inhalt der mit Blut besudelten Umhängetasche und sind abgelenkt. Ein Höllendiener mit muskulösen Oberarmen und einer rasiermesserscharfen Stachelreihe, die sich von beiden Ellenbogen bis über den Rücken zieht, bemerkt meinen Fluchtversuch. Er ist zu
weit von mir entfernt, als dass er mir gefährlich werden kann. Aber er brüllt auf und zeigt mit der rechten Hand auf mich. Stygia wird aufmerksam. Sie blickt erst auf das Dienerwesen, dann auf mich. Gleich darauf folgt mir die Frau mit der Krähenstimme. Sie reagiert unwahrscheinlich schnell. Aber nicht schnell genug! Ich sehe noch, dass sie einen Feuerball auf mich zuschleudert, dann befinde ich mich schon in meinem bevorzugten Reisemedium. So viel Glück hatte ich noch nie im Leben. Ich bin im letzten Augenblick entkommen!
Aus unergründlichen Augen blickte Merlin Ambrosius auf Keanor. Er wollte nicht glauben, was ihm die junge Frau erzählte. Und doch wusste er dank seiner magischen Kräfte, dass alles, was sie ihm erzählte, der Wahrheit entsprach. »Sie sind über eine Para-Spur verschwunden?«, überlegte er laut. »Und Rallant und Tjellkronn erschienen nicht über dieselbe Verbindung …« Er schüttelte den Kopf. »Das ergibt doch keinen Sinn«, murmelte er undeutlich. »Was hast du vor?«, erkundigte Keanor sich. Merlin strich sich mit der Hand durch seinen Bart. Er wirkte so abgeklärt, als habe er nichts mit den Geschehnissen in Broceliande zu tun. »Wir haben die Wahl«, sagte er zweideutig. »Was soll das bedeuten: Wir? Wieso nicht du?« Keanor legte die Stirn in Falten. »Du wolltest doch sowieso aus Broceliande entfliehen. Also machen wir beide uns auf die Suche nach den Entschwundenen.« Merlin lächelte, doch Keanor wusste, dass die Freundlichkeit trog. Ihr blieb keine andere Wahl, als auf Merlins Vorschlag einzugehen. Nur war das kein Vorschlag, korrigierte sie sich in Gedanken. Das war ein Befehl. Und wenn ich den missachte, dann geht es mir schlecht. Keanor wusste, dass der Herr des Zauberwalds ihr bei weitem
überlegen war. Sie beschloss, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Vielleicht konnte sie Merlin während der Suche entwischen. »Also, worauf warten wir?«, fragte sie mit rauer Stimme.
Mit ausgebreiteten Armen stand Merlin zwischen den Regenbogenblumen. Keanor konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er Zwiesprache mit den magischen Transportmitteln hielt. Er drehte ihr den Rücken zu, so dass sie das goldene Pentagramm sah, das auf dem flammendroten Umhang eingestickt war. Er wob mit beiden Händen magische Zeichen in die Luft. Dazu stieß er mit kehliger Stimme Zaubersprüche aus. Als das nichts half, versuchte er es sogar mit seinem Machtspruch. »Anal'h natrac'h – ut vas bethat – doc'h nyell yenn vvé.« Selbst nach mehrmaligem Wiederholen des Machtspruchs tat sich nichts. Keanor lag schon eine scharfe Kritik auf der Zunge, aber Carjana hielt sie zurück. Die Tonkan wusste, wie Merlin in manchen Fällen reagierte und dass es besser war, ihn nicht zu reizen. Carjana durfte sie als einzige Bewohnerin der Tonkansiedlung begleiten. Merlin wollte sich durch nichts ablenken lassen, darum stimmte er nur ihrer Bitte zu, ihm helfen zu wollen. »Der kann das versuchen, so oft er will. Das bringt doch nichts«, zischte Keanor leise in Carjanas Ohr. Der Zauberer sollte sie nicht hören. »Woher nimmst du so viel Arroganz, Fremde?« Merlin hatte sie doch gehört, aber in seiner Frage lag kein Vorwurf. »Weil ich sehe, dass sich nichts tut«, verteidigte Keanor sich. »Vielleicht kannst du bloß nicht erkennen, was ich sehe«, behauptete er. »Vielleicht, vielleicht auch nicht«, gab sie schnippisch zurück. »Aber falls du etwas herausgefunden haben solltest, dann könntest du mich an deiner Weisheit teilhaben lassen.« Merlin drehte sich wieder um und blickte ihr in die Augen. Trotz seines Alters wirkte er auf eine nicht näher zu bestimmende Weise jugendlich.
»Warum bist du immer so aggressiv?«, fragte er und lächelte. Keanor hatte den Eindruck, dass er sie nicht für voll nahm. Sie winkte ab. Es half nichts, wenn sie sich stritten. »Können wir ihnen folgen oder nicht?«, antwortete sie mit einer Gegenfrage. Merlin zuckte mit den Schultern. Mittlerweile wusste Keanor, dass diese Geste eine Art vorläufige Ratlosigkeit bedeutete. Es war schwer, mit Wesen auszukommen, die eine andere Körpersprache besaßen. »Wir können es versuchen«, sagte er, aber es hörte sich nicht sehr aufmunternd an. »Und wie willst du das bewerkstelligen?« Die feinen Härchen in Keanors Nacken und auf ihren Oberarmen richteten sich auf. Sie wusste nur, dass die Suche über die ihr fremde Para-Spur gehen musste. Das war genau der Teil, vor dem sie sich fürchtete. Ihr war diese Art zu reisen unbekannt, und sie misstraute ihr. »Indem wir ihnen nachforschen«, erwiderte Merlin. »Über die Para-Spur?« Keanors Selbstsicherheit schien mit einem Mal wie von einem Orkan weggeblasen. »Über die Para-Spur«, bestätigte der König der Druiden. »Hier ist eine der seltenen Stellen, an denen sowohl eine Regenbogenblumenverbindung als auch eine Para-Spur existiert.« Er aktivierte die Para-Spur und versetzte sich mit den Frauen auf die Welt, auf der Seanzaara und Asmodis nach Rallant gesucht hatten. »Sie waren hier«, stellte Merlin schon nach wenigen Minuten fest. Keanor glaubte ihm aufs Wort. Sie spürte ebenfalls, dass sich sowohl Seanzaara als auch die Seelen-Tränen noch vor kurzer Zeit hier befunden hatten. »Und was jetzt?«, erkundigte sie sich. »Es gibt noch eine zweite Para-Spur, die von hier zu einer anderen Welt führt«, antwortete Merlin. Er schloss die Augen und versetzte sich in höchste Konzentration. Minutenlang sagte er kein Wort. Keanor blickte Carjana fragend an und deutete mit der Hand auf den zur lebenden Statue geworde-
nen Zauberer. »Er sucht nach ihnen«, erklärte die Tonkan. »Das sehe ich. Aber ich denke, wir wollten über die zweite Spur reisen.« »Er wird seine Gründe haben.« »Das kann wieder dauern.« Geduld gehörte nicht zu Keanors vorstechenden Eigenschaften. Schneller als gedacht öffnete Merlin wieder die ewigkeitsjungen Augen. Er schüttelte den Kopf, gerade so, als wollte er nicht glauben, was er erfahren hatte. »Das habe ich noch nie erlebt«, murmelte er zu sich selbst. »Was meinst du?« Ratlos hob Keanor beide Arme. »Hast du sie gesehen?« »Das war nicht möglich.« Keanor sah ihn aus großen Augen an. »Aber was ist mit ihnen gesch …?« Sie unterbrach sich mitten im Wort. Merlin berührte sie mit einer Hand an der Stirn. Von einer Sekunde zur anderen befanden sie sich in einer anderen Welt. Ein endlos erscheinender Abgrund – einer unaufhörlich drehenden Spirale gleich, die sie verschlingen wollte – schien auf sie zuzustürzen. Farben und Formen verschwammen vor ihren Augen. Sie wollte schreien, aber sie besaß keinen Mund mehr! Die rasende Fahrt schien immer schneller zu werden. Nie zuvor hatte Keanor Vergleichbares erlebt. Einzelheiten konnte sie nicht mehr unterscheiden. Alles war nur noch ein formloser Farbbrei. ›Merlin, hör auf!‹, schrie sie telepathisch. ›Das ertrage ich nicht!‹ ›Du musst es nicht mehr lange ertragen‹, antwortete die Gedankenstimme des Zauberers. ›Dieser Weg ist gleich zu Ende.‹ Bevor Keanor nachdenken konnte, was er mit seinen Worten meinte, stoppte die endlos erscheinende Fahrt. ›Aber das … Was bedeutet das?‹, brachte sie erschrocken hervor. ›Hier war ihr Weg zu Ende‹, erklärte Merlin. ›Und es ist unser Glück, dass wir nur geistig hierher gereist sind.‹
›Du meinst …?‹ Keanor war geschockt. Auch ohne Antwort wusste sie, was das zu bedeuten hatte. Sie bemerkte, dass die Fahrt wieder zurückging. Der Rückweg kam ihr seltsamerweise nicht so lange vor. Sie wurden von Carjana erwartet. Die Tonkan hatte während der Zeit ihrer geistigen Abwesenheit gewartet und auf ihre Körper aufgepasst. Mit knappen Worten erzählte Merlin von ihrer Reise durch die Para-Spur. Carjana zuckte erschrocken zusammen. Ihre Stimme hörte sich noch rauer und kratziger an als sonst. »Du meinst wirklich …?« Merlin nickte zustimmend. »Ich bin ihnen nachgereist, aber die Para-Spur, die sie benutzten, existiert ab einer bestimmten Stelle nicht mehr. Ich kann nicht ausschließen, dass sie dabei gestorben sind!«
Eine andere Welt � Das Klatschen von aufprallenden Flammenpeitschen und die Schreie der Getroffenen erfüllten das Stadion. Die Anführer trieben sie erbarmungslos an, denn es durfte keine Zeit verloren werden. In den Händen hielten sie bajonettähnliche Hiebwaffen und Flammenpeitschen. Chkoll knurrte wild auf. Ihn hätte eine Flammenpeitsche fast gestreift, dennoch brannte jeder Muskel seines monströsen Körpers. Seine Oberarme wurden von kräftigen Muskeln durchzogen. Er gehörte zu einem Kommando, das magische Fallen rings um das Stadion verlegen sollte. Irisierende Flammenzungen huschten dort wie Blitze über den Boden, wo ihre Feinde in die Fallen tappen sollten. Aber es war egal, was sie auch unternahmen, oder wie sehr sie sich anstrengten: Ihren Anführern ging auch das noch zu langsam. »Schneller, ihr Bastarde!«, rief Tkurr, der Oberaufseher von
Chkolls Gruppe. »Wollt ihr euch immer noch nicht bewegen? Ihr seid nur Abschaum! Der größte Dreck, den ich jemals sah. Und das will etwas bedeuten.« Wieder fauchte seine Flammenpeitsche über ihre Köpfe hinweg. Die Luft unter der Peitschenschnur war elektrisch aufgeladen. Entladungen tanzten in sich verästelnden Blitzen über die Körper der Unglücklichen. Chkoll zuckte zusammen. Sein Kopf und die Schultern schmerzten, er konnte kaum ein Glied bewegen. Schmerz und Lähmung gingen ineinander über. Dabei konnte er von Glück sagen, dass er nicht voll getroffen wurde. Tkurr holte weit aus und ließ die Peitsche erneut durch die Luft pfeifen. Jedes Mal, wenn er einen Untergebenen voll mit der Waffe traf, entzündete sich ein Feuer auf der Aufschlagstelle. Die Getroffenen schrien vor Schmerz und waren unfähig, weiterzukämpfen. Sie verbrannten nach wenigen Minuten entsetzlicher Qual. Auf diese Art und Weise hoffte Tkurr, seine Leute zu noch schnellerer Arbeit bewegen zu können. Jeder Getötete war schnell zu ersetzen, denn die Anzahl an Höllendienern war enorm. Tkurr schnaubte unwillig. Nicht, dass es ihm auch nur um eine getötete Höllenkreatur Leid tat, aber trotz der Strafe durch die Flammenpeitsche ging es ihm nicht schnell genug. »Was, ihr wagt auch noch Widerworte?«, empörte sich Tkurr. »Das werdet ihr büßen!« Und wieder ließ er die Peitsche auf den Rücken eines todgeweihten Dieners niederklatschen. Chkolls Nachbar, ein Knochenkrieger, ging in die Knie; er versuchte mit beiden Händen, die brennende Wunde zum Erlöschen zu bringen. Dabei brüllte er unentwegt. Er spürte das Feuer in seinen Händen und schrie noch lauter. Dann hielt er die glühenden Überreste seiner Unterarme erschrocken vor die Augen. Dort, wo sich vorher kräftige Hände befunden hatten, glommen zwei hässliche, undefinierbare Stummel. Man konnte zusehen, wie schnell die Glut bis zum Ellenbogen wanderte. Die Höllenkreatur hielt die Armstummel vor die Brust gepresst. Dabei brannte der Oberkörper. Ihr hohes Kreischen übertönte alle Geräusche ringsherum.
Chkoll sprang erschrocken zur Seite, damit das Feuer nicht auf ihn übergriff. Er starrte den Unglücklichen aus weit aufgerissenen Augen an. Auch ihm tat es nicht Leid um seinen Kameraden – ebenso wenig wie Tkurr –, aber er hatte erbärmliche Angst, dass es ihm genauso ergehen könnte. Die Schreie der gequälten Kreatur brachen ab. Nur leises Röcheln entrang sich seiner Kehle, als der Höllendiener bemerkte, dass seine brennenden Armstummel abgefallen waren und die verstümmelten Oberarme mit einem klatschenden Geräusch auf dem Boden aufschlugen. Das Feuer der Flammenpeitsche hatte sich mittlerweile durch Rücken und Brust durchgefressen. Die Höllenkreatur drehte sich einmal um die eigene Achse, dann fiel sie der Länge nach auf den Boden. Selbst ihr Röcheln erstarb. Chkoll hielt den Atem an. Er zitterte am ganzen Körper. Das hätte genauso gut mich treffen können, dachte er voller Angst. Lichtzungen huschten über das Eingangstor. Schneller, als das Augen zu folgen vermochte. Das hieß, dass die Falle in Betrieb war und funktionierte. »Was schaust du so blöde, Chkoll«, herrschte Tkurr ihn an. Er wedelte mit der Flammenpeitsche. Der Blick, den Chkoll ihm zuwarf, verhieß nichts Gutes. Trotz seiner Angst hatte der Höllenknecht die Schnauze voll. Noch hatte er genug Angst vor seinem Anführer, aber das Gefühl des unbändigen Zornes wuchs immer mehr. »Nichts«, brummte Chkoll mit seiner tiefen Stimme. »Was sagtest du?« Tkurr hielt ihm die Peitsche direkt vor die Augen. Deutlich konnte Chkoll das Feuer erkennen, das vom geschützten Griff bis zum Ende der Schnur und wieder zurück wanderte. Tkurr hütete sich davor, der Peitschenschnur zu nahe zu kommen. Er war nicht immun gegen das tödliche Feuer. Das hätte auch sein Ende bedeutet. »Ich sagte, nichts«, wiederholte Chkoll. Er trat einige Schritte zurück, um aus der Gefahrenzone zu geraten.
Tkurr holte aus und ließ die Peitsche einmal schnalzen. Funken sprühten durch die Luft. Seine Untergebenen hielten respektvoll Abstand. Chkoll blies schnaubend Luft aus. Zum einen vor Wut, zum anderen weil er hoffte, die Funken damit vertreiben zu können. »Lass das!«, forderte er. »Warum sollte ich?«, lachte Tkurr verächtlich. »Das macht doch Spaß.« Chkoll holte tief Atem. Er zitterte stärker. Unwillkürlich glitt sein Blick für Sekundenbruchteile nach oben. Eine rote Sonne glomm über ihnen. Der Himmel war schwarzblau und hing voller Sterne. Das war ein Widerspruch in sich, aber keiner machte sich darüber Gedanken. »Dort oben liegt kein Ausweg«, lachte Tkurr meckernd. »An die Arbeit, du Stück Dreck!« Er holte aus und ließ die Peitsche direkt neben Chkoll auf den Boden aufschlagen. Funken stoben, Chkoll sprang in die Höhe. Nun hatte er endgültig genug. Der Zorn wurde größer als seine Angst vor dem unlöschbaren Feuer der Flammenpeitsche. Ein zweites Mal holte Tkurr mit der Peitsche aus. Er streifte Chkoll am Rücken. Der zuckte zusammen und blickte seinen Peiniger aus großen Augen an. Um sie herum versammelten sich weitere unterdrückte Höllenkreaturen. Tkurr wurde unsicher. Er wusste, dass er im Zweifelsfall trotz seiner Waffe keine Chance gegen seine Untergebenen hatte. Chkoll wusste, dass er verloren war. Das Feuer, das sich nicht löschen ließ, hatte ihn infiziert. Eine nie gekannte Ruhe erfüllte den Höllendiener. Er kannte nur noch ein Ziel: Wenn er sterben musste, dann sollte es auch seinen Peiniger erwischen. Er ergriff eine der bajonettähnlichen Hiebwaffen und schleuderte sie auf Tkurr, während der erneut mit der Flammenpeitsche ausholte. Der Anführer hatte im Bruchteil einer Sekunde erkannt, dass Chkoll nichts mehr zu verlieren hatte. Zwei Untergebe, die in der letzten Zeit besonders misshandelt wurden, stießen Tkurr mit den Händen in den Rücken.
Der Anführer stolperte in die geworfene Waffe. Das Bajonett traf Tkurr am Arm. Fluchend musste er die Peitsche fallen lassen. Chkoll ergriff die letzte Gelegenheit, sich für die Behandlung zu rächen. Er stieß Tkurr zur Seite, obwohl er die Schmerzen, die das Feuer in seinem Rücken erzeugte, kaum mehr aushalten konnte. Chkoll nahm den Griff der Flammenpeitsche in beide Hände. Es war paradox. Obwohl er wusste, dass er in den nächsten Minuten sterben würde, hütete er sich davor, die Peitschenschnur zu berühren. Er holte aus und ließ die Peitschenschnur sich um Tkurrs Bauch wickeln. Sein Anführer brüllte vor Schmerzen. Er versuchte, die Peitsche zu entfernen, holte sich dabei jedoch nur brennende Hände. Beide fielen zu Boden und hauchten ihr höllisches Leben innerhalb weniger Minuten aus. Wieder züngelten irisierende Flammenzungen über den Boden, den umherstehenden Höllendienern entgegen. Die beeilten sich, ihre Haut zu retten. Während sich Tkurr und Chkoll in Agonie wanden, materialisierte Stygia. Die Fürstin der Finsternis hatte zu spät bemerkt, dass sich ihre Untergebenen gegenseitig auslöschten. »Was soll das?«, tobte sie, als sie die Toten auf dem Boden sah. Aufruhr konnte sie am wenigsten gebrauchen. Sie wussten nicht, wann ihre Feinde eintreffen würden. Aber wenn sie kamen, wollte Stygia gerüstet sein. »Seid ihr denn wahnsinnig geworden?« Sie zwang die Hilfsdiener zur Rückkehr. Das Einzige, was sie von ihnen erfuhr, war, dass niemand von ihnen am Tod von Chkoll und Tkurr Schuld trug. »Die haben sich selbst umgebracht, Fürstin. Da hat keiner von uns was mit zu tun«, erklärte ein Höllendiener. Stygia glaubte ihm nicht ganz, aber sie hatte Wichtigeres zu erledigen, als sich wegen zweier Vollidioten aufzuregen. Sie nahm Tkurrs Flammenpeitsche, die auf dem Boden lag und die Leiche des Höllendieners immer noch umwickelt hielt, am geschützten Griff. Der Körper des ehemaligen Anführers zerfiel dabei, seine
Asche wurde emporgewirbelt. Stygia bestimmte einen ihr fähig erscheinenden Höllendiener als neuen Anführer. Ihm übergab sie die Flammenpeitsche und sah zu, wie er seine Leute antrieb. Wind kam auf und wirbelte auch Chkolls Asche empor. Stygia blickte ihr nach. Ein überhebliches Lächeln lag auf ihrem Gesicht. »Was seid ihr nur für Narren?«, lachte sie. »Aber ihr wisst ja: Mit Schwund muss man leben …«
Sie waren wieder in Broceliande gelandet. Merlin hatte Carjana zurück ins Tonkandorf geschickt. Die Frau mit der rauen Stimme konnte ihnen bei der Lösung des Problems nicht weiterhelfen. Keanor und Merlin standen vor den schillernden Regenbogenblumen. Es war merklich düsterer geworden. Nicht mehr lange und es würde Nacht werden. »Und was willst du jetzt anfangen?«, erkundigte sich Keanor. Nach dem Einsatz in der Para-Spur fühlte sie sich unendlich müde. »Bei Dunkelheit können wir nicht suchen.« Außerdem weiß ich nicht, ob mir die Sternenfalken bei Nacht ans Leben wollen, dachte sie. Die Fabeltiere hatten die Ermordung eines der ihren bestimmt nicht vergessen. Es wunderte Keanor, dass Merlin nicht von sich aus auf das Thema kam. Er musste doch wissen, was sie in ihrer Voreiligkeit angestellt hatte. »Es ist ja nicht überall dunkel«, erwiderte Merlin. Ihm war nicht anzumerken, ob ihn der vermeintliche Tod seines Bruders getroffen hatte. Keanor wollte einfach nicht glauben, dass Seanzaara tot war. Ob Sid noch lebte, war ihr hingegen ziemlich egal. Ohne die Hexe hatte sie einen schweren Stand bei den Caltaren. Einige hatten ihr die Zeit des Geduldetseins immer noch nicht verziehen. »Toll, jetzt weiß ich's«, empörte sich die blonde Schönheit. »Danke für die erschöpfende Auskunft.« Zuerst dachte sie, dass sie den alten Zauberer mit ihrem Ungestüm
beleidigt hatte. Er sah sie mit einem Ungewissen Blick an. Dann stemmte er beide Hände gegen die Seite und begann zu lachen. Es dauerte einige Minuten, bis er sich wieder beruhigt hatte. Er wischte sich die Tränen von den Wangen und schüttelte den Kopf. »Jemand wie dich gibt es nur einmal im Multiversum«, behauptete er. »Was soll das bedeuten?« Keanor furchte die Stirn. Merlin verzichtete auf eine Antwort. Er winkte ab, als Zeichen dafür, dass dieses Thema für ihn erledigt war. »Ich muss Verstärkung hinzuziehen«, sagte er. »Jemand muss uns bei der Suche helfen.« »Du glaubst also auch nicht, dass sie tot sind?«, fragte Keanor hoffnungsvoll. Merlin zuckte mit den Schultern. »Glauben heißt nicht wissen«, dozierte er. »Ich weigere mich schlicht und einfach, daran zu glauben, ehe ich nicht den letzten Beweis für ihr Ableben habe.« »An wen hast du als Verstärkung gedacht?« »An Gryf ap Llandrysgryf vielleicht«, gestand der Druidenkönig. »Oder an Teri Rheken. Die Silbermond-Druiden.« Keanor verzog bei der Nennung von Teris Namen das Gesicht, als habe sie in etwas Saures gebissen. Sie kannte Teri von zwei Begegnungen her, und beide Frauen verstanden sich nicht besonders gut miteinander. »Und wie wäre es mit Zamorra?«, fragte sie. Ihn mochte sie weit mehr. »Zamorra?« Merlin fuhr sich mit den Händen durch sein Haar. »Er ist genauso gut oder schlecht für die Suche wie die beiden, die ich nannte.« Keanor blickte ihn auffordernd an. »Außerdem weiß ich nicht, ob er sich auf Château Montagne befindet«, fügte er hinzu. »Aber einen Versuch wäre es wert«, meinte Keanor. »Das werden wir gleich wissen.«
Professor Zamorra blickte durch das Fenster seines Arbeitszimmers
über die Landschaft unterhalb des in Hanglage befindlichen Château Montagne, sah das silbrige, geschwungene Band der hier noch schmalen Loire und die breite Fernverkehrsstraße, die durch den kleinen Ort am Fuß der montagneschen Weinberge führte. Um die Abendzeit hatte die Sonne hier einen eigenartigen Schimmer. Die langen Schatten ließen das Land um das Schloss unwirklich aussehen. Château Montagne, die fast ein Jahrtausend alte Festung im Süden Frankreichs, befand sich in relativer Nähe des Quellbereichs der Loire. Hier war der Fluss noch in seinem ursprünglichen Zustand ohne einengend betonierte Uferbereiche und zweckgebundene Nutzung des Wasserlaufs für die Binnenschifffahrt. Aber die Idylle trog. Professor Zamorra, Parapsychologe von Beruf und Dämonenjäger aus Berufung, führte kein ruhiges Leben. Ständig war er irgendwo auf der Erde, auf fremden Welten oder sogar in der Hölle unterwegs. Nur selten war es ihm vergönnt, einen Sonnenuntergang so intensiv wie diesen zu erleben. Der hochgewachsene, sportlich durchtrainierte Mann mit dem dunkelblonden Haar und den markanten Gesichtszügen sah nicht gerade nach einem Professor aus, der in mehr oder weniger überfüllten Hörsälen einer gelangweilten Zuhörerschaft Dinge erzählte, die eigentlich völlig belanglos waren. Vom Aussehen wie vom Charakter her war er ein Jäger. Seine Gastlesungen an diversen Hochschulen im In- und Ausland hatten eher Alibifunktion. Sein Einkommen erhielt er durch die Verpachtung der zum Château gehörenden Ländereien sowie Veröffentlichungen von Fachbüchern und Artikeln. Die Dozentenhonorare stellten gewissermaßen ein Taschengeld dar. Nicole Duval, seine Lebens- und Kampfgefährtin, hob ihr Rotweinglas und prostete ihm zu. Sie nippte am langstieligen Glas und setzte es wieder auf dem kleinen Rundtisch ab. »Was ist los, Nici?«, drängte er. »Unzufrieden?« »Dazu habe ich keinen Grund«, gab seine attraktive Gefährtin zu. Sie öffnete die Knöpfe ihrer durchsichtigen Bluse. »Wir hatten ein paar Tage der Ruhe. Das ist schon mehr, als wir meistens haben. Und ich habe mich gerade gefragt, ob es nicht immer so sein könn-
te.« Auch Zamorra stellte sein Glas nun auf dem kleinen Tisch mit den hölzernen Intarsien ab. Er fand selbst, dass sie zu viel Zeit mit der Jagd nach diversen Dämonen zubrachten und zu wenig Zeit für ihr gemeinsames Leben. Aber das, ebenso wie ihr junges Aussehen, war der Preis dafür, dass er und Nicole einst vom Wasser des Lebens tranken. Dadurch wurden sie ›relativ unsterblich‹, das heißt, sie alterten nicht mehr und erkrankten auch nicht mehr, konnten aber durch Gewalteinwirkung jeglicher Art getötet werden. Es fiel auf, dass er und Nicole seit über 20 Jahren nicht mehr alterten. Sie mussten sich bald etwas einfallen lassen. Bekannte, die sie seit Jahren nicht mehr gesehen hatten, waren immer erstaunt, dass die Zeit so spurlos an ihnen vorüberging. »Aber ich will dir nicht die Stimmung verderben, cheri«, sagte sie und öffnete den nächsten Knopf. Sie blickte Zamorra neckisch an. »Sag mal, ist das nicht deine Aufgabe?« Sie trug eine Bluse, Söckchen und einen Hauch von Minirock – und sonst nichts darunter. Und das ist auch schon viel zu viel, dachte Zamorra schmunzelnd. Nicole zeigte sich für gewöhnlich betont sexy; dabei war es egal, ob sie sich freizügig durch die Räume des Châteaus bewegte oder außerhalb. »Oh, ich sehe dir gerne zu, wenn du einen heißen Strip für mich veranstaltest«, grinste Zamorra. »Männer!«, schnaubte Nicole und lächelte zurück. »Das faulste Pack, das es auf Erden gibt. Sollen wir armen, geplagten Frauen denn alles für euch machen?« »Nun, ein paar Dinge gibt es doch, die wir noch selbst erledigen können«, ging Zamorra auf das Spiel ein. »Und das wäre?«, fragte Nicole Duval. Dann zählte sie an den Fingern ab. »Das euch gebrachte Bier oder den Wein selbst trinken, die Sportübertragung im Fernsehen selbst anschauen …« Zamorra griff zu und hielt den Minirock in Händen. »Nein, das nicht. Aber ich kann dir den Hintern versohlen. Und dazu brauche ich garantiert keine Hilfe.« Und er ließ seine Handfläche nicht allzu
fest auf ihrer reizenden Kehrseite aufklatschen. Nicole tat so, als ob sie sich wehren wollte und öffnete derweil seine Gürtelschließe. »Na, die ist vielleicht störend und hart«, lachte sie. »Nicht nur die …« Zamorra sah Nicole auf eine Art an, dass ihr heiße Schauer den Rücken hinunterliefen. Er begehrte sie mindestens so sehr wie sie ihn. In diesem Zustand hätte sie alles für ihn gemacht. »Ich hätte nie gedacht, dass Menschen so kindisch sein können«, unterbrach Keanors Stimme ihr Treiben. Ihre Blicke blieben übermäßig lange an Zamorras Leibesmitte haften. »Die beiden schon«, widersprach Merlin Ambrosius. »Sie befinden sich ganzjährig in der Brunftzeit.« Nicole fuhr herum. Sie hatte es gerade geschafft, Zamorra aus seinen Kleidern zu befreien. Das rote Hemd und die hellgraue, fast schon weiße Hose lagen auf dem Teppich. »Habt ihr den Verstand verloren?«, schrie sie ihre ungebetenen Besucher an. Sie hatte nichts davon gehört, wie sie den Raum betraten. Beide mussten mittels eines zeitlosen Sprunges ins Arbeitszimmer gelangt sein. »Was fällt euch ein, ohne Anmeldung hereinzukommen?« Merlin zeigte nicht, ob ihn Nicoles Vorwurf traf. Er wirkte so gelassen wie eh und je. »Wir brauchen eure, beziehungsweise Zamorras Hilfe«, sagte er, während er sich einen Stuhl zurechtrückte und sich so hinsetzte, dass er die Ellenbogen auf der Rückenlehne aufstützen konnte. »Und deswegen stört ihr uns?«, zischte Nicole, aber sie erhielt keine Antwort. Zamorra zog wieder seine Kleider an. Keanors Mund wirkte verkniffen, als er den Gürtel schloss. Sein athletischer Körper gefiel ihr sehr. Auch Merlins Stern, das an einer Kette um seinen Hals hängende, faustgroße Amulett, erregte ihre Aufmerksamkeit. »Verlasst sofort das Château!«, forderte Zamorra mit vor unterdrücktem Zorn bebender Stimme. »Solange ihr euch nicht anmeldet, seid ihr hier nicht willkommen.«
»Wir brauchen deine Hilfe«, wiederholte Merlin. »Und das auf der Stelle.« Zamorra blickte von Merlin zu Nicole und wieder zurück zum Zauberer. Keanor, die er von einem Einsatz vor drei Jahren her kannte, beachtete er vorerst nicht weiter. »Spreche ich Kisuaheli, oder wollt ihr nicht hören?«, raunzte er seine beiden ungebetenen Besucher an. »Ihr sollt verschwinden, und das so schnell wie möglich. Ihr seht doch, was wir gerade vorhatten.« »Wir verschwinden, aber nur mit dir zusammen«, behauptete Merlin voller Ernst. »Euren Ganzkörpereinsatz müsst ihr verschieben …« »Ihr habt doch einen an der Klatsche«, murrte Nicole. Ihr machte es nichts aus, dass sie nackt vor den beiden stand. »Hat Zamorra sich nicht klar genug ausgedrückt?« »Das hat er«, sagte Keanor. Sie wirkte erschöpft, als würde eine große Belastung hinter ihr liegen. »Aber wir haben gute Gründe dafür, dass er sofort mit uns kommen muss.« »Müssen muss ich gar nichts«, stellte der Meister des Übersinnlichen klar. »Ich fordere euch zum letzten Mal auf, das Château zu verlassen.« »Sonst?« Merlin sah ihn freundlich an. Der Blick passte nicht zu seinem scharfen Tonfall. Er stand wieder vom Stuhl auf und trat neben Keanor. »Das werdet ihr noch sehen«, drohte Zamorra. Keanor beschloss, seinen Zorn etwas zu mildern. Vielleicht verhielt Zamorra sich kooperativer wenn er wusste, um was es sich handelte. »Seanzaara und Sid … ich meine Asmodis, sind von Broceliande aus in einer Para-Spur verschollen. Wir befürchten, dass sie Hilfe benötigen. Und du sollst uns helfen, sie wiederzufinden«, erklärte sie hastig. »Den Teufel werde ich tun«, widersprach Zamorra. Auch Nicole war damit nicht einverstanden. »Wer etwas von uns will, der bittet. Befehlen lassen wir uns nichts.«
Aber ihre ungebetenen Besucher reagierten nicht darauf. Merlin legte eine Hand auf Zarnorras Schulter. Der Dämonenjäger wollte abwehren, aber der Zauberer griff in den Stoff. Mit der anderen Hand hielt er Keanor fest. Auf Zamorra machte es den Eindruck, als würde er sie stützen. »Du verstehst das doch, mein Freund«, bat Merlin. »Nein, das will ich nicht verstehen«, sträubte Zamorra sich. Er wollte Merlins Hand abschütteln, doch es gelang ihm nicht. In diesem Augenblick rief Nicole das Amulett. Gleich darauf befanden sie sich nicht mehr im Château Montagne. Nicole Duval hatte sich schnell wieder von ihrer Überraschung erholt. Es war schließlich nicht das erste Mal, dass Merlin sie oder Zamorra in seine Dienste presste. »Nach Broceliande wollt ihr?«, schnaubte sie unwillig. Sie hielt Merlins Stern in der Hand. Weshalb sie das Amulett gerufen hatte, konnte sie selbst nicht erklären. »Dann passt auf, dass ich euch nicht erwische. In dem Fall geht es euch schlecht.«
5. Gestrandet auf der Basiswelt � »Dir bleibt nur, dich zu verstecken, spring auf und lauf davon …« (John Fogerty, 1984: ›The old man down the road‹)
Sie schwebten im Nichts. Obwohl sie augenscheinlich körperlos waren, hatte Seanzaara ihr Zeitgefühl nicht verloren. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft besaßen noch Bedeutung. Schwierig war, sie in zeitliche Maße einzuteilen. Ihre Gedanken eilten für einen Augenblick zurück. Wie lange war es jetzt her, dass sie sich in der Para-Spur befanden? Es konnte sein, dass sie sich erst seit ein paar Sekunden hier befanden, aber es konnten auch schon Jahrtausende verstrichen sein. Alle Caltaren, die sie kannte, würden tot sein. Im letzten Fall hätte ihre Rückkehr keinen Sinn mehr. Der Machtbereich, den sie sich in jahrelanger Arbeit aufgebaut hatte, würde nicht mehr existieren. Eine schreckliche Vorstellung! Seanzaara wollte einfach nicht daran denken. Ohne Hoffnung auf eine Rückkehr konnte sie sich auch gleich aufgeben. Sie hatte ein Gefühl, als wäre ihr gesamter Körper abgestorben, so dass nur noch das Gehirn funktionierte. Dann, nach unendlich lang erscheinender Zeit, hatte sie eine Idee. ›Sid, empfängst du mich?‹ Für ihr Empfinden hatte der letzte Kontakt zwischen ihnen schon vor Monaten stattgefunden. Sie wusste, dass dem nicht so war, aber sie konnte sich nicht gegen dieses deprimierende Gefühl wehren. ›Natürlich‹, brummte der Ex-Dämon als Antwort. ›Warum fragst du?‹ Sie beschloss, nicht auf seine Frage einzugehen. ›Ich spüre meinen Körper nicht mehr‹, sendete sie. ›Bedeutet das, dass
wir nur noch als Geist existieren?‹ Asmodis ließ sich lange Zeit mit seiner Antwort. ›Das kann irgendwie nicht sein‹, meinte er. ›Irgendetwas von unseren Körpern muss durch die Para-Spur fließen, wenn wir sie benutzen. Schließlich besitzen wir unsere Körper, wenn wir die Para-Spur wieder verlassen.‹ Wieder herrschte für lange Zeit Ruhe. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. ›Aber was ist mit den Gegenständen, die wir mit uns führen?‹, wollte Seanzaara wissen. ›Die …‹ In diesem Augenblick hatte Asmodis einen Gedankenblitz. ›Denkst du etwa auch an unsere Dhyarras?‹ Die Sternensteine? Seanzaara konnte die aufkeimende Erregung kaum unter Kontrolle bringen. Sie hatte nicht an die Dhyarras gedacht, aber wenn sie genauer darüber nachdachte, dann konnten nur die Kristalle helfen. ›Nein, auf die Idee hast erst du mich gebracht‹, gab sie ehrlich zu. ›Aber was spricht dagegen, sie auszuprobieren?‹ Nichts sprach dagegen, aber alles dafür. Seanzaara trug ihren Dhyarra in ihrem Körper. Sie besaß also eine ständige Verbindung mit ihrem Sternenstein. Sie konzentrierte sich darauf, wieder sehen zu können. Nach kurzer Zeit erkannte sie blaue Verästelungen, kleine Blitze, die von ihr bis in die Ewigkeit reichten. ›Es … es klappt, Sid!‹, freute sie sich. ›Es wird wieder hell …‹ Sie hatte sich zu früh gefreut. Ihre Konzentration ließ für Sekundenbruchteile nach, doch diese kurze Zeitspanne genügte. Die blauen Blitze fielen unendlich langsam in sich zusammen. Sie versuchte noch, dagegen anzugehen, doch vergeblich. Es herrschte wieder deprimierende Dunkelheit um sie herum. ›Das … das … Sid, ich will es nicht glauben‹, trotzte sie wie ein kleines Kind. ›Egal, wir müssen es noch mal Versuchen‹, machte Asmodis Mut. Erneut konzentrierte sich Seanzaara. Eine Welle von Energie schien sie zu durchfließen. Sie wusste, dass Sid ihr von seiner Kraft abgab. Das Unglaubliche geschah. Um sie herum flimmerte es bläulich. Sie begriff, dass es sich dabei um die Farbe des Dhyarras handelte. Sie versuchte, Ausschau nach
Asmodis zu halten, doch sie sah ihn nicht. ›Sid? Bist du noch hier‹, fragte sie angstvoll. Aber sie erhielt keine Antwort. Asmodis schien nicht mehr zu existieren. Der dunkle Bruder hatte sie im Stich gelassen. Und das gerade jetzt, wo sie glaubte, eine Vorwärtsbewegung zu verspüren …
Nicole Duval sprang auf, als Merlin und Keanor gemeinsam mit Zamorra Château Montagne verließen. Es geschah durch Merlins Art des Teleports, vergleichbar dem zeitlosen Sprung der SilbermondDruiden. Wenn Zamorra etwas passiert, dann ziehe ich euch die Haut in Streifen vom Leib, dachte sie verärgert. In ihren sonst braunen Augen zeigten sich goldene Tüpfelchen. Das war ein schlechtes Zeichen. Sie meinte ernst, was sie in Gedanken androhte. »Erst einmal den Kampfanzug anziehen«, stieß sie hervor und legte Merlins Stern auf ein Sideboard. »Dann sehen wir weiter …« Nicole Duvals Kampfanzug war ein eng anliegender schwarzer Lederoverall. Am Gürtel saß eine Magnetplatte, an die sie einen E-Blaster heftete. Diese Strahlwaffe stammte aus der Produktion der DYNASTIE DER EWIGEN. Ihr Zorn legte sich etwas, sie begann über das Geschehene nachzudenken. Assi und Seanzaara sollen verschollen sein? Dazu noch in einer ParaSpur? Sie wollte es nicht glauben. Sie war selbst schon einmal mit Asmodis über eine Para-Spur aus der Hölle nach Caermardhin gereist. Damals, als Rico Calderone Asmodis durch ein Dämonen bannendes Geschoss fast tödlich verletzt hatte. Von daher hatte sie diese Art zu reisen als absolut sicher empfunden. »Das scheint es aber nicht zu sein«, murmelte sie im Selbstgespräch. »Wenn sich der alte Knacker so um seinen Bruder sorgt,
dann scheint der aber mächtig in der Scheiße zu stecken.« »Was sagtest du, Mademoiselle Nicole?«, erklang eine hohe Stimme hinter ihr. Nicole zuckte zusammen. Heute schien der Tag der heimlich aufgetauchten Nervensägen zu sein. Sie wusste genau, wer hinter ihr stand. »Fooly, wenn du mich noch einmal so erschreckst, dann landest du im Kochtopf«, sagte sie mit mühsam unterdrücktem Zorn. Sie drehte sich um und fand ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Vor ihr stand ein hundertjähriger Drache, etwa einszwanzig hoch und ebenso breit, regelrecht fett, mit grünlichbrauner Schuppenhaut, einem langen Schweif, der mit dreieckig aufragenden Hornplatten gespickt war, welche sich über den gesamten Drachenrücken bis zum Kopf hin zogen. Das Wesen besaß kurze Beine, kurze Arme, kurze Stummelflügel, vierfingrige Hände, riesige Telleraugen und eine Krokodilschnauze. Dabei handelte es sich um Fooly, den Jungdrachen. Seit fast zehn Jahren wohnte er im Château. William, der Butler des Schlosses, hatte ihn damals gefunden, als sein Elter getötet wurde, und wegen seiner Tollpatschigkeit MacFool getauft. Wenn Fooly wieder einmal etwas angestellt hatte – was in letzter Zeit zum Glück seltener geschah –, nannte ihn Nicole oft »kleines, grünes fettes Monstrum«. »Alle sind gegen mich! Ausnahmslos!«, stöhnte also das kleine, grüne fette Monstrum. »Die ganze Welt ist schlecht! Und ausgerechnet ich bin der einzige Gute … ich allein …« »Du wärst der Einzige, der das glaubt«, sagte Nicole kopfschüttelnd, während sie Richtung Keller ging. Dort gab es ein Kuppelgewölbe, in dem Regenbogenblumen wuchsen. Das Amulett hatte sie nicht dabei. Sie war so in Gedanken versunken, dass sie es vergessen hatte. Sie ging im Geist durch, ob sie etwas vergessen hatte. Außer der Strahlwaffe hatte sie an Wasser gedacht. »Wo willst du überhaupt hin?« Fooly war überaus neugierig. Nicole blieb stehen. Sie musterte den Drachen und überlegte. Sollte sie ihn einweihen? Und hatte sie noch etwas vergessen, was
sie mitnehmen musste? Nach wenigen Sekunden gab sie sich einen Ruck. Sie erzählte MacFool in wenigen Sätzen, was passiert war. Der wollte es erst nicht glauben. »Beim großen Feuer«, staunte er. »Der alte senile Knacker wagt es, den Chef so zu behandeln? Ich … Ich … Wenn ich den erwischen, dann brenne ich ihn weg«, schlug er vor und holte tief Atem. »Nein!«, schrie Nicole, die Entsetzliches ahnte. Sie packte mit beiden Händen zu und hielt dem Drachen das Krokodilmaul zu. Anstelle einer großen Flamme züngelten nur ein paar kleine Flämmchen zwischen seinen Zähnen hervor. »Nein«, wiederholte Nicole etwas ruhiger. »Wenn wir in Broceliande sind, dann kannst du meinetwegen Merlins Umhang mitsamt Inhalt abfackeln, wie du willst. Aber in Château Montagne wirst du weder Feuer speien noch irgendetwas anbrennen. Verstanden?« Sie ließ das Drachenmaul wieder los. Die Telleraugen glitzerten verdächtig. »Verstanden schon«, krähte der Drache vergnügt. »Aber es fällt mir schwer, mich daran zu halten.« »Du hast doch noch etwas.« Nicole kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. Sie hatte das Gefühl, eben eine Dummheit begangen zu haben. Aber welche? »Du hast wir gesagt, Mademoiselle Nicole«, stieß Fooly freudig hervor. »Das bedeutet also, dass ich mitdarf!« Duval schloss die Augen. Jetzt wusste sie, weshalb sie ein ungutes Gefühl hatte. »Am liebsten würde ich dich hier lassen«, gestand sie, als sie die Augen wieder öffnete. Aber jetzt war es zu spät, um ihm das Mitkommen zu verbieten. »Och, nö«, seufzte der kleine Drache. »Das kannst du mir doch nicht antun. Es geht doch um den Chef.« Zamorras Gefährtin schluckte. Sie war sicher, dass es nicht um Zamorras Leben ging, aber Fooly hatte ihnen dank seiner Magie schon oft aus der Patsche geholfen. »Außerdem hättest du jetzt fast etwas ohne mich vergessen«, be-
hauptete der Jungdrache. Nicole furchte die Stirn. Sie dachte angestrengt nach, kam aber nicht darauf, was Fooly mit seinen Worten meinte. »Und was sollte das deiner unmaßgeblichen Meinung nach sein?« Fooly lachte, als er ihre Radosigkeit bemerkte. »Das Amulett vom Chef. Merlins Stern«, antwortete er triumphierend und hielt es ihr entgegen. Mit der anderen Hand legte er das Buch »Überleben verboten!« vom einzigartigen Volker Krämer zur Seite. Es war derzeit seine Lieblingslektüre. »Außerdem müssen wir William Bescheid geben.« William war der schottische Butler des Châteaus. Eine Seele von Mensch und einzigartig als Diener. Er brachte das Kunststück fertig, bei allen Bewegungen so steif und gerade zu wirken, als habe er einen Ladestock verschluckt. Den Sticheleien von Fooly nach waren die Bügelfalten an seiner schwarzen Hose so scharf, dass man Angst haben musste, sich daran zu schneiden. »Also, komm mit«, stöhnte sie, denn sie hätte beinahe Zamorras wichtigste magische Waffe in der Eile des Aufbruchs vergessen. Schnell kritzelte sie ein paar erklärende Zeilen für William auf ein Stück Papier. Die Nachricht legte sie mitten auf den Tisch, damit der Buder sie nicht übersehen konnte. »Wir reisen über die Regenbogenblumen nach Broceliande.« Hoffentlich bereue ich das nicht, dachte sie und hatte ein ungutes Gefühl dabei.
»Du wirst mich auf der Stelle wieder zurückbringen! Hast du das verstanden?« Professor Zamorra hörte sich nicht sehr erfreut an. »Sofort, sagte ich.« »Ich höre recht gut«, erwiderte Merlin Ambrosius. »Trotzdem erfülle ich deine Bitte nicht.« Zamorra glaubte, nicht recht gehört zu haben. »Ich habe dich nicht darum gebeten, mich nach Château Montagne zu bringen«, klärte er Merlin auf. »Genauso wenig, wie ich dich bat,
mich nach Broceliande zu holen. Ich habe dich aufgefordert. Das ist der kleine Unterschied.« »Was regst du dich so auf?«, wollte Keanor wissen. Sie wirkte müder als zuvor. »Jetzt befindest du dich hier, und wenn du klug bist, dann hilfst du uns.« Zamorra atmete tief durch und zählte im Geist bis zehn. Der Blick, mit dem er Keanor maß, hätte Bäume zum Einstürzen gebracht. »Ich habe noch nie jemand getroffen, der so arrogant ist wie ihr beide«, schimpfte er. »Und ich noch nie jemand, der so begriffsstutzig ist wie du«, konterte sie. Zamorra befand sich mit seinen Begleitern außerhalb des Zaubergartens. Er drehte sich zur Seite und blickte auf die Regenbogenblumen, die etwa 50 Meter entfernt standen. »Wenn ihr nicht wollt, dann reise ich über die Blumenverbindung wieder zurück«, sagte er und lief den Regenbogenblumen entgegen. »Das würde ich nicht machen«, rief ihm Merlin hinterher. »Und warum nicht?« Zamorra drehte sich noch nicht einmal um, als er fragte. »Weil ich die Verbindung nach außen gekappt habe«, antwortete der Zauberer bereitwillig. Die Verbindung nach Broceliande klappte sowieso nur über eine Hand voll ausgesuchter Regenbogenblumenkolonien. »Niemand kann sich von hier aus zu anderen Blumenkolonien transportieren lassen.« Zamorra blieb stehen. Langsam drehte er sich um. »Du zwingst mich also dazu, euch zu helfen.« Es war eine Feststellung, keine Frage. »Ja!« Merlin nickte zu seiner kurzen Bestätigung. »Für uns hängt viel davon ab. Ich fürchte um meinen dunklen Bruder, Keanor um Seanzaara.« Zamorra hatte beide Hände in den Taschen vergraben. Er blickte seine Schuhe an, als hätte er sie noch nie gesehen. In Wahrheit wollte er Zeit gewinnen und über die Situation nachdenken. Ihm war klar, dass er sich in der schwächeren Position befand. Trotzdem wollte und konnte er die Unverfrorenheit der beiden nicht so ein-
fach hinnehmen. Er hatte wohl bemerkt, dass das Amulett fehlte, aber er war mit Nicoles Entscheidung einverstanden. Wenn er Seanzaara oder Asmodis helfen konnte, dann wollte er das selbstverständlich auch tun. Aber was konnte er überhaupt bei der Suche einer Para-Spur beitragen? Weder wusste er, wie er eine solche Spur finden sollte, noch, wie er sie aktivieren konnte. »Und was soll ich dazu unternehmen?«, fragte er. »Endlich wirst du wieder normal«, atmete Keanor auf. Zamorra beachtete sie nicht. »Ich habe eine Nebenspur gefunden«, antwortete Merlin. »Und du sollst mich dahin begleiten.« »Um einmal mehr die Drecksarbeit für dich zu erledigen?« Zamorras Tonfall war ätzend. »Wie in der Zeit, als du uns nicht erkanntest?« Er spielte damit auf einen langen Zeitraum an, in dem sie oft glaubten, dass Merlin unter Altersdemenz litt. Schuld daran war ein Fluch, den die Herrin vom See auf der Feeninsel Avalon über ihn ausgesprochen hatte. »Du musstest nie Drecksarbeiten für mich erledigen. Das waren stets Notwendigkeiten«, wies Merlin den Vorwurf zurück. »Aber ich kenne niemand, der besser dazu geeignet wäre als du.« »Und deine blonde Freundin?« Zamorra deutete mit dem Daumen auf Keanor. Seanzaaras rechte Hand setzte sich ins Gras. Sie legte beide Ellenbogen auf die Knie, die Stirn lehnte sie auf ihren Stock. Sie wirkte unendlich erschöpft. »Sie hält den Aufenthalt in der Para-Spur nicht aus«, behauptete Merlin. Zamorra schüttelte den Kopf. Mit spöttischem Gesichtsausdruck betrachtete er sein Gegenüber, als habe er ihn nie zuvor gesehen. »Ich habe schon bessere Witze gehört, Alter«, schmunzelte er widerwillig. »Also, was ist los?« Noch bevor Merlin antworten konnte, fiel Keanor zur Seite und blieb im Gras liegen. Den Stock mit dem verzierten Handgriff be-
grub sie dabei unter sich. Zamorra kümmerte sich um die Frau. Er rollte ihren Mantel zusammen und schob ihn unter ihren Kopf. Dann legte er eine Hand auf Keanors Stirn, mit der anderen Hand fühlte er ihren Puls. Sie war erschöpft, schien aber ansonsten gesund zu sein. »Ihre Konzentration lässt nach. Sie befindet sich seit über zwei Tagen auf den Beinen«, antwortete Merlin jetzt auf die Frage, die Zamorra gestellt hatte, bevor Keanor bewusstlos wurde. Er winkte ab, als Zamorra eine Bemerkung machen wollte, »Außerdem kenne ich wirklich niemand, der geeigneter wäre zu helfen als du.« »Jetzt schmierst du mir schon Honig um den nicht vorhandenen Bart«, knurrte Zamorra, während er sich wieder erhob. »Das habe ich nicht nötig.« Merlin blickte sich um. »Aber es wird Zeit, dass wir uns auf den Weg machen.« »Und Keanor?« Zamorra deutete auf die Schlafende. »Lass sie ausruhen«, sagte Merlin. »So ist sie keine Belastung für uns.« Zamorra furchte die Stirn. Etwas an der Antwort des Zauberers gefiel ihm nicht. »Tauschst du einen Helfer gegen den anderen aus, Alter? Wenn der eine nicht mehr kann, dann nehme ich halt den nächsten Dummen?« »Unsinn«, brummte Merlin. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Die Tonkan wissen schon Bescheid. Sie werden sich um Keanor kümmern.« »Ich lasse mich nicht gern für dumm verkaufen.« »Es ist deine Sache, wenn du das so siehst.« In den Regenbogenblumen materialisierten zwei Tonkan. Zamorra zuckte zusammen. »Ich denke, du hast die Verbindung über die Regenbogenblumen gesperrt«, empörte er sich. »Nur die von hier nach draußen«, grinste Merlin. »Von der umgekehrten Richtung habe ich nichts gesagt.« Dann ergriff er Zamorra am Arm und aktivierte die Para-Spur.
»Ich dulde kein Versagen.« Rico Calderone knirschte vor Spannung mit den Zähnen. Er stand an seinem eigenen bevorzugten Platz über den Logen und blickte über die Arena, in der sich Tausende von Höllendienern und Knochenkriegern befanden und ihrer aufgetragenen Arbeit nachgingen. »Auch von dir nicht, Weibchen.« »Ich habe einen Titel«, geiferte Stygia zurück. »Ich bin die Fürstin der Finsternis, und als solche will ich auch von dir angesprochen werden.« »Also, Fürstin, ich hoffe für dich, dass deine Arbeit und die deiner Leute gut war.« Calderone verschränkte die Arme vor der Brust. Er beachtete Stygia nicht weiter. »Das war sie. Ich habe alles noch einmal nachgeprüft«, behauptete sie voller Stolz. »Meine Späher haben mir zugetragen, dass Merlin und Zamorra nach dem verdammten Asmodis und seiner Hure suchen.« »Und irgendwann bei uns landen müssen, wenn sie so weitermachen«, freute sich Calderone. »Aber was ist mit deinem Vorgänger und seinem Liebchen?« »Wir haben die Para-Spur-Verbindung zerstört«, lachte Stygia. »Sie können nicht mehr vor oder zurück. Und bald wird die Spur erlöschen … Und sie erlöschen mit.« »Das heißt, dass wir bald einiger Sorgen ledig sind.« Calderone blickte Stygia scharf an. Sie tat, als bemerkte sie die Blicke nicht. »Falls …«, sagte sie wie beiläufig. »Falls was?«, regte sich Calderone wieder auf. »Falls dein großer Plan funktionieren sollte.« Calderone stand auf. Er hieb mit der Hand gegen die Brüstung. Stygia konnte deutlich die Spannung fühlen, unter der er stand. »Hast du irgendeinen Zweifel daran?«, fragte er mit eisiger Stimme. »Hatte ich jemals Zweifel?« Stygia zeigte mit beiden Händen auf sich und blickte Satans Ministerpräsident so unschuldig an, wie sie nur konnte. Sie war eine Schauspielerin ersten Ranges. Heuchelei beherrschte
sie par excellence. Nur klappte das nicht bei Rico Calderone. Das Oberhaupt der schwarzen Familie glaubte ihr kein Wort. »Wenn etwas nicht so klappen sollte wie geplant, dann weiß ich, wer die Schuld daran trägt«, sagte er und sah in ihre schwarzen Augen. Nach einer kleinen Pause fügte er hinzu: »Und wen ich dafür zur Verantwortung ziehe …« Bevor sie etwas darauf antworten konnte, entstand ein Aufruhr unter den versammelten Höllenkreaturen. Etwas war mitten unter ihnen materialisiert. Stygia beugte sich vor. Sie konnte nicht sehen, wer gerade ankam, aber sie war sicher, dass es sich um die Wesen handelte, denen der ganze Aufwand galt.
Zamorra war vor Zorn außer sich. »Wenn du das noch einmal mit mir machst, breche ich dir das Genick.« »Du bist ein schlechter Verlierer«, stellte Merlin fest. »Außerdem hat es noch nicht einmal mein Bruder geschafft, mich umzubringen.« »Und noch nicht einmal Gwinniss, ich weiß.« Zamorra winkte ab, als er sah, wie Merlin beim Namen seiner früheren Gefährtin zusammenzuckte. Er blickte sich um. Sie waren auf einer ihm unbekannten Welt aus der Para-Spur gekommen. Berge türmten sich vor ihnen auf, die bestimmt höher als 2.000 Meter waren. »Und was hast du jetzt vor?«, fragte der Meister des Übersinnlichen. »Wir sind doch noch nicht am Ziel?« »Das stimmt.« Merlin kniff die Augen zusammen. »Aber ich kann nicht von einer Para-Spur zur nächsten wechseln. Ich muss quasi über eine Nebenspur zu ihnen gelangen.« »Dann such mal schön. Aber bitte schnell.« Zamorra setzte sich auf einen kleinen Felsen. Hier oben wehte ein erbärmlich kalter Wind. Er hatte noch nicht einmal eine Jacke dabei. »Ich muss nicht lange suchen, mein Freund«, behauptete Merlin. Zamorra zog die Augenbrauen hoch.
»Du hast eine weit gespannte Bezeichnung für diesen Begriff. Freunde behandelt man anders, Alter.« Merlin antwortete nicht darauf. »Jetzt hab ich's«, sagte er. »In dieser Spur findet sich ein Hauch von ihnen.« »Ein Hauch?« Zamorra stand auf. Er legte die Stirn in Falten. »Was soll das bedeu …?« »Komm mit.« Merlin fasste ihn erneut am Arm. Sie verschwanden in der ParaSpur und landeten … … direkt zwischen einer Armee von Feinden!
Zamorra blickte sich gehetzt um. Er wusste im ersten Moment nicht, wie er reagieren sollte. Er sah Höllendiener und Knochenkrieger, so weit das Auge reichte. Und er und Merlin waren mitten unter ihnen gelandet. Wie konnte ihm, dem Alten, Erfahrenen, nur so ein Fehler unterlaufen? Ein kurzer Blick nach oben zeigte ihm, dass sie anscheinend in einer Art Arena gelandet waren. Egal, was sie anstellten. Gegen diese Übermacht waren sie verloren. Und wie es aussah, wurden sie schon erwartet. Die Gegner wirkten keinesfalls überrascht, als sie wie aus dem Nichts auftauchten. Im Gegenteil. Die einpeitschenden Stimmen der Unterführer waren zu hören. Sie befahlen den sofortigen Angriff auf Zamorra und Merlin. »Sie sind schutzlos!«, rief einer der Höllischen. »Das Medaillon der Macht fehlt!« Zamorra griff sich automatisch an die Brust. Dort, wo sich sonst immer Merlins Stern befand. Aber den hatte ja Nicole gerufen. »Verdammte Scheiße!«, fluchte er, als ihm die Folgen ihres Tuns klar wurden. Mit dem Amulett hätten sie eine kleine Chance gehabt, sich eine Schneise durch ihre Gegner freizuhalten. »Was ist los, Zamorra?« Merlin reagierte weitaus schneller. Er hob beide Hände und wob ein weißmagisches Netz in Form einer blauweiß strahlenden Kuppel gegen ihre Feinde.
»Weshalb setzt du das Medaillon der Macht nicht ein?« Merlin sandte blaue Blitze durch das magische Netz hindurch. »Ich habe es nicht dabei«, gestand Zamorra widerwillig. »Aber du hattest es doch um, als du dich im Château Montagne umzogst.« Merlin war erstaunt. »Nicole hat das Amulett«, verriet Zamorra schweren Herzens. Im ersten Augenblick hatte er Nicoles Idee für gut befunden, aber jetzt würde er sich dafür am liebsten in den Hintern beißen. Schwarzmagische Zungen leckten über Merlins Schutzkuppel. Erste Risse entstanden. Einige der Höllenkreaturen warfen kopfgroße Steine auf Merlin und Zamorra. Sie mussten ausweichen, da die Kuppel keinen Schutz vor Geschossen bot. »Ihr seid beide Narren!«, schimpfte Merlin. »Duval ist so dumm wie du. Weshalb hast du es ihr gelassen?« »Du hast nicht verlangt, es mitzunehmen«, gab Zamorra zurück. Merlin konnte keine Antwort geben, er musste sich voll auf das Erstellen des Schutzfeldes konzentrieren. »Nach eurem Bericht ging ich davon aus, dass wir uns nur um Broceliande herum aufhalten. Und da brauche ich das Amulett nicht.« Von hinten drängten die Unmassen an Höllenknechten gegen die Schutzkuppel. Die vordersten Höllenwesen verbrannten am weißmagischen Schutzschild und hauchten ihr dämonisches Leben aus. Ihre Todesschreie waren weithin zu hören. Während die Diener der Finsternis gegen Merlin und Zamorra ankämpften, beobachteten Calderone und Stygia das Treiben von oben. »Wenn die so weitermachen, dann haben sie die beiden bald umgebracht«, freute sich Stygia. »Du verdammte Idiotin«, schrie Satans Ministerpräsident. »Ich will sie lebend. Sie sollen für das büßen, was sie uns schon angetan haben. Ich will sie leiden sehen.« »Noch haben sie die beiden nicht«, wiegelte die Fürstin ab. »Aber wenn sie von einem der Steine getroffen werden, ist meine … unsere Rache dahin.« Rico Calderone wirkte mit einem Mal sehr ungehalten. Er und Stygia richteten ihre schwarzmagischen Fähigkeiten gegen
ihre Feinde. Die blaue Kuppel wurde von unzähligen schwarzen Blitzen umhüllt. Merlins Schutzkuppel flackerte kurz auf und stabilisierte sich wieder für wenige Sekunden. Trotz aller Gegenwehr des Zauberers passierte das immer öfter. Und dann geschah das Fantastische, schon lange Erwartete. Die Schutzkuppel erlosch mit einem Schlag. Die Männer zuckten unter dem schwarzmagischen Gewitter. Die Knochenkrieger und die Höllendiener trampelten über ihre sterbenden Kameraden hinweg und kamen immer näher …
6. Rückkehr aus der Ewigkeit � »Die Chance, die du deinem Gegner gibst, ist deine letzte.« (Werner Kurt Giesa, * 1954, deutscher Schriftsteller)
Sie besaß keine Augen, aber sie konnte sehen. Sie besaß keinen Mund, und dennoch konnte sie sich mitteilen. Sie besaß auch kein Gehirn, und trotzdem konnte sie denken. Seanzaara konnte sich nicht vorstellen, wie auch immer das möglich war, doch sie nahm sich fest vor, nicht darüber nachzudenken. Sie fürchtete, dass die Lösung ihr Vorstellungsvermögen überschritt. Sie schwebte in einem nebligen, unwirklichen Raum, der von blauen Schlieren umgeben war. Und sie schien alleine zu sein. Ihr Gefährte befand sich nicht mehr bei ihr. Asmodis hatte sie im Stich gelassen … Wie kam sie auf eine derartig abwegige Idee? Ein bloßes Bewusstsein konnte nichts dergleichen fühlen. Bewege ich mich schon am Rand des Wahnsinns?, zweifelte sie an sich selbst. Die Ungewissheit, was mit ihrem Bettgefährten geschah, kostete sie mehr Geduld, als sie aufzubringen in der Lage war. Sie fühlte sich wie in einem Raum, der beständig kleiner wurde und ihr damit die Luft zum Atmen und den Raum zum Leben nahm. Noch nie im Leben hatte jemand sie dermaßen in die Enge getrieben. Ein wildes Tier, das nervös von einer Seite des Käfigs zur anderen Seite strich, konnte nicht gereizter sein als sie. ›Sid! Wo bist du?‹, rief ihre Gedankenstimme. ›Kannst du mich emp-
fangen?‹ Doch keine Antwort kam. Sie hörte nicht auf, nach Asmodis zu rufen, bis sie sich kraftlos fühlte. Aber das kann nicht sein, wenn ich keinen Körper mehr habe, erschrak sie sich. Es sei denn, mein Ich würde alle Energien verlieren und absterben. Das blaue Leuchten war matter geworden. Sie fürchtete sich davor, dass sie wieder von vollständiger Dunkelheit umgeben sein würde, sobald ihre Konzentration nachließ. ›Sid! Du kannst mich doch nicht allein lassen.‹ Das blaue Leuchten um sie herum wurde heller. Das Nebelhafte und die blauen Schlieren verschwanden zusehends. Alles wurde klarer und freundlicher. ›Bist du das, Sid?‹ Wiederum erhielt sie keine Antwort. Sie versuchte, ihrem Dhyarra einen zweiten Befehl zu geben. Der Sternenstein sollte ihre Gedankenrufe verstärken. Erneut rief sie nach Asmodis, mit aller Kraft, zu der sie fähig war. Doch er meldete sich nicht. Dafür bemerkte sie ganz eindeutig, dass die Vorwärtsbewegung keine Einbildung war. Sie wurde von etwas angezogen, gerade so, als wäre sie ein Stück Metall, das dem Magneten zutrieb. Die Geschwindigkeit steigerte sich mit jeder Sekunde. ›Verdammt, was soll …?‹ Sie verstummte, denn eine bekannte Gedankenstimme meldete sich. ›Kannst du denn nicht einmal die Klappe halten?‹ Tatsächlich schaffte es der Sprecher, sie damit zur Ruhe zu bringen. Aber nur für kurze Zeit. ›Wo warst du, Sid? Und was soll das bedeuten?‹ ›Beim Erzengel! Du sollst doch ruhig sein!‹, herrschte Asmodis sie an. ›Verdammte Närrin …‹ Das wirkte. Sie brachen den kurzen Kontakt untereinander ab. Seanzaara empfand die Gedankenstille als sehr unangenehm, aber sie respektierte Sids Befehl. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit auf die seltsamste Fahrt ihres Lebens. Wobei sie sich nicht sicher war, ob es sich überhaupt um eine Fahrt handelte. Fliege ich vielleicht durch eine andere Dimension? Oder bin ich Teil eines Energieflusses?, wunderte sie sich. Aber um Asmodis' Konzentration nicht zu stören, verbiss sie sich die Frage. Wie sie auch die an-
deren Fragen nicht stellte, die sie erfüllten. Während der eigenartigen Fortbewegung wurde ein Körper neben ihr sichtbar. Sie konnte nur die Umrisse des Körpers erkennen, keine Einzelheiten. Aber sie war sicher, dass es sich von der Silhouette her eindeutig um Asmodis handelte. Es wurde beständig heller um sie herum. Sids Körper leuchtete blau auf. Er hatte klar ersichtlich seinen Dhyarra aktiviert. Wie hat er bloß wieder dieses Kunststück fertiggebracht?, fragte sie sich. Er war im wahrsten Sinne des Wortes ein wahrer Teufelskerl. Die Fahrt schien langsamer zu werden. Etwas bremste sie ab. Seanzaara wurde nervös, sie hatte Angst vor dem Kommenden, obwohl es nicht viel schlimmer sein konnte als das, was hinter ihr lag. Asmodis wirkte überaus besorgt. ›Icb muss zusehen, dass wir die Landung überleben. Wenn wir sie überhaupt überleben …‹ Und wieder brach der Kontakt ab.
Rallant Ich kann es noch gar nicht richtig glauben. Ich habe es geschafft, meinen Peinigern zu entkommen. Erst jetzt, wo ich im Nachhinein daran denke, zittern mir die Knie. Ständig blicke ich mich um, ob mir jemand hinterher folgt. Ich bin über mehrere Para-Spuren hierher gelangt und hoffe, dass ich meine Verfolger abgeschüttelt habe. Über mehrere Weltenstationen bin ich gereist, nur um meine Spuren so gut wie möglich zu verwischen. Asmodis wäre stolz auf mich. Ich muss mich setzen, als mir die letzten Sekunden vor meiner Flucht ins Gedächtnis zurückkehren. Die unglaublich hässliche Frau mit der einzigartigen Stimme war mir ganz dicht auf den Fersen. Ich weigere mich, daran zu denken, doch kann ich mich nicht dagegen wehren, denn die Erinnerung ist zu übermächtig. Wenn mich der Stachelbewehrte eher gesehen hätte, oder wenn Stygia schneller reagiert hätte, dann wäre ich direkt vor der Para-
Spur verbrannt. Ohne eine Chance, mich in das Transportmedium einzufädeln. Aber alles hätte, wenn und wäre ist ungültig. Ich bin ihnen entkommen, und ich spüre richtiggehend, wie der Einfluss schwindet. Welch eine Wohltat! Ich fühle mich wieder als vollwertiger, denkender Tonkan. Kein Wesen hat des Recht, jemand anderen so zu missbrauchen, wie Tjellkronn und ich benutzt wurden. Langsam lässt das Zittern meiner Hände und Knie nach. Ebenso langsam erfüllt mich wieder zielgerichtetes Denken. Ich bin ihnen entkommen, und ich muss wahnsinnig vorsichtig sein, dass sie mich nicht noch einmal erwischen. Aber ein zweites Mal werde ich nicht so unvorsichtig sein! Ich habe meine Lektion gelernt. Asmodis hatte Recht, als er sagte, dass ich zu sorglos bin. In Zukunft muss ich besser aufpassen. So schnell soll mich keiner mehr erwischen. Ich bin frei! Aber bin ich das wirklich? Existiert vielleicht noch ein Rest an Beeinflussung, der bei Gelegenheit wieder den Befehl über mich ergreift? Das darf nicht passieren! Ich nehme mir extra Zeit, um mein Innerstes zu durchsuchen. Sollte ich nur den geringsten Zweifel bekommen, dass ich nicht frei handle, dann muss ich sofort nach Broceliande. Die Waldseele und Merlin müssen mich dann behandeln. Ab und zu drehe ich mich um und blicke zurück, denn ich habe das Gefühl, dass mir jemand folgt. Aber alles scheint in Ordnung zu sein. Der Weg ist verlassen, und auch sonst regt sich niemand. Erleichtert nehme ich wahr, dass der hypnotische Befehl, Stygia zu gehorchen, fast nicht mehr existiert. Ich weiß, dass sie mir einen Auftrag erteilte, aber ich fühle mich nicht mehr daran gebunden. Aus einem mir unbekannten Grund scheint ihre Beeinflussung bei Tonkan nicht so gut zu wirken. Mir soll es recht sein. Trotzdem erfüllt mich Trauer, wenn ich an den armen Tjellkronn denke und daran, dass ich bei seiner Ermordung mitgemacht habe. Das geschah
zwar gegen meinen Willen, aber nichtsdestotrotz war ich daran beteiligt. Er hat doch niemandem etwas getan. Vor allem hat er ein so würdeloses Ende nicht verdient. Niemand hat ein solch schlimmes Ende verdient. Zumindest niemand außer Stygia, Taronn und Calderone. Weshalb nur laufen mir plötzlich Tränen über die Wangen? Ist das nicht nur Trauer, sondern auch Selbstmitleid? Ich balle die Hände zu Fäusten. Das darf nicht sein! Tjellkronn, du sollst nicht umsonst gestorben sein. Wenn ich es irgendwie einrichten kann, dann sollen die drei für deinen Tod büßen. Das schwöre ich. Nachdem ich mich wieder beruhigt habe, stehe ich auf. Ich horche in die Para-Spur hinein und höre, was sie mir erzählt. Das hat mit richtigem Hören natürlich nichts zu tun. Ich kann es auch schlecht erklären, aber ich weiß, dass ich richtig verstanden habe. Ich habe jetzt ein Ziel. Zumindest weiß ich, was ich als Erstes unternehme. Es ist wichtiger als alles andere. Vater hat gerufen – und noch jemand. Aber den kenne ich nicht …
Nicole Duval beugte sich über Keanor. Sie versuchte mittels einiger Ohrfeigen, die Bewusstlose wieder zur Besinnung zu bringen. Keanor brauchte einige Zeit, bis sie wieder klar denken konnte. Sie setzte sich ins Gras und erzählte Nicole und Fooly davon, was nach ihrem Besuch auf Château Montagne bis zu ihrer Ohnmacht geschehen war. Den Jungdrachen behandelte sie mit äußerster Vorsicht. Ihn kannte sie noch nicht. Sie sah ihn immer nur kurz und abschätzend an. Auf ihren Reisen hatte sie öfter echsenähnliche Wesen gesehen, und sie hatte keine guten Erinnerungen an diese Begegnungen. Aus diesem Grund nahm sie an, dass sie bei MacFool ebenso vorsichtig agieren musste.
Mit anderen Worten: Sie traute ihm nur so weit, wie sie ihn werfen konnte. Und das waren bei Foolys nicht gerade geringem Gewicht nur wenige Zentimeter. »Wir wissen also nicht, wohin sie gegangen sind, weil sie dich im Stich ließen«, überlegte Nicole. Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann's nicht glauben. Es sieht Zamorra nicht ähnlich, eine Hilflose zurückzulassen.« »Aber es ist so«, bekräftigte Keanor. »Dein strahlender Held scheint auch nicht besser zu sein als Merlin oder Sid.« »Zwischen denen gibt's sowieso kaum einen Unterschied«, winkte Nicole ab. »Manchmal weiß ich nicht, wer der dunkle Bruder von beiden ist.« »Mademoiselle Nicole.« Fooly stieß Duval an der Schulter an. Zamorras Gefährtin blickte auf. »Da kommt jemand.« Auf dem Pfad, der ins Innere von Broceliande führte, kamen ihnen Carjana und Barktan entgegen. »Weißt du, was die Tonkan von uns wollen?«, erkundigte sich Nicole bei Keanor. Seanzaaras Beraterin zuckte mit den Schultern. Sie wollte zuerst die caltarische Geste des Nichtverstehens machen, dann fiel ihr ein, dass Nicole und Fooly damit nichts anzufangen wussten. »Vielleicht sollen die wieder Babysitter für mich spielen«, mutmaßte sie und stand auf. »Dann hätte Merlin dich doch nicht schutzlos zurückgelassen?« »Möglich, aber schlussendlich ist mir das egal.« Mittlerweile waren die Tonkan bei ihnen angelangt. Vorsichtshalber stellte Nicole sich und den Drachen vor. Sie kannte die beiden Schwarzelfen nur vom Sehen, und Fooly war noch nie hier gewesen. »Merlin hat uns gerufen, damit wir uns um unseren Gast kümmern sollen«, sagte Barktan, noch ehe Nicole eine entsprechende Frage stellen konnte. »Wir sollen aufpassen, damit ihr nichts geschieht.« »Was sollte ihr schon zustoßen?«, spöttelte Nicole. »In Broceliande steht doch alles unter Merlins Schutz.« »Das schon, aber wenn die Sternenfalken hassen, dann kann unter
Umständen nur Merlins Gegenwart helfen«, antwortete Carjana. Sie überreichte Keanor einen Wasserschlauch voll mit magischem Wasser. Die Halb-Caltarin sollte zur Stärkung davon trinken. Keanor zuckte zusammen. Sie ahnte, dass die Falken den Tod ihres Artgenossen nicht vergessen hatten. Im Nachhinein hatte sie schon mehrere Male gewünscht, dass sie nicht so aggressiv reagiert hätte. Aber dafür war es nun zu spät. »Wenn wir nur wüssten, über welche Verbindung sie Broceliande verließen«, murmelte Nicole Duval. »In seiner Gedankenbotschaft teilte Merlin uns mit, dass er die Para-Spur benutzen will«, gab Barktan bereitwillig Auskunft. Wenn er die Hektik der Besucher als störend empfand, so zeigte er dies nicht. Nicole trug Merlins Stern an einer Kette um den Hals. Das Amulett galt als Aufenthaltserlaubnis für den Zauberwald. »Dann benutzen wir die doch auch«, krähte Fooly. Keanor kniff die Augen zusammen. Seine Stimmlage bereitete ihr Schmerzen. »Und wie soll das geschehen?«, fragte sie gereizt. »Ich kann auch Para-Spuren aktivieren«, erklärte Fooly. »Und mit Mademoiselle Nicole werde ich dorthin reisen, wo der Chef ist.« »Dann sind wir schon drei, die das wollen«, sagte Keanor, und sie forderte: »Nimm mich mit.« »Wie komme ich dazu?« Fooly hatte sehr wohl bemerkt, dass die Halb-Caltarin ihn anders behandelte als die Tonkan. Der Jungdrache reagierte in solchen Fällen empfindlich. »Weil ich eine Verstärkung für euch bin«, behauptete Keanor. »Was zu beweisen wäre«, konterte MacFool. Er untersuchte die Para-Spur mittels Drachenmagie. Dazu sandte er Signale aus, die als Echo wieder zurückkamen. Die Tonkan und die beiden Frauen bemerkten davon nichts. »Also nimmst du mich mit oder nicht?« Keanor blickte ihn scharf an, sie wirkte sehr entschlossen. »Auf keinen Fall!«, antwortete Fooly abweisend. »Und das ist mein letztes Wort.«
Erst als Stygia und Calderone gemeinsam eingriffen und ihre magischen Kräfte gegen ihre Feinde richteten, erlosch Merlins Schutzkuppel mit einem Schlag. Merlin und Zamorra zuckten immer noch unter dem schwarzmagischen Gewitter. Der Zauberer von Avalon versuchte sofort wieder, eine neue Kuppel zu errichten, doch seine Kräfte reichten dafür nicht aus. Das vorherige Bombardement war zu stark gewesen. Jedes Mal zerfloss das Energiefeld, ehe es sich richtig aufbauen konnte. Die vordersten Knochenkrieger wollten nicht glauben, dass das Schutzfeld, welches so vielen ihrer Kameraden das Leben gekostet hatte, nicht mehr existierte. Argwöhnisch betrachteten sie die erfolglosen Versuche des Zauberers. Sie sahen sich kurz fragend an, als wüssten sie nicht, was ihre Aufgabe war. Jedes dämonische Wesen war misstrauisch und feige, und so glaubten sie zuerst, dass sie getäuscht werden sollten. »Das Feld ist verschwunden«, hauchte ein Knochenkrieger. »Die Dreckstücke sind wehrlos«, knurrte ein Höllendiener neben ihm. »Nichtsnutziger Abschaum!«, brüllte Stygia oben auf der Empore. »Wollt ihr sie wohl überwältigen?« Die Horde kam näher an ihre Opfer heran. Zamorra und Merlin hatten sich wieder zur Verteidigung aufgestellt. Sie waren sicher, dass ihre letzte Stunde geschlagen hatte. Trotzdem wollten sie sich nicht ergeben. »Ich will sie lebend haben!«, donnerte Rico Calderones Stimme über die Arena hinweg. »Derjenige, der sie umbringt, ist ebenfalls des Todes!« »Das macht doch keinen Spaß«, behauptete ein Knochenkrieger gegenüber seinem Nebenmann. »Wenn schon, dann müssen sie vor dem Tod winseln.« Calderone kniff die Augen zusammen. Er konnte die Worte so tief unter sich unmöglich gehört haben. Dennoch ging ein leichter Ruck durch seinen Körper. Sein Blick suchte den Aufschneider.
Er konnte sich keine Widerworte gefallen lassen. Wenn er jetzt kein Exempel statuierte, dann würden seine Krieger später bei der geringsten Kleinigkeit desertieren. »Was ich sage, ist Gesetz!«, fauchte er den Knochenkrieger an. Der war erstaunt, dass seine nicht allzu lauten Worte gehört worden waren. Schließlich befand er sich unter einigen zigtausend Genossen, die zumeist nicht leiser waren als er. »Und wer gegen mein Gesetz ist, der hat das Recht auf Leben verwirkt«, fügte der Ministerpräsident hinzu. Er streckte seine Hand aus. Sie zeigte genau auf den großmäuligen Knochenkrieger. »Aber … Majestät«, stotterte der herum. »Ich meinte es doch nicht so.« »Dann ist es ja noch viel schlimmer«, grollte Calderone. »Reden, ohne vorher zu denken, ist mit das Schlimmste, was es gibt.« Der Knochenkrieger versuchte, rückwärts stolpernd zu entkommen. Doch gegen die Phalanx von tausenden seiner Kameraden hatte er keine Chance. Er fiel und rappelte sich wieder auf. Calderone sandte ihm mehrere Blitze entgegen. Der Knochenkrieger konnte die ersten drei Blitze mit Müh und Not abwehren, doch die nächsten vollbrachten ihr schreckliches Werk. Er explodierte und brannte innerhalb von Sekunden vollständig aus. Es ging so schnell, dass er noch nicht einmal einen Schmerzensschrei ausstoßen konnte. »Ich will sie haben!«, schrie Calderone seine Streitmacht an. Sie setzten sich langsam wieder in Bewegung. Die Knochenkrieger und die Höllendiener trampelten über ihre sterbenden Kameraden hinweg und schlugen auf Merlin und Zamorra ein. Sie hörten erst auf, als beide sich nicht mehr regten.
»Die ganze Welt ist schlecht! Und ausgerechnet ich bin der einzige Gute … ich allein …«, stöhnte das kleine, grüne fette Monstrum.
»Alle sind gegen mich! Ausnahmslos! Auch ihr beide.« »Hör auf, deinen Standardspruch zu jammern!«, fuhr ihn Nicole Duval an. »Was soll das überhaupt?« »Ich ärgere mich darüber, dass ich mich von dir habe breitschlagen lassen«, antwortete der Jungdrache. »Breit warst du schon vorher«, murmelte Keanor mit einem Blick auf seine Rundungen. »Überbreit …« »Wenn ich dich schon gegen meinen Willen mitnehmen musste, dann beleidige mich gefälligst nicht!«, herrschte er sie an. »Da musst du dich bei Mademoiselle Nicole bedanken.« »Ist ja schon gut.« Keanor wehrte mit den Händen ab. »Ich hab's doch nicht so gemeint.« Fooly blickte sie bitterböse an. Keanor nahm sich vor, ihn nicht weiter zu reizen. Sie war auf ihn angewiesen, denn von hier würde sie sonst nie entkommen. Sie befanden sich auf der Welt, die Asmodis und Seanzaara auf der Suche nach Rallant gefunden hatten. Das hatten sie durch Foolys Drachenmagie herausgefunden. Wie schon vorher am Rand des Zaubergartens untersuchte Fooly die Para-Spur mittels Drachenmagie. Er sandte Signale aus, die als Echo wieder zurückkamen. Die beiden Frauen bemerkten davon nichts. Ihnen fiel lediglich auf, dass der Jungdrache steif wie ein Stock dastand und Augen und Maul weit geöffnet hatte. »Ich habe jemand geangelt«, behauptete Fooly nach einer Weile. »Was hast du?« Nicole glaubte, sich verhört zu haben. »Ich kann es nur so verdeutlichen, dass ich einen Ruf gesendet habe, weil gerade ein Wesen diese Spur benutzt. Und ich hoffe, dass dieses Wesen dem Ruf folgt«, erklärte der Drache. »Verstecken wir uns, damit das Wesen nicht gleich erschreckt wird, wenn es drei gegen sich sieht«, empfahl Keanor. »Nicht, dass es gleich wieder flieht.« Kaum dass sie ihrem Rat gefolgt waren und sich hinter einem Fels verborgen hatten, erschien ein Tonkan aus der Para-Spur. »Das ist doch Rallant«, entfuhr es Nicole Duval. »Derjenige, der die Seelen-Tränen raubte?« Keanor fuhr zusammen. »Den bringe ich auf der Stelle um.«
Nicole legte ihr die Hand auf den Arm. »Lass mich den Kontakt herstellen«, forderte sie. »Aber …« Fooly legte ihr die Hand auf den anderen Arm. »Wenn du nicht machst, was sie verlangt, dann lasse ich dich auf dieser Welt zurück«, fauchte er. »Und glaub mir eines, ich meine es ernst. Da kann dir auch die Mademoiselle nicht helfen.« Das wirkte. Keanor hielt sich zurück. Nicole Duval trat hinter dem Felsen hervor. Sie rief den Tonkan bei seinem Namen. Als Rallant Nicole sah, wollte er im ersten Augenblick sofort wieder fliehen. Erst längeres Zureden von ihr sorgte dafür, dass er trotzdem blieb. Als er Keanor und Fooly hervortreten sah, blieb ihm fast das Herz stehen. Er erkannte Keanor sofort. Das schlechte Gewissen war ihm ins Gesicht geschrieben, obwohl er nur unter geistigem Zwang gehandelt hatte. »Wo sind die Seelen-Tränen?«, wollte Keanor wissen. Sie maß den Tonkan mit verächtlichem Blick. Rallant duckte sich, als könne er so seiner Strafe entgehen. »Aber ich hab sie doch gar nicht mehr«, zischte er. »Die hat mir Stygia abgenommen.« »Stygia?« Nicole Duval blickte ihn fragend an. Dann stieß sie einen Pfiff aus. »Wenn diese Flederratte dabei ist, dann kann es sich nur um eine Riesensauerei handeln.« Sie entfernten sich allein schon der Sicherheit wegen von der ParaSpur. Ein eventueller Ankömmling hätte sie sofort gesehen. Und nach der Nennung von Stygias Namen traute Nicole der Sache nicht. Nur Rallant war noch von der Para-Spur aus zu sehen. Die anderen befanden sich hinter einem haushohen Felsbrocken außer Sicht. In diesem Augenblick glitt eine Gestalt aus der Para-Spur. Eine unbekleidete Frau erschien. Sie sah unnatürlich hager aus. Die Arme und Beine wirkten, als gehörten sie einer überdimensionalen Spinne. Die humanoide Frau bewegte sich schnell wie eine Raubkatze auf
Rallant zu. »Taronn!«, entfuhr es Rallant. Er spürte, wie sein Bewusstsein von etwas überlagert wurde. Er warf sich auf Nicole Duval, die gerade den E-Blaster von der Magnetplatte löste. Seine Hände hielten ihre Gelenke umklammert, so dass sie nicht schießen konnte. Sie prallten beide gegen die hinter ihnen stehende Keanor und fielen zu Boden. Fooly reagierte automatisch, ohne nachzudenken. Während die drei anderen auf dem Boden lagen, spie er Taronn Drachenfeuer entgegen. Stygias Helferin versuchte noch, ein magisches Schutznetz zu weben, doch sie wurde von den Flammen eingehüllt. Sie sprang einige Meter zurück und wälzte sich am Boden, um die Flammen zu ersticken. Das Schutznetz war längst wieder erloschen. Unter Schmerzensschreien lief Taronn wieder zur Para-Spur zurück und war gleich darauf verschwunden. Mittlerweile standen Nicole, Rallant und Keanor wieder. Der Tonkan sagte kein Wort und stierte in die Luft. Die Beeinflussung wirkte nach. Keanor gab ihm eine schallende Ohrfeige. Der Tonkan schwankte, reagierte jedoch nicht weiter. Fooly legte ihm eine Hand gegen die Stirn. Minuten später kehrte Leben in Rallants Augen zurück. Der Schwarzelf wirkte extrem niedergeschlagen. Er schluchzte und zitterte am ganzen Körper. »Und ich dachte, dass ich sie abgeschüttelt habe«, klagte er. »Wer war das?«, fragte Nicole Duval. »Ich war schon einige Mal in der Hölle, aber ich habe sie noch nie gesehen.« »Das war Taronn, eine von Stygias Helferinnen«, antwortete Rallant. »Sie sorgte mit der Fürstin dafür, dass Tjellkronn und ich beeinflusst wurden. Ich dachte, dass ich den Bann überwunden habe.« Er erzählte, wie er überwältigt und gezwungen worden war, die Seelen-Tränen zu stehlen. Keanor strich zärtlich über ihre Umhängetasche, als sie das vernahm. »Mit anderen Worten: Sie hat den Tod verdient«, stellte sie in ihrer radikalen Art fest. »Was würdest du dafür geben, wenn wir sie zur
Rechenschaft ziehen?« »Alles!«, antwortete Rallant. »Sogar mein Leben!«
»Wir sollten sie gleich töten!«, bellte Stygia förmlich hervor. »So eine Chance kommt niemals wieder.« »Bist du wahnsinnig?« Rico Calderone blickte seine Untergebene verächtlich an. »Nach allem, was sie uns angetan haben, sollen sie leiden wie niemand je zuvor.« Zamorra und Merlin lagen bewusstlos zu ihren Füßen. Es erfüllte Stygia mit Zufriedenheit, dass zwei ihrer ärgsten Feinde schutzlos waren. Sie hätte beide innerhalb von Sekunden töten können, doch Calderone hielt sie unverständlicherweise zurück. »Sie sind schon so oft aus ausweglosen Situationen entwischt, dass es sträflicher Leichtsinn ist, sie am Leben zu lassen«, gab sie zu bedenken. »Bringt sie in den Kerker!«, befahl Satans Ministerpräsident seinen Dienern. Dann wandte er sich wieder der Fürstin der Finsternis zu. »Wir verfahren so, wie ich es befohlen habe. Das ist mein letztes Wort.« Stygia presste die Lippen vor unterdrücktem Zorn zusammen. Sie wagte es nicht, weiter seinen Zorn zu erregen. In ihren Augen war er ein Narr, der eine todsichere Chance verstreichen ließ. Auch sie hätte Zamorra gern leiden gesehen – je länger desto besser –, aber der Wunsch nach dem Ruhm, diejenige zu sein, die den ärgsten Widersacher der Hölle getötet hatte, war stärker. Sie wandte sich ohne ein weiteres Wort ab. Um sich abzulenken, dachte sie an die weiteren Eckpunkte von Calderones Plan. Sie wollte den Kerker inspizieren, der für Zamorra gedacht war. Rico Calderone indessen war es egal, was Stygia dachte. Er wollte seine Rache haben, koste es, was es wolle. Seine Gefangenen sollten um ihr bisschen Leben winseln und bereuen, was sie ihm alles angetan hatten.
Der eine � Das Erwachen geschah ohne Übergang. Eben noch sank er im Staub der Arena zu Boden. Gleich darauf rasten ungeahnte Energien durch seinen Körper. Das erloschene Schutzfeld hatte sich in seinen Körper geflüchtet. Sie hatten ihn auf eine morsche Pritsche geworfen, das ihm alle Knochen schmerzten. Trotzdem hatte er keinen Laut von sich gegeben, um sich nicht zu verraten. Der Mann in der Mönchskutte stand vor seiner primitiven Lagerstatt und zischte Worte vor sich hin, die der Mann auf der Pritsche erst nicht verstand. »Dir werde ich es zeigen«, grummelte der Rothaarige. »Du wirst noch bereuen, geboren worden zu sein. Dir werde ich zeigen, was es heißt, den Herrn der Hölle als Feind zu haben.« Von allen Wesen, die jemals auf dem Knochenthron gesessen hatten, erschien Calderone dem Mann auf der Pritsche als das niveauloseste. Gegen seine Vorgänger Lucifuge Rofocale oder sogar Astardis war Rico Calderone nur ein kleines Licht. Satans Ministerpräsident murmelte gutturale Beschwörungsformeln. Seine Hände woben magische Muster über seinem Gefangenen. Der bemerkte sehr wohl, was man mit ihm vorhatte. Doch war er klug genug, sich nicht offen zur Wehr zu setzen. Er war ein Meister der weißen Magie, wie er es vor Tausenden von Jahren auch in der schwarzen Magie gewesen war. Es wäre ihm ein Leichtes gewesen, seinen Gegner zu bezwingen. Doch gegen dessen Krieger im Hintergrund konnte er nicht vorgehen. Dazu waren sie zu zahlreich. Aber seine Chance würde noch kommen, dessen war er sicher. Außerdem durfte er seinen Begleiter nicht gefährden. »Du wirst in der Arena kämpfen, Merlin«, befahl Calderone mit schneidender Stimme. »Und du wirst deinen Gegner töten. Du darfst nichts von ihm übrig lassen!« »Ich höre und gehorche. Und danach?«, fragte Merlin. »Was ge-
schieht dann mit mir?« »Dein Feind ist verpflichtet, dich ebenfalls zu töten«, antwortete Calderone. »Ihr erhaltet Flammenpeitschen, mit denen ihr euch gegenseitig auslöscht.« »Mein Feind?«, echote Merlin, obwohl er genau wusste, wer gemeint war. Er zeigte seinem Gegenüber nicht, dass er nicht beeinflusst war. »Wer ist das?« Rico Calderone verzog die Lippen zu einem verächtlichen Grinsen. »Es handelt sich um deinen Begleiter in der Zelle nebenan«, lachte er böse. »Professor Zamorra.«
Der seltsame Flug schien nur noch zentimeterweise voranzugehen. Nach einer nicht messbaren Zeit begann die Stelle, an der sich Asmodis befand, aufzuglühen. Die Para-Spur schien an einer Stelle aufzubrechen. Eine blaue Energieflut brach über die beiden ungleichen Wesen herein und schien sich um sie herum zu drängen. Das ist das Werk des Dhyarras, erkannte Seanzaara. Asmodis schien dem Sternenstein alles abzuverlangen. Obwohl Seanzaara in ihrem gegenwärtigen Zustand nur ein begrenztes Zeitgefühl besaß, dauerte der Vorgang ihrer Ansicht nach sehr lange. Nach einiger Zeit schloss sich die Öffnung in eine andere Dimension; es strömte keine Energie mehr herein. Tausend Nadeln schienen auf die Hexe einzustechen. Und dann war es vorbei. Sie erinnerte sich daran, was als Letztes geschah. ›Erklärungen folgen später. Vielleicht …‹, hatte Asmodis ihr hastig anstelle einer Antwort gesendet. Was sollte das bloß bedeuten? War ihre Lage so bedrohlich, dass er keine Zeit für Erläuterungen hatte? Sie konnte ihm dank ihrer Magie doch helfen. ›lch muss zusehen, dass wir die Landung überleben. Wenn wir sie überhaupt überleben …‹ Besonders der letzte Satz traf sie. Wenn wir sie überhaupt überlebten … Hieß das vielleicht, dass Sid keine Hoff-
nung mehr für sie beide hatte? Sie wurde von ihren trüben Gedanken abgelenkt, denn etwas Außergewöhnliches vollzog sich. Asmodis schimmerte mittelblau aus dem Inneren seines Körpers heraus. Erst zögerlich, dann immer strahlender. Dann geschah etwas Ungeheuerliches! Asmodis materialisierte in der Para-Spur. Er wurde stofflich! In ein schimmerndes Energiefeld gehüllt, das ihn wie eine schützende Blase umgab, schwebte er mitten in der Para-Spur. Seanzaara konnte ihre Gedanken nicht länger zurückhalten ›Das ist unmöglich, Sid!‹, brachte sie hervor. Dabei wusste sie, dass sie keiner Täuschung unterlag. ›Du hast keinen Grund, zu zweifeln‹, hielt Merlins Bruder ihr vor. ›Oder glaubtest du meinen Worten nicht?‹ Seanzaaras Schweigen sagte in diesem Fall mehr aus als alle Worte. Sie beschloss, den für sie unangenehmen Teil einfach zu überspringen. Asmodis zeigte nicht, ob ihm ihr Verhalten missfiel. ›Was ist geschehen?‹, erkundigte sie sich also statt einer Antwort. ›Und wieso konntest du deinen Dhyarra aktivieren, obwohl er sich nicht direkt an deinem Körper befindet? Waren wir körperlos, oder was ist sonst passiert?‹ Ein telepathisches Stöhnen erklang in ihrem Geist. Asmodis schien große Schmerzen zu leiden. Doch gleich darauf wurde sie eines Besseren belehrt. ›lhr Weiber seid doch alle gleich‹, seufzte der Ex-Dämon. ›In LUZIFERS Namen, warum müsst ihr ständig plappern, statt erst einmal das Vordringliche zu erledigen?‹ Seanzaara war empört. Wie konnte er es wagen, so mit ihr zu reden! ›Und was ist das Vordringlichste?‹, ätzte sie zurück. Sie bewegte ihren Kopf leicht nach unten und besah sich ihre blau schimmernden Hände. Ihr Herzschlag wollte aussetzen. Sie besaß wieder einen Körper! ›Wir müssen raus aus der Para-Spur‹, dozierte Asmodis. Er schien die Ungeheuerlichkeit, dass auch Seanzaara stofflich wurde, nicht zu bemerken. ›Und ich habe zwei bekannte Magiearten ent …‹
›Sid …‹, unterbrach Seanzaara ihn mitten im Wort. ›lch bin mitten in der Spur materialisiert!‹ ›Ja, und? Wir sind halb stofflich, dafür habe ich gesorgt‹, lautete die Erklärung, die Seanzaara fast an den Rand des Wahnsinns brachte. Asmodis schien nicht im Geringsten beeindruckt. ›Genau das wollte ich.‹ ›Jetzt spüre ich ebenfalls die fremde Magie. Das eine ist die Ausstrahlung des Tränendiebs, aber das andere …‹ Die k'oandarische Hexe stutzte, dann hauchte sie telepathisch: ›Das ist doch Drachenmagie …?‹
Der andere Das Atmen fiel unendlich schwer. Ein riesiges Gewicht schien auf seiner Brust zu liegen. Arme und Beine mussten aus Gummi sein; er konnte sie kaum bewegen. Dazu breitete sich ein metallischer Geschmack nach Blut im Mund aus. Er stöhnte vor Schmerz und wälzte sich auf seiner Pritsche hin und her. Dann fielen ihm die letzten Sekunden vor der Bewusstlosigkeit wieder ein. »Ich will sie haben!«, schrie jemand, den er nicht kannte, die Streitmacht an. Sie zögerten nur kurz, dann setzten sie sich langsam wieder in Bewegung. Die Knochenkrieger und die Höllendiener trampelten über ihre sterbenden Kameraden hinweg. Sie gingen ohne Rücksicht auf Verluste vor und schlugen auf Merlin und Zamorra ein. Sie hörten erst auf, als beide sich nicht mehr regten. Zamorra bin ich, erkannte der Mann. Und mein Begleiter war Merlin, der Zauberer von Avalon. Etwas war nicht in Ordnung. Sie wurden gefangen genommen und befanden sich in einem düsteren Gefängnis. So weit war alles klar. Aber warum lief alles so langsam ab? Fast wie in Zeitlupe. Seine Gedanken waren zäher als Harz, das den Baum hinuntertropfte. Weshalb bin ich hier?, fragte sich Zamorra. Es war alles ein wenig schnell verlaufen. Kaum dass sie aus der Para-Spur kamen, standen sie auch schon Tausenden von Kriegern gegenüber. Und die hatten
sofort gegen sie gekämpft. Als ob sie gerade auf uns gewartet hätten, überlegte Zamorra. Es konnte kein Zufall sein, dass sie genau auf diese Welt kamen. »Da hast du Recht«, lachte Stygia laut auf. Zamorra hob den Kopf. Ächzend setzte er sich auf die Pritsche, dann kam er langsam auf die Beine. Um ihn herum drehte sich alles, aber seiner Widersacherin hätte er das um keinen Preis der Welt gezeigt. Erst nach dem Aufstehen kam ihm zu Bewusstsein, dass Stygia seine Gedanken nicht lesen konnte. »Führst du immer Selbstgespräche?«, fragte sie spöttisch. »Immer dann, wenn ich mich mit jemand Intelligentem unterhalten möchte«, giftete er zurück. Stygia lachte erneut. »Mein armer kleiner Held hat keine Chance, denn er ist auf seine normalen Kräfte angewiesen«, spottete sie und legte eine Hand auf seinen Brustkorb. »Er hat sein Silberscheibchen gar nicht dabei.« »Lass das!« Zamorra ergriff ihre Hand und wollte sie zurückstoßen. Sie grinste und schüttelte den Kopf. »Spar dir die Kraft. Du wirst sie noch brauchen.« »Und weshalb?« »Die Arena, in der ihr gelandet seid, wird dein Grab«, verkündete sie triumphierend. »Du kämpfst dort bis zu deinem Tod. Du und Merlin, ihr müsst euch gegenseitig töten.« »Und wenn ich mich weigere?« Stygia wollte sich ausschütten vor Lachen. »Ich habe noch nie etwas derart Närrisches gehört«, schmunzelte sie. »Du kannst dich nicht wehren.« »Und warum nicht?«, brüllte er sie an. Seine Hände zuckten, als wollte er sie auf der Stelle erwürgen. Von einer Sekunde zur anderen erfüllte ihn Aggressivität nie gekannten Ausmaßes. Er kannte sich selbst nicht mehr. Aus welchem unbekannten Grund reagierte er so gegen seine Natur? »Weil du keine Wahl hast«, antwortete Stygia. »Weil ich es dir befehle. Ihr kommt nur als Tote weg von hier.« Und weil wir euch dafür speziell behandelt haben, dachte sie, aber sie war klug genug, ihn das nicht wissen zu lassen.
Zamorra sagte kein Wort. Seine Hände öffneten sich und ballten sich unentwegt zu Fäusten. Etwas legte sich über sein normales Denken. »Und wer ist das dahinten?«, knurrte er. »Was hat er mit mir zu tun?« Seine Zelle war abgeteilt. Auf der anderen Seite, durch dicke Gitterstäbe getrennt, lag ein Mann auf einer Pritsche. Der Mann besaß in der Mitte gescheitelte schulterlange weiße Haare und einen ebenso langen weißen Vollbart. Er trug eine weiße kapuzenlose Kutte mit einem breiten Gürtel, in dem eine goldene Sichel steckte, sowie einen flammend roten Umhang. Noch ein Mann befand sich in der Zelle. Er war in eine mönchsartige Kutte gekleidet. Seine roten Haare standen nach allen Seiten ab, was ihm das Aussehen eines Wahnsinnigen verlieh. Er wirkte sehr zufrieden. Zamorra beachtete ihn einfach nicht. Für ihn war er nicht existent. Der bärtige Unbekannte wälzte sich von seiner Pritsche. Er blickte Zamorra an, als würde er ihn kennen. Er trat an die Gitterstäbe und besah sich den Dämonenjäger und die Fürstin der Finsternis. »Das ist dein Gegner«, behauptete Stygia. »Ihn musst du in der Arena töten.« Zamorra trat ebenfalls an die Gitterstäbe heran. Er legte die Hände um das Gitter und rüttelte daran. »Wie heißt du, altes Dreckstück?«, giftete er. Dann griff er blitzschnell durch die Stäbe hindurch und ergriff den Mann an seiner Kutte. Er zog ihn mit aller Kraft an die Stäbe heran. »Mein Name ist Merlin«, antwortete der weißhaarige Mann. Mit zwei kräftigen Schlägen auf Zamorras Unterarme verschaffte er sich wieder relative Freiheit. »Und ich lasse mich von dir nicht beleidigen.« Zamorra lachte zuerst, dann hielt er den Kopf leicht schräg. Die Schläge hatte er anscheinend nicht gespürt. Merlin? Da war doch irgendwo etwas gewesen. Aber der Name sagte ihm auf einmal nichts mehr. »Sollte ich dich kennen?«, fragte er und blickte sein Gegenüber
voller Verachtung an. »Lohnt es sich, deinen Namen zu merken?« »Eigentlich schon«, lachte der Mann, der sich Merlin nannte. »Denn ich werde derjenige sein, der dich tötet.« Ehe Zamorra etwas dagegen unternehmen konnte, legte Merlin eine Hand auf seine Stirn. Zamorra taumelte. Er ging in die Knie. Ein Blitz schlug in sein Gehirn ein.
7. »Töte Zamorra!« � »Ich hoffe, du hast dich darauf vorbereitet, still zu sterben.« (CCR, 1969: ›Bad moon rising‹)
Düsteres Zwielicht herrschte in dem unüberschaubaren Labyrinth aus Gängen, durch das sie von ihren Bewachern getrieben wurden. Das bisschen Helligkeit wurde von unsichtbaren Quellen erzeugt. Es stammte nicht von Lampen, wie Zamorra sie kannte, sondern von dämonischen Kräften, die Licht und Dunkelheit gleichermaßen schufen. Markerschütterndes Gebrüll legte sich auf Zamorra wie ein nasses Tuch. Es wurde begleitet vom muffigen Pestatem seiner Wächter. Sie stanken weitaus penetranter, als wären sie soeben einem Jauchebad entstiegen. Angewidert hielt Zamorra sich die Nase zu. Der Gestank von Blut, Schweiß, Dreck und Fäkalien war allgegenwärtig. Selbst in den sieben Kreisen der Hölle stank es nicht so erbärmlich, fand er. Die Wächter waren bewaffnet. Zamorra musterte sie der Reihe nach, doch nicht ein bekannter Dämon war unter ihnen. Sie waren alle einfache Diener der untersten Kategorie, doch davon ließ er sich nicht täuschen. Ihnen lag daran, sich in der Höllenhierarchie einen Namen zu machen. Aus diesem Grund waren sie extrem angriffslustig. Das war ihm recht. Auch ihn erfüllte eine nie gekannte Aggressivität. Am liebsten hätte er sich auf den nächstbesten Dämon gestürzt und gegen ihn gekämpft. Immer wieder dachte er an die Worte, die ihm Merlin gesagt hatte, ehe ein Blitz in sein Gehirn eingeschlagen hatte: »Denn ich werde derjenige sein, der dich tötet.«
»Das wollen wir doch erst mal sehen.« Zamorra biss die Zähne fest aufeinander. Den Schmerz bemerkte er nicht. Was hatte der seltsame Mann mit dem Vollbart mit ihm angestellt? Zamorra fühlte sich anders und konnte doch nicht erklären, was mit ihm geschehen war. Einige der höchsten Dämonen der Hölle waren anwesend. Grohmhyrxxa mit dem Fliegenkopf zum Beispiel, oder Astaroth, der Besonnene, und Zarkar, DER CORR. Sie sollten Zeuge von Calderones Sieg werden. Zamorra kam an Rico Calderones Loge vorbei. Mit keiner Geste ließ LUZIFERS Ministerpräsident erkennen, dass er Zamorra bemerkte. Scheinbar gleichmütig saß er da, wie ein Denkmal seiner Selbst. Doch in ihm brodelte es. Endlich hatte er sein Ziel erreicht! Nicht mehr lange, und Zamorra würde tot sein. Er spie verächtlich aus, und unter seinem Speichel begann der Steinboden zischend zu brodeln und zu verdampfen. Deutlicher konnte er nicht zeigen, was er von seinen Feinden hielt. Nichts! Von der anderen Seite wurde Merlin hereingeführt. Auch er war von hunderten von Wächtern umgeben, die jede seiner Bewegungen misstrauisch beäugten. Beim geringsten Anzeichen von Flucht oder Gegenwehr würden die Höllenknechte ohne Erbarmen zuschlagen. Merlin zeigte keine Emotionen. Scheinbar gleichmütig stand er da, wie ein Denkmal seiner Selbst. Nur die glühenden Augen zeigten an, dass Leben in ihm steckte. Als Calderone und Stygia den Kerker wieder verlassen hatten, hatte der alte Zauberer für einige Sekunden versucht, seine Magie auszuprobieren. Wahnsinnige Schmerzen hatten sich durch seine Nerven gefressen, so dass er den Versuch sofort wieder abgebrochen hatte. Es dauerte nicht lange, da standen sich Zamorra und Merlin Auge in Auge gegenüber. Beide Männer versuchten einander zu umkreisen. Es sah aus, als wollten sie sich innerhalb weniger Sekunden aufeinander stürzen.
»Du willst derjenige sein, der mich tötet?«, schrie Zamorra und packte den König der Druiden mit beiden Händen am Brustteil seiner Kutte. »Das werden wir noch sehen! Komm doch, oder hast du Angst?« Merlin ergriff Zamorras Handgelenke und stieß ihn von sich. Dabei riss er die beiden obersten Knöpfe von Zamorras Hemd auf. Seine dunklen Augen blickten den Meister des Übersinnlichen auf eine seltsame Weise an. »So nicht, Freundchen«, stieß er hervor. »Wenn du das noch einmal machst, bist du tot.« »Nicht doch, meine lieben Freunde«, erklang die spöttische Stimme von Rico Calderone. Der konnte seine Zufriedenheit schlecht verbergen. »Ihr werdet noch genügend Gelegenheit erhalten, euer Mütchen gegenseitig abzukühlen.« »Ihr sollt euch erst etwas warm kämpfen«, lachte Stygia, die gerade neben Calderone Platz nahm. Sie klatschte mehrmals die Hände gegeneinander. Die Höllendiener trennten Zamorra und Merlin voneinander. Dann beeilten sie sich, die Arena zu verlassen. Ein hohles Stampfen erklang. Zamorra blickte sich um. Er konnte zuerst nicht sagen, aus welcher Richtung das Geräusch kam. Dann sah er sie! Mindestens zwanzig Knochenkrieger kamen ihnen entgegen. Aufrecht gehende Skelette, an denen teilweise noch Fleisch und Haut hingen. Manche von ihnen waren sogar noch mit Kleidungsfetzen behangen. Jeder trug eine Waffe in der Knochenhand. Dabei handelte es sich um Peitschen, Keulen und Knüppel. Nur Flammenpeitschen hatten sie nicht. Schließlich sollten Zamorra und Merlin bis zum Hauptkampf überleben. Bei jedem Schritt donnerte es laut auf. Calderone ließ das Geräusch noch verstärken, um seine Feinde zu zermürben. »Dann zeigt mal, was ihr könnt«, forderte Satans Ministerpräsident sie auf. Die Knochenkrieger umkreisten sowohl Merlin als auch Zamorra. Beide Männer rückten automatisch enger zusammen. Im Gegensatz
zu ihren Gegnern besaßen sie keine Waffen. »Ist es nicht schön, wenn zwei Freunde einander beistehen«, spottete Calderone, doch seine beiden vermeintlichen Opfer antworteten nicht. Sie konzentrierten sich voll auf die Angreifer. Der erste Knochenkrieger sprang vor und holte weit mit seiner Peitsche aus. Zamorra duckte sich, als die Peitschenschnur über ihn hinwegpfiff. Er griff blitzschnell zu und bekam das Ende der Schnur zu fassen. Mit aller Kraft zog der Dämonenjäger und brachte damit den Krieger zu Fall. Doch der ließ den Peitschengriff nicht los. Zamorra riss an der Peitsche, dann ließ er kurz locker, um seinen Gegner zu täuschen. Das wandelnde Skelett wollte während des Aufstehens am Peitschengriff ziehen, doch Zamorra war schneller. Mit einem Hieb trennte er dem Knöchernen den Kopf vom Rumpf. Den Dämonen und Höllenknechten auf den Rängen gefiel das nicht. Ein gellendes Brüll- und Pfeifkonzert war die Antwort auf das Versagen des Ersten von ihnen. Ein zweiter ihrer Kontrahenten löste sich aus der Menge und rannte Zamorra entgegen. Seine stachelbewehrte Keule schwang er drohend durch die Luft. Merlin stellte sich dem Krieger entgegen. Die schwere Keule über dem Kopf erhoben, wollte der Knochige zum Schlag ausholen. Der alte Zauberer reagierte schneller, als das Auge zu folgen vermochte. Ehe der Knochenkrieger seine Bewegung beendet hatte, lag er schon auf dem staubigen, steinigen Boden der Arena. Die Keule entfiel seiner Hand. Merlin griff blitzschnell zu, wirbelte die Keule seinerseits über dem Kopf, und mit einem gewaltigen Schlag beendete er das dämonische Leben des Kriegers. Es krachte erbärmlich, als die Knochen unter der Wucht des Schlages zerbrachen. »Gut gemacht, alter Mann«, stichelte Zamorra. »Ich dachte nicht, dass du so gut bist. Weshalb rennen die uns nicht alle über den Haufen? Wir haben ihnen nichts entgegenzusetzen.« »Das ist Taktik«, erklärte Merlin schwer atmend. Er wog die tödliche Waffe in seinen Händen und blickte auf die Gegenspieler. Sie hatten den Kreis um ihre Opfer verkleinert.
Je zwei weitere Angreifer kamen sowohl ihm als auch Zamorra entgegen. Merlins Kontrahenten trennten sich. Sie griffen den Druiden von zwei Seiten an. Er beugte sich etwas vor, holte aus und ließ die Keule gegen die Brustpartie des einen krachen, noch bevor der seine Peitsche benutzen konnte. Er fiel mit zerschmettertem Brustkorb zu Boden. Ein weiterer Schlag von Merlins Keule zerschmetterte seinen Totenkopf. Der andere wich drei Schritte zurück und holte mit einem Knüppel aus. Aus dem Stand sprang Merlin über ihn hinweg, und bevor der Knöcherne sich noch ganz umdrehen konnte, wurde er von der Wucht des Keulenschlages in zwei Teile getrennt. Merlin hob die Peitsche des Ersten auf. Damit hatte er zwei Waffen. Eigentlich drei!, dachte er, aber welches seine dritte Waffe war, wollte er erst später zeigen. Er richtete sein Augenmerk auf den Kreis ihrer Antagonisten. Er befürchtete, dass die nächste Gruppe während des Kampfes eingreifen könnte. Zamorras Angreifer versuchten, ihm mit Knüppel und Steinmesser beizukommen. Er schlug dem vorderen mit der Peitsche das Messer aus der Hand. Ein zweiter Hieb trennte die Hand vom Gelenk. Der Knochenmann brüllte Zamorra seine Pein entgegen. Dadurch wurde der Meister des Übersinnlichen für eine Sekunde abgelenkt. Während er den Ersten vollends erledigte, hob sein zweiter Feind den Knüppel und wollte Zamorra den Kopf einschlagen. »Vorsicht, Zamorra!«, schrie Merlin, der die Bewegung sah. Er hob die Keule seines vernichteten Kontrahenten auf und warf sie dem Knöchernen in den Rücken. Der ließ den Knüppel fallen. Zamorra duckte sich, hob den Gegner hoch und warf ihn in den Sand. Zwei Peitschenhiebe später existierte auch dieser Krieger nicht mehr. Das Geschrei des Publikums schwoll immer mehr an. Es wurde so laut, dass man kaum ein anderes Geräusch vernahm. Die Dämonen waren maßlos enttäuscht von ihren Gefolgsleuten. Nur Rico Calderone und Stygia behielten die Ruhe. Sie allein
wussten, dass ihre Gefangenen nicht verlieren sollten. Das wollten sie sich erst für den Endkampf aufsparen. Aber vorher sollten sie ihre Kräfte gegen die Knöchernen verschwenden. Umso sicherer war der Sieg. Bei den verendeten Dämonendienern handelte es sich um niedere Kriecher, die in der Höllenhierarchie weder Rang noch Namen besaßen. Calderone schickte die armseligen Kreaturen bedenkenlos ins Feuer. Was kümmerte es ihn, wenn sie im Kampf gegen Zamorra und Merlin umkamen. Offenbar war er der Meinung, als LUZIFERS Ministerpräsident über unerschöpfliche Reserven zu verfügen, und wahrscheinlich hatte er damit sogar Recht. »Das war knapp, Alter«, keuchte Zamorra. »Danke, aber …« »Spar deinen Atem, du Tor!«, versetzte Merlin, als der Rest der Knochenleute näher kam. »Und halt mir den Rücken frei. Egal, was passiert …« Zamorra antwortete nicht darauf, obwohl ihm Merlins Bemerkung mehr als seltsam vorkam, denn er bemerkte, dass die restlichen Knochenwesen näher kamen. Nun muss ich die dritte Waffe doch früher benutzen, als ich hoffte, durchfuhr es den Zauberer. Er griff in den breiten Gürtel, den er um seine Hüften trug. Als er die goldene Sichel berührte, schienen ihn neue Energien zu durchfluten. Seine Augen glommen dunkel auf. Er hob die Hände bis in Hüfthöhe an und murmelte gutturale Beschwörungsformeln. Blaues Licht waberte um seine Arme. »Was soll das?«, schrie Calderone von seiner Loge zu ihnen herab. »Er kann doch keine Magie mehr benutzen!« »Das denkst auch nur du Vollidiot«, spie Merlin hervor. Zwar hatte man seine Fähigkeit der weißen Magie auf ein Minimum reduziert – wie immer sie das auch angestellt hatten –, aber er besaß eine weitaus größere Erfahrung in solchen Dingen als Calderone und Stygia zusammen. Also benutzte er nach endlos langen Jahren wieder einmal schwarze Magie. Er ließ die Keule, die den Knöchernen im Rücken getroffen hatte,
heranschweben, ergriff sie mit beiden Händen und schleuderte sie auf die entgegenkommenden Gegner. Noch im Flug explodierte die Waffe und riss acht Knöcherne mit ins Verderben. Sieben weitere fanden ihr Ende unter seiner goldenen Sichel. Die restlichen drei erledigte Zamorra mit seiner Peitsche. Das dämonische Publikum wurde mit einem Schlag sehr ruhig. Nur vereinzeltes Zischen war hörbar. »Was hast du da für eine Zauberwaffe?«, erkundigte Zamorra sich schwer atmend. Der Kampf hatte ihn eine Menge Kraft gekostet. Weitaus mehr als den nur äußerlich alten Zauberer. »Wie kann so ein bisschen Metall solche Gegner ausschalten?« »Indem man seinen Verstand gebraucht«, gab Merlin zurück. »Es wäre auch für dich besser, wenn du dein Gehirn einschaltest und die Beeinflussung überwindest.« »Wovon redest du? Ich wurde garantiert nicht beeinflusst«, behauptete Zamorra wider besseres Wissen. Schon wieder dachte er an die Worte: »Denn ich werde derjenige sein, der dich tötet.« Bevor Merlin antworten konnte, erhob sich Calderone. Er blickte Stygia scharf an, als trüge sie die Schuld daran, dass Merlin Magie nutzte. Die Dämonin erhob sich wortlos und ging. »Dies hier war nur das Vorgeplänkel«, tönte Calderone. »Es wird Zeit, dass wir den eigentlichen Zweck unserer Zusammenkunft genießen.« Er wandte sich an die beiden Männer in der Arena. »Kämpft, wie ihr es versprochen habt«, forderte er. Und an Merlin gewandt: »Töte Zarnorra!«
»Was machst du mit diesem Silberding?«, fragte Rallant. Nicole Duval verdrehte die Augen. Wenn der Tonkan einmal still sein sollte, dann redete er wie ein Wasserfall. Sie aber musste sich konzentrieren. Um herauszufinden, ob Zamorra sich im Laufe des letzten halben Tages hier befunden hatte, musste die Zeitschau von Merlins Stern gestartet werden.
Nicole versetzte sich dabei in eine Art Halbtrance und war in der Lage, bis zu 24 Stunden in die Vergangenheit der unmittelbaren Umgebung des Amuletts zu schauen. Die Bilder erschienen dabei wie auf einem Mini-Bildschirm in seiner Mitte und konnten auch von anderen Personen gesehen werden. Dieser Prozess war indessen sehr kraftraubend, daher stellten die 24 Stunden eher eine physische Grenze dar. »Das ist die Zeitschau«, erklärte sie. »Und jetzt tu mir den Gefallen und halte die Klappe, bis ich die Aktion beendet habe.« Der Tonkan schwieg beleidigt. Erst sollte er erzählen, was er wusste. Dann wiederum sollte er ruhig sein. Ob diese Nicole wusste, was sie wollte? Er kannte die Möglichkeiten von Merlins Stern nicht, jenem Amulett, das der Zauberer einst aus der Kraft einer entarteten Sonne geschaffen hatte, indem er einen Stern vom Himmel holte. In der Mitte befand sich ein stilisierter Drudenfuß, der bei der Zeitschau auch als Mini-Bildschirm diente. Um diesen zog sich ein Kreis mit den Symbolen der 12 Tierkreiszeichen. Den äußeren Rand bildete ein Silberband mit bisher unentzifferbaren hieroglyphischen Zeichen, die etwas erhaben gearbeitet waren. Die an sich fest erscheinenden Hieroglyphen ließen sich mit leichtem Fingerdruck millimeterweit verschieben, um einzeln oder in Kombination bestimmte magische Funktionen auszulösen. Sofort danach glitten die Hieroglyphen wieder in ihre alte Position zurück und waren wieder fest. Eine andere Möglichkeit, Funktionen des Amuletts zu aktivieren, war ein gezielter Gedankenbefehl. »Mindestens drei Stunden«, murmelte Nicole Duval. »Bitte?« Keanor wusste im ersten Augenblick nichts mit ihren Worten anzufangen. »Es ist mindestens drei Stunden her, dass sie sich hier aufhielten«, erläuterte Nicole. »Das wird mich einiges an Kraft kosten …« Das stimmte auch, denn je länger ein Ereignis zurücklag, umso mehr Energie holte sich das Amulett von demjenigen, der die Zeitschau benutzte. Sie hielt Merlins Stern in beiden Händen und versetzte sich in Halbtrance. Sie ließ die vergangenen Stunden im Zeitraffer Revue
passieren. In rasender Schnelligkeit huschten die Ereignisse über den MiniBildschirm. Nicole machte sich nicht die Mühe, sie genauer zu betrachten. Sie benötigte ihre Kraft für die davor liegenden Ereignisse. Dann war es so weit: Asmodis und Seanzaara erschienen wie aus dem Nichts! Kurz darauf verschwanden sie wieder. »Stopp!«, unterbrachen Fooly und Keanor ihre Konzentration. Doch Nicole hatte es ebenfalls bemerkt. »Jetzt haben wir sie«, freute sich der Jungdrache. »Wir müssen sie finden«, wandte Rallant ein. »Ich hatte kurz vor unserem Treffen Verbindung mit Asmodis.« »Kannst du uns dabei helfen?«, erkundigte sich Keanor bei Fooly. »Ich versuche es«, antwortete der Drache. »Aber ich kann nicht versprechen, dass es gelingt.«
»Wie siehst du denn aus?« Stygia stand mit Taronn in den Katakomben der Arena. Sie maß ihre Untergebene mit einem abschätzenden Blick. Die Dämonin sah aus, als habe jemand sie in Brand gesteckt. »Ich wurde von einem Drachen angegriffen, als ich den Tonkan zurückbringen wollte«, antwortete sie. Schmerzen hatte sie keine mehr. Die enormen Selbstheilungskräfte ihres Volkes ließen alle Wunden schnell vernarben. »Ein Drache?« Stygia wollte es nicht glauben. »Es kommt doch kaum eins dieser Viecher aus dem Drachenland raus.« »Diese Nicole Duval war auch dabei«, krächzte Taronn. Stygia grinste unvermittelt. »Dann war das der Drache von Zamorra«, triumphierte sie. »Sobald unser Feind den Tod in der Arena erlitten hat, werden wir uns um seine Gefährtin kümmern.« Mit der habe ich eh noch einige Rechnungen offen, dachte sie, doch davon verriet sie Taronn nichts. Das war ihre ureigenste Angelegenheit. Sie hatte die ganzen Demütigungen der letzten Jahre nicht vergessen, und es würde ihr eine unsagbare Genugtuung sein, jede einzelne zurückzuzahlen.
»Rallant schwindet aus unserer Beeinflussung«, bemerkte Taronn. Sie hatte registriert, dass sich ihre Herrin in anderen Gedanken verlor. »Daran können wir vorerst nichts ändern«, sagte Stygia. »Der Todeskampf von Zamorra und Merlin ist wichtiger. Nachdem beide sich gegenseitig ausgelöscht haben, können wir uns der nächsten Aufgabe widmen.« »Was habe ich dabei zu tun?«, erkundigte sich Taronn. Die Fürstin der Finsternis dachte kurz nach. »Du hältst dich so weit wie möglich aus der Sache heraus«, antwortete sie schließlich. »Halte dich nur bereit. Dich brauche ich als Wächterin für die Seelen-Tränen.« Wenn alles vorbei war, wollte sie D'Halas Tränen für sich behalten. Und niemand sollte davon erfahren.
›Da, schon wieder Drachenmagie‹, sendete Asmodis. ›Das kann nur Fooly sein.‹ ›Fooly?‹ Seanzaara war skeptisch. Sie kannte den Jungdrachen nur aus Erzählungen. ›Woher willst du das wissen?‹ ›lch kenne seine Ausstrahlung.‹ ›Du warst dir auch sicher, dass dir in deinem ach so hohen Alter nichts passieren kann‹, hielt sie ihm vor. ›lch wusste, dass das kommt‹, grummelte er. ›Aber ich dachte nicht, dass es so früh sein würde.‹ Sie erwiderte nichts darauf. Streitereien mussten sie aufschieben, jetzt war ihre Rettung vordringlich. ›Was können wir unternehmen?, fragte Seanzaara. Ast es ratsam, diesem Drachen zu begegnen?‹ ›Dem schon.‹ Wieder herrschte bedrückende Stille. Die k'oandarische Hexe fühlte sich sehr unwohl dabei. Sie bewegte die halb stofflichen Arme und Beine, als könne sie so die Para-Spur durchschwimmen. ›Verhalte dich ruhig‹, forderte Asmodis. ›Gleich geht die Fahrt weiter.‹ Seanzaara wollte erst fragen, woher er das wusste, da bemerkte sie wieder die schon bekannte Vorwärtsbewegung. Diesmal schien der Flug durch die Para-Spur langsamer zu gehen, aber sie war nicht si-
cher, ob der Eindruck täuschte. Es wurde wieder dunkler um sie herum. Sie spürte ihren Körper nicht mehr. Bei dem Versuch, Arme und Beine zu bewegen, fühlte sie die Körperglieder nicht. Zuerst war sie darüber erschrocken, dann dachte sie daran, dass sie vorher auch nur als reines Bewusstsein existiert hatte. Körperlichkeit war nicht normal innerhalb der Para-Spur. Aber dass der Passagier die Reise bewusst miterlebte, war ebenso anormal. Und dann wurden sie regelrecht aus der Spur geschleudert.
Sie befanden sich tatsächlich nicht mehr in der Para-Spur. Sie standen auf dem festen Boden jenes Planeten, den sie vor ihrem Verschwinden besucht hatten. Und sie waren von vier Wesen umringt, wie sie unterschiedlicher nicht sein konnten. »Ich kann es noch gar nicht glauben«, hauchte Seanzaara. »Wie hast du das geschafft, Sid?« »Lass mir doch meine kleinen Geheimnisse«, grinste der Ex-Dämon. »Aber ohne Rallant und Fooly hätte ich es nicht geschafft.« Beide Angesprochenen platzten fast vor Stolz. Rallant, weil er seinen Stiefvater wiederhatte. Fooly, weil er ein ausgesprochenes Geltungsbedürfnis besaß. Seanzaara atmete tief durch. Sie fühlte sich befreit. Noch nie war ihr eine Sonne so strahlend erschienen wie in diesem Augenblick. Obwohl es sich um eine fremde Sonne handelte. Nicole Duval klärte sie über das Verschwinden von Zamorra und Merlin auf. Auch darüber, dass Taronn, die Vertraute von Stygia, erschienen war. »Wenn meine unselige Nachfolgerin darin verwickelt ist, sollten wir sie so schnell wie möglich finden«, sagte Asmodis. »Du glaubst, dass es eine Falle für Merlin ist?«, fragte Keanor. »Oder für Zamorra«, antwortete Asmodis. »Oder für mich. Seanzaara dürfte sie nicht kennen.« »Mir gibt zu denken, dass die Verbindung zu dieser Para-Spur gekappt wurde«, bekannte Nicole. »Und das ausgerechnet dann, als
ihr jene Spur benutzt habt. Das war kein Zufall, sondern eine Falle.« »Wir müssen ihnen folgen«, krähte Fooly. »So schnell wie möglich.« »Und wenn wir dabei in eine Falle gehen?«, gab Keanor zu bedenken. »Vielleicht ist es das, was sie wollen.« »Wahrscheinlich hast du Recht«, meinte Seanzaara. »Aber wir müssten sowieso erst einmal wissen, wo sie sich befinden.« »Das dürfte nicht so schwer sein«, sagte Fooly. »Ich habe herausgefunden, wohin sie gereist sind. Und diese Para-Spur wurde garantiert nicht zerstört.« Keanor blickte ihn verwundert an. »Wie denn das? Du warst doch ständig bei uns.« »Aber ich habe Mister Sid und seine Begleiterin auch gefunden«, triumphierte der Jungdrache. »Und die Spur vom Chef und dem alten Mann befindet sich direkt nebenan.« »Da stoße selbst ich an die Grenzen meiner Fähigkeiten. Weißt du, was du da sagst?« Asmodis kniff die Augen zusammen. »Aber sicher, Mister Sid.« Fooly klang leicht beleidigt. »Ich weiß doch, was ich kann.« »Ich wollte dich nicht kränken, kleiner Freund.« Asmodis streichelte Fooly über den Kopf. Der Jungdrache blickte ihn erstaunt an. »Kleiner Freund« wurde er sonst nur von Zamorra genannt, wenn er etwas Außergewöhnliches vollbracht hatte. Und dem undurchsichtigen Ex-Teufel hätte er eine solche Geste nie zugetraut. »Ich bin dafür, dass wir in zwei Schüben reisen«, schlug Nicole Duval vor. »Fooly, Keanor und ich bilden die Vorhut, und ihr drei kommt nach, sobald ihr euch erholt habt.« Seanzaara verzog das Gesicht. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte sie die Reise auf eine andere Art durchgeführt. Da es hier keine Regenbogenblumen gab, stand ihr diese andere Art der Fortbewegung nicht zur Verfügung. »Was nutzt uns die beste Erholung, wenn sie sich in Schwierigkeiten befinden?«, fragte sie gereizt. »In diesem Fall ändern wir die Reihenfolge«, bestimmte Asmodis.
»Seanzaara, Rallant und ich bilden die Vorhut. Ihr kommt etwas später nach.« Die Art, wie er es sagte, duldete keinen Widerspruch.
Das Blut rauschte in Zamorras Ohren. Weshalb hatte sich der Ministerpräsident gegen ihn gestellt? Warum forderte er Merlin auf, ihn zu töten? Merlin, den er nicht kannte und der ihm doch so vertraut vorkam. Aus welchem Grund befahl er nicht Zamorra, seinen Gegner zu vernichten? Hatte er die Gunst des Herrschers verloren? Verbittert blickte er zur Loge des Herrschers hoch. Calderone lachte hämisch, und die soeben zurückgekehrte Stygia freute sich ebenfalls. Wieso denke ich etwas so Irres?, fragte er sich. Seit wann waren die beiden höchsten der Höllenhierarchie seine Herren? Sie sind die Höchsten!, rief eine Stimme in ihm. Du musst ihnen gehorchen. Irritiert stieg er über einen vernichteten Knochenkrieger. Welcher Stimme sollte er bloß gehorchen? ›Der Stimme der Vernunft‹, mischte sich jemand in seine Gedanken ein. Zamorra zuckte bei der telepathischen Botschaft zusammen. ›Du bist keines Herren Knecht. Versuche, gegen die Beeinflussung anzugehen. Führe nur Scheinattacken gegen Merlin.‹ »Weshalb sollte ich?«, knurrte Zamorra, während er und der Zauberer sich belauerten wie zwei Boxer, die sich im Ring gegenüberstanden. Und irgendwie war es dieselbe Situation. Mit einem Unterschied: Hier waren Sieger und Verlierer gleich. Beide würden nach dem Ende des Kampfes das Leben verlieren. ›Vertraue mir‹, bat die Telepathiestimme. ›Es ist unsere einzige Gelegenheit zum Überleben.‹ »Dabei ist doch gerade das Überleben verboten!«, murmelte Zamorra. »Außerdem sagte ich schon einmal, dass ich nicht beeinflusst wurde.« »Du riesengroßer Narr!«, bellte Merlin. Zamorra blickte ihn er-
staunt an. War er der Urheber der Gedankenbotschaft? »Was ist los? Wollt ihr wohl anfangen zu kämpfen?«, brüllte Calderone. Langsam wurde er ungeduldig. »Verdammte Drecksbrut.« »Ich höre und gehorche«, sagte Merlin mit weithin tönender Stimme die uralte Floskel; er drehte sich um und jagte mit ungeheurer Geschwindigkeit auf Zamorra zu. In letzter Sekunde konnte der Dämonenjäger ausweichen. Er trat Merlin mit dem Knie in die Seite. Der Druide verlor das Gleichgewicht und stürzte zu Boden. Gleich darauf rappelte er sich wieder auf. Er blickte Zamorra erbost an. ›Das war keine Scheinattacke‹, grollte er. Laut sagte er: »Du bist ein größerer Idiot, als ich dachte.« Zamorra griff mit bloßen Händen an. Er war ein Meister der Selbstverteidigung, doch Merlin blockte jeden Schlag und jeden Fußtritt ab, als habe er seit Jahren nichts anderes gemacht. Er griff sogar selbst an und brachte Zamorra in Bedrängnis. Der Parapsychologe blieb an Merlins Gürtel hängen. Beim Versuch, sich zu befreien, riss er den Gürtel ein. Merlin riss daraufhin seinen Arm hoch und schlug Zamorra den Ellenbogen ins Gesicht. Zamorra stolperte rückwärts und fiel rücklings hin. Merlin stellte einen Fuß auf Zamorras Brust. Er legte sein volles Gewicht hinein. »Ich sagte doch, dass du ein Narr bist!«, zischte er. Zamorra griff nach Merlins Fuß; er versuchte, ihn durch eine Drehbewegung zu verletzen. Doch der Zauberer sprang einen Schritt zurück. Er öffnete den Gürtel und warf ihn weg. Dass sich die Sichel in einer Falte seiner Kutte befand, sah niemand. Das Publikum johlte. Das war genau, was sie sehen wollten. Die Feinde der Hölle löschten sich selbst aus. Keiner hätte gedacht, dass Merlin Zamorra in die Enge drängen konnte. Rico Calderone schürzte die Lippen. Gleich war er am Ziel angekommen. Die Vernichtung beider Höllenfeinde stand kurz bevor. Aber sein größter Triumph sollte jetzt erfolgen: Er würde sie zwin-
gen, sich gegenseitig zu töten. »Moment noch!«, unterbrach er den Kampf. »Das war nur das Dessert, aber gleich gibt es das Hauptgericht.« Er warf zwei Flammenpeitschen hinunter in die Arena. Dabei passte er auf, dass er die Enden der Peitschenschnüre nicht berührte. Sogar er wäre nicht gegen einen kurzen, schmerzhaften Todeskampf gefeit. Und er wollte noch sehr lange das Oberhaupt der schwarzen Familie bleiben. »Jeder, der die Peitschenschnur berührt, stirbt«, lachte Calderone meckernd. »Und ihr wollt mich doch nicht enttäuschen …« Zamorra stand mit dem Rücken zu Merlin. Er griff wie in Trance nach dem Peitschengriff. Merlin berührte ihn einmal kurz mit der Hand am Genick. Zamorra drehte sich um und blickte den Druidenkönig erstaunt an. Mit einem Mal fühlte er sich wie erschlagen. Sämtliche Kraft schien aus seinem Körper gewichen. Er schüttelte den Kopf. »Das gibt es doch nicht«, murmelte er mit kratziger Stimme. Er schloss und öffnete die Augen in schnellem Wechsel. »Wehr dich!«, rief Merlin, als er die Peitsche schwang und gegen Zamorra vorstieß. Mit letzter Kraft warf sich der Dämonenjäger zur Seite. Er ließ seinerseits die Peitsche knallen. Aber Merlin reagierte albtraumhaft schnell. Er wich noch nicht einmal aus. Er schwang die Peitsche nur zur Seite und ließ beide Peitschenschnüre sich regelrecht umarmen. Dann zog er seine Schlagwaffe mit aller Kraft zurück. Zamorra duckte sich, als nun beide Schnüre über ihm durch die Luft pfiffen. Er wälzte sich zur Seite, um der Reichweite zu entkommen. Sein rotes Hemd war bis zum Bauch geöffnet. Merlin sprang blitzschnell vor und trat ihm gegen den Brustkorb. Zamorra hielt die rechte Hand gegen die Brust gepresst. Die Linke erhob er, als wollte er Merlin abwehren. In diesem Augenblick geschah etwas Unglaubliches. Eine silberne, handtellergroße Scheibe, die an einer Kette hing, befand sich wieder vor seiner Brust. »Seht nur, er trägt wieder das Amulett!«, brüllte einer der Dämo-
nen. »Das Medaillon des Todes!«, rief ein anderer. »Es wird uns vernichten!« Rico Calderone erhob sich aus seinem Sitz. Er wollte es nicht glauben. »Wo kommt Merlins Stern her?«, herrschte er seine Untergebenen an, doch keiner konnte ihm darauf Antwort geben. Merlin warf die Peitschen weg. Er hob beide Hände und wob magische Zeichen in die Luft. Blaue Blitze zuckten aus seinen Fingerspitzen und hüllten Zamorra ein …
8. Drachenfeuer � »Auch vom Feind kommt häufig ein guter Rat.« (Aristophanes, 445 – 385 v. Chr., griechischer Dichter)
Blaue Blitze zuckten aus Merlins Fingerspitzen und hüllten Zamora ein. Der Dämonenjäger wälzte sich auf dem steinigen Boden der Arena. Seine linke Hand war immer noch zum Schutz erhoben, doch es half ihm nichts. Merlins Zauber war stärker. Er durchbrach die mentale Beeinflussung um Zamorra und ließ sie mit einem Schlag verschwinden. »Auf sie!«, schrie Rico Calderone in der Loge. »Ihr müsst sie vernichten.« Zögernd setzten sich seine Krieger in Bewegung. Die Angst vor dem Zorn ihres Herren auf der einen Seite und vor den tödlichen Fähigkeiten des sagenumwobenen Amuletts auf der anderen Seite hielt sich die Waage. Zamorra stützte sich mit den Händen ab und erhob sich langsam. »Was ist passiert?«, fragte er irritiert. Seine letzte bewusste Erinnerung war die ihrer Ankunft. »Später!«, zischte Merlin. Er deutete auf die am Boden liegenden, ineinander verschlungenen Flammenpeitschen. »Nimm eine davon und tu so, als achtetest du besonders auf das Ende der Schnur«, forderte er. »Das weiß ich«, erwiderte Zamorra. »Flammenpeitschen …« »Du sollst nur so tun als ob und trotzdem gegen mich kämpfen«, grollte Merlin. »Vertrau mir!« Zamorra blickte erstaunt auf seine Brust. Dort baumelte das Medaillon der Macht, als wäre es vor ihrer Abreise nicht von Nicole Duval gerufen worden. »Ich habe das Amulett doch gar nicht mitgenommen«, staunte er.
»Woher …« Als er Merlins Stern berühren wollte, griff er hindurch, als bestünde es aus zähflüssiger Gelatine. Das Amulett war nur halb stofflich. Er blickte sein Gegenüber auffordernd an. Merlin bückte sich und nahm einen Peitschengriff auf. Zamorra tat es ihm gleich. Die ineinander verwickelten Schnüre glommen blau auf. Als beide Männer an den Griffen zogen, entwirrte sich das Knäuel. »Und jetzt kämpfe!«, forderte Merlin, und er holte weit aus. Die Peitsche pfiff durch die Luft. Die erste Hundertschaft Krieger hielt am Rand des Kampffeldes an, als sie sahen, dass die Männer den Kampf wieder aufnahmen. »Worauf wartet ihr?«, wollte Calderone von seinen Leuten wissen. »Greift an!« »Aber Herr, sie kämpfen doch gegeneinander«, antwortete einer der Höllenknechte. »Und sie sollen sich doch erst töten.« Calderone blickte unschlüssig zu Stygia. Die Dämonin zuckte die Schultern. »Deine Entscheidung«, murmelte sie. Er trug die Verantwortung, und wenn etwas schief ging, war es umso besser für sie. »Lasst sie erst weiterkämpfen«, befahl Calderone. Zamorra duckte sich, kurz bevor ihn die Schnur erreichte. Er rollte sich zur Seite und stand gleich wieder auf. Da fegte Merlins Peitsche ein zweites Mal heran. Zamorra konnte sich nur durch einen Sprung nach hinten retten. »Bist du wahnsinnig?«, herrschte er den König der Druiden an. »Du machst ja Ernst.« »Und genau das sollst auch du«, empfahl ihm Merlin. Er drehte sich um die eigene Achse und ließ die Schnur eine Handbreit über dem Boden schweben. Zamorra sprang in die Höhe. Als er wieder stand, setzte er seine Waffe ein. Er holte aus und verfehlte Merlin nur knapp. »Na also«, sagte der Zauberer. »Warum nicht gleich so?« Zamorra ließ einen weiteren Peitschenschlag folgen. Merlin schlug so genau, dass sich beide Schnüre verfingen. Er legte alle Kraft in eine Rückwärtsbewegung und riss Zamorra mit vor.
Der Dämonenjäger landete im Sand. Er blickte seinen Kontrahenten kopfschüttelnd an. Nie hätte er gedacht, dass der besser im Kampf wäre als er. »Jetzt ist keine Zeit zum Ausruhen«, lachte Merlin Ambrosius. Er deutete auf Zamorras Waffe. »Weiter.« Zamorra stand auf und erhob wieder die Waffe gegen seinen Rivalen. Er traf ihn am Rand seiner Kutte. Das Dämonenpublikum schrie auf. Die Zuschauer hatten schon mit einem Volltreffer gerechnet. Die Enttäuschung eines kurzen Kampfes wollten sie nicht erleben. »Gar nicht schlecht«, murmelte Merlin und holte seinerseits aus. Sein Hieb streifte Zamorra an der Brust. Grimmiger Schmerz durchfuhr den Dämonenjäger. Er blickte ungläubig auf die blutende rote Furche, die unterhalb des Amuletts zu sehen war. »Er wurde getroffen!«, riefen einige der Dämonen enttäuscht. »Verdammt noch mal! Mach weiter und triff mich!«, befahl Merlin mit kehliger Stimme. Er schwenkte die Peitsche über seinem Kopf und stolzierte um Zamorra herum. Sein Triumph war unübersehbar. Er drehte seinem Gegner die Rückseite zu und forderte mehr Beifall vom Publikum. Unter normalen Umständen hätte er einen drittklassigen Schauspieler abgegeben, doch die Dämonen nahmen ihm die Pose ab. Zamorra geriet ob der großen Schmerzen in Rage. Er holte aus und schlug den Zauberer mit der Peitsche auf den Rücken. Merlin knickte in den Knien ein und ließ die Schlagwaffe fallen. Die Dämonen machten ihrer Enttäuschung lautstark Luft. Sollte das so groß angekündigte Spektakel schon vorbei sein? Zamorra ließ seine Peitschenschnur mehrere Male provozierend in der Luft knallen. Es hallte weithin durch die Arena. Merlin brauchte drei Anläufe, ehe er wieder aufstand. Eigenartigerweise wirkte er fit; er machte auf Zamorra nicht den Eindruck eines Angeschlagenen. Der Zauberer von Avalon holte seine Waffe. Er lächelte Zamorra zu. »Warum verbrennen die nicht?«, brüllte ein Dämon so laut, dass
es jeder hören musste. »Ja, warum nicht?«, echote Zamorra. Merlin gab keine Antwort, er grinste nur. Stattdessen holte er fast ansatzlos aus und streifte Zamorra am Ärmel. Fast hätte der Professor die Peitsche fallen gelassen. Er rannte einige Schritte auf sein Gegenüber zu und traf ihn mit der Flammenpeitsche voll am Oberkörper. Merlin schrie auf, er sackte etwas nach vorne. Dabei hielt er eine Hand gegen die Brust gepresst. Mit der anderen Hand lenkte er die Peitschenschnur so, dass sie das halb stoffliche Amulett traf. Der Schnellverschluss löste sich von Zamorras Hals. Merlins Stern fiel auf den Boden. Merlin landete einen weiteren Peitschenhieb, und das Medaillon der Macht explodierte.
Ein zustimmendes Brüllen ließ den Kampfplatz erzittern. Das Medaillon der Macht war zerstört. Professor Zamorra war seiner stärksten und gnadenlosesten Waffe beraubt. Endlich mussten die Schwarzblütigen keine Angst mehr davor haben, von Merlins Meisterwerk zerstört zu werden. In den Aufruhr hinein, nachdem Merlins Stern explodiert war, materialisierten Asmodis, Seanzaara und Rallant in der Arena, keine dreißig Meter von den Kämpfenden entfernt. Der Ex-Dämon verständigte sich telepathisch mit seinem Bruder. Innerhalb von Sekunden war er in groben Zügen über die Ereignisse informiert. Rico Calderone überwand seinen Schreck als Erster. Sofort befahl er seinen Untergebenen, die fünf Personen zu töten. Dass er damit seine ohnehin wackelige Position untergrub, ahnte er in diesem Augenblick nicht. Anders wäre es gewesen, hätte er die Höllendiener angeführt, gegen seine Feinde gekämpft und sie besiegt. So wie es seinem selbstgewählten Status entsprach. Asmodis und seine Begleiter wurden mit Steinen beworfen. Seanzaara und Rallant liefen Merlin entgegen, um den Geschossen auszuweichen.
»Wir dürfen nicht von der Para-Spur fort!«, rief Asmodis. »Dort vorne sind wir verloren.« Doch seine Begleiter hörten nicht auf ihn. Die Höllenknechte postierten sich so vor die Para-Spur, dass niemand entkommen konnte. Asmodis wob ein magisches Netz und warf es über die Bewacher der Spur. Blitze zuckten über ihre Körper. Sie warfen sich schreiend auf den Boden. Ein Haufen verbranntes Fleisch war alles, was von ihnen übrig blieb. Während die Wächter starben, schickte Calderone Nachschub aus seinem schier unerschöpflichen Reservoir an Dienern. Dieser Trupp war dreimal so zahlreich wie der erste. Sie verteilten sich um Asmodis herum. Der ehemalige Fürst der Finsternis stampfte mit dem Fuß auf, drehte sich dreimal um sich selbst und teleportierte sich in den Rücken seiner Feinde. Von dort begann er erneut, sein tödliches Netz zu weben, obwohl er wusste, dass sie zu fünft keine Chance gegen die Übermacht hatten. Aber kampflos würde er sich nie ergeben. Auch dieser Trupp verbrannte qualvoll. Gellende Schmerzensschreie erfüllten die Arena. Asmodis kämpfte Rücken an Rücken mit seinen Gefährten. »So tief haben wir noch nie in der Scheiße gesteckt«, keuchte Zamorra. »Wir sind zur falschen Zeit angekommen«, behauptete Asmodis. »Ihr hättet überhaupt nicht herkommen dürfen«, stellte Merlin klar. »Ihr habt nämlich meinen ganzen Plan vermasselt.« Seanzaara glaubte, sich verhört zu haben. »Wir haben uns den Hintern aufgerissen, um euch zu finden, und das soll alles umsonst gewesen sein?«, fragte sie erbost. »Und als Dankeschön verrecken wir gegen diese Übermacht.« »Ich habe euch nicht gebeten zu kommen«, entgegnete der Magier von Avalon. Er wandte sich an seinen unfreiwilligen Begleiter. »Zamorra, der Schutzzauber ist aufgehoben. Du kannst deine Waffe wieder richtig benutzen.« Er wehrte einen Angreifer mit seiner Flammenpeitsche ab. Seine
Mitstreiter hatten genug damit zu tun, sich die Gegner vom Leib zu halten. Dank der großen Magie von Merlin und Asmodis klappte das auch bis jetzt. Aber es war abzusehen, wann die Überzahl der Feinde sie besiegen würde. Auch Zamorra setzte unaufhörlich seine Flammenpeitsche mit Erfolg ein. Ihm schmerzte schon bald der Oberarm vom ständigen Ausholen. Und dabei musste er noch aufpassen, dass er keinen seiner Gefährten damit berührte. Rallant schnappte sich das Mordinstrument eines gefallenen Knochenkriegers. Es handelte sich um eine morgensternähnliche Waffe. Der Tonkan sprang vor, schlug mit dem Morgenstern um sich und zog sich dann ebenso schnell und erfolgreich wie ein Guerillakämpfer wieder zurück. Seanzaara konzentrierte sich auf den Dhyarra, der immer noch in ihrem Oberkörper steckte. Mit den Kräften des Sternensteins erschuf sie eine Energiewand, die sie ihren Todfeinden entgegenrasen ließ. Die vorderen Krieger trugen schlimme Verbrennungen davon; ihre Hinterleute warfen sich zu Boden, bis sich die Energiewand auflöste. »Verdammt, ich brauche Seelen-Tränen!«, fluchte die k'oandarische Hexe. »Das kostet mich zu viel Kraft.« »Ich kann dir keine herbeizaubern!«, knurrte Asmodis. Er warf seine künstliche Hand einen Gedanken weit und erwürgte damit einen Dämonendiener. Dann kehrte die Hand wieder zu ihm zurück. Er sandte die Prothese ein weiteres Mal aus, hob einen Angreifer fünf Meter in die Höhe und ließ ihn dann auf seine Kameraden fallen. »Das weiß ich auch, du Blödmann«, antwortete Seanzaara. »Fooly!«, stieß Rallant hastig hervor. »Und Keanor und Nicole. Die haben wir total vergessen.« »Was ist mit denen?«, erkundigte sich Merlin. »Die wollen doch nachkommen«, erklärte Rallant. »Ist mir gerade eingefallen.« »Was sagst du da?« Zamorra starrte den Schwarzelfen voller Entsetzen an. »Nicole will auch kommen?«
»Aber klar doch«, antwortete Rallant. Zamorra musste sich gegen zwei Angreifer wehren, er hörte nicht, was der Tonkan sagte. Ein dritter Höllendiener griff Zamorra mit einem Knochenschwert an. Asmodis warf seine rechte Hand und trennte dem Angreifer den Schlagarm von der Schulter. Der Dämon blickte zuerst erstaunt auf die riesige Wunde. Schwarzes Blut sickerte daraus hervor. Er war nicht fähig, seine Selbstheilungskräfte zu aktivieren. Erst als er begriff, welch unersetzlichen Verlust er gerade erlitten hatte, begann er vor Schmerz zu brüllen. »Stell dich nicht so an«, zischte Asmodis und zeigte dem Gegner seinen Armstumpf. »Du siehst doch, dass man es überleben kann.« Dann kehrte die künstliche Hand wieder an ihren Platz an Asmodis' Handgelenk zurück. Der Ex-Teufel vernichtete den schwer verwundeten Dämon mittels eines Zaubers. Rallant hatte Pech. Bei einem seiner Guerillavorstöße erhielt er einen Keulenschlag gegen den Rücken. Der Tonkan brach, ohne einen Laut von sich zu geben, zusammen. Die Knochenkrieger trampelten teilnahmslos über ihn hinweg. Seanzaara schnappte sich seinen Morgenstern und wehrte sich mit allen Kräften mit dem martialischen Mordinstrument. Die Höllenkrieger, die sie aufgrund ihrer Körpergröße als schwächlich einstuften, wurden schnell eines Besseren belehrt. Die Hexe tobte wie eine Berserkerin unter den Angreifern. Und trotzdem konnte auch sie das Ende nur hinauszögern, aber nicht verhindern. »Das halten wir nicht mehr lange durch!«, rief sie Asmodis zwischen zwei Schlägen zu. »Was können wir unternehmen?« »Da gibt es nur eins«, meinte der dunkle Bruder. »Wir müssen versuchen, an ihre Befehlshaber zu gelangen.« Er blickte hoch zur Empore des Herrschers, doch Rico Calderone befand sich nicht mehr dort.
LUZIFERS Ministerpräsident versetzte sich mittels Teleport in die Katakomben der Arena. Er war sicher, dass seine Diener die An-
kömmlinge innerhalb kürzester Zeit töten würden. Die Übermacht war einfach zu groß, dem hatten sie nichts entgegenzusetzen. Doch bevor sie starben, wollte Calderone ihnen noch zeigen, dass er D'Halas Seelen-Tränen besaß. Auf die dummen Gesichter freute er sich schon jetzt. Dass dabei viele Hundert seiner eigenen Leute ums Leben kamen, störte Rico Calderone nicht. Die Starken überlebten, und wer starb, hatte es nicht besser verdient. Für die Gefallenen gab es tausendfach Ersatz. Er hetzte durch einen Gang, den die gemeinen Höllendiener nie durchschreiten konnten. Ein gewisses Level an Magie war dazu vonnöten. Düsteres Zwielicht herrschte vor, aber das machte Calderone nichts aus. Er fand sich auch in finsterster Dunkelheit zurecht. Ganz in der Nähe hatte er Merlin und Zamorra behandelt. Dabei hatte er sich nicht nur auf seine Fähigkeiten verlassen. Zamorra galt als nicht hypnotisierbar, und an Merlin hätten sich sowohl Calderone als auch Stygia die Zähne ausgebissen. Doch es gab etwas, das er gleich nach dem Auffinden dieser Welt entdeckt hatte. Das Geheimnis lag an der Außenwand der Arena. Die ehemaligen, schon vor vielen Jahren ausgestorbenen Erbauer dieses Stadions der Superlative hatten ein Element verwendet, das als Magieverstärker diente. Aus diesem Grund war die Arena auch besser als die Hölle für einen Kampf geeignet. Natürlich hatte Calderone das, ohne zu zögern, ausgenutzt. Seit Merlins Stern vernichtet war, hatte er eine Veränderung bemerkt. Das Magie verstärkende Element schien mit jeder Minute schwächer zu werden. Um den Willen seiner Feinde total zu brechen, musste er zu D'Halas Tränen greifen. Zwar hatte er keine Ahnung, wie er die k'oandarischen Magiemittel nutzen konnte, aber wenn Zamorra und seine Gefährten sahen, dass er die Tränen besaß, würden sie kaum mehr weiterkämpfen können. Die unbekannten Erbauer hatten dafür gesorgt, dass die Stadionmitte genau am Endpunkt der Para-Spur errichtet wurde. Umfas-
sende Kenntnisse waren dafür nötig. Also mussten schon vor Tausenden von Jahren Kämpfe gegen magiebegabte Wesen stattgefunden haben. Der Aufbewahrungsraum für die Tränen war durch eine Energieschranke gesichert. Aus diesem Grund hatte Calderone sich nicht direkt in den Raum versetzt. Er deaktivierte die Energiewand und trat ein. »Was suchst du denn hier?«, schnauzte er Taronn an. »Warum befindest du dich nicht auf dem Kampffeld?« »Ich soll auf unsere Beute aufpassen«, krächzte Taronn. Sie war mindestens ebenso überrascht wie Calderone. »Du meinst wohl meine Beute«, verbesserte der Herrscher der Hölle. »Sie gehört euch nicht.« Taronn blickte ihn auffallend lange an, ehe sie antwortete: »Jawohl, Herr.« Calderone streckte die Hand aus. Taronn übergab ihm langsam die blutbesudelte Tasche aus Lakxaleder. Er griff hinein und berührte eine der Tränen. Sie fühlte sich warm und weich an. Er glaubte, ein Wispern zu vernehmen. K'oandar … zurück … Mauer der Schmerzen … Er zog die Hand weg, und die Stimme in seinem Geist erstarb. »Was für ein Blödsinn«, murmelte er mit spöttischem Gesichtsausdruck. »Aber die Bezeichnung Mauer der Schmerzen gefällt mir. Schmerzen sollt auch ihr erleiden. Selbst lange nach eurem Tod.« In den Tümpeln der brennenden Seelen, fügte er in Gedanken hinzu. »Hoch mit dir!«, forderte er Taronn auf. »Du sollst sehen, wie unsere Feinde sterben.« Taronn wagte nicht, gegen seinen Befehl aufzumucken. Sie kannte seine Launenhaftigkeit zur Genüge. Wieder auf der Empore angekommen, bot sich ihnen ein anderes, erschreckenderes Bild als vorher. Drei weitere Wesen waren während Calderones Abwesenheit angekommen. Sie kämpften gemeinsam mit Zamorra und seinen Gefährten gegen die Höllentruppen. Eine dunkelblonde Frau in einem schwarzen Kampfanzug. Sie be-
nutzte eine Strahlwaffe gegen ihre Gegner. Eine blonde Frau in einer Korsage. Ihr Stock verschoss Energiesalven. Und ein ungemein fetter Jungdrache …
»Was soll das bedeuten?«, brüllte Calderone Stygia an. »Was suchen Nicole Duval und die beiden Figuren hier?« »Sie kamen kurz nach deinem Verschwinden an«, antwortete die Fürstin der Finsternis. »Und die zweite Frage kannst du dir bestimmt selbst beantworten.« »Was ist das?« Mit großen Augen sah er, wie Zamorra eine Hand hob und eine silberne Scheibe, die Nicole um den Hals trug, rief. Einen Wimpernschlag später hielt er das Amulett in der Hand. Ein grünlich wabernder Energieschirm legte sich über Zamorra. Silberne Blitze zuckten wie Hammerschläge aus dem Amulett heraus auf die Höllenknechte zu. »Das ist doch … Merlins Stern!« Er wollte es einfach nicht glauben. »Dieser gerissene Fuchs«, sagte Stygia anerkennend. »Er hat uns nur geblufft.« »Was meinst du damit?« Calderones Augen waren mit einem Mal blutunterlaufen. »Es muss ihm irgendwie gelungen sein, das Medaillon der Macht für kurze Zeit zu kopieren und uns damit reinzulegen«, legte Stygia ihre Überlegung dar. »Und er hat uns doppelt genarrt, denn die Magie verstärkende Komponente um die Arena ist seit der Explosion von Merlins Stern verschwunden.« Calderone blickte sie an, als hätte ihn der Wahnsinn gepackt. »Das bedeutet, dass er seinen freien Willen wiederhat!«, schrie er so laut, dass er selbst auf der entgegengesetzten Seite der Arena zu hören war. Für wenige Sekunden hörten die Kämpfenden auf, sich gegenseitig zu bekriegen. Sie blickten dorthin, woher der Schrei gekommen war.
Calderone peitschte seine Horden erbarmungslos nach vorn. Sie kämpften erbitterter als zuvor. Scharenweise fielen sie, aber das war ein geringer Preis, den zu zahlen er bereit war. Das niedere Gezücht konnte er zahlenmäßig jederzeit wieder aufstocken. Unten in der Arena spitzte sich die Lage zu. Derwische, Höllenknechte und Knochenkrieger rotteten sich zusammen und bewarfen die Feinde mit schweren Steinen. Auf diese Weise hofften sie, zu einem schnellen Erfolg zu kommen. »Die Seelen-Tränen!«, stieß Seanzaara hervor. »Sid, ich kann sie wieder fühlen.« »Wo?« Das war Asmodis. Seine tödliche Prothese kehrte gerade wieder ans Handgelenk zurück. »Oben auf der Empore.« Asmodis packte sie am Arm und versetzte sich in den Teleport. Auf der Empore angekommen, standen sie Rico Calderone und Taronn gegenüber. Stygia hatte sich kurz zuvor nach unten versetzt, um den Anführern der Höllenhorden mit Drohungen einzuheizen. Die oberen Dämonen hatten es angesichts der veränderten Lage vorgezogen, wieder zu verschwinden, ehe sie Schaden erlitten. »Wen haben wir denn da?«, höhnte Calderone. »Den größten Verräter, den die Hölle jemals hatte.« »Du musst es ja wissen«, konterte Asmodis. »Du befindest dich ja schon seit sehr langer Zeit in den Höllenklüften.« »Lange genug, um höher aufzusteigen, als du jemals warst«, lachte Calderone. »Das liegt daran, dass deine Vorgänger um Klassen besser waren als du.« Asmodis achtete genau auf Calderones Reaktion. Er wollte sich auf keinen Fall überraschen lassen. »Ich gebe dir einen guten Rat: Verschwinde, so schnell du kannst!« Asmodis' dunkle Augen funkelten gefährlich. »Der Drache!«, krächzte Taronn und zeigte auf die kleine Gruppe unter dem grünlich wabernden Energieschirm. »Er speit Feuer!« Calderone wollte es nicht glauben. Er hatte sich schon so nahe am totalen Triumph über die Todfeinde der Hölle befunden. Und dieser Erfolg sollte ins Wanken geraten?
»Nein!« Er knirschte mit den Zähnen. »Auf keinen Fall.« »Ich will mein Eigentum zurück!«, forderte Seanzaara. »Und zwar sofort.« »Hier hat nur einer etwas zu wollen«, grollte Calderone. »Das bin ich. Ihr aber seid verloren.« Statt einer Antwort wob Asmodis ein Energienetz um den Ministerpräsident der Hölle. Calderone parierte die Aktion ohne große Schwierigkeit. Das Netz hielt sich wenige Sekunden, dann zerfiel es. Nun wusste Merlins dunkler Bruder die Kraft seines Feindes in etwa einzuschätzen. »Da musst du schon mit etwas Stärkerem kommen, Verräter«, zischte Calderone. Er griff in die Umhängetasche aus Lakxaleder. Langsam holte er etwas heraus. »Seht mal, was ich besitze«, lachte er. Er hielt eine Seelen-Träne in der Hand. Seanzaara kniff beide Augen zusammen. Sie konnte sich nur mit Mühe beherrschen. Auf der einen Seite wollte sie Calderone am liebsten den Hals umdrehen. Auf der anderen Seite blieb die Sorge um die kämpfenden Gefährten. Und ob Rallant noch lebte, wussten sie noch nicht. Sie blickte Asmodis fragend an. Der Ex-Teufel schloss einmal kurz die Augen. Calderone bemerkte die stille Verständigung zwischen beiden. Er ließ die Umhängetasche fallen. Als er sah, dass Seanzaara sich auf die freie Seelen-Träne konzentrierte, warf er sie der hinter ihm stehenden Taronn in die geöffneten Hände. In diesem Augenblick explodierte D'Halas Träne. Haut und Inhalt des k'oandarischen Magiemittels saugten sich an Taronns Gesicht so schnell fest, dass keine Gegenwehr möglich war. Die hagere Frau schrie gellend auf. »Haak N'ell, quo saran …« Zuerst mit brüchiger Stimme, dann mit jedem Wort lauter werdend, zitierte Seanzaara den uralten caltarischen Zauberspruch, der Seelen binden sollte. Dann überlegte sie es sich anders: »… al oahn … ay arrahm … ashan krtu Norr …« Rico Calderone warf mehrere Feuerbälle auf Asmodis und Sean-
zaara, während die k'oandarische Hexe ihren Zauberspruch zitierte. Asmodis wehrte die tödlichen Feuerkugeln ohne große Schwierigkeiten ab. Taronns Schreien ging in ein heiseres Gurgeln über. Sie litt erkennbar unter Atemnot, doch keiner dachte daran, ihr zu helfen. Rico Calderone schon gar nicht. Und trotzdem erschrak er, als er kurz in Taronns Gesicht blickte, oder besser in das, was davon übrig geblieben war. Ihm schien, als würde er bei diesem Anblick den Verstand verlieren. Dort, wo sich Taronns Gesicht befunden hatte, existierte nun eine wirbelnde, gelbweiße Masse, die keine Sekunde stillzustehen schien und die sich unaufhörlich zusammenzog und entspannte wie ein schlagendes Herz. Augen, Nase oder Mund waren nicht mehr auszumachen. »Hilf mir!«, krächzte Taronn, so laut sie konnte. Seanzaara hob die Oberlippe etwas und zischte durch die Zähne; das war das caltarische Äquivalent des Kopfschüttelns. »Ich denke nicht daran, An'Taronn«, fauchte sie ihre Kontrahentin an. Die Vorsilbe An' war eine caltarische Bezeichnung für Überlebende der Gesichtslosenfolter. Sie blickte auf Calderone, der sich verzweifelt gegen Asmodis wehrte. »Und jetzt zu dir, mein Schatz.« Rico Calderone erstarrte für eine Sekunde. Dann versetzte er sich in den Teleport und verschwand.
Er landete bei Stygia, die den Angriff koordinierte. Sie hatte einen schweren Stand, seit ihre Untergebenen wussten, dass Zamorra das Medaillon der Macht wieder besaß. »Wo bleibst du nur?«, fauchte sie ihn an. »Du musst ein Zeichen deiner Macht geben.« »Das sehe ich selbst«, gab er in ebenso bösem Tonfall zurück. Sie blickte ihn scharf an. »Und warum unternimmst du nichts dagegen?« »Ich bin der Herrscher und bestimme, was geschieht«, antwortete er in unvergleichlicher Arroganz.
»Schöner Herrscher, dessen Zeit bald abgelaufen ist«, getraute sie sich zu sagen. »Halte dich zurück, Weibchen.« Eine von Fooly ausgestoßene Feuerlohe huschte über ihre Köpfe hinweg. Calderone und Stygia konnten sich noch rechtzeitig ducken. »Töte den Drachen«, verlangte Satans Ministerpräsident. Stygia stand stocksteif da. Sie bemerkte wohl, was er mit diesem Befehl bezweckte. Entweder würde sie bei dem Kampf sterben oder der Jungdrache. »Weshalb machst du das nicht selbst?« »Weil ich der rechtmäßige Herrscher bin. Der Herrscher befiehlt, die Gefolgsleute gehorchen.« Eine zweite, weitaus stärkere Feuerflut zwang sie zur Flucht. Fooly erhob sich seinen Stummelflügeln zum Trotz in die Luft. Der Drache konnte fliegen, obwohl seine Flügel eigentlich zu klein waren, um sein Übergewicht zu tragen. Dazu benutzte er seine Drachenmagie. Er flog zur Empore. Asmodis und Seanzaara waren mittlerweile wieder zu ihren Gefährten zurückgekehrt, so dass Fooly auf einen Tipp von Merlin hin freie Bahn für sein Unterfangen hatte. Bei der Empore angekommen, begann er, unlöschbares Feuer zu speien. Sofort flackerten hohe Flammen gen Himmel. Nicht nur Holz und Stoff brannten, sondern auch die Steine. Dann erhob er sich erneut und flog die gesamte Arena ab. Er setzte das ehemals Magie verstärkende Element in Brand, das sich rund um das Stadion zog. Wie an einer überdimensionalen Zündschnur zog sich das Drachenfeuer in Windeseile um das Äußere des riesigen Gebäudes. Die mannsdicken Wände brannten lichterloh von oben nach unten. Das dämonische Publikum auf den Rängen brachte sich durch Öffnung von Weltentoren zur Hölle in Sicherheit. Durch die übergroße Angst der Dämonen vor der eigenen Vernichtung behinderten sie sich gegenseitig. Höllenknechte und Knochenkrieger gerieten in Aufruhr. Sie zeig-
ten mit den Händen auf die brennenden Wände. Zamorra und seine Gefährten hatten das Inferno ebenfalls bemerkt, aber der Kampf kostete ihre ganze Aufmerksamkeit. »Wohin können wir uns retten?«, rief Zamorra Merlin zu. Bei dem Lärm um sie herum hatte er Schwierigkeiten, sich verständlich zu machen. »Ich habe keine Ahnung«, bekannte der Zauberer. »Diese Aktion war in meinem Plan nicht enthalten.« »Schön, das zu hören.« Die Ironie in Nicole Duvals Stimme war nicht zu verkennen. »Ich wusste nicht, dass überhaupt ein Plan bestand.« »Der Herr sollte vielleicht mit uns reden, ehe er solche Unternehmungen in Angriff nimmt«, beschwerte sich Zamorra. »Hört auf damit«, befahl Asmodis. »Wichtiger ist doch, dass wir lebend von hier entkommen.« »Eine opfere ich noch«, sagte Seanzaara. Sie besaß die Umhängetasche mit den restlichen zwei Seelen-Tränen wieder. »Was meinst du damit?« Zamorra drehte sich zur Hexe um. »Ich vergeude meine Lieblinge ungern«, erläuterte Seanzaara. Zärtlich streichelte sie über die Tasche. »Aber wenn es um unser aller Leben geht, dann bleibt mir nichts anderes übrig, als eine von D'Halas Tränen zu zünden.« »Du willst wirklich …?« Rico Calderone und Stygia hetzten weiter ihre Horden auf. Die wollten schon aufgeben und aus der brennenden Arena fliehen. »Komm mit zu der Blonden!«, befahl Calderone. Sie mussten ein Exempel statuieren, damit die Höllentruppen ihnen den Gehorsam nicht versagten. Sie versetzten sich zu Keanor und griffen sie gemeinsam an. Die Halb-Caltarin wehrte sich mit den Feuerstrahlen ihres Drachenstocks nach allen Kräften, aber gegen zwei Gegner dieses Kalibers kam sie nicht an. »Dann muss ich eben beide Tränen zünden«, hauchte Seanzaara, als sie Keanors bedohliche Situation mitbekam. Sie wusste sofort, dass jedes sonstige Eingreifen zu spät kommen würde.
»Pass auf, Keanor!«, rief sie so laut sie konnte. Sie warf eine SeelenTräne zwischen Keanor und Calderone. Er wusste sofort, dass er verschwinden musste. Er gab Stygia einen so kräftigen Stoß in den Rücken, dass sie auf die Träne fiel. »Nicht!«, kreischte die Dämonin in höchstem Diskant. »Nein, Seanzaara!«, schrie auch Keanor voller Angst. Sie befand sich viel zu nah am Explosionsherd. Obwohl sie wusste, dass es keinen Zweck mehr hatte, warf sie ihre Umhängetasche weg. In der befanden sich auch noch zwei der caltarischen Magiemittel aus der Mauer der Schmerzen. Sie schaffte es nicht mehr, ihren Drachenstock wegzuwerfen. Da zündete Seanzaara die Seelen-Träne. Und die Welt ringsum versank.
Die Explosion war wie ein Weltuntergang. Die insgesamt vier Seelen-Tränen waren wie bei einer Kettenreaktion explodiert. Tausende von Höllenknechten wurden dabei getötet. Rico Calderone hatte sich rechtzeitig in Sicherheit gebracht. Auch Stygia war es irgendwie gelungen, dem Inferno zu entkommen. Die überlebenden Höllendiener folgten ihren Anführern durch die geöffneten Weltentore in Sicherheit. Die Mauern der Arena des Todes brannten immer noch. Dicker schwarzer Qualm zog über die leichenübersäte Kampfstätte hinweg. Ein leichter Wind kam auf, der die Rauchwolken hinwegtrieb. Zamorra hielt sich die Hände gegen die Seiten. Die Anstrengungen der letzten Stunden hatten ihn geschafft. Er war durchtrainiert und einiges gewohnt, aber nun musste er sich erst einmal setzen. Nicole Duval kniete vor ihrem Gefährten und drückte ihn an sich. Sie freute sich, dass ihm nichts weiter geschehen war. In ihren Gedanken hatte sie sich schon das Schlimmste ausgemalt, und fast wäre es ja auch so gekommen. Rallant war tot! Gestorben unter den Tritten der Knochenkrieger. Asmodis trauerte um den Tonkan, der ihm in vielerlei Hinsicht wie ein eigener Sohn gewesen war. Nun musste das zahlenmäßig so
kleine Volk der Schwarzelfen noch besser auf sich aufpassen. »Das wollte ich nicht«, klagte Seanzaara, als sie den Ex-Dämon leiden sah. »Was meinst du damit?« Er verstand ihre Worte nicht. »Ich sagte: Sid, egal, ob er dich Vater genannt hat oder nicht. Dafür bringe ich ihn um!« Seanzaara stockte die Stimme. »Doch seit ich ihn kennen lernte, war ich ihm nicht mehr böse.« »Aber als Keanor ihn fragte: Was würdest du dafür geben, wenn wir sie zur Rechenschaft ziehen?, antwortete er mir: Alles! Sogar mein Leben!«, warf Nicole Duval ein. »Eine grausame Ironie des Schicksals, dass sein Wunsch so erfüllt wurde.« »Keanor?«, erschrak sich Seanzaara. »Was ist mit ihr?« Ihre Beraterin war schwer verletzt. Ihr Drachenstock war bei der Explosion total zerstört worden. Dennoch suchte Seanzaara so viele Einzelteile wie nur möglich zusammen. Sie reisten über die Para-Spur zurück nach Broceliande. Dort versuchte Merlin, Keanor mit dem Wasser des Zauberbrunnens zu heilen. Erst wenn die ehemalige Geduldete wieder einigermaßen bei Kräften war, würde sie zurück nach K'oandar reisen. Rallants Überreste versanken im Boden von Broceliande. So war er selbst nach seinem Tod noch Bestandteil des Zaubergartens. »Du hast mich angelogen, als du sagtest, dass du nur eine Person mit in die Para-Spur nehmen kannst«, sagte Seanzaara, als sie abends nach der Trauerfeier für Rallant Rast bei den Tonkan machten. Sie durften die nun leere Hütte des Verstorbenen benutzen. »Ich sah, dass Keanor müde war«, verteidigte sich der Ex-Dämon. »Wenn du so willst, geschah es zu ihrem eigenen Schutz.« Die kleinwüchsige Hexe war nicht ganz mit dieser Formulierung einverstanden, aber sie wollte nicht weiter nachbohren. »Und was hatte es mit deinem tollen Plan auf sich?«, wollte Professor Zamorra von Merlin wissen. »Den wir dir angeblich verdarben«, ergänzte Nicole Duval mit ätzendem Unterton. Der uralte Zauberer räusperte sich und grinste. »Sie schafften es für kurze Zeit, Zamorras Bewusstsein zu blockie-
ren. Bei mir gelang ihnen das nicht. Ich verstellte mich und wartete auf meine Chance. Hätte ich weiße Magie benutzt, dann würde ich nicht mehr leben. So gelang es mir, während der wenigen Stunden im Kerker Zamorra mit schwarzer Magie zu impfen, was ihn gleichzeitig wieder geistig klar werden ließ.« Er nahm einen tiefen Schluck des dargebotenen Brunnenweins und hielt das Trinkgefäß sinnend vor seine Augen. »Wie kann ich mir die Impfung vorstellen?« Zamorra hob fragend beide Augenbrauen. »Doch nicht wie beim Arzt?« »Nein, ich meinte das nur sinngemäß, denn ich kann es nicht anders erklären«, bestätigte der Druidenkönig. »Ich schuf das doppelte Amulett und ließ es halb stofflich werden. Nur durch die Zerstörung des Doubles des Medaillons der Macht konntest du wieder geistig frei werden.« »Außerdem wurde dabei das Magie verstärkende Element so weit zerstört, dass es euch nicht mehr in seiner Gewalt hatte«, krähte Fooly. Der Jungdrache genoss es förmlich, dass er bedient wurde. Und das hatte er sich auch verdient. »Und weiter?«, fragte Zamorra. »Was hättest du dann gemacht?« »Die Präparation der Flammenpeitschen geht natürlich auch auf mein Konto«, lachte Merlin. »Wir wären nach unserem Kampf scheintot liegen geblieben. Und während die Knochenkrieger nachgesehen hätten, ob wir noch leben, hätte ich uns in die Para-Spur eingefädelt.« »Auf eine solch schräge Idee kannst auch nur du kommen«, erkannte Nicole Duval an. An diesem Abend tranken sie Brunnenwein bis zum Abwinken. Am nächsten Tag kehrten sie zurück zum Château Montagne.
Epilog � »Die Hoffnung ist ein viel größeres Stimulans des Lebens, als irgendein Glück.« (Friedrich Nietzsche, 1844 – 1900, deutscher Philosoph)
Als Fürstin der Finsternis durfte Stygia keine Unsicherheit zeigen. Aber warum nur hielt sie die Schultern und Flügel sowie das gehörnte Haupt schamvoll gesenkt? Schon seit Tagen durfte niemand den Thronsaal von Satans Ministerpräsident betreten. Wagte es doch ein Mitglied der schwarzen Familie, dann hatte es sein Leben verwirkt. Noch nie hatte Rico Calderone so schlechte Laune gehabt wie zurzeit. Die Niederlage auf der fremden Welt nagte an ihm mindestens ebenso wie an Stygia. Deren Vertraute Taronn hatte bei der verheerenden Explosion das Leben verloren. Sie selbst hatte sich in allerletzter Sekunde durch Öffnung eines Weltentors retten können. Das ganze Unternehmen war für die Katz, durchfuhr es sie. Das Einzige, was sie freute, war, dass Calderone die volle Verantwortung für das Desaster trug. Er konnte ausnahmsweise nichts auf seine Untergebenen abwälzen. Und auch dieses Unternehmen trug dazu bei, dass er einen immer schwereren Stand in den sieben Kreisen der Hölle hatte. Die schwarze Familie vergaß nicht, wer sie schlecht führte. Sie war die Einzige, mit der er in diesen Tagen sprach. Er würde versuchen, ihr eine Rüge zu erteilen, das wusste sie. Aber sie würde sich nicht mehr so viel gefallen lassen. Nicht nach dieser misslungenen Aktion. »Wenn du nur verreckt wärst und schon in den Tümpeln der bren-
nenden Seelen stecken würdest«, zischte sie. Geifer löste sich dabei von ihren Lippen, tropfte auf die Steine und brannte Löcher hinein. Kleine Rauchwolken stiegen daraus empor. »Welch eine Freude wäre es, deinem Gesang zu lauschen …« Sie hoffte, dass die Zeit seiner Regentschaft bald vorbei wäre. Auch für sie würde sich dann eine Menge ändern. Sie würde wieder frei sein und könnte vielleicht seinen Posten übernehmen. Stygia wusste nicht, dass ihr sehnlichster Wunsch bald in Erfüllung gehen würde. An der Spitze der Höllenhierarchie würde es schon sehr bald einen Wechsel geben. Aber nicht so, wie sie es sich erhoffte …
Vorschau � Überleben verboten! � von Werner K. Giesa und Volker Krämer �
Auf dem Sterbebett teilt Dr. Artimus van Zants Vater seinem Sohn ein Geheimnis mit, das dieser nur fragmenthaft versteht. Er redet von geheimnisvollen Unterlagen, die sein Sohn sich besorgen soll. »Meide die Vita-Kinder«, rät er ihm, »ihr dürft Euch niemals treffen …« Artimus van Zant entdeckt, dass sein Vater eine Geschichte hat, die glatte 400 Jahre in die Vergangenheit reicht. Artimus' Vater hat seinem Sohn Aufzeichnungen hinterlassen, die den auf die Spur von »Projekt Vita« bringen. Doch ohne Hilfe wird er das Rätsel nicht lösen können. Gemeinsam mit Professor Zamorra macht van Zant sich auf den Weg, denn er muss den Ort finden, an dem alles begonnen hat. Dort wartet seit Jahrhunderten das fehlende Teil eines gigantischen Puzzles auf seine Bestimmung. Und die lautet Tod und Vernichtung!