Geister-
Krimi � Nr. 330 � 330
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Vermächtnis der � Vergangenheit �
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Geister-
Krimi � Nr. 330 � 330
Tobias Grant �
Vermächtnis der � Vergangenheit �
2 �
Sie hetzten ihn wie ein wildes Tier. Jörge von Stein hastete durch den Wald. Er zitterte am ganzen Körper. Sein Atem entrang sich stoßweise den geöffneten Lippen. Schweißnaß war er und völlig fertig mit seinen Kräften. Das wußte er, und seine Verfolger holten immer mehr auf. Er hörte schon das Schnauben ihrer Pferde. Ein paar Minuten noch, dann würden sie ihn eingeholt haben. Verzweifelt blickte er sich um. Er hatte keine Chance mehr. Es war aus und vorbei. Jetzt konnte er sie schon sehen. Sie brachen durch das Unterholz. Jörge von Stein blieb abrupt stehen. Es hatte keinen Sinn mehr weiterzulaufen. Sie würden ihn ja doch kriegen. Stolz hob er seinen Kopf und sah seine Verfolger aus nachtschwarzen Augen an. Die Männer rissen kurz vor dem Adligen ihre Pferde zurück. Triumphierend blickten sie auf Jörge. In ihren Augen glitzerte Wut. »Endlich«, sagte einer von ihnen, ein stämmiger Bauer aus dem Tal. Zufrieden nickend stieg er vom Pferd. Die anderen Männer taten es ihm gleich. Sie ringten ihr Opfer ein. Jörge, der Letzte derer von Stein, riß seinen Dolch aus der Scheide. »Kommt her, wenn ihr euch traut, ihr Pack!« sagte er leise. Drohend hielt er seine messerbewehrte Hand auf die Männer gerichtet. Kampflos würde er sich nicht ergeben, dazu war er zu stolz. Er wollte aufrecht sterben. »Packt ihn!« befahl der Bauer mit harter Stimme. »Aber tötet ihn nicht.«
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*
Sechs Männer stürzten sich auf den jungen Adligen. Ein kurzes Handgemenge entstand. Einen der Männer konnte Jörge von Stein noch töten, doch dann entrissen sie ihm seine Waffe, hielten ihn fest und banden ihn. Seine Augen schienen zu lodern. Er warf seinen Kopf hin und her und spuckte ihnen ins Gesicht. Doch darüber lachten die Männer nur. Der Bauer, der sich zum Wortführer gemacht hatte, tat auf den Adligen zu. Er sah ihn lange an. »Deine Zeit ist um«, sagte er. »Du hast lange genug Unheil über uns gebracht. Von heute an wird dich niemand mehr zu fürchten haben, Jörge von Stein. Das Tribunal hat dich zum Tode verurteilt.« »Mit welchem Recht legt ihr Hand an mich« keuchte der junge Adlige. »Ich bin Jörge von Stein, and ihr seid meine Leibeigenen. Bindet mich augenblicklich los, und ich werde Nachsicht üben.« »Das Wort Nachsicht kennst du doch gar nicht«, höhnte der Bauer. »Du kannst uns keine Furcht mehr einjagen«, sprach der Bauer weiter. »Jahrelang hast du uns unterjocht. Hast uns alles genommen, was wir zum Leben brauchten. Viele von uns sind verhungert, weil du die Fron immer weiter erhöht hast. Unsere Frauen mußten dir zu Willen sein. Du bist ein Teufel, und jetzt bist du in unserer Hand, Jörge, und wir werden dich richten, so wie du es verdient hast. Frage doch die Männer, ob sie bereit wären, Gnade walten zu lassen.« Der junge Adlige erbebte vor Haß. Er sah die kalten Gesichter um sich. Die Männer bissen sich auf die Unterlippe. Irgendwie hatten 4 �
sie noch immer Furcht vor ihrem Herren, aber da er jetzt in ihrer Gewalt war, waren sie auch bereit, die Sache zu Ende zu führen. »Ihr werdet es bitter bereuen«, stieß er hervor. »Ihr könnt mich wohl töten, aber meine Rache wird euch treffen. Ich werde euch bis zum letzten Glied eurer Familien vernichten. Meine Zeit wird kommen. Oh, ihr Narren! Wie konntet ihr es nur wagen?« Von da an sagte er kein Wort mehr. Sie schleppten Jörge von Stein zu einem mächtigen Baum. Einer warf ein Seil über einen starken, knorrigen Ast, dann legten sie ihm die Schlinge um den Hals. Einige von ihnen erstarrten vor Schreck, als plötzlich ein Blitz die Baumkrone traf. Die Luft war angenehm warm, keine Wolke war zu sehen, und doch knisterte die Atmosphäre plötzlich. Jörge von Stein blickte sich noch einmal um. Der Bauer merkte, daß die Männer unschlüssig wurden. Ihm selber war auch nicht wohl in seiner Haut. Er mußte sich beeilen. »Los«, schrie er und schlug dem Pferd mit der flachen Hand kräftig auf die Kuppe. Der Bauer blickte rasch auf den jungen Adligen. Im gleichen Augenblick, als das Seil sich zuzog und Jörge von Stein das Genick brach, huschte ein Lächeln über die Gesichtszüge des Übeltäters. Die Männer wandten sich erschüttert ab. »Los«, sagte der Wortführer, »laßt uns gehen!« Schweigend schlössen sie sich ihm an. Keiner warf noch einen Blick zurück. Sie fühlten sich plötzlich schuldig, obwohl sie alle wußten, daß der Mann den Tod tausendfach verdient hatte. Aber seine Drohung bohrte sich mit grausamer Vehemenz in ihre Hirne. Am nächsten Morgen, als ein paar Tapfere nach der Leiche sehen und sie losbinden wollten, baumelte nur noch der Strick im seichten Wind. 5 �
Sie bekreuzigten sich und rannten fort von diesem Ort des Grauens. Man schrieb das Jahr 1740. Es sollte viele Jahre dauern, Jahre der Ruhe, bis Jörge von Steins Drohung erfüllt wurde. Die Nachfahren der Leute, die den Adligen gerichtet hatten, hatten keine Ahnung, was auf sie zukam. Es kam ganz plötzlich – aus heiterem Himmel, und es war fürchterlich… * Das Wetter war herrlich. Die Sonne schien, Wärme hüllte die Menschen ein, Möwen flogen kreischend durch die Azurbläue. Ralf Arius rückte sich die Sonnenbrille zurecht. Er aalte sich auf den Planken, tastete nach seinem Glas und nippte daran. Heute war so ein Tag, wie er alle zehn Jahre höchstens vorkam. Neben ihm rekelte sich Blauchen. Ralf sah sie kurz an und nickte zufrieden. Blauchen war ein junges Girl, gerade zwanzig geworden, hübsch gewachsen und ein Gesicht, welches man unentwegt anschauen konnte. Eigentlich hieß sie Petra Weiland, aber ihr Faible für die Farbe blau hatte ihr den Spitznamen eingebracht. Momentan trug sie eine blaue Bikinihose, mehr nicht. Sie wollte braun werden, hatte sie gesagt, und das war okay. Blauchen hatte einen wohlgeformten Busen. Warum also sollte sie ihn verstecken? Außerdem wußte sie nur Freunde an Bord. Ralf richtete sich auf. Das leise Summen des Chrysler Motors war dazu geeignet, einen einzulullen. Er blickte auf den Mann, der am Steuer stand. Wilfried Paschen hatte sich da ein hübsches Schiffchen zugelegt. Er konnte es sich allerdings auch leisten. Ein Viertelmeter fehlte an den 15 Metern Länge. »Dixi« nannte er den Kahn. Die 6 �
hochtourigen Motoren fraßen mehr als drei vernünftige Daimler. Eigentlich war es Blödsinn, sich in West-Berlin so eine Yacht zuzulegen, denn man konnte sie schlicht gesagt nicht einmal annähernd ausfahren. Aber vieles was Wilfried tat, war Blödsinn. Deswegen vielleicht zählte auch Ralf Arius zu einem seiner Freunde. Blauchen stützte sich jetzt ebenfalls auf. »Was ist denn los, Ralf?« »Nicht viel.« Er grinste sie an und freute sich gleichzeitig über den hübschen Anblick, den sie bot. »Ich habe nur beschlossen, dich irgendwann einmal zu heiraten.« Sie lächelte zurück. »Wenn du es wenigstens einmal ernst meinen würdest, Kleiner«, sagte sie. Der Kleine erhob sich. In seinen gestreiften Bermudashorts sah er aus wie eine Reklame für Kraftnahrung. Eins neunzig war der Kerl, braun wie Vollmilchschokolade, und hatte Schultern, denen man zutraute, daß ihr Besitzer morgens vor dem Frühstück ein schlappes Telefonbuch zerriß. Das Gesicht trug eine immerwährende Freundlichkeit. Dabei strahlten die Augen wie ein neugefülltes Gasfeuerzeug. Die Haare waren modern kurz geschnitten. Alles in allem, na ja, halt so etwas Ähnliches wie ein Frauentyp. Von Beruf war er Drehbuchautor, doch diese Tätigkeit konnte er relativ selten ausüben, denn er war fast das ganze Jahr unterwegs. Seine Auftraggeber scheuchten ihn von Einsatz zu Einsatz. Der Grüne Kreis, eine Vereinigung von menschgewordenen Dämonen, bekämpfte das Böse aus dem Schattenreich, wo immer es angetroffen wurde, und da sie nicht überall sein konnten, hatten sie auf menschliche Hilfe zurückgreifen müssen. Und einer von ihnen war Ralf Arius. Er hatte schon die haarsträubensten Dinge erlebt, und war bis7 �
lang immer mit einem blauen Auge davongekommen. Von seiner Tätigkeit wußten nur wenige. Blauchen stand jetzt auf. Sie reichte dem hünenhaften Geisterjäger gerade knapp bis unter die Schultern. Er nahm sie in den Arm, gab ihr einen flüchtigen Kuß auf ihre nach Salz schmeckenden Lippen und ging dann in die Kajüte. Wilfried Paschen hockte hinter dem Steuer. Er trank aus einer Büchse eisgekühltes Bier und ließ sich die Sonne auf den Pelz brennen. Er nickte Ralf zu. »Leg doch mal 'n Steak auf den Bräter. Ich habe Kohldampf.« »Okay«, rief Ralf nach oben, »ich werde mir auch eins mit reinhauen. Und wie ist es mit dir, Blauchen? Hast du auch Hunger?« »Danke, für mich nichts. Ich muß abnehmen.« »Wo denn, zum Teufel«, knurrte Ralf vor sich hin. So wie sie aussah, war sie gerade richtig, aber so waren anscheinend alle Frauen. Nie waren sie mit ihrem Aussehen zufrieden. Na, ihm konnte es egal sein. Er öffnete den kleinen Kühlschrank, nahm zwei herrliche Steaks heraus und stellte den Bräter an. Zwiebeln waren schon fertig geschält, und alsbald zog ein Bratenduft durch die Kajüte, daß Ralf das Wasser im Mund zusammenlief. Da er wußte, daß Wilfried sein Steak durch haben wollte, nahm er seines schon früher herunter, wetzte Messer und Gabel und sperrte den Schnabel auf, um sich ein großes Stück Steak mit knusprig braunen Zwiebeln in den Mund zu schieben, als ihm fast das Besteck aus der Hand fiel. Veel, der Dämon aus dem Grünen Kreis, stand urplötzlich vor ihm. »O nein«, stöhnte Ralf, »das ist doch nur ein Traum.« »Werden Sie nicht albern, mein Freund«, der Gnom lächelte freundlich. »Wie haben Sie mich gefunden? Ist man denn nirgends vor Ihnen und Ihresgleichen sicher?« 8 �
»In Ihrem Wagen liegen die nötigen Unterlagen, Ralf«, sagte der menschgewordene Dämon kurz und knapp, wie es meistens seine Art war. »Die Angelegenheit erfordert Ihr sofortiges Eingreifen.« »Kann ich mein Steak noch essen?« fragte Arius sauer. »Habe ich Sie schon jemals gedrängt?« Veel grinste nonchalant. »Eines Tages werde ich einen Weg finden, Sie in ein Marmeladenglas zu stopfen. Dann kommt oben ein Korken drauf und ab damit ins Meer. Dann können Sie als Flaschendämon Ihr Leben fristen, Sie unmöglicher Kerl.« »Aber vorher kümmern Sie sich noch um die Sache, ja?« »Was bleibt mir anderes übrig?« knurrte Arius wütend. »Wunderbar, bis dann!« Und weg war er. Ralf Arius schob den Teller zurück. Ihm war der Appetit restlos vergangen, und als es dann auch noch zu stinken anfing, weil das Steak auf dem Bräter im Begriff war zu Kohle zu werden, da reichte es ihm vollends. »Mist«, fluchte er ziemlich laut. »Mit wem hast du eben gesprochen?« Wilfried steckte seinen Kopf durch die Kajütentür. »Ich habe doch Stimmen gehört. Führst du jetzt schon Selbstgespräche?« »Laß mich in Ruhe, verstanden?« grantete Ralf seinen Freund an. »Würdest du bitte zum Steg zurückfahren?« »Gefällt es dir hier nicht mehr?« »Es stinkt«, sagte Arius, »und zwar ganz gewaltig.« Und dabei hatte der Tag so schön angefangen. * Das Geschäft war heute ziemlich ruhig gewesen. Shahim Borlow machte Kasse und zog ein langes Gesicht. Bei dieser Einnahme hätte er gar nicht erst aufmachen brauchen. 9 �
Borlow hatte sich in langer mühevoller Arbeit seine Existenz hier in Sternigen aufgebaut. Sternigen war eine fünfhundert Seelen Gemeinde. Als Lebensmittelhändler hatte er bislang ein hübsches Sümmchen seinem Konto gutschreiben können. Die nächstgrößere Stadt lag zwanzig Autominuten von Sternigen entfernt. Doch heute war Sonnabend. Er hatte das Geschäft zwar bis in die Abendstunden aufgelassen, eine Tatsache um die sich hier auf dem Lande keine Behörde kümmerte, und außerdem war es keine Mehrbelastung für ihn gewesen, denn er hatte seine Privatwohnung gleich in den hinteren Räumen. Dennoch war der Umsatz gleich null. Unzufrieden mit sich und der Welt, ließ Borlow die Rolläden runter, verschloß die Ladentür, nahm sich eine Flasche Wein mit nach hinten, schaltete den Fernseher an und machte es sich bequem. Irgend so eine australische Erstaufführung wurde gesendet. Nach zehn Minuten begann er zu gähnen. Er wechselte die Programme, doch er fand einfach nichts, was ihm zusagte. Shahim Borlow lebte als Junggeselle, er hatte auch keine nennenswerten Interessen. 54 Jahre war er alt. Er liebte seine freiwillig gewählte Abgeschiedenheit, doch heute langweilte er sich. Müdigkeit wollte auch nicht aufkommen. Was also konnte er noch machen? Er entschied sich, ins Wirtshaus zu gehen. Dort würde er sich an einen Tisch setzen, seinen Schoppen Roten trinken und dem Gegröle der Angetrunkenen zuhören. Das konnte manchmal recht lustig sein. Shahim Borlow brachte die ungeöffnete Weinflasche wieder in den Laden zurück. Es war mittlerweile schon 21 Uhr geworden. Da die Jalousien heruntergelassen waren, herrschte eine undurchdringliche Dunkelheit im Verkaufsraum. Einzig die 10 �
Wohnzimmerlampe von hinten spendete einen schmalen Lichtstreifen. Doch da Borlow sich schlafwandlerisch sicher in seinem Laden auskannte, bereitete es ihm keine Mühe, die Flasche ins Regal zurückzustellen. Ein plötzliches Knarren der Bodendielen ließ ihn zusammenzucken. Sein Kopf ruckte herum. Aus zusammengekniffenen Augen versuchte er die Dunkelheit zu durchdringen. Was war das eben gewesen? Er hielt die Luft an. Shahim Borlow war kein mutiger Mann, dafür hatte er zuwenig erlebt. Sein Herz pochte heftiger, und da wiederholte sich das Knarren. Borlow stand stocksteif vor dem Flaschenregal. Er atmete heftiger. Da mußte sich jemand aufhalten. Sein erster Gedanke war, Einbrecher. Zu dieser Zeit lagen die Straßen von Sternigen gottverlassen da. »Ist da wer?« rief er zaghaft. Aber es erfolgte natürlich keine Antwort. Er riß sich zusammen. Irgend etwas mußte er unternehmen. Borlow nahm sich eine Flasche aus dem Regal, so war er wenigstens nicht völlig wehrlos, obwohl er im gleichen Augenblick wußte, daß er niemals im Leben zuschlagen würde. Er machte einen zaghaften Schritt nach vorn. Wenn er doch erst den Lichtstreifen erreicht hätte… Das trockene Knacken traf ihn fast körperlich. Es kam von rechts, von der Ladentür her. Die Angst jagte ihn vorwärts. Mit wenigen Sprüngen hatte er den Laden durchquert. Er stürmte durch die hintere Tür ins Wohnzimmer. Dort war Licht, und die Angst war nicht mehr so groß. Borlow war sogleich am Telefon. Mit fliegenden Fingern wählte er die Nummer der Polizeistation, und dabei ließ er die Tür nicht aus den Augen. Zuerst sah er den Schatten, der sich schlangengleich über den Boden fortbewegte… 11 �
Sein Herz drohte stehenzubleiben. Das nervtötende Freizeichen dröhnte in seinen Ohren. Und jetzt trat der Unheimliche durch die Tür… Shahim Borlow entfiel der Hörer. Was er zu sehen bekam, war die Reinkarnation der Hölle. Ein junger Mann, knapp dreißig Jahre stand im Raum. Wild wuchernde Haare rahmten ein bleiches Gesicht ein, welches zu einem grausamen Lächeln verzogen war. Der Unhold trug ein Lederwams, das seine schlanke Figur betonte, enganliegende schwarze Hosen und hohe Schaftstiefel, die in Stulpen endeten. Eine entsetzliche Kälte strömte von ihm aus. Entsetzt wich er zurück. Jörge von Steins Augen glitzerten rötlich, als er jetzt auf den Lebensmittelhändler zutrat. In diesem Moment meldete sich das Polizeirevier von Sternigen. Eine quäkende Stimme bläkte aus dem baumelnden Hörer. »Hallo, wer da?« Shahim Borlow hörte die Stimme. Er wollte vorstürzen und den Hörer ergreifen. Doch da trat der Unheimliche vor. Er hatte plötzlich ein Messer in der Hand. Es war ungewöhnlich lang und zweischneidig. Die Waffe blinkte auf, als Jörge von Stein zuschlug. Der Apparat platzte auseinander wie eine reife Melone. Mit einem faunischen Grinsen wandte er sich Borlow zu… Der Wachhabende schaute verdutzt auf den Hörer in seiner Hand. Er hatte ein krachendes Splittern vernommen, und dann war die Leitung tot. Er schüttelte verwundert seinen Kopf und legte den Hörer zurück. Da hatte sich wieder einmal jemand einen Spaß erlaubt. Janus Derflin, ein wohlgenährter Enddreißiger und gebürtiger Berliner, den die Laune des Schicksals nach Sternigen verschlagen hatte, wandte sich seiner Tasse Kaffee zu. 12 �
Er schob hier eine ruhige Kugel. Viel zu tun gab es nicht. Das war zwar manchmal ziemlich langweilig, aber an zu wenig Arbeit war noch niemand gestorben. Mal eine kleine Streitigkeit schlichten, sich viel Gerede anhören, täglich fünf Stunden Fußmarsch, das war schon alles. Derflin beschwerte sich nicht. Seine Leibesfülle dankte es ihm auch, und, was für ihn am wichtigsten war, sein Job als Wachtmeister, ließ ihm die Freiheit, die er brauchte, um seinem zänkischen Weib zu Hause aus dem Weg zu gehen. Ruth Derflin, eine Frau, deren Zunge eigentlich waffenscheinpflichtig sein müßte, war ein Drache. Nicht daß sie Feuer spuckte, eine Tatsache, die Janus ihr auch zubilligen würde, aber sie war die geborene Xanthippe. Egal was Derflin auch tat, an jedem hatte Ruth etwas auszusetzen, und dabei war sie nicht einmal mehr hübsch. Ihre dünnen Haare harte sie zu einem Ballon auftoupiert, das Gesicht… Man schweigt besser. Und die Figur… Die Zunge soll einem herausfallen. Dabei war sie einmal schön gewesen. Allerdings war das schon 15 Jahre her. Janus Derflin seufzte und trank Kaffee. Nicht einmal das konnte sie. Das Zeug schmeckte wie durchgedrehte Galle. Angewidert schob er die Tasse von sich. »Vater«, brummte er vor sich hin, »warum hast du mich nicht gezwungen, auf dich zu hören? Du hast gewußt, was aus Ruth werden würde.« Das Telefon schlug wieder an. Derflin wurde aus seinen Gedanken gerissen. Wenn der Bursche von vorhin, der sich einen Spaß erlauben wollte, dran war, dann konnte er etwas zu hören bekommen. »Ja?« knurrte der Wachtmeister. »Kommen Sie schnell, um Himmels willen, ich beschwöre Sie! Bei mir ist jemand im Haus.« Die Stimme klang gehetzt. Eine Frau war dran. 13 �
»Wer spricht?« fragte Wachtmeister Derflin hastig. »Gertrud Müller«, erklang es in Todesangst. »So kommen Sie doch!« »Ich bin sofort bei Ihnen, Frau Müller.« Der Wachtmeister kannte jeden hier im Dorf. Gertrud Müller war eine pensionierte Lehrerin. Sie wohnte nicht weit vom Revier entfernt. In vier Minuten konnte er bei ihr sein. »Aber beeilen Sie sich, um Himmels willen!« kam es flehendlich aus dem Hörer. »Er ist schon im Haus, ich höre ihn. O Gott«, gepreßtes Atmen erklang. »Nein, das ist nicht wahr, nein! Nein…« »Hallo!« Wachtmeister Derflin war aufgesprungen. Er brüllte förmlich in die Muschel. »Frau Müller, so hören Sie doch!« Und dann wurde aufgelegt… Janus Derflin stand einen Augenblick ratlos da, dann aber sprang er auf. Im nächsten Moment befand er sich auf dem Weg zu der Witwe. Daß seine Bemühungen umsonst waren, merkte er erst, als er vor der Leiche der pensionierten Lehrerin stand. Erschüttert starrte er auf die Tote. Das war erst der Anfang einer grauenhaften Mordserie. Doch woher sollte der friedfertige Wachtmeister das wissen? * Na bitte, dachte Ralf Arius, wie gehabt. Ein idyllisches Dorf, fern von jedem Tourismus, und toter als tot. Es war schon erstaunlich, mußte er sich eingestehen: Das Böse griff fast immer dort an, wo sich Fuchs und Hase per Handschlag einen schönen Tag wünschten. Woran lag das bloß? Seine Erfahrung hatte ihm gezeigt, daß die Mächte der Schatten sich in den wenigsten Fällen in Häuserballungen karnierten. 14 �
Die versprochenen Unterlagen von Veel hatte Arius noch am Wannseer Steg gelesen, seinen rostgelben, hochgezüchteten Ford Capri ziemlich forsch gefordert, so daß er mit den breiten Rennwalzen pechschwarze Spuren auf dem Asphalt der Königstraße hinterließ. Es war schon eine Freude für einen Autonarren, und Arius war nun einmal einer, solch einen Flitzer durch die Stadt zu jagen. Seine Marotte, sich alle paar Monate einen neuen Wagen zuzulegen, verschlang zwar eine gehörige Stange Geld, doch da er es sich leisten konnte, bereitete es ihm keine Kopfschmerzen, ein paar Scheine für einen rasanten Wagen auszugeben. Das Leben war so schon trostlos genug, da muß man einfach ein paar Freuden haben. Der frisierte Capri wurde von dem Geisterjäger eine Zeitlang ziemlich mies behandelt. Die Strecke durch die Ostzone, ohnehin mehr für Luftkissenfahrzeuge geeignet, ließ den Capri mit einschläfernden 100 Kilometer fressen, doch nach dem Kontrollpunkt ging es flotter voran. Ein Konvoi des Innenministers, vorne zwei Limousinen, dann der Mercedes und hinten noch ein Renner, der unverschämt frech die Überholspur vergewaltigte, bekam zu spüren, was ein Mann wie Arius alles leisten konnte. Da die Jungs aus Bonn auch nicht eine Handbreit wichen, kippte Ralf knallhart sein Sirenenlicht aufs Dach, ließ das Geschrille ertönen und zischte rechts vorbei. Die Sicherheitsbeamten – alles Kerle, die selbst noch dann aus dem Flugzeug springen würden, wenn sie nicht mal einen Fallschirm hätten – mußten natürlich für die Sicherheit des Innenministers Sorge tragen. Doch bevor sie überhaupt reagieren konnten, zeigte Arius ihnen die Rücklichter seines Capri. Nach fünf Minuten sahen die harten Jungs der Abwehr überhaupt nichts mehr von dem Geisterjäger. 15 �
Der Innenminister hatte es nicht einmal mitbekommen. Hinter den getönten Scheiben las er konzentriert seine Akten. Ralf Arius holte das trommelfellzerfetzende Ding wieder herein und fuhr dann mit gemütlichen 200 Sachen die Autobahn entlang. Der Fahrtwind war einigermaßen erfrischend, denn der Hüne hatte das rechte Hardtop abgenommen. Sechs Stunden brauchte er. Eine ziemliche Strapaze war es schon gewesen, aber der Geisterjäger war so etwas gewohnt. Deswegen stieg er auch seufzend aus dem Renner, kratzte sich mit den autobehandschuhten Fingern am Hinterkopf und blickte ziemlich echauffiert auf das Dorf Sternigen. Mit zwanzig großen Schritten konnte man das Nest durchqueren. Das war der rechte Ort für einen Urlaub, wenn man nichts erleben wollte. Mit einem Blick auf das Ortsschild vergewisserte Arius sich, daß er tatsächlich sein Ziel erreicht hatte. Ein paar Bauernhöfe links und rechts, alte Leutchen hockten vor den Türen und betrachteten ihn mißtrauisch. Ralf winkte ihnen freundlich zu. Nach zwei Stunden wirst du hier an Langeweile eingehen, sagte er sich. Doch er hatte Unrecht, was er alsbald auch zu spüren bekommen sollte. Er ging weiter und blieb vor einem schrumpeligen, ausgedörrten alten Mann stehen, der gemütlich in die Sonne blinzelte und Arius gar nicht beachtete. »Guten Tag!« Ralf trat die Zigarette aus und baute sich vor dem Alten auf. Vielleicht war der Mann kurzsichtig und stocktaub, denn er reagierte noch immer nicht. »Ich hätte eine Frage. Wo finde ich den Bürgermeister?« »Is' nicht«, brummelte der Alte. 16 �
»Na, das ist aber eine erschöpfende Auskunft«, sagte Ralf. »Und wieso is' nichts?« »Es gibt keinen Bürgermeister. Seit einem halben Jahr nicht mehr. Wir gehören zur Gemeinde Bliebach.« »Aha«, Ralf nickte. »Konnte ich schließlich nicht wissen. Danke, vielen Dank.« »Schon gut«, brummte der Greis. Ralf wanderte durch Sternigen. Es gab ein paar kleine Geschäfte, eine spitzgieblige Kirche nebst kleinem Friedhof, ein Gebäude der freiwilligen Feuerwehr, und neben der schmalen Post befand sich das Backsteinhaus: Gendarmerie. Er übersprang die drei steinernen Stufen und stieß die Tür auf. Ein verdutztes Gesicht sah ihm entgegen. Janus Derflin war es gewohnt, niemals während des Dienstes gestört zu werden. Was man ihm zu sagen hatte, konnte man recht gut am abendlichen Stammtisch zur Sprache bringen. Warum, also den Wachtmeister während seiner Arbeitszeit stören? Ralf Arius grüßte höflich, stellte sich sodann vor und zeigte ihm einen Ausweis, in dem alles Wichtige vermerkt war. »Mann«, sagte Derflin, »von Ihrer Truppe habe ich noch nie was gehört.« Kann ich mir denken, dachte Ralf. Der Grüne Kreis hatte auch keinerlei Ambitionen, publik zu werden. »Sie kommen wegen der beiden Morde? Ich freue mich darüber. Die Dinge, ich muß es gestehen, wachsen mir einfach über den Kopf. Vielleicht bin ich zu dusselig dafür, aber jetzt sind Sie ja da.« »Können Sie mich unterweisen?« fragte Ralf höflich. »Aber klar«, freute sich Derflin. »Mache ich doch glatt. Setzen Sie sich erst einmal hin. Haben Sie Durst oder Hunger? Wir können auch ins Gasthaus gehen, da ist es gemütlicher als in dieser 17 �
Bude.« »Ich habe nichts dagegen.« »Na, dann kommen Sie, Arius. Der Wirt hat erst vor kurzem geschlachtet, und seine Frau versteht sich auf die Zubereitung von Blut- und Leberwurst.« »Klingt ja verlockend«, sagte Ralf. Das Wirtshaus war gleich um die Ecke. Als die beiden Männer eintraten, verstummten die Gespräche der Anwesenden. Es waren nur Männer, doch als sie den Wachtmeister erkannten, hellten sich ihre Gesichter wieder auf. Derflin deutete auf eine Ecknische. Sie war gemütlich eingerichtet und wirkte anheimelnd. Die Tischdecke war sauber, ein kleiner Kerzenständer und eine Schale mit Salzgebäck stand drauf. Sie setzten sich. »Die Leute haben Angst«, sagte der Wachtmeister. »Nur es will niemand eingestehen, aber ich weiß es.« »Wovor haben sie Angst?« fragte Ralf, um Janus Derflin aus der Reserve zu locken, denn er merkte, daß der Wachtmeister nicht so recht mit der Sprache heraus wollte. Derflin wollte gerade zum Sprechen ansetzen, als der Wirt an den Tisch trat. Er begrüßte den Wachtmeister sehr freundlich, fast überschwenglich, Ralf nickte er nur kurz zu. »Was darf es sein?« »Bring mir ein Bier und einen Klaren«, bestellte Derflin. »Und was der Herr hier haben will, weiß ich nicht, Georg.« Georg Narus, der Gastwirt, sah Ralf Arius fragend an. »Was haben Sie denn Schönes. Der Wachtmeister hat erzählt, daß Sie geschlachtet haben. Ist davon noch was übrig?« »Ja. Soll ich Ihnen eine Platte nach Art des Hauses bringen?« »Das wäre herrlich.« Ralf nickte. »Ich habe reichlich Hunger.« »Und was möchten Sie trinken?« 18 �
»Haben Sie Altbier?« � »Natürlich, mein Herr. Groß oder klein?« � »Einen Stiefel, denn auch mein Durst ist nicht mehr auszuhalten.« »In Ordnung.« Der Wirt nickte. »Sind Sie auf der Durchreise?« »Nein, ich gedenke, einige Tage hierzubleiben.« »Haben Sie schon ein Zimmer?« Ralf verneinte. »Hätten Sie eins frei?« »Ja, mein Herr. Soll ich es herrichten lassen?« »Das wäre nett.« Das Wirtshaus machte einen angenehm sauberen Eindruck. »Wird sofort erledigt. Das Essen kommt auch gleich. Haben Sie Gepäck?« »Ja, noch im Wagen. Haben Sie auch eine Duschgelegenheit?« »Keine Sorge, es wird Ihnen an nichts fehlen, mein Herr.« »Na fein.« Ralf lehnte sich bequem zurück und steckte sich eine Zigarette an. Der Wirt begab sich in die Küche. »Um auf Ihre Frage zurückzukommen, Arius, die Leute haben vor einer Sage Angst. Das mag in Ihren Ohren komisch klingen, aber es ist so.« »Erzählen Sie«, forderte der Geisterjager den Wachtmeister auf. »Na schön.« Er holte tief Luft. »Vor einigen Jahren, genauer gesagt, vor einigen Jahrhunderten, wurde hier ein Feudalherr von seinen Leibeigenen aufgeknüpft. Der Kerl soll ziemlich fies gewesen sein. Er hat die Leute schikaniert, wo er nur konnte, na, und die Weiber mußten in die Wälder flüchten, wenn er einmal von seinem Schloß kam. So einer war das.« »Und?« Der Wirt brachte die Getränke. Sofort verstummte der Wachtmeister. Als der Mann wieder weg war, sprach er weiter. »Dieser Typ, so erzählt man sich, soll damals einen fürchterlichen Fluch 19 �
ausgestoßen haben. Er schwor, alle Nachkommen bis ins letzte Glied zu vernichten. Naja, und als jetzt diese beiden geheimnisvollen Morde geschahen, lag es natürlich auf der Hand, alles diesem Jörge von Stein in die vergammelten Schuhe zu schieben.« Arius nickte. So ähnlich hatte es auch in seinen Unterlagen gestanden, welche ihm Veel in den Wagen gelegt hatte. Dennoch hörte er aufmerksam zu, was der Wachtmeister weiter erzählte. »Es ist auch reichlich seltsam, müssen Sie wissen. Innerhalb einer einzigen Nacht zwei Morde. Die beiden Opfer waren unbescholtene Bürger. In beiden Fällen waren die Eingangstüren unversehrt. Bei einem der Opfer, einer pensionierten Lehrerin, fanden wir nicht unbeträchtliche Geldsummen auf dem Wohnzimmertisch. Sie war anscheinend gerade dabei gewesen, ihr Erspartes zu zählen, denn neben dem Geld lag ein ausgefüllter Einzahlungsbeleg. Anscheinend wollte sie ihr Geld auf die Bank bringen.« »Raubmord fallt anscheinend flach«, mutmaßte Ralf. »Genau.« Der Wachtmeister nickte heftig. »Das allein gab mir schon zu denken.« Er machte eine Pause und trank von seinem Bier, danach wischte er sich über die Lippen. Er sah den jungen Mann nachdenklich an. »Genau wie der andere Fall«, fuhr er dann fort. »Borlow, ein Krämer, er hatte ebenfalls Geld in der Kasse und beträchtliche Werte an Lebensmitteln. Aber es fehlte nichts. Das muß ein Irrer gewesen sein.« »Das glaube ich nicht«, sagte der Geisterjäger leise und inhalierte den Rauch seiner Zigarette. »Was wollen Sie damit sagen?« hakte der Wachtmeister sofort nach. »Glauben Sie etwa auch an dieses Ammenmärchen mit dem wieder durchs Leben hüpfenden Jörge von Stein?« »Sonst wäre ich nicht hier«, umschrieb Ralf seine Bejahung. »Es ist nicht ausgeschlossen, daß an dieser Geschichte etwas dran 20 �
ist.« »Wir leben im 20. Jahrhundert, Arius. Die Zeiten, in denen man sich noch vor Hexen und Geistern fürchtete, sind doch schon vorbei.« »Meinen Sie?« fragte Ralf. »Da bin ich anderer Meinung.« »Naja, Sie müssen es ja wissen. Ist vielleicht ganz gut so, daß Sie hier sind.« »Wahrscheinlich«, Ralf Arius nickte schwer. Der Wirt näherte sich wieder dem Tisch. Er stellte vor Arius eine lecker aussehende Platte hin, dazu Senf und Meerrettich. »Lassen Sie es sich gut schmecken«, sagte er freundlich. »Danke.« Ralf lief das Wasser im Mund zusammen, und er langte ordentlich zu. Seit Stunden hatte er nichts mehr in den Magen bekommen. Nach zehn Minuten lehnte er sich zufrieden zurück. Die Portion war einfach zu groß. Er tupft sich mit einer Serviette die Mundwinkel ab, trank den Schnaps, spülte mit einem ordentlichen Schluck Altbier nach und fühlte sich rundherum wohl. Der Wachtmeister hatte während der Zeit geschwiegen. Jetzt, als er sah, daß Ralf fertig war, meldete er sich wieder zu Wort. »Na, hat es geschmeckt?« »Ganz ausgezeichnet«, Ralf hatte ohnehin eine Schwäche für die rustikale Küche. Die beiden Männer plauderten noch eine geraume Weile. Anschließend begab sich der Geisterjäger zu seinem Wagen und fuhr ihn vor das Wirtshaus. Er nahm sein Gepäck und brachte es auf sein Zimmer. Der Raum war hell und freundlich, sauber und ansprechend. Das Bett war frisch bezogen, und auf den Tisch unter dem Fenster hatte die Wirtin einen kleinen Blumenstrauß hingestellt. Es war kurz nach 21 Uhr. 21 �
Ralf Arius war ziemlich erschöpft, Jetzt erst machte sich die Strapaze der langen Fahrt bemerkbar. Er wusch sich flüchtig, grinste dann sein Spiegelbild an und fiel ins Bett. Da er darauf trainiert war, sofort einzuschlafen, lag er auch alsbald unter den dicken Federbetten und schlief tief und fest. Morgen war auch noch ein Tag, war sein letzter Gedanke, bevor der Schlaf ihn übermannte. Irgend etwas weckte Ralf Arius. Fluchend sah er auf seine Timex. Es war kurz nach Mitternacht. Durch die Gardine flackerte ein rötliches Licht. Im Nu war der Geisterjäger auf den Beinen. Als er die Gardine beiseite zog, bestätigte sich seine Vermutung. Das Haus gegenüber brannte. In Sekundenschnelle hatte er sich angezogen. Er riß die Tür auf und stürmte die Treppe hinunter. Zum Glück war der Wirt noch in der Gaststube. Verwundert blickte er auf Arius. »Was ist denn los?« »Es brennt«, sagte Ralf hastig. »Genau gegenüber.« »Was?« Georg Narus ließ das Handtuch fallen und eilte zur Eingangstür. Draußen drehte Narus sich zu dem jungen Geisterjäger um. Ein amüsiertes Lächeln lag auf seinen Zügen. »Ich kann aber nichts entdecken, Herr Arius«, sagte er in anzüglichem Tonfall. »Sie haben sicher nur geträumt.« Verdutzt starrte Ralf auf das Haus. Er rieb sich die Augen. »Ich habe es doch deutlich gesehen. Das Haus stand in hellen Flammen. Ich spinne doch nicht.« »Überzeugen Sie sich selbst. Es ist alles in bester Ordnung.« Ralf mußte zugeben, es war tatsächlich nichts zu entdecken. Das gab es doch nicht. Sollten seine Nerven ihm einen Streich gespielt haben? Aber das war unmöglich. Dafür hatte er die Flammen zu deutlich gesehen, ja, er hatte sogar den Rauch gero22 �
chen. Davon war er auch erwacht. »Ist schon gut«, sagte er rasch, »ich habe mich geirrt.« Er wandte sich ab und ging durch die Gaststube. »Entschuldigen Sie bitte die Störung.« »Macht doch nichts«, winkte Narus ab. Er sah dem jungen Mann kopfschüttelnd nach. Ralf Arius hatte sein Zimmer erreicht. Langsam zog er sich wieder aus und legte sich hin. Das Licht ließ er brennen, an Schlaf war ohnehin nicht zu denken. Er stand noch einmal auf und holte sich aus seinem Koffer eine lederne Taschenflasche. Das war seine Notreserve. Der alte Brandy lief durch seine Kehle und weckte seine Lebensgeister. Verdammt, dachte Ralf, du hast doch noch keine Macke. Das Haus da drüben hat gebrannt. Er konnte sich unmöglich geirrt haben. Das ging nicht mit rechten Dingen zu. Arius hatte schon viele Fälle gelöst, in denen übersinnliche und geisterhafte Dinge dominierten, aber so etwas war ihm noch nicht passiert. Sollte dieser Vorfall mit seinem neuesten Fall zu tun haben? Er steckte sich eine Zigarette an und dachte lange nach. Die Taschenflasche wurde leer, der kleine Aschenbecher auf dem Nachttisch füllte sich. Nachdem er die letzte Kippe sorgfältig ausgedrückt hatte, legte er sich auf die Seite und schloß die Augen. Sofort war das Bild des brennenden Hauses wieder vor seinem geistigen Auge. Es verfolgte ihn bis in den Schlaf. Ralf Arius hatte eine unruhige Nacht. Und das kam selten vor. Morgens war Ralf gerädert. Er suchte die Dusche auf und stellte sich fünf Minuten lang unter den kalten Strahl. Das war zwar eine höllische Tortur, aber es machte wenigstens wach, 23 �
und daraufkam es ihm an. Nachdem er sich gründlich rasiert hatte, fühlte er sich wieder einigermaßen fit. Nach einem ordentlichen Frühstück würde die Welt wieder anders aussehen. Als er herunter kam, war der Tisch schon gedeckt. Es duftete nach Speck mit Eiern, Toast und Kaffee. Der Wirt war nirgends zu sehen. Die Gaststube war leer. Ralf setzte sich und begann zu frühstücken. Es schmeckte vorzüglich. Der Geisterjäger wollte sich gerade eine Verdauungszigarette anzünden, als ein Schrei durch das Wirtshaus gellte. Er ging ihm durch und durch. Sofort sprang er auf. Er orientierte sich kurz. Der Schrei war von links gekommen. Dort war eine Tür mit der Aufschrift »Privat«. Ralf trat ein. Er sah einen kleinen Flur, von dem zwei Türen abgingen. Eine der Türen war nur angelehnt. Ralf Arius zögerte keinen Augenblick. Er stieß die Tür auf. Die Wirtin, Frau Narus, stand vor dem Ehebett. Sie hatte die Hände vor das Gesicht geschlagen und schluchzte. Der junge Geisterjäger machte einen Schritt vor. Abrupt blieb er stehen. Georg, der Wirt, lag im Bett. Er war tot. Das erkannte Arius auf den ersten Blick. Als Frau Narus ihn gewahrte, stieß sie einen spitzen Schrei aus und flüchtete aus dem Zimmer. Ralf kümmerte sich nicht weiter um die Frau. Sie würde die Polizei holen, und das war in Ordnung. Er untersuchte den Toten flüchtig. Er war erstochen worden. Ralf blickte sich um. Das Zimmer war völlig unversehrt. Es hatte kein Kampf stattgefunden. Der Mörder mußte Narus im Schlaf überrascht haben. Aber warum hatte Frau Narus nichts 24 �
bemerkt? Warum stand sie vor dem Bett und schrie. Sie hatte doch neben ihrem Mann liegen müssen. In diesem Augenblick war auch schon Wachtmeister Derflin zur Stelle. Er hielt einen Revolver in der Rechten. Die Mündung war auf Ralf Arius gerichtet. »Hände hoch, und keine Bewegung!« sagte Derflin scharf. »Ich erkläre Sie hiermit für verhaftet. Widerstand wäre zwecklos.« »So hören Sie doch zu«, versuchte Ralf es schon zum x-ten Male. »Ich habe Narus zuletzt kurz nach Mitternacht gesehen.« »Was wollten Sie von ihm?« fragte Derflin hart. Sie befanden sich in der Wachstube. »Können Sie mir nicht die Dinger hier abnehmen?« Arius hielt seine Arme hoch. Seine Handgelenke zierten ein paar solide Handschellen. »Ich möchte rauchen.« »Kommt nicht in Frage«, wehrte der Wachtmeister entschieden ab. »Wir warten auf das Eintreffen der Kripo. Denen können Sie ja Ihr Ammenmärchen erzählen.« Ralf wurde sauer. »Ich habe Ihnen doch gesagt, daß ich wach wurde, weil es in meinem Zimmer nach Rauch stank, und dann sah ich den Flammenschein durch die Gardine.« »Sicher doch.« Derflin nickte. »Sie haben bestimmt recht, Arius. Nur eines stimmt mich nachdenklich«, setzte er sarkastisch hinzu. »Das Haus, das angeblich abgebrannt sein soll, steht noch wie eh und jeh.« »Das verstehe ich auch nicht«, sagte Ralf wütend. »Ich habe Herrn Narus davon berichtet.« «Und?« »Nichts und.« Ralf Arius gab sich eingeschnappt. »Sie haben doch meinen Ausweis gesehen, verdammt.« »Schon einmal etwas von Fälschern gehört?« fragte Derflin. »Außerdem werde ich dafür Sorge tragen, daß man Sie auf Ihren Geisteszustand untersucht.« 25 �
Der Geisterjäger seufzte. Was sollte er auch dazu sagen? Von der Warte des Wachtmeisters aus gesehen, war es verständlich, ihn für verrückt zu halten. So verrückt, daß man ihm jederzeit einen Mord zutrauen würde. Er saß ziemlich in der Klemme. Ralf machte sich da nichts vor. Hier wieder herauszukommen, war so gut wie unmöglich. Alles sprach gegen ihn. Er war gerade einmal ein paar Stunden in dem Gasthaus, und schon wurde der Wirt umgebracht. Er war der einzige Fremde im Ort, und er wohnte in dem Haus. Hinzu kam noch, daß man ihn vor der Leiche des Wirtes gefunden hatte. Seine Chancen waren gleich null. Ralf beschloß zu schweigen. So konnte er nichts Falsches sagen. »Ich werde Sie drüben einschließen, Arius«, sagte der Wachtmeister. »Bis die Kripo erscheint, wird es noch einige Stunden dauern. Los, hopp hopp, erheben Sie sich!« Ralf tat es. Derflin schob ihn ins Nebenzimmer, dann fiel die Tür ins Schloß, ein Schlüssel wurde umgedreht, und dann war Stille. »Mist, verfluchter!« schimpfte Ralf. Nicht einmal an seine Zigaretten kam er heran. Durchs Fenster konnte er den Gasthof sehen. Er sah die beiden Manner, die mit einem Sarg durch die Tür traten, und er horte das Weinen und Jammern der Angehörigen. Es ging ihm durch Mark und Bein. Und er konnte nichts machen. Er war so hilflos, wie eine Fliege am Leimstrip. Da der Wachtmeister ihm die Hände nach vorn gefesselt hatte, konnte Ralf wenigstens das kleine Fenster öffnen. Zum Durchschlüpfen war es zu schmal, außerdem hatte Arius nie im Leben an Flucht gedacht, dabei wäre er sich zu dumm vorgekommen. Er schaute hindurch. Gleich rechts neben der Gendarmerie befand sich das Haus, welches in der letzten Nacht gebrannt hatte. 26 �
Ralf schaute intensiv hin, und dann weiteten sich seine Augen. Eine Gestalt, seltsam gekleidet, strich um das Haus herum. In der Linken hielt der Mann eine brennende Fackel… »Heh«, schrie Arius aus Leibeskräften. »He, Sie!« Der Unheimliche blieb sofort stehen und blickte auf den Geisterjäger. Er grinste gemein. Ralf Arius wußte sofort, wen er da sah. Jörge von Stein, den Mann, den man vor über zweihundert Jahren gehängt hatte. Ralf war fast ohnmächtig vor hilfloser Wut. Er konnte nichts machen. Ihm waren die Hände gebunden, und das im wahrsten Sinne des Wortes. Er mußte mit ansehen, wie der unheimliche Geselle die Pechfackel an das Haus hielt. Sofort züngelten die Flammen an dem Holzvorbau empor. Sie hatten alsbald den Dachfirst erreicht. Ralf Arius bot sich das gleiche Bild wie in der vergangenen Nacht. Das Haus stand sofort in hellen Flammen. Es loderte und krachte. Glühende Hitze schlug aufs Nebengebäude, auf die Gendarmerie, in der Ralf Arius gefangen gehalten wurde… * Karl Nosra, ein alter Bauer, hockte wie jeden Tag vor seinem Hof. Er genoß die Morgensonne, sah auf die umherlaufenden Hühner, hörte das Muhen der Kühe im Stall, sah eine der Katzen mit hochgehobenem Schwanz am Zaun entlang schnurren, und er freute sich, daß der liebe Gott wieder einen Tag hatte werden lassen. Zeit seines Lebens hatte er arbeiten müssen. Früh um drei Uhr aufstehen, und nachts um zehn Uhr ging er erst ins Bett. Er 27 �
kannte es nicht anders. So ein Hof verlangte einem halt alles ab, und er hatte keine Söhne, die ihn unterstützen konnten. Er schmauchte gemütlich an seiner Pfeife und blickte sich um. Sternigen war ein ruhiges Dorf. Hier kannte jeder jeden, und das war auch gut so. Man fühlte sich irgendwie heimisch. Er hatte das große Glück, daß er einen Knecht gefunden hatte, der nicht nur aufs Geld aus war, nein, der Hein hatte auch Interesse am Hof. Karl Nosra hatte ihn schon vor einem halben Jahr als Erben eingesetzt. Natürlich wußte Hein Watulla nichts davon, aber das war ihm auch egal. Er machte seine Arbeit, und sie machte ihm Spaß. Daß er einmal den Nosra-Hof erben würde, war ihm niemals in den Sinn gekommen. Und doch war es so. Der alte Bauer lehnte sich bequem zurück. Mit dem Zeigefinger stopfte er den Tabak in seiner Pfeife fester. »Bauer!« Hein Watulla, der Knecht, kam auf Nosra zugerannt. Er war völlig außer Atem. »Das Haus von Borge brennt lichterloh.« Karl Nosra sprang auf. »Was?« Er lief neben seinem Knecht die paar Meter bis zur Ecke, und dann sah auch er die Flammen. »Rufe sofort die freiwillige Feuerwehr!« rief er Hein zu, obwohl er auf den ersten Blick sehen konnte, daß das Haus nicht mehr zu retten war. Aber man mußte verhindern, daß die Flammen auf andere Gebäude übergriffen. Der Knecht hatte sofort kapiert. Der Bauer lief auf die Gendarmerie zu. Der Wachtmeister hatte noch nichts bemerkt. Narus riß die Tür auf. Janus Derflin blickte ungehalten auf. »Was gibt es denn?« »Borges Haus brennt«, schrie der alte Bauer. »Bist du jetzt auch schon durchgedreht?« fragte der Wachtmeister, erhob sich aber und trat vor die Tür. Sengende Hitze sprang ihn an. Fluchend wich er zurück. 28 �
Jetzt hörte er auch einen erstickten Schrei. Sein Gefangener fiel ihm ein. Wie der Blitz sauste der Wachtmeister zurück. Innerhalb weniger Augenblicke hatte er die Tür aufgeschlossen. Der Raum war völlig verqualmt. Hustend und keuchend torkelte Ralf Anus ihm entgegen. Derflin packte zu und zog den halb Ohnmächtigen aus dem Haus. Inzwischen war auch schon die Feuerwehr eingetroffen. Die Männer hantierten geschickt und alsbald ergoß sich eine Wasserflut auf das brennende Gebäude. Der Wachtmeister hatte den Geisterjäger in Sicherheit gebracht. Ralf hustete noch immer was das Zeug hielt. Im Gasthaus brachte man ihm etwas zu trinken, danach ging es einigermaßen. Er schnappte gierig die frische Luft ein. Das war eben haarscharf gewesen. Ein oder zwei Minuten langer, und der Grüne Kreis hätte sich einen anderen Mitstreiter gegen das Böse suchen müssen. Er war schon wieder so fit, daß er aufstehen und das Gasthaus verlassen konnte. Arius bekam gerade noch mit, wie das Haus in sich zusammenkrachte. Die Feuersbrunst schlug himmelhoch. Die Männer der Wehr konzentrierten sich jetzt nur noch darauf, ein Übergreifen der Flammen zu verhindern. Ihr Chef brüllte seine Befehle, und die schienen Erfolg zu haben. Wachtmeister Derflin stand etwas abseits, genau wie die anderen Einwohner, die mit verbissenen Gesichtern den Brand beobachteten. Ralf Arius gesellte sich zu ihnen. Er blickte den Wachtmeister an. Dieser Blick sprach mehr als anklagende Worte. »Verdammt«, knurrte Derflin leise, so daß nur Ralf es hören konnte, »ich konnte doch nicht wissen…« Er verstummte, als er 29 �
in Ralfs eiskalte Augen sah. Achselzuckend wandte er sich ab. Nach zwei Stunden lag nur noch ein unangenehmer Brandgeruch in der Luft. Es roch nach verschmortem Plastik und Gummi. Angekohlte Holzbalken staken anklagend in den Himmel. Das Gasthaus war gerammelt voll. Die Leute diskutierten aufgeregt. Jeder hatte eine eigene Version, und immer öfter fiel der Name Jörge von Stein. Ralf Arius saß mit dem Wachtmeister und zwei Männern aus der Hauptstadt in einem Tisch. Bernd Geres und Jan Daniel waren bei der Kripo Rothenburg. Sie hatten den Geisterjager gehörig in die Mangel genommen. Arius hatte bereitwillig geantwortet. Als die Sprache auf die nächtliche Brandwahrnehmung kam, zogen die Kripoleute fragend die Augenbrauen hoch. »Sie wollen damit sagen, daß Sie das Feuer tatsächlich gesehen haben – und das, Stunden bevor es tatsächlich gebrannt hat?« »So ist es«, antwortete Arius ruhig aber bestimmt. »Haben Sie dafür eine Erklärung, Herr Arius?« fragte Daniel und stopfte sich eine Pfeife. »Noch nicht.« »Was heißt das?« kam es spontan zurück. »Ich werde es herausfinden« erwiderte Ralf freundlich. »Darauf gebe ich Ihnen Brief und Siegel.« »Und mit dem Mord an Georg Narus wollen Sie nichts zu tun haben?« Die Frage war geschickt gestellt. »Ich will schon«, wich Ralf aus, »aber ich habe es nicht.« Die Kripomänner mußten erst einmal ihre Köpfe anstrengen, um zu verstehen, was Arius damit ausdrücken wollte. Der Geisterjäger hatte Mitleid und erklärte es ihnen genauer. »Ich werde mich auch darum kümmern, aber ich habe den Wirt 30 �
nicht getötet.« »Aha«, sagte Daniel, der anscheinend einen höheren Rang als Geres hatte, denn dieser warf nur ab und zu einmal ein Wort ins Gespräch ein. Dafür kritzelte er eifrig in ein Notizheft. »Ihr Ausweis berechtigt Sie zu einer ganzen Menge Kompetenzen, Herr Arius«, sagte Jan Daniel gedehnt. »Wenn Sie das wissen, warum, bitte schon, akzeptieren Sie es denn nicht?« »Das tun wir doch«, warf Geres fast beleidigt ein. Erstmals meldete sich auch Wachtmeister Derflin zu Wort. »Ich muß mich bei Ihnen entschuldigen«, sagte er weich. »Aber Sie müssen mich auch verstehen. Es lag auf der Hand, daß Sie…« Er wurde von dem Geisterjäger unterbrochen. »Schon vergessen, Derflin«, sagte er. »Ist ja nichts passiert.« Der Wachtmeister atmete erleichtert auf. Gleich darauf bestellte er eine Runde Wodka. Die Kellnerin brachte die Getränke. Frau Narus, ihre Chefin, hatte einen Nervenzusammenbruch erlitten und lag oben in ihrem Zimmer. Sie konnte den Tod ihres Mannes nicht überwinden. Die Rothenburger Kripoleute lehnten den Schnaps mit eisigen Gesichtern ab. Derflin rümpfte nur die Nase und prostete Ralf Arius zu. Der ließ sich nicht lange bitten. Der scharfe Schnaps war jetzt genau richtig. Anschließend vernichteten sie den Wodka der beiden Kripomänner. Die erhoben sich. »Wir fahren jetzt zurück und schreiben unseren Bericht«, sagte Daniel kühl. »Sie werden ganz sicher noch von uns hören. Wir lassen die Leiche von Narus im Laufe des Tages abholen. Ich nehme an, daß Sie sich noch einige Zeit in Sternigen aufhalten werden.« »Sie nehmen richtig an«, sagte Ralf, froh darüber, daß die bei31 �
den endlich verschwanden. »Guten Tag«, murmelte Jan Daniel und verließ, seinen Kollegen im Schlepptau, das Gasthaus. »Wurde auch Zeit«, bemerkte der Wachtmeister. »Der eine spielte sich auf wie James Bond. So etwas habe ich gern.« »Die tun auch nur ihre Pflicht«, entschuldigte Ralf die Männer aus Rothenburg. »Und jetzt hören Sie einmal genau zu, Derflin. Was ich Ihnen zu sagen habe, wird Sie sicher vom Stuhl hauen.« »Dann sagen Sie es im Schonkostverfahren«, bat Derflin. Bislang hatte Ralf noch nichts davon erwähnt, daß er eine unheimliche Gestalt kurz vor dem Brand um das Haus hatte schleichen sehen. Er räusperte sich. »Sie kennen doch die Geschichten, die sich um diesen Jörge von Stein ranken?« »Schon«, gab Derflin zu. »Aber ich glaube nicht daran.« »Dann halten Sie sich einmal schön fest. Ich bin davon überzeugt, daß ich von Stein gesehen habe.« Derflins Gesicht verhärtete sich sofort. Ungläubig starrte er den Geisterjäger an. Ralf ließ dem Wachtmeister erst gar keine Zeit dumme Fragen zu stellen, er sprach sofort weiter: »Kurz bevor das Haus in Flammen aufging, konnte ich durch das Fenster eine Gestalt erkennen, die mit einer brennenden Fackel um das Haus schlich, und gleich daraufbrannte es auch schon. Ich weiß, was Sie jetzt denken, Derflin. Aber vergessen Sie bitte nicht, daß ich schon einmal etwas gesehen habe, was mir niemand geglaubt hat. Ich muß eingestehen, daß ich dafür noch keine vernünftige Erklärung habe. Aber so wahr ich hier sitze, Wachtmeister, ich habe den Brand Stunden zuvor gesehen, und ich habe Jörge von Stein mit meinen eigenen Augen gesehen. Ich kann nur hoffen, daß Sie mir Glauben schenken.« »Das tue ich zwar nicht, aber ich kann Ihnen versprechen, daß ich Sie nicht mehr einsperren werde«, erwiderte Derflin. Ralf lächelte. »Das ist mehr, als ich erwartet habe, Wachtmeis32 �
ter.« Er wurde aber gleich darauf wieder ernst. »Kann ich mit Ihrer Hilfe rechnen?« »Darauf können Sie sich verlassen. Ich will auch wissen, was hier eigentlich läuft. Ich bin nämlich von Natur aus neugierig, müssen Sie wissen, Herr Arius.« »Nennen Sie mich Ralf«, schlug der Geisterjäger vor. »Okay.« Der Wachtmeister nickte. »Dann rufen Sie mich aber auch Janus!« »Na, wenn es nicht mehr ist«, antwortete Arius. »Dann können Sie mir gleich einen Gefallen tun, Janus. Sie haben doch sicher noch Unterlagen aus der Zeit um 1700, nicht wahr?« »Glaube schon. Brauchen Sie die?« »Ich möchte einen Blick hineinwerfen. Vielleicht bringt mich das weiter.« »Von mir aus.« Derflin erhob sich. »Wo finde ich Sie?« »Ich werde abends zu Ihnen kommen, wenn es recht ist.« »Na klar. Ich wohne fünf Häuser weiter. Ist so ein Fachwerkhaus. Ich werde etwas zu essen machen, einverstanden?« »Fabelhaft. Ich freue mich schon darauf«, sagte der junge Geisterjäger lachend und reichte dem Wachtmeister die Hand. »Bis dann!« Anschließend legte Arius sich noch eine Stunde hin. Er war völlig geschafft und brauchte unbedingt etwas Ruhe. Als Ralf Arius erwachte, fühlte er sich müder und erschlagener als zuvor. Er ließ sich einen Kaffee bringen, trank das heiße Gebräu, aß eine Kleinigkeit und begab sich dann auf den Weg zum Wachtmeister. Irgend etwas veranlaßte Ralf Arius die Dorfstraße zu verlassen. Es war ein seltsames Gefühl für den Geisterjäger, etwas zu machen, ohne es selbst zu wollen, und ohne zu wissen, was man überhaupt wollte. Aber er konnte nichts dagegen machen. Er verließ Sternigen in östlicher Richtung. Ein ziemlich großer 33 �
Wald schloß sich direkt ans letzte Haus an. Kurz davor hatte es etwas geregnet. Es duftete nach frischem Gras, feuchtem Holz und herrlich klarer Luft. Grashüpfer zirpten, die Singvögel jubilierten in den Nadelbäumen, überall war Leben. Ralf Arius genoß das Atmen der Welt. Es machte Spaß durch den Wald zu schreiten. Weiter vorn, über den Wipfeln, hatte sich ein herrlicher Regenbogen gebildet. Er schillerte in prächtigen Farben. Er sog die frische Luft tief in seine Lungen. Der schmale Sandweg, mit länglichen Furchen versehen, war mit kleinen Wasserlachen übersät. Ralf erreichte eine kleine Lichtung. Ein mächtiger Baum, dessen Stamm vor ewigen Zeiten von einem Blitz gespalten worden war, erweckte seine Aufmerksamkeit. Die Baumkrone hatte sich trotz des Blitzeinschlages zu imposanter Größe entwickelt. Saftiges Grün bildete ein Gewirr von Blättern. Einzig ein dicker Ast, knapp sechs Meter über dem Boden, war völlig unbelaubt. Der Ast führte fast waagerecht vom Mutterstamm ab. Ralf Arius trat interessiert näher. Vor seinen Augen baumelte ein zwei Meter langer Strick im leichten Wind… Der Geisterjager wußte sofort, welche Bewandtnis es mit diesem Strick hatte. Zögernd streckte er die Rechte aus. Als er das Endstück des Seiles erfaßte, zerbröckelte es unter seinen Fingern zu Staub. Ein feiner Modergeruch drang in seine Nase. Ralf Arius hustete. Erblickte noch immer den Strick an. Das Wissen, vor dem Galgenbaum zu stehen, an dem man vor über zweihundert Jahren den Adligen Jörge von Stein gerichtet hatte, raubte ihm fast den Atem. Was hatte das zu bedeuten? 34 �
Wer hatte seine Schritte in diese Richtung geleitet? Wind kam auf. Er fuhr in die Baumkrone des Galgenbaums, neigte den Wipfel. Ein Heulen und Jaulen bildete sich plötzlich. Ralfs Hemd, der Hitze wegen fast bis zum Bauchnabel aufgeknöpft, bauschte sich förmlich auf. Er mußte sich direkt gegen den Wind stemmen. Der Strick, der lose über dem Ast gebaumelt hatte, wurde fortgeschleudert. Sand stob hoch und nahm dem Geisterjäger die Sicht. Brausen und Pfeifen war um ihn. Schneidender Wind fuhr ihm ins Gesicht. Naturgewalten bildeten sich so plötzlich, mit solch einer Heftigkeit, die den Geisterjäger fast zu Boden zwang. Ralf Arius wandte sich um. Seine Augen tränten, den Mund hatte er weit aufgerissen, gierig schnappte er nach Luft. Ihm war, als ob jemand jeglichen Sauerstoff aufsog. Da tat er das einzig richtige. Er begann zu laufen, rannte aus dem Wald, ließ das unerklärliche Naturphänomen hinter sich und rettete dadurch sein Leben. Kaum hatte er Sternigen erreicht, ließ der so plötzlich aufkommende Sturm nach. Alles war wieder friedlich und ruhig. Arius blieb heftig atmend stehen und blickte sich um. Doch alles war wieder in Ordnung. * Er fand das Haus von Wachtmeister Derflin. Ralf Arius hatte sich vorgenommen, nichts von dem seltsamen Vorfall zu erzählen, denn er wußte, daß er bei dem Wachtmeister auf ungläubige Ohren stieß. Das war der junge Geisterjäger eigentlich schon gewohnt, deswegen störte es ihn auch nicht mehr sonderlich. Die wenigsten Menschen glaubten an geisterhafte Dinge. Sie 35 �
taten es geringschätzig ab. Was man nicht anfassen und sehen konnte, gab es in ihren Augen einfach nicht. Dagegen konnte man nichts machen. Ralf läutete. Und dann wurde auch schon geöffnet. Frau Derflin stand vor ihm. Sie sah ihn an wie ein Kammerjäger die zu vernichtende Made. Arius, allerhand gewohnt, blinzelte nur. »Was wollen Sie?« Ihre Stimme klang wie Sandpapier. »Ich wollte gern zu Wachtmeister Derflin«, antwortete Ralf etwas eingeschüchtert. »Das ist mein Mann«, stellte sie fest. »Ich weiß«, Arius rieb sich flüchtig die Nase, und dann schenkte er der Frau sein schönstes und charmantestes Lächeln. Worauf andere Frauen mit einem erfreuten Seufzer reagiert hätten, zeigte Ruth nur ein eisiges Gesicht. »Wir wollen gerade zu Abend essen. Sie stören, junger Mann.« »Das war nicht meine Absicht«, beeilte der Geisterjäger sich zu versichern. »Ich wollte nur einmal kurz Ihren Mann sprechen.« »Das kenne ich«, brummte sie. »Immer, wenn einer meinen Mann nur kurz sprechen möchte, kommt er mit sturer Regelmäßigkeit besoffen nach Hause. Wir haben keine Zeit, guten Tag!« »Sagen Sie…« Ralf Arius war ein ruhiger Bürger, aber wenn ihn jemand wie einen dummen Schuljungen abwimmeln wollte, wurde er sauer. »Ich glaube, daß Ihr Mann volljährig ist. Vielleicht lassen Sie ihn selbst entscheiden, wen er empfangen möchte. Ich habe nämlich eine Verabredung mit ihm. Sagen Sie ihm bitte, Ralf Arius sei hier.« »Ach, Sie sind das. Der Verbrecher! Verschwinden Sie!« Jetzt platzte Ralf der Kragen. »Hören Sie, Gnädigste, ich will und werde Ihren Mann sprechen. Können Sie ein Stückchen rücken.« Er war drinnen. Ruth Derflin bekam eine ungesunde rostrote Farbe. 36 �
Der Geisterjäger kümmerte sich nicht weiter um die Frau. Er stand im Flur und rief: »Janus, wo sind Sie? Arius ist hier.« Vom ersten Stock erklang ein Gepolter, dann ein Aufschrei und ein »verfluchter Mist«, gleich darauf war Janus Derflin unten und grinste den jungen Geisterjäger freudestrahlend an. »Ich habe Sie schon erwartet, Ralf«, rief er. »Haben Sie es tatsächlich geschafft, das Bollwerk zu überwinden? Meine Frau ist wie eine Horde gedrillter Wachhunde. Sie schirmt mich völlig ab. Schön Sie zu sehen.« Er schüttelte Ralfs Rechte ordentlich auf und ab. Ruth Derflin gesellte sich zu den beiden Männern. »In drei Minuten wollen wir essen, Janus. Vergiß es nicht!« »Wo werde ich denn«, sagte der Wachtmeister, der sich durch Ralfs Anwesenheit stärker fühlte. »Lege noch ein Gedeck dazu. Mein Freund wird mit uns essen.« »Was wird er?« das klang wie Donnergrollen. »Er ißt mit uns!« »So? Das ist mir neu, mein lieber Mann«, sagte sie rasiermesserscharf. »Ich habe aber nicht genügend da.« »Lassen Sie es gut sein.« Ralf wandte sich an den Wachtmeister. »Ich esse nachher im Gasthaus. Trotzdem, vielen Dank für das Angebot, Janus.« »Nichts da. Sie werden mit uns essen, basta!« Das letzte Wort schrie er förmlich. Ruth, seine Frau zuckte zusammen. Diese Lautstärke war sie nicht gewohnt. Was war nur mit ihrem Mann los? Der war wie ausgewechselt. »Wird es bald?« sagte er scharf. »Naja…« Sie wand sich etwas. »Vielleicht reicht es noch für einen dritten. Ich werde einmal nachsehen.« »Aber sieh genau hin!« schrie der Wachtmeister ihr nach. Dann wandte er sich lachend dem Geisterjäger zu. »Puh«, stöhnte er, »das war mal wieder fällig.« 37 �
»Es ist mir peinlich, Janus, wenn Sie meinetwegen Streit mit Ihrer Frau bekommen.« »Streit?« Derflin schlug sich auf die Schenkel. »Ach was, lassen wir das! Was möchten Sie trinken? Kommen Sie! Gehen wir ins Wohnzimmer.« Der Raum war gemütlich eingerichtet. »Na, was darf es sein?« »Einen trockenen Sherry, falls vorhanden, Janus.« »Habe ich da«, sagte der Wachtmeister stolz und schenkte ein. Es war ein Sherry aus dem Supermarkt, und er schmeckte dementsprechend. Ralfs verwöhnter Gaumen war reichlich strapaziert, doch der Geisterjäger ließ sich nichts anmerken. »Ganz ausgezeichnet«, beteuerte Ralf. In diesem Augenblick kam Ruth Derflin ins Zimmer. »Ich habe gedeckt.« »Wir kommen« rief Janus Derflin. Ruth Derflin hatte aufgetafelt. Es gab Labskaus mit Weinkraut und roten Beeten, dazu Alsterwasser. »Nu hau mal rin, min Jung«, gab der Wachtmeister sich waaterkanthaft und grinste wie der Geist aus der Flasche. Ralf nahm die erste Gabel voll und schob sie in den Mund. Nun gut, er brauchte genau vier Minuten, und der Teller war leer. Wachtmeister Derflin hatte ihm schmunzelnd zugesehen. Ralf grinste. »Nun ja«, sagte er, »war zwar ungewohnt, aber man konnte es genießen.« »Freut uns.« Derflin nickte. Arius lehnte sich bequem zurück. Er steckte sich eine Zigarette an. »Haben Sie die Unterlagen bekommen?« Janus Derflin nickte. »War doch klar. Ralf, ich habe alles, was Sie brauchen.« »Ist ja herrlich.« 38 �
»Ich habe ein bißchen im Gemeindehaus herumgestöbert. Hoffentlich hilft es Ihnen weiter. Kommen Sie, gehen wir nach nebenan.« Ralf Arius folgte ihm, lehnte dankend den Sherry ab, setzte sich auf die Couch und schlug den dicken Aktenordner auf, den der Wachtmeister ihm hingelegt hatte. Für die nächste halbe Stunde war er nicht ansprechbar. Er studierte die teilweise schon vergilbten Papiere gründlich. Es waren Aufzeichnungen aus der Zeit des Jörge von Stein. Nach den Unterlagen zu urteilen, war dieser Kerl ein ziemlicher Halsabschneider gewesen. Er hatte die Leibeigenen ausgenommen wie heute das Finanzamt die rechtschaffenden Bürger. Dann kam er zu der interessantesten Stelle. Mai 1740. Da hatten sich die Leute gegen den Adligen erstmalig erhoben. Sie trieben ihn aus seiner Burg und jagten ihn durch die Wälder. Der unbekannte Chronist berichtete ausführlich. Obwohl Ralf den Sachverhalt schon kannte, las er die Seiten mit atemloser Spannung. Der Galgenbaum wurde auch beschrieben. Wachtmeister Derflin hatte sich inzwischen ein Bier geholt. Aufmerksam beobachtete der den Geisterjäger, sagte aber kein Wort. Endlich lehnte Ralf Arius sich ausatmend zurück. Er steckte sich eine Zigarette an und rauchte nachdenklich. »Na, was gefunden?« fragte Janus Derflin. »Wie?« Ralf war mit seinen Gedanken woanders gewesen. »Ach so, ja, danke, war ziemlich aufschlußreich gewesen.« »Freut mich, ehrlich.« Der Wachtmeister erhob sich. »Glauben Sie eigentlich, daß noch etwas geschehen wird? Ich meine jetzt… Na, Sie wissen schon.« Ralf kam nicht umhin, zu nicken. »Das befürchte ich, Janus. 39 �
Nach diesen überlieferten Unterlagen hier«, er tippte auf die Papiere vor sich, »wird ganz sicher noch etwas geschehen.« »Aber was kann denn noch passieren, Ralf? Ist nicht schon genug Unheil dem Ort widerfahren?« Er raufte sich die Haare. »Drei Menschen haben ihr Leben lassen müssen, ein Haus brannte bis auf die Grundmauern ab. Reicht das nicht?« Er schrie die letzten Worte fast. Der sympathische Geisterjäger erhob sich. Er hatte darauf keine Antwort. Was sollte er auch darauf erwidern? »Kann man denn nichts dagegen machen?« fragte Derflin leise. »Wogegen denn?« »Gegen diesen verdammten Fluch!« »Ich dachte, daß Sie daran nicht glauben, Janus«, antwortete Ralf Arius lächelnd. »So langsam bleibt mir nichts anderes mehr übrig«, schimpfte der Wachtmeister. »Ich weiß, daß ich noch vor wenigen Stunden anders geredet habe. Aber so allmählich wächst mir der Kram über die Hutschnur.« »Mir auch«, erwiderte der Geisterjäger und verabschiedete sich. Unter der Haustür blieb er noch einmal stehen. »Es wird sicher nicht leicht werden, Janus«, sagte er nachdenklich, »aber vielleicht haben wir etwas Glück. Das können wir, verdammt noch einmal, gut gebrauchen.« Janus Derflin sah dem jungen Berliner lange nach und machte sich so seine Gedanken. Kopfschüttelnd ging er ins Haus und schloß die Tür hinter sich. Zum ersten Male legte er die Kette vor. Das war so eine Art innere Abwehr. Doch – und das konnte er nicht wissen – gegen diesen Gegner half die lumpige Kette nicht. Wachtmeister Janus Derflin saß noch über eine Stunde in seinem Wohnzimmer. Er tat nichts, trank nichts, er saß einfach nur da. 40 �
Sternigen lag ausgestorben da. Es war noch nicht einmal 21 Uhr, dennoch war keine Menschenseele mehr auf der Straße zu erkennen. Die Leute hatten sich in ihre Häuser verkrochen, die Türen und Fensterläden verriegelt. Alles atmete Furcht aus. Die Alten des Ortes hatten ihre Geschichten erzählt – Geschichten, die von Generation zu Generation überliefert wurden. Auch im Atomzeitalter war man nur zu gern bereit, den alten Erzählungen Glauben zu schenken. Die Angst vor dem Übersinnlichen war zu tief im Empfinden der Bewohner verankert. Eine Gestalt schlich durch den Ort. Dieses schattenhafte Gebilde suchte die Dunkelheit, kroch förmlich an den Toreinfahrten entlang. Der unheimliche Geselle fühlte sich im Schütze der Nacht wohl. Obgleich er nichts zu befürchten hatte, zog er es doch vor, mit den Nachtschatten eins zu werden. Das erleichterte ihm sein Vorhaben. Vorsichtig, jeden Schritt genau abmessend, glitt die Gestalt an den Häuserfronten entlang. Auf dem Gesicht des Unheimlichen lag ein grausames Lächeln. Er wußte genau, was er wollte. Das Vermächtnis, welches er erfüllte, gab ihm die diabolische Kraft, die er benötigte. Als er ein Geräusch vernahm, preßte er sich noch dichter an die Holztür des Hofes. Seine Augen weiteten sich, strahlten in einer unheimlichen Weise, sein Körper straffte sich, die Hände verkrampften sich, glitten zum Gürtel, wo das Messer stak. Vor ihm war ein Mensch, und der kam genau auf ihn zu… * Ralf Arius hatte sich sogleich ins Gasthaus begeben. Es war noch � ziemlich früh am Abend, und doch war kein einziger Gast anwe41 �
send. Er dachte nicht weiter darüber nach und ging durch in sein Zimmer. Der junge Geisterjäger zog sich um. Ihm war nach einem Bad zumute. Anschließend schabte er sich die Bartstoppeln ab, tupfte ein paar Spritzer After Shave auf die bläulichen Bartschatten, kämmte sich das kurze Haar und setzte sich auf einen Stuhl unter dem Fenster. Nachdenklich starrte er auf die Straße. Niemand hielt sich noch zu der Zeit außerhalb der Häuser auf. Er zündete sich eine seiner geliebten türkischen Zigaretten an, inhalierte den leicht süßlichen Rauch und dachte nach. Er hatte keinerlei Anhaltspunkte, obwohl er genau wußte, gegen welchen Gegner er anzugehen hatte. Sein Blick fiel auf das zerstörte Haus gegenüber. Noch immer, so kam es ihm jedenfalls vor, lag ein leichter Brandgeruch in der Luft. Er wandte sich von der Ruine ab. Irgend etwas war nicht mehr so, wie noch vor wenigen Sekunden. Er war nicht mehr allein im Raum… Ruckartig sprang Ralf Arius auf. »Nur keine Bange, lieber Freund«, sagte eine wohlbekannte Stimme. Der Geisterjager atmete erleichtert auf, doch dann packte ihn die Wut. »Hören Sie, Sie dämonischer Zwerg. Langsam gehen Sie mir auf die Nerven. Meine Güte, was sind Sie für ein Kretin!« Veel, der Dämon aus dem Grünen Kreis, lachte gackernd und trat ein paar Hüpfer vor. »Sie sind mir schon einer, lieber Ralf. Immer treffe ich Sie schlecht gelaunt an. Woran liegt das wohl?« »An Ihrem Mundwasser«, knurrte Ralf. »Meine Güte, was seid Ihr Menschen doch unberechenbar.« Der Gnom brachte sich mit einem wahrhaft artistischen Hechtsprung in Ralfs unmittelbare Nähe. »Ich dachte Sie würden sich 42 �
freuen, mich zu sehen!« »Sprach das Kaninchen zur Schlange«, setzte Ralf Arius sarkastisch hinzu. »Sie hätten Schriftsteller werden sollen, lieber Ralf«, sagte Veel gutgelaunt. »Der liebe Ralf ist so etwas Ähnliches wie ein Schriftsteller. Ich habe, bevor ich Sie kennenlernte, in Ruhe und Frieden meine Drehbücher verfaßt«, blaffte Arius seinen Freund an. Veel, der kleine Hüpfer aus dem Reich der Dämonen, der sich den Menschen zugewandt hatte und der, wenn er es wollte, Naturgewalten entfesseln konnte, gegen die eine doppelstöckige Wasserstoffbombe wie ein Fingerschnipsen wirken würde, sprang wie ein Gummiball auf und ab. »Sie haben doch Schwierigkeiten, was?« »Geh zur Hölle!« knurrte Ralf liebenswürdig. Veel kicherte. »Sie sind und bleiben der beste Mann.« »Ehrt mich. Aber jetzt rücken Sie einmal mit der Sprache heraus. Was wollen Sie hier?« »Ich wollte Ihnen nur mitteilen, daß Sie so gut wie schon tot sind. Gefällt Ihnen das?« »Ich bin nicht morbide, Sie krauchiger Schlucker. Was soll das also?« Ralf Arius drückte seine Zigarette aus. Wenn Veel solche Sprüche äußerte, dann war irgend etwas im Busch, und da Ralf gerne lebte, hatte er natürlich ein verstärktes Interesse daran, zu erfahren, was der Dämon zu sagen hatte. »Nun legen Sie schon los!« forderte er den Dämon aus dem Grünen Kreis auf. »Wie Sie wollen, Ralf.« Veel hatte sich einfach auf den einzigen Tisch gepflanzt, die kurzen Beinchen angezogen und bequem den Kopf in beide Hände aufgestützt. »Dieser Jörge von Stein ist nicht einer der Gewöhnlichen.« Er schnappte kurz nach Luft. »Er ist so eine Art von VIP.« 43 �
»Very important person, sehr wichtige Persönlichkeit«, verwunderte sich Ralf. »Dieser stinkende Halsabschneider aus der dunklen Vergangenheit soll irgend etwas Besonderes darstellen?« »Da irren Sie sich mal nicht, bester Freund«, sagte Veel. »Dieser von Stein ist mehrere Klassen besser als…« Er sprach nicht weiter. »Sagen Sie es schon«, forderte Ralf den menschgewordenen Dämon auf. »Ich kann die Wahrheit vertragen.« »Sagen wir es mal so, lieber Freund…« Veel hatte keinerlei Hemmungen seine Meinung zu sagen. So etwas kannte er einfach nicht. »Wenn dieser von Stein auf unserer Seite wäre, dann würden wir Sie nicht mehr brauchen. Er gehört zu denen, die in der Lage sind, wenn wir ihnen nicht Einhalt gebieten, ein fürchterliches Chaos über die Welt zu bringen.« »Sie sind so ehrlich, wie Sie aussehen«, brummte Ralf beleidigt. »Fassen Sie sich«, konterte der Dämon und beste Freund von Ralf Arius, »er ist ja nicht auf unserer Seite.« »Wie erfrischend«, sagte der Geisterjäger. »Sie sind albern wie immer«, rügte Veel den Geisterjäger. »Ich verstehe noch immer nicht, daß Sie bisher alles überlebt haben.« »Verschreien Sie nichts, und kommen Sie zum Kernpunkt Ihrer Anwesenheit!« »Wie Sie wollen.« Veel hopste vom Tisch. »Wir wissen, daß Sie heute sterben werden.« Ralf Arius holte tief Luft. »Sagen Sie das noch einmal, aber bitte langsam.« »Unsere Information lautet dahingehend, daß Sie heute sterben werden.« Der Geisterjäger fühlte plötzlich so etwas wie Angst. Wenn Veel sagte, daß er heute sterben werde, dann stimmte das auch. »Verdammt, warum sagen Sie mir das?« 44 �
»Na hören Sie mal. So etwas sagt man doch einfach nicht. Außerdem habe ich Angst. Ich bin nämlich noch nie gestorben«, fügte er sarkastisch hinzu. »Ich bin ja hier, um Ihnen zu helfen. Ralf. Zufrieden?« »Sie wollen mir helfen?« Arius war ein wenig verwirrt. »Ich denke, ich muß heute sterben!« »Das ist völlig richtig«, bekräftige der Dämon. »Ihren Humor in Ehren, aber irgendwie gefällt er mir nicht.« »Das dachten wir uns auch, Ralf«, gab der Dämon zu. »Es wird nicht leicht werden, denn wir haben es hier nicht mit einem Dämon aus dem Zwischenreich zu tun.« »Sagen Sie bloß? Mit wem denn, bitte schön?« »Jörge von Stein ist ein Zombie.« »Aha. Und was will der Bursche von mir?« »Das sagte ich doch schon. Er will Sie töten.« »Das wollten schon viele«, gab Ralf Arius lässig zur Antwort. Er hatte den ersten Schock überwunden. »Ich muß noch hinzufügen, mein Freund, daß Jörge von Stein kein gewöhnlicher Zombie ist. Er hat es verstanden, in der Schattenwelt seine Position zu festigen. Fragen Sie mich bitte nicht, wie und warum das möglich ist. Es ist nun einmal so.« »Ich habe schon mehrmals gegen lebende Tote gekämpft«, sagte Ralf. »Und ich habe gewonnen«, setzte er hinzu. »Na klar.« Der Dämon gab sich jovial. »Das wissen wir. Dennoch haben Sie keine Chance.« »Sie haben so eine tröstende Art an sich. Warum, zur Hölle, können Sie mich denn nicht einmal in Ruhe lassen? Ich bin ein normaler Mensch, ich liebe das Leben, liebe ein gut abgehangenes Steak, ein schlankes braungebranntes Mädchen mit etwas Grips unter dem Blondhaar, gute Musik, von Dean Martin interpretiert, Scotch, der schon von meiner Großmutter bewundert wurde, Bilder von van Gogh und Dürer – und meine Ruhe. Ist 45 �
das denn zuviel verlangt? Ich will wieder einmal ein bißchen Ich sein. Kapieren Sie das, Sie unmenschlicher Zwerg?« »Der Zombie ist draußen. Er wartet auf Sie«, erwiderte Veel einfach. »Was erwarten Sie von mir?« Ralf plusterte die Wangen auf und blickte flüchtig aus dem Fenster, doch es war schon zu dunkel, um genaueres erkennen zu können. »Der Kerl ist draußen?« »Aber sicher doch.« � »Und er will mich töten?« � »Und wie!« � »Gehen Sie doch bitte selbst hinaus und sagen Sie ihm, daß ich � heute keine Zeit habe«, schlug Ralf Arius vor. »Sie wissen, daß Sie gehen müssen.« »Ja, natürlich«, Ralf nickte. Er war wieder ernst geworden. »Das weiß ich.« Seine dummen Sprüche waren nur so eine Art der Abwehr. Wer sich komisch gab, hatte keine Zeit, seine Angst zu zeigen. »Welche Chancen habe ich?« »Werfen Sie ein Huhn in einen Zwinger ausgehungerter Wölfe.« »Oh, das war deutlich«, sagte der Geisterjäger knapp. »Wir müssen ihn in Sicherheit wiegen. Er muß Fehler machen.« »Etwa den, mich umzubringen?« fragte Ralf. »Ich werde schon ein Auge auf Sie haben«, beruhigte ihn der menschgewordene Dämon. Sein Gesicht hatte sich verhärtet. Plötzlich sah man ihm an, wozu er fähig war, wenn es sein mußte. »Gehen Sie jetzt! Die Gelegenheit ist günstig.« »Fragt sich nur für wen«, knurrte Ralf. � Aber er verließ das Zimmer. � Jörge von Stein preßte sich noch fester an die Mauer. Seine � Augen glühten förmlich. Der Mensch mußte ihn gleich erreicht haben. Nur noch eine Ecke trennte ihn von seinem Opfer… 46 �
Ralfs Hände waren schweißnaß. Langsamen Schrittes ging er über die Straße. Seine Nerven waren aufs äußerte angespannt. Es war ein verflucht unangenehmes Gefühl in seinen Tod zu gehen. Nicht einmal das Versprechen von Veel gab ihm Sicherheit. Ein leises Scharren ließ den Geisterjäger zusammenzucken. Abrupt blieb er stehen. Aus zusammengekniffenen Augen blickte er sich um. Dunkelheit umgab ihn. Er konnte gerade so drei, vier Meter weit sehen. Kühler Wind kam auf. Ralf fröstelte. Er hatte Angst, ganz verdammte Angst. Er straffte seine Schultern und ging weiter, denn er hatte keine andere Wahl. Nicht weit vor ihm gabelte sich die Dorfstraße. Rechts und links verliefen die Wege in völliger Schwärze. Ein heiserer Laut. Das Wissen, so einfach in sein Verderben zu laufen, war höllisch. Langsam steuerte er auf das letzte Haus vor der Ecke zu. Und dann ging alles blitzschnell. Blanker Stahl zischte durch die Luft, ratschte dem Geisterjäger die Hemdbrust auf und hinterließ einen brennenden Striemen auf seiner Haut. Plötzlich war Ralf Arius wieder der alte Kämpfer. Er packte zu, bekam etwas zu fassen, hörte einen unterdrückten Schrei und verdoppelte seine Kräfte. Er schaffte es, die unheimliche Gestalt an sich heranzuziehen. Mit der Rechten schlug er das Messer aus der Hand, bekam den Kerl an der Gurgel zu packen, und im gleichen Augenblick schrie er auf. Ein grausamer Schmerz ließ Ralf zurücktaumeln, er stolperte, schlug zu Boden und wußte nicht, wie ihm geschah. Vor seinen Augen drehte sich alles. 47 �
Ein gellendes Gelächter erklang. In diesem Augenblick geschah etwas Unglaubliches. Die Nacht wurde zum Tage. Es war, als ob jemand die Sonne ans Firmament zurückgedrückt hatte. Gleißende Helligkeit flammte auf und tauchte die Dorfstraße in ein weißes Licht. Ein Grollen erklang. Die Erde schien zu beben. Ralf hielt schützend die Hände vor seine Augen, um nicht geblendet zu werden. Das war kein natürliches Licht, das war Höllenspuk. Irgend jemand schrie gellend auf, gleich darauf verstummte der Schrei wie abgeschnitten. Der Geisterjäger zwang sich auf die Beine. Taumelnd blieb er stehen. Heftig atmend wankte er ein paar Schritte zurück. Dann wagte er es, die Augen zu öffnen. Obwohl er die Augen weit aufgerissen hatte, konnte er nichts erkennen. Sein Inneres krampfte sich zusammen. Irgend etwas packte ihn und hielt ihn fest. Eine entsetzliche Kälte ließ seinen Körper erzittern. Ralf Arius schlug verzweifelt um sich. Wenn er doch bloß etwas sehen könnte! Aber so kämpfte er in völliger Finsternis um sein Leben. Es war grauenhaft. Er spürte, wie ihm die Luft ausging. Er keuchte. Wieder wurde er zu Boden geschleudert. Den Schmerz fühlte er schon nicht mehr. Er war jetzt nur noch eine Maschine. Er konnte nicht mehr sagen, wie lange der Kampf schon andauerte. Plötzlich fühlte der Geisterjäger sich angehoben. Völlige Schwerelosigkeit trieb ihn weiter vorwärts, wirbelte ihn umeinander. Die Höllenmächte trieben ihr Spiel mit Ralf Arius. Er war wehrlos, nur sein Verstand arbeitete noch einwandfrei. Er fühlte, wußte… Es war fürchterlich. 48 �
Dann traf ihn irgendein Gegenstand. � Die sofortige Ohnmacht beendete seine Pein. � * Man fand ihn außerhalb Sternigens. Er lag direkt unter dem Galgenbaum. Wachtmeister Derflin hatte die Suchaktion in die Wege geleitet, als er früh morgens nach Arius sehen wollte. Sein gelber Capri parkte vor dem Wirtshaus, doch von dem Geisterjäger war weit und breit nichts zu sehen gewesen. Janus Derflin hatte sofort ein paar beherzte Männer aufgescheucht. Nach einer halben Stunde hatten sie ihn gefunden. »Wachtmeister«, rief einer der Bauern, »hier ist er. Ich glaube er ist tot.« Janus stürmte durch das Unterholz. Die Männer folgten ihm. Erschüttert blieb der Wachtmeister stehen, als er die jammervolle Gestalt am Boden sah. Ralfs Kleidung war zerfetzt, sein gebräuntes Gesicht leichenblaß. »Um Himmels willen!« Derflin beugte sich über den jungen Berliner, gleich dar auf sprang er wieder hoch. »Er lebt. Verdammt noch mal, er lebt! Nehmt ihn vorsichtig hoch, Leute, und tragt ihn in mein Haus.« Zwei Männer griffen zu. � Nach zehn Minuten lag Ralf auf der Couch im Wohnzimmer. � Ruth Derflin, die Xanthippe, schlug entsetzt die Hände über � dem Kopf zusammen, als man ihr den Geisterjäger ins Haus schleppte, doch dann handelte sie. Einer der Leute war gleich zum Arzt gelaufen. »Zieht ihn aus«, rief Ruth, mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete. Janus Derflin tat es. Der Atem von Ralf ging flach, fast unhör49 �
bar. Sein gestählter Körper war ziemlich zerschunden. Ruth Derflin stellte eine Schüssel mit warmem Wasser auf den Boden und begann vorsichtig die Wunden zu waschen. Ihre Hände waren geschickt und sanft. »Er hat einen Schock erlitten«, sagte sie über die Schulter. »Mehr nicht?« fragte Janus Derflin erfreut und atmete erleichtert auf. »Du bist gut«, schimpfte sie, während sie den Geisterjäger weiter versorgte. »Wenn er nicht so kerngesund wäre, dann wäre er an dem Schock wahrscheinlich gestorben.« Jetzt erst fielen ihr die anwesenden Bauern auf. »Verschwindet hier. Was steht ihr noch herum? Habt ihr nichts zu tun?« Man kannte Ruth Derflin, deswegen ersparte man sich auch jeglichen Kommentar. Als alle draußen waren, fragte sie ihren Mann: »Was ist geschehen?« »Wir haben ihn gesucht. Er lag im Wäldchen unter dem Galgenbaum«, antwortete Janus. Ruth zuckte zusammen. »Unter dem Galgenbaum?« fragte sie leise. Ihr Mann nickte nur. »Was wollte er da, und wie kam er dorthin?« »Das frage ich mich auch.« Es klopfte. Gleich darauf wurde die Tür aufgestoßen und Dr. Berger trat ein. Er war der typische Landarzt. Er hatte hier in Sternigen schon so gut wie alles behandelt, angefangen von Entbindungen, Herzbeschwerden und Furunkulose, bis hin zu kleineren Amputationen der Fingerglieder, wenn sich einer der Arbeiter im nahegelegenen Sägewerk mal ernsthaft verletzt hatte. Man hatte zu dem dicken, riesenhaften Dr. Berger uneingeschränktes Vertrauen. Als er jetzt hereingepoltert kam, die übliche stinkende Zigarre im Mund, atmete der Wachtmeister beruhigt auf. »Was ist denn los? Kriegt deine Frau endlich mal ein Kind«, dröhnte seine volle 50 �
Stimme durchs Haus. Ruth schoß sofort die Schamesröte ins Gesicht. Sie sagte aber nichts. Der Doktor war der einzige Mensch im Ort, bei dem sogar die wortgewaltige Ruth lieber klein beigab. »Aha, da ist ja unser Patient. Was fehlt ihm denn?« Er setzte sich zu Ralf auf die Couch und begann mit der Untersuchung. »Der Mann hat einen schweren Schock«, stellte er fest. »Das habe ich mir auch gedacht«, sagte Ruth Derflin leise. Dr. Bergers Kopf ruckte herum. »Wer ist hier der Arzt?« knurrte er. »Wenn du willst, kannst du ja meine Arbeit fortsetzen!« Er hatte die Angewohnheit, alle und jeden zu duzen. Dr. Berger würde sogar dem Bundeskanzler den Mund verbieten, wenn er glaubte, daß es erforderlich sei. Da hatte er keinerlei Skrupel. »Zieh mir mal das kreislaufstärkende Mittel auf«, herrschte er Ruth an. Sie beeilte sich, die Spritze fertig zu machen. Als sie sie dem Doktor reichte, zitterten ihre Hände. »Gib her, sonst fällt sie dir noch aus der Hand«, sagte er unwirsch. »Müssen Sie nicht erst die Einstichstelle säubern?« wagte sie einen schüchternen Einwand. Berger sah sie mit seinen tiefblauen Augen durchdringend an. Sie wandte sich lieber ab und schluckte ihren Ärger runter. Hatte ja doch keinen Sinn. Der Arzt nahm sich einen Wattebausch, tröpfelte etwas Alkohol drauf, rieb dann die rechte Ellenbeuge von Arius ab, und dann injizierte er das Mittel. »Was ist passiert?« fragte er den Wachtmeister, der abwartend dastand. »Keine Ahnung«, antwortete Derflin wahrheitsgemäß. »Hat deine Frau ihm was zu essen gemacht? Dann könnte ich 51 �
den Schock verstehen.« Der Wachtmeister grinste flüchtig. Ruth warf schnippisch ihren Kopf nach hinten und verließ das Zimmer. Gegen den kam sie nicht an. »Nun mal ernsthaft«, sagte Dr. Berger. »Der Kerl hat eine Pferdsnatur. Den haut so schnell nichts um. Was ist denn bloß geschehen? So mir nichts dir nichts kippt der nicht um.« »Ich weiß es wirklich nicht.« »So allmählich geht mir der Hut hoch«, schnauzte der Landarzt. »In den letzten Tagen geschehen hier Dinge, die mich auf die Palme bringen. Verdammt, dieses Nest war doch bislang immer ruhig gewesen. Und jetzt gibt es Tote, wohlbemerkt solche, die gewaltsam ums Leben kamen, ein Haus brennt ab, alles hat Angst, keiner traut sich mehr zu reden. Ja, wo sind wir denn hier? In Chicago vielleicht? Ich habe mir dieses Kuhdorf ausgesucht, weil ich meine Ruhe haben wollte, und nun das. Ich glaube ich verschenke meine Praxis und ziehe in die Großstadt. Da zahlen die Patienten wenigstens bar und nicht mit ein paar Pfund Butter und Käse wie ihr.« »Was ist nun mit ihm?« unterbrach der Wachtmeister den Redeschwall des Doktors. »Was soll sein? Eigentlich müßte man ihn ins Krankenhaus bringen. Doch da die auch nicht mehr machen können als wir hier, kann er ruhig hierbleiben. Ist er ein Bekannter von Ihnen?« »Nein, nur ein Freund.« »Die sind meistens besser als Bekannte«, brummte Dr. Berger. »Die kommen wenigstens nicht so oft. Lassen Sie den Burschen mal ein bißchen ausspannen. Er braucht jetzt vor allem viel Schlaf. Ich lasse Ihnen ein Rezept da.« Daran, daß er den Wachtmeister siezte, konnte man erkennen, daß der Doktor sauer war. »Das sind Pillen, die muß der Mann hier schlucken, verstanden? Wenn er sich weigern sollte, dann stopfen Sie sie ihm einfach 52 �
rein.« »Klar«, Derflin nickte. »Hab schon verstanden.« »Das wundert mich«, knurrte der Arzt und erhob sich. »Er wird bald zu sich kommen. Achte darauf, daß er dein dummes Gesicht nicht gleich zu sehen bekommt, sonst erleidet er noch einen Schock.« In diesem Augenblick wurde die Tür aufgerissen. Hein Watulla, der Knecht vom Nosra-Hof stand unter dem Rahmen. Seine Haare hingen ihm schweißnaß in die Stirn. Er schnappte krampfhaft nach Luft. Derflin war sofort bei ihm. Er ahnte Fürchterliches, und er sollte recht behalten. »Kommen Sie!« keuchte Watulla, »Um Himmels willen, kommen Sie rasch, Wachtmeister! Es ist etwas Schreckliches geschehen.« »So rede doch, Mann!« herrschte Derflin den stämmigen Knecht an. »Der Bauer…«, stammelte Watulla. »Ich habe ihn gesehen… Es ist furchtbar.« »Was denn?« brüllte der Wachtmeister. »Reiß dich gefälligst zusammen!« »Er ist tot«, schrie der Knecht, »tot!« Dr. Berger zuckte zusammen. Nahm das denn überhaupt kein Ende mehr? Er kannte natürlich den Bauern, wie alle hier im Ort. Karl Nosra war ein urwüchsiger Bursche, zwar schon ziemlich alt, aber bisher war er immer gesund gewesen. Und jetzt sollte er tot sein? »Ich komme.« Er schnappte sich seine Tasche und lief los. Hein Watulla war mit den Nerven am Ende. Wachtmeister Derflin warf noch einen kurzen Blick auf den besinnungslosen Geisterjäger, dann folgte er dem Arzt. Jörge von Stein hatte wieder zugeschlagen, so wie er es in sei53 �
ner Todesstunde geschworen hatte. Und Ralf Arius lag hilflos auf der Couch. Das Böse konnte triumphieren. Nichts und niemand stellte sich ihm in den Weg. Zur gleichen Zeit, als die Männer erschüttert vor der Leiche des alten Bauern standen, hockte ein altes Weib in seinem Zimmer. Sie zählte schon über siebzig Jahre, war klein und gebeugt. Dünnes strähniges Haar hing ihr ins Gesicht. Martha Leberich hatte dem Bauern so ein bißchen den Haushalt geführt und für ihn gekocht. Jetzt saß sie im Wohnzimmer des Bauern. Ihr Oberkörper bewegte sich leicht hin und her. Ihre Nerven waren nicht mehr die besten. Sie hatte nicht mehr die richtige Kontrolle über ihre Gliedmaßen. Deswegen wackelte sie auch immer öfter mit dem Kopf. Ihr zerfurchtes Gesicht sah irgendwie ausgetrocknet aus. Der fast zahnlose Mund mummelte unentwegt. Sie flüsterte unverständliche Worte vor sich hin. Ein aufmerksamer Beobachter hätte sie als alte Hexe abgetan, doch das war sie nicht. Im Grunde ihrer Seele, war sie ein hilfsbereiter und liebenswürdiger Mensch, der immer und jederzeit für andere da war. Sie hatte keine eigenen Kinder, aber die Kinder im Ort waren ihr Ersatz genug. Sie alle mochten die alte Martha, wußte sie doch so herrliche Geschichten zu erzählen. Die Kinder, ansonsten nicht gerade feinfühlig im Umgang mit alten Menschen, verehrten die Alte über alles. Sie erhob sich. Mit wackligen Schritten verließ sie das Zimmer und trat auf den Hof hinaus. Sie hatte den Toten gefunden und den Knecht informiert. Jetzt sah sie die Hektik. Über die Leiche hatte man schon eine Decke ausgebreitet. 54 �
Martha Leberich schlurfte mit müden Schritten über den Hof. Man beachtete sie nicht weiter. Der Wachtmeister hatte gleich darauf seine Dienststelle informiert. Die Kripo Rothenburg hatte ihm per Telefon die erforderlichen Anweisungen gegeben. Derflin beorderte zwei seiner Leute zum Tatort. Gemeinsam mit ihnen sorgte er dafür, daß nicht allzu viele Spuren vernichtet wurden. Er trieb die Dorfbewohner einige Meter zurück. Seine Männer rammten provisorische Pflöcke in den Boden, dann spannten sie dünne rotweiß gestreifte Bänder um die Pflöcke. So zäumten sie den Tatort ein. Doch die alte Martha kümmerte sich nicht darum. Trotz ihres betagten Alters bückte sie sich unter den Bändern durch und schritt auf den toten Bauern zu. Jetzt erst wurde sie bemerkt. »Heh!« Wachtmeister Derflin stiefelte auf sie zu. »Was soll das? Komm da sofort weg, hörst du?« Doch Martha Leberich hatte den Toten schon erreicht. Sie zog die Decke beiseite und sah ihm ins Gesicht. * Sie drehte sich weg und schlug die Richtung zum kleinen Wäldchen ein. Hier war Ralf schon einmal gewesen. Er kannte die Gegend, und er wußte, daß nicht weit von hier der Galgenbaum stand. Dennoch blieb er neben der Frau. Nach wenigen Minuten hatte die alte Frau ihr Ziel erreicht. Sie blieb stehen, ihr Kopf ruckte herum. Die wachen Augen sahen den Geisterjäger aufmerksam an. Ralf Arius hielt ihrem Blick stand. Er las in ihrem alten Gesicht eine erschreckende Gewißheit. 55 �
»Da bist du ja, Jungchen«, sagte die Alte krächzend. »Ich wußte, daß du kommen würdest.« »Ich möchte Ihnen…« Sie ließ ihn nicht aussprechen, wischte mit der Hand durch die Luft. Diese Geste war so endgültig, daß Ralf verstummte. »Du brauchst nichts zu sagen, Jungchen«, sagte sie, dabei wackelte ihr Kopf hin und her. »Aber ich…« Wieder nur die herrische Handbewegung. »Du kennst diesen Baum?« Sie zeigte auf den Galgenbaum hinter ihr, wartete aber keine Antwort ab und sprach gleich darauf weiter: »Hier ist es geschehen. Hier hat man ihn gerichtet. Eine wütende, aufgebrachte Meute war es. Sie begingen damit einen Fehler, Jungchen, doch das konnten sie natürlich nicht wissen. Woher auch, nicht wahr?« Sie kicherte. »Es waren alles einfache Leute, und sie waren so voller Haß auf Jörge, daß sie an nichts anderes mehr denken konnten.« Dem Geisterjäger fiel auf, daß die alte Martha nur den Vornamen des Untoten nannte, ganz so, als ob sie ein persönliches Verhältnis zu ihm hatte. Aber das war natürlich unmöglich. Er hörte weiter zu. »Es hat lange gedauert, bis Jörge seinen Schwur einhalten konnte. Aber Zeit spielt keine Rolle. Selbst wenn er erst in hundert Jahren gekommen wäre, hätte es immer noch unmittelbare Nachkommen der damaligen Mörder gegeben. Du siehst, eine Rache, die auf einem tödlichen Vermächtnis basiert, ist an keine Zeit gebunden.« Sie machte eine Pause. Ralf hatte das Gefühl, daß er jetzt sprechen konnte. Er setzte gerade dazu an, als sein Blick wie unbeabsichtigt zu dem Gal56 �
genbaum hinter der Alten glitt. Seine Muskeln verkrampften sich, die Nackenhaare richteten sich leicht auf. Seine Augen weiteten sich, als er den Strick erkannte, der leicht im Wind baumelte. Diesen Strick hatte er schon einmal gesehen, doch da war er hinfort geweht worden. Langsamen Schrittes umrundete er die Alte und streckte beide Hände nach dem Strick aus. Er wußte noch genau, daß damals das Seil so porös gewesen war, daß es unter seinen Fingern zu Staub zerfiel, und deswegen faßte er vorsichtig zu. »Ja, zieh ruhig daran«, rief Martha Leberich. »Zieh ordentlich, Jungchen!« Ralfs Kopf ruckte herum. Er sah die Alte hinter sich. Sie hatte die Hände in die Hüften gestemmt, ein Grinsen verunstaltete ihr Gesicht noch mehr. Da hatte er sich wieder gefaßt. Mit einem Ruck zog er an dem Strick. Grelles Gelächter erscholl. Verwirrt ließ er den Strick los. Er war knochenhart und unzerreißbar. Langsam wandte er sich der alten Martha wieder zu. »Wer sind Sie?« fragte er gefährlich leise. »Sie verheimlichen doch irgend etwas. Warum haben Sie mir geholfen, und wieso konnten Sie mir helfen? Ich verdanke Ihnen eine ganze Menge, das weiß ich, aber ich will dennoch erfahren, was Sie für eine Rolle spielen.« »Wirst du auch, Jungchen, wirst du auch!« Ihr schrilles Kichern erstarb. Sie machte einen Schritt auf den Geisterjäger zu. »Du bist gekommen, um Jörge zu vernichten, stimmt das?« Ralf Arius nickte nur. »Siehst du, und ich mußte deswegen deine Bekanntschaft machen, Jungchen.« Sie legte den Kopf schief und sah Ralf durchdringend an. »Du bist der geeignete Mann, um Jörge den 57 �
Garaus zu machen. Du bist stark und mächtig, und du hast gefährliche Freunde. Über kurz oder lang kannst du Jörge vernichten.« Arius erschauderte. »Du redest gerade so, als ob du Jörge kennen und schützen würdest. Ich frage dich noch einmal«, er war ebenfalls zum Du übergegangen. »Wer bist du?« Meckerndes Gelächter erfüllte die kleine Lichtung. »Du bist ein kluger, gefährlicher und neugieriger Mann, Jungchen. So höre zu. Ich bin nur eine alte Frau. Ich habe viele Jahre kommen und gehen sehen. Vieles habe ich miterlebt, schönes und böses. Zwei Weltkriege haben mich davon überzeugt, daß der Mensch durch und durch schlecht ist, ohne Ausnahme. Jeder hängt seine Fahne in den Wind, der gerade weht, jeder sucht seinen Vorteil, seinen Nutzen.« Sie dachte einen Augenblick lang nach. »Es ist eine böse Welt, in der wir leben, und in diese Welt paßt Jörge allemal. Er hat sich den richtigen Zeitpunkt für seine Rache ausgesucht.« »Das ist doch irre«, keuchte Arius. »Völlig irre.« »O nein, Jungchen, das ist es absolut nicht. Ich bin alt, aber gerade deswegen weiß ich, was ich sage. Ich habe einmal in meinem Leben geheiratet, einmal, hörst du? Mein Mann war wie die meisten. Sobald er irgendeinen Schürzenrock sah, lief er los. Was ich für Höllenqualen durchmachte, scherte ihn keinen Deut. Er war halt, wie er meinte, ein gestandenes Mannsbild, und er prahlte noch mit seinen Eroberungen vor mir.« »Warum erzählen Sie mir das?« Sie kicherte wieder. »Ich wollte dir nur damit andeuten, daß auch ich einmal verheiratet war. Mein Mann hieß Walter Leberich.« Dem Geisterjäger dämmerte etwas. Doch er wagte es nicht auszusprechen. 58 �
Die alte Martha Leberich amüsierte sich über das Gesicht von Arius. »Ich glaube, daß du weißt, was ich dir jetzt sagen will. Du bist klug, Jungchen, verdammt gescheit. Das sieht man dir an. Ja, du hast recht. Ich bin eine geborene von Stein. Die letzte des Geschlechts. Bist du nicht überrascht? Nein?« Ralf Arius war zu keinem Wort fähig. Er stand nur da und sah die Alte an. Er hatte sich so etwas gedacht, doch die Tatsache, daß er mit seiner Vermutung richtig lag, schaffte ihn doch. »Ich bin überrascht, wie gelassen du alles aufnimmst, Jungchen. Du bist der einzige, der das weiß. Die anderen im Ort halten mich für verkalkt, für schwachsinnig. Doch das bin ich nicht.« »Das sehe ich«, preßte Arius hervor. »Was bezwecken Sie mit Ihrer Offenbarung? Was versprechen Sie sich davon? Ich sehe darin keinen Sinn.« »Oh, das ist gar nicht schwer zu erklären«, antwortete die alte Martha. »Ich bin der Meinung, daß du der einzig Vernünftige in diesem Ort bist, Jungchen.« Sie rückte noch näher an Ralf heran. Unwillkürlich wich er einen Schritt zurück. Sein rechter Fuß berührte dabei eine mächtige, knorrige Wurzel des Galgenbaumes. »Ich wußte, daß du mir folgen würdest«, sagte sie. »Und deswegen habe ich es so eingerichtet, daß uns niemand folgt. Alle haben sie Angst, diesen Wald zu betreten, denn sie wissen, was es mit dem Baum auf sich hat. Ich bin überzeugt, daß du mannhaft genug bist, dem Mann gegenüberzutreten, den du vernichten willst.« Jetzt war es völlig um Ralfs Beherrschung geschehen. »Jörge von Stein ist hier?« Er mußte sich räuspern, seine Kehle war wie ausgetrocknet. Hastig sah er sich um. »Jawohl, Jungchen, er ist hier.« Sie machte eine Kehrtwendung 59 �
und sah in Richtung des dicken Unterholzes. Plötzlich klang ihre sonst so schrille Stimme sanft und zart. »Jörge«, rief sie in den Wald hinein. »Jörge, komm hervor und zeig dich!« Der Geisterjäger wirbelte herum, als er von allen Seiten ein Rauschen und Knacken vernahm. Trockene Äste brachen unter der Last von schweren Tritten. Doch Ralf konnte nichts erkennen. »So komm doch Jörge«, rief die Alte. »Komm! Das Jungchen ist gespannt, dich kennenzulernen.« Ralf Arius wäre der Alten in diesem Augenblick am liebsten an die Gurgel gefahren. Und da trat Jörge von Stein aus dem dichten Gehölz in die Lichtung… * Die Kripo Rothenburg saß wie auf Kohlen in Wachtmeister Derflins Büro. Sie waren es nicht gewohnt zu warten. Ihre Erfahrungen bei Ermittlungen in kleinen Dörfern hatte ihnen gezeigt, daß die wachhabenden Beamten immer sehr zuvorkommend und etwas eingeschüchtert den Kollegen aus der Hauptstadt gegenüber agierten. Dieser Wachtmeister jedoch fiel völlig aus dem Rahmen. Er kannte, so schien es zumindestens, keinerlei Respekt vor den zivilen Kriminalisten. Geres und Daniel saßen ruhelos auf ihren harten Stühlen. Sie hatten schon einen telefonischen Bericht an ihre Dienststelle durchgegeben und ihre Ankunft in etwa drei bis vier Stunden angekündigt. Doch das schmiß dieser behäbige Wachtmeister völlig über den Haufen, indem er einfach nicht erschien. »Müssen wir uns das gefallen lassen?« schimpfte Bernd Geres 60 �
und begann mit zwei Fingern auf der Schreibtischplatte einen Trommelwirbel zu veranstalten. Nach einem mißbilligenden Blick von Jan Daniel ließ er es bleiben. Statt dessen nahm er einen Bleistift und klopfte einen monotonen Takt. »Hör auf, verdammt noch mal! Ein ich hier bei Boney M.? Sieh lieber nach, wo dieser Derflin bleibt!« raunzte Daniel seinen Kollegen an. »Dieser Derflin ist hier«, sagte Janus Derflin und schob seinen wohlbeleibten Körper durch die Tür. Er war unbemerkt eingetreten. »Hm.« Jan Daniel war etwas peinlich berührt. »War nicht so gemeint, Wachtmeister. Ich habe nur wenig Zeit, wissen Sie?« »Aber natürlich weiß ich es.« Janus war wütend. »Was machen Sie überhaupt noch hier? Ist Ihre Ermittlung nicht schon längst abgeschlossen?« »Irrtum.« Bernd Geres erhob sich. »Legen Sie meinen Bleistift hin, Sie Stadtmensch!« sagte Janus hart. Geres kam der Aufforderung sofort nach. »Wir müssen noch mit diesem Arius sprechen.« Jan Daniel erhob sich jetzt ebenfalls. »Ist er inzwischen wieder zu sich gekommen?« Derflin hatte ihnen von dem bedenklichen Zustand Ralfs erzählt, deswegen hatten die beiden auch Rücksicht genommen. Sie kannten ihn noch von der ersten Vernehmung im Gasthaus. Jetzt, als ein erneuter Mord geschah, hielten sie es für ihre Pflicht, den jungen Mann nochmals zu verhören. Immerhin war er der einzige Fremde in Steinigen. Die Vermutung, daß Arius irgend etwas mit dem Fall zu tun hatte, lag folglich auf der Hand. Doch Janus Derflin hatte es verstanden, die beiden Kriminalis61 �
ten hinzuhalten. Doch jetzt ging es natürlich nicht mehr. »Ja, er ist wieder bei Sinnen«, antwortete er schwer. »Okay.« Geres freute sich offensichtlich. »Dann können wir ja zu ihm, was?« »No, könnt ihr nicht«, erwiderte Derflin. Es machte ihm plötzlich uneingeschränkte Freude, die beiden Rothenburger zu ärgern. »So, und warum nicht?« fragte Jan Daniel. »Erklären Sie uns das bitte!« »Ralf Arius ist, bitte schön, weg. So, nun sind Sie platt, was?« »Weg?« Das klang gefährlich. Der Wachtmeister, der ja immerhin von seinem Job lebte, fing sich wieder etwas. »Nun ja, er kam wieder zu sich, stand auf, zog sich an, trank einen mordsmäßigen Becher Schnaps, sagte guten Tag, schmiß die Tür hinter sich zu, und weg war er.« »Und Sie hielten es nicht für nötig, uns zu informieren?« »Mann, das geschah doch erst vor knapp zehn Minuten und ein paar Sekunden«, sagte Janus. »Meinen Sie, Ihretwegen wachsen mir Flügel?« »Als Wachtmeister sind Sie ein verdammt schlechter Scherzbold«, sagte Jan Daniel und kniff dabei die Augen zusammen. »Wohin ging er?« »Weiß ich doch nicht. Er wollte die alte Martha suchen.« »Die Alte, die partout bei der Leiche des Bauern bleiben wollte?« fragte Bernd Geres. »Genau die.« »Warum?« Daniel richtete seine Krawatte. Er kochte innerlich, gab sich aber die größte Mühe, ruhig zu bleiben. »Warum wollte er die Alte sprechen? Hat sie mit der Sache irgend etwas zu tun, Wachtmeister? Wenn ja, dann finde ich es an der Zeit, werter Kollege, daß Sie uns auch einmal informieren.« Das klang iro62 �
nisch, und der Unterton war alles andere als freundlich. Janus Derflin hatte dafür ein Gespür. »Kann man schwer sagen.« Er hustete leicht. »Die alte Martha ist so eine Art Unikum, wenn Sie wissen, was ich damit ausdrücken will.« »Aber sicher doch.« Die Stimme von Jan Daniel klang noch immer äußerst unangenehm. »Dennoch erklärt das noch immer nicht die Tatsache, daß Sie uns nicht sofort unterrichtet haben, als dieser Arius zu sich kam und somit vernehmungsfähig war.« »Wie soll ich mich da ausdrücken?« seufzte Derflin. »Es war einfach nicht möglich. Alles ging so schnell. Bin ja auch nur ein Mensch.« »Da haben Sie recht«, stimmte Jan Daniel ihm zu. »Bleiben Sie es auch ruhig weiterhin.« Alter Idiot, dachte Janus Derflin. Laut aber sagte er: »Wie Sie meinen.« »Wo könnte dieser Arius jetzt sein?« fragte Bernd Geres und strich sich die Haare aus dem Gesicht. »Tja, zu Fuß nicht allzu weit, wenn er jedoch einen Hubschrauber benutzt hat, dann könnte er schon in…« Er wurde unterbrochen. Der vor Wut kochende Daniel sagte: »Danke, danke, ersparen Sie uns bitte Ihre Phantasie. Wo wohnt die alte Frau?« »Sie meinen Martha?« Es war dem Kriminalisten anzusehen, daß er am liebsten einen Spaziergang entlang der Decke vorgenommen hätte, doch er hatte sich gut unter Kontrolle. »Ja«, antwortete Daniel. »Genau die meine ich.« »Wenn Sie aus der Tür treten, sich dann rechts halten und immer geradeaus gehen, kommen Sie zum Ortsausgang. Kurz davor führt ein kleiner Weg über einen kleinen Bach. Wenn Sie den überquert haben, stehen Sie vor einer Hütte.« »Und?« 63 �
»Nun ja, da wohnt die alte Martha«, antwortete Derflin ruhig. »Danke.« Jan Daniel war schon bei der Tür. »Kommen Sie nicht mit?« fragte er. Der Wachtmeister schüttelte den Kopf. * Die beiden Kripoleute aus Rothenburg beeilten sich, das Haus der Martha Leberich zu erreichen. Der Steg über den Bach war ziemlich wacklig. Aufseufzend klopfte Daniel gegen die Holztür der Hütte. Was man hier auch alles mitmachen mußte! Beim ersten Anklopfen glitt die Tür nach innen auf. Sofort hatten die beiden Kriminalisten ihre Waffen in der Hand. Daniel deutete mit dem Kopf zur Seite. Geres, sein Kollege, verstand. Er huschte zur linken Seite und hielt seine Pistole weit vorgestreckt. Jan Daniel, den Kollegen als Rückendeckung wissend, trat mit dem Fuß voll gegen die Tür. Sie prallte innen gegen irgendeinen Gegenstand. Daniel war im gleichen Augenblick auf der Schwelle. Seine linke Hand hatte den rechten Schußarm umklammert. Er war bereit in den Raum zu feuern, wenn es sein mußte. Im nächsten Moment setzte Bernd Geres nach. Er stand neben Daniel. Zwei Revolver waren ins Innere der Hütte gerichtet. Hier drinnen war es schummrig. Staub wallte auf. Die beiden Beamten sicherten rechts und links. Als ein leises Scharren ertönte, zuckten sie zusammen. »Wer ist da?« schrie Daniel und preßte sich gegen die Innenwand. Als eine graugestreifte Katze an seinen Hosenbeinen vorbei64 �
schnurrte, zeigte sich auf seinem Gesicht ein etwas gequältes Lächeln. »Scheint niemand hier zu sein«, rief er Geres zu. »Die Alte ist ausgeflogen.« »Bestimmt«, nickte sein Kollege. »Hier hält sich keiner auf. Beinahe hättest du die Katze erschossen.« Er lachte auf. »Halt den Mund!« brüllte Daniel, »überlege lieber, wo wir die Alte und diesen Arius finden.« »Bin ich allwissend?« brummelte Geres. »Diesem arroganten Derflin mache ich jetzt die Hölle heiß. Wirst sehen, das bringt uns weiter«, setzte er überzeugt hinzu. * Ralf Arius sah mit großen Augen, wie Jörge von Stein aus dem Unterholz trat. Von Stein trug ein Lederwams, enganliegende schwarze Hosen und dazu hohe Stulpenstiefel. Lange Haare fielen ihm ins Gesicht. Sein Gesicht war unnatürlich blaß. Pechschwarze Augen glänzten wie Kohlen. Die schlanke Gestalt war gespannt. Der unheimliche Mann kam federnd auf den Geisterjäger zu. Ralf wäre zurückgewichen, wenn er es gekonnt hätte, denn es drang ein höllischer Gestank auf ihn ein. Aber hinter ihm stand der Galgenbaum. Es gab kein Entkommen. Da meldete sich die alte Martha. »Warte noch«, rief sie. »Warte, Jörge!« Der Unselige verharrte auf der Stelle. Sein haßerfüllter Blick traf Ralf Arius. Martha Leberich, geborene von Stein, stellte sich vor den Geisterjäger. Sie streckte ihre Hände weit vor, so als ob sie damit dem Grausamen Einhalt gebieten wollte. 65 �
»Nein«, erklang es mit tiefer Stimme. »Nein, Martha, geh mir aus dem Weg!« »Warte noch, Jörge!« Das Gesicht der Alten leuchtete von innen. »Ich habe diesen Mann extra hierher geholt.« »Warum?« dröhnte es aus dem Mund des Untoten. »Ich werde ihn töten. Ich muß ihn töten! Er ist gefährlich.« Ralf Arius hatte sich wieder gefaßt. Er stieß sich von dem Galgenbaum ab. Seine Angst, die er schon seit Stunden in sich trug, war auf einmal verflogen, denn er wußte, daß er schon einmal gegen diesen Unheimlichen gekämpft hatte, und eine Angst oder Gefahr, die man schon einmal durchgemacht hatte, war keine mehr. »Er ist keiner von denen, die du geschworen hast, zu töten, Jörge«, schallte die Stimme der Alten über die Lichtung. »Aber er ist mir im Wege. Er ist nur gekommen, um mich zu vernichten. Und deswegen muß ich ihm zuvorkommen, Martha.« Es war für den Geisterjäger unheimlich mit anzuhören, wie der Untote mit der Lebenden sprach, so als ob sie zu ihm gehörte. »Geh mir aus dem Weg! Ich muß es einfach machen. Ich habe keine andere Wahl.« »Jetzt hörst du mir zu, Jörge«, sagte Martha Leberich mit harter Stimme. »Ich habe dir geholfen, und das weißt du. Einer deiner Söhne war mein Urgroßvater. Ich stamme also direkt von dir ab. Vergiß das nicht! Ich habe die alten Chroniken gelesen, und ich wußte, daß du einmal zurückkehren würdest, und nur deswegen habe ich das getan, was mir überliefert wurde, denn mir war klar, daß ich nicht anders handeln konnte.« »Weswegen hast du ihn hierher geholt?« Seine Stimme wurde plötzlich leise. »Er soll dir helfen, so hoffte ich zumindestens.« »Mir helfen?« Jetzt schrie er wieder. »Er soll mir helfen?« 66 �
»Ja, denn sonst bist du verloren, Jörge.« Jörge von Stein kam auf Ralf Arius zugeschlichen. Sein lauernder Blick traf den Geisterjäger. Ralf spürte wieder diese entsetzliche Kälte, die von dem Unheimlichen ausging. Ihn schauderte. Er riß sich aber wieder zusammen, und bot Jörge von Stein die Stirn. Er war entschlossen zu kämpfen. Obwohl er wußte, daß er nicht die geringste Chance gegen den Untoten hatte, war er doch gezwungen, alle Kräfte in diesen Kampf zu werfen. Martha Leberich, die alte Frau, erkannte die Gefahr. »So warte doch«, schrie sie, »Jörge, warte! Töte den Mann nicht!« »Geh mir aus dem Weg!« befahl Jörge von Stein. »Sofort verschwindest du, hast du verstanden?« Ralf war nicht mehr in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Er war völlig fixiert darauf, diesem grausamen Gesellen das Handwerk zu legen. Er mußte es einfach. In diesem Augenblick ertönte ein Prasseln und Knacken, so als ob eine Armee von Männern durch den Wald stürmte. Ralf war verunsichert. Martha Leberich sah sich gehetzt um. Plötzlich warf Jörge von Stein sich herum und stürmte durch den dichtstehenden Wald. Alsbald hatte ihn das Unterholz verschluckt. Der Geisterjäger atmete tief aus. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn, denn er ahnte, daß er noch einmal mit dem Leben davongekommen war. Die alte Martha stand stocksteif da, als die beiden Männer auf die Lichtung stürmten. Die Kripo Rothenburg hatte, ohne ihr Wissen, das Leben von Ralf Arius gerettet. Zum zweiten Male verspürte Ralf Arius die Unbill des Verhaf67 �
tetseins. So allmählich reichte es ihm, vor allem deswegen, weil er gerade auf einer sogenannten heißen Spur gewesen war. Aber mach das einmal den Beamten klar, die nur das glaubten, was auch die Akten wiedergaben, dachte er aufgebracht. Martha Leberich hatte sich, als sie die beiden Polizisten gewahrte, sogleich abgesetzt. Daniel und Geres hatten sie zwar gesehen, doch die Festnahme des Geisterjägers erschien ihnen wichtiger. Wachtmeister Derflin machte tellergroße Augen, als man ihm den jungen Berliner ins Büro schleppte. »Na so was«, brachte er heraus. »Sie schon wieder, Ralf?« Er schob seine Kaffeetasse weg und stand auf. »Hat man Sie schon wieder in den Krallen der Justiz?« Jan Daniel und Bernd Geres beachteten den Wachtmeister nicht weiter. Für sie war die Sache halbwegs gelaufen. Sie hatten den Hauptverdächtigen, das war mehr, als sie in diesem verworrenen Fall erwarten konnten. Hinzu kam noch, daß der Mann sich gewehrt hatte. Geres trug seine Kinnblessur wie einen Nahkampforden. »Sagen Sie diesen Helden, daß ich ihnen mächtig zusetzen werde, wenn sie nicht augenblicklich wieder zu sich kommen«, sagte Ralf zu Janus Derflin. »Die haben alles verpatzt, aber auch alles.« »Klappe«, erwiderte Daniel barsch. »Also ich würde mal darüber nachdenken«, sagte Derflin an die Beamten gewandt. »Er hat nämlich nicht einmal so unrecht.« »Wie wollen Sie das beurteilen, Wachtmeister?« »Och, na wissen Sie, das ist nämlich so: Ich war anfangs genauso bescheuert und legte dem jungen Mann hier ebenfalls ein paar Handschellen an.« »Die hätten Sie niemals lösen sollen«, machte Geres sich bemerkbar und rieb sich sein lädiertes Kinn. »Der Kerl bekommt 68 �
ein Verfahren an den Hals, daß ihm die Augen tränen werden.« »Und Sie können sich gar nicht so viele Taschentücher kaufen, um Ihre Flut zu trocken«, konterte Ralf. Er war wütend. »Jetzt passen Sie auf! Hier in meiner Hemdbrusttasche ist eine Telefonnummer eingenäht.« »Was?« Jan Daniel öffnete den Latzverschluß. Tatsächlich, eine bläuliche Nummernreihe war zu erkennen. »Können Sie sich noch neun Nummern nacheinander merken?« »Was ist damit?« fragte Daniel. »Soll ich tatsächlich Ihre Wäschenummer durchrufen?« »Wenn Sie nicht morgen Ihren Dienstausweis abgeben wollen, dann würde ich es Ihnen raten, das zu tun, was ich von Ihnen verlange, Inspektor«, sagte Ralf. Jan Daniel überlegte. Was sollte er tun? Anrufen? Schaden konnte es wirklich nichts. So konnte er sich später nichts vorwerfen. Mit gemischten Gefühlen wählte er die Nummer. »Sie müssen schon etwas warten«, ließ Ralf sich vernehmen. »Mache ich doch schon. Und jetzt seien Sie endlich still!« Da kam die Verbindung. Inspektor Jan Daniel wurde immer korrekter, nahm sogar so etwas wie Haltung an. »Hier Inspektor Jan Daniel, Morddezernat Rothenburg«, meldete er sich. »Ich habe Ihre Nummer von einem gewissen Arius bekommen.« Er machte eine Pause und hörte zu. »Ja«, sagte er dann, »Ralf Arius. Ich habe ihn verhaftet, weil er unter Ver…« Jan Daniel hätte fast den Hörer verschluckt, so weit riß er seinen Mund auf. Der junge Geisterjäger grinste reichlich unverschämt. Veel, sein 69 �
dämonischer Freund aus dem Grünen Kreis, hatte Verbindungen zu Behörden, die ein normaler Sterblicher nicht einmal per Telefon erreichen konnte, außer er war Innen-, Außen- oder sonst ein Minister. »Aber ja doch, ich habe verstanden«, versicherte Inspektor Daniel. Er war puterrot im Gesicht. »Sicher, das ist doch selbstverständlich. Ich konnte ja nicht ahnen… Aber ich darf Ihnen versichern…« Anscheinend wurde er immer wieder unterbrochen, denn er wand sich wie ein Regenwurm auf dem Angelhaken. Dann blickte er tonlos auf den Hörer in seiner Hand, legte ihn ganz vorsichtig auf, räusperte sich und schaute Ralf Arius verwirrt an. »Die Angelegenheit ist mir sehr peinlich, äußerst peinlich. Ich konnte ja nicht wissen, in welchem Rang Sie stehen.« In wenigen Augenblicken hatte er Ralf Arius die Handschellen abgenommen. Er hielt die Metallklammern wie einen Fremdkörper von sich. »Was ist los?« fragte sein Kollege Bernd Geres. »Ist der wieder frei?« »Paß auf, was du sagst«, mahnte Daniel. »Herr Arius ist über jeden Zweifel erhaben.« »Seit wann denn?« »Mann, halt die Klappe«, bellte Inspektor Daniel ungeduldig, und zu Ralf gewandt: »Bitte, entschuldigen Sie, Herr Arius, es ist sicherlich etwas ungewöhnlich, was hier geschieht. Deswegen hoffe ich auch, daß Sie etwas Nachsicht üben.« »Na klar«, sagte Ralf. »Sie sind ja noch jung.« Inspektor Daniel war mindestens sieben bis acht Jahre älter als der Geisterjäger, doch was machte das schon? War nur eine Formsache unter Männern. »Vielleicht können Sie mir jetzt behilflich sein«, sagte Arius und stand auf, zündete sich eine seiner geliebten türkischen 70 �
Zigaretten an, inhalierte intensiv und fand die Welt schon halbwegs wieder in Ordnung. »Sie haben mir ja genügend Steine in den Weg gelegt«, konnte er sich nicht verkneifen zu sagen. »Bitte, sagen Sie uns, was geschehen soll. Wenn es im Bereich unserer Möglichkeit liegt, dann stehen wir voll zu Ihrer Verfügung.« »Hört sich gut an, Inspektor«, erwiderte der sympathische Geisterjäger, der keinem lange böse sein konnte. »Finden Sie mir die alte Martha Leberich. Sie ist der Schlüssel zu dem ganzen Fall.« »Wir werden sofort ihre Hütte durchsuchen.« »Aber, aber, lieber Inspektor, dort werden Sie sie sicher nicht finden.« »Sie haben recht, Herr Arius. Ich schlage vor, daß mein Mitarbeiter und ich erst einmal die Gegend durchsuchen. Weit kann sie noch nicht sein.« »Der Meinung bin ich auch.« Ralf Arius lächelte den Inspektor freundlich an. Jan Daniel und Bernd Geres verließen das Haus. Draußen hielt Geres seinen Kollegen am Arm fest. »Sag mal, bist du verrückt? Was soll der Zirkus? Der Kerl ist doch reif für die Zelle. Das weißt du doch!« »Eben nicht. Wenn wir Herrn Arius auch nur noch einmal laut anreden, dann werden wir zum Veterinäramt, Abteilung Schweinezählen abkommandiert, das sagte der General.« »Der was?« kam die berechtigte Frage von Geres. »Hast du eben General gesagt?« »Ja!« »Was haben wir mit dem Militär zu tun? Von so einem läßt du dich ins Bockshorn jagen!« »Kennst du den Begriff Internationale Polizeiorganisation? Und so ein bißchen darüber hängt das, was wir unter dem 71 �
Begriff Verteidigungsministerium verstehen.« »Ach du meine Nase«, murmelte Geres nur. Von da an stellte er keine Frage mehr. »Heh, Janus«, sagte Ralf Arius freundlich, »was ist los mit Ihnen? Sie starren mich an, als ob ich einen Pickel mitten auf der Nase hätte.« »Wie haben Sie das gemacht, Ralf? Die beiden spritzen raus, wie Kohlensäure aus der geschüttelten Cola.« »Manchmal muß es halt sein«, versuchte Ralf eine Erklärung, »aber diesmal ganz besonders, lieber Freund.« Irgendwie mochte er den dicklichen Wachtmeister. »Ich muß tatsächlich die alte Martha wiederfinden. Ist verflucht wichtig, wissen Sie. Ich habe nämlich, bevor mich Ihre übereinigen Kollegen in Ketten gelegt haben, mit Jörge von Stein gesprochen.« »Ach, jetzt hören Sie aber auf, Ralf! Ich lade Sie zu einem Fuder Schnaps ein, und wenn wir morgen unseren Kater überstanden haben, reden wir vernünftig weiter. Einverstanden?« Ralf Arius lachte schallend auf. »Ich mag Sie einfach, Janus. Sie sind so herrlich unkompliziert.« »Sie meinten das doch nicht ernst, was Sie eben gesagt haben?« fragte Derflin vorsichtig und wedelte den Rauch von Arius Zigarette weg. »Sie haben mit diesem Balg von Stein gesprochen? Gesprochen?« Er schrie das letzte Wort fast. »Das ist doch nicht möglich.« Ralf zeigte nur ein leichtes Lächeln. Seine sympathischen Züge strahlten förmlich. Zum Glück war keine Frau anwesend. »Es ist aber an dem, Janus. Ich sprach mit Jörge von Stein, und als die beiden Beamten auf die Lichtung stürmten, gab der Kerl Fersengeld. Was nebenbei gesagt, gar nicht mal so schlecht war.« Er wurde schlagartig ernst. »Ich wäre sonst mit Sicherheit drauf72 �
gegangen. Das weiß ich.« »Im Normalfalle würde ich sagen, zwicken Sie mich mal, damit ich weiß, daß ich nicht träume.« »Sie träumen ganz und gar nicht, Janus«, sagte Arius, und jetzt konnte er wieder lächeln. »Sie sind hoffentlich so wach, daß Sie mir helfen können.« »Ich und Ihnen helfen?« Janus Derflin war erstaunt. »Wie soll das von starten gehen?« »Ist nicht ganz einfach«, gab der Geisterjäger zu. »Aber wenn Sie es wollen, dann können Sie es auch.« »Gut.« Derflins Kehle war plötzlich rauh geworden. »Sagen Sie mir, was ich tun soll, Ralf.« »Sie haben das Herz auf dem rechten Fleck, Wachtmeister Janus. Bringen Sie uns doch einen schönen Scharfen, denn die Sache ist verflucht unangenehm. Für uns beide«, setzte er hinzu. Sein Lächeln war wieder verschwunden. »Wenn Sie mitmachen, Ralf, kann eigentlich nichts schiefgehen«, sagte Derflin überzeugt. Ralf Arius legte dem Mann einfach die Hand auf die Schulter. Wenn du wüßtest, dachte er dabei. Laut jedoch sagte er: »Das ist doch klar, Janus.« »Ich bin gleich wieder zurück.« Der Wachtmeister strahlte. »Und ich bringe uns ein Zeug mit, was selbst des Teufels Großmutter als zu scharf ausspucken würde. Sekunde nur, Ralf.« Der Geisterjäger sah Derflin nach, wie er das Zimmer verließ. Im gleichen Augenblick verließ ihn die Selbstsicherheit, die er eben noch zur Schau gestellt hatte. Das Zusammentreffen mit dem Untoten Jörge von Stein saß noch zu tief in seinen Knochen. Er wußte genau, daß er keinerlei Chancen hatte. Und er wußte, verflucht noch einmal, daß er auf Veel angewiesen war. Wenn dieser dämonische Zwerg nicht wieder erschei73 �
nen würde, dann könnte ihm nicht einmal der beste Willen weiterhelfen. Jörge von Stein war dem Geisterjäger allemal über. Das hatte er schon gespürt, als er ihm das erste Mal gegenübertrat. Und da war er nur mit dem Leben davongekommen, weil Veel ihm irgendwie zu Hilfe geeilt war. Diese Hilfe kam zwar nach seinem Ermessen zu spät, aber sie war dagewesen, und es war ziemlich auf der Kippe gewesen. Was, zum Teufel, hatte die alte Martha für eine Funktion inne? Daß sie eine geborene von Stein war, konnte noch nicht alles erklären. Noch nicht, sagte er sich. Doch wieviel Zeit war ihm gegeben, um dieses Geheimnis zu lösen? Als Derflin erschien, versuchte Ralf Arius abzuschalten, aber es gelang ihm nicht so richtig. Zu viele Gedanken strömten auf ihn ein. »Ich kann mir nicht helfen«, sagte der Geisterjäger nachdenklich. »Alles führt zu diesem Galgenbaum hin. Dort haben Sie mich gefunden, und dort führte mich auch die alte Martha hin, um mich mit diesem Dämon zusammenzubringen. Wissen Sie was, Janus, das mag zwar albern klingen, aber haben Sie nicht Lust dazu, einmal einen Baum zu fällen?« »Sie meinen dieses greuliche Gerippe?« Ralf Arius nickte. »Vielleicht lösen wir dadurch irgend etwas aus, was uns weiterhilft.« »Lieber Freund, dieser Hugo hat einen Umfang von enorm bis gewaltig. Bis wir den umgehauen haben, bin ich ein alter Mann geworden. Was versprechen Sie sich eigentlich davon?« »Weiß nicht«, brummte Arius. »Dieser Galgenbaum ist vielleicht das Tor zum Jenseits für Jörge von Stein geworden.« »Mensch, haben Sie eine Phantasie«, sagte Derflin. »Aber von mir aus, ich bin dabei. Ich werde aber lieber eine Motorsäge 74 �
besorgen, sonst hacken wir noch an dem Baum, wenn der erste Schnee fällt.« »Das ist eine gute Idee«, lobte der Geisterjäger. »Meinen Sie, daß wir ein paar Männer finden, die uns helfen?« Der dickliche Wachtmeister schüttelte den Kopf. »Die haben furchtbare Angst. Ich habe die schon damals mit Gewalt antreiben müssen, damit man mir half, Sie zu suchen. Das steckt denen zu tief drinnen, und wenn die dann noch hören, daß es gilt, den Galgenbaum zu fallen… Na, ich weiß nicht. So schnell können Sie gar nicht gucken, wie die in ihre Autos spritzen und in Urlaub fahren.« »Na gut, dann machen wir es halt allein. Haben Sie so etwas schon einmal gemacht?« »Nee, ich kaufe mein Holz immer nur in Tüten. Wissen Sie denn wie es langgeht?« »Ich habe Zentralheizung«, grinste der Geisterjäger. »Na, das kann ja was werden«, lachte Janus Derflin. »Vielleicht bekommt das Ding einen Lachkrampf, wenn es uns zusieht, und fällt von selbst um.« »Lassen Sie uns beginnen«, schlug Ralf vor. * Zehn Minuten später hatte der Wachtmeister eine Motorsäge organisiert, ein paar Keile und zwei Äxte. So ausgerüstet zogen die beiden Männer den Handkarren hinter sich her. Die Leute im Dorf sahen ihnen betreten nach. Sie ahnten anscheinend, was die beiden vorhatten, doch es griff niemand ein. Ralf erkannte aus den Augenwinkeln die beiden Kriminalisten aus der schönen Stadt Rothenburg. Sie gingen von Haus zu Haus, klingelten, führten ein kurzes Gespräch und verabschiede75 �
ten sich dann wieder. Sie machten ihre Aufgabe äußerst gründlich. Der Weg wurde immer holpriger. Janus und Ralf mußten sich ordentlich anstrengen, um den zweirädrigen Karren überhaupt vorwärts zu bekommen. Es war eine schweißtreibende Arbeit. Endlich hatten sie die Lichtung erreicht. Keuchend blieben sie stehen und sahen sich an. »Wau«, stöhnte der Wachtmeister. »Das war ein schönes Stück Arbeit.« »Das schlimmste kommt noch, keine Sorge«, tröstete ihn Ralf Arius. Er hievte das Mordsding von Motorsäge vom Karren, dann stand er etwas ratlos vor der Maschine. Sie bestand aus einem mächtigen Motorsockel mit Handgriffen, einem fast ein Meter langen und vorne oval zulaufenden Sägeblatt. Naja, jetzt konnte es losgehen. »Wie bekommt man das Ding in Gang?« fragte der Geisterjäger. »Da ist so ein kleiner Riemen, an dem müssen Sie reißen, so lange, bis der Motor anspringt – hat mir jedenfalls der Bauer gesagt.« Und Ralf riß. Dann riß Derflin eine Weile, und dann war Ralf wieder an der Reihe. »Wollen wir doch lieber die Axt nehmen?« fragte Ralf Arius. »Oh, jetzt fällt es mir wieder ein«, brummte Janus etwas verlegen. »Da muß noch ein kleiner Hebel sein. Den muß man umlegen, sonst läuft kein Saft.« Ralf war über sein Unwissen ebenfalls etwas beschämt. Darauf hätte er auch kommen müssen. Aber wann fällt man schon einmal einen Baum? 76 �
Naja, jedenfalls sprang der Motor mit Krachen und Rattern an, daß den beiden Männern Hören und Sehen verging. »Sehen Sie«, brüllte Ralf, »klappt doch.« Er bändigte das bockende Ding und führte das hin- und hersausende Sägeblatt an den Stamm des Galgenbaumes. Die scharfen Zähne bissen sich sofort ins Holz. Ralf stand da, hielt die Säge nach Möglichkeit gerade und wurde ordentlich durchgeschüttelt. Es ging doch leichter, als er gedacht hatte. Schon nach geraumer Zeit hatte er sich weit über zehn Zentimeter vorgearbeitet. »Läuft ja prächtig«, schrie der Wachtmeister dem Geisterjäger ins Ohr. »Sie könnten direkt nach Kanada auswandern.« »Übernehmen Sie mal«, schrie Ralf zurück, dem die Arme immer schwerer wurden. Als Janus Derflin das ratternde Ding hielt, streckte Ralf sich erst einmal gründlich. Morgen würde er sicher einen mordsmäßigen Muskelkater haben. Nach weiteren zehn Minuten hatte sich das Sägeblatt in seiner gesamten Länge in den Stamm gefressen. Es ging nicht mehr weiter. Sie mußten nun von einer anderen Seite her ihr Glück versuchen. Der Wachtmeister stellte die Motorsäge ab, ließ sie einfach im Holz stecken, plumpste mit dem Hosenboden zuerst auf die Erde und schnaufte wie eine alte Dampflok bei 60-prozentiger Steigung. »Das ist eine verfluchte Knochenarbeit«, schimpfte er. »Den schaffen wir niemals. Glauben Sie mir!« »Wir werden schon. Keine Bange! Ich werde doch nicht vor einem Baum klein beigeben. Wäre ja noch schöner.« Sein Blick umfaßte den Galgenbaum. Jetzt erst bemerkte der Geisterjäger, daß irgend etwas fehlte. Und da fiel es ihm auch schon siedend heiß ein. 77 �
Der Strick war verschwunden… Wer trieb hier bloß sein böses Spiel mit ihm? Einmal hatte er eine Vision von einem brennenden Haus, Stunden später brannte es auch prompt. Dann wieder entdeckte er einen Strick, der sich unter seinen Fingern in Staub auflöste, später war derselbe Strick fest und konstant, und jetzt war er völlig verschwunden. Janus Derflin hatte den Geisterjäger aufmerksam beobachtet. »Was haben Sie? Sie sehen so sonderbar aus, Ralf. Ist Ihnen nicht gut?« Seine Stimme klang besorgt. »Nein«, antwortete Ralf. »Es ist nichts. Wirklich nicht.« Er wollte Janus nicht auch noch damit belasten. »So, dann werde ich weitermachen. Viel Zeit bleibt uns wahrscheinlich nicht mehr.« Wie recht er mit seiner Äußerung hatte, erfuhr er alsbald. Geres und Daniel hatten sich getrennt. So konnten sie in der gleichen Zeit das Doppelte schaffen. Als sie alle Häuser abgeklappert hatten, trafen sie sich an der kleinen Dorfkirche von Sternigen. Sie brauchten gar nichts zu sagen, ihre Gesichter sprachen für sich. Einen Augenblick standen sie tatenlos da und rauchten. »Die Alte kann sich doch nicht in Luft aufgelöst haben«, sagte Geres. »So langsam habe ich es satt, einem Hirngespinst hinterher zujagen.« »Sei doch still!« Daniel warf seine halbaufgerauchte Zigarette in den Sand. »Du hast doch gehört, was es mit diesem Arius auf sich hat.« »Ja, und unser Chef springt uns ins Gesicht, was?« Er holte tief Luft. »Ich bin beim M-Dezernat und nicht dazu da, alte Frauen zu suchen.« »Ach was«, winkte Jan Daniel ab, dem der Anpfiff von vorhin noch immer in den Ohren klang. »Die Frage ist nur, was machen 78 �
wir jetzt? Wir können doch nicht die ganze Umgebung absuchen.« Bernd Geres grinste und deutete über seine Schulter auf die kleine Dorfkirche. »Frag doch mal den Pastor. Vielleicht hilft der uns weiter.« »Gar kein dummer Vorschlag«, sagte der Inspektor aus Rothenburg. »Na hör mal! Das sollte ein Scherz sein.« »Wieso? Überall haben wir nachgefragt und gesucht, nur in der Kirche nicht. Alte Leute sind manchmal komisch, das weißt du. Warum soll sie sich nicht in der Kirche versteckt halten?« »Wenn es dich beruhigt, bitte schön, fallen wir dem Pastor auf den Wecker. Hoffentlich fährt er uns nicht wie Diabolo persönlich an. Die auf dem Lande sind manchmal so. Denke nur an den alten Camillo.« Er lachte. »Du spinnst«, sagte Daniel und schickte sich an, das kleine Eisengatter zu öffnen. Sie betraten das Kirchengelände. Rings um die alte Kirche befand sich der Friedhof. Meist waren es uralte Familiengruften, die durch verrostete Gittertüren versperrt waren. Inspektor Daniel klopfte an die Pforte der Kirche, gleichzeitig kam ihm der Widersinn. Wer klopfte schon bei einer Kirche an. Die Türen waren niemals verschlossen, denn die Gotteshäuser sind für alle und jederzeit da. Sie traten ein. Angenehme Kühle schlug ihnen entgegen. Unwillkürlich sprachen sie jetzt leiser. »Glaubst du wirklich, daß sich die Alte hier verborgen hält?« fragte Geres, »Möglich ist alles«, gab Daniel zur Antwort. »Was ist möglich?« erklang eine dröhnende Stimme, die in dem hohen Gemäuer aus allen Ecken wiederhallte. Die beiden Kriminalisten zuckten zusammen. Verwirrt blickten 79 �
sie sich um. Weiter vorne, vor der kleinen Kanzel, stand ein Mann. Er trug einen schwarzen Anzug, weißes Hemd und Sandalen. Jetzt kam er ein paar Schritte vor. »Seid willkommen«, sagte er. »Was führt euch zu uns?« »Zu uns?« Daniel sah sich um, konnte aber niemanden entdecken. Doch Bernd Geres hatte kapiert. Er knuffte seinen Kollegen leicht in die Seite. »Unser Herrgott hat für jeden ein offenes Ohr«, sagte der Pfarrer, der die beiden Männer jetzt erreicht hatte. »Ich kenne euch nicht. Ihr seid nicht von hier?« »Stimmt«, stotterte Inspektor Daniel. »Wir hätten auch nur eine kleine Frage, Hochwürden.« »Bitte. Sein Ohr ist auch mein Ohr.« Pfarrer Weidlich war hochaufgeschossen, dabei dünn, mit einem langen Hals, auf dem ein gutgeschnittener Kopf thronte. »So sprecht doch!« »Nun ja, das ist nämlich so. Wir suchen eine gewisse Martha Leberich, müssen Sie wissen. Sie kennen Sie doch, nicht wahr?« »Natürlich, mein Sohn«, das klang etwas vorwurfsvoll. »Wenn nicht ich meine Schäfchen kennen würde, wer dann?« »War nicht so gemeint«, beeilte Daniel sich zu sagen. »Ihr seid Polizisten, meine Kinder. Habe ich recht?« Als Antwort kam ein stereotypes Nicken. »Was wollt ihr von Martha? Sie ist ein unschuldiges Menschenwesen, eine gläubige Christin, und sie hat meiner Meinung nach niemandem etwas zuleide getan.« »Das, Hochwürden, überlassen Sie bitte uns«, verwahrte sich Bernd Geres, der nicht einmal vor einem kirchlichen Würdenträger Respekt kannte. »Sie haben Ihren Job und wir den unsrigen.« Pfarrer Weidlich nestelte an seinem Revers, dann räusperte er sich verhalten. »Vergiß nicht, wo du dich befindest, mein Sohn«, sagte er mit fester Stimme. »In diesem Haus bist du nur zu Gast bei ihm.« 80 �
»Wissen Sie, wo Martha Leberich sich aufhält?« fragte Inspektor Daniel ruhig und freundlich. »Aber natürlich.« »So?« Die beiden Kriminalisten horchten auf. »Sie hat sich in unsere Obhut begeben«, fuhr Pfarrer Weidlich fort. »Sie ist in Schwierigkeiten. Das hat sie mir erzählt, und sie hat uns um Hilfe angefleht.« »Wir müssen sie sprechen, unbedingt«, setzte Geres hinzu. »Wo ist sie?« »In der Sakristei.« »Na fein.« Bernd Geres machte Anstalten, sich auf die Sakristei zu zubewegen, doch er rannte voll gegen den Pfarrer, der nicht einen Zentimeter gewichen war. »Das geht nicht, mein Sohn«, sagte er mit seiner vollen Stimme. »Sie braucht ihre Ruhe.« »Kann sie ja hinterher wieder haben«, brummte Geres und wollte den Geistlichen umrunden. »Du führst dich ungebührlich auf« tadelte Pfarrer Weidlich. »Was schert mich das? Ich habe meine Arbeit zu machen.« »Ich ebenfalls«, sagte der Pfarrer und lächelte fein. »Als Hüter des Hauses unseres Herrn habe ich, unter anderem, auch dafür zu sorgen, daß sein Haus nicht entehrt wird. Also muß ich dich wahrscheinlich hinauswerfen, mein Sohn.« Er sagte es ganz ruhig. »Wollen wir doch mal sehen.« Bernd Geres schickte sich an, durch den Mittelgang zu gehen. Pfarrer Weidlich, der lange und dünne Gottesmann, packte den überraschten Geres am Kragen und zog den sich Wehrenden einfach aus der Kirche, über den kleinen Friedhof, bis auf die Straße. Bernd Geres war zu verdutzt, um etwas zu unternehmen. Der Geistliche sah den Kripomann zwingend an und sagte: 81 �
»Wenn du reumütig bist, mein Sohn, dann kannst du jederzeit wiederkommen. Gleich links am Eingang steht eine Kollekte. Vielleicht kannst du unseren Zorn mit einer kleinen Spende besänftigen.« Er entfernte sich lächelnd. Jan Daniel war abwartend stehengeblieben. Als der Pfarrer zurückkehrte, bat er erst einmal für das unfreundliche Verhalten seines Kollegen um Entschuldigung. »Das ist doch nicht der Rede wert, mein Sohn«, sagte Weidlich leutselig. »Wir sind alle mal etwas aufgebracht. Ich nehme es ihm nicht übel.« »Sagen Sie bitte, Hochwürden, wäre es nicht möglich, daß ich ganz kurz mit Martha Leberich sprechen kann?« »Nein. Es tut mir leid, aber das geht wirklich nicht.« »Wieso denn nicht Es ist wirklich wichtig.« »Das kann ich mir denken. Du bist doch sicher von einem gewissen Ralf Arius geschickt worden, nicht wahr?« »Den kennen Sie auch?« fragte Daniel verblüfft. »Nicht persönlich, mein Sohn, aber Martha hat mir viel von ihm erzählt.« »Ja, wieso denn das?« »Sie hat eine schwere Schuld auf sich geladen. Deswegen kam sie auch zu uns, um ihr Gewissen zu erleichtern. Verstehst du?« »Nein«, antwortete der Inspektor wahrheitsgemäß. »Das verstehe ich ganz und gar nicht. Was hat sie denn so schlimmes getan?« »Sie hat dem Bösen geholfen. In ihrer Unwissenheit hat sie Satan einen Dienst erwiesen«, sagte Pfarrer Weidlich ernst. »Also jetzt kapiere ich gar nichts mehr.« »Wie kannst du auch?« fragte der Pfarrer sanft. »Es ist auch nicht so leicht zu verstehen.« »Hochwürden…« Jan Daniel gab sich von seiner liebenswürdigsten Seite. »Ich muß unbedingt mit Frau Leberich sprechen. 82 �
Ich darf Ihnen versichern, daß ich nur das Nötigste fragen werde.« Pfarrer Weidlich zögerte einen Augenblick, dann hatte er sich entschlossen. »Nun gut, mein Sohn. Dann folge mir!« Er ging vor. Durch einen kleinen Nebenausgang gelangten sie in die Sakristei. Von da in die privaten Räume des Gottesmannes. Zielstrebig ging er durch die Zimmer. Vor einer Tür verharrte er kurz. Er blickte sich nach dem Inspektor um, dann nickte er und öffnete die Tür. Jan Daniel blickte Pfarrer Weidlich über die Schultern. Er zuckte zurück. Der Raum war klein und kärglich eingerichtet. Nur ein Bett, ein Nachttisch und über dem Bett ein Kruzifix. Auf dem Nachttisch standen zwei brennende Kerzen. Im Bett lag die alte Martha. Ihr Gesicht war eingefallen, blaß und wächsern. Es waren fast keine Konturen mehr zu erkennen. »Du meine Güte«, murmelte Daniel gepreßt. »Ist sie krank?« »Sie stirbt, mein Sohn.« Pfarrer Weidlich betrat das kleine Zimmer und setzte sich zu Martha Leberich aufs Bett. Er legte seine Hand beruhigend über ihre gefalteten Hände. Jan Daniel mußte sich förmlich zwingen, die Schwelle zu überschreiten. »Verstehst du jetzt, warum ich dich nicht mit ihr sprechen lassen wollte?« Der Inspektor nickte. Die alte Martha versuchte sich aufzurichten, als die den Pfarrer erkannte. Dieser drückte sie sanft zurück. »Ich muß Euch etwas sagen.« Ihre .Stimme war kaum zu verstehen. Der Tod hatte schon seine Hände nach ihr ausgestreckt. 83 �
Es würde nicht mehr lange dauern, und er zog sie in sein Reich hinüber. Geistliche streichelte zärtlich ihre faltigen Hände. Sofort schlössen sich ihre knöchernen Finger um die seinen. »Hochwürden, es ist entsetzlich. Ich spüre es! Etwas Fürchterliches kommt auf uns zu, und ich habe es ermöglicht. Man wird mir niemals verzeihen.« Sie stöhnte und bäumte sich auf. »Sei ruhig, meine Tochter«, mahnte der Gottesmann. »Sei ganz ruhig.« »Ich werde sterben, ich fühle es«, erklang es stoßartig. Der Pfarrer blickte den Inspektor schweigend an. Jan Daniel hatte sich wieder gefaßt. »Wir müssen einen Arzt holen. Die Frau muß sofort in ein Krankenhaus.« Martha Leberich hatte seine Worte gehört. Mit letzter Kraft richtete sie sich noch einmal auf. Ihre Augen waren weit aufgerissen. »Dafür ist es zu spät. Meine Zeit ist gekommen, ich fühle es.« »Bleib ruhig liegen«, flüsterte Pfarrer Weidlich. »Ganz ruhig, mein Kind. Ich bin bei dir.« »Ich bin die einzige, die weiß, wie Jörge vernichtet werden kann«, sagte sie schwer atmend. »Es darf nichts mehr geschehen. Zu viele hat er schon gerichtet. Es muß jetzt ein Ende damit sein. Aber ich bin zu schwach dafür.« »So reden Sie doch!« schrie der Inspektor auf. »Was können wir tun?« »Ihr müßt…« Marthas Worte wurden immer leiser und abgehackter. »Der junge Mann… Ich habe ihn zum Baum geführt… Er hat den richtigen Weg eingeschlagen, ich fühle es. Er ist gut. Er ist…« Sie bäumte sich auf. »Er braucht Hilfe. Er – schafft es nicht 84 �
allein. Jörge ist – zu mächtig. Es gibt nur ein Mittel, ihn zu – vernichten. Ihr müßt…« Die beiden letzten Worte waren schon nicht mehr zu verstehen. Sie sank auf ihr Lager zurück. Daniel sprang vor. Er konnte gerade noch sehen, wie Pfarrer Weidlich der alten Martha die Augen zudrückte. Erschüttert wandte er sich ab. Er war ein hartgesottener Kriminalist, für den Leichen sozusagen zum Tagesablauf gehörten, doch das Sterben der alten Frau hatte ihn gehörig mitgenommen. »Lassen wir sie in Ruhe«, bat Pfarrer Weidlich und drängte den Inspektor sanft aus dem Zimmer. Jan Daniel nickte nur. Sein Gesicht hatte sich bläßlich verfärbt. Er verabschiedete sich von dem Geistlichen mit fahrigen Worten, dann verließ er die Kirche. Draußen trat ihm sein Kollege in den Weg. »Na«, sagte Bernd Geres, »hat er dich wenigstens bekehrt?« Daniel ließ seinen Kollegen einfach stehen. Geres zuckte mit den Schultern, erklärte seinen Freund für verrückt und hielt es für das beste, tatsächlich den Mund zu halten. Man konnte schließlich nicht wissen, was mit dem Inspektor geschehen war. * Der junge Geisterjäger gab sich die größte Mühe. Irgendwie fühlte er, daß er auf dem richtigen Weg war. Deswegen arbeitete er auch verbissen weiter. So allmählich hatten die beiden Männer den Dreh heraus, und aus diesem Grunde ging ihnen auch die Arbeit recht gut von der Hand. 85 �
Der Galgenbaum war schon zur Hälfte angesägt. Obwohl sie die Motorsäge jetzt schon sehr gut handhaben konnten, gelang es ihnen einfach nicht, den Baum zu Fall zu bringen. Wachtmeister Derflin hatte in die erstgeschlagene Kerbe zwei spitzzulaufende Keile hereingehauen. Die beiden Männer hatten sich ihrer Hemden entledigt und arbeiteten mit nacktem Oberkörper. Bei dem dicklichen Derflin sah es ziemlich komisch aus, denn die Bauchfalten rutschten ihm immer wieder über den Hosengürtel. Doch darauf achtete natürlich keiner von ihnen. Ralfs durchtrainierter Oberkörper glänzte vor Schweißperlen. Seine Oberarmmuskeln spannten sich, beim Festhalten der Motorsäge. Er war so in die Arbeit vertieft, daß er alles um sich herum vergaß. Er sah nicht die irrlichternden Augen, die ihn haßerfüllt anstarrten… Jörge von Stein hatte sich wieder eingefunden. Er hockte im Unterholz. »Mann«, stöhnte Janus Derflin, »hat der Mistbaum einen eisernen Kern? Da kommt man einfach nicht durch.« »Wir schaffen es schon«, rief Ralf. Seine Fäuste packten noch fester zu. Der Hüne stemmte sich mit seinen hundertachtzig Pfund gegen die Säge. Der Baum müßte doch zu schaffen sein. Er warf all seine Kraft ins Spiel, drückte so hart, daß ihm die Schläfenadern hervortraten. Die Muskelstränge an seinen Schultern und Hals schmerzten ihm, aber er versuchte es unentwegt. Da gab es plötzlich ein gräßliches Geräusch. Die Säge hatte sich festgefressen. Doch da noch immer Druck hinter war, ruckte das Sägeblatt vertikal hin und her. Diese Gewalt riß dem kräftigen Ralf Arius die Säge aus der 86 �
Hand. Mit einem Aufschrei sprang er zurück. Verständnislos starrte er auf den Galgenbaum. Das metallene Sägeblatt zersplitterte wie Sperrholz. Die einzelnen heißgewordenen Teile zischten wie Geschosse durch die Gegend. Einer der Splitter erwischte den Geisterjäger, der im ersten Schockmoment nur an Janus Derflin gedacht hatte, und den dicklichen Wachtmeister mit einem harten Stoß zu Bodenm geworfen hatte. Das heiße Metall biß sich in Ralfs rechte Schulter und riß ihn im gleichen Augenblick von den Füßen. Der Schmerz war nicht einmal so schlimm, im ersten Augenblick jedenfalls. Doch der Aufprall des Metallstücks warf den Geisterjäger mühelos ins Gras. Janus Derflin hatte sich wieder aufgerappelt. Er keuchte, und dann sah er Ralf Arius vor sich liegen. Aus der Wunde an der Schulter sickerte ein Blutfaden. Mehr war nicht zu sehen, aber Ralf war leichenblaß. »O verdammt!« preßte Derflin zwischen den Zähnen hervor. »Ich habe es doch gewußt. Dieser Baum ist nicht zu fällen, Ralf. So langsam glaube ich an Ihre Geschichte.« »Das freut mich«, japste Ralf Arius. »Dann hat dieser Dreck hier«, er blickte flüchtig auf seine verletzte Schulter, »wenigstens seinen Zweck erfüllt. Verdammt, Janus, können Sie das Ding hier rausziehen? Ich glaube, es bringt mich gleich um.« Er versuchte ein krampfhaftes Grinsen. Es mißlang ihm völlig. Derflin kniete sich neben den Geisterjager. Er konnte das Metallstück gut erkennen. Es hatte sich wie ein Pfeil in die Schulter von Arius gebohrt. Knapp drei Zentimeter staken hervor. »Warte mal, Junge, das haben wir gleich. Beiß mal die Jacketkronen aufeinander und denke an ein wohlgerundetes Mädchen mit langen Zöpfen, die bis auf den Po fallen«, sagte Janus Derf87 �
lin. »Hören Sie auf, mich noch mehr zu quälen!« stöhnte der Geisterjäger. »Ich mag nur rothaarige Zwanzigjährige, aber ohne volle Hüften und lange Zöpfe.« »Konnte ich ja nicht wissen.« Janus zwang sich ein Grinsen ab. Ertastete sich langsam vor. »Wenn Sie mir jetzt eine runterhauen wollen, dann warten Sie bitte, bis ich fertig bin, einverstanden?« »Legen Sie los! Schlimmer als eine Steuererklärung kann es auch nicht sein.« »Recht haben Sie.« Beim letzten Wort packte Derflin zu. Ralf Arius ging förmlich mit. Er war versucht – einfach nur so – dem Wachtmeister die Kehle zuzudrücken. Aber da war der Metallsplitter schon draußen. Arius fiel keuchend zurück. Aus seinen Augen liefen Tränen. War nicht zu vermeiden. Man konnte einfach nichts dagegen machen. »Puh«, stöhnte er ziemlich kläglich. »Danke, Janus, danke.« »Nicht der Rede wert, Ralf«, erwiderte der Wachtmeister. »Sie haben mich ja zu Boden gestoßen, nicht wahr?« »Hätte ich es doch bloß nicht. Denn sonst würden Sie jetzt hier sitzen und denken, daß es irgendeinen überdimensionalen Bohrer gibt, der partout Ihre Schulter löcherig machen will.« »So schlimm ist es?« fragte Janub. »Und noch ein bißchen mehr«, seufzte Ralf Arius. »Sekunde mal!« Der Wachtmeister wieselte zu dem Kleiderhaufen hin, den die beiden Männer vor Beginn ihrer Arbeit errichtet hatten. Gleich darauf kam er mit einer kleinen Taschenflasche zurück. »Slibowitz«, sagte er stolz. »Aber einer von der verbotenen Sorte.« »Her damit!« lächelte Ralf, obwohl es ihm schon wieder schwerfiel. 88 �
Wachtmeister Derflin hatte gerade einen kleinen Becher eingeschenkt, als plötzlich ein kühler Wind aufkam. Er kam so überraschend, daß die beiden Männer erschauderten. »Was ist denn das?« Derflin sah sich um, und er sah es. Seine Augen weiteten sich. Aus dem dichtstehenden Unterholz des Waldes, trat ein Mann hervor. Ein Mann in einer seltsamen Kleidung. Im gleichen Augenblick wußte der Wachtmeister, daß Ralf Arius nichts erfunden hatte. Er sah Jörge von Stein – mit einem grausamen Lächeln auf den Lippen – auf die Lichtung treten. Ralf hatte es noch nicht bemerkt. Ihn beschäftigte im Augenblick nur seine schmerzende Schulter. Doch als er das seltsame Gebaren von Janus mitbekam, folgte er dessen Blickrichtung. Es traf den Geisterjäger wie ein Schlag. Er zwang sich hoch. Der Schmerz war vergessen, so als ob es ihn nie gegeben hätte. Jörge von Stein verharrte auf der Stelle. Sein Gesicht war eine einzige Grimasse. Das Messer stak in der Scheide an seiner rechten Seite. Nun legte er die Faust darauf. Er bleckte die Zähne. »Ich dachte«, so sprach er mit rauchiger Stimme, »daß du nicht mehr hier sein würdest. Hat es dir nicht gelangt? Zweimal haben wir uns getroffen, Geisterjäger, und jedesmal warst du mir ausgeliefert. Du bist unvernünftig. Warum gehst du das Risiko ein?« Ralf wich unwillkürlich zurück. Janus Derflin zweifelte an seinem Verstand. Das gab es doch nicht. Das war doch nur ein Traum, eine Folge von durchsoffenen Nächten. Na klar, das mußte es sein. Er konnte einfach nicht daran glauben, daß es diesen legen89 �
dären Jörge von Stein tatsächlich gab. Das war unmöglich. »Ralf«, schrie er. »O verdammt, Ralf!« Der Geisterjäger beachtete den Wachtmeister nicht weiter. Er durfte jetzt keinen Fehler begehen. Jeder Schnitzer würde tödlich enden. Sein Gegner war zu gefährlich Ralf machte sich nichts vor. Er wußte, daß er diesmal einem Gegner aus dem Höllenreich gegenüberstand, der ihn mit einem Handwischen vernichten konnte. Das war ein verdammtes Gefühl. »Was willst du von mir?« fragte er mit belegter Stimme. »Du hast dich mir in den Weg gestellt, Geisterjäger. Wir kennen dich. O ja, wir kennen dich, der du dich Ralf Arius nennst. Du bist besessen von der Idee, uns zu vernichten, und das ist dir auch sehr oft gelungen. Doch diesmal hast du dich mit mir eingelassen, und ich bin dir überlegen.« Er lachte grausam auf. »Du willst mich töten?« fragte Ralf Arius. »Ja!« Jörge von Stein setzte einen Fuß vor den anderen. »Ja, das will, und das werde ich, Geisterjäger.« »Von diesem Mann hier willst du nichts?« Ralf zeigte auf den Wachtmeister, der wie ein Häufchen Unglück dastand. »Was schert er mich?« kam es verächtlich über die Lippen des Untoten. »Dann laß ihn gehen!« rief Ralf. Jörge von Stein, der grausame Rächer aus dem Reich der Toten, hatte nur ein schallendes Gelächter übrig. »Soll er doch gehen.« »Haben Sie gehört, Janus? Verschwinden Sie, so schnell Sie können! Versuchen Sie, die alte Martha zu finden!« Janus Derflin, der noch immer mit offenem Mund auf den 90 �
grausamen Gesellen starrte, erwachte wie aus einem Traum. In seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Vor ihm stand ein Mann aus Fleisch und Blut. Daß der Dämon nur menschliche Gestalt angenommen hatte, kam ihm gar nicht in den Sinn. Er sah nur den Mann, und das reichte ihm. Mit einem mächtigen Sprung erreichte er Jörge von Stein. Der Geisterjäger hatte es nicht verhindern können. Er fluchte innerlich. Seine Waffen, sein magisches Armband, hatte keinerlei Reaktion bewiesen. Das war ein Zeichen dafür, daß sein Gegner übermächtig war. Janus erwischte den Dämon voll. Mit einem gräßlichen Fluch stürzte Jörge von Stein zu Boden. Der Wachtmeister schlug direkt neben ihm auf. Sein Gesicht hatte sich vor Entsetzen verzerrt. In diesem Augenblick kam der Dämon wieder hoch… * »Da kommt irgendeine Schweinerei auf uns zu«, sagte Jan Daniel nachdenklich. Er hatte den Weg zum Revier eingeschlagen, um den Wachtmeister zu benachrichtigen, daß die alte Martha gestorben sei. »Wie meinst du das?« fragte Geres, der neben seinem Kollegen ging und noch immer nicht verstand, um was es hier überhaupt ging. »Ich glaube, daß dieser Arius gar nicht einmal so unrecht hat mit seiner Story. Hier geht tatsächlich etwas nicht mit rechten Dingen zu.« »Jetzt sage bloß, daß auch du anfängst, an Geister zu glauben.« »Ich habe einmal gelesen, daß jeder Mensch in seiner Todesstunde die Wahrheit sagt. Wenn es wirklich an dem ist, dann 91 �
gibt es diesen legendären Jörge von Stein.« »Nun mach aber mal einen Punkt! Hat man dir auf der Polizeischule nicht beigebracht, daß einzig und allein Fakten zählen?« »Ja doch. Ist schon gut, Bernd«, sagte er leise. Sie hatten das Revier erreicht. Wachtmeister Derflin jedoch war nirgendwo zu finden. Verwundert blickten die beiden Kriminalisten sich um. »Wo kann er nur sein?« »Keine Ahnung«, antwortete Inspektor Daniel. »Vielleicht ist er mit Arius zusammen.« »Und wo, bitte schön, ist Arius?« »Bin ich Hellseher?« schimpfte Daniel. Doch da kam ihm plötzlich eine Idee. »Die alte Frau hat etwas von einem Baum erzählt. Sagt dir das was?« »Laß mich einmal überlegen«, sagte Geres. »Klar doch. Als wir damals in diesem Wirtshaus saßen, da schnappte ich einige Gesprächsfetzen der Umsitzenden auf. Da war die Rede von einem Galgenbaum.« »Den könnte sie gemeint haben. Los, was stehen wir hier noch rum?« Bernd Geres seufzte auf. »Erst suchen wir eine alte Frau und jetzt einen Baum. Das glaubt mir keiner, wenn ich das im Büro erzähle.« »Dann laß es doch bleiben«, schlug Daniel vor. Sie befanden sich jetzt wieder auf der Straße. Der Inspektor fragte den ersten Mann, der ihnen über den Weg lief. »Hallo, Sie, ich hätte eine Frage.« Der Mann blieb stehen und legte den Kopf schief. »Können Sie uns sagen, wo wir den Galgenbaum finden?« Der Bauer bekreuzigte sich hastig, wandte sich ab und lief mit langen Schritten davon. 92 �
»Mir scheint, du hast in ein Wespennest gestochen, mein Lieber.« Gleich darauf zuckte Geres zusammen. »Ich glaube, wir beide haben sie nicht mehr alle«, sagte er. »An diesem komischen Galgenbaum haben wir Arius doch verhaftet, weißt du das nicht mehr?« Daniel schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. »Herrje, du hast recht. Natürlich, das muß der Galgenbaum gewesen sein. Oje, das darf man keinem erzählen.« »So ist es.« Geres lächelte etwas gequält. »Das ist gerade so, als ob man die Tatwaffe in der Hand hält und fragt, wo ist denn bloß die Mordwaffe?« Die zwei Kriminalisten machten sich auf den Weg. Sie liefen geradewegs in ihr Verderben. * Ralf Arius hatte abwehrend beide Hände vorgestreckt, denn der Dämon kam mit schleichenden Schritten auf ihn zu. Derflin hatte sich wieder erhoben. Er zitterte am ganzen Körper. Aus großen Augen sah er auf den Unheimlichen. Schweiß perlte von seiner Stirn. Der Dämon hatte den Geisterjäger fast erreicht. Arius fühlte sich so hilflos wie niemals zuvor. Er wich Schritt für Schritt zurück. Seine Gedanken überschlugen sich. Der Wachtmeister griff an sein Koppel. Mit fliegenden Fingern nestelte er an der Pistolentasche, er riß die Waffe heraus. »Stehenbleiben!« schrie er mit sich überschlagender Stimme. »Oder ich schieße.« Doch der Dämon kümmerte sich nicht um den Wachtmeister. Stur schritt er weiter auf den Geisterjäger zu. Sein Gesicht hatte sich zu einer Fratze verzogen. Ein faunisches Lächeln kam über 93 �
seine Lippen, und da drückte Derflin ab. Er feuerte das Magazin leer. Alle Kugeln trafen ihr Ziel, aber Jörge von Stein zeigte keinerlei Reaktion. Wachtmeister Derflin starrte einen Augenblick verwundert auf seine Waffe. Er konnte einfach nicht verstehen, daß die Schüsse keinerlei Wirkung zeigten. Ralf Arius warf sich jetzt herum. Er mußte dem Dämon ausweichen, mußte flüchten, denn er wußte, wenn Jörge von Stein ihn in seine Hände bekam, dann war es um ihn geschehen. In diesem Augenblick drangen Worte an sein Ohr, Worte, die er im ersten Augenblick nicht vernahm, nicht vernehmen konnte. Doch sie fraßen sich in sein Unterbewußtsein. »Höre zu! Der Baum… Du mußt den Baum fällen, hörst du? Den Baum, den Baum…« Ralf wirbelte herum. Er riß beide Hände an die Ohren, taumelte leicht und versuchte in die Richtung des Galgenbaumes zu kommen, Doch dazwischen stand der Dämon. »Was bist du doch für ein Dummkopf. Meinst, daß du dich mit mir anlegen kannst, du Wurm!« Jörge von Steins menschliche Hülle schüttelte sich vor Lachen. Es klang fürchterlich. Die ganze Lichtung hallte von dem grauenhaften Gelächter des Dämons wider. Der Baum, der Baum… So höre doch, der Baum… Diese Worte rissen den Geisterjäger fast vom Boden, so intensiv klangen sie in ihm, ließen sein Innerstes erbeben. »Janus«, schrie er in höchster Not, »Janus, nimm die Säge und mache weiter!« Derflin stand noch immer unter Schockeinwirkung, aber er vernahm Ralfs Worte. Automatisch setzte er einen Fuß vor den anderen. 94 �
Der Geisterjäger sah es aus den Augenwinkeln. Und da hatte der Dämon ihn erreicht… Ralf warf sich erbarmungslos dem Gegner mit einem verzweifelten Aufschrei entgegen. Sein Gefühl sagte ihm, daß er den Dämon ablenken mußte. Er durfte ihm keine Zeit lassen, sich um Janus zu kümmern. Und er machte es gründlich. Seine Fäuste stießen vor und trafen Jörge von Stein genau vor der Brust. Mit einem wütenden Keuchen taumelte dieser zurück, fing sich aber gleich darauf wieder. Er stürzte auf den Geisterjäger zu. Seiner Kehle entstieg ein unmenschliches Knurren, als er sein Ziel gefunden hatte. Ralf wurde zu Boden geschleudert. Der Dämon setzte sofort nach. Er stürzte sich auf den wehrlosen Geisterjäger. Es nahm Arius fast den Atem. Eine Pestwolke von Gestank hüllte ihn ein. Verzweifelt schlug er um sich, trommelte mit seinen Fäusten gegen den untoten Körper, versuchte sich von dem Dämon wegzurollen. Er brauchte Distanz, Zeit und Luft zum Atmen. Es gelang Ralf, den Dämon von sich zu schleudern, doch er wußte, daß es nur ein kurzer Aufschub sein konnte. In diesem Augenblick hatte Derflin die Motorsäge angeworfen. Das dröhnende Geräusch ließ die Lichtung erbeben. Jörge von Steins Kopf ruckte herum. Wenn das Werk gelingen würde, dann wäre er verloren. Er durfte es nicht soweit kommen lassen. Seine Rache war noch nicht erfüllt. Noch gab es zuviel für ihn zu tun, um sein dämonisches Gelübde und Vermächtnis zu tilgen. Mit einem Aufschrei sprang er auf Janus Derflin zu. Er packte ihn und riß ihn mit sich. Ralf Arius kam wieder auf die Beine. Er wischte sich den Schweiß aus den Augen. 95 �
Janus Derflin war verschwunden – und mit ihm Jörge von Stein… Ralf zögerte keinen Augenblick. Obwohl die Sorge um den Wachtmeister ihn mit schmerzlicher Heftigkeit erfüllte, war er doch noch in der Lage, das Richtige zu tun. Das halb zersplitterte Sägeblatt stak noch im Baumstamm. Verzweifelt riß er an den Haltegriffen, um die Maschine zum Arbeiten zu bringen. Doch das war nicht mehr möglich. Die Säge war zerstört, unbrauchbar geworden. Ralf ließ sie einfach stecken und ergriff eine der langstieligen Äxte. Mit dieser schlug er wie ein Wahnsinniger in die entstandenen Kerben. In diesem Augenblick betraten die beiden Rothenburger Beamten die Lichtung. Sie sahen mit staunenden Augen auf den wie verrückt arbeitenden Geisterjäger. Ralf sah sie. »Kommen Sie!« brüllte er aus Leibeskräften. Jan Daniel stand sofort neben ihm. »Was geht hier vor?« fragte er hastig. Zwischen zwei heftigen Schlägen deutete Ralf auf die zweite Axt. »Nehmen Sie die. Um Himmels willen, so machen Sie doch schon!« Der Inspektor zögerte keine Sekunde. Er tat das, was Arius ihm aufgetragen hatte. Er vergeudete keine Zeit mit Fragen. Nur die monotonen Schläge der Äxte waren noch zu vernehmen… Jörge von Stein hatte den Wachtmeister mit sich gerissen, ihn vereinnahmt. Sie befanden sich im Zwischenreich. Der Dämon hielt den bewußtlosen Wachtmeister Derflin zwischen seinen Fäusten. 96 �
Er hätte ihn auch auf der Erde töten können, doch das erschien ihm nicht Strafe genug. Er wollte dem Erdenwurm Höllenqualen bereiten. Einer, der sich gegen ihn auflehnte, verdiente ein grausames Ende. Ein plötzlicher Tod wäre zu wenig der Rache. Der Schuldige sollte leiden. Mit einemmal verspürte der Dämon die lauernde Gefahr. Man war dabei, ihn auszulöschen, ihn zu vernichten. In seiner Wut hatte er nicht daran gedacht, daß noch andere Menschen zurückgeblieben waren, und vor allem einer, dem sein ganz besonderer Haß galt. Ralf Arius, Schrecken der Geister. Wie hatte er nur so nachlässig sein können? � Im Nu hatte er sich entschlossen. � Er materialisierte sich wieder auf der Lichtung. � Janus Derflin entglitt seinen tödlichen Fäusten. Er kollerte wie � ein nasser Sack zu Boden und blieb völlig benommen liegen. Jörge von Stein starrte aus haßerfüllten Augen auf die Szene, die sich ihm bot. Zwei Männer hackten auf den Galgenbaum ein, als gelte es, ihr Leben zu verteidigen. Bernd Geres, der bisher abwartend dagestanden hatte, sah den Dämon als erster. Sein Schrei ließ die beiden Männer am Baum aufhorchen. Ralf Arius blickte in die Richtung. Er sah die Wut in den Augen des Dämons, las darin die Absicht zu töten. »Rasch!« feuerte er Inspektor Daniel an. »Wir haben nur noch Sekunden.« Jan Daniel blickte über die Schultern. Jörge von Stein schoß wie ein Pfeil auf die beiden Männer zu… »Obacht!« brüllte Ralf Arius, der den Dämonen auf sie zustürzen sah. 97 �
Inspektor Daniel reagierte spontan. Er überlegte keinen Augenblick. Dazu kam er auch gar nicht. In reiner Reflexbewegung holte er mit der Axt aus. Die scharfe Schneide zischte durch die Luft – und traf Jörge von Stein. Jeden normalen Menschen hätte dieser wuchtig geführte Hieb gezweiteilt, doch der Dämon entwischte der Axt. Er fuhr auf Inspektor Jan Daniel wie der Leibhaftige zu. Der Baum begann sich schon leicht zu neigen. Arius und Bernd Geres hatten das Zentrum zertrümmert. Ein, zwei Schläge noch… Der Dämon mußte das verhindern! Dieser Baum, an dem er vor über zweihundert Jahren sein schäbiges Leben ausgehaucht hatte, war für ihn zur Brücke von Jenseits ins Leben. Der Baum durfte nicht fallen! Inspektor Jan Daniel bekam den Aufprall schmerzhaft zu spüren. Er fiel hintenüber. Daniel war das Kämpfen gewöhnt. Er nahm all seine Kraft zusammen, um seinen Gegner außer Gefecht zu setzen, doch gegen einen Dämon gab es kein wirksames Mittel, der Selbstverteidigung. Der Inspektor bekam das alsbald zu spüren. Er fühlte sich angehoben, schwebte sekundenlang über dem Boden – und dann kam der Fall. Bei dem Sturz brach er sich das Handgelenk. Er rollte um seine eigene Achse. Keuchend versuchte er hochzukommen. Er hörte die Schläge, die Ralf Arius unverändert ausführte. Der Geisterjäger nutzte die Gelegenheit aus. Irgendwie wußte er, daß, wenn der Baum fiel, auch die Macht des Dämons gebrochen war, und deswegen bewegte er die Axt mit wütenden Bewegungen. Das Werkzeug fuhr in bewundernswerter Regelmäßigkeit 98 �
unentwegt ins Holz des Galgenbaumes. Jörge von Stein hatte die Gefahr schon lange erkannt. Er mußte es verhindern, denn sonst war seine Macht gebrochen. Er wäre hilflos wie ein Windhauch, wie ein kurz vorm Auspusten stehendes Streichholz. Sein Gesicht hatte sich verzerrt. Er sprang Ralf Arius wie ein Tiger an. Der Geisterjäger holte gerade zum letzten, endgültigen Schlag aus, als der Aufprall ihn zu Boden warf. Eine grausame, entsetzliche Eiseskälte hüllte ihn ein. Das dämonische Totenreich streckte seine Klauen nach Ralf Arius aus. Ein letzter Schlag noch, und der Galgenbaum würde fallen. Ein Schlag nur noch, eine kleine, letzte Bewegung… O verdammt, das müßte doch zu schaffen sein! Ralf Arius krallte sich in den Haaren Jörge von Steins fest. Der Dämon schrillte in einem fürchterlichen Crescendo auf. Sein irres Gelächter traf den Geisterjäger mit Tonnengewalt. Ralfs verletzte Schulter schmerzte höllisch. Ein fürchterliches Ziehen durchjagte seinen gepeinigten Körper. Der Dämon hielt den Hals des Geisterjägers umschlungen. Seine eiskalten Finger verkrampften sich. Die Kehle wurde Ralf eng. Die dämonischen Geisteskräfte gruben sich in sein Hirn. Eine entsetzliche Macht übernahm Ralfs Verstandeskraft, hemmte das Denken des Geisterjägers. Jörge von Stein, der grausame Dämon, der sein Vermächtnis erfüllen wollte, zischte zufrieden. Ralf Arius waren nur noch wenige eigene Gedankenfäden geblieben. Sein Innerstes bäumte sich auf, befahl ihm, alle Kräfte zu aktivieren. Doch sein körperliches Vermögen war schon nicht mehr in der Lage, seinem Willen zu folgen. In diesem Augenblick drang ein brechendes Knacken an sein 99 �
Ohr. Wachtmeister Janus Derflin hatte spontan reagiert. Er war wieder zu sich gekommen, und da war ihm eine Eingebung gekommen. Wer weiß woher… Jedenfalls war er vorgestürmt, hatte sich mit seinen fast fünfundneunzig Kilo gegen den Baum geworfen… und das hatte ausgereicht. Der Galgenbaum neigte sich leicht. Und noch einmal ließ Janos sich mit aller Wucht gegen den Baum fallen. Der Baum kippte im Zeitlupentempo zur Seite. Krachend schlug er aufs Erdreich. Die mächtigen Wurzeln lösten sich und staken wie Messer aus dem Boden. Der Galgenbaum war gefällt… Jörge von Stein sah es. Seine Augen weiteten sich. Er wollte vorstürmen, noch etwas unternehmen. Das durfte einfach nicht sein! Der Baum durfte nicht fallen! Seine Krallenhände ließen von dem Geisterjäger ab. Plötzlich war alle Kraft verschwunden. Er zwang sich hoch, taumelte, suchte irgendwo Halt. Ralf Arius erkannte seine Chance. Er sprang auf seine Beine. Seine Brust hob und senkte sich keuchend. Der verzweifelte Schrei des Dämons erreichte sein Ohr. Er sah, wie Jörge von Stein förmlich in sich zusammensank. Er wurde immer fadenscheiniger, durchsichtig. Wie ein Wilder wütete er noch herum, wirbelte über die Lichtung. Seine Statur verwischte immer mehr, wurde zu einem Schemen. Klägliches Stöhnen erklang, ein leises Heulen, welches der Wind mit sich trug. Der Spuk war vorbei. Die Männer konnten es noch gar nicht fassen. Es war alles viel zu schnell vor sich gegangen. 100 �
Ralf Arius faßte sich als erster. Er kümmerte sich um den verletzten Inspektor. Dessen gebrochenes Handgelenk schmerzte. Aber er verzog keine Miene. Ralf half ihm hoch. Dann waren auch Geres und der Wachtmeister bei ihnen. Ihre aufgeregten Worte erfüllten die Lichtung. Ralf Arius, der Geisterjäger, lächelte nur. Es sah noch etwas angegriffen und lädiert aus. Aber was machte das schon? »Ist es wirklich vorbei?« fragte Janus leise. »Ja.« Der Geisterjager nickte. »Ja, es ist vorbei, mein Freund. Sie haben sich tapfer geschlagen.« »Ach, hören Sie schon auf!« wehrte der Wachtmeister ab. »Ich bin schließlich eine Respektsperson, nicht wahr?« Sein Grinsen war genauso schief wie das des Geisterjägers. »Ich hätte nur zu gern gewußt, was dieser verfluchte Baum mit diesem Hundsfott zu tun hat. Können Sie mir das sagen, Ralf?« »Können Sie mir sagen, warum der Kreis rund ist?« »Werden Sie nicht schon wieder arrogant, Ralf. Wissen Sie es wirklich nicht?« »Es gibt da so einen Standardspruch, Janus.« »Und welchen?« »Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, die…« Ralf wurde unterbrochen. »Ersparen Sie sich den Rest! Das kennt man.« Jetzt meldete sich Inspektor Daniel zu Wort. »Wissen Sie, ich hätte ganz gerne eine ärztliche Behandlung, wenn das möglich wäre. Und über das andere können wir hinterher noch sprechen.« »Was halten Sie von einem Slibowitz, Inspektor?« fragte Janus 101 �
Derflin. »Oder möchten Sie partout erst zum Arzt?« »Saufen im Dienst ist strikt verboten.« »Geister sind aber auch nicht erlaubt«, konterte Bernd Geres, dem sich allmählich die gesträubten Haare wieder legten. »Du hast nicht oft recht, Bernd«, sagte der Inspektor aus Rothenburg. »Aber diesmal liegst du irgendwie richtig. Was ist nun, Wachtmeister? Einen Inspektor vereiert man nicht. Wo ist der Fusel?« »Sekunde, kommt gleich«, Janus grinste. * Etwas später verließen die vier Männer die Lichtung. Inspektor Daniel begab sich zu Dr. Berger in Behandlung. Geres, sein Kollege, begleitete ihn. Janus Derflin und der Geisterjäger gingen zum Revier. Sie setzten sich auf die harten Stühle und schwiegen eine endlose Zeit. Janus brach zuerst das Schweigen. »Die alte Martha hat uns allen etwas vorgemacht?« Ralf nickte nur. Der Wachtmeister sprach weiter: »Wie hat sie es nur fertiggebracht, diesen Geist zu beschwören? Das will mir einfach nicht in den Schädel.« »Sie war eine Nachfahrin derer von Stein, und sie muß über geheime Aufzeichnungen verfügt haben.« »Was meinen Sie, finden wir die Aufzeichnungen noch?« »Ganz sicher nicht«, antwortete Ralf. »Ist vielleicht ganz gut so.« »Bestimmt sogar.« Der junge Geisterjäger, der völlig erschöpft auf seinem Stuhl hockte, nickte. »Wissen Sie was, Ralf?« Wachtmeister Derflin hatte erkannt, 102 �
wie es um Arius bestellt war. »Was halten Sie von einem Essen, so üppig, daß der Magen anbauen muß, und hinterher Flüssigkeit in Spiritusformat, und zwar so viel, daß die Leber uns vor Freude umarmt? Wäre das nichts?« Ralf Arius zwang sich zu einem Lächeln. »Okay«, sagte er. »Ich bin einverstanden. Aber das geht auf meine Rechnung, klar?« »Wollen Sie mich beleidigen?« empörte sich Janus. »No, ich denke ja nicht daran. Versaufen wir Ihre Pension.« »Und noch 'n bißchen mehr.« Der Wachtmeister griente. »Von mir aus«, sagte Ralf. Er war fertig wie ein Vier-Minuten-Steak. Schlafen, dachte er, jetzt eine Portfon schlafen und alles vergessen. Nicht mehr daran denken müssen, daß es Geister und Dämonen gibt. Nur noch das Schöne sehen: einen Sonnenaufgang, sich selbst im Arm einer schönen Frau… Vollmond, mit einem Glas Scotch in der Hand und faul auf dem Rücken liegend. Dazu ein bißchen Musik von Helmut Zacharias, ganz sanft, nur so im Hintergrund. Es muß doch möglich sein, so kam es ihm in den Sinn, so zu leben wie Millionen andere Menschen auch. Mal etwas Ärger mit dem Chef, volle Busse und U-Bahnen, den Montag verfluchen und sich aufs Wochenende freuen, eine Ehefrau zu haben, die einem jeden Morgen frische Wäsche rauslegt und am Wochenende Hühner grillt, die Kinder versorgt und nur für den Mann da ist. So etwas gab es millionenfach. � Doch das waren nur Wunschträume für den Geisterjäger. � Er stand auf und folgte dem Wachtmeister. � War schon zum Verzweifeln fand er, aber nicht zu ändern. � So einen wie dich muß es auch geben, dachte er seufzend. War � nun mal nicht anders. Und, verdammt, wenn er ehrlich war, dann gefiel ihm sein 103 �
Leben auch so, wie es war. Aber meckern wird Ja wohl noch erlaubt sein! ENDE
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