Cover DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen Jürgen Höpfner Verhängnis vor Elysium
Kriminalroman
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Cover DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen Jürgen Höpfner Verhängnis vor Elysium
Kriminalroman
Meta Lindthaler, eine Rentnerin, wurde in ihrer Wohnung tot aufgefunden. Die Genossen der Morduntersuchungskommission müssen diesen Umstand klären. Sie stoßen auf eine Reihe mysteriöser Personen. Da sind der Hobby-Antiquitätensammler Hottenbach, die Familie Wendelin, jetzige Hauseigentümer der Lindthalerschen Villa, die früheren Untermieter, ein taubenschießender raunziger Nachbar, der in der BRD lebende Sohn der Verstorbenen, ein Gelegenheitsarbeiter, ein Betrunkener, die Kaffeekränzchendamen. Sie alle hatten mehr oder weniger feste Beziehungen zu Meta, fast jeder von ihnen ein Mordmotiv. Schritt für Schritt nähern sich die Genossen der K der Wahrheit und … der Aufklärung eines Verbrechens.
Jürgen Höpfner
Verhängnis vor Elysium
Verlag Das Neue Berlin
1 Die stillen Straßen der Vorstadtsiedlung wurden nur hin und wieder von Laternen erhellt, die nach seitwärts ein Stück Lattenzaun, kunstgeschmiedetes Eisengitter, zuweilen Maschendraht oder Hecken aus der Dunkelheit hoben. Zurückgesetzt, hinter kahlem Geäst hervor, schimmerten wertsichere Sparanlagen – Flachbau, Würfelbau, Bungalowstil, auch ältere, romantisierende Schlößchen, mit und ohne Komfortgarage, mit und ohne Pool – in den frühen Novemberabend. Der Mann mit Aktentasche, abgerissen, torkelnd, überlaut mit sich selbst im Gespräch, paßte nicht in die Seriosität. Ein Fremdkörper in diesem Viertel. Der legte seine Penunsen anderweitig an, für gewöhnlich im „Lichtenberger Eck“, aber heute, Montag, war da geschlossen, Also hatte er sich einem Kollegen verbrüdert, der hat ihn bis hier raus gelotst. Nun gab es Schwierigkeiten mit dem Heimweg: der S-Bahnhof Wilhelmshagen war wie von Grundstücken verschluckt. Normalerweise vertrug er einen Stiefel; unter einem gewissen Quantum ging es bei ihm nie ab. Nicht von ungefähr rühmte er sich besonderen Stehvermögens. Wobei seine besten Jahre überschritten waren: die Leber spielte nicht mehr mit, der Magen muckerte; es haute ihn immer 6
öfter mal auf die Bretter. Vorhin, als er aus der Kneipe taumelte, mußte er sofort die falsche Richtung erwischt haben. Beim Versuch zurückzufinden, hatte er sich nur noch mehr verfranzt. Ein Taxi, erleuchtetes Schild, frei – unwahrscheinlicher Zufall –, war in mäßigem Tempo entgegengerollt. Er hatte deutlich ausgemacht, daß es sich um ein Taxi handelte, daß es frei war – die Sicherheit der Beobachtung sprach für seinen beförderungswürdigen Zustand. Gestikulierend, unübersehbar, unüberhörbar war er auf die Fahrbahn geschlingert. Der Chauffeur hatte ihn ignoriert! Hatte ihn kaltschnäuzig, wie einen Besoffenen, am Rinnstein stehenlassen! Auch die, an gelegentliche Passanten, zumeist ältere Damen, in tadelloser, höflicher Manier herangetragenen Bitten um Ortsauskunft wurden auf rohe, verletzende Weise beantwortet: Man wich ihm aus, wechselte die Straßenseite, bevor er sein Anliegen zu Ende bringen konnte. Unter der nächsten Laterne kramte er nach den Zigaretten. Eine Karo steckte er sich ins Gesicht, zwei rutschten aus der Schachtel, fielen in den Dreck. Zu seinen Schuhen sammelten sich beim Anreiben zersplitterte oder vorzeitig verlöschte Streichhölzer. Endlich kitzelte Rauch auf der Zunge. Das Nikotin erleichterte die Konzentration. Wenn er heute noch irgendwie nach Hause will, muß er jetzt ganz eiskalt überlegen. Zunächst galt es, Klarheit über den Standort zu gewinnen. Das Schild mit dem Straßennamen schien gut ausgeleuchtet. Trotzdem eignete den Buchstaben eine verdrießende Unschärfe: sie schoben sich ineinander, hoben, senkten und wellten sich. Erst unter Zuhilfenahme des Zeigefingers kam er zu einem Ergebnis: KASTANIENALLEE. Das nützte ihm, ohne Stadtplan, nicht viel. Doch hinter 7
dem Zaun, hinter Ziersträuchern des Anwesens, ertönte ein hoffnungsvolles Knacken von Zweigen, Schritte. Er versuchte, sich bemerkbar zu machen. Tastete sich, ungeachtet eines heftiger werdenden Schluckaufs an den Zaunlatten vorwärts. Ein Briefkasten, Klingelknöpfe, ein Emailleschild mit der Hausnummer: 12. Die Pforte des Grundstücks stand offen. Die Lücke – unangekündigt – brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Er verlor die Zigarette, stolperte über Gehwegplatten, Rasen, auf das im Hintergrund ragende nächtige Gebäude zu. Griff in Zweige, verlor vollends die Balance und stürzte zwischen vertrocknete Stauden. Nichts ist beseligender, als einfach so dazuliegen, schwerelos, den Fährnissen des aufrechten Ganges enthoben. Er machte keine Anstalten, sich aufzurappeln. Wie man sich bettet, so schläft man – er hatte sich durchaus nicht schlecht gebettet: Grasnarbe, lockere Erde. Durch das kahle Gezweig des Strauchwerks zeichnete sich die Villa ab. Mit ihrem Spitzturm, den schmalen hohen Fenstern, in denen nur gelegentlich Licht aufflammte, mochte sie, soweit das in der Dunkelheit auszumachen war, auf achtzig bis hundert Jahre Abschreibung zurückblicken. Ein düsteres, wenig anheimelndes Haus, in einem düsteren, wenig anheimelnden Garten; jedenfalls erweckten die fahlen Umrisse solche Empfindungen. Manchmal vertrieben Geräusche den Tran. Angestrengt starrte er in die trieselnde Schwärze. Immerhin befand er sich auf Privatbesitz: Wenn ihn hier ein Köter aufstöberte, so ein bissiger Schnapper … Aber er vernahm kein Bellen; nur gelegentliches Rascheln im Laub, Knirschen von Kies. Auch nicht kontinuierlich, nur zeitweise. Es hatte den Anschein, als umkreise jemand im Dunklen das Haus. Direkt vor seinen Augen phosphoreszierten die Leuchtziffern der Armbanduhr. Kurz vor 18 Uhr, er war 8
sich dessen sicher. 17 Uhr war er noch in der Kneipe gewesen, für 19 Uhr schien ihm der kleine Zeiger zu weit rechts. Der Gelegenheitskauf in der Joppentasche machte sich drückend bemerkbar. Er versuchte, in eine günstigere Lage zu kommen. Ein jäher, irrsinnig brennender Schmerz auf dem eben angehobenen Hinterteil ernüchterte ihn augenblicklich. Wie ein Hornissenstich. Fluchend, nach seinem Hintern fühlend, stemmte er sich hoch. Ein Mann, etwas wie ein Gewehr in Händen haltend, kam hinter Tannen vor, fuhr ihn barsch an: „Was krauchen Sie hier im Gestrüpp! Haben Sie was abbekommen?“ „Danke der Nachfrage“, preßte er durch die Zähne. „Mein Arsch läßt grüßen.“ „Wird nicht so schlimm sein. Das ist nur Diabolo … Luftbüchse … Lassen Sie die Hosen mal runter …“ Vollidiot, ballert hier blind in die Gegend, nun will der noch sein Vergnügen – ich bin kein StripteaseTänzer! Laß … Laß mich los! Pfoten weg, sag ich! Wer is hier stinkbesoffen? Sag das noch mal …! Na soll er doch die Polizei rufen; na bitte! Ich warte! Ich lalle nich, ich sage: Ruf doch die Polente! Loslassen! Verdammt, ich hau dir … Laß meinen Arm los, sag ich! Ich hab nich in die Büsche gekotzt! Ja, ich hau ab; aber rühr mich nich an. Okay, es is privat, ich verdufte. Schießbudenheini, na warte, du Armleuchter, komm du mal auf meinem Klo Schrippen weichen … Ilona Wendelin hatte das Licht im Wohnzimmer ausgeschaltet, beobachtete hinter der Gardine hervor die Finsternis des Gartens. Minute auf Minute verrann. Manchmal blendeten auf der Straße Scheinwerfer eines vorüberfahrenden PKWs auf; manchmal warf die Laterne den raschen Schatten eines heimkehrenden Anwohners gegen 9
die vordersten Büsche. Einmal bemerkte sie Kipfel, der mit seiner Luftbüchse um das Haus schlich. Als das Läutwerk der Standuhr anschlug, fuhr sie herum. Halb! Es hatte Halb geschlagen! Halb acht bereits; zwar kam Max montags für gewöhnlich später – Parteiversammlung –, aber diese Woche sollte das ausfallen: er müßte seit einer Stunde zu Hause sein! Wo bleibt er bloß? Und ausgerechnet heute! Allmählich kam es ihr spanisch vor. Sie preßte die Hände, zerrte an ihrem Ehering. In der Küche griff sie nach dem Lunikoff, trank den Wodka, gegen ihre Gewohnheit, gleich aus der Flasche. Es ist ihr schon fast egal, ob Max was riecht. Sie ließ sich auf einen der rumänischen Bauernstühle gleiten, schloß einen Atemzug lang, wie erschöpft, die Augen. Im nächsten Moment trieb es sie neuerlich hoch. Sie begab sich ins Bad, musterte sich im Spiegel. Man sah ihr nichts an; trotzdem fand sie es ratsam, sich ein wenig herzurichten. Während sie Rouge auflegte, brummte das Auto vor der Garage. Hastig die Schminke verreibend warf sie das Etui auf die Konsole. Eilte in die Küche. Riß zitternder, fahriger Hände Bestecke aus dem Schub. Schepperte Abendbrotteller auf den Tisch. Es schloß; sie hörte Max an der Flurgarderobe. Wie auf Kommando drückte sie den Betätigungsknopf der elektrischen Brotschneidemaschine. Als sie den Atem ihres Mannes im Nacken fühlte, warf sie sich mit einem leisen Aufschrei herum, preßte hinter der vorgehaltenen Hand den rechten Daumen gegen die Lippen. „Herrgott; du hast mich erschreckt!“ „Hast du dich geschnitten? Zeig mal …“ Sie wandte sich rasch ab, ging zum Wandschrank. Wühlte nach dem Schnellverband. „Ich bin abgerutscht, gegen das Messer gekommen. – Wo warst du so lange?“ Er wollte ihr helfen; aber sie kehrte ihm den Rücken 10
zu, ließ ihn nicht an sich ran. „Laß mich. Ich mach das selbst.“ Sie zog die Folie vom Pflaster. Max, vor dem Gerät, schüttelte den Kopf. Eine Hand muß den Bedienungsknopf drücken, die andere führt den Brotlaib – in sicherem Abstand – wie man dabei ins Messer fassen kann, ist ihm rätselhaft. Es gibt eben ein typisch weibliches Unvermögen bei der Benutzung moderner Technik. Besonders augenfällig im Straßenverkehr, jeder Kraftfahrer kann ein Lied davon singen. Ilona streckte ihm den verarzteten Daumen hin; aber er hatte schon kein Interesse mehr. Saß am Tisch, Kinn auf eine Hand gestützt, schien mit den Gedanken woanders. Sie beobachtete ihn. Sie ahnte, daß er ihr etwas vorspielte, wie sie ihm etwas vorspielt. Ihr Blick lag sekundenlang auf seinen Manschetten. „Du hast mir nicht geantwortet“, schreckte sie ihn aus seinen Grübeleien auf. „Was denn?“ „Ich frage, wo du warst. Du kommst spät. Ich hatte dich früher erwartet. Du hättest immerhin anrufen können. Ich warte seit einer Stunde mit dem Essen.“ „Wieso? Wir essen nie vor halb acht.“ „Du willst mir also nicht sagen …“ „Was soll der Unsinn! Ich hatte noch zu tun.“ Er sprach widerwillig, gereizt. Ärgerlich rief er: „Bin ich über jede Minute rechenschaftspflichtig? Diese Beargwöhnung wird bei dir zur Manie!“ Ilona kniete vor dem Kühlschrank. Sie entnahm Butter, Aufschnitt. Stellte für Max eine Flasche Berliner Pilsner raus. Beiläufig bemerkte sie: „Es regnet wohl draußen?“ „Nein.“ „Ich dachte nur – weil deine Manschetten naß sind.“ Sie goß ihm ein, das Bier schäumte im Glas. Wendelin stierte wie ertappt auf die Ärmelränder, leg11
te die Finger über den rechten, sagte rasch: „Es muß vom Händewaschen sein.“ Ilona setzte sich ihm gegenüber. „Wahrscheinlich. – Aber du hast sie noch nicht gewaschen.“ „Im Geschäft! Ja, im Geschäft. Im übrigen, da du mein Kommen überhört hast, bestünde durchaus die Möglichkeit, daß ich bereits im Bad war. Wie willst du es wissen?“ Er lachte gewaltsam, rümpfte die Nase. „Ich war bei keiner Frau –.“ „Das hab ich auch nicht behauptet.“ Sie vermied es, ihn anzublicken. Erhaschte mit einem Schielen die Küchenuhr. Sie schloß die Augen, dachte: „Mein Gott …“ „Is was?“ fragte Max, ließ Messer und Gabel sinken. „Was soll sein.“ „Du siehst abgespannt aus.“ „Ja, es war ein anstrengender Tag. – Stell dir vor“, wechselte sie das Thema, „mir war, als hätte ich den Wagen schon mal gehört … vor ein, zwei Stunden …“ „Welchen Wagen?“ „Deinen.“ „Wo?“ „Hier. Vorm Haus.“ Sie sah ihn an, sagte: „Deshalb schien mir das Warten dann um so länger.“ „Du hast dich geirrt. Wartburg ist Wartburg, da hat keiner einen besonderen Klang.“ Er verteilte Butter auf der Schnitte. Schnupperte am Putensaftschinken. Belegte dann aber mit Salami. Ungarischer. Geschenk eines Kunden. Während er kaute, fragte er: „Ißt du nichts?“ Sie blieb die Antwort schuldig, schob den Stuhl zurück, erhob sich. Max sagte: „Deine Schlankheitskuren richten dich zugrunde.“ „Seit wann interessiert dich, was andere zugrunde richtet!“ Ilona verließ die Küche. Sie nahm Maxens Jacke aus 12
der Flurgarderobe, hängte sie ins Bad. Eine Weile stand sie in der Dunkelheit hinter dem Fenster, sah in den Garten, zur Straße. Als sie zurückkam, ereiferte sich Max: „Wo lungert eigentlich Andreas rum? Wieso nimmt er nicht an den Mahlzeiten teil?“ „Das fällt dir ausgerechnet heute auf?“ „Ich hab schon hundertmal gesagt: Der Junge hat zum Abendessen zu Hause zu sein! Was is das für ein Familienleben? Das ist auch eine Frage der Erziehung. Und der Kultur!“ Ilona sagte: „Ich hab deine Jacke auf die Leine gehängt. Sonst bekommt sie noch Stockflecken. Die Ärmel sind naß. Völlig durchweicht. Bis zu den Ellenbogen!“ Max schwieg; stieß dann schwer atmend hervor: „Ich habe nicht nach der Jacke gefragt, ich habe gefragt, wo der Junge ist!“ „Was weiß denn ich? Er ist kein Kind mehr. Was soll er hier? Mit dir fernsehn?“ „Schularbeiten soll er machen! Seine Pflichten, seine häuslichen, schulischen und gesellschaftlichen Pflichten soll er erledigen! Ja glaubst du, so ein Abitur stellt sich von selbst ein? Dazu bedarf es Fleiß, Strebsamkeit – aber das sind für deinen Sohn Fremdwörter! Ein Rumtreiber, ein Tagedieb; das letzte Zeugnis war ja danach. Mit diesen Zensuren wird er nicht mal Ökonom! Das eine sage ich dir: Ich beschaffe ihm keinen Studienplatz. Ich nicht!“ „Erzähl es ihm doch selbst! Ich bin auch berufstätig. Ich bin auch tagsüber nicht hier! Ich hab ihn heute noch nicht zu Gesicht bekommen.“ „Er raucht – ich habe Tabakskrümel in seiner Kutte gefunden! – er trinkt, er hängt sich an diese Clique, alles asoziales Gelichter, er treibt sich mit Weibsbildern rum …“ „Elvira ist aus seiner Schule.“ „Natürlich, verteidige ihn! Mach mit ihm gemeinsame 13
Front. Aber wundere dich nicht, wenn er noch mit einer Geschlechtskrankheit heimkommt!“ Sie warf einen Blick zur Decke, hielt sich die Ohren zu. „Ich will dir was sagen“, Max zog ihr die Arme weg, flüsterte: „Wir machen uns die Hände schmutzig, und er setzt sich hier eines Tages ins gemachte Nest. Darauf spekuliert er, kannst du mir glauben. Stell dir mal vor, was dieses Haus in zwanzig Jahren wert ist. Mit allem Drum und Dran. Er hat es ja nicht nötig! Er kann ja hier die Beine faul unter den Tisch strecken! Für seine Zukunft ist ja gesorgt!“ „Jawohl. Und ich bin sogar stolz darauf. Ich bin stolz darauf, daß er es besser hat als andere.“ „Aha! Dann sei nur mal auch eines Tages stolz darauf, wenn er zum Verbrecher wird! Das wird er, das prophezeie ich dir. Er ist schon auf dem besten Weg. Es ist nur noch eine Frage der Zeit. Wie der mit seinen Eltern umspringt, das hätte ich mir erlauben sollen. Denk an meine Worte, ich weiß, was ich sage: Dein Sprößling endet im Zuchthaus!“ „Nein!“ Ilona bäumte sich unter dem Hieb. „Nein, das tut er nicht! – Herrgott, er ist doch noch ein Kind …“ Sie war den Tränen nahe, dann rief sie empört: „Und du hast es nötig, ausgerechnet du!“ „Wie meinst du das?“ Max hielt das Bierglas umkrampft, er fühlte, wie seine Beherrschung zusammenbrach, wie dieser Jähzorn die Oberhand gewann, der ihn so leicht überwältigte, dessentwegen er sich mit Beruhigungsmitteln vollstopfen mußte, er brüllte: „Ich will wissen, wie du das meinst!“ Ilona war bereits aus dem Zimmer. Kurz nach acht – Max ließ sich von der Tagesschau beflimmern, er brauchte diese zusätzlichen Informationen, behauptete, sonst in Gesprächen, auch unter Genossen, Anspielungen nicht zu verstehen – kam Andreas. Ilona fing den Sohn im Flur ab, zerrte ihn ins Bad, ihr 14
Gesicht zeigte hektische Flecken. Sie riß an seiner Kutte, zischte: „Wie du aussiehst … Wie du rumläufst …“ „Na wie denn?“ „Unrasiert.“ Sie lehnte gegen die Kacheln. „Sofort rasierst du dich. Auf der Stelle.“ „Ja doch …“ Nein, sie bleibt. In ihrem Beisein! Sie sah, wie er eine Weile unschlüssig stand, wie seine Augen linkisch über die Konsole glitten. „Dann nimm den Apparat deines Vaters.“ Ihr schwindelte. Ilona Wendelin drehte den Fernseher leiser: „Seid ihr denn taub?“ Sie sagte: „Ich geh noch mal rasch nach oben. Ein Rezept hochbringen. Sie brauchte wieder was aufgeschrieben.“ Im Flur hielt sie sich an der Wand. Stufe für Stufe erstieg sie die Treppe zum oberen Stockwerk. Meta Lindthaler, die frühere Besitzerin der Villa, bewohnte hier drei von vier Zimmern; eins, an die Wendelins abgetreten, gehörte Andreas. Aus Frau Lindthalers Badezimmer, durch die Ritze unter der Tür, fiel ein Lichtstreifen nach außen. Ilona lauschte einen Moment, beugte sich über das Geländer und horchte nach unten. Ihr Herz wummerte. Dann legte sie, schrill aufschreiend, die Hand auf die Klinke. Öffnete, immer noch kreischend, mit zusammengekrampften Lidern. Der Anblick, der sich Max und Andreas, die auf ihren Entsetzensruf fast gleichzeitig die Treppe hinaufstürmten, bot, war grauenerregend: Die Greisin, gänzlich unter der Wasseroberfläche, nackt, aufgelöster Haare, im Wasser geöffneten Mundes, blickte die Eintretenden aus starren Augen vom Grund der bassinartigen Wanne her an.
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2 Frau Plaschke ließ die Nähmaschine rattern. Das scheinbar unsinnige Gewirr ineinandergedruckter, sich kreuzender Linien eines PRAMO-Schnittmusterbogens in eine Bluse, ein Kleid oder etwas anderes Hübsches, Tragbares umzusetzen, gewährte ihr nach der Disponentenarbeit im ETW, den Buchungen auf Karteikarten und Entnahmescheinen einen geradezu lebensnotwendigen Ausgleich. Einfach, daß unter ihren Händen etwas Greifbares, Ganzes, von ihr Gewolltes entstand. Daneben, neben der Näherei, frönte die Sechzigerin einer Leidenschaft, die mit ihrem Beruf, mit ihrem alltäglichen und nichtalltäglichen Leben kaum noch die Spur eines Anknüpfungspunktes hatte. Allerdings ging es ihr bei der Lektüre massenhaft die Fächer einer Anbauwand füllender Kriminalromane, beim geradezu exzessiven Konsum sämtlicher Krimis auf etlichen Kanälen aus etlichen Himmelsrichtungen auch nicht vorrangig um Realitätsbezogenheit. Frau Plaschke suchte in Literatur keine umwerfend neuen Antworten auf die Fragen des Lebens; sie hatte längst aufgehört, solche zu stellen. Schon gar nicht verlangte es sie nach ideologischer Bepflasterung, und über die Ergüsse zur Verbrechensverhütung las sie hinweg – sie hatte nicht die Absicht, einen Mord zu begehen. Worauf es ihr ankam: das Geheimnis der Tat zu enträtseln, den Täter einzukreisen, ihn zu jagen, ihn zur Strecke zu bringen, ihn zu überantworten – es war im Grunde das instinkthafte, unausrottbare Bedürfnis zur Jagd, das der menschlichen Natur eignet, in zivilisierten Gegenden aber vornehmlich Diplomaten, Militärs, selbst im Sozialismus nur in Einzelfällen Disponentinnen zugestanden wird. Das Telefon schrillte. Gisela Plaschke ließ die Nadel weiter rattern, dann griff sie zum Hörer. „Plaschke …“ 16
Am anderen Ende meldete sich eine männliche Stimme. „Werl. Guten Abend. Ist Fräulein Thalmer zu sprechen?“ Werl … Werl … in irgendeinem Zusammenhang hatte Stefanie den Namen erwähnt, dem Klang nach kein sehr junger Mann, ihre Untermieterin bekam häufig Besuch, es war schon manches männliche Gesicht darunter, ein Werl wollte sich in ihrer Erinnerung nicht einstellen. Sie hätte gern Näheres erfahren, trompetete: „Ich versteh nur Bahnhof … Worum handelt sichs?“ Der schrie jetzt auch, sie hielt den Hörer ein wenig ab. Kam aber nur seine Eingangsfrage, sie rief: „Momentchen bitte, ich verständige das Fräulein. Bleiben Se am Apparat, ja.“ Sie klopfte an Stefanies Zimmer, steckte den Kopf rein, flötete: „Ein gewisser Herr Werl is am Telefon …“ Stefanie warf das Reclambändchen zur Seite, war mit einem Ausruf des Erstaunens sofort auf den Beinen. Sie stopfte sich das Hemd in die Hose, strich, schon in der Tür, die Haare glatt. Gisela Plaschke dachte: Er siehts ja nicht, Mädchen, er siehts ja nicht. Am Apparat war Stefanie plötzlich sehr aufgeregt, sie sagte: „Ja, einen Moment“, hielt die Hand auf die Muschel, flüsterte zu Frau Plaschke: „Papier … Bleistift.“ „Kastanienallee zwölf … S-Bahnhof Wilhelmshagen … ja und wo? Ich meine, welche Etage? … Ach so … Ja, ich beeile mich.“ Sie notierte, sie legte auf und fragte: „Wissen Sie überhaupt, Frau Plaschke, mit wem Sie da gesprochen haben?“ Die hob die Schultern, trat neugierig näher. „Mit einem echten Kriminalkommissar. Hauptmann Werl, Volkspolizei. Morduntersuchungskommission.“ „Ach du liebe Güte“, Frau Plaschke schlug die Hände zusammen. Daß sie nicht von selbst drauf gekommen war! Werl, Werl, natürlich! Erst vorgestern hatte ihr Stefanie die Geschichte erzählt. „Was will er denn?“ platzte sie raus. 17
„Ich bin ganz durcheinander. Eigentlich ist es was Trauriges. Offensichtlich ist jemand umgebracht worden. Jedenfalls eine Tatortbesichtigung; ich soll hinkommen.“ „Na, is ja großartig! Na da könn Se sich doch freun! – Machen Se sich kein Kopp, ob traurig oder nich, Sie solln ja kein Gedicht drüber schreiben. Das is doch ne einmalige Gelegenheit, so was kriegen Se doch nie wieder vor Augen. Dafür müssen Se doch dankbar sein. Daß es aber auch so klappt! So kurzfristig – er hats Ihnen doch erst vorige Woche versprochen. Da sieht man mal, was doch alles passiert. Nee, Fräulein Thalmer, wie ich Sie beneide!“ „Also ich beneide mich eigentlich nicht. Wenn nicht diese leidigen finanziellen Kalamitäten wären …“ „Ach Fräulein, wie Sie das wieder ausdrücken; aber ich sage Ihnen: Geld stinkt nich. Na von Ihren Gedichten könn Se doch nich leben. Warum sollten Se sich da nich mal an so was versuchen – also ich schwör Ihnen: Wenn ich nen Kriminalroman bekommen täte, von einer Stefanie Thalmer, und mit Widmung drin, Sie, der erhielte in meiner Bibliothek einen Ehrenplatz. Noch vor Agatha Christie! Ach Gottchen, Sie könn das, Mädchen, glauben Se mir. Und auf mich darfste dich dabei verlassen, ich hab auf dem Gebiet Erfahrung, jedenfalls theoretische. Halt die Augen gut offen, Mädelchen, dann sag ich dir, wir schnappen den Kerl noch, bevor dein Hauptmann seine Fühler richtig ausstreckt.“ Stefanie lief in ihr Zimmer – Ausweis, Schlüssel, Portemonnaie –, sie sagte: „Bitte, Frau Plaschke, halten Sie mich jetzt nicht auf. Und was Sie sich da ausgedacht haben, ich hab Ihnen das letztens schon gesagt, daraus wird nichts. Von dem Moment an, wo eine Ermittlung anläuft, bin ich zu absolutem Stillschweigen verpflichtet.“ „Aber ja doch, Fräuleinchen, ja doch, das solln Sie doch auch, schweigen; natürlich nich wien Fisch, das kann keiner von Ihnen verlangen, ich auch nich. Hin und 18
wieder muß sich der Mensch auch aussprechen, und sei es nur in Andeutungen; aber das wird sich ja alles finden, da lassen Se sich man jetzt keinen grauen Pony wachsen. Und daß Sie pünktlich am Ball sind, dafür sorgt jetzt die Plaschke, ich ruf ne Taxe, das geht aus meiner Kasse; wenn Sie zu spät ankommen, sin die Spuren schon alle kalt. So sagt man bei Scotland Yard.“ Mehrere Minuten waren vergangen, Stefanie stand schon im Mantel. Frau Plaschke wählte immer noch, sie beschwor: „Nich verzagen, laufen Se mir man nich fort. In Wilhelmshagen wärste jetzt noch lange nich. – Besetzt; das is um die Zeit zum Jungekriegen … Aber ich alarmier jetzt Funktaxe!“ „Machen Sie sich nicht solche Umstände, Frau Plaschke.“ „Das sind keine Umstände und verpflichtet Sie zu nichts. Die paar Kilometer Anfahrt leg ich gern noch drauf. Obwohl die Burschen meist von der nächsten Ecke kommen. – Das is doch meine Sicherheit auch, Fräulein, wenn ihr die Ermittlung so rasch wie möglich … Hallo! Funktaxi? – Na endlich! Schicken Se mal gleich einen Wagen nach zehneinundsiebzig, Beeskower … Für Plaschke … ich buchstabiere: Pe wie Portjuchhe … Ja, Plaschke. In fünf Minuten? Na wenns nich schneller geht … Aber denken Se dran: Es ist brandeilig! Sehn Sie, Fräulein, wies bei mir im Büro hängt: Unmögliches erledigen wir sofort. – Wo war ich stehngeblieben? Ach ja: Überlegen Se doch mal, da hat jetzt son Schweinehund einen anderen Menschen abgemurkst, kaltblütig, vielleicht ne alleinstehende Frau wie mich, vielleicht ne Rentnerin; als Handwerker verkleidet, Gott man is doch heutzutage froh, wenn einer kommt und mal nachm Abfluß sieht, daß es nich bei Unten durch die Decke pinkelt, da läßt man sich doch keinen Ausweis nich zeigen, und denn wendet man mal die Augen weg und der Kerl is am Küchenschrank, stöbert nach Ersparnissen, 19
und wenn Sie was mitkriegen, schlägt er Ihnen den Schraubschlüssel übern Kopp, aus. Odern junges Fräulein wie Sie, lernt son Poussierstengel beim Schwof kennen, aufm Heimweg …“ „Frau Plaschke, gehn Sie mal jetzt nicht alle Varianten durch; wenn ich wirklich das Taxi nehmen soll …“ „Sofort, Fräuleinchen, sofort.“ Frau Plaschke holte ihre Geldbörse, drückte Stefanie zwei Zwanziger in die Hand. „Das reicht. Lassen Se sich ne Quittung geben, dann wirds billiger.“ Sie entschloß sich: „Wissen Se, ich komm noch mit runter, ich hab ja keine Ruh, eh ich Sie nich wegfahren seh.“ Auf dem Hof, zwischen Seitenflügel und Vorderhaus, im Licht der zerbeulten Torlampe, blieb sie plötzlich stehen, schlug sich mit der Hand vors Kinn, rief: „Herrjemine, wann kommen Se denn da zurück, doch sicher nach Mitternacht, und bei meinem Schlaf, wo mich kein Bumser aufweckt, und morgen früh muß ich sechs ausm Haus, da erfahr ich ja nichts – ne, so ne Stiege Neugier ertrag ich nich: also entweder Sie machen mich wach, oder ich ruf Vormittag im Betrieb an, hab ja noch mein Haushaltstag offen …“ „Ich muß Ihnen das jetzt noch mal ganz unverblümt sagen, Frau Plaschke, für mich besteht über alle Sachverhalte, die mir während dieses MUK-Praktikums zur Kenntnis kommen, absolutes Redeverbot. Also laufende Ermittlungen betreffend. Anderenfalls mach ich mich direkt strafbar. Sie können doch nicht von mir erwarten …“ „Also das is jetzt aber nich die feine englische Art, Fräuleinchen, vielleicht erinnern Se sich mal, wer Sie überhaupt auf die Idee mit der Kripo gebracht hat, stille, jetzt rede ich. Sehn Se, die Taxe is auch noch nich da; Sie hatten sich ja wohl mal in’n Kopp gesetzt, mir mein Büchersafe zu vermiesen, erst ham Se nur mal gelegentlich Spitzen geworfen, von wegen Sherlock-Holmes-Vitrine, 20
dann steckten Se mir diese Gedichtheftchen zu, Poesiealbum, na gut, manches hab ich begriffen, manches nich, ich hab reingeguckt Ihretwegen, sieh mal, hab ich mir gesagt, das is nu son gebildetes Fräulein, die hat vielleicht mehr Grips im Schädel als du mit deine Zweiundsechzig, warum sollste dich da taub stelln; aber inzwischen ham sich ja die Verhältnisse umgekehrt, ich hab Ihnen den Hund von Baskerville rübergeschoben, als Ihnen so dreckig ging und Sie keine Mark mehr hatten und nur schöne Briefe von die Herren Verleger und von keine Gedichte nicht mehr hören wollten, und zu Ihnen gesagt: Hier, Fräulein Thalmer, so was müssen Se sich einfalln lassen; da kann jeder Mensch was mit anfangen! Das hat Hand un Fuß, das interessiert die Allgemeinheit; und da ham Sie vielleicht zum ersten Mal begriffen, wo lang heutzutage … Guten Abend Frau Nissnick! … Blöde Kuh, wenn die mit der Treppe dran is, machen Se sich im Haus die Schuhe dreckig … Passen Se auf, jetzt kommt Ihre Taxe … Doch nich. Also was ich sagen wollte: Die Plaschke, wenn se auch nich studiert hat, kennt sich in der Welt aus, die weiß, wie der Hase läuft; wissen Se, ich hab zwei Männer überlebt, der eine war katholisch, der andere Freigeist, der eine Vegetarier, der andere der größte Schürzenjäger vom Prenzlauer Berg; aber das hab ich Ihnen schon erzählt; jedenfalls liefs dann andersrum: Ich steckte Ihnen immer mal was aus meiner Poesiekiste zu, und ob Se nun dran kritteln oder nich, gelesen ham Se sie alle, und gegrault ham Se sich danach och, oder warum wollten Se mit einem Mal nachts nich mehr durch’n Park? Und denn sind Sie zu diesen Verlagsmenschen gegangen und ham alles eingefädelt, und zu diesem Werl, und ich hab Ihnen die Daumen gedrückt, und nu isses passiert, und nu schieben Se mir ab – jetzt kommt aber die Taxe … Halten Se die Augen auf! Un viel Glück! Ach, wie ich Sie beneide …!“
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3 Daß ausgerechnet sie, die derartig Banales nie beachtet hatte, nun selbst einen Krimi schreiben sollte! Sie würde es wirklich nur des Geldes wegen machen. Ach, ihr war unbehaglich, es kam ihr vor wie Verrat; wenn sie wenigstens einen Kniff fände, das Eigentliche, das ihr Wichtige, auf irgendeine Weise hin und wieder durchscheinen zu lassen, das, was sie beunruhigt, bedrückt, zu ihren lyrischen Produktionen anstachelt. Aber Krimis haben ihre unabänderliche Struktur: ein Verbrechen, ein Täter, Ermittler, Verdächtige – alle Beziehungen werden durch diese feststehenden Rollen vorgeprägt, ein immer gleiches Spiel setzt sich in Szene. Über die ersten Kapitel ist sie sich grundsätzlich klar: am Anfang würde sie den Tatort vorstellen, möglichst zur Tatzeit, dieses Haus, zu dem sie jetzt fuhr, aber von außen betrachtet, durch irgend jemandes Augen. Dann vielleicht ein Blick ins Innere: Bewohner, ihr Verhalten, nachdem die Tat bereits geschehen ist; als Höhepunkt ein Blick auf die Leiche. Im zweiten Kapitel könnte sie das Gespräch vorhin mit Frau Plaschke wiedergeben, im dritten ihre Fahrt zum Tatort, das, was sie dort vorfinden würde. Hin- und hergerissen zwischen Widerwillen und beginnendem Interesse an ihrem Projekt, genoß Stefanie, behaglich im großräumigen Fond des Wagens in die Polster gelehnt, immerhin den von Frau Plaschke spendierten Luxus. Das gedämpfte Summen des Motors wurde nur gelegentlich von Sprechfunkanweisungen aus der Leitstelle übertönt. Hinter den Scheiben flogen die Häuser der Dimitroffstraße vorbei, Lichtmasten, Ampeln; ein Stau roter Rücklichter an der Kreuzung Greifswalder. Das Sport- und Freizeitzentrum, bereits geschlossen, streckte seine Glasrippen in die Nacht. Am Bersarinplatz strömten Kinobesucher, fröstelnd, aus dem „Kosmos“ nach Hause. Wann war sie das letzte Mal mit einem Taxi gefahren? 22
Nach dem ersten Versuch als Kellnerin im Saalbau Friedrichshain! Mit nichts als dreihundert Mark Schulden und einem von Frau Plaschke zusammengehefteten schwarzen Fummel war sie angetreten, noch nie im Leben ein Tablett jongliert. Ein Betrieb unterzog sich der Verpflichtung, seinem Kultur- und Sozialfonds in Form eines „Festes der Brigaden“ den Garaus zu machen. Morgens um vier, todmüde, wie erschlagen, hatte sie zweiundneunzig Mark Trinkgeld gezählt, zweiundneunzig Mark! Dazu die Pauschale, die sofort ausgezahlt wurde. Sie hatte anschließend bis nachmittags geschlafen, dann fünfzig Mark an ihren Vater überwiesen, telegraphisch und mit dem Hinweis, daß er innerhalb zweier Wochen alles zurückbekäme. Am Abend hatte sie sich das Taxi geleistet, war ins Berliner Ensemble gefahren; was spielte doch? … Herr Puntila! Platz in einer der herrlich altmodischen Seitenlogen. Hinterher Opernbar, sie brütete über der Weinkarte, es reichte noch für eine Flasche Rotkäppchen Cuvée und Salzbrezeln, exakt, auf den Groschen genau. Ein Geschäftsmann aus Kopenhagen, zweimal mit ihr getanzt, erbot sich, sie im Mercedes nach Hause zu geleiten, gegen eine Tasse Kaffee, auf ihrem Zimmer, an ihrem Bett zu trinken; sie schwiemelte dann in der warmen Juninacht, Schuhe in Händen, barfuß Richtung Prenzlauer Berg; zuletzt, schon in der Schönhauser Allee, zwei Stationen Schwarzfahrt in einer kulanten Straßenbahn, kam ihr die Idee zu „Hinterhof II“, das kürzlich, nach längerem Hin und Her die „Temperamente“ brachten (ohne die umstrittene letzte Strophe). Hinter Friedrichshagen huschte eine Zeitlang beidseitig nur noch nachtschwarzer Berliner Stadtforst vorbei. Sie spürte jetzt etwas, wie bange Erwartung. Bangigkeit vor dem Unbekannten, Verhängnisvollen, das sich in dem Wort Verbrechen mehr versteckt als ausdrückt. Keine anderthalb Wochen war es her, daß sie zum ersten Mal bei der Morduntersuchungskommission (MUK) 23
vorgesprochen hatte. Vorausgegangen war ein Schriftwechsel zwischen Verlag und Präsidium der Volkspolizei. Der Vorgang mußte als ungewöhnlich gelten: gewiß wird Autoren Einsicht in Strafakten gewährt, wenn ein abgeschlossener Fall literarisch verarbeitet werden soll; eine Teilnahme an den kriminalistischen Ermittlungen – wenn auch nur in der Rolle eines stillen Beobachters – ist dagegen die Ausnahme. Hinzu kam: Sie war ja auf dem Gebiet Spannungsliteratur völliger Neuling! Sie begriff nicht, wieso doch noch alles geklappt hatte. Hatte das Engagement ihres Mentors (Schriftstellerverband/ Nachwuchskommission) den Ausschlag gegeben? Oder ihr Becher-Diplom? Obgleich sie damals dem vom Verlag übermittelten Termin in einer ramponierten dunkelgrünen, im An- und Verkauf Hackescher Markt ergatterten Lederjacke nachkam, dazu einfache Jeans, hatte die Reaktion der beiden im Vorzimmer Hauptmann Werls beschäftigten Personen den Eindruck erweckt, als habe sich ein außerordentlich seltener, bunter Vogel in das MUK-Domizil verflogen. Die Frau hinter der Schreibmaschine, bürobleich, hager, stenoperfekt, versiert, langjährige Erfahrungen in Vertrauensstellung, unterbrach das Rasseln ihrer Tastatur; ihre hellblauen Gallertaugen glänzten unter einer plötzlichen inneren Bewegung, ihre Wangen überflog eine sonst nicht übliche Verfärbung, sie lächelte, sie sagte: „Fräulein Thalmer?“ Ein salopper, gutgewachsener junger Mann, sandfarbenes Samtsakko, semmelblondes Haar, erhob sich, das intimtriumphierende Lachen großflächiger Frontzähne bestätigte Stefanies Identität, bevor sie selbst dazu ansetzen konnte; er trat auf sie zu, erklärte: „Unterleutnant Brandenburg. Senno Brandenburg. Innerhalb des Kollektivs verantwortlich für Kulturarbeit – ich betone das nicht von ungefähr …!“ Die Sekretärin hatte inzwischen ins Nebenzimmer 24
durchgestellt, sie meldete, stehend: „Die Schriftstellerin Thalmer …“ Es dauerte noch einige Minuten, die Sekretärin sagte: „Bitte, nehmen Sie doch Platz. Sie müssen sich nur einen Augenblick gedulden. Ja, bitte. Einen kleinen Moment Geduld.“ Stefanie hatte Zeit, sich umzusehen. Nichts unterschied diesen Raum vom Vorzimmer des Hauptbuchhalters einer Maschinenfabrik, oder dem Büro einer Wohnungsverwaltung. Die Einrichtung war neu, aber keineswegs prätentiös. Trotzdem nicht vergleichbar dem oftmals spartanischen Interieur jener Kriminalfilme, zumeist westlicher Provenienz, in denen unterbezahlte Beamte hinter wurmstichigen Schreibtischen Leberwurststullen kauend Beispiel für selbstverleugnende Pflichterfüllung geben. Es herrschte auch nicht jenes ständige Kommen und Gehen stark rauchender (oder sich das Rauchen abgewöhnender, Hustenbonbons lutschender) Kriminalisten, nichts von unentwegt schrillenden Telefonen, die neue Indizien, Tatwaffen, Leichenteile avisieren – der atemberaubende, ulkustreibende Streß schien hier jedenfalls nicht Regel, kein überlasteter Rechtsfanatiker krümmte sich unter Angina pectoris. Unterleutnant Brandenburg und die von ihm mit „Genossin Zeisig“ angeredete Sekretärin begannen vor den Blechschränken einer Hängekartenregistratur einen Disput über Formulierungen in dem zur Abschrift vorliegenden Vernehmungsprotokoll. „Als der Himmel bezog, flüchtete sich die S. unter das Vordach des Bungalows des Beschuldigten …“ Frau Zeisig behauptete: „Es muß heißen: Als der Himmel sich bezog … Das ist rückbezüglich. Der Himmel bezog ja nicht irgendwas, zum Beispiel Betten, sondern sich selbst. Aber das muß man doch dann auch so schreiben. Soviel Grammatik kann man doch in einer derartigen Funktion erwarten. Beherrschung der deutschen Spra25
che; der Muttersprache! Und das ist nicht die einzige Stelle.“ Brandenburg: „Ja, also ich weiß nicht. Ich bin mir da nicht einmal sicher. Man spricht mitunter von dichterischen Freiheiten; natürlich auf literarischem Gebiet, aber auch ein Vernehmungsprotokoll hat doch mit Sprache zu tun. Enthält Aussagen über Menschen und Verhältnisse, ist, wenn man so will“; er nickte Stefanie zu, als verteidige er hier ihre Interessen, „ein Stück Literatur. Der Himmel bezieht sich – ja gottverdammt, was soll er denn beziehen, wenn nicht sich selbst, bedarf es denn dieser Konkretisierung? Ich frage Sie, Genossin Zeisig“, er blickte jedoch Stefanie an, „stemmen wir uns nicht manchmal nur einfach gegen das Neue, Ungewohnte, auch im Gebrauch des Wortes? Ich würde da gern einmal eine Meinung von kompetenterer Seite hören …“ Er schwieg, und die Genossin Zeisig schwieg auch, und Stefanie wünschte, daß sich die Tür zu Werls Zimmer endlich öffnen möge und dieser Unerträglichkeit ein Ende bereite. Hauptmann Werl schien in jeder Hinsicht das Gegenteil seines Mitarbeiters Brandenburg. Äußerlich: ein grobschlächtiger, dicklicher Mann, grauer Anzug, eher auf Bequemlichkeit denn auf modische Aktualität ausgelegt; in seiner Art: jedenfalls nicht lästig. Anfangs schien er kurz angebunden, sagte: „Kommen wir gleich zur Sache. Ich stehe Ihrem Vorhaben, oder dem Vorhaben Ihres Verlags nicht ablehnend gegenüber. Aber erwarten Sie von mir auch keine Begeisterungsausbrüche. Mich belasten zumeist andere Probleme als das, ob Kriminalromane mehr oder weniger realistisch sind.“ Den angegrauten Schädel nach vorn geneigt, auf die Tischplatte finzend, schien er auf Widerspruch zu lauschen. Kam aber keiner. Fuhr deshalb provozierend fort: „Für mich ist es ein unerklärliches Phänomen, wieso die Ermittlung von Tätern bei manchen Leuten so viel Inte26
resse weckt. Geradezu Erholungswert besitzt. Und dieses Überführen wird ja in den Schwarten als Katze-undMaus-Spiel aufgezogen. Scheint Ihnen das nicht auch pervers: zweihundert oder dreihundert Seiten lang schwebt das Damoklesschwert minutiöser Ermittlungen, hochnotpeinlicher Verhöre über dem Täter – haben Sie sich schon mal in so einen Menschen hineinversetzt?“ „Und doch“, hielt Stefanie dagegen, „ist es Ihre Arbeit. Die Vernehmungen. Das Überführen …“ „Ja. Eine notwendige Arbeit. Leider. Verantwortungsvoll; manchmal interessant. Aber keine fröhliche Arbeit! Das – verdammt – nicht. Froh … richtig froh bin ich in dem Beruf noch nicht gewesen …“ Da locke man aus jemandem das Geständnis raus, Bröckchen für Brocken, tagelang, mit allen psychologischen Tricks, und dann habe man ihn soweit, und nun könne sich ja das ungetrübte Erfolgserlebnis einstellen, der Frohsinn – aber da sitzt einem dieses Häufchen Unglück gegenüber … „Wenn Sie genauer hinsehen“, behauptete Werl, „wenn Sie einen Sinn dafür haben – aber den hat nicht jeder – offenbart sich am Ende jeden Falles eine tiefe menschliche Tragik … Ich hatte früher einen Kollegen, er ist seit vier Jahren tot, der sagte: Bei jedem Mord gibt es zwei Opfer –.“ Werl hatte eine Zuhörerin gefunden; er sprach nicht ungern über sich. Über seine Auffassungen. Hatte sonst selten Gelegenheit. Im allgemeinen beschäftigte er sich mit anderen, machte sich über andere Gedanken, stellte anderen Fragen, nicht sich selbst. Dann, als er Stefanie mit Grundzügen der Organisation vertraut machte, wurde ihr deutlich, was sie von Anfang an herausgespürt hatte: Dieser Mann war ein Rationalisator aus besonderem Grund. Es hatte etwas mit seiner Auffassung vom Beruf des Kriminalisten zu tun. Für ihn war das ein Arbeitsverhältnis auf Zeit. Eine Verlegenheitslösung. Als er vor gut 27
dreißig Jahren in das Metier einstieg, hatte er es mit dem festen Glauben getan, einer überlebten Erscheinung Totengräberdienste zu leisten. Geradezu gläubig hatte er das völlige Aussterben des Verbrechens im Sozialismus erwartet. Er war dieser Überzeugung zu sehr verhaftet, als daß er sie statistischer Tatsachen wegen zu den Akten gelegt hätte. Die Theorie war richtig – die Realität war falsch. Sein eigenbrötlerisches Beharren hatte etwas Rührendes. Stefanie überspitzte: „Ich will Ihnen nicht zu nahe treten; aber momentan erleben wir doch wohl eher eine … na ich will nicht sagen: Blüte der Kriminalität – aber, gerade auch unter der Jugend …“ Er fiel ihr ins Wort, polterte seine Argumente raus: Erstens stimmt es so nicht, zweitens … Er sprach von autoritären Erziehern, die Ausbrüche aus zu eng gezogenen Grenzen geradezu provozieren, konstatierte ein Defizit bei der Verwurzelung einer neuen Moral und Lebensweise, machte Funktionäre verantwortlich, Philosophen, Propagandisten. Sie widersprach. Irgendwie, hatte sie den Eindruck, lag seiner Theorie eine vereinfachende Anschauung menschlicher Natur zugrunde. Gewiß gibt es soziale Bedingungen; aber ein Mord, aus übermächtiger Eifersucht etwa, wäre ein Delikt, das weit eher der individuellen Konstitution und der Verschlungenheit menschlicher Lebenswege zuzuschreiben ist. „Ein gewisses Maß an Kriminalität – ist meine feste Meinung – wird es immer geben. Wie soll ich das ausdrücken … Gut und Böse liegen im Menschen beieinander. Offen gesagt, ich bin zufrieden, daß es so ist. Das Leben wäre ansonsten furchtbar banal – stellen Sie sich einen Fernsehfilm vor mit lauter positiven Figuren …“ Werl hatte erst am Vorabend einen gesehen; trotzdem lehnte er diesen Standpunkt ab. Er knurrte: „Sie wissen nicht, wovon Sie reden.“ 28
Damit war für ihn das Thema vom Tisch. Er traf einige lapidare Festlegungen. Sie solle an der Aufklärung eines Falles teilnehmen. Passiv selbstverständlich. Von der Tatortbesichtigung bis zur Übergabe des Täters an die Justiz. Falls es dazu käme. Das würde ihr wertvollere Eindrücke vermitteln, als eine tageweise Hospitation in unterschiedlichen Bereichen. „Sie werden das Erlebnis machen, daß am Ende der Spurensicherung, der Fahndung, der Vernehmungen ein Mensch steht: der Täter. Und Sie werden vielleicht zu ahnen beginnen, daß an dieser Stelle, bei der jeder Krimi abbricht, nur ein neuer Akt des Dramas beginnt.“ Die Sekretärin Zeisig klopfte an, zeigte auf die Uhr. Werl entschuldigte sich, er müsse das Gespräch unterbrechen, eine unaufschiebbare Angelegenheit, er sei spätestens in einer halben Stunde zurück; der Genosse Brandenburg würde ihr in der Zwischenzeit weitere Fragen beantworten. Stefanie wäre lieber gegangen; aber sie konnte Werls Anerbieten schlecht ablehnen. Brandenburg, Hände in den Hosentaschen, setzte sich auf die Kante von Werls Konferenztisch, schnippte einen Fussel von der Bügelfalte, steckte die Hand zurück, sagte mit seinem gönnerhaften, ein wenig großspurigen Lächeln: „Da machen Sie also Gedichte. Und worüber, wenn man fragen darf?“ „Ich weiß nicht, wie Sie das meinen.“ „Nun, ich denke, auch als Dichter hat man seine Spezialstrecke: Weltraumfahrt, politische Ereignisse, Jahreszeiten, Liebe … was weiß ich.“ „Um ehrlich zu sein: Ich habe keine solche Spezialstrecke.“ „Aha! Ein Allroundman sozusagen. Beziehungsweise: Allroundwoman. Ja, wenn Sie auf allen Gebieten beschlagen sind … Ich persönlich hätte auch eine Menge Stoff, nun vielleicht nicht für Gedichte, dazu fallen mir 29
zuwenig Reime ein; aber es gibt ja auch andere Formen. Man lernt in diesem Beruf sehr viele Menschen kennen, ich habe da schon die ulkigsten Aussprüche gehört, wenn man das einmal sammeln würde, das wäre bestimmt auch von allgemeinerem Interesse. Ein Genosse eröffnete beispielsweise nach einem Teilgeständnis die weitere Vernehmung stets mit der stehenden Wendung: Wer A sagt, muß auch limente sagen. – Gut, nicht.“ „Ja, ja.“ „Und … man kann davon leben? Vom Dichten?“ „Nicht ganz.“ „So? Aber … Ich meine … Ein festes Arbeitsverhältnis haben Sie doch nicht?“ „Nein.“ „Ich frage deshalb, weil …“ Er sagte, da Stefanie sich abwendete: „Also über Liebe jedenfalls auch … Und woher nehmen Sie die Erfahrungen?“ Er griente, sie betont kennerhaft taxierend. Sie sagte: „Aus zweiter Hand. Ich lasse mir Abenteuer von Leuten berichten, die auf diesem Pflaster firm sind; Männern, die unwiderstehlich sind. Wie Sie. Dann setze ich das Ganze in Reime.“
4 In Wilhelmshagen, in diesem Haus, kam ihr Werl im Flur entgegen, rief: „Möglicherweise haben wir die Pferde umsonst scheu gemacht. Es ist noch nicht klar, ob die Sache für uns überhaupt relevant wird. – Kommen Sie“, er faßte sie unterm Arm, geleitete sie die Treppe hinauf. „Wir haben ja an sich alles besprochen; aber mein Unbehagen ist nicht geringer geworden. Ich kann deshalb nicht umhin, Ihnen noch mal die wichtigsten Punkte dringend ans Herz zu legen …“ Auf der vorletzten Stufe vor der oberen 30
Etage hielt er Stefanie zurück, rekapitulierte, beschwor in der Art eines Fußballtrainers Sekunden vor Anpfiff: „Keine Eigenmächtigkeiten! Bei Vernehmungen nicht einmischen, keine eigenen Fragen stellen – Sie sind hier nur Beobachter! Absolute Schweigepflicht gegenüber dritten Personen … Fräulein Thalmer, es ist nicht nur so, daß Ihr Gastspiel bei uns abrupt zu Ende wäre, Sie könnten, wenn durch Ihre Schuld ein Malheur passiert, auch anderweitig belangt werden!“ „Sie sagen mir nichts Neues, Herr Werl. Ich hab das alles unterschrieben.“ „Schon, schon. Ich will nur kein Fiasko erleben. Ein Mord – ob es sich in diesem Fall um etwas derartiges handelt oder nicht – ein Mord ist kein Fahrraddiebstahl.“ Vor einer offenen Tür, aus der zweimal rasch hintereinander grelles Blitzlicht schlug, sah Stefanie Unterleutnant Brandenburg im Gespräch mit einem ihr Unbekannten, sie erblickte im nächsten Moment den weißen Kittel des gerichtsmedizinischen Bereitschaftsdienstes, Kacheln eines Badezimmers, hörte Werl sagen: „Es ist diesmal eine unblutige Angelegenheit … aber ich weiß trotzdem nicht, ob Ihre Konstitution … Wenn Sie lieber draußen bleiben möchten … falls der Anblick für Sie …“ Sie hatte die Warnung nicht ernst genommen, unfähig zu so rascher Erwägung: der Anblick des nackten Leichnams traf sie unvorbereitet, überraschte, erschreckte sie; rational war das urplötzliche Schwindelgefühl nicht erklärbar. Kreisende Leere. Sie entsetzte sich über diese Schwäche, die gegen jede Vernunft war; aber ihr krampfhaftes Aufbegehren erwies sich als lächerlich untaugliches Mittel. Brandenburg, er trug diesmal eine kaperfarbene Wildlederjacke, drängte sich an sie heran und erläuterte: „Sie müssen sich das Ganze im Wasser vorstellen. Die Wanne war ursprünglich voll. Wir haben inzwischen abgelassen.“ Sie muß hier raus; sie muß auf den Flur, aber es darf 31
nicht auffallen. Vor allem diesem Unterleutnant darf es nicht auffallen … „Was für ein Alter schätzen Sie?“ Der Semmelblonde hing in gespannter Erwartung an ihren Zügen. „Schwierig, stimmt’s? Aber ich geb Ihnen einen Tip: Leichen sehen meist älter aus. Den meisten Leuten bekommt ihr Tod nicht. Das ist nicht unwichtig bei Identifizierungen.“ Sie fühlte, wie ihr Gesicht blaß wurde; kalter Schweiß. Ihre Hand tastete nach einem Halt. „Ich werde es Ihnen verraten: neunundsechzig Jahre … Was ist mit Ihnen? Wo wollen Sie hin?“ Stefanie rettete sich auf den Flur, lehnte sich ans Geländer; nein, sie braucht keinen Stuhl. Herrgott, sie könnte sich ohrfeigen. Wenn er doch endlich von ihr ablassen würde. Diese Geschwätzigkeit! Senno wich nicht von ihrer Seite, besorgt, ein aufdringlicher barmherziger Samariter. „Soll ich dem Arzt Bescheid sagen? Der versteht sich nicht nur auf Tote … Ist Ihnen schon besser?“ Da sie nicht recht aus sich heraus wollte, auch in Ausnützung der Situation besorgte er das Reden. „Ja“, in seiner Stimme schwang ein ununterdrückbarer Triumph, „das ist etwas anderes als Lyrik! Das ist die Realität. Man flüchtet sich gern in irgendwelche Phantasien. Träumereien. Aber die Wirklichkeit ist anders. Unverblümt. Bar allen schönen Scheins. In diesem Beruf muß man ihr ins Auge blicken können.“ Werl, anfangs abgelenkt, hatte den kleinen Zwischenfall mit verbissenem Humor zur Kenntnis genommen. So in etwa hat er sich’s vorgestellt; wahrscheinlich ist es erst der Anfang. Er war dagegen gewesen, von Anfang an dagegen – die MUK ist kein Literaturinstitut! – aber man hatte über ihn hinweg, am grünen Tisch, entschieden. Sollte doch daraus werden, was wollte! Er wandte sich dem Gerichtsmediziner zu. Normalerweise waren ihm die Mitarbeiter des Instituts 32
bekannt, jedenfalls diejenigen, mit denen man am Tatort zusammenzutreffen pflegt: dieser Dr. Lüdhannes – jung, aber emsig – mußte neu zu der Mannschaft gestoßen sein. „Was haben Sie für einen Eindruck, Doktor?“ Lüdhannes richtete sich auf, wischte die Hände am Kittel, nahm die Brille ab und polierte die Gläser. „Tja“, er neigte den Kopf, „es ist wirklich schwer, etwas zu sagen. Ein unklarer Todesfall; mehr zu äußern, wäre fast vermessen. Ohne Sektion überhaupt nicht anzugehen … Nach erster Inaugenscheinnahme gibt es nur einen Hinweis auf Gewaltanwendung; dieser allerdings ist, würde ich formulieren, nicht unbedeutend.“ Er wappnete sich mit den Sehgläsern, kniete nieder, legte die Hand auf die Leiche und sagte: „Ich spreche damit diese Stirnverletzung an. Geringfügig, das sei hier zugegeben und herausgestellt; aber …“ Die Tote befand sich auf einer Trage; Werl beugte sich hinunter, er hatte die wirklich winzige Verletzung schon in der Wanne bemerkt. „… aber es deutet einiges darauf hin, daß ein gewisser zeitlicher Zusammenhang mit dem Eintreten des Todes besteht; wenn ich das hier so kühn apostrophieren darf.“ „Woraus schließen Sie das?“ Werl war skeptisch. Stoß oder Schlag mit einem stumpfen Gegenstand; sie konnte sich die Abschürfung schon vor Tagen zugefügt haben. „Aus der relativ frischen Blutung.“ Bei noch genauerem Hinsehen erkannte allerdings auch Werl Anzeichen von Blut auf der fast lupenhaft zu nennenden Verfärbung. „Aber“, gestand er seine Zweifel, „glauben Sie nicht, daß die eigentliche Todesursache …“ Dr. Lüdhannes hob abwehrend die Hände, er kann dem Obduktionsbefund nicht vorgreifen, er möchte sich um keinen Preis in das Gebiet der Spekulation verlieren. Brandenburg, der wieder hereingetreten war, äußerte seine Vermutung ohne Umschweife: „Sie wird einen 33
Herzschlag bekommen haben, oder ihr ist unwohl geworden, wie gerade unserem Fräulein Dichter, und sie hat sich den Kopf gestoßen. Beispielsweise am Wasserhahn.“ „Der Wasserhahn“, Dr. Lüdhannes lächelte fein, „wenn Sie einmal herumkommen möchten … ist schwenkbar. Angewandt auf den konkreten Fall bedeutet dies: Die kinetische Energie des Schädels, in gleichförmig beschleunigter Bewegung, beispielsweise in einem Moment des Ausgleitens, trifft auf die ruhende Masse des Aluminiumhahnes, der eine für traumatische Ereignisse zu geringe Trägheit eignet; eo ipso liegen die Verhältnisse bei einem starr montierten Hahn ganz anders: Unter diesem Umstand wäre entscheidend die träge Masse des Kopfes, die aus dem Zustand beschleunigter Bewegung unter Vernichtung der kinetischen Energie …“ „Doktor“, stöhnte Werl, „können Sie aus den einschlägigen Bewegungs- und Energiegesetzen in etwa Form und Größe des Gegenstandes erahnen?“ „In gewissem Umfang ja; wenngleich nur unter Vorbehalt. Also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ließe sich sagen: Es handelte sich um ein sehr kleines, sehr rasch bewegtes Gebilde, oder um ein größeres, langsam bewegtes – dazwischen sind, gemäß Impulsgesetz, alle Übergangsformen möglich.“ „Sehr aufschlußreich“, gestand Werl trocken. „Nun seh ich schon klarer.“ Auch ohne diesen Sarkasmus war sich Dr. Lüdhannes der nur sehr bedingten Brauchbarkeit seiner Aussage bewußt. Aber es lag in der Natur der Sache. Hier interessierte vornehmlich die Frage, ob es sich um Mord handelt oder nicht. Konkretisierend: Tod auf natürliche Weise, also durch Infarkt, Kollaps, Schwächezustand mit nachfolgendem Ertrinken – oder gewaltsames Ertränken. Vielleicht lieferte die Sektion einen eindeutigen Befund. Vielleicht nicht. Er sagte: „Bei Gewalteinwirkung, also Ertränken, finden sich meist Spuren eines stattgefunde34
nen Kampfes. Beim Opfer wie logischerweise auch beim Täter. Ich konnte rein visuell weder Hautpartikel oder Haare unter den Nägeln noch an den Körperpartien Unterblutungen feststellen, von jener Kopfschramme abgesehen. Aber damit ist ein Mord ja nicht ausgeschlossen. Würde ich sagen. Würde ich so in Worte fassen. Bei allem Vorbehalt. Es gibt die Fälle des Ertränkens ohne Abwehrverletzungen. Durch plötzliches Hochziehen der Beine des Opfers kommt es zur Schwerpunktverlagerung und unerwartetem Eindringen von Wasser in den NasenRachen-Raum mit nachfolgendem reflektorischem Ertrinken.“ Er will sich aber zu diesem Zeitpunkt in keiner Weise festlegen. Beim momentanen Stand der Dinge. Brandenburg sinnierte in den fachwissenschaftlichen Eiertanz: „Mord oder kein Mord, das ist hier die Frage. Aber im Ernst, Genosse Hauptmann, was mir die Sache am ehesten verdächtig macht, ist das bernsteinfarbene Indiz. Ich meine den Urin im Toilettenbecken. Es spricht doch wenig dafür, daß die – nun ja, ich bezeichne sie immer noch als Verunfallte – daß sie also bevor sie in die Wanne stieg, die Toilette benutzte …“ „Doch“, funkte Werl dazwischen, „dafür spricht vieles.“ Er kennt das von sich: Sobald er einen Hahn laufen hört oder mit der Hand in den Strahl kommt … „Wenn Sie mich ausreden ließen“, beanstandete Brandenburg; „ich meinte, es ist unwahrscheinlich, daß die Frau den Deckel hochgeklappt ließ, daß sie das Spülen verabsäumte – oder kennen Sie das auch von sich?“ Werl verkniff das Gesicht; Brandenburg fuhr fort: „Ich würde mich nicht wundern, wenn die spurenkundlichserologische Untersuchung bei der Toten und im Urin unterschiedliche Blutgruppen nachweist: Das würde bedeuten: Ein Fremder hat das Toilettenbecken benutzt. In ihrem Beisein? Wie wäre das möglich? Ein sehr intimer Bekannter? Oder war sie schon tot?“ 35
„So ist der Lauf der Welt“, höhnte Werl. „Der Mörder streift sich Glacehandschuhe über, um keine Spuren zu hinterlassen; er führt die Tat fast perfekt aus; aber dann, noch am Ort des Geschehens, überwältigt ihn ein menschliches Rühren. Er weiß, daß er schon halb überführt ist, wenn er nachgibt; er tritt von einem Fuß auf den anderen, kneift die Beine zusammen; aber die Blase fordert ihr Recht.“ Brandenburg schwieg pikiert; Dr. Lüdhannes’ unangenehm wieherndes Gelächter empörte ihn mehr als Werls Spott, den er gewohnt war. Ungeachtet des fotografischen Materials, das bereits in wenigen Stunden zur Verfügung stände, fertigte sich der Hauptmann die obligatorischen Skizzen an. Mit viel Sorgfalt im Detail: Einmal ging es ihm um den großen Überblick, zum anderen griff er gern auf solche am Tatort, unter dem ersten Eindruck entstandenen Aufzeichnungen zurück. Er hatte im Verlauf seiner langjährigen Praxis – so etwas vermittelt kein Studium, auch einem Genossen Brandenburg nicht! – wiederholt die Erfahrung gemacht, daß den ersten Beobachtungen und Vermutungen besonderes Gewicht zukommt. Später, unter dem Wust von Hinweisen, immer neuen Kombinationen, verliert man sie leicht aus den Augen, und erst im nachhinein zeigt sich, wie schon einmal, ganz im Anfang, alles in eine erfolgsträchtige Richtung tendierte. Das Bad hatte in etwa die Abmessungen eines NeubauWohnzimmers. Die Wanne, vorsintflutliches Modell, Zink, aber modern eingekachelt, stand an der linken Wandseite. Darüber Glaskonsolen, ein Kosmetikschrank. Die Frau hatte in der Wanne mit dem Gesicht zum Fenster gesessen. Dr. Lüdhannes blickte dem Zeichnenden über die Schulter, bemerkte: „Es ist ein Nachteil der Nostalgie, wenn ich es in diese Worte fassen darf; in unseren heutigen Wannen kommt es kaum noch zu Todesfällen durch 36
Ertrinken. Selbst bei plötzlichem Tod gelangt der Kopf selten unter Wasser. Aus Platzmangel.“ Zwischen Wanne und Fenster befanden sich ein Vorhang, die Waschmaschine, ein grün getöntes Waschbecken und – unterhalb des zur Hälfte geöffneten Fensterflügels – das bewußte benutzte Toilettenbecken. Werl beugte sich nach draußen: die Höhe bis zu den in der Dunkelheit heraufschimmernden Beeten betrug gut und gern acht Meter. Schätzungsweise. Durchs Fenster war hier jedenfalls niemand eingedrungen. Es sei denn mit Leiter. Auf dem Fensterbrett waren aber keine Spuren erkenntlich. Was für ein unzeitgemäßer Baustil: riesige Räume, viel Luft; aber von Licht schien man um die Jahrhundertwende wenig gehalten zu haben. Hohe, schmale Fenster. Sehr schmal. Der Baum vor diesem mußte selbst bei heiterstem Wetter verschattend wirken. Gegen den Nachthimmel abzeichnend, ließen die am weitesten gegen das Haus ausladenden Äste keine fünf Armlängen Distanz. Werl skizzierte das Fenster, die Maße; er wollte den Baum durch einen Kringel an der Seite des Blattes vermerken; da ließ ihn die Mine seines Kugelschreibers im Stich. Brandenburg scharwenzelte um Stefanie, beschielte sie aus den Augenwinkeln, sie hatte wieder Farbe. Er präsentierte seine großflächigen Frontzähne, sagte: „Ich tippe auf normales Ertrinken.“ „Dann kommt es also zu keiner Ermittlung?“ „Sie meinen unter dem Aspekt Mordverdacht? Doch.“ „Wieso?“ „Der Alte … Also der Genosse Hauptmann ist das, was man eine ulkige Nummer nennt. Ein Spaßvogel; freilich immer auf anderer Leute Kosten. Mir sind seine Witze zu gallig … Aber wenn er anfangt, am Tatort zu parodieren – ich weiß nicht, ob Sie die Einlage vorhin gehört haben –, 37
dann … wie soll ich sagen … Dann hat er Blut gerochen. Will heißen: Er wittert was. Bei Werl ist das so: Seine Spaßhaftigkeit überspielt nur …“ Der Unterleutnant stockte, denn Werl prallte unversehens aus dem Badezimmer, winkte Stefanie: „Kommen Sie, Fräulein Thalmer, wir beide machen jetzt eine Schloßbesichtigung!“ Er strampelte die Treppe hinunter, energiegeladen, in Fahrt, seine graue Anzugjacke wedelte. „Wir brauchen nur noch einen Kastellan.“ Vom Parterreflur gingen mehrere Türen ab. Bereits auf ihre Schritte hin öffnete Max Wendelin, fragte: „Wollten Sie zu mir? – Kommen Sie doch bitte rein, Genossen. Wir sind noch auf, natürlich; wer könnte nach solch einem Schreck schlafen. Meine Frau hat einen regelrechten Schock bekommen. Es war ein gräßlicher Anblick. Nehmen Sie doch bitte Platz …“ Ilona Wendelin lag auf der Couch, in eine Wolldecke gehüllt; das Zimmer roch nach Baldrian. Wendelin, blauer Präsentanzug, Parteiabzeichen, geschäftig, bereits am Durchgang zur Küche, vergewisserte sich: „In Anbetracht der späten Stunde und des anspannenden Dienstes – wenn es Ihnen recht ist, ich würde Ihnen gern einen Kaffee kochen …“ Werl wiegte den Kopf. „Wissen Sie, Herr … Herr Wendelin, wir schlagen das nicht ab. Ich hab sowieso noch weitere Fragen an Sie. Allerdings würde ich mich vorher gern ein wenig in dieser Villa umtun. Nur um einen Überblick zu bekommen.“ „Dann ist es also …“ Ilona stemmte sich auf die Ellenbogen. „Dann ist es also kein Unglücksfall …?“ „Dazu läßt sich momentan noch nichts sagen.“ Sie fiel auf die Couch zurück; Max Wendelin kam mit den Schlüsseln, machte sich erbötig: „Möchtet ihr unsere Wohnung auch inspizieren, Genossen?“ „Nein, das ist nicht erforderlich.“ Werl erhob sich. „Wieviel Zimmer sind hier unten?“ 38
„Zwei. Zwei Wohnräume. Hinzu kommen eine größere Küche und ein behelfsmäßiges Bad. Das eigentliche Bad befindet sich oben.“ „Es handelt sich also um ein ursprüngliches Einfamilienhaus. Besitzer ist diese Frau Lindthaler?“ Wendelin öffnete zum Flur, er verneinte. „Der Eigentümer bin ich. Ich habe dieses Objekt vor zwei Jahren von Frau Lindthaler gekauft … Möchten Sie auch den Keller sehn?“ „Natürlich.“ Ausgenommen Frau Lindthalers Gemächer, die er sich bereits zu Gemüte geführt hatte, jeden Winkel des Hauses. „Ich hab ihr alles bar bezahlt; mit Kreditaufnahme. Außerdem behielt sie drei Zimmer in der oberen Etage. Trotzdem gab es fortwährend Streit und Auseinandersetzungen. Sie war eine anmaßende, herrschsüchtige Person und fühlte sich hier immer noch als Besitzerin. Ich erzähle Ihnen das, weil Sie es sowieso erfahren …“ „Es ist für uns ohne Belang“, murmelte Werl, dessen Aufmerksamkeit der Haustür galt. „Ist hier ständig abgeschlossen?“ Wendelin erklärte: „Ich und meine Familie sind bestrebt, auch durch Verschluß der Haus- und Kellertüren zur Gewährleistung von Ordnung und Sicherheit beizutragen; allerdings bewohnten wir das Gebäude bisher nicht allein, und von Frau Lindthaler, ich sage das ganz offen, sind ähnliche Aktivitäten nicht zu vermelden. Auch in diesem Punkt war ich gezwungen, wiederholt mit ihr Aussprachen zu führen. – Die Tür schließt selbsttätig, das Schloß wurde von mir erst vorige Woche neu eingebaut … Fallen Sie nicht die Stufen runter … Warten Sie, hier unten ist der Lichtschalter …“ Er stieg vor ihnen die schmale Kellertreppe hinunter. „Ich weiß, was man in diesen Fällen für Ermittlungen anstellt, Genossen, deshalb will ich euch über verschiedene Dinge nicht im unklaren lassen. Es könnte bei euch der Eindruck entstehen, als käme mir 39
der Tod dieser Frau sehr zupaß – das ist auch so, frank und frei. Aber ich bringe niemanden um. Und für meine Familie lege ich die Hand ins Feuer.“ Werl sagte: „Außer den Bewohnern kann also kein Mensch das Gebäude unbemerkt betreten?“ „Doch!“ Wendelin eilte vor ihnen her. „Durch den hinteren Keller. Sie ließ dort häufig offen, auch heute!“ „Woher wissen Sie?“ „Ich … also um es geradeheraus zu sagen: Ich benutze mitunter selbst diesen Zugang. Es ist von der Garage aus günstiger … Man muß nicht um das halbe Haus laufen … Nur, ich schließe hinter mir ab.“ „Haben Sie hier Schwamm in den Wänden?“ erkundigte sich Stefanie. „Hier war Schwamm. Ich mußte die Grundmauern freischaufeln. Eine mörderische Arbeit. Sie können sich nicht vorstellen, wie dieses Lustschloß vor zwei Jahren ausgesehen hat. Was ich hier für Schweiß investiert habe! Und Geld! Sie bildete sich ein, sie hätte zu billig verkauft: Ich sage Ihnen, ich habe inzwischen mehr für Rekonstruktion reingesteckt, als das ganze Objekt wert ist!“ Im oberen Stockwerk zeigte Wendelin sichtliches Interesse am Treiben des mit daktyloskopischer Spurensicherung befaßten Kriminaltechnikers, versuchte auch einen Blick in das Badezimmer zu erhaschen; Werl schob ihn weiter, forschte: „Was wissen Sie über diese Frau Lindthaler? Hat sie Verwandte? Freunde?“ Indem er zum Boden hin aufschloß, versicherte Wendelin: „Ich kann Ihnen da nicht viel sagen – bitte, Genossin! Damen haben bei mir Vortritt … Ich glaube, ein Sohn existiert. Er kam manchmal zu Besuch. Aus der BRD. Wir hatten zu ihr keinen näheren Kontakt. – Sehen Sie mal, hier oben hatte es durchgeregnet; einige Sparren waren regelrecht durchfault. Die Frau hatte seit Jahrzehnten keinen Pfennig investiert.“ An manchen Stellen, im Licht der beiden Bodenlam40
pen, sah man Eimer, Blechschüsseln, in denen Frau Lindthaler früher das Regenwasser aufgefangen hatte. Alles war von Taubendreck überkrustet. „Dies hier ist das Turmzimmer. Sie benutzte es früher als Vorratskammer. – Ja, das sieht alles noch schlimm aus. Hier liegt noch manches im argen. Ich hab erst das Dringendste ausgeflickt. Immerhin ist es jetzt trocken. Aber überall Vogelkacke. Sie streute den Biestern Futter.“ „Moment“, Werl hielt ihn zurück. „Was ist hier?“ Er wies auf die Tür neben dem Turm. Wendelin schien plötzlich unwillig. Er sagte: „Die ehemalige Mädchenkammer.“ Schloß auf. „Das Zimmer ist an sich nicht schlecht, muß nur renoviert werden. Vor allem: Es ist beheizbar. Hier wohnte bis vor einem Jahr eine Frau Lehnert. Sie war gewissermaßen die Hausangestellte der Lindthaler. Seit dreieinhalb Jahrzehnten.“ Er lachte unmotiviert auf. „Die kann Ihnen über diese Villa und ihre Bewohner, mich und meine Familie eingeschlossen, alle Auskünfte geben. Und wird das sehr bereitwillig tun. Ich weise Sie darauf hin, weil Sie es früher oder später doch ermittelt hätten. Es ist für niemanden angenehm, wenn man über ihn Erkundigungen einzieht; aber wir haben Recherchen nicht zu fürchten.“ „Verständlich“, nickte Werl, „Sie versicherten ja bereits, nicht als Täter in Frage zu kommen. Ich nehme Ihnen das ohne weiteres ab. Allein, was mir noch unklar ist: Woher wissen Sie, daß Frau Lindthaler Opfer eines Gewaltverbrechens wurde?“ „Ich weiß nichts, aber ich schließe es“, parierte Wendelin im Ton gekränkter, aber verzeihender Unschuld, „aus den Umständen, die Sie und die anderen Genossen sich hierzu machen, ja wahrscheinlich bedauerlicherweise dazu Veranlassung haben.“ Sie kletterten die steile Bodenstiege hinunter und Stefanie fragte – das ist schließlich keine Vernehmung, warum soll sie nicht gelegentlich den Mund aufmachen –: 41
„Die Zimmer im Obergeschoß wurden alle von Frau Lindthaler bewohnt?“ „Drei. Eigentlich drei halbe. Das vierte gehört uns. Meinem Sohn.“ Werl knurrte; das war eine wichtige Frage, sie wäre gleich von ihm gestellt worden – dieses Fräulein Thalmer war jedenfalls nicht unintelligent. Zu Wendelin: „Ihr Sohn …?“ Er wendete sich suchend um. „Ich hatte noch nicht das Vergnügen …“ Wendelin: „Er schläft. Wir haben ihn zu Bett geschickt. Er muß zeitig zur Schule.“ Werl: „Wie alt ist denn der Lütte?“ Wendelin: „Siebzehn. – Ein schwieriges Alter. Ich bin ständig bemüht, unter Einbeziehung meiner Frau, den Erziehungsprozeß zu gestalten. Leider ergeben sich auch Rückschläge. Negative Einflüsse. Trotzdem ist es mir gelungen, in ständigem Kontakt mit der Schule …“ Werl: „Und welches ist doch sein Zimmer?“ Wendelin: „Das. Neben dem Bad.“ Der Hauptmann entließ Wendelin; er hatte sich schon ganz zu Anfang mit der Frau unterhalten, die die Tote entdeckt hatte, ein paar Fragen wären aber noch offen, er käme dann gleich noch mal runter, Werl legte das Kinn auf die Brust, Arme verschränkt, von der Treppe hörte man Wendelins Schritte. Endlich wandte er sich Stefanie zu. „Nun, was haben Sie für einen Eindruck?“ „Sie meinen – von diesem Wendelin? – Mir fiel auf, daß er uns die ehemalige Hausangestellte ganz gern verschwiegen hätte …“ „Ja; ich glaube, diese Person ist für uns nicht unwichtig. Aus einem ganz einfachen Grund: Die Motive für ein Tötungsverbrechen müssen nicht aktueller Natur sein. Oftmals liegt der Ausgangspunkt Jahre zurück. Deshalb wäre es für uns von großer Bedeutung, durch jene Frau 42
mehr über die Vorgeschichte zu erfahren. – Aber, nach unseren bisherigen Erkenntnissen, was denken Sie über Wendelin?“ Stefanie zog einen Schmollmund. Nach unseren bisherigen Erkenntnissen …! Nach seinen, sie hat ja keine. Ihr sagt man ja nichts. Sie hat keine Ahnung, was ihm die Ehefrau Wendelin erzählt hat; sie weiß nicht einmal, welche Anhaltspunkte für einen Mord vorliegen. „Das kann Ihnen alles Brandenburg erzählen. Sie dürfen ihm im Garten Gesellschaft leisten. Was mich interessiert: Wie denken Sie auf Grund Ihrer ersten Eindrücke über den Genossen Wendelin? Es heißt doch, daß Künstler oder meinetwegen Dichter so sehr sensitiv wären. Oder sagt man ‚sensibel‘?“ Sie ignorierte die letzte Frage, sagte: „Er ist einerseits recht progressiv; Partei …“ „Das spricht für ihn.“ „Aber er stellt es heraus. Auf eine fast widerwärtige Weise.“ „Das spricht gegen ihn.“ „Freilich, ob er einen Menschen umbringen würde …“ Werl sagte: „Liebes Fräulein Thalmer, die unangenehmsten und am schwersten aufzuklärenden Fälle sind die, wo der Mörder aus einer Familie zu isolieren ist, in der jeder den anderen verdächtigt, und jeder den anderen deckt.“
5 Die nächtliche Novemberluft, Randberlin, fern der dichten, wärmespeichernden Bebauung, den Abgasen der Werke, war von feuchter Kühle. Trotzdem köstlich: im Garten hing der Geruch von moderndem Laub, von Baumrinde. Stefanie atmete geschlossener Augen. 43
Mit der Handlampe die Wegplatten ableuchtend, sagte Brandenburg: „Ich habe übrigens bis vor einigen Jahren selbst Gedichte geschrieben. Also bei bestimmten Gelegenheiten. Es ist vielleicht das eine oder andere Gute darunter. Aber ich hab das Interesse verloren. Zeitmangel. Ich hatte auch keine Anleitung. Zum Beispiel konnte mir nie einer sagen: Wann soll es sich reimen, und wann nicht. Wenn Sie möchten, bring ich Ihnen mal ein oder zwei mit …?“ „Tun Sie das.“ „Auf forensischem Gebiet können dafür Sie von mir profitieren. Ich habe schon in zahlreichen Mordfällen ermittelt, für mich bestände nicht die Schwierigkeit, außergewöhnliche Geschichten erst ausdenken zu müssen. Vielleicht ergäbe das eine oder andere den Stoff für eine größere Prosaarbeit …“ „Vielleicht.“ „Ich besitze übrigens auch noch meine Schnellhefter vom Studium. Falls Sie etwas Fachliches brauchen – Sie können da gern Einsicht nehmen …“ „Ich komme darauf zurück. Aber leuchten Sie nicht dauernd mich an; Sie suchen doch, vermute ich, Spuren am Boden.“ Der Unterleutnant senkte den Lichtkegel und sagte: „Zu Beginn werfen wir Kriminalisten immer die Frage nach dem möglichen Motiv eventueller Verdächtiger auf. Eine erstrangige Frage, da mit ihrer Beantwortung auf den Täter geschlossen werden kann. Wir unterscheiden Beziehungstäter und solche, die in keiner Verbindung zum Opfer stehen, beide Versionen müssen erwogen werden. Das ist grundsätzlich so. Sie sollten das unbedingt in Ihrem Roman berücksichtigen.“ „Wahrscheinlich verweise ich der Kürze halber auf Ihre Schnellhefter.“ „Falls Sie sich für kriminaltechnische Untersuchungen interessieren …“ Man unterscheide da Schußwaffen- und 44
Schußspurenuntersuchungen, Werkzeugspurenuntersuchungen, chemisch-physikalische Untersuchungen von anorganischen und organischen chemischen Stoffen. Daktyloskopie, also Fingerabdruckwesen; er fand kein Ende. „Ich verstehe. Aber wie findet man überhaupt Spuren?“ „Man beginnt an der Peripherie eines um den Tatort gezogenen Kreises und bewegt sich spiralförmig bis zur … also in unserem Fall bis zur Badewanne. Schulbuchmäßig; natürlich wird auch die weitere Umgebung abgegrast.“ „Was wir soeben tun.“ „Ja, aber nur oberflächlich. Falls wir konkretere Anhaltspunkte …“ Er verstummte, leuchtete auf eine Stelle zwischen den Stauden. Ganz offensichtlich hatte sich hier jemand liegend verborgen: Dürres Gewächs war zerknickt, in der Erde zeichnete sich das Profil einer Schuhsohle ab. „Wie im Film“, rief Stefanie. „Da liegt auch eine Zigarettenkippe.“ „Liegenlassen!“ schrie Brandenburg. Fügte leise hinzu: „Um Himmels willen nichts anfassen.“ „Sie meinen, es ist von Bedeutung?“ Ein weiterer Fund, unweit des Eingangs zum Grundstück, schien mit den Spuren im Garten in Zusammenhang zu stehen. Zwei unangerauchte, unversehrte Zigaretten der gleichen blumigduftigen Marke wie jene Kippe (Karo) und eine größere Anzahl wieder verloschener oder beim Anzünden zersplitterter Streichhölzer. Während man die möglichen Hinweise sicherstellte und ein, in der Auswertung von Schuh-, Körper- und Reifenabdrücken erfahrener, Kriminaltechniker der Gartenerde seine Aufmerksamkeit schenkte, kombinierte Brandenburg: „Wenn wir hier wirklich auf der richtigen Fährte sind, hat der Täter, bevor er das Verbrechen ausführte, 45
in äußerster Nervosität, rauchend, von der Straße aus das Grundstück beobachtet. Die Kippe verlor er wahrscheinlich auf der Flucht vom Tatort.“ „Dann hätte man im Badezimmer auf Aschespuren stoßen müssen“, bezweifelte Stefanie die Version. Werl, der, eine dämonische Verdickung des Türschattens, aus dem Haus getreten war und die Erörterung verfolgt hatte, sagte: „Trotzdem hat der Genosse Brandenburg recht. Der Täter drückte den Glimmstengel aus, bevor er eintrat, und entzündete ihn erst wieder beim Verlassen der Villa.“ „Aber weshalb?“ „Um die Gardinen seines Opfers zu schonen.“ Beim besten Willen, der blonde Senno konnte da nicht mitlachen. Irgendjemand mußte immer für Werls makabre Späße herhalten; ihn und die Genossin Zeisig traf es zu häufig. Ein Übergewicht an Dienstjahren, die vermeintlich größere Erfahrung sind kein Freibrief für derartiges Umspringen mit Unterstellten. Was den Unterleutnant am meisten wurmte: das Gelächter Fräulein Thalmers. Er hatte eine scharfe Erwiderung auf den Lippen, doch ein plötzliches Geschehen lenkte aller Aufmerksamkeit in eine andere Richtung. Zuerst war ein metallisches Geräusch, wie es beim Durchladen einer Waffe entsteht. Im nächsten Augenblick zeckte ein Projektil über ihnen in die Dachsparren. Taubenschwingen flatterten auf. Der Schütze mußte sich hinter einer Gruppe Douglastannen verborgen gehalten haben. Er hatte – infolge der Dunkelheit – wohl erst im nachhinein die Personen vor dem Hauseingang entdeckt, versuchte, wie aus dem Knacken von Zweigen entnehmbar, den hinteren Teil des Grundstücks zu erreichen. Die beiden Kriminalisten starteten, als gelte es einer Olympiaqualifikation. Hindernislauf unter erschwerten Bedingungen. Sie stellten den Unbekannten an der Gren46
ze zum Nachbargrundstück. Werl rief: „Stehnbleiben! Halten Sie die Waffe zur Seite!“ Der Mann, Lederolhose, schwarze Trainingsjacke, zeigte sich nicht minder überrascht als sie selbst. Zwecks Feststellung der Personalien bat Werl den Aufgegriffenen, in den Polizei-Barkas einzusteigen. Es handelte sich also der Aussage und dem Ausweis nach um einen gewissen Bruno Kipfel, wohnhaft im Nebenhaus, ausgeübte Tätigkeit: Baubrigadier. „Herr Kipfel“, begann Werl die Befragung – Brandenburg, mit seiner auf Abendschule erworbenen Zehnfingerfertigkeit tippte das Protokoll –, „Sie wurden heute 23 Uhr 50 auf dem Grundstück des Hauses Kastanienallee zwölf angetroffen. Was hatten Sie dort zu tun?“ Kipfel starrte in verhaltener Wut von Werl zu Brandenburg und von Brandenburg zu der versenkbaren Schreibmaschine, und Brandenburg sagte: „Na, warum hielten Sie sich dort auf?“ „Das is mein Bier“, wies Kipfel ihn schroff ab. Der Unterleutnant drehte den eingespannten Bogen wieder halb aus der Maschine, entrüstete sich: „Gut! Wenn Sie mit uns diskutieren wollen, fahren wir aufs Präsidium. Dort ist auch mehr Platz. Ganz wie Sie wünschen!“ „Nun machen Sie mal nicht so’n Aufriß, Herr Kipfel“, empfahl Werl mit Gemütsruhe. „Dazu haben Sie keine Veranlassung. Sie haben doch nichts zu verbergen. Daß wir Sie nicht aus Langeweile befragen, müssen Sie uns schon zutraun.“ „Is gebongt“, rief Kipfel, „aber dann mit offenen Karten!“ „Selbstverständlich.“ „Was wolln Sie von mir?“ „Da kann ich nur meine Frage wiederholen.“ „Das ist so“, bequemte sich Kipfel, kratzte sich hinterm 47
Ohr, „ich höre von früh bis spät Betonmischer, Kipper, Bagger, Kompressoren … zum Feierabend will ich Ruhe haben. Da bin ich der geräuschempfindlichste Mensch …“ „… gebe ich zu Protokoll, daß ich keinen Lärm vertrage“, wiederholte Brandenburg, klapperte mit den Tasten, hämmerte in die Maschine, die Glocke verkündete Zeilenende, er riß am schnarrenden Walzenhebel, fragte: „Und weiter?“ Kipfel schnaufte, faßte den Semmelblonden ungehalten ins Auge und führte aus: „Diese Straße hier ist glücklicherweise sehr verkehrsarm. Die wenigsten der Anlieger haben Kinder. Auch Hunde, wie man das so in ländlichen Siedlungen findet, sind nicht üblich. Aber wir leiden hier unter einem Ungeziefer, das mich um den Schlaf bringt. Deshalb, ich sage es Ihnen ungeschminkt, hab ich meinen Knicker mit.“ „Sie reden von den Tauben?“ versicherte sich Werl. „Allerdings. Sie ahnen nicht, was die possierlichen Picker für ein Stimmvolumen haben! Dieses Gurren, hohl, fensterdurchdringend, reißt mich jeden Morgen vorzeitig von der Matratze. Eine Trommelfellfolter! Wochentags, sonntags – da kennen die Biester keinen Unterschied. Mein eigenes Anwesen meiden sie wie eine Mördergrube; aber bei der Lindthaler nisten sie zu Dutzenden.“ Brandenburg staunte: „Da wollten Sie also auf dem Nachbargrundstück Tauben schießen?“ „Ich weiß, daß ich mich da in fremden Hoheitsgewässern befinde. Aber ist es verboten? Ruhestörer, Krankheitsüberträger, Umweltverschmutzer; einer mußte da mal an die Rolle. Nichts gegen die Dame Lindthaler. Aber sie füttert das Viehzeug und lockt es an. Also warte ich die Dunkelheit ab und greife zur Selbsthilfe.“ Er strich über den Kolben der Luftbüchse. „Und dafür suchen Sie sich die Zeit um Mitternacht aus?“ fragte Werl. „Bei Tag kann ich auf dem Klavier nicht spielen. Oder 48
wie würden Sie reagieren, wenn jemand Ihre Fassade zur Zielscheibe macht? Ich war heute seit Einbruch der Dunkelheit auf Pirsch. Immer rund ums Haus. Leider ohne Weidmannsglück. Deshalb brach ich es ab. Vorhin hab ich die Autos auf der Straße gesehn, Licht im Garten, und mir gedacht, daß irgendwas los ist. Wollte nachsehn, was ansteht.“ „Mit dem Gewehr?“ „Menschenskind, machen Sie einen Wind um das Pusterohr. – Ich hänge an dem Kaliber. Nahm sie von der Wand, gewohnheitsmäßig. Man weiß nie vorher, wann was vor die Mündung flattert.“ „Ja, mir ist das sehr plausibel“, gestand Brandenburg. „Und“, setzte er seine Einfühlung fort, „wenn Sie nun mit Ihren Lederolhosen durch die Büsche schleichen und auch mal einen Baum besteigen, um besser zum Schuß zu kommen – rauchen Sie da eventuell gelegentlich eine …“ Er konnte den Satz weder mit „Karo“ noch mit „Zigarette“ beenden, denn Kipfel, grimassierend vor Abscheu, verkündete: „Das steht nich auf meiner Fahne! Ich bin Nichtraucher. Ich liebe frische Luft.“ „Und Stille“, ergänzte Werl. „Wobei: So eine richtige Friedhofsstille ist auch nicht jedermanns Sache. Aber ich will Sie noch etwas anderes fragen. Sie sind doch ein guter Schütze. Als wir vorhin auf Sie aufmerksam wurden, hatten Sie es auf eine gefiederte Lärmquelle abgesehen, die, soweit ich das im Dunklen ausmachen konnte, von einem Sims bei den oberen Fenstern aufflog. Die Kugel schlug aber, dem Geräusch nach, in das Holz eines Dachsparrens. Das heißt, um mindestens einen Meter verfehlt!“ Es war warm in dem engen Fahrzeug. Werl knöpfte die Jacke auf und auch Kipfel wischte sich den Schweiß von der Glanzstirn. Er habe seine Brille beim Optiker und sei deshalb für einige Tage etwas gehandikapt. Eine sichere Hand vermöge ein scharfes Auge nur zum Teil zu ersetzen. 49
Trotzdem, vermutete der Hauptmann, könnte der Mann Beobachtungen gemacht haben, die die Aufklärung des Falles vorantreiben würden. Er eröffnete, plötzlich sehr ernst: „Ich setze Sie davon in Kenntnis, daß Frau Lindthaler in den heutigen Abendstunden verstorben ist. Die näheren Umstände des Todes sind noch nicht rekonstruierbar und geben zu unseren Ermittlungen Anlaß. Sie haben sich aller Wahrscheinlichkeit nach zum fraglichen Zeitpunkt in unmittelbarer Nähe, im Garten aufgehalten. Versuchen Sie sich zu erinnern! Was ist Ihnen aufgefallen? Für uns ist jede Kleinigkeit von Bedeutung.“ Kipfel hatte seine Liebe zu frischer Luft nicht ganz zufällig betont. Es war in diesem Fahrzeug einfach zu eng für drei Personen, stickig, er schwitzte Blut und Wasser. Brandenburg schob ein Seitenfenster auf. Erinnern soll er sich; woran denn? „Wann begannen Sie die Großwildjagd?“ Werl trommelte ungeduldig auf die Sprelacartplatte. „Mit Einbruch der Dunkelheit!“ Er zeigte auf das Protokoll in Brandenburgs Maschine: „Ist doch bereits gebongt!“ „Also gegen siebzehn Uhr?“ „Könnte hinkommen.“ „Brannte im Haus Licht?“ „Unten. Bei Wendelins. Das ist, soviel ich weiß, die Küche. Oben bei der Lindthaler … Ja, ein Fenster war hell.“ „Welches?“ „Zur Straße. Warten Sie, wenn ich das richtig bedenke … Der Gardine nach ist es ihr Badezimmer.“ „Weiter. Sie hatten doch die Fassade im Blickfeld. Was geschah weiter?“ „Meine Aufmerksamkeit galt nicht den Fenstern.“ „Aber die Fenster gaben für Sie gutes Büchsenlicht!“ warf Brandenburg ein. „Quetschen Sie mal Ihr Gedächtnis aus!“ „Wonach denn!“ schrie Kipfel, brauste auf: „Ich weiß 50
ja nicht, wo hier der Hammer hängt! Ich lange doch nicht blind in den Scherbenhaufen. Zuletzt geht der Schuß nach hinten los. – Mir ist nichts Besonderes aufgefallen. Die Lindthaler ging ja dann auch noch mal weg …“ „Wie bitte?“ Werl fuhr von seinem Sitz hoch. „Es muß kurz nach achtzehn Uhr gewesen sein. Ja“, er schloß die Augen, stützte die Stirn auf, „ich bin mir deshalb sicher, weil ich 18 Uhr 30 den Film nicht verpassen wollte.“ „Wo ging sie hin? Wurde sie unten erwartet?“ „Da muß ich passen. – Zuerst ging oben das Licht aus; dann kam sie. Sie trug was. Einen größeren Gegenstand. Ja, ich dachte noch, in ihrem Alter und als Frau sollte sie sich das nicht zumuten.“ „Sprachen Sie mit ihr?“ „Was denken Sie. Mit der Flinte im Arm und auf Taubensafari! Ich hab mich sofort in die Büsche geschlagen.“ „Dann kann es auch Frau Wendelin gewesen sein“, argwöhnte Brandenburg. Oder gar Herr Wendelin, oder der Sohn – „haben Sie die Lindthaler mit Sicherheit erkannt?“ „Soll ichs auf Band sprechen? Es brannte ja auch im Obergeschoß kein Licht mehr.“ „Sie beobachteten ihre Rückkehr?“ „Ich war auf den Film scharf. Kurzkrimi; ich weiß nicht, ob Sie die Serie verfolgen …“ Werl schüttelte den Kopf, scharrte ungeduldig mit den Füßen, los doch, los doch, wann kam sie zurück? „Neunzehn Uhr. Der Film war gerade zu Ende, ich sah aus dem Fenster, da ging oben das Licht wieder an.“ Die Augenbrauen hochziehend, sagte Werl: „Alles in allem, Herr Kipfel, kommt uns Ihr waidmännisches Treiben sehr zupaß. Sind doch ganz handfeste Anhaltspunkte, die Sie uns hier liefern … Sonst ist Ihnen im Garten niemand begegnet? Sie sind nicht zufällig über einen Beob51
achter gestolpert, der unweit des Hauses zwischen den Stauden lag?“ Kipfel faßte die Waffe, blickte Werl kühl an: „Nein.“
6 Schon im dritten Stock zog Stefanie die Schuhe aus, schlich in Strümpfen, auf Zehenspitzen die Treppe hinauf. Lautlos schob sie den Schlüssel ein, öffnete unhörbar. Nachts, halb drei; sie lauschte, glitt behutsam in den nur vom Flur erhellten Korridor. Mit den Armen das Gleichgewicht tarierend, gewichtslos, Frau Plaschkes Schlafzimmertür im Blick, schwebte sie wie eine Spitzentänzerin, wie eine Primaballerina. Da stockte ihr der Atem. Geräuschlos, Millimeter für Millimeter senkte sich die mattglänzende Messingklinke, sachte entstand ein dunkler Spalt, vergrößerte; eine nackte Zehe; barfuß, im langen weißleinenen Nachthemd, die Lockenwickler verlegen, wie in schlechtem Gewissen geneigt, flüsterte Frau Plaschke eine Art Nachmitternachtsgruß. Stefanie suchte sich ungestüm zu entziehen; zu spät. Licht an; wehenden Hemdes, gar nicht verschlafen, putzmunter war Frau Plaschke an ihrer Seite. Hielt sie am Mantel, griff ihr ins Gesicht: „Nein doch, Fräuleinchen! Sie sin ja blitzblau – Sie holn sich ne Hongkonggrippe; ach Gott aber auch nee, in den dünnen Kledaschen! Also als Gefrierfleisch gehn Se mir nich ins Bett; keine Widerrede.“ Sie hätte Glühwein aufgesetzt, ein Gläschen in Ehren kann keiner nich verwehren; brächte ihr das gleich rüber. Die Plaschke polterte in der Küche, und Stefanie stand wie vom Donner gerührt: In ihrem Zimmer war wirklich alles vorbereitet. Der Tisch gedeckt; aber für zwei Perso52
nen! Zwei Teller mit geschmierten Schrippen, zwei Gläser, zwei Servietten, zwei Schälchen mit Erdnußflips, sogar zwei Salzbrezelhalter. Hier hatte jemand, schien es, für Grippeprophylaxe den Rest der Nacht verplant. In rasch übergeworfenem Morgenmantel, hurtigen, ausgetretenen Pantoffeln, ein Handbuch des kriminalistischen Grundwissens als hitzefesten Untersetzer in die Achsel geklemmt, balancierte Gisela Plaschke die dampfende Glühweinkruke. Zimt, Nelken, Rosenthaler Kadarka, die reinste Nasenorgie, sie schniefte, spitzte die Lippen, verdrehte die Augäpfel, und wennste n Eisblock bist, Mädelchen, mit dies Gebräu tauste noch auf. „Nu setzen Se sich doch erst mal, Fräulein, sonst schlagen Se noch im Linoleum Wurzeln!“ Stefanie wühlte in ihren Taschen, abweisend: „Sie bekommen noch den Rest Taxigeld … Im übrigen bin ich todmüde, Frau Plaschke!“ „Das Gesöff möbelt Sie auf, lassen Se die Märker stecken, Abrechnung is morgen, Herrgott, mir klappen och die Augdeckel runter, n bißchen muß man sich beieinander behalten, wo ich doch alles so schnieke zurecht gemacht hab …“ Sie saßen sich am Tisch gegenüber und Frau Plaschke, in ihr Glas pustend, meinte, daß es dieses Jahr wohl einen strengen Winter gäbe. Wäre ja mal wieder fällig. Na, sie hat die Kohlen im Keller. „Schieben Se was ein, Fräulein, daß Se was auf die Rippen kriegen. Eigener Speck ist der wärmste Wintermantel und paßt wie angegossen; langen Se zu. Ach Gott, nu gähn Se doch man nich dauernd!“ Zu ihrer Zeit, vor den Krieg, sie hat ganze Nächte durchtanzt, in Rixdorf is Musike, gar nich erst in die Falle, n starker Kaffee, früh um fünfe mußte sie bei dem Bäckermeister antraben, in Moabit. Da hatte die Menschheit noch Kondition. „Dicke Ringe unter die Augen, n Kopp wie n Leierkasten; aber man is nur einmal jung, Fräulein, man muß das Leben 53
beim Schopfe packen, tot is man noch früh genug – wie alt warer denn?“ „Wer?“ „Na, den se umgebracht ham.“ Stefanie schwieg. Der Schluck Warmes im Bauch, um ehrlich zu sein, kam nicht ungelegen. Aber diese Frau konnte auch penetrant lästig werden. Sie legte die Hände um ihr Glas, sagte: „Es handelt sich um eine Frau. Neunundsechzig Jahre, damit Sie beruhigt sind. Ich verrate es Ihnen nur deshalb, weil es morgen schon in der Zeitung stehen könnte; aber nun wechseln wir bitte wieder das Thema …“ „Hab ichs nich gesagt!“ Plaschkesche Stimmbänder schmetterten Triumph. „Ne Rentnerin! – Un wie? Messer? Kombizange? Na das müssen Se mir nich erzähln. Was Sie nich bekakeln wolln, behalten Se drin; womöglich heißts sonst noch, ich will Sie anbohrn! – Reichen Se mal rüber, ich kipp Ihnen nach … Wilhelmshagen, schau an. Kastanienallee zwölf … Wohn da eigentlich noch mehr Leute drin?“ Sie blickte Stefanie über die erhobene Kruke hinweg an. Verflixt, die Adresse! Die Plaschke war ja während ihres Telefonats mit Werl zugegen gewesen. Fehlte nur noch, daß diese Möchtegerndetektivin nach Wilhelmshagen raus fuhr und dort Erkundigungen einzöge. Nicht auszudenken! So ein Auftritt mußte um jeden Preis verhindert werden … Dann schon lieber selbst die Neugier stillen, mit allgemein zugänglichen Fakten, mit Angaben, die jeder in der Nachbarschaft handelt. „Ein Einfamilienhaus, Frau Plaschke, stelln Sie sich bloß vor! In einem großen, baumbestandenen Garten. Altertümliche Villa, mit Spitzgiebeln und Türmchen …“ Die Kriminalenthusiastin, ein paar Erdnußflips in der hohlen Hand, hielt den Mund offen, verlor einen Pantoffel vom Fuß; sie sah das vor sich wie in einem EdgarWallace-Film, dabei pure Realität; solche Landhäuser 54
ziehen Mörder regelrecht an; schauderte unter dem nur für sie hörbaren Ruf eines Käuzchens. „Parterre wohnt eine dreiköpfige Familie. Er: Handelsleiter; Sie: Sprechstundenhilfe; Sohn: Oberschüler.“ Stefanie machte es kurz und bündig, warf Frau Plaschke die nicht eben sehr geheimen Details um die Ohren: Haustür abgeschlossen, Zugang durch Keller möglich, Nachbar lief mit Luftbüchse um das Haus Patrouille. „Was Sie nich sagen …“ Frau Plaschke, fasziniert, blätterte im Handbuch ihres Grundwissens. „Aber die Leiche …“ Stefanie lächelte bekümmert. „Wissen Sie schon, daß den meisten Leuten ihr Tod nicht bekommt? Ist wirklich wahr, ich habs aus erster Hand. Aber mir ist der Tod dieser Toten nicht bekommen …“ Sie lachte, öffnete die Bluse, ihr war jetzt irrsinnig warm. Irgendwie stieg auch das Getränk zu Kopf. Frau Plaschke nickte aufmunternd, prostete ihr zu. Um es ohne Umschweife zu sagen: Sie ist beinahe in Ohnmacht gefallen. Vom bloßen Anblick. Im Badezimmer. „Nu ja, Kindchen, Blut is nich für dich.“ „Kein Blut, sie ist doch ertrunk…“ Das hatte sie eigentlich nicht sagen wollen! Tat einen gehörigen Schluck, wischte sich die Strähnen aus der Stirn. Frau Plaschke blickte ganz unverfänglich. Später, als die zweite Kruke auf dem Tisch dampfte, lagen die Dinge schon ziemlich klar. Frau Plaschke mußte nur noch System reinbringen. Handbuch Seite 14, die sieben goldenen W’s des Kriminalisten: Was ist geschehen, Wo, Wann, Wie, Womit, Warum, Wer hat es getan. Zigaretten, Schuhabdrücke im Garten, Urin im Toilettenbecken. Sie sagte: „Jeder Täter braucht ein Motiv und ne Gelegenheit.“ Stefanie nickte, war aber plötzlich wie abgedreht. Sie hatte zu viel erzählt, sich in Feuer geredet, die Pferde waren mit ihr durchgegangen, daran war nur der Glühwein 55
schuld. Sie streckte die Beine von sich, rekelte im Sessel: ein wenig Gewissensbisse ob ihres Leichtsinns mischte sich in ein wohliges, den ganzen Körper durchziehendes Behagen. Es war ein einmaliger Entgleiser, ab jetzt hält sie die Klappe. Gibt auch im Prinzip nichts mehr auszuposaunen. Das Sagen hatte jetzt Frau Plaschke. Was ist geschehn? Ein Mord. Liegt auf der Hand, dazu bedarf es keines gerichtsmedizinischen Gutachtens. Alle Umstände sprechen dafür. Die Weitläufigkeit des Gartens. Die Einsamkeit des Hauses, Baustil, das Alter der Villa sind Beweis genug. Wo ist es passiert? In der Badewanne. Wann? Bei Einbruch der Dunkelheit, in jenem Moment, da sich Licht und Finsternis die Waage hielten. Die besondere Verwerflichkeit aller Untäter ihrer literarischen Vorratskammer gipfelte ja darin, den Mord entweder dreist bei hellichtem Tag oder in heimtückischer Ausnützung der Dunkelheit begangen zu haben. Sie greift nicht fehl, lastet sie dem Wilhelmshagener Meuchler beide erschwerenden Umstände an. Wie? Womit? Alles, was keine sichtbaren Spuren am Opfer hinterläßt und dieses doch unter Wasser bringt, kommt in Frage, Decke, Kissen, ein Mantel. Drüberwerfen, runterdrücken. Warum? „Sehn Se mal, Fräulein, unten die Haustür war dicht. Isser also durch den Keller. Dann hat er aber den Mord von vorneherein beabsichtigt! Sonst hätte der klingeln können. Also jedenfalls aus handfestem Motiv, nich im Affekt. Aber dein Werl is n Blindgänger. Er muß die Leute ausquetschen, Alibis. Vor mir hielte keiner was lange geheim … Vielleicht is der Schubiak ins Haus, als die Lindthaler noch mal weg ist? Aber war se wirklich weg? Der mit der Flinte, sagste doch, hat Tomaten auf der Pupille: Vielleicht hat er den Mörder wegjachtern sehn! Un wenn der was wegbuckelte, muß doch was fehlen, das muß sich doch feststelln lassen! Aber am Ende hat er euch angeschmiert, un den Halbstundenkrimi hat er selbst gedreht …“ 56
Stefanie lächelte müde, sie sagte: „Frau Plaschke, Sie haben doch Ihr Ziel erreicht; nehmen Sie mir’s nicht übel, wenn ich jetzt …“ „Nur noch die Zigaretten im Garten un am Zaun, Fräulein, das muß Ihn doch Ihr klarer Menschenverstand sagen, daß niemand ganze Zigaretten wegschmeißt, un seins Karo. Das is doch ne Finte. Da hat doch einer ne falsche Spur gelegt, um euch meschugge zu machen!“ „Ich geh jetzt ins Bett, Frau Plaschke. Momentan machen nur Sie mich meschugge.“ Die raffte ihr Nachthemd zusammen, angelte nach den Pantoffeln. „Nu ziehn Sie man keine Flappe, Fräulein. Ich weiß selbst, wenns Zeit is. Da brauchen Se keine Andeutungen zu machen. So viel Takt un Benimmse dürfen Se mir zutraun. Un nichts für ungut“, sie legte ihre Hand auf Stefanies. „Das müssen Se doch einsehn, daß so ne alleinstehende Frau wie ich, auch mal das Bedürfnis hat, sich auszusprechen; zumal in so ner Angelegenheit. Das geht mir doch sonst die ganze Nacht im Kopp rum.“ „Schon gut, Frau Plaschke.“ Hinter dem Fenster, nah, dunkel, die obere Fassade des Vorderhauses. Stefanie öffnete, schnupperte vorsichtig in den kalten Dunst. Jedenfalls heute kein Schwefelgeruch. Eine Glocke von Widerschein und undefinierbarem allgegenwärtigem Gedröhn wölbte sich der Himmelsausschnitt. Ach Gisela Plaschke, du großes Kind – zu beneiden und zu bedauern! Ach Gisela Plaschke, du Unglücksrabe! Das ist nicht die Zeit für unterhaltsame, kurzweilige Kombinatorik. Mord im Orient-Expreß/Der Doppelmord in der Rue Morgue; aber in Wirklichkeit, zu dieser Stunde bereiten sie den größeren vor, das große Abschlußfeuerwerk; du bist das Opfer in ihren Planspielen, in den strategischen Studien, du bist die Leiche, schon tot in ihren Computern; wer ist der Täter?
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7 Dichter stehen spät auf. Jedenfalls, wenn sie vier Uhr zum Schlafen kommen. Als Stefanie Thalmer am nächsten Vormittag das Vorzimmer Hauptmann Werls betrat, frönten Brandenburg und die Genossin Zeisig bereits ihrer Frühstückspause. Senno Brandenburg senkte seine großflächigen Frontzähne in eine mostrichbetunkte Bulette; die Sekretärin schwelgte in einem Bändchen Droste-Hülshoff: Du Luft und ich und der uralte Stein. Der Leutnant sprang auf, überrascht, verwirrt, wischte sich den Mund; Frau Zeisig hob die Augen aus der Lyrik und lächelte. Werl schoß raus, einen Zettel in der vorgestreckten Rechten, knallte den auf Brandenburgs Schreibtisch: „Anrufen. Alle anrufen!“ Er preßte Stefanie die Hand, zog sie mit sich, sagte: „Es gibt einige Überraschungen.“ Ja, er war die letzten Stunden nicht untätig gewesen. Anruf im Gerichtsmedizinischen Institut (wenn er auf das Gutachten warten will, kann er noch vorher in Urlaub gehen). Erster Fakt: Spurenkundlich-serologische Abteilung: Der Urin verweist auf Blutgruppe B. Zweiter Fakt: Histologisches Labor: Die Tote hat Blutgruppe B. Werl sagte: „Blutgruppe B kommt nur bei zwölf Prozent der Bevölkerung vor. Aber was noch viel wichtiger ist: Anruf bei Dr. Lüdhannes: Als Todeszeit legt er sich auf 18 Uhr fest. Mit Unsicherheit von einer halben Stunde. Wissen Sie, was das bedeutet?“ Stefanie verneinte. „Ich auch nicht. Aber wir sehen uns folgendem Phänomen gegenüber: Zu einem Zeitpunkt, da sie wahrscheinlich schon tot ist, knipst Frau Lindthaler das Licht aus und geht auf die Straße. Um eine Zeit, zu der sie garantiert tot ist, kommt sie zurück und schaltet das Licht wieder an. – Was halten Sie von der Geschichte?“ 58
„Wie aus Tausendundeiner Nacht … Um ehrlich zu sein, ich bin sprachlos.“ „Mir ging es nicht anders. Aber vielleicht könnte uns Herr Kipfel sagen, was er hier falsch gebongt hat?“ „Und wenn … wenn nun Kipfel nicht die Lindthaler, sondern den Mörder gesehen hat?“ brachte Stefanie eine Plaschkesche Überlegung an. „Das wäre möglich.“ Werls Gesicht wurde undurchdringlich; in seinen Augen glitzerte es dämonisch. Er sagte mit Bedacht: „Ein Täter, der die Gardinen seines Opfers schont, denkt selbstverständlich, bevor er türmt, auch an die hohe Stromrechnung.“ Es war ein verhaltener, auf Komik getrimmter Hohn, der von ihr abglitt; aber doch Hohn, und sie konnte sich vorstellen, wie Brandenburg unter dieser Eigenheit seines Vorgesetzten zu leiden hatte. Zum ersten Mal empfand sie so etwas wie Sympathie für Brandenburg. Kriminalisten sind wohl Leute, die die meiste Zeit ihres Lebens im dunklen tappen, denn die Ermittlungen ziehen sich hin, aber die Enthüllung ist nur ein Augenblick, und Werl, dünkte ihr, verbarg die eigene Unsicherheit, das eigene Nichtwissen in Ironie und Gewitzel. Das Telefon klingelte. „Werl … Ah, Doktor! … Ja, Moment, ich notiere … Emphysema aquosum … Wie bitte? … Doktor, können Sie das auch deutsch sagen? … Lungenblähungen … Verdünnung des Blutes in der linken Herzkammer … Ja, ich höre noch … Ja … Und was folgert daraus? … Aha! Ertrinken … So? Das ist allerdings rätselhaft … Ja, bemühen Sie sich. Ich gehe jetzt außer Haus; falls sich noch etwas ergibt, hinterlassen Sie bitte Nachricht bei meiner Sekretärin. Ich danke Ihnen! Wiederhören!“ Er legte auf, er murrte: „Tod durch Ertrinken, wie vermutet. Und keine Ursache, kein Auslöser, wie befürchtet.“ Es gäbe mehrere Methoden, einen Menschen in der 59
Badewanne zum Tode zu bringen, deshalb bestände bei Badewannentod immer Mordverdacht. „Wir haben einen Fall gehabt, wo der Mörder von außen die Gasleitung zu dem im Bad befindlichen Durchlauferhitzer kurz abstellte, so daß Flamme und Zündflamme verlöschten. Dann wieder anstellte. Bei Frau Lindthaler befand sich kein derartiges Gerät im Badezimmer. Leuchtgasvergiftung wäre auch, wie andere Gifte, Schlaftabletten, Betäubungsmittel, gerichtsmedizinisch nachweisbar. – Bleibt das plötzliche, unvermutete Hochziehen an den Beinen. Eine heimtückische, brutale Methode, die einen verschlagenen, wohlüberlegt handelnden Täter voraussetzt.“ Für Werl stand fest, daß es sich um ein Verbrechen handelte. Er hatte schon eine Vielzahl Versionen über das Entstehen der unscheinbaren Kopfverletzung erwogen; was ihn ebenfalls bestärkte: die den Befunden widersprechenden Aussagen und angeblichen Beobachtungen Kipfels, vor allem aber der Umstand, daß Dr. Lüdhannes keinen Hinweis für normales Ertrinken, etwa durch Kreislaufkollaps, also einen bestehenden Herzfehler, medikamentöse Intoxikation oder ähnliches, zu, erheben vermochte. Brandenburg, er war mit der Erfassung und systematischen Befragung sämtlicher Bekannter der Lindthaler beschäftigt, brachte die Adresse jener Frau, die, erwiesen sich Max Wendelins Befürchtungen als stichhaltig, über die Bewohner der Wilhelmshagener Villa, die Familie Wendelin eingeschlossen, alle Auskünfte geben könnte. Werl warf einen Blick auf das Papier, knurrte wohlgefällig. Erika Lehnert, 62 Jahre, von 1945 bis vor einem Jahr in 1165 Berlin, Kastanienallee 12, polizeilich gemeldet, jetzt wohnhaft Marzahn. Er konstatierte: „Diese Frau ist für uns wichtig. Gäbe es sie nicht, müßten wir sie erfinden.“ „Unser Interesse an einer Person, die Einblick in die Geschichte der Lindthaler und ihres Bekanntenkreises 60
hat“, verdeutlichte Brandenburg zu Stefanie hin, „ist nicht zufällig. Als Verbrecher kommt man zwar nicht auf die Welt; man wird es aber auch nicht von heut auf morgen. Das Verbrechen, so habe ich mir das mal in einem Schnellhefter notiert, steht am Endpunkt des langwierigen moralischen und sozialen Verfalls eines Individuums. Ich gebe Ihnen Brief und Siegel darauf, daß als Täter ein Subjekt überführt wird, in dessen Vergangenheit sich bereits wiederholt schwarze Punkte aufzeigen lassen.“ Werl half Stefanie in den Mantel. „Also, auf nach Marzahn. Genosse Brandenburg, Sie fahren mit. Aber lassen Sie Ihren Schnellhefter im Tisch.“ Leninallee, Ho-chi-Minh-Straße, links das Wohngebiet Hohenschönhausen I, dann ballte sich vor ihnen aus Hochhäusern Marzahn. Allee der Kosmonauten; Brandenburg hatte einen neueren Stadtplan auf den Knien, war aber kein Zurechtfinden. Werl, am Steuer, hielt vor einem Aufgang, fragte eine Frau mit Einkaufsrolli, einen Mann mit Gipsfuß, hatte aber niemand eine Ahnung. Wie soll die Straße heißen? Nie gehört. – Fünfzig Meter weiter, am Ende dieses Blocks, hatten sie es. Eine Tafel mit Nummern, einigen hundert Namen im Flur, sie teilten sich das auf, Stefanie sagte plötzlich: „Ich habs! Das geht nach Alphabet. Siebzehnte Etage.“ Sie standen drin, die Fahrstuhltür rollte zu. Stefanie kam erst jetzt zum Bewußtsein, daß Brandenburg einen hellbraunen Ledermantel anhatte. Fußballknöpfe. Er roch nach Eau de Cologne. Unübersehbare Schneidezähne lächelten unmittelbar vor ihr; sie hängte sich an die flackernde Anzeige, verfolgte das Nacheinander der Etagennummern, als wären da Wunder zu erwarten. Bei Frau Lehnert regte sich nichts. Werl klingelte gegenüber. Nichts. Um die Ecke: Ein Mann öffnete. Lehnert? Nein, nie gehört. Hier auf der Etage? Tut mir leid, 61
kenn ich nicht. Brandenburg versuchte es an der Tür neben dem Schuhregal. Eine junge Frau, hochgebundener Rock, erschien, ein Kind drängte sich auch noch dazwischen. Im Hintergrund röhrte ein Staubsauger. Lehnert? Sie streifte erstmal das Haar zurück, faßte Senno wohlgefällig ins Auge. „Da gehn Sie doch mal zum Wohngebietsclub, die is da beim DFD, bestimmt isse dort.“ Zuvor schob sie nun aber doch noch ein wenig die Schenkel ins Freie, gewagter, atemberaubender Auftritt, Brandenburg verhaspelte sich. Im Flur, unten, neben dem Fahrstuhl, hing ein Anschlag, jetzt sahen sie es: Sonnabend Nachmittag findet in unserem Wohngebietsclub ein Solidaritätskuchenverkauf statt. Kaffee und Tasse bitte selbst mitbringen. Zur Unterhaltung spielen Schüler der Volksmusikschule. Lehnert. Diesen Vormittag probten die Schüler, hatte es den Anschein, das Programm. Werl, Stefanie und Brandenburg traten ein, verharrten im Hintergrund. Einige Bewohner des unweit gelegenen Altersheims, sporadisch auf den vorderen Stuhlreihen verteilt, drehten sich – Zeigefinger vor dem Mund – mißbilligend um. Vorn entlockte ein etwa sechsjähriges Mädchen seiner Violine merkwürdig quietschende Töne, kleine weiße Friedenstaube fliege übers Land, stockte, setzte von neuem an, fliege übers Land, stockte wieder. Kam nicht mehr zurecht, knickste, flüchtete, Tränen in den Augen, ins Nebenzimmer. Dort scharten sich lampenfiebernde, dreikäsehohe Flötistinnen, Geiger, Akkordeonspieler um eine Frau, die sich des enttäuschten, aufgelösten Hascherls annahm: „Nun wein doch nicht, Antje, jeder verpatzt mal was, das kriegst du doch noch hin bis Sonnabend, so schlecht wars doch gar nicht!“ Sie bückte sich, hielt das Kind an den Oberarmen, zog es an sich. Blickte dann auf, sagte: „Da kommen schon eure Eltern, und ihr seid noch gar nicht alle durch …“ 62
Werl sagte: „Frau Lehnert?“ Sie stutzte, erhob sich: „Ja –“ „Wir hätten Sie gern gesprochen. Kriminalpolizei.“ Sie machte sich von den Kindern los, sagte: „Wenn es die DFD-Gruppe betrifft, würde ich doch vorschlagen, daß Sie sich mit Frau Ronneburger unterhalten, sie ist die Vorsitzende, und wir sind doch hier mitten in der Generalprobe …“ „Es betrifft Sie.“ „Mich?“ „Sie haben längere Zeit bei einer Frau Lindthaler in Wilhelmshagen gewohnt; wir brauchen da einige Auskünfte.“ „Über Frau Lindthaler?“ Sie blickte verständnislos, rief dann: „Rosel! Rosel, komm doch mal, du mußt mal einspringen.“ Rosel Ronneburger, gewichtige DFD-Funktionärin, blickte die ungebetenen Gäste nicht eben so an, als wollte sie ihnen Solidaritätskuchen spendieren. Eine üppige Person, aber gut sitzendes Kostüm, sie rief: „Kriminalpolizei? Na so was hatten wir ja überhaupt noch nicht hier! Wolln Sie sich für einen Kochkurs anmelden?“ Sie rückte aber doch ihren Zimmerschlüssel raus, und Frau Lehnert bat die Besucher nach oben. Es war ein kleiner Raum mit einem Aktenregal, das aber hauptsächlich politische Broschüren in überwiegend roten Pappumschlägen füllten; auch einige Bücher: Louise Michel, Clara Zetkin, Das große Backbuch, Berta von Suttner, Rosa Luxemburg, Umstandskleider selbst geschneidert. Werl kam gleich zur Sache, er sagte: „Sie haben seit 1945 bei Frau Lindthaler gewohnt?“ „Ja. Aber warum fragen Sie? Worum geht es eigentlich? Was ist mit ihr?“ „Sie ist tot.“ Werl zuckte bedauernd die Schultern, un63
willkürlich, als müsse er sich wegen dieses Trauerfalls entschuldigen. „Tot …“ Nach einigen Sekunden der Sprachlosigkeit stieß Frau Lehnert heraus: „Aber was haben Sie … damit zu tun?“ Sie sprach die letzten Worte dieser Frage langsam, leise, wie etwas, dessen Überflüssigkeit sie sich plötzlich bewußt wurde. „Frau Lindthaler ist wahrscheinlich einem Verbrechen zum Opfer gefallen. Wir haben Grund, Mord in Erwägung zu ziehen.“ Frau Lehnert schwieg, mußte erst begreifen, blickte von einem zum anderen, schüttelte den Kopf, fragte dann plötzlich: „Und nun denken Sie doch nicht etwa ich …“ „Wir glauben, daß Sie uns helfen können.“ Sie erwog das nicht lange, wehrte sofort ab: „Ich glaube das nicht.“ „Wieso?“ „Ich kenne eine ganze Anzahl von Menschen“, sie sprach leise, rasch, erregt, „die in dieser oder jener Beziehung zu Meta gestanden hatte, es sind gewiß die unterschiedlichsten Charaktere darunter, und nicht alle sind mir sympathisch … aber einen Mörder – einen Mörder suchen Sie da gewiß vergeblich.“ „Überlassen Sie es getrost uns, das herauszufinden“, erklärte Brandenburg in der ihm eigenen laxen, ein wenig großspurigen Art; er warf einen raschen Seitenblick auf Stefanie. „Abgesehen davon“, argumentierte Frau Lehnert weiter, „ich wohne seit über einem Jahr nicht mehr dort … Gut, zugegeben, ich sah Frau Lindthaler noch gelegentlich zu unseren Romménachmittagen, alle zwei Wochen. Aber was sich in dem Haus in den letzten Monaten ereignete, welche Personen dort inzwischen eine Rolle spielten, darüber vermag ich nichts zu sagen.“ „Wir verlangen auch nichts Unmögliches von Ihnen“, schaltete Werl sich wieder ein. „Erzählen Sie uns das, 64
was Ihnen bekannt ist. Überlegen Sie genau. Auch, was Ihnen unwichtig erscheint, könnte im Zusammenhang mit anderen Sachverhalten eine Bedeutung erlangen. – Selbstverständlich behandeln wir Ihre Hinweise vertraulich. Sie bereiten damit niemandem Unannehmlichkeiten.“ Diese Zusicherung schien notwendig. Frau Lehnert fühlte sich für die Rolle eines Informanten ersichtlich ungeeignet. Stefanie hatte nicht den Eindruck, diese DFD-Freundin würde Ihnen viel weiterhelfen. Sie kannte diesen Typ Mensch. Leute, die lieber selbst einstecken, als einem anderen weh zu tun. Bloß niemanden zu nahe treten, bloß keinem ein Härchen krümmen, geschweige einen womöglich leichtfertig in Verdacht bringen. „Am besten“, schlug Werl vor, „Sie beginnen ganz von vorn. Wie lernten Sie die Verstorbene kennen; was war das überhaupt für eine Frau? Aus welcher Familie?“ Frau Lehnert schien trotz der Hilfestellung unschlüssig, womit anfangen, sie gab zu bedenken: „Da muß ich aber sehr weit zurückgreifen …“ „Das macht nichts“, rief Brandenburg. Werl sagte: „Nein, gar nichts. Ich bin das gewohnt. Der Genosse hält es mit seinen Ausführungen nie anders.“ Brandenburg bemühte seine Frontzähne, lächelte.
8 Frau Lehnert legte die Hände vor das Gesicht, strich sich über die Stirn. „Ich stamme aus Ostpreußen.“ Blickte nieder: „Mein Mann ist gefallen … dreiundvierzig … Wir hatten zwei Kinder, der Junge war zuletzt sieben, das Mädchen drei Jahre … Beide sind mir auf der Flucht, im Winter, an Diphtherie gestorben. – Ich kam dann nach Berlin …“ 65
„Nach Wilhelmshagen?“ Werl fragte, Brandenburg machte Notizen. „Nicht sofort. Im Juni, nach Kriegsende. Ich wurde bei Frau Lindthaler eingewiesen.“ „Wer lebte damals im Haus?“ „Das wechselte. Ausgebombte – es gab so viele Leute ohne Bleibe. Man hatte den freien Wohnraum erfaßt. Frau Lindthaler war sehr erbost über die ständigen Einquartierungen … Sie war seinerzeit ziemlich heimgesucht worden. Wissen Sie über ihre Vorgeschichte Bescheid?“ „Nein.“ „Sie entstammt einer sehr wohlhabenden … ich würde schon fast sagen, großbürgerlichen Familie … obwohl: vielleicht zählt das auch nur als Mittelstand. Aber aus meiner damaligen Warte, aus dem sozialen Abstand heraus … Ihr Vater war ungemein vermögend gewesen, Rentier, hatte die Villa vor der Jahrhundertwende für zwanzigtausend Goldmark bauen lassen …“ „Lebte denn Frau Lindthaler allein? War sie nicht verheiratet?“ Brandenburg ergänzte: „Existieren Geschwister, Kinder? Wer von den Angehörigen lebt noch?“ „Sie war verheiratet. Ihr Mann, ebenso ihr Bruder, waren in der Nazizeit … na wie soll ich das ausdrücken … aktiv. Sie zeigte mir einmal ein Bild ihres Mannes; in SSUniform. Er wurde … Er wurde von sowjetischen Soldaten abgeholt und kam nicht wieder. Der Bruder starb in englischer Gefangenschaft.“ „Können Sie noch Näheres über die Tätigkeiten des Ehemannes und des Bruders in der Zeit des Faschismus sagen? Parteizugehörigkeit, Dienststellungen, Dienstgrade, Orden und Ehrenzeichen …“ „Nein, das … das weiß ich nicht. Jedenfalls waren beide in nicht unbedeutenden Funktionen … Sie wollte an den Tod ihres Mannes nie glauben … Aber Sie schätzen wahrscheinlich mein Verhältnis zu Frau Lindthaler falsch 66
ein. Ich war nicht ihre Vertraute. Sie bezog mich in keine Geheimnisse ein … Meta war ein ganz anderer Mensch als ich … lebenstüchtig, selbstbewußt, von starkem Durchsetzungsvermögen … immer obenauf, sogar nach diesem Zusammenbruch. – Ich befand mich damals wirklich am Ende, dieser unfaßbare Verlust meiner Familie, unseres bißchen Habes, die völlige Entwurzelung … ich glaubte, keinen Tag länger leben zu können … Zu jener Zeit brauchte ich einen Halt, einen so starkwilligen Menschen, der mich einfach mit Beschlag belegt, der sagt, das tust du und das. Ich hätte mich sonst nicht wiederaufrichten können …“ Frau Lehnerts diffusen, grüblerischen Geständnisse, von Werl und Brandenburg, obgleich ihnen weniger an Selbstanalysen als an handfesten Fakten gelegen war, nur hin und wieder unterbrochen, in ergiebigeres Fahrwasser laviert, ließen vor Stefanie ein plastisches Bild der Ermordeten entstehen. Eine energische, damals noch sehr attraktive, im bürgerlichen Sinn emanzipierte Frau, die es verstanden hatte, auch unter den neuen Verhältnissen, nur auf sich gestellt, im überkommenen Stil weiterzuleben. „Wie uns bekannt ist, hat Frau Lindthaler einen Sohn. Das wäre demzufolge der einzige noch lebende Verwandte?“ „Moritz Lindthaler. Ja.“ „Alter?“ … „Na, ungefähr …“ „Ende vierzig.“ „Lebt dieser Sohn in der DDR?“ „Er ging Anfang der fünfziger Jahre nach Westdeutschland. Wohnt jetzt in Koblenz.“ „Er stand aber mit seiner Mutter in Verbindung?“ „Wenn er in Westberlin zu tun hatte, kam er meist kurz zu Besuch.“ 67
„Wie oft kam das vor? Im Jahr?“ „Das war ganz unregelmäßig. Aber in der letzten Zeit, die ich dort wohnte, häufiger als vordem. Ich kann da keine Zahl nennen …“ Brandenburg warf ein: „Wissen Sie, was dieser Sohn beruflich … ausübt?“ „Ich glaube nicht, daß er überhaupt einen Beruf hat. In der Familie galt es als gute Tradition, nur den eigenen Neigungen nachzugehn … Er machte aber keinen schlechten Eindruck. So wohlhabend wie seine Vorfahren schien er allerdings bei weitem nicht.“ Werl sondierte: „Sie bezweifeln, daß er einer bestimmten Tätigkeit nachgeht; andererseits hätte er häufig in Westberlin zu tun. Was hat er dort zu tun?“ „Das weiß ich nicht.“ „Und Frau Lindthaler“, vermeldete sich wieder Brandenburg, „wovon lebte die seit fünfundvierzig? Rente bekam sie doch erst die letzten Jahre.“ „Wovon sie lebte?“ Frau Lehnert beugte sich perplex vor: „Ja haben Sie sich denn nicht in ihren Zimmern umgesehn? – So sah es früher im ganzen Haus aus! Diese Frau war ja unermeßlich reich. Das kann sich unsereiner nicht vorstellen. Die Möbel, uralt, völlig aus der Mode, aber es gab immer Leute, die dafür astronomische Preise zahlten, auch schon lange vor der Nostalgie. – Ich kann mich beispielsweise an einen unscheinbaren, geschwungenen Schreibsekretär erinnern, mit PerlmuttEinlegearbeiten: Hottenbach zahlte ihr dafür zwölftausend. Zwölftausend Mark! Und sie war nicht mal zufrieden, schimpfte wie immer, er habe sie übervorteilt.“ „Wer ist Hottenbach?“ „Er handelt mit gebrauchten Antiquariaten …“ „Mit Antiquitäten“, verbesserte Brandenburg, warf wie von ungefähr ein Auge zu Stefanie herüber. „Na jedenfalls mit Gebrauchtmöbeln und altem Kram. Aber nur inoffiziell, also nebenberuflich. Mit Einzelheiten 68
kann ich nicht aufwarten. Wenn Herr Hottenbach kam, ging es zumeist um irgendwelche Verkäufe. Und zu rein geschäftlichen und finanziellen Dingen wurde ich nicht hinzugezogen, das ist doch verständlich.“ „Was für eine Stellung bekleideten Sie eigentlich? Unseren Informationen zufolge waren Sie Hausangestellte – wurden Sie von der Lindthaler bezahlt?“ Sie sei fünfundzwanzig gewesen, als sie bei Frau Lindthaler einzog, und, und. Die Antwort fiel recht umständlich aus; Stefanie mußte einige Male an sich halten, um nicht bei unbeholfenen Beschreibungen zu Hilfe zu kommen. Sie konnte sich recht gut vorstellen, was die Lindthaler dazu bewogen hatte, die unglückliche junge Frau nicht nur in der ehemaligen Mädchenkammer unterzubringen, sondern auch peu à peu mit den Obliegenheiten eines Hausmädchens zu betrauen. Diese Frau Lehnert, das ließ sich aus ihren Auslassungen schließen, war hilfsbereit bis zur Selbstverleugnung. Mit einem Anflug von Scham gestand die Befragte: „Herr Moritz, also der Sohn, sagte einmal: Erika, Sie gehören hier zur Familie. So verschieden Mutter und Sie sind – man könnte euch für Schwestern halten: Sie sind eine rechte Martha. Er spielte damit auf irgendeine Bibelstelle an; aber Herr Hottenbach lachte darüber und machte seine Witze.“ „Wie denn, Hottenbach und Moritz Lindthaler kennen sich?“ rief Werl aus. „Das war ein Zufall. Herr Hottenbach hatte sich angesagt, und Herr Moritz kam unvermutet diesen Tag.“ „Wissen Sie Hottenbachs Adresse?“ „Nein. Jedenfalls nicht genau. Darüber sprach Meta nie. Aber er wohnt in Neuenhagen. Mit einer recht leichtlebigen Frau, die er aushält, insofern ist er auf seine Nebeneinkünfte angewiesen. Das bedeutet aber nicht, daß ich ihn etwa für einen Mörder halte! Im Prinzip weiß ich nicht mehr, als Ihnen auch die Nachbarn sagen könnten. 69
Herr Hottenbach stand ja nicht nur mit Frau Lindthaler in Beziehung. Auch mit Kipfels.“ „Da Sie den Namen erwähnen: Welches Verhältnis bestand zwischen Kipfel und der Verstorbenen?“ Zum ersten Mal während der Befragung konnte sich Frau Lehnert eines Lächelns nicht enthalten, sagte: „Gar keins. Er schießt viel und trifft selten. – Es gab einmal eine grundsätzliche Auseinandersetzung, aber das ist längst beigelegt.“ „Worum ging es da?“ wollte Brandenburg wissen. „Um die Grundstücksgrenze. Sie ist nur durch Anpflanzungen markiert. Läßt man sich davon leiten, steht der vormalige Pferdestall auf Kipfels Anwesen. Er wollte daraufhin Pachtgebühren. Ich glaube, Frau Lindthaler wäre bis vor Gericht gegangen. Herr Kipfel gab aber dann klein bei.“ Meta Lindthalers Vater, berichtete sie weiter, habe in dem roten Klinkerbunker tatsächlich ein Reitpferd gehalten; inzwischen, seit Jahrzehnten, diene er nur als Geräteschuppen. Werl warf Brandenburg einen bedeutungsvollen Blick zu. Er hat diese Minifestung gesehen, aber nicht von innen; konnte ja nicht ahnen, daß die Besitzverhältnisse anders lagen, als der Anschein vermuten ließ. Diese Exklave bot sich regelrecht an, Dinge zu verbergen, die man einer Inaugenscheinnahme durch die Ermittlungsorgane besser nicht aussetzt. „Warum hat Frau Lindthaler eigentlich das Haus und das Grundstück veräußert?“ Frau Lehnert ging mal kurz zum Schrank, holte ihre Zigaretten aus der Manteltasche. „Das Gebäude war stark reparaturbedürftig. Es regnete durch. Im Keller war an zwei Stellen Schwamm. Wozu sollte sie aber in ihrem Alter noch Geld investieren?“ „Und sie verkaufte an den erstbesten?“ „Da kennen Sie die Sippe Lindthaler nicht! Der Schätzwert lag wohl so in etwa bei fünfunddreißigtausend, alles in allem; aber sie offerierte meistbietend.“ 70
„Und Herr Wendelin“, Brandenburg fixierte argwöhnisch den kräuselnden Karorauch. „Wendelin bot also am höchsten?“ „Das will ich nicht behaupten. Er verfügte vor allem über eine geeignete Tauschwohnung.“ „Wieso Tauschwohnung?“ Brandenburg begriff nicht. „Die Lindthaler und Sie blieben doch im Haus …“ „Die untere Etage war durch die Wohnraumlenkung erfaßt; es lebte dort schon ewig und drei Tage ein Ehepaar. Beide wollten sich unbedingt verändern. Herr Rudolph war in der AWG. Sie hätten aber noch zwei Jahre warten müssen. Da kam Wendelin und bot seine Vollkomfort zum Tausch.“ Bei aller positiven Einschätzung des Wohnungsbauprogramms; restlos kapierte Brandenburg nicht, weshalb jemand aus einem quasi Zweifamilienhaus in Wilhelmshagen aus und in ein zehn- oder zwanziggeschossiges Neubaugebiet einziehen wollte, ihm kitzelte auch schon eine dahingehende Frage auf der Zunge, aber eine eingefahrene Parteilichkeit machte das Formulieren schwierig; zum anderen kam er nicht von dem schwarz und weiß karierten Karopäckchen los, vergaß darüber sogar zu notieren. Werl war auch schon bei seinem Hauptanliegen, nahm die Zügel straff in die Hand, erkundigte sich, alles Nebensächliche vom Tapet wischend: „Hatte Wendelin nach dem Erwerb des Hauses Differenzen mit der ehemaligen Besitzerin? Gab es Auseinandersetzungen? Waren Sie bei solchen Auftritten zugegen?“ Frau Lehnert schien diese Befragung jetzt mehr als unbehaglich. Sie hustete Rauch aus. „Differenzen oder nicht, deshalb ist er doch kein Mörder! – Ich hab mich im Haus nützlich gemacht, aber ich war außerdem Jahre hindurch tageweise berufstätig; ich hatte überhaupt keine Zeit, mich um dergleichen Dinge zu kümmern. Ich habe mich da von mir aus, wo es nur irgend ging, immer 71
rausgehalten, sowohl als Rudolphs noch dort wohnten wie auch nach dem Verkauf!“ Bemüht, Ruhe, Vertrauen auszustrahlen, beschwor Werl: „Frau Lehnert, vergessen Sie nicht, weshalb wir Sie hier bemühen. Ein Tötungsverbrechen, Frau Lehnert, Mord! Es ist in unser aller Interesse, im Interesse jedes einzelnen, wenn man dem Täter das Handwerk legt. Sie müssen uns dabei helfen. Glauben Sie wirklich, ein Bürger würde von uns festgenommen, in Untersuchungshaft gesteckt, oder bekäme auch nur anderweitige Schwierigkeiten, wegen irgendwelcher zweitrangiger Reibereien?“ Während sich Frau Lehnert noch wand – Stefanie hätte darauf schwören mögen, daß diese Frau in alle Stänkereien, die wahrscheinlich tagtäglich zwischen den Wendelins und der Lindthaler gebrodelt hatten, hineingezogen worden war und nun nur aus der einzigen Befürchtung heraus so viele Umstände machte, eventuell nicht ganz objektiv, womöglich ein winziges Quentchen voreingenommen zu sein –, platzte DFD-Gruppenvorsitzende Rosel Ronneburger ins Kabinett. „Herr im Himmel, Sie sind ja immer noch hier! Worum dreht sichs denn eigentlich? Wir haben heute abend das aktuell-politische Forum, da muß noch das Rednerpult hoch, umgestuhlt werden …“ „Frau Lindthaler ist ermordet worden“, sagte Frau Lehnert. Rosel Ronneburgers volle, nur minimal geschminkte Lippen umschrieben ein gähnendes Loch der Verblüffung. „Die Lindthaler? Ermordet? – Entschuldigen Sie, daß ich nicht gleich in Tränen ausbreche; aber was hat Erika damit zu schaffen? Die stand doch immer nur zwischen den Fronten! Die bekam doch von beiden Seiten Pfeffer – da halten Sie sich aber an die Verkehrte. Gucken Sie mal diesem Genossen Wendelin auf die Finger! Aber wundern Sie sich nicht über die dreckigen Nägel.“ „Was wollen Sie damit sagen?“ Brandenburg kam von seinem Stuhl hoch. 72
„Was ich damit sagen will, junger Mann? Daß diese Zierde der Partei dem nächsten Umtausch der Mitgliedsbücher hoffentlich nicht so gänzlich unbefangen entgegensieht! Und eines versichere ich Ihnen, und das würde ich vor Gericht beeiden: Nach all dem Stunk, nach all den Scharmützeln, die sich dort ereignet haben, staune ich über nichts. Diese Frau war so etwas von konservativ und anmaßend und herrschsüchtig – nein, Erika, das muß jetzt gesagt werden, du mußt dich deiner Haut auch wehren! Und dieser Wendelin ist ein so charakterloser Emporkömmling – es mußte ja zu Mord und Totschlag kommen. Und ich habe beide Seiten erlebt, als ich Erika da rausholte, ich weiß, wovon ich rede!“ Werl, der den Ausbruch der streitbaren, resoluten Rosel schweigend über sich ergehen lassen hatte, bemerkte zu Brandenburg: „Ich glaube, Genosse, wir hätten getrost auf Frau Lehnerts Angebot eingehen und von Anfang an Frau Ronneburger befragen können. Zwar betrifft unser Anliegen nicht die DFD-Gruppe“, er wandte sich Frau Ronneburger zu, „doch mir will scheinen, Sie sind über bestimmte Verhältnisse besser informiert als wir …“ Frau Ronneburger muß das jetzt mal klarstellen, sie hat an sich zu Frau Lindthaler und der Familie Wendelin keinerlei Beziehungen; aber vor anderthalb Jahren war es mit ihrer Galle wieder ganz schlimm. Frauen neigen zu Steinen, stark gebaute insbesondere, obgleich Cholelithiasis kein weibliches Vorrecht ist, sie mußte unters Messer, und im Krankenhaus, in einem Vierbettzimmer hatte sie die Bekanntschaft Erika Lehnerts gemacht. Stefanie wurde aus den Augenwinkeln Brandenburgs versonnenen Blick gewahr; der Leutnant benutzte wohl den kurzzeitigen Leerlauf dazu, recht verschlungenen Betrachtungen über Lyrik und die sie hervorbringende Personen nachzuhängen. Werl und Frau Ronneburger verständigten sich über Einzelheiten ihrer in der gleichen Einrichtung erduldeten Gallenoperation, und nur der 73
Anwesenheit weiterer Personen durfte man zuschreiben, daß der interessante Gedankenaustausch nicht den üblichen Abschluß – das wechselseitige Besichtigen der Narben – fand. Frau Ronneburger hatte Erika Lehnert damals zwei Wochen lang agitiert, von Aufnahme bis Fädenziehen, und schließlich für die Frauenorganisation geworben. Eine rührige, hilfsbereite Frau, deren uneigennütziges Engagement nicht länger im privaten Haushalt einer Lindthaler verpuffen sollte. Sie hatte die Lehnert der Lindthaler ausgespannt, sie hatte die Vergabe einer Einzimmer-Neubauwohnung an ihre Erika durchgesetzt, aber bevor es dazu kam, eine Stippvisite in Wilhelmshagen gemacht. „Ich dachte, eine Keilerei bricht los! Die Dame Lindthaler, kreischend, blaulippig über das Geländer der oberen Etage gebeugt, der Genosse Wendelin, eine Eisenstange schwingend, im Begriff, die Treppe hinaufzustürmen – der ganze Streit war, wie mir Erika, dann erklärte, entbrannt, weil Wendelin das Gitter vor der Veranda entfernen wollte, sein gutes Recht als neuer Eigentümer; aber Sie hätten die Ausdrücke hören sollen: Vandale von ihrer Seite und altes Saustück von der seinen, entsprechend dem unterschiedlichen Bildungsniveau, waren die harmlosesten Titulierungen.“ „Hatten Sie den Eindruck, daß Wendelin tätlich werden wollte?“ „Mein plötzliches Auftauchen verhinderte das; ich halte diesen Mann jeder Brutalität für fähig.“ „Aber doch nicht eines Mordes“, sagte Frau Lehnert leise, „Rosel, doch nicht eines Mordes.“ Stefanie fand in diesen Erörterungen wieder einmal Belege in Fülle für ihren schon länger gehegten Verdacht, auch die sozialistische Gesellschaft verrate noch in vielen, oft nicht auf Anhieb zu entschlüsselnden Erscheinungen zählebige Überreste männlicher Dominanz. Nicht nur die Kriminalisten, auch die beiden DFD-Freundinnen ver74
muteten von vornherein einen Mörder, keine Mörderin. Kipfel war verdächtig, für seine Frau interessierte sich niemand. Jetzt wurde Max Wendelin beargwöhnt, seine Gattin blieb außerhalb der Betrachtung. Trauten die Leute einer Frau nicht einmal ein fachgerecht ausgeführtes, ohne männliche Hilfe ausgeführtes Verbrechen zu? Als hätte Brandenburg ihre Gedanken erraten, fragte er unversehens, auf seine Notizen tippend: „Frau Lehnert, Sie erwähnten vorhin alle zwei Wochen stattfindende Romménachmittage. Spielten Sie allein mit Frau Lindthaler?“ „Wir waren zu dritt.“ „Also mit Frau Wendelin?“ „Nein, Frau Gerhardi, eine ehemalige Schulfreundin Metas, gehörte zu dem Kaffeekränzchen. Ursprünglich noch eine weitere Dame, die schon vor Jahren verstorben ist. In Ermangelung anderweitiger Möglichkeiten bat mich Frau Lindthaler damals, einzuspringen. Aber ich bitte Sie, das hat doch alles … alles mit dieser furchtbaren Geschichte nichts zu tun; Frau Gerhardi ist noch älter als ich, neunundsechzig …“ Diesmal verzichtete Brandenburg auf sein: Überlassen Sie es uns, das herauszufinden; sein Gesicht nahm nur einen vielsagenden Ausdruck an, er versicherte sich ganz flüchtig Stefanies Aufmerksamkeit. Draußen, im Wagen sinnierte Werl: „Als wir herkamen, schien mir das meiste schon klar. Mein Verdacht galt fast ausschließlich Max Wendelin.“ Er gurtete sich an, startete den Motor. „Ich hoffte, durch die Auskünfte der Lehnert … Ja, ich hoffte, die Lösung zu finden. Jetzt ist zwar unser Wissen umfassender als vorher; aber die Fragezeichen haben sich vervielfacht. Alles wird undurchsichtig, vage, man wähnt sich der Wahrheit entfernter als je … Ich sehe momentan kein Land mehr.“ Legte den Gang ein, fuhr ab. Stefanie schwieg; dann sagte sie: „Solche Vorgänge ha75
ben etwas Exemplarisches. Die wissenschaftliche Entwicklung der letzten Jahrzehnte …“ Sie verstummte. Es war vielleicht nicht der richtige Ort und es waren vielleicht nicht die richtigen Gesprächspartner. Aber Brandenburg hatte schon angebissen, heuchelte Interesse oder war wirklich interessiert: „Was meinen Sie?“ „Im neunzehnten Jahrhundert glaubte man ganz zuversichtlich, binnen kurzem die Natur, die materielle Welt vollständig erklären zu können. Heute bereitet es Mühe, sie auch nur zu beschreiben. Das ist eine atemberaubende Genesis: Der Mensch wird von seinen letzten Thronen gestoßen, verschwindet fast in Bedeutungslosigkeit – die abgetane Natur, der geringgeschätzte tote, materielle Stoff entfaltet ungeahnte Dimensionen. In der Welt des ganz Kleinen, in der Welt des ganz Großen. Ich halte das für eine tiefgreifende Sache, aus der wohl noch eine letzte Konsequenz folgen mag. Eine Neuordnung unserer Vorstellungsweisen, die den großen geistesgeschichtlichen Umbrüchen der Vergangenheit in nichts nachsteht …“ Werl schaltete hoch; Brandenburg strahlte.
9 „Mein Mann ist noch nicht da“, sagte Ilona Wendelin; sie versperrte den Eingang, wohl hoffend, weitere Behelligung verwehrt zu haben. Irrtum. Werl ging auf sie zu, wie man auf eine automatisch öffnende Tür zugeht, Bauch, Brust voran, sicher, daß jedwedes Hindernis im letzten Moment zur Seite weicht. Er beruhigte: „Das macht überhaupt nichts, Frau Wendelin. Um so ungestörter können wir uns mit Ihnen unterhalten.“ Sie gab notgedrungen den Weg frei, schloß hinter Stefanie; reichte Kleiderbügel. 76
Spritzte dann noch vor ihnen ins Wohnzimmer, scheuchte ihren Sohn aus dem Sessel, wie oft sie ihm schon gesagt hat, er soll beim Fernsehen keine Schularbeiten machen! Beziehungsweise umgekehrt. Er kann sich dabei nicht konzentrieren. Sie lächelte Werl entschuldigend an, als wäre er der Klassenlehrer (wo nicht gar Direktor) auf Hausbesuch; bugsierte Andreas zum Durchgang zur Küche, unbewußt deckte sie ihn mit ihrem Körper vor Werls Blicken. „Ich habe Ihnen doch schon alles gesagt“, sie setzte sich auf die Kante eines herübergezogenen Stuhles, demonstrativ unbequem; der Sessel vor Stefanie und Werl blieb frei. „Gewiß. Nur waren Sie gestern nicht eben in einer Verfassung, die zu ausgedehnten Plaudereien ermutigte. – Wie ich sehe, haben Sie den Schock überwunden; doch, Sie schauen gut aus. Abgesehen von Ihrem Daumen.“ Ilona ließ die bepflasterte Kuppe hinter den verschränkten Fingern verschwinden, brachte sie aber sofort wieder zum Vorschein, reagierte: „Mein Ungeschick. Ich verletzte mich mit der Brotschneidemaschine.“ „Haben Sie die Wunde desinfiziert?“ Die konversierende Frage anzubringen, konnte sich Stefanie nicht enthalten. Stiller Beobachter schön und gut, hin und wieder möchte sie doch den Mund aufmachen. Die Leute müssen sie ja für stieselig halten, wenn sie nur immer schweigend dabeisitzt. Auf die Weise entstehen dann Polizisten-Witze. Angetan von dem weiblichen Mitgefühl versicherte Ilona: „Ich bin gelernte Krankenschwester.“ „Frau Wendelin“, nahm Werl den Faden wieder an sich, „erzählen Sie noch einmal genau die Vorgänge des gestrigen Abends. – Wann kamen Sie aus dem Ambulatorium nach Hause?“ „Die Sprechstunde geht bis sechzehn Uhr, aber Frau 77
Doktor wurde dringend abberufen. Deshalb war ich bereits halb vier daheim.“ „Sie hatten ein Rezept, eine Arzneimittelverschreibung für Frau Lindthaler bei sich?“ „Ja. Die Wartezeiten in den ärztlichen Sprechstunden sind jedem Normalbürger geläufig. Ich erwies Frau Lindthaler hin und wieder diese kleine Gefälligkeit. Mir macht das keine besonderen Umstände.“ „Was benötigte sie denn für Medikamente?“ „Ach, das war unterschiedlich. In letzter Zeit Uvalysat, dreimal täglich dreißig Tropfen, und Nifurantin.“ „Das ist sicher nichts zur Beruhigung?“ „Nein“, um Ilona Wendelins Lippen zuckte eine leichte Geringschätzung, sie sagte: „Zystitis, Zystopyelitis, Urethritis und so weiter, Frau Lindthaler war zuletzt wegen eines Blasenleidens bei Frau Doktor.“ „Wegen eines Blasenleidens …“ Werl kratzte sich ungeniert den Schädel, „das ist interessant …“ Am liebsten würde er gleich von hier aus in der Gerichtsmedizin anrufen, Lüdhannes müßte dazu etwas sagen können, vielleicht ließe sich der Urin noch eindeutiger der Toten zuordnen. „Sie haben mir gestern erklärt, die Leiche etwa 20 Uhr 30 entdeckt zu haben. Ihr Anruf beim Polizeirevier, wir konnten das inzwischen überprüfen, erfolgte unmittelbar darauf. Warum brachten Sie das Rezept eigentlich so spät hoch? Immerhin haben Sie fünf Stunden verstreichen lassen. Was hatten Sie so Wichtiges zu tun?“ Frau Wendelin war jetzt doch leicht pikiert. Was heißt hier fünf Stunden verstreichen lassen, die Lindthaler hatte noch Medikamente. Es lag auch kein akuter Zustand vor. „Ich habe gelegentlich noch andere Aufgaben und Verpflichtungen, als nur allen möglichen Leuten Rezepte zu überbringen!“ „Sie beantworten meine Frage nicht. Was taten Sie in der Zeit bis 20 Uhr 30?“ 78
„Mein Gott“, Frau Wendelin rang die Hände, soll sie jetzt über jeden Hopser Rechenschaft ablegen? Sie hat den Abwasch gemacht. Abgetrocknet. Ausgefegt. Diese obligatorischen Freizeitvergnügungen, die Männer immer so leicht aus den Augen verlieren. Die man alle einzeln nennen muß, um die Dauer zu rechtfertigen: Aufgeräumt, Betten abgezogen, Blumen gegossen, Tisch gedeckt, zuletzt, als ihr Mann schon kam, Brot und Daumen geschnitten. Zwischendurch auch mal Fernsehen, hin und hergeschaltet, dies und das, alles nur mal flüchtig, mit halbem Auge. Stefanie befürchtete, daß es zu einer Verarmung der Kriminalliteratur kommen müsse (sie war doch ohnehin nicht reich), vorausgesetzt, dieselbe bemühe sich um Realitätstreue, indem es nur noch ein Alibi gibt, das allen Verdächtigen gleichermaßen gemein ist, Fernsehen gesehen zu haben. Das Opfer würde vor dem Fernseher erschlagen, und der Täter benützte die Halbzeitübertragungspause im Europa-Cup zur Ausführung der Bluttat. Sterben ja bereits die Menschen in den Krankenhäusern vor der Flimmerscheibe. In sicherer Gewißheit, daß es für sie kein Ende gibt, denn die vertraute Ansagerin lächelt durchaus nicht hoffnungslos, und der bekannte Schlagersänger gebärdet sich keineswegs, als hätte er plötzlich einen Todkranken vor sich. „Wann kamen Ihr Mann und Ihr Sohn?“ wollte Werl wissen. „Das hab ich doch bereits gestern zu Protokoll gegeben. Ich kann es nicht auf die Minute genau sagen, aber es muß gegen 19 Uhr 30 gewesen sein … Wahrscheinlich war es noch früher, ja, bestimmt, es war ganz sicher früher … Neunzehn Uhr. In etwa. Andreas kam gleich darauf.“ „Gestern behaupteten Sie, Ihr Sohn wäre eingetroffen, als Ihr Mann vor dem Fernseher saß und die Aktuelle Kamera eben vorüber war!“ 79
Das hatte sie nun davon. Im Bestreben, Max vom Westfernsehen zu entlasten (in seiner Position, als Genosse!) war das tausendmal Wichtigere, die Uhrzeit, für einen Moment ihrer Aufmerksamkeit entglitten. „Es stimmt“, gab sie zu. „Dann war es also doch schon gegen zwanzig Uhr.“ „Folglich erschien Ihr Sohn auch nicht unmittelbar nach Ihrem Mann, denn eben schworen Sie Stein und Bein, Ihr Mann sei wahrscheinlich 19 Uhr eingetroffen“, machte der Hauptmann auf die Widersprüche der Aussagen aufmerksam. „Ich hab keinen Zeitschreiber im Kopf“, stöhnte Frau Wendelin. „Meinetwegen lag eben eine halbe Stunde dazwischen, vermutlich hatte die Kamera auch erst angefangen, mir ist das völlig egal!“ „Es sollte Ihnen besser nicht egal sein.“ Frau Wendelin echauffierte sich, fuchtelte mit den Armen. „Mir ist es gleichgültig, wenn Sie uns verdächtigen! Ich kann unsere Unschuld nicht beweisen. Aber es wird Ihnen nicht gelingen, uns die Schuld in die Schuhe zu schieben! – Im übrigen halte ich mich an das Sprichwort: Ein reines Gewissen ist ein sanftes Ruhekissen.“ Sie legte die Hände im Schoß zusammen, ihre Finger zitterten. Werl brach dieses unergiebige Thema ab. Fest stand: Die beiden männlichen Wendelins waren zur gerichtsmedizinisch festgelegten Todeszeit unterwegs gewesen und würden ein Alibi nachweisen müssen. Frau Wendelins Hickhack um die Uhrzeiten hatte immerhin etwas Merkwürdiges an sich. Er fragte: „Wie fanden Sie nun die Leiche?“ „Mir fiel also das Rezept wieder ein, und … und ich ging hoch … und klopfte zunächst an ihrem Wohnzimmer. Sie reagierte aber nicht; ich hörte auch keinen Fernseher. Das kam mir gleich eigenartig vor … Ich sah dann Licht unter der Badtür, klopfte und rief … Also ich rief: 80
Frau Lindthaler, ich lege Ihr Rezept neben die Blumenschale, und Frau Doktor läßt ausrichten, Sie möchten doch wieder mal selbst vorbeikommen, falls es sich nicht bessert … Sinngemäß. – Aber sie antwortete nicht. Ich klopfte erneut, mehrere Male, forderte sie auf, sich doch zu melden, und ob etwas wäre … Dann drückte ich die Klinke runter …“ „Und weiter?“ „Was weiter? Ich sah sie im Wasser und … und schrie … und schrie, bis mein Mann kam … preßte die Augen zusammen und schrie … Andreas brachte mich dann nach unten.“ „Gut.“ Werl, der sich vorgebeugt hatte, schien sehr befriedigt, ließ sich wieder gegen die Sessellehne fallen, fragte: „Wie sind Sie eigentlich mit Frau Lindthaler bekannt geworden?“ „Ich?“ „Sie und Ihre Familie.“ Ilona Wendelin wechselte in den Sessel, das mit der Stuhlkante hatte ja doch keinen Zweck. Entnahm dem kunstgewerblich gebrannten Kästchen eine Zigarette, leider die letzte (Werl streckte abwehrend die Hand vor), sie sagte: „Das ist jetzt zwei Jahre her. Aber es gibt darüber nicht viel zu berichten …“ Max, noch im Mantel, Aktenkoffer, Autoschlüssel, vom schummrig flackernden Kerzenlicht irritiert, machte einen langen Hals ins Zimmer; im tief ausgeschnittenen Abendkleid, ein Sektglas in der Hand, trällernd, wiegender Hüften tänzelte ihm Ilona entgegen. Hängte sich an seinen Hals, umfaßte seinen Nacken. Er befreite sich aus dieser Umklammerung, stellte das Kassettentonband leiser: „Was ist los mit dir? Bist du verrückt?“ Normalerweise tanzt der Mensch nicht. Normalerweise trällert der Mensch nicht. Normalerweise umhalst der Mensch nicht. Ohne besonderen Anlaß; ein jegliches hat 81
seinen Ort und seine Stunde. Er sagte: „Was ist denn passiert!“ Ach, lach doch mal, Max, hier, trink einen Schluck, wir haben das große Los gezogen; sie drehte sich unter seinen mißbilligenden Blicken, gluckste, prustete, verschwappte Sekt. Er entwand ihr das Glas, verärgert, packte derb ihr Handgelenk: So rede doch! Sie hat einen Anruf bekommen. Von einer Frau aus Wilhelmshagen. Auf die in Köpenick ausgehängte Anzeige hin. Eine Villa, Taxwert 36 000, großer, parkartiger Garten, herrliche Lage. Nur ein Haken ist dabei: die Besitzerin will wohnen bleiben … „Wie alt?“ „Um die Jahrhundertwende; aber gut erhalten. Lediglich am Dach ist nicht mehr alles in Ordnung.“ „Unsinn – ich meine die Frau.“ „Das gleiche, alles ziemlich eine Generation.“ Sie knöpfte ihm den Mantel auf, biß ihn ins Ohrläppchen. „Ende Sechzig.“ Max wischte sich die Spucke vom Ohr. „Wieviel Zimmer?“ „Drei will sie uns abtreten; drei behält sie selbst. Außerdem eine Dachkammer für ihre Hausangestellte.“ Er lachte ärgerlich auf. „Gerecht geteilt! Und die kann noch neunzig werden!“ Ilona sagte eilig: „Ich glaube, sie kränkelt. Es war ihr sehr darum zu tun, daß ich Krankenschwester bin …“ „Vielleicht ist es was Ernsthaftes“, begann Max das Angebot wieder optimistisch zu sehen. So lange lebte ja heutzutage keiner mehr. Er erwog: „Sie könnte doch auch in ein Altersheim?“ „Darauf läßt die sich nie ein. Ihr liegt doch gerade daran, in ihrem eigenen Haus …“ „Wenn es nicht mehr ihr eigenes ist“, unterbrach Max lakonisch, „gestalten sich die Verhältnisse anders.“ Er 82
warf den Mantel über die Couch, suchte im Schubfach nach dem Stadtplan. Die Leute sind alle übergeschnappt. Unrealistische Vorstellungen. Wozu braucht sie drei Zimmer? Den Zahn muß man ihr ziehen. Wir könnten vermieten, Berlinurlauber, zehn Mark pro Bett und Nacht, das ist kein Wucher. In kürzester Zeit hätte sich der Kaufpreis amortisiert. Er stellte zur Wahl: „Entweder sie fügt sich, oder …“ Ilona, plötzlich bar aller heiteren Beschwingtheit, mahnte: „Wir sollen Sonnabend hin; halte dich dort gefälligst zurück. Am besten, du überläßt das Reden mir.“ Er hatte manchmal so eine schockierende Art. Diese ökonomistische Pedanterie, sein Wesen war dann nicht eben gewinnend. „Sie hat noch andere Bewerber; wir dürfen sie nicht verprellen.“ Max, über dem Stadtplan, baute Luftschlösser. „Finanziell wäre ein Abstottern auf Rentenbasis am optimalsten. Wenn sie dann noch früh genug das Zeitliche segnet – ich werde unseren Justitiar befragen …“ „Ich bitte dich!“ Ihr war das nun doch zuviel. „Es kann einem ja angst werden, dir zuzuhören!“ „Wieso?“ Jetzt hatte ers: Kastanienallee. Verständnislos: „Ich will doch nicht nachhelfen.“ Andreas hatte die Blumen besorgt, war unterwegs zugestiegen. Sein Vater – schwarzer, maßgeschneiderter Frackstoffanzug, Exquisitbinder – hatte vormittags den Wartburg shampoongepflegt, trockengeledert, Elsterglanz auf die Chromteile; die Mutter trug kunstvoll frisiertes Haar über dem neuen Herbstmodellkleid. Andreas staunte: „Ihr seht ja aus wie die Pfingstochsen!“ Max verwies: „Halt du dich mit deinen Ausdrücken zurück! Daß wir uns nicht blamieren. Am besten, du überläßt uns das Reden.“ Kastanienallee, Villa neben Villa; welche ist unsre? „Hier“, sagte Max. Alle beugten sich zu den linken Seiten83
fenstern. Groß genug war es. Auf solchen Grundstücken errichtete man heute ganze Bungalowsiedlungen. Das Haus ragte hinter den Bäumen vor. Vergiebelt, betürmt, ein Schloß. Max sagte: „Neuer Putz muß dran, neues Dach, da gehen einige Zehntausend für Rekonstruktion drauf!“ Ilona seufzte: „Aber es lohnt sich, Max, es lohnt sich.“ Dieses Haus schien wie aus ihren Jungmädchenträumen erwachsen. Drei Namen an der Gartenpforte: Lindthaler, Lehnert (dreimal klingeln), Rudolph. Und Frau Lindthaler – in Hosen – eilte auf das erste Läuten die Vortreppe hinunter (gar nicht schwerhörig, gar nicht gehbehindert), schritt auf behenden Füßen zum Tor, agil, attraktiv (gar nicht wie Ende Sechzig). „Frau Lindthaler …? Ich glaubte, Sie sind die Tochter. Sie haben sich aber gut gehalten“, zollte Wendelin kaum mürrisch gefärbte Anerkennung; er kann auch sehr diplomatisch sein. Goldgefaßte Brilliantsplitter winkten ab, verbreiteten neue Hoffnung: „Das ist alles nur äußerlich. Im Kern läßt sich das Alter nicht verleugnen.“ Sie lächelte wehmütig. „Haben Sie ein bestimmtes Leiden?“ Ilona trat ihm auf die Schuhspitzen; aber Frau Lindthaler hatte die freundliche Erkundigung überhört, ging ihnen voraus; bitte folgen Sie mir. Im Vestibül entfernte Andreas das Papier, überreichte den Strauß, Schnittblumen sind ja zu dieser Jahreszeit schon überaus rar. Ilona blieb fast das Herz stehen. Auch die Hausbesitzerin starrte entgeistert auf die weißen Callas, drehte den langstieligen Grabschmuck in der Hand. Nur Max bemerkte nichts, tadelte mit sanftem Vorwurf: „Sechs Blüten? Man kauft stets eine ungerade Zahl, mein Herr Sohn!“ Er runzelte nachsichtig die Stirn; Frau Lindthaler trug das Totensonntagspräsent zur oberen Etage hinauf. 84
Das Wohnzimmer, eine Ansammlung erlesener, kunstvoller Stilmöbel, hätte selbst einen Kustos des Märkischen Museums in Erstaunen versetzt. Maxens Augen bekamen einen gefährlichen Glanz; er überrechnete die Liebhaberpreise, verhedderte sich in fünfstelligen Zahlenkolonnen. „Darf ich Ihnen etwas anbieten?“ erbot sich die Gastgeberin. Sein Gieper sprang von dem silberbeschlagenen Schreibsekretär mit Uhraufsatz zu der säulengeschmückten Kredenz, jagte zum Bronzedekor der Standuhr, preschte quer durch den Raum, prallte gegen den Flügel; er wußte nicht, was Bechstein bedeutet, aber er ahnte den Wert. „Vielleicht eine Tasse Kaffee, ein Stückchen Kuchen …?“ Sie hatte, schien es, die Friedhofsblumen verziehen. Ilona, bescheiden: „Wir möchten Ihnen keine Umstände machen …“ Aber ich bitte Sie! Knarrende Dielen markierten Frau Lindthalers Weg zur Kredenz; sie entnahm ein in knisterndem Butterbrotpapier krümelndes Restchen Marmorkuchen mit Fettglasur, trennte in hauchdünne Scheiben, zögerte, verteilte dann die bröckelnden Kunstschneidearbeiten auf vier steingutgraue Teller; das Meißener Porzellan blieb hinter dem Glas des englischen Büfetts. „Sie möchten den Kaffee sicher auch nicht so stark?“ Diesen Aufguß konnte man unbeschadet zur Kleinkinderberuhigung verwenden. „Es ist freilich schon ein altes Haus“, sagte Frau Lindthaler, gab zehn Milliliter Kaffeesahne in Umlauf, „manche Leute wissen das nicht zu schätzen …“ Sie neigte ihre Stocklocken gegen den Fußboden hin. Diese Rudolphs, besonders die Frau, mußten der Abschaum von Wilhelmshagen sein. Barbaren. „Wenn man, wie ich, in diesen Wänden großgeworden ist – ich kann Ihnen nachher einmal die Fotoalben zeigen –, hängt man an jeder Stuckverzierung. Für mich sind hier alle Zimmer mit Erinnerungen besetzt. Des85
halb dulde ich keine Umbauten. Ich wünsche mir für das Haus einen Käufer, der all den alten lieben Dingen die gleiche Wertschätzung entgegenbringt, denn wenn ich es mit ansehen müßte, wie vielleicht bis zur Unkenntlichmachung Hand angelegt würde: es wäre mein Tod …“ Nach eingehender Besichtigung – ausgenommen die von dem Ehepaar Rudolph bewohnten Parterreräume –, erkundigte sich Max nach dem Verkaufspreis. Frau Lindthaler holte die Gutachten des Taxators herbei und meinte: „Mir geht es nicht vorrangig um Geld. Wichtiger ist mir, in welche Hände alles kommt. Ich will nicht noch einmal solche Szenen erleben müssen wie mit den Leuten hier unten. Das ist ordinärster Pöbel. Das sind Vandalen!“ „Ich und meine Familie“, erklärte Max, „legen großen Wert auf gutnachbarschaftliche Verhältnisse. Unsere Beziehungen, auch im privaten Bereich, gestalten sich unter grundsätzlicher Bejahung und der Bereitschaft zur Durchsetzung …“ Ilona trat ihm mit Kraft gegen das Schienbein, legte die Hand auf Frau Lindthalers Arm und sagte: „Ich kann mich so gut in Sie hineinversetzen. Mein größter Wunsch wäre, hier alles beim Alten zu belassen. Bestimmt würden Sie sich wohl fühlen …“ Frau Lindthaler drückte Ilonas Handrücken; das war ihr ganz aus der Seele gesprochen. Sie nippte an dem ungewohnten Steinguttopf, versicherte: „Über das Finanzielle werden wir uns schon einigen. Der Taxwert ist nicht real; einige Interessenten haben bereits wesentlich mehr geboten. Ich dachte so an sechzigtausend …“ Mit einer wegwerfenden Bewegung wischte sie das Thema vom Tisch; mit derart sympathischem Besuch mochte sie sich nicht über Geld unterhalten. Werl konnte seine Ungeduld nicht mehr bemeistern. Es lagen erst zwei Jahre dazwischen, wenigstens an die 86
Kaufverhandlungen mußte sie sich doch erinnern. „Lassen Sie sich nicht jedes Wort aus der Nase ziehen! Welche Summe verlangte die Lindthaler?“ „Ich weiß nicht einmal, ob wir an dem Tag schon darüber sprachen. Wenn ich mich recht besinne … Ja, sie zeigte uns Unterlagen vom Taxator. Schon möglich, daß sie anfänglich über den Schätzwert hinausgehen wollte … Mir ist das wirklich nicht mehr gegenwärtig …“ „Lernten Sie diese Rudolphs kennen?“ „Zum Schluß. – Sehen Sie, das hab ich nun noch genau im Gedächtnis. Frau Lindthaler war natürlich nicht mit nach unten gekommen, und so durften wir uns die gleichen Schlechtmachereien noch einmal anhören, jetzt freilich unter entgegengesetztem Vorzeichen. Frau Rudolph nannte die Lindthaler eine arrogante, übergeschnappte Ziege. Ein vorsintflutliches Reptil. Er wollte uns den Kauf unbedingt ausreden, wohl um ihre Pläne zunichte zu machen. Führte uns jede schadhafte Stelle vor, wahrscheinlich verfuhr er so mit allen Interessenten. Sie zeigte sich aber sehr an unserer Tauschwohnung interessiert. Ich hatte allerdings den Eindruck … Na, das ist nicht wichtig.“ „Was hatten Sie für einen Eindruck?“ „Aus einigen Äußerungen konnte man schließen, daß er das Objekt im Grunde ganz gern selbst übernommen hätte. Infolge des gespannten Verhältnisses hatte er selbstverständlich keine Chance …“ Stefanie sah den Wartburg draußen vor der Garage. Kurze Zeit später trat Wendelin ein. Werl sagte: „Keine Angst, Herr Wendelin, wir wollen Ihnen Ihren Feierabend nicht schmälern. Aber setzen Sie sich doch einen Moment zu uns … Ich habe nur eine Frage an Sie. Eine reine Formsache. – Wo waren Sie gestern abend, achtzehn Uhr?“ Max nahm Platz, betroffen, sichtlich betroffen. Er strich sich über die Revers, rückte den Binder gerade; formulierte: „Genosse, ich stehe den Ermittlungen in 87
dieser tragischen Angelegenheit sehr aufgeschlossen gegenüber. Gerade der vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen Bevölkerung und Ermittlungsorganen kommt hochgradige Bedeutung zu. Jeder Anhaltspunkt ist wichtig …“ Er ließ sich von Werl nicht unterbrechen, fuhr fort: „Aber ich und meine Familie können Ihnen beim besten Willen nicht weiterhelfen. Unser Verhältnis zu der Bürgerin Lindthaler ging über ‚Guten Tag‘ und ‚Guten Weg‘ nicht hinaus. Trotzdem bin ich bereit, mich jeder Vernehmung zu stellen, das ist keine Frage … Allerdings will ich nicht verhehlen, daß mich die Hartnäckigkeit, mit der Sie uns beargwöhnen, befremdet. – Meine Frau war gestern abend, zu dem von Ihnen benannten Zeitpunkt, allein zu Hause. Sie kann demzufolge kein Alibi nachweisen, das liegt in der Natur der Sache. Ich selbst habe meine Dienststelle 17 Uhr 30 verlassen und mich auf die Heimfahrt begeben. Fatalerweise riß mir unterwegs der Keilriemen. Ich kenne mich zwar in Auto-Ersatzteilen aus, aber ich bin kein Kraftfahrzeugschlosser. Wegen der Panne kam ich erst nach neunzehn Uhr nach Hause. Verschmutzt und verschmiert – meine Frau kann Ihnen die Jacke zeigen, die Ärmel sind jetzt noch feucht.“ „Sie benötigten also zum Riemenwechsel, die Fahrzeit abgerechnet, über eine Stunde?“ „Ich mußte zunächst einmal einen Fahrer anhalten, der mir mit einem Ersatzriemen aushalf.“ „Sie wissen nicht zufällig die Nummer des Fahrzeuges?“ „Nein. Warum sollte ich.“ „Wurde Ihre Panne beobachtet? Beispielsweise von der Verkehrspolizei?“ „Es war am Fürstenwalder Damm. Ich fuhr den Wagen in die Einmündung eines Waldwegs, um den Verkehr nicht zu behindern. Aber wie mans macht, macht mans falsch.“ 88
Stefanie warf ein. „Keine Selbstvorwürfe, Herr Wendelin. Sie konnten den Mord nicht voraussehen!“ Werl wollte auch noch einige Auskünfte von Andreas. Wendelin beorderte den Sohn ins Wohnzimmer, hielt sich in dessen Nähe. Wie alt er denn wäre, welche Klasse, wies mit der Schule so klappt. Sehr väterliche und eben deshalb ein bißchen gönnerhafte Fragen, wie Stefanie mit Unbehagen empfand, so könnte man auch Abc-Schützen interviewen. Die Antworten waren danach. Patzig; frech. Unter der rauhen Oberfläche machte sich eine heimliche Unruhe und Gespanntheit geltend. Nebenher bemerkte sie ein Schielen nach ihren Beinen. „Wann bist du gestern …“ Werl korrigierte sich: „Wann sind Sie gestern abend nach Hause gekommen?“ Andreas blickte sich unsicher nach seinen Eltern um. „Ich will das von dir hören.“ „– Gegen acht.“ Frau Wendelin warf sich dazwischen, wedelte mit den Händen, es war früher, sie hat das doch vorhin klar und eindeutig … Sie resignierte, die halbe Stunde machte den Kohl auch nicht mehr fett. „Woher? – Woher kamen Sie?“ Andreas hatte mit Freunden in einer Gaststätte gesessen. Aus Langeweile. Und weil das doch wohl nicht verboten ist. Seines Wissens. Bis kurz nach sechzehn Uhr. Dann war er spazierengegangen. Allein. Drei oder vier Stunden lang. Nach Rahnsdorf. Kreuz und quer. Durch den Stadtwald. Bis nach Schöneiche. Lauf dich gesund! Lernt eure schöne Heimat kennen! Der Hauptmann blickte bekümmert, machte einen hilflosen, täppischen Eindruck; Stefanie begriff nicht, was in ihm vorging. Werl, mit der Sanftmut eines Rindes, mahnte: „Nehmen Sie das nicht auf die leichte Schulter. Sie müssen mir wahrheitsgemäß antworten; sonst könnte das böse gegen Sie ausgehn. Oder hätten 89
Sie Lust, sich mit mir auf dem Präsidium zu unterhalten …“ Wendelin wollte sich einschalten, vermitteln, altersbedingte Schnoddrigkeit könnte sonst leicht die eigentlichen Resultate seiner erzieherischen Bemühungen verdecken; aber Andreas verdarb ihm das Konzept, konfrontierte den unglücklichen Hauptmann mit einer Offerte unter Ehrenmännern: „Schlage vor, morgen vormittag um zehn. Da schreiben wir nämlich ne Russischarbeit!“ Werl knubbelte an seinen Schwielen, lammfromm und aus dem Konzept, ihm fiel keine Erwiderung, kein Witz und keine Pointe ein.
10 Frau Kipfel war von der Statur her – fipsig, unscheinbar, blasses spitzes Gesicht – das Gegenteil ihres Mannes, die zaghafte, flüsternde Stimme: „Bitte … bitte treten Sie doch näher“, seiner Geräuschempfindlichkeit angepaßt. In einer grauen Schürze konnte man sie im trüben Novemberlicht, das vom Garten durch das Doppelfenster einfiel, kaum von den Küchenmöbeln unterscheiden. Bruno Kipfel werkelte in seiner Separatecke; auf einem Putzlappen, neben Ölkännchen und Schraubstock, lagen die Teile der demontierten Luftbüchse ausgerichtet. Er reichte sein Handgelenk zur Begrüßung, sagte: „Hab mir schon ausgerechnet, daß Sie noch mal nachhaken. Also, Ring frei, Runde zwei.“ „Machen Sie ruhig weiter“, gestattete Werl. Kipfel wienerte Schaft und Kolben mit Möbelpolitur. „Früher“, erläuterte er, zögerte, „– beim Kommiß – war meine Waffe immer blitzblank.“ „Wenn es daran lag, daß Sie sie wenig gebrauchten, könnte man Ihnen nur gratulieren“, versetzte Stefanie. 90
„Es hat was mit Ordnungssinn und Charakter zu tun, junge Frau, nicht mit Politik. Waffenreinigen … Die Waffe ist die Braut des Soldaten. Ich bin diesen Kurs grundsätzlich gefahren.“ Frau Kipfel, nachdem sie zwei Stühle herbeigehoben hatte, gehoben, um schurrende Geräusche zu vermeiden, verschwand lautlos hinter ihrem Nähkasten, ließ Nadeln klappern, flüsterte: „Das ist gar zu merkwürdig, was sich mit der armen Meta ereignet hat. Denken Sie nur: Noch am Vortag sprachen wir miteinander über Todesahnungen. Als wenn sie etwas gefühlt hat. Aber wer hätte glauben sollen, daß sie so schnell heimgeholt würde … Sie ist erlöst von allem Jammer.“ „Was waren das für Todesahnungen?“ „Nichts Konkretes. Wir fanden selten zueinander. In unseren Auffassungen über die letzten Dinge trennte uns eine Kluft. Hinzu kommt: Sie verübelte meinem Mann seine … seine Schießleidenschaft. Ich bin auch dagegen. Du sollst nicht töten. Das bezieht sich auf jegliche Kreatur. Und wer sich mit der Sünde einläßt, kommt in der Sünde um.“ „Meine Frau“, warf Kipfel in das Gepisper, „gluckt in einem frommen Verein. Sekte.“ Brummte: „Ihre Sprüche gehen mir jeden Tag auf den Docht.“ Frau Kipfels Stimme eignete ein melodiöser Singsang. Sie wispelte: „Es bereitet sich etwas vor in der Welt. Spüren Sie das nicht? – Meine Mutter, als ich erwachsen war, reichte mir bis zur Schulter. Mein Sohn überragt mich um Haupteslänge. Alle Arten, über deren Untergang entschieden ist, neigen zum Riesenwuchs. Die Zeit ist voller Zeichen. Auch Metas rätselhafter Tod ist Mahnung. Und wer Augen hat, zu sehen, der sieht.“ Werl hatte keine Lust, sich in metaphysische Spekulationen einzulassen, er sagte: „Herr Kipfel, es geht diesmal nicht um Sie. Ich brauche ein paar Auskünfte über die Familie Wendelin.“ 91
Kipfel wandte sich um, setzte sich auf die Arbeitsplatte seiner Werkbank: „Is gebongt!“ „Als Frau Lindthaler das Haus an die Wendelins verkaufte, muß ein gegenseitiges Einvernehmen bestanden haben. Wie kam es zu den späteren Spannungen? Ist Ihnen da was bekannt?“ Auf diese Frage schien Kipfel gewartet zu haben. Seine rechte Mundhälfte markierte ein Schmunzeln. „Damals hab ich gesagt: Erst blasen sie ihr Puderzucker in den Arsch – dann kriegt sie von Wendelin Max eine ins Genicke. Ich mache mal prophylaktisch darauf aufmerksam, daß sie ihn auf sechzigtausend eingeschworen hatte. Wendelin wollte sich dazu bekennen. Vierzig Tausender, den Taxpreis, überwies er auf ihr Konto. Den Rest, nachdem alles perfekt war, konnte sie vergessen. Er sagte ihr das ungeschminkt. Die Forderung war ungesetzlich, sie konnte nicht vor den Kadi. Von dem Moment an gab es dort drüben mörderischen Stunk. Mich störte nur, wenn sie im Garten oder aus den Fenstern krakeelten.“ „Wir glaubten, wir seien die Krone der Schöpfung“, raunte Frau Kipfel, „aber wir sind nur ein Irrtum der Natur. Ein Versehen, das korrigiert werden wird. Verstand, wo er nicht mit Liebe und Selbstbescheidung gepaart ist, wird zum Verhängnis … Meta war auf einem Irrweg. Sie hat sich an vielen Menschen versündigt. Aber sie wurde auch heimgesucht … Vielleicht war es ein gütiges Geschick, das sie hinwegnahm: Wir wissen nicht, was noch bevorsteht …“ Ein Leben an der Seite dieses Mannes, Werl konnte das in gewisser Weise nachempfinden, so weit war er Psychologe, bei einer so wenig durchsetzungsfähigen Frau, machte verschrobene, eigenbrötlerische Ansichten verständlich. „Was wurde denn so krakeelt?“ erkundigte er sich. „Hat Wendelin die Lindthaler bedroht?“ Kipfel behauptete: „Ich schloß die Fenster, wenn sie sich drüben auszählten. – Einmal allerdings wurde ich 92
Zeuge. Ich befand mich hinterm Pferdestall. Wollte die Leiter zurückstellen, die mir Wendelin gepumpt hatte. Der zerkleinerte den Wasserspeier, die pinkelnde Sandsteinskulptur. Hätte sonst generalüberholt werden müssen. Machte auch nichts mehr her. Die Lindthaler kam dazu. Er hielt sie sich mit der Spitzhacke vom Leib. Das hätten sie mitschneiden sollen! Die Wendelin hängte sich aus dem Fenster; er rief: Ich könnte dieses Luder in ihrem eigenen Goldfischteich ersäufen! Wortwörtlich.“ Frau Kipfel hielt im Maschenabheben inne, hob den Zeigefinger. „Wer ein Weib ansieht, es zu begehren, der hat schon die Ehe gebrochen, gewiß. Aber dieser Wendelin betrügt seine Frau mit Taten. Und sie hatte ein Verhältnis zu einem allgemeinpraktischen Arzt, da können Sie jeden in der Nachbarschaft fragen. Was ist das für eine Familie? Der Sohn stiehlt. Er hat sich auch dieses Jahr an unseren Erdbeeren vergriffen … Mit kleinen Unredlichkeiten fängt es an …“ Die Weste spannte über Werls Bauch, er spielte an den Knöpfen. Faßte Kipfel ins Auge, sagte: „Sie haben uns gestern einige Beobachtungen mitgeteilt … Könnte es sein, daß Sie das eine oder andere mit Ihrem Kurzkrimi verwechseln? – Sie sahen Frau Lindthaler einige Minuten nach achtzehn Uhr aus dem Haus gehen. Sie hatte Licht ausgeschaltet und trug einen massigen Gegenstand fort. Nach einer Stunde kehrte sie zurück. Jedenfalls ging das Licht wieder an. Gut. – Aber tatsächlich war Frau Lindthaler achtzehn Uhr bereits tot!“ „Das is nicht mein Bier. Was ich gesehn habe, hab ich gesehn. Ich war nicht im Suff. Ich leide auch nicht unter Halluzinosen.“ Halluzinationen, dachte Stefanie; schade, daß Brandenburg nicht dabei war. Jetzt verbessert zu werden, brächte Kipfel bestimmt in Fahrt. „Warum wundern Sie sich?“ Die Frau, plötzlich schwärmerisch geröteter Wangen, legte ihr Strickzeug 93
nieder. „Ich finde das durchaus nicht unglaubhaft. Ein wunderbarer Vorgang, gewiß; aber doch nicht überraschend, nicht unangekündigt …“ Ihre sonst so behutsame Stimme geriet in einen erregten, eifernden Impetus: „Gräber tuen sich auf – Tote wandeln wieder … Wir sollten alle um das Öl unserer Lampen besorgt sein, daß es uns nicht wie törichten Jungfrauen ergehe; denn niemand kennt den Tag noch die Stunde …“ Nicht vor dem Waffenreiniger, vor der Strickenden wurde es Werl unheimlich. Unsicher, er betrachtete sie wie eine Verrückte. Nach einigem Bedenken erwiderte er: „Mir ist an sich mehr an einer rationalen Aufklärung dieser mysteriösen Vorgänge gelegen, Frau Kipfel.“ Soviel wußte er noch aus einem weiland berochenen Schauerroman: Mitunter bedienen sich höhere Mächte eines irdischen Werkzeugs. Auch, um eine auf Abwege oder in Bedrängnis geratene Seele, wie Frau Lindthaler, dem ewigen Frieden zuzuführen. Trotzdem war er sich sicher: Die Kipfel fühlte sich nicht zu solchen zweifelhaften Liebesdiensten berufen. Man mußte bereits mit Licht fahren. In der Luft, eine stinkende Lawine von Stahl, Blech, Kunstharz, geisterte vom Zentrum her der Berufsverkehr entgegen. Scheinwerfer, Zusatzscheinwerfer, Nebelscheinwerfer – aggressives Weiß und Gelb blähte auf, Abziehbilder, Sofakissen, Maskottchen huschten durch die Diesigkeit. Allabendliche Walpurgisnacht. Stefanie, angeschnallt, sagte: „Denken Sie, daß Sie den Fall zu einer Lösung bringen? – Trotz der Hinweise Frau Lehnerts sind wir doch bisher kaum einen Schritt weiter.“ Den Blick geradeaus, in das Gewaber vor der Frontscheibe, erwiderte Werl: „Mitunter braucht es Monate. Eines allerdings ist wahr: Die ersten Stunden und Tage nach der Tat sind für die Aufklärung entscheidend. Frische Spuren; man erhält Auskünfte, Fingerzeige in Fülle. 94
Später ergeben sich immer spärlicher neue Anhaltspunkte. Man wertet dann eigentlich nur noch vorhandenes Material aus. Geht Varianten nach, die bis dahin als weniger erfolgversprechend zurückgestellt wurden. – Aber wir liegen bis jetzt nicht schlecht im Rennen.“ Sie müsse berücksichtigen, daß nicht nur sie beide heute unterwegs waren. Brandenburg habe bestimmte Aufgaben erledigt, andere Genossen wären mit speziellen Ermittlungen betraut. „Vielleicht, ich wünsche das sehr, kann ich Sie morgen früh schon mit ganz neuen Ergebnissen überraschen.“ Es wäre zu hoffen. Denn über Wochen oder Monate hinweg hielte sie das nicht aus. Immer nur dabeisitzen, diese stupiden Vernehmungsgespräche über sich ergehen lassen, bei denen man zumeist den Eindruck hat, als werde in einem lichtlosen Zimmer eine schwarze Katze gesucht. Diese ewigen Erörterungen. Alibiüberprüfungen. Werl kam noch mal auf Frau Lehnerts Informationen zurück. Gewiß, die Besichtigung des Pferdestalls war enttäuschend gewesen. Brennholz, Gartengeräte, Leitern, altes Zaumzeug. Aber über die drei Wendelins wisse man doch nun schon wesentlich besser Bescheid. Und einigen anderen Winken, den Antiquitätensammler Hottenbach, die Kaffeekränzchendame Gerhardi und den BRD-Sohn Moritz betreffend, sei man noch nicht einmal nachgestiegen. Die kämen als nächste an die Reihe. Nein, er, Werl, sei ganz optimistisch. Es war diese gräßliche Zeit zwischen sechzehn und neunzehn Uhr, in der man die Musikprogramme nicht vom Jaulen und Knattern der Störungen unterscheiden kann; Stefanie kurbelte vergebens über die Sender, eine einsame Stimme beschwichtigte: Die Wahrscheinlichkeit eines Atomkrieges besteht in Europa erst Mitte der Achtziger Jahre. Stefanie beendete als erste das Schweigen. „Ich komme morgen übrigens wieder später.“ 95
„Das ist auch so etwas, das ich mir mein Leben hindurch vergebens wünschte“, quittierte Werl. „Ein Beruf, bei dem ich ausschlafen kann. Es ist eigenartig: Wie viele Bedürfnisse die Menschheit im Verlauf ihrer Geschichte entwickelte und Mittel zu ihrer Befriedigung fand – in diesem Punkt kam sie kaum voran.“ „Sprechen Sie nicht von Menschheit. Ihrem illustren Teil ist Müdigkeit so unbekannt wie Hunger. – Ich will morgen früh zum Verlag. In meinem Kopf haben die wesentlichen Figuren und Handlungsmomente jenes … nun ja, Kriminalromans, Konturen angenommen. Die Eindrücke sind frisch; der richtige Zeitpunkt, das Schema zu Papier zu bringen. Eventuell auch schon Stellen auszuführen. Von Schlaf kann also bei mir heute und die nächsten Nächte keine Rede sein.“ Im Prinzip und nachdem sie einen ersten Einblick in die kriminalistischen Abläufe habe, bringe das Schreiben kaum Probleme. Was noch Schwierigkeiten bereite, das sei die Hauptfigur … „Der Täter?“ „Nein. Der Kriminalkommissar. – Ich kenne da nämlich keine geeignete Bezugsperson. Sie zum Beispiel, Herr Werl, kommen für mich überhaupt nicht in Frage. Sie sind für Ihren Job nicht typisch. Ein Kommissar, wie er in der Literatur Furore macht, ist eine Personifikation von Scharfsinn. Ein nachgerade hellseherischer Übermensch. Durch intuitive Kombinationen löst er Rätsel um Rätsel. Sie sind zu schweigsam. Wenn es nichts zu witzeln gibt. Ich glaube fast, Sie machen sich zu wenig Gedanken …?“ Werl schaltete die Heizung ein. Blinkte, überholte. Wechselte in die rechte Spur zurück. Korrigierte Stellung des Rückspiegels. Sagte: „Was Ihre Behauptung über Krimikommissare betrifft, haben Sie sicher recht. Die Leser brauchen, suchen, was Frau Kipfel hat. Einen Gott. Mein Gott Sherlock Holmes! Mein Gott Maigret! – 96
Dem kann natürlich in der Wirklichkeit niemand genügen. – Was mich betrifft, sind Ihre Schlußfolgerungen falsch … Sind Sie denn eine typische Lyrikerin?“ „Unbedingt“, bestand Stefanie, spitzbübisch lächelnd. „Beispielsweise kippe ich beim Anblick einer Leiche um. Beinahe um. Das ist, jedenfalls nach Meinung des Genossen Brandenburg, für Dichterinnen typisch.“ „Nicht nur für Dichterinnen.“ Werls Mundwinkel zuckte; er blickte sie flüchtig von der Seite an, formulierte: „Es geht etlichen Leuten so. Manche fallen in Ohnmacht. Andere kreischen; pressen die Augen zusammen und kreischen. Das ist verständlich. Wenn man nicht Arzt ist. Oder Krankenschwester … Wie Frau Wendelin …“ „Sie glauben“, rief Stefanie überrascht, „Frau Wendelin hat ein Schauspiel inszeniert? – Aber warum sollte sie die Lindthaler umbringen? Und auf welche Weise hätte sie es vollbracht?“ Der untypische Kriminalist, der große Schweiger, wenn es ums Kombinieren ging, versicherte leichthin: „Sie ist ganz gewiß nicht der Täter. – Überlegen Sie, wie sehr es ihr darum zu tun war, das Nachhausekommen der beiden anderen wenigstens um einiges vorzuverlegen. Obgleich das absolut nichts nützt; der Mord geschah bereits gegen achtzehn Uhr. Das heißt aber …“ „… daß sie die Tatzeit nicht kennt“, führte Stefanie verdutzt zu Ende. „Sie kennt die Tatzeit nicht, aber den Täter. Und den möchte sie schützen – läuft es darauf hinaus?“ „Eventuell.“ Sonnenklar, er wollte sie jetzt verblüffen. Ganz gleich war es ihm wohl nicht, welchen Eindruck sie hatte. Männliche Eitelkeit. Trotzdem, oder gerade deshalb versuchte sie seine Spekulationen zu erschüttern. „Und wenn es nun doch kein Mord war … Ein plötzlicher, natürlicher Schwächeanfall, daraufhin Ertrinken …“ „Ich wollte, Sie lägen da richtig. Aber leider sprechen 97
Kipfels Beobachtungen dagegen. Während er im Garten umherstrich, spielte sich im Haus die Tragödie ab. Zur Todeszeit, in etwa, geht im Badezimmer das Licht aus. Eine Stunde später wieder an. Bei einem Unglücksfall gäbe es für diese Phänomene keine Erklärung. Doch auch der Mörder litt nicht an Energieverschwendungsskrupeln.“ „Und was haben Sie für eine Lösung?“ „Bevor ich die anbiete, möchte ich mich noch mal mit Doktor Lüdhannes konsultieren. Aber schon jetzt werde ich den Verdacht nicht los, daß wir hier Auswirkungen der Tat selbst stringieren. Kipfels Beobachtungen lassen möglicherweise nur eine plausible Erklärung zu …“ „Spannen Sie mich nicht auf die Folter!“ „Mord mit elektrischem Strom.“ Stefanie, auch in ehrlicher Bewunderung, gerade weil sie nicht ganz begriff, mehr noch aus Schalk, legte die Hände wie in Andacht zusammen, himmelte den Hauptmann wie eine überirdische Erscheinung an, sprach mit verzücktem Pathos: „Mein Gott Werl!“
11 Zweimal bringt man niemanden mit dem gleichen Trick zum Reden. Auch nicht durch ein Glühweinopfer. Frau Plaschke versuchte es diesen Abend mit einer ihr lektürehalber vertrauten Geheimdienstmethode: dem Mosaikprinzip. Ihre beim Staubwischen plaudernd angebrachten Fragen förderten winzigste Informationssplitter zutage, die, in sinnvoller Anordnung und durch eigenes Mutmaßen ergänzt, ein brauchbares Abbild des Unerfahrbaren gaben. Ungeachtet dieses Raffinements, verdankte sie ihren Erfolg einem besonderen Umstand: Stefanie war gleich 98
über der ersten Seite ihres Kriminalroman-Exposes in Katzenjammer verfallen; mehr noch: in eine sich steigernde Verzweiflung und Ratlosigkeit, angesichts derer ihr Wille zum Verschweigen schwand, wie einer Ertrinkenden der Vorsatz, die Dauerwelle trocken zu halten. Schon immer hatte Literatur auch zum Munde geredet, leeres Stroh gedroschen: seit Erfindung der Buchdruckkunst nahm das Pläsier, der Nervenkitzel, das katharsische Weh und Ach Lieschen Müllers kein Ende. Das war zum Teil verständlich, entschuldbar gewesen – aber jetzt, sie hatte kein Recht dazu! In dieser Zeit! Unter diesen Umständen, die noch nie so waren. Noch nie waren Hunderttausende an Hunger verreckt. An Geschwüren krepiert. In dieser wunderbaren Zeit. Noch nie hatte Strategie das Leben aller bedroht. Noch nie hatte dieser blaue Planet in den letzten Zügen gelegen. In dieser wunderbaren Zeit. Die Vermieterin sagte: „Un nu paß auf, Mädelchen, was dir die Plaschke flüstert: Dein Werl benimmt sich wie ne Jungfer im Lodderbett. Bewegen muß er sich! Zugreifen! Hingucken! Also Fräulein, er hätte dem Max Wendelin seine Benzinkutsche kontrollieren müssen, das wird Ihnen jeder vom Fach beniesen. Is der Keildingsbumsda wirklich neu? Wenn nich, is nichts bewiesen, geb ich zu, dann hat ihm der große Unbekannte am Fürstenwalder Damm eben nur einen gebrauchten überlassen – och gut. Aber Werl hätte hin müssen, an die ominöse Pannenstelle. Müßte ja das kapore Riemchen da irgendwo rumliegen, an der Waldwegmündung. Nützt auch nichts, akzeptiert, denn Mörder-Max hat vorsorglich sowohl Radspur wie Reparaturreste arrangiert. Der is ja nich von gestern!“ Stefanie verbarg das Gesicht in Händen, sagte: „Lassen Sie mich jetzt, Frau Plaschke, lassen Sie mich.“ „Nur kein Flügelhängen, Fräuleinchen. Noch sin wir nich weg vom Fenster. Max Wendelin hatte Gelegenheit, 99
und er hat ein Motiv: Die Lindthaler über sich, das is für son Mann wie ne Schwiegermutter im Haus. Logisch, daß er die gern untern Rasen bekäme. Dein Werl hätte den längst hopp nehmen müssen! Aber der Filius is auch nich ohne! Bringen Se doch mal Ihre Hirnwindungen auf Touren, Fräulein: Schließt ne alte Dame von neunundsechzig nich das Bad ab, wenn se ihren Korpus wässert? Zumal, wenn da n junger Spund nebenan campiert. Der braucht sich ja nur in der Klinke vergreifen un die ganze Altweiberherrlichkeit ist seinen Glupschen ausgesetzt. Wie kommt aber der Täter rein, wenn verriegelt und verrammelt is? Nee, nich durchs Fenster; Fassadenklettern is bei der heutigen Jugend nich drin, die is Fahrstuhl gewöhnt. Der Bursche war schon im Bad, als sie abschloß. Hinter der Waschmaschine, hinter dem Vorhang. War aus der Budike heimgekommen; damit Mutter die Fahne nich riecht, schlich er hoch in sein Kabuff. Hörte nebenan Wasser in die Wanne laufen. Plötzlich Telefon auf der Gegenseite. Die Alte jumpt rüber, läßt die Tür zum Flur offen, jawohl mein Moritzchen, wo biste denn, wo stehste denn mit deinem Westwagen? An der Ecke, damit dich keiner sieht? Ja, ich bring dir das Meißner runter; verstaus im Kofferraum, aber laß dich nich an der Grenze hochziehn. Der andre hörts, der Andreas, heidijupp isser im Bad, lauert im Dunklen. Viertel Stunde drauf schest die Lindthaler wieder an, Licht, riegelt zu, läßt die Röcke fallen. Un dein Kipfel sieht inzwischen fern. Jetzt sitzt se im Planschbottich drin. Jetzt steht der Knabe vor ihr, der bleibt die Luft weg. Jetzt taucht er sie unter. Is ganz leicht, die versäuft vor Schreck freiwillig. Lampe aus, zurück in sein Jungmörderzimmer. Spekuliert, wie die Polente auf Unfall tippt. Plötzlich geht ihm ein Seifensieder auf: Er muß Licht machen, die Alte geht nich bei Mondschein baden, aus den romantischen Jahren isse raus. Also er rüber, Kipfels Kurzkrimi is auch grade zu Ende, neunzehn Uhr, un da ham Se die Erklä100
rung. Ihr Werl hätte dieses Früchtchen einkassieren müssen!“ Aber das Motiv, Plaschke, und überhaupt: welche Gedankenarbeit um ungelegte Eier, gibt es nichts Lohnenderes, was für eine Phantasie am untauglichen Objekt, was für eine Kombinationsgabe, welch kritisches Vermögen, warum wendest du es nicht an, in deinem Betrieb, in deinem tagtäglichen Leben, wann immer du, von wem auch immer, beschissen wirst! „Sehn Se, Fräulein, nun sind Se still und sehn mich an, als schwämmen Ihnen alle Felle weg; weil Se nich selbst drauf gekommen sin. Das hätteste der Plaschke nich zugetraut, so viel Stirngrütze! Aber mir hats keiner als Talent in die Wiege gelegt. Hab ich mir alles anlesen müssen. Ich bin informiert, zwar nur schwarzweiß, dafür über fünf Kanäle. Ich erfahr, was in der Welt vorgeht, ich hab Durchblick. Mich lad keiner auf den Besen … Auch kein Brigadier Kipfel nich. Nachts um zwölf Tauben schießen – der Kolbenputzer braucht wohl keinen Schlaf? Oder wie? Warum lag er nich längst in der Falle? Na, ich kriegte in dessen Haut auch keine Gucker zu. Abends strolchte er ums Haus, legte an, drückte ab – ein Schrei aus dem Lindthaler-Fenster. Herrgott! Hat er sie getroffen? Seine fromme Angetraute kommt dazu, beruhigt ihn: Dein Geschoß ham höhere Mächte gelenkt, verdufte, ich bring das ins reine. Er schlägt sich in die Büsche; plötzlich wieder ein Schrei, weggluckernder Hilferuf. Peest eine aus dem Nachbarhaus, natürlich nich die Leiche: sein gottverrücktes Bettvergnügen! – Was haste denn, was haste denn mit ihr gemacht? Die läßt ihn stehn, er weiß nicht, was das soll, als er heimkommt, sitzt sie am Nähtisch, strickt schwarze Socken. Wo sie war? Die ganze Zeit nicht von der Stelle gerührt; der Böse blendet dich mit Teufelswerk, mein Bruno, du bist so sündig; nimm dich in acht, der Tag des Gerichts ist nah! Er faßt sich an den Kopp, Menschenskind, vielleicht is 101
bei ihm wirklich ne Schraube locker. Womöglich is das ne Strafe, vielleicht sollte er doch in ihren frommen Verein … Mitternacht sieht er im Nachbargarten Leute, hört Stimmen. Will wissen, was los is, läßt sich absichtlich kappen … Ihr Werl hätte das saubere Pärchen hochziehen müssen!“ Wer baute das siebentorige Theben? Der junge Alexander eroberte Indien; er allein? Eben nicht! Immer marschierten die Plaschkes ihren Heerführern voran, ihren Verführern, immer waren es die gleichen Durchseher, mit Prinzenhochzeiten gefüttert, mit Wettkampf, Weichspülern, Horror. „Frau Plaschke, Sie haben nur Schwein, daß Sie hier und heute leben …“ „Das versteh ich aber jetzt nich, was Sie da sagen, Fräulein Thalmer.“ „Sie verstehn ja nie was!“ „Das is ne Anschuldigung, die ich nich auf mir sitzen lasse. Warum denn auf einmal so kiebig?“ „Begreifen Sie nicht, daß ich keine Lust hab, mich mit Ihnen zu unterhalten!“ Stefanie schrie, krebsrot: „Besitzen Sie in dieser Wohnung kein eigenes Zimmer?“ „Doch! Aber eins muß hier wohl Staub wischen, ausfegen, Sie ham ja noch keine Kehrschaufel angerührt, so lange Sie hier untermieten! Ich bin berufstätig, ich hab tagsüber zu tun. Vielleicht nehm ich noch die Wochenenden dafür!“ Bitteres Unrecht, Frau Plaschke schluchzte, kämpfte mit den Tränen. Stefanie war auch wahrhaftig zu weit gegangen. Sie fühlte das. Man darf nicht an alle Menschen gleiche Maßstäbe anlegen. Jeder ist nach einem anderen Leisten geschlagen. Es war auch Blödsinn, diese Frau mit Lyrik zu traktieren, besserwisserisch, elitär: mit Lyrik fängt der Mensch erst an – sie mußte sich gangbarere Wege einfallen lassen. Staublappen, Handfeger, Frau Plaschke fuhrwerkte in 102
jede Ecke, demonstrative Säuberung, stöhnte, ächzte, kämpfte mit jeder Fussel. Sie drängt ihre Argumente niemandem auf. Wenn Herr Kriminalinspektor Werl alles besser weiß, bitteschön! Soller doch! Soller sich doch weiterhin von Ilona Wendelin verladen lassen. Wie ein Kriminaler das nich von selbst merkt! Daß ihr Getue mit den Uhrzeiten nur darauf hinausläuft, ihm eben die Annahme einzuimpfen, sie kenne die Mordzeit nicht. Mir kanns ja egal sein. Aber vielleicht hatte die auch wirklich nich zur Uhr gesehn, als sie hochmachte un die Lindthaler das Tauchen lehrte. Hinterher Fenster auf. Leitern sind ja im Pferdestall, dann is es eben Kipfel gewesen. Als sie den neunzehn Uhr drüben am Fenster sieht, jachtert sie nochmal rauf, spielt am Lichtschalter, damit er sich mit seinen ungereimten Beobachtungen verdächtig macht. Drei Zimmer mehr, das lohnt sich doch. Vermietet sie, braucht nicht mehr in die Sprechstunde, behält morgens den Hintern im warmen Bett. Eingebuchtet gehört die! Un von wegen elektrischer Strom! Is doch klar, warum einer zappenduster macht, wenn er einem Angehörigen zum Sterbchen verholfen hat. Damit jeder denkt, die Mutter is außer Haus, damit keiner zu früh sucht un die Wasserleiche findet. Um in Sicherheit zu sein. Hinterm Schlagbaum. Warum verstreut er denn unsere Zigaretten und nich seine HB? Der Herr Moritz! Un die Vormieter Rudolph, un der Antiquitätensammler Hottenbach, un die Rommédame Gerhardi – ich hätte da längst Unkraut gejätet! Un die DFD-Freundin, die alle belasten will, nur sich selber nich. Hatte ja Jahrzehnte Zeit, ne elektrische Leitung an die Zinkwanne zu legen. Alles Scheinheiligkeit, fortschrittliches Getue; aber ich hätte ihr die Larve runtergerissen! „Frau Plaschke, wenn Sie nun gar kein Stäubchen mehr finden … Ich möchte gern arbeiten. In Ruhe arbeiten. Ungestört. Sie dürfen mir das nicht verübeln, wenn 103
ich da mal aus der Haut fahre … Es tut mir leid, wegen vorhin …“ Der versöhnlerische Klang besänftigte Gisela Plaschkes Gekränktheit. Im Betrieb, ihr Chef, Mitte dreißig, scharf, aufstiegsbewußt, entschuldigte sich nie, wenn er sich im Ton vergriff. Er vergriff sich oft. Gegenüber Unterstellten. „Sehn Se mal, Fräulein“, versuchte sie sich selbst ins rechte Licht zu setzen, „ich sitz jeden Tag neun Stunden im Büro. Da passiert nichts. Nichts, was einem unter die Pelle geht. Immer ein Trott. Zum Feierabend bin ich abgeklappert, da spür ich keinen Janker auf Probleme. Aber mich jiepert nach Unterhaltung. Auch Nervenkitzel, Spannendes. Ich erleb doch sonst nichts. Bei Ihnen is das anders: Sie liegen hier aufm Sofa un warten, daß Ihnen die Muse küßt. Bleibt se weg, nehm Se Ihr Notizheft un fahrn raus ins Grüne un suchen se da. Oder Sie verknalln sich in nen Kerl. Oder gehn konditern, hörn sich n Stehgeiger an, wenn andre Leute auf Arbeit sin. Soll ja auch kein Vorwurf sein. Nur müssen Se mir eben auch verstehn.“ „Ich tu ja mein Bestes, Frau Plaschke. Mein Verständnis geht bereits so weit, daß ich Ihnen Dinge anvertraue, von denen mir eigentlich kein Sterbenswörtchen entschlüpfen dürfte.“ Apropos entschlüpfen: Frau Plaschke, gewohnt Gelegenheiten beim Schopfe zu packen, sie bieten sich so selten, sowie in Anbetracht der Versöhnung und da eben das Wort fiel: „Daß Mörder nich entschlüpfen, is nich nur Aufgabe der Polizei. Da muß jeder mit ran. Auch ehrenamtlich, auch ohne Ausbildung. Selbst is der Mann, Fräulein. Kriegste heut nen Tapezierer? Also trapezierste selbst. Dein Päckchen holste bitte schön selbst von der Post, auch wenn du kein Briefträger bist. Möbel werden geliefert, die Beschläge schraubste gefälligst selber an. Fenster streichste selbst, Hausflur fegste selbst, ich persönlich dreh mir auch die Locken alleene. 104
Un wenn nun mal n Mord passiert, soll man nich mitmachen dürfen?“ „Natürlich können Sie Ihre Vermutungen hegen, und falls Sie – wie man so sagt – zweckdienliche Hinweise haben, sind Sie geradezu aufgefordert, damit nicht hinterm Berg zu halten. Aber das trifft doch in dem Fall gar nicht zu, Sie konnten doch keine eigenen Beobachtungen anstellen …“ „Noch nich, Fräulein, noch nich!“ Stefanie, Entsetzliches ahnend, schob ihre Schreibunterlage zur Seite. „Was soll denn das nun wieder heißen, Frau Plaschke?“ „Machen Sie sich man darüber keinen Kopp.“ „Ich hätte aber ganz gern trotzdem eine Erklärung …“ Die Plaschke hob Kinn und Nase sehr weit nach oben, selbstbewußt, eine mobilgemachte Festung. Ihr zurückweisender Blick verriet einsam gefaßte unabänderliche Entschlüsse. Haushaltstag für morgen ist eingereicht und genehmigt, da beißt die Maus keinen Faden nich mehr ab. Ihre Reinigungsutensilien zusammenraffend, erklärte sie: „Wenn Sie kein Team mit mir bilden wolln, Fräulein, handle ich jetzt solo!“
12 Die Außenstelle Berlin des Altmärkischen Verlages Stendal (Spezialgebiet Kriminalliteratur) befindet sich in einem Seitenflügel in der Brunnenstraße; von Anwohnern wird die Institution scherzhaft „VEB Mord & Totschlag“ genannt Der Verlagssekretär hob bedauernd die Schultern, Herr Streicher vom Lektorat sei zu einer Abstimmung beim Fernsehen, er könne Stefanie aber an Frau Ändering verweisen. Die Lektorin hatte den Namen Thalmer noch nie ver105
nommen; gerade deshalb zeigte sie sich am Expose und den bereits ausgeführten Seiten sehr interessiert, erbot sich: „Falls Sie ein wenig Zeit mitgebracht haben, schau ich schon rasch mal hinein …?“ Es ließ sich einrichten: Stefanie mußte das Problem einer überfälligen Fahrgeldrückerstattung in der Buchhaltung klären, war in der Vertragsabteilung angemeldet. Nach einer Dreiviertelstunde hatte Frau Ändering nicht nur quer, sondern – kaffeetrinkend und indem sie eine Scheibe Knäcke aß – in aller Ausführlichkeit gelesen. Sie gratulierte: „Fräulein Thalmer, ich bin überrascht! Freudig überrascht! Nicht nur erachte ich Ihr Anliegen als gesellschaftlich relevant; was mir vor allem auffällt: Sie haben Talent! Doch, da bin ich mir ganz sicher. Ein genuines erzählerisches Talent. – Freilich schließt dies einige kritische Anmerkungen nicht aus … Ich weiß nicht, inwieweit Herr Streicher über Einzelheiten Ihres Vorhabens informiert ist; mag er mit mir auch nicht über die gesamte Strecke konform gehen – im Grundtenor wird er meine Einwände teilen …“ Die Lektorin verschob mittels Kugelschreiber die größeren der auf ihrer Tischplatte verbliebenen Knäckekrümel in eine Art Phalanx, ergänzte: „Ich bin seit zwanzig Jahren auf dem Gebiet der Spannungsliteratur tätig! Betreue achtzehn Jahre unsere Heftchenreihe Straftat aufgeklärt … Sie können also meinem Urteil vertrauen. Bevor ich nun zu Ihrem Hauptmann Schmerl, dem Unterleutnant Magdeburg und der im Badewasser zu Tode gebrachten Ex-Hausbesitzerin Lindberger komme, gleich mal einige Überlegungen zum Täter. – Sie verwenden von Anfang an ein zentrales Indiz: die in unmittelbarer Tatortnähe aufgefundenen unangerauchten Zigaretten; ich glaube, Marke Real. Ihre Ermittlerfiguren beachten die Spur zuwenig, beziehungsweise wissen nichts damit anzufangen. Im Expose entwickeln Sie folgende Konstruktion: Die Zigaretten sind einem Betrun106
kenen aus der Schachtel gefallen. Dieser Betrunkene, der Täter, weiß noch nicht, daß er innerhalb der nächsten Stunde zum Mörder wird. Er torkelt, so führen Sie das hier aus, auf das Grundstück und fällt in die Anpflanzungen. Nun kommt eine weitere Figur hinzu; Sie schreiben: Im Garten geht der Grundstücksnachbar Kipfel mit seiner Luftbüchse um. Kipfel schießt nach Spatzen, trifft dabei versehentlich den Betrunkenen. Akzeptiert! Aber dann fangen bei mir die Bedenken an: Der blessierte Zecher – Sie müssen da übrigens noch einen Namen vergeben – kehrt, nachdem er das Grundstück bereits wieder verlassen hatte, noch einmal zurück. Sie schreiben: Der Alkohol und Wut über die nicht gänzlich schmerzlose Verletzung des Sitzfleisches führten zu ungesteuerter Aggressivität. Der Mann dringt also in das Haus ein und ermordet die Lindberger; Sie erläutern: In einer Art Amok, auch aus Rache, um Kipfel in Verdacht zu bringen. – Liebes Fräulein Thalmer, das ist mir als Motiv einfach zuwenig. Sie haben das wahrscheinlich noch nicht genügend durchdacht. Ich habe das Expose bis zum Schluß gelesen – Ihre Konzeption ist hinsichtlich des Täters irgendwie unentschieden … Manchmal hatte ich das Gefühl, als seien Sie sich Ihres Mörders nicht sicher, als spielten Sie mit dem Gedanken, die Rolle im letzten Augenblick noch einem der anderen Verdächtigen zu übertragen. Hier zeigt sich eben Ihre Unerfahrenheit. Zuerst schafft man sich einen Täter, bestimmt seine Motivation, darauf gründet dann alles weitere – nicht umgekehrt. Sonst bekommen Sie Ihren Stoff nie in den Griff!“ Frau Änderings Finger lag wirklich auf dem wunden Punkt. Stefanie hatte sich einmal darauf versteift, dem realen Fall Lindthaler so weit als möglich zu folgen, nicht um sich das mühselige Ausdenken einer Geschichte zu ersparen, aus einem weit gewichtigeren Grund. Es hatte etwas mit ihren Depressionen vom Vortag zu tun, mit dieser Misere, einen Krimi schreiben und die eigentlich 107
drängenden Anliegen hintanstellen zu müssen. Unversehens war ihr der Einfall gekommen, ob denn beides nicht miteinander arrangierbar sei. Der Mordfall Lindthaler ereignete sich in dieser Zeit, an einem keineswegs abseitigen Ort der Erdoberfläche; in aller Außergewöhnlichkeit, stellt er einen winzigen Ausschnitt des Weltganzen dar, es könnten sich also auch die großen Tendenzen, das Wesen des gegenwärtigen Weltzustandes in ihm versinnbildlichen. Sogar augenfällig, war zu hoffen, sofern in einem Verbrechen viele, sonst diffuse Momente brennpunktartig verdichten. Der Mordfall wäre dann eine Analogie zur Totalität, er wäre zu deren Analyse wie jedes andere Sujet, ja besser geeignet. Sie lächelte, gestand: „Wahrscheinlich bin ich tatsächlich noch etwas unentschieden …“ Auf das Provisorium, ein Betrunkener könne die Karo-Zigaretten verloren, von Kipfel angeschossen worden sein, und deshalb später die Tat begangen haben, war sie nach Mitternacht verfallen. Die Variante hatte, unleugbar, Schwächen. „Ich brauch noch einige Tage Bedenkzeit. Vermutlich erledigt sich das Problem bis dahin im Selbstlauf.“ Auf solche Wunder mochte Frau Ändering nicht warten; das Expose ist von seiner Grundstruktur her ausgereift, man muß lediglich ein glaubhafteres Motiv ersinnen. Sie gruppierte die Knäckekrümel um, schlug vor: „Veranstalten wir eine Art Spinnstunde! Fragen wir uns: Wie ist unser Söffel ins Haus gelangt? – Womöglich kannte er sich aus? In seinem Schumm hat ers nicht gleich bemerkt; aber als er angeschossen wurde, plötzlich wie ernüchtert, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Hier war er ja mal ein- und ausgegangen! Hier hatte er ja – warum eigentlich nicht – womöglich sogar Vorjahren gewohnt! Dürfen auch Jahrzehnte sein … Bedenken Sie: Dunkelheit, Alkoholrausch, die Bäume kahl – man könnte sich solch verzögertes Wiedererkennen vorstellen …“ 108
„Ja, aber … ich möchte mich noch nicht festlegen. Ich benötige noch einige Tage.“ „Ich will Sie auch nicht drängen“, versicherte Frau Ändering verständnisinnig. „Trotzdem dürfte es nichts schaden, wenn wir bereits einen gewissen Rahmen abstecken. – Ich frag mich beispielsweise, woher jemand diese Unmenschlichkeit aufbringt, die ihn zum Mord befähigt. – Also unser Betrunkener … Unter Umständen steckt da was von früher in ihm drin … Am Ende war er in der Vergangenheit Mörder von Berufs wegen, und das Verbrechen in Eichwalde ist nicht seine erste derartige Tat …!“ „Wie meinen Sie das?“ „Ich hab auf einer Ihrer ausgeführten Seiten einen wunderbaren Satz entdeckt, Fräulein Thalmer, den Sie in seiner Unaufdringlichkeit wahrscheinlich ohne weiterreichende Absichten zu Papier brachten. Über dessen unterschwelligen Gehalt Sie sich selbst gar nicht im klaren sind … Ich muß nur eben die Stelle finden …“ Sie blätterte, rief dann: „Hier! Die DFD-Freundin Klehnert informiert Hauptmann Schmerl über die Familienverhältnisse der Lindberger. Der Ehemann war ein hohes Tier bei der SS. Nach dem Krieg verschollen. Und nun erfährt man über die Ermordete – ich lese vor: Sie wollte an den Tod ihres Mannes nie glauben …“ Frau Ändering schwieg, beobachtete die Wirkung. Stefanie, das Kinn aufgestützt, grübelte dem geheimnisvollen Gehalt nach, sie hatte sich bei diesem Satz tatsächlich nichts gedacht, wußte nicht einmal mehr, ob in der Realität – Frau Lehnert so formuliert hatte; sie konnte immer noch nichts damit anfangen; Lektoren eignet eine unnachahmliche Interpretationsartistik. „Es liegt doch fast auf der Hand!“ Die Knäckekrümel gegeneinander verschiebend, fabulierte Frau Ändering: „Dem SS-Verbrecher Lindberger gelang es, im Durcheinander des Kriegsendes aus dem Gewahrsam zu entwei109
chen. Er tauchte unter, lebte unter falschem Namen in der DDR. Aus gutem Grund; befand sich doch hier sein gesamtes Vermögen. Nach einer gewissen Stillhaltezeit meldete er sich bei seiner Frau. Telefonisch. Um sie zu beruhigen; vor allem, um Geld zu bekommen. Persönliche Begegnungen verboten sich, aber über ein Konto bezog er von ihr jahrelang hohe Summen. Frau Lindberger mußte Stück für Stück einen Großteil ihrer Antiquitäten verkaufen.“ Die Mitarbeiterin des Altmärkischen Verlages konstruierte die Story so mühelos, aus der Lameng, als operiere sie mit griffbereiten Versatzstücken. Stefanie konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, hier eine Art Urfabel aufgetischt zu bekommen, die in unerschöpflicher Metamorphose von Monat zu Monat, jeweils neuen Figuren und Staffagen angepaßt, eine breite Kioskkundschaft in Atem hielt. „Es kam, wie es kommen mußte: zur fast völligen Entfremdung zwischen den einstigen Eheleuten. Das ist unter solchen Bedingungen psychologisch durchaus nachvollziehbar. Der Lindberger war schließlich von einstigem Vermögen nicht mehr sehr viel geblieben, und sie stellte die Zahlungen ein … Hören Sie mir zu?“ „Ja, entschuldigen Sie, ich … Die Nacht war etwas kurz.“ „Der Untergetauchte verlangte, sie solle, um wieder Mittel flüssig zu haben, das Haus verkaufen. Als sie sich weigert, schreitet er zur Erpressung, droht, in den Westen zu gehen, sie aber wegen der Begünstigung, die er von ihr erhalten hatte, anzuzeigen … Wieviel Stunden haben Sie denn geschlafen?“ „Drei.“ „Das ist natürlich wenig. – An dieser Stelle tritt nun die Familie Quentelin in die Handlung ein, wobei, eine Empfehlung, ich die Organisiertheit allenfalls sparsamst andeuten würde. Der Leser bekommt das sonst leicht in 110
die falsche Kehle. Es reicht, wenn Quentelin in der Gewerkschaft ist. Frau Lindberger verkauft, hält dann aber das Geld doch zurück. Zwei Jahre meldet sich ihr Mann nicht … Soll ich Ihnen einen Kaffee kochen?“ „Nein, danke. Das würde mein Magen verübeln … Ihre Geschichte ist übrigens sehr interessant, nur, meine Intentionen gehen mehr in eine andere Richtung.“ „Ich bin noch nicht fertig! – Zwei Jahre meldet er sich nicht, da führt ihn ein Zufall nach Eichwalde, an jenen Ort, den er, aus Furcht erkannt zu werden, seit fünfundvierzig gemieden hat, wie der Teufel das Weihwasser …“ Stefanie unterbrach, sie konnte sich den Rest denken. Will aber die Version im Auge behalten, eventuell kommt sie darauf zurück, sie muß das alles noch mal in Ruhe überdenken. Andere Autoren sind für solche Assistenz dankbar; nach Rekapitulation der bei dem jungen Talent wohl schon gar wieder in Vergessenheit geratenen zwanzig Jahre – „… darf ich mir ohne Überhebung zugute halten, die Geschichte der Spannungsliteratur in unserem Land in wesentlichen Zügen mitgeschrieben zu haben“ – ging Frau Ändering, indem sie per schnickendem Kugelschreiber besonders herausragende Krümel ins Abseits beförderte, zum Angriff auf ein Hauptärgernis über. Sie riet dringlich: „Wenn Sie einen hunderte Male bewährten Erfahrungssatz beherzigen wollen, Fräulein Thalmer, beschränken Sie sich in der Zahl Ihrer Ermittler! Sie benötigen einen Sherlock Holmes und einen Watson, maximal. Anfänger, das zeigt sich immer wieder, verplempern gern ihre Möglichkeiten, indem sie ganze Detekteien ins Spiel bringen. – Sie haben Ihren Schmerl, Sie haben Ihren Magdeburg. Ich gestehe Ihnen noch die Informantin Klehnert zu, sofern Sie dieser Figur wesentliche Aussagen über die faschistische Vergangenheit der Familie Lindberger in den Mund legen; aber wozu, um alles in der Welt, benötigen Sie eine junge Autorin! Die von ihren 111
Kurzgeschichten nicht leben kann und nun ausgerechnet zur Hospitation bei der MUK delegiert wird – das ist unglaubhaft, so etwas geschieht selbst durch unseren Verlag nur in seltenen Fällen! Und mit deren dilettierender Zimmervermieterin, die nichts, aber auch gar nichts zur erzieherischen und verbrechensverhütenden Funktion des Textes beiträgt, erhöht sich das Personal an Ermittlern und Helfern auf fünf! Unmöglich kann übrigens auch, wie Sie vorhaben, Ihr Unterleutnant Magdeburg mit der jungen Autorin einen Zirkus besuchen! Undenkbar! Kriminalisten finden kaum Zeit zum Schlafen – außerdem: Zirkus ist abwertend. Wenn schon, erfinden Sie einen Theaterbesuch. Aber ich will Ihnen da nicht reinändern; überlassen wir das letzte Wort in dieser Sache Herrn Streicher. Was mich besonders betroffen macht, Fräulein Thalmer: Ihre Zeichnung der beiden Mitarbeiter unserer Sicherheitsorgane. Und hier muß ich jetzt sehr hart mit Ihnen ins Gericht gehen! Einerseits sind beide Ermittler blaß, ich erfahre – jedenfalls in den ausgeführten Passagen – wenig oder nichts über Schmerl; die Figur wird nicht deutlich, gewinnt keine Konturen, ich weiß nicht, raucht er, oder raucht er nicht. Und wenn er nicht raucht, hat er sichs vielleicht abgewöhnt? Verspürt er dann nicht manchmal die Versuchung? Wie bewältigt er diese Konflikte? Lutscht er Bonbons; verstehen Sie, das sind so Details, die einem Vernehmungsgespräch die gewisse Würze geben, auch Humor, wo er angebracht ist. Andererseits schlagen Sie eine Fülle von Episoden vor, in denen der Genosse VP-Angehörige Unterleutnant Magdeburg … nun, zumindest nicht so erscheint, wie das unserer Vorstellung vom Kriminalisten entspricht. Hier muß bei Ihnen noch stärker Verantwortungsgefühl und ein gewisser Ernst walten. Die wenigsten Leser haben schon einmal wirklich etwas mit den Ermittlungsorganen zu tun gehabt – sie übernehmen das Bild, wie es beispiels112
weise meine Heftchenreihe vermittelt. Ein gutes Bild, auf das wir stolz sind. Da finden Sie keine billigen Klischees; unser Kriminalist ist durchaus nicht hölzern, kein Pappkamerad, sondern eine sympathische, disziplinierte Persönlichkeit, ein Mensch, wie er im Buche steht. Auch mit kleinen individuellen Schwächen. Allerdings suchen, Sie großflächige Frontzähne vergeblich. Es ist auch niemand semmelblond. Vor allem benimmt sich keiner wie ein verliebter Kater! – Fräulein Thalmer, auf diese Verunglimpfungen können Sie doch verzichten!“ „Ich betrachtete die Bauform des Gebisses“, erklärte Stefanie nicht ohne Zynismus, „nebst semmelblondem Kopfbewuchs und balzendem Gebaren bisher weder als diskriminierend noch als kleine individuelle Schwäche.“ „Es wird aber vom Leser so ausgelegt.“ „Das muß ein recht einfältiger Leser sein.“ „Die Mehrzahl unserer Leser ist undifferenziert. Unkritisch. Denkfaul.“ „Dann haben Sie und ich nicht die gleichen Leser!“ Frau Ändering rang die Hände. Besorgt, ehrlich besorgt. Diese jungen Talente, Heißsporne, bewundernswert; aber es wird zuviel Porzellan zerschlagen. „Ändern Sie doch wenigstens einige Formulierungen; Sie stoßen unsere Leser vor den Kopf, glauben Sie mir. Es gibt böses Blut …“ „Also gut. Ich streiche die großflächigen Frontzähne.“ Frau Ändering atmete auf, erleichtert. Man hörte den Stein, der ihr vom Herzen fiel, bis zum Rosenthaler Platz plumpsen.
13 Ungeachtet dieses Kompromisses hatte, wie nicht anders zu erwarten, Magdeburgvorbild Brandenburg, als Stefanie gegen 11 Uhr ins Präsidium kam, die gleichen Beißer 113
wie immer, großflächige Frontzähne, ließ sie zum Willkommen blinken; er führte auch zwei Gedichte mit. Eigenproduktion. Aus der Zeit seiner Spätpubertät. Die Genossin Zeisig verpatzte ihm die Poussage, stellte, hinter seinem Rücken, mit Stefanie Blickkontakt her, ihr Zeigefinger stichelte gegen Werls Tür, sie verriet in flüsternder Überartikulation: „Ein ganzer Sack voll Neuigkeiten …“ Werl, Hintern gegen die Schreibplatte, telefonierte, bedeutete Stefanie, indem er die Muschel abdeckte, Platz zu nehmen, rief dann in den Hörer: „Höchstwahrscheinlich gegen Mittag, er hat sich verplappert, ich hab angerufen … Ja, er war selbst am Apparat … Du mußt sofort hin! Setz dich in die Eckkneipe, dann hast du den Laden im Auge. Sobald sich was tut, sofort rüber und zufassen; wenn es diesmal nicht klappt, seh ich schwarz! – Also, bis heut abend! Ich drück dir die Daumen … Wiederhören!“ Er ließ vernehmbar Atem ab, seufzte: „So ist das. Wenn die Familie größer wird. Sebastian, mein Enkel, hat eine Neigung zur Musik entdeckt. Weihnachtswunsch: Blockflöte. Billig; aber erst mal kriegen! Die Eltern kommen tags nicht aus dem Betrieb, also müssen wir ran. Wozu ist Großvater schließlich Kriminalist? Irgendwann wird der schon eine heiße Spur ausfindig machen, so oft bekommen die paar Geschäfte ja keine Lieferung …“ Winkte ab, sein Blick ruhte für Sekunden irritiert, verständnislos auf Akten, Protokollen, er schob das alles beiseite, mußte, schien es, sich erst wieder zurückfinden. Strich sich über die Stirn: „So. Und in unserem Mordfall sind wir auch weiter.“ „Frau Zeisig deutete schon an, daß es neue Entwicklungen gäbe …“ „Erwarten Sie nichts Sensationelles. Doktor Lüdhannes hat gestern, während wir in Wilhelmshagen waren, den abschließenden Obduktionsbefund vorab durchgegeben. Was ich vermutete, hat sich bewahrheitet.“ 114
„Was Sie vermuteten?“ „Frau Lindthaler ist ertrunken.“ Er sagte lakonisch: „Ursache: Bewußtlosigkeit. Ursache: Elektrischer Strom. Die Kausalkette, darauf legte der Doktor großen Nachdruck, war nicht ganz einfach rekognoszierbar. Bei der äußeren Besichtigung des Leichnams am Tatort hatten sich keine Strommarken gezeigt. Inzwischen wurden aber irgendwelche blaßblauen Streifen, die bei Elektrotod im Wasser auftreten können, wohl mehr vermutet als erkannt; unter dem Mikroskop zeigten die Zellstrukturen der betreffenden Gewebe dann tatsächlich die Einschmelzungsveränderungen, wie sie nach Einwirkung elektrischen Stromes typisch sein sollen. Lüdhannes hat der Genossin Zeisig detailliert erläutert, wie er zu dem Ergebnis kam; die treue Seele hat alles mitgeschrieben, es füllt trotz Steno sieben Seiten. Falls es Sie interessiert, lassen Sie sichs von ihr übersetzen.“ „Da hatten Sie also doch den richtigen Riecher!“ rief Stefanie frappiert. Werl empfand die Wendung als unpassend, eine Prophezeiung zu würdigen, die schließlich nicht aus dem Kaffeesatz bezogen war. Er erkundigte sich: „Zweifelten Sie an meiner Kombinationsgabe oder an meinen physikalischen Kenntnissen?“ „Um ehrlich zu sein“, neckte ihn Stefanie, „an beidem. Aber, was ich nicht verstehe: Hätte man nicht Beweisstücke finden müssen, konkrete Anhaltspunkte … elektrische Leitungen, Drähte beispielsweise?“ „Falls der Täter eine Stromfalle gelegt hat“, erläuterte Werl, wobei er die Daumen unter der Jacke hinter den Hosenträgern verhakte, „muß man ihn im weitesten Sinn zu den Bastlern rechnen. Und die lassen zwar überall Material mitgehn, aber niemals welches zurück.“ Stefanie wollte eigentlich eine ernsthafte Auskunft. Sie war begierig, zu erfahren, wie er – ohne solche dinglichen 115
Indizien und ohne den Sektionsbefund – auf die richtige Fährte gelangt war. „Kein Indiz ist auch ein Indiz! Anzeichen von Gewaltanwendung gab es, von der Stirnverletzung abgesehen, nicht. Folglich mußte man eine weniger handgreifliche Ermordung in Betracht ziehen. Das von Kipfel beobachtete Verlöschen des Lichtes fällt in das für die Todeszeit ermittelte Intervall. Die einfachste Erklärung besteht darin, zwischen beiden Ereignissen einen kausalen Zusammenhang anzunehmen. So unterscheiden sich übrigens Kriminalisten von Krimiautoren: Wir suchen immer nach der einfachsten Deutung; der Krimiautor, gewiß auch sein Leser, reflektiert gerade auf die abwegigste, ja absonderlichste Lösung.“ Bisher hatte sie in der Richtung noch nichts verzapft, sie fühlte sich durchaus nicht angesprochen. „Der kausale Zusammenhang“, vergewisserte sie sich, „bestände also in einem elektrischen Kurzschluß, und der Zeitpunkt des Mordes wäre damit präzisiert auf wenige Minuten nach achtzehn Uhr?“ „Ganz recht. Der Anschlag auf die Lindthaler entsprang zwar aller Wahrscheinlichkeit nach keiner Kurzschlußhandlung, führte aber einen Kurzschluß herbei. Die Einwirkungszeit des Stromes war infolgedessen nur momentan. In der Badewanne reicht das aus.“ Hörte sich alles sehr überzeugend an, Stefanie hatte trotzdem ihre Bedenken. „Die Sicherung flog durch. Wie konnte Kipfel dann eine Stunde später das Licht wieder angehn sehen? Und auch Frau Wendelin fand ja die Leiche gerade auf Grund des Umstandes, daß die Beleuchtung brannte und einen Schimmer durch die Türritze warf!“ Werl ließ sich nur zu allgemeinen Betrachtungen bewegen. Hielt nichts vom Ins-Blaue-Spekulieren. Der Genosse Zürner, ein Experte auf dem Gebiet, hatte – auf Grund des gerichtsmedizinischen Befundes – die elektri116
sche Anlage am Tatort nochmals inspiziert. Gestern abend. Die Stromversorgung des oberen Stockwerks ist über einen im Flur befindlichen Kasten mit separatem Zähler verlegt. Wer die herausgesprungene AutomatikSicherung wieder eingeschaltet hat, ob es der Täter war oder eine andere Person, darüber könne man viele Mutmaßungen anstellen. Man besäße kein Kriterium dafür, welcher der Vorrang gebührt, welche den realen Vorgängen entspricht. Wahrscheinlich wurde der Stromkreis eine Stunde nach der Tat wieder geschlossen, als Kipfel meinte, Frau Lindthaler sei zurückgekehrt. „Glauben Sie denn im Ernst, daß sich der Mörder über eine Stunde lang am Tatort aufgehalten hat?“ „Ich würde mich nicht wundern“, parierte Werl, nicht ohne Besorgnis, „wenn er sich auch jetzt noch dort aufhält. Beziehungsweise eine Etage tiefer. Aber das muß sich noch herausstellen.“ „Dann käme nur Ilona Wendelin in Frage!“ „Wieso?“ „Kipfel sah eine Frau aus dem Haus rennen.“ „Ja. Aber leider wie durch Milchglas. Leider ohne Brille. Er schwört auf Frau Lindthaler. Warum? Warum gerade auf sie? Er irrt; sie befand sich zu dem Zeitpunkt bereits unter Wasser. Er irrt auch zum anderen: Ich gehe davon aus, daß Kipfel einen Mann sah. Vielleicht war es der Mörder … falls wir es mit einem Einzeltäter zu tun haben.“ „Wie kommen Sie auf einen Mann?“ wunderte sich Stefanie. „Der Unterschied zwischen der Lindthaler und jeder beliebigen anderen Frau wäre weit weniger gravierend.“ „Fräulein Thalmer“, Werl dämpfte die Stimme, beugte sich gegen sie vor, „da Sie am Tatort indisponiert waren und die Leiche nur aus größerer Entfernung und für Millisekunden in Augenschein nahmen, darf ich Ihnen meine Beobachtungen anvertrauen: Frau Lindthaler litt un117
ter Krampfadern! An ihren Beinen, ich konnte mich überzeugen, stellten sich die Blutgefäße als fingerstarkes Relief knotiger Stränge dar. Eine Freude für AnatomischInteressierte. Sie zog es trotzdem vor, Hosen zu tragen. In ihrem Kleiderschrank fanden sich fast ausschließlich Hosen. Von einigen langen Abendkleidern abgesehen. Kipfel glaubte gerade deshalb, weil er eine männliche Silhouette vor sich hatte, Frau Lindthaler zu erkennen!“ „Mußte der Mörder, wenn der Tod durch Elektrizität herbeigeführt wurde, überhaupt anwesend sein?“ „Natürlich nicht“, gestand Werl. „Er hätte die Türklinke unter Strom legen können, meinetwegen auch die Badewanne. Aber wir hätten dann die Stromfalle gefunden. Unser Mann ist viel raffinierter. Er hat sich das alles gründlich ausgetüftelt. Wir sollten an einen Unfall glauben. An natürliches Ertrinken … Aber Sie verleiten mich zu ungedeckten Voraussagen.“ „Das ist auch meine Absicht. Wenn Sie doch noch die Chance wahrnehmen wollen, als Urbild meines Kriminalkommissars zu fungieren, müssen Sie vor allem Farbe bekommen …“ Er faßte sich ins Gesicht. „Nein, ich meine nicht Höhensonne, Sie brauchen Konturen …“ Er streckte die Brust raus, legte, abgewinkelter Daumen, Hände an die Leibesfülle. Will ers nicht begreifen? Er muß aus wenigen Indizien und Aussagen der Verdächtigen durch bloßes Nachdenken und Kombinieren zur Lösung des Falls gelangen; auf rein logischem Weg; nur so entsteht – aller Wirklichkeit zuwider – der Anschein einer geordneten, überschaubaren, funktionierenden Welt, in der jeglichem Detail sein Sinn zukommt, in der jegliches Rätsel ausrechenbar, lösbar wird, mit Lohn und Strafe für Gute und Böse, wies Lieschen Müller haben will. Sie ist gegen diese Vereinfachungen, diesen Verstandeskult; aber ganz sicher geht es 118
nicht um weniger, sondern um mehr Verstand, um einen, der sich ständig selbst zum Gegenstand kritischen Nachdenkens macht … Werl – er hatte keinen Ehrgeiz zum Superman, auch nicht zum roteingefärbten, zum Idol gar von Leuten, die sich nicht Rechenschaft geben, welchen Kitzel sie befriedigen, den des verhinderten Kriminalisten, oder den des verhinderten Gegenspielers – Werl sagte: „Es sind noch einige Fakten. Durch die, wenn schon nicht ich, so doch unser Fall Farbe und Konturen erhält. Zum ersten: Die im Garten gefundene Karo-Kippe wurde von einer Person mit der Blutgruppe AB angeraucht. Das ist die seltenste Gruppe, der nur fünf Prozent der Bevölkerung angehören. Auf der Kippe und auf zwei der vor dem Grundstück gefundenen unversehrten Zigaretten sind identische Fingerabdrücke. Der Schuhabdruck zwischen den Stauden stammt von einem schiefgelaufenen Männerabsatz.“ Er sank, diese gewichtige, stabile Erscheinung, ein wenig in seiner eigenen Fülle zusammen, kündigte an: „Und nun die eigentliche Überraschung … Sie erinnern sich: Die Tote hat Blutgruppe B. Im Urin, aus dem Toilettenbecken, wurde B-Gruppensubstanz nachgewiesen. Ich nahm deshalb an, der Urin könnte von der Ermordeten stammen. – Diese Hypothese hat sich zerschlagen …“ „Und wie?“ Nach einigem Zögern: „Wenn man Untersuchungsergebnisse hau ruck aus den verschiedenen Institutsbereichen abverlangt, ohne daß eine federführende Hand die Aussagen gegeneinander abgewogen und in Beziehung gesetzt hat, können Pannen auftreten … Die Obduktion hat das Blasenleiden der Lindthaler bestätigt … Es hätte sich im Urin niederschlagen müssen …“ Er ging um etwas, wie die Katze um den heißen Brei, das war sonst nicht seine Art, diese ineinanderverfalteten Hände, unbewußt drehende Daumen. „Wissen Sie“, wich er aus, „wie Mord abgeurteilt wird?“ 119
„Ohne mildernde Umstände? – Ich dächte: Lebenslänglich?“ „Sie denken richtig. – Wir wissen nichts; aber es ist möglich, der Täter hat seinen Plan seit langem erwogen. Immer wieder aufgeschoben. Hinausgezögert. Vielleicht aus Furcht. Angst vor sich selbst … Vielleicht aus Gewissen. Er setzte sich einen neuen Termin … Und verschob wieder … – Oder es war ganz anders und geschah doch im Affekt. Ohne allzugroße Planung. In einer Stunde des Hasses. Möglich, es hatte schon öfter auf Messers Schneide gestanden, schon Dutzende Male … Und immer war er vor der letzten Konsequenz zurückgeschreckt, hatte sich in die Gewalt bekommen …“ Er schlug plötzlich mit der Faust auf, preßte heraus: „Warum nicht diesmal auch! Konnte er nicht noch ein halbes Jahr warten!“ Er sagte: „Sie wäre in ein paar Monaten gestorben …“ Er sagte: „Krebs.“ Stefanie streckte unwillkürlich die Hand vor, als wolle sie den Mann berühren, der da vor ihr saß, sie mit neuen Fakten fütterte, und von dem sie nun wieder wußte, daß er eigentlich Angst hat. Angst vor dem letzten Ergebnis seiner Ermittlungen, vor dem Ziel, auf das er hinarbeitet, vor dieser Feststellung: der ist der Mörder! Warum eigentlich? Woher diese Laschheit? Wenn Sie genauer hinsehen, offenbart sich am Ende jeden Falles eine tiefe menschliche Tragik … Schön und gut, aber trotzdem … Sie wäre in ein paar Monaten sowieso gestorben – den Täter würde das nicht entlasten; nicht strafrechtlich und nicht moralisch. Es erhöhte nur die Fatalität des Falles. Werl sagte: „Im Urin hätte okkultes Blut nachgewiesen werden müssen. Ist aber nicht.“ Brandenburg, der nun mit seiner bernsteinfarbenen Theorie recht behalten könnte – ein Täter, dem die Blase drückte –, trat ein und erkundigte sich: „Wer fährt zu dieser Gerhardi?“ 120
Werl erwachte aus seiner Lethargie, gab sich einen Ruck. „Sie.“ „Also nehmen Sie sich Hottenbach vor?“ „So ist es. – Noch was?“ „Ja … Fräulein Thalmer …“ „Wird zur Zeit von mir aufgeklärt.“ „Über den neusten Stand“, verdeutlichte Stefanie. „Nicht, was Sie denken.“ „Ich meinte, Genosse Hauptmann: Bleibt Fräulein Thalmer bei Ihnen, oder fährt sie mit mir?“ Werl stürzte sich in die Komik der Situation, besinnungslos, röhrte: „Was fragen Sie mich? Das ist einzig und allein eine Entscheidung der Betroffenen selbst! Falls sie sich für Antiquitäten interessiert und mit mir in Ruhe essen gehen will, bleibt sie hier; zieht sie es vor, sich Ihren zweifelhaften Fahrkünsten anzuvertrauen und der langatmigen Vernehmung einer altjüngferlichen Kaffeekränzchendame beizuwohnen, wird sie in fünf Minuten startklar sein …“ Er weidete sich an Brandenburgs Verlegenheit. Das würde noch eine Weile so weitergehn, sie oder die Sekretärin wären die nächsten, die für Belustigung herhalten müßten, bis jeder Gedanke an diese Minute eben, an diesen inneren Zwiespalt, zerwitzelt wäre. Sie entschied. Aber so rum, hatte Werl nicht erwartet. Und er hatte sie faktisch zum Essen eingeladen. Überspielte sofort seine Betroffenheit, ulkte: „Sie ziehn also den Genossen Unterleutnant vor. Na ja, ich wußte ja, daß ich aus dem Alter raus bin, in dem man Frauenherzen fesselt …“ Stefanie korrigierte: „Sie sind zu jung! Ich gebe Frau Gerhardi den Vorzug.“
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14 Senno, der saloppe, gutgewachsene, semmelblonde, mit den großflächigen Ickerchen – er trug diesmal ein schottisch gemustertes Sportsakko, gut sitzende Maßhose, und zwei Gedichte in der Brieftasche – war mit sich und der Welt zufrieden. Schwang sich hinter den Volant, in den bequemen Wartburg-Sitz; eine Dichterin an seiner Seite. Eine hübsche. „Das ist auch ein Vorteil der MUK: Man darf bei jeder Gelegenheit Dienstwagen benutzen. Immer in Eile. Die sonstigen Abteilungen der K werden kürzer gehalten. Wegen Treibstoffsparens. Da heißt es auch mal, zu Fuß oder öffentliche Verkehrsmittel benutzen …“ Er bot den Zündschlüssel: „Oder möchten Sie fahren?“ „Wenn Sie sich nach einigen gemeinsamen Wochen auf der Intensiv-Station sehnen …“ Brandenburg hob die Brauen; na ja, als Frau muß man das nicht können. Zumal, da sie keinen Wagen hat. Er selbst ist auf Trabant angemeldet. In einem Jahr winkt das Glück. „Und wozu brauchen Sie die Kiste?“ Um wenigstens am Wochenende rauszukommen …, Sonnabend und Sonntag, raus aus der Stadt, aus dem Automief. „Zeigen Sie her.“ „Was?“ „Die Gedichte.“ Er schnallte sich wieder ab, stellte den Motor aus. Wühlte in der Jackentasche, Lederhülle, nestelte zwei Zettelchen hervor; entfaltete; strich glatt; überreichte. Atemberaubende Erwartung. „Sie können deshalb ruhig fahren.“ Die Einsamkeit eines Schmetterlings. Pfauenauge. Der Sommer ist fern. 122
Müdes Flattern über dem See. In freien Rhythmen. Keine Sonne, kein Stern. Grauer Himmel. Liebesweh. „Bitte – sehn Sie nicht auf mich, achten Sie auf den Verkehr!“ Käferschicksal. Ach, die Käferin hat ihn verlassen. Gehörnter Laufkäfer, schlank, metallisch glänzend, sucht nach großer Enttäuschung liebevolle Zuwendung einer weiblichen Marienkäferin, Zweipunkt angenehm. Interesse für Schädlingsvertilgen, grünes Gras und alles, was schön ist. „Und Sie dachten an eine Veröffentlichung?“ Nur, wenn Form und Inhalt bereits höheren Ansprüchen genügen. Seiner Ansicht nach sind es zu viele Strophen. Er betrachtete das auch von jeher nur als Hobby. Die Tiere sind übrigens symbolisch. Ob sie denn eine bestimmte Möglichkeit im Auge hat? „Ich könnte es mir vorstellen in einer … beispielsweise in einer Fachzeitschrift für Insektenkunde.“ Zu bestimmten Frauen findet man nur schwer Zugang. Wie ers bei ihr auch anfängt, es geht immer daneben. Irgendwie muß er ihr aber imponieren. Er kann nicht anders. Vielleicht geht er mal von sich ab. Sucht eine Annäherung in gemeinsamen Ansichten über andere? „Hatte der Alte immer noch seinen Moralischen?“ Stefanie horchte auf. „Ist Ihnen das auch aufgefallen?“ „Als mich die Genossin Zeisig von dem Anruf aus der Gerichtsmedizin unterrichtete, die Blasengeschichte der Lindthaler, wußte ich, was auf uns zukommt. Die Ermordete wäre sowieso gestorben … Man kann sagen, was man will: Es ist wie der Prolog zu einem tragischen Schauspiel … Ich meine …“ Er suchte nach den richti123
gen Worten. „Werl ist für so was sensibel. Derartige Omina – heißt doch so, das Omen, die Omina? – rufen bei ihm schlimme Vorahnungen wach. Für meine Begriffe ist das fast krankhaft. Und dieses Es-sich-nicht-Eingestehen. Er sollte mal zum Psychiater.“ „Was gesteht er sich nicht ein?“ „Daß ihm bange ist. Vor dem Ermittlungsergebnis. Vor dem Schlußbild.“ „Ein gewisses Unbehagen gesteht er sich ein. Aber ich begreife es nicht.“ „Ach, hören Sie auf! Ein gewisses Unbehagen gesteht er sich ein … Er wäre doch untauglich für seinen Beruf! Er müßte das Handtuch werfen! Glauben Sie mir, er verdrängt alles. Bewußt und unbewußt. – Der arme Mörder! Die böse Gesellschaft! Wir sind mitschuldig. – Alles solche Theorien. Ausreden. Den tieferen Grund seiner Anwandlungen gibt er nicht zu.“ „Aber Sie wissen ihn?“ „Ich bin zwar ein lyrischer Dilettant; aber was Psychologie betrifft …“ Jetzt redet er doch wieder von sich! Sagte schlicht: „Ja.“ „Na los. Erzählen Sie!“ Mühlenstraße; rechts, weiße hohe Mauer, Stralauer Allee, und Brandenburg eröffnete: „Sein Sohn ist mit siebzehn verunglückt. Mit dem Motorrad. Tödlich … Der LKW-Fahrer stand unter Alkohol … Im selben Jahr rätselten unsere Experten über dem Mordfall Poetter. – Schon mal was von gehört? Also Poetter, Montagearbeiter, Anfang fünfzig, war in der Dübener Heide, an der Autobahn, bei Dessau tot aufgefunden worden. Mit Messerstichen in der Brust. Ein Kollege, auch aus Berlin, mit dem er Streit wegen einer Frauengeschichte hatte und am Tatabend in Dessau in einer Kneipe gewesen war, geriet unter Mordverdacht. Die Sache schien klar, man konzentrierte sich ganz auf 124
diesen einen Mann. Das lief so über Wochen, dann brach die Theorie zusammen. Der Verdächtige mußte freigelassen werden. Die Ermittlungen schleppten sich noch hin; aber ohne Erfolgsaussicht …“ „Nun schildern Sie mir doch nicht die ganze Akte!“ „Die wäre auch schon geschlossen worden, hätte Werl sie nicht aus eigenen Stücken an sich gezogen. Er rollte alles wieder von vorn auf. Und da stieß er plötzlich auf folgenden Fakt: Poetter hatte vierzehn Jahre vorher in Altenburg vor Gericht gestanden. War damals Kraftfahrer gewesen und in der Dämmerung mit dem Kipper in eine Radlerfamilie gerast. Ein Kind gegen den Chausseestein geschleudert, tot, die Frau auf dem Transport ins Krankenhaus verstorben; der Mann blieb unverletzt. Poetter beging Fahrerflucht; aber es konnte ihm nicht bewiesen werden. Er kam damit durch, nichts bemerkt zu haben. Erst im Betrieb hätte er sich über die Schrammen am vorderen Kotflügel gewundert. Die Verhandlung ging also aus wie das Hornberger Schießen. Und nun, fünfzehn Jahre später, trifft der überlebende ehemalige Familienvater, Gärtner hieß er – Sie wissen ja, der Gärtner ist immer der Mörder – inzwischen in Dessau wohnhaft, in jener Kneipe auf Poetter. Beide erkannten sich nicht, bis bei Gärtner der Groschen fiel. Er hatte den auf Gericht lange genug vor Augen gehabt, während der sich auf Sachverständige, Richter, Rechtsanwalt, Schöffen konzentrieren mußte …“ „Mein Gott, nun fassen Sie sich doch kurz!“ „Bin schon fast fertig. Poetter war angetrunken. An diesem Abend, an dem er ermordet wurde; aber auch an jenem zurückliegenden, nicht minder verhängnisvollen, und das kriegte Gärtner aus ihm raus. Sie redeten nicht über den konkreten Fall; aber Poetter ließ bestimmte Äußerungen fallen. – Am Lenkrad mußte eiskalt reagieren/wenn dir jemand vor die Räder läuft, eh du dich vielleicht selbst überschlägst, draufhalten/das gibt nur ’n 125
Ruck, als klatscht dir ’n Hase gegen den Kühler/und dann Vollgas/kommste mit durch, kannste mir glauben … Und in dem Stil; Gärtner kitzelte alles aus ihm raus: den Suff, die Fahrerflucht, die brutale Reuelosigkeit. Lotste ihn mit in seine Wohnung … nachts fuhr er die Leiche raus in die Dübener Heide. Machte dann, paar Tage später einen Selbstmordversuch, lag wochenlang im Krankenhaus; niemand kannte die Hintergründe. Bis Werl kam. Meine Liebe, ich hab mich mit Leutnant Sühring unterhalten, der damals dabei war. Nach der entscheidenden Vernehmung, nach dem Geständnis war Gärtner ganz ruhig. Ganz gefaßt. Aber Werl … Werl mußte man stützen beim Rausgehn. Gewissermaßen. – Seitdem ist das. Seitdem hat er was weg. Er sah in Gärtner sich selbst. Er wittert in jedem Mörder einen neuen Gärtner, fürchtet, daß sich Ähnliches herausstellen könnte. Und in jedem Jugendlichen … sucht er seinen Sohn.“ Sie stoppten nicht zufällig diesen Moment vor Frau Gerhardis Wohnung, war erst Treptow, links der Park, und hatten Zeit, zu schweigen. Es ging nicht. Sie würde Werl jener Frau Ändering niemals akzeptabel machen. Auch keinen Schmerl. Auch keinen Magdeburg alias Brandenburg. Der Hauptmann und der blonde Senno, die bildeten keine Ermittlermannschaft. Dachten unterschiedlich, schwer einfühlbar; woran soll sich ein Leser da halten. Grenzübergang Sonnenallee; Frau Gerhardi logierte im Eckhaus, eine Treppe. Öffnete, struppige, ausgekämmte Dauerwelle, verschlissener Morgenrock. Kriminalpolizei? Ach Gott, hätt ich das gewußt, bitte, treten Sie ein, entschuldigen Sie die Unordnung, sehn Sie sich bloß nicht um, sehn Sie bloß nich auf die Schränke, ich bin ja noch nicht zum Abstauben gekommen … Der Korridor atmete den harzigen Duft von Wisch126
wachs und Möbelpolitur. Eichene, kunstgeschnitzte Flurgarderobe mit Kleiderbürste (waagerecht) und Gehstock (senkrecht), alles picobello; an der Wand: obere Reihe: Ich hab mein Herz in Heidelberg verloren, Gruß vom Kyffhäuser, Riesengebirge – deutsches Gebirge; untere Reihe: Hinter einem Rosengitter/ liegt ein Herz, das weint so bitter./Heb es auf! Zerbrich es nicht!/Denn es heißt Vergiß-mein-nicht. Der Rheinfall bei Schaffhausen. Immer wenn du denkst, es geht nicht mehr,/ kommt mit einem Mal von irgendwo ein Lichtstrahl her. Lucinde Gerhardis schiefgetretene Pantoffeln schlurrten über propere Dielen, deren Schwingungen eine Division akkurat ausgerichteter Nippes hinter dem blanken Glas der Kredenz in leises Klirren versetzten. Sie wies auf den weißen Schonbezug der Ottomane, von drei sittsamen Kissenmonstern bereits hinlänglich besetzt, zwischen deren haargleichgroße Lücken sich Brandenburg und Stefanie zwängten. „Ach … hätten Sie sich doch vorher angesagt! Ich hätte doch wenigstens gründlich gemacht … Schauen Sie bloß nicht in die Ecken; es ist mir so peinlich …“ Sie setzte sich in den ächzenden Lehnsessel; das aus den Knöpfen gehende Negligé gab den Blick auf schlappige Strümpfe frei, die beidseits der abgerissenen Bordüre in Falten hingen. „Frau Gerhardi“, beruhigte Brandenburg, „wir sind nicht gekommen, um Ihnen ein hausfrauliches Testat auszustellen.“ „Ich weiß. Ich weiß schon alles.“ Sie legte die Handflächen bannend vor herausrutschenden Hemdträgern zusammen. „Ich hab gestern bei Meta angerufen. Es meldete sich niemand. Den ganzen Vormittag nicht. Da wählte ich die Nummer dieser Leute von unten. Ich weiß schon alles. Es ist für mich ganz … ganz unfaßbar!“ „Weshalb riefen Sie an?“ „Aus keinem besonderen Grund … Aber als hätte ich so was geahnt!“ 127
„Grundlos – und trotzdem versuchten Sie es immer wieder? Und fragten schließlich sogar bei Wendelins nach?“ „Hören Sie, angesichts des furchtbaren Geschehens klingts im nachhinein vielleicht albern; aber ich war neugierig.“ Sie knuppelte an abblätternden Nagellackresten. „Ob mein Ariel angekommen ist. Mir is die Clementine so sympathisch, und ich wollte es so gern ausprobieren …“ „Wer ist Clementine?“ Spuren zerbröckelter, verriebener Wimperntusche und Kummer über das Schicksal ihrer Kaffeekränzchenfreundin in den Falten, verzog sich Frau Gerhardis Antlitz befremdet. „Ach richtig, Sie werden sie nicht kennen. Das is die Frau, die immer das Ariel bringt.“ „Und die hatte sich bei Frau Lindthaler angesagt?“ „Aber nein doch! Sie bringt es im Fernsehn. Herr Moritz hatte sich angesagt; ich weiß nun gar nicht, ob er da war.“ Rubbelte mit dem Ärmel über einen polierten Holzknopf der Sessellehne: „Womöglich steht jetzt mein Ariel in Metas Wohnung und niemand …“ Brandenburg traute seinen Ohren nicht. „Sagten Sie eben, Frau Lindthaler erwartete ihren Sohn?“ „… und niemand glaubt mir, daß ers für mich mitgebracht hat. Aber ich versichre Ihnen …“ „Antworten Sie auf meine Fragen“, rief Brandenburg ungeduldig. „Erwartete Frau Lindthaler am Tattag ihren Sohn? Aus der BRD?“ „Ja; und ich schwöre Ihnen, daß er mir das Ariel versprochen hat, als nachträgliches Geburtstagsgeschenk; Meta bekommt von ihm so oft Waschmittel, obgleich er selten gut bei Kasse is. Da kann sie mir doch die Kleinigkeit gönnen. Und sie kann nich abstreiten, daß es für mich ist; er hat es in meinem Beisein versprochen!“ Stefanie warf ein: „Frau Lindthaler streitet nichts mehr ab. Frau Gerhardi.“ „Ich meine auch nur“, verdeutlichte die Befragte, „weil 128
ich die Wäsche nur sauber, aber nie rein bekomme. Nicht porentief rein. Trotz Einweichens.“ „Und Sie wissen nicht, ob der Besuch erfolgte?“ stieß Brandenburg in das Wäschewaschgeschwafel. „Woher denn?“ Frau Gerhardi besann sich: „Er war nich da; sonst hätte ja das Schreckliche nicht geschehen können. – Oh, wie oft hab ich gewarnt: Meta verkaufe nicht! Verkauf das Haus nicht an diese Leute! Das ist schmutzigstes Pack. Du holst dir den Tod ins Haus …“ „Wir haben keinen Brief Moritz Lindthalers gefunden, der eine Stippvisite ankündigte. Woher ist Ihnen also seine Absicht bekannt?“ „Er rief Meta an. Übrigens ließ er mir Geburtstagsgrüße übermitteln, und ausrichten, daß er das Versprochene mitbrächte! Er wollte nach Westberlin und bei der Gelegenheit …“ Sie erkundigte sich angelegentlich: „Waren Sie in Metas Wohnung? Haben Sie dort nich zufällig eine runde Henkelpackung …“ „Nein“, erklärte Brandenburg lakonisch. „Wieso auch? Sie bezweifeln ja selbst, daß er in Wilhelmshagen war.“ Hinter der Rentnerin, zwischen einem Spuk paradierender Brockenhexen, Schlümpfe, Wichtelmänner und Mickimäuse, auf der Konsole eines Wandregals hielten sich drei kunstgewerbliche Äffchen Augen, beziehungsweise Mund, beziehungsweise Ohren zu. „Behaupten kann ich nichts. – Natürlich versuchte ich, nachdem ich die unfaßbare Nachricht erhalten hatte, Herrn Moritz telefonisch zu informieren. Fünfmal hab ich inzwischen Koblenz angemeldet. Aber es geht niemand an den Apparat … Ob er längere Zeit in Westberlin zu tun hat? Jedenfalls is ein Telegramm abgeschickt.“ Brandenburg stellte eine Reihe Fragen, alle Moritz Lindthaler betreffend; allein Frau Gerhardi, indem sie sich durch die Haare fuhr, eine offene Stelle am Hals kratzte, konnte nichts eigentlich Neues sagen. Vor allem war sogar ihr nicht bekannt, welcher Tätigkeit Moritz 129
Lindthaler in der BRD und in Westberlin nachgehen würde. Sie raffte das Negligé zusammen, schlug die Beine übereinander. Setzte sich zurück. Setzte sich vor. Wippte auf dem Polster, erhob sich: „Sie müssen mich einen Moment entschuldigen … Dieser Aufzug … Ich bin ja auf Ihren Besuch völlig unvorbereitet …“ Stefanie deutete auf eine der Kunst der Mayas nachempfundene Keramik, streckte zwei schwarzgetönten Gipsmasken aus Afrika bei Leipzig die Zunge raus, stöhnte: „Diese Wohnung ist wie ein Alptraum.“ „Die Bewohnerin nicht minder“, pflichtete Brandenburg bei. Draußen bullerte die Spülung. Frau Gerhardi hatte sich zurechtgemacht. Erschien ganz verändert: Kurzhaarperücke, dunkler Hosenanzug; runde Gläser einer Modebrille vergrößerten ihre Tränensäcke zu Beulen. Die Beläge ihrer Zahnprothese warben um ein Gegenlächeln, sie versicherte: „Sonst ist bei mir immer staubgesaugt …“ Hob ein Fädchen von der Auslegware; ihre aufgesprungenen Lippen baten: „Sehn Sie bloß nich unter den Tisch!“ „In welchem Verhältnis standen Sie eigentlich zu der Ermordeten?“ nahm Brandenburg den ihn interessierenden Faden auf. „Meta und ich“, erläuterte Frau Gerhardi, „besuchten seinerzeit gemeinsam das Lyzeum; ich nur bis Untersekunda. Meine Eltern fanden sich durch die Inflation plötzlich völlig mittellos, und ich rechnete es den Lindthalers hoch an, daß sie mich meine wesentlich bescheideneren Verhältnisse nie spüren ließen. Allerdings waren die Beziehungen auch nur sehr locker; die innigere Freundschaft begann erst Anfang der fünfziger Jahre. Meta führte damals einen Romménachmittag ein, zu dem außer mir noch eine Frau Rachfahl gehörte … Ich weiß nich, ob Ihnen der Name ein Begriff ist?“ Rachfahls besaßen früher zwei gut gehende Fleischer130
läden in Weißensee und Lichtenberg, aber weder Brandenburg noch Stefanie verbanden damit eine weitergehende Vorstellung, was damit zusammenhängen mußte, daß der Fleischermeister 1961, im letzten Moment, mehrere Schweinehälften nebst Ehefrau im Stich gelassen hatte. Letztere – verbreitete die Gerhardi, indessen sie Haarschuppen von der Schulter tupfte – war über dem Hackklotz und Treuebruch verblichen (Schlaganfall). Man habe dann, als Ersatz, Erika, Metas quasi Hausangestellte, hinzugezogen, was zwei Nachteile zeitigte: „Erstens konnten wir nicht mehr wie gewohnt um Geld spielen, was der Sache ihren Reiz zu nehmen drohte. Wir einigten uns dahingehend, daß Meta für Erikas eventuelle Spielschulden aufkam. Beziehungsweise verwendeten wir auch einen Teil des Kassenbestandes dafür, der Frau zu besonderen Anlässen, beispielsweise Weihnachten, etwas Praktisches zukommen zu lassen … Meta war auch immer sehr sozial denkend.“ „Sie sprachen von zwei Nachteilen“, brachte Stefanie wieder in Erinnerung. Lucinde Gerhardi, verlegen, zupfte an ausfasernder Nagelhaut; nun ja, ohne sich überheben zu wollen; aber man war eben doch nicht mehr so recht unter sich. „Wir pflegten ja nicht nur das Spiel, sondern auch eine gewisse – nun, wie soll ich sagen? – geistige Geselligkeit! Und die ließ sich nich wiederbeleben. Die Frau hat doch keinerlei Bildung und ganz andere Interessen …“ „Erstaunlicherweise“, stellte Brandenburg ihr vor, „fanden wir bei Frau Lindthaler weder eine Kasse noch Unterlagen über Bestand und Verwendung des Spielgeldes. Gibt es dafür eine Erklärung?“ „Wahrscheinlich“, vermutete die Gerhardi, rutschte im Sessel, schlug die Beine übereinander, „war der Bestand auf Null. Meta finanzierte von den Einzahlungen auch Kaffee und Kuchen. Ich vertraute ihr vollkommen. Die 131
Summen waren doch geringfügig …“ Sie stand auf, entschuldigte sich für einen Moment. „Glauben Sie“, tuschelte Stefanie, „daß ein paar Mark Spielschulden oder ein Kübelchen Westwaschmittel als Mordmotiv in Frage kommen?“ Brandenburg, in das Rauschen der Toilettenspülung: „Auf keinen Fall. Obgleich mitunter Leute wegen noch zweifelhafterer Reichtümer umgebracht werden. Ich will auf alle Fälle nach einem Alibi forschen.“ Er setzte eine wichtige Miene auf. Frau Gerhardi glich nun wirklich schon fast einer Dame, und allmählich konnte man es glauben, daß sie im Hause Lindthaler verkehrt hatte. Ihre an mehreren Stellen schorfigen Wangen waren von faltenverbrämendem Puder bestäubt, ein wenig Lippenröte aufgelegt; Parfüm verdrängte die Terpentinausdünstungen polierten Möbelholzes. „Das ganze Jahr ist bei mir aufgeräumt und ordentlich“, machte sie glaubhaft, „da kommt niemand. Aber kaum is man mal nicht auf dem laufenden …“ Ihre Bekümmerung galt auch den Gewichtszapfen der Kuckucksuhr, die, wie Türklinke und Messingfuß einer Tischlampe, Anwesenheit von Sidol im Haushalt signalisierten. „Sehn Sie bloß nich so genau hin …“ „Wo waren Sie vorgestern abend? Gegen achtzehn Uhr?“ Mit einer derart direkten Frage hat sie eigentlich nicht gerechnet. Man verdächtigt sie wohl gar, ihre eigene Busenfreundin ertränkt zu haben … das ist doch ungeheuerlich! Ließ sich entnervt in das Polster fallen: „Bitte, wenn Sie Wert darauf legen …“ Sie gibt über jede Minute Rechenschaft! Gegen achtzehn Uhr? … Zu Hause war sie. Hier, in ihrer Wohnung. Aber da man sich sicher auch in der Nachbarschaft erkundigt, will sie nur gleich alles bekennen: Jawohl, sie hatte vor, am Abend nach Wilhelmshagen zu fahren. Kam auch bis SBahnhof Baumschulenweg, wo sie dieses Ehepaar Ha132
senpflug, eine Treppe höher, ansprach, Sie wollte aber nicht wegen des Ariels zu Meta, sondern lediglich, um sich Medikamente auszuleihen; ihr Hausarzt hier ist nämlich selbst krank. Auf dem Bahnhof nahmen aber die Beschwerden zu, und sie fand keine andere Möglichkeit, als eilends umzukehren. „Später, gegen zweiundzwanzig Uhr, klingelte Herr Hasenpflug, sehn Sie, das fällt mir jetzt wieder ein, und beschwerte sich, weil meine Wasserspülung Geräusche machte; er hat es dann selbst repariert. Sie können ihn befragen. Ich stand nur im Morgenmantel, wie vorhin bei Ihnen … Genauso überrascht – in diesem Aufzug werd ich wohl nicht außer Haus gewesen sein!“ Brandenburg wollte das richtigstellen, versicherte: „Wir verdächtigen Sie durchaus nicht. In einem Mordfall ist die Überprüfung der Abwesenheitsnachweise reine Routine. Aber vielleicht hegen Sie einen Verdacht? Sie erwähnten vorhin die Familie Wendelin … Mit recht unzweideutigen Worten …“ „Allerdings. Ich kann natürlich nichts beweisen; aber für mich steht fest, daß diese Leute, und nur diese Leute Meta auf dem Gewissen haben!“ Sie ereiferte sich, stieß ein girrendes Lachen aus: „Besser konnten sich ja die Verhältnisse für diesen gerissenen Kerl nicht gestalten! Ihr lebenslanges Wohnrecht einräumen – hat sich ja jetzt auf natürlichste Weise erledigt! Sieht man davon ab, daß es nich natürlich zuging. Nun darf er noch rücksichtsloser schalten und walten! Nun mag er alles niederreißen, niemand wird mehr Protest erheben. Nun sieht ihm niemand mehr auf die Finger. Denn das wird Ihnen ja bekannt sein, daß er mit Autoersatzteilen schiebt! Meta hat es mir gegenüber wiederholt angedeutet. Oh, ich hab dort Auftritte erlebt – es war schlimmer, als in der Anfangszeit mit Rudolphs – das sin die Leute, die vorher parterre wohnten. Meta hatte mit der Einquartierung von jeher Unglück. Wie oft ist sie zur Verwaltung, zum 133
Rathaus gelaufen, hat versucht, die Erfassung der unteren Etage rückgängig zu machen.“ Sie nickte vorwurfsvoll. „Ja, auch die Behörde trägt an dem Mord ihr gerüttelt Maß Schuld!“ Brandenburg fühlte sich nicht berufen, als Verteidiger notwendiger Wohnraumlenkungsmaßnahmen aufzutreten, er fragte: „Es gab also auch Streit mit der Familie Rudolph?“ „Und nicht zu dünn gesät. Das ging bis zu Handgreiflichkeiten! – Ich denke nur an Metas fünfunddreißigsten Geburtstag … Es muß zwei Jahre nach Kriegsende gewesen sein. Ich werde den Zusammenstoß nie vergessen!“ „Sie machen uns ordentlich neugierig“, gestand Stefanie. „Packen Sie doch mal aus!“ Frau Gerhardi ließ sich erst noch von Brandenburg zusetzen; es ist schließlich alles schon sehr lange her, sie kann nur hoffen, daß sie da nichts verwechselt …
15 „Grüß Sie Gott, gnä Frau“, führte der grauhaarige Sanitätsrat Leidinger die graziös dargebotene Hand gegen seinen ehrwürdigen Virchow-Bart, komplimentierte: „Ja meiner Seel: reizend schaun S’ aus, ganz superb!“ Meta lachte, faßte den schon ein wenig gebrechlichen Herrn unter: „Schlank wollten Sie sagen, Doktor, und gedacht haben Sie: abgemagert; Sie sind ein Schmeichler! Aber kommen Sie, ich stell Sie den Gästen vor – sind Ihnen Rachfahls schon bekannt?“ Abseits vom allgemeinen Gelärm, am Tarocktisch, im Schein einer rußenden, die Stromsperre überbrückenden Stearinkerze, rief die Baurätin – ihre Hornbrille hatte einen der letzten Bombenangriffe nicht überstanden –, den sechzehnjährigen Moritz durch das Lorgnon betrach134
tend, aus: „Wie groß du geworden bist, Kind! Ein richtiger junger Mann!“ Leise, sich der Abwesenheit der Gastgeberin versichernd (an offene Wunden soll man nicht rühren): „Und deinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten …“ „Herr Fleischermeister Rachfahl“, sagte Meta, „Herr Sanitätsrat Leidinger.“ – „Angenehm“, knurrte Rachfahl. – „Habe die Ehre“, sagte Leidinger. Und im Weitergehen zu Meta gewandt: „Da haben S’ also einen Selcher in die Bekanntschaft aufg’nommen. Das laßt, wenn ichs sagen möcht, auf ein opulentes Nachtmahl hoffen …“ Fräulein Gerhardi, an die Fleischersfrau gewandt, erläuterte: „Den dreißigsten Geburtstag feierten wir noch unten, im großen Salon, es war ein rauschendes Fest! Ich hatte einen überaus galanten Leutnant aus der Leibstandarte zum Tischherrn. Wir schrieben uns danach … Ja, wir haben alle viel verloren!“ Frau Rachfahl, die dem nicht zustimmen konnte, ihre Zimmer hatten noch nie so dicke Teppiche, ihre Schränke noch nie so erlesenes Porzellan gesehen, nickte doch, um sich dem allgemeinen Empfinden anzupassen. „Und das ist Frau Lehnert“, stellte Meta vor, „wenn Sie so wollen, lieber Doktor, eine Schicksalsgefährtin. Sie hat Schweres durchgemacht, sie wohnt jetzt bei mir. Aber im Gegensatz zu den Leuten, die man mir Parterre ins Haus … Moritz!“ rief sie zu dem jungen Volk hinüber, „stellt doch das Grammophon leiser!“ Unten klopfte man gegen die Decke. Die Baurätin nickte Lucinde Gerhardi zu, lud huldvoll ein, neben ihr, am Tarocktisch Platz zu nehmen, fragte, indem sie die Armreifen zurückstreifte: „War Ihr Vater nicht eine Zeitlang in Steuersachen tätig? … Aber jetzt entsinne ich mich, Sie fungierten zu Metas Hochzeit als Brautjungfer … Auf dem Bild, vor dem Standesamt halten Sie Moritz fest, er wollte sich nicht von seiner Mutter an 135
die Hand nehmen lassen.“ Ihr Ohr gegen die schon fast verblühte Jungfer vorschiebend: „Wie kommen Sie denn nun mit der Lebensmittelkarte aus, liebes Kind? Es heißt ja, Abschnitt D wird nächste Woche aufgerufen …“ Oberlehrer Steinbrück und Notar Weydemann, beide Herren standen gegen das Fenster hin, politisierten, und Steinbrück behauptete: „Es gibt keinen dauerhaften Frieden ohne Weltherrschaft. Deutschland hat sie nicht errungen, aber es gibt keine Weltherrschaft ohne Deutschland. Will sagen: Die beiden großen Mächte, die aus diesem Krieg hervorgegangen sind, werden so lange in einem Patt verharren, wie es nicht einer von ihnen gelingt, das ganze Deutschland in ihre Einflußsphäre zu ziehen.“ – „Dazu wären nach Lage der Dinge nur die Staaten prädestiniert.“ – „Wenn wir uns da mal nicht täuschen! Darf ich Ihnen von meinem Tabak anbieten? Eigene Ernte …“ Der Oberlehrer entriegelte vorsorglich beide Fensterflügel. Meta, neben dem Bechstein, das gelbe Chiffonkleid brachte ihre Figur trefflich zur Geltung, schlug mehrmals das A der Subkontraoktave an, rief: „Ich bitte jetzt zum Souper; aber wir müssen über den Flur!“ Der Fleischgeruch und das unverhofft aufflammende elektrische Licht lösten beträchtlichen Wirbel aus; die Baurätin verlor in der Eile des Aufbruchs auf der Etage ihren Stock, den Doktor Leidinger so unglücklich vor die Füße bekam, daß er ihn durch das Geländer nach unten schleuderte, und Notar Weydemann brüllte: „Na, dann alle ran an die Futtertröge!“ Frau Rudolph, immer migränisiert, immer ausgehungert, um Haaresbreite von der niederkrachenden Krücke erschlagen, kreischte nach oben: „Sehen Sie gefälligst zu, daß das Haus nich einstürzt, wenn Sie Ihre Freßorgien feiern!“ „Es ist ja wohl nicht Ihr Besitz“, schrie Meta zurück. Moritz, rüpelhaft wie immer, beugte sich über das Gelän136
der, zeigte, ungeachtet seiner fortgeschrittenen Jugend, der Einquartierung einen Vogel. „Das tut man aber nicht, gegenüber Erwachsenen“, brachte die Baurätin überholtes Reglement in Erinnerung; aber die nicht auf den Mund gefallene Frau Rachfahl rief: „Gegenüber solchem Gesocks schon!“ An der Tafel hatte Meta die Baurätin zur Rechten und den Sanitätsrat zur Linken, Fleischermeister Rachfahl und Frau Weydemann, Oberlehrer Steinbrück und Lucinde Gerhardi, der Notar und die Fleischersgattin; Moritz, der schon als Kind, wie die Baurätin für sich bemerkte, nie in der Nähe seiner Mutter sitzen wollte, hatte sich zwischen die Weydemannschen Söhne plaziert; Frau Lehnert, hinter der dampfenden Kartoffelschüssel am Ende der Tafel wurde von der geradezu jugendlich anmutigen Jubilarin gebeten: „Wenn Sie doch bitte die Schüsseln übernehmen wollen, Erika.“ Steinbrück vermochte nicht, seine Bewunderung zu verbergen; Metas fabelhafte Erscheinung, ihre souveräne, distinguierte, bei all dem immer fraulich gewinnende Art zeitigte auch bei anderen Wirkung. Er machte seine ein wenig unscheinbare Tischdame aufmerksam: „Beobachten Sie nur mal unseren sonst so hinfälligen Sanitätsrat! Wie er alle Register seines Wiener Charmes zieht … Der Ausstrahlung dieser Frau kann sich niemand entziehen. Wirklich faszinierend. Freilich müßte man gewärtigen, das Schicksal der Freier der Penelope zu teilen …“ – „Aber das Tischtuch ist fleckig, haben Sie nicht bemerkt?“ versetzte Fräulein Gerhardi; nur bis Untersekunda gekommen, hatte sie die Anspielung nicht verstanden. „Für Haushalt hat Meta kaum Talent, alles Gute ist eben nie beisammen“, in ihren Augen glomm jäher Neid. Der Oberlehrer stimmte verhalten zu. Unter lautem Ah und Oh, das nur die Rachfahls nicht teilten, legte Erika Lehnen die hauchdünnen Braten137
scheiben auf, und Sanitätsrat Leidinger bat: „Aber auch ein bissel Fettes, Mädel; sonst ists halt fad.“ Frau Baurätins Blick ruhte mit Wohlgefallen auf der bescheidenen, hilfsbereiten Mansardenbewohnerin, und sie flüsterte Meta zu: „Es ist doch herzerfrischend, liebe Meta, zu sehen, wie es auch noch anständige einfache Menschen gibt, die wissen, wo ihr Platz ist.“ „Und dies um so mehr“, ergänzte die Gastgeberin, „als ich unter den Leuten parterre ganz unaussprechlich zu leiden habe. Stellen Sie sich vor, die Frau hat neulich Morddrohungen ausgestoßen!“ Sie lachte. „Weil ich angeblich auf ihren Mann spekuliere, ist das nicht kurios?“ Nach dem Dessert – es gab nicht die von Doktor Leidinger erhofften Zuckerln, sondern marinierten Kürbis – zog man sich neuerlich – über den Flur – in das Clubzimmer zurück, wo Moritz und die Weydemannschen Söhne das Grammophon auf Touren brachten, indes die Herren ihren strategischen Diskurs fortsetzten, und der Oberlehrer führte aus: „Wer Deutschland hat, besitzt Europa, wer Europa besitzt, besitzt die Welt. Darum wird der nächste große Krieg in Deutschland geführt, um Europa.“ – „Dem Gerücht nach“, verbreitete sich Notar Weydemann, „hält sich Bormann in Südamerika verborgen. Ich bin hundertprozentig überzeugt, daß selbst Hitler lebt und eines Tages auftaucht. Denken Sie an Napoleons Rückkehr von Elba!“ – „Wahrscheinlich hat es ähnliche Gründe“, vermutete der Oberlehrer fein lächelnd, „weshalb unsere reizende Gastgeberin so scheinbar leicht an ihrem Verlust trägt …“ Weydemann starrte Steinbrück entgeistert an: „Wie meinen Sie das?“ – „Auch Odysseus erreichte nach langer Irrfahrt Ithaka.“ Frau Lehnert bewunderte die reiche Schallplattensammlung, und Frau Lindthaler, ein wenig überfordert, so viele Gäste, ein wenig echauffiert, bemerkte: „Sehn Sie doch gelegentlich in der Küche nach, Erika, ich glaube, wir brauchen einiges Geschirr aus dem Abwasch.“ – 138
„Liebste gnä Frau“, nahm der Sanitätsrat, das dritte Glas Johannisbeerwein vor der Brust, die Jubilarin in Beschlag, „bei der letzten Soirée im Jänner haben S’ uns aufm Piano aufg’spielt, daß ich dagesessen bin wie ein Bub und hab von Schneeglockerln g’träumt, ich hab mir g’sagt: Nun fehlt noch, daß du zum Weinen anfangst. So seelengut wars!“ „Ach Herr Rat, was red’n S’ da“, ging Meta scherzend auf ihn ein. „S’ wolln mir einen Pflanz vormachen!“ „Sein S’ g’scheit!“ Kein Walzer, kein Rheinländer: neueste amerikanische Tanzmusik. Zwar nichts zum Träumen, aber der Sanitätsrat war kolossal beeindruckt. Begeistert. Er klöppelte die verwegensten Stellen auf der schwarzen Politur mit, lobte durch gelegentliche Zwischenrufe – Famos! Dafür verdienen S’ ein Bussel! – Metas exzellente Fingerfertigkeit. Sie spielte hinreißend; flott, trotzdem sauberer Anschlag. Die noch ungewohnten überseeischen Weisen kompensierten den schwer in die Glieder gehenden Selbstangesetzten; Frau Rachfahl, rotes, glänzendes Gesicht, ließ sich von Oberlehrer Steinbrück in die Mitte des Raumes führen, versuchte erste, unsichere, den ausgelassenen Weydemannschen Söhnen abgeschaute Schritte. Die Fleischersfrau lachte, warf den Kopf zurück, ruderte mit den runden Schultern, sie rief Steinbrück ins Ohr: „Wir gehn häufig aus, ich und mein Mann. Die Innung veranstaltet jetzt wieder zweimal jährlich ein vergnügtes Beisammensein …“ Sie versuchte eine der artistischen Kapriolen nachzuahmen, mit denen die Weydemannschen Söhne auf sich aufmerksam machten, der Oberlehrer hatte Mühe, sie vor einem Sturz zu bewahren. Erhitzt, außer Rand und Band, sie jubelte in die zerhackten Rhythmen: „Letztes Mal, bei der Innung, war es so ausgelassen! Wir haben uns mit Gehacktem beworfen!“ Während die Baurätin, leicht emporgezogener Brauen, 139
nur durch ihr Lorgnon Anteil nahm, erwiesen die Eheleute Weydemann der Negermusik eine aktivere, freilich noch sehr ungelenke Reverenz. Nach zwei Runden warfen sowohl Notar wie Oberlehrer das Handtuch, traten ihre Partnerinnen den Weydemannschen Söhnen ab. Die Herrenwelt umlagerte die Virtuosin; auch der Fleischermeister, eine kalte Camel weltmännisch zwischen den Lippen, sparte nicht mit freilich recht deftig bekundeter Anerkennung. Der Oberlehrer rang sich zu der Erkenntnis durch, daß, jedenfalls auf kulturellem Gebiet, nicht alles gutgeheißen werden könne, was da an oftmals überspitzten Restriktionen verfügt worden sei, vor dem Zusammenbruch, er mache da gar kein Hehl draus. Seine Erörterungen gingen aber unter in den ekstatischen Schreien der Fleischersgattin. Fräulein Gerhardi, die geraume Zeit vergeblich versucht hatte, die Aufmerksamkeit der von jenem Bechstein-Flügel besessenen Männer auf sich und ihre prickelnde Tanzwut zu lenken, bekämpfte jähe Eifersucht und Haß mit den Neigen verlassener Weingläser. Sie konnte das nicht mehr mit ansehen, mußte ihrer Verbitterung Luft machen. Erika Lehnert, in die Küche verbannt, schien ihr das geeignete Objekt, sie sagte: „Sie haben auch ein Gemüt wie ein Schaf. Da lassen Sie sich ausnützen! Sie werden doch schikaniert, regelrecht entwürdigt! Merken Sie das denn nicht? Oh, das sollte sie mit mir machen, ich würde … ich würde …“ Erika schwieg sanftmütig, und Fräulein Gerhardi zischte: „Daß Sie das erdulden! Wie ein Aschenputtel … alle Dreckarbeit!“ Verwundert schüttelte Erika Lehnert den Kopf; wie konnte man nur so übertreiben. Meta schien indessen kein Ohr für die ihr dargebrachten Verehrungen, kein Auge für die Tanzenden zu haben, ganz dem Spiel hingegeben; aber über die Klaviatur hinweg hielt sie Ausschau nach einem, der unbeteiligt, Hände in den Hosentaschen, im Hintergrund und der losge140
lassenen Frau Rachfahl im Weg stand. Ein schwermütiger Zug tilgte ihr erfolgstrunkenes Lächeln. Der Anschlag wurde weicher, legato, die Melodie getragen, zärtlich werbend, fast bittend. Sie hielt plötzlich inne; unter ihren Fingern klang noch ein d-Moll-Akkord weiter. Die Tanzpaare blickten sich um. Meta erhob sich, setzte das Grammophon wieder in Gang: Wer weiß, ob deine Augen lügen … Die Bewunderer wichen auseinander, und sie schritt durch eine Gasse allgemeinen Aufsehens, allgemeinen Erstaunens. Wer weiß, ob sie mich nicht betrügen … Sie neigte ein wenig den Kopf, demütig, fast unterwürfig, legte Moritz die vorgestreckten Arme auf die Schultern; vielleicht hast du mich gar nicht lieb, und tief in deinem Herzen da lachst du bloß. Wer weiß, ob deine Augen lügen … Moritz wandte sich brüsk ab; ihre Hände glitten ins Leere. Frau Weydemann erkundigte sich betroffen bei der Baurätin, die flüsterte ihr ins Ohr: „So war er schon als Kind. Es spricht nicht für Zartgefühl und Herzensbildung. Er sieht doch, wie sich seine Mutter geradezu nach ihm verzehrt. Wo ihr nichts außer ihm geblieben ist …“ Die eigentliche Affäre des Abends stand aber noch aus und kündigte sich zunächst nur durch weitere Klopfzeichen gegen den Fußboden, Schläge gegen das Rohrsystem der Zentralheizung an. Niemand ließ sich davon die Stimmung vermiesen. Auch die Baurätin nicht; nachdem sie in weinseliger Geberlaune ein Päckchen amerikanische Zigaretten verteilt hatte, geriet sie über die schüchtern in der Küche wirtschaftende Frau Lehnert in so tief empfundene Rührung, daß sie sich weiterer Spenden nicht enthalten zu können meinte. Ihre weißliche, weißgoldgeschmückte Hand neben die rote, nasse auf den Rand der Spüle legend, flötete sie: „Ich hätte da noch einen ausgesonderten Muff zu Hause, Erika, von unserer früheren Aufwartung. Wenn Sie sich die schadhaften Stellen ausbessern wollen …“ 141
Meta, auf der Suche nach Untersetzern, fuhr ärgerlich dazwischen: „Das ist aber nicht erforderlich. Erika bekommt von mir genug Abgelegtes. Sie gehört schließlich jetzt sozusagen zur Familie.“ Und in dem Moment stieß Sanitätsrat Leidinger die Küchentür auf, erregt, beißwild, apoplektische Zornadern über dem Bartwuchs; jener gewisse Rudolph von unten, ein Falott, ein Dreckskerl, sprenge die fidele Runde, drohe alles zusammenzuschlagen! Seine Frau habe Migräne, und er würde die Polizei alarmieren! Dieses Mensch verlange, Frau Lindthaler zu sprechen! „Lassen S’ ihn ins Zimmer“, bereitete Meta den Knalleffekt vor, „lieber Leidinger“, schenkte sich einen Schwapp Johannisbeerwein ein, „und schicken S’ ihn hernach ins Bad. Ich empfang ihn in der Wanne.“ Sie warf einen verführerischen Blick in den Spiegel, erklärte der verblüfften Baurätin, die sie hinter sich sah: „Natürlich ohne Wasser; nicht nackt.“ Ein Weinglas in der Linken, eine verrucht lange Zigarettenspitze in der Rechten; sie stellte das Glas auf die kleine Konsole über der Steckdose, raffte den gelben Chiffon und bestieg, begleitet vom meckernden Gelächter des wieder beruhigten, trotzdem in diesem Moment besonders senil wirkenden Sanitätsrats den Zinkbottich. „So, mein Gutster, nun schicken S’ ihn halt rein!“ Wie sie lag, in diesem Zinkbehälter, und wartete, fiel die Ausgelassenheit von ihr ab, und sie mußte, ohne eine Ursache nennen zu können, an die Unausweichlichkeit des Sterbens denken. Es war nur gut, nicht zu wissen, wie, wann und wo es sie ereilen würde. Solche Grübeleien befielen sie nicht oft, glücklicherweise, aber für gewöhnlich im dicksten Übermut. Als wolle sich ihre eigene innere Natur rächen oder doch in Erinnerung rufen, der leichter Sinn im Grunde abging. Rudolph, handgreiflich-hemdsärmelig, drahtiger Typ, nicht ohne Sex-Appeal, hatte seine Entrüstung über die 142
dielendröhnende Orgie schon auf der Zunge; verschluckte alles. Damit hatte er nicht gerechnet, dieses Märchen aus tausendundeiner versumpften Nacht kam unvorbereitet. Faßte sich an den Hals. Ging keinen Schritt weiter vor; auch keinen zurück. Meta sagte: „Vergessen Sie mal Ihre Rede nicht, Herr Rudolph, aber könnten Sie mir das Glas herunterreichen. Sie dürfen auch kosten. Von der Seite mit dem Lippenstift, nur, wenn es Ihnen nichts ausmacht.“ Er beugte sich über die Wanne. Bestimmte Höhepunkte gehören zu einer Feier, bei der Innung, zweimal jährlich, ist das so; da kein Gehacktes für Neckbällchen zur Verfügung stand, kündigte Frau Rachfahl an, auf dem Flügel zu tanzen. Ja, dann muß man ihn eben zuklappen! Eine Tarantella; in freier Improvisation. Oberlehrer und Notar, um das Pianoforte wie die Baurätin um Anstand und Sitte besorgt, versuchten vergeblich, das Temperament in harmlosere Bahnen zu lenken. Frau Rachfahl, einen Fuß auf dem Klavierhocker, warf beengende Kleidungsstücke von sich, setzte unter dem Johlen der Weydemannschen Söhne zur Besteigung des Tonmöbels an. Nur einem Kniefall des Sanitätsrats wie der schroffen Zurechtweisung von ihrem Fleischersgatten war zu verdanken, daß die entzückenden Absatzschuhe nicht auf dem schwarzen Flügelholz, sondern nebenan, auf dem weißen Tafeltuch, zwischen Gläsern und wirklich nur mit Asche gefüllten Aschern tänzelten. Kackfidel wie in den Zwanzigerjahren; da brachte sich die Nachkriegsmisere rabiat, stromsperrend in Erinnerung. „Na dann Servus alle miteinand“, vermeldete sich der Sanitätsrat aus der Finsternis. Frau Rachfahls überhasteter Abstieg brachte einiges Geschirr ins Kollern. Alles rief nach Kerzen, und plötzlich trieb ein aufflammendes Zündholz das rotverschwitzte Gesicht des Fleischers aus dem Gemälde von Schwarz. 143
„Wo ist denn die Lindthaler?“ grölte der alkoholisch leicht Angeschlagene, „Lindthälerchen! He!“ Jähes Gekreisch vom Flur her, war die Antwort. Als die Gesellschaft mit dem endlich entzündeten Leuchter – und Frau Lehnert mit einem Wachslicht von der Küche her – nach draußen stürmten, bot sich ein verwirrendes Bild: Meta, offenen Kleides, zerwühlter Haare, Striemen im Gesicht, schrie, Rudolph habe sie zu vergewaltigen versucht; dessen kopfschmerzgeplagte Ehehälfte, hysterisch, mit einem Eisbeutel losschlagend, wollte hingegen beide in flagranti ertappt haben. Rudolph versuchte, sich der Frauen zu wehren, sie auseinander zu halten. „Sie werden das bereuen, alle beide“, schwor Meta, kalkweiß. Frau Rudolph kreischte: „Das vergeß ich Ihnen mein Lebtag nicht!“ Meta, zu ihren schockierten Gästen: „Er riß mir die Sachen vom Leib, er würgte mich!“ Rudolph wußte kein Wort zu seiner Verteidigung. Brandenburg hatte nun genug. Auch Stefanie konnte dieses Gefasel nicht länger ertragen; sie brachte schon alle Namen durcheinander. Und nun war es auch mit einem Mal nicht mehr der fünfunddreißigste, sondern der sechsunddreißigste Geburtstag. Oder gar Silvester? Frau Gerhardi hatte solche Schwierigkeiten; und demnach konnte nicht der Gartenbauinspektor von Dreyse, vielmehr mußte ein Oberlehrer Steinbrück dabei gewesen sein, und sie stellte jetzt auch den erzbetrunkenen Pfarrer Soergel wieder in Abrede, um die Beteiligung eines Sanitätsrats Leidinger zu erwägen, und Frau Appenroth habe sich mitnichten diesen Abend das Schlüsselbein gebrochen, das geschah ein Jahr später. Aber der Zusammenstoß mit den Rudolphs, schwor die Waschmittelfetischistin hoch und heilig, das stimmt!
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16 Ort der Handlung: Ein repräsentativer Einfamilienneubau in Neuenhagen bei Berlin. Auf der Zufahrt zur Garage: PKW Typ Mazda 323, silber/metallic. Eigentümer: Hottenbach, Wernfried, 56. Vor dem Anwesen PKW Typ Wartburg 353, rot: Eigentümer: Kriminalpolizei. Harald Werl, Hauptmann, 55, dicklich, grauer Anzug, bequemer Schnitt, bestand auf dem Gespräch, er sagte: „Ob es Ihnen nun paßt, Herr Hottenbach, oder nicht, spielt keine Rolle. Wir klären hier ein Verbrechen auf, ein schwerwiegendes Verbrechen, und wenn sich da Fragen an bestimmte Bürger ergeben, müssen wir sie stellen. Und zwar dann, wenn es uns paßt. Nicht, wenn es Ihnen genehm ist.“ Hottenbach erregte sich so schwer, daß ihm die funkelnde Krawattennadel aus dem Schlips zu springen drohte, er fuchtelte mit einer Zeitungsseite, rief: „Da, lesen Sie doch selbst: Französische Kaminuhr, neunzehntes Jahrhundert, voll funktionsfähig! Verkauf heute ab vierzehn Uhr! Wenn ich jetzt nicht fahre, habe ich keine Chance!“ „Soweit ich sehe“, Werl deutete auf die diversen Barock- und Rokokostücke, „können Sie das verschmerzen.“ Der kleine, sehr agile Mann zog sein Spitzentüchlein, tatschte sich die Stirn. Er vermochte einen tieferen Grund seiner Aufregung nicht zu verbergen, platzte heraus: „Ich tätige keine unlauteren Geschäfte, wann wird man das endlich begreifen! Wie oft muß ich noch die gleiche Litanei herbeten? Ich gehe einer geregelten Arbeit nach; ich zahle meine Steuern pünktlich, Strom, Telefon, Gas, Versicherung; ich habe zwei Tageszeitungen abonniert; ich wasche regelmäßig mein Auto; ich hänge zu besonderen Anlässen die Fahne raus, streue im Winter und führe Gläser dem Altstoffhandel zu! Ich kaufe nur, was annonciert wird, ich verkaufe nur, was meinem Geschmack nicht mehr entspricht: Ich treibe keinen Handel!“ 145
„Mein Interesse gilt gar nicht Ihren Antiquitäten.“ Diese Versicherung beruhigte Hottenbach fast augenblicklich. Er schob die Manschettenknöpfe zurück (mit Hohenzollernwappen), drehte seinen Siegelring gerade; also bitte, er steht zur Verfügung. „Wir ermitteln wegen eines Tötungsverbrechens.“ „Aha.“ Hottenbach blieb äußerlich völlig unberührt. „Da werde ich Ihnen wohl kaum helfen können.“ Wie um diese Feststellung zu untermauern, holte er eine Sprungdeckeluhr vor, verglich mit seiner Armbanduhr, gab zu bedenken: „Wenn Sie es kurz machen, schaff ichs vielleicht doch noch …“ „Am schnellsten sind wir fertig, wenn Sie zugeben, das Delikt begangen zu haben. Aber gerade in diesem Fall schaffen Sies am wenigsten.“ Hottenbach lachte. Warf theatralisch die Arme hoch. „Also gut: Ade, geliebte Kaminuhr – ich streiche dich aus meinem Terminkalender!“ Faltete die Hände: „So, nun haben wir Zeit. – Zigarette?“ Er reichte Werl ein kunstvoll ziseliertes Etui über den Tisch. „Nein, danke.“ Werl sagte, da Hottenbach wieder wegstecken wollte: „Aber es macht mir nichts aus, wenn Sie rauchen.“ Hottenbach blickte sein Gegenüber an, blickte auf das Etui, sagte: „Ich rauche nicht. Ich sammle.“ Werl, unter Hinweis auf mehrere Gelenkgliederpuppen, altes Blechspielzeug in einer Vitrine: „Dann haben Sie vermutlich auch keine Kinder?“ „Unbeweibt und ohne Nachkommenschaft. Wissen Sie“, Hottenbachs Gesicht erhielt einen pfiffigen, dennoch salbungsvollen Zug, „ich kaufe häufig über Wert und verkaufe darunter. Tatsächlich. Insgesamt, also über einen längeren Zeitraum betrachtet, setze ich zu. Das ist gar nicht anders möglich. Die Verkäufer hängen selten an ihren Stücken, brauchen vor allem Geld, befinden sich immer in irgendwelchen Verlegenheiten; 146
ich kann dann nie knausrig sein. Andererseits: die Käufer sind Idealisten. Sie sind reinweg närrisch, verliebt in diese alten Dinge, würden sich finanziell übernehmen, wenn ich nicht bewußt preiswert verkaufe. Ich betreibe keinen Handel – wie gesagt –, aber ich würde es als einen Dienst an den Menschen bezeichnen. Man muß auch die heutige Zeit sehen. Ich persönlich besitze einen Bauernhof in Mecklenburg. Mit Wald, mit Wasserfront. Wie viele Leute in der Leipziger Straße, am Alex, in Lichtenberg sehnen sich nach ein bißchen rustikaler Umgebung! Ich besorge ihnen Wagenräder, Dreschflegel – schaun Sie mal bei Ihren Stadtfahrten auf die Balkons.“ „Anschließend. Aber vorher sagen Sie mir noch: Wann waren Sie das letzte Mal bei Frau Lindthaler?“ „Lindthaler? … Lindthaler …?“ „Nun tun Sie mal nicht so, Herr Hottenbach. Sie haben dort schon einige Zimmereinrichtungen gekauft.“ Da der kleine, wendige Mann sich noch immer nicht besinnen konnte: „Wir haben mehrere Zeugenaussagen.“ Ja, jetzt fällt der Groschen. Natürlich, die alte Dame in Wilhelmshagen! Aber Zimmereinrichtungen, das ist nun wirklich stark übertrieben. Ein Vertiko, ein bißchen Porzellan. Ein Herrenzimmer, nicht mal vollständig. Alles nichts Weltbewegendes, Gott ach Gottchen; Sie glaubte immer, Reichtümer anzubieten, wie ältere Leute so sind. „Ich hab sie nie übervorteilt. Das ließe sich eventuell sogar aus den Belegen nachweisen. Da kann sie nun erzählen, was sie will.“ „Frau Lindthaler erzählt nichts mehr, Herr Hottenbach. Sie ist tot. Um so begieriger sind wir auf Ihre Auskünfte. Wann waren Sie das letzte Mal dort?“ Hottenbach zerrte an seinem Uhrkettchen; das genaue Datum, woher soll er es wissen, es ist jedenfalls Monate her. „Wieso eigentlich tot? Wollen Sie damit sagen … gewaltsam …“ 147
„Also wieviel Monate? War es Sommer, war es Frühjahr?“ „Ich denke Juni. Mai, Juni.“ „Und dabei trafen Sie auch wieder mit Herrn Lindthaler zusammen?“ „Wie meinen Sie das? Sie ist doch verwitwet.“ „Moritz Lindthaler. Der Sohn.“ Hottenbach wechselte die Farbe. Wie ein Chamäleon. Paßte sich erst dem Weiß der Marmorplatte, dann dem Rot des Palisanders an. „Sohn?“ Benutzte das Ziertüchlein, tupfte einem Flakon entnommenes Eau de Cologne gegen die Schläfen. „Mir völlig unbekannt. Ich wußte gar nicht, daß sie einen hat.“ „Man weiß nie alles, was man weiß. Uns liegt die Aussage einer Frau Lehnert vor. Danach sind Sie, Herr Hottenbach, vor etwa zwei Jahren in der Wohnung der Lindthaler mit diesem Mann zusammengetroffen!“ Hottenbach stieß hörbar die Luft aus, völlig ratlos. „Da kann ich mich wirklich nicht erinnern. Wie sah er denn aus?“ „Groß. Mit Bart.“ Werl kramte nach der Fotografie. Kopfschütteln; Hottenbach besann sich dann aber: „Trägt er so eine kleine silberne Nadel am Revers –.“ „Weiß ich nicht. Schwarzer Vollbart, Glatze, starke Brillengläser …“ „… mit einem winzigen Brillianten, alter Schliff –“ „… zirka eins fünfundachtzig groß.“ „… zirka null-komma-fünf Karat?“ „Keine Ahnung; hier ist das Foto.“ Hottenbach tippte auf einen haarfeinen Strich, den man gut für einen Fehler im Negativ halten konnte: „Und hier ist die Nadel! – Ja, der Herr war bei einem meiner Besuche zufällig zugegen. Allerdings: wir haben nicht viel miteinander gesprochen; ein bißchen Konversation, dann ging ich. Die Welten sind eben zu verschieden.“ 148
„Vorgestern waren Sie nicht zufällig bei Frau Lindthaler?“ „Nein – nein! Ich sagte doch, Mai oder Juni das letzte Mal.“ „Hat Frau Lindthaler auch an andere Personen verkauft?“ „Woher soll ich das wissen.“ „Vielleicht stellten Sie gelegentlich fest, daß ein Objekt Ihrer Begierde zwischenzeitlich verschwand?“ So genau, behauptete Hottenbach, habe er sich nie umsehen dürfen; die alte Dame habe immer sehr geheimnisvoll getan. Möglich, das eine oder andere Meißner oder Delfter war ihm unbekannte Wege gegangen. Werl stellte weitere Fragen, diese für Vernehmungen typischen, versuchte, das Erfahrene auszubauen, abzurunden, Widersprüche aufzudecken, womöglich auf Verborgenes zu stoßen; er bekam viele Antworten, die kaum etwas Neues und ihn nicht weiter brachten, was auch wieder als typisch gelten durfte. Zwischendurch flocht er immer mal seine Bewunderung über dieses oder jenes Möbel ein, und Herr Hottenbach spreizte sich wie ein Pfau. Es mußten erkleckliche Summen sein, die sich hier als kunstvoll verarbeitetes Mahagoni, Zedernholz, Nußbaum, Palisander manifestierten, man konnte dem Sammler einen guten Geschmack nicht absprechen. Der würde davon auch nichts hergeben, alles Liebhaberstücke. Für keinen Preis der Welt. Beklagte nur, daß er ohne Erben sei. „Für wen hab ich das alles? Schaun Sie sich um; dieses japanische Lackschränkchen, diese Amphore; über uns: diesen Kristallüster … Aber ich frage, für wen hab ich das alles?“ Diese Frage sollte Hottenbach getrost allein lösen, Werl beschäftigte etwas anderes: Wie war es möglich, daß ein Mensch derartigen Reichtum zusammenbrachte? Und weiter: Zuerst hatte Hottenbach wohl befürchtet, die Kriminalpolizei befasse sich mit seinen Kuddelge149
schäften. Jetzt, da er wußte, um welches Verbrechen es ging, wurde er zugänglicher. Verdächtig zugänglich. Ließe sich der geriebene, geschniegelte Nostalgieritter vollends in die Karten gucken, war jedenfalls zu gewärtigen, daß er mit gezinkten noch in einer anderen Partie spielte. „Da Sie sich von den Stilmöbeln nicht trennen“, manövrierte Werl, „interessiert mich: Was verkaufen Sie eigentlich? Denn Sie sprachen doch vorhin auch von Verkäufen …“ Hottenbach, von eilfertigster, ausgesuchter Bereitwilligkeit, bat nach nebenan: Hier lagerte die eigentliche Handelsware in mehreren Regalen: Wärmflaschen, Omas alte Kaffeemühle, Bierhumpen, Hufeisen, Opas Schnupftabakbeutel, Spitzenhöschen (vor 1910), Petroleumlampen, goldgerahmte Elfenreigen. „Und diesen Plunder werden Sie tatsächlich los?“ wunderte sich Werl. „Reißend“, versicherte Hottenbach. „Der Bedarf steigt ständig. Das Zeug wird mir aus den Händen gerissen. Teilweise nehme ich Liebhaberpreise, das ist völlig legal. Der eine sammelt Münzen und verkauft, der andere Briefmarken …“ „Ein dritter Bohrmaschinen“, setzte Werl fort, „ein vierter Tiefkühlschränke, der nächste PKWs, der nächste Grundstücke – und zum Schluß kommen wir und sammeln die Sammler ein. Aber das geht nicht gegen Sie, Herr Hottenbach, bei Ihnen handelt es sich in der Tat nur um ein halt auch mit finanziellen Transaktionen verbundenes Hobby.“ Danach brachte der Hauptmann die Rede auf jene leichtlebige Frau, die von Hottenbach ausgehalten würde. Der konnte sich erst nicht erinnern, guckte verdutzt, woher man das habe. Ach über die Lehnert – ja, aber das liegt schon Jahre zurück! Ja, ja, jetzt fällts ihm ein. Warf die Jacke von sich – Werl sah die durchschwitzten Hemdachseln. 150
Also Herr Hottenbach hat die Dame längst abgestoßen. Ihm geht es um etwas Solides, und auf jene Bekanntschaft hätte ihm niemand eine Expertise erstellt. Die Lage auf dem Heiratsmarkt habe sich, nebenbei bemerkt, seit Anfang des Jahres erheblich verschlechtert: das Angebot stagniere, kaum noch erste Wahl und alles aus zweiter und dritter Hand. „Was machen Sie eigentlich beruflich?“ wechselte Werl das Thema. „Ich arbeite verkürzt …“ Hottenbach druckste. „Das dachte ich mir. Und was?“ „Als Aufsicht.“ „Wo?“ „Im Museum.“ „In welchem?“ „Pergamon.“ „Jedenfalls haben Sie die Berufstätigkeit in eine gewisse Übereinstimmung mit Ihrem Hobby gebracht.“ Hottenbach wollte das nur eingeschränkt gelten lassen: „Mit dem Abguß einer griechischen Plastik locken Sie heute kaum einen Käufer hinter dem Sparbuch hervor; aber mit Omas alter Dampfplätte!“ Der smarte Wernfried war im Nu wieder bei seinem Hausrat der Jahrhundertwende. Werl hörte nur noch mit halbem Ohr zu, er wußte, daß er fürs erste keinen Stich mehr bekommen würde. Ging ihm auch, für einen Moment, dieses Museum nicht aus dem Sinn: Sonderführung, von Brandenburg arrangiert, die komplette MUK drängte sich vor dem Markttor von Milet, und die Führung, blondes, geflochtenes Haar, nicht unattraktiv, mahnte; bitte nichts berühren, bitte nichts anfassen. Wie am Tatort, sagte einer, und das Fräulein: Bei einmaligem Hinfassen entsteht kein Schaden; aber über Jahrhunderte … „Für diese alte Singer-Nähmaschine bezahlt man gut und gerne vierhundert Mark!“ 151
Das Markttor von Milet erhob sich tausend Jahre, lag tausend Jahre unter der Erde. Wurde geborgen, museal verwahrt. Und sank nach vierzig Jahren in Schutt und Trümmer. Wiedererrichtet, und diesmal, ist zu befürchten, schoß es ihm durch den Kopf, das Tor bleibt tipptopp, nur die Besucher, die neugierig zudringlichen Hände, könnten wegbleiben, plötzlich, für alle Ewigkeit. „Entscheidend sind immer Angebot und Nachfrage. Nehmen Sie nur die Situation bei Stand- und Westminsteruhren …“ Er faßte sich an die Ohren, drückte die Gehörgänge zu, erhob sich, sagte: „Gut, Herr Hottenbach, das wars eigentlich. Ich bin in Eile.“ Man soll bis zum letzten Moment Bäume pflanzen, und man soll bis zum letzten Moment Verbrechen aufklären, gar Tötungsverbrechen, die doch vor dem Hintergrund anderer Aktivitäten zu lächerlich nebensächlichen Fehltritten werden … Am Grenzübergang Sonnenallee, vor diesem Mietshaus, in dessen zweitem Stock Frau Gerhardi ihren Sisyphuskampf gegen Staubpartikel, Ruß, Gilb, hämische Mikroben führte, vor dem Auto sagte Brandenburg: „Wir liegen an sich gut im Rennen …“ „Wie meinen Sie das?“ wollte Stefanie wissen. Senno hielt die Tür auf, sie stieg ein, setzte sich zurecht, und er stand draußen, neigte sich zu ihr herab, schien fast in die Knie gehen zu wollen; mit beschwörendem Blick: „Wenn ich Sie zu einer Tasse Kaffee einladen dürfte …?“ „Kommen Sie doch rein, dann brauchen Sie sich nicht zu bücken!“ Er schlug die Tür zu, lief, in seinem großgemusterten Sportsakko, vorn um den Wagen herum, öffnete auf der Fahrerseite, beugte sich herunter: „Ich würde mich sehr freuen, wenn ich Sie …“ „Ja doch, aber steigen Sie ein, mir ist kalt!“ 152
Der Unterleutnant schien bereit, sich in Unkosten zu stürzen, er schlug einige Restaurationen vor, die angenehme Gastlichkeit, echtes Kolorit, Eleganz und einen aus handverlesenem Hochlandkaffee gezauberten Genuß ebenso verhießen, wie hinterher ein leeres Portemonnaie. Aber Stefanie bestand auf einem kleinen Umweg zum Wiener Café, Schönhauser Allee. Der schmale, langgestreckte Raum, sehr hoch, verräuchert, zu dessen hinterstem Teil ein geländertes Treppchen emporführt, Wien am Prenzlauer Berg, gemütlich-ungemütlich, hatte etwas von Vergangenheit, Hinfälligkeit an sich, vermittelte aber auch die Ambivalenz jener Häuser, die auf Abriß stehen, und deren ausharrenden, wartenden Bewohnern, bei aller Wehmut eine besondere, drängende Affinität zur Zukunft eignet. Zwei Kännchen. Brandenburg legte seine Hand so auf den Tisch, daß sie fast mit Stefanies in Berührung kam; er sagte: „Sie werden mich vielleicht verlachen; aber ich habe, seit jenem Tag, als Sie das erste Mal bei uns auftauchten, oft gewünscht, einmal mit Ihnen auf diese Weise zusammen zu sein – in der Dienststelle ist man ja nie ungestört.“ „Ich finde die Genossin Zeisig nett.“ „Das schon …“ „Hauptmann Werl übrigens auch.“ „Mag sein, aber …“ „Sie haben recht, man kann sich dort nie so richtig über Lyrik unterhalten.“ „Ich meine …“ „Also über den Mordfall Lindthaler?“ Er schüttelte sein Semmelblond, nein, das ist es alles nicht, aber er weiß nicht, wie er sich ausdrücken soll. Er sagte: „Ich finde Sie irgendwie faszinierend.“ Sie schwiegen, und die Bedienung brachte den Kaffee, und Stefanie sagte: „Das ist nun freilich ein merkwürdiges, zufälliges und rasch wieder verschwindendes Ge153
fühl, das man aussprechen soll; eine vorübergehende Irritation. Aber doch kein Thema. Uns würde sehr rasch der Stoff ausgehn. Was soll man darüber auch viel reden. Da scheint mir doch unser Fall ergiebiger. Wissen Sie, was mich fasziniert? Oder beschäftigt, oder bedrückt, wie Sie wollen …“ Sie plauderte drauflos und ohne ihn anzusehen. „Das Ergebnis der Vernehmung Hottenbachs werden wir von Werl erfahren; aber dann haben wir alle Personen kennengelernt und befragt, die nach Lage der Dinge mit dem Mord zu tun haben könnten.“ „Nach Lage der Dinge“, relativierte Brandenburg geknickt; brütete unglücklich über dem Kaffee, als wäre ihm die Ernte verhagelt; aber er zog seine Hand keinen Zentimeter zurück, so schnell gibt er nicht auf. „Das würde bedeuten“, führte Stefanie den Gedanken unbeirrt fort, „wir haben dem Mörder bereits guten Tag gesagt. Ihm in die Augen gesehn. Wir haben ihn wahrscheinlich in die Ecke getrieben; aber nicht entlarvt!“ „Ich weiß nicht, ob wir den Mörder schon vor uns hatten.“ Ihr fielen die Rudolphs ein, na ja, die standen auch noch zur Debatte, er oder sie; Moritz Lindthaler, als Sohn, kam am wenigsten in Betracht. „Es kann auch ein Täter gewesen sein“, bequemte sich Brandenburg verdrießlich, „der zu Frau Lindthaler keinerlei Beziehung hatte, in deren Vorgeschichte nicht vorkommt: Ein zufälliges Opfer, eine zufällige Tat – in der Praxis passiert das durchaus.“ Stefanie hoffte, daß es nicht so wäre, denn sie wollte nun einmal diesen Fall ihrem Roman zugrunde legen, und weder Frau Ändering noch Herr Streicher würden – bei allem Streben um Realitätstreue – ein Manuskript akzeptieren, in dem der Mörder womöglich erst im letzten Viertel eingeführt wird. Zumindest sein Name müßte doch inzwischen aktenkundig sein. 154
Das Glück winkt nur dem Mutigen, nicht dem, der abwartet, selten dem, der Lotto spielt, winkt nur dem Herausforderer; und Brandenburg schob seine Hand vor, legte sie auf Stefanies, er sagte: „Aber es ist nicht nur vorübergehend.“ Und vor der Tür, die grüne Filzportiere bewegte sich, schwang auseinander; der Eintretende, Kopf im Nacken, den weißen Stock vor sich, tappte in den Raum; die Kellnerin stellte ihr Tablett zur Seite, eilte hinzu, half ihm aus dem Mantel; der Büfettier kam hervor, nahm Stock und Mantel ab; die Kellnerin faßte den Mann am Arm, er ließ sich führen; sie sagte zu Brandenburg und Stefanie hin: „Sie gestatten.“ Brandenburg zog seine Hand zurück, und die Kellnerin rückte den Stuhl zurecht; der Mann setzte sich, seine dunkel getönte Brille blickte an Brandenburg und Stefanie vorbei und über sie hinweg, er sagte: „Guten Tag.“ Sie tranken, ihr Gespräch stockte, die Kellnerin brachte den Tee für den Dritten. Stefanie flüsterte: „Einer muß der Mörder sein, aber wir wissen nicht, wer. Der Betreffende wirds uns nicht freiwillig verraten. Ich habe nachgedacht, wie man es herausfinden kann; es gibt da mehrere Methoden.“ „Sie machen mich neugierig.“ Das kam, Gott sei Dank, wieder ein wenig von oben herab. „Die wissenschaftliche Methode. Nach der Sie arbeiten. Mit spurenkundlichen Untersuchungen, Gerichtsmedizin und so weiter. Unter Einsatz rationaler Überlegungen. Gegründet auf die Kausalität aller Ereignisse in der Welt, wird versucht, deren zwangsläufige Abfolge zu rekapitulieren. Die Verfahrensweise hat nur einen Mangel …“ „Und der wäre?“ „Der Mensch ist kein in der Weise kausal bedingtes Wesen. Also auch der Mörder nicht. Er besitzt eine Freiheit des Handelns, der Entscheidung, die man rational155
logisch oft nicht angehen kann. Also kommt hinzu die intuitive Methode. Die intuitive Erfassung der Ganzheit des Falles. Die Lösung als plötzlicher Einfall aus dem Unbewußten heraus, der göttliche Funken, das schlafwandlerische Tun des Richtigen und der geniale Blitz.“ Brandenburg lachte. „Siehe Poirot bei Agatha Christie! Aber wissen Sie, Stefanie“ – er nannte sie jetzt nicht Fräulein Thalmer, er sagte Stefanie –, „wenn wir auf solche unbeeinflußbaren Wunder warten wollten …“ „Sie kombinieren beide Methoden, ohne es zu ahnen. Oder betrachten Sie Ihre Arbeit als rein mechanisch? Könnte man einen Computer mit der Ermittlung betrauen?“ So gesehen, habe sie natürlich recht. Ob sie noch weitere Methoden auf Lager hätte. „Zunächst zwei untaugliche.“ Stefanies Lippen zuckten, sie sagte: „Die phantastisch-spekulative: Man nimmt alle Indizien, kombiniert sie auf die absurdeste Weise und dichtet so notfalls jeder beliebigen Person die Tat an. Gehandhabt von meiner Zimmerwirtin; sie ahmt damit die Praktiken der Kriminalschriftsteller nach. – Zum weiteren: Methode des Wunschdenkens. Vorgehensweise wie bei einer Zimmerwirtin, aber jetzt bedichtet man nicht beliebige Personen, sondern eine besonders genehme. Eine, die einem als Täter in den Kram paßt. So ginge meine Lektorin vor, wenn sie vorgehen könnte.“ Brandenburg prustete in den Kaffee, verschluckte sich, Stefanie klopfte ihm den Rücken; himmelverdammt, und sie ist wirklich entzückend. Die bringt ihn noch um den Verstand. „Aber das ist noch nicht alles?“ „Nein. Ich hab mir was Eigenes ausgedacht.“ „Na los!“ „Die künstlerische Methode.“ Die Finger des Blinden tasteten über das Tischtuch; Brandenburg schob ihm die Zuckerdose zu. Der Mann 156
sagte: „Danke. Vielen Dank.“ – „Also die künstlerische Methode“, er blickte sie schräg an, unschlüssig, ob sie es ernst meinte oder ihn auf den Arm nahm, „und worin bestände die?“ Stefanie brauchte einen Moment der Sammlung. Sie schien plötzlich verwirrt, ein Anflug von Röte, ihre Hand bewegte sich zu der Brandenburgs, tippte darauf, wie impulsiv, hob sich ab; sie sagte: „Zuerst Haeckel: Die Ontogenese ist die Rekapitulation der Phylogenese. Also die Bildung des Menschen im Mutterleib verweist auf die stammesgeschichtliche Entwicklung des irdischen Lebens überhaupt. Sie wissen doch: Zellhäufchen, später Kiemen und so weiter. Aber mit der Geburt ist ja das Werden eines Menschen nicht abgeschlossen, und man könnte folgern: Die Reifeentwicklung des Menschen ist ein individueller Nachvollzug der Emanzipation der Menschheit bis zum heutigen Tag … Das heißt aber, der Mensch muß in seiner Entfaltung einen Punkt erreichen, wo er nicht mehr Vergangenes rekapituliert: wo er zum Ausdruck des Gegenwärtigen wird! Denn worin drückt sich das Wesen einer Epoche anders aus, als in den Menschen, deren Epoche das ist.“ Brandenburg strahlte; aber der Blinde rührte in seinem Tee, und die Gläser seiner Brille lauschten nach vorn oben. „Und nun Goethe: Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis … Dem Künstler erscheint ohnehin sein persönliches Leben gleichnishaft, exemplarisch. Ich glaube, das gilt mehr oder weniger für jeden Menschen, ob er es begreift oder nicht. Jeder ist auf irgendeine Weise Ausdruck eines Allgemeinen, beispielsweise ein Gleichnis für das Wesen seiner Zeit. Auch der Mörder! Und damit hätten wir ihn. In seiner Tat wie in seinem Leben muß sich etwas verkörpern, das zumindest in einer Beziehung steht zu dem, was ich das Wesen des gegenwärtigen Weltzustandes nenne.“ Brandenburg, bei aller Bewunderung, schien doch 157
skeptisch, ob sich diese Methode künstlerischer Verbrechensaufklärung künftig bei der MUK durchsetzen würde, er vermochte sich kleine ironische Sticheleien nicht zu verkneifen. „Die Verfahrensweise ist vieldeutig, wie andere auch“, verteidigte sich Stefanie. „Sie kann nichts beweisen. Aber sie sollte imstande sein, einen Fingerzeig in die richtige Richtung zu geben. Einen Fingerzeig.“ „Und worin bestände nun das Wesen des gegenwärtigen Weltzustandes?“ „Ich denke oft darüber nach. Ich kämpfe täglich mit meinem eigenen Pessimismus. Denn manchmal glaube ich: In unserer aller Untergang …“ Der Blinde ruckte auf seinem Stuhl, stieß unversehens gegen den Tisch. Er verschob die Brille, weitgespreizte Finger fischten das Teeglas. Seine Lippen bewegten sich. Brandenburg konstatierte: „Der Mord als Schlußpunkt eines Absturzes. Das gleiche hab ich Ihnen bereits gestern angekündigt! Ohne Goethe und Haeckel zu bemühen; erinnern Sie sich? Das Verbrechen steht am Endpunkt des langwierigen moralischen Verfalls eines Individuums. In der Vergangenheit des Täters werden sich wiederholt schwarze Punkte aufzeigen lassen … Auf wen tippen Sie?“ „Ich bin noch nicht soweit.“ Am Steuer stammelte der blonde Senno: „Es war sehr interessant, obgleich … obgleich ich eigentlich über ganz andere Dinge reden wollte … Es würde mir auch nichts ausmachen, gar nichts zu sagen und … und Sie nur anzusehen …“ Seine Frontzähne schmachteten. „Vielleicht paßt es wieder mal …?“ Er bediente den Anlasser zu lange, blinkte auf der falschen Seite; das Getriebe knirschte. „Falls Sie auch nach Dienstschluß Zeit hätten, könnten wir …“ Stefanie wies nach vorn, sagte: „Sie müssen sich konzentrieren. Ich glaube auch, der Wagen zieht besser, wenn Sie die Handbremse lösen.“ 158
17 Wenn er in fünf Minuten nicht kommt … Wenn er in fünf Minuten nicht kommt, dann geht sie! Elvira, fröstelnd, überflog zum ungezählten Mal die Anschläge der Litfaßsäule. Wenn er in fünf Minuten nicht kommt, mach ich Schluß, ich hab ihm das angekündigt … Wenn sie etwas nicht ausstehen konnte, dann Unzuverlässigkeit. Aber wenn er nun wirklich nicht kommt? Sein Verhalten, die letzten Tage, war merkwürdig. Besonders vorgestern: Sie hatten ins Kino gewollt, sie war extra wegen Karten los gewesen, nachmittags hatte er sie dann angerufen und abgesagt, unter fadenscheinigsten Gründen, ihr am Telefon was vorgestottert, sie war gleich mißtrauisch geworden. Sie hatte sofort gespürt, daß was dahinterstecken mußte. Vielleicht hatte sie doch recht mit ihrem Argwohn: Andreas und Gabi – die Tugendhafte, Strebsame, fortschrittlichfromm, und Luftikus Wendelin; es ergäbe jedenfalls ein sehr kontrastreiches Pärchen. Ob er der auch erzählen würde, auf welche Weise er sein Taschengeld aufbessert? Der Wind sprühte Tropfen von kahlem Gezweig, kräuselte Pfützen. Die fünf Minuten waren um. Sie biß sich auf die Lippen. Es tut weh; aber da muß er sich eine andere suchen, mit ihr jedenfalls nicht, so nicht! Schlimm genug, daß nun schon sie die Initiative übernehmen mußte, daß die Verabredungen von ihr ausgingen. Sie hatte die atemverschlagende Neuigkeit als Vorwand benutzt: Du, Andreas, Mensch sag mal, stimmt das, was die heut in der Pause erzählt haben? Bei euch im Haus ist ’n Mord passiert? Nein, mußt du mir auch nich am Telefon sagen – hast du heut nachmittag Zeit? Ganz vorn, an der Bushaltestelle bog er um die Ecke. Sie blickte rasch nach der anderen Seite, tat, als habe sie nichts bemerkt, lief los. An der Apotheke, als sie eben die 159
Straße überqueren wollte, vernahm sie sein Rennen. Im Grunde glaubte sie nicht, daß da etwas mit Gabi wäre, ein bißchen Eifersucht lag von jeher bei ihr drin; aber sie konnte sich sein Verhalten nicht erklären. Plötzlich, da sie ihn neben sich spürte, da er sie am Arm zurückriß – „Herrgott, Elvira, schnapp nich gleich ein, du weißt ja nicht, was ich am Hals hab!“ –, schoß es ihr durch den Sinn: Wenn er was mit dem Mord zu tun hat …! Sie machte sich frei, legte noch einen Schritt zu. Andreas ließ sich nicht abschütteln, hielt mit, der hatte die längeren Beine. Er beschwor: „Hör mal, ich kann da nichts für! Verdammt, man kann sich doch mal verspäten!“ Verstellte ihr den Weg, packte sie am Handgelenk, zwang sie in seine Umarmung. Keuchte ihr ins Ohr: „Du hast ja keine Ahnung, was bei uns zu Hause los ist: Die Polente geht ein und aus!“ Wenn er was mit dem Mord zu tun hat … Die Lindthaler war ihm auf die Schliche gekommen, er vermietete doch seit Monaten heimlich die ehemalige Mädchenkammer als Absteige an Mitglieder seiner Clique und deren Freundinnen, nächteweise, die hatte ihn geradezu erpreßt: Entweder er stellt seinen Recorder nur noch auf Flüsterlautstärke, keine Partys mehr, oder sie informiert seine Eltern … Aber deshalb bringt er sie doch nicht um, wie albern, absurd, wie kann ich nur so was denken! Sie schämte sich des paradoxen Einfalls, hielt still, ergab sich, wie um wiedergutzumachen, in seine Umklammerung; sie mochte ihn sehr, er war der erste Junge, mit dem sie schlief. Es tat ihr wohl, sich zu ergeben, es tat ihr wohl, bezwungen zu werden, daß sie ihm nicht gleichgültig war, daß er nicht wegen eines bißchen Gegenwehrs aufsteckte. Arm in Arm, unter den tröpfelnden Bäumen, auf dem spiegelnden Pflaster, und er sagte: „Das sind die düsters160
ten Tage meines Lebens … Ja, es hat mit dem Mord zu tun. Aber ich kann darüber nicht reden; nicht jetzt. Du mußt das verstehn. Mensch, ich bin froh, wenn ich mal auf andre Gedanken komme.“ Elvira sah ihn von der Seite an: Blaß und verstockt; es mußte ihm unter die Haut gegangen sein. Aber wer schon in Andeutungen redet, gibt schließlich noch mehr preis. Auf dem Weg bis zu ihr löcherte sie ihn; nun, nachdem ihre Eifersucht verflogen war, interessierte sie die Sensation auch als solche: Ein Mord, richtiger Mord, das kommt schließlich nicht alle Tage vor. Er orakelte: „Die vernehmen alle. Meine Eltern hatten sie in der Mangel – mich haben sie auch ausgefragt. Du kommst bestimmt auch noch dran, möcht ich fast wetten.“ „Ich?“ Elvira verhielt. „Worüber soll ich denn Auskunft geben?“ Andreas wandte sich ab. „Über mich.“ Ihre Mutter hatte wieder Spätschicht. Wie letztes Mal. Sie saßen sich gegenüber, sie auf der Liege und er im Sessel; sie hob die Arme und steckte was hinten an ihrem Haar, und er hätte sie jetzt umarmen können, wie letztes Mal, sie runterdrücken, ihr die Bluse aufknöpfen; aber er brütete vor sich hin, als wäre sie gar nicht da, als wären sie seit zwanzig Jahren verheiratet. Sie legte ihm die Hände auf die Knie, beugte sich gegen ihn vor, obgleich sie ungern selbst den Anfang machte. Er schien nur zu kommen, weil er merkte, daß sie es erwartete. Pflichtgetreu, küßte ihren Hals, den Nacken, die Schulter – jedoch nicht das Gesicht, als wolle er ihrem Blick nicht begegnen. War es Ungeschick oder mangelnde Konzentration? – sein Gefummel an Knöpfen und Reißverschlüssen nahm kein Ende. Ihr Atem ging schneller; sie flüsterte: „Warte mal“, und hakte sich selbst den BH auf. Sie schloß die Augen, seufzte, tastete über seine Hose, fand aber nichts. Er 161
streichelte ihre Haut, legte dann sein Gesicht gegen die Brüste. Die Liebkosungen gingen nicht recht voran, verebbten. Seine Hände ruhten schlaff auf ihrem Bauch. Er sagte – und sie verspürte den Atem am Busen: – „Kannst du dir vorstelln, daß deine Mutter jemanden umbringt?“ Elvira schob ihn weg, sie schleuderte seinen Arm weg, raffte die Bluse zusammen. Der merkte gleich, was er angerichtet hatte, versuchte sich wieder zu nähern. Heuchelte rasch und bestmöglichst Leidenschaft. „Komm, hör auf! Gib dir keine Mühe!“ Sie war erbost. Schamrot. Stand, brachte ihre Verschlüsse in Ordnung. Andreas war jetzt noch mehr geknickt. Ein Versager auf der ganzen Linie. Aber er versuchte eine Rechtfertigung. „Wie wäre dir zumute, wenn deine Eltern jemanden umgebracht haben?“ „Du willst doch nicht behaupten“, sagte Elvira verächtlich, „daß deine Mutter die Lindthaler …“ Sie verstummte, musterte ihn betroffen. Glaubte er denn im Ernst, seine eigenen Eltern könnten in die Sache verwickelt sein? Er schwieg. Ging zum Fenster und schwieg die Gardine an. Sie begriff nicht, was mit ihm vorging. Wollte er ablenken, hoffte er, sich auf die Weise interessant zu machen? Warum kam er mit halben Andeutungen, wenn er ihr nicht die ganze Wahrheit anvertrauen mochte? Für einen Moment versuchte sie es, sich in diese absurde Situation hineinzufühlen: Wenn ihre Mutter jemanden ermordet hätte … Würde sie ihm, wenn sie darum wüßte, diese furchtbare Bedrückung enthüllen? Andreas sagte: „Sie fand die Leiche.“ Sprach in die Gardine: „Als sie ein Rezept hochbringen wollte. Vorher kam sie ins Zimmer; wir saßen vor der Röhre, also ich und mein Vater, und sie verkündete, daß sie es jetzt hochbrächte. Ich bin dann in die Küche, um Bier aus dem Kühlschrank zu holen …“ „Na und?“ 162
Er wandte sich um: „Auf dem Kühlschrank lag das Rezept. – Sie hatte es gar nicht erst mitgenommen!“ „Das ist doch kein Beweis. Vielleicht hatte sies vergessen. Daran kann man nich solche Verdächtigung knüpfen.“ „Als sie oben schrie, im selben Moment, wie aus dem Boden gewachsen, stand mein Vater schon in der Tür, rief: Komm, wahrscheinlich is was mit der Lindthaler!“ Na gut, er kam mit seinen Eltern nicht zurecht, er vergällte ihnen und sie ihm das Leben. Er hatte oftmals eine Stinkwut, auf seinen Alten, und auf seine Mutter nicht minder. Manchmal machte ihn das regelrecht krank, wenn es gut kam, suchte er dann Trost bei ihr, mitunter, was sie weniger gern sah, bei der Clique. Aber mußte er sich nun so weit versteigen, seine Eltern eines Mordes zu bezichtigen! Glaubte er denn selbst an das, was er sich da ausklügelte? „Das ist noch nicht alles! Die Lindthaler wurde in der Badewanne ersäuft. Unten, bei uns im Bad, hing das Jackett meines Vaters auf der Leine. Sacknaß bis an die Ellbogen! Exakt bis an die Ellbogen! Es hatte aber an dem Abend nicht geregnet.“ „Und was sagt die Polizei dazu?“ „Die weiß es ja nich.“ Trotzdem, sie hielt es für ausgeschlossen, obgleich sie seine Eltern nicht näher kannte. Man gerät schnell einmal in Verdacht, es finden sich rasch einmal Indizien, die alle unwiederbringlich dasselbe zu beweisen scheinen und doch nur Zufälligkeiten sind. Sie selbst hatte ihn ja vorgestern auch verdächtigt, daß da etwas mit Gabi wäre. Sie konnte sich diesen eigenartigen Anruf, die Absage des geplanten Kinobesuchs einfach nicht anders erklären. Diese Ausflüchte am Telefon, seine gequälte Stimme. Es war ihr in dem Moment ganz klar gewesen, daß sich hinter ihrem Rücken etwas mit Gabi angesponnen hatte. Plötzlich gewannen Dutzende Nebensächlich163
keiten, zufällige Beobachtungen eine Bedeutung: ein Blick, eine scheinbare Verlegenheit, wenn er von ihr sprach; als sie Gabi vor dem Bahnhof sahen, hatte die von der anderen Seite herübergewinkt – wem hatte sie zugewinkt, ihnen beiden oder nur ihm? Die grüßte doch sonst nie so überschwenglich! Ja, sie hätte vorgestern ihren Kopf verwettet. Er hatte etwas anderes vor, eine Verabredung mit Gabriele Brückels, das war ihr peinigend gewiß. Ihre Gedanken waren von dieser Vorstellung nicht abzubringen gewesen, eifersüchtige Phantasie trug immer neues Beweismaterial zusammen. Sie hatte es an diesem Mordtag nicht mehr ausgehalten, war zur Müggel-Klause gelaufen, in der jäh erwachten Hoffnung, ihn bei seiner Clique zu finden. Die Meute kam ihr bei der Kirche entgegen. Ohne Andreas. Trotzdem regte sich erneut ein Hoffnungsschimmer. Vielleicht hockte er zu Hause, vielleicht brannte in seinem Zimmer Licht. Als sie in die Kastanienallee einbog, das war zwischen siebzehn und achtzehn Uhr, pöbelte sie ein Betrunkener an; beim Ausweichen über die Straße wurde sie um Haaresbreite von einem vorüberbrausenden westlichen Straßenkreuzer erfaßt – lauter ungute Vorzeichen. Sie setzte sich auf die Liege; er sagte – und sie vermochte seine Züge gegen das Dämmerlicht des Fensters kaum zu erkennen –: „Angeblich hatte mein Vater den Abend Panne. Der Unglücksrabe. Dabei war der Wagen zwei Tage vorher zur großen Durchsicht. In so einem Fall hätte er zu Hause noch stundenlang auf die Werkstatt und auf den Staat geschimpft – war aber nicht!“ Warum offenbart er ihr das alles? Zumal er doch damit rechnet, daß sie noch in dieser Sache vernommen wird. Zumal ihr Verhältnis nicht mehr so ist wie im Anfang. Und er hat sie noch nicht einmal gebeten zu schweigen. Soll sie das etwa, was er ihr da flüstert, ausposaunen?! Warum erhebt er diese ungeheuerlichen Anschuldigun164
gen! Der wälzt ja den Verdacht direkt auf seine Eltern … Ein zurückgedrängter Gedanke bekam plötzlich wieder Macht, sie wehrte sich, aber ihr Mund fragte schon: „Und was wollte die Polizei von dir?“ „Nichts Besonderes. Die üblichen Fragen. Wonach die sich eben erkundigen, wenn sie nicht wissen, woran sie sind und wers war. Wo ich am Abend gewesen bin …“ „Was hast du geantwortet?“ Er druckste, gestand dann: „Jedenfalls wäre es besser, wir wären, wie verabredet, ins Kino. Allerdings ist der Film wirklich mies, ich habs jetzt schon von mehreren gehört … Aber wir hätten ja auch was anderes machen können … Ich war mit der Clique zusammen. Mit der Zeit haben die mich angeödet, ehrlich! Das dusslige Gequatsche ging mir einfach auf den Keks. Ich hab mich abgeseilt und bin … Ich bin einfach so rumgelaufen. Am liebsten hätt ich dich angerufen; aber du warst ja wohl ziemlich sauer …?“ „Wo bist du rumgelaufen?“ Er lachte, das klang gekünstelt. „Meilenweit. Bis Rahnsdorf … Unsre Bank ist übrigens demoliert. Sämtliche Planken weg. Da müssen wir uns im Frühjahr was Neues suchen …“ „Und das hast du der Polizei erzählt?“ „Von der Bank nicht.“ Sie schwieg. Hielt sich an den Wänden des Bücherschranks. Wich vor ihm zurück. Ihr war, als presse alle Angst auf ihren Magen. Aus der diametralen Ecke des Zimmers sagte sie: „Ich hab dich gesehn.“ Er starrte sie an; seine Schultern fielen ein wenig vornüber. So, als verließe ihn die Kraft, oder aber, als ducke er sich zum Sprung. „Wo?“ „Gegen halb sechs …“ „Wo?“ kam es tonlos. „Aber nicht in Rahnsdorf …“ „Wo denn!“ schrie er. 165
„Bei eurem Haus: auf dem Nachbargrundstück! Hinter diesem Backsteinstall!“ Ihre Stimme schrillte. „Das ist nicht wahr!“ „Ich hab dich eine Viertelstunde lang beobachtet – du paßtest nur immer auf, daß du auch ja im Schatten bliebst. Damit dich der andere, mit der Luftbüchse, nicht aufspürte!“ Andreas war plötzlich bei ihr. Er packte sie am Hals, sein Gesicht war kalkweiß. „Wenn du ein bißchen Grütze im Kopf hast, behältst du das für dich!“ Er schüttelte sie, ihr blieb fast die Luft weg. „Du vergißt alles, wovon wir gesprochen haben – oder …“ Das war das Ende, ob er sie nun umbrächte oder nicht, ob sich dieser Griff wieder lockern würde oder nicht; sie wußte, daß ihre erste Liebe kaputt war.
18 Früher Vormittag: Gisela Plaschke schon im Mantel, gestiefelt, ein wenig Herzklopfen hatte sie doch. Probierte vor dem Spiegel ein Hütchen auf, wie es zwar nicht Scotland-Yard-Beamte, möglicherweise aber deren Ehefrauen in den dreißiger Jahren beim sonntäglichen Galopprennen trugen. Gerade weil November und der Sonne im Dunst aus hunderttausenden Kachelöfen keine Chance blieb, verliehen die stark getönten Umbralgläser einen geheimnisvollen Nimbus; doch hierauf kam es nicht an. Mehr war ihr darum zu tun, nicht etwa, falls sie über Hauptmann Werl und seine Truppe stolperte, später identifiziert zu werden oder, ungünstigster Fall, von ihrer Untermieterin an Ort und Stelle. In der S-Bahn glaubte sie, daß ihr alle Leute was ansehen müßten. Sie preßte den Einkaufsbeutel an sich, unverfängliches Requisit, der barg Geldbörse, Ausweis, 166
Notizblock, Vierfarbenkugelschreiber und, für beweiskräftige Schnappschüsse, jenen Fotoapparat Perfekta II, durch dessen Optik bisher nur die Motive ihrer jährlichen sächsisch-schweizerischen Urlaubsreise (Papststein, Pfaffenstein) verwackelt waren. Die in der Abteilung frühstückten jetzt. Wenn die wüßten …! Die würden Bauklötzer staunen! Aber vielleicht erfahrn sies eines Tages … Im Auftrag der Morduntersuchungskommission … Nein, besser: Im Auftrag des Ministers für Volks- und Kriminalpolizei überreichte gestern Herr Hauptmann Werl der Bürgerin Gisela Plaschke (62) aus der Beeskower Straße während einer Feierstunde im ETW, Abteilung KM-3, eine Urkunde und ein Präsent; die Bürgerin hatte durch ihr beherztes Eingreifen die Aufklärung eines Mordfalls bewirkt. – Ihr Chef wäre ziemlich geplättet. Und klein, ob mit, ob ohne Hut. Beim Umsteigen, Ostkreuz, im Geschiebe auf der Treppe dachte sie, was das doch für arme Würstchen sind, die da an ihr vorbeihasteten, dienstlich unterwegs, manche sicher zurück von Schicht, jedenfalls wohl kaum einer mit einem ähnlich aufregenden Vorhaben befaßt wie sie. Zum ersten Mal in ihrem Leben empfand sie so etwas wie Dünkel. Obgleich noch zwanzig Minuten vor Öffnung, waren Ladentür und Schaufenster jenes zentralen Fachgeschäfts für Kfz-Ersatzteile und Zubehör, das sie als Arbeitsstelle Max Wendelins veranschlagte, durch eine Warteschlange verdeckt, man munkelte über eingetroffene Ladegeräte, Scheinwerfereinsätze, ein Neuling hoffte auf Vorschalldämpfer; die erfahrenen Ersatzteiljäger hatten die Kragen hochgestellt, hüllten sich, hin und wieder die Uhren vergleichend, in nüchternes Schweigen. Fotografieren unter diesen Bedingungen konnte leicht falsch ausgelegt werden. Und sie hatte allen Grund, Aufsehen zu vermeiden. Trudelte auf den Hof – immer ran 167
an den Feind! – kletterte über Paletten, Stiegen einer Verladerampe, zerriß sich fast die Strümpfe; einen bebrillten, pickligen Verkäuferlehrling, der sich verwundert näherte, paralysierte sie mit: „Hier soll ich mir wohl die Hufe brechen! Das zwitschert heut noch hier runter – stop! Erst bringste mich zum Wendelin.“ Der Jüngling, zu den rückwärtigen Diensten gemustert, aber noch ungedient, zog vorsichtshalber die Hände aus den Hosentaschen, mehr Schliff war noch nicht drin; er hatte auch keine Ahnung, um was für eine Inspektion es sich handelte. Schöne Bescherung, und ausgerechnet war im Gang der Feuerlöscher verstellt, die würde das registrieren, doch das sollten mal die Chefs unter sich ausmachen. Als sie sich im Allerheiligsten des Handelsleiters, vor Wendelins verdutzten Augen plazierte, wurde ihr doch mulmig. Worauf hatte sie sich da eingelassen? Hatte sie sich nicht überschätzt? Hier ging es um einen Mordfall, und sie pfuschte auf eigene Faust dazwischen! Wendelins tadelloses Äußeres, die weißen Hemdkragen, der Binder, das Abzeichen am Jackett, die rote Unterschriftsmappe verunsicherten sie zusätzlich. Der Mann kam wohl für die Tat kaum in Frage. Sie hatte schon Pfarrvikare, Ammen, Butler, Gouvernanten und Klostergärtner als Mörder erlebt – in der Partei war, soweit sie sich erinnerte, davon keiner gewesen. Wendelin kapierte überhaupt nicht, wie die hier reinkam: „Wer sind Sie? Wieso …“ „Plaschke.“ Selbstbewußtes, ein wenig respektloses Auftreten war angezeigt; sie gebot doch sonst über so ein unverwüstliches, lästerliches Mundwerk. Zu Hause, die halbe schlaflose Nacht hatte sie das Drehbuch für diesen Überrumpelungsversuch ausgeklügelt. Aber in der Praxis sah alles anders aus. Vor allem Wendelin sah anders aus. Wie ein Ehrenmann. „Was mein Schwiegersohn is, der hat gestern ne Ecke von seinem Chausseemoppel 168
verlorn, Trabant; da die nich nachwächst, möcht ich von Ihnen …“ „Wer hat Sie hier reingelassen?“ Wendelin wischte seine Schriftstücke zur Seite. „Wie kommen Sie dazu, hier mir nichts, dir nichts … Unsere Öffnungszeiten sind für alle Bürger gleich verbindlich. Für alle! Was denken Sie sich …“ „Soll ich mir draußen die Waden in die Kniekehlen stehn?“ protestierte Frau Plaschke. Übertrieb: „Ich bin schwerbeschädigt!“ „Also besitzen Sie die Freundlichkeit“, er erhob sich unbeeindruckt, „und verlassen Sie augenblicklich die Geschäftsräume! Ich bin kein Verkäufer – von mir können Sie sowieso nichts haben!“ Frau Plaschke tat nicht desgleichen. Kramte im Einholebeutel. Offerierte: „Aber Sie was von mir.“ Holte das Portemonnaie vor. Daß er sie rausschmiß, war in ihrer Planung nicht vorgesehen. Wenn er sich nun auf kein Gespräch einließ? Aufgeregt war sie, die Hände zitterten. Wendelin blickte im ersten Moment etwas betreten, angelte sich dann, eine Idee freundlicher, mit den Füßen den Sessel wieder heran. Er sagte: „Nun, nun.“ Er sagte: „Aber nur in Anbetracht des Schwerbeschädigtenausweises. Daß Sie nicht umsonst draußen anstehn. Das ist aber wirklich eine Ausnahme …“ Irgendwo hat sie den Zettel, die Namen jener Ersatzteile, von denen sie so keins im Kopf behalten würde. Sie stocherte – beim Kleingeld lag er nicht. Suchte zwischen den Papieren: alte Fahrtickets, Bon von der Strumpfreparatur, ein Zwanzigmarkschein; sie hielt die Banknote in der Hand: Von der Liste garantiert nicht vorrätiger Teile, den Tauschinseraten mehrerer Zeitungen entnommen, fehlte jede Spur. Hatte die sich verkrümelt, oder hatte sie heute morgen Bockmist gebaut? Na dann gute Nacht, Marie! Was soll sie jetzt mit dem bekakeln? Die Augen diskret vor dem Geldschein niederschla169
gend, gefalteter Hände, versicherte Wendelin: „Ich helfe, wo ich helfen kann …“ Die Plaschke schwitzte Blut und Wasser: Sie konnte unmöglich mit der Tür ins Haus platzen. Der würde die Nachtigall trapsen hören, wenn sie unvermittelt auf den Keilriemen käme. Kniffte das Geld ins Portemonnaie, buddelte dieses in den Beutel zurück; Zündkerzen, war das einzige, was ihr einfiel. Zündkerzen? Wendelin glaubte seinen Ohren nicht zu trauen; fixierte die leeren Hände dieser lästigen Person; Zündkerzen! Und deshalb raubte die ihm die Zeit! Er hatte noch anderes zu tun, Neufassung der Kollektivverpflichtung, die überfällige Vorlage 14/82, der Genosse Hülsenschroth hatte schon zweimal wegen der Abstimmung Investvorhaben Liebertstraße angerufen; er war ehrlich empört. War schon hinter dem Tisch vor, riß die Tür auf: „Wenden Sie sich an das Verkaufspersonal! In zehn Minuten öffnet die Verkaufsstelle – so lange werden Sie sich gedulden. Und zwar draußen!“ „Nu machen Se man kein Aufriß. Ich weiß selbst, wie der Dienstweg is. Da brauchen Se keine Andeutungen zu machen. Ich geh auch, ohne daß Se mir vor de Tür expediern. So viel Grips und Benimmse dürfen Se mir zutraun – da fällt mir ein: n Keilriemen soll ich …“ „Zur Zeit nicht am Lager“, rief Wendelin erbost, schob sie raus. „Un wenn son Ding reißt? Muß man nich einen Reserve haben?“ „Mir ist noch keiner gerissen. Fragen Sie nächste Woche nach. Aber im Laden! Nicht bei mir!“ Er folgte ihr über den Flur. „Los, los – hier gehts raus.“ Dreistes Weibsstück. Warf die Tür hinter ihr ins Schloß. Gisela Plaschke stellte erst mal den Beutel ab. Du Mörder! Herrgott, ihr war ganz schwummrig. Du Mörder! Und sie konnte den nicht mal hochziehn lassen. Mußte das alles für sich behalten, bis zum Abend. Bis 170
Fräulein Thalmer kommt. Ihr war regelrecht taumlig. Du Mörder! Daß es aber auch noch so geklappt hat. Obgleich an sich alles gegen den Baum gefahren war. Sie hätte schon keine Konsummarke mehr einsetzen mögen. Aber Dusel muß ein Fahnder haben! In einer Eckkneipe, vergilbte Gardinen, bei einer Tasse Kaffee (türkisch – wenig Aroma, aber viel Grund), mühte sie sich, das Erfolgserlebnis zu verdauen. Wie ein Traum. Wie ein Fünfer im Lotto. Sie bekam regelrecht Angst, wach zu werden. Das hatte ihr aber auch an ihrer Wiege keiner prophezeit, daß sie mal auf die Art von sich reden machen würde. Gewünscht hatte sie sichs immer. Vorgestellt, manchmal auf Arbeit. Aber nie wirklich geglaubt. Wenn das ihr zweiter Mann wüßte! Oder ihr erster … Viertel elf; sie hatte einen ganzen Tag eingeplant, sich mit der Absicht getragen, in Wilhelmshagen vorbeizufahren, Tatortbesichtigung, nun hatte sich das erübrigt. Eigentlich schade, daß alles so rasch erledigt war. So eine schnelle Aufklärung hat auch ihre Nachteile. Mit der Zunge Kaffeesatz aus dem Mund bugsierend, genoß sie Wendelins Überrumpelung in Gedanken noch mal. Bestellte eine zweite Tasse, sie hatte ja nichts mehr vor. Summte die Melodien einer Musikbox mit. Lächelte. Gisela im Glück. Sie hat einen Mörder überführt! Sie hat einen Mord aufgeklärt! Aus dem Handgelenk. Wie ein Profi. Auch zum wiederholten Male vorgestellt, gewährte das Erlebnis Vergnügen. Verlor nur ganz allmählich den Glanz des Wunderbaren. Die Wirklichkeit, das alltägliche Leben blieb fern. Schien aufgesogen von einer Traumwelt, die Ereignis geworden war. Ihr Hochgefühl hielt sich. Nur der schale Kaffee, die schmuddligen Gardinen irritierten. Das schien auch nicht die richtige Lokalität für so einen Tag. Die Ermittler in ihren Büchern fuhren schnittige Wagen. Recherchierten heute in London, morgen in 171
Marseille. Gelangten via Airbus an immer neue Schauplätze. Die Ermittler in ihren Büchern kannten keine unmotivierte Verstimmung; die waren aus einem besonderen Holz. Sie zahlte. Stand draußen im Windfang, überlegte, was nun zu tun sei. Irgendwie mußte die Zeit totgeschlagen werden. Bis zum Abend. Haushalt machen kam nicht in Frage, an so einem Glückstag. Sie würde schon was mit sich anzufangen wissen, sich paar fidele Stunden bereiten; ihr würde schon was einfallen. Schlenderte zur Bushaltestelle. Fuhr mit bis Unter den Linden. Vor den Schaufenstern, im Geschiebe dieser aufgepuppten Leute schwand jenes Überlegenheitsgefühl, das sie beim Umsteigen, Ostkreuz, gespürt hatte. Sie hätte gern mal gewußt, was all die hübschen Dinge kosten, aber dann müßte sie reingehen und fragen, da war sie gehemmt. Kam sich klein vor, ein kleines Licht; nicht mehr in der Haut ihrer Helden. Hochhackige Damen, Parfüm, Mäntel, Pelze, Schlipse aus den Verwaltungen. Wie Haie glitten Wagen im Schwarz der Straße. Und im Betrieb – die haben in einer Stunde Mittag. Sie stand vor Botschaften, Theatern, klassizistischen Gebäuden unbekannter Verwendung. Im Lindencorso war sie mal zum Frauentag. Faßte den Komplex der Staatsbibliothek ins Auge: Bis unters Dach voll Wälzer – unglaublich. Ob es viel ist, das sie nicht weiß? Ob es ihr was nützte; ob es ein Wissen gäbe, das glücklicher macht, nicht nur vorübergehend, als euphorischer Augenblick, sondern auf Dauer; ob es ein Lesen gäbe, nicht nur zum Zeittotschlagen; ob es ein Wissen wäre, das ihr Leben verändern könnte …? Sie fragte sich auch – und es war das erste Mal seit Jahren, daß sie so absonderliche Gedanken heimsuchten, 172
und hatte mit jenem beklemmenden Vakuum zu tun, als das sich bis zum Abend unverhoffte, unausfüllbare Zeit eröffnete – warum auf der Welt soviel Unglück ist, angesichts so vieler Gelehrsamkeit; ihr schien, Fräulein Thalmer mache auch mehr Wind um derartiges, als es verdient. Bestätigte sich, war sich sicher, nichts versäumt zu haben. Ganz gut im Rennen zu liegen. Sie hat Durchblick, ist informiert. Erfahrungen: Lebenserfahrung. Und erst angesichts der Hotels an der Friedrichstraße, beim neugierigen Blick durch abweisende Scheiben wurde sie darauf gestoßen, daß sie das Leben nicht kannte, es gab da wohl eins, das sich von dem ihrigen unterschied, und daß sie die Welt nicht kannte, es gab da wohl noch eine außerhalb vom Prenzlauer Berg, und eine gewisse Ernüchterung fiel sie an. Zu Hause – endlich! – in den eigenen vier Wänden, schnippelte sie die kalten Salzkartoffeln in die Pfanne. Schob den Rest Kaßler aufs Gas. Machte sich über das Geschirr in der Spüle her und saß dann am Küchentisch, neben dem Fenster, stocherte mit der Gabel im Essen, vor ihr, seitlich des Bords abgegriffener Rücken, tickte ein roter Strich, der Sekundenzeiger der elektrischen Wanduhr. Runde um Runde. Der Wendelin jedenfalls, mit seinem allgewaltigen Auftreten, Chefallüren, den weißen Manschetten, wäre schon morgen froh, wenn er so Aufgewärmtes bekäme. Mit guter Butter. Auf Nummer Sicher. Sie grübelte dann noch über dem fettigen Teller; lange war sie nicht so angeschlagen gewesen. Und grundlos! Bloß nicht auf Dauer zu Hause bleiben: Abgesehen davon, daß sie mit der Rente schlecht zurechtkäme – sie ginge an diesem Zeittotschlagen zugrunde. Kommt ohne Arbeit nicht über die Runden, braucht das. Kann auch keiner über die eigenen Stellagen springen. Starrte nach draußen – Gisela, nun mach mal halblang! Hof. Vorderhaus. Vögel. Am Dach; in der Torfahrt. 173
Das Viehzeug ist Viehzeug, was es auch anfängt; aber der Mensch fragt: Wie soll ich leben. – Sie hat sichs nie ausgesucht. War immer alles schon vorgegeben. Andere bestimmten – Eltern, der Mann, Verhältnisse – was zu tun und zu lassen ist. Sie war, bei aller Schandschnauze, immer willfährig gewesen, vertrauensselig … Vielleicht ein Fehler? Blaufahl durchpulste Geflacker der Bildröhre die Stube, und sie war dankbar für dieses Licht, obgleich sie den Worten des Moderators nicht zu folgen vermochte noch wollte. Schaltete den Heizstrahler an, hüllte sich in die grüne Decke. Im Betrieb machen die jetzt langsam Sense. Der Sperling ist Sperling, aber der Mensch ist Disponent, oder Kriminalist, oder Dichter, ist er dabei auch glücklich? Stefanie hatte nur im Vorbeigehen, vom Korridor her gegrüßt, sich in ihrem Zimmer einschließen wollen, um unbehelligt an der Kapiteleinteilung zu arbeiten, kam dann aber doch noch mal zurück, die seufzende Erwiderung entsprach nicht gewohntem Plaschkeschen Stimmvolumen. Die hatte doch nicht etwa ihren angekündigten Alleingang wahr gemacht? Da ist doch hoffentlich kein Malheur passiert! Ihr wurde himmelangst. „Ach Gott, Fräuleinchen, jeder hat mal Unterpegel. Immer hält sich keiner nich oben. Fängste erst an zu grübeln, guckste bald betrippt aus der Wäsche. Aber Unkraut vergeht nich.“ Das war jedenfalls für Frau Plaschke nicht typisch, von der Seite kannte sie die noch gar nicht. Die sollte doch bloß keinen Unfug machen, jetzt, nachdem sie sich entschlossen hatte, die Vermieterin in ihren Roman aufzunehmen. Berentete Werktätige, immer obenauf, derbdirekt, wohltuend unkompliziert, frei von jener Zerris174
senheit, vor der man doch – dies dürfte im Sinne Frau Änderings sein – wenigstens die Spannungsliteratur, jene zu Unrecht geringgeschätzte Bastion unproblematischer Bejahung, bewahren möchte. Stefanie, mit einem Kopfwinken zur Kredenz: „Wollen Sie vielleicht nen Schnaps?“ Nee, hat sie jetzt keinen Janker drauf. Einfach so Trübsal blasen lassen durfte sie die auch nicht. Hier waren zwei Hände und ein bißchen gutes Zureden gefordert. Erst mal die Flimmerkiste aus, das Gelaber machte einen konfus. „Wieso haben Sie denn nicht geheizt?“ Das war ja unheimlich. Hoffentlich kündigte sich da keine Krankheit an. „Aber direkte Beschwerden … Ich meine: Weh tut Ihnen nichts?“ Die Plaschke schüttelte den Kopf; ach was! Sie ist völlig in Ordnung. Hat eben auch mal fünfe grade sein lassen. Aus gutem Grund. Aber dann ist es ihr ergangen, wie einem Schmachtlappen, der zwanzig Jahre hinter demselben Rock her ist, und dann erfüllt sich sein Herzenswunsch, Hochzeit, und paar Monate später schneiden sie ihn hinterm Haus von der Teppichstange. Und nicht, daß die Frau was für kann. „Scheußlich, Frau Plaschke! Das haben Sie doch wieder in einem dieser Thriller gelesen: Für starke Nerven … Sie drehn noch mal durch über dem Zeug!“ Kohlenanzünder, Holz, Briketts – nachdem sie angeheizt hatte, die Ofenklappe offen, zum Durchbrennen, leistete sie im zweiten Sessel ein wenig Gesellschaft. Resümierte: „Viel Erfolg hatten wir heut nicht … Bei der Ermittlung.“ Die Plaschke schwieg, verdächtig desinteressiert, und Stefanie, noch erwägend, ob nicht das Ganze ein neuartiger Kunstgriff sei, einstudiertes Theater, darauf berechnet, sie zum Plausch zu verleiten, warf einen abklärenden Köder aus: „Allerdings wurde eine Spekulation Hauptmann Werls gerichtsmedizinisch bestätigt: Herzversagen durch elektrischen Strom, Ertrinken se175
kundär. Damit ist wenigstens die Todesursache geklärt.“ „’ne Frau in meinem Alter“, sagte Frau Plaschke leise, „stellt sich ausnahmsweise auch mal ganz andere Fragen …“ „Die haben sich auch uns aufgedrängt: Wie konnte der Täter die Stromfalle anbringen? Woher wußte er, wann Frau Lindthaler das Bad benutzen würde? Und so weiter, und so weiter.“ Bereitwilliger, offenherziger Vortrag, hier war nicht mehr viel zu verderben. Es war wohl auch Frau Plaschkes Lethargie nur aus diesem einen Punkt zu kurieren. Das Interesse habe heut vornehmlich zwei Personen, einem Nostalgieritter und einer Rommédame gegolten. Bei beiden tappe man noch im dunklen. Verdachtsmomente bestünden; aber noch füge sich nichts zu einem plausiblen Bild. „Glauben Se überhaupt“, gestand die Vermieterin bohrende Zweifel, „daß es einen gibt, der auf jede Frage ne Antwort wüßte? Un wenn man alle Verse der Welt liest, is man denn schlauer?“ „Jedenfalls sind doch Indizien da, an die man sich halten kann, darunter ein Hinweis, der unseren Ermittlern besonderes Kopfzerbrechen bereitet – jener Urin im Toilettenbecken.“ Sensatiönchen, Stoff für neue Kombinationen, das würde Frau Plaschkes Geist in Wallung und ihren Körper auf die Beine bringen. Man muß den Mitmenschen akzeptieren, wie er ist, auch in seinem Unterhaltungsbedürfnis. Die Plaschke machte momentan nicht den Eindruck, als würde sie mit den Informationen Unheil anrichten. „Die Blutgruppe stimmte mit der Frau Lindthalers überein, insofern schien alles klar. Jetzt hat man aber festgestellt, daß ein anderes Merkmal fehlt – also stammt der Urin nicht vom Opfer. Frau Lindthaler … hatte Krebs. Sie wäre in einigen Monaten gestorben …“ „Mal geben wir alle den Löffel ab, Fräulein. Is bloß die 176
Frage, was du bis dahin gelöffelt hast. Meine Mutter wußte noch, wie se zu leben hat: hunderttausend Regeln für jede Gelegenheit. Heute is alles außer Kraft. Wer sagt Ihnen nun, was richtig is un was nich? Springste bald übern Bach, isses zu spät. Oder was glauben Sie?“ Stefanie, am Ofen, mit Schürhaken, sagte in das Knacken des Holzes: „Machen Sie sich keine Sorgen, Frau Plaschke! Ich halt sie auf dem … Richtig ziehn tut der aber kaum, das müssen Sie mal der KWV melden! – Ich halt sie auf dem laufenden. Und da Sie hundert Jahre alt werden, erfahren Sie den Täter gewiß noch auf dieser Seite des Bachs. Werl verdächtigt übrigens nach wie vor die Wendelins. Am meisten, hab ich das Gefühl“, sie wandte sich um, von der Hitze gerötete Wangen, „traut er es dem sympathischen Familienoberhaupt zu.“ Frau Plaschke wickelte sich aus der Decke. Rückte im Sessel vor, schlüpfte in ihre Schlappen. Das Gesicht belebte sich, drückte wachsende Teilnahme aus. „So?“ krächzte sie, hüstelte, rief: „Also auf den tippt er? Na, Fräulein, dann isser mit allen Wassern gewaschen, euer Werl! Hat ne feine Witterung!“ Erhobenen Fingers: „Und nun setzen Se sich mal auf Ihren Wertesten; jetzt wird Ihnen die Plaschke ne Mitteilung machen, Mädelchen, daß dir die Schnute offenbleibt …!“
19 Angriff ist die beste Verteidigung. Und wer selber keine reine Weste hat, tut gut daran, andere zu beschuldigen. Dennoch bedurfte es für Stefanie einiger Anstrengung, eine überzeugend vorwurfsvolle Miene aufzusetzen. Nicht, daß sie schauspielerisch unbegabt war: das schlechte Gewissen machte zu schaffen. „Ich habe da eine Information, Herr Werl, die von großer Wichtigkeit ist …“ 177
„So ähnlich begrüßte mich die Genossin Seyffarth einige Zeit bevor sie in Schwangerschaftsurlaub ging.“ „Na, bei mir ist es was anderes.“ Sein verschmitztes Gesicht würde jetzt gleich sehr ernst werden. „Max Wendelins Alibi ist erlogen. – Zu dieser Aufdeckung haben übrigens Sie den Anstoß gegeben!“ Sie spürte, wie ihr das Blut zu Kopf stieg. Der Hauptmann tastete nach den Lehnen, plumpste in den Stuhl zurück: „Was sagen Sie?“ Jeden Schritt, den er der Lösung dieses Falles näherkommt, säumen Unannehmlichkeiten, eine solche scheint auch hinter der Verlegenheit der Hospitantin verborgen; er wagt schon nicht mehr, sich vorzustellen, unter welchen Begleiterscheinungen die letzte Szene, das Geständnis des Täters, ablaufen könnte. „Sie erinnern sich doch Ihres Anrufes, als Sie mich zum Tatort bestellten? Ich war nicht gleich am Hörer, sie sprachen zuerst mit meiner Vermieterin …“ „Aber doch nicht über den Fall!“ So hatte er es kommen sehen. Aber dafür sollten andere geradestehen. Er war klipp und klar dagegen gewesen: Die MUK ist keine Schriftstellerwerkstatt! „Was haben Sie ihr also alles erzählt? Was weiß sie? Auf welchen Marktplätzen wurde es sonst noch ausposaunt? Und was hat das Ganze mit Wendelin zu tun?“ „Ich hatte ihr vorher von Ihnen erzählt, da wars ja noch kein Geheimnis. Sie wußte, indem Sie Ihren Namen sagten, daß sie mit der MUK telefoniert. Die Frau ist die Neugierde in Person: Was bedeutete der Anruf, wo wollte ich so eilig hin, was hatte es mit der Adresse, die ich am Hörer wiederholte, auf sich?“ Besorgt beobachtete sie, ob Werl die Fabel schluckte; ganz hatte es nicht den Anschein. Aber der Fakt mußte auf den Tisch. „Sie ist wirklich ahnungslos … Will sagen: Kennt keine Details. Allerdings hatte ich beiläufig fallenlassen … Also wir sprachen über Engpässe bei Ersatztei178
len, auf Industriegüter im Allgemeinen bezogen, und da rutschte mir so raus, daß jemand – ohne Namen zu nennen! – der in eine Sache verwickelt ist – ohne die Sache zu konkretisieren! – auf dem Gebiet Kfz-Ersatzteile tätig sei, und sich da nicht schlecht stehe, was ein eigenes Haus beweise. Nun erzählt mir die Frau gestern abend, sie sei in einem derartigen Geschäft oder Einkaufszentrum gewesen und mit einem Leiter zusammengerasselt, und wie sie den Namen erwähnt, ist es Wendelin! – Ich hab mir nichts anmerken lassen …“ „Was für einen Wagen fährt denn die Dame?“ Die naheliegende Frage brachte Stefanie in einige Verwirrung. Stotterte etwas von Besorgungen für Leute aus der Nachbarschaft; jedenfalls hätte ihre Vermieterin Max Wendelin um Keilriemen befragt, und dabei habe dieser die Bemerkung fallengelassen, ihm wäre noch nie einer gerissen. „Mir ist noch nie einer gerissen – wortwörtlich! Was sagen Sie dazu?“ „Nichts.“ Der schien von ihren Eröffnungen wenig erbaut. „Aber ich hab eine Frage. Man bescheinigt doch Dichtern eine blühende Phantasie: Wie lange haben Sie für die Story gebraucht?“ Wenn er sie jetzt rausschmeißt, es gibt einen Skandal. Das wird im Verlag breitgetreten, in der Nachwuchskommission des Verbandes werden sie sich die Mäuler zerfetzen – bis sie mal so bekannt ist, daß es ihr als liebevoll zurechtgestutzte Anekdote zum Ruhm gereicht, können noch Jahrzehnte vergehn. Werl hockte stumm, wie niedergedrückt vom eigenen Übergewicht hinter dem Schreibtisch. Ein Donnerwetter wäre ihr lieber gewesen. Dieses Brüten konnte verhängnisvolle Entschlüsse zeitigen. „Es wäre auch anachronistisch“, verriet er erste Resultate seines Bedenkens, „wenn ausgerechnet Literaten große Schweiger wären. Dieses Nichts-für-sich-behaltenKönnen rechne ich Ihnen als Berufskrankheit an. Aber 179
daß ich das mache, hängen Sie bitte nicht an die große Glocke; vor allem nicht in Ihrem Roman.“ Es wäre besser, er würde ihr glauben, das würde sein und ihr Gewissen erleichtern, nur deshalb meldete sie Einspruch an: „Nun glauben Sie wohl gar, daß ich gequatscht hab? Im großen und ganzen …“ „Im großen und ganzen wimmelt es in diesem Land von Leuten, die sich an Vorschriften klammern. Sind keine greifbar, tun sie gar nichts. Die laden nie außergewöhnlichen Lorbeer auf sich, freilich auch keine Schuld. – Der Erfolg heiligt die Mittel; sogar nachträglich. Sogar, wenn er nicht in der Weise geplant war. Wendelins Alibi mag widerlegt sein, ich nehme das erst mal zur Kenntnis. Wer wie darauf kam, ist unerheblich … Aber ich warne Sie …!“ Stefanie atmete auf, nickte eifrig, als Werl ihr empfahl: „Verschonen Sie den Genossen Brandenburg. In seinen Schnellheftern fände sich für Sie keine Entschuldigung.“ BEHANDLUNGSZIMMER – EINTRITT NUR NACH AUFRUF! Daran mußte sich ein MUK-Mitarbeiter nicht gehalten fühlen; aber der Unterleutnant mochte auch nicht riskieren, etwa eine wenig oder noch weniger bekleidete Dame von der Untersuchungspritsche zu jagen. Den Moment, bis die Schwester, wahrscheinlich jene, auf die er es abgesehen hat, Ilona Wendelin, raussehen würde, postierte er sich im Flur. Die ältere Frau gegenüber, deren Leidensmiene unversehens ein stilles Gedenken verklärte (irgend etwas erinnerte sie plötzlich an ihren im Frühjahr verblichenen Goldhamster), trat zu dem sympathischen semmelblonden Herrn, wispelte: „Und Sie, wie sind Sie mit Frau Doktor zufrieden?“ „Ich kenne die Ärztin nicht.“ Die freundlichen Frontzähne anhimmelnd, flüsterte sie: „Ach, sie versteht sicher was vom Fach. Aber ein guter Heilpraktiker wäre mir lieber …“ Sie neigte sich vor: 180
„Neulich mußte ich doch zum EKG. Nachmittags. Den ganzen Tag nichts zu mir genommen. Mir war zuletzt sterbenselend. Und dann sagt die Assistentin, aber Frau Lehmpfuhl, sagt sie, deshalb brauchten Sie doch nicht nüchtern zu bleiben; ich sage, ja aber das hätte mir doch Frau Doktor sagen müssen … – Haben Sies auch mit dem Blutdruck?“ Ilona Wendelin, im Schwesternkittel, Stoß Krankenblätter im Arm, rief: „Frau Weinrath! – Herr Schweiger! – Frau Selbmann! – Frau Lehmpfuhl … Hier Frau Lehmpfuhl, damit melden Sie sich morgen früh im Labor; aber nicht später als neun Uhr!“ „Muß ich denn da nüchtern bleiben?“ „Natürlich; nichts essen, nichts …“ Sie starrte auf Brandenburg, erkannte ihn sofort, obgleich er diesmal eine helle, lederbesetzte Webpelzjacke trug. „Sie wollen zu mir?“ Ihre Stimme verriet ein inständiges Hoffen, daß dem nicht so wäre, daß er sich im nächsten Moment, die Hand auf den Leib gepreßt (Gastritis, Duodenitis) oder den Arm in den Rücken gestemmt (Lumbago, Ichialgie) oder mit anderen, beliebigen Beschwerden, als behandlungsbedürftig erweisen werde; geschah aber nicht. „Ich möchte Sie kurz unter vier Augen sprechen.“ Die beiden anderen, Werl und Stefanie, brauchten nicht zu suchen, gingen einfach dem Schall nach: selbst gepolsterte Türen hätten die im Zimmer des Handelsleiters gewitternde kollegiale Aussprache kaum verheimlicht. Wobei freilich nur Max Wendelins Entrüstung durchdrang. „Natürlich haben Sie!“ – – – „Reden Sie nicht so einen Blödsinn!“ – – – „Was in Ordnung ist, bestimme ich!“ – – – „Sie Armleuchter! Sie werden mich kennenlernen, mit Ihnen …“ Werl klopfte kurz, trat mit Stefanie ein; Max Wendelin, krebsrot, hinter dem Schreibtisch hochgegangen, verschluckte das Schlittenfahren, sank ein wenig, die 181
Arme auf die Platte stützend, vornüber, flötete: „Ah, Genossen – kommen Sie rein …“ und schluckte Beruhigungspillen; der bebrillte, picklige Verkäuferlehrling, eben herbeizitiert, jetzt lästig, schlug aus der Störung Kapital, entschlüpfte erleichtert nach draußen. „Setzt euch, Genossen … Wollt ihr ablegen?“ Wendelin war schon an der Tür, rief über den Flur: „Fräulein Pittkowski! Drei Kaffee bitte!“ Faltete im Clubsessel, an dem flachen Besuchertisch die Hände: „So, Genossen; ich hoffe, ihr seid bei euren Ermittlungen vorangekommen …? Da wir nun mal das Unglück haben, rein örtlich von der Sache betroffen zu sein, sind ich und meine Familie hochgradig an einer umfassenden Aufklärung interessiert – aber Sie haben sicher spezielle Fragen? – Kaffee kommt gleich, das dauert nur einen Moment …“ „Uns quält eigentlich nur eine Frage, Herr Wendelin; und ich bin sehr gespannt, wie Sie die beantworten werden –“ „Ja; so fragen Sie doch“, Wendelin scharrte unruhig mit den Füßen. Waage, Meßlatte, zwei Sauerstofflaschen, Sterilisator, und Brandenburg setzte sich auf die Kante der Untersuchungsliege, konfrontierte Ilona mit dem Bedauern: „Da haben Sie uns eine schöne Geschichte erzählt: rund, dicht, gut durchdacht und fast glaubhaft. Aber leider mit sehr kurzen Beinen versehen. Zu kurzen!“ Gegen den Spritzentisch stehend, ihre Hand umkrampfte die Metallschiene, rot und blaß stieß Ilona hervor: „Ich weiß nicht, wovon Sie reden; ich bin auch nicht bereit, in Abwesenheit meines Mannes …“ „Sie werden Ihren Gatten vermutlich noch öfter entbehren müssen. Falls Sie in Untersuchungshaft kommen. Falls Sie auf die Anklagebank kommen. Nicht das einzige, was man Ihnen vorwerfen kann, ist Irreführung der Sicherheitsorgane; schließlich werden es handfeste 182
Gründe sein, die Ihre Einbildungskraft zu so halsbrecherischen Loopings aufstacheln. Oder kommt da bei Ihnen eine bloße Lust zum Fabulieren durch?“ „Was wollen Sie?“ fragte Ilona gequält. „Die Wahrheit, Frau Wendelin! Nichts als die Wahrheit! Wie haben Sie die Leiche gefunden? Wann?“ „Aber das wissen Sie doch!“ „Wir vermuten einiges. Die Gewißheit müssen Sie uns geben.“ „Ich hab alles gesagt.“ Brandenburg verzog das Gesicht, als schmerzten ihn jene bewußten, augenfälligen Attribute im Oberkieferbereich. „Wir reden jetzt irgendwie aneinander vorbei, Frau Wendelin. Mir steht nicht der Geschmack danach, Ihre Münchhausiaden erneut zu verkosten: daß Sie aus dem Badezimmer der Ermordeten Licht durch die Türritzen sahen – obgleich, wie inzwischen erwiesen, gegen achtzehn Uhr auf der oberen Etage die Sicherung rausgesprungen war –, haben Sie uns allerdings schon mehrfach vorgeflunkert. Diesmal verlange ich von Ihnen Tatsachen. Und zwar unverarbeitet. Pur. – Und nun packen Sie aus!“ „Wo waren Sie … na, Sie wissen schon: am Abend des Mordes; das müssen Sie uns verraten, und das ist alles, was wir von Ihnen hören wollen“, Werl blickte zu Stefanie, die nickte. Wendelin runzelte die Brauen, „Also Genosse, ich muß schon sagen … Ich war der Ansicht, Sie benötigen Auskünfte über Frau Lindthaler, deren Bekanntenkreis, statt dessen interessieren Sie sich weiterhin vorrangig für meine Person; aber bitte sehr! Nur kann ich Ihnen heute nichts anderes offerieren als vorgestern.“ „Das ist doch Unfug, Herr Wendelin: zweimal dieselbe Ente! Und morgen nehmen Sie alles zurück, wie gestern? Unser Interesse rührt einfach daher, daß Sie sich selbst 183
interessant machen. Oder weshalb wollen Sie bereits widerrufene Behauptungen erneuern?“ „Ich begreife nicht …“ Wendelin zog die Schultern hoch, wandte sich kopfschüttelnd Stefanie zu: „Wovon wird hier gesprochen? Worum geht es?“ Werl: „Sie haben gestern Ihr Alibi dementiert. Sind eindeutig von dieser ohnehin unglaubwürdigen Pannengeschichte abgerückt. Nun tun Sie den zweiten Schritt: Verraten Sie uns: Wo waren Sie wirklich?“ „Abgerückt? Lachhaft! Wer hat solchen Unfug ausklamüsert?“ Werl warf die Lippen auf, legte das Haupt schief, konsterniert über so lückenhaftes Gedächtnis. „Wahrscheinlich hat sich die Dame nicht ordnungsgemäß vorgestellt, die Kollegin ist eines meiner besten Pferde im Stall; keine Schande, da zu unterliegen. Na, nun geben Sie mal Ihrem Erlebnisspeicher einen Stoß! Zumindest an Ihren Ausspruch bezüglich des Reißens von Keilriemen werden Sie sich doch erinnern: Mir ist noch keiner gerissen …!“ Abrupt fiel bei Wendelin der Groschen; starrte zwischen dem Hauptmann und seiner Begleiterin durch, als sähe er ein Gespenst. Das hätte er nicht für möglich gehalten, um alles in der Welt! Mit solchen Mitteln: auf waschechte, gewöhnliche Altberliner Scharteke getrimmt, Dreistigkeit und Klappe – daß man ihm so routinierte, clevere Experten auf den Hals hetzte, mit einer gewieften Komödie hatte die ihn überrumpelt! –, solchen Kunstgriffen ist niemand gewachsen. „Ich … ich habe nicht damit gerechnet, daß Sie so weit gehn … Ich gebe mich geschlagen: Genossen, Ihr müßt mich verstehen! Meine Frau …“ Er atmete tief, verzweifelt, wandte das Gesicht ab. „In was hab ich mich da hineinmanövriert! Aber das geschieht mir recht, warum war ich nicht offen, warum hab ich mich den Organen nicht anvertraut, warum diese Ausflüchte, diese Erfindungen, warum nicht ehrlich bekennen: Genossen, ich pflege ein moralisch 184
sauberes Eheleben, ich bin bestrebt, im ehelichen Umgang die Regeln unserer Moral und Lebensweise zu verankern; aber meine Frau ist krankhaft eifersüchtig, und ausgerechnet an diesem fraglichen Abend …“ Er holte Luft, gestand: „Ich hatte eine Verabredung.“ Wehrte erhobener Hände: „Verstehen Sie mich nicht falsch: eine mir völlig fernstehende Person: eine Kundin. Es gibt, ich sehe das ein, keinen rationalen Grund, mit dieser Harmlosigkeit hinter dem Berg zu halten; aber die Eifersüchteleien, der latente Argwohn in meiner Ehe hat mich psychisch … Ich bin schon regelrecht verklemmt! Ich wage nicht mehr, weibliche Personen, und seien es meine unmittelbaren Mitarbeiterinnen, zu Hause auch nur zu erwähnen! – Und meine Frau war anwesend, als Sie mich vernahmen … Und ausgerechnet eine Schauspielerin; sie hätte mir das wochenlang aufs Butterbrot geschmiert! Das ist natürlich alles keine Entschuldigung, ich weiß … Aber ich habe mit dem Mord nichts zu tun; deshalb sagte ich mir, es kann die Ermittlungen der Organe nicht beeinträchtigen, ob du nun dieses oder jenes Alibi angibst.“ Stefanie forderte: „Also bitte, dann erläutern Sie uns jetzt jenes! Was ist das für eine Schauspielerin?“ In Werls Zügen war zu lesen, daß er ähnlich gefragt hätte. Wendelin wand sich, er hat nichts zu verheimlichen, aber so viele Komplexe. Nannte den Namen, die Adresse. Die Künstlerin hatte ihn auf so charmante, unwiderstehliche Art gebeten, um einen Ansauggeräuschdämpfer für ihren Trabant 601 besorgt zu sein, daß er ihr den – da sie gewissermaßen auf dem Weg wohnt – gleich Montag, als Lieferung gekommen war, persönlich nach Hause brachte; ein außergewöhnlicher Kundendienst, gewiß, aber auch eine außergewöhnliche Frau … Er stockte, verhaspelte sich. „Und für diesen Vorgang – auf dem Weg, wie Sie sagen – benötigten Sie über eine Stunde?“ verwunderte sich Werl. 185
„Geradeheraus: Sie bat mich, gleich zu montieren. Als Mann kann man da schlecht nein sagen. Nur bin ich freilich kein Kraftfahrzeugschlosser; also fix-zwei-drei gehts nicht. Sie bemerken: Gebaut hab ich; zwar nich an meinem Wagen, dafür an einem anderen.“ Für das Eindrehen zweier Schrauben brauchte auch ein Laie keine Stunde. „Und ein amouröses Abenteuer? Vorher, hinterher?“ Irgendwie kam Werl die Spanne dafür freilich zu kurz vor: Die Dame würde sich nicht so auf die Schnelle, zwischen Wendelins Dienstschluß und einer Autoreparatur, beglücken lassen. „Wo denken Sie hin, Genosse, ich versichere …“ „Schon gut; wo führten Sie die Reparatur aus?“ „In der Garage natürlich.“ „Frau Rosbigalle reichte Ihnen Werkzeug zu?“ „Sie blieb im Haus.“ „Wie lange hielten Sie sich in der Garage auf?“ Wendelin biß die Zähne zusammen; es ist ein Nachteil jeglicher Beruhigungsmittel, daß keine Sofortwirkung eintritt. Zischte: „Eine halbe Stunde … Ich hab nicht auf die Uhr gesehn!“ „Und die übrige Zeit?“ Ihm schoß das Blut unter die Haut. „Dann war’s eben länger!“ Verlor sich aus der Gewalt, schrie: „Zwei, fünf, vierundzwanzig Stunden!“ Unbezwingbarer Jähzorn; schlug auf den Tisch, sprang auf, brüllte: „Ich wende mich an das Ministerium des Innern! Das ist eine Hexenjagd, was hier inszeniert wird! Ich weise Ihre Verdächtigungen zurück!“ Grenzenlose Wut, Erbitterung; man schluckt vieles in sich hinein, irgendwann ist das Maß voll. Irgendwann läuft der Krug über. Alles hat seine Grenzen, er ist bereit, er ist brauchbar, aber wenn man so auf ihm rumtrampelt, ist der Riemen runter! „Beruhigen Sie sich, Herr Wendelin. Ich frage nur in Ihrem eigenen Interesse. Wir möchten, daß Sie aus dieser Angelegenheit, selbst wenn wir den Täter nicht ermitteln, 186
mit einer schneeweißen Weste hervorgehn. Da sollte auch nicht mehr die Spur eines Verdachtes Nahrung finden, das sind wir Ihnen schuldig. Also: in der Garage; wie lange?“ „Dreiviertelstunde maximal. Ich überprüfte bei der Gelegenheit den Gesamtzustand des Wagens.“ „Aber Sie sagten, Sie seien kein Fachmann!“ „Kupplungsspiel, Bremse, Luftdruck, was jeder Kraftfahrer beherrscht; Fräulein Rosbigalle mußte dann zu Aufnahmen.“ Da die Sekretärin mit dem Kaffeetablett eintrat, konnte sich Stefanie nicht der Bemerkung enthalten: „Aber wenigstens zu einer Tasse hätte die Sie einladen können. Bei dem Service, der ihr da geboten wurde …“ „Ich bin verzweifelt“, Ilona, schluchzend, barg das Gesicht in den Händen. Brandenburg sagte: „Nun sitzen Sie drin in der Tinte bis über beide Ohren!“ Ilona, jammernd: „Aber können Sie sich denn nicht in meine Lage versetzen?!“ „Das versuch ich schon dauernd. Noch mal von vorn: Sie begaben sich, im Gegensatz zu Ihrer früheren Aussage bereits einmal gegen 18 Uhr 30 in die obere Etage. Um das Rezept raufzubringen, ist das richtig?“ „Ja, ich mutmaßte, sie wäre nun mittlerweile aus der Wanne und …“ „Woher wußten Sie, daß die Lindthaler die Badewanne benutzte?“ „Das Rauschen; ich hörte, wie sie oben einlaufen ließ. Es war eine Stunde vorher – ich hätte nicht darauf geachtet, wäre nicht nachmittags abgestellt gewesen. Bei uns in der Gegend wird laufend an den Rohren geschweißt, und da dachte ich, als es über uns lief, nun kannst du endlich den Abwasch wegmachen.“ „Die Flurbeleuchtung ließ sich einschalten? Auch im Obergeschoß?“ 187
„Nein, oben nicht. Ich nahm an, die Birne wäre durch.“ Sie stützte die Stirn in die Hand, schüttelte verzweifelt den Kopf. „Wie ich schon sagte, ich klopfte bei ihr an, sie meldete sich nicht; schien auch alles dunkel, und da überlegte ich – sie konnte unmöglich aus dem Haus sein –, ob sie vielleicht noch im Bad wäre … Ich hab dann aufgeklinkt …“ „Schloß sie sich nie ein?“ „Das entzieht sich meiner Kenntnis.“ „Was sahen Sie?“ „Zuerst wenig, auch hier kein Licht; aber die Helligkeit vom Flur her, von unten, reichte, um dann doch zu erkennen, daß die Wanne noch voll war.“ Sie beteuerte: „Ich weiß nicht mehr, was ich in dem Augenblick dachte; ich hatte ein ungutes Gefühl, bestimmt; wahrscheinlich ging ich deshalb zum Sicherungskasten.“ „Sie drückten die Automatik rein; im Flur, im Badezimmer brannte die Beleuchtung, und nun stellten Sie fest, was außer Wasser noch in der Wanne war. Darauf liefen Sie nach unten, nahmen mehrere Schluck aus der Flasche … und taten gar nichts. Das machen Sie mir nun mal plausibel.“ „Ich verstehs ja schon selbst nicht mehr. Zuerst war ich nur erschrocken, der unverhoffte Anblick … Dann wurde mir klar, daß ich mich nicht einmal überzeugt hatte, ob sie auch wirklich tot ist. Sie befand sich zwar unter Wasser, aber das konnte in den letzten Minuten passiert sein: Ich hätte Reanimation, also Wiederbelebung versuchen müssen, künstliche Atmung, Herzmassage; statt dessen hatte ich eine viertel Flasche Wodka gekippt. Und da kam dieser Schuldkomplex hoch …“ Brandenburg, indem er seine Notizen überflog, vergewisserte sich: „Sie hatten auf Ihrer vorigen Arbeitsstelle – eine Innere Station war das, ja? – Sie hatten also durch leichtfertiges Verhalten bei der Medikamentenausgabe einen Patienten in lebensgefährlichen Zustand 188
versetzt und wurden deshalb mit strengem Verweis bestraft. Nun befürchteten Sie, man könnte Ihnen unter Hinweis auf jenen Vorfall, hinsichtlich Frau Lindthaler ähnliche Vorwürfe machen – ist das so richtig?“ „Ja.“ „Sie beschlossen also, etwas zu arrangieren, das normalerweise in der Natur nicht vorkommt: ein unabänderliches Versäumnis dadurch aus der Welt zu schaffen, daß sich derselbe Vorgang wiederholt: Sie fanden die Leiche ein zweites Mal. Aber diesmal, Frau Wendelin“, der Unterleutnant schwenkte seinen Zeigefinger in Emphase gegen die verstörte Sprechstundenhilfe, „und jetzt nagle ich Sie fest! Diesmal verhielten Sie sich ja nicht anders! Keine Spur von Reanimation – warum dann die ganze Komödie!“ „Das kann ich rational nicht verdeutlichen“, Ilona, verzweifelt, preßte die Hände gegen die Schläfen. „Gibt es denn für alles, was man tut, eine sinnvolle Erklärung? Sollte ich denn wirklich so weit gehen, und nach anderthalb Stunden Wiederbelebungsversuche imitieren? Mir reichte es, daß ich Zeugen hatte, vor denen mir schlecht werden konnte, ich ließ mich einfach zusammensacken, packte mich auf die Couch, ich … Was soll ich Ihnen denn sagen?“ „Die Wahrheit!“ Brandenburg dachte an die sehr weitschweifige, schwer durchschaubare Definition, die dieser so schlicht erscheinende Begriff in einem seiner Schnellhefter gefunden hatte; eine unbewußte Befürchtung, die Vernommene könne ihm eine Zitierung abnötigen, ließ ihn hinzusetzen: „Ich frage mich zum Beispiel, ob Sie nicht weitere Beobachtungen gemacht haben. Vielleicht nahmen Sie noch andere Geräusche wahr: Schritte, Stimmen …“ Ilona besann sich, zuckte die Schultern, nein, sie schüttelte den Kopf, hat sie nicht. „Nein, nichts. Die Toilettenspülung, aber ansonsten wirklich nichts.“ 189
Der Unterleutnant konnte seine Erregung schwer verbergen (Werl würde Augen machen! Jetzt erst wird das bernsteinfarbene Indiz ein unbezweifelbares Indiz!), stieß hervor: „Wann war das?“ „Ganz zu Anfang. Das Badewasser lief nicht mehr, und … und statt dessen hörte ich die Toilettenspülung.“ „Wieso war das möglich“, versuchte Brandenburg die Aussage zu erhärten, „Sie hatten doch Ihren Abwasch vor, das heißt, ließen selbst Wasser laufen – das hätte doch ähnliche Geräusche übertönen müssen!“ „Ich stellte den Hahn einen Moment ab, weil ich draußen das Auto vernahm …“ „Welches Auto?“ „Vom Klang her, glaubte ich, das meines Mannes …“ Sie schien jetzt ziemlich fertig mit den Nerven, und die letzte Bemerkung mußte ihr wohl wider Willen über die Lippen geschlüpft sein; beeilte sich, zu versichern: „Er wars natürlich nicht; aber in dem Moment ging oben die Spülung.“ „Sahen Sie das Fahrzeug?“ „Wahrscheinlich hatte gar keins gehalten. Der Eindruck war wohl dadurch entstanden, weil ich meinen Mann erwartet hatte, man bildet sich ja unter solchen Bedingungen leicht mal was ein.“ Brandenburg konnte nicht umhin, Frau Wendelin zu verdeutlichen, daß sie durch ihre anfänglichen Falschaussagen die Ermittlungen erheblich, ja ganz erheblich behindert habe, es könne eine solche Täuschung der Ermittlungsorgane, die in ihren Folgen noch gar nicht abzusehen sei, natürlich nicht sang- und klanglos übergangen werden, es würden sich vielmehr für sie noch einige Auswirkungen ergeben, doch sei es nicht seines Amtes, darüber zu befinden. Ilonas Augen näßten sich; Anlaß für Brandenburg, seine abschließenden Ausführungen dahingehend abzurunden, daß andererseits ihre Beobachtung der Wassergeräusche ganz wesentliche Schlußfolge190
rungen zulasse und somit eine Verrechnung von Schuld und Sühne möglich und von ihm befürwortet werde. Ilona, zerflossener Wimperntusche, schnaubte die Nase, beseitigte vor dem Spiegel mittels Taschentuch und Zeigefinger die gröbsten Zerstörungen ihres Make-up. „Wissen Sie eigentlich schon“, gestattete sie sich, durch das gemilderte Resümee ermutigt, ihrerseits eine Frage, „auf welche Weise Frau Lindthaler ermordet wurde?“ „Kommen Sie nicht von selbst drauf? Nachdem Sie eigenhändig die Sicherung einschalten mußten?“ „Strom?“ Sie schwieg. Nein, sie hatte nichts fragen wollen. Nein. Nein, wirklich nicht! Aber sie wüßte nun mit Sicherheit, daß sie mit einem Mörder unter einem Dach lebt.
20 Neben der Schreibmaschine der Genossin Zeisig schrillte das Telefon; nein, kann ich momentan nicht verbinden, worum geht es denn? Ja … Ja, da rufen Sie doch später noch mal an, der Genosse Hauptmann führt zur Zeit seine Dienstbesprechung durch. Ja, bitte. Erster Punkt: Unfallschutzbelehrung; Werl gab das Arbeitsschutzkontrollbuch in Umlauf, Genosse Zürner müßte dann auch noch für vorigen Monat unterschreiben. Bei der Festnahme des P. Rauwolf, der bewaffnet war, vor einem dreiviertel Jahr, hatte es zunächst keine Zwischenfälle gegeben. Dann war aber ein Genosse im Hof des Präsidiums, nach Verlassen des Einsatzwagens – Februar, überfrierender Regen – gestürzt, Prellung am Oberschenkel, aus diesem Grund, in Anbetracht der kälteren Jahreszeit nochmals Hinweis auf die Tücken des Winters. In diesem Zusammenhang gleich einige Worte zur in vier Wochen fälligen Weihnachtsfeier; Frage: Julklappge191
schenke, ja oder nein. Die bisherige Praxis sogenannter Witzpakete habe von verschiedener Seite Widerspruch erfahren. Normalerweise gibt es Julklapp bei der Volkspolizei nicht. Läßt die Zeit und der Ernst unserer Aufgabe derartige Spiele zu? Er, Werl, empfinde die ihm verehrten Hosenträger durchaus nicht als kränkend; aber der Genosse Brandenburg zum Beispiel denke über seinen Schaumschläger, der, um das Maß voll zu machen, den vereinbarten Wert von zehn Mark mitnichten erreicht, anders. Es sei wohl als berufsbedingt zu werten, daß einige Genossen unterderhand regelrechte Ermittlungen über die anonymen Absender ihnen zugedachter Präsente aufgenommen hatten, deshalb stehe also das Problem: können wir uns solche Späße erlauben, oder beeinträchtigen sie das kollektive Klima. Nach Diskussion Entscheidung Werls, diesen Punkt im Dezember noch einmal zu behandeln. Werl sagte: „Kommen wir nun zum Mordfall Lindthaler. – Drei Tage nach Aufnahme der Ermittlungen zeigt sich ein schon klareres, allerdings immer noch nicht restlos widerspruchsfreies Bild vom Ablauf des Geschehens, den möglichen Motiven und einer eventuellen Tatbeteiligung der bisher im Blickpunkt stehenden Personen. Ich möchte zunächst eine Darstellung der Ereignisse des Montagabends geben, wie sie sich uns aus den rein empirischen Fakten aufdrängt. Die vormalige Besitzerin des Hauses Kastanienallee zwölf, Meta Lindthaler, neunundsechzig, läßt gegen 17 Uhr 30 im Badezimmer der Obergeschoßwohnung Wasser in die Wanne einlaufen. Anschließend, das heißt, nicht später als 17 Uhr 45, betätigt sie die Toilettenspülung. 18 Uhr befindet sich die Frau in der Wanne. Es kommt zu einer Stromeinwirkung, die Frau findet den Tod. Zu diesem Zeitpunkt halten sich zwei Personen – eigenen Angaben zufolge – in unmittelbarer Nähe des 192
Tatorts auf: im Untergeschoß Frau Wendelin; auf dem Grundstück der Nachbar Kipfel …“ Man nennt das wohl auch deutsche Gründlichkeit, und Stefanie verspürte nicht die geringste Neigung, diese Zusammenstellung samt und sonders bekannter Sachverhalte aufmerksam über sich ergehen zu lassen; dazu lebte sie schon zu sehr mit ihrem Projekt, mit den Figuren ihres angeschriebenen Buches, die sich von den Anwesenden freilich nur auf Grund gewisser Rücksichtnahmen unterschieden. Die Realität ist ein Faktum, Frau Ändering und Herr Streicher sind ein anderes, beides unter einen Hut zu bringen ist problematisch. Sie war auch immer noch nicht davon frei, sich nach der Legitimität ihres Vorhabens zu befragen. Ist diese Edgar-Allan-Poe-Gattung, Kriminalroman, überhaupt in der Lage, den Ansprüchen zu genügen, denen sie sich in ihrem bisherigen Schreiben verpflichtet fühlte? Dieses Genre führt ja auch an der Nase herum, sät Mißtrauen, Unsicherheit, läßt keine Gelegenheit aus, dem Leser die Unverläßlichkeit seiner Sinne, die Fehlbarkeit seiner Vernunft zu demonstrieren. Schon hier müßte man gegensteuern: Gebrauche deine Sinne! Stütz dich auf deine Vernunft! Du hast nichts anderes; aber Vorsicht vor dem Vorurteil, dem vorschnellen Schluß! Brandenburg unterbrach, das war bei Werl zulässig, verlängerte nicht, wie anzunehmen, die Diskussion, verkürzte nur die Monologe. „Wir sollten an dieser Stelle erwähnen, wo sich die Personen zur Tatzeit aufhielten, die nicht unmittelbar am Tatort waren, Frau Gerhardi, Romméfreundin der Ermordeten, hatte sich nach Wilhelmshagen in Marsch gesetzt, will aber, sollen wir ihr glauben, am S-Bahnhof Baumschulenweg umgekehrt sein. Grund: gesundheitliche Beschwerden. Max Wendelin, kein Kraftfahrzeugschlosser, wie er immer wieder beteuert, übte sich doch als solcher in der Garage der Schauspielerin Rosbigalle. Das ist bereits das zweite Alibi 193
des Bürgers, leider um keinen Deut besser als sein erstes.“ „Ich hab die Angabe nachgeprüft“, warf Kriminalmeister Teichfischer ein. „Sie wird von der Künstlerin bestätigt. Was mir die Frau übrigens sympathisch macht: sie fährt ungeachtet ihres Berufs tatsächlich Trabant!“ Von seinem in kulturellen Dingen erfahrenen Unterleutnant beraten, bemerkte Werl: „So viel Bescheidenheit hat man selten: Allerdings ist die Größe des Wagens lediglich der ihrer Rollen angepaßt. Aber was wichtiger ist: Von der Garage bis zum Tatort benötigt man mit dem Auto keine fünf Minuten. Wendelin hatte genug Zeit, sowohl die Reparatur wie auch den Mord – ich sage mal – ordnungsgemäß zu erledigen.“ Warum liest man eigentlich das Zeug? Vielleicht, sann Stefanie, geht es vielen wie Frau Plaschke: ein Bedürfnis nach Verfremdung des Alltags, Hunger nach Geheimnis, ein bißchen Unsicherheit und Angst erleben wollen, abends im Sessel oder im Bett; aber ist es nicht nur eine Verdrängung realer Unsicherheit und Angst? Auch dem müßte man entgegenwirken, diese Angst muß bewahrt bleiben, sie wird die doch auch nicht los, Werl nicht, Brandenburg nicht, keiner hier wird, angesichts dessen, was sich in der Welt vorbereitet, diese Ängste und Befürchtungen los, ein Glück, daß es so ist, daß wir das spüren, daß wir so wach sind; diese Angst ist nachgerade eine Errungenschaft! Zürner erklärte: „Noch jemand befand sich auf dem Weg nach Wilhelmshagen, jedenfalls liegt eine Absichtserklärung vor: Moritz Lindthaler, Sohn der Ermordeten, hat, das haben wir inzwischen schwarz auf weiß, für den Tattag ein Einreisevisum beantragt. Inwiefern er davon Gebrauch machte, wissen wir nicht. Mein letzter Anruf vor zwei Stunden bei der Gerhardi ergab, daß sich in Koblenz nach wie vor niemand meldet. Wir konnten das jetzt selbst überprüfen. Für weitergehende Aktivitäten reicht 194
das Material nicht aus. Immerhin wäre ein Muttermord so ziemlich das letzte, was wir erwägen sollten; freilich besteht die Möglichkeit, daß der Sohn in Machenschaften verstrickt ist, und eine in seiner Begleitung befindliche Person die Tat verübte.“ „Obgleich es doch heißt“, meldete sich Brandenburg zu Wort, „eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus. Die Familie Lindthaler, wenn ich die werten Vorfahren des Herrn Moritz mal Revue passieren lasse, scheint mir ein Schwarm reichlich dunkler, auch brauner Vögel. Wiederum findet sich in jeder Herde schwarzer Schafe wohl auch ein weißes.“ Ja, was er denn nun damit sagen wolle. Nur, daß man eigentlich bisher über Moritz Lindthaler nichts weiß. „Gut, daß Sie uns das mitteilen, nun wissen wir gleich mehr.“ – Unmöglich dieser Werl! Und so unsinnig fand Stefanie das durchaus nicht, was Brandenburg da bemerkt hatte. „Ich möchte jetzt doch mal systematisch fortfahren“, übernahm der Hauptmann wieder die Zügel. „Zunächst die Örtlichkeit …“ Er studierte die am Tatort angefertigte Skizze, gab Fotos in Umlauf. Eingekachelte Zinkwanne, Glaskonsolen, Kosmetikschrank, Waschmaschine hinter Vorhang, halb geöffnetes Fenster. Er sagte: „Der Lage in der Wanne nach, hatte das Opfer mit dem Gesicht zum Fenster gesessen. Die Leiche wies keine Anzeichen von Gewalteinwirkung auf, abgesehen von einer geringfügigen Verletzung am Kopf und den, allerdings erst anläßlich der Obduktion festgestellten diffusen Strommarken. – Folgende Indizien: Urin im Toilettenbecken, von einer Person mit Blutgruppe B. Wir vermuteten zunächst Frau Lindthaler als Verursacher, diese kommt jedoch aus einem bekannten Grund nicht in Frage. Darüber hinaus erfuhren wir, daß sie, bevor sie in die Wanne stieg, die Toilettenspülung betätigte. Wir stehen damit 195
vor dem Phänomen eines Täters, der am Tatort seine Notdurft verrichtete. Diese Tatsache erscheint um so unverständlicher, als die Art und Weise nicht unbedingt für eine abartig veranlagte Persönlichkeit spricht. Ungeachtet verschlossener Haustür und der Anwesenheit Kipfels auf dem Grundstück, konnte das Gebäude mit einigem Bedacht unbemerkt über einen Kellerausgang betreten werden. Auf dem Grundstück beziehungsweise an der Umzäunung wurden Zigaretten und Zigarettenreste der Marke Karo sichergestellt, darüber hinaus abgebrannte und unabgebrannte Streichhölzer sowie der Schuhabdruck einer männlichen Person. Der Raucher hat Blutgruppe AB.“ Werl, glänzend präpariert, legte anhand des Wetterablaufs am Tattag und der kriminaltechnischen Befunde überzeugend dar, warum letztere Spuren nicht älteren Ursprungs sein könnten. Er folgerte: „Jemand hat am Tattag in liegender und knieender Stellung vom Garten her offensichtlich das Haus beobachtet. Bei Tageslicht hätte der Pflanzenbewuchs an dieser Stelle nicht ausgereicht, um den Beobachter auch nur entfernt zu decken. Wir müssen also für den Vorgang eine Zeit veranschlagen, die sehr dicht an der Tatzeit liegt.“ „Dies läßt jedenfalls die Annahme zu“, überlegte Brandenburg, wobei er sich, wie könnte es anders sein, Stefanies Aufmerksamkeit versicherte, „daß wir es mit zwei Tätern zu tun haben: dem Beobachter und dem eigentlichen Mörder!“ „Die Schauspielerin Rosbigalle“, witzelte Werl, „würde besser kombinieren. Zumindest vorsichtiger. Sie würde sagen: Personen der Handlung sind: ein Raucher, ein Wasserlasser, ein Mörder. Ob jeder Rolle ein Darsteller zugeordnet ist, oder ob Rollen doppelt besetzt sind, ob nicht gar sämtliche von ein und demselben Akteur übernommen werden, weiß nur, wer den Programmzettel kennt. – Aber die Frau ist ja auch kein Kriminalist.“ 196
Brandenburg, bissig: „Was sich vor allem darin zeigt, daß die Rollen des Rauchers und des Pinklers, der unterschiedlichen Blutgruppen wegen, eben keineswegs von der gleichen Person gespielt werden können!“ Gern wagte sich Werl mit an Absurdität grenzenden Spekulationen nicht hervor, das ist gegen seine Art; aber Brandenburg hatte ihn provoziert. „Doch, von einer Person durchaus“, trieb er den Disput auf die Spitze, „vom Mörder. Vorausgesetzt, dieser hat weder die eine noch die andere Blutgruppe, sondern, sagen wir … Null, wie Max Wendelin – so stehts jedenfalls in seinem Ausweis. Ein solcher Täter könnte sich Indizien, um von sich abzulenken, beschafft und am Tatort zurückgelassen haben. Das wäre beispielsweise bei einem Täter möglich, der entsprechende Kenntnisse hat oder, sagen wir … eine Ehefrau, die entsprechende Urinproben direkt aus dem Polikliniklabor mitbringt. Im Ernst, Genossen: Natürlich hinterlassen Täter Spuren; aber wer sich in ein Haus einschleicht, das Opfer mit elektrischem Strom umbringt, dabei einen natürlichen Tod vortäuscht, handelt so überlegt und zielgerichtet, daß die von uns aufgefundenen Indizien unerklärlich sind!“ Der Hauptmann hatte, ob seine Vermutung im einzelnen zutraf oder nicht, den Finger auf dem wunden Punkt: die Spuren am Tatort spotteten dem gesunden Menschenverstand. Die Diskussion schlug Wogen; aber niemandem gelang eine bündige Interpretation. Kriminalmeister Teichfischer, er hatte bereits mehrfach dazu angesetzt, Neuigkeiten seiner Recherchen zu verlesen, noch tintenfeuchte Neuigkeiten, kam endlich zu Wort, rekapitulierte die Beobachtungen des Bruno Kipfel. Soweit sie sich auf das Verlöschen und Wiederaufflammen des Lichts im Badezimmer bezogen, waren sie durch Ilona Wendelins Geständnis inzwischen bestätigt. Aber wie war das mit der ominösen Person, die Herrn Kipfel angeblich kurz nach 18 Uhr auf dem Grund197
stück vom Haus her beladen entgegenkam? Teichfischer sagte: „Frau Lindthaler hat vor zwei Monaten eine Neufestsetzung ihrer Hausratsversicherung vornehmen lassen. Zu diesem Zweck verfertigte sie ein Verzeichnis aller Wertgegenstände, Möbel und so weiter, da fehlt kaum ein Hosenknopf, ich habe das untersucht, und komme zu dem Ergebnis, daß jedenfalls kein Wertobjekt entwendet wurde. Ich frage mich nun: Hat der von Kipfel beschworene Unbekannte einen Sack Kartoffeln weggeschleppt?“ „Moment“, warf sich der Genosse Zürner dazwischen, „wir können nicht ausschließen, daß die Lindthaler aus uns unbekannten Gründen irgendein größeres, in ihrem Haushalt befindliches Objekt bewußt nicht aufführte und daß es dem Täter bei seinem Verbrechen um ebendiese und keine andere Sache ging. Von dem Punkt aus sollten wir mal weiterdenken.“ „Es besteht noch eine weitere Möglichkeit“, setzte Kriminalmeister Teichfischer seine Erörterung fort. „Vielleicht bindet uns Herr Kipfel einen Bären auf, und nicht von ungefähr!“ Er rückte jetzt mit Sensationen raus, die er praktisch unmittelbar vor Beginn der Besprechung erfahren hatte. Gleich macht er sie aktenkundig. Laut Auskunft des Strafregisters beim Generalstaatsanwalt ist Bruno Kipfel vorbestraft. Und zwar nach Paragraph 118 (2) StGB: Fahrlässige Körperverletzung im schweren Fall. Auskunft des Stadtbezirksgerichts: Als Mitglied einer Jagdgemeinschaft hatte der Baubrigadier vor etwa drei Jahren infolge groben Verstoßes gegen die Sicherheitsbestimmungen einen Schußwaffenunfall herbeigeführt. „Es ist immer wieder erfreulich“, übertrieb Werl, „daß derartige Informationen auf diese oder jene Weise, und sei es über fünf Ecken oder beim Mittagessen, bis zu mir gelangen.“ Teichfischer verteidigte sich; aber Werl winkte ab, will keine Diskussion, Frau Lindthaler sei ja nicht durch Reh198
posten ums Leben gekommen. Man solle sich den Baubrigadier trotzdem nochmal vornehmen, insbesondere um Erkundigungen über Moritz Lindthaler einzuziehen, laut Meldebuch dürfte der ja nur alle Jubeljahre nach seiner Mutter gesehn haben. Unergiebiger könnte wohl auch die künstlerische Methode nicht sein; sie, Stefanie, hielt jedenfalls daran fest. Gewiß kommt man beim aufwendigen Puzzlespiel mit winzigsten Anhaltspunkten der Wahrheit allmählich näher; aber auch die entgegengesetzte Wegrichtung ist denkbar. – Wie sagte es, der Anekdote zufolge, Frau Einstein, die bei Besichtigung gigantischer Teilchenbeschleuniger, kostspieligster Versuchsanlagen, fragend, wozu dies alles diene, die Antwort erhalten hatte, zur Erforschung der Struktur der Materie? Aber das tut ja mein Mann auch! Mit Bleistift und Notizblock, zu Hause auf der Veranda! – Der Mordfall Lindthaler läßt sich aus seinen Details rekonstruieren; jedoch ist er selbst Detail einer umfassenderen Gesamtheit. Und sollte sich nicht grade in der Zuspitzung das Wesen des Ganzen reiner manifestieren, jenes Unbegreifbare, das alle guten und entsetzlichen Ereignisse dieser Zeit hervorbringt, Atombomben und Gedichte? Für ihr Buch wäre es ihr jedenfalls recht. Nur ob sie Werl auf die Weise zuvorkommt, ist eine andere Frage. Die Genossin Zeisig sah herein, des Telefons wegen, schon wieder der Genosse Wohlgetan, es geht um Andreas Wendelin – soll sie durchstellen? Werl nickte; aber die Sekretärin, die zwar alle Protokolle, soweit sie ihre Maschine durchlaufen hatten, kannte, trotzdem kaum je zu dem rein fachlichen Teil solcher Arbeitsbesprechungen hinzugezogen wurde (sie lauschte jedoch gern bei halboffener Tür), nutzte die Gelegenheit, rasch ihre persönliche Meinung zum Fall Lindthaler in die Runde zu werfen: „Schaun Sie der 199
Gerhardi auf die Finger, Genossen! Eines der häufigsten Mordmotive ist und bleibt schließlich Eifersucht; und wenn zwei Frauen …“ Wieherndes Gelächter Brandenburgs: die Gerhardi und die Lindthaler, beide neunundsechzig! Es schien ein Bild für Götter, wer mochte da wohl der begehrte Rentnerhahn im Korbe … Verstummte abrupt, ihm stieß auf, daß die Genossin Zeisig selbst schon auf die Sechzig zuging; wie kommt er eigentlich darauf, Liebesdinge und was damit zusammenhängt, kämen nur für junge Menschen in Frage … Verlegen, und um Motivierung herausgeplatzter Heiterkeit bemüht: „Wir haben keinen Hinweis darauf, daß ein uns noch unbekannter Don Juan im Haus Lindthaler eine Rolle gespielt haben könnte!“ Der Genosse Wohlgetan rief aus dem Haus an: Hallo Harald! Entschuldige die Störung, ihr habt gerade ne Besprechung, hör ich … Einer Gruppe Jugendlicher aus Rahnsdorf/Wilhelmshagen würden Einbrüche und Diebstähle angelastet, es sollen mehrere Haussuchungen vorgenommen werden, eventuell auch Zimmerdurchsuchung bei einem gewissen Andreas Wendelin. Nun sei ihm zu Ohren gekommen, dieser Jugendfreund, beziehungsweise die komplette Familie erfreue sich auch hinsichtlich eines Mordfalls gewisser Aufmerksamkeit. Ob er, Werl, interessiert wäre, einen seiner Genossen teilnehmen zu lassen. Könnte ja sein, etwas wäre für den Mordfall interessant, würde aber bei ausschließlichem Augenmerk auf die Kioskeinbrüche übersehen. – Also was ist? Du sagst ja nichts? Das sollte nur ein Angebot sein … „Ist denn erwiesen, daß er dabei war?“ „Entschuldige – ich dachte, ich tu dir einen Gefallen!“ Er konnte es nicht entscheiden, obgleich es nichts zu entscheiden gab, obgleich es nichts zu überlegen gab. Er konnte und er wollte nicht. Alles in ihm war Abwehr. Diese Offerte kam zu überraschend, er war darauf nicht vorbereitet. Er war auf diesen Jungen nicht vorbereitet; es 200
schien ihm unmöglich, daß ausgerechnet dieser Junge, von allen ins Visier genommenen Personen ausgerechnet dieser Junge – so blöd kann er nicht gewesen sein; Einbruch meinetwegen, aber davor wird er sich doch bewahrt haben! – daß ausgerechnet so ein junger Mensch lebenslänglich hinter Gitter soll. Niemand begriff, weshalb der Chef da erst eine Volksbefragung durchführte, dem waren doch die Aussagen des Abschnittsbevollmächtigten bekannt: Frau Lindthaler hatte mehrfach schriftliche Beschwerden gegen den Wendelinsohn eingereicht, zuletzt eine Anzeige, derzufolge jener Jüngling seinen Kumpanen und deren Freundinnen eine Bodenkammer für Schnapsorgien zur Verfügung stelle, und sie bedroht habe; sie hatte die Anzeige dann allerdings ganz überraschend zurückgezogen. Kriminalmeister Teichfischer votierte: „Natürlich geht da einer von uns hin – schaden kanns doch nichts!“ Allgemeine Zustimmung. Brandenburg, mit Stefanie in Blickkontakt, neigte vielsagend den Kopf gegen Werl, zog besorgt die Stirn kraus. Letzter Punkt der Tagesordnung: Kultur und Bildung; auch die Genossin Zeisig wurde wieder hereingebeten. Das läßt sich ganz rasch erledigen; Brandenburg hatte Theaterkarten besorgt. Außer der Reihe; er war an der Vorverkaufskasse vorbeigekommen, und da hatte er zugegriffen. Für morgen abend; wer interessiert ist, den bitte ich um das Handzeichen … Beginn: neunzehn Uhr. Das ist nicht zu spät, die meisten könnten. Theoretisch: dank sinkender Kriminalität. Aber angesichts des aktuellen Falls? Im Grunde ist jeder unabkömmlich. Und wo überhaupt? Brandenburg sagte: „Staatsoper.“ „Aber wir sollten nun auch wirklich wieder mal ins Metropol-Theater“, protestierte die Genossin Zeisig, sie würde sich so gern wieder mal eine richtig schöne Operette ansehn, was Leichtes, so was fürs Herz und Auge; 201
oder Revue! Kriminalmeister Teichfischer zog seine Teilnahmebereitschaft desgleichen zurück. Und was wird eigentlich gespielt? „Mozart, Ideomeneo … In italienischer Sprache.“ Nein! Also nun fiel auch bei Werl das Visier runter, nichts gegen niveauvolle Freizeitgestaltung, aber Brandenburg soll doch die Kirche im Dorf lassen. Niemand versteht hier Italienisch; dieser Unterleutnant ist überkandidelt. Nur Zürner und Stefanie hielten noch mit, und Brandenburg verteidigte sich bekümmert: „Aber die Inszenierung ist von Ruth Berghaus …“ Zürner ließ erschreckt den Arm fallen. Er ist durchaus kulturbeflissen, bestimmt nicht konservativ; aber das kann niemand von ihm verlangen. Alles, aber das nicht! Stefanie, rote Wangen, schnippte mit dem Finger, riß sich fast den Arm aus; die Regisseurin versetzte sie nachgerade in Begeisterung. Brandenburg reichte ihr eine Karte; er erbot sich: „Wenn wirklich niemand weiter will, nehm ich den Platz daneben …“ Es wollte niemand; aber die Genossin Zeisig rief grätig: „Und den Rest – glauben Sie, den nimmt man Ihnen wieder zurück?“ Verschmitzte Frontzähne gestanden: „Ich bin alle los; ich hatte nur zwei.“
21 Die Kaderinstrukteurin verstand sofort, hatte das gewissermaßen kommen sehen, sie nickte bedeutsam und einverschworen, sagte: „Sie wissen ja sicher, daß er vorbestraft is. Nich der einzige bei uns, leider! Aber wir kriegen die zugewiesen, wir können die nich ablehnen, so gern 202
wirs tun würden. Was hat er denn nun wieder gedreht? Wenns Ihnen recht is, ruf ich den Genossen Loeverfeld dazu, das is der Bauleiter, un vielleicht kann ich noch jemanden von der AGL un von der BGL kriegen – wir sin ja froh, wenn wirn loswerden, er macht uns hier nur Schwierigkeiten!“ „Inwiefern?“ wollte Werl wissen. „Hörn Sie bloß auf“, sie winkte ab, ihre Breitseite bebte. „Das könn Sie sich gar nich vorstelln. Der läßt hier eine Beschwerde nach der andren los, bis nauf zum Staatsrat. Als ob wir nichts für Lärmschutz täten. Aber ne Baustelle is eben kein Sanatorium. Die andren Kollegen ertragens doch auch; un die ham ne reine Weste!“ „Damit keine falschen Vorstellungen aufkommen“, dämpfte der Hauptmann den jäh losbrechenden Eifer, „gegen Herrn Kipfel läuft kein Ermittlungsverfahren. Uns geht es lediglich um eine Einsichtnahme in die Kaderakte. Davon, daß er, wie Sie das ausdrückten, etwas gedreht hat, kann bisher keine Rede sein.“ Stefanie gingen angesichts der zum Bersten gefüllten Hängeakte die Augen über. Dagegen nahmen sich ja die Ermittlungsmappen der MUK possierlich aus. Glücklicherweise war auch Brandenburg mit von der Partie; aber diese Sammlung könnte selbst bei Aufteilung zu einer stundenfüllenden Lektüre werden. Die erste Beurteilung, hinter einigen vorangestellten Fragebögen und Lebensläufen, in für Stefanie kaum entzifferbarer Fraktur auf eine Art grauen Löschpapiers geworfen, besagte, daß der Heimkehrer Kipfel, Bruno, sich auf meinem Hof als Knecht verdingt (hatte). Dabei zeigte er weit weniger Arbeitsgesinnung als lieb wäre, erhob statt dessen unbillige Ansprüche und stellte selbst meiner eigenen Frau nach, weshalb ich nunmehr den Kontrakt aufkündige. Ich bin jetzt bloß mal gespannt, welcher Großbauer aus der Umgebung so einen Schweinigel wieder in Brot nimmt! 203
Kipfel schien nun, war zu entnehmen, von Landwirtschaft bedient, er hatte als Ungelernter in einer Elektrobude angefangen: in dieser Zeit mußte ein erbitterter Federkrieg mit dem Wohnungsamt beim Rat der Gemeinde Wurmatz getobt haben, von dem jedoch nur einige in die Hände des neuen Betriebes gefallene Durchschläge der Vergänglichkeit entronnen waren. Der Betrieb hatte sich voll hinter den Wohnungsantrag gestellt und alle gegen seinen Mitarbeiter und dessen Lebenswandel lautgewordenen Anschuldigungen als nicht zur Sache gehörig vom Tisch gefegt (in einer Randnotiz mit Kurzzeichen Mü. hieß es: Ob er säuft oder nicht, ist uns wurscht, Hauptsache er arbeitet!). Die Scheidung des Bruno Kipfel von seiner ersten Ehefrau, in zweiter Instanz 1951 vom Kreisgericht bestätigt, hatte auch auf der Arbeitsstelle erheblichen Staub aufgewirbelt; aber Werl schlug jetzt die Seiten in rascher Folge herum: dafür war ihm die Zeit zu schade; ihm war schon manches unter die Hände gekommen – so was nicht. Maschinengetippt: Hiermit kündige ich mein Arbeitsverhältnis beim VEB Bau-Holz. Grund: Vor anderthalb Jahren war mir Gehaltszulage versprochen worden, seitdem hingehalten, ich lasse mich nicht zum Affen machen! – Darunter, mit Kugelschreiber: So hat der sich vom ersten Tag an aufgeführt, wie die Axt im Walde. Auf die Mitarbeit eines solchen Kaders können wir gern verzichten! – Dahinter, auf Durchschlagpapier: Kollege K. war anderthalb Jahre in unserem Betrieb beschäftigt; er erfüllte die anfallenden Aufgaben pünktlich und zur Zufriedenheit, jedoch war die Übernahme in eine höhere Gehaltsgruppe aus Stellenplangründen nicht möglich. Wir bedauern das Ausscheiden des Kollegen. – Darunter, mit Bleistift: Erste Beurteilung wurde auf Einspruch des Koll. entnommen und vernichtet, da der bereits getilgte Verweis angesprochen war. – Werl klappte das Buch der guten Taten zu; er konnte 204
sich die Frage nicht verkneifen: „Die Ordnung zur Führung von Personalakten haben Sie nicht zufällig mit reingeheftet?“ Die Instrukteurin, sehr dezent geschminkt, zeigte für solche Witze gar kein Verständnis. „Erstens bin ich nich berechtigt, Unterlagen zu entfernen, die ganz andere Betriebe zu verantworten haben, un außerdem: Sie müßten doch grade froh sein, wenn sich ein lückenloses Bild ergeben tut.“ „Na so lückenlos ist es ja nicht“, glaubte der Hauptmann das Verdienst schmälern, den Vollständigkeitsanspruch ad absurdum führen zu können. Kniff ein Auge zu: „Wissen Sie beispielsweise schon, daß Herrn Kipfels zweite Frau in einer Sekte ist?“ Die mit einem matten, wahrscheinlich zu trockenen, jedenfalls krümelnden Stift bemalten Lippen lächelten in verhaltener Genugtuung. „Wir wissen alles!“ Diese Worte hatte er selbst schon manchmal gebraucht. Gedankenlos; mehr so als Bluff dahingesagt. Zum ersten Mal, vor dieser Akte, begriff er, welch ungeheuerliche Anmaßung dieser Satz offenbart, welche Selbstdenunziation. Die Baustelle war nicht weit entfernt, sie mußten weiße Schutzhelme überstülpen, und Stefanie kam an Brandenburgs auf die Weise verändertem Aussehen längere Zeit nicht vorbei. Brandenburg ist schlank, und der Helm war sicherlich einige Nummern zu groß, trotzdem hinkte der Vergleich mit einem Knollenblätterpilz. Der Semmelblonde behauptete, durchaus genießbar zu sein, also wenn schon, dann bitte Ritterling. Er steckte die Hände in die Hosentasche und markierte, breitbeinig Kalkpfützen umstakend, einen alten Hasen von der mauernden Zunft. Werl knurrte, dieses Herumgehopse und Gekalber war wohl der Prätention einer Morduntersuchungskommission nicht ganz angepaßt. Nach einigem Suchen und Durchfragen kam man an Ort und Stelle. Kipfel, Zollstock, kauerte in einem Schacht 205
und vermaß irgendwelche Gestänge. Zuckte zusammen, als Brandenburg, in einem Schwall herunterkollernder Erdbrocken, plötzlich neben ihm stand. „Verdammt – ich hab Sie nicht kommen hören …“ Er pulte die Geräuschschützer aus den Ohren. „Über uns stehen noch mehr, Herr Kipfel, wissen Sie, was das bedeutet? Wir rücken nie grundlos mit erhöhter Mannschaftsstärke an!“ Ließ sich der Brigadier ins Bockshorn jagen? Der Besuch schien ihm mehr als unangenehm. Hastig kletterte er aus dem Stollen; die offensichtlich wieder verfügbare Brille prüfte nach jeder Richtung, ob die Luft rein ist. „Wenn wir was zu bekaspern haben, machen wir das im Bauwagen ab. Nicht auf freier Wildbahn. Manche hören hier das Gras wachsen.“ „Wir brauchen nur einen Tip von Ihnen. Ich geb Ihnen dafür auch einen“, bot Werl an. „Is gebongt! Eine Hand wäscht die andere. Und nun fallen Sie mal in diesen Salonwagen; ich mach Sie aber prophylaktisch aufmerksam, daß die mittlere Stufe lose ist.“ Kipfel holte paar Hocker ran, schob Skatkarten und die als Ascher dienende Konservenbüchse vom Tisch. Er sagte zu Werl: „Sie spielen aus.“ „Als langjährigem Nachbarn ist Ihnen sicher der Sohn Frau Lindthalers bekannt …?“ „Da halt ich noch mit.“ „Wie oft kam der zu Besuch? In den letzten Jahren?“ „Passe!“ „Wir wollen gar keine genauen Angaben von Ihnen, da wären Sie selbstverständlich überfordert; aber Sie halten sich so oft im Garten, auch auf dem benachbarten Grundstück auf: Es wird Ihnen nicht entgangen sein, wenn da gelegentlich, eventuell in den vergangenen Wochen, womöglich am Tattag, ein PKW westlicher Fabrikation, also mit westlichem Nummernschild …“ 206
„Tut mir leid, ich hab ausgereizt. Spieln Sie ein anderes Blatt.“ Brandenburg konnte nicht an sich halten, rief dazwischen: „Wir geben gleich ein und mischen völlig neu, Herr Kipfel. Aber dann gehts für Sie nicht mehr um Zehntelpfennig, sondern um Kopf und Kragen. Dann spielen wir was ganz anderes mit Ihnen!“ Kipfel schwieg böse. Duckte sich. Schob sich über die fleckige Tischplatte gegen den Unterleutnant vor, fauchte: „Mensch ärgere dich nicht! – Wenn Sie mir von der Seite kommen, sag ich klipp und klar: Mich juckt nich, wer wann wo parkt; den Kurs fahr ich grundsätzlich. Jeder soll den Dampf aufmachen, den er im Kessel hat, Hauptsache ohne Spektakel. Das möcht ich hier viermal unterstreichen!“ „Sie sind verpflichtet“, mahnte Werl, „angesichts eines Tötungsverbrechens, uns Ihre Beobachtungen rückhaltlos zu offenbaren. Dazu sind Sie nicht nur moralisch, sondern auch …“ Kipfel fiel ihm ins Wort: „Warum die Müller die Meier nich grüßt, woher Schulze seine Moneten hat, warum die Lindthaler ihr Haus verkaufte, wie oft wer zu Besuch kommt, darauf scheiß ich! Entschuldigung, Sie haben ne Dame bei; aber anderer Leute Angelegenheiten sind mir schnuppe. Wenn die Lindthaler heiraten wollte, ist das beispielsweise ihre, nicht meine Hochzeit.“ „Meinen Sie das jetzt im Ernst“, stutzte Brandenburg, „mit dem Heiraten?“ „Fragen Sie meine Frau. Der Tag ist lang, und die Weiber schwätzen viel. Ob sie wieder unter die Haube oder einfach nur noch mal an die Rolle wollte – ich fege nicht unter fremden Betten.“ Er lachte. „Jedenfalls mußte sie einen guten Schlaf haben. Ich würde das nicht ertragen: Ich würde mir die Wohnung nicht zum Sägewerk machen.“ „Wovon reden Sie?“ 207
Nun, Kipfel hat kürzlich, vor einigen Tagen, bei einer seiner Taubensafaris den Bräutigam schnarchen hören, durchs offene Schlafzimmerfenster. Mied daraufhin die Hausseite – so laut! – obgleich er dort wahrscheinlich eher als woanders zum Schuß gekommen wäre. „Wie denn? Was denn?“ rief Werl, „Sie behaupten, in der Wohnung Frau Lindthalers habe ein Mann übernachtet?“ „Geschnarcht.“ „Aber vielleicht war es Frau Lindthaler selbst …“ „Die schläft lärmbewußter. Die hat mich nie gestört. Nur ihre Tauben machen Krakeel.“ „Oder die Freundin, Frau Gerhardi, hatte bei ihr genächtigt …“ „Stelln Sie doch keine Theorien auf! Ich fabriziere keine Luftnummer! Was ich sage, ist durch Beobachtungen untersetzt. Hab ihn nachmittags am Fenster gesehn …“ „Den Bräutigam?“ „Erkannten Sie ihn?“ „Ich hatte keine Brille.“ „Herr Kipfel“, schaltete sich Brandenburg wieder ein, „wie erklären Sie sich denn, daß die Familie Wendelin von solcher Männerbekanntschaft der Lindthaler nichts zu berichten weiß? Und die wohnen mit ihr im gleichen Haus. Die hätten das doch als allererste bemerken müssen!“ Der Brigadier benötigte einige Sekunden, um den permanenten Argwohn zu schlucken. Dann rückte er aber doch noch ein wenig mit der Sprache heraus. Die Lindthaler habe das Verhältnis offensichtlich geheimhalten wollen. Um nicht der ganzen Straße Gesprächsstoff zu liefern. Wahrscheinlich habe sie den Sägewerker eingeschmuggelt. Wendelins seien ja auch tagsüber auf Arbeit. Er hätte zu Hause nur eine Bemerkung über das Schnarchen fallengelassen; seine Heilige sei schamentsetzt gewesen. Von wegen Besudelung und Verdammnis. Müßte 208
dann wohl der Lindthaler Vorhaltungen gemacht haben, die hätte sich mit der Versicherung, heiraten zu wollen, wahrscheinlich nur das Geschwafel vom Hals gehalten, ihm ginge das jeden Tag auf den Docht. Sei schließlich jedermanns Privatvergnügen, wenn er mal wieder die Sprungfedern ausprobieren will. Werl fragte dann noch beiläufig wegen der Vorstrafe; Kipfel, hochrot, im Hals wie zugeschnürt, bekam kaum noch einen Piepser raus, stotterte um die Sache herum, Schießen ist seine Leidenschaft, aber nicht das Geknalle; er hatte Geräuschschützer im Ohr gehabt und deshalb die Signale überhört und … und … – Der Hauptmann winkte ab; lassen Sies gut sein, das tut hier nichts zur Sache. „Und nun Retour“, polterte Kipfel, als sie den Bauwagen verließen, „Sie wollten mir was stecken!“ „Ach ja … Sprechen Sie doch mal Ihre Gewerkschaftsvertreter an, und äh … bitten Sie um eine Überprüfung Ihrer Personalakte. Falls es da Schwierigkeiten gibt, was ich nicht glaube, wenden Sie sich an mich.“ Kipfel grinste, kniff ein Auge zu. Führte, fast militärisch, die Hand zum Helm: „Is gebongt, Chef!“ „Ja, Fräulein Thalmer“, sagte Brandenburg, „so unterscheiden sich Kriminalroman und Realität.“ Er hatte Stefanie den vorderen Platz neben Werl überlassen, beugte sich jetzt aus dem Fond des Wagens vor, so daß sein Gesicht näher, fast ein wenig zu nahe an ihr Haar und Ohr kam, eine auf jeden Fall recht vertrauliche Nähe, die ihm freilich als solche schon kaum mehr bewußt wurde. „Wie meinen Sie das?“ fragte Stefanie, wich eine Handbreit zur Seite. „Derartige Literatur zeichnet sich ja nicht eben als hochgradig kritisch oder problemträchtig aus. Will sagen: Eine Schweinerei, wie Kipfels Akte, verbietet sich doch da von selbst.“ Sie empfand sein Sprechen als warmen Luftzug am 209
Ohr, der wohl infolge der spezifischen Zahnstellung besonders ausgeprägt war. Sie sagte: „Jeder Organismus hat Stoffwechsel, dabei fallen Schlacken an, Gifte; auch jede Gesellschaft ist ein Organismus; sie scheidet ihren Mist aus – oder sie deckt ihn zu und kommt darin um.“ „Gut gekontert“, komplimentierte der Unterleutnant. „Und wie weit sind Sie inzwischen mit Ihrer … mit Ihrer künstlerischen Methode der Verbrechensaufklärung?“ „Immer noch im Versuchsstadium.“ „Offen gesagt, ganz begreif ich nicht, worauf Sie hin wollen.“ „Nein? Ist das so schwer? – Ich glaube ja nicht wirklich, daß man auf die Weise einen Kriminalfall lösen könnte; aber was ich möchte: ein Gleichnis. Daß dieser Mordfall über sich hinausweist. Ich will nicht über zweihundert oder dreihundert Seiten hinweg nur der Aufklärung eines Verbrechens nachlaufen; es soll mir in jenem Besonderen das Allgemeine sichtbar werden …“ „Na vielleicht haben wir Glück. Irgendwas werden wir schon reininterpretieren!“ Frau Kipfel legte leise die Handflächen zusammen, freudiges Wiedererkennen verklärte ihre Züge. „Wie schön“, säuselte sie. „Wie schön, daß wir uns noch einmal sehen dürfen; ich hatte nicht damit gerechnet.“ „Für mich war es eigentlich sicher, daß wir Sie nochmals aufsuchen würden“, behauptete Werl lakonisch. „Sicher?“ Sie schaute ihn mit großen Augen an, wie ein merkwürdiges, absonderliches Tier. Schüttelte das spitze Gesicht. „Meine Mutter pflegte früher, abends, wenn sie an mein Bett kam, zu sagen: … so sicher, Kind, wie morgen früh die Sonne wieder aufgeht. – Aber das ist nicht mehr sicher …“ Brandenburg schnoberte um Kipfels Werkbank, hob einen Rest dreiadriges Kabel an, beroch einen Lötkolben, besah sich Aluminiumdrähte und Kupferlitze. „Sagen Sie, 210
Frau Kipfel, woran bastelt doch Ihr Mann augenblicklich?“ Sie kannte nur den Beleibten und das Fräulein, der Blonde war ihr fremd. Machte auch einen forschen, schneidigen Eindruck, vor solchen Leuten senkte sich ihr Antlitz spontan. Von unten hochschielend, wispelte sie: „Er repariert so viel, damit verdient er zusätzlich. Rasenmäher, Gartengerät, was man ihm bringt. Er macht auch sonst viel, er hat goldene Hände. – Aber möchten Sie sich nicht setzen …“ Sie zog sich hinter ihre Nähmaschine zurück, bemüht, Brandenburgs Blick nicht zu begegnen, lächelte töricht, beugte sich über Nadeln und Nähgarn. „Wir kommen direkt von der Arbeitsstelle Ihres Mannes“, leitete Werl ohne Umschweife zum eigentlichen Thema über. Erklärte zum Schluß: „Seine sämtlichen Beobachtungen wären für uns, ich sage das ganz offen, unglaubhaft, hätte sie nicht Frau Lindthaler gewissermaßen selbst bestätigt. Und zwar Ihnen gegenüber. Was war das für ein Gespräch, schildern Sie das mal in allen Einzelheiten!“ Über einem weißen Hemd, Spitzenbesatz, emsig die Nadel führend, flötete sie: „Wir Menschen leiden alle unter den Anfechtungen des Fleisches; die arme Meta war dem nicht immer gewachsen. Aber sie hat nun dieses alles hinter sich. Ich bin froh darüber; der Tod ist kein Unglück. Ich gönne ihn ihr.“ Nach einer Weile beanstandete Werl, immer noch auf einen Fortgang ihrer Rede wartend: „Ja, schon. Sie müssen aber doch etwas ausführlicher werden. Wir brauchen ganz konkrete Fakten. – Wie ich Ihren Andeutungen entnehme, entspricht es den Tatsachen, daß Frau Lindthaler in letzter Zeit eine intimere Bekanntschaft hatte?“ Frau Kipfel beugte sich sehr tief über ihre Näharbeiten, verbarg so das züchtige Erröten. Flüsterte: „Sie wird in einer anderen Welt Gnade finden, des bin ich gewiß. Wozu also noch dunkle Schatten heraufbeschwören. Ich 211
mag ihr nichts Übles nachsagen; lassen wir doch dies alles auf sich beruhen.“ Dem Unterleutnant war so ein Gewäsch, so ein abstruses Gebabbel noch nicht vorgekommen, er verfügte auch nicht über Werls grenzenlose Geduld, rief hitzig: „Nun kommen Sie endlich zur Sache, Frau Kipfel, und verschonen Sie uns mit Ihren Redensarten! Antworten Sie auf die Fragen – es geht hier um den Tod eines Menschen!“ „Unser aller Tage sind gezählt …“, kam es schüchtern hinter dem Nähkasten vor. „Aber Ihre Nachbarin ist eines gewaltsamen Todes gestorben!“ „Vielleicht ist sie uns nur um ein weniges vorausgegangen. Uns allen.“ Senno gab es auf; er war sich nicht sicher, woran er mit der war. Bekam die nicht unter Kontrolle, weder durch Schärfe noch Versuche, ihren Blick zu fixieren, was in solchen Fällen für gewöhnlich seine probate Art war; diese Frau schien ungreifbar. Schien, fipsig und grau, mit ihrem Winkel verfließend, nicht eigentlich im Raum. „Frau Lindthaler sprach zu Ihnen über Todesahnungen“, schaltete sich, außerplanmäßig, Stefanie ein. „Glauben Sie, daß sie tatsächlich die Ehe eingehen wollte?“ Die Kipfel hob die Augen; saugten sich an Stefanie fest. „Da eben hege ich meine Zweifel. Sie wollte wohl nur meine Vorhaltungen abwehren. Zwar leugnete sie nicht, stellte sich aber taub …“ Werl warf dazwischen: „Wann fand dieses Gespräch statt?“ „Am Tag vor ihrem Dahinscheiden. Im Konsum.“ Wieder ganz an Stefanie gewandt: „… dann machte sie sich, wie so oft, über meine Mahnungen lustig, verlachte mich, suchte mich, das Bedenkliche ihres Tuns sehr wohl empfindend, zu verletzen. Mit zweideutigen Worten. Das war aber dann schon vor dem Laden. Und ohne Reue …“ Werl: „Wie lange währte das Verhältnis bereits?“ 212
„Sie behauptete, eine Woche.“ Zu Stefanie: „… und ohne Scham. Gab sich noch etwas auf die Eroberung. Ich sagte, und mußte mich ihr in den Weg stellen, aber Frau Lindthaler, sagte ich, denken Sie doch auch an Ihren Seelenfrieden; eine Frau in Ihrem Alter …“ Werl: „Erwähnte sie den Namen des Mannes?“ „Nein.“ Zu Stefanie hin: „… eine Frau in Ihren Jahren sollte doch solchen Anfechtungen widerstehen können, lenken Sie sich ab, singen Sie geistliche Lieder, das hilft, das gibt Ihnen Kraft … Und sie kannte ihn schon so lange, ohne ihm zu verfallen.“ Werl: „Ich denke, seit einer Woche!“ „So heuchelte sie, und so hat es mein Mann beobachtet; seit einer Woche schlief einer bei ihr. Aber der verkehrte doch schon seit Jahrzehnten im Haus.“ „Sie kennen den Mann?“ Frau Kipfel lächelte bekümmert, wie jemand, der um die Sünde der Schwatzhaftigkeit weiß und doch die Splitter in fremden Augen nicht unerwähnt sein lassen mag; ihr Vorzeigebedürfnis verfolgte darüber hinaus einen missionarischen Zweck; behend zur Tür eilend, bat sie die Herrschaften, doch einmal einen Blick in die eigentliche gute Stube zu werfen. Es gibt große religiöse Kunst, sakrale Kunst; aber was sich hier bot, war eine Orgie der Scheußlichkeit: da nahm es der Kreuzigungsbilder kein Ende, fürchterlichste Schinken, der, Schmerzensmann mit dem süßen Lächeln eines Grand Charmeurs, die Gebenedeite: kniendes Rosenelfchen, und immer vor himbeerrotem Himmel, in schwülstigsten Rahmen; Stefanie konnte einen Schauder nicht unterdrücken. Schutzengel (weiß, golden) mit Palmzweig (silbern) in abenddurchglühten Wolken. Betende Gipshändchen. Kunstgeschmiedete Dornenkrönchen. „Nicht wahr“, fispelte Frau Kipfel, „jetzt staunen Sie. Das hätten Sie nicht erwartet …? Mein Mann hat aber 213
auch viel geschuftet, beim Fundament, beim Dachstuhl, beim Innenausbau. Und dafür haben wir all dies Schöne bekommen.“ „Von wem?“ wollte Brandenburg wissen. Werl ahnte es schon. „Von Herrn Hottenbach“, säuselte Frau Kipfel. Werl rief: „Sie behaupten also, Hottenbach wäre der Heiratskandidat? Aber Ihr Mann schwört doch, den nicht erkannt zu haben!“ „Männer besitzen für so was kein Auge. – Ich hab ihn erkannt! Am Fenster. An jenem Nachmittag, da Meta für immer die Lider schloß.“ „Hielten Sie sich denn auf dem Nachbargrundstück auf?“ „Nein, ich sah das von hier aus. Mit meinem Opernglas. – Sie denken jetzt gewiß, was für eine neugierige Ziege“, sie lachte kindisch, „aber ich wollte doch wenigstens wissen, wer Meta vom rechten Pfad abbringt. Und da sie es mir von sich aus nicht beichtete …“ „Ich nehme an, die kleine Verfehlung wird Ihnen vergeben“, beruhigte Werl. „Zumal es dem letzten Willen der Toten entsprechen dürfte, wenn wir, auf welche Weise auch immer, des Täters habhaft werden.“ Frau Kipfel ging zu ihrem Nähplatz zurück, nahm das in Arbeit befindliche weiße, hemdartige Kleid und hielt es sich vor. „Was wird das?“ fragte Stefanie. „Mein altes Brautkleid: Ich mach es mir passend.“ Sie steckte etwas ab, schob den Saum unter, trat, ließ die Maschine rattern. Insofern Frau Plaschke vergleichbar, nur daß die noch nie auf die Idee kam, ihre Hochzeitsklamotten auszubessern. Die Kipfel sagte: „Meta war ein Kind dieser Welt; aber sie war auch voll Noblesse und Huld.“ Hielt inne: „Wir bekamen von ihr Kartoffelschalen für die Karnickel. Der Nähkasten ist auch …“ Jetzt war ihr wohl der Faden gerissen; sie beugte sich ganz tief herunter. 214
Dieser Handarbeitskasten, stilvoll, mit Einlagen, fragile Schnitzereien, paßte allerdings nicht zu dem sonstigen Kipfelschen Inventar. „Wie sind Sie dazu gekommen?“ Frau Kipfel fuhr erschreckt auf. Zu was? Ach so! Sie huschte zum Büfett, kramte zwischen Papieren, einen Moment bitte, das kann sie alles belegen, nur gut, daß Bruno immer Quittungen ausstellt, er hatte die schon weggeworfen, sie hat sie aus dem Mülleimer gefischt, stöberte zwischen den Zetteln herum, ganz kleinen Augenblick noch; endlich wurde sie fündig. – Aber von dem Nähkasten stand nichts drauf, da hat sie sich doch getäuscht. Den hat dann eben Frau Lindthaler als Trinkgeld gegeben! Brandenburg, über Werls Schulter blickend, halblaut: „Ordnungsgemäße Durchführung … Für Neuverlegung des Badewannenabflusses fünfzig Mark erhalten zu haben, bescheinigt hiermit … – Wann hat er denn das …?“ „Hier.“ Werl tippte auf das Datum. „Zwei Tage vor Frau Lindthalers Tod.“ Da sie sich, schon an der Wohnungstür, noch einmal umwandten, erschien ihnen Frau Kipfel ganz hinten in der Flucht dämmriger Zimmer, das weiße Kleid vor sich, ein Brautkränzchen im Haar, rief mit ihrer fast zu leisen Stimme: „Ich glaube nicht, daß Sie den Fall aufklären können. Metas Tod ist ein wunderbares Zeichen – Wunder haben keine Erklärung. Wer Augen hat, zu sehen, der sieht …“
22 „Das hat sich ja gelohnt“, triumphierte Brandenburg, wieder sehr dicht an Stefanies Ohr. „Mord aus Eifersucht! Jedenfalls in der Richtung. Da kommt ja, falls es Hotten215
bach nicht selbst war, nur eine ganz bestimmte Dame in Frage!“ Werl stimmte zu, nickte lebhaft: „Das hat sich wirklich gelohnt. Mord aus Habgier! Eine Heirat der Lindthaler hätte einen gewissen Herrn tatsächlich um einiges Erbe gebracht. Aber wieso hatte der nicht, was naheliegender wäre, den zukünftigen Bräutigam aus dem Weg geräumt?“ Diese Varianten hatte Stefanie nur am Rande erwogen. Sie war überzeugt gewesen, beiden Begleitern ginge es nicht anders als ihr: Für sie standen im Mittelpunkt des Verdachts die Kipfels selbst. Der Brigadier oder seine fromme Angetraute, vielleicht steckten sie sogar unter einer Decke. Ihre Kombinationen fanden jedoch wenig Anklang. Die Fahrt zur Museumsinsel ermüdete. Stefanie war einige Male dicht am Einschlafen, sie verstand nicht mehr alles, was Brandenburg palaverte. Wichtige Befragungen würden normalerweise nur auf der Dienststelle vorgenommen, nicht in dem Verdächtigen vertrauter Umgebung. Ein kriminaltaktisches Grundgesetz. Er legt seine Frontzähne ins Handschuhfach, sagt: Hier, in Ihrem Roman, können Sie natürlich mit den Örtlichkeiten schalten und walten; als literarische Figur kann ich mich nicht wehren. – Aber Sie sind real, Magdeburg, ruft sie, real! Und hat plötzlich Zweifel, ob das so stimmt. Da sitzt nun auch verwirrenderweise Frau Ändering mit im Wagen, wirft mit Knäckebrotpaketen, ruft: Erwähnen Sie wenigstens, daß es kriminaltaktisch nicht vertretbar ist, nicht vertretbar, nicht vertretbar … Sie schreckte auf, Werl hatte hart auf die Bremse getreten. Das Markttor von Milet. Das Rundgrab der Cartinia aus Falerii. Der große Altar von Pergamon, Götter-Giganten-Fries; Brandenburg blickte nach allem aus, nur nicht nach Hottenbach, und Stefanie sagte: „Eigentlich werde 216
ich nie richtig froh in diesem Museum. Besonders bedrückend erscheinen mir die Säle mit den Skulpturen. Ich komme mir dort klein vor. Und wie mit leeren Händen. Das ist vielleicht ein ganz falsches Gefühl, aber ich komme nicht dagegen an.“ Der blonde Senno verstand durchaus, was sie meinte. Seinem Schnellhefter zufolge müsse die Entwicklung von dieser Kultur her immer vorangeschritten sein, mit gelegentlichen Einbrüchen; aber manchmal scheine es ihm wie überwiegender Rückschlag mit gelegentlichem Aufrappeln, er habe da auch nicht die Kenntnisse, um sich ein Urteil zu bilden. Er wisse überhaupt zuwenig. Stefanie sagte: „Manche wissen zuviel. Sie haben zu allem ein fertiges Sätzchen. Das erspart Nachdenken und Konflikte.“ Was mag das für ein Weg sein, von denen zu uns, über zweitausend, zweitausendfünfhundert Jahre, sicher kein schnurgerader, vielleicht ein Labyrinth gabelnder, sich kreuzender, gegenläufiger Pfade, sicher nicht leicht begehbar, ansteigend, Abstürze, aber doch immer wieder bestrebt, Höhe zu gewinnen: sind da nicht Fixpunkte, die erreicht werden müssen: bezwingen wir diese Wand, öffnet sich vor uns der Aufstieg zum Gipfel – gegenteilig: Abgründe unabänderlichen Umsonsts – was mag das für ein Weg sein, von denen zu uns, von uns ins Unbegangene; möglich, dachte Stefanie, das wäre auch ein Schlüssel zur Lösung eines Falls: eines Mordfalls, wie er ihr für ihr Buch zupaß käme. Hottenbach, rührige Aufsicht, pendelte zwischen den Attischen Grabdenkmälern und dem Saal der hellenistischen und römischen Kopien: keine Touristengruppen, kaum Besucher heute. Drei doch, die waren eher auf ihn als nur auf Antikes erpicht: Er zog sich unauffällig hinter die Kolossalstatue der Athena Parthenos zurück; zu spät. „Wir befürchteten schon, Sie seien in Urlaub!“ Werl 217
stellte vor, eröffnete leutselig: „Was uns hierherführt, Herr Hottenbach, ist weniger Kulturbeflissenheit als Ihre … na wie soll ich sagen … ein wenig unvollständige Aussage.“ Immer noch in frotzelndem Plauderton: „Mich deucht, mit Ihrem Gedächtnis ist es nicht allzuweit her: Nehmen Sie sich in acht! Solches Gebrechen wird einem leicht zum Verhängnis.“ Mahnend, eindringlich: „Es gibt Dinge, die darf man einfach nicht vergessen. Gesetzt, jemand kann sich absolut nicht erinnern, vor ein, zwei Wochen wiederholt bei einer bestimmten Person übernachtet zu haben, einer Person, die während oder kurz nach dessen letztem Besuch ermordet wird – begreifen Sie, in welch prekäre Lage ein so Vergeßlicher geriete? Man würde ihn glatt der Tat verdächtigen! Herr Hottenbach, verstehn Sie, worum es geht?“ Nein, Hottenbach verstand absolut nichts. „Dann will ich Ihnen auf die Sprünge helfen! Sie logen, als Sie behaupteten, Frau Lindthaler seit einem Jahr nicht mehr aufgesucht zu haben: Sie waren am Tattag dort! Sie nächtigten dort mehrfach. Sie hatten intime …“ Er war reichlich laut geworden, dämpfte eines umherstreunenden Museumsbesuchers wegen die Stimme: „… intime Beziehungen zu der Ermordeten.“ Hottenbach, der kleine Mann, geriet außer sich, prustete empört, schaufelte mit den Armen; das sind ja groteske Anschuldigungen, lachhaft! „Sie sind ja nicht bei Trost. Diese Frau war fünfzehn Jahre älter als ich!“ „Das besagt doch überhaupt nichts“, vermeldete sich Brandenburg. „Oder meinen Sie etwa, Liebesdinge und was damit zusammenhängt, kämen nur für junge Menschen in Frage?“ Der smarte Wernfried empfand kein Bedürfnis, sich mit diesem subalternen Kriminalschnösel zu behängen, und knurrte nur: „Vielleicht hol ich mir im Bode-Museum eine Mumie!“ „In Ordnung, Herr Hottenbach“, zischte Werl, und 218
Stefanie konnte sich nicht erinnern, ihn schon jemals so aufgebracht gesehen zu haben, „wir werden dann eine Gegenüberstellung mit der Nachbarin vornehmen. Diese Frau hat Sie am Tattag, nachmittags, mittels Scherenfernrohr am Fenster Frau Lindthalers beobachtet, und dabei Ihre sämtlichen Mitesser gezählt! – Bitte folgen Sie uns!“ Obgleich er das selbst einem Staatsoberhaupt verboten hätte, stützte sich Hottenbach gegen den originalen Sockel der Athena Parthenos, zog das Spitzentüchlein, ja wenn es so steht, wenn ihm das Wasser bis zum Hals steht, wenn man ihn jetzt ernsthaft des Mordes verdächtigt, packt er lieber aus. Aber nicht auf dem Präsidium: hier: im Angesicht der Götter. Also es stimmt, er war Montag bei Frau Lindthaler. Doch mit dem Mord hat er nichts zu tun – er ist gegen siebzehn Uhr gegangen, und da war die alte Dame noch durchaus vital. Ganz entschieden verwahrt er sich auch gegen die absurde Unterstellung, irgendwelche Techtelmechtel gehabt, gar dort Betten strapaziert zu haben. Die Sorte Weib, die er bevorzugt – er sagte das weniger zu Werl und Brandenburg als zu Stefanie hin –, muß jugendlichere Qualitäten aufweisen, als sie eine Rentnerin bietet. Nein, er war in rein geschäftlicher Angelegenheit nach Wilhelmshagen gefahren. „Das können Sie jetzt gleich dem Haftrichter erzählen“, kündigte Werl grimmig an. „Vielleicht glaubt ders Ihnen. Und falls Sie Pech haben … So schlecht ist das Essen in Untersuchungshaft gar nicht!“ „Aber ich sage Ihnen die Wahrheit, so glauben Sie mir doch! Ich … Ich bin zu jeder Aussage bereit …“ Der sonst so agile Wernfried grimassierte vor Aufregung, völlig mit den Nerven runter. Der Moment schien Brandenburg geeignet, sich für die Mumie erkenntlich zu zeigen; einen Daumen im Knopfloch seiner tintenblauen Clubjacke, empfahl er zynisch: 219
„Halten Sie sich doch ein wenig straff, Hottenbach. Nehmen Sie sich ein Beispiel an diesen Marmorhelden. Aber billigen Sie uns nicht deren edle Einfalt zu! – Warum haben Sie bei Ihrer ersten Befragung falsch ausgesagt?! Na los, raus mit der Sprache!“ Daß der flaumbärtige Kriminalschnösel einen derartigen Ton anschlug, gab Hottenbach den Rest. Schluckend, fast ein wenig weinerlich schwor er, jetzt reinen Tisch zu machen. Er habe die Lindthaler vor einigen Wochen angerufen und dabei vom angekündigten Besuch des Sohnes, jenes im Westen lebenden Sohnes erfahren. Unvermittelt, wie das eben so ist, sei ihm der Gedanke gekommen – er druckste, wand sich –, die Idee, eine Schnapsidee, wie er jetzt weiß, ein ausgemachter Schwachsinn, die geschäftlichen Beziehungen auf die ganze Familie auszudehnen. Nein, nein, nichts Illegales! Er dachte an gelegentliche Geschenke in Form von ausgedienten, wirklich schrottreifen Plätteisen, Wärmflaschen, Kaffeemühlen, na Sie wissen schon; also durchaus keine Handelsware! „Es war ein Flitz, hirnverbrannt, nun sehn Sie mich nicht so an, verstehn Sie das bloß richtig, das sollte ja kein Schieberring werden! Ich setz mich doch nicht in die Nesseln! Hab ich das nötig? Mein Gott, jeder hat mal irgendwelche Flausen, ich hätte ja nie ernst gemacht. Wegen ein paar Päckchen Kaffee; ich bin Nichtraucher, ich hab doch alles, für wen soll ich denn was riskieren, überlegen Sie sich das doch mal selbst. Ich hätte mich da auch vorher genau nach den gesetzlichen Bestimmungen erkundigt; krumme Touren sind bei mir nicht drin; ich setze nur zu. Ich helfe, wo ich helfen kann; an mich denk ich immer zuletzt. Mein Gewissen ist rein – aber als Sie mich gestern fragten, da war mir plötzlich der Hals wie zugeschnürt … Himmelherrgott! Wie hätt ichs Ihnen denn erklären solln? Wie hätt ichs Ihnen denn darlegen sollen, ohne das Gesicht zu verlieren? Ich hab mir mein Lebtag noch nichts zu 220
Schulden kommen lassen, mir ist das alles furchtbar unangenehm …“ Hottenbach, hängende Schultern, blickte reuig zu Boden. Es existierte eine Akte bei der K, und Werl wußte, daß man dem gewieften Wernfried schon in den nächsten Tagen zu Leibe rücken würde; für die MUK war aber der Trödelhandel keine Aufgabe, auch nicht als grenzüberschreitend geplanter; ihn interessierten andere Dinge, er fragte: „Was geschah nun an diesem Montag? Trafen Sie mit Moritz Lindthaler zusammen?“ Nein, der sei ja nicht gekommen. Er habe auch die alte Dame nicht einweihen wollen … also in diese durchaus noch nicht spruchreifen Absichten, ach, was heißt Absichten – im Grunde ging es mir um ein rein informatives Gespräch, seien Sie versichert! Man trat jetzt einige Schritte zur Seite, um zwar nur selten auftauchenden, so doch in jedem Fall störenden Bewunderern des Kolossalstandbilds auszuweichen, und Hottenbach berichtete: „Ich wußte dann bald nicht mehr, wie ich mein Ausharren bei ihr begründen sollte; sie wollte von Verkäufen nichts wissen, weigerte sich, mir noch irgendwelche Stücke zu zeigen. Sosehr ich auch zuredete, sosehr ich mich bemühte. Schließlich beschuldigte sie mich erneut, sie übervorteilt zu haben, nannte mich skrupellos, natürlich erregte ich mich, ein Wort gab das andere, und da schlug …“ „Da schlugen Sie sie tot“, warf Brandenburg ein. Schwer gekränkt widersprach Hottenbach: „Nein, da schlug die Standuhr, und sie sagte, daß Moritz noch nie so spät gekommen wäre. Sie konnte es sich nicht erklären, geriet in größte Sorge. Beachtete mich nicht mehr, lief händeringend im Zimmer auf und ab … Sie hing, glaube ich, sehr an ihm, was sich umgekehrt, meiner Vermutung nach, nicht gleichermaßen konstatieren läßt …“ Er hatte für einen Moment den Faden verloren, sagte: „Ja, ich ging dann.“ 221
„Wie verließen Sie das Haus? Ich meine: Brachte Frau Lindthaler Sie hinunter?“ „Nein, aber sie wies mich darauf hin, daß die Haustür abgeschlossen sei, ich könne aber durch den Keller … Und das tat ich.“ „Kurz nach siebzehn Uhr?“ „Ja. Zehn, fünfzehn Minuten nach dem Läuten. Ach nein, so lange war es nicht.“ Werl sagte: „Herr Hottenbach, wir werden das alles überprüfen. Wie erklären Sie sich nun aber, daß Leute aus der Nachbarschaft behaupten, in den Tagen beziehungsweise Nächten davor habe sich ein Mann bei Frau Lindthaler aufgehalten? Man munkelt von einem Bräutigam und tippt – auf Sie! Die Lindthaler selbst hat, und sei es im Scherz, etwas von Heiratsabsichten geäußert.“ Hottenbach, schon wieder merklich obenauf, reagierte: „Bin ich verpflichtet, dafür eine Erklärung parat zu haben? Mich hat sie bestimmt nicht gemeint.“ Sich besinnend, versöhnlerisch: „Vielleicht gab es da wirklich einen Herzensbrecher. Ich habe den Herrn zwar nicht zu Gesicht bekommen; allein … einiges deutete auf die Anwesenheit einer weiteren Person hin.“ Er legte die Hand an die Schläfe, senkte den Kopf, rief plötzlich, mit dem Zeigefinger wedelnd: „Es war nicht alles wie sonst. Beispielsweise stand Geschirr im Abwasch: zwei Teller, zwei Tassen, zwei Weingläser … Möglich, sie wäscht nicht alles gleich ab; aber ich dachte … nein, ich dachte nichts, es war ein unbewußter Eindruck, der mir erst jetzt, auf Grund dieses Gesprächs deutlich wird: ein Eindruck, als sei da jemand gewesen, und als gelte jene Unruhe nicht nur ihrem Sohn …“ Eine Dame, nicht mehr ganz jung, aber attraktiv hergerichtet, elegantes Kostüm, Schlangenledertäschchen, hatte schon geraume Zeit vor einer der marmornen Jünglingsgestalten verharrt, es lag wohl in ihrem Bewundern auch ein insgeheimes Bedauern, in diesem Säkulum und 222
unter dieser nördlicheren Sonne geboren zu sein, trat näher, wandte sich an Stefanie: „Ach entschuldigen Sie, nur eine Frage. Ich besitze noch einen älteren Museumsführer, und es heißt dort, es existiere hier eine Goldschmucksammlung, antiker Goldschmuck …?“ Stefanie, gar nicht kompetent, verwies auf Hottenbach, der erläuterte: „Die Goldschmucksammlung wurde während des Krieges ausgelagert und äh befindet sich heute in Westberlin. Allerdings nicht vollständig.“ Er faltete die Hände, sagte: „162 Nummern sind nach dem Krieg abhanden gekommen. In Schloß Celle. Der Diebstahl ist bis heute nicht aufgeklärt.“ „Da könnten wir uns ja noch Sporen verdienen“, lachte Brandenburg. Herr Hottenbach lächelte auch.
23 Erste Anzeichen von Dämmerung. Es roch nach einsetzendem innerstädtischem Berufsverkehr. Werl sah auf die Uhr, sinnierte: „Ich glaube, dieser Fall landet nicht bei den Unaufgeklärten. So unübersichtlich momentan alles scheint: Wir sind jetzt täglich ein Stück vorangekommen. Hier fügt sich wahrhaft Steinchen an Steinchen. Besser hätten Sie sichs nicht wünschen können, Fräulein Thalmer! Es gibt schließlich auch Fälle, da nehmen wir den Täter, geständig, neben der Leiche fest; das wäre für Ihre Zwecke womöglich unergiebig.“ Nach kurzem Bedenken meinte er: „Ich mach euch mal einen Vorschlag …“ „Ja“, griff Brandenburg vor, „ich kann jetzt auch ne Tasse Kaffee vertragen.“ „Wir fahren noch nach Marzahn. Und interviewen diese DFD-Freundin. Die Frau weiß bestimmt mehr, als sie 223
uns beim ersten Mal gesagt hat, beziehungsweise als wir aus ihr herausfragen konnten.“ Die Begeisterung hielt sich in Grenzen; aber Werl nahm keine Abstimmung vor. Ließ den Motor an und fuhr los. Sagte: „Diesmal versuchen wirs gleich im Wohngebietsclub.“ Sosehr Stefanie die übertriebenen Galanterien und Werbungen des Unterleutnants zuwider waren: beim Aussteigen empfand sie seine plötzliche Unaufmerksamkeit als Mangel. Er starrte einer jungen Frau nach, die, ein Kind an der Hand, aus dem Wohngebietsclub getreten war. Stellte sich auch gleich Wiedererkennen ein: Staubsaugergeräusch, hochgebundener Rock, pralle Schenkel: Frau Lehnerts Nachbarin neben dem Schuhregal. Zum ersten Mal, und sie bemerkte das mit Verständnislosigkeit, regte sich in ihr in bezug auf Brandenburg so etwas wie Eifersucht. Diesmal sogar mit Einlasser; der ehrenamtliche zerknitterte Mann zielte mit dem Zeigefinger auf Werl: „Wohin? Hausbuchführer?“ „Nein. Kriminalpolizei.“ Beeindrucktes Haltungannehmen. „Ja bitte, gehn Sie durch.“ Zielte auf Brandenburg und Stefanie: „Ehe und Sexualberatung?“ „Nein. Auch Kriminalpolizei.“ Frau Ronneburger, oben in ihrem Zimmer, erhob sich, diesmal in Rock und Bluse, füllig, kam auf sie zu, strahlend-neugierig: „Na, was ist? Darf man schon gratulieren?“ Werl, mit einem scheelen Blick auf sein Pärchen: „Was meinen Sie?“ „Na haben Sie ihn, oder haben Sie ihn noch nicht?“ Noch nicht; aber man hoffe, mit Hilfe Frau Lehnerts bald zum Erfolg zu kommen. – Da hätten sie Glück im Unglück; Erika sei weggeholt worden, müsse aber eigentlich nun langsam zurück sein, sie sollten doch am besten 224
Platz nehmen und warten. „Wir führen nämlich heute unsre Jahresabschlußversammlung durch“, plauderte die DFD-Gruppenvorsitzende, „ich hab das Referat noch nicht fertig … Und dann ist da ne Menge Organisatorisches. Deshalb kommt sie nochmal wieder. Ich hätte das sonst nicht zugelassen. Sie ist zum Blutspenden!“ Frau Ronneburger sagte das mit merklichem Unwillen, machte auch aus ihrem Verdruß kein Hehl: „Gewiß eine löbliche Einstellung, ich hätte prinzipiell nichts dagegen; aber zweimal ist sie mir schon hinterher abgekippt. Davon erzählt sie den Ärzten natürlich nichts! Die nehmen auch normalerweise nur bis sechzig Jahre; aber weil sies schon länger macht und wegen der Blutgruppe und weil sie so einen besonderen Rhesusaffenfaktor hat … Heute kamen sie gleich mit Blaulicht. Wenn das so weitergeht, ruf ich in der Atzpodienstraße an und schenk denen mal reinen Wein ein! Eigentlich müßten die Ärzte das von selbst merken, wenn es zuviel wird; wer weiß, was sie denen vorgaukelt …“ „Die wachsenden Bedürfnisse“, entfuhr es Werl. „Der Bedarf an rasanten Autos steigt zunehmend. Der Bedarf an Blutkonserven auch.“ – „Wissen Sie zufällig die Blutgruppe?“ fragte Brandenburg wie beiläufig. „AB …?“ Frau Ronneburger war sich nicht hundertprozentig sicher, sie hat von den Bezeichnungen keine Ahnung. Brandenburg nickte; seine Wangenmuskeln spielten. Man sah ihm an, wie das in ihm kombinierte; AB, die seltene Gruppe auf den Karokippen, Frau Lehnert raucht Karo: Er ist endlich einmal vor Werl auf der richtigen Spur; streckte den Hals, giraffig, gegen den Aschenbecher vor. Werl, als sei er übermüdet, barg das Gesicht in der Hand; einer ist hier wirklich zuviel, entweder man wird ihn beizeiten von diesem Mitarbeiter erlösen, oder er erlöst diesen Mitarbeiter von sich; jeder macht sich mal lächerlich, und er verhöhnt Fehldeutun225
gen anderer, deren vermeintliche Geistesblitze ganz gern. Aber er fühlt sich, verdammt, nicht zum permanenten Possenreißen berufen! Frau Lehnert, bißchen taumelig; Stefanie und der Hauptmann sprangen gleichzeitig auf, boten ihre Sitzgelegenheit an; das ist aber nicht nötig, bleiben Sie doch sitzen, das geht gleich vorbei, eine momentane Schwäche; sie sagte: „Sie sind ja schon wieder hier … Da ist es wohl wirklich ein Verbrechen?“ Brandenburg: „Haben Sie daran gezweifelt?“ „Ja. Eigentlich ja.“ Sie sagte zu Frau Ronneburger hin: „Diesmal wars gar kein Unfall. Eine ganz junge Frau – Vergiftung, wahrscheinlich Selbstmordversuch, alles Blut mußte ausgetauscht werden, die hatten aber nicht genug.“ „Aber es gibt auch noch andere Spender“, entgegnete Frau Ronneburger vorwurfsvoll, „da müssen die nicht immer auf dieselben zurückgreifen!“ „Offensichtlich doch, Rosel.“ „Wir haben gehört“, stocherte Brandenburg, „Sie haben Blutgruppe AB?“ Frau Lehnert nickte. Brandenburg nickte auch, sah sie fest an und nickte, fünf, zehn Sekunden lang. Werl, in verhaltener Wut, preßte hervor: „Ich glaube, es ist besser, Frau Lehnert, wir kommen morgen wieder. Und dann vielleicht mit reduziertem Aufgebot; das ist jetzt kein günstiger Augenblick.“ „Ach, lassen Sie doch, mir wird ja schon wieder besser. Ich bezweifle nur, daß ich Ihnen viel nützen kann. Offensichtlich haben ja auch meine Angaben von vorgestern wenig weitergeholfen; sonst kämen Sie nicht neuerlich.“ „Ganz falsch geschlußfolgert“, versicherte Werl. „Wir beziehen zwar die vielfältigsten Aussagen und Anhaltspunkte ein; aber wenn wir heute ein gut Stück klarer sehen, ist dies nicht zuletzt Ihr Verdienst – doch! Doch! Wir 226
haben im Mordfall Lindthaler das unverschämte Glück, die Vergangenheit verhältnismäßig lückenlos aufdecken zu können, mit Ihrer Hilfe, das dürfte für die Aufklärung ausschlaggebend sein. Davon bin ich überzeugt.“ Frau Lehnert war da skeptischer. Jeder Mensch hat Fehler, alle Menschen haben Schwächen; sie ist bei Frau Lindthaler auch mit negativen Charakteren zusammengetroffen, um das mal so zu benennen, auf keinen Fall wäre sie bereit, irgend jemanden davon mit einem Mord in Zusammenhang zu bringen. Auf gar keinen Fall! Brandenburg warf ein: „Die Zusammenhänge stellen wir her. Es reicht, wenn Sie sagen, was Sie wissen!“ Und Frau Ronneburger erbot sich: „Ja, ich werde Sie dann mal allein lassen. Aber quetschen Sie mir meine Erika nicht bis zum letzten Tropfen aus, die ist heut schon genug zur Ader gelassen. Sonst bekommen Sie hier Hausverbot.“ „Bleiben Sie ruhig da, Frau … Ronneburger“, rief Werl, „Sie wissen ja auch einiges über die Wilhelmshagener Kleinkriege; vielleicht können Sie manchmal ergänzen.“ Die Befragung plätscherte dahin, Werl stellte fast die gleichen Fragen wie letztes Mal, nur, dank dem höheren Erkenntnisstand, ein wenig präziser; etwas einschneidend Neues kam dabei nicht heraus. Frau Ronneburger, der das Jahresabschlußreferat auf den farblos lackierten Nägeln brannte, blickte in immer kürzeren Abständen zur Uhr, und Stefanie, hinter vorgehaltenem Notizblock gähnend, beschloß, die DFD-Gruppenvorsitzende im Anschluß wegen einer Lyriklesung anzugehen; sie braucht für den Winter dringend Stiefel, und das wäre immerhin schon der linke. Endlich kam Werl auf die aktuellsten Ergebnisse zu sprechen, erwähnte Hottenbach und die Vermutung, Frau Lindthaler habe in letzter Zeit ein Verhältnis zu einem männlichen Wesen angeknüpft. „Aber doch nicht zu Hottenbach“, rief Frau Lehnert, „sie war immer so 227
schlecht auf den zu sprechen, nein, das ist völlig undenkbar!“ „Ich verstehe eins nicht: Jeder behauptet hier ein gespanntes Verhältnis zwischen den beiden; warum verkaufte sie dann immer wieder an ihn?“ „Weil sie Herrn Hottenbach am längsten kannte! Und was ihren Ärger betrifft: Meta trennte sich nie gern von ihrem Besitz. Anscheinend blieb ihr aber keine Wahl.“ „Woher kannte sie ihn? Von Kipfels?“ „Nein umgekehrt. An Kipfel geriet Hottenbach erst über Meta. Und von der hatte ihm …“ Sie zögerte, sagte: „Rudolphs, die früher unten gewohnt hatten, Herr Rudolph hatte nach dem Krieg im gleichen Betrieb wie Hottenbach als Elektriker gearbeitet. Über den erfuhr also Hottenbach …“ „Nun hör aber endlich auf, diese Leute zu schonen, Erika“, ereiferte sich Frau Ronneburger. „Ach machs doch halblang! Sag doch, wies wirklich war! Zu einem Geburtstag, irgendwann nach Kriegsende, hatte die Lindthaler mit diesem Rudolph in der Badewanne … ich sag mal: eine Privatfeier. Was heißt nicht erwiesen, du hast uns das am Krossin-See erzählt, natürlich! Als wir mit dem Boot draußen waren; mein Mann lacht heut noch Tränen. Die ersten Monate nach dem Umzug nahmen wir Erika fast jedes Wochenende mit in den Garten oder aufs Wasser: Wir sind bald gekentert, als sie uns vormachte, wie die beiden Frauen damals aufeinander losgestürzt sind, nachdem die Rudolph das Badefest spitzgekriegt hatte!“ Ohne Begeisterung, aber offen und ehrlich schilderte nun Frau Lehnert die damaligen Szenen, und ihre Zuhörer konnten sich endlich ein Bild von den wirklichen Geschehnissen machen. Frau Gerhardis Bericht war ja überaus konfus gewesen, der Rommédame eignete so eine bedauerliche, tragische Vergeßlichkeit, sie hatte – wider Willen ganz sicherlich – mehr durcheinanderge228
bracht als klargestellt; einen Auftritt mit den Rudolphs verantworteten bei ihr der heruntergeschleuderte Spazierstock eines Gartenbauinspektors von Dreyse, die gegrölten Choräle des Pfarrers Soergel – von einer Badewannenidylle hatte sie (auch nach Auswechselung der handelnden Figuren) nichts zu vermelden gewußt. „Ja“, schaltete sich Rosel Ronneburger wieder ein, „und auf seiner Arbeitsstelle, jenem Hottenbach gegenüber, prahlte Rudolph dann damit; was für eine feudale Dame er … wie drückte der sich aus? – Na wie hast dus damals gesagt, Erika? – vor die Flinte gekriegt hat. Oder so ähnlich. Auf die Weise erfuhr Hottenbach von den Besitztümern, und da er sich zu jener Zeit auf dem schwarzen Markt betätigte …“ Erika Lehnert sagte: „Das ist doch alles ewig her. Meta war nie ein Kostverächter, und sie war eine attraktive Frau. Die beiden riskierten auch später öfter mal einen gemeinsamen Seitensprung, das heißt, Seitensprung wars ja nur von ihm aus. Das ging …“ „Das ging bis in die letzten Jahre“, führte Frau Ronneburger, die es auch wußte, fort, „deshalb bestand ja seine Frau auf der Neubauwohnung. Oder was dachten Sie“, fragte sie in Werls Verblüffung, „weshalb die unbedingt von Wilhelmshagen weg wollte?“ „Das heißt also“, Werls Finger stieß vor, „zwischen Rudolph und Frau Lindthaler könnte bis zuletzt ein Verhältnis bestanden haben!“ Erika Lehnert wiegte den Kopf, was man nicht weiß, soll man nicht behaupten; aber Frau Ronneburger rief: „So unüberbrückbar sind ja die Entfernungen innerhalb Berlins nicht! Ich würde mich da gar nicht wundern. Und die Lindthaler war in sexueller Hinsicht, damit es nur mal ausgesprochen wird, ohne Skrupel; erzähl doch mal, Erika, was du über ihr Verhältnis zu ihrem Sohn gesagt hast, erinner dich, bei der Anzeigen-Annahme, daß du glaubst, selbst diese Gefühle seien bei ihr erotisch-sexueller Na229
tur, ach! Als wir anstanden, wegen deiner BriefwechselAnnonce, ich mußte ewig auf sie einreden, bis sie sich breitschlagen ließ, so was in die Zeitung zu setzen, daß du ihr zutraust, daß sie ihn von jeher mehr als Mann, denn als Sohn liebte, während Moritz, das genau wissend, sie ablehnte – nun erinner dich doch mal!“ So eine Art Liebesverhältnis sei das mitunter schon gewesen, zumindest von Metas Seite aus, gab Frau Lehnert zu. Nein, also wirklich! Derartige Beziehungen zwischen Mutter und Sohn, Werl wollte das gar nicht akzeptieren. „Aber es ist doch keine Blutsverwandtschaft“, brachte Frau Lehnert entschuldigend vor, „er ist ja nicht ihr leiblicher Sohn.“ „Wie bitte?“ Brandenburg, eben noch, da sie sich eine Karo anzündete, in ganz anderer Richtung denkend, fiel aus allen Wolken, hob die Hände, „Was sagen Sie da?“ „Ja aber … Aber wußten Sie denn das nicht?“ Werl, benommen wie nach einem Donnerschlag: „Nein … Das wußten wir allerdings nicht. – Hätten Sies bereits letztes Mal erwähnt, wären wir heute wahrscheinlich entschieden weiter … So ist das, Frau Lehnert: Jeder trägt sein Bewußtsein, seinen Gedächtnisspeicher mit sich rum, Sie, ich, könnte man das in einen gemeinsamen Behälter schütten oder, wie bei einer EDV-Anlage, auf ein gemeinsames Band überspielen, stellte sich die Lösung vermutlich rasch ein. Leider lassen sich Gehirne nicht so ohne weiteres anzapfen.“ Draußen, im Wagen, gestand der Unterleutnant: „Da erscheint ja nun wirklich einiges in neuem Licht! Und für mich lag der Fall – offengestanden – vorhin schon ziemlich klar. Unter einem ganz anderen Gesichtspunkt.“ „Wenn das so war, Genosse“, dieses Hiebs konnte sich Werl nicht enthalten, „hätten Sie sich doch einfach verabschiedet und Urlaub genommen. Bis wir soweit sind. Bis auch bei uns der Groschen fällt.“ 230
Lächelnd konstatierte Stefanie: „Ich glaube, meine Herren, kein Dichter neidet dem anderen sein Talent so wie Kriminalisten einander den Spürsinn!“ Ein Abend. In diesen achtziger Jahren. Aus Frau Plaschkes Wohnzimmer rasseln Panzerketten im Wüstensand. Schluchzen Frauen in El-Salvador. Distinguierte Stimmen begründen den Rüstungsetat. Gürtel enger schnallen, Chemikalien in der Donau, das Wetter morgen. Radieren Reifen, quietschen Bremsen, Füßegetrappel der letzten Folge einer siebenteiligen Serie: Halt stehnbleiben oder ich schieße. Bettgeflüster, ich vergehe in deinen Armen o sweetheart. Dabei kann man keinen klaren Gedanken fassen. Stefanie zog den Mantel über, steckte Papier, Kugelschreiber ein, lief auf die Straße. Lief diese Schönhauser Allee entlang. Dunkelheit, Uringeruch unter den U-Bahn-Bögen. Endloses Spalier später Scheinwerferpulks. Aus dem Wiener Café fiedelten, klimperten rauchige Melodiefetzen. Hinter der grünen Filzportiere – bleichbeleuchtete Gesichter – an einem Fünfertisch, tasteten die Finger des Blinden über das Tuch, umrangen das Teeglas; ein Pfeifenraucher schob ihm die Zuckerdose hin. Sie bestellte ein Kännchen; ihr Blick streifte über den Nachbartisch, diese blinden, dunkel getönten Brillengläser; Geige, Flügel verbreiteten wehmütige Reminiszenzen. Ein Abend. In diesen achtziger Jahren. Die Leute, wie auf Abruf, provisorisch an den Tischen plaziert; und der Blinde, lauschenden Gesichts, Kopf leicht im Nacken, sagte zwischen der Frau mit dem Kind und dem lächelnden Pfeifenraucher hindurch: „Ich denke da anders. Wesentlich anders … Hoffnungsvoller.“ Die Frau, aufgebracht, impulsiv: „Aber dann sehn Sie wohl nich, was in der Welt vorgeht? Dann sin Sie wohl blind …“ Brach ab, führte die Hand vor den Mund. Das haben Kriminalromane so an sich, eine Fülle fal231
scher Spuren, verdächtig Verdächtiger, zum Schluß hin wird dem Leser eine Figur um die Ohren geschlagen – die wars! – Er hatte nie eine Chance. Sie will das vermeiden, sie will die zwingende, notwendige, sich aufnötigende Lösung; nicht den blassen: den rundum ausgeleuchteten Täter. Tee rührend, verschwappend, in einer Gloriole von Zigarettenqualm und Bumscafélicht behauptete der Blinde: „Die Geschichte der Menschheit ist die Geschichte ihrer Emanzipation. Nicht geradlinig, gewiß, das ist kein unentwegtes Schreiten nach vorn, kein Senkrechtstart, eher ein Umsichgreifen, eine allmähliche Akkumulation …“ „Kommen Se bloß nich mit der Litanei!“ Die Frau, Schwarzseherin, aber auswegsüchtig, hat sowieso keine Zeit mehr zum Unterhalten, muß auch das Kind ins Bett. „Das sin doch Phrasen. So was hörn wir doch alle Tage!“ Der Blinde suchte nach Beispielen, am Beispiel läßt sich immer am ehesten etwas begreifen: „Im Flugzeugbau, früher, wurden immer schnellere Typen entwickelt. Plötzlich kam es zu Abstürzen. Die Schallgeschwindigkeit war erreicht und verlangte neue konstruktive Lösungen. Vor dem qualitativen Umschlag gibt es ein kritisches Moment. – Wir stecken mittendrin.“ Erhobener grüner Finger des Pfeifenrauchers: „Sehr interessant. Allerdings riecht das nach spekulativ-mystischer Übertragung von Naturgesetzlichkeiten auf die Gesellschaft!“ An irgendeiner Stelle ihres Romans wird sie die Lösung vorwegnehmen. Das Prinzip nennen, dem das Ganze unterliegt. Es muß mit Händen greifbar sein; allen Regeln des Genres zum Trotz. An irgendeiner Stelle bündelt sie alles Licht auf den Täter. Liest man dennoch weiter, hat sie der ehernen Regel eine Nase gedreht. Aber wie stellt sies an? „Die Welt“, sagte der Blinde, drehte den Kopf wie eine unruhige Radarantenne in Richtung der Geräusche, 232
brachte die Ohren in vorteilhafte Positionen, „ist eine gegliederte Einheit. Würde die Entwicklung eines ihrer Teile bedrohlich, wäre dessen Vernichtung eine Regulation, die die Weiterexistenz des Gesamtsystems ermöglicht. – Wenn die Menschheit pervertiert, wird sie von den objektiven Gesetzmäßigkeiten eliminiert.“ „Das sin ja heitere Aussichten“, entrüstete sich die Frau mit dem Kind. „Ham Sie uns sonst noch was Tröstliches zu sagen?“ „Blanke Metaphysik!“ distanzierte sich – grünes, lila Gesicht – die Pfeife. „Besitzt die Menschheit, emanzipiert, die Reife, nicht nach den Maximen ihrer Embryonalzeit zu handeln, sondern entsprechend ihrem neuen Lebenszuschnitt? Besitzt sie die Reife, die Verantwortlichkeit für ihre neuen Möglichkeiten?“ Der Blinde, leise: „Das kritische Moment – ich nenne es die Gefahr vor dem Ziel; die große Prüfung auf Biegen und Brechen; Verhängnis vor Elysium.“ Wahrscheinlich sollte sie auch nicht auf die ungewissen Ergebnisse im Fall Lindthaler warten. Und in einem hat Frau Ändering recht: Jener betrunkene Karoraucher ist nicht der geeignete Täter. Purzelt da sternhagelvoll zwischen die Stauden, murkst aus hahnebüchenen Gründen eine ihm Unbekannte ab; sie will nicht die Geschichte einer Ermittlung als Selbstzweck schreiben. Trotzdem wird sie die Episode als Anfang belassen. „Skeptizismus!“ dem Pfeifenpaffer langte das jetzt. „Subjektivistischer Fatalismus!“ War jetzt auch gegenüber ein Zweiertisch frei, nahm den Kognakschwenker gleich mit. Gar nicht mehr lächelnd. „Sie haben wohl auch einst studiert“, wandte sich der Blinde an den verlassenen Stuhl, lauschte dem Geklapper vom Besteckschrank her, einsortierte, in die Fächer geworfene Messer, Gabeln, Suppenlöffel, Teelöffel, Kuchengabeln, „aber Sie hätten Kellner werden sollen. – Ich glaube an die Gerechtigkeit der Materie: Was bleibt, 233
ist vernünftig: Hören Sie: Nicht, was ist – was bleibt!“ Er schlürfte den Tee. „Jahrtausende war da ein orientierungsloses Kreuzen in endlosem, unbekanntem Gewässer. Jetzt zeigt sich vor uns, in Nebel gehüllt, Land: Es werden glückselige Inseln sein; oder der Tod. Was uns zukommt.“ Die Frau raffte ihre Handtasche, riß das Kind am Arm hoch. „Hören Sie doch auf, im Beisein des Jungen! Was haben wir denn damit zu tun!“ Zu den leeren Stühlen: „Danach wird nicht gefragt.“
24 Am nächsten Morgen, krachsauer in seiner Webpelzjacke verkrochen, auf der Unterlippe nagend, fuhr Brandenburg neben Zürner im Wagenfond, zwei Genossen aus Wohlgetans Truppe vor sich, nach Wilhelmshagen. Es hätte mehr als gereicht, wenn man Zürner schickte; wozu muß er dabeisein! Was sollte denn bei dieser Zimmerdurchsuchung für die MUK herauskommen, jetzt, nachdem die Familie Wendelin unter „ferner liefen“ rangierte; nachdem ganz andere Prioritäten gesetzt waren? Die Rudolphs müßte man aufsuchen – ihn und sie – da könnte man ins Schwarze treffen! Und eben das, darauf mochte er wetten, hatte sich Werl für diesen Vormittag vorbehalten, für sich allein: So addieren sich die strahlenden persönlichen Erfolgskonten der alten Ermittlungshasen! Der vergnatzte Senno, einsilbig, wies alle Gesprächsangebote Zürners ab. Schließlich gab der es auf, wischte über die beschlagene Scheibe, sah raus, bemerkte: „Ja, das ist ein mieser Tag heute. Aber ich kann nichts dafür. Ich hab auch nicht die Einteilung vorgenommen: Meinetwegen hättst du ruhig mit dieser Thalmer fahren können.“ 234
„Unterlaß doch die blöden Anspielungen!“ Der eine von den Vorderen, der Beifahrer, wandte sich grienend um, da kam wohl nun doch noch ein interessantes Gespräch auf; vorhin hatte er schon bei sich gedacht, gallige alte Jungfern wären direkt Plaudertaschen gegenüber diesen beiden MUK-Vertretern. Zürner, ärgerlich-betroffen: „Entschuldige! Ich will nicht an offne Wunden rühren. Kann ja keiner riechen, daß es so ernst ist.“ Brandenburgs vorderste Beißwerkzeuge entblößten unter impulsiv hochziehender Lippe. „Quark! Ein rein kollegiales Verhältnis. Sie profitiert von mir, ich von ihr: fachlich. Wir unterhalten uns über forensische Spezialprobleme und Lyrik.“ „Aber doch nicht die ganze Nacht?“ Zürner lachte auf. „Na los, pack aus: Wie weit bist du mit ihr? Oder soll ich die Frage zurückstelln? Bis morgen … bis nach dem Theaterbesuch?“ Die Unterhaltung wurde dann nur noch von drei Personen geführt, und der FC Dynamo hätte beim letzten Mittwoch-Spiel zumindest in der zweiten Halbzeit mehr aufdrehn müssen. In der 78. Minute, im Anschluß an die Ecke, hätte sogar Zürner das Ding unter die Querlatte gehämmert, mit geschlossenen Augen und ohne jahrelanges Training! Der Schiedsrichter war genauso eine Niete. Ilona Wendelin öffnete, ihr Dienst fing erst zehn Uhr an, das hatte man vorher ermittelt. Wohlgetans Mannschaft präsentierte ihr den Durchsuchungsbefehl und die zwei ältlichen Damen aus dem Mietshaus von schräg gegenüber, die man hinzugebeten hatte. Sie erbleichte, geriet außer sich. „Was wollen Sie? Unser Haus durchschnüffeln? Das geht nun wohl jeden Tag so! Wir sind hier wohl Freiwild geworden? Und das muß man sich alles gefallen lassen: schöne Zustände! So was steht natürlich nicht in der Zeitung – ganz gut, daß wir’s mal an der eigenen Haut verspüren!“ 235
„Sie ereifern sich grundlos. Ihr Sohn steht im Verdacht, an einem Kioskeinbruch beteiligt gewesen zu sein.“ „Ach – Kioskeinbruch?“ Sie fauchte Brandenburg und Zürner an: „Seit wann befaßt sich denn Ihre Mordkommission mit Kioskeinbrüchen? Bei Ihnen ist wohl genauso Personalmangel wie im Gesundheitswesen!“ Erst in diesem Moment bemerkte sie die Mund und Nase aufsperrenden Zeuginnen. Na das wäre ja noch schöner, ausgerechnet die Schwestern Melde. Die Straße kenne seit vorigen Montag ohnehin nur noch ein Thema, dank Frau Kipfel wird das bis in den Himmel publik; man zeigt hier schon mit Fingern auf uns; aber sie wird ihren Mann anrufen, das können Sie mir nicht verbieten, ich lasse meinen Mann kommen, mein Mann wird Ihnen die Meinung sagen: Wir beschweren uns! Wir machen eine Eingabe, Sie werden sich umgucken! Brandenburg quittierte: „Vergessen Sie nicht, Ihre Falschaussagen zu erwähnen. Das macht den Schrieb erst richtig gehaltvoll.“ Vom Flur aus konnten sie das Telefonat mit anhören. Das Schluchzen in den Hörer. Ja, die seien schon wieder da, vier Mann hoch. Und die Meldes! Wie sie sich verhalten solle. Schluchzen. „Komm Max, ich kann das nicht alleine! Ich halte das nervlich nicht mehr durch … Von mir aus ja, mach, was du willst, bring deinen Parteisekretär mit, aber beeil dich … Die hausen hier wie die Vandalen!“ „Das war wohl ein schlechter Witz, das letzte“, empfing sie der Unterleutnant feindselig. Ilona lief blutrot an, wußte keine Erwiderung. Nachdem sich die Frau des Hauses in das Unvermeidliche schickte, stellte sich bei Brandenburg wieder der ursprüngliche Verdruß ein; dieser Unfug! Warum hatte er mitgemußt! Sie paßten ja kaum alle in das Zimmer. Man konnte sich nicht drehen noch wenden, vor allem die Damen Melde standen großäugig, gespitzter Ohren allenthalben im Weg. Er ging raus, lehnte sich gegen jenes 236
Geländer im Flur, demonstrativ unbeteiligt, und irgendwo hier auf diesem Holz hatten ihre Hände gelegen. Es war ein glückliches Zusammentreffen gewesen; die Leiche, Stefanies Schwäche und seine Souveränität, mit der er ihr beigestanden hatte. Er hatte eine gute Figur gemacht, das konnte seine Wirkung nicht verfehlt haben. Wohlgetans Mannen waren zum ersten Mal fündig geworden: herausgerissene Magazinseiten in einem Heftumschlag, und was für welche. Hinweis auf eine triebhaft veranlagte Persönlichkeit, aber wer ist das nicht; trotzdem ein erster Punkt für das Beschlagnahmeprotokoll. Eigentlich suchte man Spirituosen, Zigarettenstangen. Ilona schüttelte über den Nackedeien den Kopf, ob von hier oder von drüben: so was sammelt ihr Andreas nicht, das muß einem Schulfreund gehören, sie kennt doch ihr Kind! Im Kleiderschrank ganz unten ein großer flacher Karton: demolierter Teddybär, Steinbaukasten (das meiste zerbrochen), Schwungradautos. In einem Schubfach: Fahrtenmesser, defekte Digitaluhr, Rolle Klingeldraht, ein Kriminalroman, Kompaß, Abtastsystem für Plattenspieler. „Die meiste Zeit lernt mein Sohn“, versicherte Ilona, „und wenn er dann noch Muße hat, beschäftigt er sich mit seiner Autorennbahn.“ Zynisch fügte sie hinzu: „Für Morde und Einbrüche bleibt ihm höchstens in den Ferien Zeit.“ Die Rennbahn war wirklich nicht ohne. Der Wendelinsohn schien da auch einiges selbst gebaut zu haben; sowohl was die Streckenführung, die Elektrik, vor allem aber das landschaftliche Drum und Dran betraf. Alle, ausgenommen den im Flur bockenden Brandenburg, juckte es in den Fingern, mal den stahlblauen, signalroten oder den silbernen Flitzer durch die Gegend schießen zu lassen; aber das wäre gegen die Reputation und dem Ernst der durchzuführenden Maßnahme zuwider. Es klingelte; Frau Wendelin lief nach unten, wahrscheinlich ihr Mann. 237
Zürner, in die Nähe des Bettes geraten, schlug die Decke zurück. Zog das Laken zur Seite – Brandenburg mußte das, gezwungenermaßen, von draußen durch die Tür verfolgen; Zürner hob eine Matratze an, stellte sie gegen die Bettumrandung. Hob die zweite, setzte sie sehr rasch ab, die kippte, wummte auf den Boden. Brandenburg beugte sich erst nur vom Geländer vor. War dann mit zwei Schritten an der Schwelle, drängelte an dem Schrankdurchsucher vorbei, starrte Zürner über die Schulter. Andreas Wendelin war ersichtlich kein Prinz auf der Erbse. Der schlief auf einem Elektrorasierapparat, ohne blaue Flecken davonzutragen. Allerdings fiel Zürner eine Ahnung an, die Betteinlage könnte den, auch ohne zu drücken, nachts um den ruhigen Schlummer bringen. Er hob das Gerät vorsichtig an der Schnur hoch. Ladenneu war es nicht, das sah man. Das Gehäuse mußte, beschädigten Schraubenschlitzen zufolge, schon mehrfach geöffnet worden sein. Brandenburg sagte: „Geklaut, logisch. Sonst läg der woanders.“ Aber Zürner – er hatte erst vor wenigen Tagen die gesamte elektrische Anlage im Haus untersucht – erwog atemberaubendere Zusammenhänge. Sah die Verhältnisse im Badezimmer noch deutlich vor sich: Die Steckdose befindet sich … „Du hast doch die Schlüssel einstecken? Komm mal mit, nebenan!“ Die von der Ermordeten ehemals bewohnten Räume waren bis zur Freigabe, bis zur Übergabe an einen Nachlaßpfleger versiegelt. Brandenburg hatte Siegel und Schlüssel bei sich, auf Anweisung Werls, falls sich etwas ergäbe; aber er begriff nicht … Wollte sich Zürner in Frau Lindthalers Badezimmer rasieren? „So, Genosse Unterleutnant. Was ich Ihnen jetzt zeige, ist vorerst nur eine Idee. Ohne handfeste Beweise, ohne logischen Kontext. Der Abstand von dieser Steckdose über der Glaskonsole bis zum anzunehmenden Wasser238
stand bei gefüllter Wanne beträgt … na, ich schätze das auf nicht mal einen Meter. Bis zum Wannengrund anderthalb. Maximal! Aber die Geräteschnur mißt ihre zwei bis zwei Meter dreißig!“ „Na und?“ „Ich weiß nichts Genaues. Aber warum versteckt er den?“ Brandenburgs Hirn arbeitete wie ein Computer der dritten Generation. Ja, doch! Er kapiert durchaus. Die Kopfverletzung; der holde Knabe hatte den Rasierapparat – der mußte dann angeschlossen gewesen sein – vermutlich von der Konsole genommen und der Lindthaler an den Schädel … Aber was passiert denn, wenn so ein Ding ins Wasser fällt, kann das jemanden umbringen? Ginge das überhaupt? „Einer von uns muß sofort los“, meinte Zürner. Bot an; „Am besten, du. Dich ziehts doch am meisten zurück.“ Der blonde Senno war hundertprozentig einverstanden, überging sogar die Anspielung; ich nehme den Wagen, ihr müßt dann sehn, wenn ihr fertig seid, wie ihr hier wegkommt. Gerichtsmedizinisches Institut, Sektion Kriminalistik, er braucht die Befunde postwendend. Das mögliche Corpus delicti wanderte, quasi keimfrei verpackt, in seinen schwarzen Diplomatenkoffer. Das wäre dann Punkt zwei im Protokoll. Auf halber Treppe kamen ihm die Wendelins entgegen. Ohne Parteisekretär. Max, in aller Schärfe: „Also Genosse, das ist wirklich stark, was ihr euch hier leistet; wo leben wir denn!“ Äußerst zugespitzt, da Brandenburg keine Notiz nahm, an ihm vorbeizulaufen drohte: „Dafür hab ich nicht mein Leben lang gearbeitet, deshalb bin ich nicht organisiert, um hier Methoden …“ Brandenburg rief: „Keine Zeit, erzähln Sie das oben!“ Der Scherkopf wurde von den Medizinern, der übrige Apparat von den Technikern untersucht, und der Unter239
leutnant hockte, das Telefon belauernd, der Genossin Zeisig gegenüber, lief einige Minuten auf und ab, fuhr beim Klingeln auf dem Absatz herum, riß den Hörer von der Gabel – die Besoldung: Seit wann die Genossin Seyffarth in Schwangerschaftsurlaub ist. Frau Werl: Ob sie mal ihren Mann sprechen kann. Ob er ihm bitte ausrichten würde, wenn der wiederkommt, daß es wahrscheinlich heute nachmittag in Pankow Flöten gibt. Aber nicht vergessen …! „Mein Gott“, die hellblauen Gallertaugen der Genossin Zeisig verfolgten mitfühlend sein Rumgerutsche auf dem Stuhl, „haben Sie nun Hämorrhoiden oder den Täter fast sicher?“ Das Letztere. Der Kriminaltechniker hatte den Apparat in seiner Gegenwart einem ersten Augenschein unterzogen. Der befände sich in eingeschaltetem Zustand. Habe einen Kurzschluß herbeigeführt. Es müsse auch Wasser ins Innere gelangt sein. Da und dort sei von einem Nichtfachmann herumgebastelt worden, wohl in der Absicht zu reparieren. In der Badewanne elektrische Geräte zu bedienen sei in jedem Fall lebensgefährlich. Inwiefern ein Badender getötet werden kann, wenn man ihm ein angeschlossenes elektrisches Gerät in die Wanne wirft, hänge von den konkreten Umständen ab. Es folgte ein Vortrag, in dem Begriffe eine Rolle spielten wie: Leitfähigkeit von Wasser, Salzkonzentration, Übergangswiderstand, Stromfluß, Material der Wanne. In sein Erläutern, warum im Bad bereits 60 Volt eine tödliche Spannung darstellen, äußerte er plötzlich: So, und hier hat jemand gepfuscht – sehn Sie mal, wie der Draht befestigt ist! – daß eine starke Erschütterung ausreicht, um an dieser Stelle einen Kontakt herzustellen und damit eine leitende Verbindung zum Scherkopf. Da muß man nicht mal in der Wanne sitzen, es langt, wenn man sich überhaupt rasiert. – Also doch eine Art Stromfalle! hatte Brandenburg registriert. – Nein. Das ist einfach unsachgemäße 240
Arbeit. Leichtsinn, der einen Unfall herbeiführen kann. Im konkreten Fall, in der Badewanne erhöht es natürlich das Unfallrisiko erheblich. Ich würde hier, rein vom Gegenstand her, allenfalls von fahrlässiger Tötung sprechen. Mord – da wählt man doch eine sicherere Methode! – Ja, hatte Brandenburg gerufen, aber nur wenn man weiß, daß diese nicht sicher ist! Glücklicherweise waren der Hauptmann und die Schriftstellerin Thalmer – den Worten der Genossin Zeisig zufolge – erst nach dem Frühstück weggefahren und damit vorläufig nicht zu erwarten. Wäre auch ungerecht und jammerschade, wenn ihm der Chef jetzt, in einem so erfolgversprechenden Moment die Angelegenheit aus den Händen nähme. Effektvoller stellte er es sich vor, Werl bei dessen Ankunft den dann vielleicht schon geständigen Wendelinsohn zu präsentieren: es würde ihm einen Schlag versetzen, aber nicht unverdient. Die Erlösung, die triumphale Nachricht traf ein, als Brandenburg zum Telefon griff, er hielt die stundenlange Warterei nicht mehr aus, wollte wenigstens wissen, ob bei der daktyloskopischen Untersuchung des Plastgehäuses Fingerabdrücke festgestellt wurden. Statt eines Amtszeichens hatte er Doktor Lüdhannes im Hörer. Der sonst eher ein wenig umständliche, sich möglichst nicht zu eindeutig festlegende Doktor jubelte mit solcher Vehemenz, daß selbst die Genossin Zeisig verwundert auf das Zirpen an Sennos Ohr lauschte. Am Scherkopf, an der Messerkante seien Gewebsreste sichergestellt, die eindeutig von der Kopfverletzung der Lindthaler herrühren. Lüdhannes frohlockte: „Bestechend unbezweifelbar: der Täter muß ihr den Apparat mit Kraft an den Schädel geworfen haben; ein freier Fall reicht da nicht aus … Es sei denn, sie hätte ihren Schädel mit großer Geschwindigkeit dem Apparat entgegenbewegt, was allerdings physisch schwer begreiflich wäre: dazwischen sind alle Übergänge möglich.“ 241
„Gratuliere Doktor! Ausgezeichnet. Damit ist das Verbrechen so gut wie aufgeklärt … Ich bedanke mich!“ Und indem er, auflegte, zur Genossin Zeisig hin: „Der Dicke wird Augen machen …“ „Wenn Sie was aufklären“, schallte es von der Tür her, „macht der Dicke immer Augen.“ Werl warf seine Aktentasche auf den Tisch, ließ sich in einen Sessel fallen. „Sie haben also – nach knapp einjähriger Fahndung! – herausgefunden, wer Ihnen den Schaumschläger verehrt hat. Na gut, ich bekenne mich zu diesem Anschlag. Aber ich würde ihn nicht als Verbrechen bezeichnen.“ Er streckte alle viere von sich. „Leider war ich weniger erfolgreich. Diese Rudolphs haben, falls die Nachprüfungen ergeben, daß sie tatsächlich erst Montag nacht von ihrer Urlaubsreise eintrafen, ein Alibi. – Allerdings wundere ich mich über den Geschmack der Dame Lindthaler! Aber die Liebe blüht ja bekanntlich, egal, wohin sie fällt; oh, Genosse, eh ichs vergeß: Fräulein Thalmer läßt grüßen, sie wird halb sieben Uhr am Theater sein!“ „Ihre Frau grüßt gleichfalls: In Pankow gibts Flöten.“ „Wieso gewundert?“ fragte die Genossin Zeisig dazwischen, „wieso haben Sie sich über den Geschmack der Lindthaler gewundert? Sieht Rudolph so verboten aus?“ „Genau ließ sich das nicht feststellen: völlig unrasiert; aber was schlimmer ist: die Zähne! Auch im fortgeschrittenen Alter kann man die in Ordnung halten, finde ich. Ein Bauch“, er tätschelte seinen Leib, „frißt sich an, wird einem angeärgert; aber Zahnstein ist entfernbar. – Also Flöten …“, erhob sich, walzte zu seinem Zimmer, „da muß ich gleich …“ Brandenburg folgte ihm auf den Fersen. „Genosse Hauptmann …“, nahm Haltung an, lief wieder zwei Schritte weiter, „Genosse Hauptmann, ich setze Sie davon in Kenntnis …“ „Ja, ja“, Werl verzog das Gesicht wie ein bedrängter 242
Missetäter, „entschuldigen Sie. Legen Sies nicht auf die Goldwaage.“ „Genosse Hauptmann, ich setze Sie davon in Kenntnis …“ „Herrgott, Sie sind doch nicht aus Marzipan! Da ist ja die Lyrikerin weniger empfindlich als Sie!“ „… daß wir das Tatwerkzeug unter der Matratze des Andreas Wendelin …“ Werl, offenen Mundes, auf die Armlehnen gestützt, ließ sich ganz langsam in seinen Sitz nieder, plumpste erst zuallerletzt. „Ist das dein Ernst?“ Hörte kurz zu, drückte dann die Wechselsprechanlage und gebot Frau Zeisig: „Alle Genossen zu mir!“ Nein, damit hätte er nicht gerechnet. Die Überraschung verursachte Gewissensbisse. Konnte er sich was vorwerfen? Es hatte keine Beweggründe für eine Zimmerdurchsuchung gegeben, die nicht gleiche Maßnahmen in der gesamten Wohnung der Wendelins, wie auch bei Kipfels, bei Hottenbach, bei der Gerhardi, bei Rudolphs rechtfertigen würden. Freilich, der junge Wendelin war das Alibi schuldig geblieben; da hätte man nachhaken müssen, sofort. Er hatte diesen Burschen viel zuwenig im Blickfeld behalten, die Prioritäten falsch gesetzt. Ich bin eben ein Mensch, kein Hellseher. Rückte das Telefon zurück, den Hydrotopf vor das Foto: die Frau, die erwachsene Tochter, die letzte Aufnahme mit seinem Sohn, schob ein paarmal die Akten hin und her, nein, er ist sich keiner Unterlassung bewußt. Das ist eben bei diesem Beruf so drin, da wird immer eine Menge Aufwand am falschen Ende betrieben und das Nötige verabsäumt. Wie man hinterher weiß, wenn man schlauer ist.
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25 Das war ein anderer Werl als vor drei Tagen; der ging anders ran als bei jener ersten, flüchtigen Befragung Andreas Wendelins. Ein Mörder ist ein Mörder, mit siebzehn Jahren wie mit siebzig; ihm ging es ausschließlich um die Wahrheit, die mußte ans Licht, gleichgültig ob ihr Anblick ihm persönlich so oder anders lieber wäre. Dieser Werl wurde von keinen Vater-Sohn-Komplexen mehr geplagt; die konnten wohl im Anfang seinen Spürsinn, seine Witterung einschläfern oder ablenken, jetzt, nach Vorlage massiver Beweise hatten sie kein Gewicht. Brandenburgs beziehungsweise Zürners Entdeckung hatte ihn einen Moment lang erwägen lassen, ob nicht doch einfach nur ein Unglücksfall vorläge, vielleicht fahrlässige Tötung, jedenfalls kein Mord. Er mußte diesen Gedanken gleich wieder verwerfen. Nicht nur kam das Verstecken des Rasierapparates einem Schuldbekenntnis gleich: es war auch unvorstellbar, Andreas Wendelin sei in Frau Lindthalers Badezimmer, während diese sich in der Wanne wusch, ohne Arg eingedrungen und habe das Gerät zufällig oder zu üblichem Zweck mitgeführt. Zunächst einmal, noch bevor der Delinquent eingeliefert wurde, hatte er sich mit Oberleutnant Wohlgetan kurzgeschlossen, die Akte über jene Kioskeinbrüche studiert. Kurioserweise war das, worauf man bei der Zimmerbesichtigung am ehesten spekuliert hatte, Diebesgut – so Wohlgetan – nicht gefunden worden. Ein Mordwerkzeug entschädigte für solchen Fehlschlag mehr als reichlich. Handelte sich also um einen Fall in Erkner, zwei Wochen später in Köpenick; beide Male hatten die Täter eine Scheibe eingedrückt, dann, recht wahllos, Zigaretten, Spirituosen, auch Konfekt, Kosmetika entwendet. Hinweise aus der Bevölkerung lenkten die Aufmerksamkeit auf eine Gruppe Jugendlicher, welche die Gaststätte „Müggel244
Klause“ zu ihrem Hauptquartier erkoren hatte. Den Vernehmungsprotokollen zufolge wurde Andreas Wendelin der Gruppe zugerechnet, ohne jedoch an den Delikten beteiligt gewesen zu sein. Es fanden sich Hinweise auf die bereits bekannte nächteweise Vermietung der Bodenkammer an Mitglieder der Clique, eventuell auch als Sühne dafür, an jenen „heißen Aktionen“ nicht mitgewirkt zu haben. Brandenburg befahl: „Stehn Sie mal auf!“ Nahm das Einweckglas aus dem Schrank, holte – mit Pinzette – das Staubtuch raus, breitete es über den Hocker, sagte: „So, nun können Sie sich wieder setzen.“ Es verunsicherte Andreas noch mehr. Sie hatten ihn aus dem Unterricht weggeholt; man rief ihn ins Direktorat und da nahmen ihn zwei in Empfang, Kriminalpolizei, wir benötigen eine Zeugenaussage, rein ins Auto und ab. Und er begriff nicht, weshalb er auf diesem Lappen sitzen sollte. Unheimlich. Man sah auch, er selbst bemerkte das, wie sich sein Herzschlag unter dem Hemd abzeichnete. Werl begann allgemein, erkundigte sich nach Freunden, dann nach speziellen Freunden, nach Freizeitbeschäftigungen, dann nach speziellen Freizeitbeschäftigungen, vom Strafgesetzbuch erfaßten. Andreas spielte den Ahnungslosen, nicht nur unbeteiligt, ihm war das alles ganz neu. Staunte. Wirklich, haben die ihm nie erzählt, daß sie so was machen. Dann leitete Werl zu einem anderen Komplex über: Wie ist das mit diesem Mansardenzimmer? Diesmal gab der junge Wendelin alles zu. – Und Ihre Eltern? Billigten die das? – Denen hatte ers nicht auf die Nase gebunden. – Konnten Sie denn Ihre Freunde unbemerkt ins Haus schleusen? – Ja, durch den Keller. – Und keiner merkte was? Auch nicht Frau Lindthaler …? – Doch, die kriegte es spitz. – Und was geschah da? – Na ja, sie drohte … – Womit? – Mit Anzeige und … und sie wollte es meinen Eltern stecken. – Tat sie das? – Ich hab mich mit ihr arrangiert, also … Sie war 245
nicht so bescheuert wie andere von der Generation … Ich meine in bezug auf … auf Sexuelles. – Das müssen Sie mal genauer erklären! – Na ja … – Na ja ist kein Satz! – Sie hatte doch selbst manchmal was. Zum Beispiel mit Rudolph. – Woher wissen Sie das? – Das wußte doch die halbe Straße. Da ich mein Zimmer oben hab, hörte ich auch mal, als er mit ihr im Bad war. – Was hörten Sie da? – Seine Stimme. Und wie er sich rasierte. – Wann war das? – Pff! Was weiß ich. Vor anderthalb Jahren. Oder vor einem. Dann kam auch diese alte Klunte, die Gerhardi, und die machten sich gegenseitig die Hölle heiß. – Weshalb? – Keine Ahnung. Entweder sie hielt ihr ne Sittenpredigt, oder sie war selbst scharf auf den. Vorige Woche war er, glaub ich, auch wieder da. – Wer? Rudolph? – Denk schon. Jedenfalls, als ich nachts das Fenster aufriegelte, schnarchte einer. Die hatte das nich an sich. Also muß es ja ein Kerl gewesen sein. Und ich hab ihr das auch auf den Kopf zugesagt: Wer im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen schmeißen! – Sie schlossen also eine Art Abkommen? Jeder schwieg über das, war er eventuell über den anderen in Erfahrung brachte; und Sie stellten Ihr Radio leiser. Stimmt das? – Ja. Könnte man so sagen. Werl faltete die Hände vor dem Gesicht, und Brandenburg meinte: „Das reicht jetzt. Stehn Sie auf! Hoch, los!“ Pinzette, zauberte den Lappen zurück ins Glas, Deckel drauf, blitzschnell und fest verschlossen. Kam auch diesen Augenblick einer im weißen Kittel rein, Tablett, Tupfer, Glasröhrchen, geben Sie mal Ihren Zeigefinger her. Nadelstich, hervorquellender Blutstropfen; das zur Gruppenbestimmung erforderliche Testserum wird, um Verwechslungen zu vermeiden, in verschiedenfarbigen Kapillarröhrchen geliefert. Andreas hielt mit der Linken den blessierten Finger, preßte ihn, fragte: „Und wozu ist das gut?“ Brandenburg: „Wir stellen fest, ob Sie an einem be246
stimmten Tag unter Alkohol standen …“ Werl schüttelte mißbilligend den Kopf, solche Fopperei kann man sich sparen. Aber er ist auf die Blutgruppe gespannt. Betroffenes Schweigen, dann: „Und warum mußte ich auf dem Tuch sitzen?“ „Na können Sie sich das nicht denken?“ rief der semmelblonde Senno ungehalten, bei so träger Phantasie versagen die bewährtesten Mittel. „Jeder Mensch hat einen besonderen Körpergeruch. Den er in jedem Raum hinterläßt, den er betritt!“ Der zu Vernehmende sperrte Mund und Augen auf, konnte sich mit all seinem chemischen, physikalischen und technischen Oberschulwissen keinen Vers darauf machen. Endloses, durchaus freundliches Vernehmungsgeplätscher. Später, unverhofft, holte Werl zum entscheidenden Schlag aus, zog eine Schachtel vor – den Inhalt hatte Zürner im gerichtsmedizinischen Institut, im kriminaltechnischen Labor und in der Daktyloskopie eingesammelt –, Werl warf den Deckel ab, stemmte sich hinter dem Tisch hoch, donnerte: „Kennst du diesen Apparat? Antworte!“ „Gib alles zu, das ist jetzt das beste“, assistierte der Unterleutnant. Die plötzliche Wende in den beiderseitigen Beziehungen brachte den bisher leidlich selbstsicher aufgetretenen Jeans-Träger aus der Fassung. „Ja …“, stieß er hervor, stotterte: „Nei… nein!“ „Ja – oder nein“, analysierte Brandenburg, „du kennst ihn, oder du kennst ihn nicht; beides zugleich kann nicht stimmen.“ Unbarmherzig: „Hier. Sieh ihn dir an! Sieh ihn dir genau an!“ Andreas wich vor dem Kästchen zurück, und der Weißkittel steckte Werl einen Zettel zu: Blutgruppe A. Über diesen miserablen Befund erbost, brüllte der Hauptmann: „Rede! Ist das dein Rasierapparat?“ 247
„Weiß ich nicht, ich weiß ja nich, woher …“ „Aus dem Versteck“, sagte Brandenburg rasch. „Wir haben heute früh dein Zimmer durchsucht.“ Blaß, und am obersten Hemdenknopf zerrend: „Dann ists nicht meiner …“ Dem war jetzt mulmig, ersichtlich zum Heulen. „Hab ich gefunden.“ „Hach!“ Werl ließ sich plumpsen, wiegte den Oberkörper gegen die Lehne zurück: „Gefunden! – Wo denn?“ „Im Pferdestall. Das is bei uns, das heißt bei unsren Nachbarn auf dem Grundstück, dieses Klinkerding.“ „Wo da?“ „Zwischen dem Holz. Da ist n Hohlraum zwischen den Holzstapeln.“ Werl: „Was suchten Sie dort?“ „Nichts … Nur mal so …“ Brandenburg: „Für wie dumm halten Sie uns?“ Werl: „Womit rasieren Sie sich? Wo ist Ihr Apparat!“ Er saß in einer Zwickmühle und kam nicht mehr raus. Wischte, ausweglosen Blicks, mit dem Ärmel übers Gesicht. Was hatte denn alles Leugnen noch für Sinn. Brandenburg: „Wir haben Ihre Fingerabdrücke sichergestellt. Hier, auf dem Gehäuse!“ Werl: „Und Gewebsspuren am Scherkopf! Die sind allerdings von Frau Lindthalers Kopfverletzung …!“ Brandenburg: „Ein volles Geständnis ist das einzige, was für Sie noch als Plus zu Buche schlagen kann …“ Er schrie gehetzt: „Ja! Ja doch!“ Zusammensinkend, leise: „Ich will ja alles sagen.“ Jetzt steht ihm schon nicht mehr das Wasser bis zum Hals: jetzt ersäuft er. Ein paar Tage haben ihn zerstört. Laß alle Hoffnung fahren. Wenn ich hier rauskomme, ist nichts mehr übrig von mir. Verpfuscht. Also, er hat von den Kioskeinbrüchen gewußt. Aber sich selbst rausgehalten, das war nicht einfach gewesen. Hatte Ausreden erfunden, um nicht mitmachen zu müssen. Zweimal war er durchgekommen, dann hatten sie 248
ihn vor die Wahl gestellt: Entweder er macht mit, oder die Clique stößt ihn aus. Werl: „Und da gaben Sie klein bei. Warum eigentlich? Ist Ihnen an diesen Kumpanen so viel gelegen?“ Wo soll er denn sonst hin? Zu Hause hat er doch niemanden. Und in der Schule ist sich jeder selbst der Nächste; alles Streber. Die meisten. Mit letzterer Behauptung erwirbt man sich jedenfalls nicht Brandenburgs Sympathie; der Unterleutnant rief fuchsig: „So, und beim dritten Mal ging es nun nicht mehr um Einbruch, sondern um Mord an Frau Lindthaler, wie?“ Nein, ganz anders. Diesmal hatten sie einen Bauwagen auf Reichsbahngelände im Visier. Man hoffte auf Kofferradio, Kassettenrekorder. Nachmittags hatten sie sich in der Müggel-Klause Mut angetrunken, dann marschierte man ab. Die Clique Richtung Bahnhof – er nach Hause. Das entsprach einem Plan, den er ihnen schmackhaft gemacht hatte, um wenigstens nur halb beteiligt zu sein. Schließlich brauchte man, wenn diese Beschaffungsaktionen in größerem Maßstab betrieben werden sollten, ein geeignetes Versteck für die Beute. Er hatte den ehemaligen Pferdestall neben seinem Haus vorgeschlagen und, daß er dort aufpassen würde, ob die Luft rein ist. „Das war Montag?“ versicherte sich Werl. „Ja.“ „Wann? Wieviel Uhr?“ Abends, gegen fünf; es war schon dunkel. Er habe dann gewartet, etwa eine dreiviertel Stunde lang, genau kann er das nicht sagen. Dann ist er weg. „Aber Sie werden doch zur Uhr gesehn haben, bevor Sie die Segel strichen“, beanstandete Brandenburg. Der Aufbruch kam überraschend. Schwierigkeiten habe es von Anfang an gegeben, da Kipfel, ihr Nachbar, ausgerechnet um die Zeit auf Pirsch im Gelände war. Da 249
hieß es stillhalten, auch um nicht als Taube verdächtig zu werden. Zuerst hatte er gehofft, Kipfel würde sich verziehen, später das Gegenteil: Kipfel möge bleiben und eine Einlagerung des Diebesguts unmöglich machen. Der letztere Wunsch erfüllte sich auf unübertreffliche Weise, indem eine weitere Person auftauchte. „Schildern Sie das mal ganz detailliert jetzt“, forderte Werl. „Ich hab ja nichts groß sehn können. Zuerst Schritte, ich dachte, da läuft jemand zum Haus, aber dann muß der sich irgendwo zwischen die Büsche verkrümelt haben: Es war plötzlich Ruhe; ne ziemliche Zeit lang.“ Die beiden Vernehmer machten recht ungläubige Gesichter, und Werl mutmaßte: „Jetzt tischen Sie uns das Märchen von dem geheimnisvollen Unbekannten auf, stimmts?“ Nein! Warum sollte er. Es ist ja nur der Anlaß, weshalb er sich vorzeitig davonmachte. „Könnte es nicht sein“, nahm Brandenburg die Behauptung auf, „diese Person ging doch ins Haus? Was waren es denn für Schritte? Von einem Mann? Von einer Frau?“ Wahrscheinlich männliche. Er ist ja nun kein Indianer, daß er das genau raushört – Stöckelabsätze warens jedenfalls nicht … „Rasche Schritte? Langsame Schritte?“ „Abwechselnd. Paar langsam, paar schnell, dann wieder zwei langsame, dann wieder zwei schnelle …“ Brandenburg empört: „Also der Mann tanzte auf dem Grundstück Tango; wolln Sie uns verklappsen?“ „Weiß ich nicht, was der machte, das ging alles holterdiepolter. Und ins Haus kann er unmöglich sein, er unterhielt sich doch später mit Kipfel.“ „Mit Kipfel? Im Garten?“ „Na ja, die haben sich getroffen und was beredet, und da war bei mir das Maß voll; ich machte, daß ich wegkam. 250
Über Kipfels Zaun: ausgerechnet den Moment blendeten vorn Autoscheinwerfer auf. Ich rannte nur noch, was ich konnte.“ „Was besprach Kipfel mit dem Tänzer?“ Das hatte Andreas nicht mitbekommen. Er hätte versucht, seinen Kumpels entgegenzugehen, habe die aber nicht getroffen. Am nächsten Morgen, weil man in den Stall zur Not auch ohne Schlüssel komme, habe er nachgesehn, ob die am Ende noch später was deponiert hatten. Da sei er dann auf den Rasierapparat gestoßen. „Zwischen dem geschichteten Holz?“ fragte Werl, der das ominöse Bauwerk am gleichen Tag, nur einige Stunden später, durchsucht hatte. „Ja. An der Stelle, die wir als Versteck vorbereitet hatten. Und zwar war er in ein Taschentuch gewickelt.“ „Wo haben Sie das?“ „Weggeschmissen. Bei uns ins Klo.“ „Weshalb?“ „Einfach so … Weil ich ihn für mich an Land ziehn wollte. Ich dachte, da die ihn geklaut haben, ist es nich schlimm, wenn er den Besitzer gleich nochmal wechselt. Ich hatte nämlich vorher den gleichen, gleiches Fabrikat, sieht praktisch genauso aus. Aber dann, nachmittags, erfuhr ich den ganzen Schlamassel, daß es mit dem Bauwagen nicht geklappt hatte, weil ein Eisenbahner dazukam, und daß sie gar nicht bei unserem Haus gewesen sind. Vorsichtshalber hab ich das Ding dann erst mal bei mir unterm Bett versteckt.“ „Sie wollten den Apparat an Stelle Ihres eigenen nehmen“, erinnerte Werl, „wo war denn der abgeblieben?“ „Verkauft. Manchmal braucht man doch Geld. Ich hab auch ne Freundin …“ „Wann verkauft, an wen?“ „Auch Montag. Als wir in der Müggel-Klause waren. Rudi, das is der Kellner, kauft manchmal son Zeug oder nimmt in Zahlung. Dann hat sich aber jemand anderes 251
dafür interessiert. Saßen zwei Männer am Nebentisch, Arbeitskollegen, und der eine bekam Wind und bot zwanzig Mark. Aber draußen, auf der Toilette, Zeugen gibts dafür nicht. Ich wollte dreißig. Er erhöhte dann auf zwanzig und zwei Schachteln Karo …“ „Aha!“ rief Brandenburg, „und die Karo rauchten Sie später im Garten und als Sie hinter dem Pferdestall vorsorglich Schmiere standen?“ „Nee, also danke, ich möcht ja noch paar Jahre leben. Die hab ich dem wieder zurückverkauft, als er keine mehr hatte. Und zwar die Schachtel zu fünf Mark; in der Kneipe am Büfett waren die aus, und so kam ich doch auf dreißig Emm.“ „Kennen Sie diesen Käufer? Verkehrt er dort öfter?“ „Bestimmt nich, der wollte zum S-Bahnhof, glaube nach Lichtenberg. Zuletzt war er anscheinend ziemlich blau. Wir sind dann gegangen …“ „Auf diesem Hocker“, sagte Werl, „haben vor Ihnen schon viele gesessen. Die heute noch sitzen. Manche hielten sich für sehr intelligent. Glaubten, sie hätten den perfekten Mord vollbracht und könnten uns mit abstrusen Geschichten die Taschen vollhauen. Eine so unglaubwürdige Story wie Ihre, mit lauter Unbekannten und alles ohne Zeugen, hat uns freilich noch niemand angeboten. Sie werden hoffentlich dankbar sein, wenn wir Ihnen Muße und eine gewisse Abgeschlossenheit verschaffen, das Phantasiegebäude auf Widersprüche und Ungereimtheiten abzuklopfen. Keine Panik: Zahnbürste und ein Stück Kernseife bekommen Sie gestellt, dito Bettwäsche …“ „Aber ich habe die Wahrheit gesagt! Die Wahrheit!“ „Das versichern hier alle. Die am meisten lügen, so lauthals wie Sie.“ Andreas war fassungslos, mit Schulverweis hatte er gerechnet, als Mitwisser und Helfer, aber nicht, daß sie ihn hierbehielten, und gar wegen Mordes. Das durften die 252
doch nicht! Seine Eltern, Elvira, die Klasse – ihm war, als zöge man ihm den Boden unter den Füßen weg. Die können ihn doch nicht grundlos eines solchen Verbrechens beschuldigen, mit dem er nichts zu tun hat, die können ihn doch nicht, bloß weil er für seine Unschuld keine Beweise hat … Die Genossin Zeisig meldete sich: der Vater wäre jetzt da. „Schicken Sie ihn rein“, entschied Werl. Max Wendelin, Ledermantel, ruhig, beeinträchtigter Fahrtauglichkeit, bedachte das Häufchen Unglück mit strafendverbittertem Blick, erklärte, noch bevor er saß: „Genossen, Ihr habt heute früh sein Zimmer durchsucht – ich billige diese Maßnahme. Hoffentlich wird ihm das eine Lehre sein, sich von weiterem Umgang mit jenem Personenkreis …“ „Herr Wendelin“, unterbrach Werl die Tiraden, „wir ermitteln gegen Ihren Sohn in der Mordangelegenheit Lindthaler.“ „Wieso denn das! Meine Frau … Meine Frau sagte mir, es ginge um Kioskeinbrüche …?“ „Ihr Sohn ist dringend verdächtig, am Montag dieser Woche die neunundsechzigjährige Rentnerin Meta Lindthaler vorsätzlich getötet zu haben.“ Wendelins Gesicht überlief eine Zuckung; unter dem Mantel zitterten seine Schultern. Brauchte einen Moment, um Haltung aufzubauen. Stieß hervor: „Ich versichere Ihnen, die Erziehung meines Sohnes stets als meine oberste gesellschaftliche Aufgabe betrachtet zu haben …“ Schüttelte sich, nein, nein, er kann es nicht glauben, das ist absurd: Sein Sohn ein Mörder, sein eigen Fleisch und Blut! „Ich wie meine Frau unternahmen alles in unseren Kräften Stehende, um ihn von negativen äußeren Einflüssen fernzuhalten und ihn zu einem … zu einem funktionierenden …“ „Kennen Sie diesen Apparat?“ „– Nein.“ 253
„Schaun Sie ihn sich genau an! – Besitzt nicht Ihr Sohn ein derartiges Gerät?“ „Das schon, aber … Woher soll ich wissen …“ Brandenburg sagte: „Vielleicht gab es irgendein besonderes Kennzeichen?“ „Bin ich überfragt.“ „Schade“, gab Werl es auf. „Aber wir sind diesmal auf Ihre Aussage nicht angewiesen. Mit diesem Rasierapparat wurde der Tod Frau Lindthalers verursacht. Da er im Wasser lag und anzunehmender Weise abgerieben wurde, sind nur wenige Fingerabdrücke zu identifizieren. Einige doch, und die sind sämtlich von Ihrem Sohn.“ Brandenburg fragte dazwischen: „Haben Sie schon mal einen Elektrorasierer repariert?“ Nein, hat Wendelin nicht, seiner war auch noch nie kaputt; er ist auch kein Elektromechaniker. Andreas, mit der gleichen Frage konfrontiert, verneinte ebenfalls. Max nickte traurig, der Vagabund machte zwar öfter was kaputt: auf die Idee einen Schaden zu beheben, würde der nie verfallen. Wie er es immer gesagt hatte, war es gekommen; Ilona hatte das nie wahrhaben wollen; wie oft hatte er es prophezeit: der Junge gerät auf die schiefe Bahn. Stellt Mädchen nach, treibt sich in zweifelhaften Kneipen rum, läßt sich mit der Gosse ein, spurt in der Schule nicht, kein Lerneifer, zu Hause phlegmatisch, wäscht keine Hände vor dem Essen – aber ein Mord … Nein! Sie müssen sich irren; er rief: „Das kann nur eine Verkettung unglücklicher Umstände sein, ich und meine Frau haben unser Leben lang nichts mit der Polizei zu tun gehabt!“ Schüttelte sich in Selbstmitleid. Wischte sich mit dem Taschentuch die Stirn. „Aber wenn es wahr ist“, sein Zeigefinger wedelte gegen Andreas, „wenn es wahr ist, Früchtchen, sage ich mich von dir los! Gerichtlich, notariell! Dann bist du nicht mehr mein Sohn. Nie gewesen. Zu meiner Familie gehört kein Verbrecher!“ 254
Andreas hatte seinen Vater während dieses Ausbruchs angestarrt wie hypnotisiert, atmete jetzt schwer, schluckte, faßte sich an den Hals, schrie: „Das ist er! Du, du bist der Mörder!“ Schluchzend, Arme vor dem Gesicht: „Das Taschentuch … Er hat zwei davon … das andere war um den Apparat gewickelt … es hatte paar kleine Löcher, Säurespritzer, vom Batterieladen …“ Werl und Brandenburg saßen wie vom Donner gerührt. Max Wendelin bewegte die Lippen; kam aber nichts raus.
26 Ein Spätnachmittag. In diesen achtziger Jahren. November. Harald Werl, Beate Werl; und sie hätte sich wärmer anziehn sollen; das unterläuft ihr häufig: die Temperaturen fallen von Tag zu Tag, sie ist nie vorbereitet. Er nahm ihr den Beutel ab, sie barg weißkalte Hände in den Manteltaschen. Busabgas fegte an der Straße, vor dem Imbißstand, Kehricht hoch. Rütteln an herabgelassenen Rolläden. Zerfaserndes, in den Schmutz getretenes Laub auf dem Parkweg. Wie rissiger Putz krustete graue Rinde um kahle einsame Stämme. Keine Sonne: nahe, lastende rasch ziehende Undurchsichtigkeit. Beate sagte: „Das sind aber viele Enten in diesem Jahr.“ Atemverschlagend viele: von überallher schienen sie den Park anzufliegen. Die Tiere spüren drohenden Winter. Nicht nur die Tauben in Wilhelmshagen – Kipfels Ohrenqual –, auch anderwärts sammeln sich Vögel. Schwäne, im Tiefflug, steuerndes Hirn auf schlankgestrecktem Hals, rauschende Körper, über Dächern dichtbesiedelter Wohnviertel, Oberleitung der Straßenbahn, 255
im Anflug über Rot-Kreuz-Baracke, Kurskorrektur, tief und plötzlich zwischen den Baumkronen. Am Teich, am Ufer füttern noch welche. Beate hatte auch Brot mit. Aber sie hätte sich wärmer anziehn sollen. Suchte im Beutel, hielt unversehens die Flöte in Händen. Hübsch sieht sie ja aus, schön gedrechseltes rotbraunes Holz. „Meinst du“, zweifelte sie, „er kann noch was damit anfangen?“ „Der Lütte? Na üben muß er.“ Die Tiere waren alles andere als scheu. Lärmten, flatterten gegen die Böschung. Kämpften auf dem Uferweg um die Brocken. Überfluteten den Rasen, stürzten sich auf Abfallbehälter – eine Frau rief ihr Kind zurück – drangen gegen die Bänke vor. Rückwärts, auf der strähnigen, verunrateten Wiese landeten neue Schwärme. Beate warf in das aufspritzende Geflatter, sie fröstelte. Verrammelte Liegestuhlausleihe. In einem Bretterverschlag vor Witterungseinflüssen geschütztes Standbild. Dahinter trieben Arbeiter ein Rohr in die Erde. Beate wies auf das Bohrgerät, rotierendes Gestänge: „Was machen die da eigentlich? Das geht doch schon seit Wochen –“ Er hatte da auch keine Ahnung. Sonst technisch versiert; aber auch ein Kriminalist muß nicht alles wissen. Aber alles herausfinden, sie ließ ihm keine Ruhe. Läuft er mal rüber, läuft er mal fragen. Sie wartete auf dem Weg, vor der freien, zugigen Fläche, und die Rentnerin, steifer, gichtiger Finger, warf Bröckchen aus der Perfoltüte. Naag, naag! Na kommt, naag, naag! Du hast schon, wirst du wohl! Paß auf! Jetzt sin erst die andren dran – weg, weg du! Trat näher, sagte: „Wenn Sies wissen wollen: Das is wegen Atomschlag. Daß sie Trinkwasser haben, falls welche übrigbleiben … Na kommt, kommt! Hier, vor dir liegts, naag, naag, na wirst du wohl!“ Er hatte Mühe, ihr nachzukommen. Sie lief immer einen halben Schritt vor ihm her, Pullover, Strickjacke, 256
Mantel, es reichte nicht. Vielleicht ist das auch Fieber, so kündigen sich bei ihr Infekte an. Erhaltung der Baumbestände, das Grundwasser sinkt jedes Jahr weiter ab, er legte es ihr auseinander, Wasserwirtschaft und Umweltschutz. Dann blieb sie stehn, dann sagte sies ihm. Unsinn, völlig ausgeschlossen, so was bezeichnet man als Scheißhausgerücht! Aber auch ein Kriminalist muß nicht alles wissen. Sie zog sich den Mantelkragen eng an den Hals. Bemüht, an ihrer Seite zu bleiben, argumentierte er: „Und wenns so wäre … Was solln wir denn machen? Abwarten, tatenlos bleiben, uns ausliefern? Dann hätten wirs bald soweit!“ Sie liefen schweigend, ihm fiel nichts ein, sie zu überzeugen oder davon abzubringen; ihr fiel auch nichts mehr ein. Sie hätte sich wärmer anziehen sollen, und das ist vielleicht doch ein Infekt. Zu Hause kramte Harald Werl nach Thermometer, Fibrex, Bromhexin; sie legte sich aufs Bett, deck mich zu, deck alles über mich, deck mich weg. Heimkehr der Männer nach zehn Jahren Krieg, die sind nicht mehr dieselben. Denen steht das Grauen, die Schuld im Gesicht. Da war kein Gesang, stumm harrten die Kreterinnen. Wer ist getötet worden, wer lebt, woran erkenn ich dich wieder. Da faßten sich zwei, aber das ist wohl ein Irrtum. Die, die hat ihn erkannt der ists, sie ists, er sinkt stumm in die Knie, legt den Kopf, Mörderkopf in ihren Schoß. Machte gar nichts aus, daß alles italienisch war, man begriff es ohne Worte, man hätte es wohl gar ohne Musik begriffen. Sie hatten jedenfalls Gesprächsstoff bis Schönhauser Allee, bis zu ihrer Haustür. Dabei hatte sie ihn davon abhalten wollen, es war doch, genaugenommen, eine Kollektivveranstaltung, Kollektivabend, wenn auch 257
nur zu zweit, da ist es nicht üblich, daß man sich bringt. Sozialistisch arbeiten ja, lernen ja, leben ja; aber doch nicht beischlafen. Er scharwenzelte auch wieder zuviel, obgleich er manches Kluge sagte. Manchmal fand sie ihn sympathisch, und manchmal stieß er sie ab. Als sie in die Beeskower einbogen, war sie sich noch immer im unklaren, ob sie ihn nun mit hoch nähme oder nicht; daß er darauf drängen würde, stand außer Frage. Er versuchte auch mal den Arm um sie zu legen, was aber beim Laufen hinderlich war, sah das auch ein. Vor der Tür schaute er sie fragend, versteckt begehrlich an, die oberen Zahnkanten schimmerten im Ampellicht. Unbeholfen, nichts mehr von seiner gelegentlichen Großspurigkeit, der ist möglicherweise – sicher war sie sich nicht – verklemmt bis über die Ohren. Vielleicht gehörten die versonnen schmachtenden Blicke auch nur zum Programm; einmal auf ihrem Zimmer würde er rasch auftaun, stürmisch, wäre nicht wiederzuerkennen. „Tja, Fräulein Thalmer, da wären wir …“ Er mußte sich räuspern, plötzlich so belegte Stimme. „Soll ich nun gehn, oder … oder unterhalten wir uns oben noch ein bißchen weiter?“ „Der erste Gedanke ist immer der beste.“ Das wollte sie durchaus nicht als endgültigen Bescheid verstanden wissen, rutschte ihr nur so raus; auch ein wenig kokett, es hätte ihn zu weiterem Überreden ermutigen sollen. Statt dessen reagierte er wie ein begossener Pudel. Zog hastig die Hand zurück, linkischer Diener: „Also dann … Bis morgen. Es war jedenfalls sehr angenehm. Mit Ihnen.“ Hauchte: „Gute Nacht.“ Kehrt und weg war er. Für einen Moment, am liebsten hätte sie ihn zurückgerufen. Das ist auch einer von den Überstolzen. Die keine Körbe vertragen, lieber schon vorher aufgeben. In der Küche, während sie sich Schmalzstullen schmierte, überlegte sie, daß es in ihrem Krimi anders ablaufen müsse. Lucinde Gerhardis Erinnerungen wollte sie auch 258
frisieren, plante, zu Meta Lindthalers Geburtstagsfeier das Fleischerehepaar Rachfahl auftreten zu lassen. Und was den heutigen Abend betrifft: Ein bißchen Sex gehört zum Buch wie das Salz zur Suppe. Ist auch verlagsseitig erlaubt, nur anständig muß es bleiben. Sie würde dann wohl doch den jungen Autor im Manuskript durch eine sinnenfreudigere Autorin ersetzen, mit der ihr Unterleutnant Magdeburg was Entsprechendes anfangen könnte. Denn homosexuelle Beziehungen würde Frau Ändering nie zulassen. Auch Herr Streicher nicht. Das heißt zwar in alten Schreibrezepten, im Kriminalroman habe die Liebe nichts verloren; aber im Leben vieler Leute kommt ja nicht nur das Aufregend-Abenteuerliche zu kurz. Wenigstens ein bißchen Sex muß zwischen den Ermittlungen Raum finden, und so gesehen war Sennos Kneifen ernstlich zu bedauern. Unmittelbares Erleben hilft der Phantasie immer am ehesten auf die Beine; wenigstens eine Tasse Kaffee hätte er mit trinken können, und dann … Nein, sie kann sichs beim besten Willen nicht vorstelln, wie der sich verhalten würde … Aber ganz leise, sagt sie vor der Korridortür, Zeigefinger an den Lippen, am besten, Sie ziehn die Schuhe aus: Mein Verlobter hat einen so leichten Schlaf. – Ihr Verlobter? Ich wußte gar nicht … – Ist auch unwichtig, wir sind völlig auseinander; nahezu. Er ist beim Film, aber immer nur kleine Rollen: Boxer, Artisten, Muskelmänner. Ihre Finger zittern ja: Bekommen Sie die Schnürsenkel nicht auf? Dann, im Korridor: Pst! Ihre Socken kleben. Doch, ein klein wenig, ich höre das. Freddy ist immer so schnell wach. Sie kramt im Regal nach Hauslatschen des verstorbenen Plaschke. Flüstert: Schlüpfen Sie rein. Senno, gebleckter Frontzähne, weist in Richtung der respektablen Plaschkeschen Schnarchgeräusche: Ist er das? – Ja. Schnarchen Sie auch, Brandenburg? – Nein, Stefanie …! 259
Sie drückt verstohlen seine Hand: Hin und wieder entdecke ich an Ihnen anziehende Seiten. Senno taut trotzdem nicht auf, dieses Weib geht ihm über die Hutschnur. Was ist bei der Spaß, was Ernst? Nimmt auf dem zugewiesenen Sofa Platz, bißchen steif, Hände auf den Bügelfalten, sieht sich um, das haben Kriminalisten so an sich; vielleicht sollte er zunächst über Lyrik sprechen, kann aber keine Bücherschränke entdecken. Ist das alles? Ich meine, ist das Ihre ganze Bibliothek? Mehr brächte ich gar nicht unter; wozu auch? Kein Bäcker stapelt die Wohnung voller Brote. Was ich brauche, leih ich aus. Sie dachten natürlich, Lyrikerinnen klebten unentwegt zwischen zwei Buchdeckeln – nein Brandenburg, die treiben manchmal etwas ganz anderes … Sie nähert sich, löst die Ohrclips, legt ihm die Hand auf den Ärmel: Ziehn Sie doch wenigstens den Mantel aus, es ist geheizt, und Sie werden ja den Kaffee nicht im Stehen trinken … Ihre Stimme, brüchig, bleibt weg. Nun sitzt er schon freier; aber immer noch: Hemd, Weste, Binder, Theateranzug. Versteht auch nicht diese merkwürdige Sinneswandlung, bisher schien ihm das Fräulein Dichter eher abweisend, fast unerreichbar; unmöglich ist er schon am Ziel inbrünstiger Wünsche: er interpretiert hier was falsch, oder sie hält ihn zum Narren. Hatte ich Ihnen eigentlich geschildert, wie der dicke Werl reagierte, als sich Wendelin senior und Wendelin junior wechselseitig des Mordes beschuldigten? Er traf eine Entscheidung, die mir nach wie vor schleierhaft ist … Ich weiß; Sie erwähnten es während der Ouvertüre. Ach ja. Dreht an seinem Herrenring. Nagt auf der Unterlippe, fragt: Haben Sie eigentlich oft Besuch … Ich meine … Doch, bei uns treiben sich immer eine Menge Leute rum. Manche besitzen, glaub ich, keine eigene Bleibe, jedenfalls gewinnt man den Eindruck. Freddy bringt viele 260
vom Film mit. Die sind n eignes Völkchen. Dann natürlich Schriftsteller, Journalisten … Sie sagt, da er immer kleiner wird, immer hoffnungsloser: Aber im Grund ist es fad … Ein Kriminalist war noch nie da … Sie sitzt schräg vom Tisch, fast vor ihm; die Hände, seine und ihre, liegen wieder so dicht beieinander wie kürzlich im Wiener Café, und sie sagt: Da red ich und rede und laß Sie verdursten; aber sie müßten mich dann eine Viertelstunde entschuldigen, die elektrische Kaffeemühle ist futsch, ich müßte das manuell … Dieser Trottel, er kommt nicht auf die Idee, daß ihnen beiden das Gesöff gestohlen bleiben könnte. Im Begriff aufzuspringen: Ich mach das, lassen Sie mich das … Sie bleibt aber sitzen, und heute ist sie es, die die Finger näher schiebt. Wissen Sie, Senno, was mir an Ihnen gefällt? Muß er doch merken, daß sie ihn mit Vornamen genannt hat. Ihre Hände. Sie haben ausdrucksvolle, starke Hände; männliche Hände. Die zufassen können … Sie schiebt, gesenkter Lider, den Kopf, die Lippen klein wenig vor. Ja, beharrt er auf seinem Angebot, und deshalb dauerts bei mir auch keine fünfzehn Minuten, ich mahle Ihnen das ruck, zuck, gleich für die halbe Woche, wenns sein muß! Quatsch – sie warf das Schmalzmesser in den Abwasch, stellte den Schmalztopf zurück –, so blöd könnte der nicht sein! Biß in die Stulle, kippte Schluck kalten Muckefuck nach – der ist nicht so blöd; wäre sie eben vor der Haustür ein bißchen entgegenkommender gewesen, könnte sies jetzt ausprobieren. Beinebaumelnd auf dem Küchentisch, Fett vom Mund wischend, dachte sie, daß er auf die Annäherung anders reagieren würde. Zuerst bleibt dem die Spucke weg, völlig perplex, dann greift er diese fürwitzigen Finger, zieht sie an sein Revers: Stefanie, ich … ich muß Ihnen etwas gestehen, ich wollte es bereits neulich im Café … – Jetzt sind ihre Lippen an 261
seinem Hals, Kinn, sie sagt: Erzähl ruhig weiter; zieht diesen dämlichen Binder auf, fährt ihm unters Hemd, na endlich preßt er sie in die Arme. – Und wenn dein Verlobter reinkommt? – Das macht der nicht, der ist gut erzogen. Sie spülte das Schmalzmesser ab, Tasse, Frau Plaschkes stehengelassenen Abendbrotteller; und Senno hilft ihr schon aus sämtlicher Wäsche, zerrt sie auf den Teppich, beißt sie in die Hüfte, ein Verrückter ist das. Aber einer von den Zärtlichen, die nicht gleich draufspringen, wer hätte das erwartet. Zähneputzen, Waschen – der wäre liebend gern mit ihr ins Bett gegangen, kein Zweifel. Sie hat eine blendende Figur, der Spiegel lügt nicht; bürstete sich die Haare, ein bißchen war sie in sich verliebt. Es wäre auch von Anfang an ganz anders gelaufen, der ist ja kein Dämlack, eher ein wenig großspurig, gönnerhaft, der ließe von Anfang an keinen Moment locker. Aber wirklich nur zu einem Glas Tee, vermahnt sie ihn auf der Treppe; vor der Wohnungstür: Sie werden ganz artig sein, versprechen Sie das? – Ein Kriminalist, ein Wort, schwört er, bückt sich, nestelt an den Senkeln. – Brandenburg, lassen Sie an, ich bitte Sie, was soll ich denn denken! Laut: Wir haben nichts Unrechtes im Sinn … Sie rumort mit dem Schlüssel, fordert: Treten Sie fest auf, meine Wirtin hat einen schweren Schlaf, aber sie soll uns hören: Wir haben nichts zu verbergen! Ignoriert das, schleicht, wispert, hängt – ohne aufgefordert zu sein – Mantel, Jacke an den Haken, löst den Schlips, rückt an der Maßhose: Ist das Zentralheizungswohnung? Nein, ruft sie, aber die Öfen ziehn schlecht; ihr ist kühl trotz Mantel, Fischblut. Sie rückt ihren Stuhl möglichst weit weg von seinem Sofaplatz, fast in die Mitte des Zimmers: der soll zappeln. 262
Sieht sich, als wäre sie bei sich selbst zu Besuch, in der Räumlichkeit um; die Graphiken bieten sich an, ihre Applikationen, geeigneter scheinen die Bücher, sie sagt hastig: Das verwundert Sie, nicht wahr, Sie haben sicher mehr erwartet; aber es sind fast alles Lyrikbändchen, Hölderlin, Rilke … vielleicht möchten Sie einiges besehn; also Rilke ist für mich eine Offenbarung! Ob sie am Ende gar nicht auf Männer fliegt? Gibt ja diese zickig-intellektuellen Elfchen, garantiert geschlechtslos – sie macht im allgemeinen einen ganz normalen Eindruck. Er kann doch nicht jegliche Wirkung auf sie verfehlen; salopp, Hände in den Hosentaschen, steht vor ihr: Und was schreibt der für Gedichte? Er taxiert sie, über Liebe auch? Ich … Ich koch Ihnen jetzt den Tee; das wird sonst auch zu spät für Sie … Nein, keinen Tee, überhaupt nichts, aber sie soll wenigstens den Mantel ablegen, oder ob ihr so kalt ist, ob er sie wärmen soll? Also ohne Mantel und ohne Tee, und sie besieht ihre Nägel, will wissen: Begleiten Sie eigentlich oft Frauen aufs Zimmer? Die Frage, in Anbetracht der Situation, gibt nachgerade zu Hoffnungen Anlaß; er renommiert: Kriminalisten sind gefragt. Es existieren etliche Damen, die auf meine Besuche erpicht wären. Leichtlebige Beinahe-Gestrauchelte, die sind n eigenes Völkchen. Dann natürlich unsere weiblichen weißen Mäuschen, Diskobienen, Jung-Geschiedene … Eine Lyrikerin, und eine mit Ihrer Figur, Stefanie, war noch nie darunter … Bitte, das will sie überhört haben, mit der Figur, nein, lassen Sie mich aus dem Spiel, entweder Sie sind brav, oder … Die Hände, seine und ihre, liegen wieder so dicht beieinander wie kürzlich im Wiener Café, und wie damals ist er es, der die Finger näher schiebt. Sagt: Wissen Sie, 263
Stefanie, was mir noch an Ihnen gefällt? Muß sie doch merken, daß er sie ständig mit Vornamen nennt. Ihre Hände. Sie haben schöne, feingliedrige Hände; weibliche Hände. Die Wonnen, Genüsse spenden können, hab ich recht? Ja, und deshalb wollte ich Ihnen ja auch den Tee mit Honig bereiten! Dieses Glanzlicht würde sie sich verkneifen, zu grotesk, hätte längst die Initiative ergriffen, längst die blasiertanhimmelnde Oberlippe geschädigt; der wüßte nicht, ob er träumt oder wacht. – Und wenn jetzt deine Wirtin reinkommt? – Die Plaschke? Das macht die nicht, die ist gut erzogen. So hat er sich das Fräulein Dichter nicht vorgestellt: die pellt ihn aus sämtlicher Wäsche, schmeichelt ihn auf das Sofa, beißt ihn in die Hüfte, eine Verrückte ist das. Eine von den Unverkorksten, die ihr Teil fordern; stammelt: „Aber Senno! Du bist ja am ganzen Körper semmelblond …“ Vorsichtshalber stellte sie den Wecker. Knipste das Lieht aus. Schauderte im ersten Moment vor dem kalten Bettzeug. Starrte in die Schwärze, Rollte sich zusammen, ließ das Schamhaar durch die Finger streichen. Diese idiotischen Redensarten: Der erste Gedanke ist durchaus nicht immer der beste.
27 Zweimal in der Woche, sonnabends und sonntags kann der Mensch in Ruhe frühstücken, in aller Gemütsruhe, in schlemmerhafter Faulheit, Frau Plaschke genoß es ausgiebig. Ei, Knäcke, Butter, Kalbsleberwurst, Mortadella, ein Restchen Camembert, Honig, Pflaumenkonfitüre, sie nahm nicht von jedem was, aber alles mußte auf den 264
Tisch, dazu Kaffee, die Morgenzeitung; im Fernsehen war noch Testbild, aber mit Musik. „Morjen! Komm Sie rein, Fräulein, ich hab für Sie n Ei mitgelegt; löffeln können Sies nich, dafür schneiden. Also ziern Se sich nicht: weg musses, un ich vertrag keine harten. Und warum vergeß ich jedesmal auf die Sanduhr zu gucken? Weil mir immer was im Kopp rumgeht, immer funkt was in dem Kasten und is nich totzukriegen.“ „Was drücken Sie denn für Sorgen, Frau Plaschke?“ „Ihre, Fräulein! Eigentlich sollten das Ihre sein! Aber Sie ziehts wohl heute nich mal mehr aufs Präsidium? Ihnen is das wohl schnuppe, wie lange sich son Mörder noch unter der anständigen Menschheit bewegt – nee, ich versteh euch nich! Fünf Tage schon, und nich mal ne heiße Spur …“ „Ich kann Sie da beruhigen“, Stefanie klopfte das Ei gegen die Tischkante, hob Schale ab: angelaufen, das hatte seine zwanzig Minuten gekocht. „Das Tatwerkzeug ist gefunden. Leider war ich nicht selbst dabei; mein Unterleutnant hat mich im Theater instruiert.“ An einem kalten Kotelettknochen knuppernd, Rest einer verflossenen Mittagsmahlzeit, von Zeit zu Zeit die Finger leckend, verfolgte Gisela Plaschke dankbar interessiert den neuesten Lagebericht. Ließ den Knochen zwischen Daumen und Zeigefinger pendeln, sagte: „So, un das kapiert ihr nich, warum er die Wendelins hat laufenlassen?“ „Wahrscheinlich wegen dieses Anrufs von Doktor Lüdhannes. Aber einige Bartstoppeln im Scherkopf, die nicht von Andreas Wendelin stammen, sind kein Unschuldsbeweis. Werl kann eben selten über seinen Schatten springen.“ „Euer Werl is n Genie, Fräulein; der weiß, was er tut! Der Mann geht rational vor …“ Sie schielte über den Tisch, griff die Käseglocke. „Wäre Andreas der Mörder, würde er seinen Ernährer nich verdächtigen, sondern 265
zusehn, daß der ihn entlastet. Un umgekehrt. So wie die aneinandergeraten sin, wie zwei Hähne, kommt keiner von beiden in Frage.“ Sachlich: „Er stinkt, aber schmeckt gut.“ „Das behauptet sich leicht“ – also einen Schluck Kaffee brauche sie nun auch, dieses kloßige Dotter verkleistert einem die Gurgel –, „wer wars dann?“ „Mich müssen Se nich fragen, ich bin nur ne einfache Frau.“ Lächelte wie eine, die es besser weiß, stibitzte ganz nebenher ein Gewürzgürkchen (die machen nicht dick!): „Ich bin kein Profi, wie eure Spezialisten; mich führt son Mordmensch monatelang am Gesichtserker rum.“ Ihr Blick freundete sich mit der Kalbsleberwurst an. „Mir is nur klar, daß es von der bisherigen Truppe keiner war. Und daß es doch von denen einer war.“ „Nun erklären Sie das mal einem komplizierten Fräulein wie mir. Ich versteh nämlich kein Wort.“ „Was gibts da zu verstehn“, meinte Frau Plaschke leichthin, ihre Augen streichelten den Mortadellazipfel, indes sie noch den letzten Käsehappen verdrückte, tupfte sich Krümel aus dem Mundwinkel, „einer is nich der, als der er sich ausgibt.“ „Aha …! Das ist natürlich die Lösung. Da werd ich mal gleich alles stehn und liegenlassen und ans Telefon eilen. Wenn Sie erlauben … Diese Erleuchtung darf man der MUK nicht vorenthalten!“ „Hören Se, Fräuleinchen, ich möchte, daß wir den Fall lösen, wir beide; da braucht sich kein Werl nich mit reinzuhängen. Aber wie ich Sie da sitzen seh, un mit Ihrem affigen Getue, finden Se meine Vermutung höchstens amüsant; och gut. Ich hab Ihnen schon mal gesagt: Sie müssen mit mir kein Team bilden.“ „Vorausgesetzt, Sie führen die Ermittlungen innerhalb dieser vier Wände, Frau Plaschke, bin ich zu einer gewissen Kooperation bereit.“ „Ne, is erledigt. Der Docht is abgebrannt. War auch 266
nur ne fixe Idee. Von wegen der Heiligen Familie. – Mein erster Mann, wissen Se, der an kein Fleisch ranging, war katholisch. Also zur Beichte isser nie, dabei wäre das bei dem ne Momentaufnahme gewesen, leider – bei meinem zweiten n abendfüllender Spielfilm! –; aber bei mir in der Küche, überm Tisch mußte n Bild hängen: Heilige Familie. Un immer wenn mir einer was in der Richtung erzählt, seh ichs vor mir: Vater, Mutter, Kind.“ Betont beiläufig und die Wurstpelle fixierend: „Als Sie neulich davon sprachen, hab ichs auch gesehn …“ „Wovon, sprach ich?“ „Moritz, der Lindthalersohn sagte: Erika, Sie gehörn hier zur Familie; soll heißen, die Erika Lehnert un die Lindthaler wären wie zwei Schwestern un die eine is Martha, jedenfalls kam dann was aus der Bibel oder das wars schon, fest steht: Hottenbach lachte sich scheckig – wie Se das erwähnten, Fräulein, sah ichs plötzlich vor mir: Vater, Mutter und Sohn … Aber nu Schwamm drüber! –“ „Sie erwägen doch nicht etwa, Hottenbach wäre Frau Lindthalers verschollener …“ „Stille jetzt! Keen Wort mehr. Punkt un Schluß.“ Das kam sehr energisch, fast böse; die kulinarischen Tischaufbauten besänftigten aber sofort. Der herzhaftere Teil der Mahlzeit war beendet, und Frau Plaschke wandte sich den süßen Beigaben zu; wie Schmetterlinge sandte sie Äuglein zur Dreifruchtmarmelade, umtaumelten die Pflaumenkonfitüre, den Honig, flatternde Liebeserklärungen. Ja, was nehm ich denn nun? Die Konfitüre. Im Glas nach Fruchtteilen, Schalen stochernd, ergänzte sie: „Dann hätte se den ja auch nich aufs Standesamt lotsen könn, wie die Kipfel bei ihr locker gemacht hat, wenn se schon mit ihm verheiratet is. Zweimal Ringwechsel ohne Scheidung dazwischen is Bigamie, auch wenn immer wieder dasselbe Gespann anrückt.“ Stefanie, lächelnd, wiegte den Kopf, das drückte weder 267
Zustimmung noch Ablehnung aus, und Frau Plaschke schickte noch nach: „Außerdem, wenns so wäre, hätten ihn die Kipfels erkannt.“ „Dies nun eben nicht: Kipfels wurden erst in den sechziger Jahren in Wilhelmshagen ansässig …“ „Dann die Rudolphs.“ „Aber Frau Plaschke! Rudolphs wurden doch nach Kriegsende in die Villa eingewiesen, die haben diesen Ehemann nie im Leben …“ „Sin genug Leute in der Nachbarschaft.“ Auch hier hatte die Vermieterin, wie sich Stefanie zugeben mußte, unrecht. Bei den Ermittlungen war aufgefallen, daß in der gesamten Kastanienallee niemand den Antiquitätensammler Hottenbach kannte; offenbar hatte dieser seine Besuche in der Villa immer per PKW und wohl zumeist in den späten Abendstunden getätigt. „Erlauben Sie, Frau Plaschke, Hottenbach ist sechsundfünfzig. Dreizehn Jahre jünger als die Ermordete. Er kann, rein vom Alter her, unmöglich der Vater Moritz Lindthalers sein. Ganz abgesehen davon, daß sich beide auch vom Typ her wenig ähneln: Moritz, relativ groß, erscheint auf seinem Foto jünger, als er ist; Herr Hottenbach hat nicht mal Durchschnittsgröße, wirkt vorgealtert …“ „Vorgealtert – das ham Sie gut ausgedrückt.“ Die Plaschke beschleckte den Marmeladenlöffel, anerkennend-verschmitzt: „Damit liegen Se goldrichtig. Das Alter stimmt, das Aussehn is falsch. Wie denn och sonst? Vorgealtert … Sonst hieß es womöglich: gut gehalten?“ „Es ist absurd, was Sie mir hier schmackhaft machen wollen: Herr Hottenbach wurde zweimal vernommen. Wir haben dabei ein klares Bild gewonnen, zwar nicht fleckenrein, jedoch …“ „Apropos Bild; damit Se nun beruhigt sin, Fräulein, und nich denken, die Plaschke will Ihnen hier n Kind in ’n Bauch reden: Mein längst beerdigter Einfall is schon 268
deshalb ne Totgeburt, weil ihr natürlich die Bilder besichtigt habt, die von Lindthaler senior, un das könnte nie Hottenbach als Jungmann sein.“ Sie kaute desinteressiert. Stefanie vermochte wiederum nicht ja noch nein zu sagen; zwar hatten sich Familienalben angefunden, aber die beinhalteten sämtlich nur Metas frühe Kindheit und Jugend – von ihrem späteren Ehemann fand sich in der Wohnung merkwürdigerweise kein einziges Foto. Gestern hatte Gisela Plaschke die Kondensmilch gekauft, just aufgemacht, und nun, schwapp in den Kaffee, schüttete die sich. Wie Suppe mit Einlage, Fettaugen obenauf, zu ärgerlich. „Kippen Sie das doch weg!“ Stefanie konnte gar nicht hinsehn. „Wenn Sie nicht schwarz trinken wollen: Ich hab noch einfache Milch im Kühlschrank.“ Schönen Dank auch, aber geaast wird nich. So weit kommts noch, Bohnenkaffee ins Klo gießen! Nee, das kann ihr keiner nachsagen, daß sie schon je im Leben was hätte umkommen lassen; bißchen mehr Zucker als sonst, Augen zu und dann trinkt sich das weg. Muß man nich so penibel sein. Ja, die Jugend von heute, auch die studierte, kann noch manches lernen. „Im übrigen, Fräulein, um die Schose zu Ende zu bringen: Wäre Hottenbach nich Hottenbach, sondern … na Sie wissen schon: der hätte sich eher die Zunge abgebissen, als seiner Angetrauten auf die Nase zu binden, daß er ’n Flittchen aushält. Un die Lindthaler hätts nich ihrer Hausmamsell und aller Welt in die Ohren gesungen; wahrscheinlicher dem geilen Bock die Bratpfanne aufprobiert. Was bei meinem Zweiten, Gott hab ihn selig, ab drittem Ehejahr zu Haarausfall führte.“ Stefanie – sie hatte sich aus Frau Plaschkes Einlegeglas bedient – ließ das Gürkchen wieder fallen; da vergeht einem ja der Appetit! Aber den Acker hatte bei ihr Frau Ändering bestellt; sie spürte direkt Brechreiz: der 269
bloße Gedanke, der Fall könnte sich zu solchen Dimensionen weiten, verursachte Übelkeit. Sie kannte diese SS-Typen glücklicherweise nur aus Dokumentarfilmen, die bezogen ihre Pensionen für gewöhnlich in anderen Gefilden. „Stimmt doch alles.“ Die Plaschke stopfte Apfelviertel in den Mund. Schön mürbe. „Das Dämchen wohnt doch bei ihm. Sie ham se doch gesehn. Oder?“ Eben nicht; Hottenbach hatte so eigenartig reagiert, jetzt, unter diesem Aspekt, war ihr plötzlich klar, daß der im ersten Moment nicht gewußt hatte, wovon sie reden; war dann um so schneller mit der Bestätigung gewesen: das läge aber zurück und sei längst passe. Sie rief sich seine Worte in Erinnerung, seine Reaktionen, es gelang nur halb und halb, sie brachte alles durcheinander. Das ging ihr wie ein Mühlrad im Kopf. Versuchte sich den kleinen windigen Geschäftemacher in der schwarzen Uniform vorzustellen, mit Karabiner, irgendwelche Lager umkreisend, Gefangenenkolonnen; ihr war regelrecht schwindlig. Und dann der rettende Einfall: „Nein Frau Plaschke, es kann gar nicht sein! Es kann nicht sein, denn …“ „Weil sie ständig keifte, er habe sie übervorteilt?“ fuhr die Plaschke dazwischen, stieß das Obstmesser in die halbierte Frucht. „Alles Ablenkung! Warum verkaufte se denn immer wieder, mal hätte doch der Groschen klimpern müssen? Weils gar kein Verkauf war, weils in der Sippe blieb, weil …“ „Es kann gar nicht sein, Frau Plaschke, denn …“ „… denn wenn Herr Hottenbach kam, gings immer um finanzielle Dinge? Wo ham Se die Weisheit her? Von der treuen Seele, die immer rausgeschickt wurde, weils sich um Geschäftliches drehte? Daß ich nich lache! Weils um Schäferstündchen ging, deshalb setzten sie die Lehnert an die Luft, weil das alte Fell och mal juckt!“ „Es kann gar nicht sein, denn Herr Hottenbach hat 270
nicht die Größe. Die nahmen bei der SS nur ab bestimmter Größe! Das weiß ich nun zufällig aus der Schule!“ „Wieviel Zentimeter fehln ihm denn?“ rief die Plaschke kiebig. „Ich will Ihnen was sagen: Zuletzt, fünf Minuten vor Teppichbeißen, nahmen die jeden! – Meine Güte, seid ihr einfältig; merkt ihr nich, daß alles Gesülze, was die Lindthaler in Umlauf brachte, nur der Umwelt die Augen verkleistern soll, damit kein Verdacht aufkommt? Stille, jetzt rede ich!“ Sie sandte einen bedauernden Abschiedsblick über Käseglocke, Wurstteller, Honigglas, beim besten Willen, sie bekäme sowieso nichts mehr rein. „Mädelchen, jetzt ergreif ich hiers Zepter; keine Widerrede! Noch is der Fuchs im Bau, nun wird nich mehr gefackelt. Du fährst zur Lehnert, sofort! Moment, Erklärung kommt. Hast doch erzählt, wie der die Lindthaler ganz im Anfang n Glanzfoto von ihrem kassierten Prachtstück zeigte, vielleicht kann se sich erinnern … Ist ewig her, klar, aber vielleicht war ihr damals was aufgefalln, ne Ähnlichkeit … Versucht werden musses! Ich bleib hier als Reserve. Nimm Kleingeld mit, daß du anrufen kannst!“ „Und das Motiv, Frau Plaschke, warum wurde Frau Lindthaler ermordet!“ „Hinterher; den Kopp zerbrechen wir uns später; erst muß das Scheusal auf Nummer Sicher.“ Sie warf sich wirklich in den Mantel. Aber nicht wegen Gisela Plaschkes Spekulationen. Nicht aus blindem Aktionismus: Sie kam von dem Bild nicht los; woher kennt sie das? Kino? Aus einem Buch? Wer umkreist da im Dunklen, Karabiner, ein Lager? Woran erinnert sie das? An wen erinnert sie das?
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28 Nur ganz beiläufig, aus mehr pflichtgemäßem Interesse heraus, hatte Werl sich nach dem Theaterabend erkundigt; Brandenburgs gereizte Reaktion schrieb er dem sich abzeichnenden Finale der Mordsache Lindthaler zu. Das Tatwerkzeug, entscheidendes Indiz, lag vor, und für gewöhnlich entwickelte sein Mitarbeiter in dieser letzten Phase einer Aufklärung geradezu krankhaften Ehrgeiz, als erster den richtigen Riecher zu haben. Was ihm verborgen blieb: Der Unterleutnant war vor allem schlecht ausgeschlafen. Der hatte noch stundenlang wachgelegen. Enttäuscht, ärgerlich über sich selbst. Warum hat er so rasch aufgegeben, ruhmlos das Feld geräumt, weil sie Lyrikerin ist? Fühlt er sich denn unterlegen? Auch er hat in seinem Leben schon Verse geschmiedet, er ist doch sonst selbstbewußt! Und er wäre gelandet, verdammt, ist sich dessen fast sicher. Aber vielleicht auch nicht … Wilhelmshagen, Kastanienallee; ein diesiger Morgen, nicht direkt regnerisch, aber unverkennbar November. „Schaun Sie mal da drüben“, machte er den Hauptmann aufmerksam. Klammes Grau auf dem kahlen nachbarlichen Anwesen; dahinter Kipfels Haus, still, verschlossene Fensterläden, zugezogene Gardinen. Werl sah auf die Uhr: „Schon nach neun … Offensichtlich frönen die einer ausgedehnten Nachtruhe. Da hatten wohl die Tauben heute Erbarmen. Oder sind ausgeflogen.“ Brandenburg lauschte in den morgendlichen Dunst. „Schon möglich. Überdies, wie Frau Wendelin neulich sagte, ein reines Gewissen ist ein sanftes Ruhekissen.“ Irgendwie verquollener Augen, noch nicht restlos mit der Kosmetik fertig, erschien Ilona Wendelin, Finger auf den Lippen: „Psst! Meine beiden Männer schlummern noch. Ja, das starke Geschlecht braucht mehr Regenera272
tion als unsereins. Aber wir sind auch erst gegen Morgen ins Bett gekommen – treten Sie ein!“ Sie lief vor ihnen her, schlug vor: „Am besten, wir setzen uns in die Küche, das Zimmer ist noch nicht gelüftet und aufgeräumt; mein Mann hat so viel geraucht.“ Stand wirklich ein voller Aschenbecher bei den Sesseln (Filter, keine Karo), eine fast leere Flasche Lunikoff, Kaffeegeschirr. Werl bemerkte: „Ich wußte gar nicht, daß Ihr Mann raucht – ging denn das Fernsehen gestern so lange?“ „Max raucht nur ausnahmsweise – wir hatten nach den gestrigen Ereignissen … wie soll ich sagen … eine Familienaussprache.“ Sie lächelte verlegen: „Man sieht mirs wahrscheinlich an; bei mir geht das nie ohne Tränen ab.“ Bat, am Küchentisch Platz zu nehmen. „Nun sind wir also noch mehr in Ihrer Schuld; ich meine: Sie wären mit den Ermittlungen sicher weiter, hätte unsere Familie nicht für Verwirrung gesorgt. Ich schäme mich, es zu sagen; aber wir hatten uns gegenseitig verdächtigt. Daß es so weit kommen mußte! Ich mißtraute meinem Sohn wegen des Rasierapparates, meinem Mann wegen nasser Jackenärmel; mein Sohn hielt seine Eltern für Mörder; mein Mann beargwöhnte diesen Schnitt, den ich mir beim Brotschneiden zuzog – und weshalb? Weil hier seit Jahren jeder für sich lebte, weil keiner mehr über den anderen etwas wußte und ihn verstand … Man kann sich an solchen Zustand gewöhnen. Obgleich man dabei nicht glücklich ist; aber man kann sich auch an freudlose Zustände gewöhnen.“ Sie seufzte, fragte: „Warum muß erst so Schreckliches passieren, damit der Mensch zur Besinnung kommt; sagen Sie mir das! – Wir haben heute nacht Bilanz gezogen; das war schmerzhaft, aber bitter nötig … Unsere Familienverhältnisse waren katastrophal …“ Sehr leise: „Jetzt ist ein neuer Anfang gesetzt, und ich bin mir gewiß, wir haben wieder zueinander gefunden …“ Wie um 273
sich für diese doch sehr privaten, fast intimen Geständnisse zu entschuldigen, resümierte sie keck: „Im Hinblick auf meine Ehe und unser Familienleben hat also Frau Lindthalers Tod – bei allem Bedauern – eine ersprießliche Seite. Was soll ich viel reden: Ende gut, alles gut! Wir wollen für die Zukunft …“ Werl unterbrach: „Wunderbar, Frau Wendelin, was Sie uns da eröffnen; aber halten Sie jetzt kein Schlußwort. Ich bin sehr für Happy-End; momentan beschäftigt uns noch die Fahndung nach dem Täter. Erfreulich wäre, gewönnen wir durch die mitternächtliche Familienaussprache einen Teil des Bodens zurück, den uns die Familie Wendelin gekostet hat – wie ich aus Ihrer Aussage entnehme, ist Ihnen der Elektrorasierer nicht unbekannt …?“ „Nachdem sich für uns alles aufgeklärt hat … Ich sage Ihnen jetzt die Wahrheit …“ Im wesentlichen trug sich die Entdeckung der Leiche so zu, wie sie sie bei der letzten Befragung in der Poliklinik schilderte. Lediglich in einem Punkt war sie nicht ehrlich gewesen: Es gibt einen besonderen Grund, weshalb sie das Auffinden der Leiche ein zweites Mal inszenierte. Nachdem sie die herausgesprungene AutomatikSicherung eingeschaltet hatte, bot sich ihr im Badezimmer nicht nur der grauenhafte Anblick in der Wanne; was sie vollends den Kopf verlieren ließ, war jener Rasierapparat auf dem Schwammvorleger. Andreas’ Zimmer befindet sich nebenan, und sie zweifelte keinen Augenblick daran, daß es sich um sein Gerät handelte; ihr schwindelte bei der Frage, wie es an diesen Ort des Schreckens gelangen konnte. „Verstehen Sie, ich war in dem Moment unfähig zu ruhigem Überlegen! Der Augenschein war so überwältigend, ließ nur eine Erklärung zu: Andreas mußte hier gewesen sein. Was hätte ich denn denken solln? Der Junge war uns in den letzten Jahren regelrecht fremd geworden; er machte so viele 274
Schwierigkeiten – es gab dauernd Krach mit meinem Mann. Und sein Umgang! Da sind ja nun wirklich Gestalten darunter … Ich wußte in meiner Angst nicht, was tun. Den Apparat nahm ich mit, suchte dann unten bei uns: Wie erwartet, war der meines Sohnes unauffindbar …“ Brandenburg stellte ihr vor: „Nun konnte doch aber Frau Lindthaler durchaus eines natürlichen Todes gestorben sein. Wieso erwogen Sie das nicht?“ „Der Apparat! Wie sollte der Apparat in die Nähe der Leiche gelangt sein! Und es gab in der Vergangenheit häufig Streit; ich versuchte immer wieder einzulenken, wir lebten nun mal in einem Haus; aber mein Mann ist so jähzornig, und sie war ein Charakter, der immer dominieren muß, nie einen Pflock zurückstecken kann. Andreas, indem er sein Zimmer oben hat, war dann ihren Bissigkeiten und kleinen Schikanen ausgesetzt. Um ganz offen zu sein: Wir haben den Augenblick ihres Ablebens manchmal herbeigesehnt …“ „So, was geschah nun weiter?“ wollte Werl wissen. „Sie versteckten den Rasierer …?“ „Sagen Sie, soll ich Ihnen einen Kaffee kochen?“ „Nein, wir haben keine Zeit. Vielen Dank. Wir haben heute noch einiges vor!“ „Ja, ich … ich handelte ganz impulsiv. Wickelte ihn ein und … verbarg ihn im ehemaligen Pferdestall. Mir erschien das günstig, weil der nicht direkt auf unserem Grundstück steht.“ „Und dann“, führte Brandenburg weiter, „geschah das Kuriosum: Ihr Sohn spürte das Versteck auf und eignete sich den Apparat, der zwar von gleichem Fabrikat, aber durchaus nicht mit seinem eigenen identisch ist, an. Womit sich Ihre Hoffnungen ins Gegenteil verkehrten: statt ihn zu entlasten, brachten Sie ihn in größten Verdacht.“ Wie um sich zu verteidigen, nicht frei von eifersüchtiger Regung, rief Ilona: „Daran ist nur sein Umgang 275
schuld! Er hat doch ein sauberes Zuhause; begreifen Sie, was einen ordentlichen jungen Menschen in so ein Milieu zieht?“ Erläuterte: „Diese Horde verübte Diebstähle; er hat sich nicht daran beteiligt, das ergab auch die Zimmerdurchsuchung. Im Gegenteil: Als er von dem für vorigen Montag – quasi aus Rache – angesetzten Coup Wind bekam: Einbruch bei uns, im Pferdestall, legte er sich da auf Lauer, um denen die Suppe zu versalzen. Aber er hätte das von Anfang an bei seiner Vernehmung sagen und sich vor allem auch uns anvertrauen solln.“ Der Hauptmann und der Unterleutnant horchten frappiert auf; aber Frau Wendelin fuhr schon fort: „Freilich, was will man erwarten, wenn er von den eigenen Eltern kein besseres Beispiel erfährt. Auch mein Mann hielt sich ja, aus verletztem Stolz, nicht an die Tatsachen. Sie sind wohl inzwischen über den wahren Sachverhalt informiert; ich glaubte bis heute nacht an den gerissenen Keilriemen. Und bis zu seinem Eingeständnis zerbrach ich mir den Kopf über die nassen Jackenärmel!“ Werl: „Wieso waren die denn naß?“ „Hat ers Ihnen nicht erzählt?“ „Von nassen Ärmeln … nein.“ „Er reparierte doch das Auto bei einer Frau Rosbigalle –“ „Das ist uns bekannt.“ „Sie nahm ihn anschließend mit in die Wohnung; aber anstatt sich auf irgendeine Weise erkenntlich zu zeigen, wie er gehofft hatte, halste sie ihm die verstopfte Toilette und defekte Spülung auf. Die alte Dame ist schwerstbeschädigt, sonst hätte er ihr Bescheid gegeben. – So war mein Mann schon immer: Er kennt seinen Vorteil; aber manchmal läßt er sich gradezu ausnutzen.“ Es war gewiß eine humorige Enthüllung: Wendelin, geprellt, beim Freistochern des Rosbigalleschen Abortknies; trotzdem empfand Werl diesen Moment eher so etwas wie Mutlosigkeit, eine um sich greifende Resignation. 276
Allein, während sie ihren beiden Männern das Frühstück bereitete, grübelte Ilona dem eigenartigen Abschied nach: Sie hatte Groll, Ressentiment erwartet; statt dessen war von beiden Kriminalisten etwas von jener mitleidverbergenden Distanziertheit ausgegangen, zu der sie selbst im Dienst oft ein Wissen um unheilbare Krankheit nötigt. Eine getigerte Katze, struppiges Fell, löste sich, aufgeschreckt vom Klappen der Haustür, von den Mülltonnen am seitlichen Kellerausgang, setzte über Kohlendreck, zertretene Beete, schlich unter kahlen Zweigen ins abgestorbene Gras gedrückt am Pferdestall vorbei, kürzester Weg zum Nachbargebäude. Werl – sie gingen zum Wagen – sagte: „So, Genosse, Sie möchten sich doch immer Lorbeer verdienen: Unser nächster Schritt könnte entscheidend sein. Welche Richtung schlagen Sie also vor?“ Warum überläßt der ihm die Entscheidung, ist das ein faires Angebot? Oder weiß Werl nicht weiter? Oder wähnt der sich bereits im Besitz der Lösung? Brandenburg, mit dem Gesicht zum Haus des Ehepaars Kipfel, Hand an der Wagentür, stellte heraus: „Dem Tatwerkzeug nach ist ein männliches Wesen im Spiel. Das deutet auf amouröse Verstrickungen hin – wie ich, im Gegensatz zu Ihnen, seit längerem vermute!“ Werl entriegelte von innen, und Brandenburg, indem er einstieg, hielt sich mit seiner Prognose zwei Varianten offen: „Neuenhagen – oder Hohenschönhausen, das ist hier die Frage … Hottenbach oder Rudolph!“ „Tja, wenn Sie sich nicht festlegen wollen …“ Am Fürstenwalder Damm fuhren die meisten Fahrzeuge mit Licht. Trübe. Der Kiefernwald dunkel wie ein mit Nässe getränkter Schwamm. Glatte Fahrbahn; in Köpenick über den Brücken Nebelschleier, als kreuze man auf einem unbekannten Gewässer. Die Scheiben beschlugen. 277
Im Sitz herumfahrend, wunderte sich Brandenburg: „Das geht nun aber weder nach Neuenhagen noch nach Hohenschönhausen …?“ Ratlose Frontzähne. Werl gefiel sich eine Zeitlang in Schweigen und undefinierbarem Lächeln. Verkündete in Oberspree: „Ich schließe mich Ihnen lediglich an, Genosse. Ihrer seit Tagen gehegten Theorie. Man muß sich stets korrigieren können.“ Zwischen Schöneweide und Baumschulenweg: „Es gibt nur eine Person, die über eventuelle Liebesaffären der Lindthaler auf dem laufenden sein dürfte: aus einer von gewissem Neid und Mißgunst diktierten Anteilnahme.“ Hinter einem Rosengitter/liegt ein Herz, das weint so bitter; Lucinde Gerhardi, Perücke, Hosenanzug, beschrieb mit ihren Riesenbrillengläsern einen Halbkreis um die Ottomane, sorgte sich: „Sie müssen ja sonst was denken, schaun Sie bloß nich drunter! Gefegt is, aber ich bin nicht zum Wischen gekommen.“ Werl, gewichtig, auf dem weißen Schonbezug ein Kissenmonster zerquetschend, beruhigte: „Uns reizt es allenfalls, unter Betten zu stöbern. Unter Ihrem beispielsweise oder dem Ihrer verstorbenen Freundin. Wie ist das, Frau Gerhardi, sind Sie verwitwet? Geschieden?“ Die reinliche Lucinde, einen Fingerabdruck vom Holzknopf der Sessellehne reibend, verneinte, und Brandenburg, der ihre Aufmachung prüfte, bemerkte am Ende der Hosenbeine eine Wadenbehaarung, die beim letzten Mal von schlappigen Strümpfen verbrämt gewesen sein konnte. Doch auch die entzündeten Mitesser am Hals schienen ihm neu hinzugekommen. „Also noch im Stande der Jungfräulichkeit?“ forschte Werl mit einem Ton, der unentschieden zwischen beißendem Hohn und gutmütigem Scherz verhielt. Sagen wir, im Besitz einer weithin einwandfreien Vergangenheit. Einmal allerdings, während des Krieges, war 278
sie de facto verlobt gewesen; die Beziehung wäre gewiß im Hafen der Ehe geendigt, hätte nicht die Vergangenheit geendigt; sie bewahrt nur noch ein vergilbtes Briefbündelchen auf. Und in jüngster Zeit? Frau Gerhardi lachte auf, na das is ja wohl absurd! Ob das vielleicht jemand aus dem Haus vom Stapel gelassen hätte? Diesen Hasenpflugs, eine Treppe höher, traut sie das zu; es soll jeder vor seiner eigenen Tür fegen. Und so intakt ist die Hasenpflugsche Ehe durchaus nicht; die Wohnungen sind hellhörig, da bekommt man einiges mit! Sie könnte Dinge erzählen … „Tun Sie das“, ermunterte Werl, „aber über Frau Lindthaler. Die pflegte doch gewisse Beziehungen zum anderen Geschlecht. Beispielsweise zu Herrn Rudolph. Eventuell auch zu Hottenbach …?“ Erröten; die Entzündungen am Hals, mehr noch aufgekratzte Stellen im Gesicht traten dunkel hervor. „Ich möchte das Andenken der Toten nich entweihn. Das ist doch nun alles nich mehr wichtig …“ Verlegen, ihr schien das Thema widerwärtig; zugleich deutete sich eine Begierde nach eingehender Erörterung an. Werl: „Für die Aufklärung eines Mordfalls ist alles bedeutungsvoll. Sie dürfen uns nichts verschweigen!“ „Meta hatte drei Grundfehler des Charakters, die auch unsere Beziehungen oft trübten: Sie verwendete allzuviel Sorgfalt auf ihr Äußeres und ließ die Wohnung verkommen. Besonders, seit sie keine Hilfe mehr hatte. Sie wähnte sich über alle Welt erhaben, nichts war ihr heilig. Und sie führte einen leichtsinnigen Lebenswandel!“ Das spritzte heraus, wie eine schon hunderte Male vorformulierte Anklageschrift. Frau Gerhardi nickte vorwurfsvoll, die aufgesprungenen Lippen waren schmal von Gehässigkeit, doch der Blick richtete sich bereits Verzeihung heischend nach oben. „Und wie realisierte sich dieser Lebenswandel?“ 279
„Sie nannten schon einen Namen: Rudolph … Aber ich vergaß: Sie betrog auch zuweilen beim Rommé und lachte und entschuldigte es als Schummeln, wenn man sie ertappte!“ „Hottenbach also nicht?“ „Das wäre mir neu.“ „Und sonst?“ Sie hob die Arme, der linke Ellenbogen war aufgestoßen. „Es gab viele Episoden. Vor allem früher. Nach dem Krieg. Ich hab das nich alles im Kopf.“ Bitter: „Meta war fähig, um einer Laune willen das Glück selbst eines ihr nahestehenden Menschen zu zerstören …“ Das entsagungsvolle Neigen der Kurzhaarperücke legte nahe, daß sie eigener empfangener Wunde gedachte, einer vernarbten, wahrscheinlich um Jahrzehnte zurückliegenden. Brandenburg, ähnlich konfuse Erinnerungen befürchtend, wie jene an Meta Lindthalers 35. oder 36. Geburtstag, wo nicht gar Silvester, lenkte rasch in die Gegenwart: „Hatte Frau Lindthaler innerhalb der letzten zwei Wochen einen intimeren Bekannten?“ „Metas eigentliche Zuneigung galt von jeher dem gleichen Menschen, das blieb mir nicht verborgen. Mir schien schon früher so, als hätte sie ihren Mann nicht um seiner selbst willen geheiratet … Aber sie fand keine Erwiderung; Gott sei Dank. Vielleicht waren ihre Fehltritte eine Art Trost …“ „Die letzten vierzehn Tage, Frau Gerhardi!“ rief Brandenburg ungeduldig. Die Putzhexe glupschte wie ein in die Enge getriebenes räudiges Schaf. Schluckte trocken; gequält: „Ja, dann muß ich es wohl sagen …“ „Allerdings!“ riefen Werl und sein Unterleutnant ausnahmsweise und zum ersten Mal wie aus einem Mund. „Ich hatte ja selbst nichts davon geahnt! Erst als er mich gestern abend anrief …“ „Wer?“ – „Wer denn?“ 280
„Er gab gleich alles zu …“ „Was?“ „Na was!“ „… daß er … Daß er sie … Sie haben beide …“ Das Telefon schrillte in Lucinde Gerhardis Sprachstörung. Sie zauderte. Rührte sich nicht. Bewegte keinen Finger. Werl wies auf den Hörer. Na los, rangehen! Sie nahm ab, meldete sich. Sagte leise: „Ein Ferngespräch …“ Brandenburg: „Woher?“ „Koblenz.“ Werl sprang auf, drehte den Hörer aus ihrer Hand halb an sein Ohr.
29 Neben dem Schuhregal ging die Tür auf; junge Nachbarin von schräg gegenüber, das Kind drängte sich auch noch dazwischen. „Sie wolln zu Frau Lehnert, stimmts? Die is eben zur Kaufhalle … das kann ne Weile dauern.“ Nicht, daß sie ihre Schenkel zeigte, die hatte einfach welche, unübersehbar. Stefanie überlegte: „Was mach ich denn da …“ „Kommen Sie doch einfach rein; heut is Sonnabend, da stehn sie in der Halle an wie verrückt. Na los; ich muß bloß den Kleinen umpelln, der hat sich unten dreckig gemacht. Da hat wieder son Schwein sein Auto am Spielplatz gewaschen. Ich hab die Nummer notiert, bei so was müßte die Polizei gleich eingreifen – Sie sind doch von der Kripo …?“ Im Korridor, im Kinderzimmer sagte Stefanie: „Wie kommen Sie darauf?“ „Frau Lehnert hat mirs gesagt. Sie warn doch schon mal hier, mit zwei Männern. – Die sind wohl heut nich mit?“ 281
„Nein.“ „Der jüngere, is das Ihr Chef?“ „Der ältere ist der Chef. Aber nicht meiner. Ich gehör eigentlich nicht dazu … zur Kripo.“ „Pfui Teufel! Nun gucken Sie sich das an! Der muß ja in die Wanne. Aber wenn man mal ’n Moment nich raussieht …!“ Hose, Anorak in die Waschmaschine. Lief ins Bad, ließ Wasser einlaufen. Zog den Jungen aus. Schmiere am Pulloverärmel. Schwatzte zwischendurch: „Und was machen Sie in Wirklichkeit?“ Demaskierung mit dem üblichen Ergebnis: Die junge Mutter wurde nicht wieder. „Schriftstellerin? Na das ist ’n Ding! – Bei uns im Betrieb war mal einer. Wie hieß der denn bloß? Ach, das is schon fünf Jahre her, der hat richtig gearbeitet, überall ein bißchen; sollte ’n Buch schreiben drüber. Kam aber immer erst gegen Mittag und nur manche Tage. Erschienen ist bis jetzt nichts. Na mir war das gleich klar.“ Stefanie: „Das kommt vielleicht noch. Da müssen Sie sich nicht wundern. Ich hab vor zwei Jahren für einen Gedichtband abgegeben … Ich weiß auch noch nicht, ob und wann das was wird.“ „Und worüber?“ „Über … Mein Gott, wie soll ich das sagen … Frieden und Krieg.“ „Aber das ist doch jetzt hochaktuell!“ „Die produzieren eben ihre Raketen rascher als unsre Verlage die Bücher dagegen.“ „Aber wieso?“ Über ein fertiges Manuskript machen sich noch viele Leute Gedanken; ist es unkonventionell, von der Sprache, von der Form her, gar vom Inhalt, braucht das Denken seine Zeit. Die haben auch Urlaub, Haushaltstage, manchmal wird einer krank oder kündigt, 282
im Lektorat sind die Maler, und überall ist der Wurm drin. „Das is ja wie bei uns im Betrieb!“ Schlimmer; das ist eine Qual. In diesen zugespitzten Jahren, auf Messers Schneide; Aufmarsch der Menschheit zu zehn Stunden Krieg, und bumstrara und schrumm, danach ist nichts mehr dasselbe. Das ist eine Qual: Elysium – oder die Vernichtung vor dem Ziel, einzige Alternative. Stefanie war sich im übrigen klar, daß diese junge Frau nichts über Wilhelmshagen wissen konnte, die Verhältnisse im Hause Lindthaler, von Kipfel oder Hottenbach zu schweigen. Unsinnig, danach zu fragen. „Siehste, weil du nich gehört hast“, die Frau traktierte das Kind mit dem Seiflappen, „wärst du mit Tante Erika mit, hättest du dich nicht dreckig gemacht!“ Indem sie die Brause anstellte, zu Stefanie: „Frau Lehnert is ja wirklich ne Seele. Wenn ich die nich hätte, ich käm ja hier abends nie raus. Auch so, wenn ich was besorgen muß, Erledigungen, die nimmt sich des Kleinen immer mal an. Wissen Sie, wie alt die is? Zweiundsechzig! Nimmt man ihr nich ab. Jetzt hat sie sich sogar einen Freund angeschafft, auf Annonce. Ganz flotter Mann. Na, ich weiß nich, ob ich dazu in dem Alter noch Mut hätte …!“ Stefanie, insgeheimes Lächeln, enthielt sich der Stimme: So wie die gebaut war, so wie die Brandenburg letztes Mal Auskunft erteilt hatte, bei der Verwirrung, die die unter dem Semmelblond angerichtet hatte, ging sie wahrscheinlich auch im Alter noch ran. Neubaubad ohne Fenster, elektrische Beleuchtung, nicht übermäßig hell. Badewanne, Glaskonsole; da lag ein Schiffchen drauf. Wasserspielzeug, Äppelkahn. Sie nahm das Boot unbemerkt. Abgeduschter, bißchen wehleidiger Augenreiber. „Paß auf …!“ Sie warf es ihm in die Wanne. Manche Kinder reagieren unangemessen schreckhaft. Das hier war nicht zu beruhigen, schrie wie am Spieß, 283
stand triefend, klammerte sich an die Mutter, brüllte, die konnte sich des tropfnassen Angstpeters nicht erwehren. „Biste denn verrückt, Cornelius, das is doch nur dein Dampfer! Was ist denn mit dir los! Was soll denn die Tante von dir denken!“ Die Tante dachte noch gar nichts, keine Erfahrung im Umgang mit solchen Lütten, wollte wiedergutmachen – der Junge wich vor ihr zurück, verkroch sich an der Mutter, die hüllte ihn in das Badetuch. „Nun schäm dich aber mal! So ein Geheule; ich weiß nicht, was das mit ihm is … Neulich bei Frau Lehnert genauso, das war bißchen dunkel im Flur, er hat sie nich gleich gesehn, sie hob ihn plötzlich hoch, zwar heftig, aber ich dachte, der juchzt – macht er ein Theater, wie jetzt bei Ihnen; Frau Lehnert war ganz verlegen …“ Dann, im Zimmer, besorgte junge Frau; aber nicht mehr des Kindes wegen. „Was ist Ihnen? Sie sind so still … Ist Ihnen nicht gut?“ „Doch, aber …“ „Ich koch Ihnen ’n Tee … Oder wolln Sie was essen? Ich vertrag das auch nie, wenn ich zuwenig im Bauch hab …“ „Nein.“ Nach einer Weile; um über das Schweigen hinwegzukommen: „Wenn Sie nun solche Gedichte schreiben, machen Sie sich da vorher Stichpunkte, oder fällt Ihnen das unmittelbar ein?“ „Was?“ „Ich meine: Man muß doch erst mal wissen, was alles rein soll. Haben Sie das schon alles von Anfang an im Kopf?“ Leise: „Wo waren Sie … letzten Montag? Überlegen Sie genau …“ Das hatte ja nun mit ihren Fragen unmöglich zu tun, und die junge Frau begriff diese Wende der Unterhaltung 284
nicht recht; vorigen Montag? Also jetzt die Woche? Ja, wo soll sie da gewesen sein – arbeiten. „Und danach?“ „Beim Friseur … Warum?“ „Und das Kind?“ „Cornelius? … der war mit Frau Lehnen mit …“ „Wo?“ „Gott, spazieren … – Wolln Sie sich hinlegen? Dann schmier ich Ihnen jetzt ne Stulle! Sie sind ja regelrecht blaß …“ Umsonst. Geboren in Ostpreußen, Volksschule, Heimarbeit oder Hilfsarbeit möglicherweise, Hochzeit, erstes Kind, zweites Kind. Umsonst. Wilhelmshagen: Abwasch, Wäsche, Fußboden, Teppich, Einkaufen, Kochen, Bedienen, Rommé, Aushilfe in Fleischerei Rachfahl oder anderswo. Umsonst. Gallenoperation – Erwachen aus der Narkose: Louise Michel, Clara Zetkin, Berta von Suttner, Rosa Luxemburg; Blutspende, Solidaritätskuchenverkauf, künstlerische Textilgestaltung, umsonst, umsonst, Krossinsee, Neubauwohnung, Nachbarschaftshilfe, Jahresabschlußversammlung, Briefwechselannonce, umsonst, Lichtbildervortrag Frauen in Afrika, Klavierstücke von Mendelssohn und Ravel, das Menschenbild der Renaissance, umsonst, Physik und Philosophie, Entdeckungen der Genetik, Geheimnisse der Galaxien, umsonst. Die Tendenz der Geschichte. Umsonst. „Und wann … wann kam Frau Lehnert zurück?“ „Spät, ziemlich spät … Das war überhaupt merkwürdig: Cornelius hatte nur noch einen Handschuh an, und da sagte sie, er hätte den im Park verloren und sie hätten so lange gesucht. Am nächsten Morgen fand ich den hier unten im Hausflur. Als sie gegangen waren, lag da keiner – also hat er ihn zurückzu fallen lassen. Da kann sie ihn doch aber nicht schon unterwegs gesucht haben …?“ Die Klingel enthob Stefanie einer Antwort; ihre Gesprächspartnerin entschuldigte sich. Stimmen draußen, 285
von der geöffneten Tür her, nicht unbekannte, und gleich darauf die Wohnungsinhaberin: „Die muß bald wieder da sein, die is vor einer halben Stunde weg. Nur mal zur Halle. Kommen Sie doch rein; Ihre Kollegin is auch hier!“ „Was denn für eine Kollegin?“ hörte sie sich Werl im Korridor verwundern, dann kamen die ins Zimmer. Der Hauptmann, obligater grauer Dienstanzug; Brandenburg in dem nämlichen sandfarbenen Samtsakko, das er auch an jenem unvergeßlichen Tag getragen hatte, da sie ihm zum ersten Mal bei der MUK begegnet war; und Werl rief: „Sie hier? Was suchen Sie denn hier! Ich denke, Sie wollen am Wochenende schreiben?“ Es gab ihr einen Stich, das Auftauchen der beiden, jetzt, an diesem Ort, und selbst Brandenburgs Jacke wirkte wie ein zusätzliches Indiz dafür, daß am bösen Ausgang dieses Falles nicht mehr zu rütteln war. Irgendeiner muß der Mörder sein; sie hatte bisher nur an irgendeinen gedacht. „Ich bin ganz privat hier, Herr Werl. Wegen einer Lyriklesung, das ist bereits mit Frau Ronneburger abgesprochen. Ich wollte nur noch mit Frau Lehnert einige Details bereden. – Aber Sie, hatten Sie nicht vor, Ilona Wendelin aufzusuchen?“ Die junge Frau mußte mal rasch nach dem Kind sehn, sie warf nur vorher noch Brandenburg einen Blick zu, und der semmelblonde Senno sandte ihr seinerseits einen nach, einen ausgiebigen, erklärte dann: „Das taten wir auch. Alles ist, wie wir vermuteten. Anschließend auf kürzestem Weg zur Dame Gerhardi; und nun halten Sie sich fest: Was wir dort erfuhren, bringt womöglich Ihr Romankonzept ins Wanken!“ Gequetscht: „So schlimm kanns doch nicht sein.“ „Wäre Ihnen Frau Lehnert als Täter willkommen?“ Stefanie flüsterte: „Das ist nur ein Witz …?“ Sie schaute hilfesuchend zu Werl; der wich ihr aus, kaute an seiner Lippe; was soll er ihr auch sagen – wenn Sie genauer hinsehen, wenn Sie einen Sinn dafür haben, offenbart sich 286
am Ende jeden Falles eine tiefe menschliche Tragik – er hatte sie rechtzeitig gewarnt. Und er hatte es diesmal lange vorher geahnt, von Tag zu Tag lebhafter, er hatte eine Tragödie heraufziehen sehn. Brandenburg konkretisierte: „Wir haben bisher keinen Beweis; aber der Verdacht besteht.“ Die wissen vielleicht nur um ein Motiv, vermuten den Hergang – sie kennt einen Zeugen der Tag, Cornelius; wie soll sie sich jetzt verhalten? Das hatte sie sich nicht träumen lassen, als sie diese MUK-Hospitation antrat; auch heute nicht, auf der Fahrt hierher – oder doch? Hatte sie denn im Ernst geglaubt, ein untergetauchter Verbrecher würde das Haus neben seinem früheren beziehn oder sich im Pergamon-Museum aller Welt präsentieren, Inländern, Ausländern, um baldmöglichst identifiziert zu werden? Wahrscheinlicher, es war schon ein Befürchten in ihr gewesen, nicht über die Bewußtseinsschwelle gelassen, das nach Widerlegung drängte. Wie soll sie sich jetzt verhalten? Werls mißmutiges Vorsichhinstieren. Brandenburgs nervöse Ungeduld. „Also was haben Sie nun rausgekriegt?“ Der Unterleutnant lauschte zum Korridor, rammelte draußen der Fahrstuhl, fuhr aber vorbei. Die Frau sprach was im Kinderzimmer. Er berichtete: „Die Gerhardi erhielt gestern abend einen Anruf. Von einem gewissen Reichenberg, Gustav; ihr nicht unbekannt, ich sag gleich, wieso. Er wäre einige Tage krank gewesen, habe schon mehrere Male versucht, Frau Lindthaler telefonisch zu erreichen, ob die verreist sei. Um das vorwegzunehmen: Er hatte sich mit Meta übernommen, die muß noch ein Temperament gehabt haben! Er laborierte eine Woche mit dem Kreislauf. Die Gerhardi setzte ihn jedenfalls von der traurigen Sachlage in Kenntnis. Ihr Anrufer fiel aus allen Wolken, damit hatte der ja nun durchaus nicht gerechnet. Ob der Täter gefaßt sei. Ihres Wissens nein; da 287
ging bei ihm das Lamentieren los: Er wolle damit nichts zu tun haben, auf keinen Fall hineingezogen werden. Sie begriff seine Aufregung nicht …“ Werl knurrte: „Eh Sie Fräulein Thalmer völlig verwirren, erklären Sie vielleicht doch noch, woher die Bekanntschaft rührt.“ Senno runzelte die Stirn, nicht einfach, bei dem glatten Gesicht. „Wir kommen direkt von Reichenberg. Er hatte auf eine Briefwechselannonce geschrieben. Und zwar Frau Lehnerts. Es war wohl das non plus ultra der von Frau Ronneburger ausgelösten Emanzipation. Frau Lehnert besuchte vor zwei Wochen zum letzten Mal den Romménachmittag der Lindthaler, zwecks Aufkündigung fernerer Mitgliedschaft, und wie um ihren neuen Lebenszuschnitt zu demonstrieren, gleichsam als Ohrfeige für die beiden Reptilien, ließ sie sich von ihrem neuen Partner begleiten. Die Karten fielen dann anders, als von ihr eingeschätzt. Reichenberg, von Metas aristokratischem Fluidum fasziniert, wechselte die Fronten, überließ sie den Sticheleien. Die Lindthaler spannte ihn der Lehnert regelrecht aus. Der weitere Verlauf war – bis zu diesem Anruf – auch Frau Gerhardi neu. Reichenberg sorgte sich wegen seines in Wilhelmshagen zurückgelassenen Elektrorasierers, wenn man den fände, er befürchtete Unannehmlichkeiten, und so erfuhr die keusche Lucinde von ihm, daß ihre lockere Busenfreundin die letzten Nächte nicht allein verbracht hatte. Uns versicherte er, es sei an jenem Romménachmittag auf dem Heimweg zu Streit und zum Bruch mit Erika Lehnert gekommen, er habe den bewußt herbeigeführt und weitere Kontakte vermieden.“ „Und deshalb dichten Sie ihr einen Mord an, wegen dieser paar lächerlich dürren Anhaltspunkte?“ empörte sich Stefanie. „Sie vergessen die Indizien“, eiferte Brandenburg, „die Karokippen, die daran festgestellte Blutgruppe! Hinzu 288
kommt die Beobachtung Kipfels, wonach eine Frau zur Tatzeit das Haus verließ …“ „Bisher zogen Sie das in Zweifel und gingen von einem Mann aus.“ Werl vermittelte: „Ein Verdacht gegen Frau Lehnert ist nicht von der Hand zu weisen. Gehen Sie mal psychologisch ran, überlegen Sie, welche Entwicklung diese Frau innerhalb nur zweier Jahre genommen hat, das ist doch atemberaubend. Bis dato ohne Durchsetzungsvermögen, ohne Selbstbewußtsein, ausgenutzt, benutzt, von der Lindthaler gleichsam zu einem Anhängsel ihres Haushalts verbogen, mit Haut und Haar in deren Dunstkreis integriert – und plötzlich diese Ablösung, dieser Aufschwung! Glauben Sie nicht, daß sie, je mehr sie ihr Leben in eigene Hände nahm, schmerzhaft empfinden mußte, wie viele Jahre, Jahrzehnte verloren, in diesem Mief vergeudet waren? Mußte sie nicht in der Lindthaler die Ursache dieser Negativbilanz sehen? Und nun zerstört die ihr jene eben erst angebahnte Beziehung …!“ „Wahrscheinlich hat sie keinen Mord geplant“, steckte Brandenburg einen Pflock zurück, „sie führte ja kein Tötungsinstrument bei sich. Konnte auch kaum wissen, wie innig ihr Reichenberg bereits mit der Lindthaler liiert war. Erst sein Rasierapparat im Badezimmer macht ihr das klar. Sie warf der Rivalin das Beweisstück an den Schädel; übersah möglicherweise, daß es an der Steckdose hing: der Vorgang liefe dann auf fahrlässige Tötung hinaus.“ Wie soll sie sich jetzt verhalten; darf sie verschweigen? Rechtlich nein; aber ihr Innerstes empört sich, es kommt ihr vor wie Verrat. Brandenburg sinnierte: „Die kam auch letztes Mal quietschfidel vom Blutspenden, zusammengeklappt ist sie, als sie uns sah.“ – Sie bringt das nicht über sich; mein Gott, ich kann es nicht. Ich bring das einfach nicht fertig, 289
ich seh diese Frau immer vor mir, ich kann sie nicht vernichten, ich, bewundere sie ja … Cornelius, bißchen schüchtern, mit Bilderbuch; die strammen Schenkel schoben ihn vor sich her ins Zimmer. Brandenburg setzte sich in Positur; der Weg zur Mutter führt gelegentlich über den Sohnematz. Er kniff mal ein Auge zu, schnitt paar Grimassen; es heiterte den Steppke auf. „Na komm, zeig, was du da hast …!“ Der schlug das Buch auseinander, plazierte sich auch wirklich auf den Bügelfalten. Ungewohnte Schoßlast, Brandenburg konnte sich aber dreinschicken. Ein ganz lieber Onkel, Kinderfreund: „Was ist das? – Ein Auto. Und das? Kennst du noch nicht?“ „Ach, der weiß es“, behauptete die Mutter. Sah aber nicht danach aus: abgelenktes, anderweitig interessiertes Blondköpfchen. Ein Fremder, in Unkenntnis der Verhältnisse, könnte getrost behaupten, es sei seinem Papi wie aus dem Gesicht geschnitten. Drehte an Sennos Siegelring, jetzt war das Wappen auf der Innenseite, nur noch ein schmaler Goldreif, der kleidete den Unterleutnant nicht schlecht. Der jungen Frau lag ja nun die ganze Zeit eine Frage auf der Zunge, sie wagte sich aber nicht damit heraus, spürte nur zu gut, welch gespannte Nervosität sich bei ihren Besuchern geltend machte, sogar der sympathische jüngere Kriminalist, bei allem Hoppereiter, schien davon infiziert. Es kam kein rechtes Gespräch mehr zustande; sie wurde nun selbst unruhig. Öffnete das Fenster: Bis zum Ende des Blocks war die Nachbarin noch nicht in Sicht. Sie will dann lieber mal in die Küche, nahm das Kind mit. Werl erhob sich; Hände in den Hosentaschen, musterte die Buchrücken der Anbauwand. Sah zur Uhr; schielte zu Stefanie. Sagte: „Diese Frau entwickelte ein für ihr bisheriges Dasein, ja man kann es so nennen, geradezu faustisches Streben. Besaß sie auch die ge290
wachsene Reife, die Verantwortlichkeit für ihren neuen Lebenszuschnitt?“ Es ist nichts Objektives passiert, nichts Greifbares, Spuk der Phantasie, ich weiß von nichts, ich kann nichts wissen. Eine Frau, ein Kind, Spaziergang im Park, das ist alles. Trostlose Stämme, kahl, eiskalter Dämmer. Rastloses, betäubendes Gehen, das Kind läßt sich ziehn. Ein Taxi. Fahrspuren, rechts links, alle in einer Richtung. Vorüberwischende Lichtflecke – ich war nicht dabei. Ich kann es nicht wissen. Finsternis über Wilhelmshagen, ein Haus, oben Licht: Ob er bei ihr ist? Ob er bei ihr ist! Ergebnisloses Klingeln. Ein Kellereingang. Leise Treppe. Ich war nicht dabei, ich kann es nicht wissen. Obere Etage. Der Junge muß mal, ausgerechnet jetzt. Angst und Drang nach Gewißheit. Gewißheit! Meta? Bist du im Bad? Schließ auf! Der Junge muß auf Toilette! – Allein, sie ist allein, er ist nicht hier, Gott sei Dank, wenigstens das nicht! Wenigstens ist er nicht hier. Nicht bei ihr. Ein Badezimmer – ich war nicht dabei, ich kann es nicht wissen. Ein spitzer Hieb. Anspielungen. Gehässigkeiten. Dieser Hohn: Schrupp mir den Rücken, oder hast dus verlernt! Ein Rasierapparat. Aber ich kann es nicht wissen. Der Täter ergriff den Elektrorasierer, warf ihn gegen das Opfer, beim Eintauchen in Wasser, Berührung, kam es zu Stromdurchfluß durch den Körper – sie reißt den Apparat an der Schnur raus, Kurzschluß, Dunkelheit. Ein Weinen. Sie hebt das Kind auf, preßt ihm die Hand auf den Mund, Finsternis der Treppe, Keller, sich wehrende Fäustchen; hastet durch den Garten, ein Mann! Sie strauchelt auf die Straße … aber es ist nicht wahr, es kann nicht sein, ich will, will es nicht wissen … „Wer käme auch sonst noch in Frage“, verteidigte sich Brandenburg. „Moritz Lindthaler scheidet aus. Der rief an, als wir bei der Gerhardi waren. Sie lasen vielleicht von den Demonstrationen am Wochenende, Frankfurt am 291
Main. Er war festgenommen. Der Apfel fällt nicht weit vom Birnbaum; manchmal doch.“ Sie kommt. Brandenburg, Werl, Stefanie im Flur. Die Nachbarin bleibt in der Wohnung. Geräusche im Fahrstuhlschacht. Seile. Licht, Schatten, anlangende Bewegung. Eine Tür, die aufrollt. Sie setzt das Netz, die Tasche ab. Die beiden Männer, das Fräulein im Flur, die Nachbarin schmult durch den Spalt; wie die da stehn, wie die sie ansehn, diesmal wissen die alles. Ohne Sprache, hebt die Hände vor das Antlitz. „Frau Lehnert.“ Brandenburg faßt sie am Oberarm. Blinde, verschwommene Augen, sie sucht nach dem Schlüssel. Weinen, Zusammenbruch im Korridor; Stefanie zieht die Tasche rein. Ein altes verfallenes Frauchen; keine Ausflüchte. Ein Herd, auf dem niemand mehr kocht. Ein Stuhl, auf dem niemand mehr sitzt. Ein Tisch, an dem niemand mehr ißt. Tropfender Hahn. Blumen, zum Tode verurteilt. Brandenburg sagte: „Ich hatte sie schon einige Zeit im Verdacht. Wir fanden am Tatort Zigarettenreste. Ihre Blutgruppe.“ Müde Trauer, Ergebung. Aber sie hätte nicht geraucht. „Leugnen ist jetzt das Dümmste, was Sie tun können!“ Verzweifelt, gebrochen; doch eines muß sie noch loswerden, furchtbare Last: Als sie warf, um sicherzugehen, schaltete sie das Gerät ein, sie wollte töten, in dem Augenblick wollte sie deren Tod; schluchzte. Warum sagt sie das! Er hatte nicht danach gefragt, er 292
hätte es nicht aus ihr herausgequetscht – Werl gab Brandenburg einen Wink, wandte sich ab. Der Unterleutnant zog was aus dem Samtsakko, nahm Erika Lehnerts Handgelenke: rechts klick, links klack; nun stand sie da, schloß die Lider, wagte nicht, an sich herunter zu sehen.
30 Im Wagen: vorn Werl, Stefanie; hinten Brandenburg, Frau Lehnert. Der Unterleutnant mahnte: „Machen Sie sich nicht fertig; das haben vor Ihnen schon andere überstanden. Sie müssen das jetzt tragen.“ Mehr fiel ihm nicht ein; er mochte nicht mit den Justizlern tauschen. Neigte sich zu Stefanie vor, so daß sein Gesicht nah, doch längst nicht so nah wie ehemals an ihr Haar und Ohr kam. „Und wie bewerten Sie diesen Ausgang – ich meine im Hinblick auf Ihr Projekt? Glauben Sie wirklich, es könnte sich ein Allgemeines in diesem Besonderen kundtun?“ Sie blickte nach vorn, in das feuchte Spiegeln der Allee, zuckte die Schultern. „Entschuldigung, aber jetzt bin ich dazu kaum … Ich muß mir das später überlegen.“ Ein Tag im November. In diesen achtziger Jahren. Ampeln, Kreuzung, Straßenbahn. Betriebsgelände. Dunst über der Stadtsilhouette, wie der unfertige, unbestimmte Umriß eines nahen Gestades.
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1. Auflage © Verlag Das Neue Berlin, Berlin • 1983 Lizenz-Nr.: 409-160/195/83 • LSV 7004 Umschlagentwurf: Erhard Grüttner Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden Scan & Ebook by *MM* 6226400 00300