Berliner Konsortium
Timo Rieg
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Berliner Konsortium
Timo Rieg
Verbannung nach Helgoland Reich und glücklich ohne Politiker Ein Masterplan für alle Stammtische und Kegelclubs draußen im Land
Berliner Konsortium
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Timo Rieg Verbannung nach Helgoland Reich & glücklich ohne Politiker - Ein Masterplan für alle Stammtische und Kegelclubs draußen im Land www.unwaehlbar.de Lektorat: Thorsten Hanson. Redaktion: Journalistenbüro Rieg Berlin - Bochum - Hamburg (Fon & Fax: 0700-TIMO RIEG, www.journalistenbuero.com). Mitarbeit: Karen Klages, Andreas Klawikowski, Stefan Klein, Henrike Koczwara, cml, Andreas Pidel, Gisa Spiegel, Britta Susen. Umschlag: biblioviel Agentur unter Verwendung zweier Fotos von Jochen Zick.
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.
Alle Rechte vorbehalten (c) 2004 Timo Rieg ISBN 3-928781-11-1 biblioviel: Berliner Konsortium
Inhaltsverzeichnis
Inhalt Einführung 7 Fressen, Ficken, Fernsehen Ein Aperitif 13 Das Missverständnis Eine Einführung
Bestandsaufnahme Deutschland: Was Politiker aus unsrem Land gemacht haben 40 Politik ist Geldausgeben Wie Politiker uns die Welt schön rechnen 63 Das A-Problem Warum Politiker die Arbeitslosigkeit erfunden haben 90 Verwaltete Armut Was ein Basiseinkommen für alle bewirken könnte 124 Totgeburt Gesundheitsreform Warum wir endlich die richtigen Fragen stellen müssen 150 Der Paragraphen-Wahnsinn Wie Juristen unser Leben regeln 173 Der ganz normale Wahnsinn Fünf Beispiele für Politikerversagen
Politikerzoo Deutschland: eine Klassifizierung 180 Jedem sein Gehege? Die Illusion der Gewaltenteilung 185 Lernen von den Schimpansen Das Verhalten der Machtmenschen 193 Spezies Totquatscher Das Rede- und Geltungsbedürfnis der Politiker
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Verbannung nach Helgoland
231 Berliner Alphatierchen Der Herrschaftstrieb der Politiker 240 In freier Wildbahn nicht überlebensfähig Warum jemand Berufspolitiker wird 248 Eine ganz besondere Art Dilettanten geben den Ton an 257 Beißen & Streicheln Wie Parteien und Parlamente funktionieren 270 Tarnen & Täuschen Die Machttricks der Politiker 280 Affentheater Wenn Politiker sich selbst nicht verstehen
Notfallplan Deutschland: Was wir endlich selbst in die Hand nehmen müssen 287 Große Probleme ganz klein Eine Art Resümee 294 Dringender Handlungsbedarf Was wir als erstes tun müssen
Zugabe 305 Warum wir Politiker abschaffen müssen Meine persönlichen 112 Lieblings-Gründe
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Fressen, Ficken, Fernsehen
Fressen, Ficken, Fernsehen – Ein Aperitif
Die einen tragen es als letzte trotzige Forderung auf dem T-Shirt (fälschlich meist als Tätigkeitsprotokoll gelesen), die anderen meinen, sozialpsychiatrisch eine gewisse Dumpfheit in unserem Volk auszumachen, wenn das Leben auf die Formel zu bringen ist: Fressen, Ficken, Fernsehen. Es steht außer Frage, dass wir nur diesen 3 F unseren modernen Evolutionserfolg verdanken, wobei »Fernsehen« für jede Art von Müßiggang stehen darf. Nur ordentliches Futter – genauer gesagt: unsere Fähigkeit, es zu bekommen und zu verarbeiten – hat unser Hirn wachsen lassen und dank unserer Potenz und ihres Zins bringenden Einsatzes wird unsere Vagilität von keiner anderen Spezies bestritten – wir sind die Kosmopoliten. Doch wo stehen wir heute, nach 55 Jahren bundesrepublikanischer Politiker-Oligarchie? Anstatt uns einer kulturellen und intellektuellen Weiterentwicklung zu erfreuen, klappen selbst die Basics nicht mehr. Nix Fressen, nix Ficken, nix Fernsehen. Na klar, im Sinne des reinen Lebenserhalts ernähren wir uns irgendwie, pimpern einmal erfolgreich zur Zeugung des Stammhalters und regeln den Rest unseres Daseins nicht mit Aspirin, Psychotherapeut und Masturbation, sondern mit der Fernsehdrücke. Das ist das formidable Ergebnis unserer Politiker Wirken. Mehr Spaß ist derzeit nicht drin. Fressen klingt zwar recht vulgär, doch der bezeichnete Akt wird gemeinhin als sehr lustvoll empfunden. Wenn es eben so richtig schmeckt, ohne etepetete. Doch wo bitte soll man mal so richtig völlern, außer bei Muttern? 100 Euro Belohnung für denjenigen, der mir im 7
Verbannung nach Helgoland
Revier eine Pommesbude zeigt, die gleichzeitig Pommes und ein erträgliches Jägerschnitzel machen kann – und dieses seltene Glück dann nicht mit einer Salatmayonnaise zerstört, sondern mit Fritessaus krönt. 1.000 Euro Belohnung für denjenigen, der mir eine Tiefkühlpizza bringt, die annähernd so schmeckt, als sei ein gut gegangener Weizenmehlhefeteig mit Büffelmozarella und Tomaten überbacken worden. Allgemeiner: Gibt es auch nur ein Fertiggericht, das essbar ist? Nicht im Sinne von physiologisch verwertbar, sondern einfach so, dass man gerne reinhauen möchte? Das meiste, was wir aus Dosen oder gefrorenen Pappschachteln hervor holen, müsste unter das Kriegswaffenkontrollgesetz fallen. Die Diskrepanz zwischen lebensmittelgutumhüllendem Werbebild und erhitztem Selbst würde man in anderen Sparten schlicht Betrug nennen. Das Nahrungsmittel-Kartell von Nestlé und Unilever hat unsere Geschmacksknospen soweit stumpf gefoltert, dass sicherheitshalber Katzenfutterdosen mit dem Deckelaufdruck »Tiernahrung« versehen werden. Es gibt keinen »Sahnehering« mehr ohne Süßstoffe, keine nicht-pasteurisierte Milch. Von Flensburg bis Garmisch-Partenkirchen bieten die Supermärkte den gleichen Käse, die gleiche Wurst und die gleichen Zypern-Kartoffeln feil. Das alles fällt kaum auf, da heute ohnehin kein Mädel mehr über die Miracoli-Küchen-Stufe hinauswächst und sich Jungs aus Prinzip in Küchen nur als Chefköche bewegen, womit in der großen Mehrzahl der Single-Haushalte selbst eine RavioliErwärmung zum Desaster wird. »Politik ist die Kunst des Machbaren« – heißt es, aber was ist machbar? Die CDU zum Beispiel lässt sich in ihrem Grundsatzprogramm zur »Verbraucherpolitik« zwar über Kennzeichnungspflichten, private Altersvorsorge, Anlegerschutz, Wohnungsbau und Dosenpfand aus, aber zur Ernährung fällt ihr nicht mehr ein als dieses: »Ernährung, Bewegung und Freizeitgestaltung müssen wieder zu einer gesunden Lebensführung zusammen geführt werden.« Machbar erscheint der christlichen Politik dabei wie 8
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immer das Wort: »Eigenverantwortlich konsumierende Verbraucher müssen sich informieren können.«
Im deutlich älteren Grundsatzprogramm der SPD findet sich – natürlich! – ein Kampfaufruf: »Wir stellen uns den Gefährdungen unserer Zeit. Ohne uns von mächtigen Interessengruppen einschüchtern zu lassen, suchen wir den Dialog mit den Menschen, die sich mit uns an das Umsteuern, Planen und Gestalten heranwagen.«
Fressen kommt leider gar nicht vor, einmal spricht das 60-Seiten-Programm vom Recht auf ausreichende Ernährung, einmal vom Ernährungsmangel in der Dritten Welt. Von einer Reform des Erbseneintopfs keine Spur. Was unsere Politiker dafür können, wenn es mir nicht schmeckt? Alles, natürlich! Sie verbieten zwar in Sorge um unser Wohl, dass Papa mittags im Kindergarten etwas zu essen macht, und sie zwingen die Eltern, ihre Kinder aus solchen somit küchenlosen Kindergärten mittags abzuholen, da eine gute Mahlzeit für Wachstum und Blüte des deutschen Volkes unerlässlich ist. Und doch haben sie mit ihren abertausenden von Gesetzen, mit ihren Richtlinien, ihren kommunalen Bebauungsplänen, Erschließungen und weiß der Kuckuck was allem dafür gesorgt, dass wir unser Mittagessen im Aldi suchen, jenem Tütenund Dosen-Imperium, das durch geniales Marketing vielen als Robin Hood erscheint, der die Volksmassen speist, in Wahrheit jedoch mit den Gründern und Eignern Karl und Theo Albrecht zwei der reichsten Männer dieser Erde geschaffen hat. Es sind nicht die großen, mächtigen Konzerne, die uns nun genmanipulierte Pflanzen und Tiere auf den Herd bringen – zunächst schleichend, aber mit gnadenloser Gewissheit –, es sind unsere pimpfigen Politiker! Dass wir im 21. Jahrhundert zwar Menschen im Orbit kreisen lassen, um die Lottozahlen des nächsten Jahres zu ermitteln oder andere heilbringende Forschung zu treiben, es aber nicht mal mehr möglich ist, ein ordentliches Schnitzel mit ordentlichen Kartoffeln auf den Teller 9
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zu bekommen, haben wir wie fast allen anderen Schlamassel ihnen zu verdanken. Oder glaubt irgendwer, dass beispielsweise unsere heutige Industriefertigung von Schweinen (der eine besamt, der nächste mästet, irgendwo wird geschlachtet, aufgekauft, verteilt – und das alles quer durch Europa) nur das Ergebnis eines freien Marktes sei? Natürlich ist dies das Ergebnis der Politik, die uns ein Bußgeld aufbrummt, wenn der Hund im Sommer im warmen Auto hockt, aber alle Abartigkeiten in der Nutztier-Branche mit unseren Steuern subventioniert. Was Baugrund für Großmärkte und Supermarkt-Ketten kosten, wie weit die immensen Schäden durch LKW-Transporte von uns getragen werden müssen, ob ein Metzger noch selber schlachten darf oder auf den EU-Schlachthof in Pusemuckel angewiesen ist – all das haben unsere Politiker festgelegt, und nur deshalb schmeckt das Mittagessen nicht mehr, zumal wenn man über der Ladeluke auch noch BSE-freies Hirn hat. Was hat man uns für ein perverses Verständnis von Fortschritt eingeprügelt, wenn wir angesichts des Fress-Desasters nicht erkennen, in der kulinarischen Steinzeit angekommen zu sein? Wenn Politiker schon am essenziellsten Thema scheitern – was soll dabei herauskommen, wenn sie sich um Atomwaffensperrverträge, Zentralabitur oder Staatsopern kümmern? Wir können es daher kurz machen beim nächsten »F«: Fernsehen. Auch wenn Forscher wissen, dass wir derzeit täglich 203 Minuten vor der Glotze hängen, wird es niemand als Genuss bezeichnen. Wer in »Vera am Mittag« gerät oder »Oliver Geissen« erträgt, muss sich fragen, auf welcher Seite der Mattscheibe der Zustand psychopathischer ist. Wer sich Dinger wie »Für alle Fälle Stefanie« oder »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« antut, ist – wirklich eine ganz arme Sau. Noch erdulden wir diese. Doch irgendwann werden die Sicherungen knallen. Warum auch dies ein Ergebnis unserer Politiker ist? Sie verbraten allein für das Staatsfernsehen 6,5 Milliarden Euro GEZ-Steuer jährlich! 10
Fressen, Ficken, Fernsehen
Mit ihren Landesrundfunkgesetzen, Jugendschutzgesetzen, Werbezeitbestimmungen, FSK-Pflichten und der üppigen Filmförderung bringen sie nichts Besseres zustande. Und weil keine Politikerleistung zu blöde sein kann, als dass sie anderen Politikern nicht als Vorlage für weitere Geistesblitze dienen könnte, fordern Günter Nooke (CDU) und Jan Dittrich (Vorsi Julis) im Sommer die GEZ-Gebühren zu senken, weil selbst für den ja selten fernsehenden weil ständig fernsendenden Politiker in der warmen Jahreszeit zu viel Schrott von den öffentlich-rechtlichen Anstalten ausstrahlt. Heben wir also den Anspruch ein klein wenig, in dem wir »Sabine Christiansen« nicht für ein Leitmedium, sondern für unerträglich halten (was freilich nicht ihr Verdienst, sondern der ihrer Gäste ist), bleibt auch zu den übrigen Jahreszeiten nichts, was wir nicht schon auf Video mitgeschnitten oder als DVD gekauft hätten. Wenn Fernsehen nur nichts wäre – gut, es bliebe ja noch ein »F«. Doch stattdessen sabotieren unsere Fernsehaufsichtsräte aus der Politik auch noch höchst erfolgreich jeden Spaß am Ficken. Da führen SoapYoungster Dialoge über ihre koitale Hypotrophie, die jedes Wort der zuschauenden Ehepartner überflüssig machen. Da vögeln dermaßen adrette Leidenschaften miteinander so kunstvoll, lüstern & gewaltig, dass unsereiner sich lieber nur noch im Dunkeln umzieht und hofft, der Partner möge tief schlafen oder noch mit seiner Fertigpizza-Verdauung hinreichend beschäftigt sein. Der Trend geht daher ganz klar in der Kohorte des sexuellen Aktivpotenzials hin zum fernsehfreien Haushalt. Fußball wird als psychosoziales Experiment gemeinsam bei Freunden oder – ganz krass – mit wildfremden Menschen in einer Kneipe oder auf dem Marktplatz geschaut – und ansonsten gibt es eben keine digitalen Störbilder – vor der Glotze mit GfK-Messgerät bleibt liegen, wer nicht mehr aufstehen kann. 11
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Doch auch damit kommen die meisten nicht wirklich zum Zuge. Wer eine Steuererklärung vor oder hinter sich hat, braucht keinen Kopulationspartner über oder unter sich, sondern einen Boxsack und ein Kind, das noch mal Bier vonner Bude holt. Da in diesem wahnsinnig reichen Land in immer mehr (der immer weniger) Familien beide Eltern anschaffen müssen, ist es auch mit dem Timing ein echtes Problem. Fressen, Ficken, Fernsehen – liebe Politiker, wenn ihr uns wenigstens das zugestehen würdet, wäre euer Job eventuell noch zu retten. So aber heißt es: Abflug nach Helgoland.
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Das Missverst ändnis
Das Missverständnis – Eine Einführung »Was in Deutschland politisch geschieht, bestimmen aus Wahlen hervorgegangene demokratische Mehrheiten und keine Boulevardzeitungen«, hat Gerhard
Schröder vor kurzem gesagt, als die BILD-Zeitung ihre Leser dazu aufgerufen hatte, Minister aus dem Kabinett zu wählen. Das war einer dieser Momente, da konnte einem ein Licht aufgehen. Nicht, dass es alle noch nicht wüssten, aber zumindest offen ausgesprochen wird es kaum. Das mit dem Missverständnis. Früher war die Welt noch in Ordnung – vor allem klar gegliedert. Es galt das Recht des Stärkeren, Herrscher waren zum Herrschen da, das Volk zum Anherrschen und Ausnehmen. Allenfalls konnten Fürsten, Könige und Kaiser einmal gnädig sein, aber es änderte nichts an der Grundsituation. Dort oben thronte die Macht, hier unten krauchten die Untertanen. Wer diese Weltordnung irgendwie in Frage stellte, verlor den Kopf oder schied anderweitig aus dem irdischen Leben. Das alles soll sich irgendwann geändert haben. Die Griechen versuchten schon vor 2.400 Jahren, Regenten und Regierte quasi nach dem Rotationsprinzip zu wechseln. Bei uns dauerte es bis ins letzte Jahrhundert hinein. Zwar waren sich Deutsche und später sogar Österreicher Ende der 30er Jahre sehr sicher, ihr Führer sei nicht von kleinen fiesen Marsmenschen hier abgesetzt, sondern von ihnen selbst erkoren worden, im Rückblick dominierte dann bekanntlich eine andere Geschichtsschreibung, kurz und prägnant mit »Machtergreifung« auf den diktatorischen Punkt gebracht. Doch danach wurde die Welt anders. Endlich. Die Sache mit dem Beherrschtwerden sollte ein Ende finden, und Deutschland rief – von starken Schutztruppen moderiert – eine Demokratie aus. 13
Verbannung nach Helgoland
Seitdem leben wir mit und die Politiker sehr prächtig von einem Missverständnis: Wir halten Politiker wie eh und je für eine besondere Klasse, auch wenn sie nicht mehr adelig sind. Sie sind für uns die geborenen Herrscher. Wir lachen über sie beim Kabarett oder – zunehmend – beim Comedy-Standup, schmunzeln über die tägliche Karikatur in der Zeitung und können uns abends mit Freunden schon mal in Rage reden über »die da oben«. Aber das war's dann auch. Keine Massenstreiks (von etwas Montags-Demo wg. Hartz mal abgesehen), weil die Politiker unser Land mit ungeheuren Problemen beladen haben. Allenfalls ein paar Rentner-Combos am Brandenburger Tor, die ein lächerliches »Finger weg von unseren Renten« skandieren – und danach brav auf der Zuschauertribüne im Reichstag Platz nehmen. Und die Politiker – jetzt kommt die zweite Seite des Missverständnisses – fühlen sich genau dadurch legitimiert. Sie kommen ja gar nicht mehr mit einem aristokratischen Machtanspruch daher, zumindest nicht in den ersten Jahrzehnten ihres politischen Schaffens – sondern sie halten ihre Dauerherrschaft, ihr Regieren gegen das Volk, für Demokratie! Das Volk habe sie schließlich gewählt, ihnen das Land zu Füßen gelegt und gesagt: Macht euch uns untertan. Überall in der Welt regiert die Macht des Stärkeren: Der stärkere Schüler gibt dem schwächeren auf die Mütze, wer die Macht von Charme und Sexappeal hat, dominiert über hässliche Entlein, reichere bzw. besser kreditierte Firmen schlucken finanzschwächere, die bessere Armee obsiegt über die schlechtere. Nur in der formalen gesellschaftlichen Herrschaft soll es anders sein? Hier soll Stärke schlicht in Mehrheit liegen, ungeachtet ihrer Qualität, ihrer Qualifikation, ihrer Profitabilität? Der erfolgreiche Trick unserer Politiker besteht darin, uns glauben zu machen, das Volk bestimme die Politik in einem Prozess der Mehrheitsbildung mit Minderheitenschutz. Tatsächlich setzt sich aber wie eh und je nur das Recht des Stärkeren durch. Die Bevölkerung im 14
Das Missverst ändnis
Großen und Ganzen nimmt jedoch untertänig gar nicht am Kräftemessen teil und ist der demokratiegläubige Schwächling, während Politiker und andere Funktionäre unter sich den Kuchen – rund eine Billion Euro pro Jahr – aufteilen: Verwaltung, Infrastruktur, Außenbeziehungen, Bildung, Beteiligung, medizinische Versorgung, Renten u.v.a.m. Machtbesitz nur vorzutäuschen und dadurch real Macht zu erlangen ist nichts Neues, jeder Hochstapler macht das so, jedes Inkasso-Büro, ja jeder Krawattenträger. Aber dass einige wenige hundert Männer und Frauen mehr als fünf Jahrzehnte lang 60 bis 80 Millionen Bürgern vorgaukeln, die Mächtigsten zu sein und dadurch die Herrschaft zu haben, das ist ein absolutes evolutorisches Novum. Ihre einzigen MachtInsignien sind die Parteibücher (und die werden die wenigsten von uns je gesehen haben). Politiker zwingen uns, mehr als die Hälfte all unserer »Erträge«, unserer Arbeit, unseres Vermögens, unserer Genialität ihnen an die »öffentliche« Hand zu geben. Wir lassen uns als volljährige Schüler von ihnen zum Besuch auch des bescheuertsten Unterrichts zwingen. Wir nehmen für sie die Waffe in die Hand – oder fahren alternativ Aluschalenfraß spazieren. Wir lassen uns von ihnen sagen, wie viel und wie lange wir zu arbeiten haben, welche Versicherungen wir abschließen müssen und vor wem wir die Hosen fallen zu lassen haben, wie viel Bier in ein Glas gehört und wie teuer ein Brief ist. Wer das alles mehr oder weniger anstandslos befolgt – von ein bisschen Aufstand Ende der 60er Jahre abgesehen gab es in der Bundesrepublik Deutschland noch keinen nennenswerten Widerstand gegen Politikerherrschaft –, der muss schwer davon überzeugt sein, es mit Leuten zu tun zu haben, die stärker sind als man selbst. Und das ist von unserer Seite aus betrachtet das große Missverständnis – und, sollten es einzelne Politiker selbst durchschauen und 15
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nicht einfach im Laufe ihrer Parteikarriere als humanethologisches Grundprinzip verinnerlicht haben, auch der große Coup: Aus unserem auf dem Glauben an die Macht der Politiker fußenden Gehorsam leiten sie eine demokratische Legitimation ihrer realen Herrschaft ab. Und damit werden sie tatsächlich zu den Stärkeren, zu den Dominierenden, zu Herrschenden. Die Überlegung ist ja uralt: Wenn wir einfach relativ geschlossen sagen würden: »Hebt uns hinten rum« – dann wäre es vorbei mit ihrer Macht. Und derzeit könnte man sogar erwarten, sie hätten nichts mehr in der Hinterhand. Keine Armee, die auf uns ballert, keine Bundespolizei, die uns alle einkaserniert, nicht einmal genug Blockwarte, die wenigstens die besonders eifrigen Querdenker von uns dingfest machen helfen. Nein, unsere Politiker sind freilich nicht wirklich stark und mächtig. Sie haben zwar – wie einst die Könige – ihre Verbündeten, ihren Clan – doch deren Macht fußt ja auch auf nichts anderem, als eben diesem Missverständnis. Unsere Politiker treffen Entscheidung über Entscheidung, die wir nicht wollen, und bei denen wir auch im Nachhinein nicht erkennen, wozu sie gut gewesen sein sollen. Die Wiederbewaffnung Deutschlands 1955 war nicht mehrheitsfähig, und doch wurde dafür das Grundgesetz mit der nötigen Zweidrittel-Mehrheit geändert. Von Atomkraft hatten nach dem 26. April 1986 mindestens drei Viertel der Deutschen die Nase voll – und es meilert auch heute nach dem »rot-grünen Atomausstieg« kräftig weiter. Wir wollten den Euro nicht und haben ihn doch bekommen – zumal noch mit diesem dämlichen Namen. Die HartzGesetze hat nie jemand verstanden und daher auch nicht wollen können, aber sie sind da, sinnfrei doch mächtig, und wenn sie nur die Schlagzeilen beherrschen. Es schmerzt schon ein wenig, sich das genau vor Augen zu führen: »die da oben« machen gar nichts, sie sagen nur, was »wir da unten« zu tun haben – und wir tun es dann auch noch. Diese Situation ist in der 16
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Menschheitsgeschichte einmalig. Die Probleme, die es heute zu lösen gilt, sind alle hausgemacht – wie aber auch der Erfolg, der Fortschritt, der zu ihnen geführt hat. Keine Pestepidemie rafft mehr ganze Landstriche dahin, keine schlechte Ernte lässt uns hungern, so gut wie kein Kind stirbt mehr an einer Krankheit. Und doch tanzen wir auf einem rauchenden Vulkan – und haben allenthalben eine Scheiß-Laune deswegen. In den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik Deutschland konnten die Politiker aus dem Vollen schöpfen. Nach Gutdünken schufen sie Kultur, gestalteten die Landschaft, leisteten sich und uns jede Menge Luxus. Was nicht ging, wurde gehend gemacht – denn bekanntlich makes money the world go round, und money besorgten sich Politiker immer ausreichend. !
Der Anteil der Studierenden stieg von 130.000 Anfang der 50er Jahre auf 1,9 Millionen
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Das überörtliche Straßennetz wurde von 127.697 km im Jahr 1951 auf 230.000 km (2002) fast verdoppelt, allein die westdeutschen Autobahnen wuchsen von einst 2.116 km bis kurz vor der Wiedervereinigung auf 8.822 km
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Die Zahl der Staatsbediensteten in Vollzeit expandierte im alten Bundesgebiet (ohne Bundesbahn und Bundespost) von 1,4 Millionen (1950) auf 3,5 Millionen (2000)
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Die Staatsausgaben haben von 26 Milliarden Euro 1955 auf heute 1 Billion um 3.800% zugelegt
Grenzen schien es nicht zu geben, die frühen Warner wurden verspottet und im späteren Rückblick allenfalls milde als Pessimisten ignoriert. 1972 sprach der CLUB OF ROME von den »Grenzen des Wachstums«. Doch 30 Jahre später waren die weltweiten Erdölvorräte nicht ver17
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braucht – zwischenzeitlich waren immer neue Vorkommen entdeckt worden. Den beherrschenden Diskussionen um das »Waldsterben« in den 80er Jahren zum Trotz sehen wir immer noch grün und können recht gut atmen. Die UdSSR ist untergegangen, eine Milliarde Chinesen sind friedlich in Asien geblieben und die afrikanische Migration beschränkt sich bisher fast ausschließlich auf den eigenen Kontinent. Doch allmählich dünkt dem ein oder anderen, dass die vermeintlichen Wohltaten der Vergangenheit eben keine waren, sondern Bestechung. Politiker schufen, was ihnen gefiel und was es ggf. brauchte, um Wahlen zu gewinnen, um Gewerkschaften zu besänftigen, um Wirtschaftsbosse gefügig zu machen. Aber sie entwickelten das Land nicht, obwohl sie gerade nicht auf irgendeine Form von Eigendynamik der Gesellschaft setzten. Das Volk sollte ab und an mal wählen – und sonst tun, was ihm gesagt wird. Arbeiten und Steuern zahlen vor allem, aber auch zur Pockenschutzimpfung gehen, Gartenhecken auf Maß schneiden und beim Demonstrieren das freie Gesicht in die Polizeikamera halten. Über 100.000 Einzelnormen allein auf Bundesebene – ohne Länder und Kommunen! – sind auf diese Weise bis heute entstanden, alle einzeln von Politikern und ihren Leibeigenen fabriziert. Überlegungen, wie man hier gemeinsam leben möchte, was wichtig und was weniger wichtig ist, wie die sprudelnden technischen Innovationen oder das rapide wachsende Wissen sinnstiftend genutzt werden könnten – solche Überlegungen gab es nicht. Schon Oberstufenschüler fragen heute, was das denn für ein Irrsinn mit dem Wirtschaftswachstum sei, ohne welches bei uns nach herrschender Lehre und dominierender öffentlicher Meinung alles den Bach runter geht. Ein Wachstum ohne jedes Ziel, bei dem sogar Naturkatastrophen positiv zu Buche schlagen, ebenso wie Militärausgaben und alle neuen Staatsschulden. Und doch geht es jeden Tag um die eine profane Zahl, ob nun als Zielgröße, Schätzung oder Messwert: um wie viel 18
Das Missverst ändnis
Prozent wächst die deutsche Wirtschaft denn jetzt bitte, bitte wieder ein bisschen? Politiker in unserem System richten ihre Blicke nur auf das Hier und Jetzt. Sie müssen jetzt Lobbyisten befriedigen, Wählerstimmen für sich gewinnen, Macht ausüben. Den Blick in die Zukunft wagen sie nicht, woraus sich zwei fatale Defizite ergeben: a) Es gibt keine Ziele. Ihre Politik muss zu nichts führen, außer den Tag gut zu überstehen. Damit gibt es auch keinerlei Maßstab, an dem Politiker zu messen wären. Wie wollen wir hier in 10 oder 20 Jahren leben? Soll es Städte ohne Autos geben oder sollte besser ganz Deutschland asphaltiert werden? Wie viele Stunden wollen wir täglich zwischen Wohnung und Arbeitsstätte pendeln? Wie soll es mit der »Verteilung« von natürlichen Ressourcen weitergehen? – noch hat schließlich nicht jeder deutsche Haushalt einen eigenen Aufsitzrasenmäher. Wie gehen wir damit um, dass medizinisch fast alles machbar ist, wir es uns aber nie und nimmer für alle werden leisten können? Unsere Politiker sagen dazu nichts. Sie haben dazu keine Idee, und leider ignorieren sie alles, was dazu von anderen artikuliert wird. Stattdessen wird gewurschtelt. Weil man sich irgendwann mal verpflichtet hat, den Kohlendioxid-Ausstoß in der EU bis 2012 gegenüber dem Ausstoß von 1990 um 8% zu senken, wird nun um CO2-Tonnen gefeilscht, ein europäischer Emissionshandel installiert – im Hinblick auf die ursprüngliche Idee von Rio eher eine karnevalistische Parodie. Es gab niemals ein Brainstorming, wie man insgesamt deutlich weniger CO2 in die Luft blasen könnte. Möglichkeiten dafür gibt es fast unendlich viele, aber sie alle verlangen eine Vision, eine Lebensperspektive – und gelegentlich auch die Einsicht eines Politikers, dass andere Menschen schlauer sind. 19
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b) Es gibt keine ehrlichen Prognosen. Was wird kommen, wie gehen wir damit um oder was müssen wir heute ändern, damit es eben anders wird? Wer es wissen will, der weiß, dass Renten und Pensionen einfach nicht mehr zahlbar sind, egal wie sehr man das arbeitende Volk aussaugt. Dass der Staat pleite ist und sich sein heutiges Agieren nur leisten kann, weil er zukünftige Generationen verkauft hat an die Reichen und ihre Geldsackverwalter, die dem Staat eifrig Kredite andienen, weil sie damit noch reicher werden. (In Ihrem »Geschäftsbericht Deutschland AG« beziffern Peer Ederer und Philipp Schuller das »negative Eigenkapital« einschließlich der zukünftigen Verpflichtungen auf 5 Billionen Euro. Das macht pro Nase eine Schuldenlast von 62.000 Euro.) Wer es wissen will, der weiß, dass der Arbeitsbegriff im herkömmlichen Sinne ausgedient hat. Dass weder Hartz-Gesetze noch Ausbildungsplatzabgabe noch sonst irgendein parteipolitischer Aktionismus daran etwas ändern können. Wer auch nur ein wenig im Leben steht, der sieht Horden Heranwachsender ohne jede Perspektive, ungebildet, asozial, ghettoisiert – aber staatlich verwaltet von Sozial- und Jugendamt, Arbeitsagentur, Jugendschöffengericht, JVA und Bewährungshelfer. In allen Innovations-Berufen sind junge Leute maßgebend für die Entwicklung, wenn das Kommando auch mal alte Herren führen. Ob bei der Produktion einer Talkshow oder eines Computerspiels, beim Design eines neuen Autos oder in der Mikrobiologie – bei einem rasanten, nie da gewesenen und Menschen völlig überfordernden Wissenswachstum können die Alten nicht mithalten. Ganz offiziell gelten Arbeitslose ab spätestens 50 Jahren als schwer oder gar nicht mehr vermittelbar. Nur in der Politik dominiert das Gestern und Vorgestern. Unsere Politiker kommen aus grässlich konservativen Strukturen: kein Unternehmen ist heute so antiquiert wie die Parteien. Politiker kommen, wenn sie jemals einen Beruf ausgeübt haben, bevor sie hauptamt20
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lich Parteifunktionäre wurden, aus weltfremden, gerade überhaupt nicht zeitgemäßen und alles andere als fortschrittlichen Branchen, überwiegend aus dem Beamtentum und dem öffentlichen Dienst. Sie leben ein Politikverständnis der 50er Jahre und schleifen den Nachwuchs auf dieses ein. Zwar gehört »Fortschritt« zu ihren Lieblingsvokabeln, doch wenn sie das »Pisa-Debakel« diskutieren, fordern sie gerne, wieder mehr Goethe zu lesen – das habe ihnen schließlich auch gut getan, damals anno tobak. Zunehmend dünkt uns: das kann es wohl nicht sein. Auf dieser Welt lagern Waffen, mit denen die Erde hundertfach vernichtet werden kann – doch unsere Politiker denken weiter in militärischen Bündnissen, stellen sich irgendwem an die Seite und skandieren die »uneingeschränkte Solidarität« mit denen, die ihnen für ihr Vorankommen wichtig erscheinen. Beim Eintritt in den »wohlverdienten Ruhestand« hat heute ein Rentner noch mehr als 18 Jahre Leben vor sich. Als die Rente erfunden wurde, war er zu diesem Zeitpunkt bereits seit einigen Jahren tot – im Mittel. Und doch gibt es nicht den Ansatz von Überlegungen zu einem neuen System. Dass mit Politikern des Typs »Deutscher Parteisoldat« kein Staat zu machen ist, ist keine neue Erkenntnis. Wer ein wenig durch die Demokratiegeschichte schlendert, findet von Anfang an Warnungen vor dem, was wir immer noch haben: eine volksherrschaftlich angemalte Oligarchie. Schon Goethe schrieb seinem Kollegen Schiller: »Die Fratze des Parteigeistes ist mir mehr zuwider als irgendeine andere Karikatur.« 1902 forderte Moisei Ostrogorski die Abschaffung der Parteien. Ihre Funktionen seien auf zeitlich begrenzte Vereinigungen mit eindeutigem Zweck zu übertragen. Richard von Weizsäcker meinte 1992: »Nach meiner Überzeugung ist unser Parteienstaat von beidem zugleich geprägt, nämlich machtversessen auf den Wahlsieg und machtvergessen bei der Wahrnehmung der inhaltlichen und konzeptionellen politischen Führungsaufgabe.« Im selben Jahr analysierte Peter Glotz – der ja eigentlich alles analysiert, was gefragt ist: »Das Problem liegt 21
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in der Ausweglosigkeit der Willensbildung des Volkes jenseits von Wahlterminen. Repräsentative Demokratie in der radikalen Fassung des von einer bestimmten Interpretation des Weimarer Zusammenbruchs beeinflussten Bonner Grundgesetzes heißt: Wähle deine Partei. Was die dann tut, hast du zu akzeptieren. Deine nächste Chance kommt in vier oder fünf Jahren.«
Unser Politiksystem, also die Art und Weise, wie über unser Zusammenleben und die Entwicklung unserer Gesellschaft entschieden wird, weist gravierende Mängel auf. Auch das ist keine neue Entdeckung, nur werden die Folgen allmählich richtig unangenehm. Können Parteipolitiker, deren gesamte persönliche, gesellschaftliche und finanzielle Sozialisation in einem sehr kleinen, simpel gestrickten System mit vier Parteien als Akteuren stattfindet, überhaupt andere als ihre eigenen Probleme meistern – guten Willen vorausgesetzt? a) Politiker werden als Vertreter ihrer Partei wahrgenommen, weniger als Individuen. Zumindest müssen sie dafür sorgen. Denn anders ist keine Karriere zu machen. Als Wähler können wir zunächst nur über die relative Zusammensetzung der Parlamente bestimmen, nicht über ihre absolute. Die Entscheidung, wer dort tatsächlich tätig werden darf, treffen die Parteien höchst selbst. Sie legen die Kandidatenlisten fest, nach denen Parteimitglieder Abgeordnete werden. Sie bestimmen, wer auf alle Fälle ins Parlament kommt (sofern die Partei denn wenigstens einen Sitz erhält) und wer auf einem so genannten »aussichtslosen Listenplatz« noch mit sich persönlich für die Partei werben darf, ohne dass er überhaupt ins Parlament gelangen kann. b) Demnach sind Politiker vor allem ihrer Partei verpflichtet. Sie müssen intern um eine gute Position kämpfen, nicht wirklich bei uns werben. Wer da nicht spurt, fliegt raus. Prominente Beispiele gibt es viele, bspw. den Grünen Oswald Metzger, den sein baden-württembergischer Landesverband 2002 erfolgreich auf 22
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den unsicheren Listenplatz 8 verbannte (und der gleichwohl beim nächsten Mal wieder in den Bundestag möchte, obwohl seine Kritik an den Politikern zunehmend schärfer wird). Dass in der Volksvertretung die Besten sitzen, bestreitet er heftig, die Versorgung der Abgeordneten hält er für eine »ungeheuerliche Obszönität«. Metzger: »Auch Grüne werden zu Hyänen, wenn es um Macht und Pfründe geht.«
Zu welchen Verdrehungen das führen muss, ist klar. Welchen Parteigehorsam, welchen Gleichmut politischen Positionen gegenüber es verlangt, auch. Und so dient denn das meiste, was Politiker von sich geben, allein der internen Kommunikation. Wenn Friedrich Merz in einem Interview sagt: »Wenn wir es nicht schaffen, wenigstens die Krankenversicherung vom Arbeitsverhältnis zu lösen, sind wir es nicht wert gewählt zu werden«, dann können das zwar Hunderttausend in der Zeitung lesen oder zwangsweise als Kurzmeldung mehrere Millionen im Radio oder Fernsehen hören, doch bestimmt ist es für gerade mal ein Dutzend einflussreicher CDUPolitiker, für deren Bewertung natürlich sehr entscheidend ist, über welches Medium Merz etwas sagt – und nicht, was er zu sagen hat – das können sie sich denken, ja das denken sie ihm bei entsprechender Parteiposition geradezu vor.
Wenn jemand Minister werden will, dann muss er dem Bundeskanzler oder Ministerpräsidenten gefallen, denn er allein entscheidet über sein Kabinett. Ja selbst, welche Parteien schließlich eine Regierung bilden und damit, nach unserem verfassungsgerichtlich als notwendig geadelten Fraktionszwang, auch die Parlamentsmehrheit, entscheiden die Parteien. An jedem, wirklich jedem Wahlabend quillt die selbe Arroganz aus dem Fernseher: »Es ist jetzt nicht die Zeit für öffentliche Spekulationen über Koalitionen, das entscheiden nun die Parteigremien und dann wird man verhan23
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deln« und der doofe Wahlbürger wird schon rechtzeitig erfahren,
was er da wieder angerichtet hat. c) Ist unser Einfluss auch geradezu minimalistisch, so bleiben die Wahlen doch das karriereentscheidende Ereignis für Politiker. Wir entscheiden zwar nicht, welche Personen uns regieren sollen, wir legen aber wenigstens in etwa fest, welche Partei Herrscher stellen darf. Auf Listenplatz eins zu stehen ist zwar schön, aber mehr Geld als für Platz 200 gibt es dafür nicht. Wohl aber gibt es eine fein justierte Hierarchie innerhalb der Parteien, bei der selbstverständlich auch die Listenplatzierung eine Rolle spielt – wir können dazu allerdings nichts beitragen. Im Entscheidungsergebnis aber ist ohnehin nur relevant, wer zur kleineren Gruppe der Opposition und wer zur größeren der Regierung gehört. Folgerichtig prostituieren sich Politiker. Und wenn sie schon keine Dienstleistungen anzubieten haben, weil sie in der Opposition sind und »wechselnde Mehrheiten« als pfui gelten, wir also anhand der Sitzverteilung locker für vier Jahre im voraus wissen, wie Entscheidungen aussehen werden, bleibt den Verschmähten nur zu zeigen, dass es mit ihnen viel schöner gewesen wäre – was bei der nächsten Wahl ja zu korrigieren ist. Nichts wäre da dümmer, als der Regierungskoalition – oder gar noch der Opposition – in irgendetwas beizupflichten, eine Idee als richtig anzuerkennen und für ihre Umsetzung zu sorgen. Man wird also alles tun, um den »politischen Gegner« gerade nicht zu unterstützten, jedes seiner Vorhaben zu zerreden, zu kritisieren. Will Rot-Grün eine neue Steuer auf »Alcopops« einführen, um die Jugend vor dem Alkoholismus zu bewahren, ist die Union dagegen – in diesem Fall, weil ihr der vorgelegte Gesetzentwurf nicht weit genug geht. Bei allem, was wirklich wichtig ist, können wir dies beobachten: Einwanderung, Atomkraft, Krieg irgendwo – 24
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man wird sich nie einigen. Das gehört zu den verheerenden Spielregeln. Politiker behaupten gerne das Gegenteil – und verweisen auf die vielen Gesetze, die sie übergreifend zustande gebracht haben wollen. Schauen Sie sich diese Gesetze an – es geht entweder um die Umsetzung von EU-Recht, worauf das Parlament eh keinen Einfluss hat, heißt: das entsprechende Gesetz muss beschlossen werden (und dieser Bereich macht bereits mit Richtlinien und Rahmengesetzgebung 80% der Parlamentsentscheidungen aus) – oder es geht um die eigenen Pfründe, um Diäten, um Parteienfinanzierung, um Macht, um Unantastbarkeit – da ist man sich selbstredend einig. Allenfalls stimmt man im Bundestag noch als Interessenvertreter der in einzelnen Bundesländern regierenden eigenen Partei dem politischen Gegner mal zu. Wenn der Bund mehr Geld an die Länder verteilen will, ja in Herrgottsnamen, da kann man dann nicht dagegen sein, wenigstens bei der finalen Abstimmung. Politikern liegt also nichts ferner, als Probleme zu lösen, an Sachthemen zu arbeiten. Ihre Profession ist das Palaver. So formulierte Gerhard Schröder in einer Broschüre seiner Regierung unter dem Titel »Perspektiven für Deutschland – unsere Strategie für eine Nachhaltige Entwicklung« (»Nachhaltig« ist tatsächlich durchgängig großgeschrieben, quasi als kreative Namens-Erfindung) im Juli 2002: »Über den Tag hinaus brauchen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft eine langfristige Orientierung, in welche Richtung sich unser Land entwickeln soll. Das Leitbild der Nachhaltigen Entwicklung ist der rote Faden für den Weg in das 21. Jahrhundert. Die Lebenschancen der heutigen und der zukünftigen Generationen zu erhalten, bildet den Kern des Leitbildes.« Unter der Kapitelüberschrift »Wie wollen wir morgen leben?«
stehen in einer Aufzählung Hammer-Sätze wie: 25
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»Natürliche Lebensgrundlagen werden erhalten.« »Familie und Beruf sind besser vereinbar.« »Unternehmen und Verbraucher tragen Verantwortung für die Produktion und Auswahl der Produkte.«
Und so konkret geht es weiter. »Im Verkehr müssen neue Wege der Effizienzsteigerung gefunden werden.« Es folgt wenig später ein Schaubild zum »Anteil des Schienenverkehrs an der Güterverkehrsleistung«, mit vier Säulen: 1991: 21,0%, 1995: 16,6%, 2000 (und hier sind wir wohl schon in rotgrünen Regierungszeiten): 15,5%, 2015: 25,0%. Wie dieser gewaltige Anstieg geschafft werden soll – kein Wort. Es ist ja auch noch lange hin – eine halbe Generation. 2015 wird niemand mehr fragen, was eine längst vergessene Regierung in irgendeine Broschüre, die sie flächen-decken über das Land verteilen ließ, geschrieben hat. Nicht nur, dass wir nicht über die Politik in unserem Land entscheiden – wir wissen vielfach nicht einmal im Nachhinein, was unsere Politiker entschieden haben. Wussten Sie, dass !
alle Ausländer in Deutschland in einem Zentralregister gespeichert werden,
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ein Seemann, der auf einem Schiff, das die deutsche Flagge hissen darf, irgendwo auf der Welt schippert, eine Aufenthaltsgenehmigung braucht, so er nicht Deutscher im Sinne des Art. 116 Grundgesetz ist,
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in der Bundesliga kickende brasilianische Fußballweltmeister sich nicht nur pflichtgemäß und regelmäßig bei der Ausländerbehörde um die Ecke zu melden hätten, sondern auch »der für die Sportart zuständige deutsche Spitzenverband im Einvernehmen mit dem Deutschen Sportbund ihre sportliche Qualifikation als Berufssportler« beglaubigen müsste?
Politiker hätten heute vor allem zwei Möglichkeiten, ernsthafte Politik zu machen: 26
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a) Sie könnten Vermittler in einem »gesellschaftlichen Dialog« sein. Darin spielen die Parteien keine Rolle – mit insgesamt 1,6 Millionen Mitgliedern und gerade mal 150.000 Aktiven sind sie völlig irrelevant. Politiker müssten »die Fakten auf den Tisch legen«, verschiedene Lösungsmöglichkeiten, die sie sich gar nicht selbst auszudenken brauchen, vorschlagen und so einen echten Meinungsbildungsprozess managen. b) Sie könnten mit klaren Positionen zur Wahl antreten und danach vier Jahre lang arbeiten, wie sie es versprochen haben – bis wir abrechnen. In dieser Arbeitsphase muss uns längst nicht alles gefallen, was sie tun und entscheiden, so es denn vom Ziel her dem entspricht, was sie auf ihre Wahletiketten geschrieben haben. Aber nach vier Jahren sagen wir, ob uns das so passt oder ob wir uns doch etwas anderes vorgestellt haben. Dazu bräuchte es keinerlei Veränderung, kein direktdemokratisches Element, kein neues Gesetz. Doch beides geschieht nicht. Wirklich spannende Fragen werden von Politikern nur intern verhandelt, was regelmäßig darin gipfelt, bestimmte Themen komplett aus dem Wahlkampf herauszuhalten. Aber auch »Wahlversprechen«, für deren Umsetzung die Gewählten von uns schließlich mandatiert worden sind, werden keineswegs in konkrete Politik umgesetzt. So schrieb die SPD in ihr Wahlprogramm 2002: »Aus der Generation der 55-Jährigen und älteren stehen nur 39% aktiv im Erwerbsleben. Das tatsächliche Renteneintrittsalter muss mittelfristig über die heute durchschnittlich gut 59 Jahre wieder in Richtung der gesetzlichen Altersgrenze verändert werden. Die Erfahrungen und das Können dieser Generation sind unverzichtbar.« Das ist natürlich schon super-schwammig, und die Begründung mit dem Knowhow der Alten ist Euphemismus: die Berufstätigen haben einfach keine Lust mehr, mit ihrer Arbeit anderen ein faules Leben zu finanzieren. Warum aber bezahlen wir allein für vorzeitige Altersrenten und Erwerbsminderungsrenten (also 27
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Renten vor 65) knapp 45 Milliarden Euro ohne Frühpensionen und Altersarbeitslosigkeitsalimentierung? Warum schickt die Regierung bzw. das ihr mehrheitlich hörige Parlament Unteroffiziere immer noch mit 53 und Jetpiloten der Bundeswehr sogar mit 41 Jahren in den gut betuchten Ruhestand? Die ewige Begründung hierfür lautet: weil Politiker Lobby- = Wählergruppen zufrieden stellen wollen. Das mag sein, weil für Politiker vorrangig die Bürger sichtbar sind, die sich über Lobbyvertreter an sie wenden – so wie der Chef einer Lokalzeitung als Leser auch zunächst nur das Dutzend Leserbriefschreiber wahrnimmt. Logisch ist es gleichwohl nicht, und zielführend schon gar nicht. Anstatt uns von Wahl zu Wahl vertrösten zu lassen, sollten wir einfach mal empirisch arbeiten, uns die Vergangenheit ansehen – um daraus Schlüsse zu ziehen. Denn unsere Politiker haben uns in ein Desaster manövriert. Ein paar Spotlights:
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In Kürze haben wir mehr Wahlberechtigte, die von Umverteilung leben, als Wahlberechtigte, die für diese Umverteilung das nötige Kleingeld aufbringen. Damit verabschieden wir uns endgültig von der Demokratie, weil ihr konstituierender Gleichheitsgrundsatz immer nur die Absicht hatte, auch die »Schwächeren« zu integrieren. Wenn wir nicht ganz schnell massiv etwas ändern, steht das gesamte System Kopf: dann diktieren Studenten, Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger, Rentner und Pensionäre allein, was der wirtschaftlich tätige Rest der Bevölkerung für sie zu tun hat.
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Wir sind finanziell am Ende. Dass allenthalben noch Autobahnen gebaut werden, Opern aufspielen, Förderpreise vergeben oder Blumenkübel monatlich neu bepflanzt werden, kann darüber nicht hinwegtäuschen. Eine vierköpfige Familie müsste im Moment 67.000 Euro auf den Tisch legen, um sich von ihren anteiligen Staatsschulden zu befreien. Natürlich geht das nicht. Woher soll-
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ten Sozialhilfeempfänger das Geld nehmen, wie sollte ein Auszubildender seine 16.750 Euro aufbringen? Aber die Zahlungspflicht besteht, und dank Zinseszins wachsen die Schulden, selbst wenn der Staat ab heute keine neuen Kredite aufnehmen würde – von völlig ungedeckten Zahlungsverpflichtungen einmal abgesehen: allein die Versorgungsansprüche der ehemaligen Postbeamten belaufen sich auf eine halbe Billion Euro, für die keinerlei Rücklagen existieren. !
Es gibt bisher nicht im Ansatz ein Konzept, wie damit umgegangen werden könnte, dass die klassische Erwerbsarbeit ausgedient hat. Alle Berechnungen zu Krankenversicherungsbeiträgen, Steuern oder Rentenzahlungen sind Nonsens. Arbeitskräfte werden so gut wie nicht mehr gebraucht. Wir haben uns einst von der Selbstversorgung zugunsten einer Spezialisierung, einer Arbeitsteilung verabschiedet. Von diesen Spezialisten aber braucht es bald so gut wie keinen mehr. Bahnen fahren ohne Fahrer, den Fahrkartenverkauf übernimmt der Automat, Selbstbedienung zieht sich inzwischen bis in die Bäckerei durch, der Friseur ist günstiger, wenn wir selber föhnen. Dieser unendliche Fortschritt, nicht mehr arbeiten zu müssen, kann unseren Untergang bedeuten, weil Politiker und ihre Lobbykollegen von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden nicht einmal im Traum darüber nachdenken – denn jedes Denkergebnis würde ihre Existenz gefährden.
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Unsere Politiker lassen inzwischen jede Banküberweisung, jede E-Mail, jeden Furz kontrollieren, um uns vor Kriminalität zu schützen. Bald dürfen wir nackt vor dem beamteten Personalausweislichtbildfotografen tanzen, seinem Kollegen ins Reagenzglas wichsen und unsere Iris biometrisch vermessen lassen – damit der Terror erfolgreich bekämpft werden kann. Wer aber tatsächlich Terror machen will, der wird sich von alledem nicht aufhalten lassen, wird einige völlig unkontrollierte Schulbusse in 29
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die Luft sprengen, Trinkwasser vergiften oder Angela Merkel klonen. Diese Gefahr wächst real von Tag zu Tag, weil es genügend Menschen auf der Welt gibt, die mit ihrem Leben noch viel unzufriedener sind als wir – und die einfach nichts zu verlieren haben. Politiker aber machen das, was sie eben schon immer gemacht haben: sich als die Stärkeren fühlen. Also mehr Bundesgrenzschutz, strengere Polizeikontrollen, weniger Visa. Wie naiv unsere Politiker wirklich sind, zeigte sich freilich nach dem 11. September 2001. So viel glaubhaftes Entsetzen, so viel Verwunderung darüber, dass es möglich ist, mit genügend krimineller Energie und gerade mal zwei Dutzend Mitstreitern die stärkste Nation der Erde in die Knie zu zwingen – das muss einem doch die Augen öffnen. Was sich mit diesen Anschlägen gezeigt hat, ist nicht, zu was Terroristen fähig sind – lieber Himmel, da gibt es genügend fürchterliche Beispiele und meine Fantasie zaubert gleich noch ein paar Massaker dazu –, sondern wie wirklichkeitsblind Politiker durch die Welt eiern. Zwar gab es bereits im zweiten Weltkrieg Kamikaze-Flieger, die Briten wollten explosive Brieftauben abrichten und die Amerikaner beluden u.a. Delfine mit Sprengladungen – nur dass Terroristen einfach Flugzeuge klauen und diese als Bomben einsetzen, das war für Politiker weltweit nicht vorstellbar. Wie sollte man dann im Nachgang von ihnen vernünftige Entscheidungen erwarten, ein Nachdenken über Ursachen und Wirkungen, über Alternativen? »Mit Terroristen verhandeln wir nicht« heißt es aus unseren Head Quarters. Na dann, rette sich wer kann. !
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»Umweltschutz« ist schon lange kein Thema mehr, von Trittin hat man seit seiner Dosenpfand-Schmierseifenoper nichts mehr gehört und es ist wieder schick, die »wirtschaftlichen Interessen« voranzustellen. Wenn uns auch nur eines der 18 derzeit noch laufenden Atomkraftwerke um die Ohren fliegt, ist es schlicht und ergreifend vorbei mit dem »Wirtschaftsstandort Deutschland«. Die
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tatsächlichen Auswirkungen des menschlichen Ausstoßes von 7 Milliarden Tonnen Kohlendioxid pro Jahr werden wir erst in 30 Jahren spüren. Dass wir heute noch leben, ist für die unter 60-Jährigen da keine Beruhigung. Metalle kommen auf der Erde nur sehr begrenzt vor. Und doch sorgt gerade ein angeblich der Nachhaltigkeit dienendes Kreislaufwirtschaftgesetz dafür, dass Rohstoffe nicht genutzt werden, weil die Verwertungsquoten erfüllt sind. Von unserem Hausmüll werden nur 9% verwertet. Nachfolgende Generationen können ja Katasterkarten studieren und unseren Müll wieder ausbuddeln, wenn sie Rohstoffe brauchen. !
Inzwischen sitzt statistisch gesehen in jeder Schulklasse ein in diesem Jahr tatverdächtiges Kind oder ein tatverdächtiger Jugendlicher. Die Politik sinniert über härtere Strafen, Herabsetzung der Strafmündigkeit, Streichung des Kindergelds für Eltern von Schulschwänzern. Aber nicht ein Neuronenfunke, warum das wohl so ist, keine Selbstkritik, was Jugendliche wohl so anödet an dieser Welt, keine kreative Suche nach irgendwelchen Veränderungen. Stattdessen: Kürzung der Mittel für Jugendarbeit in allen Ländern und im Bund, Ausweitung der ach so sinngebenden Schule auf den Nachmittag, berufsvorbereitende Maßnahmen für Jungs und Mädels, die einfach mal was schaffen wollen.
Politiker sind nicht im Mindesten geeignet, die von ihnen geschaffenen Probleme zu lösen. Die Welt ist heute tatsächlich zu komplex, als dass Paragraphenreiter sie durchschauen könnten. Jede Entscheidung heute hat eine Tragweite, die deutlich über das Karrierekalkül eines Parteisoldaten hinausreicht. Früher war das eher undramatisch – deshalb gibt es uns noch. Heute aber beschließen Politiker, wie mit Genen herumgepfuscht werden darf, weil sie das für die Wirtschaft und vor allem für das internationale Renommee wichtig finden – solange 31
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holländische Schlangengurken keine deutschen Touris verspeisen, dünkt ihnen dabei nichts Böses. Es liegt in der Natur dieses Systems, dass kurz vorm Kollaps noch alles in bester Ordnung erscheint. Familie Meyer hat brav Hundesteuer gezahlt, der Falschparker am Sportplatz wurde abgeschleppt, in bayrischen Schulen steht man auf wenn der Lehrer kommt und in der ersten Stunde wird fromm gebetet, das private Josefs-Hospital versteuert korrekt seine Gewinne aus Verkehrsunfallflickerei, 62.600 Strafgefangene sitzen sicher im Knast, Deutschland engagiert sich für die Rettung der Milchstraße am Hindukusch. Das alles wäre völlig normal, glaubten wir noch wie vor wenigen hundert Jahren an den baldigen, gottgewollten Weltuntergang. Dann sollten wir kräftig Party machen, die Sau rauslassen, es richtig krachen lassen und die Weltzerstörung als großes Happening für 2010 vereinbaren. Bis dahin kommen wir locker-flockig durch. Wer das aber nicht will, wer heute Luftnot bekommt, wenn er über seiner Steuererklärung brütet, wer sich auch den Last-Minute-Urlaub auf Mallorca nicht leisten kann und stattdessen im ZDF paradiesische Strände beguckt, wer sich seine statistische Lebenserwartung anschaut und meint, da müsse mehr sein als irgendwann nur noch auf dem Balkon zu grillen, wer Enkel hat und ihnen zum Geburtstag aufrichtig »alles Gute« wünschen möchte, wer Angst davor hat, als körperlicher Til Schweiger aber geistiger Harald Juhnke auf Pflegestufe 3 verwaltet zu werden, der oder die wird kapiert haben, dass unsere Politiker nicht die richtige Adresse sind, wenn es um mehr als das bloße Überleben des nächsten Tages geht. Vielleicht war es okay, in den letzten Jahrzehnten wie schon zuvor aufs eigene Denken zu verzichten – müßig, das im Nachhinein zu erörtern – es ist eben so gelaufen. 32
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Aber für ein Leben in Zufriedenheit reicht das heute definitiv nicht mehr. Es könnte nicht alles noch viel schlimmer sein, es wird alles noch viel schlimmer kommen, wenn wir uns nicht aus dem Trott befreien, alle vier Jahre Zukunftslotto ohne Jackpot zu spielen. Denn das, was uns da geboten wird, das, was uns erwartet, ist aus freien Stücken nicht wählbar. Verabschieden wir uns endlich davon, dass im Sozialismus alles noch schlimmer kommt, davon, dass wir ja »rüber gehen« können (wohin heute eigentlich noch? zumal, wenn andere Länder Ausländergesetze haben wie Deutschland?), davon, dass wir doch in so vielem die Nummer eins sind in der Welt, und sei es beim Benzinpreis. Wir sollten uns wirklich nicht weiter der Illusion hingeben, Politiker könnten noch irgendwas positiv reißen. !
Bürokratieabbau wird in jedem Wahlprogramm versprochen. Altkanzler Helmut Schmidt sagte dazu in einem SZ-Interview: »Zu den Aufgaben jedes Kanzlers zählt nunmehr der Abbau der Bürokratie. Doch wird ihm das leider misslingen.« Wenn Politiker nicht einmal von ihnen
geschaffene Regelungen zurücknehmen können – was um alles in der Welt sollen sie dann auf die Reihe bekommen? !
An der Arbeitslosigkeit hat sich weder in der langen Unions-Ära noch anschließend unter SPD-Führung etwas geändert.
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Mit der Kriminalität wird es immer schlimmer – trotz immer schärferer Gesetze, einem unglaublichen Polizeiapparat und dem öffentlichen Nachdenken über ein bisschen erlaubte Staatsfolter. (Natürlich ist das mit der wachsenden Kriminalität ein Märchen, aber es ändert nichts daran, dass sich unsere Nachbarn durch diese politisch missbrauchten Horrorszenarien subjektiv bedroht fühlen, es also auch ohne Kriminelle immer krimineller wird.) 33
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Der unglaubliche Fortschritt in diesem unserem Land hat dazu geführt, dass man seinen dämlichen Gegenüber nicht mal einen dummen Hund nennen kann, ohne mit einem Beleidigungsprozess überzogen zu werden, bei dem, bitte sehr, nicht etwa der Depp von Gegenüber zivil klagt, sondern ein Staatsanwalt Recht und Ordnung für dieses Volk vertritt.
Kurz und gut, mit unseren Politikern ist kein Staat zu machen. Es gibt nicht mehr den Funken Resthoffnung, dass sie irgendetwas Gemeinnütziges im Schilde führten. Sie lassen ihren Machtgenen auf hoch luxuriösem Niveau freie Entfaltung und wir alimentieren sie dafür. Wir lassen uns von ihnen aber nicht nur finanziell ausnehmen – das wäre verschmerzbar – wir lassen uns von ihnen um unsere Lebensfreude bringen. Da hört nun wahrlich jeder Spaß auf. Die allermeisten Menschen hier sind unzufrieden, allenfalls noch gleichgültig, weil sie es nie anders erlebt haben und ihnen die Vision fehlt, wie eine Gesellschaft auch noch funktionieren könnte. !
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Kein Schüler hat Bock auf Schule. Wie auch? Er muss den größten Teil des Tages irgendwelchen sinnentleerten Stoff lernen oder bearbeiten, angeleitet von Menschen, die nie aus der Schule rausgekommen sind und die ihnen folglich genau null Gründe nennen können, warum man das alles machen soll. Derweil droht die Politik, dieses Erfolgsmodell auch noch auf den Rest des Tages auszudehnen. Azubis, Arbeiter und Angestellte werden täglich damit konfrontiert, dass eine »öffentliche Meinung« in der Berufstätigkeit das Heil sieht, Selbstverwirklichung und »eine Aufgabe«. Nur kann das ein großer Teil der 27 Millionen Angestellten nicht sehen: acht Stunden am Tag Beitragsbescheide zu versenden, Datenbanken zu füttern, telefonisch zahlungssäumige Kunden zu mahnen oder
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Platinen zu löten ist eben einfach scheiße. Dumm dran, wer sich das eingesteht. !
Als Rentner endlich sollte man im irdischen Paradies angekommen sein. 24 Stunden am Tag nur tun, wozu man Lust hat. Das ist aber in Marzahn, Klein Berßen oder Niederwürschnitz nicht so wahnsinnig viel. Dreieinhalb Stunden sieht der Rentner am Tag fern, im Durchschnitt. Wie wenig Vergnügen das bereitet, hatten wir ja schon.
Wer das ändern will, kann nicht über Köpfe reden. Die Regierungswechsel der letzten Jahre haben unbestritten nichts gebracht und die unangenehmsten Politiker-Gesellen halten sich am hartnäckigsten auf den Titelseiten der Zeitungen. Mit Lafontaine, Scharping oder Engholm wäre es keinen Deut besser gekommen als nun mit Schröder. Und Merkel, die uns – Sarkasmus der Demokratie als Volksherrschaft – unweigerlich in Kürze als deutsche Frontfrau droht, wird ebenso wenig eine Kanzlerin der Herzen werden. Curt Goetz hatte dazu schon vor einem halben Jahrhundert eine treffliche Idee: »Wie wäre es, alle Politiker in einen zoologischen Garten zu stecken und aus dem Eintrittsgeld die Welt zu sanieren?«
Tja, wie wäre das, wenn wir einfach nicht mehr nur zuschauen würden, wie uns Politiker tagtäglich auf die Nerven gehen mit dem, was sie tun und vor allem dem, was sie schon längst getan haben; wenn wir stattdessen mal selbst eine »Agenda« schmiedeten, uns darauf verständigten, was ansteht, was zu tun ist, wo wir hin wollen. Denn das ist der Luxus, den wir tatsächlich noch hätten, er liegt nur seit langem im Giftschrank: Wir kämpfen noch nicht wieder ums Überleben, wie unsere Ur-Vorfahren. Nichts steht an, was sofort getan werden müsste, alles hat noch ein paar Tage Zeit. Diese beruhigende Gewissheit dürfen wir aus dem politischen Geplänkel durchaus ziehen: da wird heute über den Ladenschluss, gestern über den Terrorismus, vorgestern über »organi35
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sierte Kriminalität« verhandelt, als drohe eine independence-day-mäßige Invasion Außerirdischer, es tut sich politisch nichts Grundlegendes und doch dreht sich die Welt weiter. Und eine zweite Gewissheit dürfen wir haben: Es gibt tatsächlich viel zu tun, um aus unserem einen Leben gemeinschaftlich etwas Vernünftiges zu machen, aber wenn wir es nicht selbst tun, tut es niemand. Politiker jedenfalls werden den Teufel tun, Probleme zu lösen, die sie überhaupt erst geschaffen haben und die quasi ihre Lebensgrundlage bilden. Zugegeben, es erfordert ein wenig Gedankenfreiheit. Denn das ist das eigentlich Erschreckende in der Bundesrepublik Deutschland: von extremen Spinnern abgesehen denkt niemand laut über ein Leben ohne Politiker nach, genauer: ohne Parteipolitiker eines Typs Müntefering oder Westerwelle. Es wird so getan, als sei unsere Parteiendemokratie eine göttliche Fügung oder wenigstens eine naturgesetzliche Entdeckung wie die Relativitätstheorie, völlig unumstößlich, wenn sie auch kaum jemand versteht und die wenigen Berufenen so ihre Zweifel haben. Jeder Gedankenansatz, vielleicht mal von einem Studenten geäußert, von einer pubertierenden Tochter oder einem PerformanceKünstler, wird heute mit Verweis auf den gescheiterten Sozialismus zertrümmert. Wie jedes reflexartige Verhalten ist auch dieses sehr einfach zu verstehen: die meisten Menschen haben unbegründet Angst vor dem Neuen, vor dem Ungewissen, weshalb sie dann auch sagen: »Ich lebe gerne hier«. Wie man in der Suchttherapie weiß: da ist jemand noch nicht tief genug gefallen, um zur Einsicht der Bremer Stadtmusikanten zu gelangen. Die anderen haben sehr begründete Angst, bei einer Veränderung die Privilegien zu verlieren, die ihnen unser Politiksystem bietet. Dieser Partizipientenkreis ist kontinuierlich gewachsen – in manchen Berei36
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chen spricht man von »Machtkartellen«, in manchen auch deftig von Korruption, für die meisten und systemtragenden Bereiche genügt die Volksweisheit »Eine Hand wäscht die andere«. Aber es wird natürlich immer das Privileg weniger sein, von der Politik privilegiert zu sein – ja, ein etwas banales Wortspiel, aber doch sehr elementar: Alles Gefasel von der »sozialen Gerechtigkeit« darf nie in Gerechtigkeit münden, sonst wären Politiker arbeits- und machtlos. Es gibt unzählige Möglichkeiten, wie wir uns organisieren können. Die bundesrepublikanische Demokratie ist dabei eine Möglichkeit, aber anders als nach Lesart der Herrschenden, bei allem was recht ist, nicht die beste. Dazu brauchen wir kein verquarztes Churchill-Zitat bemühen: Wie vermessen, wie geradezu kapitulativ mutet es an, eine ratzfatz gestrickte Staatsform für das einzig Richtige, Wahre und Schöne zu halten? Tatsächlich gab es in der 55-jährigen Geschichte des Grundgesetzes keine demokratischen Innovationen. Selbst der Vereinigungs-Diskutier-Eifer hat nichts beitragen können, wenn wir auch seitdem niemanden mehr wegen seiner Behinderung diskriminieren dürfen (wohingegen es ein allgemeines Diskriminierungsverbot nicht gibt!). Wenn das, was wir haben, schon das Beste sein soll – wozu braucht es dann noch Politiker? Wir haben Volkssouveränität, eine Demokratie, einen Sozialstaat, eine soziale Marktwirtschaft, Gewaltenteilung – was will man mehr? Himmel, verdammt, das ist bedrucktes Papier und inzwischen eine gehörige Portion an Bytes. Aber es ist doch hoffentlich nicht das Ende unserer Intelligenz. Bemühen wir sie also. Und zwar nicht um der Rettung des Planeten willen, sondern aus blankem Eigennutz. Weil wir zwar automatische Rasensprenger haben und Body-Building-Studios an jeder Ecke, unsere Steuererklärung inzwischen elektronisch verfassen können und uns das Bundesverfassungsgericht die Hälfte unseres Vermögens zugesprochen hat (immerhin), wir damit jedoch weder die von uns ausgebeuteten 37
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Habenichtse vor den Toren Europas halten noch zufrieden im Garten unseres Wohnblocks Backgammon spielen können. Am Anfang der Demokratie war das Scherbengericht: 10 Jahre Verbannung für jeden Taugenichts aus der Politik. Das ist das Mindeste, was wir wieder brauchen – und heute dürfen dann auch die Frauen mitmachen. Dafür müssen wir uns nicht einmal mit irgendwem streiten – Helgoland ist derzeit unser und als Hochseeinsel auch für Verbannte mit Großem Seepferdchen hervorragend geeignet. Am Tresen schlägt mir auf diesen Vorschlag oft Besorgnis entgegen, was den Platz auf Helgoland angeht. Aber Gemach. Ober- und Unterland sowie die Düne haben zusammen 1,7 qkm und bieten derzeit schon Raum für knapp 1.700 Insulaner und etwa 2.000 Gäste. In der Verbannung darf es ruhig auch mal etwas eng werden – Schily ist da mit seinen deutschen und afrikanischen Lagern auch nicht zimperlich – und so haben wir vorerst Platz genug, die politische Klasse von Bund und Ländern sowie die hauptberuflichen aus den Kommunen vor Helgoland auszubooten. Natürlich wird der ein oder andere sagen: Schnapsidee! Wir können doch nicht die 1.700 Helgolen enteignen. Nun, schön ist das nicht, aber dem völlig idiotischen Braunkohletagebau – nur zum Vergleich – mussten allein zwischen 1950 und heute 97.000 Menschen weichen. Von daher, bei aller Empathie: Häuslebesitzer müssen für die Autobahn umsiedeln, Helgoländer für die Politiksanierung. Aber vielleicht fällt uns ja zweieinhalb Jahrtausende nach Solon und Kleisthenes noch etwas Kreativeres ein – etwas Wirkungsvolleres. Denn ganz im Ernst: Es ist unlustig in Deutschland. Vorhin sagte mein Ältester: »Papa, wenn ich mal Papa bin, dann ....« Was soll ich ihm sagen? »Mach du nur« oder »Ja, ja«. Oder: »Kein Problem, Papa schießt dir den Weg schon frei.« Oder eher: »Hör mal, Sohn, ich glaube nicht, dass du ....« ? Ehrlich, es steht nicht zum Besten. Da hilft auch keine Retrospektive auf die letzte Auferstehung 38
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aus Ruinen. Ja, ja, ja – es ist besser geworden. Und doch erholen wir uns lieber auf Gran Canaria, loben die norwegische Sozialpolitik, finden Gefallen am Dolce Vita und hängen etwas spätzüglerisch immer noch dem »American Way of Life« an. Machen wir doch mal einen auf wirklich multikulti, schauen wir uns in der Welt um und adaptieren das jeweils Beste. Vielleicht kommt dabei am Ende eine »Politik AG« heraus – mein persönlicher Favorit! –, bei der wir nicht mehr nur volkswirtschaftliche Statisten sind, sondern echte gleichberechtigte Teilhaber eines Staates, der fitte Menschen vorübergehend beauftragt, von ihnen gesetzte Zielvorgaben umzusetzen. Im Erfolgsfalle mag es Millionen regnen, das kann uns die Sache schon wert sein, bei Misserfolg gibt es fünf Jahre Gurkenlasterfahren ohne Bewährung. Scheren wir uns wenigstens in unserer nicht-öffentlichen Gedankenfreiheit mal kurz nicht darum, was Karlsruhe oder Berlin oder Kassel sagen, was die EU-Kommission davon hält und ob das alles kompatibel ist mit der weltweiten Staatengemeinschaft. Denn diese Institutionen klingen zwar alle bombastisch, aber was sie treiben, entscheidet jeweils eine Hand voll Leute, nichts, was uns irgendwie begründet vom eigenen Denken abhalten könnte. Politiker sagen bei allem, was nicht aus ihren piefigen Fraktionsräumen kommt: »Das geht leider gar nicht, da steht das Grundgesetz dagegen oder der Vertrag von Maastricht oder ein Genfer Protokoll oder eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts«, und genau deshalb brauchen wir
sie auch nicht, diese Alles-Wisser-Nichts-Könner. Zu sagen: »Sorry, es war ein Missverständnis« – das tut doch nicht weh, beleidigt niemanden, verletzt keine Menschenwürde. Aber es tut wirklich gut.
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Politik ist Geldausgeben – Wie Politiker uns die Welt schön rechnen »Private Vermögen um Billionen vergrößert In den letzten sieben Jahren hat das Vermögen der privaten Haushalte um fast 1,3 Billionen Euro zugenommen. Pro Jahr kommen ca. 200 Milliarden hinzu. »Diese Größen belegen, dass in Deutschland ein beträchtlicher Wohlstand erreicht ist,« schreibt das DIW im Oktober 2002 in seinem Bericht zur Vermögensbesteuerung und stellt zugleich »eine erhebliche Konzentration« dieses Vermögens in Deutschland fest. Schon 1996 ging die grüne Bundestagsfraktion davon aus, dass ein Drittel des Privatvermögens sich in den Händen von nur 5,5 Prozent aller Haushalte konzentriert. Dieser private Wohlstand kommt dem Staatshaushalt nicht zugute. Nach Berechnungen des DIW könnte eine laufende Vermögensteuer in Höhe von 1 Prozent mit Freibeträgen von 500000 Euro pro Haushalt ein Aufkommen von ca. 15,9 Milliarden Euro im Jahr erzielen. Zur Frage, in welcher Höhe das Aufkommen tatsächlich sein wird, wenn die Vermögensteuer, wie hier vorgeschlagen, als Mindeststeuer gestaltet wird, gibt es noch keine zuverlässigen Schätzungen.« Pressemitteilung Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN):
Ein platter Fahrradreifen führte mich in den Ort, an dem mich die Fernroute vorbeiführen sollte. Überwiegend gibt es nichts, doch in einer besonders kleinen, unscheinbaren Straße sah ich jemanden, der an seinem Moped schraubte (und, das sei der Vollständigkeit halber vorweggenommen: der mir sehr erfolgreich sehr behilflich war). 28 Häuser siedeln an dieser Straße, die meisten stammen aus dem vorletzten Jahrhundert. Sie sehen so aus, wie Häuser nach so langer Zeit eben aussehen: Hier und dort wurde angebaut, aufgestockt, eine Garage gepflanzt und dachseitig später als Terrasse nutzbar gemacht, die marode Fachwerkfüllung wird mit Schindeln oder simplem Putz an ihrer Schwerkraftgesetzestreue gehindert. Der Gehweg zumindest auf der Seite mit ungeraden Hausnummern ist meist so eng, dass nicht einmal eine Politesse darauf starkzeln könnte, wenn es sie denn gäbe (sie amor40
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tisiert sich natürlich im ganzen Dorf nicht, und darum gibt es dort nach authentischen Berichten auch beschilderungsungeachtet überall frei Parken). Nur ein Gebäude sticht heraus und weckt rasch die Neugier des Städters: Die Holzbalken des Fachwerks sind frisch getüncht, seit Wochen schon befassen sich ein Bagger, zwei Baggerführer und eine nicht näher differenzierbare Melange aus Hilfsarbeitern, beschlipsten Wichtigmenschen, interessierten Nachbarn und echten Modellbaubaggerfans mit dem Stück zwischen Haus und Straße, das in bürgerlicheren Wohngegenden einen Vorgarten bildet, bei Ärzten, Anwälten und anderen Berufenen mit Gefolge hingegen verordnungsgetreu Parkplätze für Patienten, Klienten oder andere Jünger. Seit mehreren Jahren wird hier gewerkelt, außerhalb der hoch- und tiefbaulichen Arbeitszeiten ist im Haus, ums Haus oder ums Haus herum noch nie ein Licht oder anderes Lebenszeichen gesehen worden. Noch schlummert die Bedeutung dieser Baustelle wie die Schönheit des Schmetterlings im Kokon. Doch irgendwann wird sie hervorbrechen und die Menschheit beglücken. Denn Baugerüst-Aufsteller, InnenAnstreicher, Elektrokabel-Installateur, Estrich-Verleger und 18 weitere Baubeteiligte erhalten ihr Salär von ganz oben: aus Brüssel. Ein großes, 5 mal 4 Meter-Schild, das von zwei starken Holzpfählen vor der Baustelle gehalten wird, kündet auch vom Grund: »Hier entsteht ein Tourismusund Kulturzentrum« ist dort zu lesen. Ein Zentrum, irgendein Nabel also, in dieser menschenverlassenen Straße, will hier das Leben bereichern. Wen, so mag sich die geneigte Leserin mit mir fragen, wen wird dieses Heimatmuseum mit Touristeninformation in einem Dorf, das kein einziges Hotel hat, jemals glücklich machen – abgesehen von den Renovierungsbeteiligten? Wo sich doch offenbar selbst Spanier und Letten für das Projekt stark machen, wird es doch von der Europäischen Union gefördert. 41
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Ehrlich gesagt: von den fünf Touristen, die sich in den letzten vier Jahren zu dieser Baustelle verirrt haben, hat sich das niemand gefragt. Stattdessen verweisen die Geschichtsschreiber auf Äußerungen folgender Art: »Na, wie gut, dass endlich mal nicht nur die Agrarbosse was aus Brüssel bekommen, sondern etwas für die Menschen getan wird.« Denn Kulturförderung ist ohne Wenn und Aber positiv, weil, wie wir alle wissen, ohne Kultur der Mensch ja gleich einpacken könnte. Gut also, dass Europa hier Geld investiert – an einer Stätte der Menschlichkeit! Nicht überliefert ist, wie viele der fünf Touristen mittels Kleinem Einmaleins ihren ganz persönlichen Obolus für diesen Teil unserer Gesellschaft im Kopf überschlagen und dann freiherzig bejaht haben. Denn das wäre die demokratische Konstitution des Projekts: Sich einverstanden zu erklären mit dem, was da stellvertretend für einen selbst irgendwo im fernen Brüssel oder Straßburg entschieden worden ist, ein pupsiges Heimatmuseum in originell altem Gewand finanzieren zu wollen, wenigstens zum Teil. Sie kennen natürlich weder die beschriebene Baustelle noch das Dorf, in dem sie steht, noch einen Touristen, der je dort war. Aber Sie dürfen sicher sein: es gibt dieses Haus mit seinem demokratieförderlichen Zweck- und Beteiligtenschild, das den Schildern gleicht, die Sie von Stadthallen, Völkerbegegnungsstätten oder Schlachthöfen hinlänglich kennen – und die in ihrer kommunikativen Schlichtheit einen tiefen Einblick in unsere politische Struktur gewähren: Unser Geld ist der PolitikerInnen Phallus, mal kurz unabhängig des Geschlechts. Zumindest macht es einen großen Teil ihrer Potenz aus. Wer verteilt heute eigentlich Geld? Wir alle wissen, das System von Geben und Nehmen, auch Wirtschaft genannt, deckt nur einen Teil des Transfers ab. Hinzu kommt die ein oder andere Oma, die für die Enkelchen ein Taschengeld abgezweigt hat, der Notar, dem wir mit trauriger Miene und sehr gespannter Erwartung bei der Testamentseröffnung 42
Politik ist Geldausgeben
gegenüber sitzen, und – Politiker. Nun zählt der rechtschaffende Bürger in seinem Freundeskreis gewöhnlich wenige Politiker, weshalb viele geneigt sind, diesen Part ganz auszublenden, aber: er macht volumenmäßig den größten Teil aus! In unserem bescheidenen Ländchen sind es immerhin über 1000 Milliarden Euro, die da von A nach B und C und sonst wo verschachert werden, jährlich, unter anderem zu einem Kulturzentrum in einer unbeachteten Seitenstraße, genauer an Baugerüst-Aufsteller, Innen-Anstreicher, Elektrokabel-Installateur, EstrichVerleger und die 18 Kollegen, wenn auch über sehr konspirative Brüsseler Wege. Politik ist Geldausgabe. Politiker zu sein heißt, den ganzen Tag mit – man möchte sagen »geklauten«, aber das kann sehr teuer werden – »beschlagnahmten« Kreditkarten einkaufen zu gehen. Hier die Renovierung des Schlosses Bellevue, dort die Inbetriebnahme einer sehr modernen Kläranlage, von dort bis dortdrüben der Bau einer neuen Autobahn; Politiker kaufen Lehrer ein und Zöllner, Steuerfahnder und Ärzte, Rechtsanwälte, Richter, Köche für die Bundestags- und die Krankenhauskantine, Tänzerinnen fürs Staatstheater, Tierärzte fürs Kreisveterinäramt; was unsereiner bei Aldi oder Ebay nicht bekommt, Politiker kaufen es sich: den Leopard 2 A6 mit besonders langem Rohr, die Taifun-Drohne, mit der »das deutsche Heer in Tiefe und Breite des gegnerischen Raumes wirken« kann, U-Bahn-Schächte und Wasserstraßen – inzwischen sogar mit Wasserbrücke erhältlich (Kosten: eine halbe Milliarde Euro). Natürlich sagen Politiker meist nicht offen, dass es ihnen ums Geld geht, schwurbeln lieber über »Image in der Welt«, »Erhalt des unersetzlichen irgendwas«, »Schritt nach vorn«, »Verteidigung am Hindukusch« usw. Doch ein näherer Blick hinter die Phrasen und auf die Schlagzeilen verrät: Es geht ums Geld. Nehmen wir uns eine beliebige Zeitung an einem beliebigen Tag, nur die Seite eins. 43
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Der Aufmacher: »Krach um Ruhrfestspiele: Intendant tritt zurück«. Da geht es freilich nicht um Kultur – denn dann wäre auch der letzte Leser peinlich berührt von dieser Selbstüberschätzung der Politik – es geht ums Geld. Schon deshalb, weil die Stadt Recklinghausen zusammen mit dem DGB – weiß der Kuckuck, was das soll – »Gesellschafter« der Veranstaltung ist. Und konkret seien zu wenig Karten verkauft worden.
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Daneben wird verkündet, »Andreas Astroh als Ruhr-Unternehmer des Jahres ausgezeichnet«. Das ist eine nicht weiter bedeutsame Entgleisung: der Chefredakteur der Zeitung verleiht einem erfolgreichen Geschäftsmann einen Preis, trommelt dazu ein paar Promis zusammen und inszeniert sich, seine Zeitung und seine Gäste. Das hat natürlich auch nur mit Geld zu tun, allerdings mal fast ohne Politiker.
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Die Mitteilung, bei Siemens sei über mehr Arbeit für weniger Geld verhandelt worden: natürlich.
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Unter der Überschrift »Zahnersatz-Police soll 8,50 Euro kosten« werden in nur 20 Zeilen gleich fünf Gruppen politischer Geldumverteilung genannt: »Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung«, »Bundesverband der Innungskrankenkassen«, »Gesundheitsministerium«, »Zahnärzte«, »Kassen« (deren Zahl hier nicht benannt ist, aber es sind derzeit noch über 300). Dazu noch der wichtige Hinweis, dass ab 2005 eben Zahnersatz nicht mehr zum »Leistungskatalog« der gesetzlichen Krankenkassen gehört und daher zusätzlich »versichert« werden muss, eigentlich »wird«, denn das passiert ja wie alles, was Arbeitnehmer zum Sozialstaat beitragen, zwangsweise und vollautomatisch.
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Die Meldung »90 Tote bei Anschlägen auf Polizei im Irak« hat auf den ersten Blick wenig mit Geld zu tun, doch da steht auch etwas von deutscher Nicht-Beteiligung bzw. Nicht-Entsendung, und man kann sich vorstellen, das mag auch mit Kosten zu tun haben.
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Als letztes noch eine kleine Glosse über den Luxus, der italienische Politiker in ihrem Krisendomizil auf Sardinien – so eine Art Luxusbunker – erwartet, mit dezentem Hinweis auf die Finanzierung durch den Steuerzahler.
Politiker geben Geld aus, erstlinig, und besorgen sich dieses dann, zweitlinig, wobei nicht genau erkennbar ist, was dem Politiker mehr Spaß macht: zwar ist er bei der Verausgabung äußerst ideenlos, als brauche er seine gesamte Hirnkapazität für den nachfolgenden Beutezug, doch mit Ausgaben lässt sich weit mehr anrichten. Die Einnahmeseite hingegen kann einmal als Gewaltmittel eingesetzt werden: »Wenn ihr nicht genügend Ausbildungsplätze schafft, dann nehmen wir euch Geld weg.« Ein anderes Mal tritt das Staatsinkasso als Robin Hood auf: »Wir müssen den Gürtel enger schnallen.« Dann wird es »Heulen und Zähneklappern« geben. Das mag nett bedrohlich klingen und gehört zum standesgemäßen Revierabpinkeln, aber es verlangt auch eine ganze Menge: ein wenig Rhetorik z.B., gelegentlich Sachverstand, um nicht sofort von den Angedrohten oder Ausgenommenen weggepustet zu werden. Viel einfacher und wirkungsvoller für die Inszenierung eines Politikers ist daher das Geldausgeben: das Einkaufen, Mieten, Leasen, Sponsern, Kreditieren. Damit lassen sich immer Gruppen zufrieden stellen und meist auch positive Schlagzeilen erhaschen. »Schily steigert deutsche Sicherheit« – prima. »Schulen sollen mehr Geld für Bücher bekommen« – bravo. »Bundesregierung sichert Zuschuss für WM-Stadien zu« – endlich mal gut investiert. Politiker geben Geld aus. Unser Geld natürlich. Ob nun aus Steuereinnahmen, Bußgeldern oder »Bundesverkäufen« (bei denen ja nur das liquidiert wird, was zuvor aus unseren Steuern und Krediten angeschafft oder aufgebaut worden ist). Es ist vermutlich das elementarste Problem unsere Tage. Einen Riesenschritt wären wir schon mal weiter, wenn wir unseren Politikern jeden Umgang mit »öffentlichem«, also unserem Geld verbieten würden. Dann könnten sie zeigen, ob sie auch irgendet45
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was Politisches leisten können. Doch die Trennung der »Legislativen« etwa in ein Entscheidungen vorbereitendes Parlament und ein mit Geldtransfer verbundene Entscheidungen beschließendes Volk ist nicht vorgesehen, derzeit nicht mal denkbar, denn: statt dem Volk auch nur die Möglichkeit zu geben, über sein Geld selbst zu bestimmen, gilt in Deutschland der »Finanzvorbehalt« oder das »Budgetrecht« der Parlamente. Grotesk: Wo in den Bundesländern Bürger per Volksentscheid einmal persönlich zum Zug kommen können, dürfen sie gerade über Kernfragen nicht befinden. Sobald die Abstimmung Auswirkungen auf das Finanzsystem haben könnte, greift das Verfassungsgericht ein. Geldfragen sind bei uns absolut den Politikern und ihren Verwaltungen vorbehalten. Und das, wo alles darauf hindeutet, dass sie selbst das Kleine Einmaleins nicht beherrschen. Denn anders ist das Desaster, welches sie Tag für Tag vergrößern, nicht zu erklären: !
Nehmen wir das Zeitungs-Beispiel von eben, Zahnersatz. Was sind das für Nullsummenspielchen? Da wird etwas aus dem »Leistungs katalog« gestrichen, schlicht weil das Geld bei der gesetzlichen Krankenkasse nicht reicht, und die Arbeiter müssen es über eine neue Versicherung zahlen. Obwohl jeder den Spruch kennt – »Was uns der Staat in die rechte Tasche steckt, holt er sich aus der linken« – zieht sich diese Großrechenleistung durch alle aktuellen Finanzthemen.
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Weil die Rente nicht mehr finanziert werden kann, muss der Bürger nun zusätzlich »privat vorsorgen«. Dazu gibt es dann je nach Modell Zuzahlungen vom Staat. Woher dieses Geld kommt? Wieso die private Vorsorge nicht so tragisch ist wie höhere Rentenbeiträge? Wer's weiß, hat den Wirtschafts-Nobelpreis in der Tasche.
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Damit es bei neuen Einnahmen für den Staat etwas zu diskutieren gibt, werden Kosten gerne in fiktive Positionen getrennt, am bekanntesten sind Arbeitgeber- und Arbeitnehmeranteil. Das ist
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natürlich hanebüchener Unfug! Wenn ein Mitarbeiter brutto 3.000 Euro verdient, dann bekommt er etwa 1.696 Euro netto raus, von seinem realen Verdienst wurden aber neben 582,83 Euro Lohnsteuer und 32,05 Euro Solidaritätszuschlag schon 1.271 Euro an Sozialbeiträgen abgezogen. Denn in Wahrheit verdient unser Beispielarbeiter rund 3.600 Euro und bekommt summa summarum 53% abgezogen. Mehr als die Hälfte seines Verdienst wandert also schon an dieser Stelle in die staatliche Umverteilungsmaschinerie. Für den Arbeitgeber ist es völlig wurscht, wie viel davon nun als »sein« Anteil und wie viel als der des Arbeitnehmers deklariert wird. Denn er muss eh die Gesamtsumme der Abgaben an Krankenkasse und Finanzamt abführen, es sind die Kosten, die mit dem konkreten Arbeitsplatz anfallen. Ohne ausgelacht oder verdroschen zu werden dürfen sich Merkel, Merz, Stoiber und Westerwelle vor die Welt stellen und kundtun: Ja, Steuersenkung ist ein gutes Ding, aber die Regierung muss uns einen Plan vorlegen, wie sie das finanzieren will. Das klingt richtig vernünftig – so dass man ultimativ stutzig werden muss! Wie soll das wohl gehen? Pisa zum Trotz ziehe ich meinen 7-Jährigen zu Rate: »Was sollen wir machen, wenn ich jetzt weniger Geld verdiene, also weniger Geld da ist?« »Dann musst du eben weniger zu Essen kaufen, dann bist du auch nicht mehr so dick.«
Erschlagend! Auch wenn mir der Vorschlag, Kinderspielzeug zu verramschen oder die Spardose für den »kleinen ICE« von Märklin zu erbrechen lieber gewesen wäre. Aber das ist es, worum man dann ja noch streiten kann: die Prioritäten. Was vermutlich nicht nur einem, sondern allen 7-Jährigen dieser Welt einleuchtet, raffen Politiker beharrlich nicht: Weniger Geld einzunehmen bedeutet auch weniger Geld auszugeben, eben weniger zur Verfügung zu haben. 47
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Wenn es also das Ziel sein sollte, uns Bürger zu »entlasten«, also: uns weniger auszupressen als dies bisher geschieht, dann kann dies doch nur bedeuten, dass der Staat gerade weniger Geld bekommt. Doch Politiker sinnieren nach »Gegenfinanzierungsmöglichkeiten« , heißt: nach neuen Einnahmen. Senken wir die Einkommenssteuer, können wir ja die Mehrwertsteuer erhöhen. Eine Fußgängermaut erfinden. Eine fensterflächenabhängige Tageslichtnutzungsvorteilsausgleichsabgabe beschließen. Oder eine Intelligenzsteuer einführen, damit endlich Schluss ist mit dem Genörgel. Man möchte schreien: Ja, verdammt noch mal, dann gibt es eben endlich keine Eurofighter und keine »GTK«! Dann wird die Fußgängerzone nicht aufgerissen, um sie neu zu pflastern. Und es werden mit Sicherheit einige Theater geschlossen – oder endlich von denen bezahlt, die dort auch etwas sehen wollen. So ist das eben. Weniger essen – weniger Steuergelder verfressen. Politiker checken das nicht, und wir sollten uns darüber nicht wundern. Die meisten von ihnen waren entweder nie oder vor so langer Zeit erwerbstätig, dass diese Transferaufgabe für sie zu hohe Mathematik ist: Weniger Leistung, weniger Einkommen – und umgekehrt: weniger Einkommen, weniger Leistung. Perverserweise haben sich aber inzwischen alle an dieses geistige Tieffluglevel gewöhnt, so dass Arbeitgeberverbände wie Gewerkschaften, Steuerzahlerbund und Kirchen wetteifern, von wem denn noch was zu holen sei. Bei ihnen selbst oder ihrer Klientel natürlich nicht, aber wo anders, da liegt noch Geld, das aus unerfindlichen Gründen bislang nicht vom Staat geschluckt wird. Gutmeinende könnten an dieser Stelle einwenden, Politiker seien eben besonders verantwortungsbewusste Haushälter. Da gibt es laufende Kosten, man kann nicht einfach weniger Geld einnehmen – Rechnen ist da schon angesagt. Von wegen! Um es in Erinnerung zu rufen: die 48
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Staatsverschuldung wird derzeit auf 1.200 Milliarden Euro geschätzt, künftige ungedeckte Verpflichtungen eingerechnet sind es etwa 3 Billionen! Das macht für unsere vierköpfige Familie 150.000 Euro. Ich frage mich: was um alles in der Welt haben wir dafür bekommen – und: hat es irgendwer von uns bestellt, gewünscht, gefordert? Politiker können eben alles andere als rechnen. Niemand hätte was gesagt gegen einen kleinen Dispokredit. Für Anschaffungen, die man mal eben vorziehen will, für die man aber dann später ja auch das Geld hat. Aber das, was unsere Politiker angerichtet haben, ist ein Bankrott mit Vorsatz: Oder haben Sie sich noch nie gefragt, warum die Bosse unserer Wirtschaft nicht vehementer gegen Staatsverschuldung wettern? Warum sie nicht ihr ganzes kapitalistisches Kampfgewicht einsetzen, damit diese Verschuldung ganzer Generationen ein Ende nimmt? Weil sie davon profitieren natürlich, und zwar im Idealfall doppelt: Als Vorstandsvorsitzende freuen sie sich über gute Bilanzen, die sie staatlichen Investitionen zu verdanken haben, als Privatiers leihen sie dem Staat gerne etwas von ihren Millionen-Gehältern – für derzeit etwa 6% Zins. Jährlich werden so 80 Milliarden Euro an die Reichen transferiert, die Hälfte davon aus dem Bundeshaushalt! Da sich die »Milliarden« hier so überschlagen, dass eine Abnutzung zu befürchten ist, zur Verdeutlichung: Nur für diesen Zinstransfer werden die gesamten Lohnsteuereinnahmen von 14,4 Millionen Durchschnittsverdienern (2.640 Euro pro Monat) benötigt! Da unsere Politiker ihre Einkommen nicht veröfffentlichen müssen, bleibt es der Spekulation anheimgestellt, wie viele Minister und Abgeordnete wohl selbst zu den gut gelaunten Gläubigern des Staates gehören, denen jeder neue Euro an Staatsschulden wunderbare Rendite bringt. Schauen wir uns weiter die Portokassen-Spielchen der Politik an. Für die Rechnung behalten wir aber die Staatsschulden im Kopf. Nun wird ab und zu auch mal ein teures Projekt nicht realisiert. Der Metrorapid z.B., die Magnetschwebebahn, für die man das Ruhrgebiet neu bauen 49
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wollte. Die Kosten waren mit rund 5 Milliarden Euro veranschlagt. Davon sollten 1,7 Milliarden vom Bund kommen. Nun ist das Projekt gekippt, und das Land NRW verhandelte mit dem Bundesverkehrsministerium, ob man das Geld nicht für andere Verkehrsprojekte haben könnte. Unmöglich sei das nicht, signalisierte geschwind das Ministerium. Hallo? Soll das noch als Taschenspielertrick durchgehen? Es gab dieses Geld nie, weder in Berlin noch Bonn noch Düsseldorf ! Es ist daher auch nicht zu verteilen, zu verschieben oder sonst was! Doch der Richter sagt: schuldunfähig! Politiker können halt nicht rechnen oder sind durch den langjährigen Umgang mit politischer Mathematik nachhaltig geschädigt. Dabei können unsere Politiker Kosten sehr genau benennen, und wenn es politisch opportun ist, schießen sie wie Pilze aus dem Boden. Polizeieinsätze z.B. bei Bundesligaspielen. Die kosten Geld. Richtig viel Geld, wissen unsere Politiker. Warum eigentlich? Da wird ein bisschen Sprit verfahren, der eine verliert sein hübsches Barett, der andere reißt sich ein Loch in die grüne Hose. Aber sonst? Die müssen doch eh bezahlt werden, ob sie nun in ihrem Bau hocken oder auf der Straße stehen. Doch da mausern sich Politiker zu Unternehmern, zu modernen Dienstleistern mit Stunden-, Tages- und Pauschalsätzen. Deshalb ist es dann auch eine echte Spamaßnahme, Bundeswehrsoldaten nicht irgendwo etwas Sinnvolles tun zu lassen, denn einmal aus der Kaserne gelassen rasselt der Kostenmotor. Kosten können für Politiker sogar dort entstehen, wo man gerade nichts kauft. Schwarzarbeit kostet zum Beispiel richtig viel Geld. Das verweisen zwar inzwischen fast alle Wirtschafts-Profs, die sich dazu äußern, ins Land der Fabeln, was aber nichts am Credo unserer Politiker ändert. Es ist ja auch zu schön, unsichtbare Bösewichte zu haben, die an 50
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allem oder zumindest sehr vielem schuld sind und die niemand in Schutz nehmen will. So ist das auch beim »illegalen« Brennen von Musik-CDs. Logisch, geht der lebenserfahrene Politiker doch davon aus, dass ohne Brennmöglichkeit ein jeder 20-Cent-Rohling einem 20 Euro-Presswerk aus dem Plattenladen weichen würde. So aber fehlen der Musikbranche 800 Millionen Euro jährlich und dem Staat ganz viel Steuergeld. Denn die 20 Euro, die der Brenn-Musikfan so übrig hat, gibt er ja nicht etwa an anderer Stelle aus, er steckt sie freudestrahlend in sein Sparschwein, das er als echter Liebhaber niemals nicht schlachten will – und futsch ist die Kohle. Die berühmtesten Kosten des Staates sind seine Nicht-Einnahmen. Geld, das sich Politiker ausrechnen. Allem voran sind es die »Steuermindereinnahmen«, die regelmäßig für großes Entsetzen und die Frage sorgen, wie man sie denn »ausgleichen« könnte. »Steuermindereinnahmen« oder »Steuerausfälle« sind jene Differenzen zwischen einem geschätzten und einem tatsächlichen Steueraufkommen. Wer von uns also auf einen Flohmarkt als Anbieter geht, auf 100 Euro Erlös hofft und nur für 20 Euro alte Socken und Schallplatten verkauft, hat 80 Euro Flohmarktausfall zu verkraften – oder war einfach nur zu optimistisch. Steuerausfälle sind eine durchweg praktische Politiker-Erfindung – für Politiker. Denn sie lassen sich immer und in jeder beliebigen Höhe konstruieren, für sie ist niemand verantwortlich – allenfalls die ominöse Weltwirtschaft, die konjunkturelle Lage und – ganz leise darf man es sagen – ein etwas unsolidarisches Verhalten der Verbraucher, die nicht so viel Geld ausgeben, wie Politiker es von ihnen erwarten. Steuerausfälle sind immer dramatisch und, spätestens in Verbindung gebracht mit Problemen bei der Rentenfinanzierung, ein Durchsuchungsbeschluss für den letzten verbliebenen Sparstrumpf. 51
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Ebenso großer Sorge unserer Politiker erfreuen sich »Steuerhinterziehung« und »Steuerkürzung«. Dabei ist es einerlei, ob dieses Geld jemals real zur Verfügung stünde – schließlich ist es das Naturell vieler Krimineller, ihre Einkünfte nicht schon bei der Vereinnahmung mit dem Staat zu teilen, sondern frühestens beim Verjubeln. Natürlich kassiert der Fiskus weniger Geld, wenn jemand sein Einkommen nur zum Teil oder gar nicht versteuert. Aber bitte: das ist in der Regel für die Wirtschaft ein Gewinn! Wie sollten sich denn teure Autos verkaufen, wenn nicht über Abschreibungen oder Schwarzgeld? Der Handwerker nimmt das nicht als Steuer abgeflossene Geld ebenso gerne wie der Kurier und der private Bodyguard. Machen wir uns nichts vor: der Drogenboss kann nur so lange als Einnahme fehlen, wie Polizei und Politik ihren Job nicht machen. Sobald er eingelocht ist oder ihm durch ein Ende der Prohibition der Markt wegbricht, hat er auch nichts mehr zu versteuern, sitzt die arme Wurst im Knast oder beim Sozialamt. Niemand muss deshalb Steuerhinterziehung gut finden – wenn auch alle die entsprechenden Graubereiche ausloten –, aber die Rechnung, die damit aufgemacht wird, ist Bullshit. Besonders spannend an dieser Stelle: Keiner von unseren Politikern spricht darüber, welche Schwarzeinnahmen der Staat hat! Denn er wird ja beileibe nicht nur betrogen, ihm wird auch unglaublich viel geschenkt. Jeder verlorene Kassenbon, den ein Selbstständiger nicht mehr abrechnen kann, bedeutet Einkommens- und Mehrwertsteuereinnahmen, die dem Staat nicht zustehen. Jede Unwissenheit über Steuerbestimmungen zu Gunsten des Bürgers bedeutet Schwarzeinnahmen des Staates. Denn es ist – anders als gelegentlich dargestellt – kein Wettkampf, den wir hier mit Finanzbeamten führen! Korrekt gelesen ist jede Steuerbestimmung, die Abzüge zulässt, Minderungen vorsieht oder Ähnliches eine Mäßigungsanweisung für den Fiskus: Halt, da dürft ihr nicht so abgreifen, wie wir es irgendwo anders generell geregelt haben. 52
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De facto heißt das natürlich: der Dumme zahlt. Wer bei sich eigene Steuerfachwirte beschäftigt, kann mit dem Steuer-Reglement recht gut leben, wer die Sache selbst in die Hand nehmen muss, zahlt eben. Allein bei den Arbeitnehmern, die keinen Lohnsteuerjahresausgleich beantragen, werden die Schwarzeinnahmen des Staates auf eine Milliarde Euro geschätzt. Völlig dreist wird es bei der Umsatz- bzw. Mehrwertsteuer: die soll ja nur beim Endverbraucher anfallen und den geschaffenen Mehrwert betreffen. Unter Unternehmern ist die Mehrwertsteuer daher stets nur ein durchlaufender Posten, der viel Aufwand macht, über den dem Staat permanent Geld geliehen wird, der aber letztlich nicht ins Gewicht fallen soll. Das Spiel geht so: Die Papierfabrik in Aschaffenburg liefert einer Druckerei in Berlin Offsetdruckpapier für 1.000 Euro. Dazu kommen 16% Umsatzsteuer, also 160 Euro, die die Druckerei zu zahlen hat. Die Papierfabrik führt diese Einnahmen monatlich an ihr Aschaffenburger Finanzamt ab. Die Druckerei allerdings macht diese Ausgabe bei der Finanzverwaltung in Berlin geltend und erhält die 160 Euro zurück. Nun bedruckt sie das Papier und fertigt daraus eine Kundenzeitschrift für einen Angelfachbetrieb in Cloppenburg. Das Produkt kostet 5.000 Euro, die Druckerei rechnet 7% verminderte Mehrwertsteuer für Presseerzeugnisse drauf, also 350 Euro. Der Angelfachbetrieb zahlt, lässt sich die 350 Euro später von seinem Finanzamt in Cloppenburg erstatten, während die Druckerei in Berlin 350 Euro abliefert. Viel Buchungsaufwand, viel Rechnerei – für nix. Doch jetzt kommt der Haken: Ein Jahr nach dem Geschäft prüft das Berliner Finanzamt aufgrund einer Kontrollmeldung aus Cloppenburg die Rechnung für die Kundenzeitschrift – und siehe da, es hätten 16% Mehrwertsteuer sein müssen, weil eine Kundenzeitschrift kein steuerbegünstigtes Presseerzeugnis ist. Berlin fordert also 450 Euro Umsatzsteuernachzahlung. Die Druckerei hat leider keine Möglichkeit mehr, dies bei ihrem Angelbetriebs-Kunden zu korrigieren und zahlt die 450 Euro daher aus ihrem 53
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Gewinn – oder sie muss sich das Geld anderweitig besorgen. Der Staat verdient zu Unrecht 450 Euro, denn bei korrekter Mehrwertsteuerausweisung gleich in der Rechnung hätte sich der Angelfachbetrieb bei seinem Finanzamt halt nicht 350, sondern 800 Euro (16% auf 5.000 Euro Rechnungswert) erstatten lassen. An den Haaren herbeigezogen? Fragen Sie mal bei Firmeninhabern nach, was Steuerprüfer regelmäßig bei ihnen nachfordern! Der Faible fürs Teilrichtige treibt auch andere Blüten. So gelten seit Mitte 2004 strengere Vorschriften, wie eine Rechnung auszusehen hat, damit sie bei der Umsatzsteuererstattung berücksichtigt werden kann. Der Handwerker Müller repariert in einem Klamottengeschäft die Sanitäranlagen, schreibt eine Rechnung, bekommt sein Geld und führt die deklarierte Umsatzsteuer ab. Bei der Prüfung durch das zuständige Finanzamt stellt sich heraus, dass die Klamottenfirma nicht korrekt angegeben ist oder dass die Rechnung keine fortlaufende Rechnungsnummer enthält oder dass der Handwerker seine Steuernummer darauf nicht angegeben hat. Also gibt es keine Umsatzsteuererstattung, sie treibt beim Klamottengeschäft die Ausgaben in die Höhe. Muss der Handwerker dafür keine Umsatzsteuer auf die nicht vorschriftsgemäß ausgestellte Rechnung zahlen? Aber natürlich muss er, denn sie fällt auf alle seine Umsätze an, egal wie die Rechnung dazu aussieht. Die Umsatzsteuer wird bei ihm übrigens auch fällig, wenn die Rechnung erst mal nicht bezahlt wird! Das Finanzamt interessiert nur, dass hier ein umsatzsteuerpflichtiger Betrag ansteht und ihm mithin Steuer gehört – ob sie der Handwerker wirklich von seinem Kunden bekommt, ist egal. Wie viel Geld der Staat mit solchen und ähnlichen Tricks einsackt, weiß niemand, weil es verständlicherweise kein Interesse der Politik daran gibt, dies zusammenzuzählen – obwohl es unschwer möglich wäre. 54
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Natürlich gibt es nicht nur »Verlierer«. Wer der Depp ist, machen Politiker und Bonzen regelmäßig miteinander aus. Egal ob es um Subventionen oder Steuern geht – die Gewinner stehen immer als erstes fest, denn sie sind die Lobby. Der gravierendste Rechenfehler aber entsteht bei der KostenNutzen-Analyse – weil vermutlich noch nicht ein einziger Politiker eine solche angestellt hat. Da wird eine Straßenbahn zur U-Bahn gemacht, einfach um das Gefährt oberirdisch weg zu haben. So ein Projekt kostet schnell einige hundert Millionen Euro, die damit zunächst mal nur eine Transferleistung des Staates an Tiefbauunternehmen sind. Kommt die Kohle irgendwann zurück? Muss sich das amortisieren, lohnen, durch mehr Umsatz bei den Geschäften, Neuansiedlungen und einen Touristen-Boom? Schön wär's. Doch Politikern reichen die abstrakten Ziele: eine Stadt schöner machen, den Standort verbessern, etwas Nettes schaffen. Mehr Sinn muss Wirtschaftspolitik nicht haben. Manchmal mag natürlich auch die Aufregung Grund fürs Verrechnen sein. Es soll auch in Mathematik-Abiturprüfungen vorkommen, dass jemand an einer simplen Bruchrechnung scheitert. Da sind Politiker und ihre Beamten nicht anders. Beispiel: Das Ende der »Sozialhilfe unter Palmen«. Da hatte die BILD-Zeitung einen Rolf John in Miami Beach ausfindig gemacht, der wegen seiner Deutschland-Phobie unbedingt an jenem lauschigen Ort Sozialhilfe beziehen müsse. Dagegen musste etwas unternommen werden, und nur 16 Tage später beschloss das Bundeskabinett, Sozialhilfezahlungen ins Ausland in den meisten Fällen zu streichen. Es waren bis dahin immerhin gigantische 900 Sozialhilfeempfänger, die da im Ausland lebten – während in Deutschland über 8 Millionen Menschen Stütze kassierten. Doch die 900 sollten heimgeholt werden. Zu dumm, dass sich die Sozialhilfe am Lebensstandard der Umgebung orientiert. Der Satz für die Ausgewanderten war im Schnitt 200 Euro pro Monat niedriger als innerhalb Deutschlands. 55
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Kleiner Rechenfehler? Ach iwo, darum ging's doch nie. Aber alle konnten sehen, wie schnell und pfiffig unsere Politiker sind, wenn ihnen da jemand von der BILD-Titelseite dumm entgegengrinst. Warum sollen wir überhaupt Steuern zahlen? Warum unser Einkommen offen legen und für jede Flasche Milch dem Staat rund 3 Cent, für jedes Päckchen Zigaretten mindestens 2,30 Euro zahlen? Ne, ne, ne, – lassen Sie sich jetzt nicht zu staatsbürgerkundlichen Allgemeinplätzen verleiten! Warum wirklich? Wegen der »Gemeinschaftsaufgaben«, ja schon, aber was soll das sein? Dass sich unser Bürgermeister ein neues Bild in sein Amtszimmer hängt? Deutschland diplomatische Vertretungen in Eldorado und Eriwan unterhält? Versuchen wir es mal von vorne: Wir arbeiten irgendwie, als Familie. Lebensunterhalt verdienen (Ackerbau und Viehzucht sind ja eher out), Haushalt machen, Kinder erziehen. Dafür brauchen wir bestimmte »Rahmenbedingungen«, »Infrastruktur« und ein »geeignetes Umfeld«. Zur natürlich nahe gelegenen Arbeit gehen wir zu Fuß, ein einfacher Schotterweg genügt uns da – und den bessern wir selbst alle paar Jahre mal aus. Die beiden schulpflichtigen Kinder teilen sich je einen Lehrer mit 25 anderen Kindern (denn so viel Schulpräsenz wie unsere Kinder darf der Lehrer ja wohl locker auch zeigen, schließlich ist er schon erwachsen und verdient damit sein Geld) – das macht bei gymnasialer Schulzeit und verrechnet mit unserer deutlich längeren Erwerbstätigkeit etwa 200 Euro pro Monat inklusive Klassenraummiete. Zweimal täglich soll ein Polizist durch unsere Straße laufen (5 Euro). Die Infrastruktur für den Sonntagsausflug zu Oma finanzieren wir über Kfz- und Mineralölsteuer, für die Müllabfuhr zahlen wir extra (neben den Müllgebühren u.a. noch den Grünen Punkt), der jährliche Schnitt unserer drei Straßenbäume kann von der Hundesteuer getragen werden (denn eine Gegenleistung erhalten wir ja nicht). Und sonst? Alle fünf Jahre gehen 56
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wir mal aufs Rathaus, da fällt aber mit größter Wahrscheinlichkeit auch direkt eine Gebühr an und ansonsten kann uns egal sein, was wir da den lieben langen Tag verwaltet werden. Es ist jedenfalls nicht die »Sozialhilfe«, die uns arm macht. Die klassische Sozialhilfe wird von 2,8 Millionen Menschen bezogen und beläuft sich im Jahr auf 9,8 Milliarden Euro, also im Schnitt 300 Euro monatlich je Empfänger. Der größere Batzen sind die »Hilfen in besonderen Lebenslagen« mit 14,8 Milliarden Euro, größtenteils für die »Eingliederung von Behinderten«. Das Verteidigungsministerium verbraucht im Jahr 24 Milliarden Euro. Darin enthalten sind dann Posten wie 16 Millionen Euro für fünf Kampfflugzeuge, die es nach Ansicht des Bundesrechnungshofes nicht braucht. Es geht aber auch noch komfortabler, ein Eurofighter kostet etwa 90 Millionen Euro – einer! In den Rathäusern sitzen viele Menschen, die uns und unsere Umgebung irgendwie verwalten. Und es sind dort Leute beschäftigt, die den Rasen im Stadtpark mähen oder Straßenlaternen reparieren. 41 Milliarden Euro kostet das im Jahr. Pro Einwohnernase fallen also mehr als 500 Euro Personalkosten nur bei den Kommunen an – nicht mitgerechnet die »externalisierten Kosten«, die durch Dienstleistungsunternehmen anfallen. Auch die Schule ist weit teurer, als eben vorgerechnet: 500 Euro pro Monat setzt z.B. Bayern für einen Gymnasiasten an, ein Hauptschüler kostet in NRW 400 Euro. Ein Polizeibeamter im selben Bundesland verursacht im Schnitt sogar Kosten von gut 3.000 Euro. Oder anders gerechnet: Jeder NRWler berappt fast 90 Euro jährlich für das bloße Vorhandensein der Schutzleute, ohne Helm und Uniform, ohne die Kosten für Polizeihundefutter, Polizeiorchestertuba, Funkstreifenwagen (weiß/minzgrün) oder Rheinstreifenboot. 57
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Um das alles zu finanzieren, langt der Staat – von Politikern damit beauftragt – an jeder Ecke zu. Die Lohn- oder Einkommensteuer wird uns noch direkt ausgewiesen, das ist einfach nachzuvollziehen. Aber das ist ja beileibe nicht alles. So summiert sich die Mehrwertsteuer mit 16% (bei einigen Produkten nur 7%) auf Jahreseinnahmen von 140 Milliarden Euro! Jeder Bürger zahlt also – von seinem Lohn, Taschengeld, Erbe oder der Rente im Schnitt 1.750 Euro Mehrwertsteuer im Jahr! Aber auch damit ist der Staat noch nicht satt. Die Mineralösteuer bringt 40 Milliarden Euro (2001), Raucher zahlen weitere 12 Milliarden Euro (= 750 Euro je Raucher p.a.). Wer ins Kino geht, zahlt eine Filmförderung von knapp 3%, damit der Staat jährlich 200 Millionen Euro in deutsche Produktionen stecken kann: Ob der SAT1-Mehrteiler »Das Wunder von Lengede« oder ein HelgeSchneider-Film wie »Jazzclub« – alles wird subventioniert. Und doch reicht dies alles nicht, 2004 nimmt Hans Eichel einen zusätzlichen Kredit von 44 Milliarden Euro auf (im Haushaltsplan waren noch 29,3 Milliarden vorgesehen). Aber bitte, will das irgendjemand für »Sparen« halten, was schließlich seit Jahren oberste politische Tätigkeit ist – neben der »Schaffung von Arbeitsplätzen«? Mal abgesehen davon, dass Sparen auf unseren Sparbüchern anders funktioniert (nämlich mit Einzahlungen, nicht verringerten Auszahlungen) – soll irgendwer im Land noch glauben, all diese Milliarden-Beträge seien notwendig, von uns demokratisch legitimiert, die Abgeordneten in Bund, Ländern und Gemeinden beauftragt, solche Irrsinns-Haushalte zu beschließen? Das meiste, was Politiker mit Geld tun, kommt uns nicht zugute. Denn dann könnten wir das Geld auch gleich selbst behalten und selbst »verausgaben«. Es wird »umverteilt«. Zum Beispiel hin zu den Baufirmen. Niemand neidet ihnen ihre Umsätze, aber Achtung: wir bezahlen das! Obwohl doch alles so schlecht und schwierig und angespannt 58
Politik ist Geldausgeben
ist, können wir schauen wohin wir wollen: es wird gebaut, und zwar »öffentlich«. Kanäle, Straßenerweiterungen, Pflasterung statt Asphalt, Dorferneuerung, Schulerweiterungsbau (vollverglast), neue Bus-Bahnsteige für »Niederflurfahrzeuge«, Autobahnen und nicht zu vergessen die vielen Poller, um einen Parkplatz zu beseitigen, die Parkbuchten, um einen Parkplatz zu schaffen, die Blumenkübel, um den Verkehrsfluss zu drosseln. Und es sind nicht nur die formal-offensichtlich staatlichen Ausgaben, die uns interessieren sollten. Ich zahle doch nicht für jede vollautomatisch verarbeitete Überweisung, nur damit sich die Sparkasse monatlich einen Neu-, Um- oder Erweiterungsbau leisten kann! Die Sparkassen sind öffentliche Einrichtungen, sie waren mal gut gedacht – gerade, wenn sie Brüssel ein Dorn im Auge sind! – und sie bieten jede Menge Potenzial, rühmen sich 17.000 Geschäftstellen, 280.000 Mitarbeiter, 1.000 Mrd. Euro (das ist eine Billion!) Bilanzsumme. Wenn ich für Schulbücher (bis zu 150 Euro), Kindergartenplatz (bis 410 Euro monatlich), Bibliotheksausweis (17 Euro) extra zahle, dann gehört das genauso in die Debatte. Und: Wir sollten uns nicht zu früh freuen, wenn nicht wir, sondern ein anderer vom Staat in die Finanzmangel genommen wird. Wenn eine Fabrik für die Erlaubnis, Kohlendioxid in die Luft zu pusten, zahlen muss, dann wird sie das benötigte Geld in den seltensten Fällen selbst in ihrem Keller drucken. Sie wird die Kosten verständlicherweise weitergeben an den Kunden bis hin zum »Endverbraucher«. Wenn auf Strom eine Ökosteuer zur Finanzierung der Renten erhoben wird, dann zahlen das natürlich die Rentner, Arbeitnehmer, Studenten und nicht die Strom verbrauchenden Firmen! So passgenau ginge das nur in einer total verstaatlichten Wirtschaft, aber nicht, solange der Unternehmer noch selbst kalkulieren darf. Das »Duale System« des Grünen Punkts – wir bezahlen es mit jeder verpackten Ware, die wir kaufen. 59
Verbannung nach Helgoland
Wir zahlen uns zwar tot, aber selbst die einfachsten Dinge sind damit nicht abgedeckt. Zahnersatz – ist nicht! Brille – ist nicht! Kostenloser Museumsbesuch – vergiss es! Schulausflug ohne Sparschweinschlachtfest – wo kämen wir da hin! Rechtsauskunft vom Gericht – strengstens verboten, von was sollen denn dann die Anwälte leben! Sperrmüllabholung, wenigstens einmal im Jahr – gestrichen, zu teuer, und macht die Straßen dreckig! Wenigstens einmal im Jahr ohne Extrazahlung ins Theater, schließlich haben wir dafür schon pro Familie 60 bis 200 Euro gezahlt – geht nicht! Ein Schwimmbad in fahrradtretbarer Reichweite – geschlossen, zu teuer! Wenn irgendwer unseren Politikern den Job retten wollte, dann müsste er ihnen wenigstens das Recht entziehen, über Geld alleine zu entscheiden. Wenn sich ein Angestellter ein paar Euro aus der Kasse nimmt, wird er fristlos gefeuert. Unsere Politiker aber haben uns mit Haut und Haaren verkauft, mit Schulden und langfristigen Verpflichtungen jede kurzfristige Rettung unmöglich gemacht. Und sie haften für nichts! (Es würde natürlich auch nichts bringen, denn derzeit müssten unsere Berufspolitiker von Bund und Ländern ein jeder für mehr als 500 Millionen Euro gerade stehen; bei dieser Gleichverteilung von »Pannen« könnte sich auch keine Versicherung für die Haftung erwärmen.) Es gibt also keinen anderen Ausweg als Politiker abzuschaffen (diese Notwendigkeit wird im Folgenden noch überdeutlich werden) oder zumindest die Zahlungspflichtigen über ihre Zahlungspflichten und die entsprechenden Leistungen dafür selbst entscheiden zu lassen. Das Repräsentativ-Modell jedenfalls hat sich selbst disqualifiziert. Ach ja, der eingangs zitierte Herr Ströbele. Was hatte er doch gleich festgestellt: dass unser privates Vermögen dem Staat nicht zugute komme! Angenommen, er erhielte tatsächlich auch noch seine Vermögenssteuer wieder – wie kommt die uns dann zugute? Hat unser Bürgeranwalt sich dazu geäußert? Hat er mal einen Kassensturz gemacht und durchgerechnet, welche unglaubliche Geldmenge ihm be60
Politik ist Geldausgeben
reits zur Verfügung steht und was er damit alles nicht macht? Vermögenssteuer klingt gut, Reiche abzuzocken kann nie verkehrt sein. Vielleicht sollten wir daher beim Staat selbst mal anfangen! Nehmen wir doch die 1% Vermögenssteuer auf all das, was er sich geleistet hat! Oder dient etwa das Kanzleramt mit 465 Millionen Mark Bauwert in seiner Schönheit dem Gemeinwohl, die Privatvilla eines Wolfgang Joop oder Hasso Plattner aber nicht? Ist es sinnvoller, dass nicht die Unternehmerfamilie Haniel Duisburg-Ruhrort hübsch macht, sondern der Staat, der sich dafür bei Haniels bedient? Ich bin da wirklich für vieles offen, aber ich wüsste dazu gerne noch ein paar Details. Der kleinste Schritt also müsste sein: Haushalte werden von den Bürgern genehmigt, mit ihren ganzen Einnahmen und Ausgaben, in jedem Detail! Wo es Politikern nicht gelingt, uns von der Notwendigkeit der immensen Steuer-, Gebühren- und Abgabenzahlungen zu überzeugen, müssen sie sich eben noch mal auf den Hintern setzen und neu kalkulieren, streichen, »nachbessern«. Solange wird dann eben keine Autobahn gebaut, keine neue Spielzeit eröffnet, keine Kontrollbehörde neu eingerichtet. Damit wir »sachgerecht« entscheiden können, muss logischerweise alles offen gelegt werden – das sollte eigentlich in einer Demokratie selbstverständlich sein, ist aber in Deutschland die Ausnahme. Die »TollCollect-Verträge« sollten zunächst nicht einmal dem Bundestag zugänglich sein (wie der überhaupt bei wichtigen Entscheidungen offenbar nur selten weiß, was Sache ist). Mit welchem Recht? Wenn da Firmen unglaublich viel Kohle machen wollen (denn wer freiwillig Milliarden als Schadensersatz anbietet und trotzdem nicht aus dem Vertrag raus will, der muss an noch viel mehr Gewinn glauben), und dies nur möglich ist über staatliche Regelungen (keine Maut ohne Gesetz) – dann werden sie damit leben müssen, dass wir wissen, was gespielt wird. Wie viel Geld ein Berater verdient – nein: verdienen soll, denn wir entscheiden ja vorher, nicht hinterher! – kann nicht geheim sein. Das Bohei um 61
Verbannung nach Helgoland
die Bundesanstaltsagentur für Arbeitslosenverwaltung (BA) war nur möglich, weil eben bisher alles geheim ist, wir allenfalls Bruchstücke erfahren. Wenn wir selbst die Entscheidungen über unser (gemeinsames) Geld in die Hand nehmen wollen, ist dies freilich nicht alleine über Jaoder-Nein-Entscheidung zu machen. Wir haben in Deutschland 80 Millionen mehr oder weniger funktionstüchtige Hirne – da mag dem ein oder anderen auch mal eine gute Idee kommen. Denken wir das auf der untersten Organisationsebene, da, wo ohnehin fast alle Entscheidungen hingehören: In unserem Dorf oder Stadtteil soll ein Spielplatz gebaut werden, unsere Politiker (Bezirksvertreter, whoever) wollen dies beschließen und legen uns dafür ihren Finanzierungsplan vor. Nun meldet sich ein pensionierter Tischler und sagt: »Das mache ich für die Hälfte.« Wunderbar. Oder Tante Erna meldet sich und sagt: »Bei meiner Nichte Charlotte steht noch eine nagelneue Schaukel im Garten, die könnt ihr haben.« Perfekt. Was ist das für ein demokratischer Analphabetismus, wenn wir immer mit dem vorlieb nehmen müssen, was uns Politiker anbieten: 23 Parteien, von denen wir eine per Kreuz aussuchen dürfen, oder ein Bürgerentscheid, bei dem wir zwischen Ja und Nein zu wählen haben, ohne jeden Zwischenton, ohne jede Möglichkeit, inhaltlich etwas beizutragen? Politiker ohne Prokura, sehr befristet angestellte Denker und Organisatoren – das wäre schon ein Anfang. Einziges Problem dabei: unsere Politiker selbst müssten das beschließen. Denn ihrer ist das Erdenreich. Das deutsche Volk hat ihnen kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt (ja, so was haben wir!) praktisch die Alleinherrschaft angetragen. Eine Ausstiegsklausel ist nicht vorgesehen. Das macht die Sache ein wenig schwierig und die Stimmung nicht besser.
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Das A-Problem
Das A-Problem – Warum Politiker die Arbeitslosigkeit erfunden haben Viele können in Deutschland gerade nicht das tun, was die meisten ohnehin ungern machen. Das klingt paradox, ist aber eines der quälendsten öffentlichen Probleme. Denn unzählige Reformdiskussionen, Stammtischparlamente, überparteilich konstituierte Konsenskommissionen und natürlich Beamte beschäftigen sich mit nichts anderem als: der Arbeitslosigkeit! Doch wo ist eigentlich das Problem? Wir haben bald 5 Millionen Arbeitslose, dafür bringt die Allgemeinheit – überwiegend die Arbeiter und Angestellten – im Jahr etwa 65 Milliarden Euro auf, womit aber keineswegs nur 5 Millionen Arbeitslosen und ihren Familien das täglich Brot und Fernsehen gesichert wird, sondern womit auch Hunderttausende Menschen unmittelbar Arbeit finden: Als Mitarbeiter der Arbeitsämter (91.000), als Beamte in den entsprechenden Ministerien, als angestellter oder freier Dozent für Bewerbungstrainings. Hinzu kommt der allgemeine Nachfrage- und Produktivitätsfaktor Arbeitslosigkeit: Arbeitslosigkeit isst nicht nur Brot, sondern auch Belag, Schnitzel und Gemüse, trinkt Milch und Sprudel und Bier, fährt und betankt Auto, zieht Kinder groß, trainiert die Fußballjugend. Arbeitslosigkeit beschäftigt Journalisten mit sich, beschäftigt Richter, die über Leistungsbetrug zu befinden haben, Anwälte, die vom Staat mehr für ihren arbeitslosen Mandanten fordern, Sozialpädagogen in »Maßnahmen« für »sozial Schwache«. Arbeitslosigkeit ist daher vor allem ein GeldTransfer, von den Geldverdienenden über Arbeitslose hin zu Produzenten, Händlern und Dienstleistern. Dieser Transfer muss nicht sinnvoll sein, aber er ist vielleicht weit weniger problematisch, als gemeinhin diskutiert. 63
Verbannung nach Helgoland
In alledem gleichen Arbeitslose den Rentnern und Pensionären, mit dem wesentlichen Unterschied, dass uns diese gesetzliche Arbeitslosigkeit mit jährlich etwa 190 Milliarden Euro dreimal so viel kostet, und dem unwesentlichen Unterschied, dass tatsächlich ein Teil dieser derzeit 20 Millionen Senioren nicht mehr arbeiten könnte. Doch allein für Frührentner müssen wir jährlich gut 27 Milliarden Euro ausgeben, für Erwerbsminderungsrenten noch mal 17 Milliarden. Ansonsten aber sollte man den Tatsachen brutal ins Auge sehen: beide Gruppen haben nicht irgendwann mal für sich »eingezahlt« und leben als Arbeitslose oder Rentner nun von diesen Ersparnissen, sondern sie werden von der werktätigen Bevölkerung und einigen Aktionären finanziert, durch Umverteilung des dort erwirtschafteten Mehrwerts. Das ist zunächst mal kein »Problem«, sondern offenbar ein gesellschaftlicher Wille, wenn es denn demokratisch zugeht: wie Schüler und Studenten sind sie freigestellt von der aktiven Beteiligung am »Solidarsystem«, das Anfang des 21. Jahrhunderts fast nur Geldbeteiligungen kennt. Arbeitslose per se sind kein Problem! Arbeitslose sind im Schnitt kaum unzufriedener als Erwerbstätige, und besonders zufrieden sind diejenigen, die von Berufs wegen unzufrieden mit der Arbeitslosigkeit sind: Politiker, Gewerkschafts- und Unternehmensfunktionäre leben prächtig von der Arbeitslosigkeit, dem Medieninteresse daran und den vielen Kongressen dazu mit lecker Buffet. Und wenn wir ganz scharf die Ohren spitzen, hören wir sie zwischen zwei genüsslichen Rülpsern sagen: »Ach Kinder, was würden wir nur ohne die Arbeitslosen den ganzen Tag machen.« Am Ende – wir befürchten es mit ihnen – müssten sie sich um Probleme kümmern, die man auch lösen kann. Sie müssten vielleicht auf eine Messe-Eröffnung und ein paar Bierzeltansprachen verzichten, stattdessen wie einst beim Vokabelpauken am Schreibtisch sitzen, Studien lesen, Anfragen stellen und eben all das tun, was man so macht, um tatsächlich an einer Sache etwas zu ändern. Das will Politik bekanntlich nicht. Was für eine Katastrophe für Union, FDP und PDS, hätte die 64
Das A-Problem
Regierung die Arbeitslosigkeit auch nur auf den von ihr zur Wahl proklamierten Zielwert von 3,5 Millionen gebracht. Der Bundestag an sich hat wie alle Landtage nicht das geringste Interesse daran, Arbeitslosigkeit abzubauen – so wenig wie Ärzte an der »Volksgesundheit« interesssiert sind, wenn wir sie nicht für tägliche Vorsorgeuntersuchungen bezahlen (dann sicherlich schon, weil's einfacher ist). Was dazu öffentlich verhandelt wird, ist professionelles Entertainment: hier ein Wirtschaftsinstitut, das den Wertverlust durch Arbeitslosigkeit berechnet, dort eine Prognose, mit welchen Maßnahmen man zur Vollbeschäftigung kommen könnte, Drohungen und Inschutznahmen. Man muss kein Makroökonom sein, um festzustellen, dass Politiker an der Arbeitslosigkeit seit nun drei Jahrzehnten nichts ändern. Ob das auch gar nicht geht, wie einige Wissenschaftler sagen, ob es Unfähigkeit oder Unlust ist, spielt dabei zunächst keine Rolle. Warum aber immer noch jeden Tag Politiker irgendwas zur Arbeitslosigkeit sagen dürfen – bei jedem Schlagabtausch im Parlament, in jedem Interview, auf jeder Versammlung – ist eines der großen Menschheitsrätsel der Gegenwart. »Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht« kann jedes Kind blöken, und im Bekanntenkreis reagieren wir recht empfindlich bei Aufschneidern. Politiker suggerieren uns, Arbeitslosigkeit sei ein Problem, und zwar nicht nur ein »politisches Problem«, so unser Kanzler höchst selbst, sondern gar ein »Problem der ganzen Gesellschaft«. Gaaaanz unrecht haben sie damit freilich nicht. Doch bei Politikern ist das Problem zum Selbstzweck geworden. Mit ihm kann man alles machen, die schwachsinnigste Produktion stützen wie im Steinkohlebergbau (wo umgerechnet jeder Kumpel mit 5.800 Euro monatlich subventioniert wird) und der gesamten Waffenindustrie, man darf tägliche neue »Konjunkturprogramme« fordern – und natürlich fortlaufend versprechen, bald würde alles wieder richtig gut. Man kann sogar über 70 Jahre ein Märchen vom Arbeitslosigkeit besiegenden Autobahnbau erzählen, so falsch dies auch 65
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von den Zahlen her und so schwachsinnig dies auch ökonomisch ist. »Arbeitslosigkeit« und ihr Positivum »Arbeitsplätze« sind zu Allzweckwaffen geworden. Unternehmer drohen erfolgreich mit Arbeitsplatzabbau und Abwanderung ins Ausland – als ob sie auch nur eine Sekunde aus Patriotismus und karitativem Solidargefühl heraus einen Deutschen in Deutschland beschäftigten. Für uns als Gesellschaft besteht zunächst mal das Problem der Arbeitslosigkeit nur darin, dass sie von den Arbeitenden finanziert wird. Sie bestimmen nicht über die Verwendung der 65 Milliarden Euro, das Geld wird ihnen entzogen und von einer sehr autonomen Bundesagentur für Arbeit (BA) verteilt und verfuttert. Arbeitslosigkeit bedeutet Umverteilung von den Verdienern zu den Nichtverdienern. Damit erhöhen sich die Kosten jedes Arbeitsplatzes um etwa 2.400 Euro pro Jahr, Tendenz bekanntlich steigend. Die Versicherung war einmal dafür gedacht, den einzelnen kurzfristig zu unterstützen, wenn er von einem zum anderen Job wechseln muss. Aber sie war nie dazu da, ein dauerhafter Ersatz zur Erwerbstätigkeit zu sein. Sehr deutlich wird dies immer noch aus der Anspruchsgrundlage: denn es erhält ja keineswegs jeder, der keinen Job findet, Hilfe vom Arbeitsamt, das sich jetzt Agentur schimpft, sondern nur derjenige, der mal versicherungspflichtig beschäftigt war, mindestens ein Jahr lang. Solange die Arbeitslosenversicherung klar begrenzt nur für den Übergang von einer zur anderen Tätigkeit zuständig ist, braucht man wahrlich kein Wort darüber zu verlieren. Probleme bereitet uns Arbeitslosigkeit an ganz anderer Stelle, seltenst diskutiert und polit-bürokratisch bisher null angegangen: »Langzeitarbeitslose« sind tatsächlich eine gesellschaftliche Belastung, ein persönliches Problem, mit dem schon Sozial- und Jugendämter überfordert wären, weil Behörden einfach nicht für Menschen gemacht sind, sondern für geduldiges Papier, mit dem aber Arbeitsagenturen kon66
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frontiert werden, die dafür weder Kennziffer noch Qualifikationsschlüssel noch Formular haben. Denn, was jeder weiß und niemand laut sagen darf: dauerhaftes Nichtstun degeneriert. Und, noch bekannter und noch zensierter: Langzeitarbeitslosigkeit ist nicht zufällig und damit gleichmäßig verteilt, es gibt prädestinierte Typen. Wenn Politiker dies einmal unter Verzicht auf Political Correctness ordentlich zur Kenntnis genommen hätten – der Besuch des ein oder anderen zwangsverordneten Bewerbungstrainings der Arbeitsämter hätte da schon genügt –, wäre der ganze Hartz-Rummel schlicht überflüssig gewesen. Denn in Wahrheit geht es bei allem Klagen um die Arbeitslosigkeit doch nur um die Frage, wie lange die Phase des Arbeitsplatzwechsels dauern kann und darf, also über Ansprüche aus der zuvor geleisteten Arbeit finanziert wird, und wo der Moment kommt, wo jemand aus dem Erwerbsleben ausgeschieden ist und daher auf eine soziale Grundsicherung zurückfällt (siehe nachfolgend »Bürgergeld«). Die Frage, ob die Gemeinschaft sich weitere öffentlich Beschäftigte leisten will – derzeit verhandelt unter »1-Euro-Jobs« – steht auf einem ganz anderen Blatt. Sie hat mit der Arbeitslosigkeit primär gar nichts zu tun. Denn auch ohne einen einzigen Arbeitslosen könnten wir uns ja HundehaufenEinsammler oder mehr Seniorenbetreuer wünschen – die dann halt importiert werden müssten. Dem Einzelnen mögen wir mit einem »Jeder ist seines Glückes Schmied« seine dauerhafte Lebensführung via Sozial- oder Arbeitsamt noch nachsehen, aber beim Anhang spätestens endet die Geduld: Wie werden eigentlich Kinder groß, deren Eltern arbeitslos sind? Wie werden sie sozialisiert, was haben sie für Vorbilder, mit welchen Schwierigkeiten, Ängsten und Exzessen werden sie belastet? Da spätestens hören Spaß und Polemik auf, und genau da halten Politiker den Rand: Was bitte tut ein »Agenturchef« Frank-Jürgen Weise für diese Kinder, wo ist das Engagement der Familienministerin, deren Behörde stolz auf eine Änderung des § 1631 BGB und die damit verordnete »gewaltfreie Erzie67
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hung« blicken kann, wo macht Ziehvater Gerd das vieltausendfache Elend zur Chefsache? Auch hier ginge es nicht primär um Arbeitslosigkeit, sondern um Jugendförderung. Was können denn die Kinder dafür, dass ihre Eltern arbeitslosengeldbezugsberechtigt sind oder eben nicht? Wenn Politiker über Arbeitslosigkeit reden, halluzinieren sie über ihr persönliches Nirwana: Sie proklamieren Ziele, die illusorisch sind (Vollbeschäftigung), sie tragen Ideen vor, die so alt wie der Wald und so brauchbar wie eine Bauchbar sind (weniger arbeiten), sie mahnen vor Problemen, die es nicht gibt (finanzieller Kollaps), dafür ignorieren sie alles, was in die Zukunft bringen könnte. Denn es ist wahrlich kein Geheimnis, dass es Vollbeschäftigung nur im Katastrophen- oder Post-Katastrophenfall gab, konkret in den 60er Jahren in Deutschland. Warum? Weil genug kaputt war, um viel aufbauen zu müssen, weil der Markt plötzlich Autos und Fernseher und Tiefkühltruhen bot, die jeder haben wollte; weil der Zweite Weltkrieg allein in Deutschland 6 Millionen Soldaten und Zivilisten dahingerafft hatte, und weil es soweit gut ging, dass in vielen Familien nur einer berufstätig sein musste. Aber das konnte nicht ewig so bleiben, nicht einmal lange. Der entscheidende Fortschritt besteht seit Anbeginn der menschlichen Kultur darin, die Effizienz der Arbeit zu erhöhen: Wo der menschengezogene Pflug dem Pferdegespann wich, war weniger Arbeit für den gleichen Ertrag nötig – oder es gab mehr Ertrag für einen vergleichbaren Arbeitsaufwand. Anstatt ständig isoliert über Arbeitslosigkeit zu lamentieren, sollten wir unser Verhältnis zur Arbeit mal grundsätzlich prüfen. Aus allen öffentlichen Diskussionen zum Arbeitsmarkt spricht der Wohlstand – voller Bauch bläht eben gern. Die »natürliche« Form der (menschlichen) Arbeit sah so aus: In kleinen Sozialverbänden arbeitete ein jeder, der arbeiten konnte – das beginnt mit der Fähigkeit, sich Verdauliches in 68
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den Mund zu stecken und damit die entscheidende Arbeit schlechthin zu leisten: sich am Leben zu halten. Mit der wachsenden Vergesellschaftung ging bekanntlich eine »Spezialisierung« der Tätigkeiten einher – nicht unbedingt freiwillig. Die Arbeit wurde abstrakter, entfernte sich zunehmend von der unmittelbaren Versorgung mit Nahrung, Kleidung und Unterkunft hin zum »Anschaffen«: Verbrachte der Frühmensch – wie Anthropologen meinen – etwa 50 Stunden pro Woche mit seinem Lebenserhalt, malochten Arbeiter in den Fabriken des 19. Jahrhunderts 70 bis 90 Stunden pro Woche. Und heute? Kinder dürfen gar nicht, Jugendliche sollen wenig oder nur unter bestimmten Bedingungen arbeiten, für Erwachsene liegt eine Zeit lang das Seelenheil in der 35-Stunden Woche – Mehrarbeit ist schädlich, Arbeitslosigkeit unser großer Kampfgegner –, um dann ab 55 (HartzKommission), spätestens 60 nicht mehr arbeiten zu müssen und sich die nächsten zwei Jahrzehnte wieder von anderen durchfüttern zu lassen. Dass durcheinander die Verlängerung und die Verkürzung von Lebensarbeitszeit und Wochenarbeitszeit diskutiert werden, zeigt die Ziellosigkeit. Doch die Frage nach Verteilung der Arbeit, nach Qualität statt Quantität, nach Leistungen für das Gemeinwesen, überlässt die Politik ganz überwiegend Philosophen, Soziologen und Initiativ-Gruppen – zu vermuten ist: weil sie selbst da nicht durchblickt. Es ist natürlich einfacher zu fordern, von irgendwo (also: irgendwem) Geld für irgendwelche Struktur- oder Konjunkturmaßnahmen zu nehmen, um damit Arbeitsplätze – ganz im heutigen Sinne – zu schaffen, als sich mit unserer Situation zu befassen, in der für das Überleben eines 80-MillionenVolkes im Moment offenbar schon die Erwerbstätigkeit von knapp 30 Millionen Menschen ausreicht, Tendenz stark fallend und nicht berück69
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sichtigt, dass viele Jobs schlicht nicht gebraucht werden, aber (noch) da sind. Zu Recht wird gerade von Arbeitslosenvereinigungen proklamiert, dass längst nicht alle Menschen in bezahlter Beschäftigung im Sinne von Belastung (»im Schweiße deines Angesichts«) und im Sinne von Produktivität »arbeiten«. Der Unterschied zu einer ABM oder anderen Förderprogrammen ist nicht selten marginal bis null. Wer in der Stadtverwaltung den Eingang von kleinen Verwaltungsgebühren, Mini-Beiträgen zur städtischen Musikschule oder den Elternanteil zum Kindergarten verbucht, überwacht und ggf. fehlende Beträge anmahnt oder »beitreibt« und mit seiner Tätigkeit mehr Kosten verursacht als durch die Beträge eingenommen wird, geht nichts anderem als einer – nur nicht so deklarierten – Arbeitsbeschaffungsmaßnahme nach. Es ist eben eine Umverteilung. Den produktiv Arbeitenden wird über Steuern und Abgaben an allen Enden Geld entzogen, um andere zu finanzieren, die dafür eine nicht selten völlig überflüssige Tätigkeit erbringen. Bei ordentlicher Organisation wären alle Landesversicherungsanstalten ebenso entbehrlich wie die etwa 2.300 Geschäftsstellen der 331 gesetzlichen Krankenkassen. Die größten ABM-Kritiker aus der Wirtschaft sind gerne ihre eifrigsten Nutzer – bei ihnen heißt es jedoch nicht despektierlich »zweiter Arbeitsmarkt«, sondern »Investition«. Während die klassische ABM von der Arbeitsagentur finanziert wird, kommt das Geld für die »frei-marktwirtschaftliche« aber von Kommunen, Ländern oder Bund. Wenn Baden-Württembergs Innenminister Thomas Schäuble stolz ist auf sein »Technik-Zukunftsprogramm« der Polizei, das 348 Millionen Euro für einen neuen »Fuhrpark«, Erneuerung der Boote und aktuelle Pistolen bereitstellt, ohne die Produktivität der Investition nachzuweisen – hier also: mehr Sicherheit oder sauberere Flüsse oder totere Banditen – haben die entsprechenden Herstellerfirmen nichts anderes als eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme verrichtet. Ein Konzerthaus für die 70
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Symphoniker, die bisher in anderen Hallen spielten, bringt Architekten, Baufirmen und Zulieferern 30 Millionen Euro Umsatz – wie jede ABM ein Luxus, etwas, was sich die Gesellschaft angeblich leisten möchte und leisten können sollte. Noam Chomsky, Professor am Massachusetts Institute of Technology, erklärt sehr einleuchtend, dass die meisten Großfirmen ohne direkte staatliche Hilfe, staatliche Aufträge oder staatlich verordnete Handelsbarrieren auf einem wirklich freien Markt keine Chance hätten. Das augenfälligste Beispiel ist die Baubranche: mindestens 25 Milliarden Euro werden hier jährlich vom Staat umgesetzt, weil er sich Straßen, Gebäude und Kanalisationen leistet. Ob das alles nötig ist, darf ein jeder selbst vor seiner Haustür prüfen. Einen guten Teil des Geldes verteilt der Staat weit unauffälliger um. 70.000 Steuerberater bräuchte es nicht, wenn wir endlich eine simple Steuergesetzgebung hätten. So aber habe ich nur die Wahl zwischen Herzinfarkt beim einsamen Steuerkampf, unnötig hohen Steuerzahlungen oder der kostenpflichtigen Beauftragung eines Steuerberaters. Die Gebühreneinzugszentrale (GEZ) des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und die Eintreiber bei den Landesrundfunkanstalten gibt es nur, weil der Staat bisher die einzig logische Finanzierung dieser angeblich für uns alle so unendlich wichtigen Grundversorgung mit Herzblatt, Tatort und Musikantenstadl über den allgemeinen Staatshaushalt verweigert – fast 7 Milliarden Euro kassiert die GEZ derzeit. Alle Politessen wären arbeitslos, hielten sich Auto- und Motorradfahrer an die Vorgaben, die nur Fachleute im städtischen Schilderwald lesen können oder zöge man die einzig richtige Konsequenz aus allen permanent missachteten Park- und Halteverbotsschildern – nämlich diese abzuschrauben. Studenten und Schüler wären um ihren Nebenjob ebenso gebracht wie professionelle Nachhilfelehrer, würden die Schulen ihren Bildungsauftrag erfüllen. Dank der Einnahmen aus Tabak- und Alkoholsteuer kann der Staat Kampagnen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung gegen das Rauchen und Saufen finanzie71
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ren. 200.000 Soldaten hat die Bundeswehr, die derzeit nicht für Auslandseinsätze in Betracht kommen – sie stehen ihre Wehrdienstzeit ab. Was bringt es der Gemeinschaft? Strafprozesse gegen Sozialhilfeempfänger wegen Bagatell-Delikten erfreuen Rechtsanwälte, Staatsanwälte, Richter und Justizbeamte – die Kosten trägt so oder so der Staat. Die einem Allmachtsstaat-Denken entspringende Drogen-Prohibition kostet jährlich Milliarden (allein 7 Milliarden Euro für die HeroinBekämpfung und etwa 2 Milliarden Euro für staatliche Repression gegen die Volksdroge Cannabis) – es freuen sich die so bezahlten Polizisten, Steuerfahnder, Analyse-Institute, es freuen sich die Käufer von günstiger Hehlerware, die Kunden vom Drogenstrich und viele mehr. Nur ob wir diese Umverteilung des Geldes wollen, fragt niemand. Kein Hausbesitzer mitGasheizung braucht heute noch einen Schornsteinfeger, und doch muss er ihn regelmäßig bezahlen. Der altmodische TÜV oder sein Wettbewerber DEKRA wären überflüssig, würde man der normalen Kfz-Werkstatt glauben, das von ihr hergerichtete Auto sei straßentauglich. Haftung übernimmt schließlich auch der TÜV nach seiner Autopsie nicht. Der Polizist oder die Lehrerin, die sich mit 40 Jahren in den vorzeitigen Ruhestand verabschieden, sind nur in der Statistik nicht arbeitslos. Wer als »Selbstständiger« finanziell nicht wirklich selbstständig über die Runden kommt, sondern von den Einnahmen des Ehepartners oder von einem Erbe zehrt, ist natürlich im finanziellen Sinne arbeitslos (also ohne »Erwerbs«-arbeit), auch wenn er sich tot rackert. Besonders kurios wird die Situation bei der Schwelle zwischen Beschäftigung und Arbeitslosigkeit: Die kurzfristig klamme Firma kann beim Finanzamt betteln wie sie will – ihre Umsatzsteuerschuld beispielsweise ist aufgrund juristischer Meisterregelungen nicht stundbar. Der Staat holt sich noch, was zu holen ist, die Mitarbeiter bekommen (maximal) drei Monate lang Insolvenzgeld, danach Arbeitslosengeld – 72
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und es stehen die Millionen bereit, um die Neu-Arbeitslosen wieder arbeitsmarktfähig zu machen: mit Umschulungen, Fortbildungen, Eingliederungshilfen, Übergangsgeldern und anderem mehr. Das ist die Logik des Systems: Unternehmen, die sich am Markt nicht behaupten können, müssen sterben – alles andere wäre Sozialismus. Für die Arbeitslosen denkt sich die Politik dann neue, marktfähige Arbeitsplätze aus – und schrecken dabei auch nicht vor der astronomischen Zahl 150.000 Millionen Euro zurück, die die Hartz-Kommission für gerade mal eine Million neue Jobs verbraten wollte. Das Splitten in abhängig Beschäftigte und Arbeitslose ist wie so vieles ein Relikt vergangener Zeiten – und war schon bei der Einführung der Arbeitslosenversicherung 1927 nicht logisch. Spätestens, wenn wir von denjenigen, die – nach dem bisherigen System – Gelder von der BA oder vom Sozialamt beziehen, eine angemessene, zumutbare Gegenleistung erwarten und bekommen, wird deutlich, dass es einfach nur verschiedene Möglichkeiten gibt, in diesem Land sein Auskommen zu sichern: der eine schweißt für Opel Karosseriebleche, die andere flötet für die Stadt Rüsselsheim mit Kindern. Ansonsten sollte klar sein, dass die Absicherung eines Existenzminimums oder auch – im Falle des Arbeitslosengeldes – eines darüber liegenden Lebensstandards keineswegs aus einem Solidaritätsgedanken heraus erfolgen muss und heute mit einer echten Versicherungsleistung nichts mehr gemein hat (denn Einnahmen und Ausgaben stimmen hier schon lange nicht mehr und die Bedingungen für Versicherungsabschluss und Zahlungsfall sind alles andere als versicherungstypisch). Vielmehr sichern sich die Wohlhabenderen damit selbst ab. Denn es braucht nicht sehr viel Fantasie sich vorzustellen, wie Millionen Bürger reagieren müssen, die rein nichts mehr in der Tasche haben und auch nichts vom Staat bekommen. (So war es keineswegs sozialethischer Fürsorgegedanke, sondern reines Machtkalkül, aus dem heraus Reichskanzler Otto von Bismarck 1883 die Krankenver73
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sicherung, 1884 die Unfallversicherung und 1889 die Invaliditäts- und Alterssicherung einführte.) Das zentrale finanzielle Problem der Arbeitslosigkeit ist derzeit die Einseitigkeit der Leistung. Der Staat zahlt ohne Gegenleistung. »Dafür haben wir ja auch mal eingezahlt« könnte eben nur für einen sehr begrenzten Zeitraum gelten, für die rasch erfolgreiche Suche nach einem neuen Job. Arbeitslosigkeit ist keineswegs so gleichmäßig verteilt, wie dies bei einer echten Versicherung vorausgesetzt würde. Wären die Arbeitnehmer bei einem privaten Anbieter versichert, gäbe es eine breite Beitragsstaffelung – bis hin zur Ablehnung von Versicherungsanträgen. Dem einen traut man eben zu, im Falle eines Falles schnell wieder einen Job zu finden, dem anderen nicht – natürlich sehr von der Branche abhängig. Ob dafür nun das böse Schicksal, schlechte Gene oder Lust und Laune verantwortlich sind, spielt – für eine Versicherung – keine Rolle. Wer heute als Kassierer in einem Supermarkt sozialversicherungspflichtig angestellt wird und somit nach einem Jahr Arbeit Anspruch auf Arbeitslosengeld erwirbt, würde von keiner privaten Versicherung genommen, weil sie ihm prophezeien würde: »Den Job machst du eh nicht lange, dann übernimmt das komplett ein Computer oder dein Laden hat einfach dicht gemacht.«
Von arbeitsfähigen Arbeitslosen keine Leistung zu erwarten, ist nicht nur ein Luxus, für den es derzeit gar keine finanzielle Legitimation gibt, es ist für viele Arbeitslose auch eine Verurteilung zum dauerhaften »Sozialfall«. Denn sehen wir einmal von denjenigen ab, die zwar kurzfristig arbeitslos sind, aber gar nicht in die Statistik gehören – z.B. weil sie direkt von einem Job zum nächsten wechseln – verringern sich die Chancen auf dem Arbeitsmarkt mit jedem Monat der Untätigkeit. Und so zählt die Statistik 1.500.000 Langzeitarbeitslose derzeit. So gerne Gewerkschaften und Sozialpolitiker es auch als »Stammtischparolen« verdammen wollen: viele Arbeitslose haben sich mit ihrer Situation arrangiert – ob freiwillig oder aus Frust heraus spielt keine Rolle. Wer in 74
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dem Feld arbeitet – ob in Maßnahmen für »Gering-Qualifizierte« oder in Programmen für arbeitslose Akademiker – weiß das. Und wer ein bisschen ehrlich ist wird ergänzen: es ist auch nachvollziehbar. Doch unzählige Artikel und Reportagen dazu, Fernsehsendungen, in denen Arbeitslose freimütig erklären, sehr zufrieden zu sein mir ihrer Situation, ermuntern unsere Politiker nicht, endlich etwas grundlegend zu ändern. Und für die vielen definitiv Unfähigen – vor allem Akademiker, die mit über 30 mal anfangen, über den europäischen Sozialfond in die Arbeitswelt hineinzuschnuppern – müsste man sich richtig was überlegen, oder sie als Schafhirten aufs Feld schicken. Gibt es etwa nichts zu tun in Deutschland? Mangelt es wirklich an Beschäftigungsmöglichkeiten? Natürlich nicht. Was fehlt, sind Arbeitsplätze in der Wirtschaft – das Einzige, was nach der heiligen Lehre der (sozialen) Marktwirtschaft etwas taugt: Jobs, die sich aus ihrer Tätigkeit heraus mindestens selbst finanzieren müssen, die dem Unternehmen aber in der Regel auch noch etwas einbringen sollten. Diese Situation ist bekannt, und sie wird sich mit den Vorschlägen, die seit Jahr und Tag diskutiert werden, nicht ändern. Und doch schafft es die Politik, uns auch nach Jahrzehnten noch mit dem Thema Arbeitslosigkeit zu traktieren. Wenn sie schon keine neuen, ansatzweise innovativen Ideen entwickelt, sollte sie wenigstens offen und ehrlich kapitulieren und den Status quo als Naturgewalt hinnehmen. Man muss mit dem Thema ja nicht mehr Leute in Mitleidenschaft ziehen, als unbedingt nötig. 16 Jahre hatte die Union am Stück Zeit, mit dem erfolgreich zu sein, was sie nun wieder neu verspricht. Auch vier Jahre Rot-Grün hätten wenigstens die viel beschworene »Trendwende« ergeben müssen, wenn tatsächlich gehandelt würde und dieses Handeln überhaupt etwas bewirken kann. Dem ist aber – sattsam bekannt – nicht so. Wir finanzieren 4,6 Millionen Arbeitslose und zugleich – nur als Beispiel – 800 Studentenjobs während der Documenta in Kassel, beschäftigen allein in NRW mehrere tausend Nicht-Lehrer, um Grundschulkinder von 8 bis 13 Uhr bei 75
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Unterrichtsausfall zu betreuen, führen eine Pflicht-Pflegeversicherung ein, weil ja niemand da ist, der sich um die Alten kümmern kann. Warum lassen wir Politiker eigentlich alles regeln? Genauer gefragt: Weshalb erliegen wir immer noch ihren Versprechungen, die sich dahinter verbergen? Es wird keine Vollbeschäftigung wie in den 60er Jahren mehr geben, ebenso wenig eine gesetzliche Rente mit 65 oder gar früher! Und zwar nicht in erster Linie, weil wir es uns nicht mehr leisten können – es geht ja, wie wir sehen! – sondern weil wir es in dieser Form nicht mehr wollen. Langzeitarbeitslose gehen wegen Hartz IV auf die Straße – und haben die öffentliche Meinung ganz gut hinter sich. Wieso darf der Arbeitende nicht laut klagen über den Transfer, den er mitfinanziert, der seinen persönlichen Wohlstand deutlich schmälert? Es ist Zeit, selbst zu denken und nicht darauf zu vertrauen, die Politik werde es schon irgendwie regeln. Sie ist damit völlig überfordert. Die Richtung ist doch klar: Die Technisierung und der Wettbewerb führen dazu, dass immer weniger menschliche Arbeitskräfte gebraucht werden. Wo früher das Auto noch freundlich betankt wurde, hat die »SB-Tanke« heute alles verdrängt, niemand käme mehr auf die Idee, dass es Arbeitsplätze an der Zapfsäule gibt. Wo früher in jedem Karree ein Bäcker war, ist heute tote Hose, weil eine gigantische mehlverarbeitende Industrie das Land mit maschinell erzeugtem Toastbrot, Aufbackbrötchen und geschnittenem Graubrot überzieht. Die Banküberweisung wird vom Computer eingelesen oder direkt online bearbeitet, die Montage eines Autos übernimmt ein Roboter, dessen Bruder ganze Häuser in Fertigbauweise herstellen kann. 20 Straßenfeger werden von einer Kehrmaschine ersetzt, der Schneider ist überflüssig, weil in Indien 7-jährige Kinder unsere Hosen und Pullis nähen. Und Mitarbeiter der Deutschen Bahn AG müssen mit bedruckten Jacken als Automaten-Assistenten dafür werben, Fahrkarten künftig nicht mehr 76
Das A-Problem
am Schalter zu kaufen, sondern inklusive Sitzplatzreservierung selbst zu buchen. Wir könnten das gemeinsam natürlich ändern, wenn wir andere Prioritäten in unseren Geldausgaben setzen wollten – aber das will kaum einer. Wir alle wollen ganz offensichtlich den Arbeitsplatzabbau: wir kaufen bei Aldi und Lidl aus Kartons, wo niemand mehr Regale einräumt, wir fahren ins Einkaufszentrum statt zu Tante Emma, wir wählen die Billig-Eier von der Tierindustrie – aus welcher Haltungsform auch immer –, nicht von einem Familienhof (wer kennt eigentlich noch einen Bauern?). Das kann man bedauern – und wir sollten uns auch nach Alternativen umsehen, aber zunächst ist es einmal so. Dabei kann man auch nicht, wie manch einer meint, immer mehr Gewinn bei den Großindustriellen abschöpfen. Natürlich verdienen viele hier saumäßig viel Geld, aber in der Summe sind unsere Lebenshaltungskosten kontinuierlich gesunken. Wir fliegen eben lieber nach Ibiza, als mehr Geld für einen hand- statt maschinell geschöpften Käse zu zahlen. Das wird sich nur dort ändern lassen, wo wir persönlich den Benefit spüren. Die Appelle, doch bitte auf das Doityourself im Haus zu verzichten und den Handwerker zu beauftragen, damit er sein Auskommen hat und der Staat mit Steuern und Sozialabgaben zuschlagen kann, sind doch nur noch Kalauer. Die Situation ist doch die: Wenn mein Computer rumzickt, dann bitte ich den 16-jährigen Nachbarsjungen, das Ding wieder zu richten, aber ich gehe damit doch nicht in die EDVBastelbude, weil ich weiß, am Ende zahle ich für die Diagnose »Da kann man nichts mehr machen und das lohnt sich auch gar nicht mehr«. Dabei ist inzwischen eine – staatlich fundierte – Abhängigkeit entstanden, die Veränderungen nur noch mit rigorosen Umstrukturierungen möglich macht – für die Politikern Weitsicht und Mut fehlen. Machen wir uns nichts vor: die Großkonzerne, ob bei Lebensmitteln, Autos, Papier oder Öl – haben uns so weit in der Hand, dass es längst nicht mehr möglich ist, sie beliebig zur Finanzierung der Restgesellschaft heranzuziehen. Sobald es sich nicht mehr rechnet, suchen sie 77
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sich attraktivere Märkte und wir können verhungern. Das Problem, dass heute Weltkonzerne völlig unternehmergeistfrei und dafür 100 Prozent renditefixiert unseren gesamten Alltag beherrschen, wird von Politikern nichtmals im Traum angegangen. Sie freuen sich über den ausländischen Investor, der zwar einen harten »Sanierungskurs« fahren will, aber mindestens 8 deutsche Arbeitsplätze bis nächstes Jahr erhalten wird. Wie weit diese Abhängigkeit geht, können Sie selbst testen. Rufen Sie die Behörde Ihrer Wahl an und sagen Sie, Sie wollten in Ihrem Garten drei Kühe halten, um die Milch an Ihre Nachbarn zu verticken – Milch wird schließlich außer bei Veganern überall getrunken oder verkocht. Erleben Sie eine Odyssee durch die deutsche Bürokratie und stellen Sie am Ende fest, dass es einfach nicht geht. Dass Sie die nötige Milchquote nicht kaufen können, dass es Probleme mit dem Immissionsschutzgesetz gibt, dass die Tierseuchenkasse nicht mitspielt und vieles andere mehr. Probieren Sie es einfach aus – und erleben Sie die ganze Pracht einer führenden Industrienation. Und wenn Sie das noch mit anderen Anfragen durchspielen – versuchen Sie, mit einer Schafherde durch Deutschland zu vagabundieren oder als Beraterin für Mietangelegenheiten ein Auskommen zu haben – , dann werden Sie annähernd merken, wie es um den deutschen Arbeitsmarkt wirklich bestellt ist: er ist bereits völlig verteilt. Gesetze, Verordnungen und Ausführungsbestimmungen werden dafür sorgen, dass Sie nicht einen Fuß auf den Boden bekommen. Dabei ist es doch die ursprünglichste und naheliegendste Arbeit überhaupt: für sein eigenes Auskommen zu sorgen. Ohne, dass Ihnen jemand vorschreibt, welche Schutzkleidung Sie dabei zu tragen haben oder in welchem Winkel zum Fenster der PC-Bildschirm zu stehen hat. Ganz offenbar geht es darum aber nicht. Zumindest haben Politiker die Grundlage dafür geschaffen, dass wir heute fast nichts mehr dürfen, 78
Das A-Problem
ohne ihre Lakaien zu fragen. Und dafür gibt es zwei klare Gründe: Zum einen toben Politiker ihre Machtgelüste aus, und wenn möglicherweise irgendwo jemand an Salmonellen erkrankt ist, dann wird eben der Verkauf offener Ware verboten und der Verzehr von eierhaltigen Speisen in öffentlichen Einrichtungen gleich dazu. Zum anderen brauchen Politiker, die in der Bevölkerung denkbar wenig Freunde haben, ein paar starke Partner. Das geht freilich nicht ohne Gegenleistung, und so bedankt sich der Politiker dann gerne mit Gesetzen zum Schutz des Verbrauchers, die in Wahrheit nur ein paar Großindustrielle absichern. Politiker können Rahmenbedingungen für den Arbeitsmarkt setzen – und das tun sie auch recht eifrig, aber nur erfolgreich in der Hinsicht, dass sie mal dieser, mal jener laut schreienden Lobbygruppe entgegenkommen. So wird dann geregelt, ab welcher Betriebsgröße es getrennte Toiletten für Männer und Frauen geben muss, wem Bildungsurlaub zusteht und dass abends niemand ohne Sondergenehmigung arbeiten darf. Ladenöffnungszeiten bis 18.30, bis 20 Uhr oder bis Mitternacht – es ist völlig egal, Hauptsache Politiker legen es fest und überlassen es nicht einfach dem Lauf der Dinge. Den so entstandenen Regelungswirrwarr durchblickt niemand mehr, doch die fundamentale Frage, ob es um den Arbeitsmarkt nicht besser stünde, wenn sich Politiker ihm nie angenommen hätten, bleibt außen vor. Im Gegenteil wird bislang bei jedem Wahlkampf erfolgreich so getan, als ob ausgerechnet Politiker für Verbesserungen sorgen könnten. Sie, die von produktiver Arbeit so viel verstehen wie Fleckvieh von Joghurt. Beispiel »Schwarzarbeit«. Sie ist ein verbaler Tummelplatz für Politiker. Denn ihre Freunde und Helfer, die »Experten«, liefern eifrig Zahlen zu diesem Phänomen: 350 Milliarden Euro soll ihr Wert 2002 gewesen sein und damit 16,5% des offiziellen Bruttoinlandsproduktes entsprechen. Damit seien dem Staat 70 Milliarden Euro an Steuern und Sozialabgaben entgangen. 9 Millionen Menschen sollen in diesem kriminellen Milieu aktiv sein – 9 Millionen Menschen, für die wir leider 79
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keinen Knastplatz haben – oder gar keinen Knastplatz wollen. Denn anders als Politiker könnten wir die Sache ja auch mal nüchtern betrachten. Das beginnt mit der Feststellung, dass »Schwarzarbeit« ein willkürlich definiertes Delikt ist. Entfiele z.B. die Pflicht der Steuer- und Sozialabgaben und der gesamte sonstige Regelungskram für Arbeitsplätze, würden Menschen eben einfach arbeiten und dafür vom Auftragoder Arbeitgeber eine Vergütung erhalten, dann gäbe es keine Schwarzarbeit. Das ist zu billig? Nicht unbedingt. Der Schüler, der Nachhilfe gegen Cash erteilt, ist ein Schwarzarbeiter. Auch der kleine Gitarrenlehrer, und die türkische Putzfrau ohnehin. Wie der eifrige ebayVerkäufer oder der Nachbar, der uns bei der Renovierung geholfen hat. Die Probleme schaffen zunächst mal nicht diese Menschen, sondern Politiker und in ihrem Gefolge dann Beamte und Richter. Kann es aber sein, dass wir ungeachtet von Mini-Job-Regelung und Ausnahmegenehmigung für polnische Pflegekräfte als Papa oder EdekaVerkäuferin keinen Bock haben, plötzlich zu Arbeitgebern zu werden und uns mit An- und Abmeldeformalitäten für das Kindermädchen herumzuschlagen? Kann es sein, dass wir eben lieber natural die Hilfe bei der Steuererklärung gegen eine verputzte Wand tauschen, als dies über Finanzamt, Krankenkasse, Berufsgenossenschaft, vielleicht noch IHK oder Handwerkskammer, Arbeitgeberverband und Mini-Job-Zentrale managen zu lassen? Politikern fehlt es offensichtlich an dieser Fantasie. Auch die Rechnung an sich ist natürlich hanebüchen. Auf die 70 Milliarden Euro Steuerverlust durch Schwarzarbeit kommt man ganz simpel, indem man von durchschnittlich 20% Lohnsteuer ausgeht, also den wirklich wenig Verdienenden. Haben diese die 70 Milliarden Euro jetzt aufgefressen? Vielleicht. Dann ist das Geld bei Aldi gelandet oder beim Döner-Mann. Modellrechnungen für so komplexe Systeme wie unsere Geldwirtschaft sind offen für Manipulationen jeder Art. Machen wir also mal mit: Unser Schwarzarbeiter verdient im Monat etwa 400 Euro, weil er den Nachbarn in seinem Badezimmer die Haare schneidet. 80
Das A-Problem
Würde er sich stattdessen als geringfügig Beschäftigter beim Friseur um die Ecke anstellen lassen, müsste sein neuer Arbeitgeber im Monat 100 Euro pauschal an Sozialbeiträgen abführen. Weil er von seinen Kunden natürlich kein Schwarzgeld einnimmt, sondern alles anständig durch die Kasse wandern lässt, muss er auch 16% Mehrwertsteuer abführen. Das Dienstleistungsunternehmen, das für ihn die Lohnbuchhaltung macht, berechnet pro Monat 120 Euro. Da der geringfügig Beschäftigte natürlich auch bei Krankheit bezahlt werden muss – anders als zuvor als Schwarzarbeiter und egal, ob er will oder nicht – und Anspruch auf Urlaub hat, erhöhen sich die Lohnkosten im Verhältnis zur realen Beschäftigung noch mal um rund 15%. Die Leistung, die also vorher monatlich für 400 Euro zu haben war, kostet nun schon etwa 750 Euro. Dieses Geld bringt aber mitnichten unser ehemaliger Schwarzarbeiter auf – wie auch. Es muss von seinen Nachbarn kommen, die bislang in seinem Badezimmer frisiert wurden. Woher die es nehmen sollen – egal? Jedenfalls werden sie die 90% Kostensteigerung, die die Legalisierung des Haareschneidens nun mit sich gebracht hat, an anderer Stelle sparen müssen. Bei der Maniküre zum Beispiel. Schade für die Dame dort, die bislang gerade noch ihr Auskommen bestreiten konnte. Was passiert aber, wenn unser Scheren-Meister weiterhin schwarz arbeitet, um sich von diesem Geld auf die Couch eines angesehenen Psychotherapeuten zu legen? Dann greift der Staat bei diesem Spitzenverdiener mit 40% Einkommensteuer zu und vereinnahmt monatlich 160 Euro – ohne Mini-Job-Zentrale, Landesversicherungsanstalt und was sich Politiker sonst noch alles ausgedacht haben, um uns das Leben schwer zu machen. Und was, wenn sich der Schwarzarbeiter den Luxus leistet, jeden Monat für 400 Euro in die Spielhalle zu gehen – seiner noch nicht therapierten Sucht wegen? Der Staat kassiert hier am Automaten unmittelbar 80% Spielbankabgabe von dem, was drin bleibt, vom Rest muss die 81
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Spielhalle ihre Kosten bestreiten und den dann vielleicht noch verbleibenden Lebensrest natürlich versteuern. Wenn Politiker rechnen könnten, würden sie also sofort jedem Spielsüchtigen die Schwarzarbeits-Absolution erteilen. So wie dem Kettenraucher und Schnapstrinker und Lottospieler. Und so machen Politiker weiter in einem völlig irrsinnigen, von ihnen selbst geschaffenen System. Finanzielle Absicherung gibt es nur für die, die mal gearbeitet haben, als Angestellte natürlich. Wer noch auf der Suche nach einem Job ist, wer sich selbstständig als Künstler, Dolmetscher, Journalist, Sporttrainer oder sonst was durchs Leben schlägt, wem von vornherein die Qualifikation fehlt – der hat eben Pech gehabt. So wie der Selbstständige, der nach Jahren des Malochens nicht mehr kann. Pech gehabt. Da hilft es auch nicht, vorher Jahrzehnte in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt zu haben! Absurd? Nein, Realpolitik. Wer vom Angestelltendasein in die Selbstständigkeit wechselt, verliert seinen Versicherungsanspruch. Wer als Selbstständiger vom Kioskbetrieb zur Imbissbude wechseln will, bekommt selbstverständlich keinerlei Hilfe – der Markt wird das schon regeln. Wer aber mal in einem Sekretariat oder einer Setzerei Texte abgetippt hat, was heute nicht mehr nötig ist, weil es der Scanner zusammen mit der Texterkennungssoftware macht, der wird vom Arbeitsamt auf Händen zum selbstständigen Textbüroanbieter als Ich-AG getragen. Denn es geht nicht darum, was der Markt braucht, es geht nicht darum, wer mit möglichst geringer Starthilfe den Sprung in die Selbstständigkeit schafft, es geht einzig und allein darum, einen statistisch gezählten Arbeitslosen zu beseitigen. Wer als Freiberufler sein Englisch aufbessern will, muss den Kurs dafür natürlich selbst zahlen und schauen, wie er die Zeit dafür aufbringt. Wer als Arbeitsloser über die Bundesagentur finanziert wird, kann mindestens vier Wochen Englisch-Unterricht beanspruchen, weil 82
Das A-Problem
es mit Sicherheit seine Vermittlungschancen erhöht. Ein Nachweis über den Erfolg der teuren Maßnahme ist nicht nötig. Es ist ja nicht so, dass wir von unseren Politikern verlangen würden, selbst mal auf die ein oder andere gute Idee zu kommen. Sie müssten nur zur Kenntnis nehmen, was es alles längst an Vorschlägen und erprobten Modellen gibt. Sie müssten aber auch zur Kenntnis nehmen, was ihnen unabhängige Wissenschaftler, die noch nicht auf ihrer Beraterliste stehen, zu sagen haben: Was tut die Politik denn dagegen, dass alle Jungen, die ein wenig fit sind, aus den ostdeutschen Bundesländern in den Westen abhauen? Hat irgendein Politiker eine Ahnung, was wir mit all den Schlossern und Schreinern und Bahnfahrern machen sollen, die heute – auch Dank Androhung einer Ausbildungsplatzabgabe – ausgebildet werden, um auf kurz oder lang mit absoluter Sicherheit wegrationalisiert zu werden? Wo ist die wirklich flexible Arbeitszeitregelung, den Überschuss an jugendlicher Power in einer 50-Stunden-Woche austoben zu dürfen (verboten!), um später mal weniger zu arbeiten? Wieso kann man eigentlich mit 21 Jahren Busfahrer werden, anstatt sich das als Umschulung aufzusparen, wenn man mit 50 ohnehin lieber sitzen möchte, aber nun mal noch 20 oder mehr Jahre erwerbsfähig und finanziell zwangsläufig auch erwerbstätig sein wird? Wie kann man junge Lehrer in die Schulverwaltung stecken, statt sich das aufzusparen, bis sie Kinder nicht mehr sehen können und statt Klassenarbeiten eben Akten wälzen wollen? Und wieso, bitte, muss ein erwachsener Mensch, der sich nach einigen Eskapaden wieder gefangen hat, zunächst an der Abendrealschule Englisch lernen und einen Abschluss machen, bevor er eine Berufsausbildung machen darf ? In den Sonntagsreden unserer Politiker zum Arbeitsmarkt geht alles, aber auch wirklich alles an der Realität vorbei. Sie hampeln in einem System herum, in dem eine Million Interessensgruppen meinen, eine 83
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Existenzberechtigung zu haben, und von denen Politiker meinen, sie müssten diese daher ernst nehmen. Jedem anderen leuchtet hingegen ein: Wenn wir wirklich einen neuen Arbeitsmarkt gestalten wollen, wenn wir in einem Land leben wollen, in dem möglichst jeder für seinen Broterwerb eigenverantwortlich sorgt und in dem gleichwohl keiner hungern muss, wenn in seiner Lebensplanung etwas schief gelaufen ist, dann werden wir uns von der Bundesagentur für Arbeit und den Industrie- und Handelskammern, von Handwerkskammern und Innungen, von Gewerbeämtern und Bauaufsichtssicherungsämtern trennen müssen. Die Politik zwingt uns jedoch, weiterhin mit Steuern und Abgaben ein System zu finanzieren, in dem bar jeder Vernunft und ohne jemals Rechenschaft ablegen zu müssen, die Beteiligten vor sich hin wurschteln. Versuchen Sie doch mal, jemanden anzustellen, weil es doch unser aller höchstes Ziel ist, Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Kriegen Sie heraus, in welche Berufsgenossenschaft Sie eintreten müssen, ob es für Ihren Arbeitsbereich einen verbindlichen Tarifvertrag gibt, wie Sie eigentlich Sozialabgaben abführen und welche Versicherungen Sie abschließen müssen. Lassen Sie sich überraschen von einer Mutterschaftsumlage, die Sie auch für ihren männlichen Angestellten zahlen müssen, allerdings nicht bei seiner Krankenkasse, weil die nicht umlagefähig ist. Freuen Sie sich auf Erkenntnisse, bei welcher Lohnhöhe sie entgegen allem, was Sie bislang gelernt haben, die Sozialabgaben nicht zur Hälfte vom Lohn abziehen dürfen. Lernen Sie, wie hoch eine Bürodecke sein muss und welche Anforderungen an die Fenster gestellt sind, damit da überhaupt jemand sitzen darf. Tauschen Sie als Bettlektüre Illies oder Rowling gegen die EU-Richtlinie für Bildschirmarbeitsplätze – sonst werden Sie sich vielleicht nie mehr ein Buch kaufen können. Ausgerechnet Helmut Schmidt, der Bundeskanzler a.D., hat gefordert, die Hälfte aller Gesetzesbestimmungen ersatzlos zu streichen, wenn man in Ostdeutschland überhaupt noch Menschen 84
Das A-Problem
beschäftigen wolle. Dabei war seine Einschränkung auf Ostdeutschland natürlich nur ein Testballon und die 50-Prozent-Einschränkung ein Akt der Rettung seines eigenen Andenkens. Was wir brauchen, ist nicht »Deregulierung«, bei der nur ein Gesetz durch ein anderes verändert wird. Es hieße wirklich, die gesamte Mischpoke der letzten 50 Jahre zu kippen. Und natürlich die ein oder andere Regelung neu zu treffen, aber vielleicht mal auf ein gesellschaftliches Ziel hin, nicht aus einem Beschäftigungstrieb heraus. Die meisten Pizzabäcker hier im Umkreis machen gute bis passable Pizza – obwohl sie keine Handwerker sind. Die Redaktionsvolontariate bringen offenbar Journalisten hervor, über die sich zumindest die Verlage, die mit ihnen Geld verdienen wollen, nicht beklagen. Es geht ohne staatliche Vorschriften zu dieser Ausbildung. Doch an unseren Universitäten, für die es ein Hochschulrahmengesetz und Landesgesetze gibt, Satzungen und Verfassungen, Prüfungsordnungen und Prüfungsämter, machen Studenten nach einer Ausbildung für 30.000 bis 150.000 Euro einen Abschluss, ohne jemals mit der Berufswelt in Kontakt getreten zu sein, ohne mal ein Bewerbungsgespräch trainiert zu haben und ohne auch nur die leiseste Ahnung davon zu haben, wie sich Akademiker-Arbeitsplätze in einem Unternehmen rechnen sollen. Sie stolzieren einzig und allein gerüstet mit einem Examen und der fixen Vorstellung, wegen der langen Ausbildung und ihres fortgeschrittenen Alters ein Anrecht auf üppige Bezahlung zu haben, auf den Arbeitsmarkt. Schreiben als Germanistinnen mit 16 Semestern auf dem Buckel, aber frei von jeder Praktikumserfahrung, auf dem orthographischen Niveau meines tschechischen Aupair eine Bewerbung – und wundern sich, nicht jubelnd als Chef-Lektorinnen oder Bibliotheksleiterinnen eingestellt zu werden. Wenn solche Studentinnen auch ein gerütteltes Maß an Naivität mitbringen müssen, so hat doch die Politik ihren wesentlichen Beitrag zu ihrer Gesamtverdummung geleistet. Denn Politiker reden über Bafög, nicht über Bildung, über Ausbildungs85
Verbannung nach Helgoland
platzabgaben, nicht über Jobs, über Renten, nicht über das Erwerbsleben. Politiker brauchen kleine, griffige Themen mit Namen, die sie sich merken können, um ihrer Berufung als Redner nachkommen zu können. So nimmt es nicht wunder, dass niemand die Ich-AG gestoppt hat und sie es so zum Unwort des Jahres schaffen konnte. »Ich« ist Menschen, die ständig von sich sprechen, weil sie etwas zu fordern und zu meinen haben, wohl vertraut, und »AG« klingt unstreitig nach wirtschaftlichem Erfolg. Im wirklichen Leben hat sich die Ich-AG, diese multiple Persönlichkeit mit vielen Anteilseignern, dann zwar nur im Kabarett bewährt, aber das ficht Politiker nicht an. Und so treten sie auch nicht alle reumütig zurück, wenn ihnen Professor Meinhard Miegel sagt, sie hätten nur einen Taschenrechner gebraucht, um den Irrsinn ihrer Politik zu erkennen, die das »Wirtschaftswachstum« der 60er Jahre bis in alle Ewigkeit fortschreiben wollte. Denn hätte dieses Wachstum angehalten, würde heute jeder Arbeiter im Schnitt schon 4.000 Euro verdienen, ein Drei-PersonenHaushalt käme mit Kindergeld, Sparzinsen und Ähnlichem auf 10.225 Euro pro Monat. Im Jahr 2050, so Miegel, läge das Volkseinkommen pro Jahr bei 665.000 Euro, jeder Bürger hätte monatlich 51.000 Euro zur Verfügung! Das ist ja nun wirklich reichlich absurd! Arbeit ist sicherlich kein Menschenrecht – wer sollte einem das auch zusprechen –, aber unsere körperliche und geistige Konstitution ist von der Evolution leider für sie ausgelegt. Wir können beim besten Willen nicht 20 Stunden täglich schlafen, um die Zeit zwischen den Mahlzeiten und der BILD-Lektüre zu füllen. Und jeder Urlaub zeigt: ganztägig nichts tun zu müssen birgt ein erhebliches Konfliktpotenzial. Und doch müssen wir nicht an Arbeitszwangprogramme denken, wie es inzwischen nicht mehr nur bei den Rechten populär ist. Es gibt einen enormen Arbeitsbedarf, weil wir uns mit unserem Fortschritt jede Menge Probleme geschaffen haben. Doch nichts passiert. Wie viel Mil86
Das A-Problem
lionen Menschen bräuchte es, um eine ausreichende EisenbahnStruktur in Deutschland zu schaffen, die jeden scheiß LKW an der Grenze huckepack nimmt und leise, emissionsfrei (bei längst möglicher Stromerzeugung z.B. via Wasserstoffpower) und quasi ohne Verkehrsunfälle durchs Land bringt? Mal im Ernst, das wäre doch ein Riesending. Wir könnten es zum Nulltarif haben, die Arbeitskräfte sind da und das benötigte Material tauschen wir gegen Sinfonie-Konzerte oder Comedy (da sind wir echt ganz gut!), vielleicht auch gegen gut ausgebildete Ärzte. Es gibt genug zu tun, und es ist gerade kein Widerspruch zur logischen Erwerbsarbeitslosigkeit innerhalb unserer Wirtschaft: sie kommt ohne Arbeitskräfte aus, unsere Brötchen werden vollautomatisch gebacken und die Tomaten wachsen robotergepflegt auf Nährlösungen. Aber wir hätten da noch den ein oder anderen Wunsch. Dass jugendliche Deppen nicht einfach in den Knast wandern, um sie dort zu Vollkriminellen reifen zu lassen, sondern dass sich jemand ihrer annimmt, nicht aus reiner Nächstenliebe, auch aus Selbstschutz. Wir könnten dem Klimawandel oder auch nur der stickigen Luft durchaus aktiv begegnen, wir brauchen dafür nur ein paar Schippen und Bucheckern. Spielplätze müssten nicht monoton aus Sandkasten, Klettergerüst und Schaukel bestehen, wir könnten durchaus ganze Städte rekultivieren und zu Erlebnis- und Lebensräumen machen. Wir könnten auch aktiv die Kleinwirtschaft fördern, die Ein-Frau-Käserei wie den Schuster. Das alles heißt nicht zurück in die Steinzeit! Das heißt nur, das Protektorat für einige Mega-Bonzen aufzugeben, Politiker zu entmachten und endlich mal wieder zu fragen, was wir wollen, was unsere Ziele sind, wie wir leben möchten? Einzusehen, dass das Lebensziel wohl kaum die Rente sein kann – und für wen es das ist, dem muss geholfen werden, in seinem Leben vor diesem Endstadium einen Sinn zu finden. 87
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Wir müssen wenig arbeiten und haben einen ungeheuren Wohlstand, den wir ganz überwiegend dem industriellen und intellektuellen Fortschritt verdanken. Und doch sind wir unzufrieden, und die Verlängerung der Wochenarbeitszeit wird in der öffentlichen Diskussion derzeit verhandelt wie der Untergang des Abendlandes. Offenbar glauben ziemlich viele Menschen, das, was Politiker – und die Bosse von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden – mal völlig willkürlich geregelt haben, sei essenziell. Mit welchem Recht, mit welcher Begründung haben Politiker eigentlich Wochen- und Lebensarbeitszeiten gesetzlich geregelt? Für wie dumm erklären sie uns damit eigentlich, dass wir auf die freie Wahl zwischen Arbeitslosigkeit und angeblicher Ausbeutung verzichten müssen? Wir haben ein ganzes Ministerium mit zig Behörden für Arbeit und Sozialordnung (und inzwischen auch noch der ganzen Wirtschaft). Was um Himmels willen gibt es da tagein tagaus zu regeln? Wir haben bei der Arbeit – neben unserem biologischen Grundauftrag der Zeugung die existenzielle Aufgabe, um zu überleben und es dabei vielleicht noch ein bisschen gemütlich zu haben – wir haben dort jede Freiheit aufgegeben, uns nehmen lassen. Wer in diesem Land arbeiten darf und wer nicht, bestimmen Behörden, welche Qualifikationen es braucht, ob das Anziehen von Arbeitsklamotten zur Arbeitszeit gehört oder nicht – alles wird von Politikern festgelegt. Die Gewerkschaften tragen dann noch ihren Teil zum Chaos bei: weil der alternde Betriebsrat natürlich nicht weniger verdienen will als der junge Kollege, steigt das Einkommen mit dem Alter. Merkwürdig, dass dann gerade diese alten Spitzenverdiener, die ja unsere Top-Leute sein müssten, auf dem Arbeitsmarkt als nichtvermittelbar gelten. Und irgendwie auch paradox, dass die Jungen, die sich noch vieles aufbauen müssen, weniger verdienen als diejenigen, die bereits alles haben – obwohl sie in den meisten Fällen tatkräftiger sein sollten als die Altvorderen. 88
Das A-Problem
Das Ergebnis: unzufriedene Arbeitnehmer, die schnell Rentner werden wollen, unzufriedene Arbeitgeber, die in den Sack hauen, sobald es eben geht, unzufriedene Arbeitslose, die aber auch nicht unzufriedene Arbeiter werden wollen und ein fatales Rufen nach dem Staat, also den Politikern, doch bitte, bitte etwas daran zu ändern! Die Wahrheit ist: wir brauchen in Deutschland viele Menschen, die etwas tun, wir brauchen alle verfügbaren Kräfte, und das so lange es geht. Weil die Umverteilung von Wenigen zu Vielen nicht länger tragfähig ist, weil sie viele Probleme schafft und noch mehr Probleme übergeht, weil sie jeden – den Gebenden wie den Nehmenden – bevormundet. Weil unsere Gesellschaft es sich längst nicht mehr zur Hauptaufgabe stellt, Sofas und Videorecorder zu produzieren. Arbeiten wir daran, Arbeit wieder als das Normalste der Welt anzusehen und das darin liegende Potenzial zu nutzen, auch außerhalb des Urlaubs Spaß zu haben. Was an Arbeitskraft nicht mehr für die klassische Produktion benötigt wird, brauchen wir dringend in anderen Bereichen. Und wer dabei nicht mitmachen will, der soll aussteigen dürfen. All das liegt natürlich nicht im Machtinteresse von Politikern. Sie sind das einzige Modernisierungsopfer, das wir bringen müssen.
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Verbannung nach Helgoland
Verwaltete Armut – Was ein Basiseinkommen für alle bewirken könnte Die Diskussion um Hartz IV erweckte den Eindruck, als sei in Deutschland jeder arbeitslos oder akut von Arbeitslosigkeit bedroht. Die BILD-Zeitung machte eine ganze Serie daraus, wie mit den neuen Formularen zu verfahren sei, der SPIEGEL verkündete das Ende der alten Republik auf der Titelseite. Und im Stern sollten wir eine Familie bemitleiden, deren 55-jähriger Vater zu diesem Zeitpunkt seit zwei Jahren arbeitslos war und die mit den Neuregelungen von 1.879 Euro Arbeitslosenhilfe auf 427 Euro Arbeitslosengeld II pro Monat fallen sollte. Was war noch mal die Frage, die zu Hartz IV geführt hatte? Die Sozialversicherungen sollten zukunftsfähig gemacht werden. Es ging darum, ein antiquiertes System, in dem mittlerweile rund 30 Millionen Menschen monatlich versorgt werden, zu retten. Schon diese Aufgabenstellung – die übrigens im Detail weder vom Ministerium noch der Geschäftsstelle der Hartz-Kommission zu bekommen war – hätte die Medien das Thema eigentlich fortan ignorieren lassen müssen. Denn es war klar: Intelligenz ist mal wieder nicht gefragt, es geht darum, Pfründen zu sichern. Was wäre eine Gesundheitsministerin ohne gesetzliche Krankenversicherung, was ein Arbeitsminister ohne Staatsrente und Arbeitslosenbeiträge? Und was ein Parlament, ohne täglich neue Gesetzgebungsverfahren zur Verwaltung des »Sozialstaates«? Überlebensfähig sollte das System werden, indem ein paar Euro weniger durchlaufen – oder auch ein paar mehr, so genau wusste das niemand. Im Hause Clement ging man im Jahr 2003 noch von etwa 3 Milliarden Euro Einsparpotenzial aus. Das konnte nichts anderes bedeuten, als künftig weniger Geld auszuzahlen. Die offizielle Version, Arbeitslose durch ein neues Versorgungssystem »schneller wieder in Arbeit« 90
Verwaltete Armut
bringen zu wollen, konnte den nicht-lobbyierenden Fachleuten nicht einmal mehr ein Gähnen entlocken, war es doch nur die hundertste Neuauflage der Idee, der Staat könne mit irgendwelchen Gesetzen produktive Jobs schaffen, Arbeitssuchende verändern und Nachfrage erzeugen. Weil man das auch in den Behörden lange schon nicht mehr glaubt, kamen schnell auch Vorschläge auf den Tisch, die nur mit höheren statt geringeren Ausgaben realisiert werden konnten, vor allem: Bezahlung für gemeinnützige – also eigentlich ehrenamtliche – Arbeit (SPD-Version) oder Lohnkostenzuschüsse (Union). Hartz IV war nur auf die Langzeitarbeitslosen bezogen, für die nun eine neue Berechnung ihrer Förderung gilt und bei der sie zwangsläufig in der Summe weniger bekommen müssen, wenn die Rechnung denn wenigstens ein bisschen aufgehen soll. Kein besonders revolutionärer Ansatz, und eigentlich auch nichts, was eine Republik verändern könnte. Denn wenn öffentlich diskutiert würde, wie im einzelnen Geld über die Arbeitslosenpflichtversicherung umverteilt wird, dürfte es kaum Widerstand gegen ein stetiges Absinken der »Leistungen« bis zum »Sozialhilfeniveau« geben, schließlich unterscheidet sich der Langzeitarbeitslose irgendwann bei bestem Bemühen nicht mehr vom Sozialhilfeempfänger – nur dass eben bis zur Reform beide von unterschiedlichen Stellen ihr Geld zum Leben bekommen hatten. Zu den »sozialen Sicherungssystemen« wurde die existenziellste Unterstützung, die »Sozialhilfe«, bisher meist nicht gezählt – erst die dramatische Zusammenlegung von Arbeitslosengeld (Sozialversicherung) und Sozialhilfe (steuerfinanziert) erweiterte den politischen Horizont etwas. Das Grundproblem aber wurde durch die Reform nicht tangiert: es gibt Hunderte von finanziellen Unterstützungsmöglichkeiten in Deutschland, die alle ihren opulenten Verwaltungs- und Entscheidungsapparat haben. Geld verteilen zu können bedeutet schließlich, Macht auszuüben, und Ordnung muss es dabei in Deutschland auf jeden Fall haben: alles muss nachprüfbar sein, alles eine for91
Verbannung nach Helgoland
male Begründung haben. Und so gibt es Wohngeld und Bafög, Kleidungs- und Heizkostenzuschüsse, GEZ-Befreiungen und Beihilfen für die Familienfeier, aber natürlich auch zig Beihilfen in der Landwirtschaft, Subventionen für den Schiffsbau, Steuervergünstigungen für Nachtarbeit, Schülerfahrkartenzuschüsse, – einen gigantischen Verschiebebahnhof, dessen Transfervolumen auch von Profis nur geschätzt werden kann, so undurchschaubar ist er. Was fehlt, ist – so freidemokratisch das klingt: Freiheit. Die Freiheit des Einzelnen, seines Glückes Schmied zu sein. Es profitieren die Abzocker, diejenigen, die sich darauf spezialisieren zu wissen, wo es was zu holen gibt. Und das sind beileibe nicht nur die Sozialhilfeempfänger, die hier gebetsmühlenartig ins Diskussionsfeld geführt werden. Das Nachsehen haben diejenigen, die zunächst mal selbst klarkommen wollen oder die einfach nicht wisssen, was es an sozialen Leistungen für sie geben könnte. Denn auf einen staatlichen Berater, der Ihnen Ihre Rechte erklärt, können Sie lange warten. Wie für die meisten Probleme gibt es auch hierfür eine Patentlösung – denn es mangelt ja nicht an Ideen, es hapert an der Umsetzung, die in den meisten Fällen eine drastische Vereinfachung und damit Machtverlust für Tausende bis Zehntausende Beamte bedeuten müsste. Dabei lagern die Patentlösungen nichtmals in einem Giftschrank, gelegentlich finden sie sogar politische Erwähnung. Der sehr gute Vorschlag für die »soziale Sicherung« heißt »Bürgergeld« oder »negative Einkommensteuer«, wobei der erste Begriff eine gewisse Verdrehung der Tatsachen ist, denn alles Geld des Staates ist »Bürgergeld«, von wem sonst soll es kommen, und es kann wohl auch nur an Bürger wieder ausgezahlt werden, der zweite Begriff ist sehr technokratisch und wegen seiner fiskalischen Anbandlung wenig geeignet, Sympathien zu wecken. Helmut Pelzer spricht in seinem »Bürgergeld nach dem Ulmer Modell« daher sehr sinnig auch vom »unbedingten Basiseinkommen«. Bleiben wir aber der Dialogbereitschaft halber beim 92
Verwaltete Armut
mehr oder weniger etablierten Begriff des Bürgergelds, auch wenn sich in der Fachdiskussion dahinter sehr verschiedene Ansätze verbergen. Die Idee des Bürgergelds stammt im Wesentlichen von Milton Friedman, vorgestellt 1962 in seinem Buch »Kapitalismus und Freiheit«. In der hier vertretenen strengen Form bedeutet es: Jeder Bürger des Landes erhält einen bescheidenen, aber ausreichenden Geldbetrag zum Leben. Dafür muss er nichts tun – sich nicht rechtfertigen, fast keine Formulare ausfüllen; es ist nicht mit Peinlichkeit verbunden und es erfordert keinen Trickreichtum. Dieses Geld gibt es einfach so, von der irdischen Ankunft bis zum endgültigen Adieu. Das klingt für viele zunächst erschreckend: Geld für alle, wie soll denn das gehen? Es ist eine recht simple Rechnung: Wenn wir alle derzeitigen personengebundenen Transferzahlungen addieren, also Arbeitslosengeld, Sozialhilfe, Kindergeld etc. – ohne Subventionen und dergleichen, die derzeit Unternehmen oder Branchen bekommen – kommen wir auf eine Summe von 685 Milliarden Euro im Jahr. Das ist unbestreitbar sehr viel Geld – das bislang auch aufgebracht werden muss von denen, die mehr erwirtschaften, als sie selbst verbrauchen. Bis auf wenige, meist ungewollte Ausnahmen, hat auch heute schon jeder Mensch in Deutschland Anspruch auf Unterstützung, wenn er sich selbst nicht ernähren kann. Das Bürgergeld soll also keinen neuen Geldsegen bringen, sondern Einfachheit und Gerechtigkeit. Es wird gezahlt ohne Ansehen der Person und ihrer Lebensumstände. Wir könnten uns endlich verabschieden von einem Schnüffelstaat, der meint, Behörden seien im Stande, individuelle Lebensumstände zu begreifen und dann auch noch sachgerecht zu entscheiden, wer was braucht, weil er es selbst tatsächlich nicht auf die Reihe bekommt. 93
Verbannung nach Helgoland
Für das Bürgergeld spricht zudem: !
Es ist absolut gerecht.
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Man kann mit diesem Geld kalkulieren, rechnen – ohne zu überlegen, ob man sich aufs Sozialamt traut und welche Folgen das für die weitere Lebensplanung haben könnte.
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Wir sind es den Ausstiegswilligen schuldig. Es gibt ja wahrlich nicht nur die Abfolge von Katastrophen, die derzeit einen Menschen unter die Brücke führt. Wir haben in diesem dicht besiedelten Land – ggf. demokratisch per Mehrheitswillen – jeden Winkel okkupiert. Man kann nicht einfach irgendwo sein Zelt aufschlagen, sich in die Einöde zurückziehen, von ein wenig Ackerbau leben. Es ist kein besonderer Luxus, wenn wir akzeptieren, denen, die auf unser System keinen Bock haben, wenigstens eine kleine Chance zu geben, es für sich anders zu machen.
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Wir sparen immensen Verwaltungsaufwand! Jedes Sozialamt wird überflüssig. Aber auch ein großer Teil der Arbeitsamtverwaltung (ja, ja, Agentur, aber wir müssen ja nicht jede Modewelle mitmachen), der Ausländerbehörden, die gesamte Familienkasse, die Wohngeldberechnungsstellen u.v.m.
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Auch die Arbeitgeber werden entlastet, die derzeit teilweise das Kindergeld verwalten müssen.
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Niemand muss sich offenbaren. Es braucht kein Attest, dass jemand gerade eine Schülerphobie bekommen hat oder wegen eines Pflegefalls in der Verwandtschaft nicht erwerbsfähig sein kann.
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Es gibt keine »Sozialbetrügereien« mehr, die derzeit Polizei, Staatsanwaltschaften, Gerichte und Verwaltungsbehörden beschäftigen.
Verwaltete Armut !
Es ist in der Summe viel günstiger als alles, was wir bisher haben, weil wir mit fast keinem Aufwand Geld zu den Bürgern transferieren, anstatt es im Verwaltungsapparat zu verbrauchen.
Wenn Ihnen die Idee des Bürgergelds bisher nicht geläufig ist, lassen Sie sich mal einen Moment darauf ein. Vergessen Sie wenigstens kurz das, was Sie als Sozialstaat kennen, werden Sie nicht gleich zum Anwalt von irgendwem, sondern träumen Sie einmal mit, was wäre wenn. Ein Handwerker macht pleite. Damit wird er seinen bis dato gewohnten Lebensstandard nicht halten können, das ist klar. Aber er muss sich auch nicht in seiner Werkstatt aufhängen, weil er keinen Ausweg mehr sieht: er hat immerhin noch sein Bürgergeld, an das niemand ran kommt (pfändungssicher). Und die verschiedenen Insolvenzmöglichkeiten müssen ja vielleicht gar nicht groß tangiert werden (die Privatinsolvenz hat schon einer Menge völlig überschuldeter Menschen geholfen). Das einzige, was also pekuniär passiert, ist ein Sturz vom bisherigen Status quo auf das Bürgergeld-Level. Jemand trennt sich von seinem Lebensgefährten. Niemals wird sie oder er nun ohne alles da stehen müssen – das Bürgergeld gibt es immer, zur Not auch bar auf die Hand. Keine Überprüfung von Sparstrümpfen oder Ähnliches ist nötig. Das Bürgergeld wird vom Finanzamt ausgezahlt. Das kennt uns eh splitternackt. Es weiß, was wir verdienen, welche Sparbücher wir haben – alles. Was es nicht weiß, darf es sich weis machen. Dagegen ist nicht zu viel einzuwenden. Beim Bürgergeld passiert nun Folgendes: Das Finanzamt schreibt Ihnen zunächst monatlich ihr Bürgergeld gut – konkret: es überweist es auf Ihr Konto. Es sei denn, Sie haben in letzter Zeit Geld verdient, das versteuert werden muss – dann mindert sich der Betrag oder er löst sich in null auf oder er wird negativ, d.h. Sie zahlen Steuern mehr oder weniger wie bisher. Dafür gibt es eine simple Ta95
Verbannung nach Helgoland
belle. Wer nichts verdient, bekommt das volle Bürgergeld. Das muss knapp bemessen sein, sonst gibt es keinen Anreiz, selbst etwas zu verdienen – und Nichtstun wird für alle irgendwann zu teuer, weil wir nicht wie die OPEC-Länder als Staat einfach vom Ölverkauf leben können. 500 Euro reichen da pro Nase vollends aus – und zwar unabhängig davon, wo jemand wohnt, wie er wohnt etc. Das ist Freiheit, auch wenn es der Einzelne mal als Zumutung erlebt! Aber ich muss nun mal nicht im teuren München wohnen, wo die Mietpreise 52% über dem Bundesdurchschnitt liegen – ich kann auch nach Bremerhaven ziehen, wo die Mieten im Schnitt nur ein Drittel von denen der Isar-Stadt betragen. Es gibt auch keine Probleme mit Ihrem Vermögen: denn Ihren Verdienst haben Sie bereits versteuert, auch ihr Erbe, die erhaltene Schenkung, den Lottogewinn – whatever. Für das Bürgergeld müssen Sie nicht wie bei Hartz IV endlose Formulare ausfüllen. Es reicht, Ihrem Finanzamt heute zu sagen: »Hallo Mädels, ich verdiene seit gestern kein Geld mehr, bitte macht die Abrechnung fertig und überweist mir fortan mein Bürgergeld.«
Warum bitte sollte ein Studi Geld vom Staat bekommen, ein Azubi aber muss ihm was geben? Das ist Irrsinn, zumal der Student, dessen Eltern Vermögen haben, nach der Bafög-Prüfung nichts bekommt, obwohl sie ihn an der ganz kurzen Leine führen. Was soll ein Kindergeld von 125 Euro monatlich, wo doch die Kosten für die Aufzucht eher bei 600 Euro pro Monat liegen? Auf Regelungen, wie wir sie bisher haben, kommt nur, wer sich für Gott hält – ein wenig jedenfalls: berufen, über alles und jeden zu entscheiden. Das Bürgergeld brächte Einsparungen, Gerechtigkeit und Freiheit. Freiheit z.B. für Kinder. Wer heute 23 ist und studiert, dessen Eltern bekommen Kindergeld. Heiratet der 23-Jährige, gibt's nix mehr – denn Ehepartner können ja kaum noch Kinder sein, wir sind schließlich nicht 96
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in Indien. Also gewinnt, wer sich auskennt und kalkuliert. Warum eigentlich? Wer mit 18 Jahren von zuhause ausziehen will, der soll es tun – und da sie oder er mit dem Bürgergeld über die Runden kommen wird, brauchen wir kein Jugendamt, das prüft, wie schlimm es denn in der Familie wirklich ist und ob die bösen Eltern unterhaltspflichtig bleiben. Vielleicht sollten wir dieses Recht aber nicht erst ab dem Moment zubilligen, wo jemand auch andere Menschen wehrbedingt erschießen darf, sondern früher. Wir sollten doch demjenigen, der strafmündig ist und in den Jugendknast wandern darf, durchaus zubilligen, auch kriminalitätsverhindernd tätig zu werden. Wie man das im Detail regelt, können wir noch diskutieren – vielleicht muss jemand dann nachweisen, dass er zur Oma gezogen ist oder zu den Eltern eines Klassenkameraden. Aber wir sollten unsere jüngeren Mitbürger nicht solange für unreif halten, ihr Leben teilweise selbst in die Hand zu nehmen, bis sie beim Bund dienen oder studieren. Man kann dann noch diskutieren, ob jeder Erdenbürger den gleichen Betrag bekommt, oder ob Minderjährigen weniger zusteht (wie in den meisten Modellen vorgeschlagen). Zumindest ab der Volljährigkeit aber gibt es keinen Unterschied mehr, ob nun jemand noch Schüler ist, Student, Auszubildender, Arbeiter, Vagabund oder Rentner: Jeder bekommt das Gleiche! Mit dem Bürgergeld lassen sich keine Sprünge machen, aber es reicht eben auch, um durchzukommen – und mehr muss es nicht sein! Wenn sich damit aber neue Wohngemeinschaften bilden, wenn Leute ihr Bürgergeld als Startkapital für eine gemeinsames Projekt zusammenwerfen: wunderbar. Wenn sie es einfach nur versaufen: ihr Ding. Mit dem Bürgergeld werden die bisherigen Sozialversicherungen in ihrem sinnvollen Kern nicht überflüssig: Nichts spricht gegen die Arbeitslosenversicherung, wenn wir sie denn zeitlich begrenzen und 97
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damit endlich wieder bezahlbar machen. Wer aber dauerhaft keinen Job mehr findet, der muss sich mit dem Bürgergeld abfinden – oder mit dem, was er privat gespart oder an individuellen Versicherungen abgeschlossen hat – das geht uns als Solidargemeinschaft nichts an. Aber: die bisherigen vielfältigen Extrazahlungen entfallen ersatzlos! Es braucht kein Wohngeld, wenn man damit nicht in Wahrheit Vermieter subventionieren will! Es braucht keine extra Zahlung zur Kommunion, weil man auch von dem bescheidenen Bürgergeld etwas zur Seite legen kann, vor allem aber: man darf und soll ja selbst Geld verdienen. Ob das nun ein »1-Euro-Job« ist oder eine Tätigkeit nach Tarifvertrag sein muss – ein jeder darf es selbst entscheiden. Auch bei der Rente müsste niemand mehr bevormundet werden, wie dies bisher geschieht. Unsere täglichen BILD-Schlagzeilen »Renten sinken!« oder »Müssen wir alle 50 Stunden arbeiten« sind nur möglich, weil Politiker in ihrem Allmachtswahn alles entscheiden, was eigentlich der individuellen Freiheit zuzurechnen ist. Wieso wird beim Arbeitnehmer der Rentenbetrag vom Lohn abgezogen? Weil die Politik ihn für zu dusselig hält, selbst etwas auf die hohe Kante zu legen. So war das aber nie gedacht – wenngleich der Anspruch der Politik-Bosse, über die Arbeit zu bestimmen und damit die Untertanen fest im Griff zu haben, uraltes Herrschaftsprinzip ist. Rentenzahlungen gab es ursprünglich mal ab dem 70. Geburtstag – bei einer durchschnittlichen Lebenserwartung von unter 40 Jahren und angesichts der harten Arbeitsbedingungen und primitiver Medizin ab einem Zeitpunkt, da der Mensch kaum noch produktiv sein konnte. Dementsprechend lag der Rentenbeitrag bei durchschnittlich 1,7%. Wer heute hingegen mit 60 in Rente geht, hat als Mann statistisch noch 19 Jahre zu leben, als Frau sogar 24 – Tendenz weiter steigend. Selbst die immensen 19% Rentenbeitrag – über 1.000% Steigerung seit Bismarcks erster gesetzlichen Rentenversicherung für Industriearbeiter von 1889 – reichen da schon längst nicht mehr. Doch anstatt zu der simplen Erkenntnis zu gelangen, dass wir so langes 98
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Nichtstun als Gesellschaft nicht finanzieren können – und erst recht auch nicht wollen – werden Kommissionen und Beratergremien eingesetzt, die letztendlich Gesetze vorzuschlagen haben, mit denen alles bleiben kann wie es ist. Vorgebliche Fachleute, die regeln sollen, was wir wollen – so wenigstens die demokratische Utopie! Das kann nicht gehen, wie jedes Kind weiß, aber Politiker halten es für möglich, weil sie es glauben wollen, denn davon leben sie. Wieso gibt es ein gesetzliches Rentenalter? Warum kann ich nicht – wenn schon Rentenbeiträge von meinem Geld abgezogen werden – völlig frei selbst entscheiden, wie lange ich arbeiten möchte? Der Auszahlungsbetrag lässt sich heute mit dem Computer doch exakt berechnen, abhängig von den eingezahlten Beträgen und der statistischen Lebenserwartung. Es ist okay, wenn wir gesellschaftlich beschließen, dass es Anreize für die »Altersvorsorge« geben soll. Aber ein System heutigen Ausmaßes ist dafür definitiv nicht notwendig. Das Bürgergeld würde auch hier eine solide Grundlage schaffen: denn es steht ja jedem zu, also auch nach der Erwerbsphase. Wer mehr haben möchte, kann Geld sparen, in Wohnungen investieren, Aktien kaufen oder eine private Rentenversicherung abschließen. Diese Freiheit sollten die 20- und 30-Jährigen für sich einfordern: dass sie nicht jetzt schon für irgendwann in vielen Jahrzehnten einmal zwangsweise zur Kasse gebeten werden, sondern dass sie jetzt ihr Gehalt voll in die Familie stecken, in das Häuschen, die Wohnung, den Urlaub, was auch immer. Und wer mit 57 Jahren in den Sack hauen will, der kann ja selbst rechnen – und vielleicht auch an Zwischentönen Gefallen finden: noch ein wenig arbeiten, nur saisonal im Sommer auf Norderney. Wer heute 1.000 Euro Rente bekommt, hat etwa 2.500 Euro monatlich verdient; mit dem Lebensgefährten zusammen steht mit dem Bürgergeld genauso viel zur Verfügung, und das zu jedem beliebigen 99
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Zeitpunkt. Wer deutlich mehr erhält, hat auch deutlich mehr verdient – und sollte in der Lage sein, für sich selbst zu entscheiden. Die Abhängigkeit der Familienmitglieder ist ja dank ihres eigenen Bürgergelds gemindert. Natürlich fängt das Bürgergeld keine Katastrophen auf. Das muss an anderer Stelle geregelt werden: Wer mit seiner Firma gerade den Bach runter geht, der muss im Interesse des Gemeinwohls Hilfe erfahren, also den Unternehmensberater gestellt bekommen, wenn er es denn möchte. Schließlich ist es nicht unser Interesse, dass irgendwer Pleite macht – aber es ist auch nicht unser Interesse, unrentable Unternehmungen zu stützen (wie dies bei der Ich-AG mannigfach der Fall ist), es sei denn, wir entscheiden uns frei dazu – und wollen eben billigen oder gar kostenlosen Nahverkehr, einen Bauernhof im Dorf oder musikalische Bildung für alle. Solange dies die Entscheidung der Mitbürger ist, die es betrifft, und nicht eine bürokratische Entscheidung, soll es gut sein. Hierfür müssen die Bezirksparlamente deutlich gestärkt und komplett neu besetzt werden, zu Bürgerräten werden, aber dann sollen sie das alles machen dürfen. Wir müssen nur ganz dringend weg von der Idee, eine bundeseinheitliche Gesetzgebung und Rechtsprechung wäre in der Lage, jeden individuellen Fall formal-gerecht zu erfassen und zu behandeln. Stattdessen braucht es eine Solidargemeinschaft, die die großen Schicksalsschläge gemeinsam trägt. Dazu gehört die Krankenversicherung (im nächsten Kapitel ausführlich): Völliger Humbug, sie nicht für alle Lebensbereiche gelten zu lassen. Warum ist eine andere Versicherung für Unfälle auf dem Weg zur Arbeit zuständig, wieder eine andere, wenn ich mich bei der ehrenamtlichen Vereinstätigkeit am Nachmittag verletze? Bezahlt werden muss es eh, aber wir können es billiger haben, wenn wir auf viele Verwaltungen und ihre Abteilungsleiter und Direktoren verzichten. Eine Krankenversicherung braucht 100
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jeder, also bekommt sie auch jeder, steuerfinanziert und selbstverständlich mit Eigenbeteiligung. Eine Haftpflichtversicherung braucht ebenfalls jeder, also gibt es auch die automatisch. Sie kostet fast nichts und hilft ja keineswegs nur dem »Schadenverursacher«, sondern auch dem Opfer, das bei einem nicht Versicherten schnell in die leere Röhre schaut, Anspruch hin oder her. Also: Haftpflicht für jeden, da braucht es dann auch kein einziges Formular für. Ebenso für die Rechtsschutzversicherung: eine Basisausstattung ist hier längst nötig, um wieder »Waffengleichheit« herzustellen. Heute genügt ja schon das Drohen mit einer Klage, die von der Rechtsschutzversicherung übernommen wird, und der Gegner knickt ein. Natürlich braucht es hohe Hürden, was eine Rechtsschutzversicherung übernimmt – also hier: der Staat an Kosten trägt – wie es im übrigen auch viel höhere Hürden braucht, was ein Gericht verhandelt und was es als Lappalien oder Kindereien oder einfach nicht justitiable Streitereien ablehnt. Und schließlich muss es noch die »Lebensversicherung« geben, also eine »Hinterbliebenenzahlung« für Familienangehörige, gestaffelt nach Alter des Verstorbenen. Auch hierfür gilt: kein Formular, keine Eingangsuntersuchung, nichts. Stattdessen: Gerechtigkeit. Wer mehr will, kann weiterhin nach Lust und Laune Versicherungen abschließen, aber die Grundsicherung liegt uns gemeinschaftlich am Herzen. Auch Steuerberatung kann keine Frage des persönlichen Investments sein. Wenn es denn zu schwierig ist, selbst die Steuererklärung mit dem richtigen Ergebnis zu liefern, dann muss die Beratung dafür selbstverständlich vom Staat gezahlt werden, der ja schließlich die Gesetze gemacht hat und von uns Kohle haben will. All diese sozialen Absicherungen, die der Staat über seine Finanzämter erledigt, sollen dafür sorgen, dass niemand zu tief fällt, wenn es sich vermeiden lässt, dass Grundrisiken gemindert werden, wobei das Bürgergeld die einzig frei verfügbare Komponente ist (man kann also natürlich nicht auf die Lebensversicherung verzichten und dafür monat101
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lich mehr bekommen). Das ist dann möglicherweise ein sozialer Staat. Im Übrigen hat die hier vorgeschlagene Sicherung nichts mit der »Bürgerversicherung« zu tun, mit der uns die grüne Politik nervt. Sie will einfach nur alle zu Zahlungspflichtigen für ein bestehendes, marodes Krankenkassensystem machen. Das ist quadrierter Quatsch. Es gibt eine personengebundene Einnahme des Staates, das ist die Einkommensteuer, und damit muss alles abgedeckt sein, was der Einzelne verdienstabhängig aufzubringen hat – oder eben auch im negativen Fall, was der Einzelne zu erhalten hat. Das Bürgergeld macht mich frei zu studieren, Praktika zu absolvieren, durch die Welt zu reisen – und das alles wird mich stärken und motivieren, weiter zu kommen. Die wenigen, die nicht Feuer fangen und meinen, es ließe sich auch dauerhaft gut mit dem Bürgergeld leben – die sollen es tun, denn sie tun es bisher auch schon, nur mit einer größeren Verfügungsmasse – eben den vielen verschiedenen beziehbaren Transferleistungen – bei gleichzeitiger gesellschaftlicher Isolation. Den größten Skeptikern möchte man zurufen: Lasst es uns doch wenigstens mal probieren! Schließlich gab es das noch nie, es ist doch einen Versuch wert! Nur: diskutiert es nicht mit Politikern, Gewerkschaftsfunktionären, Krankenkassenvertretern, Rathausmitarbeitern – kurz allen, die vom bisherigen System profitieren, die ihre Macht, ihre berufliche Existenz nur dem bisherigen System der totalen Überwachung verdanken, indem die Briefmarken nachgezählt werden, die ein Arbeitsloser auf seine Bewerbungen geklebt haben will, und in dem der Sozialamtsmitarbeiter zu Hause einen Liegetest im Ehebett macht, um zu prüfen, ob man darin noch schlafen kann oder ob es ein neues Staatsbett braucht. Sie werden es einen »Anschlag auf den Sozialstaat« nennen, was in Wahrheit nur ein Ende der Bevormundung ist. Unsere Recherchen zum Thema Bürgergeld waren entsprechend ernüchternd. Wo es eigentlich vor allem wegen der Verwaltungsverein102
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fachung intensiv vorangetrieben werden sollte, stießen wir auf blanke Unkenntnis: beim Deutschen Städtetag und beim Deutschen Städteund Gemeindebund gab es wenig zu sagen. Auch die Streifzüge durch die Abgeordnetenlandschaft waren extrem ermüdend, kaum jemand, der sich engagiert zeigte. Um die politische Lethargie ein wenig zu veranschaulichen, zitiere und kommentiere ich im Folgenden zwei lange Beiträge von Rudolf Dreßler und Norbert Blüm, die sich – unterschiedlich verklausuliert – gegen ein Bürgergeld wenden. Die Beiträge sind der Einleitung von Ralf Witzels »Bürgergeld rettet Arbeitsmarkt – Vom entmündigenden Wohlfahrtsstaat zur postindustriellen Gesellschaft« entnommen. Das Buch ist bereits 1998 erschienen, das sollte man berücksichtigen. Rudolf Dreßler (bis 2000 der ewige SPD-Sozialexperte, seit»» dem Botschafter in Tel Aviv) Eine extrem teure Etappe in Richtung durchgreifender Ökonomisierung aller Lebensbereiche
[Dreßlers Beitrag ist geradezu eine Parade-Argumentation gegen Veränderung. Natürlich verschließt er sich nicht der Fortentwicklung, er fordert sie sogar, aber natürlich muss auch alles irgendwie so bleiben, wie es ist.] Es ist erstaunlich, dass die Idee des Bürgergelds gerade jetzt eine Art politischer Renaissance erfahren soll. Ob es tatsächlich eine Renaissance wird, ist noch nicht auszumachen; es könnte sich auch lediglich um den Versuch handeln, eine auf den ersten Blick bestechende und für sich einnehmende Idee ohne entsprechende gesellschaftliche Unterfütterung, also ohne zugrundeliegenden sozialen Druck und politischen Willen, gewissermaßen »virtuell« zu reanimieren. Wie dem auch sei. Gewiss ist: Seit der erzkonservative »Kronberger Kreis« 1986 sein Konzept einer »Bürgersteuer« vorlegte (auf den Vorarbeiten Professor Joachim Mitschkes über eine Reform des Steuer-Transfer-System aufbauend), hat die Bürgergeld-Idee große Resonanz gefunden. Das Bürgergeld steht im neuen Grundsatzprogramm der CDU, die F.D.P. hat´s in ihr Programm eingereiht, die christlich-demokratische Arbeitnehmerschaft ist ebenso dafür wie der CDU-Wirtschaftsrat. Und nachdem das Bundesverfassungsgericht Anfang der neun103
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ziger Jahre dem Gesetzgeber aufgetragen hatte, 1996 das sozialhilferechtliche Existenzminimum von der Einkommensteuer freizustellen, ging die Debatte erst richtig los. Aber die meisten Bürgergeld-Anhänger haben den Fan-Schal und das Bürgergeld-Mützchen wieder eingemottet. Denn die öffentlichen Kassen sind gegenwärtig und mit Blick auf die absehbare Zukunft von den in Bonn regierenden Konservativen derart zerrüttet worden, dass sich unkalkulierbare Experimente auf der Ausgabenseite der öffentlichen Haushalte per se verbieten. Man stelle sich nur vor: Der deutsche Fiskus schiebt nach seriösen Berechnungen einen Berg von rund 500 Milliarden Mark an Unternehmens-Steuervorträgen vor sich her, die nach und nach kassenwirksam werden. Zugleich pendeln die Zinsraten der öffentlichen Haushalte zwischen einem Sechstel und einem Fünftel der staatlichen Jahreseinnahmen. Das lässt auch einst heißblütige Bürgergeld-Fans kalt werden. Meine Empfehlung in diesem Zusammenhang hat einen Doppelcharakter: Aufgeschlossen alles prüfen, was hilft, die Lücke von wenigstens sieben Millionen Arbeitsplätzen in Deutschland zu schließen und guten Ideen mit aller Energie zum Durchbruch in der politischen Realität zu verhelfen. Man hüte sich aber tunlichst vor den Versprechungen der radikalen »Vereinfacher« und ihren grob vereinfachenden »Lösungen«! Um eine solche Vereinfachung handelt es sich gewiss bei den Verheißungen, die mit dem Bürgergeld verbunden werden. Bis auf den heutigen Tag ist nicht hinreichend geklärt, wie denn das Bürgergeld all das leisten soll, was mit ihm verknüpft wird. Es soll: - bürokratischen Dschungel lichten, - also Transparenz der Verhältnisse herstellen; - den Sozialstaat insgesamt billiger machen; - auf einen Schlag mehr Gerechtigkeit in der Gesellschaft herstellen, - also den Bürger und die Bürgerin gegenüber dem Staat und mit dem Staat verbundene Institutionen auch besser stellen; - die Schnittpunkte zwischen Steuer- und Sozialrecht grundlegend reformieren, - also im Grunde eine Steuer- und Finanzreform mit der Reform des Sozialstaats fest verbinden; - dauerhaft mehr Beschäftigung bewirken, - sich also positiv in ein Konzept zur Wiedergewinnung eines höheren Beschäftigungsstandes einpassen. Das ist eine ganze Menge. Und angesichts dieser Verheißungen verwundert es eigentlich, warum dieses Bürgergeld nicht so recht vorankommt in der politischen Praxis. Denn wer wollte nicht, was es verspricht? 104
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Dabei schälten sich in der Diskussion über das Bürgergeld zwei Schwerpunkte heraus. Der eine Strang von befürwortenden Argumenten stellte den Abbau eines institutionellen Dschungels in den Steuer-Transfer-Systemen in den Mittelpunkt – ausgehend von der Kronberger Initiative. Ein anderer zielte darauf, über Bürgergeld- und Anrechungsverfahren einen die Beschäftigung insgesamt befördernden Niedriglohnsektor nach dem Muster der Verhältnisse in den USA zu installieren. Dafür steht die programmatische Arbeit des Politikwissenschaftlers Professor Fritz W. Scharpf, der auch seine namhaften Anhänger in der SPD hat. Meine Einwände gegen ein Bürgergeld im einzelnen. Ich halte ein Bürgergeld in der heute notwendigen Größenordnung von gut 1.000 DM je Monat schlicht nicht für finanzierbar. Niemandem, so wird zudem von Protagonisten des Bürgergelds erklärt, soll etwas weggenommen werden, vielmehr sollen Millionen Menschen zusätzlich etwas bekommen.
[Herr Dreßler steigt geschickt direkt mit Zahlen ein – um die es aber gar nicht geht. Halten wir fest: Das Existenzminimum soll ohnehin jeder bekommen. Das Bürgergeld soll genau dieses abdecken. Wie viel das genau ist, wird kaum das Bundesverfassungsgericht entscheiden können. In jedem Fall kann es kaum unbezahlbar werden, wenn jeder (höchstens) das bekommt, was ihm derzeit schon zusteht und was er demnach wohl bis auf wenige Ausnahmen auch irgendwie erhält.] Bei einem Bürgergeld von mindestens 1.000 DM monatlich zur Abdeckung des Existenzminimums (das ist die verfassungsrechtliche Untergrenze) und einer fünfzigprozentigen Anrechung eigener Zuverdienste bestünde danach bis zu einem Einkommen von 2.000 DM Anspruch auf ein dem Betrage nach abnehmendes Bürgergeld. Unterhalb dieser Größenordung ansetzen dürfte ein Bürgergeld nicht. Denn die durchschnittlich einer einzelnen Person in Deutschland zustehende Sozialhilfe liegt ebenso bei gut über 1.000 DM wie das von der Einkommensteuer prinzipiell freizustellende Erwerbseinkommen. Damit ist klar: Ein Bürgergeld, das in punkto Bedürftigkeitsgrenze und das der Verfassung in punkto Höhe des steuerfreien Existenzminimums entsprechen soll, wird sehr, sehr teuer. Ein Bürgergeld, das kostenneutral ausgelegt wäre, würde hingegen an der Hürde der von der Verfassung gebotenen Freistellung des Existenzminimums scheitern. Dementsprechend würde also die Einkommensteuerpflicht erst ab 2.000 DM monatlich einsetzen. Da aber offensichtlich Erwerbstätige, die von vornherein 2.000 DM und mehr verdienen, nicht schlechter behandelt werden können als Bürgergeld-Empfänger, heißt das, 105
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dass bei der Steuer der Grundfreibetrag pro Steuerpflichtigem auf 2.000 DM angehoben werden müsste. Zu diesem Problem schweigen sich die Befürworter des Bürgergeldes aus.
[Wollen wir mal beim Rechnen helfen: 2.000 Mark, also etwa 1.000 Euro, sind willkürliche Zahlen, um zu einem gewünschten Diskussionsergebnis zu kommen. Gehen wir von einem Existenzminimum von 500 Euro aus, das jedem zusteht, der nichts hat, und das steuerfrei bleiben muss, wenn es jemand selbst erwirtschaftet. Dann setzt die Steuerpflicht ganz unproblematisch beim ersten darüber hinaus verdienten Euro an. Das statistische Pro-KopfEinkommen liegt derzeit bei 19.000 Euro im Jahr, wovon aufsummiert 1,132 Billionen Euro Arbeitnehmerentgelte sind und 438 Milliarden Euro Unternehmens- und Vermögenseinkommen. Das Bürgergeld betrüge bei der vereinfachten Rechnung mit 500 Euro pro Nase und Monat jährlich 492 Milliarden Euro, also ein knappes Drittel der derzeitigen Einnahmen. Nun, trauen Sie sich mal zu experimentieren.] Wer bedenkt, dass schon die verfassungsrechtlich gebotene Anhebung des Grundfreibetrages auf das Existenzminimum von mindestens 1.000 DM Steuerausfälle von 40-50 Milliarden DM verursachte, dem muss klar sein, dass ein doppelt so hoher Grundfreibetrag von 2.000 DM finanzpolitisch blanke Illusion ist. Finanziert werden müsste das Ganze von all denen, die mehr als 2.000 DM verdienen, durch eine drastische Erhöhung der Steuersätze.
[Das ist grotesk vereinfacht, wobei sich Dreßler doch genau gegen die Vereinfacher wendet: Wenn Geld nicht (sofort) beim Staat landet, sondern erst mal dem Bürger selbst zur Verfügung steht, ist das keine Katastrophe. Bei jedem Euro, den er ausgibt, zahlt er dem Staat dann schon wieder 16 Cent Mehrwertsteuer, wir hatten das vorne ja schon mal ausführlich. Wenn die Bürger mehr Geld zur Verfügung haben, brauchen sie auch weniger Transfer vom Staat. Sinnvoll wäre die Diskussion, wenn man mal klären würde, was eigentlich unabdingbare Staatsaufgaben sind, die finanziert werden müssen. Dann klären wir, wie viel jeder behalten oder bekommen soll – und können im nächsten Schritt rechnen, wie die Staatsaufgaben finanziert werden. Nur noch mal zur Erinnerung: Das Staatsaufkommen beläuft sich derzeit auf rund 1 Billion Euro im Jahr. Das klingt nicht gerade so, als ob davon jeder Cent undiskutierbar bleiben müsste. An dieser Stelle würde Politik auch wieder Spaß machen.] Das ist übrigens das Gegenteil dessen, was derzeit die steuerpolitische Diskussion beherrscht. Deren Kurs geht in Richtung Senkung der Steuersätze. Es scheint einer der her106
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ausragenden politischen Widersprüche unserer Gegenwart zu sein, dass eine Partei wie die F.D.P. einerseits für ein Bürgergeld bei völlig ungeklärten Auswirkungen auf der Ausgabenseite eintreten darf, aber andererseits auch für Steuersenkungen über den gesamten Einkommensteuertarif hinweg sein kann. Beides zusammen geht freilich nicht. Wer beides realisieren will, landet tatsächlich bei dem Slogan »Steuerland ist abgebrannt« (F.D.P.). [Wieso sollte das nicht gehen? Es ist doch gerade der Kern von Wirtschaft, dass Kapital vermehrt wird. Deutlich wird es, wenn wir umgekehrt schauen: Höhere Steuern und Abgaben müssen keineswegs zu Mehreinnahmen des Staates führen, wie der Alltag zeigt, weil – noch – niemand gezwungen werden kann, für den Staat wirtschaftlich tätig zu werden, solang er es nicht selbst will. Wo ein Unternehmer seinen Laden dicht macht, weil seine Rendite nicht mehr stimmt, bekommt der Staat gar nichts.] Völlig unklar ist auch, wie Kinder berücksichtigt werden sollen, beziehungsweise ab wann sie einen eigenen Anspruch auf Bürgergeld erhalten sollen. Von Verfechtern des Bürgergeldes wurde gesagt, man könnte dann Kindergeld und Kinderfreibeträge einsparen. Dies ist eine reine Annahme. Denn selbstverständlich müssen im Bürgergeldmodell Kinder berücksichtigt werden, zum Beispiel mit 400 DM im Monat wie im Modell der F.D.P. Das allein sind aber schon Mehrausgaben von mehr als 25 Milliarden DM gegenüber dem heutigen Kindergeld und den Kinderfreibeträgen. [Was sind schon 25 Milliarden Mark angesichts der erwähnten 1 Billion Euro?] Ich will nicht beckmessern, jedoch auf folgende Tatsache hinweisen: Bereits die Umsetzung der per Gesetz vorgeschriebenen Erhöhung des Kindergeldes um 20 DM auf 220 DM ab 1996 hat damals in der Regierungskoalition zu einer wirren Phantomdebatte geführt. Außerdem stellt sich die Frage, wieso 400 DM und nicht in Höhe des offiziellen Existenzminimums von mehr als 600 DM? Es ist klar: Das würde nichts sparen, sondern Unsummen kosten. Und soll auch der 17-jährige Lehrling ebenso wie der volljährige Schüler und Student Anspruch auf volles – bzw. reduziertes Bürgergeld erhalten? Oder sollen alle Minderjährigen und in der Ausbildung Stehenden mit ihren Eltern eine große Einkommensgemeinschaft für Bürgergeld und Einkommensbesteuerung bilden? Wie soll das steuerrechtlich geregelt und für die Volljährigen rechtlich begründet werden? Fragen über Fragen, auf die die Antworten fehlen. [Nun ja, es wurde bisher nicht ernsthaft öffentlich diskutiert.] Ein ernsthaft betriebenes Bürgergeldmodell würde außerdem zu Lohnsubventionen großen Umfangs führen. Denn für alle Lohn- und Einkommensgruppen, deren Gehalt innerhalb des genannten Bereichs, also unterhalb des doppelten Existenzminimums liegt, muss der 107
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Staat über das Bürgergeld ergänzende Finanzleistungen erbringen. Das Modell des Bürgergeldes führt damit bei untersten Einkommensgruppen und insbesondere bei Teilzeitjobs zu einem Rechtsanspruch auf Lohnsubvention. [Es ist ein Spiel mit Begriffen. Natürlich kann man es Lohnsubvention nennen, wenn jeder Bürger schon mal ein Grundeinkommen hat. Aber bringt uns das weiter?] [...] Die Tarifpolitik der Gewerkschaften für diese Bereiche würde übrigens grundsätzlich und dauerhaft ihren Charakter und ihre Funktion der Existenzsicherung verlieren, die Arbeitnehmervertretungen würden folglich ihre Daseinsberechtigung aufgeben müssen. [Nun,
wenn es so wäre? Wenn es keine Tierquälerei mehr gibt, brauchen wir weder Tierschutzgesetz noch Tierheime und Tierschutzvereine. Wäre das sehr traurig?] [...] Ich will wiederum nicht beckmesserisch argumentieren, nur unterstreichen: Ordnungspolitisch sind die Konsequenzen des Bürgergelds völlig inakzeptabel. Sie zerstören zudem Leistungsbemessung und zerstümmeln die von Arbeitgebern wie Gewerkschaftern gleichermaßen anerkannten Grundsätze wie Kriterien der Lohnfindung bis zur Unkenntlichkeit. Mir fällt dazu nur der Schillersche Vers aus dem »Ring des Polykrates« ein: »Lass, Vater, genug sein des grausamen Spiels.« [Man muss Dreßler zugute halten, dass er
in seiner gesamten Diskussion nicht von einem unbedingten Bürgergeld ausgeht – vermutlich, und das ist wiederum weniger schön, weil sich dagegen besser argumentieren lässt. Beim unbedingten Bürgergeld als Grundeinkommen sind Politiker, einmal eingeführt, in diesem Bereich mit ihren Ideen entbehrlich.] [...] Gewiss brauchen wir in Deutschland bei der Einkommensteuer ebenso wie bei den Transferleistungen größere Transparenz und weniger Bürokratie. Dazu müssen die Transferleistungen stärker aufeinander abgestimmt und insbesondere auf vereinheitlichte Einkommensbegriffe bezogen werden. Ferner müssen positive beziehungsweise negative Kumulationswirkungen der Transferzahlungen und der Einkommensgrenzen eingeebnet und mit dem Verlauf der tariflichen Einkommensteuerbelastung harmonisiert werden. Damit würden die Umkipp-Effekte vermieden, unter denen in erster Linie der Mittelstand zu Leiden hat, der einerseits keine Sozialleistungen mehr erhält und andererseits von den progressiv wirkenden Steuerentlastungen noch relativ wenige Entlastungen hat. [...] Die Welt ist so kompliziert, wie sie ist. Sie wird durch das »Lösungsmodell gordischer Knoten«, demzufolge der große Mazedonier diesen Knoten einfach mit seinem Schwert durchschlug, nicht unkomplizierter. Eine demokratische Gesellschaft mit ihrem komplizierten Geflecht von Gesetzten, »checks and balances«, von Abhängigkeiten und – vor allem – 108
Verwaltete Armut
mit ihren vielen unterschiedlichen Lebenslagen wird schon gar nicht einfacher, erst recht nicht gerechter. Tatsächlich war es immer so: Wenn »Vereinfacher« etwas durchgesetzt hatten, mussten im zweiten Akt stets die Integrationisten zerschnittene Fäden zusammenbinden, abgebrochene Brücken wieder herrichten und Zusammenhänge erneut herstellen. Das war übrigens zu Zeiten Alexanders des Großen nicht anders. Sprachlich betrachtet ist es zudem dreist, von einem »Bürgergeld« zu reden. Denn die Wortschöpfung suggeriert, dass ein neues Transfermodell für alle möglichen Geldströme aus den öffentlichen Kassen zum mündigen und wachen Bürger passt, während viele, durchaus komplizierte Leistungen auf Antrag und mit Einkommensgrenzen sowie mit Ausnahmeregelungen und grundsätzlich nur Fachleuten einsichtigen Überschneidungen bürgerwidrig seien. Das ist im Einzelfall ärgerlich. Es ist aber auch Kennzeichen unserer Zivilisation und unserer sozialen Tradition, dass sich die Gesellschaft in eine Fülle unterschiedlicher Lebenslagen ausdifferenziert. Die Ausdifferenzierung und soziale Verästelung erfordert freilich ganz unterschiedliche Antworten des Staates. Wer das Bürgergeld als Gesamtlösung für alles will, der sollte so redlich sein und zugeben, dass dazu eigentlich nur »Marschmusik« gespielt werden dürfte, die bekanntlich, so gut sie auch vorgetragen werden mag, vorwiegend auf Blech basiert. [...] Ich kann sehr gut verstehen, dass Menschen sagen: Der Sozialstaat ist mir gegenüber oft als anonyme Bürokratie aufgetreten. Die Idee eines Bürgergelds ist in der angelsächsischen Gesellschaftspolitik auch Reaktion auf die kritische Debatte über die strukturelle Macht, die anonyme Großorganisationen gegenüber dem Einzelnen entfalten, beziehungsweise entfalten können. In West-Deutschland ist diese Debatte lediglich in Ansätzen geführt worden. In Deutschland weist die Bürgergeld-Diskussion diesen Ansatz folglich nicht auf. Den Befürwortern geht es nicht um eine neue Balance der Macht zwischen Institution und dem Einzelnen, sondern um Effizienz, Kostenersparnis, um das Ziel, den historisch gewachsenen Sozialstaat mit seinen vielen Einrichtungen und seinem starken Element der Selbstverwaltung unter den Generalverdacht zu stellen, er tauge in der Zukunft, der künftigen »Moderne« nichts mehr. [Ja, das haben Sie richtig erfasst.] Befürworter des Bürgergelds tun so, als ob sie mit ihren Forderungen nach radikalem Abbau von Bürokratie und ebenso radikaler Reduzierung von materiellen Transfers zu einer Leistung aus einer Hand wie die Eroberer mit der Fahne in der Faust zu neuen Ländern aufbrechen. Sie verschweigen, dass sie durch dichtbesiedeltes Gebiet mit vielen braven Menschen, ihren Leistungen, Erwartungen, Hoffnungen und Traditionen pflügen. Reformpolitik ist heute eben nicht Erobern einer terra incognita, sondern Nehmen, um wieder Geben zu können. 109
Verbannung nach Helgoland
Vielleicht war Arthur Schopenhauer auf dem richtigen Weg. Der große Skeptiker und Desillusionierer hat einmal gesagt: »Kein Geld ist vorteilhafter angewandt als das, um welches wir uns haben prellen lassen; denn wir haben dafür unmittelbar Klugheit eingehandelt.« Es leuchtet unmittelbar ein, dass eine solche Meinung in der heutigen Zeit höchst unbequem ist. Das Bürgergeld ist demnach kein wirksames Mittel gegen all die Mängel, die es zu beheben verspricht. Es soll Ersatz für eine Fülle von Möglichkeiten sein, die der Sozialstaat bereithält, um Menschen zu helfen und wieder für den Alltag fit zu machen. [Das ist ja wohl
wahre Ökonomisierung des Lebens. Das Bürgergeld will dies gerade nicht, sondern ökonomische Unabhängigkeit bzw. eine ökonomische Basis schaffen.] Der bereits erwähnte Essayist John R. Saul hat diesen Zusammenhang so beschrieben: »Durch unsere nun schon seit zwei Jahrzehnten andauernde Unfähigkeit, mit einer endlosen Kette aus Arbeitslosigkeit, Staatsdefizit, Geldentwertung und realem Nullwachstum fertig zu werden, treiben wir immer weiter hinaus auf ein kaltes, wüstes Meer ohne Orientierungspunkte. Am Ufer stehen die Autoritäten, und ihre selbstsichere Lehre heißt: Werft die Rettungsringe weg. Man mag das ein kindliches Verhalten nennen.«
««
Norbert Blüm (zu diesem Zeitpunkt Bundesminister für »» Arbeit und Sozialordnung in der schwarz-gelben Regierung) Sozialstaatlicher Reformstau trotz drängender Reformnotwendigkeit
[Blüms hier leicht gekürzt wiedergegebener Beitrag ist ein gutes Beispiel für Politiker-Geschwurbel. Auch beim achten Lesen wurde mir nicht klar, was der Mann eigentlich will. Nur dass er Bürgergeld nicht mag, wird deutlich.] Umbau ist vonnöten Für die einen ist der Sozialstaat ein Klotz am Bein der deutschen Volkswirtschaft, für die anderen ein Stützpfeiler des Standortes Deutschland.
[Einen solch plumpen Dualismus hat es wohl nicht gegeben, wohl aber sehr viel Detailkritik am System – die der Minister nicht so differenziert wahrgenommen zu haben scheint.] Kein Zweifel, der Sozialstaat ist ins Gerede gekommen. Unumstritten war er nie. Was jetzt geschieht, ist allerdings mehr als die übliche Diskussion, der in einer offenen Gesellschaft alle Institutionen immer ausgesetzt sind. Diesmal rütteln die Zweifler an den Grundfesten des 110
Verwaltete Armut
Sozialstaates. Von solch fundamentalen Angriffen war unser Sozialsystem lange Zeit auch deshalb geschützt, weil es zur Legitimationsbasis des westlichen Systems gehörte, das in der Auseinandersetzung mit dem Osten im Sozialen auch den Nachweis der Überlegenheit der Sozialen Marktwirtschaft über sozialistische Plansysteme sah. Die Geschichte hat dieses Selbstbewusstsein bestätigt. Nach dem Zusammenbruch der Mauer verlangte niemand nach der Übernahme des Sozialismus auf ganz Deutschland. Die Soziale Marktwirtschaft – einst heiß umkämpft – war plötzlich das unumstrittene Ordnungsmodell.
[Mal war sie nie unumstritten, dann plötzlich doch – Herr Blüm befindet sich hier noch in der Aufwärmphase.] Wie keine andere Ordnung in unserer Vergangenheit hat Soziale Marktwirtschaft Freiheit und Wohlstand kombiniert. Verführt uns der krachende Zusammenbruch des Sozialismus jetzt dazu, auf das Soziale der Sozialen Marktwirtschaft zu verzichten oder es auf eine Restgröße zu reduzieren? Verfassung Völlig frei in der Bestimmung der sozialen Dimension unserer Gesellschaft sind wir nicht. Unsere Verfassung setzt Grenzen der Ausgestaltung unseres Gemeinwesens, ohne dass diese Verfassung uns die Arbeit der Ausgestaltung abnimmt.
[Sehr subtil führt Blüm eines der Lieblings-Kontra-Argumente ein, das Politiker haben: die Verfasssung. Anstatt als erstes über imaginäre, d.h. implizite, hineininterpretierte Grenzen des Grundgesetzes zu sprechen, sollte man vielleicht mal das Problem erörtern.] Jenseits der Menschenbilder, durch die unser Grundgesetz geformt ist, liegt eine Gesellschaftsordnung, die den Menschen jede Verantwortung abnimmt und sie deshalb der Freiheit beraubt. Unvereinbar mit unserer Verfassung wäre jedoch auch eine Gesellschaft, die den Menschen alleine lässt, denn das isolierte Individuum prägt nicht das Menschenbild des Grundgesetzes. Die Spannung zwischen Individuum und Gemeinschaft wird vom Grundgesetz ausgehalten. Damit hält das Grundgesetz gleich weiten Abstand zwischen Individualismus und Kollektivismus. Der Schutz der Freiheitssphäre des Bürgers durch die rechtsstaatliche Maxime wird durch das Sicherheit verbürgende Sozialstaatsprinzip ergänzt. Chancengleichheit ohne Rechtsgleichheit ist unfruchtbar. Anatol France hat das auf die Pointe gebracht: Unter den Brücken von 111
Verbannung nach Helgoland
Paris haben Bettler und Könige das gleiche Recht zu schlafen. Nur die einen müssen es, die anderen brauchen es nicht. Dass aus gleichen Chancen unterschiedliche Ergebnisse entstehen, unterscheidet die Chancengleichheit von der Ergebnisgleichheit und schützt uns davor, dass der Sozialstaat in eine graue nivellierte Einheitsgesellschaft mündet. Solidarität – Subsidiarität Das Solidaritätsprinzip, welches unseren Sozialstaat prägt, ist auf Gliederung durch das Subsidiaritätsprinzip angewiesen. Das Subsidiaritätsprinzip regelt die Kompetenzen innerhalb des Solidargefüges. [Von Solidarität redet Blüm im Folgenden sehr viel. Er
versteht darunter aber offenbar nur die Zahlungspflicht für Renten-, Arbeitslosen-, Kranken- und Pflege-Kasse. Unter Solidarität könnte man ja durchaus mehr verstehen, z.B. dass mir ein Lokalpolitiker mal im Laden hilft, wenn die Tochter krank ist. Oder dass sich der Staat nicht ständig nur Geld bei mir leiht, sondern er auch mal mir aushilft.] Er weist der jeweils kleineren Gemeinschaft die Regelungsvorfahrt zu und gibt den personennäheren den Vorzug vor den personenfernen Entscheidungen. Das Subsidiaritätsprinzip sichert die Selbstverantwortung vor ihrer Entmachtung durch Fremdbestimmung. [Also wenn das wirklich die Definition wäre,
gäbe es ja nun gerade die auf Bundesgesetzen basierenden Sozialversicherungen nicht, weil sie sehr »personenfern« gestrickt werden, wohingegen die überschaubare menschliche Gemeinschaft auf all das keinen Einfluss nehmen darf.] Das Subsidiaritätsprinzip ist deshalb die freiheitssichernde Kompetenzregel des Solidaritätsprinzips. Es ist die moderne Ausprägung des demokratischen Prinzips der Machtverteilung und kreuzt die horizontale demokratische Gewaltenteilung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative durch die vertikale Machtverteilung beim Aufbau der Gesellschaft. Das Subsidiaritätsprinzip ist die differentia spezifica zum sozialistischen Solidaritätsverständnis, das Klassenlosigkeit und Nivellierung übersetzt. Das Subsidiaritätsprinzip lässt sich allerdings nicht auf einer Einbahnstraße auslegen. Im »Gegenverkehr« schützt es auch vor Überforderung der Person und der jeweils kleineren Gemeinschaft. Der Wortstamm »Subsidium«, der in ihm enthalten ist, gibt auch den Hinweis darauf, dass es nicht lediglich Abwehrprinzip ist, sondern – worauf Oswald von Nell-Breuning schon frühzeitig aufmerksam gemacht hat – auch die aktive Pflicht zur Hilfeleistung enthält, damit der Einzelne und die kleinere Gemeinschaft ihre Aufgaben erfüllen können. 112
Verwaltete Armut
Der lange Weg [...] Der beste uns bisher gelungene Ordnungsentwurf, die Soziale Marktwirtschaft, ist bei Licht betrachtet ein Kompromiss zwischen neoliberalem Ideengut und der katholischen Soziallehre [dann sollten wir Protestanten wohl auswandern...], der sich auch personell exemplifizieren lässt. Auf der einen Seite Röpke, Rüstow, Eucken, Müller-Armack, Erhard, auf der anderen Gundlach, Welty, Utz, Nell-Breuning. Soziale Marktwirtschaft versucht Wettbewerb und sozialen Ausgleich, Leistung und Solidarität in Balance zu halten. [...] Das Prinzip des Abwägens gehört zu den konstituierenden Elementen der Sozialen Marktwirtschaft. Zu Recht ist sie deshalb auch als eine »gemischte Ordnung« bezeichnet worden. Gesellschaft ist kein statisches Gebilde. Ihre Dynamik sichert die Offenheit für Entwicklung, gibt uns Gestaltungschancen und ermöglicht Freiheit, welche Voraussetzung des friedlichen Wandels ist. Dabei muss manches zurückgenommen, anderes aufgebaut werden. Was gestern noch solidaritätsbedürftig war, kann heute der Selbstverantwortung übergeben werden. Das Sterbegeld z.B. in der Krankenversicherung sollte den verelendeten Proletariern zu Bismarcks Zeiten Sorge nehmen, anständig unter die Erde zu kommen. Die Beerdigung ist jedoch heute nicht mehr Solidarpflicht der Krankenversicherung. [Gleichwohl ist eine Beerdigung
heute scheiß-teuer, und nicht jeder Verblichene hinterlässt eine Beerdigungskasse.] Und anderes, was früher unter dem Dach der Großfamilie geregelt wurde, bedarf heute der gesellschaftlichen Absicherung. Die z. B. war früher der Großfamilie überlassen. Die Großfamilie gibt es heute nicht mehr. [Die gab es aber auch bei Otto von Bismarck kaum noch, wohl hatten die Familien aber noch mehr Kinder.] So betrug die durchschnittliche Haushaltsgröße im Jahr 1900 noch 4,5 Personen, im Jahr 1991 aber nur noch knapp 2,3 Personen. [Womit andererseits noch gar nichts über
die Familienbanden gesagt ist. Nicht wenige Kinder wohnen bei ihren Eltern – im steuerlich sinnvoll vermieteten Appartement.] Übrigens: Ganz so idyllisch, wie ein nostalgischer Blick das Leben unter dem Dach der Großfamilie [die Mär von der Großfamilie ist schier unausrottbar] verklärt, war es leider auch nicht. Eine gesicherte Lebensperspektive gewährte die Großfamilie über lange Zeiten auch nur dem Erstgeborenen, verwehrte den übrigen Ehe und Selbstständigkeit und verwies sie häufig auf die Fürsorge in Armenhäusern und Spitälern. Ein Heer von Elenden umlagerte die Klöster. Soziale Sicherheit nur für die Wenigen. Der Sozialstaat dagegen ist eine emanzipatorische Errungenschaft der Vielen, er ist nicht das Zuhause der Privilegierten. [Emanzipation von wem? Jedenfalls nicht vom Staat.]
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Verbannung nach Helgoland
In seiner über hundertjährigen Geschichte hat der Sozialstaat eine zähe Vitalität bewiesen. Er überlebte zwei Weltkriege, Inflationen und Währungsreform, und im Zusammenbruch der DDR war er über Nacht in der Lage, z.B. rund drei Millionen Rentner aufzunehmen und abzusichern. [Nun ja, reden wir nicht davon, wie es dazu kam, welchen Gegen-
wert die zurückgewonnene Ehemals-SBZ hatte und was der Spaß, den wir tatsächlich bisher überlebt haben, gekostet hat. Wie »vital« der zähe Bursche noch ist, sieht jeder Angestellte auf seiner Gehaltsabrechnung, wenn er die Abzüge ungefähr verdoppelt und vom ausgewiesenen Lohn noch mal gut 20% abzieht, die später über Mehrwertsteuer, Ölsteuer u.v.a.m. vom Staat genommen werden.] Kein Privatsystem auf der Welt wäre zu dieser Leistung fähig gewesen. Und einen Teil der demokratischen Stabilität der Bundesrepublik Deutschland verdanken wir dem, ach, so gescholtenen Sozialstaat. Es wird Zeit, dass der Sozialstaat wieder Verteidiger findet. Er ist nicht der ungezogene Balg unserer Republik, der endlich domestiziert werden müsste. Sozialpolitik ist für eine tabula rasa ein ungeeignetes Feld. In ihn sind Lebensplanungen, Erwartungen und Sicherheiten eingebaut, auf die eine verantwortliche Lebensführung angewiesen ist. Die Lebensangst ist kein Ratgeber für Kreativität. Andererseits wäre die Eliminierung jeglichen Risikos eine gesellschaftliche Käseglocke, unter der jede Initiative erstickt. [Was will
er nur?] Also geht es immer nur um das Wie und das Wieviel sozialer Absicherung. Weder ein von der Kette gelassener Individualismus noch ein Legehennen-Batterien vergleichbarer Kollektivismus sichert die Zukunft des Sozialstaates. Für Reißbrett-Konstruktionen liefert der Sozialstaat kein Material. Er hat es mit lebenden Menschen und deren begrenzten Lebenszeiten und ihrem – wenn auch begrenzten [???] – Anspruch auf Glück zu tun. Weiterentwicklung Weiterentwicklung, nicht creatio ex nihilo ist die Aufgabe moderner Sozialpolitik. Weiterentwicklung setzt Kenntnis des Bestehenden voraus, an dem sie anknüpft. Im Tumult der Vorschläge geraten die Sachen in Gefahr, verloren zu gehen. Die fatale Sicherheit, mit der manche Patentrezepte angeboten werden, steht oft im umgekehrt proportionalen Verhältnis zur Kenntnis des bestehenden Systems. Sachkenntnis verunsichert mancherorts; nur so wird 114
Verwaltete Armut
die Selbstgewissheit mancher Diskutanten verständlich. [Der Satz ist schön, aber der
Abschnitt »Weiterentwicklung« endet tatsächlich hier und so.] Zur Sache Das sozialstaatliche Sicherungssystem basiert in unserem Lande auf drei Pfeilern: - Versicherung - Versorgung - Fürsorge. Das Versicherungsprinzip ist immer auch an Risikoausgleich geknüpft. Die Sozialversicherung ergänzt den Risikoausgleich allerdings im Unterschied zur Privatversicherung mit sozialem Ausgleich. So ist in der Sozialversicherung, z. B. in der Renten-, Kranken-, Unfall-, Pflegeversicherung, die Familienmitversicherung von Anfang an eingebaut, ohne dass dafür höhere Beiträge gezahlt werden müssen. In der Arbeitslosenversicherung erhalten die Arbeitslosen mit Kindern eine höhere Leistung. [Um kurz ans Thema zu erinnern: Was hat das
mit dem Bürgergeld zu tun? Oder wo ist auch nur der Ansatz, das bestehende Versicherungsprinzip zu stützen? Denn der »soziale Ausgleich« wäre ja nun gerade viel unkomplizierter über die Einkommenssteuer zu regeln.] Die Sozialversicherung folgt dem Prinzip solidarischer Selbsthilfe. Sie ist zwar eine öffentliche Einrichtung, aber keine staatliche Institution. [Hier kommen wir endgültig in
den Sphären unserer Berufspolitiker an. Ich befürchte: Herr Blüm hat das ernst gemeint. Wenn Sie zum Arzt gehen und die Oma im Warteraum neben Ihnen mitfinanzieren, dann ist das Selbsthilfe. Sagt Herr Blüm.] Es lässt sich auf der Welt geradezu eine Konvergenz zugunsten unseres Konzeptes der Sozialversicherung beobachten. Die Vereinigten Staaten erfahren gerade schmerzhaft, dass eine lediglich privatversicherungsrechtliche Ergänzung des Fürsorgesystems nicht ausreicht, das Armutsproblem zu lösen. [Was hat »Armut« nun mit den Sozialversicherungen
zu schaffen? Unsere Sozialversicherungen sind gerade nur für die Habenden gemacht, denn es können nur Einzahler oder ihre Angehörigen profitieren.] Auf der anderen Seite sind versorgungsstaatliche Systeme ebenso an das Ende ihrer Steuerungsfähigkeit geraten. Schweden, das Musterland steuerfinanzierter Versorgung, versucht mit Hilfe eines beitragsbezogenen Sozialversicherungssystems sein Sicherungssystem zu korrigieren, weil offenbar die Einsicht gewachsen ist, dass im Prinzip »Leistung für 115
Verbannung nach Helgoland
Gegenleistung« weniger Anonymität, eine größere Anspruchsbremse und eine stärkere Konfliktentlastung des Staatshaushalts enthalten ist. Einer weltweiten Hinwendung zu Prinzipien der Sozialversicherung steht allerdings hierzulande der entgegengesetzte Trend zu einer allgemeinen Privatisierung wie zur Verstaatlichung sozialer Risiken entgegen. Man kann eine solche Absatzbewegung vom Solidarprinzip der Sozialversicherung mit dem Verhalten von Geisterfahrern vergleichen, die auf ihre Weise vorwärts zukommen suchen, wobei die Ergebnisse aus dem Straßenverkehr bekannt sind. Den stärksten Zulauf in der aktuellen sozialpolitischen Diskussion hat die Forderung, der Sozialstaat solle sich gefälligst auf die Bedürftigen konzentrieren. Eine gewisse Plausibilität kann man dieser Forderung nicht absprechen, weil mit ihr gegen Fehlleitung von sozialem Transfer Front gemacht wird. Im Ergebnis bedeutet diese Umstellung jedoch Reduzierung des Sozialstaates auf die steuerfinanzierte Fürsorge, denn weder Sozialversicherung noch Versorgung orientieren sich lediglich an den Bedürftigen. [Und nun haben wir die – mit der CDU beschlossenen –
»Hartz-Gesetze«, bei denen natürlich nach der Bedürftigkeit geschaut wird. Das war im übrigen schon zu Blüms Zeiten so. Natürlich konnte noch nie ein angestellter Elternteil die Kinder über die gesetzliche Krankenversicherung mitversichern, wenn der andere Elternteil gut verdient und demnach privat versichert.] Die Sozialversicherung gewährt ihre Leistung auf Grund von Vorleistung durch Beiträge, und die Versorgung etwa der Kriegsopfer entschädigt hauptsächlich Ansprüche auf Grund von Opfern, die der Allgemeinheit gebracht wurden. [Meint Blüm das wohl so, wie er es schreibt? Dass Kriegstote eine kultische Gabe für das Volk sind?] In beiden Institutionen – Sozialversicherung wie Versorgung – steht nicht die Bedürftigkeit im Vordergrund. Eine Lebensversicherung käme nie auf die Idee, im Versicherungsfall Bedürftigkeit zu prüfen. Wer Beitrag bezahlt hat, bekommt Leistung. Und ein Sozialstaat, der fortgesetzt die Gesellschaft mit Bedürftigkeitsprüfungen überzieht, könnte sich leicht als ein naher Verwandter des Polizeistaates entpuppen. [Moment, das klingt zu gut, als dass man
es nicht hinterfragen müsste. Wenn Blüms Sozialversicherungen so wie die privaten Lebensversicherungen nur weniger auszahlen, was eingezahlt wurde, dann ist ja alles in der Reihe. Und, um noch mal kurz aufs Thema zu kommen: Gerade das Bürgergeld im Sinne eines unbedingten Grundeinkommens prüft ja gerade gar nichts – außer die Einnahmen, was so oder so Job des Finanzamtes ist.] 116
Verwaltete Armut
Mit einem Verdrängen der Sozialversicherung aus dem Zentrum des Sozialstaates würde sich dieser prinzipiell verändern. Der Sozialstaat würde wieder das Armenhaus der Gesellschaft. Es war aber gerade das Verdienst der Sozialversicherung, dass sie den Sozialstaat auf das Gegenseitigkeitsverhältnis »Leistung für Beitrag« aufbaute und nicht auf huldvolle Zuwendung der Obrigkeit. [Also diese Versicherung von Blüm können wir wahrlich
privatisieren. Wer (eingezahlt) hat, dem wird gegeben. Das ist nun alles andere als solidarisch. Was Blüm als Armenhaus bezeichnet, waren auch schon zu seiner Zeit die Schüler und Studenten, ausbildungsplatzlosen Schulabgänger, gescheiterten Selbstständigen und alle, die nie »abhängig beschäftigt« arbeiten durften. Eine Versicherung kann grundsätzlich nur den Versicherten helfen – in begrenztem, d.h. festgelegtem Umfang, nie beliebig. Wenn es aber um wirkliche Absicherung gehen sollte, dann kann gerade nicht die Versicherung greifen. Wer richtig krank ist, braucht eben einen Arzt, ob er nun jemals über den Zwangseinzug von seinem Gehalt hinaus irgendeine Versicherung abgeschlossen hat oder nicht.] Durch die Reformen der Rentenversicherung in den letzten Jahren wurde gerade das Versicherungsprinzip gestärkt und die Umverteilung zurückgedrängt. [Nur zur Erin-
nerung für die jüngeren Semester: Hier spricht ein Bundesminister im Rückblick auf die vielen Gesetze, die er in seinem Ministerium erdenken und vom Bundestag, zeitweise im Bonner Wasserwerk, als Gesetzgeber machen ließ.] Die Reduzierung beitragsfreier Zeiten als Anspruchsgrundlage stärkte das Äquivalenzprinzip »Leistung als Gegenleistung«. Die interpersonale Umverteilung hat ihren Hauptort im Steuersystem. Die Sozialversicherung dagegen ist die solidarische Umsetzung der Selbsthilfe. Am deutlichsten wird diese qualitative Differenz zwischen Sozialversicherung und Fürsorge in der Rentenversicherung. Es macht einen elementaren Unterschied aus, ob Rente einer Beitragsleistung entspricht oder eine steuerfinanzierte Zuwendung ist, wie hoch diese auch immer sein mag. Im einen Fall ist der Anspruch selbst erworben, im anderen zugeteilt. Die Rentenversicherung steht dem Prinzip der Leistungsgerechtigkeit näher als dem der Bedürfnisgerechtigkeit. [Hier einzusteigen würde zu weit führen, aber es ist hoffentlich
klar, dass gerade auch unser Rentensystem für Fürsorge statt Versicherung steht. Oder wie sollte man es bezeichnen, wenn sich die Einkommenshöhe eines alten Rentners, 20 Jahre, nachdem er das letzte Mal eine Schaufel in der Hand gehabt hat, am Erfolg deutscher Softwarefirmen bemisst? ] 117
Verbannung nach Helgoland
Im Mittelpunkt der Rentenversicherung steht die Lebensstandardsicherung, nicht die Armutsvermeidung. [Und das ist genau das Problem, wie Norbert Blüm gleich
selbst ohne einen Anflug von Verständnis referieren wird, was ich hier allerdings kürze, weil es völlig ab vom Thema ist. Eine echte Lebensstandardsicherung würde unter den bestehenden Verhältnissen keine echte Versicherung anbieten können. Wie sollte diese Versicherung damit umgehen, wenn es plötzlich dank medizinischen Fortschritts keinen Krebs mehr gibt – und daher weniger Arbeiter und Rentner sterben, als bei der Kalkulation einmal angenommen? Im derzeitigen System wäre dies nur aufzufangen, indem bei den Zahlenden noch mehr zugelangt wird – ohne jede Fluchtmöglichkeit. Das ist gerade keine Versicherung, sondern eine staatliche Sozialreglementierung.] Die Einkommensverstetigung im Lebenslauf hat allerdings mehr Armut vermieden, als alle konkurrierenden Sicherungssysteme. Kein Alterssicherungssystem der Welt war so erfolgreich in der Armutsbekämpfung wie unser leistungsbezogenes Rentensystem. Das beweist auch die Tatsache, dass sich der Anteil der über 60-Jährigen bei den Sozialhilfeempfängern seit 1970 auf ein Viertel verringert hat (von 37 auf 9%). [Was, mit
Verlaub, überwiegend der Erholung nach dem desaströsen Zweiten Weltkrieg geschuldet war.] [...] Die Kassen von Sozialversicherung und Sozialhilfe müssen aus Gründen der Gerechtigkeit streng getrennt bleiben. Was nicht bedeutet, dass Sozialversicherung und Sozialhilfe organisatorisch nicht stärker koordiniert werden können. Im Zeitalter der Information müssen nicht die Menschen von Schalter zu Schalter geschickt werden. Es genügt, die Datenbänder auszutauschen. Ein Bürgergeld hingegen beispielsweise, das die finanziellen Aufwendungen von Steuern und Beiträgen vermischt, wäre ein Stellwerk, bei dem niemand mehr weiß, wohin der Zug fährt, der von irgendwoher kommt. Einfacher wäre das Bürgergeld vielleicht, aber deshalb keinesfalls gerechter. [Was immer der
Bundesarbeitsminister unter »Bürgergeld« verstehen mag, mit einer Grundsicherung hat es wohl nichts zu tun. Gegen diese könnte man freilich argumentieren – nach dem Motto: Niemand hat ein Recht auf unbedingtes Überleben. Sozialhilfe steht ja prinzipiell auch nicht jedem zu, sondern nur denen, die sich nicht selbst helfen können. Aber in diese Richtung wagt sich der Solidaritäts-Apostel gar nicht erst.] Das Prinzip Leistungsgerechtigkeit würde mit der Reduzierung des Sozialstaates auf Armutsvermeidung ebenso verabschiedet wie der Sozialstaat bei einer Umstellung von der lohnbezogenen Beitragsrente auf eine steuerfinanzierte Grundversorgung. [Das Bürger-
geld impliziert überhaupt nicht, dass es die bisherigen Versicherungen nicht 118
Verwaltete Armut
mehr geben sollte! Es würde stattdessen die Sozialhilfe, das Bafög, das Kindergeld u.ä. abschaffen und durch eine allen zustehende Grundsicherung ersetzen.] Zwar kann Leistungsgerechtigkeit nicht alle sozialen Fragen beantworten. Deshalb kann eine leistungsbezogene Sozialpolitik nicht auf Ergänzung durch bedarfsgerechte Fürsorge verzichten. Man soll jedoch nicht die Barmherzigkeit vorschnell zu Hilfe rufen, wenn Gerechtigkeit ein Problem zu lösen vermag. Die Sympathiewerbung für unseren Sozialstaat ist kein Bekenntnis zum Status quo. Umbau ist vonnöten. Gefahren Zwei Bedrohungen gefährden unser Sozialsystem: Arbeitslosigkeit und Geburtenrückgang. Diese Gefahr ist jedoch keine Exklusivbedrohung unseres Sozialsystems. Jedes System, es kann organisiert sein, wie es will, wird von Arbeitslosigkeit und Geburtenrückgang bedroht.
[Das ist Quatsch. Nur das bisherige System, in dem die Arbeiter und Angestellten die – zeitweise oder dauerhaft – nicht mehr Erwerbstätigen finanzieren und versorgen, hat ein demographisches Problem. Für eine staatliche Finanzierung braucht es keine Kinder und keine Arbeiter, solange das Geld von irgendwo kommt: von der Besteuerung der Maschinenparks z.B. oder von Feldzügen.] Denn bezahlt wird der Sozialstaat immer aus der Arbeit und von denen, die erwerbstätig sind. Wobei das Arbeitsvolumen nicht lediglich von der Kopfzahl der Arbeitenden abhängt. Entscheidend ist die Fruchtbarkeit der Arbeit: die Produktivität. Das Sozialprodukt in Westdeutschland stieg zwischen 1950 und 1990 um 474%. [Wie
bereits erwähnt ist das Sozialprodukt kein geeignetes Instrument, Wertschöpfung zu messen. Je mehr Beamte der Staat einstellt, um so größer das Sozialprodukt – egal, was sie denn treiben; so ist die Rechnung.] Die Zahl der Beschäftigten allerdings nur um 35%. Das zeigt den hohen Stellenwert der Produktivität für die Sicherung des sozialstaatlichen Leistungsniveaus. [Hier hat Herr Blüm wie
üblich in die Zahlentrickkiste gegriffen: da findet sich immer etwas Passendes. Das Sozialprodukt in Deutschland ist auch in den 80er und 90er Jahren gestiegen – bei drastischer Zunahme der Arbeitslosigkeit.] Der Ausstieg aus einer produktivitätsorientierten Wirtschaft gefährdet den Sozialstaat noch stärker als der Geburtenrückgang. Fortschrittsverweigerer bestreiken den Sozialstaat. Arbeit für alle ist ein Gebot des Sozialstaates. Das gilt nicht nur, weil der Selbstständigkeitswert des Lohnes jeden Lohnersatz übertrifft, sondern auch weil Mittel des Lohnersatzes immer dem Lohn entnommen werden. Das ist unabhängig davon, ob die Mittel für den Lohnersatz freiwillig oder mit Hilfe einer »Zwangsversicherung« aufgebracht 119
Verbannung nach Helgoland
werden. Also ist die Arbeitslosigkeit die größte Gefahr für den Sozialstaat, egal in welcher Gesellschaft er auftritt. [...] Rentenversicherung [...] Eine Kapitaldeckung löst das Problem des Geburtenrückgangs nicht, denn einen Ausfall von Beitragszahlern durch die Kapitaldeckung zu kompensieren, hieße, ausgerechnet zu jenem Zeitpunkt, in dem Beitragszahler fehlen, den Investitionen den Kapitalnachschub zu entziehen. [Ach ja, der alte Kardinaldenkfehler unserer Politiker: es wäre
Aufgabe des Staates, mit den von uns aufgebrachten Einnahmen so umzugehen, dass eben auch später noch etwas da ist. Das hat allerdings noch nie geklappt. Die Politik verballert alles, was da ist, dann verschuldet sie sich – und schließlich hilft dann nur noch eine nationale oder internationale Katastrophe.] [...] Ausblick Die Renovation unseres sozialen Sicherungssystems folgt – getreu dem Subsidiaritätsprinzip – einer gestuften Kompetenz. Was kann der Selbstverantwortung überlassen und was muss solidarisch abgesichert werden? Doch dieser Alternative folgt eine zweite Weggabelung. Welche solidarische Absicherung soll mit Beiträgen und welche aus Steuermitteln finanziert werden? Selbstverantwortung ist das Erkennungszeichen einer freiheitlichen Gesellschaft. Nicht alles, was z.B. der Gesundheit förderlich ist, muss solidarisch finanziert werden. Wenn die Definition der Gesundheit durch die Weltgesundheitsorganisation zur Grundlage der Krankenversicherung wird, gibt es so gut wie nichts mehr, was nicht durch die gesetzliche Krankenversicherung finanziert werden muss. »Physisches, psychisches und soziales Wohlbefinden« umfassend solidarisch abzusichern, schafft einen Risikobegriff, der vor fast nichts mehr Halt macht: Vom Liebeskummer bis zu Schweißfüßen – alles müsste auf Krankenschein behandelt werden. Es könnte sogar jemand auf die Idee kommen, die Sorge für gesunde Ernährung der Solidarität zu übertragen. [Die Sorge um gesunde Ernährung
sollte in der Tat gesellschaftliche Aufgabe sein. Was sie mit der Krankenkasse zu tun hat – keine Ahnung.] Der Krankenschein würde so zum allgemeinen Zahlungsmittel: Warum nicht auch Joghurt auf Krankenschein? Selbst im Sportverein könnte der Krankenschein den Mitgliedsbeitrag ersetzen. [So kompliziert denken Politiker! Der Sport wird bereits intensiv
öffentlich gefördert: beim Bau von Sportplätzen ebenso wie durch Zuschüsse 120
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aus Haushaltsmitteln für die laufende Vereinsarbeit. Da könnte man in der Tat auf die Idee kommen, das ein oder andere Angebot müsste kostenlos sein, wenn es denn schon die Allgemeinheit finanziert. Die Krankenkasse oder andere Lobbygruppen und Gremien braucht es dafür nicht. Die braucht es im übrigen auch nicht für eine gesunden Schulspeisung oder eine »Tafel« für Arme.] [...] Fitness ist ein wünschenswertes Ziel, aber bitte nicht auf Krankenschein. [Wieso um
Himmels Willen nun das schon wieder? Wenn Gesundheit = Fitness nicht der Gemeinschaft dient, dann kann sie ja wohl nur aus karitativen, mildtätigen Gründen gefördert werden – mit relativ bescheidenem Engagement. Die Fitness aber ist doch gerade ein unstrittiges Ziel der Solidargemeinschaft, weil jeder Unfitte eine Belastung darstellt.] [...] Die Unterscheidung solidarischer Aufgaben nach beitrags- oder steuerfinanzierter Leistung ist nicht nur aus Gründen der Verteilungsgerechtigkeit erwünscht, sondern auch eine beschäftigungspolitische Notwendigkeit. Verteilungsgerechtigkeit beginnt nicht erst auf der Ausgabenseite, sie setzt bereits bei der Aufbringungsseite an, und eine Sozialpolitik, welche die Arbeitsplätze mit Abgaben überlastet, schlachtet die Kuh, die sie anschließend melken will. [Achtung, auch wenn es etwas schwer weil verworren ist, aber hier
wird es noch mal wichtig.] Die lohnbezogene Sozialversicherung knüpft zu Recht mit ihrem Beitrag an die Arbeit an. Aber muss alles, was sie bezahlt, mit Beiträgen finanziert werden? Wir brauchen eine neue Unterscheidung zwischen Aufgaben der Allgemeinheit, die auch von allen mitfinanziert werden, und der originären Versicherungsleistung. [Es gehört zwar zum Standard-
Repertoire der Politiker, aber bitte: wo ist da nüchtern betrachtet der Unterschied? Wirkliche »Einnahmen« kann der Staat nur bei denen tätigen, die etwas erwirtschaften. Das sind nun mal nur die Zwangsversicherten – plus die kleine, reiche elitäre Gruppe der Superverdiener und Selbstständigen, die nicht vom Zwangsabgabensystem erfasst werden. Aber bei allen anderen – und die hat Blüm hier natürlich im Blick – ziehen wir nur aus der rechten Tasche, was wir in die linke hineingestopft haben; doch so macht es der Staat seit Jahr und Tag, und alle machen die Verarschung mit. Da wird großspurig das Kindergeld um ein paar Mark erhöht, aber gleichzeitig die Pflicht zum Kauf von Schulbüchern ausgeweitet. Bei Schülern, Studenten, Rentnern, Hausfrauen etc. ist (fast) nichts zu holen, es sei denn man richtete für sie einen Arbeitsdienst ein.] 121
Verbannung nach Helgoland
Die Sozialversicherung wird schlanker, sie muss deshalb von Fremdleistungen entlastet werden. Die Fahrtrichtung – Stärkung des Versicherungsprinzips durch Entlastung von Fremdleistungen – stärkt die Wettbewerbsposition der deutschen Wirtschaft, wenn sie die Belastung der Arbeit mit Beiträgen auf die Belastung der Verbraucher durch die Mehrwertsteuer verschiebt. [Milchmädchen! Das kommt natürlich aufs Gleiche raus.
Machen wir die Produkte in Deutschland durch die Mehrwertsteuer teurer, müssen Arbeiter mehr verdienen, um den Lebensstandard zu halten, und müssen diejenigen, die vom Transfer leben, mehr bekommen.] Die Beitragsbelastung folgt dem Produkt rund um den Erdball, denn sie bleibt im Preis enthalten. Die Mehrwertsteuer jedoch trifft nur den inländischen Verbraucher und endet an den Grenzen der Volkswirtschaft. Das ist für eine exportorientierte Wirtschaft ein schlachtentscheidender Unterschied.
[Norbert Blüm kann wirklich gut predigen, ernsthaft. Was hier jetzt folgt, ist aber allerhöchstens schön gesagt, ansonsten reichlicher Stuss.] Solidarität muss sich nicht rechtfertigen, wie ein Luxus. [Auch Luxus muss sich nicht
rechtfertigen, allenfalls jemand, der ihn sich leistet, ohne ihn sich leisten zu können.] Solidarität ist eine Überlebensbedingung der Menschheit. Wie kein anderes Lebewesen ist der Mensch auf die Kultur der Solidarität angewiesen. Seine Natur wird durch keinen Instinkt der Rücksichtnahme gebremst. Er muss mit Vernunft schaffen, was bei Tieren die Natur regelt. [Oh Herr!] »Extrem ausgesetzt«, tritt der Mensch ins Leben. Als eine biologische Frühgeburt haben Anthropologen den Menschen bezeichnet (Portmann).
[Was auch mit dem ewigen Zitieren nicht stimmiger wird. Alle höheren Tiere kommen in einem Zustand auf die Welt, in dem sie ohne elterliche Sorge nicht lebensfähig sind. Das konstituiert ja gerade unsere Klasse der Mammalia – von der Maus bis zum Blauwal.] Erst die Kultur der Solidarität macht ihn überlebensfähig. Die Familie ist der erste Ort seiner Menschwerdung, sie ist mit der Geburt nicht abgeschlossen. Alles, was ihn überlebensfähig macht, von der Speise bis zur Sprache, verdankt er dem Generationenvertrag, der Solidarität. [Hier sind wir nun endgültig bei einem Glaubensbekenntnis angelangt.] Deshalb ist der allein-selig-seiende Yuppie keine Leitfigur für eine menschenwürdige Gesellschaft. »Ich kündige den Generationenvertrag«, dieser Aufruf eines jungen Heidelberger Studenten, viel zitiert und mancherorts bejubelt, ist der Offenbarungseid eines neuen modischen Egozentrismus. [So
modisch ist er gar nicht. Zwar stimmt es in Bezug auf die kinderlosen Paare, doch noch nie hat-ten wir eine so große Zahl »Alter« zu versorgen – und noch nie waren diese so fit. Genau das ist das Problem, und ein auf ein Versorgungsrecht ab einem bestimmten Alter ausgelegter »Generationenvertrag«, 122
Verwaltete Armut
der sich nicht mehr an der Bedürftigkeit orientiert, muss tatsächlich dringend gekündigt werden. Ab 58 nur noch für sich selbst da zu sein und sich von anderen aushalten zu lassen, ist der neue, bedrohliche Egozentrismus, für den das Sozialsystem nie geschaffen worden ist und den es nicht überleben kann.] Dem Mann kann geholfen werden. Zurück auf die Bäume des Neandertals. Aber alles, was der junge Mann genießt, verdankt er dem Generationenvertrag. Nichts hat er selbst geschaffen, nichts hat er selbst finanziert, die Universität, selbst die Straße, auf der er sie erreicht, verdankt er der Arbeit der Älteren. Aber der Spruch macht sich gut. Er ist die Maxime einer Erlebnisgesellschaft, die nehmen will, ohne zu geben.
««
123
Verbannung nach Helgoland
Totgeburt Gesundheitsreform – Warum wir endlich die richtigen Fragen stellen müssen Karl Lauterbach hat mit Jürgen Möllemann selig nicht nur ein ominöses »W.« zwischen Vor- und Nachnamen gemein; sondern auch den Hang zur Selbstdarstellung, das ewig ernste, bei Lauterbach ins Leidende hineinzügelnde Gesicht – und eventuell, worst case, auch die Unabwählbarkeit, quasi das ewige politische Leben. Karl W. Lauterbach ist Mediendozent für Gesundheitsmedizinfinanzierung und als solcher Berater von Ulla Schmidt. Ganz öffentlich regierungsverlautbart er: »Eine Heranziehung von Mieteinkünften für die Berechnung der Bürgerversicherung wird es nicht geben.« Und falls doch, na ja, dann wird die Regierung einen unbürokratischen Weg finden. Das kann man ihm schnell glauben, denn der Mann ist vom Fach, Leiter der Behörde für Gesundheitsökonomie an der Universität zu Köln. Herr Lauterbach hat eine Menge Ahnung, sonst zierte ja nicht ein Harvard-Doktor seinen akademischen Frontschwanz. Das ist allerdings für einen Medienprofessor uninteressant, entscheidend ist, auch viel Meinung zu haben – und da steht Herr Lauterbach seinen Bielefelder Kollegen Hurrelmann und Heitmeyer in nichts nach. Von Dr. Hans Georg Faust, Dr. Margrit Spielmann oder Dr. Heinrich Leonhard Kolb haben Sie vermutlich zu Gesundheitsfragen noch nie etwas gehört? Das ist wenig verwunderlich, denn diese Bundestagsabgeordneten sind Ausschuss, genauer gesagt Teil dessen für Gesundheit, in dem die Vielzahl von Ärzten, Rehabilitationstherapeuten und anderen Vertretern des Systems lieber ohne große Wellen Interessen durchsetzen. Die Leere des Begriffs Gesunheitsreform, aufgekommen 1989, steht für das gesamte Dilemma: irgendetwas meint Politik tun zu müssen, aber was – und mit welchem Ziel –, das weiß niemand. Zukunftsfähig 124
Totgeburt Gesundheitsreform
soll das Gesundheitssystem sein, bleiben oder werden, je nach Rolle des Akteurs. Seit Jahrzehnten basteln Politiker am Gesundheitsfinanzierungssystem herum, seit 1989 unter dem griffigen Nomen »Gesundheitsreform«. Wo es ein politisches Ressort gibt, da besteht grundsätzlich auch immer Regelungsbedarf. Dabei geht es in der Gesundheitspolitik keineswegs um Gesundheit. Es geht wie überall zunächst einmal um Verwaltung an sich. Wir haben ein Ministerium – derzeit »für Gesundheit und soziale Sicherung« – mit zwei Dienstsitzen: Am Propsthof in Bonn und an der Wilhelmstraße 49 in Berlin. Dazu zig Institute – für Impfstoffsicherheit, Seuchenmeldung oder Arbeitsunfälle. Ferner Landesministerien und in jedem Kreis und jeder kreisfreien Stadt ein Gesundheitsamt mit Amtsärzten und sonstigem Klimbim. Wir haben 330 Krankenkassen mit 148.000 Beschäftigten und auch bei den Kassenärztlichen Vereinigungen, Gewerkschaften, Ärzteverbänden etc. sind Hunderte Lobbyisten am Start. Unmittelbar profitieren wollen rund 354.000 Ärzte und Zahnärzte in Deutschland, fast eine Million nicht-ärztliche Beschäftigte arbeiten in Krankenhäusern, 48.000 Apotheker und ihre 90.000 Mitarbeiterinnen, 40.000 Masseure, Physiotherapeuten und andere »Leistungserbringer von Heilmitteln«, 15.000 Mitarbeiter der Gesundheitsämter u.v.a.m. wollen ihr Auskommen haben. Um was es in diesem Zirkus mit Chef-Domptöse Ulla Schmidt geht, ist daher recht banal: Geld. Wer bekommt wie viel. Immerhin sammeln die gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) 140 Milliarden Euro pro Jahr ein, die zu verteilen sind. Damit das nach außen nicht ganz so banal wirkt, gibt es für diese Verteilung viele Chiffren. Bei den Ärzten sind das »Leistungen«, die gemeinsam einen »Leistungskatalog« bilden. Wenn also Geld vom »Hausarzt« zu einer bestimmten Facharztgruppe umverteilt werden soll, dann werden »K.O.-Leistungen« geschaffen. Klingt brutal, ist aber nur ein bisschen irrsinnig. Hat der niedergelassene Allgemeinmediziner in den letzten Jahrzehnten bei 125
Verbannung nach Helgoland
Patienten mit Herz-Kreislauf-Problemen unter anderem ein LangzeitEKG gemacht, so darf er dies seit 1. Januar 2003 nicht mehr – daher »K.O.«: für knock(ed)-out. Diese »Leistung« ist nun dem Facharzt vorbehalten. Der Hausarzt darf das Langzeit-EKG nicht länger abrechnen, bekäme also kein Geld für diese Untersuchung, sondern er riskiert sogar juristischen Ärger, weil er auf fremdem Terrain jagt, was ein Wettbewerbsverstoß ist. Da »Leistungen« noch zu verständlich ist, werden auch diese weiter chiffriert. Z.B. in Form des »EBM«, des Einheitlichen BewertungsMaßstabs. Das liest sich dann in der Ärzte-Zeitung vom 24. Januar 2002 so: »Die Krankenkassen sehen dem weiteren Prozedere in puncto EBM-Reform gelassen entgegen. Selbst die Drohung der KBV [Kassenärztliche Bundesvereinigung], zur Not den erweiterten Bewertungsausschuss anzurufen, lässt sie eher unberührt. Bislang galt dies als Druckmittel, weil die KBV glaubte, hier die besseren Karten zu haben. Im erweiterten Bewertungsausschuss werden Entscheidungen mit Mehrheit getroffen. Es gilt nicht das Prinzip der Einstimmigkeit.«
Keine Sorge, weder muss man das verstehen noch versteht es jemand. Das »Gesundheitswesen« – also nicht die Medizin, sondern die Geldverwaltung – ist inzwischen eine eigene Disziplin geworden, für die sogar eigene Lehrstühle an den Unis geschaffen werden – bei der es aber kaum etwas zu lehren gibt, dafür um so mehr zu glauben. Es ist müßig zu diskutieren, ob wir den Status quo im Gesundheitswesen trotz oder wegen der Politik haben. Unbestreitbar ist: etwas Vernünftiges haben die Politiker mit ihren Runden und Räten, Verordnungen und Gesetzen nicht geschaffen. Oder etwas milder gesagt: es gäbe sehr viel zu tun, doch nichts deutet darauf hin, dass Politiker willens, kräftens und verstandes sind, es anzupacken: !
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In Deutschland sterben jährlich etwa 40.000 Menschen in Krankenhäusern, nur weil sie in Krankenhäusern liegen und Ärzte
Totgeburt Gesundheitsreform
und Pfleger sich nicht anständig die Hände waschen! Rund 600.000 werden dadurch zwar krank, überleben aber. !
Obwohl wir angeblich zu viele Ärzte haben, bieten viele Fachärzte erst wieder in einigen Monaten einen Termin an. Stundenlange Wartezeiten – auch mit Termin – sind in Arztpraxen und erst recht in Krankenhäusern völlig normal.
!
Bei den Krankenkassen sind 148.000 Menschen beschäftigt. 148.000 Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, die eben Versicherte verwalten. Das kostet ein paar Euro, zumal die 148.000 Menschen bei der Arbeit auch Räume und Stühle und Telefon brauchen, Kaffeemaschinen und Schirmständer, Parkplätze und Toiletten. Unserer Gesundheit helfen sie null.
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Obwohl wir mit gesetzlicher Krankenkasse, privater Zusatzversicherung, Pflegeversicherung, Berufsgenossenschaft, einem Risiko-Struktur-Ausgleich und was nicht allem ein gigantisches Reglement für die Finanzierung von Heil- und Behandlungskosten haben, ist längst nicht alles versichert. Wer zwischen die Zahlungszuständigkeiten fällt, hat Pech gehabt.
Politiker jedoch kurieren erfolglos an Symptomen. Nullrunde für Ärzte, verordneter Beitragsstopp für die Kassen, oder Zwangsrabatte, wie im »Beitragssicherungsgesetz« vom 23. Dezember 2002 festgelegt. Ein Auszug: § 130 Abs. 1 wird wie folgt gefasst: »(1)Die Krankenkassen erhalten von den Apotheken auf den für den Versicherten maßgeblichen Arzneimittelabgabepreis einen Abschlag. Der Abschlag beträgt bei einem Arzneimittelpreis von bis zu 52,46 Euro 6 vom Hundert, von 54,81 bis 820,22 Euro 10,0 vom Hundert, von über 820,22 Euro 82,02 Euro plus 6 vom Hundert des Differenzbetrages zwischen 820,22 Euro und dem für den Versicherten maßgeblichen Arzneimittelabgabepreis. 127
Verbannung nach Helgoland
Der mit der Krankenkasse abzurechnende Betrag beträgt bei einem Arzneimittelabgabepreis von 52,47 Euro bis 54,80 Euro 49,32 Euro.«
Wie wäre es, mal zur Abwechslung vorne anzufangen? Mit der Frage zu beginnen: Was wollen wir eigentlich? Auch wenn es sich sehr trivial liest, gehen wir es doch einmal kurz durch: !
!
Wir haben heute ein unglaubliches Potenzial an medizinischen Untersuchungs-, Heil- und Behandlungsmethoden. Im Rahmen dessen, was machbar ist, sollen diese Errungenschaften allen zuteil werden. Niemand soll durch die mit einer nötigen Behandlung verbundenen Kosten ruiniert werden. Dementsprechend beteiligen sich alle nach ihren Kräften und im Rahmen einer als sozial empfundenen »Belastungsverteilung« an der Finanzierung. Das wäre das soziale Versicherungsprinzip.
Leider sind diese Grundannahmen nicht äußerst trivial, sondern ketzerisch. Denn es sind keineswegs alle Menschen in Deutschland abgesichert. Die wirkliche Zahl kennt niemand, aber man darf davon ausgehen, dass etwa 2 Millionen Menschen keinen Krankenversicherungsschutz haben, die offizielle Befragung für den Mikrozensus weiß immerhin von 150.000. Hinzu kommen aufgrund des in harter Arbeit von Politikern erschaffenen Gesetzesdschungels unzählige Situationen, in denen der Versicherte nicht versichert ist – und dies nicht erst, seitdem immer mehr medizinische Fälle grundsätzlich aus der GKV ausgeklammert werden. Denn die GKV geht von der sehr altmodischen Annahme aus, jeder Mensch sei irgendwo als Arbeitnehmer beschäftigt und über dieses Arbeitsverhältnis dann zwangsweise versichert. Mit ihm wird dann – bislang – auch dem Ehepartner und den Kindern Versicherungsschutz zuteil, von Ausnahmen abgesehen. Wer aber nicht Arbeitnehmer ist, ist grundsätzlich auch nicht zwangsversichert – und 128
Totgeburt Gesundheitsreform
in vielen Fällen müssen die Kassen so jemanden auch auf Antrag nicht aufnehmen. Insbesondere die privaten Krankenversicherungen haben darüber hinaus viele Klauseln ersonnen, die den Versicherungsschutz aushöhlen. Auch die zweite Grundannahme trifft auf das System nicht zu: es ist mitnichten sozial, weil sich eben nicht alle nach ihren Kräften an der Finanzierung beteiligen. Die 7,7 Millionen Privatversicherten sorgen nur für sich als exklusive Versicherungsgemeinschaft, aber nicht für die armen Würstchen und die Familien, die bei AOK, BKK oder einer Ersatzkasse einzahlen müssen, ob sie wollen oder nicht. Wenn Ulla derzeit darüber nachdenkt, eine angebliche »Bürgerversicherung« einführen zu wollen, bei der dann alle zur Kasse gebeten werden, hat das im Übrigen nichts mit sozialer Gerechtigkeit zu tun. Bei der unsere Politik konstituierenden Einfältigkeit dürfen wir davon ausgehen, dass »Beitragsbemessungsgrenzen« verschoben werden, mehr nicht – allein schon, um den privaten Versicherungen nicht den Garaus zu machen. Wir werden mehr Reglementierung erhalten, aber nicht mehr Gerechtigkeit – und schon gar nicht mehr Freiheit und schon aller gar nicht mehr Gesundheit. Dazu später weiteres. Bevor wir uns also Gedanken darüber machen, ob die Medikamentenzuzahlung 3 oder 4 Euro betragen soll, heißt es Stopp: Warum haben wir noch nicht einmal eine soziale Krankenversicherung für alle? Die Antwort ist leider: Weil Politiker keine Volksvertreter sind. Schon die simpelste Grundausstattung ist mit Politikern nicht zu machen. Was nur heißen kann: wir müssen uns nach Alternativen zu ihnen umschauen. Da hilft es auch nicht, immer und immer wieder zu erklären, wieso wir ein bestimmte Situation haben. Ja, bei Bismarck war eben alles noch etwas anders, aber dann haben seine Sozialversicherungen gegen Altersarmut, Erwerbslosigkeit, Krankheit und Betriebsunfälle zwei 129
Verbannung nach Helgoland
Weltkriege und allen parlamentarischen Intellekt recht unbeschadet überdauert. Von ursprünglich rund 3% Krankenkassenbeitrag sind wir inzwischen bei 14%. Das Prinzip ist geblieben, doch seine Bedeutung, die aus ihm folgende Leistunge und Belastung ist eine völlig andere. Schon Bismarck wollte nicht das Heil bringen. Sonst hätte er kurzerhand erkannt, dass es eine Gesundheitsfürsorge für das ganze Volk braucht, die medizinische Grundversorgung mithin eine Staatsaufgabe ist und aus der Staatskasse bezahlt werden muss. Bismarck wollte die Macht der Gewerkschaften drosseln und bot den Fabrikarbeitern daher ein Geschenk, das sie freilich selbst zu bezahlen hatten. Schon Ende des 19. Jahrhunderts war das Familienidyll, in dem sich die Generationen umeinander kümmern, Romantik, nicht Realität. Die Krankenversicherung wurde wie alle Sozialleistungen schlicht zur Machtsicherung eingesetzt, mit der bis heute gültigen Privilegierung der Beamten zum Beispiel. Doch schauen wir weiter: Wir wissen, was wir wollen, weil es nahe liegend ist und es dabei noch gar nichts zu diskutieren gibt. Kommt also der zweite Punkt: Mit welchem Aufwand wollen wir das erreichen? Wie viel ist uns das hehre Ziel wert? Jetzt wäre tatsächlich mal Demokratie gefragt – denn es geht um unser Geld. Ganz gleich, auf was wir uns am Ende verständigen würden: Es gäbe ein Budget. Punktausfertig. Jeder gibt 5% seines Einkommens ab oder 100 Euro oder unterliegt einer progressiven Besteuerung oder sonst was – Zahlen spielen hier keine Rolle. Aber wir Bürger würden festlegen, wie viel uns dieses Gesundheitswesen wert ist, von dem wir, jeder Einzelne, aber immer auch alle anderen profitieren. Das wäre dann Demokratie. Bei Politikern läuft das anders. Als Erstes haben sie dafür gesorgt, dass sie und all ihre Diskussionspartner – die Ärztefunktionäre, die Krankenkassenpräsidenten, ihre Beamten, aber auch die Chefkorres130
Totgeburt Gesundheitsreform
pondenten, Gutachter und Berater, dass sie alle von einer Entscheidung, wie viel uns denn die solidarische Absicherung der Gesundheit der breiten Bevölkerung wert sein muss, nicht betroffen sind – denn sie alle sind privat versichert und bestimmen ganz individuell für sich, was sie an Leistungen bekommen wollen – ohne für andere aufzukommen. Das macht sie wunderbar unabhängig. Denn sie müssen sich nur mit einer Frage plagen: Wie bekomme ich meinen Teil vom Kuchen, der da vom restlichen Volk gebacken wird, sei es nun als »Leistungserbringer« oder Verwalter, Lobbyist oder Politiker, auch Posten und Pöstchen können dabei attraktiv sein. Nur: die übrigen Bürger haben nichts davon. Sie kommen in diesem System namentlich nur als Patienten vor – was ein sehr geschickter Kommunikationsschachzug der Politik ist, denn Patienten sind geduldig und warten auf Heilung. Für diese Grundfrage nach dem Budget braucht es keinen einzigen Experten. Alle wirklich wichtigen Entscheidungen im Leben treffen wir sonst auch ohne sie: Ob wir heiraten, Kinder bekommen, ein Haus bauen, den Job wechseln, Urlaub im Himalaja machen – ggf. fragen wir zwar mal einen Fachmann, aber die Entscheidung treffen schon wir. Die meisten überleben das. Geht es aber um Teilbereiche, um die kleinen Dinge des Alltags wie die Vorsorgeuntersuchung unserer Kinder, oder die Vorbereitung auf das Unglück, den Skiunfall oder die Zahnprothese, dann haben wir nichts mehr zu melden. Dann tagen politische Ausschüsse und RürupKommissionen streng vertraulich und beraten wie ein Magier-Zirkel, was dem Volk demnächst widerfahren soll. Wie um alles in der Welt sollte dabei etwas Vernünftiges herauskommen? Sollten all diese karrieregeilen Super-Minister und Spitzen-Funktionäre und Multi-Fachleute plötzlich von Wohltätigkeititis heimgesucht worden sein? Sollten da Menschen bei saurem Kaffee aus Thermoskannen und nervenpeinigendem Neonlicht uneigennützig um das Los der Menschheit ringen?
131
Verbannung nach Helgoland
Natürlich ist dem nicht so. Die Expertenrunden werden gebildet, um Lobbygruppen zufrieden zu stellen – und zwar wirklich die Lobbygruppen selbst, nicht die von ihnen angeblich Vertretenen: den Vorsitzenden des Hartmann-Bundes, die Präsidenten der Kassenärztlichen Vereinigungen, die Funktionäre der Pharmaindustrie. Mit den Mitgliedern der Lobbyverbände wiederum klar zu kommen, ist dann der nachgeordnete Job der Lobby-Funktionäre: Weil Gewerkschaften nur eine Existenzberechtigung haben, wenn sie andere Positionen vertreten als die Arbeitgeber, mit denen sie sich schließlich streiten sollen, müssen sie bei der Gesundheitsreform einen eigenen Standpunkt beziehen. Also z.B. die Lohnfortzahlung für den ersten Krankheitstag beizubehalten. Sie rechnen ihren Mitgliedern nicht vor, wie viel ein jeder monatlich mehr auf dem Konto hätte, wenn die Krankfeierer ihr Hobby selbst bezahlen müssten. Stattdessen erzählen sie ihren Mitgliedern etwas von Solidarität und dass man sterben kann, wenn man sich aus finanziellen Gründen krank zur Arbeit schleppt. Auf diesem Level verlaufen alle Diskussionen. Es geht nicht um Fakten, es geht um Positionen. Es geht nicht darum, Bürger, Mitglieder, Klienten zu einer eigenständigen, rationalen Entscheidung zu befähigen, sondern angeblich anwaltlich für sie über den Kontrahenten zu siegen. Dabei gibt es übrigens keinen Unterschied zwischen Lobbyisten und Experten, weil auch der Experte ein Lobbyist ist. Vornehmlich einer für die Politik, die ihn berufen hat, oder für seinen Berufsstand oder einfach für die Position, die der Experte besetzt hat und um deretwegen er in den Beratungsprozess berufen wurde. Damit Experten arbeiten können, blenden sie als Erstes den größten Teil der Wirklichkeit aus. Das macht man im Labor schließlich auch so, um diskutable Ergebnisse zu erhalten. Ein kleines Beispiel: 132
Totgeburt Gesundheitsreform
Alle zwei Jahre stellt der »Sachverständigenrat der Konzertierten Aktion im Gesundheitswesen« auf Anforderung ein Gutachten zusam-men. Im Jahre 2003 umfasste dies fast 700 Seiten. Dabei kann die Frage nach einer Steuerfinanzierung des Gesundheitswesens nicht ganz ausbleiben, schließlich ist das nicht nur das Modell einiger anderer Länder wie Finnland, Schweden, Norwegen, Spanien oder Australien, es drängt sich aus verschiedenen Gründen geradezu auf. Die Sachverständigen verlautbaren in ihrem Gutachten dazu Folgendes: »Mit dem Wechsel von beitrags- zu steuerfinanzierten sozialen Gesundheitssystemen gehen die Versicherten bzw. Bürger ihrer Versicherungsrechte bzw. -ansprüche verlustig, denn das Wesen einer allgemeinen Steuer besteht darin, dass kein Steuerpflichtiger mit seiner Abgabe einen Anspruch auf irgendeine staatliche Leistung erwirbt. Die beitragsfinanzierte Gesundheitsversorgung stellt dagegen keine staatliche Transferleistung, wie z. B. die Sozialhilfe, sondern eine mit spezifischen Abgaben bezahlte Versicherungsleistung dar.«
Man kann einen solchen Unfug eigentlich nicht mehr kommentieren. Wir wollen auch auf gar keinen Fall das Minenfeld der Juristen betreten. Nur noch mal ganz langsam: Derzeit verpflichten Gesetze die Arbeitgeber, für jeden Arbeitnehmer Sozialbeiträge abzuführen. Die Höhe der »spezifischen Abgaben« richtet sich nach der Höhe des Einkommens. Außerdem verpflichten Gesetze die Arbeitgeber, einen Teil des mit einem Arbeitnehmer vertraglich vereinbarten Lohns nicht dem Erwerbstätigen zu geben, sondern dem Fiskus. Bei der Steuerfinanzierung würde nun diese Lohnsteuer erhöht, die Sozialversicherungsabgabe an die Krankenkasse entfiele. That's it. Einige der ungeheuren Vorteile dieses Systems – bei dem sonst zunächst mal nichts weiter geändert werden müsste – selbst das verkorkste System der über 300 gesetzlichen Krankenkassen könnte vorerst bestehen bleiben: !
Es würden alle Einkommensarten berücksichtigt, nicht nur wie bisher die Einkommen aus abhängiger Beschäftigung: Egal, ob ich meinen Lebensunterhalt aus meiner Hände Arbeit oder aus dem 133
Verbannung nach Helgoland
Ertrag meiner Aktien und Pfandbriefe bestreite. Die derzeit diskutierten neuen Schnüffelmethoden der Krankenkassen, um an so erwirtschaftetes Geld heranzukommen, entfielen, denn das Finanzamt nimmt eh alle Einnahmen zusammen. !
Auch Reiche und Super-Reiche würden automatisch ihren Obolus erbringen. Jeder, der etwas mehr verdient als er zum Leben braucht, zahlt Steuern – und damit dann auch seinen Beitrag für die »Sozialversicherungen« des Staates. Die Krankenversicherung des Sozialhilfeempfängers, der Hausfrau und der vielen Kinder würde nicht mehr von Arbeitern und Angestellten alleine aufgebracht, sondern auch von Industriellen, Schauspielern und Börsenbrokern.
!
Das gesamte aufwendige und tödlich nervende Inkasso der Krankenkassen entfiele komplett, inklusive aller bisherigen Kontrollsysteme. Denn das Finanzamt prüft ohnehin Arbeitnehmer und Arbeitgeber.
!
Unterm Strich hätten damit Arbeitnehmer deutlich mehr von ihrem Einkommen auch auf ihrem Konto.
Doch das alles wird mit einer Experten-Hirn-Akrobatik ausgeblendet. Der echte Experte – und das hat er sich »mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit« bei den Juristen abgeguckt – darf ob seines Expertenwissens einfach etwas behaupten. Der Sachverständigenrat fasst sich da sehr kurz: »So steht z. B. der Wechsel zu einer rein steuerfinanzierten sozialen Gesundheitsversorgung aus Sicht des Rates weder aus ökonomisch-normativen Aspekten noch politisch ernsthaft zur Diskussion.« Punkt. Wobei es völlig belang-
los ist, ob das nun wirklich Unverstand oder einfach Frechheit ist – wie übrigens auch in folgender fulminanten Logikkette: »Nach repräsentativen Studien über die Einstellungen und Erwartungen der Bevölkerung bzw. der GKV-Versicherten [...] findet eine Einheitskasse, auf die eine steuerfinanzierte Gesundheitsversorgung praktisch hinausläuft, eine klare Ablehnung und das Kassenwahlrecht eine überwiegende 134
Totgeburt Gesundheitsreform
Zustimmung.« Damit brauchen also die 70 Millionen Versicherten auch gar
nicht weiter mit Vorschlägen belästigt zu werden. Schließlich hat das schon mal eine Befragung geklärt – die freilich die immensen Vorteile eines steuerfinanzierten Gesundheitswesens außer acht gelassen und statt dessen mit einer »Einheitskasse« gedroht hat. So macht man Politik – Gutachten sollten eigentlich etwas anderes sein. Da nimmt es nicht wunder, dass keines der Mitglieder des so genannten Sachverständigenrats meine dahin gehenden Fragen beantwortet hat. Nun wären einige hundert Seiten bedrucktes Papier mehr für diese Welt wirklich belanglos, bildeten sie nicht die Leitplanken für die gesamte politische Diskussion. Das Agreement unserer Vertreter und der vielen Lobbyisten lautet: Machst du meine Experten nicht an, mache ich deine Experten nicht an. Weil ich die riesigen Papierberge nicht abarbeiten kann und mag, widerspreche ich den kurzgefassten Ergebnissen nicht, wenn sie genügend Spielraum für meine Interpretation und meine Forderungen lassen. Und das klappt dann natürlich. Der Sachverständigenrat funzelt ein wenig rechts und links des Weges, nur um brav auf demselben zu bleiben. Niemand will ernsthaft umkehren, niemand will sich vom Weg ab querfeldein wagen, aber doch diskutieren alle über die weitere Route. Zum Gutachten des Sachverständigenrats erklärte die Ministerin Ulla Schmidt denn auch: »Die solidarische Krankenversicherung hat sich bewährt. Ich stimme mit dem Sachverständigenrat darin überein, dass Reformschritte im Rahmen des bestehenden Systems der gesetzlichen Krankenversicherung vorzunehmen sind.«
Klar. Nur keinen Wirbel. Nichts, was einen Lobbyisten aus dem Boot werfen könnte – denn das macht Wellen. Als Ministerin erwartet Schmidt von einem Sachverständigenrat keine neuen Erkenntnisse, sondern das Fundament für ihre Politik. Sachverständige, die Sachverständige bleiben wollen, parieren. »Ich freue mich, dass wir hier in zahlreichen Punkten übereinstimmen«, legen ihre Pressesprecher Ulla in den 135
Verbannung nach Helgoland
Mund. Schön deutlich. Man möchte ergänzen: »In den anderen Punkten bringe ich die Gutachter noch auf Kurs, wir gehen gleich mal in mein Oval Office.« Das politische Ziel aber ist erreicht: Gutachter stecken das Feld ab, auf dem das weitere Match ausgetragen wird. Schmidt: »Welche der vom Rat vorgeschlagenen Maßnahmen geeignet und politisch durchsetzbar sind, um mehr Effizienz und Verteilungsgerechtigkeit zu erzielen, demografie- und fortschrittsbedingte Herausforderungen zu meistern und Belastungen der Arbeitskosten zu mindern, muss im weiteren Diskussionsprozess geprüft werden,« Vulgo: Nur die im Gutachten
genannten Themen stehen zur Diskussion. Deshalb war es auch nötig, die kecke Frage einer Steuerfinanzierung abzutun. Dabei kann völlig unbeachtet bleiben, dass die Sachverständigen selbst von dieser Frage nicht mehr verstehen als Hänschen Klein oder Tante Emma, die aber immerhin die Stimmung ihrer Kunden kennt. Der Ratschef Prof. Dr. rer. pol. Eberhard Wille ist Volkswirt, die übrigen Mitglieder sind Mediziner und Soziologen – eine besondere Befähigung zur ökonomischen Kalkulation ist nicht auszumachen. Eine andere Funktion als politische Diskussionen einzuengen haben von Politikern bestellte Experten nicht. Deshalb kommen sie mit überschaubar wenigen Sitzungen aus, können gleichwohl ungeheure Textmengen produzieren (lassen), sitzen problemlos in hundert Kommissionen und Gremien gleichzeitig, brauchen keine Geschäftsstelle, müssen sich nicht ernsthaft Fragen von Journalisten und Öffentlichkeit stellen. Es reicht, dass sie akademische Titel haben, formal zu einer Expertengruppe berufen werden und zu einem vereinbarten Termin bei der Pressekonferenz erscheinen unter der strikten Auflage, dort nichts Neues oder Erhellendes zu sagen. Klappt das nicht, wischt die weise Politik Experten einfach ganz vom Sitzungstisch. Bundeskanzler Schröder drohte der Rürup-Kommission mit der Auflösung, wenn sie weiter Ideen in die Welt blase. Ministerin Schmidt erklärte kurze Zeit später zum Frühjahrsgutachten der Wirtschaftsforscher: »Die 136
Totgeburt Gesundheitsreform
Feststellungen der Wirtschaftsforscher gehen von nicht zutreffenden Annahmen aus.« Es
folgen drei Punkte und die Quintessenz: »Damit sind wir erheblich weiter als es die Wirtschaftsforscher bisher wahrgenommen zu haben scheinen.« Warum ist Ulla Schmidt eigentlich noch nicht Welt-Professorin für Alleswissen? Die Gesundheitsreform ist seit Jahrzehnten nichts anderes als eine Dauertarifkommission. Unter zig verschiedenen Namen und formalen Zuschreibungen tagen Funktionäre und Nichtfunktionierende allein zu der Frage, von wem man sich Geld holen und wie man es unter sich verteilen möchte. Neudeutsch heißt das »Realpolitik«. Es ist natürlich nicht so, dass Politiker alle wirklich wichtigen Fragen ignorierten. Nein, nein, was unüberhörbar vom Volk vorgetragen wird, findet seinen Niederschlag in Sonntagsreden und Projektgruppen. Die hohe Lebenserwartung der Versicherten, die Sterblichkeit unter ärztlicher Hand und vor allem die Kosten werden natürlich debattiert. Für Politiker ist das gleichbedeutend mit »an einem Thema arbeiten«. Nicht aus Böswilligkeit, sie kennen es einfach nicht anders. Von der Juso- oder RCDS-Gruppe an bedeutet politische Aktivität: Palaver. Politik ist Reden. Miteinander, übereinander, gegeneinander, durcheinander, besonders gerne gleichzeitig. Dafür gibt's denn auch einen (adaptierten) Terminus technicus: Kakophonie. Klingt ein bisschen eklig und ist auch so gemeint. Die Kosten zum Beispiel. Ihnen sind Kommissionen und Kongresse, Stäbe und Broschüren gewidmet. Leider legen Politiker und die sich in ihrem Strahlelicht sonnenden Berater dabei entweder eine vormundschaftswürdige Einfältigkeit oder aber knastbettelnde Dreistigkeit an den Tag, die einen höchstens noch am eigenen Verstand zweifeln lassen. Um es kurz zu machen: Credo 1: Hohe »Lohnnebenkosten« schrumpfen den Arbeitsmarkt. Credo 2: Eine Senkung der Sozialabgaben schafft Arbeitsplätze. 137
Verbannung nach Helgoland
Credo 3: In jedem Fall soll alles so bleiben wie es ist. Veränderung bringt Gefahr, weil sie sicher wenigstens eine der bisher mit Tagungen und Tagesordnungen versorgten Laberbacken überflüssig machen und in ihren heimischen Garten versetzen würde. Folgerung 1: Wir senken die Sozialabgaben. Folgerung 2: Dafür müssen die Versicherten dann Leistungen privat bezahlen bzw. Risiken privat versichern. Folgerung 3: Ansonsten bleibt alles wie es war. Es kommen sogar noch ein paar Laberbacken aus der »Privaten Versicherungswirtschaft« hinzu. Hurra! Ganz ehrlich: Respekt! Wer solchen Murks betreibt und damit keine Revolution auslöst, macht seinen Job unter dem Blickwinkel des erfolgreichen Machterhalts sehr gut. Wenn man sich überlegt, wie viele äußerst gefährliche Alternativen es gegeben hat: !
Man hätte, wie oben vorgeschlagen, einfach allen Menschen Versicherungsschutz geben können, für immer und ewig. Das stelle man sich mal vor: ohne jedes Meldeformular, einfach nur so, weil man als Mensch auf diese Welt geworfen wurde und ja mal krank werden könnte.
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Einzelne Leistungen könnten dabei sehr wohl frei wählbar sein, z.B. die Zahl der Karenztage.
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Man hätte auf den gesamten Zauber von Kuren verzichten können.
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Es hätte eine Beschäftigung mit der Tatsache geben können, dass dank vieler Produktionsautomatisierungen immer weniger Arbeitsplätze in der Wirtschaft benötigt werden, die »Beitragszahlerbasis« zwangsläufig immer kleiner wird.
138
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Eine öffentlich diskutierte Durchforstung des Gesundheitswesens könnte Apotheker, Amtsärzte, Therapeuten und andere der freien Marktwirtschaft aussetzen, weil man sie für die Grundversorgung der Versicherten nicht benötigt.
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Politiker hätten der Einsicht verfallen können, dass niedrigere Beiträge und kleineres Budget zu geringeren Leistungen führen müssen.
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Letztlich lag die größte Gefahr darin, das Gesundheitssystem nicht isoliert zu betrachten, sondern gemeinsam mit allen Staatsausgaben zu sehen, zu vergleichen und zu gewichten, Prioritäten zu setzen. Dies wird aber glücklicherweise mit der politischen Höchststrafe geahndet, so dass nur ganz selten jemand öffentlich Krankenhäuser und Kulturtage, Kindergärten und Knäste oder Bildung und Blumenkübel gegeneinander stellt. Kostet zwar alles unser Geld, aber zum Glück reden wir nicht darüber.
All diese für ihre Machtgelüste schädlichen Entscheidungen hätten die Politiker treffen können, weil sie ganz, ganz naheliegend waren. Doch sie haben sie mit der berühmten traumwandlerischen Sicherheit nicht getroffen. Es ist ihnen wieder mal gelungen, alle Lobbyisten dieses Systems – ob von Arbeitgeberverbänden oder Gewerkschaften, Kirchen oder Wohlfahrtsverbänden – an der Fortführung eines irrsinnigen Systems zu beteiligen. The show must go on. Und wir zahlen sie gerne. Ohne jeden Aufstand. Denn wir haben eben nicht gefragt: Wie viel soll uns das Gesundheitswesen wert sein und was erwarten wir dann von ihm. Wir nötigen den Politikern keine Vorschläge hierzu ab. Wir lassen sie gewähren. Sie führen Chipkarten ein, erhöhen, senken und erhöhen dann wieder die Arzneimittelzuzahlung, nötigen uns zu regelmäßigen Darmspiegelungen, streichen dafür aber die Ansprüche auf Zahnersatz oder Sehhilfen immer weiter – kurz: sie eiern zwischen den Lobbygruppen 139
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hin und her und ab und zu experimentieren sie wohl auch selbst mal mit einer Schnapsidee. Politiker dürfen wurschteln. Meistens fällt es gar nicht auf. Da erklärt dann Klaus Theo Schröder, Staatssekretär im Gesundheitsministerium: »Rund zwei Drittel des Defizits werden durch die nach wie vor zu hohen Ausgaben im Arzneimittelbereich verursacht. Zwischen der Ausgabensenkung von 4,6%, die die Kassenärztliche Bundesvereinigung und die Spitzenverbände der gesetzlichen Krankenkassen Anfang 2002 vereinbart hatten, und den jetzt festgestellten Ausgabenzuwächsen von 4,8% klafft ein Finanzvolumen von über 2 MrdEuro.« Es geht hier mitnichten um 2 Milliarden Euro Defizit, es geht auch nicht um eine gute oder schlechte Arzneimittelversorgung, es geht eben ganz und gar nicht um Gesundheit – es geht ausschließlich um Verteilung. Wie hoch dürfen die Arzneimittelkosten sein – das heißt für die Spitzenverbände der Gesundheitswirtschaft, die das miteinander aushandeln: Wie viele Verschreibungsgeschenke kann der Hausarzt seinen Patienten machen, wie viel dürfen Apotheker verdienen, was bekommt die pharmazeutische Industrie – und wie viele Milliarden sind dann noch an andere »Leistungserbringer« zu verteilen. Ob wir die verordneten Medikamente und in dieser oder jener Menge brauchen – das spielt keine Rolle.
Und so zieht sich das durch. Was »Kostenmanagement« oder »Effizienzsteigerung« genannt wird, ist simple Pfründenverteilung: !
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Wer zunächst zum Hausarzt geht statt gleich zum Facharzt, soll einen Bonus bekommen. Im nächsten Schritt dürfte die freie Arztwahl dann ganz entfallen. Welche Logik steckt dahinter? Wenn ich huste, bin ich beim Pneumologen, der sich nur mit der Lunge beschäftigt, natürlich besser aufgehoben als beim Allgemeinmediziner, der auch Fußpilz, Regelbeschwerden und Altersschwachsinn therapiert. Eine fachkundigere, schnellere Diagnose und passende Therapie sollte nicht teurer sein. Wenn der Facharzt für die Kasse doch teurer ist, dann nur, weil er diagnostische oder
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therapeutische Verfahren anwendet, die nicht nötig sind, die ein paar Nummern zu groß für den Krankheitsfall sind oder die zu hoch vergütet werden. Dann fehlt es aber nur an der nötigen Kontrolle – ein Thema, das wir aus jeder Autowerkstatt kennen. Ansonsten kann der Allgemeinmediziner nur günstiger sein, weil er nicht behandelt, was zu behandeln wäre. !
Ob das Sterbegeld (lächerliche 800 Millionen Euro pro Jahr, also keine 0,6% der GKV-Ausgaben) oder Sonstiges nicht mehr über die Kasse, sondern die Steuer oder eine private Versicherung bezahlt wird, ist uns zunächst mal einerlei: denn es ändert ja nichts an den Kosten. Trotzdem diskutieren Politiker monatelang nichts anderes, zählen einzelne Posten auf, die sie von A nach B oder doch lieber C verschieben möchten.
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Monatelang war die »Praxisgebühr« in Deutschland ein Hauptthema. Die Ärzteschaft hat zwar von Anfang an gemeckert, aber sie hat untertänig die Hand, die sie füttert, natürlich nicht gebissen.
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Für Zahnersatz ist in unserem 140 Milliarden-Budget leider nichts mehr übrig. Also wird eine Zusatzversicherung ersonnen, Politiker haben sich gegenseitig überboten mit Rechenmodellen, wie die rund 8 Euro pro Versicherten und Monat denn aufzubringen seien. Eine Kombination aus Steuer und Privatzahlungen, die Streichung von Feiertagen – alles war mal wieder erlaubt und wir haben auch diese Tragödie erduldet.
Es ist nicht zu pathetisch, wenn man hier sagt: mit der Wahrheit hat das alles nichts zu tun. Denn zu dieser Wahrheit gehört: !
Es zahlen viel zu wenig Leute in die GKV ein. Es fehlen alle Spitzenverdiener, und es fehlt natürlich der Beitrag der Beamten, Rentner, Arbeitslosen und Sozialhilfeempfänger, der derzeit nur buchhalterisch eine Rolle spielt. Hier wäre auch an nicht-pekuniäre Leistungen zu denken. 141
Verbannung nach Helgoland
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Wir zahlen Unsummen, weil uns Politiker die Freiheit rauben. Die Freiheit, Kopfschmerztabletten billig im Supermarkt zu kaufen. Die Freiheit, blutdrucksenkende Mittel selbst zu indizieren statt alle paar Monate für das neue Rezept wieder zum Arzt gehen zu müssen oder seine Sprechstundenhilfe telefonisch um ein neues Rezept zu bitten, was gleich wieder eine Beratungsleistung ist. Wir zahlen Unsummen, weil uns die Freiheit fehlt, Krankentage vom Urlaub abzuziehen oder kleine Arztrechnungen selbst zu zahlen.
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Es gibt quasi keine Kontrolle medizinischer Leistungen, und nur der Gedanke daran treibt die Profiteure zur Weißglut, wie den Vorstand der Bundesärztekammer: der Arzt sei dann kein Arzt mehr, sondern der »durch Leitlinien mit Therapievorschriften gelenkte, zeitgerasterte, Medizinnutzen bewertende, transparente ärztliche Dienste-Anbieter, der umfassend überwachungsbedürftig ist«. Himmel, ja! Allein schon die
Unfreundlichkeit, Schnoddrigkeit und Arroganz vieler Ärzte ließe sich nur undercover aufdecken. Natürlich müsste der Zahnarzt, der statt Karies gesunden Zahnschmelz anbohrt, damit rechnen, dass sein Patient aufspringt, den Dienstausweis zückt und die Zulassung einkassiert. Kein Mensch weiß, wie hoch die Kosten sind, die durch überflüssige, übermäßige oder schlicht betrügerische Behandlungen entstehen. Denn solche Themen sind im Lobby-Kartell pfui. !
Angesichts der weiter steigenden Lebenserwartung und der Effizienzsteigerung in der Produktion ist das gesamte Finanzierungssystem nicht zu halten. Doch statt den gesamten LobbyHaufen hinter den Harz zu kicken und etwas Neues zu schaffen, träumt Franz Müntefering ohne folgende Zwangseinweisung von der Vollbeschäftigung am Ende des Jahrzehnts.
Haben Sie in den letzten zehn Jahren zum Stichwort »Gesundheitsreform« auch nur eine geniale Idee aus der Politik vernommen? 142
Totgeburt Gesundheitsreform
Warum haben wir immer noch »Krankenhäuser« wie zu Semmelweis' Zeiten, in denen »Patienten« im Bett liegen und auf die 2-Minuten-Visite warten, statt »Gesundheitszentren«, wie sie zum Beispiel Professor Dietrich Grönemeyer, älterer Bruder von Herbert, nimmermüde bewirbt? Wo ist bei der Menge von Absolventen des Medizinstudiums der Arzt, der ohne Praxis nur mit dem Medizintäschchen des »Landarztes« Kranke zu Hause aufsucht? Wo ist die Arztpraxis, bei der ich den Mediziner, dem ich mich anvertrauen soll, zunächst einmal unverbindlich kennen lernen kann, von dessen Können, von desssen menschlicher Art ich mir erst einmal ein Bild machen darf, bevor er mich das erste Mal auffordert: »Dann machen Sie sich mal unten herum frei«? Warum müssen sich Ärzte nicht fortbilden und warum wird ihre Fachkunde nie überprüft? Wieso kann ich mir an der Tankstelle nicht passend zum Kasten Bier gleich die Kopfschmerztabletten besorgen, sondern muss dafür ins nächste Kaff zu einer Dienst habenden Apotheke fahren? Und wieso in Herrgottsnamen müssen in einem der reichsten Länder dieser Erde Kinder getrennt von ihren Eltern in einem ekligen Vorraum angstschreiend auf eine OP warten – wie wir es in jedem Krankenhaus hören können? Weil all dieser wichtigen Themen nicht wir uns annehmen, sondern Politiker. Eine ihrer Grundüberzeugungen muss lauten, dass zum Menschsein die fortwährende Problemproduktion gehört, derer sich dann aufopferungsvoll und exklusiv kompetent Politiker annehmen. Jedes Kind weiß natürlich, dass es andersherum ist. Politiker konstruieren Probleme, damit sie etwas zu tun haben. Am Gesundheitssystem werden Seehofer, Schmidt, Lauterbach, ihr austauschbares Umfeld und ihre Nachfolger weiter schrauben, basteln, reglementieren. Das Volk schaut zu. Und wenn es mal den Mund aufmachen will, dann bekommt es ein paar Themenbrocken hingeworfen. Was soll der Bürger denn anderes machen als nicken, wenn da ein Gewerkschaftsfunktionär vor dem Sozialabbau warnt? Die Wahrheit sagt ihm ja niemand, die 143
Verbannung nach Helgoland
Freiheit, selbst Ziele zu definieren, zu rechnen und dann zu entscheiden will ihm niemand geben. Das System schützt sich mit Undurchschaubarkeit. Schon die Beantwortung der simplen Frage, ob niedergelassene Ärzte nun viel oder wenig oder so-la-la verdienen, erfordert eine Ausbildung. Anders als die Krankenschwester, der Bäcker oder der Lehrer bekommt der Arzt für seine Leistung kein Geld, sondern Punkte. 150 Punkte für eine endoskopische Untersuchung der Nase, für eine Röntgenaufnahme der Zähne 40 Punkte (festgelegt im Einheitlichen Bewertungsmaßstab, kurz EBM). Die Punkte für alle seine erbrachten medizinischen Leistungen rechnet er am Ende eines Quartals nicht direkt mit den gesetzlichen Krankenkassen, sondern mit den Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) ab. Der Wert eines Punktes errechnet sich nach einem komplizierten Verfahren: Die gesetzlichen Krankenkassen zahlen für ihre Mitglieder feste Beträge (Pro-Kopf-Pauschale) in einen Topf bei den KVen. Aus diesem Topf werden dann alle erbrachten Leistungen der Ärzte für ein Quartal bezahlt. Der (Geld)-Wert eines Punktes ergibt sich also erst, wenn am Ende des Quartals die Gesamtsumme im Topf durch die Gesamtsumme aller bei den Ärzten angesammelten Punkte geteilt wird. Das bedeutet, der Punktwert ist von Quartal zu Quartal, ja sogar von KV zu KV unterschiedlich – er floatet (im Moment pendelt er zwischen 2,5 und 4,5 Cent). Das hat zur Folge, dass Ärzte wenig Planungssicherheit haben, sie wissen schließlich nie, was ihre Leistung hinterher wert sein wird. Außerdem tragen sie das Morbiditätsrisiko: Falls etwa eine Grippewelle das Gebiet ihrer KV heimsucht, steigt die Zahl der Behandlungen, als Folge sinkt aber der Punktwert – denn der Betrag, den die Krankenkassen in den Topf einzahlen, bleibt immer gleich. Hinzu kommt der immense Verwaltungsaufwand, der mit dem Abrechnungssystem verbunden ist und den Arzt als Freiberufler zusätzlich belastet. 144
Totgeburt Gesundheitsreform
Klartext gesprochen wird bisher nicht (auch wenn ab 2007 Festbetragsleistungen vorgesehen sind). Wie viel soll ein Arzt verdienen, wie viel muss er verdienen (können)? Und wie sieht es mit allen anderen Gruppen aus, die am Gesundheitswesen verdienen wollen? Gesundheit ist sicherlich ein wichtiges Thema, das es verdient, einmal erschöpfend behandelt zu werden – dann aber wäre es auch erledigt und vom Tisch. Wenn Politiker das wirklich wollten, würden sie mit ihren riesigen Beamtenapparaten dafür sorgen, dass wir mal vernünftig informiert sind, dass wir alles bekommen, was man für eine sachgerechte Entscheidung braucht. In der dann folgenden Diskussion brauchen wir nichts weniger als die Lobby-Experten – und mithin auch keine Politiker, die ja nichts anderes versuchen als Lobby-Gruppen so zu lenken, dass sie eine Kräftemehrheit bilden, um irgendetwas beschließen zu können, was dann Politik ist. Wenn wir als Bürger also das Thema Gesundheit mal wichtig nehmen und mithin den Politikern entreißen, haben wir einige Grundfragen zu klären: 1. Was ist eigentlich die Aufgabe einer staatlichen Gesundheitsversorgung? Den Akteuren erscheint das immer klar zu sein: sie wollen Mortalität und Morbidität senken, also das Sterben hinausschieben und uns die Zeit bis dahin möglichst gesund überdauern lassen. Das geht natürlich nicht. Niemand wagt zu prognostizieren, wie morbide die künftigen 90Jährigen sein werden, die stets nach den Regeln und Bonus-Programmen der Gesundheitspolitik gelebt haben. Niemand weiß, ob sie – wie von Karsten Vilmar im Dezember 1998 gefordert – sozialverträglich ableben (wenn auch spät), also einfach brav eines Morgens nicht mehr aufwachen, oder Jahre lang nur wenig morbide, aber kräftig dement auf Pflegestufe 3 verweilen. Die Aussicht auf 15 bis 20 Jahre angenehmes 145
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Leben nach der Berufstätigkeit ist schön, die Ahnung dessen, was danach kommt, eher grauenhaft. Wer Mortalität und Morbidität senken will, kann sich auf der Welt noch kräftig betätigen. Kindersterblichkeit zu verringern ist ethisch wie ökonomisch lobenswert – und es sind 11 Millionen jedes Jahr, die an vermeidbaren oder behandelbaren Krankheiten sterben, alleine 600.000, nur weil sie nicht gegen Masern geimpft werden! Aber in den Industrieländern ist das, was man jedem spendieren kann, ausgereizt. Was jetzt noch bleibt, sind Therapien für sehr seltene Krankheiten wie die Nervenkrankheit Amyotrophe Lateralsklerose, an der Jörg Immendorff leidet. Und eben das unendliche Feld der Austauscharbeiten: neue Leber, neue Lunge und irgendwann das neue Hirn. Wer dieses noch nicht ganz dringend braucht, wird zu der Erkenntnis gelangen müssen, dass solche medizinischen Späße den Reichen vorbehalten bleiben – was ihnen wohl niemand gesetzlich verbieten will. In ihren »Eckpunkten zur Modernisierung des Gesundheitswesens« meinte Ministerin Schmidt, die gesetzliche Krankenversicherung solle »weiterhin das medizinisch Notwendige in guter Qualität« leisten. Dabei ist noch nie »das medizinisch Notwendige« bezahlt worden. Obwohl Essen zu kauen eine evolutorisch unverzichtbare Errungenschaft ist, ist Zahnersatz inzwischen staatlich verordnetes Privatvergnügen. Auch Sehen und Hören haben sich als medizinisch vorteilhaft erwiesen, und doch zahlt ein großer Teil der Pflicht-Versicherten einen erheblichen Teil der Kosten für Brillen und Hörgeräte selbst. Soll es künftig für uns Schreibtischarbeiter GKVbezahlte Bewegungstherapien geben, die medizinisch ohne jeden Zweifel geboten sind? Wird endlich Vergewaltigungsopfern ohne Wenn und Aber eine Trauma-Behandlung bezahlt? Und dürfen wir davon ausgehen, dass es Vitamin- und Mineralstoff-Pillen im reformierten System als medizinisch notwendigen Ausgleich zum billigen Fast-Food- und Discount-Essen auf zuzahlungsfreies Rezept gibt? 146
Totgeburt Gesundheitsreform
Wir werden uns also einigen müssen, welche medizinischen Leistungen wir gemeinschaftlich, sozialstaatlich bereit stellen wollen – und welche nicht. Unsere Politiker versagen selbst, wenn sich ein Prügelknabe anbietet, die pikanten Fragen ins Spiel zu bringen. Als der Vorsitzende der Jungen Union, Philipp Mißfelder, mit seinen 23 Jahren in einem Interview den Sinn bezweifelte, 85-Jährigen noch ein neues Hüftgelenk einzubauen, brandete die Entrüstung der politisch Etablierten über ihn.
2. Wie finanzieren wir die Gesundheitsversorgung? Wir fragen selbstredend nicht Politiker und Gesundheitsfunktionäre! Wir versuchen es mit Denken. Am Ende wird stehen, dass eine Staatsaufgabe über den Staat finanziert werden muss, die StandardGesundheitsversorgung also über den öffentlichen Haushalt bezahlt wird. Damit gibt es keine Versicherungslücken mehr, kein Hickhack um Krankenkassen-Chipkarten, den Wechsel von einer in die andere Kasse, Strukturausgleichszahlungen und all den Bettel. Die privaten Versicherer sind sich leider nicht zu blöde, für einen solchen Fall mit Verfassungsklage zu »drohen«. Schließlich würden sie – so stellen es unsere kreativen Politiker in Aussicht – im Falle eines steuerfinanzierten Gesundheitssystems nichts mehr verdienen können. Also – peinliche Schlussfolgerung – muss man dagegen doch vor Gericht etwas tun können. Dass wir gerne solche Dinge einfach mal selbst entscheiden wollen, ohne einen Juristen zu fragen und auch – sorry – ohne Rücksicht auf Manager von DKV, Allianz oder ARAG zu nehmen, dünkt ihnen nicht. So fett haben sich die privaten Versicherungen in einem System eingenistet, dass sie offenbar nicht eine einzige Hirnzelle mit der Frage befassen, ob sie als Versicherungsprofis nicht trotzdem etwas anzubieten hätten. 147
Verbannung nach Helgoland
Und dabei ist keineswegs an die zigte Zusatzversicherung gegen Heuschnupfen in Timbuktu zu denken. Pfiffige und ausnahmsweise mal nützliche Versicherer würden sich als Dienstleister anbieten. Das wäre jederzeit gerne gesehen, wenn wir erwarten könnten, dass damit mehr Effizienz und individuelle Gestaltung einher ginge – und das müsste der Markt regeln. Alles, was derzeit unter der Chiffre »Eigenverantwortung« oder »Vorsorge« verhandelt wird, könnte hier Platz finden – mit dem riesigen Unterschied zu den Ideen unserer Politiker: es wäre freiwillig und es berücksichtigt eben unsere sehr differenzierten Lebensentwürfe.
3. Wie sorgen wir für Qualität in der Gesundheitsversorgung? Jedenfalls nicht mit Selbstkontrollorganen und Selbstverwaltungen wie bisher. Wir lassen uns gerne beraten, aber dann wollen wir doch selbst entscheiden, was Qualität ist. Freundlichkeit bei Ärzten und anderen Untersuchern zählt dann sicherlich dazu. Die Atmosphäre im Krankenhaus bekäme einen Stellenwert, weit vor den Ehrendoktortiteln und Habilitationen des Personals. Wir müssten natürlich ein wenig nachdenken. Dann aber sollte es nicht mehr möglich sein, dass Apotheker allen Ernstes eine Million Unterschriften bei ihren Zwangs-Kunden sammeln, die sich für den Erhalt der Apotheken aussprechen. Ja, so eine Unterschrift ist schnell hingekritzelt, und ganz unlogisch klang das ja auch nicht, was da der Mann im weißen Kittel vor seinen Lutschbonbonregalen gesagt hat. Wo bitte ist die Qualität bei einer simplen Verkaufsstelle, die um 18.30 Uhr schließt?
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Totgeburt Gesundheitsreform
Eine grundlegende Reform des Gesundheitssystems ist gar nicht so schwer. Es wird nur das berühmte »Heulen und Zähneklappern« bei denen geben, die bisher unter sich ausmachen, wann wir wie sterben und was wir auf dem langen Weg dorthin zu berappen haben.
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Verbannung nach Helgoland
Der Paragraphen-Wahnsinn – Wie Juristen unser Leben regeln Diane Pretty musste verrecken – im Namen des gesamten Europäischen Volkes. Das beschlossen 10 Richter des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte am 29. April 2002. Drei Wochen später befolgte Diane Pretty die Anweisung der Richter – und erstickte. Durch alle Instanzen hindurch hatte bis dahin ihr Mann Brian versucht, dem Wunsch seiner Frau nach aktiver Sterbehilfe straffrei nachzukommen. Sie war an amyotropher Lateralsklerose unheilbar erkrankt, war dadurch bereits vom Hals ab gelähmt, konnte sich nur noch mit einem Sprachcomputer verständlich machen. Doch ein Recht auf den selbstbestimmten Tod gibt es nicht – meinen die Juristen. Natürlich kann man zur Frage aktiver Sterbehilfe ganz unterschiedlicher Meinung sein. Aber ein Einzelschicksal wie das von Diane Pretty macht die Absurdität der Rechtsprechung überdeutlich. Es gibt nichts auf der Welt, worüber Juristen nicht befinden könnten. Aus einem Konglomerat von Verfassungen, Gesetzen, Verordnungen, anderen Gerichtsurteilen und Lehrmeinungen finden sie immer eine Entscheidung. Warum in Gottes Namen werden sie nur zu allem gefragt? Wer von uns wollte, dass über unser Sterben Juristen entscheiden? Juristen, die in ihrer selbstgezimmerten Paragraphenwelt schon vom Leben weniger Ahnung haben als ein Bauingenieur – ausgerechnet sie entscheiden mutterseelenallein nicht nur über jede Lebens-, sondern auch über die Todesfrage. »Im Namen des Volkes« – blanker Hohn. Regelungen müssen sein, ganz klar, aber es muss sicherlich nicht alles auf der Welt justizfest sein. Das entscheidende Problem entsteht beim gekonnten Ballwechsel der Juristen von legislativer zu judikativer Gewalt. Bei der Gesetzgebung haben Juristen den maßgeblichen Einfluss – als Referenten in den Ministerien wie mit ihrer breiten Ver150
Der Paragraphen-Wahnsinn
tretung im Parlament. Was dort (bewusst) offen bleibt, klären Juristen privatwirtschaftlich in Kommentaren und völlig unabhängig miteinander vor Gericht. So finden wir uns heute in einem völlig undurchsichtigen Konglomerat aus 2200 Gesetzen, 86.000 Einzelvorschriften und einer unüberschaubaren Menge rechtskräftiger Entscheidungen wieder, in dem wir zwangsläufig stolpern müssen. Deshalb kommt man nicht immer gleich in den Bau, aber es nervt unglaublich. Einige kleine Beispiele: Unwissenheit schützt vor Strafe nicht Gibt es einen arroganteren Rechtsgrundsatz als diesen: »Unwissenheit schützt vor Strafe nicht?« Gemeint sind natürlich alle Konsequenzen, nicht nur strafrechtliche. Hunderte Änderungen im Steuerrecht werden jedes Jahr vom Parlament beschlossen oder vom Bundesfinanzministerium verordnet. Einfach so. Mit der Verkündung im Bundesgesetzblatt sind die Regelungen allen Bürgern bekannt gegeben worden – auch wenn das natürlich niemand liest, der dafür nicht bezahlt wird. Wer sollte dem auch hinterherkommen? So soll ein Einkommensteuergesetz binnen eines Jahres 13-mal geändert worden sein, dreimal zwischen Verkündung und Inkrafttreten, wie Verfassungsrechtler Paul Kirchhof im SPIEGEL sagt. Da kann es nicht ernsthaft als Reform gelten, wenn Politiker gerade mal wieder eine »radikale Vereinfachung des Steuersystems« fordern: ebenso gut können Autofahrer gegen den Stau demonstrieren oder Lehrer nach besserer Schulbildung rufen. Fast möchte man unseren Politikern sagen: Wer ihn hat zuerst gerochen, ... Dabei ist schon der Status quo rechtlicher Verpflichtungen von niemandem mehr zu überschauen. Welche Abgaben bspw. ein Kioskbesitzer entrichten muss, welche Einnahmen neben dem Haupt-Job der Arbeitnehmer wo angeben muss, was mit den unzähligen geldwerten 151
Verbannung nach Helgoland
Leistungen ist – niemand weiß es, und vor allem: zu Recht will es auch niemand wissen. Wer keinen Ärger bekommen möchte, kommt daher ohne Lohnsteuerhilfe oder Steuerberater nicht durch. Die Fallstricke der Justiz lauern jedoch überall – gerade dort, wo niemand daran denkt. Sie betreiben beispielsweise als Kleinstunternehmer eine Website. »Betreiben« ist da fast übertrieben. Mit einem Softwaretool ihres Massen-Providers haben Sie sich ein paar Seiten zusammengeklickt, mit Foto, Geschäftsadresse und ein paar Referenzen Ihrer Arbeit. So weit, so gut. Doch Politiker wollen nicht in den Verdacht der Untätigkeit geraten. Sie befassen sich zu unser aller Wohl mit jedem erdenklichen Teil unseres Lebens. So wurde beispielsweise zum 1. Januar 2002 das Teledienstegesetz (TDG) in zahlreichen Punkten geändert und erweitert. Von diesem Tag an mussten Sie auf Ihrer Website unter anderem ihren Namen, ihre Firmierung und vieles mehr angeben. Was genau, werden Sie vermutlich selbst dem Gesetz nicht entnehmen können. Kostprobe aus § 6: »[Die Website muss enthalten]soweit der Teledienst in Ausübung eines Berufs im Sinne von Artikel 1 Buchstabe d der Richtlinie 89/48/EWG des Rates vom 21. Dezember 1988 über eine allgemeine Regelung zur Anerkennung der Hochschuldiplome, die eine mindestens 3-jährige Berufsausbildung abschließen (ABl. EG Nr. L 19 S. 16), oder im Sinne von Artikel 1 Buchstabe f der Richtlinie 92/51/EWG des Rates vom 18. Juni 1992 über eine zweite allgemeine Regelung zur Anerkennung beruflicher Befähigungsnachweise in Ergänzung zur Richtlinie 89/48/EWG (ABl. EG Nr. L 209 S. 25), die zuletzt durch die Richtlinie 97/38/EG der Kommission vom 20. Juni 1997 (ABl. EG Nr. L 184 S. 31) geändert worden ist, angeboten oder erbracht wird, Angaben über a) die Kammer, welcher die Diensteanbieter angehören, b) die gesetzliche Berufsbezeichnung und den Staat, in dem die Berufsbezeichnung verliehen worden ist, c) die Bezeichnung der berufsrechtlichen Regelungen und dazu, wie diese zugänglich sind.«
Wir denken an dieser Stelle sicher das Gleiche. Hilft aber derzeit nichts. Zuwiderhandlung – also: Unterlassung – ist eine Ordnungs152
Der Paragraphen-Wahnsinn
widrigkeit, die mit »einer Geldbuße bis zu fünfzigtausend Euro geahndet werden« kann (§ 12). Tatsächlich haben die Ämter jetzt nicht gleich alle zugeschlagen. Aber: Die Gefahr besteht. Außerdem droht Ihnen Ungemach von ganz anderer, fieser Seite: Die Gesetzeslage ermöglicht es jedem Ihrer Wettbewerber, Sie bei einem Verstoß gegen die Vorschrift »abzumahnen«. Das bedeutet: Man beauftragt seinen Anwalt, Ihnen in ein paar Zeilen mitzuteilen, dass Sie zur Angabe irgendwelcher Informationen auf Ihrer Website verpflichtet sind, schickt Ihnen eine Unterlassungserklärung mit, die Sie zu unterschreiben haben und mit der Sie versichern, bei weiterer Zuwiderhandlung eine Vertragsstrafe von 20.000 Euro zu zahlen. Die Frist, die man Ihnen setzt, kann sich von Tagen bis auf wenige Stunden belaufen! Ebenfalls beigefügt ist die kleine »Kostennote« des Anwalts, die sich auf ungefähr 600 Euro beläuft, je nach dem, wie hoch der Streitwert eingeschätzt wird. Das Ganze gilt als Freundlichkeit, schließlich wäre ja ein Prozess für Sie viel teurer. Wahnsinn? Natürlich. Allein die Möglichkeit für findige Juristen (z.B. als Angestellte in Unternehmen), uns mit solchen Abmahnungen auf den Geist zu gehen, uns finanziell auszubluten, würde man Piraterie nennen, wenn das nicht schon wieder verboten wäre. (So brachte beispielsweise der Brief an eine Industrie- und Handelskammer (IHK), in welchem der Autor in puncto Zwangsbeiträgen von »Wegelagerei« sprach, Strafprozess und Bußgeld wegen Beleidigung.) By the way: Auch die Abmahnerei gilt natürlich nicht unter Juristen! § 25 der Berufsordnung verlangt, sich zunächst vertrauensvoll an den Kollegen zu wenden, wenn dieser gegen Berufspflichten verstoßen sollte. Wir armseligen Nicht-Juristen werden natürlich nicht kollegial beiseite genommen. Wir bekommen einen mit 55 Cent frankierten Brief – fertig. Ach ne, zahlen müssen wir noch. 153
Verbannung nach Helgoland
»Unwissenheit schützt vor Strafe nicht« ist häufig auch nichts anderes als die
juristenfreundliche Umdeutung einer alten Menschheitsweisheit: »Vor Gericht und auf hoher See bist du in Gottes Hand.« Heißt: niemand weiß, was herauskommen wird. Davon können wir täglich in der Zeitung lesen. Nur ein Beispiel noch: Da pinkelt jemand nachts im Wäldchen, verliert dabei seinen Hausschlüssel und zündet, um ihn besser finden zu können, einen leeren Pizzakarton an. Aufmerksame Nachbarn alarmieren die Polizei, die fesselt den Kerl und ab auf die Wache. Das Gericht entscheidet: 520 Euro Strafe. Schließlich wisse jedes Kind, dass man im Wald kein Feuer machen darf.
Schriftstück Haben Sie schon mal ein »Schriftstück« bekommen? Nicht eine Zeitung oder einen Liebesbrief. Ein »Schriftstück«? Das ist eines von unzähligen Konstrukten, die es ohne Juristen nicht gäbe. Was wäre das Leben einfach. »Schriftstücke« erhalten Sie immer dann, wenn eine Behörde nicht gut auf Sie zu sprechen ist. Wenn unser dortiges Personal, die ewigen Diener des Volkes, meinen, Ihnen mal ganz gehörig auf den Senkel gehen zu müssen. Beispielsweise weil da noch 50 Euro Steuer offen sind. Oder weil Sie Verzugszinsen von 19,45 Euro nicht an die Krankenkasse gezahlt haben. (Die Krankenkassen haben dafür – wie andere Behörden und Körperschaften des öffentlichen Rechts – eigene Institutionen, liebevoll und ganz offiziell »Vollstreckungsbehörde« genannt.) In einem solchen Schriftstück wird Ihnen dann kurz und bündig erklärt, was der Staat von Ihnen haben will, und dass er sich das in weni154
Der Paragraphen-Wahnsinn
gen Tagen holen wird: durch Kontensperrung, Lohnpfändung, durch Eintreibung bei Ihren Schuldnern etc. – der Spielvarianten gibt es viele. Doch bevor der Staat einfach zuschlägt, gibt er Ihnen eine letzte Frist, Ihre Schwiegermutter zu verhökern oder mal eben schnell der Prostitution nachzugehen, um mit der Kohle ihren Gemeinwohlpflichten nachzukommen. Sieben Tage sind da schon eine großzügige Zeitspanne. Und mal ehrlich: in der Zeit hat Gott schließlich die ganze Welt gebastelt. Die Sache hat eben nur einen Haken: die Frist beginnt an dem Tag, an dem Sie von dem Schriftstück Kenntnis nehmen konnten – rein juristentheoretisch. Das sieht dann im Alltag folgendermaßen aus: Sie sind im Urlaub oder auf Dienstreisen oder sonst wo. Der Opa von gegenüber, den Sie in solchen Fällen immer als Hausmeister in ihren Flur setzen, ist urplötzlich krank geworden, Ersatz haben Sie nicht gefunden. »Wird schon nichts passieren«, denken Sie sich – und verreisen. Kaum haben Sie Ihre Wohnung verlassen, klingelt der Briefträger. So ein normaler, nicht mehr beamteter Laufbursche der Deutschen Post AG. Er zählt: »21, 22, 23«. Und befindet messerscharf: niemand zuhause. Er nimmt das »Schriftstück«, das er Ihnen nun zustellen wird, obwohl Sie gar nicht da sind, kreuzt auf dem gelben (früher: blauen) Briefumschlag »benachrichtigt« an, versehen mit Datum, Uhrzeit und seiner Unterschrift und stopft Ihnen einen abgetrennten Abschnitt in den Briefkasten, auf dem Ihnen mitgeteilt wird, dass Sie gerade ein Schriftstück zur Kenntnis genommen haben – weshalb der Schnipsel auch eine Zustellungsurkunde ist. Nun tickt die Bombe. Wenn Sie auch noch reinlesen wollen, müssen Sie sich den Brief, über den weiter nichts gesagt wird, beim zuständigen Postamt abholen. Sollten Sie vorsorglich einem Nachbarn oder Mitarbeiter eine Postvollmacht erteilt haben, hilft das gar nichts: »Schriftstücke« sind von einer normalen Postvollmacht nicht erfasst. 155
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Um das Drama abzukürzen: Noch in Ihrem Urlaub wird an einem Bankautomaten in Barcelona Ihre EC-Karte eingezogen. Das Finanzamt hat bei Ihrer Bank die 50 Euro Steuerschuld eingetrieben, dazu ist eine komplette Kontopfändung nötig. Während Sie auf der Überholspur nach Hause fahren, ist Ihr kleines Missgeschick bereits unter der Hand von einer Bank-Mitarbeiterin einer ganz anderen Filiale, der Sie vor Jahren mal einen Korb gegeben haben, weitergetratscht worden. Sie hatte wie immer just for fun ein paar Kontodaten abgerufen, wobei die Ihren nie fehlten. Und natürlich bekommen alle Geschäftspartner, denen Sie eine Einzugsermächtigung für Forderungen erteilt haben, eine freundliche Bankmitteilung, dass der Einzug »mangels Deckung« nicht möglich ist. Selbst schuld, wer nicht zahlt? Nein, das sagen Sie natürlich nicht. Denn Sie kennen den umgekehrten Fall zur Genüge: Sie haben von irgendjemandem Geld zu bekommen, vielleicht sogar von einer Behörde. Oder kein Geld, sondern geldwerte Leistungen. Z.B. eine Baugenehmigung. Viel Spaß beim Versuch, ebenso kurzen Prozess zu machen. Bezahlung nach Leistung? Recht ist ein zu hohes Gut, als dass man es dem freien Spiel der Kräfte überlassen dürfte. Hier ist kein Platz für Billiganbieter, für Zocker, für Überzeugungstäter. Für die nötige Flurbereinigung sorgt die Kastenbildung der Juristen, wesentlich geprägt durch das Rechtsberatungsgesetz (RBerG) von – ja, auch wenn Juristen es nicht mehr hören können – 1935, geschaffen vor allem, um jüdischen Rechtsanwälten die Berufsausübung zu verbieten. Dieses Rechtsberatungsgesetz bestimmt bisher (Frau Zypries will es ein wenig moderater fassen), dass »die Besorgung fremder Rechtsangelegenheiten« – egal ob gegen Kohle oder so unter Freunden – nur auf Zulassung 156
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durch die zuständige Behörde erfolgen darf. Etwas vereinfacht bedeutet das: nur durch Volljuristen und – in ihren Fachgebieten – z.B. Steuerberater. Was das im Klartext heißt? »Die Beratung über die Gewährung von öffentlichen Fördermitteln und Hilfe bei der dazu erforderlichen Antragstellung stellt Rechtsberatung im Sinne des Rechtsberatungsgesetzes dar.« (OLG Bremen) Oder: »Bietet eine illustrierte Zeitschrift im Zusammenwirken mit einem Versicherungsunternehmen interessierten Lesern individuelle Rentenberechnungen durch den Computer des Versicherungsunternehmens in der Weise an, dass Erklärungsvordrucke, die der Zeitschriftenbeitrag enthält, ausgefüllt an die Redaktion der Zeitschrift zu senden sind, verstößt diese gegen Art. 1 § 1 RBerG und § 1 UWG.« (BGH) Oder: »Die Übernahme von Testamentsvollstreckungen durch eine Sparkasse stellt eine Besorgung fremder Rechtsangelegenheiten dar, die nicht gemäß der Ausnahme nach Art. 1 § 3 Nr. 6 RBerG erlaubnisfrei ist.« (OLG Karlsruhe) Oder: »Ein ehrenamtlicher Mitarbeiter einer einzelnen Kirchengemeinde ist zur geschäftsmäßigen Vertretung in Rechtsangelegenheiten von Sozialhilfeempfängern nicht befugt.« (OVG
Münster) Gesetze verzichten auf eine Begründung ihrer selbst. Das machen Parlamentarier kurz, wenn sie einen Vorschlag einbringen, so wie sie dabei auch die Kosten abschätzen müssen. Das beschlossene Gesetz aber ist erst mal da – wertfrei und als Selbstzweck. Warum es das Rechtsberatungsgesetz gibt, steht in diesem nicht. Natürlich begründen Juristen das ganze mit unserem Wohl. Wo kämen wir hin, wenn wir auf dubiose Rechtsratschläge reinfielen. Zum Beispiel weil unser Nachbar meint, er habe ja schon mal erfolgreich gegen das Bauamt prozessiert und wisse, wie wir das machen sollen. Gott bewahre. Oder ein überzeugter Kriegsgegner gibt (im Internet) Tipps, wie man seine Kriegsdienstverweigerung begründen solle. Himmel! Wenn wir aber mal kurz nicht untertan sind, kommt uns unweigerlich ein einziger Gedanke: Hier hat sich eine Lobby fett abgesichert. Sie 157
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ist nicht nur für alles zuständig, sie kann auch jedem ordentlich eins auf die Mütze geben, der nicht zum Clan gehört. Im Kleinscheißalltag des Feld-Wald-und-Wiesen-Anwalts gibt es noch einen starken Verbündeten, der zum Erfolg beiträgt: die Rechtsschutzversicherung. Sie ist quasi die ABM-Abteilung des JuristenArbeitsamtes. Sie wissen, was passiert, wenn Ihr Anwalt wegen eines Verkehrsunfalls die andere »Streitpartei« anschreibt? Der »geehrte Herr Kollege« bekommt einen Brief, den er wortgleich – bis auf ein paar FallDaten – im eigenen PC hat – und er beantwortet ihn ebenso. Wichtig ist nur, dass dies Rechtsanwälte miteinander tun und so ihr Auskommen haben, anstatt dass ein Nicht-Jurist zum Telefon greift und die Sache zügig klärt. Ach ja: direkte Kontaktaufnahme mit dem Mandanten der Gegenseite, also unter Umgehung des Gegenanwalts, ist natürlich auch verboten (§ 12 BO). Nachdem Rechtsanwälte nun gut abgesichert sind gegenüber allen anderen denkenden Bürgern, gäbe es noch ein zweites großes Problem, welches das Auskommen gefährden könnte: die Unfähigkeit. Nein, sagen wir lieber, der Misserfolg – das ist weniger gefährlich. Als Misserfolg darf man wohl bezeichnen, wenn ein Anwalt das Anliegen seines Mandanten, das er mit großen Worten ganz zu seinem eigenen gemacht hat, nicht durchsetzen kann. Im normalen Leben würde man sagen: Okay, du hast es nicht gepackt, du hast die Sache falsch eingeschätzt, warst vom Recht deines Mandanten überzeugt und hast dich – nach Auffassung eines Gerichts – geirrt. Im harmlosesten Fall wären wir sauer, im Normalfall gäb's was auf die Ohren. Doch: Die Verbündete der Anwälte hieß bisher »BRAGO« (was nicht nur so klingt, als ob irgendwas gut liefe) und seit 1. Juli 2004 Rechtsanwaltsvergütungsgesetz (RVG): Rechtsanwälte bekommen ihr Geld gänzlich unabhängig vom Erfolg gemäß Bundesrechtsanwaltsgebührenordnung. Das ist Prinzip, geheiligtes Rechtsprinzip. Juristen sagen dazu: Der Anwalt schuldet nur das Tätigwerden, nicht den Erfolg. Denn – das leuchtet jedem ein, der 158
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sich mit Rechtsprechung befasst: Wer am Ende Recht bekommt, weiß doch nicht einmal der Kuckuck. Deshalb bezahlen wir bei einem verlorenen Prozess nicht nur das Gericht, nicht nur den gegnerischen Anwalt, sondern auch die Pappnase, die uns so erfolglos vertreten hat. Was so ungefähr bedeutet: Wer nicht auf die Mundpropaganda durch gewonnene Fälle angewiesen ist, kann sich erfolgreich als Anwalt durchschlagen, indem er jeden Prozess verliert! Haftbar zu machen ist er nur für handwerkliche Fehler. Wollen Sie ihm einen solchen nachweisen, freut sich ggf. der Kollege, der sich – nach RVG – des neuen Falls annimmt und dem sehr geehrten Herrn Kollegen Brief um Brief schreibt – falls Sie einen Anwalt finden, der den Streit mit einem Kollegen übernimmt; das lehnen nämlich die meisten ab, und verpflichtet, ein Mandat zu übernehmen, sind Anwälte freilich nicht. Natürlich muss sich kein Anwalt an das RVG halten – er darf beliebig höhere Honorare vereinbaren. 400 Euro Stundensatz, fünfzehnminutenweise abgerechnet, sind da in spezialisierten Kanzleien noch günstig. Schließlich verdient Michael Schumacher viel, viel mehr Geld – und der fährt bloß schnell Auto. Marktfreiheit? Erfolgshonorare? »Da würden viele Juristen verhungern«, gibt Kurt Beck, Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, zu. Noch Fragen? Verboten? So ein Fall scheint klar zu sein: Da zieht ein Promi Kokain (und hurt ein bisschen rum), die Staatsanwaltschaft ermittelt, die Kollegen gehen auf Distanz – da muss etwas Böses im Busch sein. Der Täter taucht eine Weile ab, wohl weil er nicht glauben kann, was da gerade geschieht, bis er irgendwann einsieht: in dieser durchjuristeten Welt kommst du nur wieder klar, wenn du dich widerspruchslos dieser Glaubensgemeinschaft von Schriftgelehrten unterwirfst. Und so taucht dann etwa ein 159
Verbannung nach Helgoland
Michel Friedman nach vier Wochen Ermittlungen auf und sagt ernsthaft: »Menschen machen Fehler. Menschen irren sich. Auch ich habe Fehler gemacht, auch ich habe mich geirrt. Das soll nicht mein Verhalten relativieren oder gar verharmlosen. Ich sage es nur, weil ich erklären möchte, dass auch ich nur ein Mensch bin. [...] Aber ich bitte Sie, nicht zu vergessen, dass das nicht mein ganzes Leben war, dass das nicht der ganze Michel Friedman ist. Und eine zweite Bitte habe ich: Ich entschuldige mich noch einmal bei allen, aber ich bitte Sie um eine zweite Chance.«
Nicht, dass es grundsätzlich schlecht wäre, wenn ein Kokser sagt: tut mir leid, kommt nicht mehr vor. Aber hinter diesen FriedmanWorten steckt ein Gedemütigter. Jemand, der rein durch juristische – nicht mal öffentliche – Definitionen zum Straftäter wurde. Weil Juristen Kokain verboten haben und dem Staat die Rolle des Sittenwächters zuschreiben, ihn ermutigen, auch die Privatsphäre seiner Untertanen nicht auszulassen im eifrigen Bemühen, nur das Beste für sie zu wollen. Na klar, Koks ist ungesund. Autofahren allerdings auch, ziemlich arg sogar. Und Sonnenbaden. Und Arschficken. Was allerdings nach unserer aller Meinung den Staat einen feuchten Kehricht angeht. Nur bei den Drogen glauben wir dem Staat, dass es gut ist, wenn er uns bevormundet. Naja, und bei Glückspielen. Und beim Häuslebauen, bei der Schulausbildung, in der Lehre, bei der Altersvorsorge, bei unserer Beerdigung. Als die Sache mit Friedman gerade so richtig hochkochte, war hier in der Stadt wieder von einer Großinvestition durch Faber-Lotto die Rede. Da kommt einem schon mal der Gedanke: der Lotto-König könnte doch jetzt ebenso anstelle von Friedman auf der Anklagebank hocken. Glücksspiel! Das beutet die Menschen aus. Und »Lotto mit System« ist ein Irrsinn an sich, weil dem Zufall nicht mit System, nur mit Fallmengen beizukommen ist. Doch derzeit hat die Politik diese Rollenverteilung beschlossen: der erwischte Kokser bekommt einen Straf160
Der Paragraphen-Wahnsinn
befehl oder Prozess, der Anderen-Leuten-mit-Lottoquatsch-Geld-ausder-Tasche-Zieher ist ein Ehrenmann. Perfiderweise reicht aber ein einfacher Parlamentsbeschluss, und die Sache ist umgekehrt. Meist geht es aber gar nicht um die von Bürgern anders als von Politikern beantwortete Frage nach Gut oder Böse. Stattdessen werden Tatbestände an sich bestraft oder beordnungsgeldet. Einfach mal so, ohne dass der »Täter« auch nur im Traum auf die Idee käme, er könnte etwas Verbotenes getan haben. Wer die Zahlung des Arbeitnehmeranteils der Sozialversicherungen nicht rechtzeitig leistet, macht sich strafbar, wohingegen der Verzug des gleichen Betrags, den er als Arbeitgeberanteil ebenfalls zu entrichten hat, nur das übliche Mahnverfahren nach sich zieht. Der Vermieter einer Einliegerwohnung sieht sich plötzlich mit Schadensersatzforderungen konfrontiert, weil er davon ausgegangen ist, ein befristeter Mietvertrag ende einfach zum vereinbarten Zeitpunkt, wohingegen die Juristen doch definiert haben, dass es – ähnliche wie beim befristeten Beschäftigungsverhältnis – einer rechtzeitigen, begründeten Kündigung bedarf, damit die Frist im befristeten Mietvertrag auch wirkt. Da droht dem Privatmann plötzlich ein Bußgeld, weil er aus finanziellen Gründen mit der Zahlung seiner Pflicht-Pflegeversicherung im Verzug ist, die er zwar gar nicht abschließen müsste, die aber automatisch abgeschlossen wird, wenn er sich privat krankenversichert. Die Monatsfahrkarte des Kindes statt die eigene einzustecken, führt bei einer Kontrolle in der Straßenbahn zum sofortigen Einzug der Karte und zu einer Strafanzeige wegen Betrugs. Mit Freunden auf dem Gehweg Palaver zu halten kann eine unangemeldete Demonstration und gleichwohl keine erlaubte Spontandemonstration darstellen. Die Domain »scheiss-t-online.de« stellt – oh nein, ich werde mich hüten zu schreiben, was ich davon halte – eine unlautere Geringschätzung der Marke »t-online« dar, was scheiß-teuer ist.
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Ein Handwerksmeister, der seinen Mitarbeitern drei Jahre lang aus Freundlichkeit ein nicht vertraglich vereinbartes Weihnachtsgeld zahlt, muss dies auch weiterhin tun, weil er damit ein Gewohnheitsrecht geschaffen hat. Wer als Arzt seinen Patienten für voll nimmt und ihn wunschgemäß nicht ins Krankenhaus einliefert, muss Schmerzensgeld zahlen, weil er auf seinen trotteligen Patienten gehört hat, statt sich über sein sonst so sehr geschütztes Persönlichkeitsrecht hinweg zu setzen. Und ist die gesetzliche Ausgangslage schon willkürlich genug, vollenden Straf- oder Zivilprozesse das Roulett-Spiel. Denn jetzt kommen so viele Regler hinzu, dass schlichtweg alles möglich ist. »Gnadenlose Härte« zur Abschreckung oder »Milde« als Motivation für den Angeklagten? Ist das eigentlich ein schwerer oder minderschwerer Fall? Welches Interesse wiegt mehr – das des Behinderten an Freizügigkeit oder das seines Nachbarn an ästhetischer Ungestörtheit? Dies alles ist nicht primär ein Problem der Juristen – denn wie sollten sie es lösen als mit immer weiteren, sehr juristischen aber eben auch völlig undemokratischen Entscheidungen? Es ist ein Problem der Politiker. Sie haben im Parlament zu sagen, was sie von der Justiz – von Staatsanwälten, Richtern und Verteidigern – erwarten. Was wir erwarten! Und sie können dazu exakte Vorgaben machen. Stattdessen aber hat die Politik im Laufe der Zeit das Blatt gewendet – und die Gerichte beauftragt, Politik zu machen. Wenn man politisch nicht weiter kommt oder ein Eisen zu heiß ist – dann lässt Berlin im Zweifelsfall Karlsruhe entscheiden. Denn das ist dann gottgleich, unabänderbar und für alle Parteien (eigentlich) bindend. Mit Formalitäten ist es da sicherlich nicht getan. Es ist ein alter Vorschlag, Richtern das Parteibuch zu verbieten. Auch die Variante, Richter vom Volk wählen zu lassen, gibt es in der Praxis, beispielsweise im Land unserer ewigen Freundschaft und uneingeschränkten Solidarität. Doch 162
Der Paragraphen-Wahnsinn
formelle Regelungen helfen nicht viel, es gibt genügend Möglichkeiten, sie zu unterlaufen, auszuhebeln, zu ignorieren, sie ad absurdum zu führen. Unabhängig vom Verfahren täte Not, dass Rechtspolitik wieder etwas mit uns zu tun hat. Schließlich sind Richter weit mehr als Politiker in einem demokratischen Staat nur unsere Stellvertreter. Wir verzichten zu Gunsten der allgemeinen Gerechtigkeit und Rechtssicherheit auf eine unserer menschlichsten Fähigkeiten: die »Selbstjustiz«, also schlicht das Tun und Lassen, was wir für richtig halten, das Recht des Stärkeren oder den Untergang des Schwächeren. Und das, obwohl wir blendend gut durchs Leben schreiten ohne eine abstrakte judikative Gewalt. Oder wann kommt die Kindergartenpolizei und verhört die Streithähne, klären Ermittler den Tathergang im Sandkasten und urteilen Richter über Schuld und Motiv? Nein, Kinder dürfen noch mit der Sandkastenschaufel zuhauen, dürfen kneifen und Banden bilden, solange die Kindergärtnerinnen anderswo beschäftigt sind. Und, mit Verlaub: So muss das sein. Denn der »Stärkere« (Fittest), wusste schon Charles Darwin – leider bis heute überwiegend falsch wiedergegeben –, ist nicht unbedingt der Muskel-Stärkere! Der Fittere von zweien kann der Schnellere, Liebevollere, Klügere sein. Politik reguliert das im schlechtesten Sinne. Wenn ich ein Arschloch ein Arschloch zeihe, gibt's eine Anzeige wegen Beleidigung – obwohl Arschlöcher, um in der Logik der Juristen zu bleiben, gar nicht beleidigungsfähig sind –, und eventuell verliere ich meinen Führerschein, weil Menschen, die solche Kraftausdrücke im Munde führen, zum Führen eines Kraftfahrzeugs nicht geeignet sind. Wenn ich einem anerkannten Arschloch eins in die Schnauze brezel, darf ich im mildesten Fall Sozialstunden ableisten. Es sind die Politiker, die unseren Juristen diese Macht geben, nicht wir! Oder hat uns irgendwer gefragt – von diesen markt- und meinungsforschenden Studis abgesehen –, was wir vom Kreuz im Klassenzimmer halten, vom Kopftuch einer Lehrerin, von der Einäscherung eines serbischen Dorfs, von der Volkszählung, der Wehrpflicht, oder – 163
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ja, das muss jetzt sein – ganz allgemein von Schwulen? Niemand hat uns gefragt! Und doch haben Juristen dies und noch Trillionen andere Fragen entschieden, in unserem Namen. Stolpern Sie über die Schwulen? Sie sind immerhin kein Reizwort mehr, mit dem man Aufmerksamkeit heischen könnte, solange alle Beteiligten darauf verzichten, Details der Orgasmus-Herbeiführung zu schildern –, denn um mehr geht es hier nicht. Im Land des negativen Bevölkerungswachstums hat juristisch geregelter Sex nichts mit Reproduktion zu tun – und Familie nichts mit Kindern. Im Vergleich zu anderen Außenseitern genießen Schwule bei Dichtern und Denkern schon immer ein völlig unverhältnismäßig hohes Maß an Aufmerksamkeit. Zuletzt wurde unter dem Stichwort »Homo-Ehe« diskutiert, wie weit Freundschaften Rechtsansprüche folgen lassen sollen oder dürfen. Allen Ernstes wird dann die Frage, ob ein Mann von einem Krankenhaus über den Lebens- oder Todeszustand eines anderen Mannes etwas erfahren darf, juristisch soweit zugespitzt, dass im Supermarkt diskutiert werden muss, wer wie mit wem staatlich anerkannt poppen darf. Das finden Sie nun reichlich frivol und trotz täglichem Titeltittengirl der Bild-Zeitung gewaltig boulevardesk? Gut! Denn es sei Ihnen unbenommen, von den vielen gebräuchlichen Spielarten, zum Orgasmus zu kommen, zu halten, was immer Sie wollen. Das ist normal. Und einer Demokratie angemessen. Juristen sehen das, wie gesagt, anders. Sie können immer und in jeder Situation – entscheiden. Es ist schon ein paar Tage her, da entschied am 10. Mai 1957 der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichtes, dass die Strafbarkeit der männlichen Homosexualität nach §§ 175 f. StGB weder gegen den Gleichheitsgrundsatz noch gegen das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit verstoße. 164
Der Paragraphen-Wahnsinn
Das Bundesverfassungsgericht hat die Sache gründlich untersucht. Es hat zunächst Sachverständige mit folgenden, wunderschönen und daher unbedingt zu zitierenden Fragestellungen betraut: »a) Bestehen im Triebleben beim Mann und bei der Frau wesentliche Unterschiede, die sich auch bei gleichgeschlechtlicher Betätigung auswirken? b) In welcher Richtung stellen männliche Homosexualität einerseits und lesbische Liebe andererseits eine soziale Gefährdung dar? Sind ihre Auswirkungen und Erscheinungsformen in Familie und Gesellschaft verschieden? Welche Rolle spielen in diesem Zusammenhang der große Frauenüberschuss und die Häufigkeit der gemeinsamen Haushaltsführung zweier oder mehrerer Frauen (Gefahr bösartigen Klatsches und der Erpressung)? c) Besteht ein Unterschied in der Aktivität und Hemmungslosigkeit bei gleichgeschlechtlichen Handlungen zwischen Männern einerseits und zwischen Frauen andererseits, so dass damit der Grad der Verbreitung solcher Handlungen und die Gefahr zur Verführung insbesondere Jugendlicher hierzu verschieden ist? Tritt die männliche Homosexualität im Gegensatz zur lesbischen Liebe stärker in der Öffentlichkeit in Erscheinung? Gibt es eine Prostitution der männlichen Homosexuellen und der Lesbierinnen?«
Befragt wurden Sex- und Nerven-Professoren, ein Soziologe und ein Kriminalpolizist. In seiner Entscheidungsbegründung fasst das Verfassungsgericht die Aussage Prof. Dr. Dr. h.c. Kretschmer (Universitätsnervenklinik Tübingen) u.a. zusammen: »Die Homosexualität Jugendlicher sei ein sehr ernstes Problem. Infolge ihrer Instinktunsicherheit (!) und des Schillerns ihrer Triebrichtung könne eine Anlockung oder Verführung von außen leicht zu Fehlprägungen und dauernder Fixierung zur Homosexualität führen. Jede Ablenkung von der naturgegebenen biologischen Triebrichtung gefährde aber die harmonische Entwicklung der Gesamtpersönlichkeit ebenso wie den reibungslosen Einbau des Einzelnen in die menschliche Gesellschaft.« Der Bestrafung erwachsener Homosexualität hingegen
konnte der Professor nichts abgewinnen: »Vom ärztlich-biologischen Standpunkt aus bestehe im Gegenteil das Interesse daran, dass sexuell ernsthaft Abwegige sich nicht fortpflanzen.«
Sein Kollege Dr. Giese, Direktor des Instituts für Sexualforschung in Frankfurt, steuerte die Erkenntnis bei: »Der männlichen Sexualität fehle gegenüber der weiblichen die generative Leistung der Gravidität und Laktation; die weibli165
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che Sexualität sei stärker dem Bereich des Triebhaft-Affektiven verhaftet. [...] Die männliche Sexualität sei von dem Generativ-Vegetativen freigestellt; es bestehe ein Antriebsüberschuss, der die männliche Sexualität charakteristisch gefährde. Bei ihr spiele im Zusammenhang mit der Augenblicksgebundenheit des Zeugungsaktes das Lusterleben eine charakteristische Rolle. Das zeige sich in der raschen Erregbarkeit, dem schnellen Abklingen, der relativ leichten Wiederholbarkeit.«
Soweit zum medizinischen Märchenteil. Es folgt eine juristische Begründung, warum die Verschärfung des § 175 StGB durch die Nazis 1935 kein Unrecht war: »Trotzdem können nicht alle Gesetze, die von der nationalsozialistischen Regierung erlassen worden sind, ohne Prüfung ihres Inhalts und der Frage, ob sie von den Betroffenen noch als geltendes Recht angesehen werden, als rechtsunwirksam behandelt werden. Eine solche Annahme würde übersehen, dass auch eine ungerechte und von geläuterter Auffassung aus abzulehnende Gesetzgebung durch das auch ihr innewohnende Ordnungselement Geltung gewinnen kann; sie schafft wenigstens Rechtssicherheit und ist deshalb, wenn sie sich innerhalb gewisser äußerer Grenzen hält, einem völligen Rechtschaos innerhalb der Rechtsunterworfenen gegenüber das geringere Übel.« Zu
Deutsch: Lieber ein Nazi-Gesetz als gar keines! Die Beweisführung, dass eine ungleiche Behandlung von Männern und Frauen bei der Bestrafung von Homosexualität okay ist, erfolgt wie bis heute üblich in einer rein juristischen Logik-Kette. Ein Auszug: »Ohne weiteres ergibt sich die Unanwendbarkeit [des Gleichheitsgrundsatzes] auf Strafbestimmungen, die dadurch notwendig werden, dass die zwischen den Geschlechtern bestehenden Spannungen typische soziale Gefahren mit sich bringen. Diese Spannungen beruhen gerade auf der natürlichen Verschiedenheit der beiden Geschlechter, so dass der Geschlechtsunterschied für diese Gruppe von Strafbestimmungen der notwendige Ausgangspunkt ist. Hier wird der Straftatbestand wesentlich dadurch bestimmt, dass der Mann als männliches Geschlechtswesen, die Frau als weibliches Geschlechtswesen in Erscheinung tritt und aus der besonderen biologischen Eigenart der beiden Geschlechter sich typische besondere Gefahrensituationen ergeben. Es kann daher keine Rede davon sein, dass es Art. 3 Abs. 2 und 3 GG verletzen würde, wenn beispielsweise Strafdrohungen der §§ 175 (Notzucht) oder 181 a (Zuhälterei) sich einseitig gegen das männliche Geschlecht richten.« 166
Der Paragraphen-Wahnsinn
Warum nun aber die männliche Homosexualität bestrafen, die weibliche nicht? Das höchste deutsche Gericht findet da im Namen des Volkes sehr viel Begründendes: !
Der Mann ist schon anatomisch ein eher drängendes und forderndes Geschöpf, die Frau ein hinnehmendes und zur Hingabe bereites.
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Es gibt viel mehr männliche als weibliche Homosexualität.
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Der auf Mutterschaft angelegte Organismus der Frau weist den Weg, »fraulich-mütterlich auch dann zu wirken, wenn sie biologisch nicht die Mutter ist, während eine entsprechende Kompensation beim Manne fehlt«.
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Mädchen werden weit mehr als Knaben »durch ein natürliches Gefühl für sexuelle Ordnung« vor gleichgeschlechtlichen Verirrungen bewahrt.
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»Jugendliche Lesbierinnen fehlen.« (!)
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Dagegen liebt »der typisch homosexuelle Mann den Jüngling«.
Dass die Strafbarkeit der männlichen Homosexualität auch nicht gegen die Persönlichkeitsfreiheit verstoße, liege daran, dass der letzte, unantastbare Bereich menschlicher Freiheit verlassen werde, »wenn Handlungen des Menschen in den Bereich eines anderen einwirken, ohne dass Umstände, wie etwa familienrechtliche Beziehungen, diese Gemeinschaftlichkeit des Handelns als noch in den engsten Intimbereich fallend erscheinen lassen«. Die Grenze der freien Ent-
faltung der Persönlichkeit stelle namentlich das – ungeschriebene! – Sittengesetz dar. »Gleichgeschlechtliche Betätigung verstößt eindeutig gegen das Sittengesetz. Auch auf dem Gebiet des geschlechtlichen Lebens fordert die Gesellschaft von ihren Mitgliedern die Einhaltung bestimmter Regeln; Verstöße hiergegen werden als unsittlich empfunden und missbilligt.« Die Begründung für ihre Erkenntnis finden die
Richter im Entwurf des Strafgesetzbuches für den Norddeutschen Bund von 1869 (nur 89 Jahre alt zu diesem Zeitpunkt) und im amtlichen Entwurf eines allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches von 1925 bzw. 1927, in dem es heißt: »Dabei ist davon auszugehen, dass der deutschen Auffassung 167
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die geschlechtliche Beziehung von Mann zu Mann als eine Verirrung erscheint, die geeignet ist, den Charakter zu zerrütten und das sittliche Gefühl zu zerstören. Greift diese Verirrung weiter um sich, so führt sie zur Entartung des Volkes und zum Verfall seiner Kraft.«
Dass sich zur Unfähigkeit der Justiz, den Irrsinn einer Gefängnisstrafe für gegenseitige Onanie rechtzeitig zu erkennen, die totale Unfähigkeit der Politik gesellt, rundet dieses traurige Kapitel ab. Bis 1998 brauchte es in Deutschland, um überhaupt ein Gesetz zur Aufhebung von Nazi-Urteilen zu beschließen, im Jahr 2000 war der Bundestag bereit, auch die Verurteilung von Schwulen einzuschließen, und schon 2002 schaffte es die kleine Ergänzung ins Gesetz. Die Willkür von Politik und Justiz mag man u.a. daran sehen, dass es in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts in Deutschland durchaus eine offene schwule Szene gab – oder daran, dass die Schweizer bereits 1938 in Volksabstimmung ein neues Strafgesetzbuch ohne Homo-Verbot angenommen hatten. Das von Politikern geschaffene und von Richtern behände fortgeschriebene Strafrecht ist auch ohne § 175 eine gigantische Zumutung. Weil jemand einem Drogenkumpel den CD-Player wegnimmt und dabei ein Butterfly in der Tasche hat, geht er dreieinhalb Jahre in den Bau. Ein Nachhilfelehrer, der sich von der 14-Jährigen mehrmals einen blasen lässt, kommt mit Bewährung davon, da so etwas – vom Bundesgerichtshof entschieden! – ein minderschwerer Fall des sexuellen Missbrauchs ist. Zugegeben, auch unter Juristen gibt es nicht ganz wenige, die das Recht von Grund auf reformiert sehen möchten. Weil hier längst nichts mehr passt, weil es ein Flickwerk ist – zudem völlig unübersichtlich geregelt. Veränderungen braucht es dringend, !
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weil Strafzumessungen völlig unverständlich sind und mit unserem Gerechtigkeitsgefühl (längst) nichts (mehr) zu tun haben;
Der Paragraphen-Wahnsinn !
weil das Strafrecht nur die beiden sehr einfältigen Sanktionen Geldzahlung und Freiheitsentzug kennt, wobei der Knast sicherlich das unpraktischste Instrumentarium ist, Menschen erfolgreich zu maßregeln;
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weil die Zivilgerichte inzwischen jeden Apfelkern und jedes hörbare Babypupen verhandeln und weil dadurch immer mehr Menschen glauben, Gerichte könnten ihr Leben regeln;
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weil Richter einen nicht hinnehmbaren Sonderstatus haben, der uns nicht nur im Falle eines Ronald Schill zur Weißglut bringen kann;
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weil Staatsanwaltschaften keine unabhängigen Ankläger sind und sie zumindest im Bereich politisch relevanter Ermittlungen oft zwangsläufig versagen;
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weil uns auch 121.000 zugelassene Rechtsanwälte keine rechtliche Zufriedenheit verschaffen;
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und weil insgesamt in vielen Bereichen das Verhältnis von Staat und Bürgern grundlegend saniert werden muss.
Was das alles im Einzelnen heißt, welche Debatten zu führen sind, was viel schwieriger ist als es sich so lapidar liest – das füllt eigene Bücher. Doch abgesehen davon, dass trotz aller politischer Bekundungen derzeit eine ernsthafte Reform nicht in Sicht ist, halten sich die Ideen dazu immer ans bestehende System – ausgehend von einem römischen Recht, das uns 2.000 Jahre später eigentlich nicht die Bohne interessieren muss. Hier und da soll ein Strafmaß verändert, Gerichtszuständigkeiten anders gegliedert oder der Strafvollzug modifiziert werden. Dabei müssten wir überlegen, ob bestimmte, bisher unverrückbare Grundsätze des Rechtsstaats überhaupt sinnvoll sind. Ob uns beispielsweise die Delegation von Bestrafung an Berufsrichter und fern des 169
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Geschehens tagende Instanzen glücklich macht. Oder ob Gerechtigkeit nicht eher vor Ort entstehen kann, durch die Bürger selbst. Das Recht ist das größte, ja fast einzige Arbeitsfeld der Politiker, schließlich mündet praktisch alles in Gesetzestexten oder Verordnungen – inklusive Geldausgeben und -einnehmen. Kein Wunder, dass kein Politiker Anstalten macht, uns da einzubeziehen. Besonders deutlich wird dies bei der Forderung nach direktdemokratischen Elementen, mit denen die Bevölkerung selbst und ohne Umweg über Politiker Dinge entscheiden kann. 70 bis 85 Prozent fordern in den verschiedenen demoskopischen Erhebungen solche plebiszitären Entscheidungsformen – doch die Politiker im Bundestag lehnen sie regelmäßig ab. Robert Leicht schreibt dazu in der ZEIT: »Man kann dies auf den paradoxen Nenner bringen: Wer das Plebiszit einführen will, braucht erst einmal ein Plebiszit.«
Dass wir heute viele Dinge anders bewerten als zu Beginn der Bundesrepublik, sollte klar sein. Und doch hat sich an den Gesetzen von damals wenig geändert – stattdessen kommen nur immer neue Ver- und Gebote hinzu, so dass es heute für jedes Gebiet einen Spezialanwalt braucht, wenn man seine Sache erfolgreich vertreten sehen möchte. Dass wir selbst noch verstehen können, um was es vor Gericht geht, ist ausgeschlossen, und nur bei geringem Streitwert dürfen wir daher selbst und ohne Anwalt tätig werden. In der obersten Gerichtsebene, beispielsweise in Zivilrechtsverfahren beim Bundesgerichtshof, dürfen selbst von den Rechtsanwälten nur noch einige wenige Erlauchte unser Anliegen vorbringen – so wenig traut man also selbst den Fachleuten eine »qualifizierte Bearbeitung der zivilrechtlichen Revisionen im Interesse der Parteien« zu. Immer wieder wird die Schwerfälligkeit unserer Justiz beklagt. Dass komplizierte Fälle lange Ermittlungen und viele Verhandlungstage erfordern können, leuchtet ein. Aber was ist mit den ewig wiederkehrenden Standards? Es gibt keine Möglichkeit, gesprochenes Recht auf 170
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einen anderen Fall direkt anzuwenden. Da wird beispielsweise höchstrichterlich entschieden, dass Banken im Falle einer Rückbuchung keine Gebühren berechnen dürfen, weil es ihr Bier ist, wenn sie erst eine Abbuchung zulassen und später feststellen, sie sei nicht gedeckt. Wer das bei seiner Bank anführt und auf taube Ohren stößt, müsste ggf. selbst vor Gericht gehen – wegen ein paar Cent vielleicht. Naheliegend wäre doch eine Vereinfachung: Dinge, die mal entschieden worden sind, haben Gültigkeit – bis auf Widerruf bzw. bis zu einer individuellen, anders lautenden Entscheidung. Um die müsste sich dann aber in unserem Beispiel die Bank bemühen, nicht ihr Kunde. Doch unser Rechtssystem ist nicht nur überkompliziert, es hat auch ganz erhebliche Mängel. !
Viele Regelungen sind einfach nicht mehr zeitgemäß, in vielen Punkten sehen wir die Strafwürdigkeit heute anders als zu Beginn des letzten Jahrhunderts.
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Das Strafrecht entspricht in weiten Teilen nicht unserem Gerechtigkeitsempfinden. Die meisten Deutschen würden einen Sexualstraftäter für immer einsperren, und alle Wiederholungsdelikte sprechen dafür. Viele Geld-Straftaten wie Steuerhinterziehung, Betrug oder Veruntreuung würden wir lieber sozial-verträglich ahnden, anstatt mit mehreren Jahren Knastaufenthalt noch mehr Unheil anzurichten. Doch wir werden nicht gefragt, die Politik sieht es nicht als ihre Aufgabe an, mit den Wählern darüber zu diskutieren. Stattdessen gibt es reaktionäre Schnellschüsse, wenn die Stimmung an einem einzelnen Punkt einmal überkocht – ohne Einordnung in das gesamte Rechtssystem.
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Vielen Gerichtsverfahren fehlt es an der nötigen Transparenz. Delikates wird hinter verschlossenen Türen verhandelt, Staatsanwalt und Richter sprechen sich gerne mal zwischendurch ab. Die Kontrolle bleibt der Presse überlassen, die damit gerade im 171
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Lokalen regelmäßig überfordert ist und sich auf die Kolportage von Urteilen beschränkt. Da Ton- und Bildberichterstattung von Verhandlungen noch immer verboten sind, glaubt ein Gutteil der Bevölkerung, bei Gericht ginge es eben so zu, wie man es nachmittags im Fernsehen sieht. Mit der Realität haben diese Gerichtsshows jedoch fast gar nichts zu tun. !
Die Untersuchungshaft, also die Einknastung vor einem Gerichtsurteil, sollte in einem Rechtsstaat die Ausnahme sein. Tatsächlich ist sie bei uns zum Standardinstrumentarium geworden. 29,3% aller Häftlinge sitzen ohne Verurteilung ein. Dabei ist die Untersuchungshaft nur ein Beispiel eklatanter Rechtsdefizite. Vieles liegt hier noch im Argen, z.B. die Entschädigung für ungerechtfertigte Inhaftierung: gerade mal 11 Euro bekommt man pro Tag, den man ungerechtfertigterweise im Gefängnis war.
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Die Zahl der Zivilstreitigkeiten ist mit 1.856.508 Neuzugängen im Jahre 2002 so inflationär, dass heute jeder rechtschaffende Bürger damit rechnen muss, von irgendwem verklagt zu werden. Einem guten Miteinander ist dies sicher mehr ab- als zuträglich.
Wie viele andere Bereiche unserer politischen Organisation, ist das Rechtssystem zum Selbstzweck geworden. Nach seinem Sinn wird nicht gefragt, sein Erfolg nicht geprüft. Wie es in Haftanstalten zugeht, wie eine polizeiliche Abschiebung vonstatten geht, welche Hilfen es nach der Knastentlassung gibt, welches Engagement der Staat bei der Prävention zeigt – das alles ist kein Thema, weder in der politischen Debatte noch in der rechtswissenschaftlichen Ausbildung.
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Der ganz normale Wahnsinn
Der ganz normale Wahnsinn – Fünf Beispiele für Politikerversagen Helgoland, Deutschlands einzige Hochseeinsel, 70 km vom Festland, einen Quadratkilometer groß, dazu 700 Quadratmeter Düne, gerade mal 1.650 Einwohner, aus bis zu 61 m hoher roter Buntsandsteinscholle geformt, »eine Oase der Ruhe für Stressgeplagte und ein einzigartiges Naturdenkmal, das keine Umweltprobleme kennt« – natürlich soll ein solches Inselparadies nicht wirklich mit 10.000 Berufspolitikern geflutet werden. Zumal sie dann wahrscheinlich bemerken würden, dass auf Helgoland weder das Tabaksteuergesetz noch das Gesetz über das Branntweinmonopol Gültigkeit besitzen. »Politiker nach Helgoland« ist natürlich eine Chiffre dafür, die Politiker in ein gemeinsames Boot zu setzen, irgendwo auf das offene Meer rudern und dann beschließen zu lassen, Helgoland sei erreicht: Alles aussteigen. So ein Quatsch? Politiker können sogar noch besser. Fünf Beispiele:
1. Was kostet eigentlich ein »Ausrutscher«? Wir könnten ja darüber diskutieren, ob ein Musikredakteur Thomas Anders eine »höhensonnengegerbte Sangesschwuchtel« nennen darf oder nicht. Aber wir diskutieren es nicht, sondern lassen Politiker gewähren resp. schlafen – und so kostet diese kleine Köstlichkeit 25.000 Mark Schmerzensgeld und ein Gerichtsverfahren in zwei Instanzen. Einen entgegenkommenden Motorradfahrer beim Linksabbiegen umzubringen kostet übrigens nichtmals den Lappen, das Schmerzensgeld für die Hinterbliebenen: 4.000 Euro. Man könnte hier eine unendliche Liste des Irrsinns nennen: Busengrabschen 1.000 Euro. Zwei Fußgängerinnen an der Ampel überfahren (eine tot, eine schwer behindert) 2.500 Euro, der Fahrer bleibt übrigens Polizist im Zivilstreifendienst. 173
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Lässt aber jemand nach dem Grillen im Park eine Flasche Spiritus liegen, mit der am nächsten Tag Kinder zündeln und sich dabei gehörig verbrennen, ist ein Schmerzensgeld von 125.000 Euro fällig, mangels Haftpflichtversicherung bedeutet dies: zahlen bis ans Lebensende. So ist die Politik. 2. Wenn Politiker Langeweile haben... ... dann nehmen sie sich auch mal der Freizeitgestaltung an. Die einen nennen das Ergebnis dann »Treppenwitz«, die anderen »Ironie der Geschichte« – man könnte auch sagen: Es ist ein Beleg, dass Politiker es auch schaffen, ein Thema, für das keinerlei Sachkenntnis nötig ist, bei dem man praktisch unmittelbar kein Geld ausgeben kann und das auch niemandem irgendwie zu Prestige oder Macht verhilft, dass Politiker dennoch auch ein solches Thema völlig in den Sand setzen können – nur, dass sie sich nicht entscheiden können, ob an der Costa Brava oder am Timmendorfer Strand: die Ferienregelung. Jede dauerhafte Regelung ist Politikern verdächtig. Denn wenn damit ein Problem erledigt sein sollte, droht unweigerlich die Gefahr, irgendwann alle Probleme und Problemchen erlegt zu haben und damit die eigene Schaffenskraft über eine der 162 Niederlassungen der Bundesanstalt für Arbeit feilbieten zu müssen. So war den Kultusministern unserer 16 Bundesländer Ende der 90er Jahre die Ferienregelung von 1971 zu flexibel, streckten sich die Sommerferien der Länder doch über insgesamt drei Monate. Also sollte ab 2003 alles dichter zusammenrutschen. »Der Vorteil gegenüber dem bisherigen Modell besteht darin, dass durch die Teilung des Gesamtferienzeitraums und die damit verbundene Begrenzung des Rollierens die einzelnen Länder in Zukunft konstantere Ferienanfangstermine erhalten.« So schrieb es die
Kultusministerkonferenz damals reichlich gehaltvoll. Doch kaum sind die neuen, dichten Ferien da, wollen die einstigen Initiatoren bemerkt 174
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haben, dass es damit zu großen Verkehrsproblemen und zu Engpässen in den Urlaubsgebieten komme. »Potzblitz«, denkt sich der gemeine Bürger und senkt andächtig das Haupt vor der Weitsicht seines politischen Führungspersonals – und ist doch froh, dass es nicht viel schlimmer gekommen ist. Immerhin hätte die Politik auch beschließen können, die Sommerferien abzuschaffen oder im Hinblick auf eine weitere Entzerrung auf Weihnachten zu legen.
3. Auto-Kindersitz Die Liste mit dem, was Politiker als Thema entdecken, bearbeiten und dann grässlich regeln, ist unendlich. Beispiel »Kindersitz«, auch »Rückhaltesystem« genannt. Auf die Lösung für die Kleinsten sind wir bzw. die Wirtschaft ganz von alleine gekommen: so ein Wurm sackt halt in sich zusammen. Aber danach war eigentlich alles okay, bis auf die nicht nur für Kinder, sondern auch für nicht DIN-gewachsene Eltern nervig fixierten Dreipunkt-Gurte, die ewig am Hals drücken. Um dieses Problem zu lösen, wurden wir mit der ECE-Regelung 44 beglückt, die nun nach Lebendgewicht und Körpergröße die gesetzlichen Vorgaben für Kinderrückhaltesysteme festlegt. Zur Strafe dafür gehört der Deutsche Bundestag einmal in der Sitzschale nach Rom gekarrt (und dort ausgesetzt): die Dinger sind unerträglich unbequem, im Sommer bilden sich natürliche Schweißseenlandschaften und schläft das Transportgut ein, verkrümmt es sich noch deutlich mehr als ohne Sitzschale.
4. Wort und Tat In Wahlkampfzeiten wird viel lamentiert und nichts getan. Das billigen wir Politikern fast noch zu. Sollen sie sich ein bisschen prostitu175
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ieren, wenn sie sich denn am Ende die Hände waschen und die Ärmel wieder hochkrempeln. Zeit zum Arbeiten ist gleich direkt nach einer Wahl: in Koalitionsverhandlungen, an deren Ende dann eine Vereinbarung steht, ein Vertrag. Z.B. am 20. Oktober 1998 – von Rot-Grün »Aufbruch und Erneuerung – Deutschlands Weg ins 21. Jahrhundert« genannt. Auch wenn’s anstrengend ist: schauen wir doch noch mal hinein in das Papier. »Der Abbau der Arbeitslosigkeit ist das oberste Ziel der neuen Bundesregierung. Hierin liegt der Schlüssel zur Lösung der wirtschaftlichen, finanziellen und sozialen Probleme in der Bundesrepublik Deutschland.« Aha, dann haben sie einfach den Schlüssel
verlegt, müssen wir da angesichts des Ergebnisses attestieren – und könnten die Koalitionsvereinbarung eigentlich gleich wieder zuklappen. Aber wir wollen nicht ungerecht sein – so zwei Sätze sind ja schnell dahingeschrieben, wenn man nächtelang durchverhandelt und möglichst schnell zum Minister ernannt werden möchte. Energisch kreidet das Programm die »schwere finanzpolitische Erblast« von Union und FDP an und verweist darauf, dass 25% der Steuereinnahmen für Zinszahlungen draufgehen. Auch hier sieht die »neue Bundesregierung« eine »Hauptaufgabe« . Wir räuspern uns und lesen weiter. Das Bündnis für Arbeit ist den neuen Akteuren sehr wichtig: »[...] werden wir konkrete Maßnahmen vereinbaren, um die Arbeitslosigkeit abzubauen und allen Jugendlichen einen Ausbildungsplatz zu sichern.« Man hätte ja bei den »konkreten
Maßnahmen« schon ein wenig stutzig werden können – aber wie gesagt, es war spät, alle ein wenig müde, der Sekt stand schon kalt. Wie vereinbart man eigentlich Maßnahmen, damit alle Jugendlichen einen Ausbildungsplatz bekommen? Ausbildungszwang für jede DönerBude? Prügelstrafe für Schulabbrecher? »Die neue Bundesregierung will die deutsche Einheit vollenden.« [Lach] »Deshalb werden wir alle Kraft darauf richten, die soziale und ökonomische Spaltung zwischen Ost und West zu überwinden.« Das ist natürlich nur ein Redaktionsfehler gewesen. 176
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Schließlich hatte man schon einen Schlüssel zur Lösung aller Probleme geortet und eine Hauptaufgabe definiert – da ging das mit der ganzen Kraft ja gar nicht mehr. Die Grenze der Belastbarkeit sei bei den meisten erreicht. Deshalb: »Ziel der neuen Bundesregierung ist es, die Gesamtbelastungen bei Steuern und Abgaben zu senken.« Steht es eigentlich im Widerspruch zu diesem Ziel, dass die
Belastungen gestiegen sind? »Deutschland muss eine Ideenfabrik werden.« Wir haben jetzt einige Seiten
Blabla überblättert, aber hier wird’s doch wieder spannend. Leben wir inzwischen in einer Ideenfabrik? Hat schon jemand eine Rechnung an die neue und jetzt wieder ganz neue Bundesregierung geschickt, für seine vielen Ideen? Schauen wir doch mal, was die Regierung selbst an Ideen fabriziert hat, z.B. zu ihrem Programmpunkt: »Die Sozial- und Gesundheitspolitik der neuen Bundesregierung wird soziale Sicherheit gegenüber den wichtigen Lebensrisiken garantieren«. Was ist da geschehen? Nix, wie ausführlich beschrieben.
Wenn man da wenigstens den Bundesrat oder ganz ihrem Gewissen und nicht der Fraktionsdisziplin gehorchende Abgeordnete verantwortlich machen könnte. Aber: Es gab gar keine Idee aus dieser Deutschlandfabrik. Stattdessen ein Durcheinander uralter »Ideen«. In der Koalitionsvereinbarung ist beispielsweise die Rede von einer »Rücknahme von Elementen der privaten Versicherungswirtschaft, wie Beitragsrückgewähr, Kostenerstattung und Selbstbehalt.« Zugegeben, es ist dann so richtig deftig erst in der nächs-
ten Koalitionsrunde passiert, genau 2003, aber eben doch in die völlig andere Richtung. Nun zahlen wir eben mehr selbst, weil das irgendwie gut für Deutschland ist. Und dagegen hat schließlich niemand etwas. Aber gucken wir noch etwas weiter, stolpern dabei über den in der Vereinbarung gleich zweimal enthaltenen Passus über Drogenpolitik (S. 26 f und S. 39) – wahrscheinlich, weil er so schön ist –, und dann, tatsächlich: 177
Verbannung nach Helgoland
»Wir wollen die demokratischen Beteiligungsrechte der Bürgerinnen und Bürger stärken. Dazu wollen wir auch auf Bundesebene Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid durch Änderung des Grundgesetzes einführen.« Es waren halt nur drei
Zeilen, so wichtig nahm die »neue Bundesregierung« unsere Entscheidungsrechte. Kurz vor Ende der Legislatur hat sie es denn auch probiert, die nötige 2/3 Mehrheit halt nicht erreicht. Wir werden uns die Bürgerbeteiligung aber nächstes Mal gerne auch wieder von der Union versprechen lassen. 5. Freie Marktwirtschaft – z.B. bei Büchern Für die bibliophile Öffentlichkeit änderte sich im Herbst 2002 nichts, obwohl die Politik mal wieder einen ganz großen Wurf getan hatte, mit der Verabschiedung des Gesetzes über die Buchpreisbindung. »Gab’s schon immer«, gibt sich da der Intellektuelle wissend – und irrt doch. Zwar haben bis dahin fast alle Bücher überall dasselbe gekostet, unterlagen also einer Preisbindung, aber keiner gesetzlichen, sondern einer vertraglichen – vereinbart zwischen Verlagen und Buchhandlungen. Der EU-Kommission missfiel dies – wie immer fand sie auch hier etwas Wettbewerbsverzerrendes. Und so beschlossen unsere Politiker ratzfatz, die de facto bestehende Buchpreisbindung einfach zu einem Gesetz zu machen. Dies geschah übrigens auch ganz praktisch so: Der Gesetzentwurf wurde mehr oder weniger vom Börsenverein des deutschen Buchhandels geschrieben, mit Anfragen zur Interpretation des Gesetzes wurden Journalisten ernsthaft vom Justizministerium an diesen verwiesen – und der Kommentar, ohne den das Gesetz juristisch nicht handhabbar ist, stammt von Dieter Wallenfels, dem bisherigen PreisbindungsWächter des Börsenvereins. Doch damit hat sich erheblich etwas verändert. Ein weiterer Wirtschaftsbereich in Deutschland wurde staatlich reglementiert. Nun 178
Der ganz normale Wahnsinn
ist es nicht mehr möglich, Rabatte individuell einzuräumen, sich bei freundlichen Kunden mit einem Preisnachlass zu bedanken – das Gesetz schreibt exakt vor, wie die Preise zu machen sind. Wie idiotisch dies ist, wird deutlich, wenn man einmal auf die Preisunterschiede achtet, die außerhalb der Buchpreisbindung deutlich werden: Harry Potter im englischen Original von einem englischen Verlag unterliegt der Preisbindung z.B. nicht – und prompt wetteifern die Buchhandlungen mit günstigen Preisen. Genau darin natürlich sehen die Freunde der Buchpreisbindung das Verhängnis: kleine Buchhandlungen könnten nicht mithalten, heißt es – stets ohne jede weitere Beschreibung, was denn diese kleine Buchhandlung für diese Protektion als Gegenleistung zu erbringen hat (z.B. Heimatliteratur im Programm haben). Wie unsinnig die ganze gesetzliche Regelung ist, zeigt sich, wenn man mal dorthin schaut, wo wirklich Geld gemacht wird: bei Bertelsmann (Random House). Der Konzern verfügt inzwischen über ein so vielfältiges »Verwertungsnetz«, dass er problemlos nebeneinander in seinen verschiedenen Verlagen und Buchclubs ein Buch in ganz verschiedenen Preiskategorien veröffentlichen kann: als Hardcover, als Taschenbuch, als Sonderausgabe mit einem speziellen Nachwort, als besonders günstige Club-Ausgabe, und natürlich auch als Hörbuch – ganz zu schweigen von Vorabdrucken in den eigenen Zeitschriften, der Berichterstattung in den eigenen Sendern etc. Hier könnte es tatsächlich ein gesellschaftliches Interesse an Regulierung geben, weil die Folgen eines monopolisierten Marktes recht gut bekannt sind. Doch statt sich solcher Großprobleme anzunehmen, verpflichten Politiker lieber den Kleinverleger, der seine Bücher am Wochenende im Wohnzimmer setzt, einen Buchpreis festzusetzen und exakt einzuhalten – und drohen ihm mit Bußgeldern bis 100.000 Euro (die Bertelsmann natürlich in der Portokasse hat).
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Verbannung nach Helgoland
Jedem sein Gehege? – Die Illusion der Gewaltenteilung Das deutsche Parlament – früher Bundestag, dann Wasserwerk, heute wieder Reichstag – wurde am 16. Oktober 2002 abgeschafft. Anders als Schröders erste gottbezugsfreie Vereidigung zum Chefsachenerklärungsberechtigten oder sein Nurnaturseitenhaar provozierte dies keine Leitartikel, das Bundesverfassungsgericht lehnte es ab, sich damit zu befassen. Dabei hatten Gerhard Schröder, Joschka Fischer, Heidemarie Wieczorek-Zeul, Claudia Roth, Olaf Scholz und Fritz Kuhn ganz freimütig in ihrem Koalitionsvertrag zwischen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vereinbart: »Im Bundestag und in allen von ihm beschickten Gremien stimmen die Koalitionsfraktionen einheitlich ab. Das gilt auch für Fragen, die nicht Gegenstand der vereinbarten Politik sind. Wechselnde Mehrheiten sind ausgeschlossen.«
Wieso auch aufregen, schließlich war das, was hier etwas dümmlich schriftlich fixiert worden war, seit langem »ius consuetudinis« und den älteren Semestern noch unter der Eselsbrücke »Ein Volk, ein Reich, ein Führer« oder in der Fassung von Louis Fürnberg unter »Die Partei, die Partei, die hat immer recht« geläufig. Wo nun zwei oder drei im Namen einer Regierung versammelt sind, da braucht es gegebenenfalls einen Vertragstext, der sich nicht mit Kleinigkeiten aufhält, sondern zügig zum Wesentlichen kommt: Wir bestimmen! Und so müssen wir auch gar nicht in den langweiligen Kopulationsvertrag der Regierung der 15. Legislaturperiode des Deutschen Bundestags schauen, um die staatsbürgerkundliche Gewaltenteilung für eine Farce zu halten: »Wir werden ein Gesetz machen«, brüstet sich ein jeder Regierungsvertreter, wenn ersiees Handlungskompetenz zeigen will. »Die Bundesregierung wird zum 1. Januar 2004 die Gemeindefinanzen grundlegend refor180
Jedem sein Gehege?
mieren«, erklärt dann der Kanzler dem Souverän sein Regieren. Wie er
auch zu versichern weiß: »Wir werden dafür weder neue Schulden aufnehmen noch Steuern erhöhen.« Wie auch: »Wir werden – wie geplant – die nächsten Stufen der Steuerreform mit einem Entlastungsvolumen von rund 7 Milliarden Euro am 1. Januar 2004 und von 18 Milliarden Euro am 1. Januar 2005 ohne Abstriche umsetzen.« Oder: »Wir werden zudem die Abgeltungsteuer auf Zinserträge einführen.« Ferner: »Wir werden den Arbeitsmarkt über die Hartz-Reformen hinaus öffnen, Schwarzarbeit zurückdrängen und unsere Bemühungen verstärken, dass genügend Ausbildungsplätze bereitgestellt werden.« Und: »Wer zumutbare Arbeit ablehnt – wir werden die Zumutbarkeitskriterien verändern –, der wird mit Sanktionen rechnen müssen.« Oder: »Wir werden das Steuerrecht für Kleinstbetriebe radikal vereinfachen.« Oder: »Wir werden das Arbeitslosengeld für die unter 55-Jährigen auf zwölf und für die über 55-Jährigen auf 18 Monate begrenzen.«
Oder: »Wir werden deshalb Änderungen im Interesse der Patienten durchsetzen, auch und gerade weil das deutsche Gesundheitssystem verkrustet und in einer Weise vermachtet ist wie kaum ein anderes gesellschaftliches System.« Oder: »Wir werden es den Krankenkassen deshalb ermöglichen, Einzelverträge mit den Ärzten abzuschließen.« Oder: »Wir werden und müssen [die Reihenfolge ist schön, woll] die Haushalte der großen Forschungsinstitutionen in den nächsten Jahren jährlich wieder um 3 Prozent erhöhen.« Oder: »Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen abfordern müssen.«
Das sind kleine Auszüge aus einem Schröder-Wort, welches nur so strotzt vor Proklamationen des Ein-Partei-ein-Säulen-Staates. Man könnte die verwegene Idee haben, ein jeder Abgeordneter müsse bei solchen Sätzen, Artikel 38 des Grundgesetzes vor Augen, unter Tränen das Theater verlassen. Doch nichts! Die Saalhälfte links des Präsidenten applaudiert bei jeder Wir-werden-Anapher, der rechte Teil zwischenruft gelegentlich erregt und nimmt es ansonsten armevordembauchverschränkt zur Kenntnis und als Futter für die nächste Pressemitteilung mit ins Abgeordnetenbüro. Dass des Herrn Bundeskanzlers Redenschreiber der Legislativen keinen Wirkungsort mehr zugedacht haben, stört offenbar niemanden. Der Kanzler verkündet, was »wir werden«, 181
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ungeachtet der verfassungsrechtlichen Randnotiz, dass seine Durchlaucht das gar nicht könnten, weil Gesetze eben vom Parlament und nicht von der Regierung beschlossen werden, wäre da nicht der Entmächtigungsvertrag der Koalitionsführer, der zwar ohne jede juristische, wohl aber von elementarer praktischer Durchschlagskraft ist. Müntes Gesichtsblässe verfloss nicht, als er im Zuge der MazedonienKriegsabstimmung drohte, bei Abweichlern sei die nächste Bundestagsaufstellung zu prüfen. (Es hat ja dann, wie wir wissen, doch geklappt, denn Krieg machen ist in jedem Fall spannender als Brüsseler Verordnungen durchzukauen.) Keine Welle also. Parlament und Regierung sind schließlich schon lange fusioniert. Zehn der vierzehn Bundesminister inklusive Chef sind zugleich Bundestagsabgeordnete. Dazu Staatsminister wie Rolf Schwanitz, Kerstin Müller und Hans Martin Bury und natürlich die parlamentarischen Staatssekretäre – alle sind sie ohne Anzeichen von Schizophrenie Legislative und Exekutive in einem. Es ist Aufgabe der Abgeordneten, die den Parteien der Regierungskoalition angehören, zu applaudieren, zu salutieren (»standing ovations«) und allen Oppositions-Krams zu makulieren. Sicherlich nicht gerade eine Erfüllung, aber halt ein Job, den man eben auch macht, praktischerweise meist als Paketlösung in so genannten »Sitzungswochen«. Das wahre Leben findet sicherlich an anderer Stelle statt – aber das ist Spekulation, gelegentlich auch genährt von Sitzungswochen ohne Sitzende. Auch die Bereitschaft, Diäten zu beziehen, statt wie jeder rechtschaffende Bürger Lohn, Gehalt oder Einkommen, kann kaum im Stimmviehdasein gründen, in der Bundesreichstagsverweilung – es muss etwas anderes sein: die Sommerradeltour durch den Wahlkreis vielleicht oder der Tanz beim Bundespresseball mit dem adretten Dingsda aus dem Fernsehen. 182
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Weniger bekannt ist, dass auch die judikative Säule gegenüber ihrem theoretischen Konstrukt stark erodiert ist, soweit man nicht konstatieren muss, dass auch auf dem Papier nie für eine ordentliche Gewaltenteilung in Deutschland gesorgt worden war. Bekannt sind die Verquickungen auf höchster Ebene: Da z.B. das Bundesverfassungsgericht von Bundestag und Bundesrat mit Robenträgern beschickt wird und dieses Gericht für die politische Gestaltung des Landes von immer größerer Bedeutung ist, wird genau auf das Parteibuch oder wenigstens eine erkennbare Farbe der Rechtsprecher geachtet. Aber auch die Besetzung aller anderen Richterposten wie zunächst überhaupt die Ernennung zum Berufsrichter auf Lebenszeit erfolgt gemeinsam mit der Politik. »Wie soll ein Richter unabhängig sein, der sein ganzes Leben lang hinsichtlich der Beförderung in Aufrückestellen von der Exekutive abhängt« , fragte der Richter Paulus van Husen schon 1952 und wies auf allerlei Konstruktionsfehler der angeblichen Gewaltenteilung in Deutschland hin. So gerne Richter selbst aus ihrer Unabhängigkeit (Art. 92 GG) einen eigenen Stand definieren möchten, indem sie Recht sprechen, ohne sich vor irgendwem dafür rechtfertigen zu müssen, so sehr zeigt sich doch in der Praxis, wie eine bravouröse Juristenkarriere quer durch die »Gewalten« verläuft. Roman Herzog beispielsweise begann eine Universitätslaufbahn, die recht zügig zu Professur und Rektorat führte, dann war er Staatssekretär (Rheinland-Pfalz), Kultus- und später Innenminister (Baden-Württemberg), Abgeordneter, Bundesverfassungsrichter und Präsident dieses Gerichts, zum krönenden Abschluss hatte er als Bundespräsident das höchste Staatsamt inne. Verschmelzungen zwischen Regierung(en) und Gerichten sind weit weniger auffällig als bei Regierung und Parlament – sie sind aber deswegen nicht unproblematischer. Richter und Anwälte wirken nicht nur in ihrer dritten Gewalt, sie basteln die Gesetze als Parlamentarier und Mitglieder der Rechtsausschüsse von Landtagen und Bundestag oder als Beamte in den Justizministerien, die einer von ihnen in der Regel als 183
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Minister leitet. Sehen Juristen das Problem, nicht unabhängig genug von der Politik zu sein, sollten wir unser Augenmerk eher darauf richten, dass die Politik nicht im Mindesten unabhängig von den Juristen ist, sondern sie in allen wichtigen Bereichen der »Rechtsentwicklung« dominieren. Wie einfach könnte vieles sein, wenn dem fachlich nicht vorbelasteten Bürger nicht nur das Laienrichteramt zukommen könnte, sondern wenn er die Gesetze formulierte, nach denen er seine Welt geregelt sehen möchte. Dass die »Gewalt« nicht so geteilt wird, wie man das noch in der Schule lernt, könnten wir vielleicht verschmerzen weil leicht immer wieder im Einzelfall korrigieren, wenn es denn tatsächlich unsere Gewalt wäre, um die es da laut Art. 20 (2) GG geht: »Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.« Doch bei
den Wahlen haben wir nichts zu wählen, Abstimmungen gibt es nicht – und dann ist schon Ende der Fahnenstange. Wir haben auf das, was beim Amtsgericht geschieht, nicht den geringsten Einfluss, obwohl es da regelmäßig um unsere Nachbarn geht, ob die sich nun untereinander oder mit einem Staatsanwalt streiten. 30 Jahre lang geht dann dort ein Richter seiner Profession nach, urteilt an zwei Vormittagen die Woche »im Namen des Volkes«, ohne dass wir irgendetwas dazu tun könnten. Und wo wenigstens gewählte Vertreter beschließen, muss noch lange nichts passieren. Da einigt sich ein ostwestfälischer Stadtrat auf Zebrastreifen an den Einmündungen eines Kreisverkehres auf seinem Gebiet – und fünf Jahre lang passiert nichts, weil die Verwaltung verkehrstechnische Bedenken hat; derweil wird weiter überfahren und angefahren.
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Lernen von den Schimpansen – Das Verhalten der Machtmenschen Wenn ein Dr. Phillip Watters oder einst Prof. Klaus Brinkmann eingeschwoben kommt, hat der Patient nicht etwa Angst vor der kurzen strengen Prüfung seines Leibes, sondern respektvolle Hoffnung. Der Chefarzt, der wird es doch richten. Wenn seine Lakaien, die Stations- und Assistenzärzte, auch noch nicht weit genug in den Himmel ragen – der Chef verständigt sich dort oben direkt mit dem Herrn selbst, vielleicht ist er auch der vierte Teil seiner Dreieinigkeit. Auch andere Beobachtungen unseres täglichen Lebens nähren den Verdacht, dass Chefsein etwas Dolles sein muss. Nicht immer angenehm, aber doch toll, groß- bis einzigartig. »Ich will sofort Ihren Chef sprechen!« Der wird es oder sie oder ihn dann schon richten. Den Chefsessel gibt es bereits für unter 100 Euro, beim »Büroartikelversender« zum Beispiel. Die Exemplare, auf denen unser Ober-Chef seinen Gluteus maximus plättet, sind gehobene Preisklasse, aus Leder und im Kabinett mit leicht verlängerter Lehne gegenüber den Sitzmöbeln profaner MinisterInnen und Staatstippsen. Aber nun stellen wir uns das doch mal vor. Da pflanzt sich ein Politiker, der den obersten Politikerposten inne hat, auf einen relativ normalen Chefsessel, und der Reporter fragt: »Herr Bundeskanzler, wie geht es Ihnen?« Furchtbar! Chefvisite auf arabisch, quasi. Jedenfalls nach allem, was Recht und Ordnung ist, verkehrt herum. Gerhard Schröder hat das Problem bald erkannt. Nachdem er sich 1998 über den Zaun des Kanzleramtes geschwungen hatte, in das er unbedingt hinein wollte (diese Anekdote, by the way, muss nicht wahr sein, um wahr zu sein), die Hose noch heil, den Schlips aus dem Karriere-Notfallpack gezogen und korrekt gebunden, nimmt er nun Raum auf dem Stuhl, der die Welt bedeutet. Und ein Reporter spricht 185
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ihn an mit »Herr Bundeskanzler«. Hilfe! Das mag im ersten Moment ja noch cool klingen, aber schon nach wenigen Tagen dünkt einem intelligenten Menschen: das kann es ja wohl nicht sein! Denn mit Bundeskanzlern hat der Pöbel doch nie etwas zu tun! Wie soll er da die richtige Haltung annehmen? Herr Bundeskanzler, Frau Minister, Herr Schaffner, Frau Doktor, Frau Pfarrer, Fräulein Wachtmeister – das sind doch alles nur Figuren für den Moment. Wenn Sie mit dem Herrn Professor ganz offen über Ihre Familienplanungsrealisationsprobleme sprechen, werden Sie ihn doch nicht auch noch fragen, ob Sie wohl im Garten eine Laube bauen dürfen oder ob es in der U-Bahn nach 19 Uhr noch sicher ist. Es sind eben Spezialisten, die ihre Wirkungsbefugnis nur in einem eng umgrenzten Raum und zu eng gefassten Zeiten haben. Wenn ich den Taxifahrer nach dem Weg frage, kann er radebrechen wie er will: er weiß den Weg! Das hat so zu sein, und darum folge ich Wo-du-wolle-Üzdemirs Fahr- oder Gehanweisung auch blind. Aber niemals werde ich mir von ihm einen Tipp einholen, wo es leckere Lasagne gibt. Das weiß er nicht, davon hat er keine Ahnung, Punktum. Welch Schicksal für einen Politiker, der König sein möchte, der die Wichtigkeit einer Lottoziehung, die Omnipräsenz des Wetters und die Imposanz der Niagarafälle in sich zu vereinen glaubt. Und so adaptierte Schröder, der Kanzler, sehr genial den Lebensalltag seines Volkes für die Politik, was Verhältnisse nach oben angeht. »Bundeskanzler ist ganz nett, aber Chef müsste man sein« mag er sich gedacht haben. Und schritt zur medialen Tat, um fortan Chef zu sein für alles, wo es keine Fragen mehr geben darf, keine Experten, keine ranggleichen Sachbearbeiter, keine Ressorts von Geistlichkeit und Weltlichkeit, Exekutive, Legislative und Judikative. Die Allmacht liegt in diesen vier bis fünf Buchstaben: Chef. Wenn ein Bundeskanzler fordert, eine Stunde pro Woche mehr zu arbeiten, gibt es einen Aufschrei. Nicht wegen der einen Stunde, sondern wegen der Kompetenzüberschreitung. Dafür ist ein Kanzler nicht da, nicht in diesem bundesreichen Vaterland. Aber 186
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ein Chef, klein, pummelig und Gebieter über eine Autowerkstatt mit einem Azubi und einer nicht-legalisierten Aushilfe, er kann sagen: »Und heute macht ihr Überstunden, aus dem Wrack da drüben muss bis morgen wieder ein Hunaudieres werden.« Das geht – fast ohne Maulen.
Gerhard Schröder muss das erkannt haben. Ein folgsames Land braucht heute einen Chef, und, wenn es schon mit Film-FilmTrailern penetriert worden ist, ggf. auch einen Chef-Chef. Eben einen absoluten Obermacker, der qua seines Chefseins zwar nicht über jede Kritik, aber mit Sicherheit über jeden Aufstand erhaben ist. Tausend Fehler hätte Schröder bei seiner Chef-Selbstkür machen können – doch er hat sie alle Fehler anderer sein lassen. Das hat er als Studenten-Jobber auf dem Bau gelernt: Ein Chef muss nicht sagen, dass er der Chef ist. Aber er muss sich immer wieder als solcher bemerkbar machen. Die klitzekleine Restkombinatorik muss das Proletariat schon selber leisten, emanzipiert wie es ist. Und so hat Schröder im Wesentlichen drei Formen evolviert, sein Chefsein zu unterstreichen: a) Beginne alle großen Sätze mit »Ich«. Man mag von Gottes Wort soviel halten wie Gerhard Schröder, – was kurze, knackige Machtworte angeht, sollte man einen Abschreibeblick in die Bibel riskieren. Wenn da ein Satz mit »Ich« beginnt, folgt ein »bin« oder »will« oder »werde« – jedenfalls klingt das, was Ich verkündet, sehr definitiv – und die Geschichte zumindest des Alten Testaments lehrt uns, das sehr ernst zu nehmen, denn der Ankündigung folgt stets die Tat – von einzelnen reuigen Rückzügen abgesehen. b) Kein Chef sagt, dass er Chef ist, wenn er Chef bleiben will. Wer sich auf dieses Argumentationsniveau begibt, hat bereits verloren. Ein Chef sagt nicht: »Ich bin der Boss hier, ich feure Sie!« sondern etwas der Art: »Wir können uns an dieser Stelle auch trennen.« Wer ein Schulterabzeichen braucht, damit jemand vor ihm stramm steht, 187
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wird in der Klause zwangsläufig unter den Tisch gesoffen. Man darf nicht erklären, der Chef zu sein, man muss zeigen, dass gerade ein Chef handelt. Schröder hat sich als juristischer Wortakrobat perfektioniert. Er kombiniert die Ich-Gewalt mit dem Hinweis auf die Chef-Tätigkeit. Grandios: Ich habe den Aufbau Ost zur Chefsache erklärt. c) Sollte irgendwer dumm dazwischenquatschen, gib ihm eins auf die Zwölf. Bloß argumentiere niemals! Das hat unser Chamäleon zugegebenermaßen vom schwarzen Elefanten gelernt. »Herr Kohl?« – »Für Sie immer noch Herr Doktor Kohl!« Einen echten Doktor hat Gerhard allerdings nicht. Um so eifriger ist er damit befasst, sich Machtinsignien selbst herbeizudeklarieren, wenn dazu der Spiegel auch schreiben musste: »Von der Holzmann-Pleite bis zur Neuordnung des Finanzplatzes Deutschland, vom Aventis-Verkauf bis zur Zukunft der Postbank – fast immer, wenn Kanzler Gerhard Schröder ein Wirtschaftsprojekt zur Chefsache erklärt, geht es schief.« Was nun aber weder wunder nimmt noch
irgendwie stört. Nun gut, derzeit läuft für den Chef wirklich nicht alles zum Besten. Niemand will ihn mehr als Chef-Chef haben, innerhalb der Partei (doch, die gibt es noch, trotz 35% Mitgliederschwund innerhalb einer Dekade) ist er bereits teil-demontiert, nur ist noch nicht geklärt, ob China die Teile kaufen will und darf. Es muss ihn schmerzen, als Alphatierchen den recht simplen Erfolg schon bei Politikern mit Mannschaftsdienstgrad zu beobachten. Denn Politiker jedweden intellektuellen Startbudgets finden Wege zur Macht, wenn auch nicht alle bis in den Swimmingpool. Heute kennt jeder 10-Klässler das Beispiel vom Schimpansen Mike, der sich an leeren Wasserkanistern von Jane Goodall vergriffen hatte und begeistert war, welche Macht ihm diese stibitzten Plastiktanks verleihen, wenn er auf ihnen trommelte: auch ranghöhere Kollegen ver188
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neigten sich tief vor ihm. Primitiv hingegen mutet uns an, wenn wir in Geschichte lernen sollen, irgendwelche bekloppten Vorfahren hätten sich Hirn und Schwanz ihrer gemeuchelten Gegner kulinarisch einverleibt, um ihre geistige wie physische Potenz zu inkorporieren. Nichts anders machen unsere Politiker, wenn sie sich über SuperWeiber und Super-Männer echauffieren. Da gab es jüngst den Fall Kaplan. Eine lange und langweilige Geschichte, zugegeben, denn was machen wir für ein Bohei um einen einzelnen Idioten, wo wir davon Tausende jedweder, aber überwiegend deutscher Nationalität in unserem Refugium rumspringen haben. Doch Metin Kaplan, diese politische Null-Nummer, von unseren Medien daher stets um der Dramaturgie willen mit dem Attribut »selbsternannter Kalif von Köln« versehen (wobei »Kalif« besonders geil ist, denn niemand weiß, was das sein soll, aber es klingt bedrohlich-orientalisch), er hat es geschafft. Oder viel mehr: die Politiker haben ihn geschaffen. Er wäre uns recht egal gewesen, dieser Mietwohnblockhauser, wiederum der Dramaturgie geschuldet lieber »Hass-Prediger« genannt, was immer solch eine Kreatur sein mag. Kaplan sollte ausgewiesen werden. Nicht nur in so hochstilisierten Fällen bedeutet dies: Sobald es eine »Rechtsgrundlage« gibt, wer immer sie wie geschaffen haben mag, kommt die Polizei in großer Zuvorkommenheit mit Blick auf deinen Terminkalender morgens um 5 Uhr und bittet dich, deine sieben Sachen zu packen und mal eben mitzukommen in den Abschiebeknast. Nun war das bei Metin nicht so einfach. Der Arsch besaß die Dreistigkeit, vor ein deutsches, gänzlich unislamisches Gericht zu ziehen, und seine Forderung zu vertreten, nicht in die Türkei verbracht zu werden, weil es dort unangenehm für ihn werden könnte. In Einzelfällen, das räumt selbst das Bundesinnenministerium, an dieser Stelle für die Außenverbringung zuständig, ein, könne dies schon mal so gewesen sein: ein bisschen Folter, ein bisschen Erpressung, nicht immer ganz so, wie wir uns das wünschen, 189
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so offiziell. Aber angesichts der Tatsache, dass auch in deutschen Gefängnissen oder auf deutschen Polizeiwachen hin und wieder jemand ablebt, und vor allem angesichts der Tatsache, dass der Kalif ja inzwischen dank deutscher Bemühungen eine echte Berühmtheit geworden ist, habe der Verbrecher (Anstiftung zum Mord ist ihm bundesgerichtlich attestiert), im Nachbarländle auch nicht mehr zu befürchten, als von kölschen Skins. Das ein oder andere Gericht sah dies leicht anders und wollte Kaplan nicht abgeschoben sehen, solang der berühmte »faire Prozess« nicht gewährleistet sei. Letztlich entschied aber das OVG Münster (am 26. Mai 2004, es war danach weiterhin mit dem Fall betraut) anders: Abschiebung erlaubt. Nun fehlte es den tugendhaften deutschen Vollzugsbehörden ein wenig am Rechtsverständnis, das unter anderem einen kleinen Unterschied kennt zwischen Richterspruch und rechtskräftigem Urteil. Wir wollen an dieser Stelle gar nicht die Geschichte bemühen, ob es sinnvoll ist, vor der Erschießung noch mal kurz innezuhalten, ob auch alles okay sei für die Endgültigkeit, wir stellen nur fest, was unsere Politiker und Polizisten und Staatsschützer an dieser Stelle feststellen mussten: Metin Kaplan war auf der Wackel, als die Polizei ihn in den Urlaub schicken wollte, kurzer Aufenthalt am Zubringer inklusive. Wie die Geschichte ausging, wissen Sie, aber das ist auch belanglos. Spannend ist, was dazwischen passierte: Recht und Ordnung waren formal wiederhergestellt, der Schurke sollte in einen Rechtsstaat abgeschoben werden und uns nicht weiter auf die Eier gehen. Wer mag da Anderes fordern. Doch Kaplan, wie gesagt, war kurz auf Party. Mal so eben an seinen total unauffälligen Bewachern vorbei austreten. Was tun? So als Politiker? Man könnte auf seine To-Do-Liste schauen und feststellen: »Scheiße, auch in diesem Jahr 400 vergewaltigte Mädchen und Jungen in meinem Wahlkreis, wo wir den Vater, Onkel oder Bruder noch nicht gefasst haben, neuntausend total überschuldete Familien, jeder zehnte Jugendliche ohne Schulabschluss und ein Himmel, der uns gleich auf den Kopf fällt. Also vergiss diese kurze Show-Nummer Kaplan, sollen sich die Zuständigen 190
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darum kümmern und ihn im Rahmen der Gesetze laufen lassen oder abschieben oder foltern oder hofieren.« Doch Politiker haben keine Zeit, sich um solche Probleme
zu kümmern. Sie sind ganzjährig mit der Balz befasst, mit Imponierkämpfen für die Wählerbraut oder auch nur wegen eines Gendefekts. Sie wollen den Bösewicht von anderen zerfleischt sehen und dann seine Glocken läuten lassen, auf dass ihr Klang das Volk versammelt zur Huldigung seiner Hohepriester. Kaplans Knödel waren hier im simpelsten Fall Jürgen Rüttgers Worte von der »großen Blamage für den Innenminister« oder die Rücktrittsforderung der FDP, gerichtet an eben diesen NRW-Innenminister Behrens. Was da passiert, ist weit mehr als politisches Techtelmechtel. Es ist Imponiergehabe pur. Wie der Dorfpickel mit seinem getunten Mazda und die Klassenschlampe mit Push-up-BH und Lippenstift ihre Attraktivität aufwerten, so tun dies Politiker, indem sie sich gegenseitig Versäumnisse und Fehlentscheidungen in Bereichen ankreiden, mit denen sie gar nichts zu schaffen haben, die fern ab ihrer Kompetenz liegen. Das ist genial: Der Innenminister hat quasi persönlich den kalifischen Hass-Prediger laufen lassen, ist nicht fähig, sein Volk vor einem Terroristen zu schützen. Ha! Wenn da nicht die Glocken läuten: »Mir, liebe Untertanen, wäre das natürlich nicht passiert. Vertraut mir, und ich werde von meinem Düsseldorfer Schreibtisch aus einen wie Metin Kaplan mit meinem Großen Onkel zermahlen.«
Dieses Schema funktioniert immer. Erst wird eine Bedrohung geschaffen: da fürchtet sich dann ein ganzes Land vor einem ausgebrochenen Vergewaltiger. Oder entsetzt sich über einen »Todespiloten« mit Liebeskummer. Auch nicht-personal klappt das hervorragend, manchmal noch besser: Die Bedrohung durch die unscheinbaren schwarzen Schattengestalten, die aus dem Schlick des Wattenmeeres und Ufer der Oder nächtens in unser Land eindringen – Hilfe, Hilfe. Sieg, wer einfach dreist genug ist zu behaupten, der Sache Herr zu sein. Denn das ist der zweite Teil: die selbst erschaffene Bedrohung nimmt nun ein Politiker in 191
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den verbalen Schwitzkasten. Da fliehen dann sogar Al-Qaida-Getreue aus God's own country und ein Saddam Hussein verkriecht sich ins Erdloch – wenn da auch nicht nur Worte gewirkt haben. Es sind nicht die Medien, die aus diesen Nichtsen Gladiatoren in der Arena der Globalisierung machen. Sie werfen den Ball höchstens ins Spiel. Politiker sind es, die ihn aufnehmen, dribbeln und zu einer Performance steigern. Ob da ein minderjähriger türkischer Münchner mit Gewalt und Diebstahl nervt, ob ein schwer Erziehbarer im Ausland seinen Betreuer erschießt, – solche im Weltenlauf kleinen, eigentlich unbedeutsamen Ereignisse werden von Politikern zu nationalen Katastrophen hochstilisiert, um sich selbst Macht zu verleihen. Denn wir alle haben es im Urin: Schwätzer sind keine Chefs, Plenarsaalartisten bekommen von uns keinen Applaus. Aber Menschen, die Dinge in die Hand nehmen, die auch bereit sind, den Lauf der Welt zu verändern, die sich eben so einen 14-Jährigen schnappen und ihn eigenhändig nach Ankara schaffen – das sind Führer, denen wir folgen. Täuschung gehört zum Geschäft. Das ist nichts Ehrenrühriges. Die meisten schwarz-gelb gestreiften Hautflügler sind ganz harmlose Zeitgenossen, aber sie behaupten einfach mal, ein bisschen Wespe zu sein. Das funktioniert – meistens.
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Spezies Totquatscher
Spezies Totquatscher – Das Rede- und Geltungsbedürfnis der Politiker Die Erwartungshaltung der Medien – und offenbar auch die des ein oder anderen Zuschauers, Hörers, Lesers – gegenüber Politikern ist immer wieder erstaunlich. Obwohl wir seit unserer ersten politischen Sozialisation keinen einzigen Satz von einem Politiker gehört haben, der uns wenigstens ein »Aha« hätte gutturieren lassen – so eine minimale Überraschung, die zu einem gutwilligen Weiterzuhören führen könnte –, werden simple Reden immer wieder gehypt und lang anhaltend debattiert. Mitte März 2003 zum Beispiel. Gerhard Schröder wolle sich mit einer ganz großen Rede an das Volk wenden, orakelten vertraute Kreise. Obwohl solchen Reden nie jemand zuhört, schon gar nicht das Volk, und Journalisten am Ende ohnehin nur feststellen werden, dass der kraftvolle oder lustlose oder souveräne Auftritt nichts Neues geboten habe, wird schon die Androhung eines langen Monologs zum Ereignis. In einer großen Aufmachergeschichte befasst sich der SPIEGEL damit, wie es zu der unglaublichen Idee gekommen war, eine ganz große Rede zu halten. Spannend! Und wer nun alles mit seinen Ideen in der Rede vorkommen wolle. Packend! Und dass bei den Übungsauftritten in Parteikreisen vor der großen Rede am 14. März natürlich nichts Spektakuläres zu erwarten sei, weil ja sonst sofort die Medien darüber berichten, gleich wie konspirativ der Schröder-Auftritt auch gewesen sein mag, womit die Wirkung der großen Volksrede dann verpufft sei. Wahnsinn! Und doch werden wir malträtiert mit möglichen Details der möglichen Rede. Er werde sich zum Kündigungsschutz äußern. Wow! »Darüber hinaus werde die Regierungserklärung‚ Überraschungen bringen« weiß der SPIEGEL von einem Olaf Scholz, offenbar Generalsekretär der SPD zu 193
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diesem Zeitpunkt – und es hält uns kaum noch auf dem Sofa. Zumal es mit der Rede »Heulen und Zähneklappern« geben werde – oh Gott, oh Gott. Und dann das Ereignis: Konstatiert der SPIEGEL Gerhard Schröder vor seiner Rede im Zuge der fünf Seiten langen ErwartungsGeschichte bereits, es sei ihm bislang »noch so ziemlich jede groß angekündigte Reformrede daneben [gegangen]«, folgt eine Woche später das Urteil zur »Ruckel-Rede«: »Der versprochene Zukunftsentwurf blieb unscharf. Der Kanzler bot für ein neu strukturiertes Wirtschafts- und Sozialwesen keine Vision an. Und er versäumte es, die Herzen der Bürger anzusprechen. Er verkündete einen Katalog von Kürzungen und Streichungen, schaffte aber keine Vorfreude auf ein runderneuertes Gemeinwesen.«
Für das Bohei um Politikerworte – ins Land geschleudert aus leeren Plenarsälen, aus Pressekonferenzen oder Interviews –, für diese Selbstkasteiung unseres Intellekts, gibt es nur eine Entschuldigung: mehr als diesen Unterhaltungswert haben Politiker nicht zu bieten. Und so ist denn auch das Wahrste an dem hier inkriminierten SPIEGEL-Artikel die Überschrift: »Reden um zu überleben« hieß der Ankündigungstext, und in Gedanken ersetzt man »Reden« schon durch »Schreiben«. Denn die regelmäßig rund 50 Seiten aus dem Deutschland-Ressort des NachrichtenMagazins sind vor allem das: Verschriftlichtes Politiker-Blabla, gewürzt mit Prophetie nach dem Augsteinpatent. Böse, böse? Dann nehmen wir einmal all unseren Mut und unsere Kraft zusammen – und lauschen: Schröder, Gerhard, Kanzler der Deutschen, Neujahr 2001: »Am meisten freuen mich die Fortschritte, die wir bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit erzielt haben. In den vergangenen zwei Jahren haben wir die Zahl der Arbeitslosen um mehr als eine Million zurückdrängen können. Allein im Jahr 2000 sind mehr als eine halbe Million neue Jobs entstanden.«
ders., Neujahr 2002: »Arbeitsplätze zu erhalten und neue zu ermöglichen, ist mir und meinem Kabinett die vordringlichste Aufgabe. Auch und gerade in den neuen Bundesländern, wo junge Menschen 194
Spezies Totquatscher
Zukunftschancen in ihrer engeren Heimat finden wollen. Eine Aufgabe, die natürlich keine Bundesregierung alleine stemmen kann.«
ders., Neujahr 2003: »Morgen, am Neujahrstag, werden eine Reihe von Gesetzen in Kraft treten, die es den Menschen, die Arbeit suchen, einfacher machen, Arbeit zu bekommen. Das Ziel dieser Maßnahmen ist: Niemand, der arbeiten will, soll aufgrund bürokratischer Hemmnisse daran gehindert werden. Und niemand, der arbeiten kann, soll in Schwarzarbeit flüchten. Diese Gesetze werden, dessen bin ich sicher, der Anfang sein für eine neue Dynamik wirtschaftlicher Leistung in unserem Land.«
ders., Neujahr 2004: »Wir haben versucht, Arbeit und das Schaffen von Arbeitsplätzen attraktiver zu machen, um endlich aus der Phase der wirtschaftlichen Stagnation herauszukommen. Für manche von Ihnen, liebe Mitbürgerinnen, liebe Mitbürger, sind bestimmte Maßnahmen mit Einschränkungen oder Verzicht verbunden. Wir wissen das. Und ich versichere Ihnen: Wir bemühen uns, die Lasten heute gerecht zu verteilen, damit wir in Deutschland die Chancen auch morgen noch gerecht verteilen können.«
An Politikern und ihren Worthülsen können wir lernen, wie wenig menschliche Sprache mit Information zu tun haben muss. Am 20. März 2003 begann der Deutsche Bundestag pünktlich um 9 Uhr die »Sitzungsarbeit«. Wolfgang Thierse als Bundestagspräsident beginnt: »Meine Damen und Herren, heute Nacht hat der Krieg im Irak begonnen.« Damit konnte Franz Müntefering natürlich nicht rechnen, sein Manuskript noch umzuschreiben fehlt die Zeit, und so beginnt er seine Rede wenige Minuten nach Thierse: »Im Irak beginnt der Krieg.« Und weil die nachfolgenden Kolleginnen Angela Merkel und Katrin Göring-Eckardt es nicht noch mal explizit erwähnt haben, hebt Wolfgang Gerhardt in seinem ersten Satz hervor: »Vor wenigen Stunden hat ein Krieg begonnen.«
Auch der Rest der vier Beiträge war wenig erhellend. Wie ist es jetzt zu diesem Krieg gekommen? Ist er vom Himmel gefallen? Oder haben etwa die Amerikaner angegriffen? Nein, alle Fraktionen sind sich einig: 195
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»Die Bemühungen um eine friedliche Lösung hatten keinen Erfolg«, trauert Münte-
fering. »Wir alle haben gehofft, dass wir diesen Krieg nicht erleben müssen«, sagt Merkel, und fährt fort: »CDU und CSU bedauern sehr, dass es nicht gelungen ist, die Entwaffnung des Irak mit friedlichen Mitteln zu erreichen.« Auch die Grüne Göring-Eckardt sieht da eine Naturgewalt am Werk: »Alle Bemühungen, einen Krieg zu verhindern, waren nicht erfolgreich.« Nur der Freidemokrat Gerhardt hat eine Erklärung, was in der letzten Nacht passiert ist: »Der irakische Diktator Saddam Hussein ist – darüber will ich keine Unklarheit aufkommen lassen – die Ursache für die nun eingetretene Situation. Saddam Hussein ist nach Überzeugung der Freien Demokraten Täter und nicht Opfer.«
Alle vier Spitzenpolitiker sind in Gedanken beim armen irakischen Volk, das »trotz eines Krieges hoffentlich vor weiterem schweren Leid bewahrt werden kann« (Gerhardt). Aber die Gedanken sind dann auch gleich wieder – und etwas ausführlicher – bei den »Soldatinnen und Soldaten, die in einen schwierigen und gefährlichen Einsatz gehen« (Merkel). Von »Toten« oder »Verletzten« sprach übrigens niemand, nur von Opfern – was viel hingebungsvoller klingt, mit dem Hauch des Religiösen, des Unabwendbaren. Jetzt, da es endlich los geht und Deutschland nur von weit weg mitmachen muss, sind Fensterreden angesagt. Denn die Berater von Bush und Blair werten das genau aus und sagen ihren Chefs dann, ob Deutschland gerade brav ist oder weiter muckt. Politiker reden unablässig. Oder versuchen es wenigstens. Denn es ist ihr einziges Arbeitsinstrument, das ihnen bei der Karriere nutzt. Schon der ehrenamtliche Bürgermeister oder Fraktionsvorsitzende in ADorf muss bei der Eröffnung des Schützenfestes reden, bei der Einweihung der neuen Schul-Sporthalle oder anlässlich der Übergabe eines neuen Feuerwehrautos. Kein Kongress, keine Ausstellung, kein Sportfest und kein Kirchentag ohne Politiker-Gesalber. Doch das Wichtigste an Politiker-Äußerungen ist ihre Wahrnehmung durch die Bürger. Weil die Kreise der Veranstaltungsteilnehmer immer klein sind, braucht der 196
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Profi-Politiker die Medien: er muss mit Interviews, Leserbriefen oder Kolumnen etwas kund tun. Dummerweise müssen Politiker dafür nicht einmal immer selbst aktiv werden. Brav werden sie von Journalisten zu jedem erdenklichen Thema befragt. Müssen alle anderen Bürger Fachkompetenz nachweisen, bevor sie sich zur Sommerhitze, dem Pisa-Test oder der Größe der Bundeswehr erfolgreich äußern können, reicht bei Politikern ein Parteiamt oder Mandat. !
Da kreist ein Depp aus Liebeskummer mit seinem kleinen Flugzeug um den Frankfurter Messeturm. Postwendend fordern Politiker, man müsse die Gesetze ändern, um die Bundeswehr auch im Inneren einsetzen zu können – und ein Jahr später tun sie dies dann tatsächlich, wenn auch recht verstandfrei, wie die Kritik der Bundeswehr selbst recht überzeugend dargelegt hat. (Kurz: die gesetzlich getroffenen Regelungen sind überwiegend nicht umsetzbar, weil Kampfflugzeuge der Bundeswehr nun mal dafür nie konzipiert worden sind.)
!
Bei einem Zugunfall werden einige Passagiere verletzt. Jedes Mal finden sich Klabauter, die eine Gurtpflicht für Zugreisende fordern. Dabei verletzten sich weit mehr Menschen, die betrunken vom Kneipenstuhl fallen. Aber das ist egal. Was gerade Medienthema ist, garantiert Politikern Aufmerksamkeit.
!
Angela Merkel wird gefragt, was sie denn von den Vorschlägen der Hartz-Kommission zum Arbeitsmarkt meine. Antwort: »Angesichts der unklaren Gefechtslage kann ich dazu noch nichts sagen.« Vielleicht hat sie ja doch mal wieder den Kosmos-Atombaukasten unterm Sofa hervorgekramt oder in bester Styling-Absicht mit dem Fön gebadet. Denn: Normal is dat nich.
Wie sollte so was eigentlich laufen? Meinetwegen kommt ein Politiker erst mit der mediendurchgekauten Entführung von deutschen 197
Verbannung nach Helgoland
Touristen in der Sahara auf das Thema: wer soll eigentlich für öffentlich finanzierte Hilfsdienste wie Geiselbefreiungen zahlen? Aber wenn ein solcher Politiker wirklich an Fortschritt, an Entwicklung interessiert wäre, dann würde er sich erst einmal schlau machen, bevor er eine Pressemitteilung verfassen ließe. Und er würde dabei feststellen, dass sich diese Frage in sehr vielen Zusammenhängen stellt: schließlich hatten wir ebenso medienwirksam schon die Debatte um die Finanzierung von Polizeieinsätzen bei Fußballspielen; man kann sich fragen, was von der Solidargemeinschaft getragen werden und was von jedem einzelnen Aktionsprofiteur bezahlt werden soll. Aber man würde schon mit einem Ameisen-IQ auch auf parallele Fragen stoßen: Muss eigentlich derjenige, der die Schule abgebrochen hat, keinen Ausbildungsplatz findet und deshalb durch »berufsvorbereitende Maßnahmen« geschleust wird, diese Hilfe bezahlen, irgendwann einmal? Und wie war das mit dem Bafög? Und den Studiengebühren insgesamt? Wie ist das beim Feuerwehreinsatz zur Rettung der Katze auf dem Dach? Wie beim Austausch einer Säufer-Leber? Wie bei der Behandlung eines alkoholgeschädigten Säuglings? Wer zahlt die Vereitelung eines Selbstmordversuchs? Wer das Jahr längeren Schulaufenthalts wegen Sitzenbleibens? Verantwortung ist doch wohl mehr, als nicht durch die Sahara zu düsen. Wer haftet für die Verblödung der Jugendlichen durch »Marienhof«, »Verbotene Liebe« und »GZSZ«? Für dieses erbärmliche Bild von Partnerschaft, gesellschaftlichem Erfolg und Political Correctness, das hier gezeichnet wird? Wo haftet jemand für seine unverantwortliche weil völlig bildungs- und substanzfreie Wahlentscheidung? Aha, die Ameise merkt: mit einem Rülpser allein wird es hier nicht getan sein. Politiker aber dürfen rülpsen. Dann verfassen sie oder lassen sie verfassen eine Pressemitteilung (PM). Das geht schön schnell, ist bequem 198
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zu transportieren (Rundfax) und macht Politiker oder ihre Schreiber zu Dichtern. Die PM inszeniert eine politische Äußerung, einen Beitrag zum wichtigen gesellschaftlichen Diskurs, und verfolgt doch nur das Ziel, möglichst oft gedruckt oder erwähnt zu werden – selbstredend mit recht unterschiedlichem Erfolg. Da die Pressemitteilung – lehrbuchmäßig wenigstens – im Stil einer journalistischen Nachricht geschrieben wird, textet man sich selbst am besten knackige »Zitate« zusammen, um kolportiert zu werden. Sehr schön Frau Hasselfeldt zum Beispiel – ja, genau die da, welche mal für einige Monate Bundesraum- und danach für noch weniger Monate Gesundheitsministerin war. Sie möchte möglichst viele Schweine pro Betriebshaltungsmeter haben, weil das gut für Deutschland ist. Dafür verzichtet sie sogar aufs eigene Denken und überlässt dies Brüssel, wo sich ja die Intelligenzelite ganz Europas kumuliert, wie wir wissen, weshalb dann auch Blockade deutscher Aktivitäten als Rettung daherkommen kann. Und das liest sich dann so: »Neue Wettbewerbsnachteile für deutsche Landwirte? MdB Hasselfeldt kritisiert Entwurf zur Schweinehaltungsverordnung Landkreis Fürstenfeldbruck/Dachau – Bundesministerin Künast hat erneut ihre umstrittene Schweinehaltungsverordnung weitgehend unverändert in den Bundesrat eingebracht, obwohl sie bereits im vergangenen Jahr mit ihrem Entwurf dort gescheitert war. »Auch der neue Entwurf zur Umsetzung der EU-Richtlinie zur Schweinehaltungsverordnung beinhaltet nach wie vor unzumutbare Wettbewerbsnachteile für die deutsche Landwirtschaft«, kritisiert die Stellvertretende Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Gerda Hasselfeldt. Vergangenes Jahr hatte der Bundesrat den ersten Entwurf stoppen können, weil die Bundesregierung in ihrer Vorlage an etlichen Stellen vom EU-Recht abwich. Zwar hat Ministerin Künast in ihrem jetzigen Vorschlag einige Forderungen des Bundesrates übernommen. In zentralen Punkten wie beim Platzbedarf, der Spaltenbreite im Boden oder der Stallbeleuchtung geht auch der neue Regierungsentwurf weit über die EU-Vorgaben hinaus. Beim Platzbedarf wird der von der EU vorgeschriebene Wert beispielsweise um 50 Prozent überschritten. Die Union fordert dagegen die Eins-zu-Eins-Umsetzung der EU-Richtlinie. 199
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»Für uns gibt es keinen Grund, etwas an der Vorlage aus Brüssel zu verändern. Schließlich hat die EU ihre Nutztierhaltungsverordnung auf wissenschaftliche Erkenntnisse gestützt«, so die Bundestagsabgeordnete Hasselfeldt: »Hierzu gehören auch Gesichtspunkte des Tierschutzes. Künast’s Vorschläge jedoch treiben die Produktionskosten für die Betriebe in die Höhe und bringen keine nachweisbaren Vorteile für das Wohlbefinden der Tiere.««
Der Versuche, sich irgendwie als politisch wichtig zu inszenieren, gibt es viele. Frau Mantel von der CSU, einige Monate zuvor nur unbedeutend unbekannter als das vom Himmel gefallene neue Staatsoberhaupt, empfiehlt sich mit nur 124 Wörtern überzeugend als wahlkreisverbundene Frau von Welt mit brillanter Analysekompetenz: Dorothee Mantel gratuliert Horst Köhler Dorothee Mantel war eine der Ersten, die Horst Köhler nach seiner Wahl zum Bundespräsidenten gratulieren konnte. Sie wünschte dem nächsten Bundespräsidenten viel Glück im neuen Amt, und brachte ihren Wunsch zum Ausdruck, ihn bald im Landkreis Hassberge begrüßen zu können. Dorothee Mantel gehört als Bundestagsabgeordnete der Bundesversammlung an und konnte Horst Köhler deshalb direkt mitwählen. »Am meisten beeindruckt mich, wie Horst Köhler es aus kleinen Verhältnissen zum Direktor des Internationalen Währungsfonds und jetzt zum Bundespräsidenten geschafft hat,« sagte Dorothee Mantel nach der Wahl. »Horst Köhler hat durch seine früheren Tätigkeiten wirtschaftlichen Sachverstand, aber er weiß aus eigener Erfahrung genau, dass sich Realität nicht in theoretischen Modellen ausdrücken lässt.« Besonders von seiner Rede mit den Worten »Ich liebe unser Land« zeigte sich Mantel sehr beeindruckt.
Sicherheitshalber noch mal deutlich: Das ist nicht der Text eines freien Schülermitarbeiters einer Lokalpostille, es ist das Werk des Abgeordnetenbüros Dorothee Mantel. So wie die folgende Schreibübung zu Konjunktiv I und II mit der indirekten Zitation eines gewissen Cajus Julius Caesar aus dem Hause Cajus Julius Caesar stammt: »Kreis Lippe/Lemgo. »Wenn jetzt der Landratskandidat der SPD, aber auch der SPD Stadtverband Lemgo der Union auf Bundesebene Blockade und doppelbödiges Spiel vorwerfen, so geht dieses völlig an der Sache und am Bürger vorbei«, so der CDU Bundestagsabgeordnete Cajus Caesar. »Bürger und Betriebe können sich glücklich schätzen, dass die 200
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Union die 41 Steuererhöhungsmaßnahmen der von SPD und Grünen geführten Bundesregierung aufgehalten hat«. Wenn hier seitens der SPD Lippe und Lemgo davon gesprochen werde, dass das ursprünglich von der rot-grünen Koalition vorgelegte Gesetz das dreifache an Mehreinnahmen im Verhältnis zur jetzigen Regelung bedeutet hätte, so müsse dabei betrachtet werden, dass dieses Geld nicht etwa vom Himmel falle, sondern von Bürgern und kleinen Betrieben aufgebracht werden müsse.«
Auch Experten-Kompetenz lässt sich in Pressemitteilungen schnell erwerben: »7.06.04 – Die Fischereiexpertin der FDP-Bundestagsfraktion, Dr. Christel HappachKasan, erklärt [...]« »18.06.04 – Zur Beratung des FDP-Antrages »Stopp der Bauernspione« im Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft erklären der agrarpolitische Sprecher, Hans-Michael Goldmann, und die Pflanzenschutzexpertin der FDP-Bundestagsfraktion, Dr. Christel Happach-Kasan: [...]« »23.07.2004 – Die Forstexpertin der FDP Bundestagsfraktion, Dr. Christel HappachKasan, erklärt zur Antwort der Bundesregierung auf die kleine Anfrage »Holznutzung aus nachhaltiger Forstwirtschaft«: [...]« »3.08.04 – Zur Stellungnahme der EU-Kommission zum Entwurf des Gentechnikgesetzes der Bundesregierung erklärt die Gentechnikexpertin der FDP-Bundestagsfraktion, Dr. Christel Happach-Kasan: [...]«
Pressemitteilungen geben aber selbstredend nicht nur Politiker heraus, sondern auch alle anderen Artisten in ihrem Umfeld – und selbstredend Institutionen. Der Deutsche Bundestag etwa: »Dringender Handlungsbedarf bei »Totem Winkel« bei Lastkraftwagen Die Kinderkommission hat sich in den vergangenen Wochen intensiv mit dem Problem des »Toten Winkels« bei Lkw befasst. Der »Tote Winkel« umschreibt in diesem Zusammenhang den Bereich, den ein Lkw-Fahrer rechts neben seinem Lkw nicht einsehen kann. Trauriger Anlass für die Thematisierung des »Toten Winkels« sind Verkehrsunfälle – oft mit tödlichem Ausgang –, die dadurch verursacht worden sind, dass rechtsabbiegende Lkw andere Verkehrsteilnehmer, insbesondere Fahrradfahrer, durch den »Toten Winkel« bedingt übersehen haben. Der »Tote Winkel« ist zwar eine Bedrohung für Verkehrsteilnehmer jeden Alters; aufgrund ihrer Größe und ihrer Unerfahrenheit sind Kinder in besonderem Maße gefährdet. 201
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Vorsitzende Ingrid Fischbach, MdB: »Da die Welle der Unfälle nicht abreißen wird, solange keine Änderung bei den vorgeschriebenen Sichtfeldern erfolgt, sieht die Kinderkommission dringenden Handlungsbedarf. Umso mehr begrüßt die Kinderkommission die Initiative der Bundesregierung, die darauf abzielt, den neuen, auf Europäischer Ebene geltenden Vorschriften, die erst ab 2007 für neu in den Verkehr kommende Lkw mit über 7,5 Tonnen Gewicht gelten, bereits zu einem früheren Zeitpunkt Geltung zu verschaffen und den Anwendungsbereich für die erweiterten Sichtfelder auszuweiten.« Die Kinderkommission sieht besonderen Handlungsbedarf [...]«
Wir Bürger sehen da nur noch den Handlungsbedarf, unsere Politiker zu ihrer lebendigen Weitsicht zu beglückwünschen und ihnen für ihr rasches Handeln schon wenige Stunden nach Entdeckung des »Toten Winkels« zu danken (und nebenbei Spediteuren, die nicht längst von sich aus Spiegel am LKW haben, in denen man auch was sieht, so in den Arsch zu treten, dass sie fortan für den Transport ihres eigenen Gesäßes Maut zahlen müssen). Zu den Highlights des täglichen Pressemitteilungsoutputs gehört zweifelsfrei alles aus dem Hause des Bundesministeriums für Gesundheit und Soziale Sicherung, von Kryptologen regelmäßig als Codiervorlage genutzt: »Zu einer Erklärung des Vorsitzenden der Arbeitsgruppe Gesundheit und Soziale Sicherung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Andreas Storm, und der gesundheitspolitischen Sprecherin der CDU/CSU- Bundestagsfraktion, Annette Widmann-Mauz, die elektronische Gesundheitskarte betreffend, sagt der Sprecher des Bundesgesundheitsministeriums Klaus Vater: Das auch von CDU/CSU beschlossene Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung ist Grundlage der Einführung der elektronischen Gesundheitskarte. Die Vorarbeiten zur Einführung der elektronischen Gesundheitskarte sind im Zeitplan. Das bestätigen nicht zuletzt die sachkundigen Repräsentanten von IBM. Ständige Hinweise auf Toll Collect zeigen in diesem Zusammenhang lediglich, dass manche weder die Technologie der Gesundheitskarte noch die organisatorische Umsetzung und die damit verbundenen Verantwortlichkeiten verstanden haben. 202
Spezies Totquatscher
Zu Verdächtigungen oder dunklen Andeutungen die Einführung der Karte betreffend besteht kein Anlass. Es wäre vielmehr angebracht, die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte nach Kräften zu unterstützen statt zu jammern und zu wehklagen.«
Vater kann aber noch kryptischer (ungekürztes Original vom 5. September 2002): Zur Versachlichung der Diskussion über die ABM/SAM – Praxis im Jahr 1998 erklärt das Bundesarbeitsministerium: Die Fakten sprechen diese Zahlen (Teilnehmerzahlen in Tausend): ABM
SAM
Januar 98 131,5 Februar 98 129,1 März 98 135,9 April 98 152,2 Mai 98 175,7 Juni 98 209,1 Juli 98 240,5 August 98
Januar 02 128,7 Februar 02 123,1 März 02 118,5 April 02 117,5 Mai 02 117,2 Juni 02 118,6 Juli 02 122,3 August 02
Januar 98 104,4 Februar 98 110,4 März 98 114,0 April 98 156,0 Mai 98 172,6 Juni 98 187,3 Juli 98 196,7 August 98
Januar 02 69,7 Februar 02 69,1 März 02 68,6 April 02 67,7 Mai 02 67,1 Juni 02 66,5 Juli 02 65,0 August 02
262,3 September 98 281,5 Oktober 98 298,1 November 98 301,5 Dezember 98 277,4
126,4
205,6 September 98 215,0 Oktober 98 221,7 November 98 226,5 Dezember 98 227,1
64,2
203
Verbannung nach Helgoland
Wenig kryptisch geht es gemeinhin im Bundestag zu. Dort wirft man sich gegenseitig stereotyp Beschimpfungen an den Kopf, quatscht jedem Redner dazwischen und verlässt sich dabei als guter Volksvertreter auf das Bauchgefühl. Wenn Sie mögen, schauen wir uns gemeinsam mal einen Verhandlungspunkt an. Es geht um die Nutztierhaltung, vor allem um Schweine, genaugenommen vor allem Sauen und Ferkel. Hilfreich ist es, zuvor kurz zu überlegen, warum der Bundestag überhaupt die Haltung von Schweinen debattieren sollte und was man als Bürger von den »Beratungen« erwarten darf. In Deutschland werden rund 26 Millionen Schweine gehalten, bis auf wenige Ausnahmen zusammengepfercht zu gigantischen Massen. In Niedersachsen gibt es ziemlich exakt so viele Schweine wie Menschen, nämlich 7,9 Millionen. Wenn Sie dennoch bei Fahrten über die A 31 oder die A 28 keine Schweine erblicken, Ihnen bei einer Fahrradtour durch das Emsland oder beim Bummel durch Vechta und Cloppenburg dennoch kein nackthäutiges Borstenvieh begegnet, kann man die Haltungsform unserer Schnitzel- und Wurstlieferanten erahnen. Und auch, warum es so viele Vorschriften allein für die Schweinehaltung gibt. Sie dürfen zum Beispiel kein Schwein im Garten halten, ohne dass es Ihnen die zuständige Behörde erlaubt. Jedes Schwein ist meldepflichtig, und wenn es auch noch an die Luft gehen dürfen soll, braucht es eine Extragenehmigung, eine »doppelte Einfriedung« ist unerlässlich. Sie dürften Ihr Schwein auch nicht mit Essensresten füttern! Die müssten zuvor nämlich laut Viehverkehrsverordnung in einer zertifizierten Speiseresteverarbeitungsanlage unter 3 Bar Druck eine Stunde lang bei 90 Grad keimfrei gemacht werden. Nein, vergessen Sie's, Ihre Küche, aus der diese Reste gerade frisch stammen, wird nicht in den Bundesverband der Nahrungsmittel- und Speiseresteverwertung e.V. (BNS) aufgenommen. 204
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Es ist natürlich noch viel mehr vorgeschrieben: Wo die Schutzkleidung zu hängen hat, die man ja so zum Besuch eines Schweins braucht, was Sie an Verbotsschildern anzubringen haben, und dass Ihr Schwein natürlich nur solo zum Schlachthof fahren darf, weil ihm der Kontakt mit anderen Tieren aus anderen Sippen gänzlich verboten ist. Der ganze Quatsch hat freilich nichts mit Tierschutz zu tun: ein nicht ganz so krank gezüchtetes Schwein fällt nicht gleich stressgetötet um, wenn ein Mensch in seinen Stall kommt. Auch die ewig angeführte Angst vor der Schweinepest, die ja vor allem von den Wildschweinen verbreitet wird, die jeder Hausbesitzer aus seinem Garten kennt und die auch sonst permanent die Wege nahe unserer menschlichen Behausungen kreuzen, ist albern: Wenn mein eines Gartenhausschwein tatsächlich die Schweinepest bekommt, dann ist es eben so. Schade für das Tier, schade für meine Gefriertruhe, die leer bleiben muss. Aber mehr passiert auch nicht – aber bitte, Ihnen muss ich das ja nicht erklären, und Beamten will ich es nicht erklären, weil sie irgendwo kurz vor oder nach dem Eid aufs Vaterland wohl auch die Treue gegen jede Form von Erkenntnis geschworen haben. Der ganze Quatsch dient nur der Massentierhaltung, also den wenigen Großbetrieben. Das ist halbwegs wichtig, um die im Folgenden präsentierte Bundestagsdebatte richtig einzuordnen. Zur Diskussion stand ein FDP-Antrag, in eine neue deutsche Verordnung zur Haltung von Nutztieren die Vorgaben einer alten Europäischen Verordnung zu übernehmen. Schließlich muss ja jede EU-Richtlinie erst noch mit Parlamentsbeschluss in nationales Recht umgewandelt werden. Dabei dürfen in diesem Fall die EU-Standards nicht unter-, sehr wohl aber überschritten werden. Denn – so die Europäische Glaubensformel in Kurzform: Ein jedes Land kann bestimmen, was es will, soweit es nicht den Wettbewerb der anderen Länder behindert. Sprich: Deutschland kann zwar die Käfighaltung von Hennen verbieten, nicht aber die Einfuhr solcherart gelegter Eier. 205
Verbannung nach Helgoland
Nun aber zur Debatte im Bundestag am 30. Januar 2003, zu der man Schülern die Aufgabe geben würde: »Unterstreiche mit rot alle Aussagen, die dem politischen Gezänk zuzuordnen sind, und grün die Passagen, die sich ersichtlich mit der Haltung von Nutztieren beschäftigen. Den Rotstift kann ich dir ggf. leihen, den Grünstift brauchst du nicht.«
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-Michael Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan, Gudrun Kopp, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP EU-Richtlinie zur Haltung von Nutztieren in nationales Recht umsetzen – Drucksache 15/226 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft (f ) Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die FDP fünf Minuten erhalten soll. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als Erster der Abgeordnete Hans-Michael Goldmann. Hans-M Michael Goldmann (FDP): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Minister Bartels aus Niedersachsen, (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Noch-Minister!) ich freue mich uneingeschränkt, dass Sie heute hier sind. Dass ich mich auch freuen würde, wenn Sie nach den Wahlen am kommenden Sonntag nicht 206
Spezies Totquatscher
mehr Minister in Niedersachsen wären, werden Sie mir sicherlich nicht übel nehmen; (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) denn ich gehöre einer anderen Partei an. Aber ich finde es gut, dass Sie sich dem Thema der Tierhaltung zuwenden. Ich weiß auch, welche Position Sie in dieser Frage haben. Auch wenn es der eine oder andere noch nicht gemerkt hat: Wir nähern uns jetzt dem absoluten Höhepunkt des heutigen Plenartages; denn wir waren mit dem jetzt zur Diskussion stehenden Thema nicht nur in der britischen »Times«, sondern auch in vielen anderen Europäischen Medien vertreten. Die Überschriften waren ein bisschen verwirrend. Eine lautete zum Beispiel: »Müssen Schweine Basketball spielen?« – Worum geht es? Es geht um die Umsetzung einer Europäischen Richtlinie zur Haltung von Nutztieren in nationales Recht. Das hätte die tierschutzorientierte rot-grüne Bundesregierung eigentlich schon bis zum November 2001 tun müssen. Aber leider hat sie wie so oft bei diesem Thema kläglich versagt. (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Warum ist denn Frau Künast nicht da? Sie könnte bei diesem Thema noch etwas lernen! – Zuruf von der SPD: Das haben wir von Euch gelernt!) Nein, Herr Kollege, das hat Ihre Regierung nicht von uns gelernt. Ich hoffe, dass Sie so etwas nicht ernsthaft behaupten; denn das, was ich angesprochen habe, ist ja erschreckend. Es ist nach unserem Verständnis absolut notwendig, die Europäische Richtlinie eins zu eins in nationales Recht umzusetzen; denn es macht keinen Sinn, nationale Alleingänge zu machen. Solche führen nur zu Verunrechtlichung und dazu, dass eine gesetzliche Grundlage für einen vernünftigen Tierschutz in Deutschland nicht mehr gegeben ist. (Beifall bei der FDP) 207
Verbannung nach Helgoland
Das hat gerade das Beispiel einer Auseinandersetzung vor einem Gericht in Minden gezeigt. Dort hat ein Schweinehalter gegen das Land NordrheinWestfalen prozessiert und gewonnen. Es wurde festgestellt, dass das Land regionales Sonderrecht geschaffen hat. Solche regionalen Sonderrechte sind häufig auch weit entfernt von jeder Form von Fachlichkeit. Das liegt daran, dass sehr viele Menschen überhaupt keine Ahnung davon haben, welchen Anspruch Tiere bei der Haltung haben. Das gilt vor allen Dingen für die Grünen, die dieses Thema immer in eine bestimmte ideologische Richtung schieben und die beispielsweise suggerieren, dass sich Schweine darüber freuten, wenn sie auf Stroh lägen. Das ist überhaupt nicht der Fall. Schweine spielen mit Stroh, legen sich aber nicht ins Stroh, weil sie es als störend empfinden. Es gibt auch eine Diskussion darüber, wie viel Fläche einem Schwein zur Verfügung zu stellen ist. Die Grünen behaupten, dass Schweine besonders viel Fläche bräuchten. Auch das ist falsch. Das Schwein ist nämlich kein Läufer. Es ist ein Tier, das sich außerordentlich ungern bewegt. Wenn es sich bewegt, dann nur, um Nahrung zu suchen.
[Hier wollen wir Herrn Goldmann kurz unterbrechen. Sein ganzes Anliegen ist, das nationale Parlament und erst recht die Landesparlamente oder gar noch kleinere Untergliederungen abzuschaffen, obwohl er – leicht bizarr – neben »MdB« auf seine Visitenkarte auch schreiben darf, zugleich Ortsbürgermeister und Ortsratsmitglied von Aschendorf, Kreistagsmitglied des Emslands und Stadtrat von Papenburg zu sein. Denn: die EU hat mal wieder entschieden, und zwar schon vor 10 Jahren. Also bitte: kein eigenes Denken in Deutschland! Keine eigenen Überlegungen, wie wir Schweine oder Hühner oder Rinder gehalten sehen wollen. Inhaltlich wollen wir Goldmann kaum widersprechen, schließlich ist er Tierarzt. Natürlich sind Schweine schweinefaul, von Waldwegen muss man sie gelegentlich mit dem Traktor wegschleifen, so träge liegen sie da auf üppigen 1,64 qm Bodenfläche, wie es die EU Richtlinie für »gedeckte Jungsauen« vorschreibt. Und weil sie sich nur zur Nahrungs208
Spezies Totquatscher
suche bewegen, aber zum Beispiel nicht, um ins Schlachthaus zu laufen, sollte man sie eigentlich direkt im Tiertransport-LKW züchten, um sie nicht beim Verladen tierschutzwidrig zur Bewegung zu zwingen. Auch das mit dem Stroh ist überzeugend, probieren Sie es selbst aus: Stroh oder Betonplatte. Kein Zweifel: das Stroh piekst mehr. Herr Goldmann, bitte fahren Sie fort!] Deswegen muss in einer solchen Richtlinie fachlich korrekt festgeschrieben sein – (Zuruf von der SPD: Wo haben Sie denn Ihre Erfahrung her?) Lieber Kollege, ich spreche vor dem Hintergrund eines reichen Erfahrungsschatzes; denn ich habe im Bereich Tiermedizin geforscht und ich fand den Umgang mit diesen Tieren hochinteressant. Lieber Kollege, wir haben an der tierärztlichen Hochschule schon zu einem Zeitpunkt bei Schweinen Lebertransplantationen vorgenommen, als die Humanmedizin von Lebertransplantationen noch geträumt hat. Erzählen Sie mir also nichts über die Qualität dieser Tiere! (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Akzeptieren Sie vielmehr einfach einmal, dass diese Tiere bestimmte Ansprüche haben und dass man dafür sorgen muss – das wäre Ihre Verpflichtung gewesen –, dass diese Tiere – nebenbei gesagt, sie sind sehr intelligent – tiergerecht gehalten werden. Sie haben die Haltung dieser Tiere mit Verordnungen und Bestimmungen überzogen, die weder fachlich noch sachlich sind. (Lachen bei Abgeordneten der SPD) Ich weiß nicht, warum Sie an dieser Stelle lachen. Sie scheinen diesem Thema nicht so interessiert gegenüberzustehen, wie es eigentlich nötig ist. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Wir haben ausschließlich über Sie gelacht!) 209
Verbannung nach Helgoland
Soweit ich weiß, sind Sie Mitglied in dem Ausschuss, in dem diese Dinge entschieden werden. Sie scheinen nicht verstanden zu haben, wie dramatisch die Auswirkungen dieser EU-Richtlinie für deutsche Tierhalter und für die Landwirtschaft sind. Lieber Kollege, ich bin dafür, dass die Regionen, in denen eine zukunftsorientierte Landwirtschaft und in denen eine zukunftsorientierte Tierhaltung betrieben wird, auf dem Markt bleiben. Die Region Vechta – Herr Bartels kommt dort her – hat das höchste wirtschaftliche Wachstum aller niedersächsischen Regionen. Das ist so, weil man in diesem Bereich nach wie vor eine kluge, marktorientierte Agrarpolitik betreibt, und daran wollen wir festhalten. (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Der Herr Minister Bartels wird Ihnen gleich sagen, dass die FDP und er in diesem Punkt völlig einer Meinung sind. Außerdem wird der Minister Ihnen gleich sagen, dass er das, was die Grünen seiner Landespolitik antun, ganz furchtbar findet. Das hat er bei jeder Veranstaltung mit Landwirten – wir haben solche Veranstaltungen zum Teil gemeinsam wahrgenommen – gesagt. Die Front verläuft nicht zwischen uns und ihm, sondern zwischen Ihnen und den Grünen, weil die Grünen eine rein ideologische Politik verfolgen, (Beifall des Abg. Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]) die eine zukunftsfähige Agrarwirtschaft in Deutschland im Grunde genommen mit Füßen tritt. Deswegen haben wir diesen Antrag vorgelegt. (Beifall bei der FDP) Stimmen Sie unserem Antrag ganz einfach zu! Sorgen Sie endlich dafür, dass – an dieser Stelle ist das sinnvoll und klug – Europäisches Recht in nationales Recht umgesetzt wird! Tun Sie endlich etwas für den Tierschutz in diesem Bereich! Tun Sie etwas dafür, dass die deutschen Schweinehalter und die 210
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deutschen Schweinezüchter, die tüchtige Leute sind, Investitionssicherheit haben und dass dieser Markt den Deutschen erhalten bleibt. Herzlichen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
[Das ist Rhetorik, oder? Keine höheren Anforderungen an die Tierhaltung ist Tierschutz, und wir klopfen noch schnell den Agrarindustriellen auf die Schulter: tüchtige Deutsche sind sie, brav. Fehlt nur noch mal die explizite Erwähnung von Arbeitsplätzen, die verloren gingen, dürften deutsche Hybridschweine Frischluft schnuppern.] Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Jetzt hat der niedersächsische Landwirtschaftsminister Uwe Bartels das Wort. Uwe Bartels, Minister (Niedersachsen): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das scheint hier eine niedersächsische Veranstaltung zu werden. Ich will versuchen, die Diskussion auf die nationale Ebene zu heben. Klar ist – das will ich gleich unmissverständlich sagen: Deutschland muss handeln in Sachen Regelungen zur Haltung von Schweinen. (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr richtig!) Da gibt es dringenden Handlungsbedarf, insbesondere nachdem die Schweinehaltungsverordnung im November des letzten Jahres aufgehoben worden ist. Seitdem fehlen bundeseinheitliche Regelungen. Darüber, dass dringender Handlungsbedarf besteht, gibt es gar keinen Streit; das haben wir alle miteinander festgestellt. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Rot-Grün hat nichts getan!) 211
Verbannung nach Helgoland
Natürlich hat die Aufhebung der Schweinehaltungsverordnung Konsequenzen gehabt, die für uns als diejenigen, die für die Durchführung vor Ort zuständig sind, nicht immer erfreulich waren. Man muss ganz klar sagen: Über uns schwebt das Damoklesschwert eines Vertragsverletzungsverfahrens, weil die EU-Richtlinie nicht fristgerecht umgesetzt worden ist. Aber das ist in der Bundesrepublik ja nichts Neues. Das war ja auch bei der Vorgängerregierung schon so.
[Herrn Bartels wollen wir hier ein wenig straffen] Ich brauche ja nur den Präsidenten des Deutschen Bauernverbandes, Herrn Sonnleitner, zu zitieren, Herr Schirmbeck, der gesagt hat: Bartels steht für Wettbewerbsfähigkeit und Marktorientiertheit der niedersächsischen Landwirtschaft. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das ist kein unbedeutender Mensch, keiner, der den Sozialdemokraten angehört. Dessen Urteil ist fundiert und trifft zu. Ich kann nur wiederholen, dass ich froh darüber bin, dass er das erkannt hat. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Nur leider tanzen Ihnen die Grünen auf der Nase herum!) Sie wissen ja, dass bei Landwirten Schweigen die höchste Form von Zustimmung ist. Wenn dann der oberste Bauernpräsident sagt, das ist gut, kann man sich darüber nur freuen. Wir haben also die Dinge auf dem Erlasswege geregelt. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Können Sie nicht auf dem Erlasswege regeln!) Aber selbstverständlich. – Wir brauchen aber ganz klar und eindeutig Vorschriften, die über die EU-Vorgaben nicht hinausgehen. (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Jawohl! – Hans-Michael Goldmann [FDP]: Eins zu eins!) 212
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Nicht deutlich hinausgehen. Hören Sie genau zu. Sie nehmen Ihre Zustimmung zurück, wenn ich das gleich weiter ausführe. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Wollen Sie weniger?) Ich will damit nämlich nicht sagen, dass ich mit allen Details in der Europäischen Richtlinie einverstanden bin. Das muss ich hier ganz klar und deutlich sagen. Meine fachliche Kritik bezieht sich zum Beispiel auf die Definition eines ausreichenden Tageslichteinfalls und auch auf die Problematik der Platzanforderung insbesondere für Mastschweine. Herr Goldmann, auch wenn Sie Veterinär sind, Sie liegen nicht richtig. Das, was ich Ihnen jetzt sage, beruht auf wissenschaftlichen und praktischen Erkenntnissen in Niedersachsen. Sie liegen nicht richtig, wenn Sie sagen, jüngere Mastschweine hätten kein Bewegungsbedürfnis. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Habe ich überhaupt nicht gesagt!) Gerade die haben ein entsprechendes Bewegungsbedürfnis. Gerade bei denen müssen wir zusehen, dass die Platzerfordernisse angemessen berücksichtigt werden. (Zurufe von der SPD: Hört! Hört! – Hans-Michael Goldmann [FDP]: Stimmt doch gar nicht!) Aber selbstverständlich. Sehen Sie, meine Damen und Herren, der biegt sich die Wahrheit so hin, wie er sie gerne haben möchte. Aber das ist manchmal so bei der FDP. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Wofür haben Sie denn gestimmt?) [...] 213
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Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Carstensen? Uwe Bartels, Minister (Niedersachsen): Wenn Herr Carstensen fragen möchte, bin ich immer gern bereit. Peter H. Carstensen (Nordstrand) (CDU/CSU): Ich wollte auf jeden Fall die Gelegenheit noch einmal nutzen, Herr Minister. Uwe Bartels, Minister (Niedersachsen): Wollen Sie aus dem Bundestag ausscheiden? Peter H. Carstensen (Nordstrand) (CDU/CSU): Nein! (Heiterkeit – Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Aber wenn ich in die Zukunft schaue, weiß ich nicht, ob ich Sie in dieser Richtung noch einmal sehe. Das ist das Problem. Uwe Bartels, Minister (Niedersachsen): Haben Sie Vertrauen! Peter H. Carstensen (Nordstrand) (CDU/CSU): Genau das haben wir! (Heiterkeit bei der CDU/CSU) Herr Minister, wenn Sie in Niedersachsen so gute Arbeit leisten – dazu möchte ich im Moment nichts sagen – und von Herrn Sonnleitner so gelobt werden,
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(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Tut er ja gar nicht!) können Sie mir dann einen Grund sagen – denn das habe ich in Ihrer Rede noch nicht gehört –, warum Sie nicht der SPD-Fraktion und meinetwegen auch den Grünen hier im Bundestag empfehlen, dem Antrag der FDP zuzustimmen? (Beifall des Abg. Ernst Burgbacher [FDP]) Uwe Bartels, Minister (Niedersachsen): Herr Abgeordneter, ich wollte gerade in dem Schlussteil meiner Rede deutlich machen, was der Bundestag bei seiner Entscheidung über den FDPAntrag insgesamt berücksichtigen sollte. [...] Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Gitta Connemann. Es ist ihre erste Rede. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Gitta Connemann (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch ich komme wie Herr Bartels aus Niedersachsen. Vor 50 Jahren zählte der Nordwesten unseres Landes zu den Armenhäusern Deutschlands. Danach setzte ein einzigartiger Aufschwung ein. Heute gelten Landkreise wie zum Beispiel das Emsland, Cloppenburg und Vechta als Vorzeigeregionen. Einer der Hauptmotoren für das Wachstum war und ist die Veredlungswirtschaft, insbesondere die Geflügel- und Schweinehaltung durch landwirtschaftliche Betriebe. Denn rund um diese haben sich Dienstleister, Gewerbe und Industrie angesiedelt. Nachdem die Kommunen auch durch die Politik der Bundesregierung vor dem Kollaps stehen, sind die Landwirte dort für das Bauhandwerk die entscheidenden Investitionsträger. 215
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Allein in einem Landkreis wie zum Beispiel dem Emsland beläuft sich die Gesamtbruttowertschöpfung der Landwirtschaft und ihrer nachgelagerten Bereiche auf circa 820 Millionen Euro. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Zudem hat sich in diesen Regionen ein erhebliches Know-how in Forschung, Entwicklung und Beratung angesammelt, geballte Kompetenz, die auch dazu genutzt worden ist, den möglichen Belastungen der Intensivtierhaltung für landwirtschaftliche Betriebe. Gesundheit, Umwelt und Tier entgegenzuwirken, nachweisbar und wirtschaftlich tragbar. Die Landwirte und ihr Umfeld erbringen Leistungen, anders als die Bundesregierung. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Obwohl die genau so viel Mist machen!) Deren Aufgabe wäre es gewesen, bis zum 1. Januar 2003 die EU-Richtlinie in nationales Recht umzusetzen. Was ist aber passiert? Nichts. Das ist ein Novum bei einer Bundesregierung, die sonst durch Regulierungswut auffällt. (Zuruf von der SPD: Ach, Gitta!) Nach Erlass der EU-Richtlinie wurde die bis dato geltende Schweinehaltungsverordnung aufgehoben, aber keine neue Rechtsverordnung erlassen. Was ist die Folge? Landwirte, Schweine und Kommunen bewegen sich im rechtsfreien Raum. (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Heiterkeit bei der SPD) Die Bundesregierung hat eine Rechtsunsicherheit zu verantworten, die dazu führt, dass Landwirte die Planung von Bauvorhaben und damit Investitionen stoppen müssen, dass Kreisveterinäre ohne Rechtsgrundlage im Einzelfall 216
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entscheiden müssen und – schließlich – dass vier Bundesländer die Haltungsbedingungen im Alleingang geregelt haben. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Sehr richtig!) Den Vogel hat aber das Land Nordrhein-Westfalen mit seinem ersten Schweinehaltungserlass, dem so genannten Kuschelerlass, abgeschossen. (Ilse Falk [CDU/CSU]: Das ist wohl wahr!) Darin wurde den Schweinehaltern vorgeschrieben, jedes Schwein pro Tag 20 Sekunden individuell zu betreuen. Frei nach Bogart: Schau mir in die Augen, Schweinchen. (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Hier gab es nur ein Urteil: ideologisch verbrämt und an der Praxis vorbei. Deshalb ist dieser Erlass überarbeitet worden. Er war auch rechtlich nicht haltbar. Das hat das Verwaltungsgericht Minden am 11. Dezember 2002 entschieden. Dies ist eine richtige Entscheidung; denn die Landwirtschaft hat es nicht mit Kuscheltieren, sondern mit landwirtschaftlichen Nutztieren zu tun. Ein Schwein ist und bleibt nun einmal ein Schwein. Das Urteil ist aber auch ein wichtiges Signal für die Bundesregierung, nicht aus ideologischen Gründen und einseitig zu weit über die Europäischen Vorgaben hinauszupreschen. Meine Damen und Herren, einen solchen Alleingang hatten wir bereits mit der Legehennenverordnung. Damit ist – ich zitiere den zurzeit in Niedersachsen noch amtierenden Ministerpräsidenten – »der Sündenfall erfolgt, der sich mit der Schweinehaltungsverordnung nicht wiederholen darf.« Zwar haben die vergangenen Wochen gezeigt, dass Aussagen von Herrn Gabriel regelmäßig nur eine Halbwertszeit von einigen Stunden haben, aber in diesem Fall hat er ausnahmsweise einmal Recht. Herr Minister Bartels, mich wundert es schon etwas, wenn Sie jetzt sagen, es sollte keinen Alleingang, jedenfalls keinen deutlichen Alleingang, geben. In 217
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Ihrer schriftlichen Stellungnahme gegenüber dem niedersächsischen Landvolk lese ich: Gerade im Bereich des Tierschutzes – darauf kommt es mir an – muss aber auf nationale Alleingänge verzichtet werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die Folge einer Verordnung wird wie bei der Legehennenverordnung sein, dass die deutsche Produktion ins Ausland abwandern wird. Damit ist weder den Tieren noch den Verbrauchern gedient. Denn die Eier werden auch zukünftig aus Käfigen kommen, aber eben aus polnischen, rumänischen, wie auch immer. Meine Damen und Herren, eine Verordnung wie die Legehennenverordnung vernichtet aber auch Arbeitsplätze und Betriebe in Deutschland. Nationale Alleingänge sind schädlich für unsere Wirtschaft. Unsere Landwirte fürchten nicht die Konkurrenz in Europa, sondern den Würgegriff aus Berlin. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die einseitigen Verschärfungen treiben lediglich die Kosten der Tierhaltung hierzulande hoch und führen damit zu gravierenden Wettbewerbsnachteilen gegenüber ausländischen Betrieben. Das dürfen wir nicht zulassen und das wollen wir auch nicht zulassen. (Beifall bei der CDU/CSU – Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Sehr richtig!) Die EU-Vorgaben sind deshalb direkt und ohne zusätzliche Auflagen in nationales Recht umzusetzen. Mindestanforderungen an die Schweinehaltung und an andere Nutztierhaltungen festzulegen ist sinnvoll und erforderlich. Diese Festlegung darf aber nicht nach gefühltem Tierschutz oder gefühltem Umweltschutz geschehen. Auch sozialromantische Träumereien oder Sehnsucht nach einer vermeintlichen landwirtschaftlichen Idylle sind keine vernünftigen Vorgaben. Die einzige Basis für Mindestanforderungen müssen nachvollziehbare wis218
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senschaftliche Erkenntnisse sein, nichts anderes. Diese Erkenntnisse hatte die EU beim Erlass ihrer Richtlinie. Sie hat sich auf ihre wissenschaftlichen Gremien gestützt, in denen alle Länder vertreten sind. Das war auch eine der Kernaussagen des Verwaltungsgerichts Minden. Im Urteil hieß es: Es gibt keine neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse, nach denen Schweinehaltungssysteme, die diesen Forderungen entsprechen, eine angemessene verhaltensgerechte Unterbringung der Tiere nicht sicherstellen können. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deswegen hat die Eins-zu-eins-Umsetzung der EU-Vorgaben nicht nur den Vorteil, dass damit Wettbewerbsverzerrungen innerhalb der EU vermieden werden; es ist damit auch gewährleistet, dass der wissenschaftliche Sachverstand in die Entscheidungen eingeflossen ist. Meine Damen und Herren, wenn die Bundesregierung wissenschaftlich begründen kann, dass EU-Vorgaben nicht oder nicht mehr ausreichend sind, dann hat sie dieses auf Europäischer Ebene durchzusetzen, aber nicht einseitig in Deutschland durch nationale Vorgaben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP; Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Völlig richtig!) Abschließend weise ich darauf hin, dass mit der Festlegung von Mindestvorgaben kein Verbot freiwilliger weiter gehender komfortabler Haltungsbedingungen verbunden ist. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Richtig!) Dieses sollte aber in der Tat freiwillig bleiben. Es wird dann erfolgen, wenn sich ein Markt für die so erzeugten Produkte findet. Aber diesen Markt, dieses Verbraucherverhalten wollen zumindest wir nicht erzwingen. Unser Staat braucht mündige Bürger und Verbraucher. Wir wollen sie nicht bevormunden. Deshalb kann es nur eine Entscheidung geben, nämlich die EU219
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Richtlinie eins zu eins in nationales Recht umzusetzen. Wir werden deshalb dem Antrag in allen Punkten zustimmen. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Frau Kollegin, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer ersten Rede im Namen des ganzen Hauses. (Beifall) Jetzt hat der Abgeordnete Friedrich Ostendorff das Wort. Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrte Frau Präsidentin Antje Vollmer! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Werter Herr Goldmann, zuerst einmal: Ich bin Schweinehalter. Meine Schweine liegen im Sommer auf Stroh, im Winter im Stroh. Das tun Schweine so. Kommen Sie zu mir, gucken Sie sich das an. Da können Sie eine Menge lernen. Ich weiß nicht, wie viele Schweine Sie zu Hause halten, Frau Connemann. Aus meiner Erfahrung kann ich Ihnen versichern, dass meine Schweine die saubersten Tiere sind, die ich auf dem Hof halte. Vielleicht – weil Sie sagten: Schwein bleibt Schwein – ist das bei Ihnen anders. [...] Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir arbeiten in Berlin an einer neuen nationalen Verordnung für die Schweinehaltung. (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Von »arbeiten« kann ja wohl keine Rede sein!) [...] Die Verbraucher bestimmen die Nachfrage. Wenn Sie ein Schwein zeichnen würden, würden Sie es mit Sicherheit mit einem Ringelschwanz malen. Der Ringelschwanz und die »Steckdose« sind die Erkennungszeichen des Schwei220
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nes. Wenn alle Haltungsbedingungen so toll wären, wie von der FDP behauptet, warum sind dann weit mehr als 90 Prozent der Schweineschwänze abgeschnitten, Herr Goldmann? Das heißt, die Tiere werden verstümmelt. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege, denken Sie bitte an die Zeit! Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich bin sofort fertig. – Sie als Tierarzt, Herr Goldmann, müssten doch wissen, dass diese Praxis etwas mit falschen Haltungsbedingungen zu tun hat. Umgekehrt wäre es richtig. Bisher gehen aber leider fast nur Neuland- und Biobetriebe den anderen Weg. Meine Damen und Herren, wir müssen die Ställe den Tieren anpassen, nicht die Tiere den Ställen. Wir vom Bündnis 90/Die Grünen lehnen deshalb den Antrag der FDP ab. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Zu einer Kurzintervention, bezogen auf eine bestimmte Äußerung, erhält der Kollege Goldmann das Wort. Hans-M Michael Goldmann (FDP): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich stelle zunächst einmal fest, dass Herr Bartels – meiner Auffassung nach völlig zu Recht – gesagt hat: »Wir setzen eins zu eins um«, und dass Sie, Herr Ostendorff, sagen: »Wir wollen mehr als eins zu eins.« Deswegen haben sie 50 Millionen Euro für alternative Haltungsformen in den Bundeshaushalt eingebracht. 221
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Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege Goldmann, mir ist angekündigt worden, Sie wollten sich auf eine bestimmte Äußerung beziehen. Hans-M Michael Goldmann (FDP): Herr Ostendorff, Sie haben soeben behauptet, dass die FDP mit ihrem Antrag Wählertäuschung betreibe (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das stimmt!) und es mit der Wahrheit nicht so genau nehme. (Manfred Helmut Zöllmer [SPD]: Das ist doch bekannt!) Herr Ostendorff, ich möchte Sie auf einen Vorfall gestern im Ausschuss ansprechen. Ist Ihnen bekannt, dass die Sozialdemokraten in Niedersachsen ein Schriftstück verteilen, das von der Aufmachung her einem Bundestagsantrag entspricht – ich habe es hier; es ist mit »Änderungsantrag« überschrieben, mit einer Drucksachennummer versehen und mit »Berlin« sowie einer Namenszeichnung, der von Franz Müntefering, unterschrieben – in dem steht, (Annette Faße [SPD]: Das ist nicht öffentlich! – Manfred Helmut Zöllmer [SPD]: Das geht nicht! Das ist aus dem Ausschuss!) der Bundestag wolle beschließen – Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege Goldmann, ich glaube nicht, dass sich Ihre Ausführungen auf die Richtigstellung einer Äußerung beziehen. Hans-M Michael Goldmann (FDP): Doch. Das ist der Vorwurf – 222
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Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer : Der Punkt ist folgender: Sie haben einen Redebeitrag gemacht. Wenn Sie einen Vorgang aus dem Ausschuss ansprechen wollen, dann hätten Sie das in Ihrer Rede tun sollen. Sie dürfen nicht einfach Ihre Redezeit verlängern. Hans-M Michael Goldmann (FDP): Es handelt sich um einen Sachverhalt, der sich im Ausschuss dargestellt hat. Herr Ostendorff hat soeben behauptet, wir würden Wahlbetrug betreiben. Ich stelle fest, dass die Sozialdemokraten und das BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wahlbetrug betreiben, weil sie in Niedersachsen ein Schriftstück verteilen, das so aussieht wie ein Antrag, der zum Steuervergünstigungsabbaugesetz gestellt wird. (Hermann Bachmaier [SPD]: Untersuchungsausschuss!) Dies ist ein massiver, bösartiger Wahlbetrug. Denn die gleichen Vertreter der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN haben gestern im Ausschuss einen Antrag, der genau das beinhaltet, was sie in Niedersachsen verteilen, abgelehnt. Das ist eine ganz böse Sache, die auf dem Rücken der Bauern und des grünen Bereiches ausgetragen wird. Ich bitte Herrn Ostendorff und Vertreter der SPD, dazu Stellung zu nehmen, sich für diesen Vorgang zu entschuldigen und klipp und klar zu erklären, dass ein solcher Antrag wahrscheinlich gefälscht worden ist. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist am Rande der Legalität, was Sie da jetzt alles veranstalten!) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer : Auch ich denke, wir sollten darüber noch einmal sprechen. Denn Ihr Geschäftsführer, Herr Goldmann, hat mir angekündigt, dass Sie sich gegen einen für Sie ungerechtfertigten Vorwurf wenden. Deshalb habe ich Ihnen 223
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das Rederecht gegeben. Das hat sich jetzt aber offensichtlich anders entwickelt. (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Herr Goldmann muss eine Rüge bekommen! – Gegenruf des Abg. Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Du bist hier nicht mehr in der Sonderschule! – Weitere Gegenrufe von der FDP und der CDU/CSU: Wieso denn das?) Ich gebe jetzt dem Kollegen Ostendorff die Gelegenheit, darauf zu antworten. Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich weiß nicht, ob das eine Kurzintervention war. Ich denke, das wird das Präsidium feststellen. Ich bitte darum. Ich glaube, dass es keine war. Ich habe nicht von Wahlbetrug gesprochen, sondern von Nervosität bei der FDP. Wir werden das gleich im Protokoll nachlesen können. Ich habe in Niedersachsen keine Flugblätter verteilt. Ich denke, da müsste jetzt jemand anderes aufzeigen. Ich kenne dieses Flugblatt nicht. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ihr habt das doch gestern im Ausschuss gelesen!) Herr Goldmann, überlassen Sie es mir! Ich werde es mit Interesse lesen. Ich kenne es nicht. Ich kann dazu nichts sagen. (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Haben wir doch gestern im Ausschuss gesehen!) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Georg Schirmbeck. (Beifall bei der CDU/CSU) 224
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Georg Schirmbeck (CDU/CSU): [...] Herr Minister Bartels, ich stimme Ihnen ausdrücklich zu, dass wir die Tierhalter, dass wir die Bauern bei der Entwicklung der Landwirtschaft mitnehmen müssen. Die Ministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft aber macht genau das Gegenteil: Anstelle einer praxisorientierten und ausgewogenen Politik steht ökologisch verblendeter Dogmatismus.
(Beifall bei der CDU/CSU) Gekonnt ignoriert die rot-grüne Bundesregierung dabei den Sachverstand aller Experten und Landwirte. Seit dem Legehennenurteil des Bundesverfassungsgerichts vom Juni 1999 ist die Schweinehaltungsverordnung als nichtig anzusehen. Seit dreieinhalb Jahren bedarf es daher einer bundeseinheitlichen Regelung zur Haltung von Nutztieren, doch wegen der verantwortungslosen Untätigkeit der Bundesregierung existieren bis heute keine einheitlichen nationalen Rahmenbedingungen für die Haltung von Nutztieren. (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Sehr richtig! Weil sie Angst haben, Angst vor Höhn!) [...] Um den Landwirten endlich Rechtssicherheit zu geben, muss die EURichtlinie zur Haltung von Nutztieren unverzüglich in nationales Recht umgesetzt werden. Jede weitere Verzögerung bedroht bis zu 300 000 Arbeitsplätze in der Wertschöpfungskette Schweinefleisch. Kollege Goldmann, Kollegin Connemann und ich, die wir das angemahnt haben, kommen aus den Regionen, in denen die Schweinehaltung mindestens so wichtig ist wie VW in Wolfsburg. (Beifall bei der CDU/CSU) Damit Sie eine Vorstellung davon bekommen, über welches Volumen wir sprechen: Hier geht es nicht um Peanuts; das ist eine Branche mit einem jähr225
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lichen Umsatz von 20 Milliarden Euro. Wenn aufgrund der bei uns bestehenden Rechtsunsicherheit Produktionsverlagerungen ins Ausland stattfinden, dann greift das tief in den Wohlstand dieser Regionen ein. Zynischerweise führt es dazu, dass diese Produktionen in Länder abwandern, in denen die Tiere von den hohen deutschen Standards nur träumen können. (Zuruf von der CDU/CSU: Wenn überhaupt!) [...] Mit anderen Worten, meine Damen und Herren: Die rot-grüne Verblendung und Anmaßung führen nicht nur für die Landwirte zu Verzerrungen des ökonomischen Wettbewerbs, sondern laufen auch den Interessen der Umwelt, der Tiergesundheit und des Tierschutzes zuwider. Das Ergebnis ist genau das Gegenteil dessen, was Sie hier vorgeben erreichen zu wollen. Die nun von der Ministerin angekündigte Verschärfung der Haltungsbedingungen im nationalen Alleingang geht allerdings noch weit über den herkömmlichen rot-grünen Unfug hinaus. Es führt dazu, dass die Zukunftschancen unserer Landwirte in schon bösartiger Weise mit Füßen getreten werden. Dagegen müssen wir unsere Stimme erheben und uns wehren. (Beifall bei der CDU/CSU) [...] Herr Minister Bartels, wir haben im Niedersächsischen Landtag 13 Jahre lang unsere Klingen kreuzen dürfen, wenn ich das einmal so sagen darf. Sie haben – das darf man ruhig einmal so festhalten – an der einen oder anderen Stelle größeren Schaden von unseren Landwirten und dem ländlichen Raum abgewendet, aber – das muss man genauso sagen – Sie haben auch an ganz entscheidenden Stellen gekniffen. Es hilft uns überhaupt nicht weiter, dass beispielsweise Ihr Vorgänger, der ehemalige Bundeslandwirtschaftsminister Funke, heute für gutes Geld bei landwirtschaftlichen Veranstaltungen die rotgrüne Bundesregierung beschimpft und dass Sie da, wo Sie meinen, das geeignete Publikum zu haben, versuchen, die katastrophale Politik der rotgrünen Bundesregierung für den ländlichen Raum schönzureden.
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Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer : Herr Kollege, denken Sie bitte an die Redezeit. Georg Schirmbeck (CDU/CSU): Die Politik, die von der Ministerin Künast betrieben wird, ist zum Schaden des ländlichen Raums, ohne dass man mehr Tierschutz erreicht. (Beifall bei der CDU/CSU) Deshalb hätten Sie allen Grund gehabt, das Ihren Parteigenossen einmal deutlich ins Stammbuch zu schreiben. Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege, ich möchte Ihnen im Namen des Hauses, wie das so üblich ist, zu Ihrer ersten Rede gratulieren. (Beifall) Weil es Ihre erste Rede war, war ich auch mit der Zeit etwas großzügiger. Allgemein gilt: Wenn die rote Lampe leuchtet, heißt das, dass Ihre Redezeit überschritten ist. Das als Hinweis für die Zukunft. Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/226 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Abschließend noch ein kleines Schmankerl: Frau »Ach Gitta« Connemann hängte, wie das so in manchen Ländern üblich ist, nach ihrer Jungfernrede das Bettlaken über die Balkonbrüstung, und zwar – 227
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natürlich – als Pressemitteilung verkleidet. Gestatten Sie eine kleine Anmerkungs-Würzung... Berlin. Am gestrigen Donnerstag [sehr gut, das Wichtigste immer an den Anfang, so machen das die Profis] hielt die CDU-Bundestagsabgeordneten [sic!] Gitta Connemann eine Rede im Plenum [warum eigentlich nicht in der Kantine?] des Deutschen Bundestages – ihr erster Debattenbeitrag seit ihrem Einzug in das deutsche Parlament. »Natürlich hatte ich ein bißchen [alte Rechtschreibung, muss man der Juristin nachsehen, sie ist Jahrgang 1964] Lampenfieber«, gestand Connemann anschließend [wem eigentlich?]. »Aber nun bin ich froh, dass [ach so, doch neue Rechtschreibung...] es so gut geklappt hat.«, zeigte sich die Christdemokratin erleichtert nach ihrem gelungenen parlamentarischen Einstand. [ist man wirklich erst im Parlament, wenn man geredet hat?] Connemann sprach dabei zum Tagesordnungspunkt 7 [noch spannender wäre hier der Hinweis, dass dieser nach 8 und vor 7 kam], bei dem über die Umsetzung der EU-Richtlinie zur Haltung von Nutztieren in nationales Recht debattiert wurde. Diese Umsetzung hätte eigentlich bis zum 1. Januar 2003 erfolgen müssen. Passiert sei bislang aber nichts, so die 38-jährige Juristin, »Ein Novum bei einer Bundesregierung, die sonst durch Regelungswut auffällt.« Da die alte Schweinehaltungsverordnung aufgehoben wurde, ohne das [ein »s« mehr wäre schon okay] eine Rechtsverordnung nachfolge [oh Zeitenfolgen, oh Sitten], bestehe für die Landwirtschaft Rechtsunsicherheit. »Landwirte, Schweine und Kommunen bewegen sich im rechtsfreien Raum.«, brachte Connemann es auf den Punkt [dann war das in ihrer Rede gar kein Joke, oh]. Ohne geltende Schweinehaltungsverordnung sind nicht nur Landwirte, sondern auch das Veterinärswesen verunsichert und die Bauunternehmen betroffen. Schließlich investiert kein Landwirt in einen Stallneubau ohne die rechtliche Grundlage der Haltungsvorschrift. Einige Bundesländer, so Connemann, hätten eigene Vorschriften erlassenen [sic!]. Den Vogel habe dabei das Land NordrheinWestfalen, das mit einer ersten eigenen Haltungsverordnung, dem sog. »Kuschelerlass« vorgeprescht war, abgeschossen. Darin wurde den Schweinehaltern vorgeschrieben, jedes Schwein pro Tag 20 Sekunden individuell zu betreuen. »Frei nach Bogart: Schau' [sic! Der
SPIEGEL nennt das inzwischen Apostrophitis – und das, wo einer Juristin doch der Imperativ geläufig sein sollte] mir in die Augen, Schweinchen. Die Landwirtschaft hat es aber nicht mit Kuscheltieren, sondern mit Nutztieren zu tun.«, erklärte die CDU-Politikerin. Deshalb sei der nordrhein-westfälische Erlass inzwischen auch überarbeitet worden. Connemann forderte die Bundesregierung auf, keinen nationalen Alleingang zu gehen. Es dürfe keine Verschärfungen gegenüber den EU-Vorgaben geben. Sie verwies dabei auf das Beispiel der Legehennenverordnung, [wir ergänzen großzügig 228
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ein »durch«] die Arbeitsplätze und Betriebe in Deutschland vernichtet würde [und hier ein »n«]. »Unsere Landwirte fürchten nicht die Konkurrenz in Europa, sondern den Würgegriff aus Berlin.«, hielt Connemann der Bundesregierung entgegen. Die Christdemokratin forderte deshalb, die EU-Richtlinie eins zu eins in deutsches Recht umzusetzen.
[und weiterhin natürlich kein Wort zum Inhalt dieser Richtlinie]
Die GRÜNEN in Marl – richtig, da, wo das Grimme-Institut residiert – hatten für Kandidaten wie Connemann mal eine ganz hervorragende Idee. Sie beantragten am 1. April 2003 die Einführung eines Doofenpfands für dusselige und vor allem wortreich verpackte Redebeiträge im Rat. Was dort als Spitze gegen eine kleine Bürgerliste konzipiert war, wäre bei bundesweiter Implementierung durchaus »ein Schritt in die richtige Richtung«. Allein diese Wortphrase mit 10 Euro belegt, brächte dem Staat mehr Geld als die LKW-Maut. Weil es die nach dem politischen Sprachindex (PSI) einzig erlaubte Zustimmungsform für Ideen aus einem anderen Lager darstellt und jeder Funktionär ab und an mal eine geniale Idee wie »Wirtschaft ankurbeln« oder »Arbeitsplätze schaffen« belobigen muss, wird das gesamte leitende politische Personal (LPP) zahlungspflichtig. Wie bei der GEZ, die künftig jeder auf Verdacht zu zahlen hat, werden Pfandgelder für solchen Quark direkt bei allen vom Salär abgezogen. Besonders effizient dürfte es sein, die Verwendung der Begriffe »Paragraph« und »Arbeitsplätze« mit Höchstpfand zu belegen. Zwar führen Politiker selbst nur selten Paragraphen im Munde, dies überlassen sie ihren Referenten und den Ministerien, doch wo immer diese Keule geschwungen wird, gibt es keine Rettung mehr, allenfalls kann man mit einem »Artikel« kontern, üble Blessuren sind aber in jedem Fall programmiert. Während sich hiergegen der ein oder andere Bürger noch mit Spott und Hohn vor der totalen Rückgratverkrümmung schützen kann, gilt das Schlagwort »Arbeitsplätze« bereits als technisches K.O. Denn wo immer Politiker Arbeitsplätze gefährdet oder stabilisiert sehen, ist das Volk paralysiert – und, bleibt zu vermuten, der Politiker gleich mit. 229
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Eine wichtige Frage hatten die Marler GRÜNEN allerdings nicht geklärt: Wann gibt's das Pfandgeld zurück? Dies muss zwar keineswegs Aufgabe eines Pfandes sein – siehe Dosen – aber in juristischer Hinsicht sollte eine Rückgabemöglichkeit wohl geschaffen werden. Wer uns also mit einem »Schritt in die richtige Richtung« gequält hat, erhält sein Pfandgeld zurück, wenn er einen Tag komplett die Klappe hält – Pressemitteilungen und andere Rauchzeichen selbstverständlich eingeschlossen. Da ein solches Doofenpfand sicherlich im Parlament und der Länderkammer einen schweren Stand hat, könnte man auch – politisch höchst erprobt! – zunächst auf eine Selbstverpflichtung der politiksülzverarbeitenden Unternehmen setzen: Ein Moratorium von einem Monat, einer Woche oder auch nur mal einem Tag könnte für wahre Geistesblitze in der politischen Klasse sorgen. Wenn einfach mal Merkels »Das ist mit der Union nicht zu machen« ungesendet und ungedruck bliebe, mithin gar nicht wäre. Wenn uns Kraftakte und -anstrengungen, Rucke und Aufbrüche ein kleines Moratorium lang erspart blieben, wir in Tagesschau und Nachtjournal die bis zur Unerträglichkeit bekannten Gesichter erst wieder präsentiert bekämen, wenn sie tatsächlich etwas Neues, Interessantes ausgestoßen haben, ja noch besser vielleicht: wenn diese Menschen mal etwas Brauchbares gemacht haben (ihre Diäten an die darbenden Krankenkassen überwiesen, im Kongo persönlich die Menschenrechte verteidigt oder im Schweiße ihres Angesichts 100 Meter tolle Autobahn gebaut haben, whatever) – dann wären wir definitiv einen Schritt auf dem richtigen Weg in die richtige Richtung gegangen. Ein Anfang wär's. Dem Dummquatschen jedenfalls müssen wir ein Ende bereiten, ob nun mit Doofenpfand oder einer anderen Großtat.
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Berliner Alphatierchen – Der Herrschaftstrieb der Politiker Wir denken an 1001 Nacht, vielleicht an Typen wie Napoleon Bonaparte oder Kaiser Augustus und alternativ an die Führer der »Schurkenstaaten«, wenn von »Herrschern« die Rede ist. Es klingt jedenfalls gewaltig nach Macht, und jemanden anzuherrschen ist keine schöne Sache. Was aber sind unsere Bundestags-Softies? Als »Herrscher« taugen sie allenfalls im Kabarett. Doch der Schein trügt: vom Namen, den wir als Erdenbürger tragen dürfen, bis hin zur ordnungsgemäßen Verbringung unserer Asche beherrschen Politiker unser Leben. Wir haben es eilig, was vorkommen darf. Genervt vom Verkehrschaos um uns herum parken wir unser Auto im »Halteverbot«. Das ist ein zehn Meter langes Stück des rechten Straßenrands, das sich von den davor und dahinter liegenden Abschnitten nur durch zwei Schilder unterscheidet, das erste mit weißem Pfeil nach links, das zweite mit weißem Pfeil nach rechts, der Rest ist hübsch rot-blau bemustert. Nach 15 Minuten Mini-Shopping für die deutsche Wirtschaft sind wir wieder zurück – doch das Auto ist weg. An Diebstahl würden wir im Leben nicht denken. Wir sind in Deutschland. Da kommen Autos nur von Staats wegen weg. Natürlich hatten wir keine Feuerwehreinfahrt blockiert. Es gab auch sonst keinen Not- oder Krisenfall. Routine eben. Politesse sucht Beschäftigung, und der »Pannenhilfsdienst« macht seinen Reibach damit. Das Erstaunliche ist: die Politesse muss nicht um ihr Leben fürchten! Es bleibt fast immer bei ein paar netten Worten, die dann auch richtig teuer werden. Der Staat als unser Erzieher! So sehen es die Richter. Es muss keine Gefährdung vorliegen, es muss überhaupt gar keinen Sinn machen, ein Halteverbot durchzukämpfen. Es reicht, dass der Staat es haben will. Basta! 231
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Angeblich gibt es einen Grundsatz der »Verhältnismäßigkeit«. Das klingt jedenfalls sehr logisch. Alles soll irgendwie passend sein, gerecht gar. Aber es gilt nicht für den Staat. Er verfolgt abstrakte Ziele, und wir haben uns dem zu unterwerfen. Und unterwerfen uns dabei natürlich nicht einem »Staat«, sondern ganz simpel einigen Politikern und ihren Verwaltungsvollstreckern. Abgeschleppte Autos sind keine Peanuts. Sie zeigen, wie weit unsere Freiheit reicht. Egal, ob man jetzt an dieser oder jener Stelle hätte parken dürfen oder nicht: jedes Kind würde gegen seine Eltern ob ähnlich schwachsinniger Strafaktionen rebellieren. Aber echten Herrschern unterwerfen wir uns. Und denken Herrschaftsherrlichkeiten einfach weiter. So kam der Bund der Steuerzahler auf die Idee, säumige Steuerzahler mit der Parkkralle willig zu machen: der Staat soll ihnen einfach ihr Auto blockieren! Der Straßenverkehr mit all seinen absurden Regelungen unserer Politiker ist ein einziger Herrschaftstumor, wild wuchernd und streuend. Nehmen wir die Ampel, von Menschen, die mit uns ganz offensichtlich nicht die Muttersprache teilen, auch »Lichtsignalanlage« genannt. Um uns im Verkehr zu beherrschen, gibt es davon etwa 80.000 in Deutschland (deren Wartung allein schon 250 Millionen Euro kostet). Die meisten davon sind als moderne Menschheitsgeißel schlichtweg überflüssig, weshalb wir uns über nichts so sehr freuen wie über ihren Ausfall. Die Ampel bringt den modernen Homo sapiens sapiens auf das geistige Level einer Kartoffel. Bringt man sie ins Licht, wird sie grün, legt man sie zurück in die dunkle Kammer, wird sie wieder braun. So hat auch der ampelkonforme Mensch zu funktionieren. Strengstens verboten ist jede Art von Hirntätigkeit – Autofahren nach STVO hat mit dem Rückenmark zu geschehen. 232
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Da ist doch tatsächlich ein Mensch mit seinem Auto nachts an einer roten Fußgängerampel stehen geblieben, um dann doch drüber zu fahren – war ja nix los. Das Bayerische Oberste Landesgericht entschied am 6. März 2003: »Der Verordnungsgeber war [...] der Auffassung, bei Kreuzungsampeln – und dazu zählen auch Fußgängerampeln – sei eine abstrakte Gefährdung grundsätzlich zu unterstellen. Es ist deshalb nicht zulässig, diesen Grundsatz dahingehend einzuschränken, dass Handlungen, die im konkreten Fall ungeeignet sind, das geschützte Rechtsgut in Gefahr zu bringen, von Nr. 132.2 BKat ausgenommen werden. Es war gerade das Anliegen des Verordnungsgebers, die abstrakte Gefährdung typisierend festzulegen. Diese Grundentscheidung [...] ist auch von den Gerichten zu beachten. Ausnahmen können dafür allenfalls zugelassen werden, wenn eine auch nur abstrakte Gefährdung völlig ausgeschlossen ist.«
Im Klartext heißt dies: Der Autofahrer, der an einer menschenleeren Fußgängerampel zunächst gehalten hatte, dann aber weitergefahren war, bringt die nicht vorhandenen Menschen abstrakt in Gefahr – und das ist verboten! Damit es auch der Nicht-Jurist versteht, formuliert das Gericht daher noch mal klar das Denkverbot: »Deshalb kommt es nicht darauf an, ob im konkreten Fall eine konkrete Gefahr ausgeschlossen war. Aus Gründen der Verkehrssicherheit hält es der Senat erst recht nicht für hinnehmbar, wenn es der Entscheidung des einzelnen Verkehrsteilnehmers überlassen bliebe, ob eine konkrete Gefahr gegeben ist, und ob und wie lange er auf Grund seiner subjektiven Einschätzung der Verkehrssituation ein Rotlicht beachtet.«
Was hat das mit Herrschaft zu tun? Der Bußgeldkatalog für Verkehrsverstöße ist eine Verordnung, kein Gesetz. Es wird ausgeheckt von Beamten des Verkehrs- und Justizministeriums. Keine öffentliche Debatte, keine demokratische Entscheidung – man kann ja nicht über alles reden. Gleichwohl bindet es, wie wir sehen, natürlich die Gerichte. Weil also der »Verordnungsgeber« nach Gutdünken Rechtsverstöße konstruiert – hier die Gefährdung von Fußgängern, die es gar nicht gibt – ist der Führerschein für einen Monat weg. 233
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Wer das zweiminütige Warten vor einer unbenutzten Fußgängerampel nicht als Herrschaft versteht, sondern als einen nötigen Mosaikstein in der Staatsorganisation, den sollten wir eher mit dem dringenden Verdacht auf gemeingefährlichen Kadavergehorsam einem Psychiater vorstellen, als vom Rotlichtfahrer den Lappen zu kassieren. Doch die einzige winzige Rebellion, die der ein oder andere von uns gegen seine Herrscher wagt, ist das Rotlichtlaufen, das Ignorieren einer Fußgängerampel, freilich nie ohne zuvor intensiv nach Polizisten Ausschau gehalten zu haben und am liebsten doch verschämt 10 Meter vor oder hinter der Ampel. Ampelgehorsam ist keine Frage von Political Correctness, Ampelgehorsam ist Alarmstufe rot auf der Verblödungs-Skala. Wer an jeder roten Ampel stehen bleibt, als ziele ein Scharfschütze auf ihn, der steht in der Schule auch auf, wenn der Lehrer hereinkommt. Und ja! Genau das fordern nicht wenige Politiker. Es gehe nicht um Unterwerfung, sondern um die deutschen Tugenden. Weil unsere Schüler nicht super lesen und rechnen können – was selbstverständlich nichts, gar nichts mit ihren Ausbildern zu tun hat! – sollen sie wenigstens nicht noch durch eigenmächtiges Bewegen Unordnung ins Land bringen. Also aufstehen zum Morgengruß und Hände falten zum Gebet. Das finden Eltern, denen ihre Gören selbstverständlich immer mal wieder gehörig auf den Senkel gehen, völlig okay. Und was kommt dann? Wenn wir doch schon mal dabei sind? Jeder Polizist oder Soldat hat doch den gleichen Respekt verdient wie ein Richter – und wenn der seinen Verhandlungssaal betritt, stehen Justiz und Volk auch stramm. Politiker regeln, was sie regeln wollen. Das Wegwerfen einer Zigarettenkippe kostet dann 20 Euro. Der Preis der Zigarette selbst ist natürlich auch in das Entscheidungsbelieben der Politik gestellt. Sie verbieten, dass eine Band in unserem Garten zum Geburtstag spielt, wenn wir keine Genehmigung vom Ordnungsamt dafür haben. Politiker erlauben, dass unsere Telefonate abgehört und unsere E-Mails mitgele234
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sen werden – ohne großen Lauschangriff ! Sie verpflichten uns zur Teilnahme am Mikrozensus, der ständigen kleinen Volkszählung. Sie zwingen uns, unsere Kinder auf eine bestimmte Schule zu schicken, was immer wir von dieser halten. Politiker verbieten uns, in unseren eigenen vier Wänden zu machen, was wir wollen. Dafür erlauben sie den Großunternehmen, Daten über uns zu sammeln und auszutauschen. Sie haben nichts dagegen, dass Banken – ohne gesetzliche Grundlage, einfach qua Tradition! – freimütig Auskunft geben, wie es auf unserem Konto aussieht. Politiker legen fest, was für Zeug in unser Essen kommt und welche Bruchteile davon auch benannt werden müssen. Sie verbieten 17-Jährigen das Trinken eines Mischgetränks mit 4% Alkohol und erlauben den Konsum von 12%igem Wein, erlauben 14-Jährigen das Schießen im Verein und verpflichten junge Männer zum Schießen im Militär. Politiker verteilen 100 Milliarden Euro aus unseren Geldbeuteln an ihnen genehme Industriegruppen, treiben künstlich Preise für Obst und Gemüse nach oben, legen fest, wie viel wir für nicht genutzte Fernsehprogramme zahlen müssen. Dabei ist es dem Politiker einerlei, was er entscheidet und wie er es entscheidet – Hauptsache, er hat überhaupt etwas zu bestimmen. Ein irgendwie nützliches Ziel darf dabei nicht verfolgt werden! Am Stammtisch wird vielleicht überlegt, wie man die Brummis von den Straßen bekommen kann – und es fallen Ideen wie Förderung der Schiene, Verknüpfung von Arbeiten und Wohnen, regionale Produktion und lauter so völlig unpolitischer Intelligenz-Quatsch. Politiker führen eine LKWMaut ein. Das bringt immerhin eine Menge Chaos und sonst garantiert nix, womit zur Freude der Politiker die nächsten Verwaltungsverordnungen, Durchführungsbestimmungen und Änderungsgesetze zum Thema anstehen. Irgendwann wird der ganze Quark dann wieder gestrichen, zugunsten einer progressiven Reifendrucksteuer oder eines 235
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umfassenden Bundesgütertransportverkehrsbelastungsausgleichsrahmenplans. Damit der Azubi nicht in falsche Hände gerät, wurde einmal eine Ausbildereignungsprüfung eingeführt. Damit hatten die IHKs eine staatstragende Aufgabe mehr, die sie gleichwohl laut Eigenwerbung natürlich viel besser zu lösen im Stande waren als der Staat selbst. Die weitere Genese ist uninteressant, im Jahre 2002 jedenfalls wurde sie ob der etwas unglücklichen Wirtschaftslage für fünf Jahre ausgesetzt. So etwas ist nicht gerade des Politikers liebste Entscheidung, aber immerhin: auch dabei hat er ja was zu bestimmen. Die Frage freilich, wie eine wichtige Bestimmung so plötzlich unwichtig werden kann, wie sich die Welt unter solch veränderten Bedingungen ordnungsgemäß weiterdrehen kann, stellt sich der Politiker nicht – er schreitet schlicht zur nächsten Tat, vielleicht unter dem Stichwort Ausbildungsplatzabgabe. Was Politiker konsequent beim Herrschen vermeiden, ist der Einsatz von Intelligenz. Sie bevorzugen die Logik, dieses irrsinnige Spiel, bei dem aus dem Einen das Andere gefolgert wird, ohne dass es irgendwie Sinn ergeben muss. Nur Ordnung soll herrschen. So wird man bei uns auch Arzt. Der Zahlenreihe 3, 5, 7, 11 folgt? Die 13. Eine Reihe von Primzahlen, die nur durch 1 und sich selbst teilbar sind. Das ist Logik. Wer sich betrunken in sein Auto setzt, um zu pennen, verliert den Führerschein. Schließlich nimmt derjenige betrunken am Verkehr teil, am sogenannten ruhenden Verkehr. Logik! Ebenso ist mit dem Papa zu verfahren, der mit dem 17-jährigen Sohn auf einem Feldweg Autofahren übt. Solche Übungen sind zwar in Ländern wie Österreich explizit vorgeschrieben und könnten auch in Deutschland mal Recht werden, doch daraus etwas ableiten zu wollen wäre Intelligenz, hätte mit Denken zu tun, wohingegen Logik nur Vorhandenes erschließt. Das Fahren mit Licht bei Tage kann eben verboten oder vorgeschrieben sein. In Europa gibt es da beide Spielarten. Die Brauerei-Chefs in meinem Dorf sind angesehene Herren, fehlen bei keinem großen öffentlichen Ereignis. 236
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Ins Casino zu gehen ist extrem schick. Wer aber statt Humulus Cannabis anbaut oder bezieht, wandert in den Knast. Ebenso, wer bei einem netten Abend mit Freunden zuhause »Rien ne va plus!« ruft. Wenn das nicht logisch ist. In Passau mühten sich kürzlich Ordnungsamt und Veterinäramt um den Tierschutz. Ein züchtungsbedingt recht nackter Hund namens Caesar mit Hautkrankheit sollte eingeschläfert werden, um ihm Qualen zu ersparen. Dieses Streben nach Frieden und Gerechtigkeit füllte viele Aktenordner. Um der Vollstreckung zu entgehen, tauchten Tierfreunde mit Caesar ab. Doch da Behörden qua immanenter Logik Recht haben, und Ordnung das höchste Gut ist, das wir in Deutschland zu verteidigen wissen, gab es Einsätze der Polizei und Staatsanwaltschaft, Auflagen und Bußgelder zur tödlichen Rettung der Kreatur. Es ist ziemlich pupegal, ob das Vieh nun noch munter gefressen und gekackt hat oder ob es tatsächlich leidend vegetierte. Stellen Sie doch mal Ihre bettlägerige, sabbernd-röchelnde Großmutter beim Ordnungsamt vor und beantragen die erlösende Einschläferung. Gott bewahre! Schließlich wäre das die ganz tumbe Gleichstellung von Mensch und Tier. Dafür, mit Verlaub, haben wir schließlich ein Tierschutzgesetz und 20.000 Menschenschutzgesetze, alle einzeln von Politikern gemacht. Intelligenz wäre, eben grundsätzlich mal über Leben und Tod nachzudenken und darüber, welche Daseinsform Qual ist. Logik aber ist, dass wir einmal ein Tierschutzgesetz und einmal ein – recht eifrig und folgenreich interpretiertes – Grundgesetz anzuwenden haben. Aus dieser Einzelgesetzlogik heraus ist auch eine einzige Ohrfeige von Papa oder Mama strafbar, das Zusammenknüppeln eines Demonstranten oder FußballFans hingegen nicht. Rot-Grün hat einen so genannten »Ausstieg« aus der Atomkraft beschlossen. Neue AKW dürfen nicht mehr gebaut werden, weil die Dinger potenziell sehr gefährlich sind und ganze Kontinente verwüsten können. Für die bestehenden AKW wurden »Restlaufzeiten« vereinbart. 237
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Diese Regelungen enthalten zwar kein explizites Verbot für die Atommeiler, in ihren letzten Jahrzehnten doch noch heiß zu laufen und radioaktiv durch die Welt zu strahlen, aber da sie ja irgendwann vom Netz gehen müssen, ist der politischen Logik Genüge getan. Vor allem aber: das Thema ist vom Tisch, niemand redet mehr davon, denn: Politiker haben etwas entschieden und damit – Logik! – ein Problem gelöst. Wer jetzt immer noch Angst hat, ist wirklich nicht politikkompatibel. Politiker beherrschen uns, und zwar bis in den letzten Lebenswinkel. Und anstatt sich dafür mit Heerscharen von Bodyguards vor dem wütenden Volk schützen zu müssen, lassen sie sich von uns feiern. Warum lachen wir eigentlich nicht so laut, dass es von GarmischPartenkirchen und Kiel bis Berlin dröhnt, wenn die ARD um 20 Uhr Bilder unserer Politiker ausstrahlt, die mit ihresgleichen aus einem anderen Staat über einen soldatengesäumten roten Teppich schreiten? Zwei Standardantworten gibt es dafür, eine staatsbürgerliche und eine analytisch-intellektuelle: a) Irgendjemand muss sich ja um die Geschicke des Landes kümmern, und das machen sie so schlecht nun auch nicht, unsere Politiker. b) Es geht uns einfach noch nicht schlecht genug. Die erste Gruppe der überzeugten Untertanen ist klein, und von wenigen Vertretern abgesehen, die einfach Schaden in der Erziehung genommen haben, sind es allesamt Leute, die selbst von der Politikerherrschaft profitieren. Wenn der Geschäftsführer eines Bauunternehmens von Politikern Aufträge bekommt, dann schmeckt ihm auch das Buffet in ihrer Anwesenheit. Politiker-Fans sind – von Lobbyisten abgesehen, die sich ja überhaupt nur durch den Gegenpart Politiker konstituieren – durch die Bank weg Unternehmer bzw. Unternehmens238
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vertreter oder Akademiker, die wissen, dass sie ihre »Partikularinteressen« nur mit Politikerwohlgesonnenheit durchsetzen können. Weil Kulturschaffende in den wenigsten Fällen von uns freiwillig Geld für ihre Inszenierungen oder Installationen bekämen, brauchen sie Politiker, die das erledigen. Wer Schwimmbäder oder Schulen baut, wer Schulbücher verlegt oder Straßenschilder bedruckt, der ist von Politikern unmittelbar abhängig. Er will nicht nur die Solidarleistungen in Anspruch nehmen, auf einer schlaglochfreien Straße fahren und mit einem akuten Blinddarm schnell ins Krankenhaus kommen, er will direkt profitieren. Und so scharen die Politiker viele Denker und Lenker um sich, binden sie ein in ihr Herrschaftsgeflecht. Der aufmüpfige Arbeiter führt nicht wie einst Lech Walesa eine Revolution an, er wird als Gewerkschafter eingeladen an den gedeckten Tisch der Macht. Bei einer derzeitigen Staatsquote von 50% ist schon rein rechnerisch das Meiste bei uns unmittelbar von Politikerentscheidungen abhängig, und auch unter dem großen Rest gibt es nur Weniges, das wirklich frei entschieden könnte werden. Kriegspolitik betrifft mindestens den Außenhandel, Export wie Import. Und da per definitionem das »Klima« zwischen Deutschland und den USA nicht von den Tausenden von Urlaubern, Austauschschülern, Kaufleuten oder auch einfach nur meinunghabenden Bürgern, sondern von Bundeskanzler und Außenminister bestimmt wird, hängt unser Wohl und Weh von diesen Nasen ab. In der zweiten Gruppe finden sich alle anderen, die noch irgendwie eine politische Meinung haben und die sich mangels Angebot noch keiner terroristischen Vereinigung angeschlossen haben. Sie beklagen die »Blockadehaltung« der Parteien und die Eitelkeit ihrer Protagonisten – und sie glauben, dass es irgendwann besser werden wird. Ihr Standardvergleich ist der mit dem Alkoholiker: ihm kann man auch erst helfen, wenn er ganz unten in der Gosse gelandet ist. Solange er auch nur die kleinste Möglichkeit hat, für seine Trinksucht eine Begründung zu finden, verschiebt er den Entzug auf morgen. 239
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In freier Wildbahn nicht überlebensfähig – Warum jemand Berufspolitiker wird Was soll ein Berufspolitiker eigentlich tun, was ist sein Job – wenn man uns mal fragt? a) Er soll Aufträge umsetzen, vor allem unsere Aufträge, um die er sich ja idealerweise selbst zur Wahlzeit beworben hat. Im Wesentlichen wird es darum gehen, mal etwas wegzuschaffen, abzuarbeiten – und dazu werden Behörden oder Privatunternehmen beauftragt werden müssen, deren Arbeit eine Regierung lenkt und ein Parlament kontrolliert. b) Er soll zu offenen Fragen Antworten suchen und uns vorstellen. Wir wissen auch nicht so recht, wie das mit Deutschen und Ausländern werden soll, also bitte: sondiere das mal für uns, mach dich schlau, und dann stell uns deine Idee vor, zu Zuwanderung, Ausländerrecht, Integration etc. Das ist dann der Wettstreit der Meinungen. Natürlich kann er Aufträge dazu auch von Kollegen erhalten – das ist die Arbeitsteilung von Ausschüssen, Arbeitsgruppen etc. Wenn am Ende wir über die verschiedenen Ergebnisse entscheiden, ist es recht. Was unsere Berufspolitiker wirklich tun – niemand weiß es, sie haben ja keinen öffentlichen Terminkalender – allenfalls »einen [Bilderbuch-]Tag des Kanzlers« kann man mit demselben auf seiner Website erleben; da düst er dann gemeinsam mit Wolfgang Clement zum Eon-Abendessen, beide scherzend und gut gelaunt – wer's denn glaubt. Aber klar ist, sie sind mit dem Politik-Management permanent beschäftigt, bis auf die kommunale Ebene haben wir hauptberufliche Politiker – insgesamt gut 15.000. Die allermeisten von ihnen tun nichts Praktisches! Sie kaufen keine Schilder ein, sie lesen keine Bewerbungsmappen von künftigen Politessen, sie buddeln nicht mit für 240
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die neue U-Bahn, sie schreiben auch keine Lehrpläne für den Deutschunterricht in Sek. I. Nein, sie diskutieren, fabulieren, schwadronieren, und um ab und an neuen Stoff fürs Palaver zu haben, reisen sie gerne. Und das mit einem patentreifen Arbeitsminimaximilierer: Nie bleiben wichtige Dinge liegen – Gott bewahre! – und nie droht Langeweile, öffentliches Nasebohren oder ein Nickerchen zwischendurch, weil der Politiker gerade alles durchdiskutiert hat und es kein Problem gibt, das er schnell lösen müsste. Stellen wir uns das doch mal vor: Franz Müntefering und Angela Merkel haben nichts zu verlautbaren, außer einem kurzen Fax: »Da derzeit keine weltbewegenden Dinge zu diskutieren sind, haben die Abgeordneten des Deutschen Bundestags beschlossen, die nächsten vier Wochen in ihren Wahlkreisen und Wohngegenden praktisch tätig zu sein. Zum täglichen Politik-Teil der Medienberichterstattung werden die Parlamentarier daher leider keinen Beitrag leisten können.«
Ist das nicht ein wenig verdächtig? Da, wo es nun wirklich wichtig ist, in unserer Familie – da gibt es nur ganz selten was zu diskutieren, politisch zu entscheiden. Ob man ein Haus baut meinetwegen, ob man wegzieht, welche Schule die Tochter besuchen sollte und ob man die Verantwortung für einen Hund übernehmen möchte. Aber das meiste ist Tagesgeschäft, ohne Familien- und Wirtschaftspolitik. Da sind keine Reden nötig und keine Abstimmungen. Ohne Grundsatzdebatte schaffen die meisten von uns die kontinuierliche Versorgung mit verarbeiteten Lebensmitteln und Fernsehprogramm. Wie muss so etwas in einem Politikerhaushalt aussehen? »Die Zeit des Knödel-Essens muss vorbei sein, liebe Familiengenossinnen und -genossen. Wir stehen vor der historischen Herausforderung, der Nudel in unserem Haushalt mehr Raum zu geben. Dies erscheint uns wirtschaftlich, aber auch kulturell – insbesondere, und das sage ich gerade angesichts des bevorstehenden Schüleraustauschs von Britt, wenn wir auf unser vereintes Europa blicken und die Kraftanstrengungen, die uns die Integration von Polenta und Kavyrma noch abverlangen wird – von herausragender Bedeutung zu sein.« 241
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Über die Frage, ob Politiker überhaupt von Berufs wegen Politiker sein können, wird schon lange nicht mehr gestritten. Inzwischen haben sie sich überall fett eingenistet und die Medienmeinungsmaschinerie so eingewoben, dass nur noch Alm-Öhis, einige Blondinen und Hans Herbert von Arnim zu fragen wagen, ob das so sein müsste. Natürlich war das ursprünglich anders. Entscheidungen für andere zu treffen, inklusive aller Vorbereitungen darauf, ist seriöserweise kein Job, von dem man lebt. !
Wer Politik zum Beruf macht, lebt zwangsläufig auf einem anderen Planeten. Alles über Beschlüsse zu regeln, über konspirative Absprachen mit Parteikollegen und -widersachern, das hat mit dem Leben der 80 Millionen anderen Menschen in diesem Land nichts gemein. Es ist aber ein ethologisches Naturgesetz, dass sich Menschen dem Rudel anpassen, in dem sie verweilen möchten. Beim Bund findet der Rekrut ratzfatz alles sehr normal, was nicht uniformierte Bürger an der Zugehörigkeit zur selben Spezies zweifeln lässt. Jung- oder Neupolitiker adaptieren zwangsläufig, was ihnen die Gruppe, zu der sie gehören möchten, vormacht. In jeder Talkshow erkennen wir die Politiker schon, bevor sie das erste Mal den Mund aufmachen. Wir riechen sie gegen den Wind und durch die Mattscheibe, Verwechslungsgefahren ausgeschlossen.
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Wer Politik zum Beruf macht, muss politisch Karriere machen. Dazu muss er als Politiker erfolgreich sein, und das bedeutet, wie hinlänglich dargelegt, mit 100%iger Sicherheit nicht, unsere Interessen zu vertreten. Es bedeutet auch, sich selbst zunehmend die Alternative zum Berufspolitikertum zu verbauen: Deshalb bleiben sie uns alle so unerträglich lang erhalten. Der Bundestagsabgeordnete Georg Schirmbeck z.B. gibt als Beruf »MdL« an. Wenn in der 15. Legislaturperiode auch 29% der Abgeordneten zum ersten Mal ein Bundestagsmandat haben, sind die wenigsten
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von ihnen Anfänger: Meist haben sie schon langjährige Landesparlamentsarbeit hinter sich – und die kommunale Ebene läuft ohnehin weiter mit. Und immerhin 16% sind seit mehr als zwei Jahrzehnten im Bundestag. !
Wer Politik zum Beruf macht, macht gerade keine leidenschaftliche Politik mehr. Auch das ist ein Naturgesetz, es ist die Konstitution von Beruf und Freizeit: wer geht lieber zur Arbeit als auf den Tennisplatz? Das ist übrigens das Phänomen der Haube: Liebelei ist Hobby, Freiwilligkeit, Werbung – Ehe ist Beruf.
Zugestanden, die meisten Menschen sind in Ausübung einer beruflichen Tätigkeit qualifizierter, als wenn sie diese nur hobbymäßig betrieben: Schauspieler, Musiker, Feuerwehrleute – wir trauen ihnen zu Recht mehr zu, wenn sie von Berufs wegen tätig sind, schlicht und ergreifend weil es für die Berufstätigkeit in der Regel etwas strengere Selektionsverfahren gibt als im Just-for-fun-Bereich und weil der Berufstätigkeit mehr Zeit gewidmet wird als dem Hobby. Politiker sollen aber etwas ganz anderes, als »professionelle« Politik machen: zumindest als Abgeordnete sollen sie »Wir« sein. Denn unser ganzes Demokratie-System basiert auf der Annahme, dass Repräsentanten des Volkes anstelle des gesamten Souveräns tätig werden. Ein Repräsentant aber, der zu einer völlig neuen Rolle mutiert, ist nur noch ein Vertreter seiner selbst. Dass dem so ist, wird nur noch von den Politikern selbst mit Verve dementiert. Professionalisierung führt zwar in aller Regel zu einer Umsatz- und ggf. auch Ertragssteigerung, aber keineswegs in allen Sparten zu einer Verbesserung – gemessen am ursprünglichen Ziel. Eine Schülerzeitung ist nur solange gut, wie sie von Schülern nebenher als Hobby betrieben wird, allein aus publizistischer Leidenschaft heraus. »Unicum« startete einst als Studentenblättchen und ist heute ein vierfarbiges Magazin mit einer Auflage von 450.000 Exemplaren – wirtschaftlich ein Erfolg, 243
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inhaltlich ein Bankrott. Sämtliche professionellen Karitativ-Einrichtungen fordern größte Skepsis heraus, wenn wir sie auf ihren Sinn befragen. Denn wo kalkuliert wird, ob man besser mit Trinkern oder mit Alleinerziehenden »arbeitet«, ob ein Hilfseinsatz in Afghanistan auch ensprechend von der öffentlichen Hand versilbert wird, ob in einem Kindergarten besser eine Unter-Dreijährigen-Gruppe oder eine HortGruppe für Grundschüler eingerichtet wird – da ist es mit dem Engagement vorbei. Berufspolitiker können per se keine interessante Politik machen: Sie müssten ja mit nichts als ihren Ideen und ihrer Dialogbereitschaft antreten, die meisten von ihnen mit dem recht gewissen Ziel, damit gerade keine Karriere machen zu können. Das gibt es in unserem System nur bei »Spaß-Parteien«. Für alles andere gibt es ein Beispiel, das an Deftigkeit nicht zu überbieten ist: Die GRÜNEN. Die Mutation dieser »alternativen« Partei gipfelte u.a. in ihrer jahrelangen arroganten und aggressiven Diffamierung der PDS, die nicht als Gesprächspartner tauge. Das Geblubber der Grünen ist in nichts mehr von dem der anderen bürgerlichen Splittergruppen zu unterscheiden. »Zunächst möchte ich unseren Wählerinnen und Wählern danken« sagt halt ein funktionierender Funktionär der CDU ebenso wie einer der Grünen. Die Grünen sind das beste Argument gegen Berufspolitiker überhaupt: wer in diesem Land Veränderungen will, muss eine Partei wählen und bekommt noch mehr Verharrung und Unerträglichkeit, als je zuvor. Politiker tun dies zugegeben nicht, weil sie besonders schlechte Menschen wären. Ich möchte sogar glauben, dass die meisten von ihnen in bester Absicht starten. Sicherlich gibt es die Karriere-Taktiker, die schon früh wissen, welchen Vereinigungen man angehören muss, um in der Entscheidungshierarchie nach oben zu kommen. Das kann man auch mit dem Idealismus begründen, wirklich etwas verändern zu wol-len, was nur in bestimmten Positionen geht. Doch wir wissen längst, dass die radikalsten 68er heute entweder gesellschaftlich nichts 244
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mehr bewirken – oder ununterscheidbar angepasst sind an das System, das sie verändern wollten und uns in weiten Teilen immer noch zu verändern glauben machen wollen: weniger Bürokratie, weniger Staat, mehr Freiheit für die Bürger oder schlicht ein »besseres«, »gerechteres« Leben. Politik zu machen kann zumindest in unseren derzeitigen Strukturen kein Beruf sein. Wohl aber könnte es für eine gewisse Zeit die Hauptbeschäftigung sein. Dann würden Menschen aus unserer Mitte gewählt, zeitlich befristet zu entscheiden – aber ohne jedes karrieristische Eigeninteresse. Der Bundestag als ausgewählter Debattierclub könnte vielleicht schon tragfähige Entscheidungen vorbereiten und fällen. Aber nur, wenn es das ausschließliche Interesse gäbe, zu guten Ergebnissen zu kommen, Probleme zu lösen oder erst gar nicht zu schaffen – immer in der Gewissheit, nach dieser befristeten Zeit wieder ohne jedes Machtprivileg an den eigenen Herkunftsort zurückzukehren. Das wäre gut möglich – auch für Nicht-Beamte. Die finanzielle Absicherung für die Rückkehr in das normale Berufsleben, ja sogar eine Alimentierung, die eine weitere Berufsausübung für den Lebensunterhalt unnötig macht, wäre im Verhältnis zu den sonstigen Staatsausgaben ein Klacks. Nur: welcher Politiker sollte das wollen? Auch die Grünen sind inzwischen von all diesen Idealen abgerückt – aber nicht, weil sie untauglich für die Gesellschaft wären, sondern einzig, weil sie der persönlichen Karriere diametral entgegen stehen. Man kann dies in allen mittelgroßen Vereinen sehen. Die Konstruktion mit ehrenamtlichem Vorstand auf der einen Seite als Entscheider und einer hauptamtlichen Geschäftsführung auf der anderen Seite als ausführendem Part wirft regelmäßig die gleichen Probleme auf: Wechselt der Vorstand, wie es sich gehört, übernimmt rasch in Wahrheit die Geschäftsführung die Vereinsleitung. Sie ist eben »Fachmann«, Profi, weiß, was geht und was nicht geht, erledigt das meiste routiniert ohne groß zu fragen, schafft Fakten. Der Vorstand wird so schnell vom 245
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Leitungsorgan zum reinen Repräsentanten. Wer auch noch gestalten will, muss sich gegen seine Geschäftsführung behaupten, muss sehr viel Zeit und andere Ressourcen einbringen – was letztlich nur geht, wenn man darin für sich selbst eine dauerhafte Zukunft sieht. Was dem Verein die Geschäftsführung, sind dem Volk die Parteien. Hier rotiert eine Profimaschinerie, in der die vorgeblichen Akteure entweder nur ein kurzes Abgeordneten-Gastspiel haben – oder aber sich integrieren, anpassen, mitmachen und der Selbsterhaltung der Partei dienen. Parteien sollten gesellschaftliche Kräfte bündeln, Ideen forcieren und so diskutabel und später umsetzbar machen. Geworden sind sie inzwischen Selbstläufer, die sich von Wahl zu Wahl schleppen, Staatsorgane aller drei »Gewalten« durchsetzt haben und ein munteres Eigenleben führen. Wenn wir dem echte Berufspolitiker entgegenstellen wollten, müssten wir sie zunächst einmal wie in jedem Beruf ausbilden. Und zwar nicht in den Kaderschmieden der Parteien. Künftige Berufspolitiker müssten an unabhängigen Stellen ausgebildet werden, müssten Praktika und Lehrjahre absolvieren. Während gewöhnliche Diplomaten eine solche Ausbildung durchlaufen, brauchen ihre Chefs all das nicht. Gut ausgebildete Berufspolitiker könnten für einzelne Leitungsfunktionen schon Sinn machen. Der alten Doppelspitze der Kommunalverwaltung lag diese Idee zugrunde: ein professioneller Stadtdirektor auf der einen, ein ehrenamtlicher, bürgerlicher Bürgermeister auf der anderen Seite. Wo die Umsetzung von Beschlüssen ansteht, wo einfach sehr gut das Tagesgeschäft erledigt werden soll, da sind Profis gefragt. Im Parlament, egal auf welcher Ebene, brauchen wir sie aber nicht, sie wären dort geradezu kontraproduktiv. In unserer real existierenden Demokratie haben wir aber meist weder Vertreter »aus der Mitte des Volkes« noch Profis, sondern schlicht eine eigene Gesellschaft (Luhmann), Klasse oder Kaste von Politikern. Wer politisch Verantwortung über246
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nehmen will, muss einer Partei angehören, muss sich an ihr und in ihr orientieren, um voranzukommen. Der Streit um die »besten Ideen« in der Legislativen oder die »besten Köpfe« in der Exekutiven findet ausschließlich innerhalb dieses eigenständigen, selbstselektiven Systems statt. Schon statistisch spricht also nichts dafür, dass Politik auch nur im Ansatz das Machbare ermöglicht.
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Eine ganz besondere Art – Dilettanten geben den Ton an Angehen, was wichtig ist Wenn Politiker schon die gesamte Macht an sich reißen und uns nicht zu Wort kommen lassen, müssten wir von ihnen erwarten dürfen, dass sie verlässlich die wichtigen Themen angehen. Dass sie tun, was nötig ist. Denn sonst braucht es sie nicht. Ein bisschen über Grenzen in Israel schwadronieren, mit Wirtschaftsbossen auf Gipfeln klüngeln und ansonsten viel Zeit mit Streicheleinheiten und Standpauken für die eigenen Parteisoldaten zu verbringen, das hilft uns gar nichts. Das anzugehen, was dringend nötig ist, würde zunächst etwas voraussetzen, was Politikern naturgemäß völlig abgeht: Ehrlichkeit. Vielleicht ist es auch einfach die Fähigkeit, Fakten zur Kenntnis zu nehmen, statt sie selbst zu schaffen, was Politiker so behindert, irgendein echtes Problem zu lösen – oder aber zu erkennen, dass es gar kein Problem ist. Zwei Beispiele: Liquidität: Unsere Politiker gehen täglich neue finanzielle Verpflichtungen ein. Wenn heute ein Staatsbediensteter eingestellt wird, dann ist nicht nur an seine monatliche Besoldung zu denken, sondern an seine lebenslange Alimentierung. Je nach Besoldungsstufe und Gesundheit bedeutet dies, mit einem einzigen neuen Beamten die Verpflichtung für mehr als eine halbe Million Euro Altersversorgung zu übernehmen. Das müssten wir uns leisten können – und wollen. In der Tagespolitik spielt jedoch die »Nachhaltigkeit« nur eine Rolle, wenn dem Bürger weitere »Belastungen« abverlangt werden. Konkret gerechnet wird selten. Unsere Politiker haben so bis heute eine künftige Zahlungsverpflichtung von etwa 3 Billionen Euro geschaffen. 248
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Doch das Geld dafür ist nicht vorhanden. Mehr als dringend steht daher an, ganz grundlegende Entscheidungen zu treffen. Ob dann Beamte wie katholische Priester arbeiten müssen, bis sie altersschwach umfallen, ob sie alle mit Haus und Garten für die Eigenversorgung ausgestattet werden oder ob wir sie noch rechtzeitig ins Ausland verscherbeln können, ist mir dabei egal. Wichtig wäre allein, das Problem zu erkennen und anzugehen. Ostzone: Ganz egal, wie es zu dem kam, was jetzt ist, ganz egal, wo die etwa 1,3 Billionen Euro »Aufbauhilfe« für unsere fünf schönen Länder geblieben sind, schauen wir nach vorne und fragen uns: Wo soll es eigentlich hingehen mit dem Osten und warum? Derzeit leben in den neuen Bundesländern noch etwa 13,5 Millionen Menschen (ohne Berlin). Der Trend von 1990 wird anhalten: alle, die irgendwie noch etwas vom Leben erwarten, gehen in den Westen, im Osten bleiben die immobilen Alten, Staatsbedienstete und Staatsabhängige (im Osten gibt es z.B. viele lange Straßen zu pflegen) und – Gott sei's gedankt – die intellektuellen Totalversager, die, weil man sonst kaum auf ihren Geisteszustand aufmerksam würde, bevorzugt das Kopfhaar etwas licht und kurz tragen. Warum sollte die Politik versuchen, diese Entwicklung mit viel Geld zu verändern, mal abgesehen davon, dass es bisher nicht geklappt hat? Was um alles in der Welt ist denn gegen einen menschenleeren Osten einzuwenden? Westdeutschland ist zwar recht dicht besiedelt, aber die paar Brüder und Schwestern bekommen wir auch noch unter. Was bleibt, ist eine wahrlich blühende Landschaft von der Ostsee bis zum Erzgebirge – ein gigantisches Erholungs- und Naturschutzgebiet, das knapp 60% der Wessis noch nie genossen haben. Es ist wirklich schön da, von den Folgen der 1,3 Billionen Euro einmal abgesehen. Natürlich, ganz im Ernst, hätten Politiker auch zu Recht Anfang der 90er Jahre nicht entscheiden können, die Zone einfach sich selbst zu 249
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überlassen. Aber es hätte zwei bis drei Gedanken mehr verlangt, als nur einen simplen Geldtransfer zu genehmigen. Es hätte etwas mehr Vision erfordert, als in Thüringen die gleichen Firmen wie in Bayern ansiedeln zu wollen, als Tourismus zu schaffen, der damit doch nur von der Nordan die Ostsee verlegt werden konnte, als alle Fehler an hässlicher und funktionsloser Stadtplanung des Westens noch einmal im Schnelldurchlauf zu wiederholen. Man hätte über ökologische Landwirtschaft und Nachhaltigkeit sinnieren können, über Bedeutung und Folgen der EU-Osterweiterung, über Modellprojekte und Experimente in Bildung, Wirtschaft, Kultur – ach, es hätte so herrlich sein können! Doch nachdem die DDR-ler ihren Erich gekippt hatten, war es auch wieder vorbei mit der Volkssouveränität. Die Westparteien übernahmen ordnungsgemäß die Macht unter vorübergehender Duldung der PDS, die von echten Politikern natürlich gebetsmühlenartig korrekt »SED-Nachfolgeorganisation« genannt werden muss, um zu unterstreichen, wie sehr man auf die Volksmeinung pfeift, solange sie einen nicht selbst auf den Thron hebt.
Verhandeln um der Sache willen Politiker reklamieren für sich den Alleinvertretungsanspruch gerne mit Verweis auf die Kompliziertheit der Welt. Da ginge es natürlich nicht, einfach irgendwo etwas zu beschließen und es dann umzusetzen. Das politische Geschäft sei Verhandlung, der erfolgreiche Weg immer der des Kompromisses. Bewiesen werden konnte dies bis heute leider nicht, denn nach dem großen Wortgebalze um uns und nach dem Akt der Wahlentscheidung tauschen Politiker mit dem Eintritt in Verhandlungen schnell das Ticket. In diesem angeblich so unendlich wichtigen Prozess der Modifikation, der Integration, der Weiß-der-Kuckuck-wastät vertreten Politiker nur noch sich selbst, ihre Eitelkeit, ihre Karriere – die natürlich eng gekoppelt ist an die Partei. Es geht dabei nicht wirklich 250
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um »die Sache«, sie ist allenfalls der Laufsteg für Inszenierungen aller Art. Beim Zuwanderungsgesetz waren sich SPD und Grüne nicht einig. Der Ex-Grüne, Ex-Visionär und Ex-Denker Otto Schily blafft daraufhin so Substantielles wie »in einer Koalition entscheidet nicht Herr Bütikofer«. Dass es irgendwie darum gehen könnte, sich zu überlegen, wie nun Menschen nach Deutschland gelangen können, ohne vom BGS gecatcht zu werden – das konnte ihm natürlich nach mehreren Jahrzehnten Berufspolitikertum nicht mehr in den Sinn kommen. Politiker reden, verhandeln, arbeiten nie um der Sache willen. Das war vielleicht mal so, als sie noch bei der Schülerzeitung Kommentare geschrieben oder als Schulsprecher eine Friedensdemo organisiert haben (die Pro-Kriegs-Demos gab es ja bezeichnenderweise nie, nur den Vorwurf der Nicht-Demonstrierer an die Demonstranten, sie müssten doch viel eher und konsequent für dies und jenes demonstrieren). Als Berufspolitikern ist ihnen nichts zu schade, zu wichtig oder zu dämlich, um es für eine Selbstinszenierung zu nutzen. Da soll der Bundespräsident in besonderer Weise das Volk vertreten. Er hat ja praktisch nix zu melden, um so mehr soll er guter Onkel oder vielleicht irgendwann auch mal nette Tante sein. Dafür treffen sich 1205 Wahlmänner und -frauen in einer Bundesversammlung – ein wunderbares Spektakel. Da irgendjemand in der CDU zählen konnte (ob das einer ihrer erfolgreichen Buchhalter war ist nicht bekannt), wurde frühzeitig ruchbar, dass die Konservativen in der Bundesversammlung die Mehrheit bilden können und mithin über den künftigen Bundespräsidenten entscheiden werden. Damit ging es nicht mehr darum, wer in unserem 80 Millionen Volk für diesen Job geeignet wäre, noch viel weniger ging es darum, was wir als Bürger uns so wünschen oder vorstellen. Es ging darum, wie geschickt Angela Merkel sich durch dieses parteiliche Minenfeld bewegen wird. Es ging um Taktik, welche Namen man wann ins Spiel bringen muss, um sie zu verheizen, an wem 251
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sich wer abarbeiten wird. Auch die Journalisten waren nur daran interessiert, welche Figur Edmund Stoiber für die CSU bei der Geschichte macht, ob Angela Standing Ovations hat, wer wieder mit eigenen Vorschlägen aus der Reihe tanzt etc. Am Ende stand ein Horst Köhler auf dem Majestix-Schild. Den kannte zwar außer seiner Frau niemand, aber die Show war gelungen. Was die allerdings mit Demokratie zu tun haben sollte, bleibt ein Geheimnis unserer Narzissten. Abtreten, wenn der Job getan ist Wenn es auch nur einen Politiker von Bedeutung gäbe, der nach getaner Arbeit einpackt und eine neue Herausforderung sucht – wir hätten einen Profi. Aber nix. Unsere Politiker verabschieden sich kurz vor Alzheimer – frühestens. Es sei denn, sie haben gerade Blödsinn gebaut und müssen politisch entsorgt werden. Da unsere Berufspolitiker nicht mit klaren Zielen arbeiten, die man erreichen oder nicht erreichen, in jedem Fall aber irgendwann ad acta legen kann, und da sie nicht um der Themen, sondern des Selbsterhalts willen arbeiten, kann uns ihre Dauerpräsenz auch nicht verwundern. Was für ein Traum: Da verspricht uns jemand, er werde als Finanzminister den Steuersatz auf 25% senken. Wunderbar, wir wählen ihn, er tut es, und dann ist's gut. Stattdessen: Wir können ihn gar nicht zum Minister wählen, sondern nur seiner Partei in den Bundestag verhelfen, er kann gar nicht über die Steuer entscheiden, weil das formal das Parlament macht (also de facto der Bundeskanzler mit seiner Lizenz zum Führen) – und so wird denn unser Favorit entweder gar nix oder Verteidigungsminister oder Staatssekretär im Auswärtigen Amt. Er ist am Ziel – politische Macht, Ort egal –, wir sind verarscht. Politiker können die Probleme, die wir mit ihnen haben, naturgemäß kaum verstehen. Während wir sie für total unfähig halten, schätzen sie sich selbst als Helden (oder, jüngste Heidelberger Studie, als 252
Eine ganz besondere Art
»Eliten«). Beides ist richtig – aus der jeweiligen Sichtweise. Denn der Politiker sieht ganz anders als wir jede Menge Erfolge seines Daseins. Dazu muss er nur morgens die Zeitung aufschlagen, und wenn es sein Lokalblättchen ist. Aber da steht er dann, mit oder ohne Foto, mal schon in der Überschrift, mal nur kurz mit einer Position in einem Absatz. Gerade im Wahlkreis genügt jedes avisierte Shakehands, und großes Bild mit BU sind gebucht. Die vielen Termine vom Wochenende werden dann – für Presse wie Politiker nützlich – in der folgenden Woche wohldosiert abgefeiert: jeden Tag ein Erfolg, irgendwie. Christian Simmert, Ex-MdB der Grünen: »Manchmal hatte ich das Gefühl, ein Abgeordneter existierte nur, wenn er im Blätterwald stand oder auf der Mattscheibe zu sehen war.«
Gründet sich eine »neue Linkspartei«, die da »Wahlalternative Arbeit & Soziale Gerechtigkeit« heißt, so ist das natürlich nicht meldenswerter als das Klecker-Ergebnis unseres familiären Spaghetti-Essens. Es bringt auch so oder so keinem Rentner einen Euro und keinem jugendlichen einen Ausbildungsplatz – wie sollte das auch gehen. Aber: Für den Politiker tut sich was, und zwar bei geschickter PR ganz gleich, wo man selbst steht. Ob nun Lafontaine mit seiner Unterstützung der »Linksabweichler« droht oder Clement mal wieder einen cholerischen Anfall bekommt – egal. Das müssen wir zur Kenntnis nehmen, weil es der wesentliche Grund ist, warum man mit einem Politiker nicht diskutieren kann – wenn man nicht selbst Politiker ist. Für ihn ist das Verhandlungsergebnis aus dem Vermittlungsausschuss zur Reform der Gesundheitsreform in jedem Fall ein Erfolg, uns ist es bestenfalls pup egal. Wenn wir uns erregen – ist dies für den Politiker hingegen eine Bestätigung. Denn soviel hat er von der Pieke auf gelernt: da die Politik nichts Neues schafft, verteilt sie die Werte der Gesellschaft. Da muss es Stöhnen und Aufschreien geben, bei jenen, von denen genommen wird, bei jenen, die meinen, zu wenig zu bekommen. 253
Verbannung nach Helgoland
Da wird auch das allertriftigste Argument nicht helfen: Warum sollten Politiker eigentlich Profis sein? Alles, was sie »können«, haben sie sich »learning by doing« erworben, durch Nachahmung ihrer parteieigenen »Vorbilder«, mittels Trial and Error. Was Politiker für Schüler und Studenten, Auszubildende und Berufstätige wichtig finden, gibt es für sie nicht: qualifiziertes Lernen. Wären Abgeordnete ein Querschnitt der Bevölkerung, würden sie zeitlich befristet um Ideen ringen, und hätten sie dann bei der Umsetzung stets anerkannte Fachleute an der Hand – dann wäre ihre politische Unbildung Pflicht. Sie wären wie Schöffen, die sich gerade nicht juristisch qualifizieren sollen, um einfach den »gesunden Menschenverstand« einzubringen. Doch unsere Politiker leiten Ministerien mit zigtausend Mitarbeitern, treffen Entscheidungen in Milliardenhöhe, treffen völkerrechtliche Vereinbarungen, die auf Generationen hin angelegt sind. Sie reden viel von Diplomatie und treffen – in der westlichen Welt wenigstens – meist ihresgleichen, nur stets mit der starken Aura des Erhabenen, des Überbürgerlichen. Dabei haben Sie nie eine Politikerschule besucht, nie eine Ausbildung für ihren Beruf – den sie ganz im Gegensatz zur landläufigen Meinung sogar weniger oft wechseln als die meisten anderen Berufstätigen – hinter sich gebracht. Ob Wurstverkäufer, Dachdecker oder Theaterschauspieler – für alle gibt es eine geregelte Ausbildung und selbst der Feierabendpolitiker auf dem Dorf kann zumindest an kommunalpolitischen Wochenendseminaren teilnehmen. Nur unsere Spitzenpolitiker wissen von heute auf morgen wie man in und mit der ganzen Welt diplomatisiert, vieltausendfache Baubestimmungen neu zu beschlussfassen hat und »legitimes Theater« (Peter Müller) im Bundesrat spielt. Sicherlich bringen Politiker spezifischen Fachverstand ein – für Bodenrecht, Agrarsubventionen, Schulunterricht aus der Sicht einer Lehrerin –, aber wie eigentlich ein Haushalt funktioniert, den sie da jährlich beschließen, müssen sie nicht wissen. Stattdessen lernen sie 254
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durch Kollegensozialisation, dass es irgendwie schon passt, was sie da machen. Wenn unsere Politiker Profis wären, würde ihre formale Entscheidungsfreiheit nach Art. 38 vielleicht Sinn machen, nach dem »sie an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen« sind. Der Bürger hätte mit der Wahl einer Partei und eines Direktkandidaten eine ganz ungefähre Richtung präferiert, alles weitere machten dann die Profis. Doch so wirkt die Freiheit des Abgeordneten nur gegen die Bürger, die Linie wird stattdessen von den Parteien bzw. Fraktionen vorgegeben. Wie hätten Profis auf die Situation nach dem 11. September 2001 reagiert? !
Sie hätten nach dem ganzen Betroffenheits-Tamtam festgestellt, dass die Anschläge von New York und Washington zwar gigantisch, aber an sich nicht gerade weltverändernd waren. Denn wie wäre es denn im Falle einer erfolgreichen Prävention gewesen? Wenn die Amerikaner die Anschläge verhindert hätten? Man hätte sicherlich auch über den Plan zu solchen terroristischen Anschlägen sprechen können – aber es hätte kaum einen interessiert, und es hätte mit absoluter Sicherheit nicht eine neue Zeitrechnung begonnen. Es hätte kein Anti-Terror-Paket in Deutschland gegeben, keinen Afghanistan- und erst mal auch keinen Irak-Krieg, kein Guantanamo-Spektakel und vieles andere mehr. Sollten also ein paar erfolgreiche oder nicht erfolgte Festnahmen entscheidend für unsere Zeitrechnung, unsere Einschätzung von Bedrohungen, Bündnissen und Religionen sein?
!
Natürlich gab es durch die Bilder vom Zusammensturz des WorldTrade-Centers etwas wie »Handlungsbedarf«. Aber Profis, die nicht ihre eigenen Interessen vertreten, sondern für uns die beste Politik zu machen haben, hätten darauf völlig anders reagiert, als 255
Verbannung nach Helgoland
Bundestag und Bundesregierung. Sie erinnern sich? Da wurden die Sicherheitsvorkehrungen an Flughäfen sofort drastisch erhöht – wie auch immer – aber es wurden natürlich keine Schulbusse und Kindergärten und Altenheime polizeilich bewacht, obwohl so etwas für Terroristen hervorragende Anschlagsziele wären. Die Politik diskutierte, wie schnell deutsche Abfangjäger in der Luft sind und was ein deutsches Atomkraftwerk zum Touch down einer Boing sagen würde. Das alles war im Hinblick auf Terrorismusbekämpfung irreal, im Hinblick auf innen- und außenpolitische Machtstrukturen allerdings Mittel zum Zweck. !
Profis hätten nicht nur an heute, sondern auch an morgen gedacht. Aber Parlamentarier beklagten recht offen, dass es keinerlei politische Konzepte gäbe, was denn geschehen solle, nachdem man den »Krieg gegen den Terror« eröffnet hat. An diesem Punkt sind wir heute noch keinen Schritt weiter. Was passiert eigentlich, wenn irgendwo chinesische Terroristen auftauchen? Was sind die Ursachen für Terrorismus und seine Unterstützung durch Gruppen, Regierungen und Länder?
In jedem Fall hätte man als Profi feststellen müssen, dass man gerade von nichts, was offenbar relevant ist, was an Entscheidungen irgendwie öffentlich gefordert wird, eine Ahnung hat. Das ist keine Schande, man muss es nur sich selbst und der Öffentlichkeit, für die man ja angeblich die ganze Arbeit macht, eingestehen. Mit dem Ende der RAF gab es Terrorismus nur noch in Israel – und da könnte man mit etwas weniger Political Correctnes auch von einem Bürgerkrieg sprechen – jedenfalls gab es, vielleicht bis auf zwei gealterte Rechtsanwälte der Regierungsparteien, im Bundestag keine »Terrorismus-Experten«. Doch nach dem Anschlag war der Bundestag das Harvard der Islamismus-Bekämpfer. Hatte es nach dem Brandanschlag von Solingen Lichterketten für Toleranz gegeben, war plötzlich ein einzelnes Kopftuch unerträglich. Man kann das so machen, aus dem Bauch heraus – professionell ist es nicht. 256
Beißen & Streicheln
Beißen & Streicheln – Wie Parteien und Parlamente funktionieren »Die Leute überbewerten den Bundestag«, hatte Edmund Stoiber am 4. Juli
2002 geblafft, als er sich dafür rechtfertigen sollte, einer der wunderbaren Reden des Kanzlers Gerhard Schröder zur »Lage der Wirtschaft« nicht beigeschlafen zu haben. Inszenierte Empörung vor allem bei den Roten, allen voran Wolfgang Thierse in Funktion als Bundestagspräsident, – und lecker Futter für die Journaille: Pfui, was für ein Demokratieverständnis, wenn man den Bundestag nur als »wichtiges Gremium« bezeichnet, wie Stoiber nachschob. Das Parlament ist immerhin das höchste Verfassungsorgan dieser Republik! Dabei wissen natürlich Abgeordnete wie Journalisten: Die Leute überbewerten den Bundestag. Meist ohne es so recht zur Kenntnis zu nehmen. So sprechen sie staatsbürgerkundlich geschult hochachtungsvoll von »dem Gesetzgeber«, der irgendwas gewollt oder gedacht habe. Dieser »Gesetzgeber« ist aber nichts anderes als das Häuflein Abgeordneter, die der dritten Lesung eines Gesetzes beiwohnen und es durch kurze Flächenbelüftung ihres Musculus gluteus beschlossen haben – und ggf. kommen noch die Ländervertreter im Bundesrat hinzu. Zumindest das, was wir vom Plenum des Bundestags kennen, wird wohl kaum noch überbewertet: Ging man bei Formulierung unserer Verfassung vielleicht redlich noch davon aus, Abgeordnete würden sachlich debattieren, Argumente wechselseitig prüfen, alle verfügbaren Informationsquellen nutzen und dann am Ende frei entscheiden, so sind »Fraktionszwang« oder »Fraktionsdisziplin« in der Politikwissenschaft heute mehrheitlich als notwendiges Konstrukt akzeptiert: der einzelne Abgeordnete entscheidet gerade nicht frei, sondern so, wie es seine Fraktion festlegt, die als Regierungsfraktion natürlich tut, was die Regierung will, und als Oppositionsfraktion, was das »Schattenkabi257
Verbannung nach Helgoland
nett« will (bestehend aus den Parteispitzen und den für Bundesposten aussichtsreichen Landespolitikern). Und so reden sie denn auch daher, ohne jede Leidenschaft, selten in der Sache, dafür immer als Parteivertreter. Denn die Partei ist ihre Firma, in der sie aufsteigen oder in guter Position verweilen wollen. Ist einem Abgeordneten die Gunst seiner Parteiführung nicht mehr hold, kann er gehen. Wer in der Politik zügig erfolgreich sein will, überspringt die Flegeljahre. So sprach beispielsweise Sabine Bätzing, Jahrgang 1975, bei ihrer Jungfernrede am 22. Oktober 2002 für die SPDFraktion: »Rot-Grün hat mit der Erneuerung begonnen und wir werden sie nun fortsetzen. Im Koalitionsvertrag steht klar und deutlich, was wir in dieser Legislaturperiode umsetzen wollen. Wir werden die notwendigen Reformen – ich meine Reformen im positiven Sinne – konsequent fortsetzen. Da gibt es viel zu tun. Die Lasten, die damit notwendigerweise verbunden sind, müssen wir heute tragen, damit unsere Kinder und Enkel in Zukunft Handlungsspielräume und Perspektiven haben.«
Bundestagsabgeordnete sind mitnichten Volksvertreter. Sie sind Parteiberufene, vom Wähler gerade mal quotiert. Es gibt keine Begrenzung der Runden, die sie im Parlament drehen, keinerlei Beschränkung, neben ihrem ach so freien Mandat Parteiposten zu übernehmen oder in Lobbygruppen mitzuwirken. Sie bilden jede Menge außerparlamentarischer Zirkel und in der politischen Sache verhandeln sie hinter verschlossenen Türen, vorwiegend in Parlamentsausschüssen, Fraktions- und Parteigremien. Das Parlament ist da nur noch der Ort für die formale Abstimmung, deren Ergebnis längst feststeht – und das leider gänzlich ohne Unterhaltungswert. Bundestagsabgeordnete sind auch schon deshalb keine Volksvertreter, weil sie nicht »dem Volk« entstammen, sondern nur einzelnen, sehr speziellen Gruppen. Wir brauchen sicherlich keine Abgeordnetenquote für rehabilitierte Bankräuber, aber ein wenig mehr reales Leben müssten Parlamentarier schon verkörpern, wenn man wenigstens miteinan258
Beißen & Streicheln
der ins Gespräch kommen wollte. Indes: die große Mehrheit in Deutschland mag halt keine Beamten, und Lehrer schon dreimal nicht. Das ist eine durchweg gesunde Haltung gegenüber Menschen, die in Paragraphen oder Heftumschlagfarben denken – und doch ist genau das der Schlag, der über uns bestimmt. Eine alte Leier, die so nicht stimmt? 40% der Abgeordneten sind Beamte, also fast jeder Zweite! An der erwerbstätigen Bevölkerung haben sie einen Anteil von knapp 6%, von der Gesamtbevölkerung ist nur jeder Fünfzigste beamtet. Ihre völlige Überrepräsentanz entspringt nicht etwa einem besonderen Engagement für den Staat, was man wohlwollend vielleicht Beamten noch unterstellen könnte. Verantwortlich ist dafür unter anderem § 6 des Abgeordnetengesetzes. Er garantiert Beamten nach Beendigung ihres Ausflugs in die Politik die Rückkehr auf eine mindestens gleichwertige und mindestens gleichgut vergütete Beamtenstelle. Neu ist das nicht: schon im Frankfurter PaulskirchenParlament 1848 waren 32% der Abgeordneten Beamte und Hochschullehrer. Hinzu kommen im aktuellen Bundestag 5% Parlamentarier aus dem öffentlichen Dienst. Sie haben zwar einen anderen Rechtsstatus als Beamte, dürften aber gleichermaßen von der Wichtigkeit staatlicher Arbeitsplätze überzeugt sein. 12% der Abgeordneten sind bei den Parteien und Fraktionen angestellt: als »Generalsekretäre«, Kreisgeschäftsführer oder wissenschaftliche Mitarbeiter. Ihr Anteil an der Bevölkerung läuft naturgemäß gegen 0%. 9% der Bundestagsmitglieder sind Rechtsanwälte und Notare. Der Anteil der Juristen im Parlament ist allerdings noch deutlich höher, weil auch viele Beamte, Parteimitarbeiter etc. das juristische Examen absolviert haben. Im Hinblick auf die – bürgerliche? – Gesetzgebung und die Kontrolle der Judikativen ist diese starke Stellung der Juristen ein enormes Problem. 259
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Weitere 8% sind bei anderen Lobbygruppen angestellt, also bei Wirtschaftsverbänden, Gewerkschaften, Arbeitgebervertretungen etc. Das restliche Viertel können wir uns da schenken. 3 »Hausfrauen«, 2 selbstständige Handwerker (= 0,3%!). »Arbeiter« fehlen fast völlig, machen etwa 1,5% des Bundestags aus (aber 30% der Erwerbstätigen). Auch die Spitze der Wirtschaft fehlt: Manager und andere Unternehmensvertreter bleiben lieber in ihrem lukrativen Arbeitsfeld und üben von dort Einfluss aus – allenfalls machen sie einen Ausflug direkt in die Regierung. Erwartet irgendjemand im Besitze seiner geistigen Kräfte von einer solchen Gruppe ernsthaft die viel beschworene »Entbürokratisierung« – also eine Verringerung staatlicher Reglementierung? Weniger Beamte, weniger Öffentlicher Dienst? Weniger Budget für die Verwaltungen? Das wäre ja Verrat! Nicht weiter erwähnenswert, dass auch die Macht der Parteien kaum von einem Parlament beschnitten werden wird, in dem es höchstens kurzfristig mal einen Abgeordneten ohne Parteibuch gibt. Da kann dann ein Guido Westerwelle vorschlagen, Politikerbezahlung sollte sich künftig am Erfolg orientieren, zum Beispiel an der Senkung der Arbeitslosenquote. Was ein wenig nach Abschussprämie klingt, ist natürlich barer Unsinn, aber eine Höchstleistung politischer Inszenierung: Was innovativ und selbstkritisch daherkommt, verspricht – inhaltlich ungeprüfte – Aufmerksamkeit, gleichwohl besteht keinerlei Gefahr, die Idee könnte eine ernstzunehmende Parlamentsmehrheit finden. Zur Not wird »grundsätzlich begrüßt« und dann vertagt auf den Sankt Nimmerleinstag, was nicht weiter auffällt, da leichter über Ereignisse als über Nicht-Ereignisse berichtet werden kann. Und so dümpelt die Republik vor sich hin. Ob Elbe oder Rhein gewaltig über die Ufer treten, das Max-Planck-Institut für Deutschland den PISA-Test auswertet, die Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland über 260
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25% liegt – business as usual. Je katastrophaler eine Situation, um so besser für die politischen Akteure: weniger Inhalt, mehr markige Worte. Denn ernsthaft wundern können sich Politiker ja kaum über all das, was doch bis auf wenige Ausnahmen ihr Werk ist. Sie können zwar per Gesetz nicht das Wetter regeln, Vokabeln lernen müssen Schüler schon selbst und in einer blühenden Landschaft liegt die Industrie zwangsläufig brach – alle menschenmöglichen Steuerinstrumente aber haben unsere Politiker bis dahin stolzen Hauptes falsch oder willentlich nicht genutzt. Flüsse treten bei starkem Regen wie auch bei Schneeschmelze halt über ihre Ufer, und wenn ganze Städte ihr Wasser nicht versickern lassen, sondern noch dazu kippen, um so enthusiastischer. Wer Schülern ein Lernkonzept im 45-Minuten-Takt verordnet, ihnen nicht Weise sondern Lehrer vorsetzt und sich im Wesentlichen darum sorgt, dass alle 9,8 Millionen Zwangsrekruten auch täglich in der Penne verwahrt werden, der soll sich nicht wundern, dass Jugendliche zwar Einsen in Deutsch, aber keinen Brief schreiben können. 1,25 Billionen Euro von West nach Ost zu transferieren ist sicherlich kein Pappenstiel, aber auch nicht gerade eine planerische Leistung, an deren Ende Ossis auch im Osten bleiben, wie es sich die Politik wohl mal so ausgemalt hat. Bevor wir uns Politiker irgendwie anders wünschen, sollten wir uns genauer ansehen, wie das Berufsbild derzeit aussieht: a) Der Berufspolitiker stellt physische und mediale Präsenz seiner selbst her. Damit dient er als Außenvertreter seiner arbeitgebenden Partei dem Geschäftsziel auf Dasein. b) Nach dem hehren Grundsatz der Chancengleichheit kann grundsätzlich jeder mitmachen. Wer in Ermangelung eines Hochschulabschlusses dann nicht zum Bundeskanzler taugt, der kann immer noch Außenminister werden. Denn die Egalität zeigt sich nicht primitiv bei der formalen Bildung, sondern der politischen Überzeugung. Als ehemaliger Terroristen-Verteidiger darf man 261
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selbstverständlich Ober-Terroristen-Bekämpfer werden. Das Einzige, was zum Berufspolitiker disqualifiziert, ist daher Haltung. c) Die Ausbildung zum Politiker erfolgt im deutschen dualen System: In der Partei lernt der berufspolitische Novize seine degenerierte Beißhemmung als Führer, Chef oder Experte zu kaschieren, im parlamentarischen Raum (StuPa, Stadtrat, Kreistag o.ä.) lernt er die Agitation (fälschlich gelegentlich als »Populismus« beschrieben). d) Aktionär, Vorstand und Aufsichtsrat seiner Partei sind ein Dutzend Parteifreunde. e) Das Wahlvolk ist für den Berufspolitiker wie die Bank bei Monopoly. Wenn er das nicht rechtzeitig erkennt, muss er i.d.R. weit früher tränenreichen Abschied nehmen als meinetwegen Sabine Leutheusser-Schnarrenberger. f ) Das Nicht-Wahlvolk stellt Kinder zum Herzen und für die Siegerehrung beim Malwettbewerb, sowie einige jugendliche Rotzlöffel zur Untermauerung der sozialen, christlichen, liberalen oder multikulturellen Law-and-Order-Politik. Der Rest ist egal, politischer Azubi oder debil. g) Wichtigste Bezugsgrößen im Handlungsfeld sind die BILDZeitung, der französische Staatspräsident und der weiße Präsident der Conquestierten Staaten von Amerika. Diese drei Prüfsteine sind rein historisch bedingt und stehen daher nicht zur Diskussion. h) Höchstes Ziel ist es, mit der politischen Abschiebung noch Bundespräsident zu werden. Leider sind diese Plätze streng limitiert und werden zunehmend von anderen Versorgungsberechtigten beansprucht, weshalb auch die Niederschrift eines Kletter-Handbuchs in Betracht kommt. 262
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Auch ohne Polemik kommen weitere Erdenbürger in diesem Ränkespiel nicht vor – nur als Publikum, und zwar im allerwahrsten Wortsinn. Geschäftsordnung § 41, Abs. 2 des Bundestags: »Wer auf der Tribüne Beifall oder Missbilligung äußert oder Ordnung und Anstand verletzt, kann auf Anordnung des Präsidenten entfernt werden. Der Präsident kann die Tribüne wegen störender Unruhe räumen lassen.« Während sich also Parlamentarier wie an der
Börse von oben begucken lassen und als probates Mittel gegen das Einschlafen den pöbelnden Zwischenruf praktizieren, sitzt das Volk auf der Tribüne und schweigt artig. Vielleicht ist eine Veranstaltung wie das Parlament längst überholt. Es gibt viele, auch natürlichere Formen der Kommunikation, die im normalen Leben Platz gefunden haben und die möglicherweise auch für das Staatsmanagement taugen. Aber solange wir noch Parlamente mit Parteien haben, heißt der kleinst-nötige Schritt: Jetzt reden wir! Unsere Meinungsäußerungsfreiheit erstreckt sich derzeit real auf zehn Zeilen Leserbrief und die Trillerpfeife bei der Demo. Warum eigentlich müssen wir draußen bleiben, eine Bannmeile achten, wenn Politiker über unsere Zukunft debattieren? Reden wir doch einfach mit! Jeder zweite Redebeitrag im Bundestag muss von einem Bürger kommen. Ausgewählt nach dem Zufallsprinzip aus einer tagesaktuellen Liste derer, die etwas zum jeweiligen Thema sagen wollen. Kein Klüngel, keine Vorauswahl, kein Sprechertraining und auf gar keinen Fall irgendwelche Quotierungen – nichts. Ich würde im Reichstag lieber auch mal jemanden stottern hören, nach Worten ringen sehen, jedenfalls mit Engagement etwas vortragen lassen, als mit Politikerblabla gelangweilt zu werden. Und damit ihr Politiker das jetzt nicht wieder falsch versteht: es geht nicht darum, dass wir uns in eure Debatte einmischen wollen, dass wir gerne mal euren Schweiß der Macht riechen wollen – nee. Wir reden da miteinander, um Ideen vorzubringen. Ob ihr auch etwas Vernünftiges 263
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dazu beisteuert, werden wir dann ja sehen. Aber spätestens, wenn die Tagesschau bei ihrer Berichterstattung über die Haushaltsdebatte keinen Eichel und keinen Merz sendet, sondern Lieschen Müller – spätestens dann werdet ihr eure Beitragsqualität steigern, euch kurz fassen und beim Reden endlich auch mal was sagen. Denn den kalten Entzug, nicht mehr gedruckt und gesendet zu werden, weil es echt geile Alternativen gibt, würdet ihr gar nicht überstehen. Bürger im Parlament als Normalfall und nicht nur am »Tag der offenen Tür« – das wäre in unserer verfahrenen Situation ein kleiner Anfang, der, wenn wir schnell genug sind, bevor unterbeschäftigte Juristen gutachten und aufsätzen, einfach über die Geschäftsordnung des Bundestags beschlossen werden könnte (kleiner Schönheitsfehler: natürlich von den Politikern). Den Parteienzirkus wird man damit freilich noch lange nicht los. Auch wenn es schwer fällt und ein bisschen weh tut: denken wir an die letzte Vor-Wahl-Zeit zurück. In einem Land mit 80 Millionen Einwohnern ging es damals im Hinblick auf die ganz großen PolitikFragen um genau zwei Personen: Edmund Stoiber und Gerhard Schröder. Natürlich wurden vorher wenigstens für die Union auch mal andere Namen gehandelt – aber halbwegs realistisch war es keine Hand voll. Soll also am 22. September 2002 wirklich das Volk entschieden haben, wie es hier weiter geht? Die Sache war doch klar: Schröder als amtierender Bundeskanzler musste wieder antreten. Das war schließlich schon immer so, und da er gerade auch alle wichtigen Parteiposten innehatte, war jeder andere Gedanke strikt verboten. Also hätte sich höchstens bei der Union etwas tun können – lassen wir mal das Kasperletheater um Kanzlerkandidat Guido außen vor. Die Union hatte tatsächlich die Chance, ein Team zu präsentieren, das Lust auf Politik macht. Natürlich mussten die Schwesterparteien diese Chance vertun und uns mit einer sehr langat264
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migen Diskussion um Pest oder Cholera foltern. Angela Merkel als Parteivorsitzende beanspruchte natürlich auch den Kanzlerposten. Seien wir ehrlich: Bei einer freien Wahl würde Merkel gleichermaßen gegen Verona Feldbusch wie gegen Else Kling verlieren. So aber war sie von ihrer Partei zur Chefin gewählt worden – genauer gesagt von 897 der 935 Delegierten auf dem Essener Parteitag – wieso, weshalb, warum, darüber ist genug spekuliert worden, und das, obwohl es wirklich schrecklich egal ist. Schließlich interessiert uns auch nicht, wen sich die Arbeiter der Bügeleisenfabrik Schmidt & Sohn zum Betriebsrat wählen und wer Präsident des Weltverbands der Feinuhrmacher wird – obwohl dort immerhin Leute mit Anstand und jeder Menge Kohle versammelt sind. Aber nein, wir mussten die ganze Peinlichkeit ertragen. Gestotter und Nullaussagen über Wochen! Bis Angela mit Edmund frühstückte und endlich das verkündete, was eh jedem klar war: Der Typ macht's. Weil die Leidensfähigkeit des deutschen Volkes bekanntlich nicht all zu schnell erschöpft ist, folgte in der öffentlichen Dramaturgie eine unendliche Debatte um das »TV-Duell« der Kandidaten, aus dem dann zwei Sendungen wurden, deren thematischer Gehalt locker vom Duell Kasparow gegen Deep Blue getoppt wurde. Das einzig unterhaltsame an der Runde im öffentlich-rechtlichen Fernsehen war die Karikatur der Wichtigkeit, die ARD und ZDF durch die parallele Übertragung dieses einzigartigen Ereignisses auf beiden Sendeplätzen zeichneten: Gebührenzahler, jetzt schau dir auch an, was du bezahlt hast! Das war echt witzig, und wer zwei Fernseher übereinander stellte, konnte PremiereFeeling ohne Decoder genießen: 2 Politiker in 108 Stellungen. Wie gesagt, wegen der Leidensfähigkeit musste das »Duell« wiederholt werden. Mit noch schärferen Regeln. Und mit noch viel mehr Meinungsforschung. Bereits 2 Sekunden nachdem der letzte Schuss abgefeuert war, wussten wir via Fernsehen, was wir von der Sendung 265
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dachten. Christoph Schlingensief hätte es nicht besser inszenieren können. Über Nacht gab es wohl erste Bedenken, denn bereits am nächsten Morgen diskutierten die Menschen auf der Straße, warum die süße Stimme von Infratest denn nur wissen wollte, ob man Stoiber oder Schröder überzeugender fand – und nicht, wie viel Steuern man zahlen möchte oder was man vom Niveau der Kreuzworträtsel in BRIGITTE hält. Die wirklichen Probleme, so dämmerte es uns, waren mal wieder nicht zur Sprache gekommen. Da neben der Leidensfähigkeit aber auch die Vergesslichkeit des deutschen Volkes bekannt ist, ließ das Protokoll zwischen zweitem Duell und Wahl noch ein paar Tage vergehen, so dass wir am 22. September wieder in der Wahlkabine standen und meditierten: »CDU, da war doch der Wirtschaftswundermensch, der Heinz Erhardt. Oder nehmen wir die SPD mit dem
Helmut Schmidt, der war auch immer gut?«
Vielleicht erinnert sich noch jemand, wie es dann am Ende ausgegangen ist: SPD und Grüne haben knapp gewonnen und mit dieser Mehrheit im Parlament Gerhard Schröder wieder zum Bundeskanzler gemacht. Es gab ein bisschen Umsortierung im Kabinett – und wenn es nicht schon so abgedroschen wäre, wollte man kalauern: aus dem ein oder anderen Raider wurde ein Twix, sonst änderte sich nix. Was dem, der sich von freien Wahlen doch irgendwie mehr verspricht, mal wieder vor Augen führte: Politiker sind wie das Wetter. Sie sind einfach da, wir können daran nichts machen, aber wir reden unablässig darüber. Womit wir wieder bei den Parlamenten in unserer Parteiendemokratie wären. Wir haben keinen Einfluss darauf, wer dort sitzt und sich damit für einen wahrnehmbaren Posten vorbereitet, als Sprecher oder Vorsitzender oder auch Minister. Politiker kommen mit dem Eintritt in 266
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eine Partei – ohne uns zu fragen. Und sie gehen erst wieder, wenn wenigstens eines von drei Kriterien erfüllt ist: a) Sie bekommen wegen ihrer politischen Kontakte einen gut dotierten Job in einem Lobbyverband (der auch als Aktiengesellschaft firmieren kann). b) Sie haben privat – nicht politisch! – Blödsinn gebaut. c) Sie sind tot. Die Porträtreihe »Was macht eigentlich ....?« über medial nicht mehr präsente Politiker ist in Wahrheit eine Reportagereise durch Wirtschaftsdeutschland – mit vielen Überraschungen, welche Firmen und Verbände es gibt und dass man sich für eine Tätigkeit dort offenbar für genug Penunzen erwärmen kann, wenn es in der Partei und ihrem Parlament nicht weiter geht. So gab es einmal einen Kanzlerkandidaten Björn Engholm. Der war vorher schon mal Bundesminister und zurzeit seines Kanzlerwahlkampfes 1992/93 Ministerpräsident in Schleswig-Holstein und Bundesvorsitzender der SPD. Dass er sich bei der Erinnerung an einen wichtigen Punkt der »Barschel-Affäre« um 6 Tage vertan hatte, führte dann zum schnellen Wechsel zu Preußen Electra (inzwischen mit Bayernwerk zu e.on mutiert). Wie jemand, der gerade das ganze Land regieren wollte, plötzlich von der Bildfläche verschwinden kann? »Ich war nie so verliebt in die Macht, dass ich davon süchtig geworden wäre«, sagte er dem STERN. Aus den Episoden der b)-Kategorie könnte man ganze Bücher machen. Udo Kamperdick z.B. war CDU-Chef, was eine gute Ausgangssituation für die Teilnahme am nächsten Kanzlerduell war, auch wenn sich seine Regentschaft auf die paar Mitglieder in Herten beschränkte. Doch dann der Fauxpas: mehrere Monate parkte er vor dem Rathaus auf einem Behindertenparkplatz – mit dem Schwerbehin267
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dertenausweis seines verstorbenen Vaters! Zitat aus der Rheinischen Post: »Ein städtischer Angestellter hatte Kamperdick [...] ein dreiviertel Jahr lang bei dem widerrechtlichen Parken beobachtet. Erst als eine behinderte Frau keinen Parkplatz [ fand], rief der Mann die Polizei. Weil Kamperdick sich weigerte, das verhängte Bußgeld zu zahlen, kam es zum Prozess.«
Der Vollständigkeit halber muss die spannende b)-Kategorie noch um ein Sündenregister erweitert werden, das zwar rein privater Denknatur ist, aber meist der politischen Seite zugerechnet wird: jede Art von Anspielung auf Nazi-Deutschland ohne allerallergrößte Abscheu. Herta Däubler-Gmelin soll irgendwie in einem Satz Hitler und Bush genannt haben – ahrrgg! – das muss einen doch in Deutschland den Karriere-Kopf kosten, wenn man nicht Künstler ist. Unter gar keinen Umständen darf man davon ausgehen, irgendwer höre einem noch zu, was man eigentlich wirklich sage. Immerhin kann man sich damit bis zum heutigen Tag in den Medien von Null auf Hundert katapultieren. So brachte ein unbedeutender Bundestagsabgeordneter namens Martin Hohmann bei einer Rede am 3. Oktober 2003 die Begriffe »Juden« und »Tätervolk« zusammen. Das reichte aus, um ihn, der da recht verworren von Sozialhilfe, Entschädigungen und Bolschewismus lamentierte, zum Gesprächsthema in jeder Kantine zu machen – wenn auch erst fast einen Monat nach seiner Rede, die dann doch noch jemand im Internet gelesen und dem Hessischen Rundfunk zur Kenntnis gebracht hatte. Was er da wirklich gesagt hatte, worum es ging – völlig wurscht, der »Fall Hohmann« war konstituiert und mithin Hohmanns Anspruch, auch in den folgenden Jahren Aufmerksamkeit zu genießen, sobald er irgendwo auftaucht und es möglicherweise um Juden oder den Staat Israel gehen könnte. Was Hohmann, inzwischen aus der CDU gefeuert, sonst so als Parlamentarier dachte, machte, abstimmte – niemand weiß es und es hat niemals interessiert. Denn auch das ist ein eklatantes Defizit unseres Parlamentarismus': Er spielt keine Rolle. Mit viel Glück können wir ein Dutzend Abge268
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ordnete benennen, der Einfachheit halber sind ja neun von ihnen zugleich Bundesminister und einer Kanzler, als kleine Merkhilfe. Vertreter der c)-Kategorie sind glücklicherweise selten, nur ab und an fällt mal einer vom Himmel.
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Tarnen & Täuschen – Die Machttricks der Politiker Wer heute als Bundespolitiker bestehen will, muss wahrlich keine große Leuchte sein. Die »politische Klasse« hat sich eine völlig eigene Welt geschaffen, die sich nach ihren eigenen physikalischen Gesetzen dreht. Trickkarte Grundgesetz Merkwürdigerweise hat es immer noch etwas sehr ehrenhaft Staatstragendes an sich, wenn irgendwer ankündigt, in dieser oder jener Sache »nach Karlsruhe« zu gehen oder, noch respektvoller formuliert, »zur Not bis vor das Bundesverfassungsgericht« zu ziehen. Denn das kann ja nicht von schlechten Eltern stammen: etwas auf seine Verfassungsmäßigkeit hin prüfen zu lassen. Meist aber prüfen Politiker schön selbst: Sexverbrecher für immer wegsperren? Wäre doch verfassungswidrig! Arbeitslose ungeachtet der bisherigen »Zumutbarkeit« zur Arbeit zu verpflichten? Absolut gegen die Verfassung. Wenn man sich hingegen politisch einig ist, dann passt auch die Verfassung irgendwie. Die Bundeswehr im Kosovo, obwohl von ihm nicht angegriffen? Es müsste Angriffskrieg genannt werden, der strikt verfassungswidrig ist. Aber hier wurde schnell ein neuer Verteidigungsfall geschaffen – und gut war's. Oder man nimmt sich des Grundgesetzes eben an. Flüchtlinge gingen CDU wie SPD auf den Senkel. Kosten Geld, bringen aber keine Wahlstimmen. Also wurde ein bisschen die Verfassung geändert, was unter anderem die Erfindung sicherer Drittstaaten mit sich brachte. Die so modellierte Verfassung wurde zwar nie vom Volk gemacht – und auch bei der Pseudo-Reform im Zuge der DDR-Inkorporation blieben Poli270
Tarnen & Täuschen
tiker ganz unter sich, ein Referendum oder eine andere Form der Volksbefragung war undenkbar –, trotzdem soll sie im höchsten Maße die Volkssouveränität wiederspiegeln. Doch wenn gar nichts mehr geht, wenn die Politik kapituliert: dann wird Karlsruhe gebeten zu entscheiden. Denn damit können später so oder so alle Parteien leben. Jeder kann seine Klientel weiter bedienen: »Seht ihr, wir hatten recht« oder »Tut uns leid, wir haben uns ja dagegen gestemmt, aber nun hat uns Karlsruhe verpflichtet«. Damit lässt sich leben. Unerhört daher, wenn die Verfassungsrichter einmal der Ansicht sind, ein Problem sollte gefälligst von der Politik gelöst werden, weil eben keine Gesetze zu interpretieren, sondern Entscheidungen zu treffen sind. Trickkarte Europa Es ist der billigste und zugleich genialste Taschenspielertrick unserer Politiker, mit dem sich die Täter zu Opfern machen: heute ist alles Europa. Wenn wir etwas wollen, was die Politiker nicht gut finden, dann hat es Brüssel verboten oder unmöglich gemacht. Asylrecht, LKWMaut, Schulzeit – völlig egal, im Zweifelsfall wird gerade etwas europäisch harmonisiert. Dass dabei fast alle Macht von den Ministerpräsidenten ausgeht, verschweigen unsere Politiker gern, hat es doch etwas denkbar undemokratisches an sich, dass Bundeskanzler und Premier und Staatspräsident ohne ihre Parlamente ausmachen, was in Europa die Kartoffeln kosten, wie besoffen man Auto fahren darf und ob in Burundi irgendein Stamm gerade den europäischen Verteidigungsfall konstituiert. Da wir deutschen Bürger an der neuen »Verfassung« Europas auch nicht beteiligt sind, ist Besserung nicht in Sicht. Aber selbst der Einfaltspinsel versteht: die Liebe zu Europa, die sich quer durch alle Parteien zieht, kann kaum altruistisch angerührt sein. Und dass die Macht, um die es hierbei in Wirklichkeit geht, weder im 271
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Europaparlament liegt noch in der EU-Kommission, zeigt unschlagbar die personelle Bestückung dieser Gremien. Mit Europa haben sich die Politik-Chefs die größte Mauschelbude dieser Erde gebastelt. 80% aller neuen Gesetze oder Gesetzesänderungen in Deutschland beruhen inzwischen auf Europa-Vorgaben, stehen also gar nicht mehr ernsthaft zur Diskussion. Die Opposition schweigt, denn sie kennt das demokratische Spiel: ab und zu wird gewechselt, und dann darf man ja selbst auf das große europäische Podium.
Trickkarte Sachverständigenrat Politik ist öffentliche Inszenierung, und die Berufung von Sachverständigenräten gehört zu den vornehmsten Inszenierungen, ungefähr auf dem Level von Bayreuth. Hier wird vom Ergebnis her gedacht: was ein echter Sachverständigenrat ausbrütet, muss unschlagbar sein. Das will selbst die Politik normalerweise nicht mehr zerreden, nähme sonst doch dieser wunderbare Trick gesellschaftlicher Disziplinierung grundsätzlich Schaden. Ein guter Sachverständigenrat muss daher gewährleisten, dass am Ende raus kommt, was die Politik haben möchte. Sachverständigenräte zur Sicherung der Rente, zur Verringerung der Arbeitslosigkeit, zu allen großen Streitthemen eben, sie sind eine Waffe der Politiker. Weil die Welt zu kompliziert ist, als dass wir Bürger sie noch verstehen könnten, versammeln Politiker die großen Krakeeler in einem Sachverständigenrat – behelfsweise auch in einer Ad-hoc- oder Enquetekommission, an einem »Runden Tisch« oder in einem »Bündnis« –, schicken sie in Klausur und präsentieren am Ende zufrieden das Ergebnis. Sachverständigenräte sind nicht ganz unaufwändig und nicht immer wirklich kalkulierbar – aber sie sind im Gegensatz zu einzelnen Gutachten kaum angreifbar. Auch wenn die CDU es versucht hat, der Hartz-Kommission der Regierung ihr eigenes Gremium mit Roman 272
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Herzog an der Spitze entgegen zu stellen. Aber das funktioniert nicht. Wir würden ja auch keinen zweiten Bundestag akzeptieren. Oder einen von der Opposition ausgerufenen Alternativ-Bundeskanzler. Dass es für echte Problemlösungen keinen Sachverständigenrat brauchen kann, liegt freilich auf der Hand. Wenn die Frage zu klären ist, wie weit menschliches Verhalten für Klimawandel verantwortlich ist oder sein kann, dann klären das Wissenschaftler, Umweltverbände und alle anderen, die sich auf dem Themenfeld tummeln, öffentlich miteinander. Vernunftbegabte und am Thema interessierte Menschen können dann selbst prüfen, was überzeugt und was nicht. So schwer ist das nicht. Zumal uns die Experten immer wieder vorführen, dass sie selbst einfachste Fragen nicht verlässlich klären können: Muss der Staat »in wirtschaftlich angespannten Zeiten« eher sparen oder sich stärker verschulden? Ist im Weltraum Leben vorhanden, von der Erde abgesehen? Bringt ein Wahnsinnsschnellzug wie der Transrapid mehr als er schadet? Selbst solch banal anmutende Fragen werden von den Sachverständigen sehr unterschiedlich beantwortet und im Zuge der Ratsarbeit daher zu einem politisch-korrekten Brei vermengt. Politik ist nicht Wissenschaft. Sie soll für uns Ziele klären und dann nach Wegen dorthin suchen. Aber das ist eben gefährlich, weil klar ist, dass hier dringend sehr viel Grundlegendes getan werden muss. Und meist gibt es zu allem Schreck auch noch konkrete Vorschläge. Beispielsweise regenerative Energie viel stärker zu fördern als bisher. Oh Gott! Was sollen denn die schnarchigen Energiekonzerne dazu sagen, die weiterhin Öl verbrennen oder Gas verschachern oder Öko-Atomstrom ins Netz einspeisen wollen? Sachverständigenräte lösen das Problem. Sie sagen, was geht und was nicht geht – und die Politik kann weitermachen. 273
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Trickkarte Diplomatie Diplomatie ist etwas, wovor auch der größte Spötter Respekt hat. Wenn »die Stunde der Diplomaten« schlägt, stehen wir wieder kurz vorm Krieg. Dann ist Schluss mit lustig und wir benehmen uns artig. Dann blicken alle sehr ernst drein, es wird lange verhandelt (immer, immer bis in den frühen Morgen!), natürlich mit Unterbrechungen, der Dramaturgie wegen. Am Ende jedenfalls steht dann irgendeine Entscheidung, auf die sich Politiker und ihre diplomatischen Unterhändler geeinigt haben – und wir sind froh, dass es gerade noch mal gut gegangen ist. Die Amerikaner z.B. wollten uns – bereits eingereiht in die Schurkenachse des Bösen – schon plattbomben, weil unsere Regierungspolitiker nicht ganz so Feuer und Flamme für den Irak-Krieg waren wie sie. (Dabei wäre ein viel einsichtigerer Grund gewesen, dass dieser Schurkenstaat Mohamed Atta in Hamburg Unterschlupf gewährt hatte.) Aber Dank der Diplomatie leben wir noch, haben noch McDonalds im Land und kriegen manchmal sogar ein Visum für einen USA-Urlaub. Diplomatie ist die absolute Trumpfkarte der Politik. Nicht jeder hat sie im Ärmel, die meisten Politiker sind schlicht und ergreifend zu dappisch dafür. Aber wer sie spielen kann, der ist zum Außenminister prädestiniert. Und weil Diplomatie nix fürs gemeine Volk ist und wir so was aus der Familie gar nicht kennen, sind diplomatische Politiker-Einsätze stets auch eine Sternstunde der journalistischen Kommentatoren. So erklärt Nikolaus Blome in der WELT am 15. November 2002: »Zu einem Präventivschlag auch gegen den Irak bereit zu sein, heißt nicht, auf Diplomatie aus Prinzip zu verzichten. Die Franzosen haben das wie zum Vorbild erkannt: Geschickt 274
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haben sie gegen amerikanische Vorbehalte die Vereinten Nationen im Spiel gehalten, mithin die Diplomatie.« Alles klar?
Trickkarte Reform Sie ist die beste Erfindung, seit über Herrschaft öffentlich gesprochen werden darf: die »Reform«. Was dem Haus- oder Wohnungseigentümer die Renovierung, ist dem Politiker die Reform. 1. Für eine Reform braucht es exakt null Ideen. Denn sie schafft ja per definitionem nichts Neues, sie bastelt ein wenig am Bestehenden herum. Mit Reformen wird niemals »Neuland« betreten, Reformen liegen keine Erfindungen und keine Visionen zugrunde. Reformen sind stets nichts anderes als weitere Gesetze: Wir haben dies und das künftig zu tun und zu lassen. 2. Reformen kann daher jeder Politiker fordern. Ein neues Bild zu malen braucht wenigstens ein ganz bisschen Talent, ein vorhandenes nur umzuhängen schafft sogar Al Bundy. 3. Reformen sind niemals fertig. Vorübergehend mag ein Thema mal out sein, aber die nächste Gelegenheit, bei der es wieder aus der Mottenkiste geholt werden darf, kommt unter Garantie. Ein Fahndungserfolg der Polizei bei Kinderpornos reicht, eine »Reform des Sexualstrafrechts« zu fordern, ein PISA-Test genügt für ein monatelanges Bildungsreform-Spektakel. 4. Reformen bergen keine Gefahr, dass sich wirklich etwas ändert. Wer über eine Bundeswehrreform schwadroniert, muss nicht ernsthaft Sicherheitspolitik reflektieren. Wer den Kommunen nicht sagen will, dass sie einfach weniger Geld verballern dürfen, weil es eben nicht da ist, verordnet eine Gemeindefinanzreform. 275
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5. Gleichwohl kann man mit Reformdebatten quasi jede Hoffnung nähren. Sie lassen sich immer als hilfreich, nötig und gut verkaufen. Wie bei der Medizin halten wir inzwischen überhaupt nur noch Reformen für gut, wenn sie richtig schwer zu schlucken sind. 6. Reform-Gequassel lenkt von Problemen ab. Das ist wesentlich einfacher und billiger – und für Deutschland zudem schicklicher –, als einen Krieg zu führen. Die Etikette »Reform« benötigen Politiker, wenn es – aus welchen Gründen auch immer – mit dem normalen Rauschen nicht getan ist. Wie sollte ein Politiker vor’s Volk treten und sagen: »Sorry, Leute, mit den Steuern haben wir in den letzten Jahren alle viel Quatsch gemacht, das sehen wir ein, ändern es und entschuldigen uns demütig für Nerverei und Plünderung.« Stattdessen fordern
genau diejenigen, die für den Paragraphen-Terror verantwortlich sind, eine »radikale Vereinfachung des Steuersystems«.
Trickkarte Föderalismus Die Idee war zwar eine andere und sie stammt von den Alliierten – doch unsere Politiker haben auch das Konstrukt der Aufgabenteilung von Bund und Ländern voll in ihr Machtsystem integriert. So hoch Landespolitiker auch ihre Souveränität halten – so wenig nutzen sie diese. Als gerade mal wieder über eine »Liberalisierung« des gesetzlichen Ladenschlusses palavert wurde, traten gleich die Mahner hervor: Es dürfe in Deutschland keinen Flickenteppich bei den Öffnungszeiten geben. Natürlich, schließlich kann sich der deutschlandbummelnde Konsumentenbürger sonst gar nicht merken, bis wann er abends in Freiburg, bis wann in Hamburg und bis wann in Berlin einkaufen kann, wo das doch so wichtig ist für die Planung des Haushaltsvorstandes. 276
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Statt sich zu profilieren gleichen sich die Länder an. Wie weit das geht, konnte einem mal wieder deutlich werden, als Horst Köhler die bundesweite Gleichheit der Lebensverhältnisse ein wenig zur Disposition stellte: Unterschiede seien normal. Von wegen! Auch Bremen hat Anspruch auf alpine Skigebiete und München muss nicht mit dem Isarstrand vorlieb nehmen, nein, ein echter salziger Muschelstrand steht den Bajuwaren zu. So können sie munter fordern, zetern und attackieren – ohne dass etwas passiert. Man kann zunächst den Hartz-Gesetzen zustimmen, weil man sich davon finanzielle Vorteile erwartet, und sie anschließend öffentlich geißeln, weil es Wählergunst versprechen könnte (die Rechnung ging aktuell zwar nicht auf, aber egal). Was eigentlich Innenminister auf Landes- und Bundesebene gleichzeitig tun sollen, wo es doch wohl nur ein »Innen« gibt, bleibt das Geheimnis unseres leitenden politischen Personals. Dem Volk dient es ganz offensichtlich nicht. Wenn eine kurdische Familie gegen den Willen einer ganzen Schule, einer ganzen Ortschaft »abgeschoben« werden soll, dann schütteln die Beamten der kommunalen Ausländerbehörde, des Regierungsbezirks, des Landesinnen- und Bundesinnenministeriums ebenso wie die Mitglieder der Petitionsausschüsse sehr mitleidsvoll ihre Häupter: nein, machen können wir da nichts. Aber bemüht haben sie sich alle sicherlich bis zuletzt – nun gut, und der ein oder andere überlebt die Abschiebung ja auch. Trickkarte Ausschuss Wie geil die Erfindung parlamentarischer Ausschüsse ist, können wir nur ahnen. Denn ihr Sinn besteht gerade darin, dass wir nichts mitbekommen. Ganz offen sagen Abgeordnete in fast jeder Debatte: »Herr Kollege, darüber haben wir im Ausschuss schon intensiv gesprochen« oder »Da können wir dann nächste Woche im Ausschuss gerne weiter drüber sprechen« – aber bitte nicht jetzt 277
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und hier in der Öffentlichkeit des Parlaments, wo mir mein substanzloses Gestotter peinlich werden könnte. Gesetzesentwürfe werden ohne Aussprache in die zuständigen Ausschüsse überwiesen, bei der nächsten Lesung trompetet dann jede Fraktion ein bisschen was aus ihrem Standardrepertoire – und alsbald ist das Gesetz beschlossen und ausgefertigt – peng.
Trickkarte Fraktion Die 5%-Hürde hat bisher in den meisten Fällen ausgereicht, Quertreiber draußen vor den Parlamenten zu halten. Doch über Direktmandate kommt gelegentlich doch einer ins Hohe Haus. Die Damen Pau und Lötzsch zum Beispiel. Sie gehören aber in der Bundestagsfachsprache nicht etwa zur PDS, sie sind in allen amtlichen Drucksachen schlicht »fraktionslos«. Wer mangels Abgeordnetenmasse keinen Fraktionsstatus erlangt, darf ein wenig zuschauen, ist in seinen parlamentarischen Rechten stark beschnitten. Das findet das Bundesverfassungsgericht okay, weil es dem Parlamentsbetrieb irgendwie gut tun soll. Nebenbei kann man damit viele weitere Pöstchen schaffen, neue Alimentierungsgrundlagen schaffen und über den ebenfalls völlig zulässigen »Fraktionszwang« auch noch die Meinungsäußerungsfreiheit des Abgeordneten faktisch aufheben. Das muss für den Abgeordneten keineswegs eine unangenehme Beschneidung sein, parteirationalisiert es doch das Denken.
Trickkarte Dementi Aus dem Bauchladen des einzelnen Abgeordneten sei noch beispielhaft das Dementi erwähnt. Mit ihm und seiner allgemeinen politischen Akzeptanz lassen sich Showkämpfe deutlich dramatisieren. An irgend278
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einer Stelle streut der Abgeordnete – sicherlich nicht immer freiwillig, oft auch vorgeschickt von seinen Parteibossen – irgendeine Idee, oft nur ein Stichwort. Man wartet die Reaktionen ab – und dann wird ggf. dementiert. Streng limitiert, um Verschleißerscheinungen vorzubeugen, ist das Dementi vor allem im Nachgang zu einem Interview. Die Zeitung druckt ein paar sehr schöne Zitate – und der zitierte Politiker behauptet, es handele sich um ein »unautorisiertes Interview«, also ein bisschen Märchenerzählung der Redaktion. Gesagt ist gesagt – und dementiert ist dann gleichwohl doch nicht gesagt. Einfach wundervoll.
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Affentheater – Wenn Politiker sich selbst nicht verstehen Neustens braucht man keine langen Zollpapiere mehr am Grenzübergang Cinovec-Altenberg. Bis Ende April 2004 hingegen konnte man Waren aus Tschechien nicht einfach nach Deutschland einführen. Neben vielen Formularen brauchte es dafür einen »Zollagenten«. Der gab den deutschen Zöllnern die Einfuhrumsatzsteuer, stellte sie dann dem deutschen Unternehmen in Rechnung, dieses bezahlte sie und ließ sich das Geld vom Finanzamt als Vorsteuer erstatten. Das hat viele Menschen beschäftigt, wie immer die Banken zu Gewinnern gemacht und war ansonsten ganz im Rahmen des deutschen Alltagswahnsinns. Über Nacht war es dann anders. Estland, Lettland, Litauen, Tschechien u.a. gehörten plötzlich zur EU. Damit ist der Transport über die Grenze »innergemeinschaftlicher Warenverkehr«. Weil es nun keine Einfuhrumsatzsteuer mehr gibt, muss an der Grenze niemand mehr Geld vorstrecken. Dafür aber wittert der exportierende Staat die Chance, bei sich Mehrwertsteuer zu erheben; auf diese darf nämlich nur verzichtet werden, wenn der deutsche Importeur nachweisen kann, in Deutschland selbst brav Umsatzsteuer zu zahlen; um Mehrfachbesteuerung zu vermeiden, verzichtet dann z.B. Tschechien auf die Umsatzsteuer, sie wird erst in Deutschland erhoben, sobald die Waren in den Verkehr gebracht werden. Das funktioniert aber erst, wenn der deutsche Unternehmer eine Umsatzsteuer-Identitätsnummer hat. Das ist weder seine Steuernummer noch sein persönlicher »Balkencode am Schniedel« (der Prophet Reinhard Mey 1986), sondern ein neues Nümmerchen, verwaltet vom „Bundesamt für Finanzen“, genauer dessen Außenstelle in Saarlouis. Ohne diese Nummer – bitte, es geht tatsächlich nur um eine Nummer, die auf formlosen Antrag hin zugeteilt wird! – liegt der Fortschritt der EU darin, dass man eben sowohl die Mehr280
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wertsteuer des Exportlandes als auch die einheimische deutsche Mehrwertsteuer zu bezahlen hat. Für das »Bundesamt für Finanzen« kam die Situation mit der EUOsterweiterung jedoch so überraschend, dass man dort z.T. Monate (!) brauchte, um einem deutschen Steuerbürger seine USt-ID-Nummer zu geben. Als Schwarzer wird man in Deutschland auf jedem Bahnhof, in jeder Fußgängerzone angequatscht – von grüner oder ziviler Polizei oder vom Bundesgrenzschutz, der ja längst und heimlich Schilys Bundespolizei geworden ist. Denn Schwarze sind immer Ausländer, ganz ausländische Ausländer, wenn nicht gerade die Franzosen wieder für farbliches Durcheinander gesorgt haben. Wer italienisch spricht, gehört zur EU, ist daher ein guter Mensch und hat polizeilich wenig zu fürchten. Wer hingegen türkisch spricht, kann nicht zur EU gehören, und wer doch durch Einbürgerung einen deutschen Pass besitzt, sollte ihn sich direkt auf die Stirn tackern. Denn bei echten Türken kann man bei der Überprüfung der Aufenthaltserlaubnis schon mal fündig werden. Der Schutz unseres Landes vor Ausländern wäre nur pathologisch, wenn er sich auf alle Nicht-Deutschen bezöge, doch er ist natürlich selektiv. Und so werden einmal die Polen mit nächtlichen Grenzjägertrupps aufgespürt, in wenigen Jahren genießen sie völlige »Freizügigkeit«. Irrsinn. Da beschließt eine unionsgeführte Bundesregierung 1991, Einwegverpackungen zu reduzieren, genauer gesagt eine Quote für Mehrwegverpackungen durchzusetzen. Die so genannte Verpackungsverordnung hat zwar mehr Ungereimtheiten als klare Aussagen, aber es stört niemanden – denn sie kommt über Jahre nicht zur Anwendung. Auch die SPD belässt das programmierte Chaos, bis ein Unterschreiten der Mehrwegquote ein Dosenpfand auslöst. 2004 – nach sechs Jahren sozialgrüner Regierung und steigendem Einwegverpackungsanteil – beklagt die Politik, dass die Bürger nun mehr Geld für Bierdosen zahlen 281
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müssen. Ob genau dies immer schon das Ziel war – egal. Überlegungen zu einer »konzertierten Aktion Müllvermeidung« gibt es nicht. Stattdessen auch nach zwei Jahren Pfand immer noch Kraut und Rüben im System. Dass Menschen ihr Pfandgeld zurückhaben wollen und es dazu Annahmestellen für bepfandete Verpackungen bräuchte, schwante den Politikern sämtlicher Parteien nicht, wie ihnen offenbar auch das System der Mehrwegflasche, die eventuell als Regelungsvorbild hätte dienen können, nicht geläufig war. Das Ganze noch eine Posse zu nennen, wäre Lobhudelei. Irreal sind viele Inszenierungen der Politik, und manchmal mit ihnen auch die gesamte Medienlandschaft und damit nicht mehr und nicht weniger als die Welt. So zum Beispiel am 10. November 1988. Bundestagspräsident Philipp Jenninger (CDU) hielt die Gedenkrede zum 50. Jahrestag des organisierten Nazi-Pogroms. Bereits am nächsten Tag trat er von seinem Amt zurück. Weshalb? Weil Politiker nicht zuhören können. Weil sie dem, was er da sagte, intellektuell und/ oder emotional nicht folgen konnten, dieses noch während der Rede kund taten, zum Teil den Plenarsaal verließen, unmittelbar Sondersitzungen folgen ließen und die Medien daher geradezu zwangsläufig einen Skandal zu verkünden hatten, der sich in deutschen Schlagzeilen dann sehr griffig darstellte: »Jenninger vom Faschismus fasziniert«, »Peinliche Entgleisung« oder einfach »Zum Verzweifeln«, die römische Zeitung IL TEMPO titelte »Hitler erhebt sich, der Bundestag leert sich«
Dabei hatte Jenninger deutliche Worte gefunden: »Deutschland hatte Abschied genommen von allen humanitären Ideen, die die geistige Identität Europas ausmachen«, hatte er gesagt. Oder: »Wer Schuld aufrechnen will, wer behauptet, es sei doch alles nicht so – oder nicht ganz so – schlimm gewesen, der macht schon den Versuch, zu verteidigen, wo es nichts zu verteidigen gibt.« Aber Jenninger sagte eben
auch Sätze, die sich nicht so einfach abnicken lassen: »Für das Schicksal der deutschen und europäischen Juden noch verhängnisvoller als die Untaten und Verbrechen 282
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Hitlers waren vielleicht seine Erfolge. Die Jahre von 1933 bis 1938 sind selbst aus der distanzierten Rückschau und in Kenntnis des Folgenden noch heute ein Faszinosum insofern, als es in der Geschichte kaum eine Parallele zu dem politischen Triumphzug Hitlers während jener ersten Jahre gibt.« Natürlich! Denn die Frage lautet doch: Wie konnte
ein 80-Millionen-Volk kollektiv so wahnsinnig sein, einem Adolf Hitler zu folgen und nicht schon beim Anblick von SS-Leuten in langen Ledermäntel einem Kotzkrampf zu erliegen. Unter anderem wohl, weil es »Antisemitismus [...] in Deutschland – wie in vielen anderen Ländern auch – lange vor Hitler gegeben« hatte, wie Jenninger ausführt. Das lässt sich eben nicht mit einer Gedenkfeier wegnivellieren. Und Jenninger zitierte, z.B. einen Reichsführer SS aus dem Oktober 1943: »Unter uns soll es einmal ganz offen ausgesprochen sein, und trotzdem werden wir in der Öffentlichkeit nie darüber reden [...] Ich meine jetzt die Judenevakuierung, die Ausrottung des jüdischen Volkes.« Es war aber eben nicht nur die SS. Jenninger: »Wahr ist aber auch, dass jedermann um die Nürnberger Gesetze wusste, dass alle sehen konnten, was heute vor 50 Jahren in Deutschland geschah, und dass die Deportationen in aller Öffentlichkeit vonstatten gingen. Und wahr ist, dass das millionenfache Verbrechen aus den Taten vieler einzelner bestand, dass das Wirken der Einsatzgruppen nicht nur in der Wehrmacht, sondern auch in der Heimat Gegenstand im Flüsterton geführter Gespräche war.« Kann man das missverstehen? So, wie beispielsweise
der DAILY EXPRESS, der kommentierte: »Die gute Nachricht ist, dass Dr. Philipp Jenninger gezwungen war zurückzutreten, bevor seine kühle Rechtfertigung des HitlerAlbtraums um die ganze Welt gehen konnte«? Man konnte offenbar nicht nur aufs
Verstehen verzichten, man konnte seinen eigenen Unverstand auch noch in eine Verschwörungstheorie umdeuten. Rudolf Augstein, ob seines furchtbar holprigen Kommentarstils vermutlich selbst permanent miss- oder nichtverstanden, sah »das entsetzliche an Jenningers Auftritt« nicht darin, »dass er sich als ein Antisemit, sondern dass er sich als ein Garnichts benahm«, was aber nicht Panne, sondern Kohl’scher Plan war, wie Augstein meinte. 283
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Die öffentliche Verwendung jeder Art Begrifflichkeit mit Bezug zur Epoche des kleinen deutschen Totalaussetzers führt geradezu zwangsläufig nach Absurdistan. Jamal Kennt-kein-Schwein Karsli wirft – noch als grüner NRW-Abgeordneter – der israelischen Armee im März 2002 »Nazimethoden« bei ihrem – ja wie soll man’s eigentlich nennen? – »Vorgehen« gegen Palästinenser vor. Danach »tobt in Deutschland eine Antisemitismus-Debatte«, wie recht allein die Medien finden, die brav die Aufregung der Politiker kolportieren. Claudia »Heulsuse« Roth, von der taz am 24.11.2001 als »Gurke des Jahres« geadelt, erstattet Strafanzeige gegen Jürgen Möllemann, der die Aussage von Karsli okay fand. Wieso, weshalb, warum hier der Staatsanwalt tätig werden sollte, weiß kein Mensch, und in Israel kracht es ja eh dauernd. Ein schönes Beispiel für die Absurdität von Politik und ihrer Irrelevanz für den Weltenlauf war kürzlich die Erregung des deutschen Parlaments über Noch-Bahn-Chef Hartmut Mehdorn. Der sprach von den »so genannten Verkehrsexperten«, die im Drei-Tage-Rhythmus gegen ihn, den großen Sanierer, polemisierten. Das fanden die so genannten Verkehrsexperten und ihre Expertenkollegen anderer Fakultäten so befremdlich, dass auch straßenkampferprobte Grüne eine Entschuldigung erwarteten. In graduellen Abstufungen fiel das Wort »Rücktritt«, den viele nur noch für eine Frage der Zeit hielten. Unsere Volksvertreter also sahen Mehdorn wackeln – weil sie sich nicht hochgeachtet fühlten, wie es ihnen ihrer Ansicht nach gebührt. Dabei gab es genau einen Grund, Mehdorn abfindungsfrei vor die Tür zu setzen: die Deutsche Bahn AG. !
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2003 wollte die Bahn ein neues Preissystem einführen. Das war noch irrer als die durchschnittliche deutsche Tagespolitik. Der Fahrpreis sollte u.a. vom Abstand zwischen Fahrkartenkaufdatum und gebuchtem Reisedatum abhängen. Zwar wollte die Bahn in keiner Weise auf solche »Frühbuchungen« reagieren (z.B. bei star-
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ker Nachfrage mehr Züge einsetzen), aber schick fand sie es irgendwie. Preisgünstigere Frühbuchungen standen aber auch nicht beliebig zur Verfügung, sondern in je nach Lust und Laune einzelnen Zügen zugewiesenen »Kontingenten«. Diese kleine, hirnfreie Aktion hat nach Schätzungen 600 Millionen Euro gekostet. !
Die Erfindung der Tür als ein permeables Wandstück ist so alt, dass eine moderne Bahn damit nicht leben kann. Daher bevorzugt die Deutsche Bahn AG für jeden Zug-Typ eine neue Modulation des Urtyps, die nur eine Bedingung erfüllen müssen: sie dürfen nicht funktional sein. So haben wir dann im zweistöckigen Regionalexpress Automatiktüren, die schneller wieder zugehen, als man sein Gepäck schnappen kann, vor allem aber sind sie schmaler als der durchschnittliche deutsche fastgefütterte Arsch. Ein immer wieder herrliches Spektakel, wenn Erstreisende diese Automatiktüren für Türen im Sinne eines permeablen Wandabschnitts halten – schreiend zappeln sie dann zwischen zwei Automatiktüren, biegen sich zwischen den Wagons in den Kurven. In andere Züge hat die Bahn Schiebetüren installieren lassen, die man zwar mit voller Muskelkraft öffnen muss, die sich aber nach einiger Verweildauer automatisch schließen. Auch hier: ein herrliches Spektakel, wenn Menschen – ihrer verbliebenen Resthöflichkeit folgend – nach dem Durschreiten der Tür versuchen, sie wieder hinter sich zu schließen, an ihr reißen, ziehen, toben, haben sie diese doch eben erst selbst geöffnet. Wunderbar.
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Ebenso skeptisch wie der Tür sind die so genannten Bahn-Profis von der Bahn dem Objekt »Fenster« begegnet. Von alters her konnte man diese Bauteile so bewegen, dass sie nicht mehr nur Licht, sondern auch Luft hindurch lassen. Diese Funktion musste im Zuge der Modernisierung weichen. Da sich auch die MedizinExperten bei der so genannten Bahn der Erkenntnis nicht ver285
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schließen konnten, dass ein Angleichen des O2-CO2-Verhältnisses zwischen Zug umgebender Außen- und Zug füllender Innenluft dem Überleben von Fahrgästen zuträglich ist, lassen sie inzwischen über ein ausgeklügeltes System unter lautem Klimaanlagensurren ein Gasgemisch einströmen, das in seiner öligen Modrigkeit den Schweißgeruch des Sitznachbarn mühelos überdeckt. !
In der Antike wurde eine Reihe von Wagons von einer Lokomotive gezogen. Die Mehdorn’sche Bahn hingegen verwendet »Triebeinheiten«, die geschickt so über den gesamten Zug verteilt werden, dass das Gesamtgefährt wackelt wie bei Parkinson im Endstadium und einen Lärm verbreitet wie eine Heidelberg Speedmaster. So kann man in der modernen Bahn weder lesen noch schreiben noch reden, was ein geschickter Schachzug der Unternehmenskommunikation ist, die Ausbreitung von polemischer Bahnkritik zu unterbinden.
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Ein nachahmenswertes Geldvereinnahmungsverfahren hat die Bahn im Wirtschaftsbereich Fahrkarte entwickelt. Durch eine geschickte Kombination von wegrationalisierten Schaffnern, als Fahrkartenautomaten getarnten Idiotentests und reinkarnierten Schwarzsheriffprüfdiensten wurde sie de facto durch Nichtbeschaffbarkeit aus dem Angebot eliminiert und durch die Schwarzfahrerpauschale ersetzt.
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Weil es der Bahn nicht gelingt, so schlechte Technik einzukaufen, wie sie es für ihr Unternehmensziel »Leerfahrt 2007« bräuchte, setzt sie sehr vorbildlich auf Chaos-Personal. Wer als zweibeiniges Stückgut noch freundlich lächelt, wird wegen eines Mangels am Transportschein zusammengestaucht (»Das ist nicht mein Problem, wenn Ihnen die Kollegen in Frankfurt die falsche Fahrkarte verkauft haben, mich interessiert nur, dass Sie hier einen Umweg fahren und deshalb nachzahlen müssen«), wo
der Laubfall zur Einhaltung des Verspätungsziels ausbleibt, zeigen Zugbegleiter, wie man aus einem Bahnhofshalt einen Bummelstreik macht. 286
Große Probleme ganz klein
Große Probleme ganz klein – Eine Art Resümee Ronald Schill, diese politische Bratwurst, hat in seiner denkwürdigen Rede am 29.8.2002 im Bundestag innerhalb eines Satzes mit zwei Hauptaussagen immerhin eine Wahrheit kundgetan: »Wir haben die tüchtigsten Menschen, ohne Zweifel, aber sicherlich die unfähigsten Politiker.«
Natürlich. Sie sind vom Wohlstand versaut, von fünf Jahrzehnten, in denen sie nichts zu tun hatten und deshalb tun und lassen konnten, was sie wollten. Es lief einfach. Kein Krieg, kein Erdbeben, stattdessen Wirtschaftswachstum und Babyboom, nette Nachbarn und Supermächte, die irgendwie auf Deutschland standen. Inzwischen gibt es wieder etwas zu tun, und zwar ganz dringend. Die Aufgaben oder »Herausforderungen« sind dabei so fantastisch, dass es unsere Politiker nicht wert sind, sich an ihnen auszulassen – selbst wenn sie es könnten. Doch wir sind uns ja – inzwischen – einig: sie würden es nie packen. Denn fast alle Probleme, die heute unsere Existenz bedrohen, sind in Wahrheit Fortschritt. Nötig ist im Wesentlichen nicht mehr, als von Systemen, Regelungen und Wahrheiten Abschied zu nehmen, die aus längst vergangenen Zeiten stammen. 1. Die Menschen sterben nicht zeitig Es ist eines der großen Tabus. Nichts gegen Ethik, sie ist ein Kernelement menschlicher Vergesellschaftung, aber wir müssen das zur Kenntnis nehmen: Hygiene, gute Ernährung und fehlende Katastrophen sowie umfangreiche medizinische Hilfsmöglichkeiten im Krankheitsfall bescheren uns heute ratzfatz ein doppelt so langes Leben wie
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zu Kaisers Zeiten. Dennoch hampeln unsere Politiker immer noch mit industrialisierungszeitlichem Instrumentarium herum, an den Grundfesten wird nicht gerüttelt. Wir müssen gar nicht mehr tun, als den Zeithorizont endlich anzupassen. Und zwar jetzt und sofort und ohne Übergangsfristen. Rente für 60-Jährige – lächerlich, nein: unverschämt. Dankt Gott, dass ihr noch lebt, und tut dies mit euren Händen und Hirnen. Politiker werden der Wahrheit hier nie in die Augen sehen. Dabei ist es ganz einfach: Sag mir, wie alt du bist und wie viel du bisher verdient hast, und ich sage dir, was du bekommst, wenn du jetzt in den Sack haust. Die Zeiten von gesetzlichen Vorgaben für Lebens- und Wochenarbeitszeit sollten doch längst vorbei sein. Welch Untertanen-Denken, wenn selbst solch elementare Lebensfunktionen vom Staat gemanagt werden sollen. Jeder soll es machen, wie er mag – nur nicht auf Kosten anderer. Und um allen Diskussionen ein Ende zu bereiten, gibt's das Bürgergeld für alle, immer und ewig, ohne jeden Nachweis. Aber eben auch nicht mehr. Niemand soll in der Hängematte hungern, aber wer den Winter gerne in Palma verbringt, der wird sich dafür selbst Euros beschaffen müssen. That's it. 2. Arbeiten ist überflüssig Das zweite Wunder nach der unglaublichen Lebenserwartung: Schweiß und Mühsal muss das Leben nicht mehr sein. Man kann heute als Rechtsanwalt Briefe diktieren und wird davon mehr als satt. Oder man steht bei Fußballspielen zu Hunderten rum und guckt ziemlich arschlochmäßig aus seiner grünen Kluft. Reicht auch völlig zum Leben. Nix mehr Kühe melken, nix mehr Ähren dreschen. Doch leider droht uns das Schlaraffenland gerade hinzuraffen wegen massiver Verdauungsprobleme, die uns die fliegenden Brathändl bereiten: Der allergrößte Teil der Bevölkerung wird nicht mehr für die essentielle Pro288
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duktion benötigt. Der ein oder andere findet noch einen Job im aufgeblasenen Beiwerk, lötet Handy-Platinen zusammen oder forscht, warum in dieser Gesellschaft so viele Bekloppte rumrennen. Auch hier bereitet uns nur ein unvorstellbarer Konservativismus Probleme, wo eigentlich glänzende Zukunft ist. Die Amis bereiten Irakis ja auch nicht mehr mit dem Morgenstern auf Verhöre vor, weil sich gezeigt hat, dass die Aussagequote darunter stark leidet. Welch paradiesische Aufgabe, an Modellen einer Gesellschaft arbeiten zu dürfen, in der es klassische Produktion durch Menschenhand nicht mehr braucht, in der viel Zeit für Lebensqualität ist, für Sinnvolles. Doch unsere Politiker freuen sich über die Ansiedelung von Einkaufszentren und den neuen Arbeitgeber, der eine Müllvorsortierungsanlage betreibt. Zugegeben, wenn wir an Hartz denken, kommt aus der Wirtschaft auch nicht viel Schlaueres, aber wen soll es wundern, wo sich Wirtschafts- und Politikbosse doch längst symbiotisch durch die Welt schmarotzen. Es sind doch wunderbare Szenarios, die sich da ausmalen lassen: Wir haben Zeit für gute Dinge, weil wir uns um das Profane nicht kümmern müssen und auch noch lange leben. Luxus pur: Keine einsamen Alten mehr, keine dummen Schüler, keine nervigen LKW in der Stadt, kein vergifteter Industriefraß auf dem Tisch.
3. Was weg ist, ist weg Wen auch immer wir künftig zu unserem Sachwalter bestellen, die Erfahrung der letzten 30 Jahre in unserer Demokratie zeigt, dass wir in den Vertrag ein paar Volksweisheiten aufnehmen sollten. »Einem nackten Mann greift man nicht in die Tasche«, heißt es z.B. bewusst antipatriarchal. Oder: »Man kann die Mark nur einmal ausgeben«, und zwar ohne Diskussionen auf »Heller und Pfennig« genau. 289
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Mit dem Bündel dieser Lebensweisheiten wären auch unsere Politiker gut bepackt – aber gut, das Thema ist durch. Eben war einem Orakel über das nächste Wahlprogramm der Union zu entnehmen, die Herrschaften planten spezielle Mautgebühren für sehr spezielle Straßen, heißt: weil die Staatskasse bekanntlich bereits überplündert ist, streicht man einfach ein paar Posten und privatisiert das dazugehörige öffentliche Aufgabenfeld. Diesen Muckefuck sind wir redlich leid. Es gibt ein Haushaltsgeld, und damit wird dann gewirtschaftet, fertig. Und da kein Vertrag ohne Sanktionen auskommt: Drei Jahre Knast für jeden, der eine Idee für neue Staatseinnahmen vorträgt. Es gibt einfach nicht mehr, von uns zumindest nicht, fertig ab. (Dass gegenüber dem heutigen »Volumen« sogar deutlich weniger eingenommen werden darf, ist wohl Konsens.)
4. Die Welt ist eine Kugel Diese Nikolaus-Weisheit ist noch nicht in Gänze zu unseren Politikern durchgedrungen. Bislang nutzen sie das Erdenrund vor allem, um überall hinzufliegen und am Ende doch wieder in Berlin zu landen. Und unter »Globalisierung« verstehen sie Eroberung der letzten Märkte. Für alles andere gibt es ihrer Ansicht nach ja sie selbst als Oberheinis und dann die zugehörigen Vollstrecker. Bundesgrenzschützer z.B. Sie sollen dafür sorgen, dass wir es uns hier weiterhin mit saudischem Öl, südafrikanischer Kokskohle und brasilianischem Kaffee gut gehen lassen. Dieser Problembereich ist nun ganz und gar nicht neu – und so bietet die Geschichte viele Ideen, wie man damit umgehen kann, dass man andere ausbeutet und dann Angst haben muss, sie könnten eines Tages im Wohnzimmer stehen und Dividende fordern. 290
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Zugegeben, diese Sache ist etwas diffiziler. Es gibt viele sehr merkwürdige Menschen auf dieser Welt, und viele Staatschefs der sog. Dritten sind noch viel dubioser als unsere. Aber eines muss man klipp und klar sagen: auch diese schwierigen Fragen von Verteilung, von Kooperation, von Zuwanderung etc. sind Ergebnis unseres Wohlstands, also unmittelbarer Fortschritt. Es wird im Zweifel nur darum gehen, andere ein bisschen weniger auszubeuten oder ihnen etwas mehr für das zu geben, was wir von ihnen wollen. Es wird eine geistige Weltoffenheit erforderlich sein, die uns sicherlich nicht genuin ist, die aber nun einmal das unvermeidbare Resultat des Kapitalismus ist, der sich über alles und jeden wälzt, der haucht, und der jeden Winkel dieses Universums zu Markte trägt, weil sich irgendwie mit ihm Geld machen lassen wird. Tja, und das war's auch schon. Alles andere ergibt sich dann fast von allein. Natürlich müssen wir z.B. den gesamten Güterverkehr auf die Schiene legen oder unter »Cargo-Lifter« hängen. Selbstredend müssen wir die Güterbewegung gewaltig reduzieren, verbrauchernah produzieren, Arbeit und Wohnen wieder aneinanderrücken. Statt über immer mehr Ganztagsbetreuung von Kindern zu sinnieren, wollen wir Zeit für Familie haben statt Arbeitszeit für »Vater Staat«. Eine schöpfungsfreundliche Landwirtschaft verlangt einiges an Managementarbeit, aber sie ist machbar. Natürlich brauchen wir völlig neue Stadtentwicklungskonzepte, müssen wir die asozialen Ghettos auflösen. Die Seniorenverwaltung muss einer aktiven und kreativen Altenarbeit weichen. Wissenschaftliche Spielchen mit Affen und Mäusen müssen wir ebenso beenden wie den Braunkohlebergbau und die Atommeilerei. Natürlich gibt es viel zu tun nach jahrzehntelangem Politikerwirken. Aber das verlangt keinerlei Umstürze, keine genialen Ideen. Es ist naheliegend, es ist mehrheitsfähig, es ist absolut machbar. Natürlich muss die gentechnische Veränderung unserer Lebensmittel gestoppt werden. Aber auch das ist nicht besonders schwer. Denn 291
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die ganze abschiebbare Zwangsläufigkeit für »grüne Gentechnik« sind zwei Hände voll offenbar leicht seniler Männer. Nichts, nichts, gar nichts sonst spricht für diesen Wahnsinn. Und von daher sollten wir die Sache auch ganz ruhig angehen und diesen kleinen, gravierenden Fehler korrigieren. Wie viele, viele andere auch. Ach so, doch, ein Problem haben wir noch. Es ist nicht sehr schwerwiegend, mit etwa 190 Tonnen nur etwas gewichtiger als ein Blauwal – und heißt Berufspolitiker (im Parlament). Es steht wohl außer Frage, dass wir ihnen nicht noch eine vierhundertdreiundsiebzigtausendste Chance geben. Da muss man auch mal egoistisch sein. Was nutzt mir eine statistische Lebenserwartung von jetzt noch 40 Jahren, wenn bereits heute die Schrödergeschwüre in meinem Magen wuchern und mich die Angelagicht zerfrisst? Wenn Sie sich vor ultimativen Schritten scheuen, bitte, gehen Sie zu ihrem Wahlkreisabgeordneten und fragen Sie ihn zum Beispiel: 1. Ich möchte gerne wieder Milch vom Nachbarhof trinken und Schweineschnitzel essen, das ohne jeden Transport auch dort geschlachtet worden ist. Wann wird das soweit sein? – monatsgenau reicht mir, aber verbindlich muss es sein! 2. Im letzten Jahr wurden 40.043 Kinder im Straßenverkehr verletzt. Wir sprechen hier nicht von aufgeschlagenen Knien. Ich erwarte, dass ab morgen kein Kind mehr überfahren wird, weil schlicht Fahrzeuge nicht mehr als geschwindigkeitsbasierte Waffen missbraucht werden dürfen, sondern jeder das Automobil nur noch zur unumgänglichen Autobeförderung benutzen wird – das sollte ja wohl kein Problem sein. Aber schaffen SIE das? 3. Im Bundesgesetzblatt von letzter Woche habe ich auf der Suche nach Ferienbungalows auf Sylt zufällig folgende Neuregelung der Straßenverkehrszulassungsordnung gefunden: 292
Große Probleme ganz klein
»§ 27 Abs. 7: Soll ein vor dem 1. Oktober 2005 endgültig aus dem Verkehr zurückgezogenes Fahrzeug oder ein Fahrzeug, das nach Ablauf der Frist nach § 27 Abs. 6 als endgültig aus dem Verkehr zurückgezogen gilt, erneut in den Verkehr gebracht werden, ist der Zulassungsbehörde 1. bei zulassungspflichtigen Fahrzeugen der Fahrzeugbrief und eine amtliche Bescheinigung über die Abmeldung und 2.bei zulassungsfreien Fahrzeugen, denen ein Kennzeichen zugeteilt werden soll, eine amtliche Bescheinigung über die Abmeldung vorzulegen.«
Soll so was eigentlich jemand lesen? E. Zimmermann rät Ihnen: sprechen Sie langsam, deutlich aber bestimmt. Kontrollieren Sie Ihren Atem. Lassen Sie sich von ihrem MdB nicht zum Schnaufen bringen, achten Sie auf Ihren Puls! Nach Ihrem Besuch in der Sprechstunde des Abgeordneten werden Sie keinerlei Vorbehalte mehr gegen seine Abschaffung haben. Den meisten Menschen schwant ja das ganze Ausmaß der Misere noch gar nicht.
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Dringender Handlungsbedarf – Was wir als erstes tun müssen Solange wir uns nicht von der Demokratie verabschieden wollen oder von ihr verabschiedet werden, soll die Bevölkerung entscheiden, wo es langgeht. Soweit sind sich alle einig. Die Idee ist, dass auf diese Weise Entscheidungen auch von der Mehrheit getragen werden, also durchsetzbar sind. Deshalb mag es zwar noch Montagsdemonstrationen geben, aber es steht nicht das ganze Land Kopf. Solcherart mehrheitsfähige Entscheidungen treffen unsere Parlamente nur selten und eher zufällig, nicht weil Abgeordnete oder Senatoren besonders schlechte Menschen wären, sondern weil sie einer anderen Profession nachgehen: der persönlichen politischen Karriere. Mehrheitsentscheidungen können auch anders als im Parlament in Form der Stellvertretenden-Versammlung zustande kommen. Volksabstimmungen sind die bekannteste Form direkter Demokratie, d.h. Entscheidung der Bürger ohne Umwege. Eine solch unmittelbare Entscheidung des Volkes gibt es in Deutschland nur in den einzelnen Bundesländern, nicht jedoch auf Bundesebene für ganz Deutschland. Dabei werden die weitreichendsten Entscheidungen natürlich vom Bund getroffen: Das gesamte Bürgerliche Gesetzbuch, das Strafrecht oder auch die Steuerbestimmungen können nicht auf Landesebene geändert werden. Deutschland ist das einzige Mitglied der alten EU, das auf nationaler Ebene keine Bürger-Selbstbestimmung kennt. Während in Österreich, Frankreich, Italien, Spanien, Portugal, Großbritannien oder Schweden gerade über große Schritte vom Volk direkt entschieden wird – NATOMitgliedschaft, EU-Beitritt oder Währungsunion z.B. – verweisen deutsche Politiker hanebüchen aber wirkungsvoll auf die Volksentscheid294
Dringender Handlungsbedarf
versuche der Weimarer Verfassung und die Staatslehre, dass darum nur Parteipolitiker Sachfragen entscheiden können. Volksentscheide können Gesetze zustande bringen oder Beschlüsse des Parlaments revidieren. Dieses »Referendum« genannte Verfahren ist ein nicht zu unterschätzendes Korrektiv: die Verhandlungen, das Feilschen an Einzelheiten, die Suche nach dem Kompromiss bleibt zwar den Politikern vorbehalten – doch ob das Ergebnis dann auch wirklich Gesetz wird oder nicht, entscheiden die Bürger direkt. 70 bis 85 Prozent fordern in den verschiedenen demoskopischen Erhebungen solche plebiszitären Entscheidungsformen – doch die Politiker im Bundestag lehnen sie regelmäßig ab. Der kleine Wortbeitrag des Aschaffenburger CSU-Abgeordneten Norbert Geis, Rechtsanwalt und seit 15 Jahren Mitglied des Bundestags, bringt ein Selbstverständnis auf den Punkt, das unter Politikern wohl konsensfähig ist: »Sie können von der Bevölkerung auch nicht verlangen, dass sie sich in eine einzelne Sachfrage so einarbeitet, wie man es von einem Vertreter des Volkes verlangen kann und muss. Dafür sitzt er hier; er ist von der Bevölkerung in dieses Parlament abgeordnet worden, damit er sich um diese Angelegenheiten besser, intensiver und vielleicht auch mit mehr Sachverstand kümmern kann, als es ein Geschäftsmann, ein Arbeiter an der Drehbank oder eine Erzieherin im Kindergarten tun könnte.« Der Politiker als Fachmann und fleißiger Arbeiter für das Volk. Das glaubt natürlich außerhalb von Parlamenten niemand, aber dort gehört es zum SelbsterhaltungsCredo. Noch abenteuerlicher wird Geis beim »Prinzip der Verantwortlichkeit in einer Massendemokratie«: »Man kann einen Politiker verantwortlich machen, wenn er eine falsche Entscheidung trifft oder wenn man mit seiner Entscheidung nicht einverstanden ist. Aber man kann nicht all diejenigen, die im Rahmen eines Volksentscheids eine Entscheidung 295
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getroffen haben, verantwortlich machen, wenn die Entscheidung – das kann ja auch sein – falsch und nicht im Sinne der Fortentwicklung des Volkes ist.« Wie bitte? 503
Abgeordnete saßen in der letzten Legislatur nicht zum ersten Mal im Parlament. Sollten wir also mit mindestens 75% der Parlamentarier zufrieden gewesen sein – ungeachtet dessen, dass die Austauschrate wesentlich durch Alter und veränderte Sitzverteilung bedingt ist? Natürlich nicht. Fakt ist, dass wir auf die personelle Zusammensetzung des Bundestages kaum Einfluss haben. Wo ist die Haftung dieser von uns nicht gewählten Abgeordneten für beschlossenen Millionen- und Milliarden-Schwachsinn? Die gibt es nicht, denn was Schwachsinn ist, legt die Politik höchst selbst fest. Unsere Politiker bekommen Herzkammerflimmern, wenn jemand visioniert, das Volk könnte eines Tages selbst bestimmen, wie viel Steuern es zahlt und für was das Geld dann gemeinschaftlich investiert wird. Bürger entscheiden zu lassen halten Politiker für gefährlich – und mit einem Standardbeispiel folgen ihnen sogar viele Wähler: die Todesstrafe, wird immer wieder angeführt, würde per Volksentscheid sofort wieder eingeführt, wenn der nächste Kindermord durch die Medien geistert. Ob das so ist, sei mal dahingestellt ( – und dass Politiker selbst weniger reaktionär handeln, glaubt spätestens seit den hundert Gesetzesänderungen im Schnelldurchlauf nach dem 11. September 2001 niemand mehr). Aber wenn es so wäre, wenn die Mehrheit der Bevölkerung für die Todesstrafe ist, mit welcher Bevormundungsargumentation können dann Politiker ihre Einführung verhindern? Wäre es nicht eher angezeigt, dass sie für ihre Anti-Haltung werben, dass sie argumentieren und überzeugen – aber den Wähler, die Bürger entscheiden lassen? 296
Dringender Handlungsbedarf
Die politische Praxis funktioniert genau umgekehrt. Jeder Europaparlamentarier hält es für seine Aufgabe, uns Bürgern das Konstrukt Europäische Union schmackhaft zu machen. So weit, so gut. Nur: bis dahin handelt er – angeblich für uns – als glühender Verfechter des »europäischen Einigungs-Gedankens«. So beschließt die Kommission in Brüssel munter vor sich hin, was in den Mitgliedsländern in geltendes Recht umzusetzen ist – und irgendwann werden wir uns damit anfreunden. Das hat mit dem Euro ja auch geklappt. Politiker fürchten um ihren Job, wenn das Volk einfach darauf verzichten würde, sich von ihnen pausenlos bevormunden zu lassen. Doch das müssten sie gar nicht! Sie müssten nur endlich mehr für uns und weniger für sich arbeiten. Das Internet hat Journalisten nicht überflüssig gemacht, aber es hat ihre Kernaufgabe verdeutlicht: Konnte man früher Meldungen en masse produzieren, einfach weil man den Informationsvorsprung der Pressemitteilung oder einer anderen Quelle hatte, ist dies heute fast alles frei verfügbar – schneller als über jedes journalistische Medium – und ungefiltert. So ist es die Aufgabe der Journalisten, gerade das herauszufinden, was nicht ohnehin von Interessengruppen feilgeboten wird – und vorhandene Informationen zu sammeln, zu werten, zu gewichten, zu strukturieren sowie weitergehende Fragen zu entwickeln. Auch der Verkäufer im Laden ist mit dem Internet-Handel nicht überflüssig geworden; aber er muss eben mehr bieten als gefüllte Verkaufsverpackungen. Politiker also müssten kompetente Politik machen, wenn sie nicht ständig von unseren Volksentscheidungen weggewischt werden wollten, gäbe es sie denn. Man muss sich natürlich auch klar machen: Volksabstimmungen sind keine naturwissenschaftliche Entdeckung, nichts, was man nicht verbessern und ändern könnte; sie sind ein menschliches Konstrukt. Direkte Sachabstimmungen des Volkes wären zwar gegenüber dem 297
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Status quo ein Fortschritt – die Glücksformel wären sie sicherlich noch nicht. In der Rechtspflege kennen wir ein anderes Instrument: den Laienrichter bzw. Schöffen. Er soll als ganz gewöhnlicher Bürger im Prozess und bei der Urteilsfindung seine unjuristische Sichtweise einbringen. Die USA haben dies mit den Geschworenen-Jurys wesentlich weiter getrieben und versucht, jeweils für die Bevölkerung repräsentative Jurys zusammenzustellen. In Deutschland gibt es immerhin Experimente, Bürger ernst zu nehmen. So hat Peter Dienel die »Planungszelle« entwickelt: durch Zufallsauswahl wird eine Gruppe von 25 Bürgern gebildet, die als repräsentative Vertreter ein planerisches Problem zu lösen haben – eine Stadtsanierung zum Beispiel, Veränderungen im Schulwesen, Umweltschutzmaßnahmen, aber auch die Fahrplangestaltung des öffentlichen Nahverkehrs. Das Spannende an Dienels Versuchen: nach drei Wochen gemeinsamer Bearbeitung eines Problems hat die Planungszelle in der Regel ein brauchbares Ergebnis anzubieten. Menschen, die keinerlei Ambitionen hatten, Politik zu machen, die durch ein Los in das Gremium »Planungszelle« berufen worden sind, die sich nun mit Dingen ihres Lebens beschäftigen sollen und wissen, dass ihre Ergebnisse hinterher auch irgendwie verwendet werden – diese Menschen arbeiten sehr ernsthaft und doch mit Vergnügen an der gesellschaftlichen Zukunft. Allerdings hat Dienel die Planungszelle nur als beratendes Instrument vorgeschlagen, nicht als verbindlich entscheidendes, weshalb heute mehr vom »Bürgergutachten« gesprochen wird. Doch warum sollten wir so wenig Vertrauen in uns haben – und so viel in Beamte, öffentlich Bedienstete und Politiker aller Couleur? Nur müssen wir uns an dieser Stelle entscheiden, was wir wollen: Beteiligung der 298
Dringender Handlungsbedarf
Bürger um der Beteiligung willen oder bestmögliche Entscheidungen, die von der Mehrheit getragen werden. Partizipation aus Prinzip ist langweilig. Viele Mitbürger wollen gar nicht entscheiden. Sie bleiben z.B. einer Wahl nicht deshalb fern, weil ihnen die Angebote auf dem Stimmzettel nicht passen, sondern weil sie die Wahl schlicht nicht interessiert. Das ist nicht nur legitim, sondern völlig normal. Bürgerversammlungen zur Neugestaltung eines Wohnquartiers werden längst nicht von allen Anwohnern besucht. Petitionen reichen nur sehr wenige Menschen bei Land- oder Bundestag ein, obwohl die meisten ein Anliegen haben dürften. Ja selbst vom Recht auf freie Meinungsäußerung machen nur sehr wenige Menschen Gebrauch. »Schröder muss weg« steht dann auf dem T-Shirt oder »Legalisieren!« über einem stilisierten Hanfblatt. Nur weil jemand von seinen Mitspracherechten keinen Gebrauch macht, sind ihm diese noch lange nicht egal. Wenn wir als Stimmbürger das verfassungsrechtlich verordnete Vertrauen haben sollen, dass »die da« nach ihrer Wahl schon das Richtige tun werden, dann darf man dieses Vertrauen allemal in seinen Nachbarn, Vereinskollegen oder BISprecher haben. Wir brauchen Entscheidungsprozesse, die jedem Teilnahme ermöglichen, die aber niemanden zur Teilnahme verpflichten – und die gleichzeitig jede Form professionellen Lobbyings unmöglich machen. So ist das derzeit bei den Wahlen. So könnte es aber auch bei Versammlungen sein. In überschaubaren Größenordnungen braucht es keine parteibesetzten Bezirksvertretungen – da können die Bürger schon noch direkt zusammen kommen. Das ist weder mit einem albernen Verweis auf die Schweiz (in der sich auch längst nicht mehr die Männer auf dem Marktplatz versammeln) zu karikieren noch mit einer angeblich ach so komplexen Welt wegzuwischen. Denn von der Welt verstehen wir so viel wie die selbstselektierten Abgeordneten, und dass Berufspolitiker ernsthaft 299
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mehr Zeit ins Informieren und Denken investieren, glaubt angesichts ihrer öffentlichen Auftritte und ihrer nachweislich sehr umfangreichen Partei-ABM wohl niemand. Es ist das Normalste von der Welt, dass wir miteinander reden – und recht unnormal, dass wir uns in Kreuzchen verständlich machen müssen. Wir brauchen in unseren Wohnorten keine Politiker, die an unserer statt entscheiden! Das können wir selbst. Aber wir brauchen zweifelsohne Leute, die uns bei der Entscheidungsfindung helfen, die Sachrecherchen betreiben, die verschiedene Vorschläge durchkalkulieren, die sich in anderen Gemeinden und Städten und Ländern schlau machen, wie man ein Problem denn dort angeht oder welche Innovation es in diesem und jenem Bereich gibt. Das brauchen wir – aber das wird auch bisher null und nicht von Politikern geleistet. Im Ansatz macht es vielleicht mal eine Verwaltung, was schließlich ihr Job wäre. Dieser Bereich muss deutlich professionalisiert werden, was sicherlich nicht mit Herrn Heesen und seinem Stand zu machen ist. Schlanke, effiziente Verwaltungen, die wir aufs Notwendigste reduzieren, in denen es keinen Parteienkrampf mehr gibt, weil wir Parteien fortschrittlich hinter uns gelassen haben, solche Verwaltungen können sehr viel nach außen geben, wie das heute schon ergänzend geschieht. Ob ein für jeden von uns verständliches Machbarkeitsgutachten, ein architektonischer Entwurf auf der Diskussionsgrundlage unserer Bürgerversammlung – es gibt für alles Firmen und freischaffende Künstler, Vereine und Initiativen, die mit Sachkompetenz einen guten Job machen können. Wie das genau zu managen ist, muss nicht hier erörtert werden. Es ist jedenfalls nicht besonders schwierig, gar nicht so weit weg von dem, was wir heute schon in Ansätzen haben, und doch ist es ein riesiger 300
Dringender Handlungsbedarf
Schritt, weil wir mit ihm tatsächlich ohne Politiker auskommen und damit den größten Problemgenerator unseres Lebens los sind. Politiker sind nicht entstanden, weil wir sie jemals gebraucht haben. Sie sind einfach die friedlichere, weniger willkürliche und polyploide Weiterentwicklung des Einzelherrschers. Politiker sind nicht da, weil man sie bräuchte, sondern weil sie ertragen werden, weil es in Deutschland mehr oder weniger 80 Millionen beherrschbare Bürger gibt, die Machtwillige fast zwangsläufig nach oben spülen, und seien sie noch so hässlich. Und natürlich, weil sie sich inzwischen in allen Strukturen unseres Staates eingenistet haben, von der Volkshochschule bis zum Fernsehrat, weshalb Hans Herbert von Arnim auch so schön resümiert: »Berufspolitiker verfügen damit in ihrer Gesamtheit – als einzige Berufsgruppe überhaupt – nicht nur über die gesetzlichen und finanziellen, sondern weitgehend auch über die ideologischen Bedingungen ihrer eigenen Existenz.« Gegen diese Vormacht-
stellung ist außer Mohn kein Kraut gewachsen. Die Beherrschbarkeit des Menschen lässt sich nicht ändern, ohne ihn neu zu schaffen. Aber es lässt sich gewaltig viel steuern, gerade weil wir um unser Rudelverhalten wissen. Die grundlegendste Reform muss sein: Entscheidungskompetenz in die kleinst mögliche »Einheit« zu verlegen. Das ist allen voran das Individuum: Was nicht wirklich ernsthaft für alle verbindlich festgelegt werden muss, darf nicht von wem auch immer angepackt werden. Das nennt sich dann Freiheit. Die Freiheit, zu wohnen, wo man möchte, ohne damit Behörden befassen zu müssen. Die Freiheit, Handel zu treiben oder eine Dienstleistung anzubieten, ohne dass man dafür einen eigenen Formular-Bewältigungs-Lehrgang braucht. Die Freiheit, zu essen, zu trinken, zu denken und zu sagen, was man will. Wir sind in Deutschland inzwischen so weit von Politikern domestiziert worden, dass vielen im Traum nicht der Gedanke kommt, im Leben könnte es ohne diese hundert Milliarden Vorschriften, Genehmi301
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gungsverfahren etc. gehen. »Das muss doch sein«, »Wie soll es denn sonst gehen«, »Ne, das kann nicht klappen«. Ganz im Vertrauen: Bevor wir diese Haltung nicht geknackt haben, ist jede nennenswerte Veränderung in diesem Land unmöglich. Doch die Aufgabe lohnt sich. Es gibt ein paar Bundesaufgaben. Es sollte nicht jeder Straßenzug seinen eigenen Panzer haben, auch eine Stuttgarter Botschaft in Nairobi erscheint eher unpraktisch. Aber es sind so viele Dinge nicht, und vor allem: es sind wenig tagespolitische. Wenn wir uns einmal mit den Nachbarländern abgestimmt haben, wie leer die Nordsee gefischt werden soll, darf, muss – dann ist das erledigt. Wenn wir die Sozialsicherung strukturiert haben, wenn die Geldtransfers festgelegt sind, dann gibt es da nichts mehr zu entscheiden, nur noch ein bisschen Alltagsarbeit für Dienstleister (derzeit: Ministerien und untergeordnete Behörden). Das Strafrecht muss nicht täglich um einen neuen Tatbestand erweitert oder in irgendeiner Deliktahndung verschärft werden. Das kann man ab und zu mal machen, im großen Wurf, alles miteinander diskutiert – und dann ist Ruhe im Karton. Kein Mensch braucht ein Bundesjustizministerium, in dem Tag für Tag Paragraphen durchgekaut werden. Aktuell entscheiden müssen wir, ob Manuela Schönfelder einen Kredit der Gemeinschaft bekommt, um eine Beauty Farm bei uns zu eröffnen. Wir müssen diskutieren, ob wir eine Hundesteuer in unserem Quartier eintreiben wollen und was es dafür ggf. gibt, oder ob wir uns besser so organisieren, dass alle Kinder mit den Hunden spielen und ausgehen können. Wir müssen überlegen, ob wir Autos durch unsere Straße im Schritttempo fahren lassen oder ob sie ganz draußen bleiben müssen, vorne auf der Industriebrache. Das sind die Entscheidungen, die unser Leben betreffen – und die uns niemand abnehmen sollte, wenn etwas Vernünftiges dabei herauskommen soll. Im ersten Schritt könnten wir uns damit begnügen, quasi 302
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als Test. Im Lokalen entscheiden wieder wir selbst. Politiker: adieu. Entscheidungen fällende Beamte: ciao. Danach können wir diskutieren, wie wir das auch auf den größeren Verwaltungsebenen machen. Da ist vieles denkbar. Ideen können gemeinsam entwickelt werden. Tendenz: wie bei wikipedia. Jeder gibt das dazu, was er kann und versteht – und am Ende stehen komplette Regelungen, Gesetze, Positionen, Agenden. Und wenn sich an einzelnen Themen nur einige Tausend Mitbürger beteiligten – es wäre hundertmal ergiebiger, als die Themen von einer Hand voll Parteipolitikern verhackstücken zu lassen. Rein statistisch schon muss da bei den Politikern mehr Murks rauskommen. Auch auf Kreis-, Landes- oder Bundesebene könnten Bürgerversammlungen die bisherigen Parlamente ersetzen. Bitte, ja, natürlich schreien die Politiker hier Zeter und Mordio – aber Gemach: das kann alles funktionieren, das hat auch schon funktioniert. Dass mit relativ wenigen Treffen oder Beratungszeiten große Entscheidungen getroffen werden können, zeigen uns hunderte großer Verbände oder auch die evangelischen Landeskirchen. Was wir uns nicht von ihnen abschauen dürfen, ist das Delegationsprinzip – wie es eben auch die Parteien haben. Alles, was dazu führt, Macht akkumulieren zu können, ist shit. Weg damit. Wo diese Kandidaten argumentieren, sie wären so großartig, wissend und erfahren – können wir sie ja als Berater nutzen. Aber niemals nicht als Entscheider! Wie beim Referendum: Politiker können ja zeigen, wie gut sie alles für uns machen – aber wir müssen es dann auch annehmen. Politiker haben nichts zu entscheiden – das ist die Disziplinierungsmaßnahme – und sie haben auch nichts auszuführen – als Schadensbegrenzungsmaßnahme. Denn für Umsetzungen sind Politiker noch viel weniger Profi als für Entscheidungsweg und -findung. Dies werden wir komplett 303
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outsourcen. Bisher gibt es das nur, solange der Staat gerade noch nicht eingreift: beim Grünen-Punkt-Müll etwa. Da darf eine private Gesellschaft die Verwertung regeln. Wenn wir im Zuge der »Landschaftspflege« 100.000 alte Obstbaumsorten pflanzen wollen, dann braucht's dafür kein Grünflächenamt oder Umweltministerium. Sondern ein Umweltplanungsbüro, das die Aktion koordiniert, oder die BUND-Jugend. Klarer Auftrag, saubere und effiziente Ausführung – gegen Cash. Keine Machtstrukturen, kein Selbsterhaltungstrieb von Ämtern, keine Patronage und wenig Möglichkeiten für Korruption. Es wird immer wieder von der »Deutschland AG« gesprochen, was Wirtschaftsbosse vermutlich unitaristisch meinen. Aber es wäre vom Ansatz her das, was wir brauchen: wir Bürger als Aktionäre unseres Landes, alle mit dem gleichen Aktienanteil. Aktionärsversammlung, Vorstand und Aufsichtsrat müssen natürlich anderes berufen werden als nach dem derzeitigen Recht. Aber die Beschreibung des Bürgers als Anteilseigner seines Staates – das ist doch ein brauchbarer Ausgangspunkt für die weitere Diskussion.
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Dringender Handlungsbedarf
Warum wir Politiker abschaffen müssen – Meine persönlichen 112 Lieblings-Gründe Politiker sind überall im Weg. Im Urlaub auf Spiekeroog wollte ich mein Strandhandtuch auspacken. Hier der Bürgermeister von Wyk, dort der Bürgermeister von Schloss Bellevue, und genau da, wo der beste Sandburgenbausand in 40 cm Tiefe geborgen werden könnte: der Bürgermeister von Hintertupfingen. Muss das sein? Können die nicht wie andere auch Urlaub einfach im Stau machen? Nervig. Das ist übrigens im Sportfernsehen nicht anders. Samstag ist nicht Politik dran, sondern Sportschau. Schalke, Bayern, Werder. Und wer hält seine Nase selbst jetzt noch in die Kamera? Wer quetscht sich neben Reiner »Cali« Calmund auf die Ehrentribüne? Wer hat ganz plötzlich seinen medienwirksamen Lieblingsverein entdeckt? Eben! Sie verstopfen google. Dass man zur Suchanfrage »Kohl« nicht direkt ein Brassicaceae-Gewächs bekommt, ist ja fast schon mit der Muttermilch in mich hineingestillt worden. Aber ob man den ersten Menschen sucht, den großen Imperator Julius Caesar, oder den Spanier an sich - immer drängeln sie sich dazwischen. Sie können nicht kochen. Seite 83 in Kohls Kochbuch. Haben Sie das mal probiert? Es ist eine Zumutung, und das kann kaum daran liegen, dass ich gerade keinen Saumagen im Haus hatte und stattdessen Frankfurter Bockwurst genommen habe. Sie persönlich haben ein echtes Steckenpferd, Fußball zum Beispiel? Jeden Fußballer erkennen Sie am Stutzen? Wunderbar. Doch: wer wird natürlich gleich nach Franz Beckenbauer zum miesen Spiel der Nationalmannschaft gefragt? Sie etwa, der Sie den Jungs mal so richtig verbal in den Hintern treten könnten? Nein: Otto Schily darf seinen 305
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Senf abgeben, oder Edmund Stoiber oder womöglich gar eine Frau Ministerin. Politiker gehören ins Abseits. Platzverweis. Rote Karte. Gerade hätten sie mich beinahe totgefahren! Stellen die im Radio doch Spekulationen über Angelas »Schattenkabinett« an. Mit dabei: Westerwelle als Außenminister, Merz evtl. als Finanzminister und Gerhardt als Innen- oder Justizminister, Glos für Verteidigung und - natürlich, oh Gott, und ich dachte, das wenigstens wäre vorbei: Seehofer als Gesundheitsminister. Und dieses ganze Horrorkabinett, während ich versuche, vom Beschleunigungsstreifen auf die A 40 zu kommen. Mörder! Wegen der Diäten! Unsereiner muss Men's Health kaufen und dann furchtbar leiden, Politiker bekommen die Diät einfach aufs Konto überwiesen. Ich will das auch, zumal die neue Bauchstütze, soweit ich es verstanden habe, nicht mehr von der AOK bezahlt wird. Ich sage nur: Tabaksteuer. Die sind doch wirklich nicht mehr ganz frisch da in Berlin. Zum Selberdrehen zittern die Hände zu viel, vom Scheiß-Alkohol, dem einzigen Spaß, den sie derzeit noch nicht verboten haben, anstatt dass das Forschungsministerium endlich mal ein Programm auflegt zur Ergründung unerschlossener Halluzinogene. Auf Zigarillos muss ich entweder reiern oder dünnpfeifen, aber so was von heftig, pfui Deibel. Gerade habe ich daher einen Espit-befeuerten Röstzwiebel-Inhalator Marke Eigenbau probiert. Putzfrauen sind zu teuer geworden. Es ist grässlich. Meine Polin will jetzt 3 statt 2 Euro pro Putzwäschewaschkochaufräumundtragdenmülljagetrenntordentlichraustag. Sie sagt, seit dem EU-Beitritt sei bei ihrer Mutter in Poznan alles doppelt so teuer geworden, und nach dem geheiligten deutschen Splitting hätt ich wohl die Hälfte davon zu tragen. Dass sich bei mir gerade schon die Alkopop-Ausgaben verdoppelt haben, interessiert sie dabei gar nicht. Aber immerhin ist das ein eigener Punkt: 306
Warum wir Politiker abschaffen müssen
Wegen der Alkopops, auch wegen dererdenen müssen die Politiker ratzfatz wieder dahin, wo sie hergekommen sind, und wenn das mangels Mutter nicht mehr zu machen ist, halt nach Helgoland (ist eh scheiße da, ehrlich, ich sag: Vergesst Helgoland, streicht es einfach aus dem Atlas! Auf der extrem langweiligen Schiffstour dorthin - Wasser, Wasser, Wasser und laut Kapitän ein Seehund, den aber sonst wirklich niemand gesehen hat - nehmen die einen eh nur aus, von wegen »zollfrei« - aber 3,80 EUR für ein Glas salzfreies Wasser). Um die 12-Jährigen, wie es in Deutschland Tradition ist, an Bier und - spätestens mit der Konfirmation! - Wein zu habituieren, haben die auf Getränke, die man eh erst ab 18 kaufen darf, eine Alkopop-Spezialschlausteuer eingeführt. Jetzt müssen wir erst wieder einen »Förderverein für deutschrussisches Brennbrauchtum« gründen, um den Quatsch irgendwann korrigiert zu kriegen, anstatt schon längst Tag-Leber-Zuschüsse vom Deutsch-Russischen Freundschaftswerk für den Konsum wodkahaltiger Getränke zu bekommen. Es ist ein Irrsinn, ich sag es euch, und das nur, weil Politiker eh dreimal täglich in 8.000 Metern Höhe bei Lufthansa saufen. Mücke! Und das ist nur eine der Katastrophen. Da haben die 1972 aus den Käffern Atzenhain, Merlau, Nieder-Ohmen, Flensungen, GroßEichen, Höckersdorf, Sellnrod, Ruppertenrod, Ober-Ohmen, Ilsdorf, Bernsfelda und Wettsaasen einfach eins gemacht - und das dann unter diesem Namen: Mücke! Aber das Leiden hat ja kein Ende. Ich sag mal, so zum Spaß: EL, für Emsland. Oder »Rodgau« - was mal Weiskirchen, Hainhausen, Jügesheim, Dudenhofen und Nieder-Roden waren. Wer, bitte, will das als Wohnort angeben, und sei es nur auf einer Verlosungspostkarte für die Gratisprobedose Katzenfutter? Frau von Fick ist übrigens auch ein sehr drängendes Problem. Natürlich habe ich nichts gegen sie, und meine Tochter spielt sogar einmal wöchentlich unter Aufsicht mit Güngör. Aber mal ein entschiede307
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nes »Hallo« hier: Da erlassen und lassen erlassen unsere erlauchten Politiker 1,3 Milliarden Vorschriften pro Tag, und es gibt nichts, das Frau von Fick bisher aufhalten kann? Also ihren depperten Namen meine ich jetzt (weil, ich hab ja, wie gesagt, nichts gegen Minderheiten). Was ist mit den Bauklohs, den Familien Schweinefuß oder Depp und den mehreren Tausend Gerhard Schröders? Und sicherlich auch wegen ihres allgemeinen Größenwahns müssen wir sie ganz dringend loswerden. Sie haben das mit der »deutschen Musikquote« im Radio doch sicherlich auch für einen Scherz gehalten, oder? Aber die meinen das ernst! Unsere Kulturelite, samt und sonders parlamentarisiert, will festlegen, welches Gedudel aus dem Radio kommt, weil sie uns für zu blöde halten, den Power-Knopf am Gerät zu finden und zu bedienen. Nein, ehrlich, da hört jeder Spaß auf, das ist gänzlich unwitzig, das ist nach Volksempfänger und Parlamentsfernsehen wirklich der ultimative Grund zum Abschalten. Mögen sie auf Helgoland glücklich werden - ich spendiere noch einen Satz »Mundorgeln«.
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