Umberto Bellini
Venezianisches Labyrinth
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Umberto Bellini
Venezianisches Labyrinth
scanned 06/2008 corrected 08/2008
Vier junge wohlhabende Touristinnen verschwinden spurlos in Venedig. Einheimische Fischer finden immer wieder sorgsam verschnürte, geheimnisvolle Pakete über deren Inhalte Presse und Öffentlichkeit spekulieren. Neben einem deutschen Touristen, einer ehemaligen Mailänder Lebedame und einem Mafioso gerät auch der zwielichtige Padre Albertus ins Fadenkreuz der Ermittlungen, die schließlich zu einem unerwarteten Ergebnis führen … Ein spektakulärer Kriminalfall und der geheimnisvolle Zauber einer Stadt, deren Tage gezählt zu sein scheinen. ISBN: 3-404-12949-0 Verlag: Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe Erscheinungsjahr: 1999 Umschlaggestaltung: Gisela Kullowatz
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Buch
Rätselhafte Vorfälle halten Venedigs Polizei in Atem. Vier junge Touristinnen verschwinden spurlos im Labyrinth der Stadt, alle stammen sie aus wohlhabenden Familien. Handelt es sich um Entführungen mit erpresserischer Absicht? Leben die Frauen überhaupt noch? Einiges spricht dafür, aber Zweifel sind angebracht, seitdem einheimische Fischer immer wieder sorgsam verschnürte, geheimnisvolle Pakete im Röhricht der Lagune finden, über deren Inhalt Presse und Öffentlichkeit spekulieren. Commissario Benedetti, von seinen Vorgesetzten als schwer durchschaubarer Außenseiter gleichermaßen gefürchtet und geachtet, wird nach Mißerfolgen eines Kollegen mit dem Fall betraut. Neben einem deutschen Touristen, einer ehemaligen Mailänder Lebedame und einem Mafioso gerät auch der zwielichtige Padre Albertus ins Fadenkreuz von Benedettis Ermittlungen, die schließlich zu einem unerwarteten Ergebnis führen …
UMBERTO
BELLINI Venezianisches Labyrinth
BASTEI-LÜBBE-TASCHENBUCH Band 12949
1.-3. Auflage: Mai 1999 Originalausgabe © Copyright 1999 by Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe GmbH & Co. Bergisch Gladbach Lektorat: Karin Schmidt Einbandgestaltung: Gisela Kullowatz Titelbild: Zefa Satz: hanseatenSatz-bremen, Bremen Druck und Verarbeitung: Ebner Ulm Printed in Germany ISBN 3-404-12949-0 Sie finden uns im Internet unter http://www.luebbe.de Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.
1. Kapitel
Am Anfang ist da nur dieser feine, kaum wahrnehmbare Geruch nach etwas Unbestimmtem, Geheimnisvollem, ja Bedrohlichem. Ein lauer Nachtwind, der sich von Süden her wie ein Dieb in die Piazzetta einschleicht, trägt ihn wie ein unsichtbares Chiffontuch vor sich her, und schon bald ist auch der weite Raum der Piazza San Marco angefüllt von diesem unerhörten Geruch. Aber noch hat ihn niemand bewußt wahrgenommen, außer die Tauben vielleicht. Schon längst hatten sie sich unter Mauervorsprüngen, in marmornen Nischen und im steinernen Labyrinth der Außenfassade des Markusdoms für die Nacht eingerichtet, aber jetzt kommt Unruhe unter den Vögeln auf. Ihr Instinkt für Gefahren, der auch im Schlaf stets hellwach bleibt, hat die Tiere aufgeschreckt. Die letzte Stunde des Tages neigt sich ihrem Ende zu. Bei Chioggia, dem einzigen Café auf San Marco, wo man zu später Stunde und mit etwas Glück immer wieder mal einen exzellenten Jazz hören kann, hat sich ein harter Kern von Fans um die drei Musiker geschart: Klavier, Baß und Klarinette. Das könnte hier, wie schon oft, noch bis in die frühen Morgenstunden so weitergehen – wenn da nicht dieser Geruch wäre! Sei5
ne Intensität und Dichte steigert sich jetzt von Minute zu Minute. Jeden Moment müßte er die Wahrnehmungsschwelle der ersten Nachtschwärmer erreichen. Aber noch passiert nichts, noch nicht. Der vergoldete Zeiger des Uhrturms steht inzwischen auf fünf vor zwölf. Nur noch wenige Minuten, dann werden die bronzenen Mohren, wie zu jeder vollen Stunde, mit ihren mächtigen Hämmern ausholen und gegen die große Glocke schlagen. Dann ist Mitternacht. Gleich um die Ecke, vor dem Florian, verabschiedet sich die Kapelle jetzt endgültig und mit professioneller Sentimentalität von einigen Unermüdlichen, die, in kleinen Gruppen oder pärchenweise zwischen den zumeist verlassenen Tischen verstreut, den Heimweg durchs nächtliche Venedig hinauszögern. Man spielt Strangers in the Night … Auch Thomas Bernstorff, er hat an der Peripherie des Lichtkreises vor gut einer Stunde im Halbdunkel Platz genommen, scheut noch die Rückkehr ins Hotel. Versonnen stochert er mit einem langstieligen Löffel im längst erkalteten Bodensatz seiner Melange, während er zwischen Daumen und Zeigefinger der linken Hand die Reste eines Baicoli-Biskuits zerkrümelt. Gedankenketten kreisen durch seinen Kopf, peinigen und zermürben ihn. Natürlich muß er an jene Nacht denken, sie liegt ja auch kaum mehr als sechs Monate zurück, an diese grauenhafte, ihm immer noch unfaßbare Nacht, die 6
sein Leben grundlegend verändert, wenn nicht gar für alle Zeiten zerstört hat und die seitdem seine gesamte Existenz wie ein Dämon mit festem Würgegriff umklammert. Ein schlafender Dämon freilich, denkt Bernstorff, aber in jedem Moment kann er machtvoll erwachen und mich endgültig vernichten. Er ist zutiefst deprimiert, erwägt wieder einmal den Suizid als die bessere Lösung. Inzwischen ist es soweit, die Mohren auf dem Uhrturm erwachen für wenige Augenblicke aus ihrer bronzenen Starre und verkünden den Beginn eines neuen Tages, so wie sie es nun schon seit einem halben Jahrtausend tun. Marcello, seit siebenundzwanzig Jahren im Service beim Florian, scheint plötzlich nervös. Noch eben stand er regungslos in aufrechter Haltung, den Kopf mit dem markanten Profil leicht angehoben, die Arme auf dem Rücken verschränkt und das rechte Bein leicht vorgezogen, am Rande der Bestuhlung, ein paar Schritt weit in die Piazza hinein und überwachte mit Habichtsblick sein Revier. Ein Venezianer vom Scheitel bis zur Sohle. Unter der hohen, leicht fliehenden Stirn ein unbestechliches Augenpaar. Die kräftige und dennoch schmal profilierte Nase führt zu einem großzügig angelegten Mund, dessen eher schmale Oberlippe durch eine deutlich kräftigere, leicht nach vorn gezogene Unterlippe gestützt wird. Das dominante Kinn, durch ein senkrecht verlaufendes, markantes Grübchen 7
in der Mitte geteilt, drückt unmißverständlich Selbstbewußtsein und Durchsetzungsvermögen aus. Mit schnellen, weit ausholenden Schritten, die Hände noch immer auf dem Rücken verschränkt, geht Marcello jetzt weit auf die Piazza hinaus, fast bis zur Mitte hin. Gelegentlich bleibt er kurz stehen, wendet den Kopf nach allen Seiten, hebt ihn, blickt nach oben, hinauf in den Nachthimmel. Seine Nasenflügel weiten sich, beben leicht, Marcello nimmt prüfend Witterung auf. Zweifellos, ein merkwürdiger Geruch, denkt er. Und weil es schon immer zu seinen Lebensgrundsätzen gehörte, sich nicht mit Ungereimtheiten abzufinden, sondern ihnen nachzugehen, beginnt er, alle in seinem Leben gemachten sinnlichen Erfahrungen mit dem soeben aufgenommenen Geruch zu vergleichen. Und während er nachdenklich und jetzt sehr langsam zum Florian zurückgeht wird ihm bewußt: Natürlich, er kennt diesen Geruch – es riecht nach frischem, warmem Blut! Allerdings mit einer Intensität, die er noch nie erlebt hat. Inzwischen sind auch andere aufmerksam geworden. Gespräche verstummen, man steckt die Köpfe zusammen, diskutiert leise und irritiert das Phänomen, stellt erklärende Theorien auf und verwirft sie schnell wieder. Aufbruchstimmung, man ruft nach Ober und Rechnung. Eine blasse Blondine, offensichtlich Amerikanerin, mit grellrot überschminkten Lippen, springt 8
plötzlich kreischend auf, reißt eine riesige Papiertasche von Valentino an sich, stößt mit einer hektischen Handbewegung die noch gefüllte Glaskaraffe vom Tisch und verschwindet, so als wolle sie Schutz suchen, bei Nardi unter die Arkaden. Ihre schrillen Schreie schrecken einen Schwarm schlafender weißer Tauben auf. In perfektem, elegantem Formationsflug stürzen sie sich vom Campanile, umkreisen ihn mehrfach in mäßiger Höhe und schießen dann, mit fast senkrecht nach oben gezogener Flugbahn, ins Dunkel des nächtlichen Himmels zurück. Und jetzt passiert es. Auf der Piazzetta, zwischen den beiden grauroten, monolithischen Säulen von San Marco und San Todaro, genau an der Stelle, wo man im Jahr 1355 die Leiche des verräterischen enthaupteten Dogen Marino Falier zur Schau gestellt hat, den entstellten Kopf zwischen die Füße gelegt, quillt es blasig aus einem der länglichen, schmalen Spalten der Kanalisation. Spärlich zunächst, aber schon bald mit anschwellender Intensität: Es ist Blut, das aus geheimnisvollen Tiefen des Lagunengrundes aufsteigt wie Magma aus dem Schlot eines seit Jahrhunderten schlafenden Vulkans, der plötzlich erwacht. Ein wenig dampft das Blut in der kühlen Nachtluft, kaum wahrnehmbar, aber sein Geruch ist nicht mehr zu übergehen. Er schwillt an und verdichtet sich schließlich zu einem sichtbaren, zugleich durchsichti9
gen, wabernden Luftkörper. Nach wenigen Minuten hat er den Raum zwischen Dogenpalast und der Biblioteca Marciana aufgefüllt. Unten, auf dem marmornen Boden der Piazzetta, bahnt sich inzwischen der dunkle Saft träge und dennoch unaufhaltsam seinen Weg. Zunächst füllt er nur die Fugen zwischen den quadratischen Platten auf, bildet hier und dort winzige und größere Pfützen in den Vertiefungen und Auswaschungen der Pflasters. Schon bald aber sind auch die leicht erhaben gelegenen Bereiche des Platzes mit einem dünnen Blutfilm überzogen, der von Minute zu Minute steigt. Dem Gesetz der Schwere und den architektonischen Gegebenheiten folgend, sickert die Bedrohung auf breiter Front zur etwas tiefer gelegenen Piazza vor, füllt auch dort zunächst kleine Bodensenken, Rillen und Löcher, steigt dann sogleich unaufhaltsam weiter, schwillt an. Bereits nach wenigen Minuten ist der Markusplatz, den Napoleon einmal den »plus beau salon de L’Europe« nannte, zentimeterhoch mit dem vulkanischen Blutsaft bedeckt. Nur im Mittelteil der Piazza, wo der Boden sich kaum erkennbar nach oben wölbt, bleibt zunächst noch ein schmaler, länglicher Streifen glänzenden Marmors unberührt, eine rettende Sandbank im Meer des Grauens. Wenig später bereits gibt es auch sie nicht mehr. Über allem wölbt sich eine körperwarme Dunstkuppel, deren süßlich-animalischer 10
Leichengeruch zugleich Ekel, Ängste aber auch gierige, triebhafte Lüste weckt. Der weite Platz ist inzwischen nahezu menschenleer geworden, es herrscht das Schweigen der Ratlosigkeit, die Totenstille lähmenden Entsetzens. Einer nach dem anderen hat sich unauffällig und diskret in die mitternächtliche Kulisse der Serenissima davongeschlichen. Nur wenige sind geblieben, darunter auch Thomas Bernstorff. Einzeln und in kleinen Gruppen haben sie sich unter die etwas erhöht gelegenen Arkaden zurückgezogen, nur zwei schmale Marmorstufen trennen sie noch von dem Unfaßbaren. Verstört, gelähmt und sprachlos, wie man es auf ergreifenden Beerdigungen eines sehr plötzlich und unter tragischen Umständen Verstorbenen erleben kann, starren sie mit gesenkten Köpfen vor sich hin. Dann, wie eine Erlösung, kommt Bewegung in die gespenstisch erstarrte Szenerie. Ein junger, hoch und kräftig gewachsener Kerl, offensichtlich Tourist und angetrunken, drängt aus dem Halbdunkel nach vorne: rote Baseballmütze, den Schirm tief nach hinten in den Nacken gezogen, verschmiertes, einstmals wohl weißes T-Shirt mit der Botschaft adihash gives you speed, Jeans und Turnschuhe, eine halbvolle Flasche Soave classico unter den rechten Arm geklemmt. Ohne Zögern, aber ruhig und gelassen, so als wolle er sich zu einem beschaulichen Spaziergang aufmachen, patscht er durch 11
die inzwischen knöchelhohe Lache, die bei jedem Schritt zu allen Seiten hin träge aufspritzt. Bevor er noch die Mitte der Piazza erreicht hat, ist er von oben bis unten mit Blut – oder was ist das eigentlich? – beschmiert. Schließlich hält er an, etwa auf dem halben Weg zwischen Florian und Quadri, genießt einen Moment lang die Aufmerksamkeit der Zurückgebliebenen, bückt sich, stippt mit dem Zeigefinger der Linken kräftig ein, führt ihn zum Mund. Danach lutscht und leckt er die ganze Hand sorgfältig und offensichtlich genüßlich ab und brüllt mit dröhnendem Baß: »Friends, taste it, it’s fucking blood!« Dann reißt er sich Schuhe und Jeans vom Körper, schleudert sie weit von sich, platscht weiter, rechts am Quadri vorbei und verschwindet schließlich durch die Passage des Uhrturms. Während noch sein »Friends, taste it, it’s fucking blood« irgendwo in den Mercerie verhallt, stürzt eine junge, hochgewachsene Frau zwischen den Arkaden des Napoleonischen Flügels hervor. Sie ist nur spärlich mit einem hellen Sommertrench bekleidet, am linken Arm eine schmale, etwas kantige Tasche aus schwarzem Lackleder, die rechte Hand schützend vor ihren schlanken Hals gelegt, so als müsse sie eine tödliche Bedrohung abwehren. Offensichtlich läuft sie barfuß. Am Rande der beiden Stufen, die auf die Piazza führen, verharrt sie für Sekunden, blickt schwer atmend und mit angstverzerrtem Gesicht hinter sich, hastet dann 12
weiter auf den weiten Platz hinaus. Keuchend nach vorn gebeugt und mit ungelenken, rudernden Armbewegungen kämpft sie sich nur langsam voran. Das dickflüssige Blut – ja, in der Tat, es ist Blut! – hemmt sie ungeheuer beim Weiterkommen und verlangt ihr die letzten Kräfte ab. Zuweilen sieht es so aus, als müsse sie ihre Füße bei jedem Schritt von einem verklebten Untergrund hochziehen. Bernstorff, der bislang völlig teilnahmslos und ohne die geringste Spur innerer Erregung den apokalyptischen Geschehnissen zugeschaut hatte, blickt jetzt elektrisiert auf die sich in panischer Angst Dahinschleppende. Das muß sie sein, schießt es durch seinen Kopf. Kein Zweifel, es ist Andrea! Und schon stürzt er auf die Piazza hinaus. Mit weit ausholenden, kraftvoll federnden Sprüngen kommt er schnell voran, das Blut spritzt klatschend zu den Seiten hin weg. Die fliehende Frau hat keine Chance. Bereits wenige Sekunden später hat er sie eingeholt, und nach mehr als einem halben Jahr, einem unendlich langen halben Jahr, stehen sie sich zum ersten Mal wieder gegenüber. Nachts auf dem Markusplatz vor der noch immer grell erleuchteten Fassade des Doms, mitten in einem See von Blut. Verletzt und unsagbar sprachlos schaut sie ihm einen Moment lang in die Augen. Nur dieses eine Wort spricht aus ihrem traurigen Blick: warum? Andrea wendet sich schließlich um, wie in Zeitlupe, 13
geht dann sehr langsam und ohne eine Spur von Angst weiter, jetzt auch sehr aufrecht, fast heiter und gelassen. Bernstorffs Blicke verfolgen sie, bis sich ihre Gestalt im Halbdunkel der Piazzetta dei Leoncini aufgelöst hat. Genau dort, wo sie sich vor Jahren zum ersten Mal umarmt und dann leidenschaftlich geküßt hatten, zeitvergessen und hemmungslos inmitten einer sonntäglichen Großinvasion japanischer Touristen. Thomas Bernstorff verläßt die Piazza dort, von wo aus Andrea sie noch vor wenigen Minuten betreten hatte. Biegt gleich links in die Calle Ascensione. Eine Spur von abtropfendem Blut, das bei jedem Schritt aus den Schuhen quillt, markiert seinen kurzen Heimweg zum Hotel.
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2. Kapitel
Alptraum! Auf dem Rücken liegend, erschöpft und klatschnaß verschwitzt, erwachte Bernstorff erst am späten Vormittag. Zögernd und ängstlich öffnete er die Augen nur einen schmalen Spalt weit, tastete den Raum mit verschreckten Blicken ab, suchte nach vertrauten Orientierungspunkten. Unter die ersten Wahrnehmungen in dem sehr spärlich erhellten Raum – über sich etwa konnte er das zartschimmernde Blau und Rosé des fünfarmigen venezianischen Lüsters ausmachen –, mischten sich zunächst noch bedrohlich und grell die Bilder und Szenen der traumschweren Nacht. Was war Realität, was war noch immer Alptraum? Plötzlich stieg würgende Angst in ihm auf, Angst und das Verlangen nach Licht, frischer Luft und Bewegung. Er begann mit beiden Händen wild und ziellos um sich zu schlagen, so als wolle er sich von einer tödlichen Umklammerung befreien. Mit seiner linken Hand traf Bernstorff mehrmals klatschend auf diesen widerlich schlaffen, zugleich aber angenehm kühlen Körper neben ihm; mit seiner rechten streifte er die Nachttischlampe, klirrend zersprang sie auf dem Terrazzoboden neben seinem Bett. Danach blieb er einen Moment lang verwirrt liegen, bis er spürte, wie sich 15
etwas Klebriges, Warmes zwischen seinen Fingern ausbreitete. Blut mußte das sein, er hatte sich verletzt. Der Gedanke an Blut versetzte ihn erneut in Panik, er sprang aus dem Bett. In gebeugter Haltung tastete er sich am Fußende entlang dem mittleren Fenster zu, fingerte einen schmalen Lichtspalt zwischen die Schals der cremefarbenen Raffgardine und stieß die schwergängigen Holzläden nach außen. Endlich Licht und Luft! Schwer atmend, auf die schmiedeeiserne Fensterbrüstung gestützt, blickte Bernstorff scheu und verwirrt in die schmale Gasse hinab. Der Tag war nicht mehr ganz frisch, schon nistete sich dumpfe Schwüle zwischen den engen Mauern ein. Zähflüssig und immer wieder stockend, wie in einer gestauten Vene, schoben sich die vielen Touristen voreinander her. Er trat zurück ins noch nachtkühle Zimmer, schob die schweren Vorhänge zu den Seiten und öffnete die übrigen Läden. Tageslicht kann brutal sein, dachte Bernstorff, während er das nunmehr erbarmungslos erhellte, groteske Chaos überblickte: Im Bett dieser trostlose Frauenkörper, zur Lust erschaffen und doch so abstoßend, ja ekelerregend. Mit verdrehten Laken, Decken, schwarzen Netzstrümpfen und einem rot-grün gestreiften Seidenschal von Armani war er zu einem unentwirrbaren Gebilde verknäult. Es sah aus wie in einem Topf voll erkalteter Spaghetti. Auf dem Fußboden, zwischen verstreuten Klei16
dungsstücken, Flaschen, Zigarettenasche und einer zerknautschten Ausgabe von Il Gazzettino blinkten LireMünzen und unzählige bunte Glassplitter der zersprungenen Nachttischlampe in der Vormittagssonne. Alles kein Problem, dachte Thomas Bernstorff, wenn da dieses verdammte Blut nicht wäre! Die Schnittwunden an den Fingern seiner rechten Hand hatten sich zwar inzwischen klebrig verschlossen, aber die Spuren seiner Verletzung waren überall im Raume unübersehbar gegenwärtig. Da klopfte es mehrmals an der Tür. Keineswegs diskret und zaghaft, wie man es in gut geführten Mittelklassehotels erwarten kann, sondern durchaus energisch, ja fordernd. Maria, das Zimmermädchen, wartete ungeduldig draußen auf dem Flur. »Bitte, Signore! Ich bin etwas spät dran heute morgen, und in einer Stunde muß ich schon wieder in Mestre sein. Sie wissen doch, mein Antonio steht dann vor dem Kindergarten und wartet auf mich«, flehte sie. Daß die Sache mit dem Jungen aus wohlüberlegten Gründen ausnahmsweise mal gelogen war, gehörte zwingend zu ihrem mehr als verwegenen Plan. Thomas Bernstorff, der durchaus im Zweifel war, ob er sich am Abend zuvor auch wirklich eingeschlossen hatte, stürzte genervt zur Tür, sicherte sie zunächst mit dem rechten Fuß und umklammerte zusätzlich mit festem Griff die Messingklinke. Dann drückte er seine 17
heiße Stirn an den erfrischend kühlen Rahmen und bat mit einschmeichelnder, leiser Stimme: »Signora, ich hatte eine sehr schlechte Nacht. Migräne und dann noch der Vollmond dazu, verstehen Sie bitte! Verschieben wir es auf morgen, es ist hier ohnehin nicht viel zu tun.« »Vollmond haben wir nächste Woche Freitag, und Migräne ist ja wohl eher ein Frauenproblem«, lautete die kesse Antwort. »Vielleicht war es ja nur ein Fläschchen Soave zuviel, Signore? Oder etwa …«, sie zögerte, wollte keineswegs gleich zu weit gehen. »Oder was?«, flüsterte Bernstorff erregt. »Ich meine – na ja, falls Sie nicht allein sein sollten, mich ginge das nichts an. Dann husche ich eben nur mal kurz ins Bad, tausche die Handtücher aus und mache da ein wenig Ordnung. Dauert keine drei Minuten. Oder aber Sie gehen für einen Moment ins Bad, und ich beziehe schnell das Bett und fege durch. Einverstanden?« In diesem Moment entwickelte sich in Bernstorff, der noch immer in seiner lächerlich verkrampften Haltung die ohnehin verschlossene Tür absicherte, eine dreiste Lüsternheit, ein geradezu verwegener, ja abartiger Plan: Die Tür blitzschnell einen Spalt weit öffnen, dachte er, die hübsche junge Frau zu sich hereinziehen, aufs Bett werfen und sie nicht nur zur Geliebten, sondern gleichzeitig auch zur Komplizin machen! – Schon 18
mehrfach waren derartig gefährliche Begierden während der vergangenen Wochen in ihm aufgestiegen. Stets hatte er sie in letzter Sekunde zurückdrängen und unter Kontrolle bringen können. Fast war er davon überzeugt, bei Maria auf prinzipielles Einverständnis, ja großzügiges Entgegenkommen zu stoßen. Es galt nur, wie er meinte, den Überraschungseffekt für sich zu nutzen und sich von der zu erwartenden kurzen, sicherlich nur vorgetäuschten Abwehrhaltung der Frau nicht irritieren zu lassen. Bernstorffs Begehrlichkeit ließ sich gewiß nur bedingt auf den Umstand zurückführen, daß er seit jener schicksalhaften Nacht mit Andrea auf sexuelle Kontakte nahezu völlig verzichtet hatte. Vielmehr lagen die Dinge aus seiner Sicht sehr einfach und wurzelten schlichtweg in dem natürlichen Verlangen, eine attraktive junge Frau mit einem durchaus riskanten Handstreich ins Bett ziehen und verführen zu wollen. Möglichst bei leichter Gegenwehr, wie er hoffte, um so zusätzlich in den Genuß einer gewissen Laszivität zu kommen. Hinzu kam schließlich noch dieses unter Männern wohl weit verbreitete, eigentlich lächerlich-pubertäre Sehnsuchtsklischee: Es einmal im Leben mit dem Zimmermädchen, einer Friseuse oder mit einer Stewardeß treiben zu müssen. Möglichst unter dramatischen Umständen, versteht sich. Also im Fahrstuhl etwa, auf der Toilette eines Luxushotels oder ganz schlicht im Stehen, 19
eingeschweißt in der Enge eines überfüllten Pariser Métroabteils. Inzwischen, nur Sekunden beiderseitigen Schweigens und Belauerns waren vergangen, hatte Maria sich zum kampflosen Rückzug entschlossen. Trotzig pustete sie eine in die Stirn gefallene Haarsträhne zurück und stampfte vernehmlich mit dem rechten Fuß auf. Dann stemmte sie sich gegen ihren mit zerknautschten Bettlaken, Handtüchern und Putzmitteln vollgestopften Servicewagen, wie immer wollte der alte Karren beim Fahren nach links ausbrechen, und verschwand schließlich in der Wäschekammer am Ende des langen schmalen Flurs. Der düstere, quadratische Raum war mit ausgemusterten Schränken und einem verzinkten Metallregal fast völlig zugestellt, nur in der Mitte blieb Platz für einen kleinen Tisch, dessen Platte mit einem verzogenen gelblichen Wachstuch bedeckt war. Es roch nach Chlor und preiswerter Hotelseife. Mit der Spitze ihres ausgestreckten rechten Fußes zog Maria einen der beiden Stühle zu sich heran, ließ sich fallen, schlug die Beine übereinander und überdachte die aus ihrer Sicht erlittene Niederlage. An diesem Morgen, das hatte sie sich fest vorgenommen, wollte sie den sympathischen blonden Eisblock vom Zimmer 308 endlich aus seiner höflichen, fast arroganten Reserviertheit locken, die sie inzwischen als beleidigende Mißachtung ihrer Weiblichkeit 20
empfand. Sie hatte sich innerlich, das war längst durchdacht und entschieden, zu allen denkbaren Konsequenzen prinzipiell bereiterklärt. Und notfalls, diese temperamentvolle Alternative bezog sie stets in ihre Strategien mit ein, konnte man sich immer noch mit einer schallenden Ohrfeige aus der Affäre ziehen. Dieser Tag hätte sich gut für ihre Pläne geeignet. Ihren Sohn hatte sie bis zum Abend bei Freunden in der Nachbarschaft untergebracht, denn der Kindergarten war wegen kleinerer Renovierungsarbeiten geschlossen. Bis in den frühen Abend hinein hätte sie Zeit gehabt für ein kleines prickelndes Abenteuer, und am Sonntag wollte sie ja ohnehin mal wieder zur Beichte gehen. Aber dafür gab es wohl jetzt keinen vernünftigen Anlaß mehr. Eigentlich schade, dachte sie, ich hätte Padre Albertus gerne mal wieder eine nette Geschichte erzählt. Wo er mir doch immer so begierig zuhört, jedenfalls wenn es um ganz bestimmte Verfehlungen geht. Nur allzugut hatte sie Verständnis für seine »Lieblingssünden«, denn schließlich waren es auch die ihrigen. Dabei gehörte sie keineswegs zu jener Sorte unverheirateter Frauen, die sich jederzeit für ein schnelles Abenteuer von Rock und Bluse trennen. Aber dieser Deutsche, verdammt noch mal, der hatte es ihr angetan. Seit seiner Ankunft vor knapp drei Wochen reizte er sie mit seiner penetranten Mischung aus Artigkeit und vornehmer Zurückhaltung. Kein Wort 21
zuviel, wenn sie ihn spät morgens noch im Zimmer antraf, keinen verlangenden Blick verschwendete er auf sie, keine noch so zaghafte Geste, die sie als Interesse an ihrer Person hätte auslegen können, war jemals von ihm ausgegangen. Es war zum Verrücktwerden. Mit aufdringlichen Männern, die sie zutiefst verabscheute, konnte sie glänzend umgehen. Da machte sie kurzen Prozeß. Eine gut plazierte doppelte Ohrfeige, erst Vorhand, dann Rückhand! Basta, non c’è problema. Aber diesem höflichen Desinteresse fühlte sie sich machtlos ausgeliefert, Mamma mia! Maria erhob sich lustlos, knöpfte das kurzärmelige blaue Kittelkleid auf, warf es nachlässig über die Stuhllehne und betrachtete sich, beide Hände in den Hüften abgestützt, vor dem schäbigen Spiegel. Nackt und schön stand sie da, nur mittelgroß und eher kräftig gebaut, aber keineswegs plump. Ihr auffallend gut proportionierter Körper verströmte den Reiz einer gesunden bäuerlich-ländlichen Herkunft. Das schwarzgelockte Haar hatte sie von den Seiten und vom Nacken aus geschickt und phantasievoll nach oben gesteckt und mit einer straßbesetzten Goldspange zusammengefaßt. Eine ungebändigte, halblang geschnittene Haarsträhne fiel nach vorne quer über die breite Stirn und umrahmte eindrucksvoll ihre großen braunen Augen. Darunter eine fast noch kindliche, etwas vorwitzige Nase und die auffallend nach außen gewölbten sinnlichen Lippen, 22
hinter denen zwei Reihen gesunder weißer Zähne blitzten. Während Maria sich eine Weile lang kritisch, aber durchaus mit Zustimmung aus unterschiedlichen Blickwinkeln in aller Ruhe betrachtet und bewertet hatte, war sie zu einem Entschluß gekommen, der sie jetzt zu raschem Aufbruch drängte. Mit harmonischen, sehr schnellen und zugleich exakten Bewegungen kleidete sie sich an. Danach noch einige flüchtige Verbesserungen am Make-up sowie ordnende Korrekturen an der Frisur, die sie mit gespreizten Fingern ausführte. Dann schulterte sie ihre dunkelblaue Ledertasche und verließ den trostlosen Raum. Sie fuhr mit dem Fahrstuhl nach unten, obwohl das Personal angewiesen war, das Treppenhaus zu benutzen. In der Rezeption knallte sie dem aufgeschreckten Giovanni, der gerade seine Fingernägel andachtsvoll mit einem Zahnstocher reinigte, einen dicken Schlüsselbund auf den Marmortresen. Kehrtwendung auf dem Absatz, und schon stelzte sie auf ihren schwarzen PlateauSchuhen ungestüm durch die schwere Glastür nach draußen, wo sich ihr die aufgeheizte Luft des späten Vormittags wie eine Wand entgegenstemmte. Aufgeschreckt und kopfschüttelnd blickte der Portier ihr nach. Nicht einmal ciao hat sie gesagt, dachte er. Na ja, Frauen sind nun mal so. Wieder einmal war er im tiefsten Grunde seines Herzens froh darüber, noch 23
Junggeselle zu sein. Erneut konzentrierte er sich auf seine Nagelkosmetik. Gegenüber vom Hotel gab es im Freien zwei Telefone, die nur durch eine halbrunde Einfassung aus Plexiglas gegeneinander abgegrenzt waren. Beide Apparate waren besetzt. Der linke von einer älteren Signora, der rechte von einem jungen Mann, der wild gestikulierend und beschwörend auf seinen Gesprächspartner einredete, wobei er sich mit der flachen Hand abwechselnd vor die Stirn und gegen die linke obere Brusthälfte schlug. Beides kann noch lange dauern, dachte Maria. Schließlich kannte sie die Mentalität ihrer Landsleute. Daher entschloß sie sich zum Eingreifen. Sehr langsam zwar, aber mit unbeugsamer Konsequenz bewegte sie sich auf den rechten Apparat zu, während sie ihr Opfer mit flehendem Blick fixierte und zusätzlich nervös an ihrer Armbanduhr herumfingerte. Eine alte Taktik, die sie bisher fast immer mit Erfolg hatte einsetzen können. Nachdem sie sich, betont diskret und zugleich dreist, auf eine kaum noch zumutbare Distanz herangearbeitet hatte, entzog sich der junge Mann, er war inzwischen spürbar unter Druck geraten, durch eine entschlossene und unmißverständliche Wendung ihren auffordernden Blicken. Während Maria noch überlegte, ob sie ihre Attacke den geänderten Gegebenheiten anpassen sollte, hängte die Signora nebenan überraschend ein. Ihr mußte das Kleingeld ausgegangen sein. Maria 24
nahm schnell ihren Platz ein, um anderen Wartenden zuvorzukommen, und begann, hektisch und unkonzentriert in dem zerfledderten Telefonbuch zu blättern. Es ekelte sie bei dem Gedanken, wie viele Menschen bereits vor ihr, die meisten sicherlich mit angeleckten Fingerspitzen, in diesem Verzeichnis nachgeschlagen hatten. Nachdem sie schließlich fündig geworden war, tippte sie die Rufnummer der Polizei ein. Eine automatische Ansage, untermalt mit einigen Takten aus Vivaldis Vier Jahreszeiten, forderte sie zum Warten auf. Diese Denkpause kam ihr sehr gelegen, denn eigentlich wußte sie nicht im entferntesten, wem und in welcher Form sie ihre äußerst vagen Ahnungen – mehr war es ja nicht – vortragen sollte. Im Grunde genommen hatte sich ja alles aus einem Impuls heraus entwickelt, vor kaum mehr als zehn Minuten, als sie in der Kleiderkammer des Hotels nackt vor dem Spiegel stand und ihre verstörten Emotionen zu ordnen versuchte. Fast hatte sie sich schon entschlossen, wieder einzuhängen, da meldete sich eine ältere, herbe Frauenstimme. Kurz angebunden, Behördenmentalität, also nicht gerade einladend. »Sie wünschen?« fragte die Amtsperson. »Die Kriminalpolizei bitte sehr, Signora«, antwortete Maria und fügte hastig hinzu: »Mordkommission!« Sie erschrak über ihre spontane Zielstrebigkeit. Die war freilich nur vorgetäuscht, um ihre Ängste und Zweifel besser beherrschen zu können. Nach einer längeren 25
Wartezeit, die wiederum mit Vivaldi ausgeschmückt wurde, meldete sich eine äußerst sympathische, warme Baritonstimme. »Benedetti …« »Sie sind von der Mordkommission, Signore?« »Das ist richtig, was kann ich für Sie tun, Signora?« »Ja, ich weiß auch nicht genau«, begann sie stockend und völlig unkonzentriert und fuhr dann fort: »Ich wollte sagen, daß mir da so eine Idee gekommen ist, eine verrückte vielleicht, verstehen Sie?« »Nicht so ganz«, antwortete Commissario Benedetti und fügte aufmunternd in einem väterlichen Ton hinzu: »Vielleicht nennen Sie mir erst einmal Ihren Namen, und dann erzählen Sie in Ruhe, worum es geht. Sind Sie vielleicht in Gefahr, ist etwas passiert?« »Es geht um diese geheimnisvollen Vorfälle hier in der Stadt. Sie wissen, was jeden Tag in den Zeitungen steht. Ich arbeite in einem Hotel, und da sieht und hört man viel …« »Was haben Sie denn gesehen oder gehört?« unterbrach sie Benedetti wie elektrisiert. »Eigentlich nichts«, antwortete Maria, »vielleicht sind es nur Gefühle oder Ahnungen, dumme Gedanken also«. Und dann beendete sie, einer warnenden inneren Stimme folgend, das kurze Gespräch mit »arrividerci«, hängte ein und stürzte davon.
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Bernstorff war inzwischen damit beschäftigt, das Chaos in seinem Zimmer unter Kontrolle zu bringen, nachdem er zuvor, wie üblich, alle Details der gespenstischgrotesken Szenerie mit seiner Polaroid-Kamera gewissenhaft dokumentiert hatte. Die meisten Blutspuren ließen sich schon mit angefeuchteten Papiertaschentüchern problemlos entfernen, nur die Reinigung der Gardine bereitete zunächst noch Schwierigkeiten. Er beschloß, irgendwo ein wenig Waschpulver aufzutreiben, um die Angelegenheit zu einem späteren Zeitpunkt zu regeln. Maria war aus dem Haus, das hatte er vom Fenster aus beobachtet. So bestand bis zum nächsten Morgen nicht die Gefahr, vom Personal behelligt zu werden. Als nächstes galt es, die rasierklingenscharfen Splitter der zersprungenen Nachttischlampe aufzunehmen. Es gelang ihm schließlich mit einem angefeuchteten Handtuch, das er mehrfach über den Terrazzoboden zog und anschließend vorsichtig im Toilettenbecken ausschüttelte. Danach spülte er das Tuch unter der Dusche gründlich aus und hängte es zum Trocknen über die Brüstung am Fenster. Zum Schluß stieß er den erschlafften Körper vom Bett und schob ihn unter den Lattenrost. Der Rest mußte wieder gegen Abend geregelt werden, kurz vor einundzwanzig Uhr. Dann war die Rezeption für einige Minuten nicht besetzt, weil Giovanni, um seinen Vaporetto noch zu erreichen, das 27
Hotel bereits vor dem Eintreffen des Nachtportiers verließ. Bernstorffs Handy trällerte irgendwo zwischen der Bettwäsche. Nach längerem Suchen hatte er es endlich im Griff. Er verabscheute seinen »Westentaschentyrann«, wie er das Gerät nannte, zutiefst. Aber Dr. Gruson hatte ihn davon überzeugen können, daß diese Anschaffung notwendig war. Denn zweifelsfrei wäre es ein Fehler gewesen, den täglichen Kontakt miteinander über den Anschluß des Hotels zu halten. War es doch eine Binsenweisheit, daß sich jeder Portier immer wieder gerne mal in ein Privatgespräch einschleicht, vor allem abends und nachts, wenn Dialoge eine gewisse Tendenz zur Pikanterie entwickeln können. Bernstorff meldete sich lustlos und erschöpft mit »Ja, bitte«. Wie immer waren die Fragen, Kommentare und Anweisungen seines Gesprächspartners kurz und emotionslos. Dr. Gruson interessierte sich vor allem für den nächtlichen Alptraum, den er als äußerst positive Reaktion einstufte. »Die Seele hat sich freigekotzt, da sind wir einen entscheidenden Schritt weitergekommen«, lobte er fast euphorisch. »Wenn Sie die letzte Aktion wie geplant durchziehen, dann können wir uns Ende nächster Woche in Frankfurt treffen. Bevor ich nach New York fliege, möchte ich alles noch mal gründlich mit Ihnen durchsprechen. Sie wissen, wie wichtig die28
ser Termin für mich ist, und natürlich auch für Sie! Nach meiner Rückkehr werden wir dann ein abschließendes Resümee ziehen. Ich denke, das Experiment ist gut für uns beide gelaufen. Also jetzt auf keinen Fall durchhängen, und im übrigen wissen Sie ja, daß ich jederzeit für Sie erreichbar bin. Notfalls auch nachts.« »Im Moment kann ich überhaupt nicht dafür garantieren, daß bei mir keine Sicherung durchbrennt«, unterbrach ihn Bernstorff gereizt. »Hier in Venedig ist zur Zeit die Hölle los, Sie können es in jeder Zeitung lesen. Ich habe wenig Lust, möglicherweise in einem dieser wenig komfortablen italienischen Gefängnisse eine längere Untersuchungshaft abzusitzen, während Sie …« »Aber mein lieber Bernstorff«, mahnte Dr. Gruson in fast beschwörendem Ton, »Sie wissen doch genau, daß Ihnen prinzipiell nichts passieren kann. Nun gut, es könnte kurzfristig zu gewissen Komplikationen kommen, und die Sache mit den vier jungen Frauen paßt mir natürlich auch nicht ins Konzept. Behalten Sie jetzt trotzdem die Nerven, machen Sie keine Fehler, und denken Sie immer daran, was für Sie auf dem Spiel steht.« Es entstand eine längere Pause, die Thomas Bernstorff schließlich beendete. »Ich habe Angst«, preßte er gequält hervor, »tierische Angst, begreifen Sie das denn nicht?« 29
»Das ist völlig normal in Ihrer Situation, und außerdem wissen Sie sehr genau, daß es zu unserem Konzept gehört, panische Ängste in Ihnen zu wecken. Ich finde, die Sache läuft prima für Sie. Halten Sie mich bitte immer auf dem laufenden, wir hören voneinander!« Damit legte er auf. Bernstorff, der einen Moment lang versucht war, das Handy gegen die Wand zu schleudern, legte das Gerät dann doch betont sanft auf dem kleinen Sekretär ab. Betroffenheit, Ratlosigkeit, Zorn. Minutenlang ging er dann im Zimmer auf und ab, die Arme auf dem Rücken verschränkt. Sechs Schritte bis zum Fenster, Kehrtwendung, sechs Schritte zurück zur Tür. Wie in einer Gefängniszelle, dachte er, und die mit dieser Vorstellung verbundene Angst verhalf ihm endlich dazu, sich aus dem lächerlichen, zwanghaften Bewegungsablauf zu befreien. Er entkleidete sich, ging unter die Dusche. Handwarm und kraftlos pladderte es auf seinen verschwitzten Körper. Der ätzende Chlorgestank in der engen Kabine bewog ihn, die Prozedur sehr bald wieder abzubrechen. Er kleidete sich an und ordnete sorgfältig sein durchnäßtes Haar, verzichtete aber bewußt auf die fällige Rasur. Sich selbst jetzt minutenlang im Spiegel begegnen zu müssen, nach dieser Nacht – nein, das konnte und wollte er sich nicht antun! Er verließ die Etage über das schmale Treppenhaus, das sich um den Fahrstuhlschacht herum nach unten 30
schlängelte. Den Lift mied er nach Möglichkeit, denn seine Anlage zur Klaustrophobie mochte er unter den momentanen nervlichen Belastungen keineswegs herausfordern. Unten in der Rezeption war es wohltuend kühl, das einzige Klimagerät im Hause sorgte für diese Annehmlichkeit. »Buon giorno, Signore!« begrüßte ihn Giovanni servil, breitete die Arme aus und deutete eine Verbeugung an. Er war gerade dabei, in seinem großformatigen Belegungsplan herumzuradieren. »Sie müssen einen exzellenten Schlaf haben, es ist längst Mittag und eigentlich schon wieder Zeit für eine Siesta.« »Ich habe ein kleines Problem«, sagte Bernstorff, und er vermied es bewußt, eine Erklärung für seine vermeintliche Langschläfrigkeit abzugeben. »Letzte Nacht muß mein Schlaf wohl sehr unruhig gewesen sein, es ist die Hitze, Sie verstehen. Und da habe ich die Nachttischlampe heruntergestoßen, es gibt sie also nicht mehr. Tut mir leid, natürlich werde ich für den Schaden aufkommen. Setzen Sie mir das bitte auf die Rechnung. Sehen Sie hier«, fuhr Bernstorff fort und legte beide Hände wie ein Beweismittel auf den Tresen, »alles aufgeschnitten, natürlich hat es stark geblutet.« Und während er seine Finger zur besseren Veranschaulichung extrem spreizte und sich interessiert nach vorne beugte, rissen einige der feinen Schnitte wieder auf, und Blut tropfte auf die polierte Marmorplatte. 31
Schnell griff der Portier nach einer Papierserviette, auf der er seinen Cappuccino abgestellt hatte, und drückte sie Bernstoff in die Hand. »Hier«, sagte er, »fest zufassen! Un momento, ich besorge sofort Pflaster für Sie.« Mit übertriebener Hektik verschwand er hinter einer niedrigen Tür neben der Telefonanlage und man hörte ihn nebenan nervös herumkramen. Unterdessen sah sich Bernstorff ein wenig in dem niedrigen Raum um und genoß die so wohltuende Temperierung. Schließlich erregte ein Konzertplakat des »Orchestra di Venezia« sein Interesse, und er beschloß, sich wieder einmal Vivaldis Vier Jahreszeiten anzuhören. Nirgendwo anders auf der Welt wurde dieser musikalische Genuß vortrefflicher zubereitet und serviert als in der Lagunenstadt. Und noch dazu fast jeden Abend. Da beschlich ihn plötzlich das beklemmende, ja bedrohliche Gefühl, beobachtet zu werden und nicht allein im Raum zu sein. Und während er sich dessen noch nicht ganz sicher war und nach einer Bestätigung für seine diffuse Ahnung suchte, löste sich aus dem Halbdunkel, dort, wo eine lebensgroße marmorne Nachbildung des Poseidon ein kaum beachtetes Schattendasein führte, eine hochgewachsene, elegant gekleidete Männergestalt und trat mit einer freundlichen Geste auf ihn zu. »Entschuldigen Sie bitte, Signore«, sagte der etwa 32
Vierzigjährige mit einer wohltuend warmen Baritonstimme, »ich wollte Sie keineswegs erschrecken. Übrigens, Benedetti ist mein Name. Zufällig wurde ich Zeuge Ihres kleinen Mißgeschicks. Wenn ich Ihnen eine Empfehlung geben darf: Sie sollten sich unbedingt eine Tetanusspritze geben lassen. Wenige Minuten von hier, am Campo San Gallo, kenne ich einen guten Arzt. Die Praxis liegt auf meinem Weg ins Büro. Es würde mir also nichts ausmachen, Sie dorthin zu begleiten.« Bernstorff, dem diese spontane, für venezianische Verhältnisse ungewöhnliche Hilfsbereitschaft und Anbiederung etwas suspekt vorkam, stellte sich zunächst seinerseits vor und versuchte dann, einer inneren Stimme folgend, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. »Signore Benedetti«, begann er, »was für einen klangvollen und zugleich berühmten Namen Sie führen! Sie stammen doch nicht etwa aus der Familie des begnadeten Pianisten, der leider vor einigen Jahren viel zu früh verstorben ist? Keiner spielte Scarlatti so leuchtend, transparent und klar strukturiert wie er. Aber ich will Sie nicht langweilen und schon gar nicht länger aufhalten. Sicherlich haben Sie auch Wichtigeres zu tun, als einen ungeschickten Touristen zu betreuen. Nochmals tante grazie, Signore. Ich denke, daß sich die Angelegenheit sozusagen von selbst erledigt.« 33
Während er diese wenigen Sätze sprach, hatte Bernstorff sein Gegenüber blitzschnell gemustert und eine erste Bewertung vorgenommen. Zweifellos eine äußerst kultivierte, sensible und dennoch betont maskuline Erscheinung von großer charismatischer Ausstrahlungskraft, dachte er. Vergleichbaren Persönlichkeiten war er gelegentlich in homophilen Kreisen der gehobenen Gesellschaft begegnet. Benedetti war schlank und hochgewachsen. Er trug einen dunkelblauen, klassisch geschnittenen, edel angeknitterten Einreiher von Armani. Lediglich die floral gemusterte Seidenkrawatte auf dem eierschalenfarbenen Oberhemd setzte zurückhaltend einen modischen Akzent. Seine auffallend nervig-schlanken, gepflegten Hände verrieten dem geschulten Beobachter, daß ihnen körperliche Arbeit zu allen Zeiten erspart geblieben war. Diesem Eindruck entsprach auch sein schmal geschnittenes Gesicht, in dem zwischen äußerst wachen, hellblauen Augen und dem etwas spöttischem Mund eine römische Nase dominierte. Der schwarzgelockte, kräftige Haarwuchs ließ auf gute Gesundheit schließen und gab dieser Persönlichkeit einen würdigen Abschluß. Unterdessen war Giovanni in der angrenzenden Kammer fündig geworden und kam mit einer etwas zerbeulten, bunt bedruckten Metallschachtel zurück, in der mal Baicoli-Bisquits aufbewahrt gewesen waren. 34
Irgend jemand hatte mit einem roten Filzstift ein breites Kreuz auf den Deckel gemalt, der sich trotz aller Bemühungen des Portiers zunächst nicht abheben ließ. Und wieder war es Benedetti, der sich mit einer Unaufdringlichkeit einmischte, die keinen Widerspruch zuließ. Blitzschnell hatte er ein kleines silbernes Taschenmesser zur Hand, dessen Klinge er geschickt unter den Falz des verspannten Deckels führte, wonach sich dieser mühelos abheben ließ. In dem quadratischen Behältnis herrschte Chaos: Sicherheitsnadeln, Bindfaden, Klebeband, Aspirin, ein paar Zahnstocher, ein Labello-Stift, zwei Präservative der Marke avanti, eine angeschmutzte Mullbinde, ein Schuhanzieher und anderer Krimskrams. Nach längerem Suchen förderte Giovanni auch einen wenig appetitlichen Streifen Heftpflaster und eine kleine Schere zutage. Er schnitt zunächst mehrere Abschnitte zurecht, zog die blutgetränkte Serviette vorsichtig von Bernstorffs klebriger Hand ab, legte sie zur Seite, und bemühte sich dann umständlich und betont wichtigtuerisch um die Versorgung der kleinen Wunden. Benedetti, er hatte sich inzwischen ein wenig distanziert und die Vorgänge mit einem leichten Anflug von Ekel verfolgt, trat plötzlich wieder auf die beiden zu. Blitzschnell griff er mit gespreiztem Daumen und Zeigefinger nach der Serviette und verschwand damit, das Corpus delicti mit ausgestreckter Hand vor sich her 35
tragend, in der Gästetoilette des Erdgeschosses. Dort verwahrte er seine Beute in einem kleinen Beutel aus Plastikfolie, den er berufsbedingt stets dabei hatte, und steckte ihn in seine Hosentasche. In dem eng geschnittenen Kleidungsstück entstand eine leichte Auswölbung, die er durch mehrere Schläge mit der flachen Hand zufriedenstellend glätten konnte. Anschließend drückte er die Toilettenspülung, wusch sich sorgfältig und kam zurück in die Rezeption. »Ich habe das Ding gleich entsorgt«, erklärte er sich. »Bei dieser Hitze sollte so etwas nicht im Papierkorb landen. Die Fliegen ziehen sich danach.« Dann wandte er sich Bernstorff zu: »Arrividerci Signore, ich hoffe, daß Ihr weiterer Aufenthalt in dieser Stadt unblutiger verläuft. Wollen Sie noch länger bleiben?« Und ohne eine Antwort auf seine Frage abzuwarten fuhr er fort: »Überlegen Sie sich noch einmal die Sache mit der Tetanusspritze, es kann auf jeden Fall nicht schaden.« Als Bernstorff eine abwehrende Handbewegung machte, fügte er noch hinzu: »Nun, ich sehe, Sie sind ein Mensch, der das Risiko liebt. So etwas kann aber auch mal schiefgehen!« Nach einer knapp angedeuteten Verbeugung wandte sich Benedetti dann zum Gehen und blickte, während er die Tür aufstieß, ein letztes Mal zurück: »Ich denke, man sieht sich gelegentlich wieder. Es war nett, Signore, Sie kennenzulernen.« Nach seinem Fortgehen entstand zunächst eine Pau36
se des Schweigens, die Bernstorff schließlich mit einer kaum noch zu beherrschenden Frage beendete: »Wer war dieser interessante, außerordentlich kultivierte Signore?« fragte er Giovanni. Und er war bemüht, seine starke innere Erregung mit einem Tonfall zu kaschieren, der Desinteresse und Gleichgültigkeit ausdrücken sollte. In Giovanni, der dieses Täuschungsmanöver intuitiv durchschaute, war der Schalk geweckt, und er entschloß sich spontan, den Gast aus Deutschland ein wenig zu schocken. »Nun ja«, begann er gedehnt und wichtigtuerisch, während er sich zunächst mit einigen tiefen Atemzügen sichtbar aufblies, dann auf den Zehenspitzen wippte und beide Daumen unter die bunt bestickten Bänder seines Hosenträgers schob. »Dieser Signore Benedetti ist wirklich, das haben Sie völlig richtig empfunden, eine ungewöhnlich imponierende Erscheinung.« Als der Portier so tat, als habe er die an ihn gerichtete Frage mit dieser lapidaren Feststellung beantwortet, entschloß sich Bernstorff in äußerst gereizter Stimmung zum Angriff. »Ich habe Ihnen eine Frage gestellt, Signore Giovanni, und natürlich ist es Ihr Recht, eine Antwort darauf zu verweigern. Aber bitte verschonen Sie mich mit derart dümmlichen Bemerkungen!« Während sich Bernstorff verärgert umdrehte und fortgehen wollte, griff der Portier blitzschnell nach ihm und hielt ihn an 37
der linken Schulter fest. Ihm war natürlich klar, daß er sich zu weit vorgewagt hatte. Und keineswegs konnte es in seinem Interesse liegen, einen Gast zu verärgern, dem ein gut bemessenes Trinkgeld stets locker aus der Tasche kam. Mit einer väterlich-vertraulichen Geste und sanftem Druck führte er Bernstorff ganz dicht zu sich heran, blickte ihm ernst und fest in die Augen und sprach mit leiser, trauriger Stimme, so, als müsse er vor Gericht eine peinliche Aussage machen: »Der Herr ist von der Mordkommission – was sagen Sie nun?« »Ach, wie schön«, platzte es aus Bernstorff heraus, dem vor Verblüffung nichts Dümmeres eingefallen war. Aber dann hatte er sich schnell wieder gefaßt, und er hakte mit einer präzisen Frage nach. »Der Commissario war doch wohl nicht dienstlich hier, oder vielleicht doch?« »Dienstlich oder nicht«, antwortete Giovanni zögernd und abwägend, »das kann ich schwer beurteilen. Jedenfalls glaube ich das nicht. Signore Benedetti kommt gelegentlich immer mal hier vorbei. Unser Hotel liegt auf seinem Weg zum Büro, etwa auf halber Strecke. Und bei der Hitze erfrischt man sich gerne mal für ein paar Minuten in einem klimatisierten Raum. Natürlich stellt er gelegentlich auch die eine oder andere Frage, aber nichts Bestimmtes. Sie wissen ja, in meinem Beruf kommt man viel mit Menschen zusammen, 38
und da fällt einem manchmal das eine oder andere auf. Ich bin, wenn Sie so wollen, so eine Art Horchposten für die Polizei. Aber das gilt eigentlich für alle Portiers in der Stadt.« Und dann, mit gedämpfter Stimme, fuhr der inzwischen geschwätzig gewordene Mann fort: »Im Moment ist hier ja der Teufel los, da sage ich Ihnen sicherlich nichts Neues. Innerhalb weniger Wochen sind vier junge Frauen verschwunden, aber bisher gibt es keine einzige Leiche! Alles sehr geheimnisvoll. Angeblich soll es um Entführungen und hohe Lösegeldforderungen gehen, wer weiß das schon. Das absolut Ekelhafteste jedoch sind wohl diese mysteriösen Pakete, die fast jeden Tag irgendwo aus der Lagune gefischt werden. Und über ihren Inhalt gibt es nichts als Gerüchte. Alle Finder wurden von der Polizei zu strengstem Schweigen verpflichtet. Aber ich, Signore Bernstorff, kann Ihnen dazu jetzt ein Geheimnis anvertrauen.« Er dämpfte seine Stimme nochmals, bevor er weiterredete: »Mein Freund Carlo, er arbeitet als Reporter beim Il Gazzettino, hat ein Foto vom Inhalt eines dieser Pakete machen können …« »Und?« schaltete sich Bernstorff ein. »Das Bild ist sehr unscharf, es wurde aus großer Entfernung und unter schwierigen Umständen mit einem Teleobjektiv aufgenommen. Carlo behauptet, daß man trotz allem deutlich eine abgeschnittene Frauenbrust 39
erkennen kann. Heilige Mutter Gottes! Wir werden sehen, morgen soll das Foto in der Zeitung stehen, ganz groß auf der ersten Seite. Was halten Sie davon?« Bernstorff mußte lächeln, und entspannt erwiderte er: »Sie wissen doch, in der Presse wird alles aufgebauscht. Warten wir ab bis morgen.« Er steckte seinem Gesprächspartner einen Zehntausend-Lire-Schein zu und fragte ihn dann betont gleichgültig, so als ginge es für ihn um eine absolute Nebensächlichkeit: »Übrigens, dieser Benedetti, ist der vielleicht ein wenig so-so?« Er machte dabei eine unbestimmte Handbewegung. »Wie meinen Sie das bitte, Signore?« forschte der Portier nach, und es war ihm anzusehen, daß er dem angeschnittenen Thema distanziert gegenüberstand. »Nun«, fuhr Bernstorff in sehr belehrendem Ton fort, »manche Menschen sind so und andere sind nun mal so-so …« »Ach so!« erwiderte Giovanni, nickte einige Male nachdenklich vor sich hin und entschied schließlich: »Ich denke, daß der Commissario so ist, also keineswegs so-so.« Und im letzten Moment verkniff er sich die Frage: Wie sind Sie denn eigentlich Signore, so oder so-so? Bernstorff lachte, das Wortspiel hatte ihm Spaß gemacht. Er wandte sich dem Fahrstuhl zu, in den sich gerade eine deutsche Touristin mit ihrem raumbeanspruchenden Rucksack zwängte. Es war eng in der Kabine, sehr heiß und roch nach Schweiß. Oben ange40
kommen, begutachtete er mit prüfenden Blicken den Zustand seines Zimmers, sah auch kurz mal unter das Bett und entschied dann, alle weiteren Maßnahmen auf den frühen Abend zu verschieben. Eile war im Moment auch nicht geboten, denn erst gegen einundzwanzig Uhr, wenn die Rezeption für wenige Minuten unbesetzt war, würde Alfredo wieder mit seiner Sackkarre vor der Tür stehen, und bis dahin konnte er alles vorbereitet und geregelt haben. Einschließlich der detaillierten Dokumentation mit Polaroidfotos, worauf Dr. Gruson ausdrücklich bestand. Nachdem er sich zunächst im Bad ein wenig aufgefrischt und hergerichtet hatte, verließ er das Hotel. Der kleine, düstere Innenhof, in dem Oleanderbüsche und von Schwüle erschöpfte, pastellfarbene Hortensien ein Schattendasein führten, mündete in einen schmalen, kaum mehr als mannshohen Gang, der hinaus zur Gasse führte. Diese für seine Zwecke idealen örtlichen Gegebenheiten ermöglichten es Bernstorff, sich in den ständig pulsierenden Touristenstrom jederzeit völlig unauffällig einzugliedern oder sich aus ihm wieder zurückzuziehen. Zunächst bereitete es einige Schwierigkeiten, zur anderen Straßenseite vorzudringen. Da er zum Markusplatz wollte, war es notwendig, sich dem gegenüberliegenden Menschenstrom anzuschließen. In Venedigs Hauptschlagadern herrscht nun mal Rechtsver41
kehr, erbarmungslos. Aber bevor er die Piazza erreicht hatte, entschloß er sich, die heißesten Stunden des frühen Nachmittags doch lieber im Giardini ex Reali zu verbringen, jener luftigschattigen Gartenoase auf San Marco, die eine der wenigen sympathischen Erinnerungen an Napoleons kurze Herrschaft über Venedig ist. Nachdem er sich am Kiosk in der Calle dell’ Ascensione mit aktuellen deutschen Tageszeitungen eingedeckt hatte, nahm er die Abkürzung durch die Calle Vallaresso, widerstand der Versuchung, in Harry’s Bar einen überteuerten Drink zu nehmen, und fand dann mit viel Glück tatsächlich eine freie Parkbank im Schatten der Grünanlage. Er deponierte den Stapel Zeitungen zu beiden Seiten, machte es sich bequem, streckte die Beine in den Kies und sah einigen Tauben zu, die gurrend um hingeworfene Paninistückchen stritten. Schließlich griff er zur Münchner Abendzeitung, die obenauf lag. Die Headline der ersten Seite elektrisierte ihn: »Das Monster von Venedig – ein Deutscher?« Darunter eine Phantomzeichnung. Ihr Anblick reizte ihn so nachhaltig zu lautem Gelächter, daß drei blaßverwelkte Ordensschwestern, die auf der Nachbarbank saßen und mit einer Mischung aus Lust und Andacht riesige Bananen in ihre Münder schoben, verschreckt das Weite suchten. Gut eine Stunde lang widmete sich Bernstorff der Zeitungslektüre und kam dann zu der Einschätzung, 42
daß er sein Hirn wieder einmal mit wertlosem Informationsmüll belastet hatte. Er stand schließlich auf, stopfte die zum Teil noch ungelesenen Blätter in einen der überquellenden Abfallkörbe, mit Ausnahme der Abendzeitung, und ging dann zurück ins Hotel. Bis zum Abend gab es noch einiges zu regeln.
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3. Kapitel
Manchmal gibt es Tage, da stehen alle Ampeln des Lebens schon früh am Morgen auf Rot. Dieser Mittwoch war für Benedetti ein solcher Tag. Nach schweren nächtlichen Gewittern, die der Lagune nicht die geringste Abkühlung brachten, hatte er nur für wenige Stunden Schlaf gefunden, als ihn bereits der Wecker wieder aufschreckte. In seinem halbwachen Bewußtsein kämpften zunächst minutenlang schwache Pflichtgefühle gegen die starke Versuchung, einfach mal liegen zu bleiben. Ehe die Partie noch entschieden war, schrillte das Telefon. Margherita, seine Sekretärin, war am Apparat. »Signore«, begann sie mit hochgeschraubter Diskantstimme, »der Doge tobt, ist außer sich. Da muß irgend etwas total schiefgelaufen sein. Er will Sie sofort sprechen.« »Sofort ist keineswegs möglich«, lallte der Schlaftrunkene, »ich liege nämlich noch im Bett. Aber in gut einer Stunde werde ich im Amt sein. Richten Sie das bitte aus.« Damit legte er auf, denn er verspürte nicht die geringste Lust, sich in seiner liebgewordenen morgendlichen Behäbigkeit irritieren zu lassen. Und schon gar nicht von seinem Vorgesetzten Alessandro Manzoni, der unter dem Spitznamen Doge gehandelt wurde. 44
Daß sich Benedetti derartige Extravaganzen leisten konnte, hing damit zusammen, daß niemand so ganz genau wußte, nicht einmal er selbst, welchen Status er eigentlich bei der Polizei in Venedig bekleidete und von wem er mit welchen Kompetenzen ausgestattet worden war, als man ihn vor einigen Jahren in die Lagunenstadt versetzte. Diese und andere Unsicherheiten gaben zu den wildesten Spekulationen Anlaß und ermöglichten Freiräume, in denen sich Benedetti wohnlich eingerichtet hatte. Seiner eher verschwiegenen Personalakte war immerhin zu entnehmen, daß er einziger und unehelicher Sohn der berühmten Opernsängerin Norina Benedetti war. Jahrelang hatte sie unangefochten als Star der opera buffa geglänzt, bis ihre Karriere bei der Eröffnung einer Festspielsaison in Verona auf höchst tragikomische Weise endete. In Rossinis Barbier von Sevilla hatte sie die Rolle der Rosina übernommen. Die Vorstellung in der ausverkauften Arena war gut angelaufen, und das Publikum fieberte dem ersten musikalischen Höhepunkt des Abends entgegen, Rosinas Arie Una voce poco fa. Da passiert das Unvorstellbare! Während sich die Benedetti mit der Geste einer verzweifelt Liebenden dem Publikum zuwendet und tief einatmend ihre mächtigen Lungenflügel aufpumpt, fliegt ihr ein Insekt in den weit geöffneten Mund und wird vom Sog der 45
einströmenden Luft über den linken Bronchus principalis in die Tiefe des Organs befördert. Dort kommt der Eindringling zum Stich und löst ein Schockgeschehen aus, das erst Stunden später auf der Intensivstation der Klinik unter Kontrolle gebracht werden kann. »Insekt killt Jahrhundertstimme«, titelte am nächsten Morgen Italiens größte Boulevardzeitung und präsentierte den Missetäter, den Professore Dottore Zanotto wieder ans Tageslicht befördert hatte, auf einem dreispaltigen Foto: eine gut zwei Zentimeter lange, kräftig gebaute Pillenwespe der Spezie Eumenes pomiformis. Ein Männchen übrigens, wie der Bildunterschrift zu entnehmen war. Nach Signora Benedettis Genesung stellte sich zwar bald heraus, daß ihr sanfter und zugleich kristallklarer Sopran nichts von seiner ursprünglichen Schönheit und Kraft eingebüßt hatte, aber ein anderes Problem verwehrte ihr seitdem die Rückkehr auf die Opernbühnen der Welt. Das Schocktrauma von Verona machte es ihr fortan unmöglich, angstfrei und unbeschwert tief einzuatmen. Die glänzenden Vermögensverhältnisse seiner Mutter hatten es Benedetti ermöglicht, sich ohne irgendwelche Einschränkungen dem an sich schon nutzlosen Studium der Psychologie und Rechtsphilosophie zu widmen. Nach langen Jahren in Florenz, Heidelberg und Rom promovierte er endlich mit dem Thema »Die 46
Existenz des Nichts im Sein«. Da ihm diese Vorbildung keine erkennbare berufliche Perspektive eröffnete, schaltete sich die Signora ein. Aufgrund ihrer enormen Popularität und den damit verbundenen Beziehungen, die nicht zuletzt wegen einiger Liebesaffären mit hochrangigen Politikern und geweihten Persönlichkeiten der römischen Kurie von besonderer Qualität waren, wurde der frisch gebackene Dottore in den gehobenen Staatsdienst übernommen. Zunächst leitete er in Florenz für einige Jahre die Zentrale für kulturelle Raumordnung. Eine Institution, die speziell für den jungen Benedetti geschaffen wurde, und die später, als man ihm eine andere Aufgabe zuweisen konnte, schnell wieder schloß. Er ging damals nach Rom und koordinierte im Innenministerium einen geheimen Planungsstab, der völlig neuartige Strategien zur Bekämpfung der organisierten Bandenkriminalität entwickelte, die später in Zusammenarbeit mit den Mafiajägern Giovanni Falcone und Paolo Borsellino erfolgreich umgesetzt wurden. Als seine Mitstreiter Falcone und Borsellino im Frühsommer 1992 von dem Mafioso Pietro Aglieri durch einen großzügig bemessenen Sprengsatz ins Jenseits befördert wurden, hielt Benedetti nach einem weniger anspruchsvollen Betätigungsfeld Ausschau. Er fand es in Venedig, freilich wieder nur durch Fürsprache seiner Mutter, denn am Canal Grande gab es weit und breit 47
kein Aufgabengebiet, das seinen Fähigkeiten angemessen gewesen wäre. So wurde für ihn wieder einmal etwas geschaffen, wofür es eigentlich keinen Bedarf gab. In diesem Fall das Commissariat für besondere Aufgaben, intern »cfba« genannt. Personell bestand es nur aus Benedetti und seiner Sekretärin Margherita Gambino. Aber Venedigs Polizeipräsident Alessandro Manzoni, der Doge, wollte sich kein Kuckucksei ins Nest seiner etablierten Hausmacht legen lassen. Darum quartierte man den mit Argwohn belauerten Benedetti und seine unerwünschte Mitarbeiterin in einer verlassenen Dependance am Campo S. Leonardo im abgelegenen Stadtteil Cannaregio ein. Die Tatsache, daß man von hier aus nach wenigen Schritten ins ehemalige Ghetto kam, war ein deutliches Symbol für die uneingestandene Feindseligkeit, die der Doge dem Neuling aus Rom entgegenbrachte. Prinzipiell war ihm Benedetti wohl unterstellt. Aber diese Frage war nie Gegenstand irgendeiner Diskussion, noch gab es schriftliche Festlegungen zu diesem Thema. So operierte der Protegé einer immer noch sehr einflußreichen, wenn auch abgedankten Operndiva in einer Art Grauzone oder Vakuum, ohne klar umrissene Kompetenzen und Aufgabenbereiche. Es gehörte zur mittelfristigen Strategie des Dogen, die Persona non grata auszuhungern und zum Rückzug zu zwingen, denn so viel stand trotz aller Ungereimtheiten 48
fest: Benedetti durfte nur dann berufliche Aktivitäten entwickeln, wenn Manzoni ihm einen Fall zur Aufklärung übertrug. Und von dieser Waffe hatte Alessandro Manzoni in den letzten Jahren reichlich Gebrauch gemacht. Nur allzu selten klingelte des Telefon im »cfba« am Campo S. Leonardo, um Benedettis Rat und Beistand anzufordern. Freilich konnte der Doge nicht wissen, daß die Klinge, mit der er immer wieder zustach, stumpf und damit wertlos war. Benedetti störte sich nämlich nicht im geringsten an den offensichtlichen Schikanen, denn er war ohne eine Spur von beruflichem Ehrgeiz nach Venedig gekommen. Schon gar nicht gehörte es zu seinen geheimen Absichten, Manzoni aus dem Chefsessel zu hebeln. Ganz im Gegenteil! Um keinen Preis der Welt hätte er die Position eines weitgehend unabhängigen Müßiggängers irgendeinem kleinbürgerlichen Karrieredenken geopfert. So kam er einem Idealbild sehr nahe, das nicht nur italienische Beamte im Herzen tragen: In gut dotierter Position und von Arbeit weitgehend unbehelligt einer nicht zu späten Pensionierung entgegenzusehen. Im Grunde war Benedetti ja auch nicht nach Venedig versetzt worden, um den Interessen eines auf Sicherheit und Ordnung bedachten Staatsapparates zu dienen. Vielmehr hatte seine Mutter den Ortswechsel aus rein egoistischen Motiven mit weit nach oben rei49
chender Hand eingefädelt. Als feststand, daß ihr ein Comeback als Sängerin kaum gelingen würde, wollte sie den nach wie vor unverheirateten Sohn für immer fest an sich binden. Zusammen mit ihm zog sie sich in die Anonymität der Serenissima zurück. Auf San Polo, dem kleinsten Stadtteil Venedigs, hatten ihr die früh verstorbenen Eltern eine herrschaftliche Villa hinterlassen, hinter deren vernachlässigter ockerfarbenen Außenfassade die Signora, im Stil der zwanziger Jahre, einen der letzten nostalgischen Salons der Stadt führte. Das großzügig zugeschnittene Grundstück in der schmalen, ruhigen Ramo Cimesin umfaßte auch einen weitläufigen, schattigen Garten und war durch eine mehr als mannshohe, rote Backsteinmauer und üppigen Baumbewuchs hermetisch gegen die Umwelt abgeschirmt. Ringsherum gab es nur wenige unauffällige, stille Nachbarn, allesamt wohlhabend und auf vornehme Distanz bedacht. Sie verbrachten ihren Lebensabend damit, früh morgens und spät in der Dämmerung schmale Rasenflächen, üppige Blumenrabatten und Oleandersträucher in abbröckelnden Terrakottaschalen zu besprengen. Gelegentlich wehten Chopinoder Verdi-Klänge durch die Schwüle der Vorgärten, oder ein gekäfigter Kanarienvogel trällerte in seiner Voliere. Diese museale, von Andacht und Melancholie geprägte Atmosphäre wurde nur durch gelegentliche Temperamentausbrüche und Erstickungsanfälle der 50
Signora Felicia Malibran erschüttert, einer abgedankten, asthmatischen Mailänder Lebedame unbestimmbaren Alters, die mehrmals am Tage ihre drei neurotischen, fetten Möpse durch die stille Straße führte. An dem besagten Mittwoch morgen war es nicht nur der frühe Anruf seiner Sekretärin Margherita Gambino, der Benedetti unsanft mit der Banalität des Alltäglichen konfrontiert hatte. Denn unmittelbar danach kam es unten auf der Ramo Cimesin, genau in Höhe seines Schlafzimmerfensters, zu einer jener von allen Anwohnern gefürchteten Inszenierungen der Signora Malibran. Sie war gerade dabei, ihre an sich eher sanftmütigen, cremefarbenen Hunde mit Petits Fours von Florian zu mästen. Großzügig verstreute sie die sündhaft teuren Leckerhäppchen über das Pflaster, als es unter den Tieren auch schon lautstark zum Streit kam. Aufgebracht vor ungestillter Gier hopsten sie unkontrollierbar über und durcheinander, balgten sich erbost knurrend, und in Sekundenschnelle waren die meterlangen Führungsleinen hoffnungslos ineinander verknäult. Die damit verbundene Einschränkung ihres Bewegungsspielraumes versetzte die Möpse schließlich derart in Panik, daß sie mit lautem, schrillen Gekeife wild um sich bissen und nicht einmal die Waden ihrer geliebten Herrin verschonten. Schließlich konnte die Signora die nach mehreren Richtungen hin zerrenden Biester nicht mehr beherrschen, ließ alle drei Leinen los 51
und flüchtete sich in einen ihrer dramatischen Asthmaanfälle. Während sie, bläulich anlaufend und laut stöhnend um Luft ringend, an einem schmiedeeisernen Gartentor Halt suchte, rollten die Möpse, einem Kugelblitz vergleichbar, in einer Staubwolke um die nächste Straßenecke. Benedetti hatte das Ereignis vom geöffneten Schlafzimmerfenster aus mit einer Mischung von Abscheu und Schadenfreude verfolgt. Zu irgendeiner Anteilnahme oder gar Hilfeleistung fühlte er sich keineswegs verpflichtet, denn jeder hier im Viertel war mit derartigen gelegentlichen Auftritten der Signora Malibran bestens vertraut. Und alle wußten, daß die öffentliche Ruhe am schnellsten dann wieder hergestellt war, wenn sich niemand um die Angelegenheit kümmerte. Auch interessierten ihn an der Signora weder die Möpse noch ihre asthmatischen Ausbrüche. Einige andere Ungereimtheiten in Zusammenhang mit dieser Person fand er dagegen nachdenkenswert. Unter anderem die Tatsache, daß die Malibran in den letzten Wochen und stets zu später Stunde gelegentlich von zwei Herren besucht wurde, die Benedetti aus sehr unterschiedlichen Gründen bekannt waren. Zum einen der Altmafioso Umberto Agnoli, mit dem er sich in früheren Jahren beruflich hatte befassen müssen, und auch der Padre Albertus, eine mehr als zwielichtige Figur des lokalen Kirchenlebens. Benedetti hatte das diskrete 52
Kommen und Gehen rein zufällig von der Terrasse seines Wohnzimmers aus beobachten können. Und soviel stand für ihn fest: Wenn man den Erhaltungszustand der Signora in Betracht zog, dann konnten die Treffen keineswegs einen erotischen Hintergrund haben, denn zumindest von dem Padre wußte er, daß diesem ein exzellenter Geschmack nachgesagt wurde. Während er ins Badezimmer ging, um sich fertig zu machen, entschied Benedetti, der Malibran schon sehr bald einen nachbarlichen Besuch abzustatten, vielleicht schon am kommenden Abend. Er duschte dann ausgiebig und ohne Hast und wollte gerade mit der Rasur beginnen, als das Telefon wieder klingelte. Eine inzwischen völlig entnervte Margherita erinnerte ihn an seinen Termin, denn inzwischen war bereits fast eine Stunde vergangen. »Ich schicke Ihnen ein Polizeiboot zum Rio delle Sacchere«, bettelte sie. »Dann können Sie in zehn Minuten beim Dogen sein. Er hat gerade anrufen lassen, steht offensichtlich kurz vor einer Detonation. Haben Sie übrigens die Morgenzeitung schon gelesen? Heilige Mutter Gottes!« Benedetti verneinte, stellte abermals sein Kommen für die nächste Stunde in Aussicht, äußerte sich jedoch mit keinem Wort zu dem Vorschlag, ein Boot in Anspruch nehmen zu können, und legte lächelnd auf. Durch Indiskretionen und Gerüchte, die ihn selbst in seinem abgelegenen Büro am Campo S. Leonardo erreicht hatten, war er schon vor 53
einigen Tagen über Manzonis mißliche Situation und seine jetzigen Pläne informiert worden. Der Doge saß in der Klemme, in einer hausgemachten. Seit Wochen hielt eine Anhäufung ungewöhnlicher Ereignisse Venedigs Polizei in Atem. Längst hatten die mysteriösen Vorfälle nicht mehr den Charakter einer lokalen Angelegenheit. Täglich berichtete und rätselte die gesamte europäische Presse über eine Serie kaltblütiger Verbrechen, die möglicherweise gar keine waren – oder doch? Durch gezielte Desinformation und Nachrichtensperre hatte der völlig hilflos taktierende Manzoni die sensationslüsternen Medien angeheizt und so den Boden für abenteuerlichste Spekulationen aller Art gut vorbereitet. Mit den Ermittlungen war zunächst sein Günstling, Commissario Ernesto Guardi, betraut worden, ein prinzipiell unfähiger, aber serviler Kleingeist, wie Benedetti fand. Er traute ihm allenfalls die Aufklärung eines Taschendiebstahls zu. »Aber nur unter der Voraussetzung«, hatte er einmal unter Kollegen ironisch geäußert, »daß der Dieb sich freiwillig stellt und Guardi dann nur noch das Protokoll aufnehmen muß.« Wie auch immer, der Doge mußte jetzt endlich Erfolge vorweisen. Um jeden Preis und möglichst schnell. Darum hatte er sich nach längerem Zögern dazu entschlossen, nunmehr Benedetti mit der hochkomplexen Situation zu konfrontieren. Wie immer die Sache auch 54
ausgehen mochte, für ihn persönlich und für sein Ansehen als Vorgesetztem würde immer etwas dabei herausspringen. Falls auch Benedetti scheiterte, konnte er diesem den gesamten Mißerfolg nachträglich anlasten und ihn anschließend den Medien zum Fraß hinwerfen. Benedettis Position war dann für alle Zeiten erschüttert, und er hatte den vermeintlichen Rivalen endgültig kaltgestellt. Auf jeden Fall bis zu seiner Pensionierung in rund sechs Jahren, und was danach kam, konnte ihm egal sein. Sollte Benedetti dagegen erfolgreich sein, was Manzoni zugleich befürchtete und hoffte, dann würde es ihm nicht schwerfallen, sich den Lorbeerzweig publikumswirksam an die eigene Brust zu heften. Schließlich war er geübt darin, die Verdienste von Mitarbeitern vor der Öffentlichkeit als persönliche Leistung zu vermarkten. Als Benedetti sich endlich, nach sorgfältiger Morgentoilette, zu Fuß auf den Weg ins Präsidium gemacht hatte, schritt der Doge bereits seit über einer Stunde mit grimmigem Gesicht in seinem Amtszimmer auf und ab. Er war von untersetztem, nur mäßig hohem Wuchs. Diese ihm von der Natur zugewiesene Benachteiligung verstand er durch einige Kunstgriffe auszugleichen, wenigstens zum Teil. So trug er ausschließlich für ihn handgefertigte Schuhe mit einem um gut fünf Zentimeter erhöhtem Fußbett, bevorzugte Anzüge mit Nadelstreifen und verstand sich darauf, sein sehr üppig 55
wachsendes schwarzes Kraushaar geschickt nach oben zu bürsten. Zusätzlich erhöhte er sich, jedenfalls für Momente, durch eine Angewohnheit, mit der ihm ein hochrangiger Politiker imponiert hatte: Befand Manzoni sich in Gesellschaft, wippte er sich in ständigem Rhythmus auf die Zehenspitzen hoch und war, durch jahrelanges Training bedingt, in der Lage, für einige Minuten in dieser unnatürlichen Stellung zu verharren. Zu den weiteren Auffälligkeiten seines im übrigen gepflegten und korrekten Erscheinungsbildes gehörte eine Eigenart, die sonst nur im Tierreich, etwa unter gewissen Echsenarten, beobachtet werden kann. Beim Sprechen, vor allem dann, wenn starke Erregung mit im Spiel war, schnellte seine schmale rote Zunge immer wieder blitzschnell aus dem Mund hervor und wurde dann ebenso plötzlich wieder zurückgezogen, nachdem sie zuvor Ober- und Unterlippe mit einer kreisenden Bewegung angefeuchtet hatte. Das lange Warten auf Benedettis Eintreffen kam dem Dogen nicht völlig ungelegen, denn im Laufe des Vormittags hatte er sich noch immer nicht für eine Strategie entschieden, mit der er dem Kollegen glaubwürdig und beeindruckend gegenübertreten konnte. Prinzipiell gab es nur zwei Möglichkeiten. Natürlich und durchaus zu Recht konnte er den aufgebrachten, brüskierten Chef herauskehren, was dann zwangsläufig auf eine Machtprobe hinauslaufen würde. Jedoch 56
schmerzliche Erfahrungen hatten ihn gelehrt, daß derartige Attacken an Benedettis eleganter Selbstsicherheit und seiner nahezu unangreifbaren Arroganz kläglich scheitern würden. Da er ein schlechter Verlierer war, entschied er sich schweren Herzens für die einzig denkbare Alternative: Er wollte den reichlich Verspäteten mit einer väterlich-versöhnlichen Geste empfangen und ihn spüren lassen, daß er zu großzügigem Denken und Handeln uneingeschränkt fähig war. Der Doge hatte sich im Verlauf seiner fast dreißigjährigen Beamtenkarriere durch geschicktes und jederzeit gut angepaßtes Taktieren nach oben manövriert. Seine nach allen Seiten hin solide abgesicherte Führungsposition war, bis zur Pensionierung in einigen Jahren, praktisch unangreifbar. Seinen offenkundigen Mangel an intellektuellen und menschlichen Fähigkeiten hatte er stets gewinnbringend durch andere Qualitäten aufbessern können. So verfügte er etwa über einen ausgeprägten animalischen Instinkt für Gefahren aller Art, der ihm, gepaart mit einer gesunden Portion Bauernschläue, in kritischen Situationen immer wieder zur richtigen Entscheidung verholfen hatte. Vor allem war es ihm stets übergangslos und dennoch glaubwürdig gelungen, sich im schwer kalkulierbaren politischen Fahrwasser geschickt der jeweils aktuellen Hauptströmung anzupassen. Daß er trotz dieser prinzipiellen Charakterlosigkeit als nicht korrumpierbar galt und zu 57
keiner Zeit in irgendwelche Skandale verwickelt war, konnte also nicht auf innere Gradlinigkeit zurückgeführt werden. Der eigentliche Grund für seine scheinbare Integrität, und Benedetti hatte das natürlich durchschaut, war seine Feigheit. Die Angst vor möglichen Folgen hatte ihn immer davon abgehalten, aus gewissen Situationen persönliche Vorteile zu schlagen. Zu den wenigen Unkorrektheiten, die er sich mit gutem Gewissen immer mal wieder leistete, gehörten gelegentliche »Dienstreisen« nach Rom. Nicht, um dort an einem Wochenendseminar für Führungskräfte der Polizei teilzunehmen, sondern um Anna, einer gut proportionierten Mittvierzigerin, an die Brust zu fallen. Diese vergleichsweise bescheidenen Ausflüge am Rande der Legalität ließen sich risikolos über einen Sonderetat abrechnen, den man ihm für »spezielle Aktionen« großzügig eingeräumt hatte und über dessen Verwendung kein spezifizierter Nachweis erbracht werden mußte. Als Benedetti schließlich eintraf, war der Doge für den Empfang gut vorbereitet. Von seiner Sekretärin hatte er sich einen größeren Aktenstapel hereinbringen lassen und die Unterlagen weiträumig, aber geordnet, über die linke Hälfte seines ausladenden Arbeitstisches verteilt. Das massive, antike Möbelstück aus gebürsteter Silbereiche hatte einst in einem Südtiroler Benediktinerkloster als Refektoriumstisch gedient. Vor Jahren 58
war es ihm von einem gewissen Padre Albertus als »unbefristete Leihgabe«, so die korrekte Aktennotiz, überlassen worden. Im rechten Bereich der Arbeitsplatte imponierten drei Telefone unterschiedlicher Farbe und Bauart, der Monitor einer vernetzten Computeranlage, die Station einer Gegensprechanlage sowie mehrere Rinde Klingelknöpfe, die in poliertes Messing gefaßt waren. Halblinks daneben, goldgerahmt im Postkartenformat, ein Farbfoto seiner Ehefrau, sowie mehrere kleinere Kinder- und Jugendbilder seiner inzwischen erwachsenen Söhne Julian und Antonio. Das Mittelfeld des Schreibtisches füllte eine bordeauxfarbene, lederne Unterlage aus, deren Ränder mit goldenen Prägungen verziert waren. Darauf lagen, etwas schräg gegeneinander versetzt, die aktuellen Ausgaben von Il Gazzettino und La Nuova Venezia. Der Doge schritt mit weit geöffneten Armen und nachsichtigem Lächeln auf den eintretenden Commissario zu, umfaßte freundschaftlich rüttelnd seine Schultern, wippte sich auf die Zehenspitzen hoch und blickte ihm fest in die Augen. »Mein lieber Benedetti«, empfing er ihn, »was für ein Glück, daß Sie sich ein wenig verspäten mußten! Ich hätte Sie sonst lange warten lassen müssen, weil mir längere, außerordentlich wichtige Ferngespräche mit dem Ministerium in Rom meinen gesamten Zeitplan durcheinandergebracht haben.« Bei dieser Bemerkung wies er mit einer selbstge59
fälligen Handbewegung auf seine drei Telefone und fuhr dann fort: »Sie sind also gerade im rechten Moment hier eingetroffen. Nehmen Sie doch bitte erst einmal Platz.« Er führte ihn zu einem der drei Stühle, die, im Halbrund angeordnet, vor seinem Arbeitsplatz standen, ging dann hinter seinen Schreibtisch, setzte sich aber nicht. Vielmehr stützte er sich mit beiden Händen auf der Tischkante ab, beugte sich leicht nach vorne und begann mit ernster, gedämpfter Stimme. »Reden wir zunächst von den Fakten! In den letzten Wochen sind vier junge Frauen in unserer Stadt verschwunden, spurlos! Eine Friseuse aus Wien, zwei Deutsche und zuletzt, vor einigen Tagen, die Holländerin Miranda van der Sleen. Was für ein klangvoller Name übrigens, hoffentlich lebt die junge Frau noch.« »Nun«, fuhr er fort, »die angestrebte Zusammenarbeit mit den Angehörigen der Opfer gestaltet sich bis auf den heutigen Tag unerwartet schwierig. Genauer gesagt, es gibt nicht einmal den geringsten Ansatz für kooperatives Verhalten. Ihr Kollege, Commissario Guardi, der bereits erstklassige Vorarbeit geleistet hat, konnte bisher nur folgende Erkenntnisse zusammentragen: Alle vier jungen Frauen im Alter von neunzehn bis dreiundzwanzig Jahren stammen aus besten, also sehr wohlhabenden Familien. Miteinander sind sie weder verwandt noch befreundet. Jede von ihnen soll ihre Eltern durch ein Fax aufgefordert haben, ein sehr hohes 60
Lösegeld zu zahlen. Mehr dazu ist uns nicht bekannt, weil es die betroffenen Angehörigen ausnahmslos kategorisch abgelehnt haben, uns Einblick in diese Schreiben zu gewähren. Wir müssen daraus folgern, daß für den Fall einer Zusammenarbeit mit der Polizei äußerst abschreckende Konsequenzen angedroht wurden. Auch wissen wir nicht, ob es inzwischen Zahlungen gegeben hat. Unbekannt ist uns ferner, welche Lebenszeichen die Vermißten möglicherweise in der Zwischenzeit gegeben haben. Es ist also durchaus denkbar, daß sie alle längst tot sind. Aber auch das völlige Gegenteil kann der Fall sein. Es ist zum Verrücktwerden!« Alessandro Manzoni, dessen angeschwollene Halsschlagader oberhalb seines Hemdkragens sichtbar pulsierte, trommelte erregt mit allen Fingern auf der Schreibtischunterlage, öffnete den Kragenknopf hinter dem Knoten seiner Krawatte und fuhr dann fort: »Zu allem Überfluß tauchen jetzt auch noch diese rätselhaften, absolut ekelerregenden Pakete und Päckchen auf. Zwei Fischer fanden sie irgendwo in den Salzwiesen nordöstlich von Torcello. Nur ein Ortskundiger, wahrscheinlich ein Venezianer also, kann sie dorthin gebracht haben. Jeder Fremde würde sich in diesem Labyrinth von kleinen Kanälen, Untiefen, Schilf und Inseln hoffnungslos verirren.« Abermals pausierte der Doge, zog dann einige Polizeifotos aus dem bereitgelegten Aktenstapel und beklopfte die wenig aussagefähigen, 61
weil unscharfen Bilddokumente mit seinem rechten Zeigefinger. »Dieses hier«, erläuterte er angewidert, »könnte man einen Frauenkopf nennen. Und da, auf dem Foto etwa, soll es wohl um eine weibliche Brust gehen. Ersparen wir uns weitere Betrachtungen. Die Originalfunde, zu denen unter anderem zwei Perükken, eine Sonnenbrille, ein benutztes, sorgfältig verknotetes Kondom und diverses Verpackungsmaterial gehören, können Sie sich selbstverständlich jederzeit näher ansehen. Unser Problem ist, daß es eine Reihe von Fakten und Tatsachen gibt, die uns aber vorerst leider nur zu sehr vagen Vermutungen berechtigen. Ich persönlich bin mir nicht einmal sicher, ob das Verschwinden der Mädchen mit der anderen Geschichte zusammenhängt.« Sichtbar erschöpft ließ sich der Doge in seinen ledernen Drehsessel fallen. Nachdem er seine Zunge mehrfach hatte vorschnellen lassen, wandte er sich erneut Benedetti zu, der ihm bislang schweigsam zugehört hatte. »Um es kurz zu machen, ich möchte Ihnen den Fall ab sofort übertragen. Ihren Kollegen, Commissario Guardi, mußte ich gestern schweren Herzens nach Hause schicken, leichter Schlaganfall oder so etwas. Kein Wunder, der Mann hat eine krebskranke Frau und kann vorerst nicht voll belastet werden. Übrigens – was halten Sie denn eigentlich von der ganzen Geschichte, wahnsinnig mysteriös, nicht wahr?« 62
»Eine halbwegs seriöse Bewertung werde ich Ihnen frühestens in ein bis zwei Tagen geben können«, antwortete Benedetti. »Zunächst einmal muß ich mich mit der Aktenlage vertraut machen und erste eigene Ermittlungen anstellen. Ich denke, daß es da einige gravierende Versäumnisse gibt.« »Sie kennen die Akten doch noch gar nicht«, fiel ihm der Doge ungehalten ins Wort. »Wie können Sie dann die bisherige Arbeit Ihres Kollegen kritisieren?« »Seine sicherlich gut gemeinten Bemühungen kritisiere ich auch nicht«, fuhr Benedetti ungerührt und ruhig fort. »Ich beanstande lediglich die bisherigen Ergebnisse. Und wenn ich Sie gerade eben richtig verstanden habe, dann steht die Polizei doch nach mehr als dreiwöchiger Ermittlungsarbeit praktisch mit leeren Händen da, oder etwa nicht? Einige sichergestellte Fundobjekte, unscharfe Fotos davon und die Erkenntnis, daß die Familien der verschwundenen Frauen jede Zusammenarbeit mit der Polizei ablehnen. Alles in allem ist das eine recht magere Ausbeute.« »Und Sie, mein lieber Benedetti, werden mir nun den gordischen Knoten in wenigen Tagen zerschlagen!« spöttelte der Doge gereizt. »Ich will mich zeitlich nicht festlegen«, antwortete der Commissario ohne ein geringstes Anzeichen von Erregung, »aber gehen wir einmal davon aus, daß wir die Angelegenheit in gut einer Woche als erledigt zu 63
den Akten legen können. Und sofern Sie damit einverstanden sind, werde ich jetzt gehen und mich gleich an die Arbeit machen. Der Zufall hat mir nämlich einige Fäden zugespielt. Ich möchte ihnen nachgehen«, fügte er poetisch hinzu, »bevor der Wind sie wieder verweht hat.« Damit stand er auf, verabschiedete sich mit höflicher Feindseligkeit, lehnte die Mitnahme der Fahndungsakten entschieden ab, und ging. Der Doge konnte nicht ahnen, daß Benedetti längst über eine Kopie des Vorgangs verfügte. Ein Vertrauter aus dem Polizeipräsidium hatte sie ihm zugespielt.
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4. Kapitel
Unschlüssig darüber, wie sich wohl die Stunden des frühen Nachmittags am angenehmsten verbringen ließen, schloß sich der Commissario dem Menschenstrom in den Gassen planlos an. So trieb er wie ein herrenloser Hund eine Weile durch die Stadt, über Plätze und Brücken, vorbei an Kanälen, kleinen Märkten und geöffneten Kirchentüren, aus denen ein Hauch modriger Kühle nach draußen zog. Nur hin und wieder setzte er sich bewußt ein Ziel, etwa um einer hübschen Signorina eine Zeitlang zu folgen, bis sie sich schließlich in der Menge verlief oder hinter einer niedrigen, messingverzierten Haustür verschwand. Fußmüde vom harten Marmorpflaster der Stadt und durchgeschwitzt gelangte er zufällig in die Nähe des Campo S. Zaccaria, wo sich eine Polizeiwache befand. Einer plötzlichen Intuition folgend betrat Benedetti das Gebäude, atmete im Halbdunkel der kühlen Eingangshalle einige Male genüßlich durch und ging dann in den ersten Stock, wo sich die Büros befanden. Keine Menschenseele weit und breit, Siesta! Irgendwo gurgelte und zischte ein Espressoautomat. Um die hohen, halb geöffneten Fenster taumelten träge verschossene Vorhänge in der schwülen Zugluft. Von der Straße 65
drangen gedämpft die Geräusche eines ermatteten Sommertages nach oben. Durch offenstehende Verbindungstüren ging Benedetti eine Weile von Raum zu Raum, überquerte schmale, zumeist dunkle Flure. Es roch nach Aktenstaub und Fußbodenöl. Im Stockwerk über ihm rauschte eine Toilettenspülung. Schließlich schreckte er einen jüngeren Beamten auf, der offensichtlich am Schreibtisch eingenickt war. Der Commissario wies sich kurz aus, weil ihn hier sicherlich niemand kannte. Man kam ins Gespräch, zunächst über Alltäglichkeiten und Banalitäten, beklagte den Anstieg der Kriminalität, die Einführung der Euro-Steuer, die Korruptheit gewisser Politiker und diskutierte die Torchancen von Juventus Turin für das kommende Wochenende. Dann kam Benedetti zur Sache. »Signor Morelli«, so hieß der angesprochene Kollege, »Ende Oktober vergangenen Jahres muß es in Ihrem Revier einen an sich unbedeutenden Vorfall gegeben haben. Wenn ich mich recht erinnere, zu einer Zeit, als weite Teile San Marcos gerade mal wieder unter Wasser standen. Il Gazzettino und auch La Nuova berichteten damals, sicherlich etwas aufgebauscht, über eine junge Frau – es muß wohl eine Deutsche gewesen sein –, die nachts mitten auf dem überfluteten Markusplatz zusammengebrochen ist.« Er machte eine Pause, um seine lückenhaften Erinnerungen zu ordnen, und fuhr dann fort: »Die Touristin muß von einer Streife 66
Ihres Reviers gefunden und versorgt worden sein. In der Presse war von versuchtem Mord oder Ähnlichem die Rede. Gibt es Protokolle zu dieser Geschichte?« »Das läßt sich leicht nachprüfen, Commissario, bei uns herrscht nämlich Ordnung«, antwortete der Polizist bereitwillig. »Persönlich erinnere ich mich zwar im Moment an nichts, aber was sagt das schon. Es passiert einfach zu viel. Um Mord kann es jedoch keinesfalls gegangen sein, denn so was bleibt hängen im Gedächtnis. Warten Sie bitte einen Moment, ich gehe eben mal runter ins Archiv.« Bereits kurz darauf kam Morelli mit einem großformatigen Journal zurück, in dem er mit seinem mehrfach angeleckten rechten Zeigefinger einige Minuten blätterte. »Hier!« sagte er triumphierend und wies auf eine knapp doppelseitige Eintragung. Zunächst überflog er den Text, durch stumme Bewegungen seiner Lippen begleitet, und faßte dann zusammen: »Also«, begann er gedehnt und mit wichtigtuerischer Miene, »in der Nacht vom achtzehnten auf den neunzehnten November letzten Jahres wurde die Deutsche Andrea Petri kurz nach Mitternacht auf der von Hochwasser überfluteten Piazza San Marco, etwa in Höhe des Campanile, in gestürztem Zustand von den Kollegen Sardo und Manconi aufgefunden, nachdem diese Hilfeschreie in einer fremden Sprache gehört hatten.« Er machte eine kurze Pause und überging, unverständliche Wortraffungen vor sich hin 67
murmelnd, einige Textpassagen, die er wohl für bedeutungslos hielt. Dann fuhr er fort: »Die offensichtlich unter Schock stehende, bereits unterkühlte Person, die nur mit einem Trenchcoat bekleidet war sowie eine Handtasche bei sich führte, wurde zunächst auf die Revierwache von Castello geführt und dort mit dem Notwendigsten versorgt. Eine anschließende Befragung der Person, die offensichtlich Würgemale sowie Kratzspuren im Hals- und Gesichtsbereich aufwies, erbrachte keine Erkenntnisse, die zu weiteren Ermittlungen Anlaß gegeben hätten. Die Signora sagte aus, mit ihrem Verlobten, einem gewissen Thomas Bernstorff, ebenfalls Deutscher, im Hotel eine handgreifliche Auseinandersetzung gehabt zu haben. Ferner gestand sie ein, den Streit unter Alkoholeinfluß selbst vorsätzlich provoziert zu haben und sie lehnte es nachdrücklich ab, Anzeige zu erstatten. Da sie sich ausweisen konnte und zudem über ausreichende finanzielle Mittel verfügte, wurde sie für den Rest der Nacht auf eigenen Wunsch auf Castello im Hotel La Residenza, Campo Bandiere e Moro 3608, untergebracht. Am Morgen darauf ließ sie sich, wie Befragungen des Hotelpersonals später ergaben, sehr früh wecken, und versorgte sich mit notwendigen Kleidungsstücken und einem Paar Schuhen, denn sie war barfuß aufgegriffen worden. Alles soll in größter Eile sowie unter dem Einfluß eines noch immer spürbaren Schocks abgelaufen sein. Ein Taxiboot brachte sie dann zum Flughafen Mar68
co Polo, wo sie am Morgen des neunzehnten November Venedig mit einer Linienmaschine der Lufthansa verließ. Der zweistrahlige Airbus mit der Flugnummer LH 3575 startete mit elf Minuten Verspätung um 10 Uhr 36.« »Bravo«, freute sich Benedetti, »Sie haben mir sehr geholfen. Allerdings würde mich noch interessieren, in welchem Hotel das kampflustige Paar abgestiegen war.« Sein Kollege Morelli überprüfte daraufhin nochmals das Protokoll, mußte aber bedauernd passen. »Ich denke, daß die Signora eine diesbezügliche Aussage nicht gemacht oder verweigert hat, um ihrem Partner nicht die Polizei auf den Hals zu hetzen. Gehen wir mal davon aus, daß sie in einem der Mittelklassehotels auf San Marco abgestiegen ist. Falls es Sie interessiert, läßt sich das natürlich jederzeit über die Meldebehörde feststellen, schließlich haben wir von beiden die Personalien. Soll ich schnell anrufen?« »Hat sich wohl schon erledigt«, bremste der Commissario seinen Diensteifer. »Ich bin mir fast sicher, den Namen des Hotels bereits zu kennen.« Dann sagte er freundschaftlich und gut gelaunt »ciao«, konnte sich aber zum Abschied einen an sich völlig überflüssigen, jedoch für seine Person typischen Scherz nicht verkneifen. »Signore«, begann er mit anklagender, ernster Stimme, »Ihren Kollegen ist ein gravierender Ermittlungsfehler unterlaufen!« »Mein Gott«, stammelte Morelli und versuchte, Hal69
tung anzunehmen. »Wie soll ich das verstehen, Commissario, ein gravierender Ermittlungsfehler?« Benedetti ging einen Schritt auf ihn zu, beugte sich vielsagend vor und flüsterte: »Die deutsche Signora ist nicht mit einem Airbus nach Frankfurt geflogen!« »Sondern?« fragte Morelli völlig verunsichert. »Für die Vormittagsverbindung wird schon seit Jahren eine Boeing 737 eingesetzt. Ich selber fliege gelegentlich die Strecke. Das war’s.« Nachdem der Kollege begriffen und erleichtert durchgeatmet hatte, lachten beide herzlich und lange, klopften sich auf die Schultern und trennten sich dann. Unten auf dem Campo stürzte gleißendes Licht vom Himmel. Eine Zeitlang, bis sich seine Augen wieder daran gewöhnt hatten, schützte sich Benedetti durch eine vorgehaltene Zeitung. Da sein Magen inzwischen unmißverständliche Hungersignale aussandte, entschied er sich für eine verspätete Mahlzeit. Nur wenige Minuten entfernt, in der Calle del Dose, gab es die Trattoria Al Scalinetto. In dem sehr gut geführten und zudem preiswerten kleinen Lokal erfüllte er sich immer mal wieder einen speziellen kulinarischen Wunsch, der aus venezianischer Sicht eher eine Abartigkeit darstellte: Renzo, der Wirt, hatte jeden Tag Salzkartoffeln auf seiner Karte. Schön mehlig und stets frisch gekocht und gedämpft. Während seiner Studienzeit in Heidelberg 70
hatte Benedetti seine Vorliebe für die nordischen Erdäpfel entdeckt. Der schmale, hohe Gastraum war nur schwach besetzt. Unter der Decke ruderte träge ein Ventilator, die lange Theke beeindruckte wie immer mit frischen, üppig gestalteten Blumenarrangements. Daneben, unter einer Plexiglashaube, ein appetitliches Salatbuffet. Der Commissario folgte Renzos Empfehlung und verwöhnte sich mit einer jungen, fangfrischen Meeräsche vom Grill, einem der schmackhaftesten Fische der Lagune. Dazu Gorgonzolasoße, mit Knoblauch, Basilikum und Soave fein abgeschmeckt, sowie natürlich die geliebten Salzkartoffeln. Er hielt sich nicht länger als notwendig auf, verzichtete diesmal sogar auf seinen Espresso, den er woanders einzunehmen gedachte, und verließ die Trattoria bereits wieder nach einer guten halben Stunde. Inzwischen war es fast vier Uhr nachmittags, die Sonne hatte den Zenit überschritten, und allmählich begann die Serenissima, sich aus ihrer täglich wiederkehrenden Apathie zu befreien. Da Benedetti zunächst zum Markusplatz wollte und den Umweg durch die verschlungenen Gassen Castellos scheute, entschied er sich für das Menschengewühl am Riva degli Schiavoni, wo sich inzwischen wieder Tausende von Touristen stauten. Vor allem am Rio Canonica, in Höhe der Seufzerbrücke, kam es minutenlang zum totalen In71
farkt. Schließlich hatte er sich zur Piazzetta durchgekämpft und suchte unter den Arkaden bei Chioggia, wo fast zu jeder Tages- und Nachtzeit ein erfrischender Wind wehte, ein wenig Schutz vor der Sonne. An eine der kühlenden Säulen gelehnt, entspannte er sich zu den Klängen eines Chopin-Walzers, mit dem der durchaus begabte junge Pianist sein strapaziertes IbachKlavier hörbar überforderte. Leidlich wiederhergestellt ging er dann weiter, um die Ecke herum zum Florian, wo er den längst fälligen Espresso zu sich nehmen wollte. Die Musik begann dort gerade zu spielen, was zur Konsequenz hatte, daß auf jede Erstbestellung ein Aufschlag von fünftausend Lire zu zahlen war. An einem der runden weißen Tische, in der Nähe des Bauzauns, der noch immer den Campanile di S. Marco eingrenzte, machte Benedetti einen der letzten freien Plätze aus. Erst beim Hinsetzen stellte er überrascht fest, daß ein gewisser Thomas Bernstorff sein Tischnachbar war. Sie begrüßten sich höflich, wenn auch distanziert. Danach vertiefte sich der Deutsche wieder in die Lektüre eines Reiseführers, während Benedetti seine momentane Verlegenheit durch übermäßig sorgfältiges Studium der Speisekarte, die er ohnehin auswendig kannte, zu überspielen versuchte. Gelegentlich ertappten sich die unfreiwillig Zusammengeführten bei dem Versuch, den jeweils anderen aus den Augenwinkeln heraus zu belauern. 72
Nach einigen peinlich langen Minuten hatte der Commissario das kindische Versteckspiel satt, und er entschloß sich zur Offensive. »Signore«, begann er mit seiner einschmeichelnden Baritonstimme, »was für ein schöner Tag!« Sogleich wurde ihm die Banalität dieser Feststellung bewußt, die Bernstorff, der seine Lektüre nur für einen Moment unterbrach, mit einem nachsichtigen Kopfnicken quittierte. Benedetti, der ansonsten keineswegs auf den Mund gefallen war, ärgerte und schämte sich über den mißglückten Einstieg, vor allem aber über seine Befangenheit, die ihn bereits beim ersten Zusammentreffen mit dem Deutschen gehemmt hatte. Als in diesem Moment die beiden Mohren auf dem gegenüberliegenden Uhrturm die vierte Nachmittagsstunde anschlugen, kam ihm einer seiner spontanen, in aller Regel fruchtbaren Einfälle. »Signore«, nahm er das Gespräch wieder auf, »darf ich Ihre Aufmerksamkeit einmal ganz kurz auf dieses in der Welt einmalige Bauwerk dort drüben lenken.« Bei diesen Worten wies er auf den Uhrturm und fuhr fort: »Seit rund fünfhundert Jahren schlägt hier Venedigs Stunde, wenn ich das mal so ausdrücken darf. Die Uhr ist übrigens vergoldet und zeigt neben den Stunden auch die Sonnen- und Mondphasen an. Und man kann sogar ablesen, durch welches der zwölf Tierkreiszeichen die beiden Planeten gerade ziehen. Die Sonne steht zur Zeit, wie man sieht, in den Zwillingen und 73
der Mond im Krebs. Den genialen Schöpfern dieses Wunderwerkes der Uhrmacherkunst, es waren die Brüder Paolo und Carlo Rainieri, hat man zum Dank recht übel mitgespielt. Zunächst wurden sie zwar großzügig entlohnt, aber später ließ man sie blenden. Denn nirgendwo anders auf der Welt sollten sie jemals noch eine ähnliche Leistung vollbringen.« Und dann fügte Benedetti die merkwürdige Frage an: »Was halten Sie übrigens von der Astrologie, Signore?« »Damit habe ich mich nie beschäftigt«, antwortete Bernstorff, der, um nicht unhöflich zu sein, den Reiseführer inzwischen zugeschlagen und zur Seite gelegt hatte. »Ich weiß nur, daß ich ein Skorpion bin. Was immer das auch heißen mag.« »Hochinteressant«, ereiferte sich der Commissario. »Skorpion also, das Zeichen der Metamorphose, der Phönix aus der Asche! Diese Menschen können zum Niedrigsten ebenso fähig sein wie zum Höchsten und Erhabensten, bis hin zur Selbstaufgabe. Das Lebensziel in diesem Zeichen muß Wandlung, Transmutation sein. Vom schmutzigen, schweren Blei empor zum glänzenden Gold.« »Das klingt ja alles recht pathetisch und konfus«, befand Bernstorff mit leicht spöttischem Unterton. Da andererseits, für ihn selbst unverständlich, sein Interesse an diesem Thema plötzlich geweckt war, fragte er nach: »Sie scheinen sich auszukennen mit der Sternen74
deuterei. Können Sie mir noch mehr zum Zeichen Skorpion sagen, und vielleicht etwas weniger rätselhaft?« Benedetti, der hocherfreut darüber war, daß sein Gegenüber offensichtlich im Begriff war, in die von ihm aufgestellte Falle hineinzutappen, stellte jetzt seine Kompetenz aus taktischen Gründen in Frage. »Ich bin auch nur ein Dilettant auf diesem Gebiet und habe eher zufällig den einen oder anderen Gedankengang mitbekommen. Durch meine Mutter übrigens. Sie war, bis sie vor Jahren durch einen ebenso schweren wie sehr ungewöhnlichen Schicksalsschlag wortwörtlich von der Bühne gerissen wurde, eine berühmte Opernsängerin. Sie wissen ja, alle Künstler sind abergläubisch. Und natürlich hatte auch sie eine Hofastrologin, ohne deren Rat sie praktisch keinen Fuß vor die Tür setzte. Nur einmal in ihrem Leben schlug sie ihre Warnung aus, mit verheerenden Folgen! Aber das ist ein anderes Thema. Jedenfalls bin ich sozusagen mit Astrologie und Kartenlegen groß geworden, und da habe ich eben den einen oder anderen Satz aufgeschnappt. Mehr nicht. Die Signora, von der meine Mutter bis heute regelmäßig beraten wird, lebt übrigens hier in Venedig. Eine faszinierende, in jeder Hinsicht wirklich ungewöhnliche Person. Sie sollten unbedingt ihre Bekanntschaft machen.« Ohne Bernstorffs Meinung zu diesem Vorschlag abzuwarten, riß er einen Zettel aus seinem No75
tizblock, versah ihn hastig mit einer Anschrift und drückte ihn, während er gleichzeitig aufstand und sich verabschiedete, dem überrumpelten Gesprächspartner in die Hand. Wohl wissend, daß bei einer weiteren, langatmigen Erörterung des angeschnittenen Themas Bernstorffs aufkeimendes Interesse möglicherweise wieder erlöschen würde. Benedetti folgte seiner altbewährten Strategie: erst neugierig machen, den Köder auslegen und dann schnell verschwinden. Fast immer konnte man sicher sein, daß sich die Maus den Happen holen würde. Und in der Tat, Thomas Bernstorff umschlich die aufgestellte Falle bereits, wenn auch noch mit äußerst widersprüchlichen Gefühlen. Einerseits war er ungehalten darüber, daß ihm der Commissario offensichtlich ein Thema schmackhaft machen oder gar aufdrängen wollte, das ihn niemals im geringsten interessiert hatte. Andererseits war er durch einige seiner Äußerungen geradezu elektrisiert worden, sie wirkten wie ein Rauschmittel, dessen geheimnisvoller Anziehungskraft kaum etwas entgegenzusetzen war. »Skorpion also, das Zeichen der Metamorphose, der Phönix aus der Asche«, hatte Benedetti sich ereifert und dann hinzugefügt: »Diese Menschen können zum Niedrigsten ebenso fähig sein wie zum Höchsten und Erhabensten.« Vor allem dieser magische Satz war es, der Bernstorff irritierte. Er griff nach dem Zettel, den er wegen eines 76
aufkommenden Windes unter seinem Reiseführer abgelegt hatte. Er fand Anschrift und Telefonnummer einer Signora Rosalba Bandiera aufgezeichnet, die auf Castello, am Campo delle Gatte, wohnte. Er beschloß, sie gleich am nächsten Vormittag aufzusuchen. Nur so war es möglich, dem Commissario auf die Schliche zu kommen und abzuklären, warum er ihn unbedingt mit einer für seine Begriffe obskuren Person zusammenbringen wollte. Zudem langweilte er sich inzwischen ein wenig, und da es bis zum nächsten und letzten »Vorhaben«, wie Dr. Gruson es nannte, noch ein paar Tage Zeit hatte, konnte der Besuch bei einer Astrologin durchaus eine willkommene Abwechselung sein. Der Commissario nutzte den Rest des Nachmittags, um eine Reihe dringend notwendiger Recherchen einzuleiten. Mit seiner etwas großspurigen Äußerung gegenüber dem Dogen, den doch recht komplizierten Fall in gut einer Woche aufklären zu wollen, hatte er sich bewußt unter Erfolgsdruck gesetzt, denn nur mit dem Messer im Rücken war kreatives Arbeiten für ihn denkbar. Bereits gegen Abend hatte er einige äußerst vielversprechende, neue Fakten zusammengetragen. Auf der Erfolgsseite verbuchte er vor allem ein längeres, ausgesprochen informatives Ferngespräch mit einer Frau Korab aus Wien. Sie war die Mutter eines der verschollenen Mädchen. Sein Kollege Guardi hatte die Österreicherin bereits mehrfach vergeblich um eine 77
Aussage gebeten. Dem Charme seiner sympathischen Stimme, auf deren suggestive Wirkung er sich vor allem bei Frauen verlassen konnte, war der überraschende Durchbruch wohl zu verdanken. Benedetti führte das Gespräch mit seinem Handy von einer gemieteten Gondel aus, getreu seiner alten Devise, daß sich außergewöhnliche Erfolge am ehesten unter nicht alltäglichen Bedingungen erzielen lassen. Auf dem Canal Grande, in Höhe des Palazzo Tiepolo, war die Verbindung nach Wien zustande gekommen, und die Frau hatte ihm eine äußerst wichtige Zusage gemacht, von der er möglicherweise schon am übernächsten Tag profitieren konnte. Voraussetzung war allerdings, daß die Dame ihr Wort hielt. Als ihn der Gondoliere wenig später hinter der Zecca wieder an Land setzte, glaubte der Commissario, den Ariadnefaden, der ihn aus dem Labyrinth führen sollte, in Händen zu halten. Während er fröhlich am Kanalufer entlangschlenderte, mit dem Ziel, sich in Harry’s Bar mit einem doppelten Campari Soda zu belohnen, fiel ihm eine alte venetianische Weisheit ein: Zu allen Zeiten hatten sich die Probleme der Serenissima am besten vom Wasser aus lösen lassen! Die Ereignisse des Abends spielten ihm weitere vielversprechende Mosaiksteinchen zu. Bei einsetzender Dämmerung war er zurück in der Ramo Cimesin. Zunächst duschte er ausgiebig, wechselte die Kleidung, 78
trat dann hinaus auf die weiträumige Freiterrasse vor seinem Arbeitszimmer und ließ sich in einen knarrenden Korbsessel fallen. Es war die Stunde der Fledermäuse, Zikaden und Fluginsekten. In Mauerspalten, Erdlöchern und im Blattwerk der Sträucher hatten sie sich der Hitze des Tages entzogen. Von San Marco drang verwehtes Glockengeläut herüber, die Luft war geschwängert vom Duft ätherischer Öle und appetitlicher Gerüche, die hier und dort aus geöffneten Küchenfenstern nach draußen zogen. Ein erfrischender Nordostwind machte sich jetzt auf und trieb die in den engen Gassen gestaute Glut hinaus aufs Meer. In Gedanken zog Benedetti eine vorläufige Bilanz und versuchte, die Eindrücke des Tages vorsichtig zu bewerten. Kein Zweifel, erste Umrisse einer denkbaren Lösung wurden erkennbar. Aber das vage Bild, das er in seiner Vorstellung entwickelte, mußte immer wieder in Frage gestellt werden. Noch fehlte es an entscheidenden Fakten, die sich widerspruchslos zu einer tragfähigen Theorie zusammenfügen ließen. Er stand auf, lehnte sich einen Moment lang über die gemauerte Brüstung und blickte hinüber zur anderen Seite der Gasse, zum Haus der Felicia Malibran. Als er Licht hinter einem der Fenster ausmachte entschloß er sich, der Signora den geplanten Besuch abzustatten. Das Anwesen war zur Straße hin mit einer hohen Mauer abgegrenzt, durch die eine mit schweren Me79
tallbeschlägen gesicherte, stabile Holztür führte. Ein Messingschild, nur mit den Initialen F. M. versehen, deutete diskret auf die Eigentümerin hin. Darunter ein Klingelknopf und die Gegensprechanlage. Weiter oben, geschickt durch einen marmornen Löwenkopf und Efeuranken getarnt, entdeckten Benedettis geschulte Augen die winzige Optik einer Videokamera. Während er noch unschlüssig vor dem Eingang stand und darüber nachdachte, wie sich wohl sein später Besuch am glaubwürdigsten begründen ließe, schnarrte plötzlich der Türöffner und aus dem kleinen Lautsprecher tönte die gepflegte, wenn auch etwas rauchige Stimme der Signora: »Sie sind ganz herzlich willkommen, Commissario«. Der völlig überrumpelte Benedetti folgte der Aufforderung und ging, langsam und nachdenklich, die wenigen Schritte durch den schmalen, gepflegten Vorgarten hinüber zum Haus. Die Tatsache, daß ihn die Malibran kannte, obwohl er nie zuvor ein Wort mit ihr gewechselt hatte, war irritierend und gab Anlaß zu Spekulationen verschiedenster Art. Auf jeden Fall war er gewarnt. An der Haustür wurde er höflich, wenn auch distanziert von der Signora empfangen. Sie schien nicht im geringsten überrascht zu sein und begrüßte ihn in einem knöchellangen, körpernah geschnittenen, ganz schlichten Hausmantel aus nachtblauer Wildseide, der vorne durchgeknöpft war. Die Aufschläge der Ärmel 80
zierten breite Borden mit einem dezent auf Goldgrund gesticktem Mäandermuster. Zwischen den schmalen Riemen der viel zu engen, knallroten Lacksandaletten stauten sich ihre aufgequollenen Füße. Zweifellos muß sie mal eine sehr schöne Frau gewesen sein, befand Benedetti. Von ihrem nach wie vor mädchenhaft schlanken Körper, dessen altersbedingte Schwachstellen mit viel modischem Instinkt gut kaschiert waren, und nicht zuletzt von ihren Bewegungen, ging noch immer eine geheimnisvolle Faszination aus. In ihrem Gesicht dagegen hatten jahrzehntelange Ausschweifungen verschiedener Art, wie er meinte, Spuren hinterlassen, die sich nicht leugnen ließen. Es gibt nun mal Sünden, dachte der Commissario, die uns nicht vergeben werden. Sie führte ihn in einen großen Raum, der fast das gesamte Erdgeschoß ausfüllte. In seiner Mitte imponierte eine verkleinerte, auf die Darstellung des Okeanos reduzierte Nachbildung des römischen TreviBrunnens. Gebieterisch stützte die lebensgroße Figur ihren linken Fuß auf dem Rand einer Muschel ab, deren weit ausladende Schale als Wasserbecken ausgebildet war. Die Signora genoß die offenkundige Bewunderung ihres späten Gastes. »Leider fehlen die Pferde zur Rechten und Linken der Gottheit«, bedauerte sie. »Dafür ist Okeanos um so besser getroffen, finden Sie nicht auch? Er soll übrigens sechstausend Kinder gezeugt haben. Das hat mir schon in meiner Jugend 81
mächtig imponiert. Solche Kerle gibt’s schon lange nicht mehr. Nur noch Schlappschwänze, wohin man sieht! Haben Sie auch Kinder, Signore?« Benedetti überhörte ihre Frage. Schweigend, die Arme hinter dem Rücken verschränkt, umrundete er einige Male den plätschernden Brunnen und nutzte die Gesprächspause dazu, das Zimmer möglichst unauffällig einer gründlichen Inspektion zu unterziehen. Kein Zweifel, bei der Einrichtung hatten Geld und guter Geschmack sich glücklich ergänzt. Die äußerst sparsame Möblierung mit ausgesucht schönen, schlank und leicht gearbeiteten Stücken aus der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts, damals setzte sich in Venedig der Rokoko-Stil durch, unterstrich die Weite des Raumes. Ins Auge fielen ihm vor allem ein kostbarer SpiegelSekretär sowie eine lackierte Kommode, deren elfenbeinfarbige Grundierung mit einem Blumen- und Bänderdekor versehen war. An den Wänden Stahl- und Kupferstiche, Ölbilder in breiten Goldrahmen, Spiegel und Spiegelchen und immer wieder, in unterschiedlicher Höhe angebracht, Konsolen, auf denen Pretiosen venezianischer Glasbläserkunst einen angemessenen Platz gefunden hatten. Natürlich gab es hier und da auch geschmackliche Entgleisungen, etwa bei einer an sich harmonischen Sitzgruppe aus roséfarbenem Rattan, in der sich Haufen von abartig gefärbten Plüschtieren drängelten. Zum Abschluß seiner Besichtigung drängte 82
es den Commissario zu einer Äußerung, die er dann doch für sich behielt. »Signora«, hätte er am liebsten anerkennend gesagt, »für dieses kostbare Ambiente muß wohl so mancher einflußreiche und wohlhabende Freund des Hauses seine Hosen heruntergelassen haben!« Die Malibran, sie hatte Benedettis Spaziergang mit hellwachen Augen verfolgt, schien seine Gedanken erraten zu haben. »Sie haben eine falsche Meinung über mich und mein Leben«, begann sie, »und natürlich ist es eine schlechte. Wie könnte es auch anders sein. Wir alle laufen ja am liebsten mit Vorurteilen herum, weil’s allemal die bequemste Lösung ist. So ersparen wir uns den oft recht mühsamen Weg zum eigenen, auf persönliche Erfahrungen gegründeten Urteil.« »Welche Erfahrungen hätte ich denn in Ihrem Mailänder Etablissement machen können?« wollte der Commissario wissen. »Sehr elementare und äußerst wichtige«, antwortete sie. »Unter anderem die, daß wahre Sexualität und Erotik nichts, aber auch gar nichts mit dieser stumpfsinnigen, geschmacklosen und zutiefst abartigen Geilheit zu tun haben, mit der sich die Menschen heute betäuben.« Ihr faltenreiches Gesicht drückte Abscheu und Ekel aus, sie machte eine längere Pause. »Reden Sie doch bitte weiter, Signora«, ermunterte sie ihr Gast mit ironischem Unterton. »Ich weiß es 83
durchaus zu schätzen, aus so berufenem Munde in die Geheimnisse der Liebe eingeweiht zu werden.« »Quatsch«, fuhr sie ihm ärgerlich dazwischen, »ich rede hier nicht von Liebe. Das ist etwas völlig anderes. Vielleicht verstehen wir uns etwas besser, wenn ich Ihnen eine Geschichte erzähle. Es ist meine Geschichte, ich werde mich kurz fassen.« Sie zündete sich eine dikke, schwarze Zigarette französischer Herkunft an, trat hinter einen ihrer mit goldfarbenem Satin bezogenen Sessel, stützte sich auf dessen Rückenlehne ab und begann: »Ich wurde in Feltre geboren, keine hundert Kilometer nordwestlich von hier, am Rande der Dolomiten. Vielleicht sind Sie mal dagewesen. Wenn nicht, dann haben Sie auch nichts versäumt. Die Region galt schon immer als eine der ärmsten und miesesten Norditaliens. In den schmalen, lichtlosen Gassen der Altstadt fröstelte es einem selbst noch im Hochsommer. Immer hatte man das Gefühl, in einem Sarkophag zu leben und irgendwann mal an Unterkühlung sterben zu müssen. Meine Eltern waren arm, wie fast alle dort. Mamma arbeitete tagsüber auf den Feldern am Rande der Stadt. Wenn sie abends nach Hause kam, wurde ich regelmäßig für eine halbe Stunde weggeschickt. Dann machte sich mein Vater wie ein Tier über sie her, verprügelte sie anschließend, jedenfalls meistens, und danach betrank er sich.« 84
Ein heftiger Hustenanfall zwang die Signora zu einer längeren Pause. Nachdem sie die angestaute Luft endlich losgeworden war und wieder einigermaßen durchatmen konnte, drückte sie ihre Zigarette aus und fuhr fort: »Ich erinnere mich noch ganz genau an jenen Februartag, kurz nach Kriegsende. Es war an meinem vierzehnten Geburtstag, und ich durfte etwas länger wegbleiben als gewöhnlich. Mittags schenkte mir mein Vater ein paar Lire, es reichte nicht einmal für eine kleine Süßigkeit. ›Du bist jetzt praktisch erwachsen‹, sagte er. ›Komm pünktlich wieder nach Hause, denn heute abend reden wir mal über die schönen Pflichten einer erwachsenen Tochter.‹ Dabei musterte er meinen dürren Körper mit unverhohlener Lüsternheit. Mamma stand am Herd in der Ecke, heulte still in ihre Schürze und sah mich mit flehenden Augen an. Als ich später aus der Haustür sprang, war mir vollkommen klar, daß ich nie zurückkommen würde, mehr noch, daß ich meine Eltern zum letzten Mal gesehen hatte. Ich glaube, fast jeder von uns kommt mindestens einmal im Leben an diesen Punkt, wo er nicht nur ahnt, sondern sehr genau weiß: Wenn du jetzt nicht ausbrichst, dann wirst du untergehen! Aber nur sehr wenige schaffen den Absprung im richtigen Moment, fast alle anderen scheitern und sitzen für den Rest ihres Lebens in einem erbärmlichen Zug, für den sie sich niemals wirklich entschieden haben. 85
Es war windig und eiskalt draußen, obwohl die Sonne schien. Ich ging sehr schnell, um warm zu werden, aber auch weil ich Angst hatte, meine Mutter würde mich zurückrufen. Zunächst wollte ich nur bis Valdobbiadene, etwa fünfzehn Kilometer entfernt. Dort wohnte meine Großmutter, die immer gut zu mir war. Aber es sollte anders kommen. Südlich von Feltre, auf einem steilen Berg, liegt ein Kloster und gleich daneben das Heiligtum Anzú, in dem die Reliquien der heiligen Jungfrau Corona und ihres Freundes Vittore verehrt werden. Beide mußten den Märtyrertod sterben, weil sie dem christlichen Glauben nicht abschwören wollten. Ihre Gebeine sollen im sechsten Jahrhundert von Kaufleuten auf Zypern gestohlen und mit nach Venedig gebracht worden sein. Gut fünfhundert Jahre später hat sie der Doge Domenico Contarini der Stadt Feltre zum Geschenk gemacht. Nun, wie auch immer, seitdem wird die heilige Corona als Patronin und Helferin in Geldangelegenheiten verehrt. Ansonsten gibt es in der Stadt nichts, was man erwähnen müßte. Außer vielleicht noch das kleine Theater, in dem Goldoni seine ersten Stücke aufführte, bevor er dann später nach Venedig ging. Übrigens, langweile ich Sie etwa, Signore? Ich komme mir vor wie eine Fremdenführerin.« »Keineswegs«, antwortete Benedetti, »es ist richtig spannend. Reden Sie weiter!« 86
»An jenem Nachmittag änderte ich meine Pläne, besuchte also nicht meine Großmutter, sondern kletterte den steilen Berg hoch zum Kloster und ging dann in die Kirche nebenan, wo der Schrein mit den Reliquien der heiligen Corona und des Vittore aufbewahrt waren. Dort flennte, betete und bettelte ich mindestens zwei Stunden lang, vor allem natürlich um Geld. Denn so viel hatte ich unter Schmerzen und Tränen lernen müssen: daß man ohne ein gut gefülltes Lirekonto ein Nichts, ein Stück Dreck ist. Jawohl! Und stellen Sie sich vor, ich wurde auf wundersame Weise erhört, und noch dazu viel schneller, als ich es in meinen kühnsten Träumen erwartet hätte.« »Jetzt machen Sie mich aber wirklich neugierig«, unterbrach sie Benedetti. »Nur allzugerne höre ich von himmlischen Wundern auf dieser gottlosen Welt.« »Ihr Spott berührt mich nicht im geringsten«, fuhr die Malibran spürbar erregt fort. »Ich spreche hier über sehr konkrete, wundervolle Erfahrungen und nicht von irgendwelchen religiösen Wahnvorstellungen. Und damit zurück zum Thema! Sie werden den Rest der Geschichte auch noch ertragen müssen, wie unglaubwürdig und märchenhaft er sich auch immer anhören mag. Als ich aus der Kirche kam, es war inzwischen fast dunkel geworden, erkannte ich gegenüber vom Eingangsportal, an eine Zypresse gelehnt, die Gestalt eines Mannes. Zuerst hatte ich irrsinnige Angst und wollte 87
schreiend weglaufen, aber dann geschah etwas sehr Merkwürdiges, Geheimnisvolles. Wir gingen langsam aufeinander zu und trafen uns etwa in der Mitte des Vorplatzes. Er mochte etwa vierzig Jahre alt gewesen sein und war weder besonders groß noch hübsch, etwas korpulent sogar und mit Stirnglatze. Er trug schwarze Schaftstiefel nach Art der SS-Leute, einen grauen, knöchellangen Staubmantel sowie einen leicht ramponierten Borsalino. Minutenlang blickten wir uns stumm an. Mir wurde angenehm warm dabei und mich überkam das Gefühl, nein die Gewißheit, ihn schon immer gekannt zu haben. Keine Spur von Angst mehr, ich hatte sofort absolutes Vertrauen zu ihm, und er hat es später niemals enttäuscht. Ich weiß nicht«, fuhr sie nach einer kurzen Unterbrechung fort, »ob Sie überhaupt ermessen können, was es bedeutet, einem Menschen bedingungslos vertrauen zu können. Vielleicht ist es das größte Geschenk, das einem jemals gemacht werden kann. Bei Ihnen, Commissario, wäre ich mir übrigens nie ganz sicher«, fügte sie hinzu und fixierte Benedetti mit unverhohlenem Argwohn. »Vor Ihnen sollte man immer auf der Hut sein, Sie sind der klassische Fallensteller. Beurteilen Sie sich nicht auch so?« Sie lachte herzlich mit ihrer rauchigen Stimme, und ohne eine Antwort abzuwarten, führte sie ihre Erzählung zu Ende. »Alles weitere, so grotesk und unwirklich es auch 88
war, lief völlig selbstverständlich ab. Etwa wie in einer zuvor mehrfach geprobten Filmszene. Wir gingen zusammen hinüber zum Kloster und von dort eine breite Steintreppe hinunter zur Straße, wo sein Wagen stand. Es war ein riesiges, viertüriges Packard-Cabriolet. Er ließ mich hinten einsteigen, schlug liebevoll eine Mohairdecke um meinen dürren, völlig verfrorenen Körper und sagte dann sehr ruhig den ersten Satz, der zwischen uns gesprochen wurde: ›Übrigens, ich heiße Vittore. Wie der Märtyrer dort oben, dessen Gebeine Sie gerade mit angebetet haben. Machen Sie es sich bequem, Signorina. Leider wird es eine lange Nacht werden, denn morgen früh muß ich unbedingt in Mailand sein.‹ Dann setzte er sich ans Steuer und fuhr los. Die Straßen waren miserabel. Unterwegs wurden wir immer wieder von Kontrollposten amerikanischer Soldaten angehalten. Aber niemand machte uns irgendwelche Schwierigkeiten. Mehrfach versorgte man uns sogar mit Benzin und Nescafé. Erst viel später erfuhr ich, daß Vittore einen amerikanischen Paß hatte. Und nicht nur das, er war auch Agent irgendeines westlichen Geheimdienstes und arbeitete außerdem für den Vatikan. Über Einzelheiten hat er auch in späteren Jahren nie mit mir gesprochen. Am nächsten Vormittag kamen wir völlig übernächtigt in Mailand an. Er brachte mich ins Grand Hotel, wo eine großzügig ausgestattete Suite für ihn reserviert 89
war. Während der nächsten Wochen schliefen wir im selben Zimmer, angeblich sogar im selben Bett, in dem Verdi knapp fünfzig Jahre zuvor einen Schlaganfall bekommen hatte, an dessen Folgen er dann wenige Tage später starb. Da ich schon als Kind sehr abergläubisch war, woran sich bis heute nichts geändert hat, wäre ich normalerweise keine Sekunde länger als unbedingt notwendig in dem Raum geblieben. Aber damals wußte ich noch nichts von dieser Geschichte, und so waren jene ersten gemeinsamen Tage und Nächte mit Vittore nicht durch eine Erinnerung belastet, die wahrscheinlich ohnehin keinerlei Bedeutung für mein späteres Schicksal gehabt hätte. Trotzdem habe ich mich in späteren Jahren immer wieder mal gefragt, ob mein Leben nicht doch etwas anders verlaufen wäre, wenn man uns etwa im Milan oder in irgendeiner kleinen Privatpension untergebracht hätte. Aber wer weiß das schon? Bis zum anderen Morgen fiel ich in einen todesähnlichen Schlaf. Als ich die Augen vorsichtig aufschlug, hatte ich zunächst Angst, daß alles ein Traum gewesen sein könnte. Dann sah ich Vittore, der entspannt auf einem Stuhl neben meinem Bett saß. Ich hatte das Gefühl, daß er mich schon eine Weile lang aufmerksam betrachtet hatte. In diesem Moment wurde mir bewußt, daß ich noch kein einziges Wort an ihn gerichtet hatte. Ich stellte ihm dann eine Frage, die mich seit dem Abend zuvor stark beschäftigt hatte: ›Was haben 90
Sie eigentlich gestern in dem Kloster bei Feltre gemacht?‹ wollte ich wissen. ›Ich habe einen Mann erschossen‹, sagte er völlig ruhig, fast teilnahmslos. Etwa in der Art, wie man über das Wetter redet. Merkwürdigerweise war ich nicht eine Sekunde lang erschreckt oder verängstigt. Es hing wohl damit zusammen, daß ich ihm absolut vertraute. Später wollte ich aber doch wissen, warum er den Mann getötet hatte. ›Es war ein deutscher SS-Mann, er leitete die Erschießung von über hundert unschuldigen Geiseln in einer Höhle bei Belluno. Auch meine Frau und meine Tochter Felicia waren unter den Opfern. Ich mußte schnell handeln, denn mir blieb nicht mehr viel Zeit. Der Deutsche war in dem Kloster untergetaucht, und man hatte ihn bereits mit falschen Papieren versehen. Wenige Tage später sollte er über Genua rausgeschleust und in Sicherheit gebracht werden, ich glaube, nach Argentinien. Den Eichmann, einen der absolut schlimmsten KZ-Schlächter, hat die Kirche auch versteckt. Ich weiß sogar wo, aber das geht mich nichts an. Ich begleiche nur Rechnungen, die auf meinen Namen ausgestellt sind.‹ ›Die Kirche schützt Verbrecher?‹ fragte ich ihn entsetzt. ›Das hat sie zu allen Zeiten getan, jedenfalls wenn es ihr nützlich war. Besonders zu Faschisten und Nazis 91
hatte der Vatikan während des ganzen Krieges ein sehr gutes Verhältnis. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Aber lassen wir das, es ist kein Thema für junge Menschen. Das Leben wird Ihnen die Augen noch früh genug öffnen.‹ Vittore stand auf und sagte, daß er mich etwa in einer Stunde abholen würde. Ich sollte inzwischen auf dem Zimmer frühstücken, ein Bad nehmen und mich anziehen. Er hatte mir ein Paket mit Kleidung und Schuhen mitgebracht, nichts paßte richtig, aber vor Rührung mußte ich ständig heulen. Etwas später als verabredet holte er mich ab. Eine Zeitlang bummelten wir durch die City. Er zeigte mir auch die Galleria, den Dom und die Scala, und ich war fasziniert von der ersten Großstadt, die ich in meinem Leben sah. Irgendwann später, wie zufällig, standen wir dann vor einer alten, etwas verwahrlosten Villa, in der ich den größten Teil der kommenden Jahre verbringen sollte. Das dreigeschossige Haus, es lag etwas zurückversetzt in einem verwilderten Garten, stand praktisch leer. Nur im Parterre bewohnte eine ältere Dame, die Signora Cini, zwei kleine Zimmer. Sie hatte die Funktion einer Haushälterin. Während der nächsten zwei Jahre ließ Vittore das Haus innen wie außen nach und nach renovieren und kostbar einrichten. Geld schien bei ihm überhaupt keine Rolle zu spielen. Während der ganzen Zeit küm92
merte er sich wie ein väterlicher Freund um mich, obwohl er höchstens zweimal im Monat für ein paar Tage, manchmal sogar nur für wenige Stunden, in Mailand war. Ich bekam Klavier- und Ballettunterricht, von der Signora Cini wurde ich in die Geheimnisse der italienischen und internationalen Küche eingewiesen, und Vittore legte größten Wert darauf, daß ich regelmäßig ins Theater und in die Oper ging. Natürlich versorgte er mich auch immer mit guter Literatur, und in gelegentlichen Gesprächen verschaffte er sich Gewißheit darüber, ob ich die Bücher auch wirklich gelesen hatte. Hemingways Wem die Stunde schlägt war das erste Buch meines Lebens. Ich habe es mindestens fünfmal verschlungen. Später, es muß Ende der fünfziger Jahre, also kurz vor seinem Selbstmord gewesen sein, da habe ich Hemingway hier in Harry’s Bar mal kennengelernt. Er wohnte für einige Tage im Danieli, und wir hatten eine kurze Affäre miteinander, eine äußerst kurze. Ich war damals sehr attraktiv, und natürlich wollte er mit mir ins Bett. Aber weil er seine Depressionen mal wieder mit Whisky total zugeschüttet hatte, bekam er nachts auf dem Zimmer überhaupt nichts geregelt, und das war’s dann auch schon. Am nächsten Morgen schenkte er mir zum Abschied einen vergoldeten Angelhaken. Gelegentlich trage ich ihn noch als Kettenanhänger. An meinem sechzehnten Geburtstag kam Vittore 93
extra aus New York. Er war ungewöhnlich aufgekratzt und gesprächig. Er brachte eine Flasche französischen Champagner und einen Strauß mit sechzehn schwarzen Rosen mit. Er drückte mir die Blumen in die Hand und sagte: ›Komm, wir gehen nach unten in den Garten.‹ Dort grub er im Rasen ein kleines Loch und wies mich an, die Rosen hineinzuwerfen, was ich auch tat. ›Das sind die Jahre, die hinter dir liegen‹, sagte er. ›Wir wollen sie begraben!‹ Mir fiel plötzlich auf, daß er mich zum ersten Mal seit unserem Kennenlernen duzte. Er schüttete das Loch wieder zu, trat die Erde fest und küßte mich dann lange und wild auf den Mund. Mir wurde schwindelig, fast wäre ich ohnmächtig geworden. Wie in einem alten Hollywood-Film. Dann nahm er mich bei der Hand, wir gingen zusammen auf mein Zimmer, und er machte mich zu seiner Geliebten.« Die Malibran machte jetzt eine längere Pause. Deutlich war ihr anzumerken, daß die Bilder der Erinnerung sie machtvoll eingeholt hatten und eine Unterbrechung erzwangen. Eine Weile lang ging sie, von Benedettis mißtrauisch prüfenden Blicken verfolgt, mit gesenktem Kopf im Zimmer auf und ab, sichtlich darum bemüht, nicht Opfer ihrer Gefühle zu werden. Dem Commissario erging es, was er sich widerstrebend eingestehen mußte, ähnlich. Obwohl es seit Jahren zu seinen festgeschriebenen Verhaltensmustern gehörte, emotional aufgeladenen Situationen mit ironischer Distanz zu begeg94
nen, was natürlich ein Schutzmechanismus seiner neurotisch sensiblen Psyche war, hatte er sich vom melancholischen Charme der mit viel rhetorischem Geschick vorgetragenen Lebensbeichte gefangennehmen lassen. Jetzt galt es für ihn, seiner persönlichen, stets geheimgehaltenen Anfälligkeit für Sentimentalitäten entschieden entgegenzutreten. Schließlich war er nicht hier, um der Faszination einer noch immer schillernden Persönlichkeit zu erliegen, sondern es ging um das Schicksal von vier spurlos verschwundenen Frauen und möglicherweise sogar um Mord. Die Malibran, sie hatte sich inzwischen wieder unter Kontrolle gebracht, war auf ihrem Rundgang durch das Zimmer vor einer Wand neben dem Kamin stehengeblieben, die über und über mit Fotos, Postkarten, gerahmten Zeitungsausschnitten und anderen Erinnerungsdokumenten dekoriert war. »Meine Biographie, auf zwei, drei Quadratmeter zusammengestutzt. Ein Spiegel vergangener Zeiten, hier und dort hat er schon Stockflecken, wird blind«, sagte sie und wies auf das Arrangement. Dann griff sie, offensichtlich mit einem Anflug von Panik, nach einem goldgerahmten Foto, drückte es an sich und verschloß es in einem kleinen Fach ihres Spiegelsekretärs. »Ein Geheimnis?« wollte Benedetti wissen. »Richtig! Vielleicht werde ich es Ihnen einmal anvertrauen. Aber solange wir uns belauern und jeder 95
darauf wartet, von einem Fehler des anderen profitieren zu können, ist die Zeit noch nicht reif. Geheimnisse offenbart man nur Menschen, denen man voll vertrauen kann.« »Sie machen mich sehr neugierig!« »Das war meine Absicht. Aber Neugierde ist doch eigentlich, wie man immer sagt, eine ausschließlich weibliche Eigenschaft. Männer können geduldig warten, ist es nicht so? Alle übrigen Erinnerungen an mein verruchtes Leben können Sie sich selbstverständlich gern in Ruhe ansehen.« Sie machte eine einladende Handbewegung. Desinteresse vortäuschend, bewegte sich der Commissario langsam auf die Wand zu, natürlich nicht auf dem direkten, kürzesten Weg, sondern wie eine Katze, die sich dem viel zitierten heißen Brei in immer enger gezogenen Kreisen vorsichtig nähert. »Bewundernswert, wie Sie Ihre Neugierde geschickt kaschiert haben«, lobte ihn die Malibran und klatschte in die Hände, als er schließlich ans Ziel gelangt war. Verfluchtes Weib, dachte Benedetti, ließ sich aber nichts anmerken, rückte seine Lesebrille auf die Nase und betrachtete, nunmehr mit deutlich übertriebenem Interesse, jedes einzelne Foto, jede Postkarte, jede Zeitungsnotiz. Was er zu sehen bekam, war frei von Überraschungen, denn es entsprach voll seinen Erwartungen: in erster Linie Fotos von Männern, aber auch 96
Frauen der oberen Gesellschaftsschicht, Politiker, Industrielle, einige Künstler und natürlich dieser und jener Würdenträger der katholischen Kirche. Einige der Bilder waren am unteren rechten Rand mit schräg nach oben geschriebenen Widmungen oder kurzen Zitaten versehen. Alles in allem die Galerie eines illustren Personenkreises, dessen Mitglieder freilich, sofern sie überhaupt noch am Leben waren, den Zenit ihrer Macht längst überschritten hatten. Ein Mausoleum der Erinnerungen. Benedettis Interesse galt naturgemäß weniger dem offen zugänglichen Bildangebot als vielmehr diesem hellen, kaum heftgroßen Rechteck auf der Tapete, wo bis vor wenigen Minuten noch ein kleiner Bilderrahmen seinen Platz hatte. Da die Malibran, das war offensichtlich, alle diese stummen und dennoch sehr beredten Zeugnisse ihres Lebens chronologisch angeordnet hatte, konnte der Commissario das ihm vorenthaltene Foto mühelos auf das Jahr 1954 datieren. Damals mußte sie, das war leicht nachzurechnen, etwa dreiundzwanzig Jahre alt gewesen sein. »Sie haben bisher sehr offenherzig aus Ihrem Leben erzählt. Nach Ihrer schweren Kindheit und Jugend verlief ja zunächst alles wie im Märchen. Aber erfahrungsgemäß bekommt jede Biographie irgendwann mal einen Knick. Sie wissen sicherlich, was ich meine. Haben Sie Lust, mir noch mehr anzuvertrauen?« 97
»Vertrauen …«, sagte sie leise und nachdenklich, mehr für sich, und sie schien abzuwägen, ob sie das Gespräch fortsetzen oder besser abbrechen sollte. »Nun gut«, meinte sie schließlich, hob den Kopf und fixierte Benedetti prüfend, »zunächst aber würde ich gerne endlich wissen, was eigentlich der Anlaß Ihres späten Besuches ist. Sie haben sich, obwohl Sie aus einer sehr guten Familie stammen, nicht sonderlich höflich verhalten. Eigentlich macht man abends keine unangemeldeten Besuche. Und schon gar nicht bei einer älteren Dame, ohne ihr vorher zu sagen, worum es eigentlich geht. Also, ich bin gespannt!« »Ich bin dienstlich hier, als Commissario, Signora. Sie wissen doch, ein guter Beamter arbeitet auch noch nach Feierabend, jedenfalls in unserem Land.« »Sie werden immer geheimnisvoller für mich und damit auch sympathischer. Männer wie Sie haben mich zu allen Zeiten fasziniert. Daran hat sich übrigens bis heute nichts geändert. Doch kommen wir jetzt endlich zur Sache!« Ihre Stimme, die sie wie ein ausdrucksund wandlungsfähiges Instrument perfekt beherrschte, gewann ohne Übergang an Schärfe und Intensität. »Wollen Sie mich vielleicht verhaften, verhören, oder haben Sie etwa einen Durchsuchungsbefehl in der Tasche?« Benedetti war sofort klar, daß er sie mit einem unverbindlich-ironischen Small talk nicht weiter reizen 98
durfte, was auch keineswegs in seinem Interesse liegen konnte, denn es galt, die zweifellos vorhandenen Ansätze gegenseitiger Sympathie zu erhalten und noch weiter auszubauen. »Wie Sie sicherlich aus den Medien wissen«, begann er zögernd und mit versöhnlicher, warmer Stimme, »sind während der letzten Wochen vier ausländische Touristinnen in Venedig spurlos verschwunden. Wir müssen davon ausgehen, daß hohe Lösegeldsummen erpreßt werden sollen. Auch ist nicht klar, ob die jungen Frauen überhaupt noch am Leben sind. Hinzu kommt, daß in der Lagune immer wieder Pakete und Päckchen mit, sagen wir mal, sehr ungewöhnlichem Inhalt gefunden wurden. Mehr will und darf ich Ihnen momentan zu diesen Vorfällen nicht anvertrauen.« Er machte eine Pause, sah sie erwartungsvoll fragend an. »Anstatt meinem Verständnis auf die Sprünge zu helfen, werden Sie mir immer rätselhafter, Commissario!« »Natürlich wäre es einigermaßen absurd von mir, anzunehmen, daß Sie junge Frauen gefangenhalten, um Lösegelder zu erpressen. Aber als Ihr unmittelbarer Nachbar habe ich von der Terrasse meines Wohnzimmers im zweiten Stock ungewollt Einblick in Ihr Grundstück. Gelegentlich, und damit komme ich jetzt zum Grund meines unangemeldeten Besuchs, wurde ich Zeuge davon, daß Sie, in der Regel gegen Abend, 99
einem gewissen Signor Umberto Agnoli die Gartentür geöffnet haben.« »Und? Er ist ein unbescholtener, freier Mann und mein bester Freund aus …« »… alten Tagen«, fiel ihr Benedetti ins Wort. »Nichts gegen diese sicherlich äußerst wertvolle alte Freundschaft …« »Ersparen Sie sich Ihren Zynismus!« zischte die Malibran gereizt. »Mir geht es um Fakten«, fuhr der Commissario ohne Irritationen fort. »Aus Sicht der Polizei, die sich immerhin auf ein mit Aktenordnern prall gefülltes Regal berufen kann, rechnen wir Ihren Freund der erlauchten Ehrenwerten Gesellschaft, also der Mafia, zu. Zwar hat es den Anschein, daß Signor Agnoli sich inzwischen ins verdiente Privatleben zurückgezogen hat, aber immerhin bleibt unbestritten und daher auch unvergessen, daß sein Wirken in der Vergangenheit, wenn ich es einmal so ausdrücken darf, mit eher verabscheuungswürdigen Delikten in Zusammenhang gebracht werden muß: Erpressung von Schutzgeldern, Korruption, Sprengstoffanschläge, Prostitution, Mord und auch Entführungen. Das klassische Dienstleistungsangebot eines gestandenen Mafioso also.« »Es bleibt dabei, Umberto ist ein Ehrenmann. Er wurde, auch das werden Sie seinen Akten entnehmen können, zu keiner Zeit verurteilt, weil ihm niemals 100
etwas nachgewiesen werden konnte. Im letzten Prozeß mußte man ihn sogar, das sollten auch Sie eigentlich wissen, auf Antrag des Staatsanwaltes freisprechen – wegen erwiesener Unschuld!« »Dazu möchte ich lediglich anmerken, daß mein Verhältnis zur italienischen Justiz schon immer ein gestörtes war.« Benedetti und die Malibran lächelten sich einen Moment lang an, und ein Hauch von Komplizenschaft, der Gleichgesinnte miteinander verbinden kann, spiegelte sich in ihren Augen. Dann fuhr der Commissario fort: »Also habe ich heute an der falschen Tür geklingelt?« »Nicht unbedingt. Übrigens, würden Sie übermorgen abend ein Stündchen Zeit für mich haben, so gegen zwanzig Uhr etwa?« »Sofern es sich lohnt, Signora …« »Das entscheiden Sie am besten nach einem Gespräch mit meinem lieben Freund Agnoli.« »Wie, er besucht Sie wieder? Und Sie sind sicher, daß er sich mit mir unterhalten würde?« »Warum sollte er nicht, schließlich liegt doch nichts gegen ihn vor. Ich werde also mit ihm telefonieren, und sofern er keine Einwände hat, sind Sie selbstverständlich herzlich willkommen.« Sie signalisierte mit beiden Händen eine einladende Geste. »Mit diesem Angebot kann ich gut leben. Übrigens, Ihr Freund lebt wohl jetzt auch hier in der Umgebung …?« 101
»Er soll selbst entscheiden, wem er seine Adresse anvertrauen möchte.« »Schon gut, Sie sind klug und fair, Signora, Kompliment! Inzwischen ist es reichlich spät geworden, und ich möchte mich daher gleich verabschieden. Vorher würde ich allerdings sehr gerne eine letzte Frage an Sie richten.« »Alle Fragen sind erlaubt, auch solche, die nicht beantwortet werden.« »Was verbindet Sie mit Umberto Agnoli? Beide haben sie sich längst, wenn ich das einmal so ausdrücken darf, aus dem aktiven Berufsleben zurückgezogen. Sind es nun gemeinsame Erinnerungen an gute alte Zeiten, die Sie immer wieder zusammenführen, oder könnte es vielleicht auch zutreffen, daß Sie und Ihr Freund darüber hinaus noch andere Motive für gelegentliche Treffen am Abend haben? Ich bin gespannt, ob diese Frage zu jener Kategorie gehört, die auch beantwortet wird.« »Eigentlich sollte ich Sie jetzt zur Türe bitten, Signore Benedetti, denn ich sehe nicht den geringsten Anlaß dafür, Ihnen Rechenschaft über meine abendlichen Besucher abzulegen, wer auch immer nach Einbruch der Dunkelheit bei mir klingeln mag. Andererseits«, sie machte eine kurze Pause, um die weitere Formulierung des begonnen Satzes zu überdenken, »andererseits, das muß ich zugeben, imponiert mir Ihr ungewöhnliches Talent, auf sehr elegante Weise immer 102
wieder nette Unverschämtheiten auszusprechen. Sie sind gefährlich, weil man Ihnen eigentlich nie so richtig böse sein kann. Doch nun zu meiner Antwort, die Sie gerne haben sollen, obwohl Sie wirklich nicht sehr viel damit anfangen können: Signor Agnoli und mich«, sagte sie mit einem unüberhörbarem Anflug von Pathos in der Stimme, »verbinden seit einigen Jahren gemeinsame geistige und ideelle Ziele!« »Donnerwetter«, entfuhr es dem Commissario mit hemmungsloser Spontaneität, »diese Lebensorientierung muß aber in der Tat völlig neu sein! Aber warum eigentlich nicht«, meinte er schließlich und fügte dann mit nahezu aufrichtiger Nachdenklichkeit hinzu: »Leben ist nun mal Wandel, wir alle wissen das. Trotzdem, die Entwicklung vom Saulus zum Paulus ist mir, vor allem im Zusammenhang mit Ihrem verehrten Freund Agnoli, nicht auf Anhieb nachvollziehbar. Verstehen Sie mich da vielleicht ein wenig? Andererseits, wenn man diese wundersame Wandlung streng historisch betrachtet, dann ging sie ja für den Paulus nicht gerade erfreulich aus. Bekanntlich wurde der bekehrte Apostel, ich glaube es war im Jahr 67, in Rom enthauptet. Ein Schicksal, das Ihnen hoffentlich erspart bleiben wird. Nicht jede Hinwendung zum Guten wird uns gelohnt, leider.« Sie blieb ihm die Antwort schuldig. Durch eine kaum wahrnehmbare, aber dennoch eindeutige Ände103
rung ihrer Körperhaltung signalisierte sie dann ihrem Gast, daß nunmehr Zeit zum Aufbruch sei. Sie wirkte überreizt, müde und erschöpft. Das sicherlich sündhaft teure Make-up, mit dem sie ihr durch Schicksal, Lebenswandel, Kosmetika und Schönheitschirurgen weitgehend beschädigtes Gesicht für den Abend aufgearbeitet hatte, war inzwischen rissig eingetrocknet und begann abzubröckeln. Ihr Anblick erinnerte den Commissario an die Luftaufnahme von eingetrockneten Flußtälern, die er einmal in einem Bildband über Afrika gesehen hatte. »Sie haben schon recht«, bemerkte die alte Dame, denn sie hatte Benedettis Gedanken sehr wohl erraten. »Die Schreckensherrschaft der Zeit! Das Alter ist nicht unser Freund.« Kurzer Abschied an der Tür. »Buona notte, Signore«, sagte sie leise. Und dann noch: »Kommt Zeit, kommt Antwort, vielleicht …« Der Commissario, viel zu aufgekratzt, um sich gleich hinzulegen, den Kopf vollgestopft mit kreisenden Gedankenspielen und abenteuerlichen Hypothesen, machte zunächst einen kurzen Rundgang durchs Viertel, um dem aufgestauten Bedürfnis nach Bewegung und frischer Luft zu entsprechen. Danach bekam er bei Roberto, der gerade zusperren wollte, im letzten Moment ein Bein zwischen die Tür und genehmigte sich zum Tagesabschluß einen Grappa di Moscato. Danach ging er zu Bett. 104
Wie fast immer, durchschlief er die erste Hälfte der Nacht tief und traumlos. Gegen Morgen dann rüttelten kühle Fallwinde, die sich vom Rand der nahen Dolomiten wie eine Meute wilder Jagdhunde in die Lagune stürzten, an den Fensterläden und weckten ihn auf. Er tastete sich zur Toilette, legte sich danach aber gleich wieder hin, in der vagen Hoffnung, erneut problemlos einschlafen zu können. Aus Erfahrung wußte er allerdings, daß ihm dieses in der Frühe eines anbrechenden Tages, zumal nach einer Störung, nur äußerst selten gelang. So konnte er denn auch nicht an die vorherige Phase erholsamer Bewußtlosigkeit, aus der ihn der Sturm entrissen hatte, von neuem anknüpfen. Dafür entführte ihn Morpheus, der Gott des Traumes, in sein Reich der Ungereimtheiten, Täuschungen, Illusionen, Verlockungen und Halbwahrheiten. Im Wohnzimmer der Malibran fand er sich schließlich wieder, vor dem hellen Fleck auf der Bilderwand, am Ziel seiner begehrlichen Neugierde. Als er die Tapete dort vorsichtig berührte, erweiterte sich das kleine Rechteck zu einem mehr als mannshohen Durchgang. Er führte in einen Raum, der nach allen Seiten hin zugleich begrenzt und dennoch unendlich weit zu sein schien. Und sofort fiel ihm auf, daß es hier keine Zeit gab, obwohl er nicht wußte, womit er diese Gewißheit hätte begründen können. 105
Vorsichtig ging er einige Schritte in den Raum, der ja eigentlich gar keiner war, hinein, sah sich verwirrt um und suchte nach etwas Vertrautem, Bekannten. Die unendliche Endlichkeit war angefüllt mit lebenden Steinen und Pflanzen, vor allem aber mit Menschen aller Rassen beiderlei Geschlechts, nackt zumeist, einige aber auch in phantastischen Kostümen aus Vogelfedern, Fischschuppen, farbigem Schaum oder fluoriszierendem Licht. Beim Weitergehen wurde ihm bewußt, daß alles, was er mit seinen Sinnen aufnehmen konnte, ausschließlich in Gegensätzen und aufgrund eines ständigen Wandels existierte. So wehte die Luft gleichzeitig erfrischend kühl und angenehm warm, das sonnenlose Licht strahlte blendend grell, dabei jedoch wohltuend weich, und über allem wölbten sich, wie eine durchsichtige Kuppel, fröhlicher Ernst und eine Musik, die lautlos alles durchdrang. Alles, was er mit wachsendem Staunen sah, befand sich in rasender und dennoch beruhigender Bewegung. Aus Chaos wurde Ordnung, Harmonie fiel zurück ins Chaotische. Tiere jagten an ihm vorbei, vor allem Einhörner, weiße Elefanten und geflügelte Pferde, zumeist von jungen Burschen und Mädchen beritten, die sich liebten, in nichts vergingen oder zu einem Pfau verschmolzen, der im nächsten Moment als Komet am Horizont verstrahlte. Was Benedetti noch weitaus mehr in Erstaunen setzte als alle diese magischen Unglaub106
lichkeiten, war die Erfahrung, daß er mit seinem Körper auf keinerlei Widerstände stieß. Durch Felsen, Bäume, Tiere und Menschen konnte er ebenso hindurchgehen wie sich diese ständig in ihn und andere hineinbewegten und wieder ablösten. Ebenso erstaunlich wie unerklärlich, daß er, wie er da in seinem zerknitterten Pyjama hilflos nach Orientierung suchte, von niemandem wahrgenommen, beachtet, geschweige denn angesprochen wurde. Angst kam in ihm auf. Jene Furcht, die entsteht, wenn sich ein Mensch inmitten der Menge seiner Einsamkeit, Andersartigkeit und Isolation bewußt wird. Er wollte davonlaufen, doch wo war der rettende Ausgang? Je schneller er jetzt zu fliehen versuchte, um so langsamer kam er voran. Panische Angst lähmte ihn. Schleppenden Schrittes, wie in Zeitlupe, erreichte er schließlich eine Art Gehäuse, das sich vor seinen Augen zu einer großen Muschel ausformte. Er trat ein, beruhigte sich schnell und gewann auch seine Beweglichkeit zurück. Vorsichtig, aber ohne Ängstlichkeit tastete er sich durch einen langen, allmählich sich verengenden, spiralförmigen Gang ins Innere vor, bis ein Weiterkommen unmöglich war. Ein ovales Glasfenster, es ähnelte einem wimpernlosen Auge, versperrte ihm den Weg. Er sah hindurch – auf seine Mutter! Schön, nackt und jung, vielleicht zwanzigjährig oder etwas älter, lag sie in den Armen eines schlanken, schwarzhaarigen 107
Mannes. Die beiden liebten sich unter ekstatischen und zugleich harmonisch-sanften Bewegungen, ihre Körper vibrierten in rhythmischem Gleichklang und verschmolzen, nachdem sich ihre Konturen allmählich aufgelöst hatten, zu Licht. Fasziniert sah Benedetti zu, ohne Scham. Während er noch gebannt durch das Auge blickte und wahrnahm, wie sich das gestaltlose Lichtgebilde jetzt wieder zu teilen begann und wie aus beiden Hälften die Umrisse seiner Mutter und ihres Liebhabers von neuem hervortraten, spürte er einen Sog, der ihn nach hinten wegzuziehen drohte. Vergleichbares hatte er einmal beim Baden im Meer erlebt. Er versuchte sich festzuklammern, aber die geheimnisvolle Kraft war stärker. So gab er nach anfänglichem Sträuben und Kämpfen jeden Widerstand auf, ließ alles mit sich geschehen. Sein Körper geriet zunächst in eine leicht taumelnde, danach in eine rasend wirbelnde Drehbewegung. Druckwellen jagten und preßten ihn durch das spiralförmige System, rückwärts, dem Ausgang entgegen. Er verlor schließlich das Bewußtsein und erwachte. Einen Moment lang blieb er mit geschlossenen Augen liegen, in der Hoffnung, er könne wenigstens Reste der noch eben geschauten Bilderwelten wiederbeleben und in den Wachzustand hinüberretten. Aber es gelang ihm nicht. So stand er auf, zog sich den feuchten Pyjama wie 108
eine Pelle vom Leib, öffnete die Fensterläden und begrüßte den jungen Tag mit hemmungslosem, anhaltenden Gähnen.
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5. Kapitel
Thomas Bernstorff lag quer ausgestreckt auf dem noch ungemachten Bett, bereits angezogen, aber unschlüssig darüber, wie sich der neue Tag, das unbeschriebene nächste Blatt im Buch seines weiteren Lebens, wohl am angenehmsten und interessantesten ausgestalten ließe. Er hielt das lange, aus Deutschland mitgebrachte Brotmesser mit dem vierkantigen Ebenholzgriff in der Hand, ein unverwüstliches Erbstück aus dem Haushalt seiner Großeltern mütterlicherseits. Indem er seinen Daumen vorsichtig und mit sanftem Druck von der Seite her über die Schneide führte, überprüfte er die Schärfe des unentbehrlichen Helfers. Da ihn das Ergebnis nicht restlos befriedigte, beschloß er, das Messer vor seinem nächsten, letzten Einsatz nachzuschleifen. Dazu eignete sich vorzüglich, wie er herausgefunden hatte, die untere rauhe Kante der marmornen Fensterbank, die einige Zentimeter ins Zimmer hineinragte. Der Aufenthalt in Venedig begann ihn zu nerven. Wenn man, wie er, bereits seit einigen Wochen in dieser Stadt lebte, dann war das Interesse für weitere Besichtigungen von Kirchen, Museen und andere Sehenswürdigkeiten längst bis zum Überdruß gestillt. 110
Selbst die Mahlzeiten in den besseren Restaurants oder der an sich vortreffliche Cappuccino bei Florian hatten viel von ihrem anfänglichen Reiz eingebüßt. Sogar das abendliche Glas Prosecco, mit dem er den Tag in der Bar Al Teatro zu beenden pflegte, bereitete ihm am Abend zuvor erstmals widerwärtiges, hartnäckiges Sodbrennen. Die Zeit war also reif für neue Eindrücke und gezielte Aktivitäten, denn eine knappe Woche lang mußte er auf jeden Fall noch bleiben. Zudem bestand Dr. Gruson, mit dem er vor wenigen Minuten telefoniert hatte, kompromißlos darauf, das bisher nach Wunsch verlaufene »Vorhaben«, wie er es nannte, ohne Abstriche zu Ende zu führen, und zwar in der Vollmondnacht am kommenden Wochenende. Da Bernstorff seinen als äußerst angenehm empfundenen, passiven Zustand lässiger Vormittagsschläfrigkeit nur ungern einem Handlungsimpuls opfern wollte, jedenfalls nicht sofort, vermied er es zunächst, einen Entschluß zu fassen, und lenkte sich mit allerlei eher unsinnigen Kindereien ab. Nachdem er mehrfach erfolglos versucht hatte, die goldfarbenen Längsstreifen im Tapetenmuster der gegenüberliegenden Wand auszuzählen, konzentrierte er sich anschließend auf die allmählich anschwellenden Geräusche unten in der Gasse und versuchte bei geschlossenen Augen, dem wahrgenommenen akustischen Wirrwarr Bilder zuzuordnen. Als ihn auch das schon bald nicht mehr son111
derlich befriedigte, führte er eine Weile lang laute Selbstgespräche und vertrieb sich die Zeit damit, extrem kurze Vierzeiler mit letzten Endes blödsinnigem Inhalt zu erfinden. Wie etwa: Eine Oma aus Stade sprach: ach, ist das schade! Ich muß jetzt wohl sterben, denn mein Enkel will erben. Köstlich amüsiert deklamierte er den belanglosen Vers, wiederholte ihn minutenlang mit wechselnden Betonungen und sang ihn sogar noch zu einer selbst erfundenen Melodie. Schließlich, seiner selbst allmählich überdrüssig, wurde ihm übel. Er schlug sich mehrfach mit der flachen Hand vor die Stirn, griff dann nach der Infrarotbedienung neben sich auf dem Nachttisch und startete den Fernseher. Nach kurzem Knistern und Flackern baute sich ein halbwegs stabiles Bild auf, freilich ohne den dazugehörigen Ton. Er landete im Kanal von Raiuno, und zunächst hatte es den Anschein, als handele es sich um eine dieser unzumutbaren Talkshows, die Hausfrauen, Rentnern und krankgeschriebenen Spätaufstehern ein kostbares Stück ihrer Lebenszeit stehlen. Irrtum, es kam weitaus schlimmer, jedenfalls was seinen Geschmack betraf. Vor einer blauen Wand, die mit offensichtlich bedrohlichen grafischen 112
Darstellungen übersät war, saßen sich in kanariengelben Cocktailsesseln zwei modisch hochgestylte, geradezu unerträglich sympathische Gesprächspartner gegenüber, dem Publikum leicht zugewandt. Die junge Dame, wohl Moderatorin der Sendung, bestand nach Bernstorffs Einschätzung zu gut fünfzig Prozent aus übergeschlagenen, makellos geformten nackten Beinen. Die verbliebene Fläche zwischen ihren Oberschenkeln und der weitgehend freien Schulterpartie bedeckte ein extrem eng anliegendes rotes Kleidchen, dem offensichtlich die Alibifunktion eines textilen Pausenfüllers zukam. Ihr hübscher Kopf war mit schulterlanger, maisfarbener Haarpracht gesegnet. Immer wieder, wenn auch nicht unerwünscht, fiel ihr beim Vorbeugen eine kostbare Strähne ins Gesicht, die sie dann mit eleganter Handbewegung hinter ihr rechtes Ohr zurückbeförderte. Absolut seriös und vertrauenerweckend dagegen ihr männlicher, deutlich älterer, aber keineswegs schon abrüstiger Partner. Zum dunkelblauen, edel angeknitterten Einreiher befanden sich Schuhe, Hemd und Krawatte in modischem Einklang, sein Haarschnitt beeindruckte durch Makellosigkeit. Dem großen Publikum wurde er als Professore für Zahnmedizin vorgestellt, obwohl es jedermann sehr schnell klar werden mußte, daß hier ein bezahltes Fotomodell Werbung für Zahnpasta zu machen hatte. 113
Nach kurzem, einleitenden Gespräch standen die beiden auf. Der getürkte Professore nahm einen langen Zeigestock zur Hand und plazierte sich vor der Wand mit den statistischen Darstellungen, gefolgt von der Maiskolbenblondine, die mit eng gesetzten Schrittchen, abwechselnd zustimmend oder besorgt nickend, ständig um ihn herumtrippelte. Dann kam Ernst auf. Die medizinische Kapazität für lockere und sterbende Zähne blickte dem Zuschauer düster, ja fast hoffnungslos aus dem Bildschirm entgegen. Und während er immer wieder mit Nachdruck auf die Schreckensbotschaften der blauen Wand verwies, kam Leben in die eingeblendeten Diagramme und Kurven. Einige von ihnen begannen plötzlich rhythmisch aufzuleuchten, in grellroten Farbtönen zumeist, kletterten hektisch und in Zackenform bis an den oberen Rand des Bildschirms, andere dagegen fielen dramatisch schnell in sich zusammen, etwa wie bei einem Börsencrash in New York oder Tokio. Auch dem Dümmsten mußte inzwischen klar sein: Italiens Gebisse befanden sich in einem noch weitaus verheerenderem Zustand als seine Staatsfinanzen oder die Moral der Politiker. Der Zerfall der Nation begann eindeutig im Dentalbereich. Und gerade so, als bedürfe es noch weiterer Beweise für die hinreichend geschilderte, wissenschaftlich abgesicherte Katastrophe, wurden jetzt von einer Krankenschwester Jungen und Mädchen verschiedener Alters114
gruppen ins Bild geführt. Artig stellten sie sich in einer Reihe auf, ihre Blicke waren traurig nach unten gesenkt. Der Professore ging auf die Gruppe zu, strich dem jüngsten Mädchen väterlich über den Kopf, etwa so, wie das Politiker vor Wahlen tun, und wies die Kinder dann an, ihre Münder weit zu öffnen. Gierig zoomte sich jetzt die Kamera in jede der dargebotenen Mundhöhlen hinein und legte schonungslos offen, welch erschreckende Schäden Karies, Parodontose und bösartige Bakterienstämme in den Zähnen der Kinder bereits angerichtet hatten. Nüchtern, ernst und sachkundig, wie das seriöse Wissenschaftler nun mal tun, kommentierte die Kapazität das orale Schreckensszenario. Dann endlich wurde Aussicht auf Rettung signalisiert. Eine ältere, sehr gepflegte weißhaarige Dame kam von der Seite her hinzu, trat mit weit geöffnetem Mund und strahlendem Lächeln vor die Kamera und bleckte der Nation zwei Reihen unnatürlich gesunde Zähne entgegen. Der sichtlich beeindruckte Professore überreichte ihr eine weiße Rose, und im anschließenden Kurzinterview wurde schnell klargestellt, daß dieses Gebiß den Höhepunkt jahrelanger konsequenter Mundpflege bildete. Unausgesprochen stand die Botschaft im Raum, daß jeder von uns die Chance hat, im hohen Alter mit gesunden Zähnen zu sterben. Zum Schluß wurde noch einmal die Blondine groß115
formatig ins Bild gerückt. Mit aller Eindringlichkeit, deren sie fähig war, rief sie die Nation zum Zähneputzen auf. Dann schwebte eine Zahnpastatube über die Mattscheibe, die zusehends größer wurde und sich anschließend zu einem sinnlichüppigen Frauenmund verformte. Bernstorff, auf ekelerregende Weise fasziniert von dieser perfekt schwachsinnigen Inszenierung, schaltete ab und verließ, nachdem er sich mit dem Notwendigsten für den Tag versorgt hatte, das Hotel. Da er an diesem Morgen wieder mal auf das Frühstück im Haus verzichtet hatte, auf die Käseecke also, den Klacks zerfließende Butter, die eingeblisterte Marmelade und das mit Marzipanmasse gefüllte Hörnchen, meldeten sich Hungergefühle. Nachdem er sich am Kiosk neben der Post mit deutschen Tageszeitungen eingedeckt hatte, ging er die wenigen Schritte zum Florian. Zu dieser frühen Tageszeit, es mochte gegen elf Uhr sein, bot das Café aus seiner Sicht eine Reihe von Vorteilen. So war das Pflaster unter den Tischen und Stühlen jetzt noch nicht mit jener unappetitlichen Schicht von Flaumfedern der Tauben bedeckt, die bei gelegentlichen Windstößen zunächst hochgewirbelt wurden und sich dann anschließend als unerwünschte Beigabe in Gläsern, Tassen und auf Kuchentellern sanft niederließen. Auch gab es jetzt noch eine reiche Auswahl an schattigen freien Plätzen, gleich neben den Kolonnaden, wäh116
rend gegenüber vor dem Quadri die Sonne bereits dem Zenit ihrer Kraft entgegenglühte. Bernstorff orderte Cappuccino, dazu ein Ragoût fin. Da ihn die Titelseiten der Tagespresse nicht zum Weiterlesen verlockten, räkelte er sich träge in seinen Stuhl hinein, schlug die Beine übereinander und ließ seine Blicke auf der Piazza spazierengehen. Wie schon so oft zuvor, genoß er den Anblick der Quadriga in der Loggia über dem Hauptportal der Markus-Basilika mit besonderer Faszination, zumal er sich für Herkunft und Geschichte der vier Rosse bereits in seiner Studentenzeit interessiert hatte. Vor Kraft strotzend und voller Lebendigkeit triumphierte das Symbol venezianischer Freiheit goldfarben im gleißenden Licht. Jeden Augenblick, so schien es, könnten die Pferde zu stampfen und wiehern beginnen und sich mit einem mächtigen Sprung hinab in das Menschengewimmel unten auf der Piazza stürzen. Dort stauten sich bereits wieder Hunderte von Touristen vor den Eingängen zur Kirche und zum Dogenpalast. In langen, geordneten Reihen waren sie angetreten, man könnte auch aufmarschiert sagen, wohl Japaner in der Mehrzahl. Die Frauen durchweg mit beigefarbenen oder grüngrauen Baumwollhütchen bedeckelt, ihre Männer mit durchgeladenen Canons, Minoltas und Nikons vor der Brust. Geradeso als gelte es, die Bastille zu erstürmen. Bernstorffs Bestellung wurde von seinem Lieblings117
kellner, einem schwarzhaarigen, schlanken jungen Burschen ausgeführt. Wie immer geschah das höflichdistanziert und zu seiner vollen Zufriedenheit. Er zahlte sofort, und während er einige nicht benötigte Lirescheine in seine Geldbörse zurücksteckte, fiel ihm jener kleine Zettel in die Hand, auf dem der Commissario einige Tage zuvor Telefonnummer und Anschrift einer gewissen Rosalba Bandiera notiert hatte, einer Astrologin. Er zog den stets mitgeführten Stadtplan aus der Seitentasche seines Jacketts und suchte nach der angegebenen Straße. Sie lag, wie er schnell herausfand, ganz in der Nähe des Campo delle Gatte auf Castello, also kaum mehr als zwanzig Minuten Fußweg vom Markusplatz entfernt. Bernstorff entschloß sich, die geheimnisvolle Dame einfach mal unangemeldet aufzusuchen. Und von ihrer Wohnung aus war es, sofern sich die Angelegenheit als Reinfall erweisen sollte, nicht mehr allzuweit zu den Fondamenta Nuove. Von dort aus konnte er dann, um den Rest des Tages auszufüllen, eine direkte Schiffsverbindung nach Torcello nehmen, um sich, wie schon seit Tagen geplant, diese verträumte und inzwischen nahezu verlassene Laguneninsel einmal in Ruhe anzusehen. Schließlich hatte sie einmal, vor nahezu zweitausend Jahren, den Ausgangspunkt für Venedigs spätere Geschichte und Entwicklung gebildet. Die Suche nach dem Haus der Astrologin erforderte 118
mehr Zeit als zunächst angenommen. Castello, der größte und in vielerlei Hinsicht ursprünglichste der sechs Stadtteile Venedigs, vom Massentourismus wegen fehlender Attraktionen weitgehend gemieden, erwies sich als wahrer Maulwurfsbau. Immer wieder verengte sich eine der schmalen Gassen, der Venezianer nennt sie Calletta, zur Einbahnstraße, oder Bernstorff landete abermals in einem dieser romantischen Innenhöfe, in denen lärmende Kinder unter einem mit Wäsche zugehängtem Himmel ihre Spiele trieben. In Venedig, diese Erfahrung machte er stets aufs neue, schützte auch der beste Stadtplan nicht vor gelegentlicher Orientierungslosigkeit. Schließlich gelangte er dennoch ans Ziel. Das sehr schmale, nur zweigeschossige Haus der Signora war schmucklos und zeigte deutlich sichtbare Symptome der venezianischen Krankheit, deren Name bekanntlich Zerfall heißt. Die Front im Parterre, einst hatte es hier einen kleinen Laden gegeben, war recht unbekümmert mit grüner und marineblauer Ölfarbe überstrichen. Neben der vergitterten und durch zwei Vorhängeschlösser gesicherten Tür lockte ein geheimnisvolles Schaufenster den Betrachter an. Der Durchblick in den dahinter liegenden, düsteren Raum war durch eine großformatige Sternenkarte versperrt, vor der allerlei kuriose Dinge und Gerätschaften herumlagen, offensichtlich völlig wahllos und ohne einen sinngebenden 119
Zusammenhang. Ein vergilbter Globus etwa, der durch ständige Sonneneinstrahlung ellipsoid verquollen war, ausgebleichte Zeitungsausschnitte, eine Sanduhr, eine von Grünspan angefressene Messingplatte mit eingraviertem Pentagramm, größere und kleinere Madonnenbilder, ein leerer Wechselrahmen, mehrere Bücher und kleine Schriften unbestimmbaren Inhaltes sowie Tarotkarten, die mit Heftzwecken oder Stecknadeln an den zwei Seitenwänden befestigt waren. Über allem lag der Staub von Monaten, wenn nicht gar Jahren. Unzählige vertrocknete Fluginsekten, fast jede Spezies der Lagune schien hier vertreten zu sein, ergänzten den Eindruck von einem offensichtlich verkommenen Ort. Als besonders absurd empfand Bernstorff die Tatsache, daß dieses absonderliche Chaos auch noch durch drei moderne Deckenstrahler sorgfältig ausgeleuchtet wurde. Er trat einige Schritte zurück und sah am Haus empor. Im Obergeschoß versöhnte ihn der Anblick einer schmalen Balkonette. Eine aus Terrakottatöpfen, Messingkübeln und anderen Behältnissen üppig hervorquellende Blütenpracht drängelte sich durch das schmiedeeiserne Gitter dem Licht entgegen. Dazwischen Vogelkäfige unterschiedlicher Größe, in denen es trällerte, piepste und pfiff. Da das schmale Haus, von der versperrten Ladentür abgesehen, offensichtlich keinen weiteren Eingang hatte, klingelte Bernstorff beim angrenzenden rech120
ten Nachbarn. Deutlich hörbar schlug im Inneren des Hauses ein melodischer Gong an, aber niemand kam, um ihm zu öffnen. Er drückte sein Ohr an die hölzerne Kassettentür und lauschte – absolute Stille! Als er schließlich wieder gehen wollte, kam im Hintergrund Leben auf. Zunächst wurden mehrere Türen kraftvoll zugeschlagen, eine Katze jaulte, man hatte ihr wohl den Schwanz eingeklemmt, und dann näherte sich jemand mit schnellen Schritten der Tür, die nur einen Spaltbreit aufgerissen wurde. Bernstorff blickte einigermaßen verwirrt, fast schon verschreckt, in das schmal geschnittene Gesicht einer Frau mittleren Alters, die ihn mit wachen, hellgrauen Augen unverblümt zurückweisend musterte. Mit Körperhaltung und Mimik signalisierte sie ohne jede Beschönigung, daß ihr der Herr an der Tür äußerst ungelegen kam. Etwa in der Art, wie man Vertreter abwimmelt, die Staubsauger oder Zeitungsabonnements verkaufen wollen. Da sie schwieg, stellte er sich kurz vor und berief sich auf Benedettis Empfehlung. Als die Signora nach wie vor stumm in ihrer Stellung verharrte – Bernstorff wollte ihr schon eine Sprachstörung unterstellen –, hielt er es für angeraten, seinen Rückzug vorzubereiten. »Da ich offensichtlich störe«, begann er unsicher, … »Natürlich stören Sie«, fiel sie ihm ins Wort, »aber das macht überhaupt nichts. Kommen Sie ruhig mal rein!« Bernstorff, der sich nun auf gar nichts mehr einen 121
Reim machen konnte, folgte ihr durch einen schwach beleuchteten, engen Gang, der mehrfach rechtwinklig zur einen und anderen Seite hin abzweigte. Es war feucht, roch muffig, und die Signora, es mußte sich wohl um die von ihm gesuchte Rosalba Bandiera handeln, schrie mehrfach »attenzione!«, um ihn vor freiliegenden Balken in der niedrigen Deckenkonstruktion zu warnen. Und dann geschah ihm eines jener kleinen Wunder, denen man in Venedig immer wieder begegnen kann: Ein von außen unscheinbares, baufälliges, fast schon verwahrlostes Haus entpuppt sich im Inneren als ein Kleinod gepflegter mediterraner Wohnkultur und paradiesischer Stille. So war es auch hier. Der Maulwurfsgang mündete in einen großen hellen Raum, in dem sich edles Mobiliar vergangener Jahrhunderte mit modernem italienischen Design zu einem perfekten, sinnlichen Ambiente vereinte. Die Signora wies ihm einen Platz in einem von drei rauchblau lakkierten Rattansesseln an, setzte sich hinzu und genoß, während er sich anerkennend im Zimmer umsah, seine stille Bewunderung. Nachdem er sich, durch zustimmendes Kopfnicken begleitet, sattgesehen hatte, unterzog er die Dame des Hauses, die ihn ihrerseits ungeniert, fast amüsiert fixierte, einer diskreten Inspektion. Sie war schlank, fast schon ein wenig hager für seine Begriffe, kaum älter als Mitte Fünfzig. Vor allem drei Merkmale ihrer sportlich-gepflegten Persönlichkeit 122
drängten sich dem aufmerksamen Betrachter geradezu auf: die nervösen, schlanken Hände, das Paar hellwacher Augen, die sich zugleich auf nichts und alles zu fixieren schienen, sowie eine hennafarbene Haarpracht, die, üppig gelockt und in sich nochmals tausendfach fein gekräuselt, schulterlang nach unten fiel. Etwas Unkalkulierbares, Schrilles charakterisierte ihre Ausstrahlung. Er hätte wetten mögen, daß die ganze Frau unter Strom stand. Vorsicht Hochspannung, dachte er bei sich, an der fehlt nur noch die Steckdose. Dann ließe sich zweifellos ein Toaster oder ein Tauchsieder mit ihrer Energie betreiben. Noch immer war kein weiteres Wort zwischen ihnen gesprochen worden, als die Signora die angespannte Stille mit einem befreienden, nachhaltigen Lachen beendete. »Wunderbar«, sagte sie und klatschte sich vor Vergnügen auf den Oberschenkel, »es hat mir schon immer Spaß gemacht, Männer zu verunsichern, und fast immer gelingt es! Böse jetzt?« Er verneinte, und sie fuhr fort: »Der liebe Commissario hat Sie also geschickt, übrigens ein sehr guter Freund von mir. Leider kommen Sie ziemlich ungelegen, denn ich muß nachher zu einer Totenmesse nach Burano, und vorher will ich meine Sardinen noch marinieren. Aber machen wir kein Problem daraus. Jetzt bleiben Sie hier, und wir werden gut miteinander auskommen, basta! Was trinken Sie?« 123
»Gerne einen Cappuccino oder einen gut gekühlten Prosecco, falls es keine Umstände macht.« »Nehmen wir zusammen einen Espresso«, entschied sie lächelnd und ohne weitere Diskussion. »Der ist nämlich gerade fertig.« Damit verschwand sie in der angrenzenden Küche. Bernstorff fühlte sich nicht gerade wohl. Mit der Direktheit dieser zweifellos ungewöhnlichen Person konnte er nicht auf Anhieb umgehen. Er fühlte sich ihr auf geheimnisvolle Weise ausgeliefert, ja unterlegen. Bei solchen Menschen, dachte er, muß man jeden Moment auf etwas Extremes gefaßt sein. Die Situation weckte schmerzliche Erinnerungen an seine Mutter, die ihn, auch ein stets bestimmender Machtmensch, bis zu ihrem frühen Tode stets gegängelt, bevormundet und letzten Endes nie richtig ernst genommen hatte. Wut stieg in ihm auf, gemischt mit Zorn auf sich selbst, weil er wieder mal der Gebissene war, anstatt selbst in die Offensive zu gehen. Um sich im stillen an der Signora zu rächen und über diesen kindischen, feigen Umweg wenigstens zu einer gewissen Genugtuung zu kommen, bedachte er sie in Gedanken mit allerlei unausgesprochenen Schmähungen. Ausdrücke wie Lagunenhexe oder Astroschlampe zählten da noch zu den schmeichelhafteren Varianten. Zuletzt entschied er sich für die seiner Meinung nach vernichtende Aussage, sie sei eine dürre Ziege mit Krampfadern. 124
Mit einem Tablett auf der Hand kam sie zurück. »Gehen wir am besten nach draußen, zu meinem Lieblingsplatz. Dort ist jetzt Schatten, und ein kühler Wind hat sich aufgemacht. Außerdem warten meine Sardinen darauf, endlich verarbeitet zu werden.« Der Garten, kaum größer als ihr geräumiges Wohnzimmer, wurde gegen die Grundstücke der Nachbarn durch eine hohe Mauer aus Natursteinen abgegrenzt. Die überaus üppige Vegetation präsentierte sich als harmonisches Blumenchaos, in dem Rittersporn, schöne Gladiolen, Lilien, Glockenblumen und Phlox aller denkbaren Farbnuancierungen zu einem floralen Schönheitswettbewerb angetreten zu sein schienen. Sie nahmen in einer grottenähnlichen Nische Platz, die von Kapuzinerkresse, Wicken und großblütigen Winden umrankt war. Dann servierte sie jedem, ohne ihre eigenmächtig verfügte, erneute Änderung des Getränkeangebotes zu kommentieren, ein Glas Gin-Tonic. Bernstorff bebte vor unterdrückter Wut und wurde erst ruhiger, nachdem er mehrfach dürre Ziege mit Krampfadern leise vor sich hin gemurmelt hatte. Sie prosteten sich freundlich zu. »Alla salute«, sagte sie, »wirklich nett von Ihnen, daß Sie gekommen sind.« Dann griff sie unter eine seitlich stehende Bank, holte ein großes Brett, Zwiebeln, verschiedene Gewürze, irdenes Geschirr sowie eine Emailleschale mit fangfrischen Sardinen hervor und verteilte alle Utensilien über 125
den ovalen Gartentisch. »Fisch riecht nach Fisch«, sagte sie belustigt, als ihr Gast sich, vom strengen Geruch der Meerestiere leicht angewidert, in seinen Korbsessel zurückdrückte. »Ich bereite hier übrigens ein sehr altes venezianisches Gericht zu, sarde in saor«, fuhr sie erklärend fort. »Das Rezept stammt aus einer Zeit, als man nach Möglichkeiten suchte, Fische für möglichst lange Zeit haltbar zu machen. Vor allem wegen der Seeleute, die ja oft monatelang unterwegs waren und sich vor Skorbut schützen mußten. Man kann übrigens auch Forellen oder Seezungen nehmen, aber zu dieser Jahreszeit eignen sich Sardinen am besten. Auch sind sie natürlich kräftiger vom Geschmack her, und sie lassen sich leichter entgräten.« Plötzlich sprang sie hoch, stieß dabei mit dem Knie unter die Tischkante, rannte in die Küche und kam mit einer dunkelblauen Schürze zurück. »Haben Sie jetzt vielleicht Lust auf einen Cappuccino?« fragte sie, während sie sich den viel zu weit geschnittenen Arbeitsschutz umband. »Auf keinen Fall, nein, wirklich nicht«, wehrte Bernstorff spontan und entschieden ab, denn er war sich vollkommen sicher, daß sie mit einer Flasche Grappa oder einem Glas Tomatensaft zurückkommen würde. »Dann eben nicht«, maulte sie, setzte sich wieder zu ihm, nahm ein Küchenmesser zur Hand und begann 126
damit die Fische, ein besonders ansehnliches Exemplar ausgenommen, das sie zur Seite schob, mit großer Fertigkeit blitzschnell zu schuppen. Danach griff sie zu einem längeren Messer mit schwerer Klinge und köpfte ihre Opfer mit exakt ausgeführten Schlägen. »Die Schwänze bleiben natürlich dran«, erläuterte sie und lächelte ihm verschmitzt zu. »Sie arbeiten wie eine Guillotine«, antwortete Bernstorff, dem nicht so ganz wohl war. »Robespierre hätte sicherlich seine Freude an Ihnen gehabt!« »Können Sie auch so gut mit Messern umgehen?« fragte sie und begann damit, die Bäuche der Tiere aufzuschlitzen und ihre Eingeweide herauszureißen, die sie anschließend mit ihrem Zeigefinger über den Tisch ins Gebüsch schnippte. »Für die Katzen«, meinte sie lakonisch. Dann ging sie mit den vorbereiteten Sardinen kurz in die Küche, wusch sie gründlich unter fließendem Wasser und kam zurück. »Jetzt passen Sie gut auf, Signore. Zuerst eine Lage leicht gesalzene Fische unten in den Steintopf. Darüber dann die gerösteteten Zwiebelringe, natürlich muß man kaltgepreßtes Olivenöl verwenden, und obendrauf zwei bis drei Teelöffel voll einer Mischung aus Rosinen und Pinienkernen, die zuvor mit einem Glas Weißweinessig und etwas Mehl in einer kleinen Pfanne angebraten wurden. Die Pinienkerne sind sehr wichtig. Zum einen aus geschmacklichen Gründen, andererseits 127
weil sie ätherische Öle und Harze enthalten. Das konserviert. Danach wieder eine Schicht Fische und so weiter. Den Abschluß muß auf jeden Fall eine Zwiebelschicht bilden. Zuletzt den Holzdeckel drauf und alles für mindestens drei Tage dunkel und kühl abstellen, jedoch nicht im Kühlschrank. Am besten natürlich in einem venezianischen Kellergewölbe, haben Sie eins zu Hause?« »Aber wir sind immer noch nicht ganz fertig«, fuhr die Signora fort. »Das Allerwichtigste kommt erst jetzt zum Schluß, sehen Sie bitte genau hin.« Sie griff die beiseite gelegte Sardine beim Schwanz, streckte ihre Zunge weit heraus, formte sie zu einer Mulde aus und legte den Fisch so hinein, daß sein Kopf der Mundhöhle zugewandt war. Dann schloß sie die Lippen und sog das Tier, nachdem sie über die Nase tief ausgeatmet hatte, mit einem laut hörbaren Flutsch in sich hinein. Abschließend schlug sie mit der flachen rechten Hand dreimal auf ihren Magen und bekreuzigte sich. »Ein uraltes Ritual, das mir meine Großmutter überliefert hat. Es ist sehr wichtig, weil jetzt der Fisch nicht mehr verderben kann und mindestens drei Monate lang genießbar bleibt. Aber machen Sie es bitte auf keinen Fall nach, denn wenn die Sardine falsch liegt und die Atemtechnik nicht beherrscht wird, dann landet sie mit Sicherheit in Ihrer Luftröhre. Und dann gute Nacht!« Anschließend gingen sie ins Haus zurück und stie128
gen über eine gußeiserne Wendeltreppe, sie war in der hinteren Ecke des Wohnzimmers eingelassen, hinauf in das Obergeschoß. Der weiß getünchte, spärlich möblierte Raum stand in deutlichem Kontrast zum Luxus im Parterre. Überall an den Wänden stapelten sich Bücher, Langspielplatten und Zeitschriften zu hohen Säulen auf, die sich, dem Turm zu Pisa vergleichbar, bedrohlich zur Seite neigten. Dazwischen Poster, venezianische Stahlstiche, getrocknete Rosensträuße und auch zwei ungerahmte, etwas schräg hängende Alte Meister, die einer fachmännischen Restaurierung dringend bedurft hätten. In den Fächern eines schlichten Regals aus naturbelassenem Fichtenholz war zwischen allerlei Krimskrams eine Stereoanlage untergebracht, daneben ein übervoller Wäschekorb aus geflochtener Weide, aus dem Hosen, Röcke, Seidenschals, T-Shirts und andere Edelklamotten hervorquollen. Bernstorff fühlte sich in das gemütliche Ikea-Wohngefühl seiner Studentenzeit zurückversetzt. Sie nahmen an einer großflächigen Arbeitsplatte Platz, die sich vor einer Glaswand über die gesamte Breite des Raumes spannte. Die Signora hatte sich während der letzten Minuten spürbar verändert, wirkte schweigsamer, nachdenklicher und konzentrierter. Sie startete ihren PC, und während der Rechner das Programm installierte, stellte sie ihm einige Fragen. »Ihr Geburtsdatum?« 129
»Fünfter September 1959.« »Wo?« »Würzburg.« »Genaue Zeit, bitte!« »Es war nachmittags, wenige Minuten vor halb vier. Gehen Sie mal von 15 Uhr 26 aus.« Sie speicherte die Daten ab und wandte sich, während der Computer zu arbeiten begann, ihrem Gast nachdenklich zu. »Was für ein merkwürdiger Zufall! In ihrem Geburtsjahr, möglicherweise war es damals sogar September, verbrachte ich einige Tage in Würzburg. Eine sehr schöne alte Stadt mit angenehmem Klima und aufgeschlossenen, lebenslustigen Menschen. Ich war hoffnungslos verliebt in einen jungen Mediziner, und wir verlebten zusammen unvergeßliche Stunden in den kleinen Dörfern der Umgebung. Von morgens bis abends immer am Rande eines Vollrausches, denn der herrliche Frankenwein ließ uns kaum eine Chance zur Ausnüchterung. Die kam dann allerdings doch …« »Er war verheiratet?« »Nein anders, Verkehrsunfall, tödlich. Lassen wir das.« Inzwischen hatte sich auf dem Monitor eine verwirrend bunte Grafik aufgebaut, mit deren Ausdruck der angeschlossene Drucker sogleich begann. »Ein paar Worte noch vorweg«, fuhr sie fort und blickte ihm, wie die Schlafsaaloberaufsicht eines katho130
lischen Mädchenpensionates, streng in die Augen. »Damit gleich klare Verhältnisse zwischen uns herrschen: Es ist mir vollkommen egal, welche Meinung Sie über Astrologie haben. Wahrscheinlich die denkbar dümmste!« Es klang wie eine Drohung. »Ich habe mich Ihnen gegenüber bisher in keiner Weise zu diesem Thema geäußert und werde bemüht sein, mich offen aber zugleich auch kritisch mit der Sache auseinanderzusetzen«, wehrte sich Bernstorff. »Sehen Sie hier«, sagte sie, blätterte in einer Zeitschrift die Seite mit den Horoskopen auf und las ihm mit verächtlichem Tonfall daraus vor: »›Zwillinge sollten sich heute nicht zu weit vorwagen, denn übertriebener Eifer kann zu unerwarteten Rückschlägen führen.‹ Oder noch besser: ›Der Widdermann könnte heute einer Fischefrau begegnen. Falls der Funke überspringt, werden beide Seiten davon profitieren.‹ Ich erspare mir weitere Zitate von diesem Schwachsinn, sonst muß ich nämlich die Sardine wieder auskotzen, und dann verdirbt mir auch meine Marinade. Verhängnisvollerweise verschlingen täglich Millionen Leser ganz genußvoll, viele geradezu süchtig, diesen Dreck. Dabei wird er nicht mal den Minimalansprüchen gerecht, die man an eine stark reduzierte geistige Schonkost stellen müßte. Einen derartigen Unfug abzudrucken ist Blasphemie, denn Astrologie kommt von Gott.« Die Signora war wütend, Bernstorff fühlte sich schuldlos. 131
»Da ich noch nie Zeitungshoroskope gelesen habe und Ihre Meinung zu diesem Thema teile«, beschwichtigte er sie, »bin ich jetzt richtig neugierig darauf, durch Sie mit der wahren Astrologie bekannt gemacht zu werden.« Um nicht vollends zu explodieren, überging die Signora den ironischen Unterton seiner Bemerkung mit einem verbindlichen Lächeln, zog die inzwischen fertige Horoskopzeichnung aus dem Gerät und legte das Blatt mit einem lauten Klatsch auf die Tischplatte. Während sie das Horoskop konzentriert betrachtete und gelegentlich mit dem Zeigefinger über das Blatt fuhr, spiegelten sich, wie es Bernstorff schien, deutliche Anzeichen von Erregung in ihrem Gesicht. Mit dem Aufschrei »Mein Gott, Sie sind ja nicht ganz normal!« unterbrach sie die angespannte Stille und rückte mit ihrem Stuhl spontan von Bernstoff ab. Dieser war nun seinerseits zutiefst erschreckt, verwirrt und auch zornig. Während er noch in Erwägung zog, demonstrativ aufzustehen und das Haus wortlos, vielleicht sogar mit Türenknallen, zu verlassen, rückte die Signora, offensichtlich selbst irritiert, mit einer entschuldigenden Geste auf ihn zu. Sanft berührte sie seine Schulter mit ihrer Rechten. »Verzeihen Sie vielmals, ich wollte eigentlich etwas völlig anderes sagen. Sie müssen wissen, daß ich ein Widder bin, und da läuft die Selbstkontrolle manchmal aus dem Ruder. In meinem Sternzeichen wird die ungezügelte Spontaneität häufig zum 132
Problem, und man verletzt ungewollt auch Menschen, die einem sehr liegen. Widder neigen zu Reaktionen nach dem Prinzip: erst handeln, dann denken. Natürlich sollte es besser umgekehrt laufen. Machen Sie sich also nichts daraus, ich werde ab sofort auch ganz lieb zu Ihnen sein. Übrigens«, fügte sie hinzu, und dieses war ein durchschaubares Ablenkungsmanöver, »Sie haben bewundernswert schöne Hände, unter anderem.« »Was macht ihre Schönheit aus?« fragte er neugierig und fast schon wieder versöhnt. »Sie sind außerordentlich ästhetisch schlank durchgeformt, und die Länge der Finger steht in einer harmonischen Proportion zur Ausdehnung des Handrükkens. Menschen mit dieser Ausstattung sind selten in der Lage, sich sozusagen mit eigener Hände Arbeit zu ernähren. Also ist der Intellekt gefragt. Sie könnten allerdings auch zum Nichtstuer, zum Müßiggang taugen, sofern es die finanziellen Umstände zulassen. Ganz vorzüglich wären Sie auch für den Beruf eines Gynäkologen geeignet. Mit einem akademisch ausgebildeten Zeigefinger läßt sich erfahrungsgemäß mehr Geld zusammenbringen als mit einer ehrlich zupackenden, kraftvollen Hand.« »Falls ich Sie gerade eben richtig verstanden habe, dann ist Ihnen noch mehr Bewundernswertes an meiner Person aufgefallen. Von unter anderem war die Rede …« 133
»Ihr Po ist auch recht beeindruckend. Schön knakkig und wohlgeformt posiert er zwischen einem dezent angedeuteten Hohlkreuz und ihren schlanken Beinen.« »Ich dachte immer, so etwas sei nur für Schwule interessant.« »Falsch! Die wenigsten Männer wissen, daß Frauen besonders genau auf Hände und Hintern achten. Hände verraten sehr viel über Intellekt und Sensibilität. Und der Po, na ja, Sie wissen schon, was ich meine. Er ist nun mal die Rückseite einer gewissen Medaille.« »Ist der Commissario eigentlich homosexuell?« wollte Bernstorff wissen. Und bereits während er den Satz ausformulierte, war er sich seiner Entgleisung bewußt. Die Signora indes gab sich nicht im geringsten beeindruckt. »Fragen Sie ihn doch am besten selbst«, empfahl sie augenzwinkernd. »Seine Antwort würde mich interessieren. Schade auf jeden Fall, wenn er für die Damenwelt verloren wäre. Und jetzt aber endgültig Schluß mit diesen Wortspielereien. Die Zeit ist mir inzwischen reichlich knapp geworden, und bevor ich gleich nach Burano muß, will ich Ihnen wenigstens einige wesentliche Elemente Ihres Horoskops erklären. Deswegen sind Sie schließlich zu mir gekommen und nicht, um über Sardinenrezepte oder den Charme von Männerpopos belehrt zu werden. Wenn ich Sie vorhin mit einer Überreaktion erschreckt habe, dann lag es natürlich nicht daran, daß ich Sie etwa für verrückt 134
halte. Es geht vielmehr darum, daß Ihr in der Tat ungewöhnliches Horoskop auf einen Menschen hinweist, der nicht in die gängigen Schubladen eingeordnet werden kann. In diesem Sinne sind Sie daher auch keineswegs normal. Denn normal ist nur, was statistisch gesehen gehäuft vorkommt, Sie aber sind ein Exot. Zufrieden? Und jetzt fangen wir mal an. Ich muß dabei ein wenig Fachchinesisch mit Ihnen reden, werde mich aber bemühen, trotzdem verständlich zu sein und Sie nicht zu langweilen.« »Kann ich Papier und einen Kugelschreiber von Ihnen bekommen? Vielleicht wäre es nützlich, den einen oder anderen Gedanken …« »Mitgeschrieben wird nicht«, entschied sie kategorisch mit inzwischen vertrautem Befehlston. »Überlegen Sie doch mal selbst, was für ein Unsinn das wäre! Aufschreiben, was Sie gerade eben gehört haben, und gleichzeitig wollen Sie noch meinen Ausführungen folgen, um sie anschließend aufs Papier zu bringen. So etwas kann doch nicht funktionieren, oder? Und jetzt sehen Sie bitte mal her. Jedes Horoskop besteht zunächst aus einem Kreis, eine harmonischere geometrische Figur gibt es übrigens nicht. Kreise symbolisieren also die Vollkommenheit der göttlichen Ordnung. Da sie weder einen Anfang noch ein Ende haben, lehren sie uns, daß die Schöpfung etwas perfekt in sich Abgeschlossenes, ewig Seiendes ist. Capito?« 135
»Bis jetzt kann ich Ihnen noch gut folgen.« »Bene, machen wir also weiter. Wie Sie sehen, ist Ihr Horoskop durch den Tierkreis in zwölf gleich große Segmente aufgegliedert. Ferner ist erkennbar, daß hier und dort am Rand, der in 360 Grade unterteilt ist, die Planetensymbole eingezeichnet sind. So stand etwa die Venus zum Zeitpunkt Ihrer Geburt bei etwas mehr als fünf Grad im Zeichen Jungfrau, und der Jupiter bei fünfundzwanzig Grad im Skorpion, um nur zwei Beispiele anzuführen.« Die Signora war eine scharfe Beobachterin, und ein kurzer, prüfender Blick in Bernstorffs Gesicht machte ihr klar, daß sich dort erste Anzeichen von Verständnislosigkeit andeuteten. »Ich muß es wohl anders, noch viel einfacher ausdrücken«, meinte sie nachdenklich, kniff die Augen zusammen und lehnte sich im Stuhl weit nach hinten zurück. Hin und wieder bewegten sich ihre Lippen lautlos, und es war offensichtlich, daß sie versuchte, gedanklich etwas auszuformulieren. Während sie da so saß, körperlich vollkommen entspannt und zugleich geistig höchst aktiv und konzentriert, übte sie einen magischen Reiz auf Bernstorff aus. Der Wunsch, sie wenigstens für einen Moment nur ganz leicht zu berühren, vielleicht sogar noch mehr als das, wuchs plötzlich zu einem nicht mehr beherrschbaren Handlungsimpuls in ihm an. Da sie sehr dicht beieinander saßen, galt es nur wenige lächerliche Zentimeter zu überbrücken. Gleichwohl 136
spürte er eine unsichtbare Grenze oder auch Mauer zwischen ihren Körpern, eine Art schützendes Kraftfeld, dessen Überwindung eigentlich auszuschließen war. Trotzdem mußte er es versuchen, egal, welche Konsequenzen sich daraus ergeben würden. So begann er damit, seine Rechte vorsichtig von der Tischplatte abzuziehen. Noch hatte er sie zitternd kaum mehr als zwei oder drei Zentimeter fortbewegt, als die Signora, sie hielt ihre Augen nach wie vor fest geschlossen, »Finger weg!« sagte. Überraschend sanft, aber mit Nachdruck. »Für solche netten kleinen Dummheiten bin ich heute nicht aufgelegt. Eigentlich schade.« Sie blickte Bernstorff jetzt offen, und wie ihm schien, mit ehrlich gemeinter Sympathie eine Weile lang an. Dann kam sie auf das Thema Astrologie zurück. »Ich will versuchen, Ihnen die ziemlich komplexen Zusammenhänge in möglichst einfachen Bildern nahezubringen. Als Sie am fünften September 1959 um 15 Uhr 26 in Würzburg auf die Welt kamen, standen Sonne, Mond und die Planeten in bestimmten Positionen oben am Himmel. Der Computer hat das exakt berechnet und die Daten in eine grafische Darstellung umgesetzt, die wir Geburtshoroskop nennen. In dieser Zeichnung«, sie wies auf den vor ihnen liegenden Ausdruck, »ist Ihr gesamter Lebensplan, von der Geburt bis zum Tod, in einer verschlüsselten Symbolsprache dargestellt. Anders herum ausgedrückt, Sie sind der kon137
kret existierende Mensch, der diesem Lebensplan entspricht und ihm auch folgen muß.« »Dann ist der Mensch also unfrei?« »Diese Frage mußte natürlich kommen, weil wir uns alle am liebsten in der Rolle eines irdischen Schöpfergottes sehen, der sein Schicksal nach eigenem Willen und losgelöst von übergeordneten Gesetzen gestalten möchte. Die Dinge liegen aber ein wenig anders. Die Freiheit des Menschen besteht keineswegs darin, seinen Lebensplan umzuschreiben, obwohl das immer wieder von uns allen versucht wird. Allerdings ist das bisher noch jedesmal, und zwar ohne Ausnahme, voll danebengegangen. In Wirklichkeit besteht die Freiheit des Menschen nämlich darin, seinen einmaligen, nur für ihn bestimmten Lebensplan zu verstehen, ihn anzunehmen und dann in konkretes Handeln umzusetzen. Jeder von uns hat ausschließlich die schöne und höchst kreative Aufgabe, so zu sein, wie er von der Schöpfung gemeint ist.« »Klingt alles sehr einleuchtend, aber letzten Endes läuft es doch auf eine Glaubensthese hinaus, die erst noch bewiesen werden müßte …« »… Unsinn, ich rede hier von Wahrheiten, und die bedürfen keines Beweises! Wer glauben muß, ist ein armer Wicht, weil er absolut nichts weiß.« »Und wie kommt man zur Wahrheit, etwa durch Nachdenken?« 138
»Ganz im Gegenteil. Jedes Denken führt in die Irre und schließlich ins Chaos, jedenfalls wenn es darum geht, den eigentlichen Geheimnissen des Lebens auf die Spur zu kommen. Auch Schulen und Universitäten vermitteln kein echtes Wissen, sondern nur Kenntnisse, intellektuelle Fertigkeiten also. Die sind zwar wichtig, damit der Mensch die Welt im Äußeren verändern und bewältigen kann, aber für unsere innere Entwicklung haben sie keinerlei Bedeutung. Mein Gott, wieviel Zeit hat der arme Sokrates mit Nachdenken verschwendet, um dann am Lebensende zu der schlichten Einsicht zu kommen: ›Ich weiß, daß ich nichts weiß. Und nicht einmal das weiß ich ganz genau!‹ So funktioniert es also nicht. Wirkliche Wahrheiten sind Einsichten, zu denen man nicht über den Kopf gelangen kann. Als göttliches Geschenk kommen sie nur zu jenen Menschen, die gelernt haben, mit dem Herzen zu verstehen.« »Und Sie haben natürlich dieses wertvolle Geschenk …?« »… kein Wort weiter!« Die Signora strafte ihn mit einem vernichtenden Blick, war jedoch im selben Moment bereits wieder versöhnt und wandte sich von neuem seinem Horoskop zu. »Als erstes beurteilt der Astrologe immer die Sonnenstellung, weil sie Entscheidendes über Individualität, Vitalität, Lebensorientierung und Verwirklichungstendenzen der betreffenden Person aussagt. Übrigens hat Ihr Herr von Goethe mal in 139
einem sehr schönen Gedicht auf diesen Zusammenhang hingewiesen. Es beginnt ungefähr so: ›Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen, Die Sonne stand zum Gruße der Planeten, Bist alsobald und fort und fort gediehen Nach dem Gesetz wonach du angetreten. So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen, So sagten schon Sybillen, so Propheten; Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.‹ Ist das nicht großartig gesagt?« Bernstorff nickte. »Goethe hat sich also auch mit Astrologie beschäftigt?« »Und ob, auch wenn das die gelehrten Herren Germanisten immer wieder verdrängen, weil es nicht so recht ins offizielle Bild vom edlen und gescheiten Dichterfürsten paßt. Dabei ist etwa der ›Faust‹ in vielerlei Hinsicht nur für jene verständlich, die über astrologische Kenntnisse verfügen. Oder nehmen Sie doch mal Goethes Autobiographie ›Dichtung und Wahrheit‹ zur Hand. Er beginnt sie mit einer recht genauen Beschreibung seines Geburtshoroskopes. Eine Jungfrau war er, und etwa in Ihrem Alter hat er Venedig zum ersten Mal besucht. Er nannte die Stadt eine ›Biberrepublik‹. Hübsch gesagt, nicht wahr? Aber zurück zum Thema! Die Zeit drängt, und ohne weitere Abschwei140
fungen und Erklärungen werde ich Ihnen jetzt mal mit wenigen Sätzen sagen, was ich aus Ihrem Horoskop herauslese.« »Inzwischen bin ich auch wirklich gespannt darauf.« »Die Problematik Ihrer Existenz«, begann sie, »wurzelt in einer außerordentlich explosiven Spannung, die sich zwischen zwei extrem gegensätzlichen Polen Ihrer Persönlichkeit aufbaut. Einerseits sehe ich hier den kopfgesteuerten, kühlen Analytiker, der sich dem Leben, seinen Anforderungen und Geheimnissen mit scharfem Intellekt entgegenstellt. Aber Sie sind klug genug, um mindestens zu ahnen, daß alle Antworten, zu denen Sie schließlich gelangen, nichts anderes sind als neue, noch weitaus schwierigere Fragen. Weil Sie hartnäckig sind und sich regelrecht in etwas verbohren können, fangen Sie wieder von vorne an, natürlich mit dem gleichen Ergebnis. Ein zermürbender, wenig befriedigender Prozeß, nicht wahr? Da baut sich mit den Jahren eine Menge Frust auf, und die Folge davon sind Aggressionen, die natürlich unterdrückt werden müssen, weil Ihnen im emotionalen Bereich das Sicherheitsventil fehlt, über das der Mensch seelische Spannungen transformieren und als positive Energie nach außen abgeben kann, zum Beispiel in Form von Liebe. Sie aber versuchen mit aller Kraft, den siedenden Topf zu deckeln, und es ist völlig klar, daß er irgendwann hochgehen muß. Die dann freiwerdende Energie wäre 141
von Ihnen allerdings kaum noch zu kontrollieren. Prinzipiell gibt es nur zwei Möglichkeiten für eine Entladung: entweder nach innen oder nach außen. Im letzteren Fall wären Sie durchaus in der Lage, Menschen zu zerstören oder irgendein anderes Unheil anzurichten. Haben Sie mal Zeitungsberichte verfolgt, wenn gelegentlich über Amokläufer geschrieben wird? Im Grunde ist es immer die gleiche Geschichte. Ein bisher unauffälliger Mensch, der von Nachbarn und Freunden stets als ruhig, freundlich und hilfsbereit beschrieben wird, dreht plötzlich durch, nimmt sich ein Messer oder ein Gewehr und richtet ein Massaker an. Niemand, so erfährt der kopfschüttelnde Leser, hätte ihm das jemals zugetraut. Die zweite Möglichkeit einer Entladung kann sich so ausdrücken, daß Sie Ihre destruktive Energie gegen sich selbst richten, zum Beispiel in Form eines Selbstmordes. Ich gehe jede Wette ein, daß Ihnen dieser Gedanke nicht fremd ist.« Sie blickte ihren Gast fragend, fast liebevoll an, berührte seine inzwischen feuchte Hand mit einer beruhigenden Geste und fuhr dann fort: »So sah ja auch das Problem von Goethes Faust aus. Weil er auf seine brennendsten Lebensfragen keine Antworten fand, wollte er sich schließlich vergiften, also Selbstmord begehen. Er hat es dann doch nicht getan. Aber da die zerstörerische Energie nach wie vor in ihm schwelte, sie war ja nur unterdrückt, mußte sie 142
sich auf andere Weise entladen. Bekanntlich wurde das unschuldige Gretchen sein Opfer. Daß Faust alles mit dem Deckmantel der Liebe getarnt hat, war natürlich besonders pervers. Aber so ist es nun mal. Weil die wenigstens Menschen wirklich lieben können, bringen sie sich irgendwie um. Zumindest quälen sie sich, so gut es geht. Natürlich gibt es auch noch andere Möglichkeiten der Selbstzerstörung als den Suizid. Sie können etwa allmählich zum seelischen Krüppel und schließlich verrückt werden, oder ihre Psyche bringt eine Krankheit hervor, die den Körper nach und nach zerstört. Krebs zum Beispiel.« »Darf ich mal eine Zwischenfrage stellen?« bat Bernstorff leise. Er war blaß geworden und hatte große Mühe, seine Betroffenheit zu überspielen. »Unterbrechen Sie mich bitte nicht. Es ist auch ohne Bedeutung, ob Sie meine Gedanken gleich jetzt intellektuell erfassen und im Gedächtnis behalten. Vertrauen Sie einmal darauf, daß Ihr Unterbewußtsein sozusagen mitschreibt, und irgendwann wird es Sie mit allem, was ich Ihnen gesagt habe, konfrontieren.« Sie blickte kurz auf ihre Armbanduhr, offensichtlich erschrocken über die bereits weit vorangeschrittene Zeit, und fuhr dann mit ihrer Analyse fort. »Der Planet Neptun, er steht recht kritisch in Ihrem Horoskop, weist auf mangelnde Lebensorientierung und schwärmerischen Idealismus hin. Ideale sind ausnahmslos gefährlich, obwohl in Schulen 143
und Kirchen noch immer das Gegenteil gelehrt wird. Das Leben ist nun mal so, wie es ist, und jedes Ideal muß sich irgendwann mal als Täuschung herausstellen, natürlich mit entsprechenden Konsequenzen. Wer sich die Wirklichkeit nach den persönlichen Wunschvorstellungen ständig schönsieht, der hat sich die Selbstlüge zum Lebenspartner gemacht. Das ist wie eine Zeitbombe in der Tasche, und wehe, wenn sie hochgeht. Für Menschen wie Sie ist es ganz besonders wichtig, klare Lebensperspektiven zu entwickeln. Irgendein schlauer Mensch hat es mal so ausgedrückt: Wer das Ziel nicht kennt, kann den Weg nicht gehen! Ein paar Worte noch zu Ihrem Saturn. Offensichtlich wurden Sie einige Tage nach der Zeit geboren, Kaiserschnitt?« Bernstorff nickte stumm. »Das sind Menschen, die eigentlich nicht auf die Welt wollen, weil sie sich nur schwer oder gar nicht von der Mutter lösen können. Oder aber, das wäre die Kehrseite der Medaille, die Schwangere will ihr Kind nicht hergeben. Wie auch immer, dieses Problem setzt sich dann bei den Betroffenen im späteren Leben häufig fort. Bei Ihnen hat es dazu geführt, daß Sie auf Grund der nicht vollzogenen inneren Ablösung einen unterschwelligen Haß auf Frauen im Herzen tragen. Erst wenn Sie die unsichtbare Nabelschnur, durch die Sie noch immer an Ihre Mutter gekettet sind, endgültig durchtrennt haben, sind Sie frei und müssen das Weibliche nicht mehr ab144
lehnen, sondern können es dann endlich annehmen und lieben. Aus Abhängigkeiten heraus kann sich niemals Liebe entwickeln. Letztendlich werden wir alle geboren, um frei zu sein. Sie aber kämpfen noch immer gegen Ihre Mutter, obwohl, wie ich hier sehe, die Frau bereits tot sein muß.« »Was, bitte, sehen Sie da?« »Ihre Mutter«, sie blickte noch einmal prüfend über die Zeichnung, »müßte etwa vor einem Jahr gestorben sein. Stimmt doch, oder?« Da er nicht antwortete, Betroffenheit hinderte ihn daran, fügte sie hinzu: »Und geerbt haben Sie auch ganz flott. Jupiter hat Ihr Todeshaus günstig bestrahlt. So konnten Sie einerseits erhebliche finanzielle Gewinne einstreichen, und andererseits hat Ihnen das Schicksal die Chance gegeben, sich endlich von Ihrer Gebärerin abzulösen. Darin liegt eine große Chance, die Sie nutzen sollten. Freilich ist zunächst kaum etwas damit gewonnen, daß die Mamma jetzt real nicht mehr existiert. Ihr physischer Tod nützt Ihnen wenig, wenn es Ihnen nicht gelingt, die sicherlich nach wie vor noch vorhandenen seelischen Fesseln zu durchtrennen. Es gibt schicksalhaft tragische Verbindungen, die über den Tod hinaus weiter bestehen und dann verdammt zerstörerisch sein können. Sie kennen sicherlich die Sage vom thebanischen Königssohn Ödipus?« Er nickte und wollte dann natürlich wissen, was ein Todeshaus ist. 145
»Jedes Horoskop ist in zwölf unterschiedlich große Kreissegmente unterteilt«, erklärte sie, »ähnlich wie bei einer aufgeschnittenen Torte. Das sind die sogenannten zwölf Häuser. Jedes von ihnen steht symbolisch für einen bestimmten Lebensbereich, etwa für Partnerschaft, Beruf, Gesundheit u.s.w. Das achte Haus, von dem ich gerade gesprochen habe, nennt man auch Todeshaus. Das klingt zwar zunächst sehr bedrohlich, aber nur dann, wenn wir den Tod mit einem absoluten Ende gleichsetzen. Dabei markiert er lediglich den Übergangspunkt zwischen einer abgeschlossenen und einer neu beginnenden Phase. In uns kann nichts Neues entstehen, bevor nicht das Bisherige, an dem wir meistens ängstlich festklammern, Raum für neue Entwicklungen gemacht hat. Oder können Sie etwa in ein bereits übermöbliertes Zimmer noch weitere Schränke, Tische und Stühle hineinstellen? Natürlich nicht! Zunächst muß der alte Krempel rausgeworfen werden. In diesem Sinne lehrt uns das Todeshaus, und in Ihrem Horoskop hat es eine besonders große Bedeutung, immer wieder, von etwas Altem Abschied zu nehmen, um Neues möglich zu machen. Der einzige Sinn des sogenannten Sterbens liegt darin, Raum für neues Leben zu schaffen. Für Sie persönlich heißt das ganz konkret: Abschied nehmen von der Mutter und zugleich Versöhnung mit dem weiblichen Prinzip! In Ihrem Horoskop spielt dieses angesprochene Thema eine sehr wichtige Rolle. Also müssen Sie immer wieder viele kleine Tode im Le146
ben sterben, um anschließend, wie der Phönix aus der Asche, neu geboren zu werden.« »Waren Sie mal längere Zeit in Indien?« wollte Bernstorff wissen. Die Signora hatte Mühe, sich nicht totzulachen. »Wie kommen Sie denn darauf, mein Lieber? Wenn man irgendeine banale Weisheit ausspricht, dann meinen die Leute immer, man habe sie von irgendeinem fernöstlichen Aussteigertrip mitgebracht. Quatsch! Indien, das ist doch in vielerlei Hinsicht nur ein gigantisches Flüchtlingslager für seelisch frustrierte Mitteleuropäer und Amerikaner. Die Wahrheit kommt auch in Würzburg, Venedig oder Amsterdam zu Ihnen. Vorausgesetzt allerdings, Sie öffnen Ihr Fenster, weil sonst der Wind nicht hereinkommen kann. Sie verstehen, was ich meine?« Er nickte. »Und jetzt abschließend ein paar letzte Worte zu Ihrer aktuellen Lebenssituation. Stellen Sie sich einen Zug vor, der auf eine Weiche zurast. Fährt er in der bisherigen Richtung weiter, dann wird es eine Katastrophe geben, denn das alte Gleis führt in den Abgrund. Aber jetzt und hier in Venedig, in den nächsten Tagen, wie ich sehe, haben Sie die Möglichkeit, die Fahrtrichtung zu ändern. Vorausgesetzt allerdings, es klappt mit der Weichenstellung. Morgen oder in einer Woche, vielleicht sogar schon heute abend, kann das Schicksal Ihnen eine faire Chance anbieten. Die gälte es zu nutzen.« 147
»Wie könnte das aussehen?« »Die Lösung kann nur in der Auseinandersetzung mit dem liegen, was Sie bisher als Lernprozeß abgelehnt haben. Vielleicht lernen Sie eine Frau kennen, die Ihnen dabei helfen kann, ein wichtiges Kapitel Ihres Lebens aufzuarbeiten, wer weiß? Ideal wäre da eine Krebs-Frau für Sie, aber fragen Sie mich jetzt bitte nicht, warum das so ist. Hier«, fuhr sie fort, und breitete ein Kartenspiel verdeckt über die Tischplatte aus, »tippen Sie mal mit dem linken Zeigefinger auf irgendein Blatt. Aber bitte spontan und ohne Überlegung, denn intellektuelle Leistungen sind jetzt nicht gefragt!« Bernstorff folgte ihrer Anweisung. Sie zog die von ihm berührte Karte, ohne sie anzuschauen, zu sich, faltete sie sorgsam in ein Stück weißes Papier und steckte ihm das Orakel in die Seitentasche seines Jacketts. Danach stand sie ziemlich abrupt auf und deutete mit einer Bewegung an, daß ihr Gespräch nunmehr beendet war. Im Erdgeschoß begleitete sie ihn durch das Halbdunkel des verschlungenen Ganges, der ihm diesmal wie ein Gebärkanal vorkam, bis an die Tür. Mit Blicken verabschiedeten sie sich dort wortlos voneinander. Als er hinaus in die schmale Gasse trat, stürzte gleißend das Licht wie aus tausend Himmeln auf ihn herab, so daß er seine Augen mit vorgehaltener Hand eine Weile lang schützen mußte.
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6. Kapitel
Wie ein orientierungslos Flüchtender irrte Thomas Bernstorff durch das zu dieser Tageszeit nahezu menschenleere Viertel – Siesta! Die Hitze klebte wie Pattex an seinem Körper. So gut es ging versuchte er, sich ihr zu entziehen, indem er jeden sich bietenden, auch noch so schmalen Schattenstreifen entlang der Häuserfronten nutzte. Gesprächsfetzen, Eindrücke und Gefühle der zurückliegenden Stunden verknäulten sich in seinem Bewußtsein zu einem unentwirrbaren Geflecht von Gedanken, Fragen und Ängsten. Zweifellos, die Signora hatte ihm Wahrheiten um die Ohren gehauen, an denen es nichts zu rütteln gab. Sie hatte an alten Narben gekratzt, die sich über längst noch nicht verheilten Wunden geschlossen hatten. Woher, verdammt noch mal, wußte sie das alles? Zufall? Ausgeschlossen, entschied er. Andererseits war für ihn nicht glaubhaft nachvollziehbar, daß die durchaus zutreffende Charakterisierung seiner komplexen Persönlichkeit das Ergebnis einer astrologischen Analyse sein konnte. Fragen über Fragen, aber keine Antworten, die irgendeinen Sinn machten. Mit Hilfe seines Stadtplans, der wie alle diese genial und wenig praktisch gefalteten Orientierungshilfen nur 149
mit weit gespreizten Armen zu beherrschen war, erreichte Bernstorff, nach mehrfachen Verirrungen im Labyrinth der Gassen von Cannaregio, schließlich die Anlegestelle an den Fondamente Nuove. Kaum mehr als ein Dutzend Touristen hatten sich dort für die Überfahrt nach Torcello eingefunden und erwarteten den Vaporetto. Er hatte sich bereits auf Sichtweite genähert und machte kurz darauf fest. Da die wenigen luftigen Stehplätze auf dem Oberdeck schon mit Passagieren, Koffern, Rucksäcken und anderem sperrigen Reisegepäck zugestellt waren, mußte Bernstorff notgedrungen nach unten gehen. Der vom Sonnenlicht erbarmungslos aufgeheizte, dumpfige Fahrgastraum war gut gefüllt, aber im hinteren Bereich fanden sich noch mehrere unbesetzte Plätze. Erschöpft ließ sich Bernstorff auf eine dieser wenig komfortablen Holzbänke fallen. Hier unten nagelte der Schiffsdiesel brutal seinen gleichförmigen Rhythmus. Es roch nach Apfelsinenschale, Öl und einem süßlichen Deodorant. Ihm wurde übel, und er wollte darum eines der vom Salzwasser milchig verkrusteten Schiebefenster öffnen, was jedoch sofort den Widerspruch einer älteren, bläßlichen Dame hervorrief. Erregt und offensichtlich von panischen Ängsten getrieben, belehrte sie ihn über die absolute Gefährlichkeit von Zugluft und Winden jeglicher Art. Sie entpuppte sich als Kapazität bezüglich aller durch Luftbewegungen ausgelösten Gesundheitsprobleme. In 150
diesem Zusammenhang warnte sie ihn eindringlich davor, etwa ohne sorgsam geschützte Halspartie über den Hamburger Jungfernstieg zu gehen, was bei leichtsinnigem Verhalten unweigerlich zu einer eitrigen, in der Regel doppelseitigen Angina führen müsse. In München dagegen, vor allem auf der Prinzregentenstraße sowie auf den Isarbrücken, gelte es mehr, den Kopfbereich, insbesondere die Schläfen, vor föhnigen Fallwinden zu schützen. Diese wären in der Lage, geradezu schlagartig allerschlimmste Migräneattacken auszulösen. Natürlich hatte das arme Geschöpf seinen Lebensgefährten durch heimtückische Zugluft verloren. Eindrucksvoll wurde geschildert, wie das Ehepaar vor Jahren in einem Ferienhaus auf Sylt den Urlaub verbrachte, bis das Entsetzliche, ja Unvermeidbare geschehen mußte. Ihr Mann habe damals, in einem von ihr nicht kontrollierten Moment, abends kurz das Haus verlassen, um einige leere Flaschen im Grünglascontainer auf der gegenüberliegenden Straßenseite zu entsorgen. Ein böiger Nordostwind habe ihn damals, sozusagen in Sekundenschnelle, derart unterkühlt, daß er noch in derselben Nacht an einer Lungenentzündung gestorben sei. Bernstorff, der ihrem nervenden Redefluß minutenlang mit wachsenden Unlustgefühlen zugehört hatte, brachte sie mit einer unverhüllt ironischen Bemerkung zum Schweigen. »Ihre Kompetenz auf diesem Spezialgebiet ist beeindruckend. Vielleicht sollten 151
Sie Ihr Wissen in einer Selbsthilfegruppe für Zugluftgefährdete einer breiteren Öffentlichkeit zur Verfügung stellen!« Die Dame verabschiedete sich daraufhin mit einem vernichtenden Blick von ihm, drehte sich brüsk um und legte sich schützend einen breiten wollenen Schal über die Schultern. Bernstorff lehnte sich amüsiert und erleichtert in seinem Sitz zurück und musterte dann zunächst, wie es seine Art war, das übrige mitreisende Publikum. Nach kurzer Inspektion kam er zu der Einschätzung, daß es sich um die zu erwartende, klassische ›Venedigmischung‹ handelte. Im oberen, luftigen Bereich genossen einige Einheimische das Privileg, vom kühlenden Fahrtwind profitieren zu dürfen. Unten, im eisernen Schiffsbauch, schmorte die Touristenklasse, die, wie Bernstorff befand, mehrheitlich aus einer größeren Gruppe pensionierter deutscher Lehrerinnen zu bestehen schien. Fast alle der Damen hatten sich andächtig schweigend in ihre Reiseführer vertieft, um die vierzig Minuten bis zur Ankunft auf Torcello gewinnbringend zu nutzen. Einige wenige von ihnen waren auch anders beschäftigt, indem sie etwa eine Banane abzogen, Eintragungen im Reisetagebuch vornahmen oder ihre vom Schweiß verflüssigte Wimperntusche erneuerten. Dazwischen ein junges japanisches Paar, möglicherweise auf Hochzeitsreise. Trotz der Hitze saßen sie eng umschlungen da, hatten ihre patschnassen Händchen 152
ineinander gelegt und blickten sich unentwegt verliebt und stumm an. Nur hin und wieder kicherten sie leicht verschämt, wobei sie sich jedesmal ein wenig duckten und anschließend dann noch enger zusammenrückten. Während Bernstorff die beiden mit wachsender Aufmerksamkeit unauffällig beobachtete, beschlich ihn die unerklärliche Ahnung, daß sie durch ein schicksalhaftes Einverstandensein miteinander verbunden waren. Einem plötzlichen Impuls folgend, griff er in der Seitentasche seines Jacketts nach der Spielkarte, die ihm die Astrologin beim Abschied zugesteckt hatte. Das auf der Vorderseite abgebildete Motiv versetzte ihn augenblicklich in Panik. Der Tod, in eine schwarze Ritterrüstung gekleidet, ritt auf einem Schimmel durchs Land und blickte ihm grimmig entgegen. Auf einer Standarte, die er mit der linken Hand hielt, waren ein geheimnisvolles Symbol sowie die Zahl zwölf in römischer Schreibweise dargestellt. Zu Füßen des Pferdes, über einem Acker verstreut, erkannte er Sterbende. Rechts im Hintergrund, vor der aufgehenden Morgensonne, stand in leuchtend gelbem Gewand eine Person, möglicherweise eine Königin, die segnend beide Arme ausbreitete. Am unteren Rand der eher kindlich naiven Darstellung bildete der Schriftzug ›Death‹ den Abschluß. Eine Weile lang blickte er abwechselnd immer wieder auf dieses Bildorakel und hinüber zu dem Liebespaar, ohne daß er auch nur den geringsten Zusam153
menhang zwischen der Karte und den beiden jungen Asiaten herzustellen vermochte. Die restlichen Mitreisenden erregten sein Interesse kaum, abgesehen von einem bayrischen Einzelgänger gehobenen Alters. Vom Filzhut bis zur ledernen Kniebundhose hatte sich diese gesunde, kräftige Erscheinung offensichtlich auf die Besteigung eines Zweitausenders eingestellt, unter völliger Mißachtung der Tatsache, daß sich der Boden Torcellos kaum mehr als fünf Meter über den Meeresspiegel erhob. Während der gesamten Überfahrt stärkte sich dieser Mann durch unförmig geschnittene Streifen aus Hartkäse, die er mit einem aufwendig verzierten Taschenmesser von einem faustgroßen Stück abschnitt. Im übrigen war er nicht ganz allein auf Reisen gegangen, sondern in Begleitung seines Hirtenhundes. Das völlig apathische, hyperventilierende Tier hatte sich, platt wie eine Scholle, auf den Boden des Mittelganges gedrückt. Noch niemals in seinem Leben, so dachte Bernstorff, hatte er einen derart großen und zugleich so extrem flachen Hund gesehen. Er drehte sich um und schaute durch das breite Heckfenster nach draußen. Von der Hitze erschöpft schwappte das resedagrüne Meer träge in der Lagune. Seeschwalben und Silbermöwen strichen mit nervösem Flügelschlag dicht über das Wasser dahin. Hier und dort standen Fischer im kniehohen Wasser und kont154
rollierten ihre Reusen, in der Ferne dampfte ein schmuckes Fährschiff der Minoan-Lines mit Kurs auf Patras majestätisch davon. Nachdem der Vaporetto sein Ziel erreicht und festgemacht hatte, ließ sich Bernstorff mit dem Aussteigen reichlich Zeit, und so wurde er auf natürlichste Weise von den anderen Mitreisenden getrennt. Lärmend entfernten sie sich ungeduldig und äußerst hastig, offenkundig versiert in der Technik, wie man sich einen touristischen Leckerbissen im Schnellverfahren einverleiben und anschließend rasch wieder verschwinden kann. Nur hin und wieder blieb der eine oder andere von ihnen für Momente zurück, um einen Fotoapparat, wahllos wie es schien, in irgendeine Richtung zu halten und abzudrücken. An einem Aushang informierte er sich zunächst über die Möglichkeiten zur Rückkehr nach Venedig. Dann bog er in den schmalen Fußweg ein, der entlang eines Seitenkanals zum einzigen Campo der Insel führte. Bereits nach wenigen Schritten hatte ihn der spröde Charme dieser sanften Insel fasziniert, die sich still und unauffällig in das Labyrinth der lagunaren Wasserlandschaft einfügte. Karger Bewuchs von Buschwerk und wenigen stattlichen Bäumen säumte den Weg. Hier und da Durchblicke auf schlammige Kanäle zwischen verwilderten Gärten, in denen Artischocken, Bohnen, Tomaten und anderes Gemüse sich im Kampf gegen 155
Wildwuchs von strähnigem Gras zu behaupten versuchten. Ein Gelände, das aus den sumpfig versalzten Marschen auftauchte wie am ersten Schöpfungstag, aber befallen von der Trauer eines unwiderruflichen Endes. Kaum noch vorstellbar, daß es hier, als Urkeimzelle der späteren venezianischen Kultur, einst eine blühende Stadt mit dreißigtausend Einwohnern gegeben hatte, mit prachtvollen Palästen, Klöstern, Werften, Häfen und an die zwanzig Kirchen. Jetzt lebten kaum noch mehr als vierzig Menschen auf der Insel. Wenn man aus dem mit Menschenmassen prall gefüllten Venedig kam, dann wurde die Ruhe Torcellos als großes Geschenk empfunden. Nur gelegentlich erinnerten die donnernden Triebwerke eines in der Ferne, vom Airport Marco Polo startenden Jets daran, daß die Zeit hier nicht wirklich stehengeblieben war. Während seines kurzen Spaziergangs zum Zentrum der Insel, vorbei an der alten brüstungslosen Steinbrükke mit dem rätselhaften Namen Ponte del Diavolo und einem halbverfallenen, romantischen Gehöft, konnte Bernstorff eine Empfindung Hemingways verstehen, von der er in seinem Reiseführer gelesen hatte. Der Dichter, er jagte hier während der Wintermonate gelegentlich nach Sumpfenten, hatte einmal bekannt, auf Torcello müsse man demütig werden. Der Platz vor der achteckigen Kirche Santa Fosca, die er sich ansehen wollte, erwies sich als ein Campo 156
im ursprünglichen Sinn, nämlich als grasbewachsenes Feldstück. Links im Hintergrund die Kathedrale Santa Maria Assunta, daneben kaum ein halbes Dutzend historische Gebäude, die Zeugnis vom früheren Glanz der Insel ablegten. Hier und dort auch einzeln stehende Zypressen, ein wenig kränkelnd streckten sie sich dem milchig blauen Himmel entgegen. Da die Kirche wegen einer Trauung vorübergehend nicht besichtigt werden konnte, rastete Bernstorff zunächst unter den schattigen Arkaden des kleinen Palazzo del Consiglio und beobachtete mit gedämpftem Interesse das Treiben der einschwärmenden Reisegruppen. Ermattet, lustlos und etwas enttäuscht, wie es ihm schien, schleppten sich viele der Teilnehmer durch die Hitze des späten Nachmittags. Schließlich trat das frisch vermählte Paar aus dem dunklen Portal der Kirche hervor, von den geladenen Gästen umschwärmt, beküßt und herzlich umjubelt. Auf der kleinen Treppe vor dem Säulengang sammelten sich alle zum Hochzeitsfoto, das erst nach laut und leidenschaftlich geführter Diskussion über die angemessenste Art der Gruppierung zustande kam. Anschließend strömte die Gesellschaft zur nahegelegenen Locanda Cipriani, dem einzigen Restaurant auf Torcello, hinter dessen schlichter Fassade sich eines der exklusivsten Speiselokale Venetiens verbirgt. Bernstorff ging hinüber zur Kirche, trat ein und war von der feierlichen Schlichtheit des Inneren sofort ein157
genommen. Der nahezu schmucklose Raum beeindruckte ausschließlich durch das harmonische Zusammenspiel architektonischer Elemente und Linienführungen, die sich in der weiten Kuppel zentrierten. Es roch nach Weihrauch, verloschenen Kerzen und welkenden Sommerblumen. Für einen Moment glaubte er, allein zu sein. Doch dann vernahm er Geräusche, die seine Aufmerksamkeit weit nach vorne lenkten, auf ein schmales Metallgerüst, das entlang dreier Marmorsäulen in die Apsis hineinführte. Unauffällig, im Schutz des Halbdunkels, setzte er sich auf eine der hintersten Bänke. Nachdem sich seine Augen ein wenig an die veränderten Lichtverhältnisse angepaßt hatten, erkannte er oben auf dem Gerüst eine junge Frau, die sich intensiv mit dem Studium der korinthischen Kapitelle beschäftigte. Ganz offensichtlich ging es ihr darum, die eleganten Steinmetzarbeiten in allen Proportionen und Feinheiten auf das genaueste zu vermessen und untereinander zu vergleichen. Gelegentlich nahm sie eine Lampe zur Hand, um Details auszuleuchten, machte sich Notizen oder auch kleine Skizzen. Bernstorffs wachsende Aufmerksamkeit erweckte sie allein schon auf Grund der Tatsache, daß sie sich äußerst elegant und dabei völlig natürlich und ungekünstelt in luftiger Höhe zu bewegen verstand. Ihre Art, etwa mit leicht gespreizten Oberschenkeln in die Hocke zu gehen, sich wieder aufzurichten, den Kopf herumzuwerfen oder mit ir158
gendeinem Gerät zu hantieren, faszinierte und erregte ihn. So hatte er sich bereits nach wenigen Minuten in diese schlank gewachsene, wohl proportionierte Frau vergafft, richtiger gesagt, in ihren Körper und seine Bewegungen. Denn ihre Gesichtszüge hatte er bisher wegen der trennenden Distanz nicht einmal andeutungsweise beurteilen können. Er war entschlossen, noch an diesem Abend ihre Bekanntschaft zu machen, vielleicht sogar mehr. Während sich Bernstorff noch Gedanken darüber machte, wie sich der beabsichtigte Flirt wohl am geschicktesten und mit der größten Aussicht auf Erfolg einfädeln ließe, drehte sich das Ziel seiner Begierde herum, blickte auf ihn herab und sprach ihn mit erstaunlich tiefer Stimme in bestem Hochdeutsch an: »Sind Sie hier vielleicht in der falschen Vorstellung?« Trotz dieser Überrumpelung wollte er, um sie zu beeindrucken, möglichst schlagfertig und witzig antworten. Aber ihm fiel so schnell nichts Intelligenteres ein, als schlicht zu fragen: »Wie meinen Sie das?« Aus dem Bedürfnis heraus, wenigstens eine Spur nachzubessern, fügte er schnell noch hinzu: »Ich möchte Sie natürlich keinesfalls bei Ihrer Arbeit stören. Falls Sie lieber allein und in völliger Ruhe …« »Nein, nein, darum geht es nicht«, unterbrach sie ihn. »Es ist nur ungewöhnlich, daß sich hier jemand so lange aufhält wie Sie, und noch dazu allein. Die mei159
sten Touristen interessieren sich doch eher für die Basilika nebenan und für das wunderschöne Mosaik in der mittleren Apsis. Waren Sie drüben noch nicht?« »Nein, ich mag keine Mosaiken.« »Und warum nicht?« Froh darüber, so unverhofft und problemlos mit ihr ins Gespräch gekommen zu sein, löste sich seine anfängliche Blockade. Er stand auf, und während er langsam einige Schritte auf sie zuging, sprudelte es nur so aus ihm heraus. »Es gibt da eine ganze Menge Gründe für meine Abneigung. Wissen Sie, als ich Kind war, zwang mich meine Mutter regelmäßig dazu, riesige Puzzles zusammenzusetzen. Angeblich sollte das der Entwicklung meines visuellen Vorstellungsvermögens dienen. In Wahrheit aber wollte sie nur ihre Ruhe haben, und sie schloß mich dann jedesmal so lange in mein Zimmer ein, bis ich alles zusammengesetzt hatte. Nie durfte ich mich mit demselben Puzzle ein zweites Mal beschäftigen, das wäre ihr nämlich zu schnell gegangen. Daher bedrohte sie mich stets mit anderen, komplizierteren und immer größeren Exemplaren. Vielleicht können Sie verstehen, daß mich Mosaiken in gewisser Hinsicht an diese schrecklichen Berge ausgestanzter Bildteilchen erinnern.« Bernstorff machte eine kurze Pause, um ihr Gelegenheit zu geben, das Gespräch zu übernehmen. Da sie jedoch schwieg und er auf jeden Fall vermeiden wollte, daß eine zu lange, 160
möglicherweise trennende Pause entstand, nahm er den Faden schnell wieder auf. »In gewisser Hinsicht habe ich auch ästhetische Probleme mit dieser Kunstform, obwohl ich zugeben muß, daß viele Darstellungen allein schon wegen ihrer Leuchtkraft bewundernswert sind. Aber mich stört das Plakative, alles wirkt immer sehr statisch, ja steif, weil die Raumdimension fehlt. Bei der Ikonenmalerei, die ich auch nicht besonders mag, ist es ja ähnlich. Und etwas anderes, für mich Abstoßendes, kommt noch hinzu. Die dargestellten Menschen wirken fast immer ernst oder traurig, manchmal sogar böse und depressiv, auf jeden Fall irgendwie leidend und von allen Freuden des Lebens abgeschnitten. Denken Sie doch nur mal an die Apostelgruppe in der Basilika nebenan, ich habe sie mir im vergangenen Jahr angesehen. Da sitzen die zwölf Herren wie blutarme Vegetarier in einer Reihe, allesamt mit vergrämtem Gesicht, und wollen die Welt mit einer frohen Botschaft beglücken. Sogar die Engel im Hintergrund sind zutiefst deprimiert, also reif für die Couch. Im Christentum ist viel zu wenig Fröhlichkeit, finden Sie nicht auch? Natürlich gibt es auch andere Beispiele, etwa das wunderschöne Triptychon von Bellini in der FrariKirche. Das sind Menschen aus Fleisch und Blut, sie drücken alles aus, was zum Leben gehört: Ernst und Heiterkeit, Strenge und Güte, Würde und Demut.« Inzwischen war sie über eine schmale Aluminium161
leiter zu ihm herabgestiegen, und sie hatten sich einander schrittweise auf wenige Meter genähert. Er konnte endlich ihr Gesicht betrachten, in dem sehr weibliche Züge mit dezent angedeuteten männlichen Akzenten eine harmonische Symbiose bildeten. Ihre leicht erhöht stehenden, etwas nach außen gerichteten Backenknochen, die den Blick auf schön geformte Ohren lenkten, schienen auf slawischen Ursprung hinzuweisen. Die schlanke, eher männliche, aber keineswegs grobe Nase führte zu einer weichen, sehr femininen Mundpartie, die ihrerseits wieder im Kontrast zum eher herben Kinn stand, das eine gesunde Portion Durchsetzungsvermögen signalisierte. Über allem eine hohe Stirn, in die sie Strähnen ihres mittelblonden, leicht gewellten Haars hineingekämmt hatte, sowie ein grüngraues, strahlendes Augenpaar, fröhlich und wach und doch mit jenem Anflug leichter Melancholie und Trauer versehen, der auf erhöhte Verletzbarkeit schließen ließ. Jetzt streckte sie ihm die Hand entgegen. »Vanessa«, sagte sie, worauf auch er sich vorstellte und hinzufügte: »Ein seltener, vielversprechender Name!« »Was verspricht er Ihnen?« wollte sie wissen. »Hoffentlich nichts, was er dann später nicht halten kann.« »Wie meinen Sie das?« »War nur so dahingesagt. Übrigens, am liebsten würde ich Marlene zu Ihnen sagen, sind Sie einverstanden?« 162
»Verspricht Marlene etwa noch mehr als Vanessa?« »Nein, natürlich nicht.« Beide mußten sie herzlich lachen, dann fuhr er fort: »Ich habe manchmal die merkwürdige Angewohnheit, Menschen spontan mit irgendeinem Namen zu belegen. Seitdem ich Ihnen vorhin eine Weile lang zugeschaut habe, heißen Sie bereits Marlene, jedenfalls für mich.« »Der Herr scheint ja ganz schön vereinnahmend zu sein. Habe ich Sie vielleicht an die Dietrich erinnert?« Ihre Frage war keineswegs frei von Eitelkeit. »Das kann durchaus so sein.« »Gut, dann sehen Sie mir jetzt mal tief und prüfend in die Augen!« Unbekümmert trat sie so dicht an Bernstorff heran, daß er die von ihrem Körper abgestrahlte Wärme deutlich spürte. Er unterdrückte seine Erregung sowie das machtvolle Bedürfnis, die Frau einfach spontan und leidenschaftlich an sich zu ziehen. So blieb es bei dem von ihr geforderten Blickkontakt, dem er eine Weile lang tapfer standhielt. »Und?« fragte sie ihn schließlich. »Ist Ihnen nichts aufgefallen?« »Doch, schon, Sie haben ungewöhnlich schöne Augen!« »Darum ging es mir nicht …« »Worum sonst?« »Die Dietrich hat geschielt, aber ich tue das nicht!« Abermals mußten beide herzlich und anhaltend la163
chen, wobei sie sich mehrfach mit ihren gestikulierenden Händen leicht berührten. Bernstorff erkundigte sich nun nach ihrem Beruf, obwohl für ihn bereits feststand, sie müsse wohl Kunstgeschichte oder etwas Ähnliches studiert haben. Marlene überraschte ihn jedoch mit der Auskunft, sie arbeite als selbständige Designerin. Da er diesen Beruf nicht unbedingt mit ihrer momentanen Tätigkeit in Beziehung setzen konnte, bat er sie um eine Erklärung. »Ästhetik und damit auch Schönheit«, begann sie fast akademisch, »sind immer der sichtbare Ausdruck einer mathematischen Gesetzmäßigkeit, die dahinter steht. Sicherlich haben Sie mal vom Goldenen Schnitt gehört, den man in der räumlichen Gestaltung vieler berühmter Bilder nachweisen kann. In dieser Kirche auf Torcello versuche ich nun, dem Harmoniegeheimnis dieser Säulen auf die Spur zu kommen. Ich vermesse unter anderem Abstände, Winkel oder auch Proportionen und versuche dann, aus den Meßergebnissen mathematische Formeln abzuleiten. Damit füttere ich dann ein von mir entwickeltes Computerprogramm, das mich bei der Entwicklung von neuem Design unterstützt. So, und jetzt geht’s ab nach oben, weil ich diese Stellage morgen auf jeden Fall abbauen lassen muß. Und bis dahin gibt es noch jede Menge zu tun!« Sie schaltete zwei Halogenstrahler an und stieg dann wieder hinauf zu ihrer Arbeit. 164
Nach Bernstorffs Geschmack endete der gerade eben locker geknüpfte, aber durchaus vielversprechende Kontakt reichlich abrupt. Mehrere Versuche, das Gespräch von neuem zu beleben, scheiterten daran, daß sie sich nicht mehr von ihrer Tätigkeit abhalten ließ. So bewegte er sich nach langem Zögern ziemlich deprimiert auf den Ausgang zu, drehte sich noch einmal um und rief ihr zu: »Marlene, falls du Lust haben solltest, mich wiederzusehen, ich bin spät abends fast immer im VinoVino. Also?« Um ein Signal zu setzen, hatte er sie ganz bewußt geduzt. Da sie jedoch nur wortlos mit einer flüchtigen, wenn auch freundlichen Handbewegung reagierte, erklärte er die Schlacht für verloren. Die Weiber sind nun mal alle gleich, dachte er verärgert und trat mißmutig ins Freie. Der Tag hatte sich erschöpft, Abendstimmung schlich sich in die Lagune ein. Im Westen dämmerte es purpur, rosé und glutrot. Die Sonne feierte ihren Untergang mit einem kurzen, berauschenden Fest aus irisierenden Farben, Lichtspielen und Wolkengestalten, über das Neptun einen zarten Dunstschleier gezogen hatte. Bernstorff ging in die Mitte des weiten Platzes, der jetzt fast menschenleer war. Nur vereinzelt huschten noch Tagestouristen umher, machten allerletzte Aufnahmen mit ihren Kameras oder suchten nach Orientierung, weil sie den Anschluß an ihre Gruppe verloren hatten. Die Ruhe auf dem Campo schien ihm 165
eine trügerische, ja unheilvolle zu sein. Sie war überlagert von einer diffusen Stimmung, die auf irgend etwas Entsetzliches hinzuweisen schien. Durch eine dunkle Ahnung angetrieben, hastete er hinüber zur Basilika und dann entlang des Säulenganges in Richtung zur Anlegestelle, wo die Ausflugsschiffe der Gruppenreisenden festmachten. Als er das linke Seitenschiff der Kirche erreicht hatte, sah er, daß an dessen anderem Ende, gegenüber des etwas abseits stehenden Glockenturmes, eine größere Menschenmenge zusammengelaufen war. In merkwürdig andachtsvoller Stille standen sie da und hatten einen weiten, schweigenden Kreis gebildet. Gelegentlich flammte ein Blitzlicht auf, und nachdem Bernstorff schließlich nähergekommen war, konnte er auch einige Männerstimmen hören, die, mit offensichtlich amtlichem Tonfall, irgendwelche Anweisungen gaben und beruhigend auf die betroffen herumstehende Gruppe einredeten. Mit gemischten Gefühlen registrierte er, daß auch Benedettis warme Baritonstimme darunter war. Einem ersten Impuls folgend, wollte er sich schnell wieder davonmachen, aber dann blieb seine Neugierde doch Sieger, und er schob sich behutsam zwischen den eng aneinandergedrängten Gaffern ganz nach vorne. Im grellen Licht zweier Polizeischeinwerfer sah er, wenige Meter von der Turmmauer entfernt, zwei Menschen auf dem Boden liegen, beide offenbar tot. Kein Zweifel, es handelte sich um das 166
junge japanische Paar, dem er vorhin auf dem Schiff begegnet war. Die beiden waren, wie er von einer mit allen Einzelheiten bestens vertrauten, älteren Dame im Flüsterton erfuhr, gemeinsam vom Turm gesprungen. Eng und innig umschlungen, so ihre Darstellung, seien sie stumm in die Tiefe gestürzt, wo der heftige Aufprall sie dann brutal auseinandergerissen und getrennt habe. »Heilige Mutter Maria«, schluchzte sie, »man sollte sie wieder zusammenlegen. Es war doch ihr innigster Wunsch, im Tod vereint zu sein, finden Sie nicht auch?« Bernstoff nickte ihr stumm zu, wandte sich dann ab und drängte durch die allmählich sich auflösende Ansammlung nach hinten. Plötzlich spürte er eine Berührung auf der rechten Schulter. Benedetti war ihm nachgegangen und bat ihn einige Schritte zur Seite. »Signore, was für ein glücklicher Zufall unter tragischen Umständen. Venedig sehen und sterben«, fuhr er fort, »mit diesem Problem mußte sich die Stadt schon in früheren Jahrhunderten herumschlagen. Das überall gegenwärtige Wasser scheint die Emotionen mancher Leute derart aufzuladen, daß diese merkwürdige Todessehnsucht entsteht. Liebe oder Haß, das sind ja fast immer die Motive, wenn Menschen sich selbst oder andere umbringen. Könnten Sie sich vorstellen, aus einem dieser Gründe zum Mörder zu werden?« »Eher schon aus Haß, die Liebe sollte man besser lebend genießen.« 167
»Schön gesagt, ich werde mir diesen Satz merken!« Mit der Bemerkung, »Ich muß mich leider verabschieden«, versuchte Bernstorff, das aufgezwungene, ihm äußerst unangenehme Gespräch zu beenden. »Mein Vaporetto geht in knapp zwanzig Minuten.« Der Commissario blickte flüchtig auf seine Armbanduhr. »Das könnte sehr eng für Sie werden. Es ist meines Wissens die letzte Verbindung für heute, da legt das Schiff häufig etwas vor der Zeit ab, weil die Männer anschließend Feierabend haben. Wir machen es anders«, fügte er hinzu, und es klang wie eine Anordnung. »Sie fahren mit mir im Polizeiboot zurück in die Stadt. Das geht viel schneller, und außerdem«, er machte eine kurze Pause, »ich müßte Ihnen mal dringend einige Fragen stellen. Hätte ich Sie hier nicht zufällig getroffen, dann wäre ich morgen zu Ihnen ins Hotel gekommen.« Er gab dann seinen Leuten, sie hatten die Leichen inzwischen abgedeckt und auf Tragen festgeschnallt, zunächst noch einige Anweisungen. Anschließend führte er Bernstorff, den er keine Sekunde lang aus den Augen verloren hatte, schweigend zum nahen Bootssteg. Während der kurzen Überfahrt telefonierte der Commissario ununterbrochen und kümmerte sich nicht im geringsten um seinen Gast, der sich überrumpelt und auf sehr galante Weise verhaftet vorkam. Das Boot raste durch die einsetzende Nacht dahin, mit steil nach oben gerichtetem Bug. Hart klatschte es immer 168
wieder auf die rauhe Dünung des Meeres, böige Winde kamen auf, funkensprühend zog von Südosten her eine Gewitterfront am Horizont empor. Auf San Marco, direkt vor Harry’s Bar, ging Bernstorff an Land. Benedetti begleitete ihn einige Schritte in die belebte Calle Vallaresso hinein. »Ich wollte Sie vorhin nicht erschrecken oder gar ängstigen«, begann er, »aber ich müßte Sie mal dringend für ein paar Minuten in Ruhe sprechen. Am besten gleich morgen, so gegen Mittag, es wird nicht viel Zeit in Anspruch nehmen. Auf dem Boot eben war ich leider dienstlich sehr beschäftigt, sonst hätten wir die Kleinigkeit auch gleich erledigen können.« »Darf ich vielleicht mal wissen, worum es in dieser Fragestunde eigentlich gehen soll?« »Kein Verhör, es ist nichts Beunruhigendes, reine Formsache also. Würde es Ihnen so gegen vierzehn Uhr passen, am besten vor dem Florian?« Bernstorff nickte zustimmend, was blieb ihm schon anderes übrig. Bevor sich der Commissario dann mit einem beruhigenden Schulterklopfen verabschiedete, machte er mit gedämpfter Stimme noch eine Äußerung, die Bernstorff während der kommenden Nacht erhebliches Kopfzerbrechen bereiten sollte: »Es wäre unklug von Ihnen, überstürzt abreisen zu wollen. Sehr unklug!« Damit mischte er sich unter eine vorbeiziehende Touristentruppe und verschwand im Dämmerlicht der Straßenbeleuchtung. 169
Im Hotelzimmer warf sich Bernstorff, so wie er gerade angekommen war, aufs Bett, und flüchtete sich innerhalb weniger Sekunden in einen traumlosen Tiefschlaf. Laute Geräusche auf dem hellhörigen Flur weckten ihn jedoch schon bald wieder, späten Gästen wurden die Unterkünfte zugewiesen. Von panischer Angst getrieben sprang er auf. Es war die Angst, Marlene könnte möglicherweise doch im VinoVino auf ihn warten, während er seine Chance im Hotel verschlief. Im Bad frischte er sich auf, hastig und flüchtiger als sonst, und stürzte nach unten. Lautes, zänkisches Geschrei empfing ihn im Treppenhaus, er konnte die erregten Stimmen von Maria und Giovanni ausmachen. Dann, nach mehrfachem hallenden Klatschen – irgend jemand mußte deftige Ohrfeigen ausgeteilt haben, – knallte die gläserne Eingangstür vibrierend zu. Danach trat auf einen Schlag Ruhe ein. Unten in der Rezeption war Giovanni dabei, das Haar mit den Fingern notdürftig wieder zu ordnen und die Krawatte zu glätten. Seine Ohren glühten knallrot. Bernstorff, der sich die gerade eben abgelaufene Szene mühelos vorstellen konnte, grinste ihn belustigt an. »So ein verfluchtes Biest«, rechtfertigte sich der Portier verlogen und kurzatmig, »ständig muß man auf der Hut sein vor dieser kleinen Dirne! Auch Sie sollten sich verdammt in acht nehmen. Die ist doch nur darauf aus, daß ihr irgend jemand ein Kind andreht, damit sie end170
lich versorgt ist mit ihrem vaterlosen Bambino. Noch sieht sie ja ganz passabel aus, aber in spätestens fünf Jahren hat sie einen genauso fetten Hintern wie die meisten Frauen hier. Ein Mann von Ihrem Format wäre genau das richtige Opfer für sie. Nicht schlecht aussehend, großzügig, unverheiratet, wie ich denke, und sicherlich ganz gut bei Kasse. Aber Finger weg, attenzione, Signore, attenzione!« Warnend fuchtelte er sekundenlang mit erhobenem Zeigefinger durch die Luft und blickte ernst über den Rand seiner schmalen Lesebrille. »Schon gut«, meinte Bernstorff, »ich werde auf mich aufpassen.« Ihm war natürlich vollkommen klar, daß sich das fettige kleine Schlitzohr wieder mal erfolglos an die durchaus attraktive junge Frau herangemacht hatte, keineswegs war es umgekehrt gelaufen. Schon wiederholt hatte sich Maria bei ihm über die plumpen Nachstellungen des Tölpels beklagt, wobei sie jedesmal diskret durchblicken ließ, wem ihr Interesse wirklich galt. Der eifersüchtige Giovanni wußte das alles sehr genau, zumindest erahnte er es. Wie alle guten Hotelportiers auf der Welt war er ein Mensch mit wachem, unbestechlichem Instinkt. Bernstorff verließ eilig das Haus. Zuvor hatte er dem verschmähten Liebhaber noch fünftausend Lire in die Hand gedrückt. Eine Geste, zu der er sich auch ohne besonderen Anlaß fast täglich bereitfand. Auf seinen vielen Reisen während 171
der zurückliegenden Jahre hatte er gelernt, daß es fast immer ein Vorteil war, mit den livrierten Damen oder Herren in der Rezeption auf bestem Fuße zu stehen. Wenige Minuten später kam er atemlos im VinoVino an. Der Zeitpunkt erwies sich als günstig, die Weinstube war nur noch durchschnittlich besucht. Während der zurückliegenden Wochen hatte er die Erfahrung gemacht, daß es wenig Sinn hatte, hier allzu früh am Abend aufzukreuzen. Denn nachdem dieses sehr originelle, äußerlich eher unscheinbare Lokal in Illustrierten und neueren Reiseführern immer wieder als ›Geheimtip‹ verramscht worden war, gab es in den nicht allzu großen Räumlichkeiten regelmäßig Probleme. Wiederholt hatte er deshalb schon draußen vor der Tür auf einen frei werdenden Platz warten müssen. Im vorderen Raum, wo die drei Tische den einheimischen Stammgästen vorbehalten blieben, orientierte er sich zunächst an der Theke über das aktuelle Angebot an kleinen Speisen. Er entschied sich für einen Risotto alla frutti di mare und ging dann in die angrenzende Stube, wo er seinen Lieblingsplatz unbesetzt vorfand. Er drückte sich mit seinem Stuhl ganz in die Ecke hinein, wo die hintere Wand mit der Außenfront einen rechten Winkel bildete. Ohne selbst sonderlich aufzufallen, ließ sich die Szene von hier aus gut überblicken, und es gehörte nun mal zu seinen täglichen kleinen Vergnügungen, Menschen aus einer gewissen Deckung heraus 172
zu beobachten. Aber an diesem Abend mangelte es hier an lohnenden Studienobjekten. So wandte er seine Aufmerksamkeit zunächst der Bedienung zu, einer sehr hochgewachsenen Person mit scharf geschnittenem Profil, die ihr schwarzes Haar in einem Mittelzopf zusammengefaßt hatte, der in der Mitte des Kopfes mit einer breiten Silberspange festgemacht war. Ganz offensichtlich schien sie recht herrschsüchtig, und sie erwies sich als äußerst ungeduldig, als er auch nur einem Moment lang darüber im Zweifel war, für welchen der angebotenen Flaschenweine er sich entscheiden sollte. Trotzdem empfand Bernstorff ihre Anwesenheit als Bereicherung. Zum einen wegen ihrer beeindruckend langen und schön geformten Beine, mit denen sie wirkungsvoll umzugehen wußte. Andererseits aber auch, weil ihm ihr ruppiger, von Arroganz geprägter Charme sowie ihre impertinente Selbstsicherheit durchaus imponierten. Bewundernswert, einen Menschen zu beobachten, dachte er, der sich selbst nie in Frage stellen würde. Der Risotto kam und auch die bestellte Flasche Orvieto, dazu das Besteck, ein Körbchen mit Weißbrot und ein Glas. Mit sehr bestimmenden, schnellen Bewegungen knallte sie alles hart auf die marmorne Platte des kleinen quadratischen Tischchens, während sich Bernstorff demütig in seinen Stuhl zurückdrückte, um sie beim Servieren nicht zu behindern. Jetzt fehlt nur noch, dachte er im stillen, daß sie zum Abschluß laut 173
»Basta!« schreit. Er entschloß sich, sie später mit Trinkgeldentzug zu bestrafen. Die kleine, schmackhafte Vorspeise war schnell vom Teller und der Genuß des fruchtig frischen, gut vorgekühlten Weins versetzte ihn allmählich in jenen angenehm wohligen Zustand sentimentaler Zufriedenheit, der manchem leichten Rausch voranzugehen pflegt. Seine Blicke waren natürlich auf die Tür gerichtet, und mit einem Gefühl wachsender Enttäuschung, ja Verbitterung, nahm er das Kommen und Gehen der Gäste zur Kenntnis. Marlene, die sehnsuchtsvoll Herbeigewünschte, war nicht unter den wenigen Neuankömmlingen. Da ihm schließlich ein weiteres Ausharren unzumutbar, ja entwürdigend erschien, wurde ein baldiger Aufbruch in Erwägung gezogen. Nur ein Rest von Zuversicht, es mochte auch Instinkt oder Naivität sein, hielt ihn warnend davor zurück, spontan aufzustehen und das Lokal sofort zu verlassen. Plötzlich kamen im Vorraum nebenan, den er nicht einsehen konnte, Bewegung und Unruhe auf. Zuerst wurde die Eingangstür kraftvoll zugeschlagen und schwergewichtige Schritte tappten durch die Stube. Kurz darauf fielen Gläser und Teller zu Boden, vielleicht sogar ein Tisch. Dann lautes Stühlerücken und eine kurze, äußerst hitzig geführte Auseinandersetzung, die schließlich in schallendes Gelächter aller Beteiligten überging und danach beendet zu sein schien. Bernstorff 174
blickte, wie auch die übrigen Gäste, mit einer Mischung aus Neugierde und Amüsiertheit hinüber zum Durchgang, dem sich jetzt eine massige Erscheinung näherte. Leicht geduckt, den raumbeanspruchenden Körper etwas schräg gestellt, schob sich ein Mann mittleren Alters, zweifellos amerikanischer Herkunft, zwischen der schmalen hölzernen Einfassung hindurch. Dann reckte er sich zu voller Höhe auf und begrüßte die verdutzten Gäste mit einem donnernden »Hello friends!« Sein fleischiges, flächiges und dabei durchaus gutmütiges Gesicht strahlte mit dem unerschütterlichen Siegeroptimismus amerikanischer Präsidentschaftskandidaten. Ihm folgten zwei verschreckt kichernde, entsetzlich dürre jüngere Frauen. Jede schien ein Double der anderen zu sein, möglicherweise handelte es sich um Zwillinge. Reichlich verzotteltes, halblanges Blondhaar umwirrte ihre blassen Gesichter, in denen grell überschminkte, pinkfarbene Münder dominierten. Beide kamen im Gipsylook daher, der etwas traurig an ihren mageren Körpern herunterschlabberte. Tief nach unten gezogene Ausschnitte ermöglichten wenig stimulierende Ausblicke auf ihren allzu früh erschlafften Hals- und Brustbereich, so jedenfalls Bernstorffs Einschätzung. Während sich die Neuankömmlinge noch im Raum orientierten und darüber diskutierten, an welchen Tisch sie sich wohl setzen sollten, hatte Bernstorff den Amerikaner bereits mit einem Spitznamen 175
bedacht. Ab sofort hieß er Caterpillar für ihn. Diese Bezeichnung war ihm beim Anblick dieser vor Kraft strotzenden menschlichen Biomasse geradezu aufgedrängt worden, erinnerte ihn das Erscheinungsbild doch an jene imponierenden, mächtigen Erdbewegungsmaschinen gleichen Namens, die gelegentlich auf Großbaustellen bewundernswerte Schwerstarbeit leisteten. Der Caterpillar war mit Baseballmütze, Jeans und einem kurzärmligen, großkarierten Texashemd bekleidet, aus dessen Brusttasche die Aluminiumhülsen seiner Havannas wie startbereite Interkontinentalraketen herausragten. Das originelle Trio setzte sich schließlich, nachdem er mit kraftvollem Zugriff drei der schweren Tische in einer Reihe zusammengerückt hatte. Breit ausladend residierte er in der Mitte der länglichen Tafel, zur Rechten und Linken von den etwas verhuschten, bizarren Geschöpfen umrahmt. Neben ihm nahmen sie sich wie Salzstangen oder chinesische Eßstäbchen aus. Mit seinen Tentakelarmen zog er die beiden Babys gelegentlich zu sich heran, immer gleich paarweise, und herzte sie so lange an seiner Brust, bis sie vor Vergnügen laut quietschten. Während die drei noch auf ihr Essen warteten, unterhielt der Caterpillar seine Begleiterinnen mit, wie es schien, beeindruckenden Anekdoten aus seinem überaus erfolgreichen Leben. In diesem Zusammenhang war auffallend häufig von »a lot of money« die Rede, 176
eine Bemerkung, die jedesmal andächtige Bewunderung und höchstes Entzücken bei den Frauen auslöste. Bernstorff konnte sich sehr gut vorstellen, wie dieser auf unterhaltsame Weise peinliche Kerl mal sein Glück gemacht haben mußte. Irgendwann vor zwanzig oder dreißig Jahren, in einem lausigen Kaff des Mittelwestens wahrscheinlich, hatte er seinen stämmigen Daumen in den Wüstensand gebohrt, war sofort auf Öl gestoßen und über Nacht reich geworden. Nur so, nicht viel anders, mußte es gelaufen sein. Die Bedienung servierte das Essen. Verachtung und Hochmut spiegelten sich in ihrem Gesicht, während sie, einen letzten Rest von Anstand und Disziplin wahrend, die Bestellung ausführte. Aber die Antennen des Caterpillars waren nicht einmal für derart eindeutige Signale sensibilisiert. Friedvoll lächelnd, die Arme oberhalb des Bauchansatzes zusammengeschlagen, verfolgte der Gemütsmensch ihre feindseligen Bewegungen mit uneingeschränktem Wohlwollen. Als sich das Mädchen schließlich umdrehte und zum Gehen wandte, stieg in Bernstorff die Angst auf, er könne sie mit einem kräftigen Schlag auf ihren wohlgeformten Hintern entlassen. Zum Glück aber unterblieb das nahezu Unvermeidliche. Während der noch immer hoffend wartende Liebhaber seine Aufmerksamkeit wieder mehr auf den restlichen Wein und die Eingangstür konzentrierte, räumte 177
der Caterpillar inzwischen eine Reihe von Antipasta von den ovalen Schälchen und spülte mit einem Cabernet Sauvignon reichlich hinterher. Danach blickte er eher unzufrieden in die Runde und wischte sich mit einem großformatigen Taschentuch den Schweiß aus Stirn und Nacken. Seine beiden Piepsmäuse, sie hatten nur mal ängstlich in der einen oder anderen Speise herumgestochert, begannen zu gähnen. Auf ihren Bäckchen glühte es feuerrot, obwohl sie sich lediglich mit einer Flasche Mineralwasser vergnügt hatten. Aber es gab nun mal Frauen, diese Erfahrung hatte auch Bernstorff gelegentlich gemacht, denen allein schon der Anblick eines fröhlichen Zechers das Blut in den Kopf zu treiben vermochte. Das Trio aus dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten beriet sich eine Weile lang, sogar auffallend still, was die übrigen Anwesenden dankbar zur Kenntnis nahmen. Ein Entschluß kam zustande, der, von allen mehrfach benickt, wohlwollende Zustimmung fand. Laut und großspurig wurde nach der Rechnung gerufen. Der Caterpillar klatschte inzwischen schon mal seine Brieftasche auf den Tisch. Während er sie genüßlich und mit Andacht auseinanderklappte, reckten sich die beiden Frauen dem Objekt ihrer Begierde mit unverhohlener Bewunderung entgegen, blickten anerkennend zu ihm auf. Fast hätte man ihren inneren Aufschrei hören können: Wonderful – a lot of money, 178
indeed! Die Bedienung kam, um zu kassieren. Mit schnellen Handbewegungen, hin und wieder prüfend über den Tisch blickend, wurde notiert, addiert und zum Schluß noch einmal nachgerechnet. Während sie, auf Distanz bedacht, dem Gast das rosafarbene Papier mit weit ausgestreckter Hand entgegenhielt, sagte sie streng: »No dollars, no credit cards, Signore!« Es klang wie eine Drohung. Wohl zum ersten Mal an diesem Abend war für den Caterpillar die Welt nicht mehr in Ordnung. »No dollars, no credit cards?« echote er fassungslos fragend. »No!« bestätigte sie, sah desinteressiert zur Decke hoch und trommelte, während sie ungeduldig auf das Geld wartete, mit ihrem Kugelschreiber auf der Tischplatte. Gedemütigt klappte er seine eindrucksvolle Präsentation wieder zusammen, zwängte unter Ächzen ein Bündel Lirescheine aus der Gesäßtasche hervor und glich die Forderung großzügig aus. Wie ein geschlagener Baseballchampion verließ er mit seinen zutiefst verwirrten Babys das Lokal. Nicht im entferntesten schienen die beiden zu erahnen, was hier eigentlich abgelaufen war. Nach und nach leerte sich das VinoVino, und auch Bernstorff entschloß sich zum Aufbruch. Als er blinzelnd hinaus ins Halbdunkel der nur schwach beleuchteten Calle di Veste trat, konnte er einen Frontalzusammenstoß nicht mehr verhindern. Geistesgegenwär179
tig zog er die aufgelaufene, ins Stolpern geratene Gestalt fest an sich – und hielt Marlene in seinen Armen! Verschreckt und glücklich zugleich genossen sie, deutlich länger als es die Umstände erforderten, die aufgezwungene Nähe. Allmählich lösten sie sich dann wieder voneinander, ihre Hände blieben jedoch zitternd verbunden, und gingen schweigend in Richtung zur Via Marzo. Nahezu menschenleer war es in der breiten Straße, das Licht des aufkommenden Mondes spiegelte sich mattgolden auf dem marmornen Terrazzo, nur hier und dort waren noch kleinere Gruppen oder einzelne Nachtschwärmer unterwegs. Unter ihnen sicherlich wieder einige verzweifelt umher Irrende, die bisher keine Unterkunft gefunden hatten oder nach einem noch geöffneten Lokal suchten. Ein eher aussichtsloses Ansinnen, denn die Serenissima pflegte früh zu Bett zu gehen. Ohne irgend einen Beschluß gefaßt zu haben, schlenderten die beiden langsam in Richtung Markusplatz weiter. Marlene war es, die das gemeinsame Schweigen schließlich brach. »Ich muß zum Bauer Grunwald, wenn du mich bis dahin begleiten würdest?« Er antwortete ihr mit einem vertraulichen Händedruck. Wenig später bereits und viel zu schnell, wie beide übereinstimmend dachten, standen sie vor ihrem Hotel. Auf dem Campo war der Tag noch nicht schlafen gegangen. Touristen und Einheimische standen überall 180
herum. Es wurde gelacht, erzählt und gesungen, immer wieder flammten Blitzlichter auf. Am Kanal Rio di Santa Moisè halfen Gondolieri einem verzückt strahlenden Hochzeitspaar aus dem schwankenden Boot. Und wie an jedem Abend hatten schlank gewachsene Afrikaner, sie mochten aus Ghana oder Angola stammen, ihre Louis Vuitton-Imitate auf dem Boden ausgebreitet, dreisterweise direkt vor der längst geschlossenen Filiale dieses renommierten Taschenmachers. Sie nutzten die späte Stunde, um im spärlichen Licht Käufer für ihre minderwertigen Doubletten zu interessieren. Schon seit langem sah die Polizei diesen an sich verbotenen Straßengeschäften tatenlos zu, denn kaum hatte man die illegal Zugewanderten aus der Stadt gewiesen oder gar für ein paar Tage in Haft genommen, schon waren sie wieder zurück. Nachdem Marlene und Bernstorff, an das Geländer des Canale gelehnt, dem nächtlichen Treiben eine Weile lang zugeschaut hatten, drängte sich ihnen die allen frisch Verliebten bekannte Frage auf. »Wie wäre es mit der berühmten, abschließenden Tasse Kaffee?« forschte er scherzend. »Demnach hast du eine Espressomaschine auf dem Zimmer?« »Nein, natürlich nicht«, meinte er lachend, »dafür aber eine gut gefüllte Minibar. Also?« Es waren nur wenige Schritte bis zu seinem Hotel. 181
Giovanni mußte mit der Nachtglocke geweckt werden, mürrisch schlurfte er zur Tür und ließ sie ein. Der feine Herr hat Damenbesuch, dachte er und war trotz der späten Störung amüsiert. Gleich am kommenden Morgen, das stand fest, würde er Maria diese Neuigkeit brühwarm und genüßlich servieren, garniert mit einer nicht zu knapp bemessenen Portion Schadenfreude. Dann konnte sie sich den Deutschen endgültig aus dem Kopf schlagen. Inzwischen hatten sich die beiden wie Diebe auf Zehenspitzen nach oben geschlichen. Was danach zwischen ihnen ablief, überstieg Bernstorffs Auffassungsgabe um ein beträchtliches. Nachdem Marlene, nachdenklich mit ihm im Zimmer auf und ab gehend, den angebotenen Cinzano ausgetrunken hatte, kickte sie plötzlich ihre Schuhe in eine Ecke und zog sich dann in Ruhe und mit einer Selbstverständlichkeit aus, die ihn völlig um den Verstand brachte. Er trat einige Schritte zurück, lehnte sich gegen den Türrahmen, sie hockte sich unterdessen auf eine kleine Anrichte, in der die Minibar untergebracht war. Dann stützte sie ihr Kinn auf die hochgezogenen Knie und blickte mit schläfriger Lüsternheit zu ihm hinüber. Bernstorff war zu keiner Reaktion fähig, zumal für ihn nicht einmal feststand, ob er sich überhaupt in diese verführerische Männerfalle hineinwagen sollte. Vielleicht würde sich alles als Bluff erweisen, und dann war er mal wieder der Gedemütigte. 182
»Weißt du«, fragte er sie leise, »was manchmal noch viel schwieriger sein kann, als etwa ein chinesisches Kreuzworträtsel zu lösen?« »Sag es!« »Die Gedanken, Gefühle und Strategien einer Frau zu erraten.« »Nun, man muß sich schon etwas darum bemühen, worauf wartest du?« Sie änderte dann, da es ihr unbequem geworden war, die Sitzhaltung und ließ ihre schlanken Beine nunmehr locker nach unten baumeln. Anschließend schob sie ihr Becken um nur einige wenige, aber entscheidende Zentimeter weiter nach vorne, bis sie schließlich auf dem äußersten Rand der Anrichte saß, und stützte ihren Oberkörper mit nach hinten gestellten Händen ab. Mit verschränkten Armen verharrte Bernstorff bewegungslos und blickte düster, wie ein störrisches Kind, nach unten auf den Fußboden. Sein hilfloses Schweigen baute sich wie eine Mauer zwischen ihnen auf. Nach endlosen Minuten absoluter Stille sprang sie auf, für beide war es die ersehnte Erlösung. Marlene, die nur allzu deutlich gespürt hatte, daß er unfähig war, in irgendeiner Weise auf ihre Provokation zu reagieren, duschte kurz und verkroch sich dann stumm im Lakengewirr seines ungemachten Bettes. Er machte das Licht aus, lockerte sich allmählich und horchte auf ihren Atem. Als er sicher zu sein glaubte, daß sie eingeschlafen war, legte er sich leise zu ihr. 183
Nach oberflächlichem, von erotischen Traumphantasien begleiteten Schlaf, wurde er früh geweckt. Auf dem Flur gegenüber räumten Holländer lautstark ihre Zimmer, Türen wurden rücksichtslos heftig zugeschlagen, und Maria lärmte gereizt mit ihren Arbeitsgeräten. Zu seiner Überraschung stellte Bernstorff fest, daß Marlene und er sich während der Nacht zärtlich ineinander verschlungen hatten. Behutsam, um sie nicht aufzuwecken, löste er sich von ihr und tastete seinen Körper prüfend ab. Nein, es war nichts zwischen ihnen gewesen. Er ging ins Bad und machte sich frisch. Als er wenig später ins Zimmer zurückkam, saß Marlene hochaufgerichtet wie ein Fragezeichen im Bett. »Was ist das da?« wollte sie wissen und wies mit weit abgespreiztem Zeigefinger auf sein Brotmesser, das sie am Fußende unter der zusammengeschobenen Tagesdecke hervorgezogen hatte. »Mein Gott, hast du dich etwa verletzt?« »Nein, darum geht es auch gar nicht. Allerdings übernachte ich ungern bei Männern, die sich mit derartigen Mordinstrumenten schlafen legen. Und da drüben«, fuhr sie fort und wies auf seinen Nachttisch, »was ist das?« Bernstoffs Blicke folgten ihrer Handbewegung, und er stellte mit peinlichem Erstaunen fest, daß neben seinem Kopfende eine Vase mit frisch geschnittenen roten Rosen stand. In seiner Verwirrung am Abend zuvor hatte er nichts davon bemerkt. Jedoch war leicht 184
zu erraten, daß ausschließlich Maria ihre Hand im Spiel haben konnte, und eigentlich mußte er ihr dankbar dafür sein. Denn wie sonst hätte er jetzt so eindeutig zu spüren bekommen können, daß Marlene ganz offensichtlich eifersüchtig war? »Ich weiß wirklich nicht, wie sie dahin gekommen sind«, rechtfertigte er sich. »Schon gut«, antwortete sie in einem Tonfall, der unmißverständlich auf ihre erheblichen Zweifel hindeutete. »Es ist halt so wie in durchschnittlichen Fernsehfilmen, irgendwann muß es jeder Mann mal mit einem Zimmermädchen treiben.« Während Bernstorff noch mit umständlich verschrobenen Erklärungen versuchte, sie vom Wahrheitsgehalt seiner Behauptung zu überzeugen, war Marlene aus dem Bett gesprungen. Ebenso blitzschnell, wie sie sich abends zuvor ausgezogen hatte, war sie jetzt wieder angekleidet. Sie ging zur Tür, drehte sich noch einmal um und wartete einen Moment. Sie wollte beiden die Chance für ein paar letzte Worte geben. »Irgend etwas an dir macht mir angst«, begann sie nachdenklich, »aber trotzdem fühle ich mich zu dir hingezogen. Komisch, nicht wahr? Ich glaube, du schleppst ein dickes Problem mit dir herum. Wenn du willst, könntest du mit mir mal darüber reden.« »Wir sehen uns also wieder?« »Was meinst du?« 185
»Und du?« »Natürlich, du aufregender kleiner Casanova! Übrigens, ich mag durchaus Männer, die sich bis zum ersten Mal ein wenig Zeit lassen müssen. Allzu lange darf es allerdings auch nicht dauern, wenn man sich wirklich mag.« Dann noch »ciao«, und weg war sie. Wenig später verließ auch Bernstorff das Zimmer. Im Treppenhaus stürzte ihm eine äußerst erboste Maria entgegen. Als die beiden auf gleicher Höhe waren, giftete ihn die junge Frau an: »Wie es aussieht, braucht der Signore jetzt ein Doppelzimmer. Im dritten Stock wird nachher die Nummer 36 frei. Schön ruhig nach hinten gelegen und mit einem besonders breitem französischen Bett. Am besten, Sie buchen unten gleich um, bevor es wieder neu belegt ist!« »Tante grazie für die prachtvollen Blumen«, strahlte er sie an. »Sie ahnen gar nicht, wie sehr und warum mir der hübsche Strauß heute morgen gelegen kam!« Verständnislos und mit einem trügerischen Funken Hoffnung im Herzen sah Maria ihm nach, als er sich dann nach unten entfernte.
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7. Kapitel
Der Commissario hatte sich für diesen Tag Entscheidendes vorgenommen, was blieb ihm auch schon anderes übrig. Gegenüber dem Dogen stand er mit dem etwas großspurig gegebenen Versprechen im Wort, die mysteriösen Vorfälle in gut einer Woche aufgeklärt zu haben. Jetzt war die Zeit knapp geworden, und er litt unter erheblichem Erfolgsdruck. Zwar hatte er inzwischen einen Berg von Puzzleteilchen angehäuft, aber noch ließ sich mit ihnen kein schlüssiges Bild zusammenfügen. Immer wieder fehlte hier und dort ein wichtiges Element, oder es ließen sich Bruchstücke scheinbar nahtlos aneinanderlegen, ohne daß es anschließend einen Sinn machte. So vertraute er wieder einmal auf die häufig von ihm gemachte Erfahrung, wonach jedem gordischen Knoten eine gewisse Tendenz zur Selbstauflösung innewohnt. Wie ein Magier oder Jongleur mußte man ihn immer nur schön locker zwischen den Händen bewegen, ungeduldiges Zerren dagegen würde ihn nur noch unentwirrbarer machen. Bernstorff kam pünktlich zum vereinbarten Treffen vor dem Florian. Während er sich noch nach einem freien Tisch im Schatten umsah, ging Benedetti, der bereits im Halbdunkel unter den Arkaden gewartet 187
hatte, freundschaftlich auf ihn zu. »Nett von Ihnen, daß Sie gekommen sind, Signore! Ich habe meinen Plan ein wenig geändert und hoffe auf Ihre Zustimmung. Hier vor dem Café fängt jetzt die Musik gleich an zu spielen, und es wird dann unerträglich laut und voll. Am besten also, wir entkommen dem schrecklichen Gedränge. Zufällig konnte ich über ein Polizeiboot verfügen, das uns mal eben nach San Giorgio Maggiore übersetzt. Dort weht ein frischeres Lüftchen als hier, und es gibt Gelegenheit, sich in Ruhe unterhalten zu können. Einverstanden?« Bernstorff machte eine zustimmende Kopfbewegung, und sie gingen dann die wenigen Schritte zur Anlegestelle an der Südseite der Zecca. Auf dem Weg dorthin, während sie im Gedränge immer mal wieder für Sekunden voneinander getrennt wurden, kam Bernstorff mehrfach in Versuchung, sich blitzschnell davonzustehlen. Aber wovor eigentlich – und warum? Auf dem Boot, wo sie bereits von zwei Carabinieri erwartet wurden, nahm Benedetti die Kollegen für einen Moment beiseite und gab mit gedämpfter Stimme knappe Anweisungen. Nach kaum mehr als drei Minuten hatten sie den Canale di San Marco überquert und am Campo San Giorgio festgemacht. Der Commissario führte ihn zum Kreuzgang der von Andrea Palladio erbauten Kirche, wo sie, vom Tourismus kaum berührt, eine Weile lang stumm auf und ab gingen. Er hatte diesen Ort der Stille und Andacht nach 188
langem Überlegen ausgewählt, weil er darauf setzte, daß ihm die ungemein beruhigende und spannungslösende Atmosphäre der beeindruckenden Architektur dabei helfen würde, den Deutschen aus der Reserve zu locken. Getreu seinem bewährten Grundsatz, wonach außergewöhnliche Ergebnisse nur unter unkonventionellen Bedingungen zu erzielen sind. Während sich die beiden, noch immer schweigend, in der klösterlich anmutenden Stille ergingen, kam sich Bernstorff wie in einem begehbaren Beichtstuhl vor. Aber kein klärendes oder bekennendes Wort wollte ihm über die Lippen kommen. Weil der Commissario es sich nicht leisten konnte, die Partie mit einem Patt zu beenden, entschloß er sich, seine erste Trumpfkarte zu ziehen und ins Spiel zu werfen. »Signore«, begann er sehr ernst und blieb stehen, »ich habe einen Haftbefehl dabei. Er ist auf Ihren Namen ausgestellt.« »Nun gut, dann tun Sie doch Ihre Pflicht. Sie haben mich ja nicht ohne Grund auf diese hübsche kleine Insel verschleppt, von wo aus eine Flucht unmöglich wäre. Aber ich habe keineswegs die Absicht, zu fliehen. Worauf warten Sie also noch?« »Auf Ihre Bereitschaft zur Kooperation! Mein Instinkt sagt mir, daß Sie mit dem Fall, den ich aufzuklären habe, möglicherweise nichts oder nur wenig zu tun haben. Da ich seit unserem ersten flüchtigen Kennenlernen in der Hotelrezeption eine gewisse Sympathie 189
für Sie empfinde, wäre es mir lieber, hier in aller Ruhe mit Ihnen zu sprechen, anstatt Sie im Präsidium zu verhören und bis zur endgültigen Klärung der Umstände in eine Arrestzelle zu sperren.« »Haben Sie mit der Signora Bandiera über mich gesprochen?« »Sie meinen die Astrologin? Nein. Sie sind also bei ihr gewesen?« »Ich kann mir kaum vorstellen, daß es Ihnen nicht längst brühwarm zugetragen wurde. Das war doch ein abgekartetes Spiel, eine Falle. Und jetzt hat Ihnen die Aussage einer Astrologin den Vorwand dafür geliefert, einen Haftbefehl gegen mich zu erwirken. Ganz schön grotesk, finden Sie nicht auch?« »Zunächst einmal muß ich klarstellen, daß es während der letzten Tage nicht den geringsten Kontakt zwischen mir und der Signora gab. Es hätte ohnehin nichts gebracht. Sie ist zwar eine äußerst unkonventionelle und manchmal auch schwer berechenbare Frau, aber sie lebt und handelt nach einem bewundernswerten Ehrenkodex. Niemals würde sie Kenntnisse über andere Menschen preisgeben, und schon gar nicht ließe sie sich als Polizeispitzel mißbrauchen. Der Anlaß für den Haftbefehl kam aus einer anderen Richtung.« »Da bin ich aber sehr gespannt.« Benedetti zog jetzt seine zweite Trumpfkarte, und er war sicher, daß der Stich an ihn gehen würde. »Ge190
stern abend wurde zufällig etwas gefunden«, begann er geheimnisvoll und auf die Wirkung jedes einzelnen Wortes bedacht, »das möglicherweise einmal zu Ihnen gehörte. Darüber muß ich mit Ihnen sprechen.« »Ich vermisse nichts.« »Der Verlust von ein paar Tropfen Blut fällt natürlich kaum auf …« »Wie soll ich das verstehen?« »Sicherlich haben auch Sie davon gehört oder gelesen, daß die Menschen unserer Stadt zur Zeit durch eine Reihe äußerst geheimnisvoller Vorfälle beunruhigt werden. Da sind einerseits vier junge Frauen spurlos verschwunden, kurz nacheinander, am hellen Tage mitten in Venedig. Niemand weiß, ob sie noch am Leben sind. Über die Begleitumstände dieses Verbrechens können wir nach wie vor nur vage Vermutungen anstellen. Erschwerend kommt hinzu, daß die betroffenen Angehörigen jede Zusammenarbeit mit der Polizei strikt ablehnen. Nach jüngsten Anzeichen scheint jetzt allerdings Bewegung in ihre starre Haltung zu kommen. Zum anderen beschäftigen uns diese merkwürdigen Funde, jene Pakete und sorgsam verschnürten Päckchen also, die von Fischern immer wieder im Wasser der Lagune aufgegriffen werden. Die Presse hat in großer Aufmachung mehrfach darüber berichtet. Zum Inhalt dieser Fundstücke möchte ich lediglich so viel sagen, daß er nur bedingt mit dem übereinstimmt, 191
was die Medien daraus machen. Jetzt wurde nun ein weiteres dieser ekelhaften Objekte sichergestellt. Es unterscheidet sich in einem wichtigen Punkt von den zuvor entdeckten, die alle bereits für längere Zeit im Wasser gelegen hatten und daher für unsere Spurensicherung nur von begrenztem Aussagewert waren. Dieses neue Beweisstück, es hatte sich beim Wegschleudern vom Boot aus im Röhricht verfangen, konnte völlig trocken geborgen werden. Der Inhalt, auf den ich hier nicht weiter eingehen will, wies Blutspuren der äußerst seltenen Gruppe AB-rhes. negativ auf, der auch Sie zuzurechnen sind.« »Ich kann mich nicht daran erinnern, der venezianischen Polizei eine Blutprobe von mir überlassen zu haben.« Bernstorff sprach mit zittriger Stimme, er wurde blaß. »Unfreiwillig haben Sie das durchaus getan. Als Sie sich vor einigen Tagen in der Rezeption Ihres Hotels verletzten, war ich, wie Sie wissen, zufällig anwesend. Ich half Ihnen beim Stillen der kleinen Schnittwunde. Das Taschentuch, mit dem ich Ihr Blut vom Finger abtupfte, habe ich damals nicht weggeworfen, sondern ins Labor gegeben. Ergebnis: AB-rhes. negativ! Nun kennen Sie genau den Grund dafür, daß ich sofort einen Haftbefehl gegen Sie erwirken mußte.« »Setzen wir uns einen Moment«, Bernstorff wies auf eine der steinernen Bänke im Schatten des Kreuzgan192
ges. Dann erneut Wortlosigkeit, sie sahen zwei Gärtnern zu, die den von einigen Zypressen bewachsenen Rasen im Innenhof sprengten. Ab und zu verwöhnte sie ein Luftzug, der sich über der feuchten Grasfläche angenehm abgekühlt hatte. »Fast jeder von uns schleppt eine schmerzliche Erfahrung aus früheren Jahren mit sich herum, ein seelisches Trauma, wie die Psychologen es nennen«, begann der Commissario vorsichtig. »Und irgendwann mal kann sich dieser Zeitzünder dann in Handlungen entladen, die für den Betroffenen kaum noch steuerbar sind. Entschärfen Sie diese Bombe doch endlich, falls es nicht schon längst zu spät dafür ist!« »Also gut, ich will Ihnen meine Geschichte erzählen«, gab Bernstorff sich geschlagen. »Aber ohne kosmetische Korrekturen, bitte! Halbwahrheiten finde ich nämlich wesentlich abstoßender als raffinierte Lügen«, mahnte ihn Benedetti. Stockend zunächst und immer wieder von längeren Pausen unterbrochen, gelang es Bernstorff, seine inneren Blockaden allmählich beiseite zu schieben, der seelische Infarkt begann sich zu lösen. Er vermied es, Augenkontakt mit seinem Begleiter aufzunehmen, und starrte konzentriert auf die hellen Marmorplatten zu seinen Füßen, gerade so, als könne er seine Lebensgeschichte von dort unten ablesen. Schließlich hatte er sich freigeredet, mit spürbar wachsender Erleichterung, 193
wie Benedetti fand, und zuletzt sprudelte es nur so aus ihm heraus. Der Damm war gebrochen, und nichts hätte diese Entwicklung noch umkehren können. Es mochte eine halbe Stunde oder auch länger gedauert haben, dann hatte er sich bis auf den letzten Rest entleert. Auch von Marlene war abschließend die Rede gewesen und von den Hoffnungen, die er mit dieser gerade erst zaghaft angeknüpften Beziehung verband. »Ich glaube, Sie haben sich einen großen Dienst erwiesen«, nahm der Commissario das Gespräch nach betroffenem Schweigen wieder auf. »Gehen wir mal davon aus, daß ich Ihnen das alles abgenommen habe, im großen und ganzen jedenfalls. Aber es gehört nun mal zu meinem Beruf, auch dem Zweifel verpflichtet zu sein.« Er stand dann auf und ging nachdenklich, die Arme auf dem Rücken verschränkt, eine Weile lang zwischen den beiden Säulen vor ihrer Bank auf und ab. »Wir werden es so machen«, entschied er sich nach längerem Zögern, »ich werde den Haftbefehl jetzt nicht vollstrecken. Allerdings unter der Auflage, daß Sie sich verpflichten, die Stadt bis zum endgültigen Abschluß meiner Ermittlungen nicht zu verlassen. Einverstanden?« »Kein Widerspruch!« »Gut, dann unterschreiben Sie mir das bitte.« Er zog eine vorbereitete Erklärung aus der Seitentasche seines Jacketts und reichte sie ihm, zusammen mit einem Ku194
gelschreiber. Bernstorff zeichnete mit seinem Namen ab, ohne dem amtlichen Papier auch nur einen flüchtigen, prüfenden Blick gewidmet zu haben. Über seinen derzeitigen Status gab es ohnehin keinen Zweifel, er war vorübergehend festgenommen, aber vorerst noch auf freiem Fuß gelassen. Moderner Strafvollzug also. Nach Lage der Dinge konnte er weiß Gott auch nichts Besseres erwarten. Allein dem Commissario war es zu verdanken, daß er seinen Kopf aus der bereits geknoteten Schlinge hatte ziehen können. Was eigentlich, diese Frage beschäftigte ihn noch für den Rest des Tages, hatte den Beamten zu seiner loyalen Haltung bewegt? War es Taktik, oder spielten andere Faktoren eine Rolle? Auf jeden Fall präsentierte sich ihm dieser Mann wieder einmal als höchst interessantes Rätsel. Die beiden verabschiedeten sich voneinander, ihr kräftiger Händedruck war, bei aller Förmlichkeit, auch Ausdruck gegenseitiger Sympathie und Achtung. Der Commissario entfernte sich dann eilig, Bernstorff hatte sich dafür entschieden, noch ein wenig auf der stillen kleinen Insel zu bleiben, um die neu entstandene Situation in Ruhe zu überdenken. Unterdessen traf sich Benedetti zu einem längeren Gespräch mit seinem Vorgesetzten, dem er nach Tagen zum ersten Mal wieder persönlich gegenüberstand. Längst war es an der Zeit, dem Dogen eine Zwischenbilanz seiner bisherigen Ermittlungen vorzulegen. Wie 195
immer verlief ihr Treffen in einer Atmosphäre aus feindseliger Herzlichkeit und vorgetäuschter Kollegialität, ein absolut lächerliches weil von beiden durchschautes Ritual, aber es hatte sich nun mal bewährt und wurde daher bei jeder Begegnung stets aufs neue inszeniert. Der Commissario berichtete zunächst ausführlich über die soeben gehörte Lebensbeichte des Deutschen, die er seinerseits mit fundierten psychologischen Kommentaren versah. Der Doge, er hatte wenig bis gar kein Interesse an wissenschaftlich begründeten Täterprofilen, hörte ihm gelangweilt und mit wachsendem Unmut zu. Mehr noch! Wieder einmal haßte er seinen Mitarbeiter wegen dessen Fähigkeit, sich mit elegant vorgetragenen intellektuellen Wortspielereien und Theorien in den Vordergrund zu spielen. Manzoni dagegen stand der Geschmack eher nach leicht verdaulicher rhetorischer Hausmannskost, so wie es seiner Bildung und Mentalität entsprach. Natürlich wußte Benedetti das, und schamlos zog er seinen Nutzen daraus. »Ich bin bekannt dafür«, schaltete der Doge sich schließlich ungeduldig ein und reckte seinen Körper, nervös auf den Zehenspitzen wippend, machtvoll in die Höhe, »daß ich einen Sinn fürs Pragmatische, Notwendige habe. Ihre feinsinnigen Analysen und Bewertungen bezüglich dieses irregeleiteten Psychopathen mögen für ein hervorragendes Referat vor Absolventen 196
der Polizeiakademie taugen. Aber hier und jetzt muß gehandelt werden. Am liebsten wäre es mir, wenn der Mann Venedig so schnell wie möglich wieder verlassen würde, am besten noch heute abend. Immerhin könnte er doch jederzeit genau das tun, wovor er bisher vielleicht noch zurückgeschreckt ist. Am wenigsten gefällt mir, daß er sich jetzt auch noch Hals über Kopf in diese Designerin verknallt hat. Liebe oder was die Leute dafür halten, kann nun mal erfahrungsgemäß sämtliche Kontrollmechanismen im Menschen sprengen.« »Es gibt keine Handhabe dafür, ihn zur Abreise zu zwingen.« »Dann verhaften Sie ihn wenigstens für zwei oder drei Tage, das ließe sich mit dem nach wie vor bestehenden Restverdacht begründen. Mir ist dann wohler, wenn die Angelegenheit mit den verschwundenen vier Frauen völlig aufgeklärt ist und feststeht, daß Ihr Bernstorff nichts damit zu tun hat. Wie steht es eigentlich um diese Geschichte, hat sich da irgend etwas Entscheidendes bewegt? Ich habe übrigens Wind davon bekommen, daß die gesamte italienische Presse am nächsten Wochenende, in zwei Tagen also, das Thema in großer Aufmachung anheizen will. Das hängt mit den bevorstehenden Kommunalwahlen zusammen. Dem Wähler soll natürlich mal wieder vorgeführt werden, daß nicht die Politiker, sondern eine unfähige Polizei für das Chaos in unserem Land verantwortlich zu 197
machen ist. Also, was ist?« Sein Tonfall verlor deutlich an Verbindlichkeit und Beherrschung. »Vielleicht darf ich Sie mal für einen Moment nach nebenan bitten«, schlug Benedetti vor, lächelte aufmunternd freundlich und ging in das Vorzimmer des Dogen, wo neben der hohen Flügeltür ein großformatiger Stadtplan Venedigs die Wand bedeutungsvoll schmückte. Er war, wie man es aus Kriminalfilmen kennt, mit bunten kleinen Fähnchen und Nadeln gespickt, hier und dort wiesen eingezeichnete Markierungen auf offenbar Beachtenswertes hin. Der Commissario wußte aus Erfahrung, daß sein Kollege es liebte, vor diesen Planquadraten gelegentlich Anschauungsunterricht in Sachen ›Fahndungsstrategie‹ zu halten. Jetzt spielte sich Benedetti mal zum Oberlehrer auf. »Ist Ihnen beim Betrachten dieser unvergleichbar harmonischen Struktur unserer Stadt, die sich seit Jahrhunderten kaum verändert hat, schon mal etwas absolut Einmaliges, ja Geheimnisvolles aufgefallen?« Mit zusammengekniffenen Augen, starrte der Doge eine Weile gegen die Wand, mürrisch und ohne eine Spur von Neugierde oder innere Anteilnahme. Schließlich schüttelte er unwillig den Kopf und sah seinen Kollegen fragend an, sehr wohl ahnend, daß nun wieder eine seiner selbstgefälligen Belehrungen folgen würde. »Der Grundriß unserer Stadt«, begann Benedetti und wies erklärend auf den Stadtplan, »zeigt deutlich er198
kennbar die Umrisse zweier großer, eng aneinandergeschmiegter Fische, deren weit geöffneten Mäuler ineinander ragen. Auf Stichen voriger Jahrhunderte ist das noch wesentlich deutlicher erkennbar, inzwischen wurden ja hier und da bauliche Korrekturen vorgenommen. Der Canal Grande trennt die beiden, wenn auch nicht völlig, denn über die Rialtobrücke haben sie Kontakt miteinander. Jedes dieser geheimnisvollen Fabelwesen verfügt auch, wie Sie unschwer erkennen können, über Schwanzflossen und Augen. Im Auge des östlichen, etwas größeren Fisches standen einmal die Kirche Santa Maria dei Servi sowie ein Kloster. Davon ist, wie bekannt, praktisch nichts übriggeblieben. Wesentlich interessanter dagegen, besonders aber für unsere Zwecke, ist da schon das Auge des westlichen Fisches. Es wird durch den Campo di San Polo und die dazugehörige Kirche ausgefüllt.« »Darf ich Sie hier mal unterbrechen, Signore«, schaltete sich der Doge energisch ein. Er war den Ausführungen seines Mitarbeiters mit zunehmender Fassungslosigkeit gefolgt, und es beschlich ihn nun der Verdacht, Benedetti sei dicht davor, endgültig überzuschnappen. »Ihre zweifellos interessanten Hinweise auf die venezianische Stadtarchitektur in Ehren, aber was kümmern mich die Mäuler, Schwänze und Augen dieser Fische! Schließlich geht es doch um …« »… Entführungen, völlig richtig. Und genau auf 199
diesen Punkt komme ich jetzt zu sprechen. Wie meine Ermittlungen ergaben, wurden alle vier verschwundenen Frauen zuletzt im Auge des westlichen Fisches, also im Bereich des Campo di San Polo, gesehen. Kurz darauf verschwanden sie spurlos, Zufall?« »Wie kamen Sie zu dieser Erkenntnis, schließlich haben wir doch nicht einmal Fahndungsfotos von den Verschollenen, weil die Angehörigen bisher nicht mitspielen wollten.« »Das hat sich inzwischen geändert. Seit gestern abend habe ich diese Aufnahme hier, allerdings fehlen jegliche erläuternde Hinweise dazu. Eine Frau Korab aus Wien hat sie mir per Kurierdienst zustellen lassen. Sie ist Mutter einer der Vermißten.« Er legte ein Gruppenfoto im Postkartenformat auf den Tisch. Vier der insgesamt sieben abgebildeten, sehr fröhlich wirkenden jungen Frauen, sie mochten alle so um die zwanzig Jahre alt sein, waren vom Absender durch ein kleines Kreuz gekennzeichnet worden. Ferner fiel auf, daß sie einheitlich alle schwarze T-Shirts trugen, auf denen links im oberen Brustbereich eine Art Emblem oder auch Symbol weiß leuchtend hervorstach. Genaueres ließ sich mit bloßem Auge nicht ausmachen. »Scheint so etwas wie ein Vereinsfoto zu sein«, mutmaßte der Doge und sah den Kollegen ratlos an. »Ich bezweifele allerdings sehr, daß uns dieses bunte Bildchen weiterbringt. Vielleicht sollte man zunächst 200
einmal herausfinden, ob diese Mädchen einer bestimmten Gruppierung angehören. Sieht mir fast nach einer Sekte oder etwas Ähnlichem aus.« »Mit dieser Einschätzung liegen Sie gut im Rennen«, lobte ihn Benedetti. »Ich habe das Foto inzwischen einscannen und im Computer digital aufbereiten lassen. Auf dieser Vergrößerung hier«, er reichte Manzoni ein zweites Bild, »können Sie nun sehr gut erkennen, mit was für einem Motiv sich die jungen Damen schmücken. Zweifelsfrei handelt es sich um eine stilisierte Darstellung des von mir erwähnten Fischepaares, die Symbolik weist also auf Venedig hin. Ferner scheint mir von größter Bedeutung zu sein, daß der Augenbereich des linken bzw. westlichen Fisches, wie man auch sagen könnte, durch eine Art Silberstickerei hervorgehoben ist. Konkret ausgedrückt, es geht um den Bezirk beim Campo di San Polo, der hier symbolisch als wichtiges Zentrum betont wird. Darum habe ich dort inzwischen auch ein wenig recherchiert und, wie bereits erwähnt, anhand des Gruppenfotos herausgefunden, daß die Verschollenen in diesem Bereich zuletzt gesehen wurden. An die Wienerin hier«, er wies auf eine hochgewachsene Frau mit vollem, schulterlangen Haar, »konnte sich der Inhaber des kleinen Kiosks vor der Kirche San Polo erinnern. Es handelt sich um die Tochter der Frau Korab, die in fast perfektem Italienisch nach österreichischen Tageszeitungen fragte. Eine 201
auffallende Person mit sinnlich-herben Gesichtszügen. Dann hier die beiden Deutschen in der Bildmitte, ein etwas verträumtes Geschwisterpaar, wie mir scheint. Sie wurden in der Farmacia gleich gegenüber vom Kiosk identifiziert. Eine von beiden klagte über Brechdurchfall oder etwas in der Art und bat darum, die Toilette benutzen zu dürfen. Die vierte schließlich, hier links im Bild, es geht um die etwas adipöse Holländerin van der Sleen, besuchte vor ihrem Verschwinden eine Ausstellung mit Bildern von Tiepolo in einem Anbau der Kirche San Polo. Soweit ich mich erinnere, hängen da seine berühmten Gemälde, auf denen er die vierzehn Stationen des Kreuzweges dargestellt hat. Die junge Frau blieb der damals Aufsicht führenden Person in Erinnerung, weil sie außerordentlich ergriffen zu sein schien und alle Motive mit ihrer Videokamera aufnahm, was dort erlaubt ist.« »Das sind in der Tat viele sehr interessante Details und Fakten, lieber Benedetti, aber leider fehlt mir da nach wie vor das alles verbindende Band.« »Ich werde versuchen, es Ihnen jetzt vorzustellen. Halten wir zunächst noch einmal fest, daß alle vier Frauen zuletzt im Bereich des Campo di San Polo gesehen wurden und danach auf geheimnisvolle Weise verschwanden. In diesem Zusammenhang an Entführungen zu denken, die ja Gewaltanwendung voraussetzen, ist ziemlich abwegig. Die Gegend dort ist den gan202
zen Tag über äußerst belebt, da kann man niemanden gegen seinen Willen auf offener Straße kidnappen. Zudem gibt es in Venedig praktisch keine Möglichkeit zur schnellen Flucht.« »Es wäre aber durchaus denkbar, daß die Opfer in eine Falle gelockt und sozusagen in aller Stille überwältigt wurden, etwa im Hinterzimmer eines kleinen Restaurants oder Hotels«, wandte der Doge eine. »Denkbar, aber nicht wahrscheinlich. Ich gehe inzwischen davon aus, daß die Vermißten freiwillig von der Bildfläche verschwanden.« »Freiwillig? Das klingt ja wohl absolut abenteuerlich!« »Zugegeben, darum will ich Ihnen meinen Verdacht auch näher begründen. Allerdings ist es notwendig, daß ich zunächst einige Betrachtungen voranstelle. Unsere Kirche, die bei diesem Fall in gewisser Weise eine Rolle spielen könnte, ist, oberflächlich betrachtet, eine geschlossene, in sich gefestigte, homogene religiöse Gruppierung. Aber der heilige Schein trügt. Zwischen dem nach außen hin sorgsam gepflegten Erscheinungsbild und ihrem inneren Zustand gibt es erhebliche Brüche. So kochen unter dem schützenden Deckmantel des Heiligen Vaters rund zweihundert sektenähnliche Gruppen, die sich alle dem Katholizismus verbunden fühlen, ihr eigenes frommes Süppchen. Bekannt sind etwa das Opus Dei, das Opus angelorum oder die Ritter 203
vom Heiligen Grabe. Diesen und allen anderen Ablegern Roms, die weltweit über viele Millionen Anhänger verfügen, geht es weniger um die christliche Botschaft als um Macht und Geld.« »Ich habe den Eindruck«, unterbrach ihn Manzoni ungeduldig erregt, »daß Sie in Gewässern fischen wollen, in denen es nichts zu fangen gibt. Wie Sie vielleicht wissen, bin ich bekennender und auch praktizierender Katholik, und alles in mir muß sich daher gegen die Vorstellung wehren, daß kirchliche Institutionen im vorliegenden Fall eine Rolle spielen könnten.« »Auch Venedig«, fuhr der Commissario ungerührt fort, »hat eine lange Tradition bezüglich religiöser Randgruppen. Schon im dreizehnten Jahrhundert bildeten sich bei uns immer wieder sogenannte ›Bruderschaften‹, einige davon existieren bis auf den heutigen Tag. Neben sozialen Aufgaben widmeten sie sich stets auch politischen Zielen und ausnahmslos verfügten sie über sehr viel Geld, wovon ihre prachtvollen Paläste noch heute Zeugnis ablegen. Denken Sie etwa an die Scuola di San Marco oder an die Scuola di San Rocco. In unserer Stadt gibt es nun seit einigen Jahren eine Neugründung, die Bruderschaft des westlichen Fisches. Wie der Name es ausdrückt, müßte sie irgendwo im Bereich des Campo di San Polo ihr Quartier aufgeschlagen haben, im Auge des Fisches also. Viel mehr konnte ich in der kurzen Zeit nicht in 204
Erfahrung bringen. Jedoch weist einiges darauf hin, daß diese Bruderschaft in Mitteleuropa bereits über viele Anhänger und eine straff organisierte Infrastruktur verfügt. Ihre Mitglieder schmücken sich mit dem Emblem des venezianischen Doppelfisches, das hier auf dem Foto erkennbar ist. Anfällig für die frohe Botschaft dieser Organisation scheinen in erster Linie junge Katholiken beiderlei Geschlechts zu sein, die sich für eine Art modernen religiösen Mystizismus engagieren. Ein gewisser Padre Albertus spielt wohl die federführende Rolle, allem Anschein nach eine charismatische Persönlichkeit, über die jedoch, von Gerüchten abgesehen, so gut wie nichts bekannt ist. Auffällig wurde der geistliche Herr erstmals im vergangenen Jahr, als eine von ihm gesteuerte einmotorige Privatmaschine vom Typ Cessna-Skyhawk beim Landeanflug auf unseren kleinen Flughafen am Lido die Takelage eines auslaufenden Segelschiffes streifte. Da Gott offensichtlich neben ihm im Cockpit saß, ging die Sache glimpflich aus. Auf weitere Ermittlungen wurde damals verzichtet, aus welchen Gründen auch immer. Jedenfalls wurde in der Lokalpresse der Verdacht geäußert, der Padre verfüge über keine gültige Fluglizenz. Aber was bei uns im Sande verlaufen soll, das verläuft sich da bekanntlich auch. Sand gibt es schließlich genug an Italiens Küsten. Und nun zu meinem vorläufigen Resümee: Die vier jungen Frauen, sie alle stammen bekanntlich aus sehr 205
wohlhabenden Familien, sind Mitglieder der erwähnten Bruderschaft, oder sagen wir ruhig einmal Sekte! Im günstigsten Fall haben sie sich freiwillig in die Obhut ihrer geistigen Führer begeben und anschließend bei Mama und Papa ein stattliches Lösegeld angemahnt, um so ihrer Gruppierung finanziell unter die Arme zu greifen. Bei religiös fanatisierten jungen Menschen sind allerdings auch andere Szenarien denkbar …« Mit einer unwilligen Handbewegung zerschnitt der Doge den Redefluß seines Kollegen. »Damit wir uns nicht falsch verstehen«, begann er zögernd und peinlich darauf bedacht, für seine dann folgenden Äußerungen die richtige Wortwahl zu treffen, »natürlich muß die Angelegenheit schnell und schonungslos aufgeklärt werden. Absolut schonungslos, daran darf nicht der geringste Zweifel bestehen. Andererseits«, er hielt für einen Moment inne, beleckte mehrmals Unter- und Oberlippe und fuhr dann fort, »wir müssen natürlich mit äußerster Sensibilität ans Werk gehen. Genau so«, bekräftigte er, »mit alleräußerster Sensibilität! Sie verstehen mich, mein Lieber?« Er legte den Kopf reichlich schräg, genauso wie das Wellensittiche zuweilen tun, und sah den Commissario fast flehend an. Dieser kannte die Ängste seines Vorgesetzten nur allzugut. Sobald eine Konfrontation mit kirchlichen Interessen oder Institutionen zu drohen schien, rutschte seine ohnehin schwach entwickelte Courage unter den Gefrierpunkt ab. 206
»Selbstverständlich mit alleräußerster Sensibilität«, versicherte er ihm daher. In seiner Erregung überhörte der Doge den ironischen Untertan in Benedettis Stimme. Herzlich dankte er ihm mit einem festen, langen Händedruck. »Enttäuschen Sie mich bitte nicht, tun Sie ihr Bestes! Trotz dieser schwierigen Situation hier muß ich leider mal wieder für ein oder auch zwei Tage nach Rom. Wichtige Verhandlungen auf höchster Ebene, Sie verstehen! Sobald ich wieder zurück bin, muß die Angelegenheit ohne großes Aufsehen vom Tisch sein.« Benedetti verstand nur allzugut, und selbstverständlich wußte er von dieser ansprechend behügelten römischen ›Ebene‹, die den ebenso schlichten wie schönen Namen Anna trug. Auch war klar, daß sein Chef als kleines Souvenir wieder einen exzellenten Haarschnitt mitbringen würde. Man verabschiedete sich, wie immer hatte der Doge seinen Mitarbeiter auf zuvorkommendste Weise gehaßt. Gleich nachdem der Commissario gegangen war, führte Manzoni mit eindringlicher, gedämpfter Stimme ein kurzes Telefonat. Es war Padre Albertus, den er über eine geheime Handy-Nummer erreichte. Dann ließ er sich zum Flughafen bringen.
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8. Kapitel
Der Abend dämmerte bereits herauf, als sich Benedetti zu Fuß auf den Heimweg machte. Am gläsernen Blumenkiosk neben dem Palazzo Cavalli Franchetti, der mit seinen üppigen, auf Marmorsäulen kunstvoll arrangierten Sträußen wie immer die Blicke der Vorübereilenden auf sich zog, ließ er für seine Mamma ein Gebinde aus weißen Lilien und Rosen der Züchtung GloriaDei zusammenstellen. Es war weniger der farbliche Kontrast zwischen diesen Blumen als vielmehr der verführerische Zusammenklang ihrer schweren Duftnoten, den die Signorina so sehr schätzte. Zuhause angekommen, legte er die Blumen im ersten Stock andachtsvoll vor der Tür seiner Mutter ab, klingelte dreimal und ging dann schnell weiter nach oben. Dieses Ritual hatte sich im Laufe der Jahre ohne gegenseitige Absprache so eingeschlichen, nur selten und ausschließlich nach vorherigem Kontakt über das Haustelefon trafen sich die beiden zu einem persönlichen Gespräch. Nach ihrem tragischen Unglücksfall in der Arena von Verona hatte sich die einstmals gefeierte Sängerin in eine selbstgewählte Isolation zurückgezogen, die vom Sohn zwar respektiert, wenn auch letztlich nicht verstanden wurde. Irgendwann, das hatte er 208
sich seit langem vorgenommen, mußte er diese geheimnisvolle, von Gerüchten umgebene Distanz zu seiner Mutter, die auch vor Verona schon immer bestanden hatte und die ihn seit frühester Kindheit von ihr trennte, überwinden. Pünktlich um zwanzig Uhr, wie verabredet, suchte Benedetti die Signora Malibran auf. Diesmal empfing ihn ihre Hausangestellte an der Tür, eine scheue, etwas verschreckt wirkende Person mittleren Alters. Im Flüsterton wechselte sie mit ihm die notwendigsten Worte, führte ihn bis zum Eingang des Wohnzimmers und löste sich dann, einem Geistwesen vergleichbar, zwischen zwei Vorhängen regelrecht auf. Die Hausherrin kam aus dem Hintergrund des großen Raumes sehr langsam auf ihn zu. Sie trug einen eng anliegenden Hausanzug aus schwarzem Chinill und rauchte ein Zigarillo, das ganz offensichtlich erst gerade angezündet worden war. Nachdem sie sich einander wortlos bis auf wenige Meter genähert hatten, wurde die angespannte Stille durch leise einsetzenden Gesang unterbrochen. Es war die ihm nur allzugut bekannte und geliebte Stimme seiner Mutter, die jetzt über verdeckt angebrachte Lautsprecher einer Stereoanlage erklang. Sie sang die Arie der Blonden aus Mozarts Entführung: »Welche Wonne, welche Lust …« Es handelte sich um eine ihrer ersten Plattenaufnahmen aus den sechziger Jahren, und er schätzte sie, trotz einiger 209
technischer Unvollkommenheiten, mehr als alle späteren Einspielungen. »Sie empfangen mich mit einer perfekten Inszenierung, Signora. Das hat doch sicherlich einen Grund, darf ich ihn erfahren?« Sie wich einer Antwort aus. »Nett von Ihnen, daß Sie sich an unsere Verabredung gehalten haben. Nun, auf die Polizei war hier ja schon immer Verlaß. Darf ich Ihnen diesmal einen Drink anbieten, oder lieber einen Espresso?« »Mit einem Cognac könnte ich mich jetzt gut anfreunden.« »Diese Freundschaft läßt sich arrangieren«, sagte sie und ging zu einer kleinen Hausbar neben dem TreviBrunnen. Während sie dort für einen Moment beschäftigt war, näherte er sich unauffällig der Bilderwand und fand seine Vermutung bestätigt: Die bewußte Stelle war nach wie vor leer. Die Malibran kam mit zwei Gläsern und einer Flasche zurück. »Ich schließe mich ihnen an, es ist übrigens ein Frapin, falls Ihnen das etwas sagt. Liebe Freunde bringen mir gelegentlich ein paar Flaschen aus Frankreich mit.« Benedetti schenkte beiden ein, sie nickten sich kurz zu und versenkten sich für einen genußvollen Augenblick in die klare, herbfruchtige Duftnote des edlen Tropfens. Als er danach wieder zur ihr hinüberblickte, fiel ihm etwas geradezu Sensationelles auf – warum 210
eigentlich erst jetzt? Ganz im Gegensatz zu ihren üblichen Gewohnheiten hatte die Signora an diesem Abend auf Schmuck jeglicher Art verzichtet, mit einer Ausnahme allerdings. Auf dem Revers ihrer Jacke leuchtete eine zierliche silberne Brosche aus dem dunklen Untergrund hervor. Kein Zweifel, es handelte sich dabei um eine kunstvoll gearbeitete, stilisierte Darstellung des venezianischen Doppelfisches. Für endlos lange Augenblikke, in Wirklichkeit dauerten sie nur wenige Sekunden, war der Commissario zu keinerlei Reaktionen fähig. Die Malibran genoß seine Hilflosigkeit zunächst mit verhaltener Genugtuung. Da ihr jedoch unbedingt daran gelegen war, die weiteren Gespräche des Abends in einer möglichst aufgelockerten Atmosphäre zu führen, ließ sie ihn nicht allzu lange im Gefängnis seiner Sprachlosigkeit zappeln. »Setzen wir uns doch endlich mal«, regte sie in fast freundschaftlichem Ton an und wies auf ihre gemütliche Sitzgruppe aus Rattan. Während die beiden noch dabei waren, in den knarrenden Sesseln Platz zu nehmen, fuhr sie fort: »Leider wird mein Freund Signore Agnoli etwas später als angekündigt zu unserem Gespräch kommen. Er hat vorhin angerufen, es gibt wohl Ärger mit seinem Bootsmotor. Bei so hoher Luftfeuchtigkeit wie heute abend hat er manchmal Schwierigkeiten mit der Zündung. Aber ich denke, wir werden uns in der Zwischenzeit nicht allzusehr langweilen. Was schlagen Sie vor?« 211
Benedetti hatte seine Verwirrung inzwischen überwunden. »Ich bin keineswegs hier«, antwortete er spürbar gereizt, »um mit Ihnen einen gemütlichen Abend zu verbringen, alles zu seiner Zeit! Wie Sie wissen, ermittele ich momentan in einer ganz bestimmten Angelegenheit, und so, wie sich die Dinge inzwischen entwickelt haben, gibt es gute Gründe dafür, mit Ihnen und Ihrem Freund ein ebenso ernstes wie offenes Gespräch zu führen.« Da er immer wieder, wie magisch angezogen, die Brosche der Malibran mit irritierten Blicken streifte, was ihr natürlich nicht verborgen blieb, entschloß sie sich zu einer offensiven Frage. »Eine schöne Arbeit, nicht wahr?« »Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen«, wich er aus. »Keine Ablenkungsmanöver, Signore, Sie verstehen mich sehr gut. Also, wie finden Sie meinen Geschmack? Ich habe das gute Stück übrigens bei Nardi arbeiten lassen. Es ist ein Unikat.« Jetzt war der Moment für Benedettis Revanche gekommen. »In der Tat sehr ansprechend, das Motiv«, sagte er betont leichthin, »aber inzwischen wurde es bereits viel zu oft kopiert. Gestern sah ich beispielsweise eine Gruppe junger Frauen, deren T-Shirts mit genau diesen zwei Fischen bedruckt waren. Wirkliche Exklusivität gibt es leider so gut wie gar nicht mehr.« Der Commissario hatte sich, was die erhoffte Wir212
kung seiner Worte betraf, völlig verschätzt. Sie war gleich Null! Die Signora überhörte nämlich seine abwertende und zugleich provozierende Bemerkung mit bewundernswertem Gleichmut, wechselte ohne Übergang zu einem völlig anderem Thema und köderte ihn mit einem interessanten Angebot. »Mein Freund müßte jetzt wirklich jeden Moment hier eintreffen. Wie wäre es, wenn ich Ihnen in der Zwischenzeit den zweiten Teil meiner Lebensgeschichte erzählen würde? Bei Ihrem ersten Besuch vor ein paar Tagen sind wir nicht ganz damit fertig geworden. Ich denke, daß es sehr nützlich für Sie sein könnte, auch den zweiten Abschnitt meiner Biographie zu kennen. Sie können dann gewisse Ereignisse und Fakten, über die heute sicherlich noch zu sprechen sein wird, besser bewerten und verstehen.« »Einverstanden! Am besten, Sie legen gleich los. Vielleicht darf ich vorab noch darauf hinweisen, daß ich eine Vorliebe für gestraffte, emotionsfreie Schilderungen habe, die sich auf das Notwendigste beschränken.« »Ich werde bemüht sein, vor allem den Commissario in Ihnen zufriedenzustellen, den kühlen Faktenjäger also. Aber völlig ohne Gefühle wird das nicht möglich sein. Das Leben besteht nicht nur aus Tatsachen, Signore. Und ich bin mir sehr sicher, daß auch Sie es längst erfahren haben. Also, wo war ich damals noch 213
stehengeblieben?« Sie überlegte einen Moment und fuhr dann fort: »Richtig, ich erinnere mich jetzt. Zuletzt hatte ich Ihnen von meinem sechzehnten Geburtstag erzählt, als mich Vittore zu seiner Geliebten machte. Von nun an mußte ich gleich drei wundervolle Rollen in seinem Leben spielen, denn stets war ich außerdem auch noch Schwester und Tochter für ihn. Eine total verrückte Beziehung, nicht wahr? In den folgenden Jahren war Vittore nach wie vor ständig unterwegs, vor allem wohl im Ausland. Ich vermutete, wie schon einmal erwähnt, daß er mit streng geheimen politischen Missionen betraut war, aber zu keiner Zeit wußte ich irgend etwas Konkretes, und das fand ich auch in Ordnung so. Unsere Verbindung konnte natürlich nur funktionieren, weil ich ihm absolut vertraute und er mir wohl auch. Entscheidend für mich war die Gewißheit, daß er als eingefleischter Idealist vorsätzlich niemals etwas Unrechtes getan hätte. Aber Idealisten, das wurde mir erst viel später schmerzlich bewußt, sind meistens träumende nützliche Idioten, die sich für Interessen gewisser Menschen und Mächte bereitwillig einspannen und notfalls auch vernichten lassen. Zunächst jedoch führten wir eine glückliche Distanzbeziehung, die auf wenige gemeinsame Stunden im Monat beschränkt war. Am aufregendsten fand ich immer unsere gelegentlichen nächtlichen ›Antipasta-Sessions‹, wie er sie nannte, die unten in der 214
Küche abliefen. Vittore kochte sehr gern und auch gut, vor allem entspannte er sich hervorragend dabei. Während wir über Gott und die Welt diskutierten, uns Verrücktheiten ausdachten, Musik hörten und an Wein nicht gespart wurde, bereitete er nebenbei immer irgendwelche Leckereien zu, die wir zwischendurch aßen. Manchmal verschmorten sie auch auf dem großen alten Kohleherd, weil wir uns in spontan erdachten Liebesspielen gefunden hatten und unser Zeitgefühl eingestürzt war. Damals machte ich die durchaus schöne Erfahrung, daß ein massiver, großer Küchentisch aus der Toscana zu sehr viel mehr taugt als üblicherweise angenommen. Meist erst gegen Morgen, wenn die Amseln bereits den erwachenden Tag besangen, schleppten wir uns nach oben ins Bett.« »Signora«, schaltete sich Benedetti ein, »ich hatte Sie doch darum gebeten, …« »Es wird ja immer behauptet«, fuhr sie ungerührt fort, »daß sich unser Leben in bestimmten Rhythmen ändert. Ich kann das nur bestätigen. Als ich sieben Jahre alt war, wollte mein Vater mir zum ersten Mal an die Wäsche. Die Mamma verhinderte es in letzter Sekunde. Mit vierzehn nahm Vittore mich einfach von der Straße mit, so wie man einen herrenlosen Hund oder eine Katze aufgreift: Als dann, nach vielen unbeschwerten Jahren, mein einundzwanzigster Geburtstag nahte, beschlich mich schon lange vorher die düstere Ahnung, 215
daß sich wieder etwas Schicksalhaftes ereignen würde, und ich beschloß, einfach nicht älter zu werden und die Zeit anzuhalten. Zunächst sah es auch überhaupt nicht nach irgendwelchen Katastrophen aus, ganz im Gegenteil. Vittore kam häufiger und blieb länger als je zuvor. Erstmals machten wir zusammen sogar einige kürzere Reisen, nach Rhodos zum Beispiel und in den Libanon, wo er mich für zwei Tage im Hotel allein ließ, um irgendwelche wichtigen Gespräche zu führen. Ich erinnere mich sehr gut, daß ich mit einem sehr unguten Gefühl von Beirut nach Mailand zurückkehrte. Meinen Geburtstag feierten wir kurz darauf mit einem rauschenden Fest. Neben Freunden und Bekannten unseres gemeinsamen Kreises kamen auch damals sehr populäre Leute aus der Film- und Modebranche, einige Künstler sowie Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Politiker, Industrielle und hochrangige Vertreter der Kirche also. Weiß der Teufel, woher mein Schatz sie alle kannte. Gleich am nächsten Morgen mußte er wieder weg, und ich sah und hörte dann fast vier lange Wochen nichts von ihm. Das war ungewöhnlich, denn sonst rief er zwischendurch immer mal an, meistens nachts. Ich wurde immer unruhiger und besorgter. In diese Zeit fiel der Tod meiner Eltern, von dem ich zuerst aus der Zeitung erfuhr. Es war ein Doppelmord. Vater hatte meine Mutter mit einem Beil erschlagen, er war immer fürs Grobe gewesen, und 216
hatte sich anschließend mit seinem Jagdgewehr erschossen. Ich reiste nach Feltre und erledigte das Notwendige. An den darauf folgenden Tagen stieg meine innere Spannung aufs äußerste an, denn noch immer gab es kein Lebenszeichen von Vittore. Eines Abends dann, es war schon sehr spät und ich schlief bereits, wurde ich von polternden Geräuschen, sie kamen von unten aus der Küche, aufgeweckt. Zuerst nahm ich an, Vittore sei unerwartet gekommen, was durchaus üblich gewesen wäre. Aber da ich ihn als sehr leisen, rücksichtsvollen Menschen kannte, schloß ich diese Möglichkeit zunächst aus und dachte an Einbrecher. Mit einer Pistole in der Hand, die immer auf unserem Nachttisch lag, schlich ich mich lautlos nach unten. Da sah ich ihn, zum ersten Mal offensichtlich angetrunken, an unserem geliebten Tisch sitzen. Er saß, noch immer im Mantel, mit dem Rücken zur halb geöffneten Tür gewandt, hatte den Kopf in beide Hände gestützt und starrte auf einen größeren, braunen Umschlag, der vor ihm auf der gescheuerten Platte lag. ›Komm rein, amore, und setz dich zu mir‹, sagte er liebevoll, ohne sich zuvor nach mir umgedreht zu haben. Er war ein Instinktmensch und wie schon so oft, hatte er meine Nähe wieder einmal erspürt. Eine Stunde lang oder auch länger, ich weiß es nicht mehr genau, hockten wir schweigend nebeneinander. Gelegentlich griff er nach meiner Hand, wohl um mich zu 217
beruhigen. Irgendwann endlich stand er auf, zögernd und etwas schwerfällig. Mir war völlig klar, daß er mir jetzt einen lange überdachten Entschluß mitteilen würde. ›Ich muß gleich wieder fort‹, begann er mit seiner beruhigenden Stimme und vermied es, mich dabei anzusehen. ›Hier liegt ein Umschlag, heb ihn bitte sehr gut auf. Falls ich nach einer Woche nicht zurück sein sollte, dann mußt du ihn öffnen. Mach dir keine Sorgen und geh gleich wieder nach oben ins Bett.‹ Danach küßte er mich lange und wild auf den Mund, wie beim ersten Mal, nachdem wir die schwarzen Rosen unten im Garten vergraben hatten. Danach verschwand Vittore. Ich hörte noch, wie draußen eine schwere Wagentür zugeschlagen wurde, der Motor ansprang und das Auto sich langsam entfernte. Von diesen letzten Geräuschen, die ich noch heute unter Tausenden anderen heraushören könnte, ging etwas Unbarmherziges, Endgültiges aus. Ich flüchtete mich dann in einen Schreikrampf und weckte damit unsere Haushälterin auf, die liebe Signora Cini. Die alte Dame schleppte mich hoch aufs Zimmer und blieb so lange bei mir, bis ich mich endlich beruhigt hatte und erschöpft einschlief. Die folgenden Tage waren ein Gang durch die Hölle, den ich nur mit starken Psychopharmaka einigermaßen überstand. Dann, es war nicht mal eine Woche 218
vergangen, ging der Zeitzünder hoch. Er war in einer kurzen Zeitungsnotiz versteckt, die ich morgens beim Lesen fast übersehen hätte.« Die Malibran stand auf und ging zu ihrer Bilderwand an der gegenüberliegenden Seite des Zimmers. Dort nahm sie einen gerahmten, mit den Jahren arg verblichenen Ausschnitt von der Wand und reichte ihn ihrem Gast. Benedetti überflog die Meldung, deren Quelle eine Kairoer Presseagentur war: Absturz beim Landeanflug – keine Überlebenden! Kurz vor der Landung auf dem Internationalen Beiruter Flughafen soll gestern abend gegen 19 Uhr 10 Ortszeit eine zweimotorige Privatmaschine noch unbekannter Nationalität abgestürzt sein. Augenzeugenberichten zufolge hatte der Pilot zuvor mit dem Fahrwerk seiner Maschine die Spitzen einer Baumgruppe gestreift, worauf das Flugzeug in eine Schräglage geriet, kurz danach abstürzte und in Flammen aufging. Nach einer anderen Version explodierte die Maschine bereits in der Luft, ein Pilotenfehler wäre in diesem Fall auszuschließen. Von offiziellen Stellen wurde der Vorfall bisher weder bestätigt noch dementiert. Es hieß lediglich, alle Starts und Landungen würden nach wie vor völlig störungsfrei abgewickelt. Nachdem der Commissario ihr das traurige Dokument 219
zurückgegeben hatte, setzte sie ihre Erzählung in bitterem Tonfall fort. »Am nächsten Tag flog ich über Rom nach Beirut, weil ich trotz mehrerer Telefonate mit der Leitung des dortigen Flughafens nur ausweichende Antworten bekam. Daran änderte sich auch nicht viel, als ich wenig später persönlich bei den Behörden dort vorstellig wurde. Die Araber sind nun mal Meister, wenn es darum geht, unbeliebte Tatsachen zu verschleiern, und schon gar nicht lassen sie sich von einer jungen Europäerin beeindrucken. Da ich nicht wieder abreisen wollte, ohne letzte Gewißheit zu haben, so oder so, ermittelte ich dann einige Tage lang auf eigene Faust. Falls Sie bis heute noch nicht wissen sollten, verehrter Benedetti, was eine Mauer des Schweigens ist, im Libanon können Sie es hautnah erfahren! Ich stieß zwar auf Leute, die vorgaben, mir unter gewissen Bedingungen weiterhelfen zu können, und mit einigen von ihnen traf ich mich sogar mehrfach abends im Casino du Liban. Aber letzten Endes wußten sie gar nichts oder wollten nichts wissen, sondern sie waren ausschließlich darauf aus, mit mir ins nächste Bett zu steigen, und das möglichst schnell. Sogar dazu wäre ich ohne Zögern bereit gewesen, wenn ich nur halbwegs sicher hätte sein können, auf diese Weise zu einer verläßlichen Information zu kommen. So beschloß ich schweren Herzens meine Abreise, denn ich wollte mich von den Behörden dort nicht länger demütigen 220
lassen. Es muß kaum erwähnt werden, daß mir die vornehmen Herren in unserer Botschaft auch nicht weiterhelfen konnten oder mochten. Außer einem zu dünnen Espresso und bedauernden Worten hatten sie nichts für mich übrig. Wenige Stunden vor meinem Rückflug verhalf mir ein glücklicher Zufall dazu, daß ich Gewißheit über mein Unglück bekam. Einem jungen Taxifahrer, der mich zum Flughafen brachte, erzählte ich meine Geschichte. ›Wenn Sie noch Zeit genug für einen kleinen Umweg haben‹, meinte er anschließend und sah mich ängstlich prüfend an, ›dann kann ich Ihnen etwas zeigen.‹ Ich nickte spontan, denn seine stille, ernste Art flößte mir Vertrauen ein. An der nächsten Kreuzung änderte er daraufhin seine Fahrtrichtung und fuhr mit mir durch die Slums der Vorstadt, vorbei an nicht enden wollenden Flüchtlingslagern der Palästinenser, hinaus in eine ländliche Gegend. Die Straße wurde immer schlechter, staubiger und enger. Hier und dort weideten Ziegen- und Schafherden zwischen der verdorrten Macchie. Weit und breit kein Haus, kein Mensch. Panische Angst stieg in mir hoch, schließlich hatte ich mich einem wildfremden Mann anvertraut und war dem jetzt praktisch ausgeliefert. Endlich hielt Achmed, so hieß er, vor einem halbverfallenen Haus, stieg aus und forderte mich auf, mit ihm zu gehen. Vielleicht bringt er mich jetzt um, dachte ich, und 221
macht sich dann mit meinem Gepäck davon. Aber es kam anders. Nach einem kurzen Fußweg über verschlungene Pfade erreichten wir eine kleine Anhöhe, die mit wenigen Pinien und Zedern bewachsen war. Er blieb stehen, konzentrierte sich für einen Moment und begann zu erzählen. ›Ich bin häufig mal abends hier, um für meinen Vater die Ziegen zu melken. Das Flugzeug kam etwa von da, es war eine zweimotorige Propellermaschine‹, er wies mit der Hand in Richtung zur nahen Gebirgskette. ›Sie flog vielleicht noch hundert Meter hoch, vielleicht sogar etwas niedriger. Das war völlig normal, denn bis zum Flughafen ist es ja nicht mehr weit. Plötzlich hörte ich Schüsse von da unten, sie kamen aus einer Maschinenpistole. Dann eine Explosion, ein Feuerball, das war alles. Allah hat es wohl so gewollt …‹ Er sah mich betroffen an. Wir gingen schweigend zum Wagen, und auch während der Rückfahrt fiel kein einziges Wort. Erst später, als sich Achmed vor dem Abfertigungsschalter von mir verabschiedete, fanden wir aus unserer Sprachlosigkeit zurück. Ich wollte von ihm wissen, ob er denn damals nicht zum Unglücksort gelaufen sei und ob es möglicherweise Überlebende gegeben habe, aber er schüttelte nur den Kopf. ›Ich war noch nie besonders mutig und bei uns tut man gut daran, sich aus bestimmten Dingen herauszuhalten. Darum bin ich gleich abgehauen, nachdem die Sache passiert war, denn 222
Mitwisser leben hier gefährlich. Mein kleiner Bruder schlich sich allerdings einige Tage später zur Absturzstelle, aber da gab es nicht mehr viel zu sehen. Alles, was noch auf die Katastrophe hätte hinweisen können, hatte man restlos beseitigt. Bis auf die verbrannten Grasflächen natürlich, aber das regelt die Natur. Im Arabischen sagt man: Warte, bis der nächste Regen kommt. Dann wächst Gras über die Wunde, und sie schmerzt nicht mehr.‹ Als wir uns mit einem freundschaftlichen Händedruck trennten, spürte ich, wie er mir dabei einen kleinen kühlen Gegenstand übergab. ›Vielleicht gehört das zu Ihnen‹, sagte er. ›Mein Bruder fand es im Gras.‹ Dann verschwand er in der Menschenmenge, und mir fiel mit Schrecken ein, daß ich ihn nicht einmal bezahlt hatte. Meine Hand verkrampfte sich zur geschlossenen Faust, und ich spürte, wie das Geheimnis allmählich auf meiner Haut zu brennen begann. Durch ängstliches Tasten mit den Fingerkuppen versuchte ich zunächst herauszufinden, worum es sich bei diesem mysteriösen kleinen Abschiedsgeschenk wohl handeln mochte. Lange Zeit fehlte mir der Mut dazu, meine Hand einfach zu öffnen und hineinzusehen. Viel später erst, wir waren längst in der Luft, hielt ich die Spannung nicht mehr aus: Achmed hatte mir ein hübsch gearbeitetes silbernes Medaillon zugesteckt, eine Art Talisman, wie mir schien. Es handelte sich um einen fünfzackigen 223
Stern mit Schweif, um die Darstellung eines Kometen also. Bis zu unserer Zwischenlandung in Rom starrte ich unentwegt auf diese Miniatur, verstieg mich in vage Ahnungen, Ängste und sogar Hoffnungen, aber sie gab ihr Geheimnis nicht preis. Niemals zuvor hatte ich dieses Stück gesehen, schon gar nicht bei Vittore. Trotzdem wurde mir allmählich zur Gewißheit, daß es mich auf noch unerklärliche Weise mit ihm verband. Es mußte, das schien festzustehen, ein letzter, alles beendender Gruß von ihm sein.« Die Signora erhob sich ein wenig schwankend, denn sie hatte sich inzwischen, um von den Bildern ihrer Erinnerung nicht allzusehr verletzt zu werden, von dem vorzüglichen Cognac mehrmals großzügig nachgeschenkt. Zudem machte ihr auch die erdrückende Schwüle des Abends immer mehr zu schaffen. Hektische Flecke, die unter ihrem reichlich aufgetragenen Make-up aufzuglühen begannen, vor allem im faltigen Halsbereich, deuteten auf einen Zustand erregter Kraftlosigkeit hin. Wortlos, der Gesichtsausdruck maskenhaft verhärtet, umrundete sie dann minutenlang und mit zunehmender Hektik ihren Trevi-Brunnen, peinlich darauf bedacht, stets in der Balance zu bleiben. Schließlich blieb sie schwer atmend und resigniert stehen, wie jemand, der begriffen hat, daß es ein absolut sinnloser Versuch ist, mit ständigen Kreisbewegungen vor etwas fliehen zu wollen. Sie suchte dann Halt an der kraftvol224
len Figur des Okeanos, sammelte sich einen Moment lang und schien kurz darauf die Selbstkontrolle wiedererlangt zu haben. »Der Rest ist jetzt wirklich mit wenigen Sätzen erzählt«, fuhr sie mit gefestigter Stimme fort. »Als ich spät nachts in Mailand zurück war, stürzte ich als erstes in die Küche und riß den Umschlag auf. Er lag noch immer unberührt auf dem Tisch, auch sonst hatte ich nach Vittores überraschendem Besuch in jener Nacht nicht das geringste im Raum verändert. Der Inhalt des geheimnisvollen Briefes führte mir grausam vor Augen, daß ich von nun an eine sehr reiche und zugleich einsame junge Frau sein würde. Ein handschriftliches, notariell beglaubigtes Testament machte mich zur Alleinerbin seines beträchtlichen Vermögens. Dazu gehörten, neben der herrschaftlichen Villa in Mailand, eine Etagenwohnung am Central Park in New York, mehrere Grundstücke in Lugano sowie Wertpapiere und Dollars in bar von mehr als einer Million.« »Aber keine einzige persönliche Zeile, kein Abschiedsbrief oder Hinweis, der irgend etwas hätte erklären können?« wollte der Commissario wissen. »Nein und ja. Zwischen den Papieren lag ein Bild von Vittore, das ihn im Cockpit seiner geliebten ›Catalina‹ zeigte. Ich haßte dieses zweimotorige Flugzeug, weil es wenig elegant aussah, wahnsinnigen Lärm machte und trotzdem kaum mehr als zweihundert Ki225
lometer in der Stunde flog. Aber es hatte einen Vorteil, der für gewisse Missionen wohl von großem Nutzen war: Es konnte sowohl auf jeder Flugpiste als auch auf dem Wasser landen. Auf der Rückseite der Fotografie stand lediglich ein einziger Satz: Der Tod herrscht nur über die Zeit, Liebe ist Ewigkeit! Dein Komet.« »Das ist ja Wahnsinn, er schrieb wirklich ›Komet‹?« entfuhr es Benedetti, und zum ersten Mal an diesem Abend spürte die Signora mit einer gewissen Genugtuung, daß er einer offen gezeigten Anteilnahme fähig zu sein schien. »Richtig, er schrieb ›Komet‹! Und damit hatte ich den Schlüssel in der Hand, der mir zur letzten Gewißheit verhelfen sollte. Aber noch fehlte das Schloß dazu. Ich fand es am nächsten Morgen in einem Lexikon unserer gut sortierten Bibliothek. Unter dem Begriff ›Komet‹ stand dort der alles erklärende Satz. Kometen, hieß es unter anderem, sind vagabundierende Himmelskörper des interstellaren Raumes, deren Kern vermutlich aus einem Gemisch gefrorener chemischer Verbindungen besteht. Sie werden durch die Gravitationskräfte unseres Sonnensystems eingefangen und auf eine Umlaufbahn gezwungen, die sie unter anderem immer wieder in Erd- und Sonnennähe führt. Unter Einwirkung der Sonnenstrahlung verdampfen sie im Laufe der Zeit und lösen sich schließlich völlig auf. Verstehen Sie die Symbolik?« Der Commissario nickte. 226
»Sie waren die Erde, den der Komet ›Vittore‹ immer mal wieder für kurze Zeit besuchte, bis er im wahrsten Sinne des Wortes verglühte. Und völlig unwichtig in diesem Zusammenhang ist, ob das gefundene kleine Silbermedaillon wirklich einmal zu ihm gehörte oder nicht. Es hatte lediglich die Aufgabe, Ihnen eine Botschaft zu überbringen.« Nach Momenten der Betroffenheit nahm Benedetti das Gespräch wieder auf. »Damals entstand ein merkwürdiger Bruch in Ihrer Biographie, den ich nicht auf Anhieb nachvollziehen kann. Obwohl Sie über Nacht zu einer sehr reichen und damit unabhängigen Frau wurden, entschieden Sie sich trotzdem für einen Lebenswandel, wenn ich das einmal so ausdrücken darf, der ganz erheblich unter ihrem vorherigen Niveau lag.« »Wie wenig doch Männer über die Psyche einer Frau wissen«, meinte sie traurig. »Nun gut, ich muß Ihnen da wohl ein wenig Nachhilfeunterricht geben. Begreifen Sie zunächst einmal, ich verlor damals nicht irgendeinen netten Menschen, sondern meine erste große und einzige Liebe. Andererseits kam hinzu, daß ich nicht nur sehr reich, sondern auch schön, also begehrenswert und noch dazu sehr jung war. Unter diesen Voraussetzungen war ich weder in der Lage noch gewillt, mich etwa in ein Kloster einsperren zu lassen, wie das gelegentlich in kitschigen Filmen der Fall ist. Nein, das bestimmt nicht! Ich taugte nicht zur ›Frau am Fenster, die für den Rest 227
ihres Lebens hinter der Gardine steht und darauf hofft, daß ihr Geliebter vielleicht doch noch zurückkommt.‹ Ich wollte und brauchte Sex, allerdings ohne Liebe. In den folgenden Jahren meines Lebens ging es mir um pure Lust, um den Rausch des Vergessens und, um ehrlich zu sein, auch um Rache!« »An wem wollten Sie sich denn rächen, Sie kannten doch die Mörder Ihres Freundes gar nicht?« »Es war Rache an den Mächtigen der Männerwelt schlechthin. In erster Linie an Politikern und all den anderen, die überall auf der Welt die Fäden in den Händen halten und uns allesamt belügen, verdummen, für ihre Ziele ausnutzen und, falls erforderlich, sogar jederzeit kaltblütig umbringen lassen. Was glauben Sie denn, warum etwa ein Kennedy, der 33-Tage-Papst Johannes Paul I. oder Lady Di sterben mußten? Die dämliche Öffentlichkeit wurde und wird doch zu allen Zeiten mit Geschichten abgespeist, die nur aus Unund Halbwahrheiten bestehen. Auch Vittore, davon bin ich überzeugt, wurde Opfer einer dieser anonymen internationalen Cliquen. Sie mißbrauchten seinen Idealismus für politische Ziele, und als er aus irgendwelchen Gründen lästig, überflüssig oder gar unbequem wurde, ließ man ihn als hübsches Feuerwerk verglühen.« »Das sind doch nur Hypothesen, mehr nicht. Aber wie auch immer, mich würde schon außerordentlich interessieren, wie Ihre Rache eigentlich aussah.« 228
»Zunächst einmal muß ich klarstellen, daß mein Haus in Mailand nicht irgendein Bordello für Männer war, die eben mal schnell zwischen zwei wichtigen Terminen ihre Hose runterlassen wollten. Man konnte es eher mit einem exklusiven Club für Persönlichkeiten mit Namen, Geld und Einfluß vergleichen. Aber es ging nicht immer gleich ab in die Betten, no no! Bei mir verkehrten zum Beispiel auch viele Künstler, jüngere vor allem, die sonntags anspruchsvolle kleine Matineen gestalteten und dadurch die Chance bekamen, sich bei einflußreichen Leuten bekannt zu machen. Abends wurde immer ausgelassen gefeiert, getanzt, diskutiert und natürlich nach allen Regeln der internationalen Küche gespeist und getrunken. Lange Zeit hielt ich einen der besten Spitzenköche Italiens unter Vertrag …« »… Ihre Rache, Signora!« mahnte der Commissario ungeduldig an. »Ich wußte gar nicht, daß Polizisten an derart delikaten Themen so brennend interessiert sein können. Jetzt soll Ihre Neugier aber wirklich befriedigt werden. Kurz gesagt, natürlich ging es auch um Sex, und zwar in allen vorstellbaren Variationen. Ich führte so eine Art erotischen Schlemmerladen, ja, das ist der richtige Ausdruck. Ein McDonalds für Gäste, die Appetit auf den preiswerten schnellen Lusthappen hatten, waren wir nicht. Meine Rache bestand nun unter anderem 229
darin, gewisse einflußreiche Männer, vor allem auch hochrangige Politiker, total verrückt nach mir zu machen, bis hin zur völligen Abhängigkeit, um sie anschließend eiskalt fallenzulassen. Sie können sich gar nicht vorstellen, zu welch würdelosen Erniedrigungen das angeblich so starke Geschlecht fähig sein kann. Es gibt kaum etwas Lächerlicheres als einen balzenden Liebhaber, dem vor Geilheit sämtliche Hormone von unten nach oben schießen und ihm schließlich auch noch die allerletzte Hirnzelle überschwemmen. Auf die Schilderung von Details möchte ich verzichten.« »Sehr einverstanden, meine Phantasie wird mir schon weiterhelfen.« »Eigentlich schade, wenn Sie bei diesem Thema Ihre Vorstellungskraft bemühen müssen. Aber wo die Erfahrung fehlt, da kann uns nur die Phantasie entschädigen.« Der Commissario spürte, wie sein Gesicht für Sekunden unter einer heißen Rötung aufflammte, aber er hatte sich dann sehr schnell wieder unter Kontrolle. »Sie sprachen gerade mit Verachtung davon«, fuhr er fort, »wie sich gewisse Herren von Ihnen erniedrigen ließen. Wie stand es denn um Ihre eigene Würde bei diesen Spielchen? Schließlich saßen Sie ja zusammen im selben Boot, oder sagen wir doch ruhig Bett …« »Im Leben wird immer das Opfer erniedrigt, aber nicht der Täter. Und ich war der Täter!« »Nun gut, ich bewundere Ihr Talent für mehr oder 230
weniger geistreiche Wortspielereien durchaus, aber letzten Endes ging es dennoch um Prostitution. Ihre persönlichen Motive und das sogenannte hohe ›Niveau‹ Ihres Hauses ändern daran nichts.« »Mit dieser Einschätzung beleidigen Sie mich keineswegs. Sie übersehen nämlich, daß es Prostitution weiß Gott nicht nur in gewissen Kreisen gibt, die Sie offenbar für mehr oder weniger verabscheuungswürdig halten. Die für mich ekelhafteste Form dieser Erniedrigung, wenn es denn wirklich immer eine sein sollte, findet in den Ehen, aber nicht in den Bordelli statt!« »Jetzt habe ich schon wieder mal Erklärungsbedarf.« »Ihnen soll schnell geholfen werden, Signore Benedetti. Sehen wir uns doch einmal den ganz normalen, gutbürgerlichen Familienalltag an. Da spreizen jeden Abend Millionen Frauen lustlos ihre Schenkel, nur damit der Papa mal wieder zu seinem Recht kommt, wie es so schön heißt. Und die Mamma sieht natürlich ebenfalls ihren Vorteil, der allerdings, vor allem mit zunehmendem Alter, immer seltener darin liegt, daß ihr ein Herzenswunsch erfüllt wird. Vielmehr erduldet sie den Vorgang, heuchelt vielleicht sogar noch Hingabe und Liebe, täuscht den ganz großen Orgasmus vor. In Wirklichkeit jedoch ist sie froh, wenn alles vorbei ist, am liebsten möglichst schnell. Aber weil sie im Bett immer mal wieder schön brav ist, darf sie natürlich ab und zu gewisse Wünsche anmelden. Das neue Kleid 231
zum Beispiel, ein schickes Paar Schuhe, der Abend im teuren Restaurant und vieles andere mehr muß zunächst in der Horizontalen erdient werden. Betrachten wir dieses Elend von der Männerseite aus, dann kommt auch kaum mehr Freude auf. Pflichtbewußt absolvieren die Herren am Freitag abend ihren müden Hasensprung, damit die Signora nur nicht ihre Wochenendmigräne nimmt oder ihnen sonst irgendwie auf die Nerven geht. Zugegeben, ich habe etwas übertrieben, aber im Prinzip läuft es doch so. Im Bordello dagegen kann man auf diese erbärmlichen Spielchen, die mit den Jahren fast jede Ehe zerstören, verzichten. Da gibt es völlig klare Fronten: Sex und Lebensfreude gegen Geld! Ich hoffe doch sehr, daß auch Sie schon mal in einem gut geführten Haus waren. Privat natürlich, nicht dienstlich, versteht sich.« »Wenn es Ihr legendäres Mailänder Etablissement noch gäbe, ich würde gleich heute abend hinfliegen!« »Ich kann Ihnen mit einer anderen exzellenten Adresse aushelfen. Und Sie werden es kaum für möglich halten, Sie müßten unser prüdes Venedig nicht einmal verlassen …« In diesem Moment klingelte es. Umberto Agnoli war endlich eingetroffen und wurde von der Haushälterin hereingeführt. Il misericordioso, der Barmherzige, wie er in seinen Glanzzeiten von Freunden und Feinden genannt wurde, war von mittlerer, eher sehr 232
schmächtiger Statur, die er mit einem dunkelblauen Einreiher von Kiton wirkungsvoll aufzuwerten verstand. Dazu geschnürte Stiefel aus feinstem schwarzen Lackleder sowie die üblichen modischen Accessoires, die ihn als Mann mit Geld und Geschmack auswiesen. Die scharf geschnittene Physiognomie des gut Siebzigjährigen erinnerte den Commissario an jene traurig alternden Raubvögel, die man gelegentlich in Zoologischen Gärten respektlos zur Schau stellt. Seine etwas eng stehenden Augen aber lauerten noch immer hellwach unter den buschigen, dunkel getuschten Brauen. Man begrüßte sich, freundlich, jedoch zugleich auf Distanz bedacht, und sprach zunächst über Belanglosigkeiten. Jeder von ihnen, das war nicht zu übersehen, wollte es dem anderen überlassen, die Partie zu eröffnen. Da es zu Agnolis Lebensprinzipien gehörte, die Deckung nie vor dem ersten Schuß zu verlassen, sah sich Benedetti schließlich zum Handeln aufgefordert. »Signore, ich bin mit der Aufklärung eines Falles beschäftigt, der uns seit Wochen einigermaßen in Atem hält. Allerdings, wie ich meine, nicht mehr sehr lange. Es geht um vier als vermißt gemeldete junge Frauen, und ich nehme einfach an, daß Sie mir in dieser Angelegenheit weiterhelfen können. Sie befinden sich zwar seit mehreren Jahren im verdienten Ruhestand, wenn ich das mal so ausdrücken darf, aber vielleicht verfügen Sie noch über den einen oder anderen Kontakt zu jün233
geren Kollegen und können mir einen Tip geben.« Der Commissario machte jetzt eine längere Pause, um seinem Gesprächspartner die Gelegenheit für eine Reaktion zu geben. Der Altmafioso jedoch schien wenig beeindruckt zu sein, schwieg und begann damit, etwas affig im weitläufigen Raum hin und her zu stolzieren. Dabei jonglierte er kunstfertig mit zwei Marmorkugeln, die er einer Glasschale entnommen hatte. »Da Sie völlig freiwillig zu diesem Gespräch heute abend gekommen sind«, fuhr Benedetti in betont freundschaftlichem Ton fort, »gehe ich selbstverständlich davon aus, daß Sie weder persönlich noch indirekt in diese Geschichte verwickelt sind. Warum auch, es ist bekannt, daß Sie mehr als ausgesorgt haben …« »Ihre Ermittlungstaktik gefällt mir nicht sonderlich«, fiel ihm Agnoli völlig unerwartet ins Wort. »Sie haben hier keinen dummen Jungen vor sich, dem Sie mit ironischen Bemerkungen oder Artigkeiten imponieren können. Stellen Sie mir konkrete Fragen, und ich werde Ihnen ehrlich antworten oder schweigen, das war zu allen Zeiten mein Prinzip. Also bitte!« »Nun gut«, meinte der Commissario reichlich irritiert. Ihm war so schnell nichts Intelligenteres eingefallen, und es ärgerte ihn natürlich maßlos, daß er den alten Fuchs unterschätzt hatte. Verärgert und gereizt entschied er sich ab sofort für einen amtlicheren Tonfall. »Ich werde Ihnen jetzt einige Fragen stellen, und 234
zwar in meiner Eigenschaft als Commissario. Ich muß Sie darauf aufmerksam machen, daß Sie die Aussage verweigern dürfen. Andererseits kann jede Ihrer Äußerungen gegen Sie verwandt werden. Alles klar?« »Im Umgang mit der Polizei kenne ich mich nach wie vor bestens aus, auch noch im verdienten Ruhestand.« »Sagt Ihnen der Name ›Padre Albertus‹ etwas?« »Ja.« »Kennen Sie den Mann?« »Ja.« »Persönlich, oder vielleicht sogar näher?« »Ja, sehr gut sogar.« »Sind Sie bereit, mir nähere Informationen über den Charakter Ihrer Beziehung zu geben? Verbindungen zwischen Kirche und Mafia sind zwar nichts Ungewöhnliches bei uns, trotzdem würde mich in diesem speziellen Fall interessieren, welche Interessen oder Ziele Sie zusammengeführt haben.« »Es sind, Sie werden es kaum für möglich halten, gemeinsame ideelle Ziele. Ich glaube, die Signora Malibran hat darauf schon einmal hingewiesen.« »Sie machen mich sehr neugierig!« »Obwohl ich ausgerechnet diese Eigenschaft hasse, weil ich sie schon immer zu meinen größten Schwächen zählen mußte, will ich Ihnen trotzdem ein wenig entgegenkommen.« Er legte zunächst die beiden Marmorku235
geln zurück in die Schale und begann danach mit einer sehr detaillierten Schilderung seines Lebensweges. Mit Stolz hob er hervor, daß sein Großvater im Mai 1860 an der Seite Garibaldis, beim legendären ›Zug der Tausend‹, von Quarto nach Sizilien kam. Nach dem Anschluß der Insel an Italien heiratete er dort eine Griechin, Agnolis spätere Mutter. Die Familie war und blieb sehr arm. Mit fünfzehn Jahren heuerte der junge Umberto als Heizer auf einem Überseefrachter an, bereits seinen ersten Landgang in Amerika nutzte er zum Abtauchen. Danach folgte die angeblich klassische Laufbahn für spätere Millionäre. Zunächst Tellerwäscher, dann Zeitungsverkäufer am Broadway und schließlich Liftboy im Astoria, wo die Karriere ihren entscheidenden Knick bekam, der jedoch letztendlich steil nach oben führte. »Damals hatte sich eine sehr vermögende, allein reisende englische Lady in mich vergafft«, erinnerte er sich, und über sein herbes Raubvogelgesicht zog sich für kurze Momente ein Schleier aus Melancholie und verklärter Erinnerung. »Fast jede Nacht mußte ich zu ihr aufs Zimmer. Sehr störend war allerdings, daß es sich um eine dürre, kreuzhäßliche Ziege handelte, bei der alles unter voller Beleuchtung ablaufen mußte. Andererseits bezahlte sie mich sehr fair, und vor allem brachte sie mir eine Menge bei, was mir viele spätere Frauen sehr hoch anzurechnen wußten. Ihr schärfstes Ding, bei dem sie jedesmal völlig ausflippte, nannte sie ›crazy holly‹, was ja so viel wie …« 236
»… verrückte Stechpalme heißt, ein in der Tat recht anspruchsvoller Zeitvertreib!« lobte Benedetti mit vorgetäuschter Kennerschaft. »Und vor allem wahnsinnig anstrengend, Signore, selbst für einen jungen Burschen. Sie wissen offenbar, wovon ich rede, alle Achtung! Natürlich konnte es kein Job auf Dauer sein, und weil das Weib nicht im entferntesten an Abreise dachte, mußte ich eine andere Lösung finden. Ein ziemlich ungewöhnliches Schicksal kam mir dabei zur Hilfe, alles lief wirklich total verrückt und nicht so ganz ungefährlich ab. Es passierte in der Nacht vom sechsten auf den siebten Mai, es muß im Jahr 1936 gewesen sein. Damals war ganz New York auf den Beinen, weil gegen Morgen der Zeppelin Hindenburg nach seiner ersten Atlantiküberquerung in Lakehurst erwartet wurde. In jenen Stunden knallten schwere Gewitterfronten über dem Hudson zusammen und entluden sich, während wir uns bis in die Frühe hinein bei Champagner und anderen Stimulanzien zum x-tenmal mit ›crazy holly‹ erschöpften. Dabei ist ihr dann die Hauptsicherung durchgebrannt. Wie immer begann sie irgendwann hysterisch zu kreischen, diesmal jedoch viel lauter als sonst, und sie geriet schließlich in eine Ekstase, die durch nichts mehr in den Griff zu bekommen war. Zum Schluß setzte sie nicht nur ihr Bett, sondern auch das gesamte Mobiliar in eine rhythmische Vibration. Bilder und Spiegel schepperten 237
an der Wand, am Lüster unter der Decke begannen die aufgeschnürten Glasperlen zu kreisen und schlugen aneinander, im Bad tanzten ihre Parfümflacons und Cremetöpfe auf der marmornen Ablage. Sogar die Toilettenspülung löste sich aus, einfach so. Ich kann Ihnen versichern, Signore, daß es absolut beängstigend war, mehr noch: gespenstisch!« »Gespenstisch ist sicherlich der treffende Ausdruck«, pflichtete ihm der Commissario amüsiert bei. »Wenn jetzt nichts Entscheidendes passiert, dachte ich damals, dann gerät gleich das Hotel komplett in Schwingung und stürzt unweigerlich in sich zusammen. Also mußte ich handeln. Zunächst drückte ich ihr ein Kissen auf das Gesicht, sanft natürlich, aber das verschlimmerte alles noch viel mehr. Da griff ich in höchster Not nach einer noch gut gefüllten Champagnerflasche, und goß den restlichen Inhalt über ihrem nackten Körper aus. So etwas hatte ich mal in einer Nightshow am Broadway gesehen. Die Wirkung dieser Maßnahme war absolut durchgreifend, in ihrer letzten Konsequenz jedoch unbeabsichtigt: die Lady vollführte noch eine Art Luftsprung, fiel zurück aufs Bett und danach war der Spuk mit einem Schlag vorbei. Totenstille für immer, Sie verstehen? So stumm hatte ich sie natürlich nicht haben wollen, aber es gibt ja bekanntlich in solchen Fällen kein Zurück mehr. Bereits wenige Stunden später machten alle Boulevardblätter mit der Geschichte 238
groß auf. Eine Zeitung verstieg sich sogar zu der Schlagzeile, ›Tod durch Orgasmus und Champagner — Polizei jagt den Sexgangster‹. Ein Gerichtsmediziner bestimmte damals den Eintritt des Todes auf ca. sieben Uhr dreißig, und das kam auch so hin. Demnach starb sie interessanterweise etwa im gleichen Moment, als sich die Hindenburg kurz vor ihrer Landung in Flammen auflöste. Viele Jahre später noch, wie fast alle Sizilianer neigte ich damals sehr zum Aberglauben, war ich der festen Überzeugung, die verrückte Engländerin habe mit ihren zweifellos übersinnlichen Energien das Phallussymbol ›Zeppelin‹ am Morgenhimmel zur Explosion gebracht, durch eine Art spirituelle Fernzündung also. Meinen Abgang in der Frühe machte ich, wie fast alle Hoteldiebe, über die Feuerleiter. Mir war klar, daß ich sofort verschwinden mußte, obwohl ich mir keiner Schuld bewußt war. Aber einen illegalen Einwanderer wie mich hätte man natürlich in jedem Fall für mehrere Jahre eingelocht. Zum Abschied ließ ich ein pralles Bündel Dollarnoten und eine Handvoll Schmuck aus ihrer Nachttischschublade mitgehen, schließlich hatte sie mich mit ihren Verrücktheiten um meinen Job gebracht. Während der folgenden Nächte kroch ich dann zunächst in billigen Absteigen unter, wo man nicht nach Papieren gefragt wurde. Zunächst einmal mußte Gras über die Geschichte wachsen. Tagsüber streunte ich ziellos durch die Stadt, meine Hände zu Fäusten 239
geballt und in den Taschen vergraben. Im geduckten Kopf kreisten Ängste, wirre Tagträume, Illusionen, aber auch Hoffnungen. Kurz darauf bekam mein Leben eine entscheidende Wende, die zunächst keinesfalls erfreulich aussah. Wegen einer irrsinnigen Hitzeperiode, von der New York damals für Wochen heimgesucht wurde, übernachtete ich immer mal wieder im Central Park. Da schlief es sich viel angenehmer als in den stickigen Buden der schäbigen Hotels, die natürlich nicht klimatisiert waren. Als ich eines Morgens aufwachte, mußte ich feststellen, daß man mir meinen kleinen Handkoffer samt Schmuck und dem meisten Geld gestohlen hatte. Ich setzte mich danach aus Manhattan ab, ging weiter nach Norden und landete schließlich in der Bronx. Dort fand ich nach verdammt miesen Wochen Anschluß an eine sizilianische Familie, die das Gebiet um den East River kontrollierte. Ihr Boß hieß Angelo Massini, er hatte zwei hübsche Töchter, eine kränkelnde Frau und machte im übrigen sehr gute, fast saubere Geschäfte. Nachdem ich einige kleinere Aushilfsjobs zu seiner vollsten Zufriedenheit erledigt hatte, gewann ich sein Vertrauen. Er besorgte mir Papiere und wies mich nach und nach in die sehr verzweigten Strukturen seiner Company ein. Die Zusammenarbeit mit der Polizei lief damals übrigens hervorragend. Wir sorgten sehr unauffällig für Ordnung im Revier. So waren die Boys entlastet und hatten mehr 240
Zeit dafür, sich ausgiebig mit den angenehmeren Dingen des Lebens zu beschäftigen. Mit Baseball, Pferderennen, Black Jack, hübschen Girls und anderen sehr schönen Abwechslungen. Bei einer Schießerei mit den Bullen, das Unglück passierte Ende der dreißiger Jahre, wurde Massini, zu dem ich inzwischen ein Sohn-VaterVerhältnis entwickelt hatte, tödlich getroffen. Es war ein absolut tragisches Mißverständnis, der Polizeichef entschuldigte sich damals persönlich bei uns. Aber damit ließen sich die Uhren natürlich nicht zurückdrehen. Ich übernahm dann Massinis Laden und heiratete kurz darauf seine jüngste Tochter Gina, die mir später zwei prächtige Söhne schenkte. Beide wurden sie viele Jahre später ebenfalls Opfer eines zunehmenden Polizeiterrors.« »Der Mafia hat man leider zu allen Zeiten unverzeihliches Unrecht angetan«, Benedetti konnte sich diese Zwischenbemerkung nicht verkneifen. »Im Laufe der folgenden Jahre«, fuhr Agnoli unbeirrt fort, »wurde das Klima immer rauher. Vor allem hatten wir zusehends Probleme mit dem, was gewisse, sogenannte progressive Politiker eine ›multikulturelle Gesellschaft‹ nannten. Immer neue und immer mehr Gangs brachen brutal in unseren Bezirk ein. Vor allem Chinesen und später auch, als die UdSSR sich auflöste, die verdammten Osteuropäer. Typen ohne Skrupel, Moral und Kultur, das kann ich Ihnen versichern! Die 241
gelobte multikulturelle Gesellschaft hat sich inzwischen zunächst mal als eine multikriminelle entpuppt. Das können Sie doch überall nachvollziehen. In Amerika, in Italien, in ganz Europa, besonders in Deutschland. Da sind sie ja fast schon dankbar für jeden Zugereisten, der ihnen anschließend das Fell über die Ohren zieht. Aber das hat natürlich historische Gründe. Wer derart in tief verwurzelten Schuldgefühlen schwelgt wie die Deutschen, der wird noch für hundert Jahre und länger erpreßbar bleiben.« »Worin bestand denn nun Ihre persönliche, selbstverständlich edlere Moral?« »Die traditionelle Mafia, leider gibt es sie heute kaum noch in dieser Form, verstand sich in erster Linie immer als eine intakte, unauflösbare Großfamilie mit bestimmten sozialen Zielsetzungen, und natürlich war sie im christlich-katholischen Glauben fest verankert. Andererseits, das ist nicht zu leugnen, sah sie sich als ein verkleinertes Abbild des Staates: machthungrig, korrupt und autoritär.« »Mir wird ganz warm ums Herz, reden Sie bitte weiter!« »Wir wandten uns Aufgabenbereichen zu, mit denen der Staat stets überfordert war, heute übrigens mehr denn je. Nahezu alle Formen von Kriminalität, die es zu allen Zeiten gegeben hat und immer geben wird, wurden von uns scharf kontrolliert und somit in 242
einem moderaten, überschaubaren Rahmen gehalten. Wir brachten unser Gesetz in die Gesetzlosigkeit der großen Städte. Unsere Spielregeln waren hart, gerecht, jedem im Viertel bekannt und absolut kalkulierbar. Dafür sorgte schon der Ehrenkodex, basta! Natürlich haben wir unsere Arbeit nicht zum Nulltarif gemacht, aber die Erfolge konnten sich sehen lassen. Heute dagegen kassieren die Politiker vom Bürger Unsummen für einen Schutz, der absolut nichts wert ist. Der Drogenhandel ist völlig außer Kontrolle geraten, Prostitution und Menschenhandel haben erschreckende Formen angenommen, und in den großen Städten, egal wo Sie hinsehen, herrscht totales Chaos. Sogar Kinder rotten sich ja bereits zusammen, terrorisieren ganze Viertel, und es wird nicht mehr lange dauern, dann werden sicherlich auch Babys mitmachen! In was für einer Welt leben wir denn eigentlich, Signore? Die Qualität der Kriminalität hat inzwischen einen absoluten Tiefpunkt erreicht. Und wenn das so weitergeht, dann wird schon sehr bald New York oder irgendeine andere Großstadt der Welt in Sekunden plattgemacht. Dazu reicht doch ein Fläschchen Nervengas längst aus und ein fanatisierter Neurotiker, der es einfach in den Entlüftungsschacht einer U-Bahn plumpsen läßt, wird sich dann schon finden lassen. Erste Probleme in dieser Richtung gab es doch bereits, denken Sie mal an Tokio.« 243
»Wenn ich Sie eben richtig verstanden habe, dann begriff sich also ihre Mafia der guten alten Zeit als Garant für Verbrechen auf höherem Niveau, eine ziemlich paradoxe Moral und noch dazu wenig christlich.« »Die Wahrheit liegt immer im Widersprüchlichen, aber ersparen wir uns weitere Wortspielereien. Natürlich wäre eine Welt ohne jede Kriminalität die bessere Lösung. Wenn jedoch eine Krankheit nun mal unausrottbar ist, dann muß man versuchen, auf die bestmögliche Art mit ihr zu leben. Ich und meine Leute haben ein wenig dazu beigetragen.« »Dabei ging es, was aktenkundig ist, keineswegs besonders zimperlich zu. Die vielen Leichen …« »… hören Sie mir auf damit, natürlich gab es auch Tote, Geschichte wurde immer mit Blut geschrieben. Von den Tausenden, die ›versehentlich‹ Opfer einer kriminellen Polizeiwillkür wurden, spricht allerdings kein Mensch mehr. Schlimmer noch, nach Politikern, die ganze Völker in den Krieg getrieben und damit ausgelöscht haben, wurden später, nachdem man die Leichen auf Heldenfriedhöfen verscharrt hatte, vornehme Straßen und große Plätze benannt.« »Ich sehe ein, die Legende Ihrer Berufsorganisation müßte endlich mal völlig neu geschrieben werden. Aber hier und heute geht es mir vordringlich um die Figur dieses offensichtlich charismatischen Padre Albertus. Eine letzte Frage habe ich allerdings noch zu Ihrem 244
ungewöhnlichen Lebenslauf. Warum kamen Sie vor einigen Jahren zurück nach Italien?« »Kolumbus ist auch nicht in Amerika geblieben!« »Und was zog Sie ausgerechnet nach Venedig, in eine sterbende Stadt?« »Alle großen Städte sind dem Tode geweiht. Aber Venedig ist die einzige unter ihnen, die in Schönheit und Würde stirbt. Deshalb bin ich hier.« »Nun bitte zu dem Padre. Ist es richtig, wofür eine Reihe von Anzeichen sprechen, daß er innerhalb seiner Kirche eine Art Sekte oder Bruderschaft gegründet hat, die sich möglicherweise den venezianischen Doppelfisch zur Symbolfigur wählte?« »Genau so ist es. Die Signora Malibran und auch ich unterstützen übrigens diese Gruppierung. Inzwischen findet sie überall in Mitteleuropa eine schnell wachsende Anhängerschaft. Erstaunlich viele Menschen sind offen für die Botschaft des Padre.« »Können Sie mir etwas zu den Inhalten dieser sogenannten Botschaft sagen?« »Einziges erklärtes Ziel ist es, den Katholizismus allmählich von innen, oder besser gesagt, von unten her zu reformieren, und zwar gründlichst und radikal. Christus war bekanntlich einer der ersten Radikalen der Geschichte.« »Und worin besteht Ihrer Ansicht nach der Reformbedarf?« 245
»Gott hat diese Kirche nicht verdient! Innerhalb von fast zweitausend Jahren hat sie sich von ihrem spirituellen Auftrag so gut wie völlig verabschiedet. Es geht ihr ausschließlich nur noch um Macht und immer mehr Geld. Sie selbst hat inzwischen nahezu alle jene Untugenden angenommen, die von ihr stets als unchristlich gegeißelt wurden. Am unerträglichsten ist die ständige Heuchelei, glatte Lügen wären mir da schon viel sympathischer. Der letzte, allerdings sehr kurze Lichtblick auf dem Stuhl Petri war Papst Johannes Paul I. bekanntlich amtierte er vorher als Bischof hier in Venedig. Am Abend vor einer Rede, in der er tiefgreifende Reformen ankündigen wollte, schaffte man ihn mit einer Überdosis Digitalis kaltblütig aus dem Weg. Genau 33 Tage dauerte sein Pontifikat.« »Das sind doch nichts weiter als Spekulationen!« »Ich habe Informationen aus erster Hand, da kann ich auf Gerüchte verzichten. Vielleicht wissen auch Sie, daß bestimmte Kreise im Vatikan mit der Geheimloge P2, die ihrerseits erstklassige Kontakte zur Mafia unterhielt, eng zusammenarbeiteten. So bekam ich damals Einblick in die Hintergründe des heimtückischen Verbrechens. Der Papst mußte liquidiert werden, weil er seine Kirche wieder so haben wollte, wie es sie ursprünglich einmal gab: arm, zumindest aber sehr bescheiden und allein auf seelsorgerische Aufgaben beschränkt. Sie hätte sich also von ihren weltlichen 246
Machtansprüchen ebenso trennen müssen wie von ihrer Gier nach immer mehr Geld.« »Die Kirche verfügt über erhebliche Mittel, das ist nicht zu bezweifeln. Aber sie bewirkt auch sehr viel Gutes damit, trägt überall dazu bei, Elend und Armut zu lindern.« »Absoluter Unsinn, es läuft genau umgekehrt herum! So, wie die Kirche heute existiert, kann sie an einer Welt ohne Armut und Hunger nicht im geringsten interessiert sein, überlegen Sie doch mal! Nur jenen Menschen, die kaum ein Stück Brot im Schrank haben, können Sie mühelos einen Glauben aufzwingen, für den dann lebenslang abgezahlt werden muß. Deshalb fliegt unser Papa natürlich am liebsten dorthin, wo das größte Elend herrscht, da kann man kräftig Kasse machen. Wer praktisch nichts mehr zu verlieren hat, ist allzugern bereit, selbst sein Letztes für eine vage Hoffnung herzugeben. Darum muß dieser Papst auch gegen jede Form von Geburtenregelung sein, logisch. Denn immer mehr Menschen führen zu immer mehr Armut, und mit wachsender Armut wächst auch die Anhängerschaft des Heiligen Stuhls. Kirchenaustritte gibt es dagegen fast ausschließlich dort, wo die Tische reichlich gedeckt sind. Nur wer im Elend lebt, möchte erlöst werden, ein satter Bauch braucht keinen Gott!« Dem Commissario mißfiel die Art, wie Agnoli mit gängigen Vorurteilen und demagogischen Sprüchen 247
Front gegen die Kirche machte, obwohl er sich eingestehen mußte, daß der Mann nicht völlig unrecht hatte. Trotzdem, er wollte sich keine theologische Laiendiskussion aufzwingen lassen und kam auf das für ihn wichtige Thema zurück. »Hat dieser Padre Albertus irgend etwas mit dem Verschwinden der vier Frauen zu tun?« »In gewisser Weise schon, wie ich übrigens auch.« »Ich bitte um Einzelheiten!« »Den Signorinas geht es blendend, sie sind zur Zeit meine Gäste.« Um Benedetti ein wenig zu reizen, ließ er zunächst nur den Schwanz der Katze aus dem Sack, und mit sichtlichem Vergnügen genoß er die Verblüffung des Beamten. »Schluß mit dem Versteckspiel, ich will jetzt endlich alles wissen und zwar sofort«, donnerte der Commissario. »Sind Sie sich eigentlich im klaren darüber, daß Sie mir soeben den Grund für eine vorläufige Festnahme geliefert haben?« »Nicht so eilig, Signore, es gibt fast immer eine bessere Lösung im Leben als die erste sich anbietende.« Benedetti zog sein Handy aus der Tasche. »Ich werde jetzt Amtshilfe anfordern …« »Auf diesen Fehler sollten Sie besser verzichten.« »Niemand auf der Welt wird mich daran hindern, das in dieser Situation einzig Richtige und Notwendige zu tun!« 248
»Warten wir es mal ab«. Agnoli ging jetzt hinüber zu der Bilderwand, wies auf die Stelle, wo die Malibran vor einigen Tagen hastig einen Rahmen abgenommen hatte, sagte dann bedeutungsvoll nicht mehr als »hier«, und ging anschließend wieder sehr langsam auf seinen alten Platz zurück. Als der Commissario, zum Durchgreifen entschlossen, nun sein Handy aufklappte und damit begann, die Nummer der Polizeibereitschaft einzugeben, rief der Mafioso: »Stop, nur einen kleinen Moment noch, wenn ich darum bitten darf. Vielleicht interessiert es Sie, daß dort bis vor kurzem ein sehr schönes Jugendfoto Ihrer verehrten Mutter an der Wand hing. Es wurde übrigens vor vielen Jahren im Mailänder Haus meiner lieben Freundin aufgenommen. Aber nicht nur die damals angehende Sopranistin allein ist auf der Abbildung zu sehen. Auch ein sehr stattlicher Mann, etwas älter als die Signora, stand dem Fotografen Modell.« Und nach einer wohlkalkulierten Pause fügte er die Frage an: »Kennen Sie eigentlich Ihren Vater immer noch nicht?« Benedetti wurde es glühend heiß, Scham und Zorn schossen ihm ins Gesicht. Der Schuft wollte ihn genau dort packen, wo er seit seiner Kindheit am verwundbarsten war. Er war unehelich zur Welt gekommen, die gesamte Klatschpresse hatte sich damals an diesem Thema geweidet. Aber die Identität des Vaters wurde immer verschwiegen, blieb stets um Dunkeln, auch für 249
den Sohn selbst. Vagen Vermutungen zufolge sollte es sich um einen jungen Priester handeln, der später in Rom Karriere machte und bis zum Kurienkardinal aufstieg. Noch immer war dieser Mann, inzwischen hochbetagt, in Amt und Würden. Während der Commissario, noch wie gelähmt und zu jeder sinnvollen Reaktion unfähig, nach einem halbwegs ehrenhaften Schlupfloch aus der infamen Falle suchte, kam Agnoli freundschaftlich und mit einer beruhigenden Geste auf ihn zu. »Lassen Sie mich die Angelegenheit mit wenigen Sätzen aufklären. Keine Sorge, es gibt weder Tote noch Verletzte, nicht einmal von einer Entführung nach klassischem Muster kann die Rede sein. Die Dinge liegen vielmehr so: Padre Albertus braucht für seine wichtige Aufgabe nicht nur Gleichgesinnte, sondern natürlich auch Geld. Überall in Europa müssen Anhänger für seine Ideen angeworben werden, vor allem junge Priester, die mit dem derzeitigen Zustand ihrer Kirche mehr als unzufrieden sind. Auf Sizilien, in der Nähe von Palermo, entstand inzwischen ein Schulungszentrum, in dem engagierte Katholiken aus allen Ländern auf das gemeinsame Ziel vorbereitet werden. Es lautet: ein anderer Papst für eine neue Kirche! Die vier Frauen nun, mit deren Verschwinden sich die Polizei leider seit Wochen abplagen mußte, und noch dazu völlig überflüssigerweise, sind hoch motivierte Anhänger unserer Gruppierung. Sie stammen, wie Sie wissen, 250
aus sehr gutsituierten Familien. Da sich ihre Eltern bisher wenig spendierfreudig zeigten, was ich keineswegs tadeln will, wurde im vorliegenden Fall ein wenig nachgeholfen.« »Also durch Erpressung! Was Ihre Person betrifft, überrascht mich das nicht sonderlich. Schwierigkeiten bereitet mir allerdings die Rolle des Priesters.« »Den Vorgang sollten Sie etwas anders bewerten. Ohne äußeren Druck von irgendeiner Seite, also nur der Stimme des eigenen Herzens folgend, begaben sich die Frauen vorübergehend in unsere Obhut. Ja, so habe ich es richtig ausgedrückt. Und dann schrieben sie alle einen gleichlautenden Brief …« »… selbstverständlich nur der Stimme ihres eigenen Herzens folgend …« »… mit etwa folgendem Inhalt: Liebe Eltern, sehr gern würde ich bald wieder bei Euch daheim sein. Auf Grund gewisser Umstände, auf die ich nicht näher eingehen kann und möchte, wäre es nützlich, wenn ihr innerhalb der nächsten vierzehn Tage fünfzigtausend Dollar auf das unten angegebene Konto einer Liechtensteiner Bank überweisen würdet. Das Geld soll einem sehr guten Zweck dienen, der auch Eure Zustimmung finden wird. Bitte auf keinen Fall die Polizei einschalten, es könnte sonst für mich und die anderen gefährlich werden. Wir sind in Italien«. Es dauerte eine Weile, bis der Commissario die passenden Worte dafür fand, um so viel Durchtriebenheit angemessen 251
kommentieren zu können. »Bravo, Signore Agnoli«, meinte er dann mit bitterer Stimme, »Sie und Ihr frommer Bruder haben den Damen einen äußerst geschickt formulierten Text untergeschoben, alle Achtung! Die Justiz wird ihn kaum als Vorwand dafür nutzen können, ein Strafverfahren wegen Erpressung erfolgreich durchziehen zu können. Im übrigen darf man sich wohl auf die vom Padre Albertus angestrebte Kirchenreform schon jetzt von ganzem Herzen freuen. Die Wahl der Mittel, mit denen er eine religiöse Neuorientierung im Christentum anstrebt, finde ich außerordentlich beeindruckend. Andererseits«, fügte er nachdenklich hinzu, »warum eigentlich sollte ich Ihren Schilderungen auch nur den geringsten Glauben schenken? Ihre idealistischen Gäste, um mal bei ihrer Lesart zu bleiben, können doch längst schon tot sein und Sie servieren mir hier, um Zeit zu gewinnen, ein geschickt inszeniertes Ablenkungsmanöver. Nein, dieses gefährliche Spielchen darf ich keinesfalls mitmachen. Das verbietet mir allein schon der Respekt vor unseren Gesetzen. Außerdem, merken Sie sich das bitte, ich bin nicht erpreßbar und werde Sie daher beide vorsorglich zunächst einmal festnehmen lassen.« Er griff wieder zu seinem Handy, allerdings mit einer wenig überzeugenden Handbewegung. Der Mafioso schien daher auch kaum beunruhigt zu sein. »Sofern Sie jedoch unbedingt Wert darauf legen 252
sollten, daß Ihre Mamma und ein angesehener Kurienkardinal …« »… sprechen Sie etwa von meinem Vater?« »Ehrenwort, es ist die Wahrheit, also machen wir zum Abschluß des Abends einen fairen Deal. Sie wollen doch nicht Ihre Mutter einer widerwärtigen Medienmeute zum Fraß hinwerfen. Die Signora hat schließlich mehr als genug gelitten, und es wird gemunkelt, sie sei tief depressiv. Darum sollten wir alle nach diesem langen, anstrengenden Tag endlich zu Bett gehen. Ich verspreche Ihnen dafür, daß der Fall schon morgen elegant gelöst und vom Tisch sein wird, einverstanden? Eine Hand wäscht bekanntlich die andere.« »Ein Ritual, das nur Sinn macht, wenn beide Hände beschmutzt sind. Meine Hand ist absolut sauber.« Benedettis Antwort war kaum mehr als eine geschickt formulierte Kapitulationserklärung. Er klappte danach sein Handy wieder zusammen und ging, den Kopf leicht gesenkt, zur Tür, wo er sich noch einmal zu den beiden umdrehte. »Falls ich bis zum nächsten Mittag, Punkt zwölf Uhr, keinen absolut überzeugenden Beweis dafür haben sollte, daß die Frauen frei und unversehrt sind, dann können Sie sich auf etwas gefaßt machen!« Damit ging er hinaus in die Nacht, rannte noch eine Zeitlang wie ein getretener Hund, den man aus dem Haus gejagt hatte, durch die Gassen und legte sich erst spät nach Mitternacht schlafen. 253
Sehr früh am Morgen bereits war Benedetti wieder auf den Beinen, um sich mit einer kühlenden Dusche zu erfrischen. Im Bad stellte er mit Entsetzen fest, daß er sich, wohl während eines Alptraums, beide Hände blutig zerkratzt hatte. Voller Zorn und Ekel vor sich selbst hielt sie der Commissario minutenlang in den Wasserstrahl, das Chlor brannte wie Feuer auf seiner Haut. Etwa zur gleichen Zeit wurde auf dem kleinen Sportflughafen an der nordöstlichen Spitze des Lido eine Cessna vom Typ Skyhawk startklar gemacht. Vorerst zögernd wich die Nacht dem neuen Tag. Kurze, bergkühle Regenschauer aus dem Norden hatten die Luft gewaschen. Die Lagune dampfte wie ein Riesenteller voll heißer Minestrone, über dessen Rand kraftlos und noch morgenmüde die ersten Sonnenstrahlen strichen. Nach dem Auftanken machte Padre Albertus, ein hochgewachsener, schlanker Mann, dessen dunkel gebräuntes Gesicht von halblang gelocktem, fast schneeweißem Haar umrahmt wurde, einen letzten, eher oberflächlichen Kontrollgang um die Maschine. Am Höhen- und Seitenruder fand er nichts zu beanstanden, der Reifendruck schien in Ordnung zu sein, und auch an der Luftschraube wies nichts auf irgendeine Unregelmäßigkeit hin. Auf einen Wink hin lösten sich dann vier Frauengestalten aus dem Halbdunkel einer nahen Piniengruppe, huschten in leicht gebeugter Haltung 254
durchs taunasse Gras über das Flugfeld und kletterten, vom Padre unterstützt, hastig in die Cessna. Danach stieg der Geistliche ins Cockpit und half zunächst seinen Passagieren dabei, die etwas sperrigen Sicherheitsgurte anzulegen. Nach einem gewissenhaften Instrumentencheck, wobei sein Hauptinteresse der Kraftstoffanzeige galt, betätigte er die Zündung. Widerspenstig begann der Boxermotor lärmend zu rotieren und versetzte die Maschine samt Insassen zunächst in beängstigende rhythmische Vibrationen, die jedoch schon bald in eine beruhigende Dauerschwingung übergingen. Der Start verlief glatt, obwohl das Flugzeug mit fünf Personen überladen war. In einer weit ausladenden Rechtskurve zog der Padre die Maschine über dem Meer zunächst auf gut tausend Fuß hoch, stimmte die Trimmung ab, setzte den Steigflug fort und nahm Kurs auf Nordwest. Bei leichtem Gegenwind auf der Nase und einsetzender Thermik hatten sie bei Vicenza den Alpenrand schnell erreicht und steuerten zunächst direkt auf Basel zu. Wetter und Sicht waren hervorragend. Aus der Schweiz tief unter ihnen spiegelten immer wieder verschlungene Bergflüsse und glasklare Seen das Sonnenlicht zurück in die Höhe. Von Basel an folgte Padre Albertus dem Rhein, der sich wie ein leicht gewundenes Lamettaband nach Norden zog, das in der Ferne vom Dunst der Flußniederung aufgelöst wurde. 255
Knapp drei Stunden später Landung in Baden Baden. Nachdem die Maschine auf der gut ausgebauten Betonpiste sicher aufgesetzt hatte und ausgerollt war, half der Padre den Frauen bei noch laufendem Motor, was gegen jede Sicherheitsvorschrift verstieß, schnell aus der Maschine. Auch jetzt wurde, wie während des ganzen Fluges, kein einziges Wort gesprochen. Alles hatten sie vorher bis ins Detail untereinander abgesprochen. Kurz darauf stieg die Cessna wieder auf. Da in diesen Augenblicken kein weiterer Flugverkehr abzuwickeln war, hatte der Tower den Start sofort wieder freigegeben. Um die Mittagszeit war Padre Albertus in Venedig zurück, Agnoli erwarte ihn bereits. Mit einem Taxi fuhren sie zum Porto Di Malamocco im Süden des Lido, wo die Motoryacht des Mafioso festgemacht hatte. Wenig später legte das Schiff ab und setzte sie über zur Klosterinsel San Servolo, in deren Abgeschiedenheit der Orden des Padre über einige Räumlichkeiten verfügen konnte. Dort wollte man den weiteren Verlauf der Dinge zunächst in Ruhe abwarten. Am frühen Nachmittag dominierte nur ein Thema die aktuelle Berichterstattung aller Medien. Alle vier Touristinnen waren bei bester Gesundheit wieder aufgetaucht, und erste Experten äußerten sich eher zweifelnd zu der entscheidenden Frage, ob es hier wirklich um Entführung und Erpressung ging oder nicht. Auch Benedetti war natürlich längst bis in alle Einzelheiten 256
unterrichtet. Grimmig und erleichtert zugleich schloß er die bisher merkwürdigste Akte seiner Laufbahn. Mit etwaigen weiteren rechtlichen Konsequenzen sollten sich erst einmal die Kollegen in Deutschland auseinandersetzen. Schließlich waren die Damen inzwischen außer Landes, und es sah wohl alles danach aus, daß die Rechnung des Padre aufgehen würde. Dann wollte er zum Telefonhörer greifen, um Thomas Bernstorff darüber zu informieren, daß der noch immer gegen ihn bestehende Haftbefehl nach Lage der Dinge als aufgehoben zu betrachten sei. Aber ein unerklärlicher, im Grunde völlig absurder Instinkt hielt ihn davon ab, dem Deutschen diese erlösende Botschaft zu übermitteln.
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9. Kapitel
Marlene hatte sich nicht wieder gemeldet, war wie vom Erdboden verschluckt. Zwei quälend lange Abende hatte Bernstorff im VinoVino vergeblich auf sie gewartet und auch an der Rezeption ihres Hotels, wo er mehrmals am Tag nach ihr fragte, konnte man ihm nicht weiterhelfen. »Non c’è un messaggio per Lei«, lautete die stereotype Antwort. So verkroch er sich hinter geschlossenen Vorhängen auf dem Zimmer. Seine einzigen Begleiter waren, wie schon so oft im Leben, viele Rotweinflaschen, Zigaretten und eine handfeste Depression. Das Kettenkarussell seiner Gedanken kreiste zwanghaft um die Frage, warum es nach ihren ersten, sehr vielversprechenden Gesprächen, nach der gemeinsamen Nacht im Hotel, kein Morgen mehr geben sollte. Hatte er sich denn wirklich getäuscht in dem spontan entstandenen Gefühl, nach Jahren des Suchens und Scheiterns doch noch einer Frau begegnet zu sein, die ihm eine lebenswerte Perspektive versprach? Zugegeben, in der ersten Nacht mit Marlene hatte er ihr eine mehr als ungewöhnliche Visitenkarte überreicht, und dann war da noch dieser unglückliche Zwischenfall mit seinem Brotmesser. Eigentlich hatte sie ja recht damit, sich von einem so bizarren Exoten wie ihm 258
gleich anfangs abzusetzen. Andererseits paßte die Art und Weise, wie nun alles zu laufen schien, keineswegs zu dem Bild, das er sich von dieser Frau gemacht hatte. Möglicherweise war er nun wieder einmal Opfer seiner Wünsche, Träume und Projektionen geworden. Wie pflegte doch Dr. Gruson immer zu sagen: »Jede Selbsttäuschung produziert eine Enttäuschung, und zwar mit absoluter Sicherheit!« Psychologen haben ja für alles so einleuchtende Erklärungen, dachte er grimmig. Aber was nützt schon die Einsicht, daß die Luft keine Balken hat, wenn man sich bereits im freien Fall befindet? Nach Stunden völliger Apathie entwickelte sich, völlig unbeabsichtigt und überraschend, ein Gedankenspiel in Bernstorffs Kopf, das sich allmählich zu dem verlockenden Entschluß verdichtete, Venedig am kommenden Tag zu verlassen. Einfach weg, fliehen, nichts sollte ihn davon abhalten. Weder seine vagen Hoffnungen bezüglich dieser Frau noch das Versprechen gegenüber dem Commissario. Sofort telefonierte er mit der Reservierung vom Flughafen Marco Polo und bekam noch einen Platz für die Mittagsmaschine nach Frankfurt. Nach diesem Befreiungsschlag öffnete er Vorhänge und Fenster und schlief danach fast glücklich auf dem noch nicht aufgedeckten Bett ein. Sehr spät am Abend, er hatte seine Zimmertür nicht verschlossen, saß Marlene plötzlich neben ihm auf der Bettkante und rüttelte ihn wach – unfaßbar! »Was ist 259
denn eigentlich mit dir los? Hockst hier wie ein vergrämter Uhu in deiner Bude, während ich seit mehr als zwei Stunden im VinoVino vergeblich auf dich warte und fast schon einen Heulkrampf bekommen hätte. Verabredungen werden in Zukunft eingehalten, mein Lieber.« Bernstorff begriff zunächst weniger als gar nichts, was wiederum von ihr nicht verstanden wurde. Erst nach mehreren Rechtfertigungsversuchen des einen und anderen, die nicht ohne gereizte Untertöne abliefen, konnte die skurrile Situation endlich geklärt werden. Aus beruflichen Gründen hatte Marlene die Stadt vor zwei Tagen sehr plötzlich verlassen müssen. Weil Bernstorff damals nicht erreichbar gewesen war, hatte sie Maria, die gerade hinter dem Tresen der Rezeption stand, eine kurze schriftliche Mitteilung für ihn anvertraut. Das hübsche kleine Biest hatte die Botschaft jedoch einfach im Papierkorb landen lassen, natürlich aus Eifersucht. Es war kurz vor Mitternacht, bis die letzten Ungereimtheiten vom Tisch waren und die beiden entschieden, das Hotel nicht mehr zu verlassen. Allerdings gab es noch anderen, weitaus gewichtigeren Klärungsbedarf. Marlene wollte am nächsten Tag auf jeden Fall nach Deutschland zurück, am liebsten mit ihm. Vorher aber erwartete sie Antworten auf Fragen, die sie seit ihrem Kennenlernen zunehmend bedrängten. Bernstorff spürte das natürlich, flüchtete sich jedoch zunächst in unverbindlichen Small talk und Mo260
mente des Schweigens, obwohl auch für ihn völlig klar war, daß es keinen weiteren Spielraum für Versteckspiele gab. Die Stunde der Wahrheit hatte geschlagen, er mußte und wollte sich ihr stellen. »Ich habe die Ahnung«, begann sie behutsam, »daß einmal ein sehr dunkler, langer Schatten über deine Seele gezogen sein muß. Hast du Lust, mir davon zu erzählen?« Und als er stumm nickte, fuhr sie fort: »Aber bitte die ganze Geschichte, Halbwahrheiten sind mir absolut zuwider. Wir sollten jetzt sehr gut aufpassen, daß wir uns nicht wieder verlieren.« »Ich muß sehr weit zurückgehen in meiner Biographie«, begann Bernstorff, »die Entstehung des Schattens, von dem du gesprochen hast, liegt weit zurück. Ich stamme aus einer sehr vermögenden Familie, Einzelkind. Meine Heimat ist Würzburg, eine liebenswerte Stadt mit herrlicher Umgebung. Die Menschen dort sind auf eine angenehme Weise katholisch, also prinzipiell fromm, aber trotzdem sehr lebensfreudig. Meine Eltern besaßen am Stadtrand eine Art Palais im Stil des Spätbarocks. Es gehörte zu den ganz wenigen Gebäuden dieser Art, die vom Bombardement der Amis verschont blieben. Vater war ein äußerst erfolgreicher Geschäftsmann, der auf internationaler Ebene wichtige Patente vermarktete. Selten war er bei uns zu Hause, und wenn schon mal, dann kaum länger als für eine Nacht oder ein Wochenende. Meine Mutter, eine eis261
kalte, völlig egozentrische, aber anbetungswürdig schöne Frau, hatte er wohl aus rein repräsentativen Gründen geheiratet. In unserer Verwandtschaft hielt sich hartnäckig das Gerücht, er habe sie als Achtzehnjährige aus einem Wiener Bordell freigekauft. Er benutzte sie vor allem als dekorativen Raumteiler für seine gesellschaftlichen Verpflichtungen. Geliebt haben die beiden sich nie. Es geschah, als ich vierzehn Jahre alt war. Nach einem sehr schwülen Junitag baute sich spät abends eine mächtige Gewitterfront über dem Maindreieck auf und kam gegen Mitternacht zur Entladung. Meine Mutter und ich waren mal wieder allein in dem riesigen Haus. Solche Nächte gestalteten sich für sie stets zu einer riesigen Katastrophe, denn Fee, wie ich sie in stiller Verehrung nannte, geriet dann jedesmal in eine panische, völlig unkontrollierbare Stimmungslage. Nachdem sich die ersten schweren Schläge entladen hatten, rief sie über das Haustelefon nach mir, und ich schlich in ihr Schlafzimmer, um sie zu beruhigen. Daran war an sich nichts Ungewöhnliches. In jener Nacht aber bekam unser Verhältnis eine völlig andere, ich muß schon sagen dämonische Dimension. Als ich mich, wie immer in derartigen Situationen, neben ihrem Bett in einen Sessel setzen wollte, zog sie mich leidenschaftlich an sich und machte mich zu ihrem jugendlichen Liebhaber. Ich folgte all ihren Wünschen voller Sehnsucht, 262
Hingabe und mit einer Bedenkenlosigkeit, über die ich mich in späteren Jahren immer erschrocken habe. Unter zuckenden Blitzen und krachenden Donnerschlägen also begann damals unser inzestuöses Verhältnis, das sich in den folgenden zwei Jahren zu einem unverzichtbaren Bestandteil meines Gefühlslebens ausbaute. Schließlich geriet ich in eine derartige sexuelle Abhängigkeit zu meiner Mutter, daß ich erwog, meinen Vater bei nächstbester Gelegenheit umzubringen, um Fee anschließend heiraten zu können. Selbstverständlich völlig absurd, das Ganze, aber ich war nun mal nicht mehr voll zurechnungsfähig. Es kam dann natürlich völlig anders. Eines Nachts überraschte uns mein Vater, als er vorzeitig von einer Geschäftsreise zurückkam. ›Steh auf, mein Junge‹, sagte er völlig gelassen, ›zieh dir bitte etwas über und komm mit mir nach unten‹. Wir gingen zusammen ins Jagdzimmer. Dort befahl er mir, mich neben unsere riesige Wanduhr mit dem Westminsterschlag zu stellen. Dann holte mein Vater, noch immer ohne das geringste Anzeichen von Erregung, seine Mauser aus dem Waffenschrank, lud durch und richtete das Gewehr auf mich. Ich stand vor der Uhr, aufrecht und stramm wie ein Held, der bereit war, widerspruchslos für seine große Liebe zu sterben. Es war kurz vor Mitternacht, und in einem großen Spiegel, der direkt gegenüber von mir an der Wand hing, verfolgte ich, wie der große Uhrzeiger 263
langsam, aber unaufhaltsam auf die Zwölf vorrückte. Schließlich war es soweit, das altertümliche Schlagwerk setzte sich schwerfällig in Bewegung und begann, sich melodiös von mir und dem scheidenden Tag zu verabschieden. Ich hörte, wie mein Vater das Gewehr entsicherte, und erwartete in meiner lächerlich heroischen Haltung den tödlichen Schuß. Als er spürte, wie wenig beeindruckt ich von der geplanten Exekution war, stellte er das Gewehr wieder beiseite und sagte:«Nein, eine so milde Strafe hast du wirklich nicht verdient!»Inzwischen hatte er sich nämlich eine teuflischere Lösung ausgedacht. Noch in derselben Nacht fuhren wir zusammen im Auto nach Frankfurt, von wo aus wir früh morgens über Zürich nach Lausanne flogen. Dort brachte er mich bis zu meinem Abitur in einem äußerst streng geführten Internat unter, meinen Vater und Fee habe ich nie wiedergesehen.« »Mamma mia«, entfuhr es Marlene, »aber deine Mutter wird doch bestimmt geschrieben oder mit dir telefoniert haben.« »Nein, keine einzige Zeile, kein Telefonat. Natürlich habe ich monatelang versucht, den ersehnten Kontakt herzustellen, aber die Antwort war Schweigen. Schließlich begriff ich, daß meine Mutter nicht das geringste mehr von mir wissen wollte. Mehr noch, Fee hatte mich zu keiner Zeit geliebt, sondern lediglich kaltblütig benutzt, um sich an meinem Vater zu rächen.« 264
»Du weißt doch«, meinte Marlene, »es gibt bekanntlich gute und böse Feen.« »Ja, und sie gehörte zur allerschlimmsten Sorte. Meine schwärmerische, völlig realitätsfremde Liebe verwandelte sich danach in abgrundtiefen Haß, der mir noch jahrelang zu schaffen machen sollte. Das ging schließlich so weit, daß ich einmal in Genf, mitten auf der Straße, eine Frau ohrfeigte, weil sie meiner Mutter täuschend ähnlich sah. Was den Rest meines wunderlichen Lebens betrifft, will ich es kurz machen. Nach dem Abitur studierte ich zunächst jahrelang. Mal dies, mal das und an ständig wechselnden Universitäten. Die väterlichen monatlichen Wechsel machten es möglich. Einen festen Beruf habe ich bis heute nicht ausgeübt, zumal auch die finanziellen Zwänge dafür fehlten. Meine Eltern verunglückten einige Jahre später tödlich auf einer Safari durch Kenia. Rebellen töteten mehrere Teilnehmer der Reisegruppe und raubten ihre Opfer anschließend aus. Als Alleinerbe wurde ich zum vermögenden Mann. Meine Beziehungen zu Frauen blieben schwierig, von wenigen Ausnahmen abgesehen, die aber auch zu keiner festen Bindung führten. Im vergangenen Jahr dann verliebte ich mich in Andrea, eine Sportlehrerin aus Berlin. Wir sahen uns kurz bei einem Konzert in Salzburg, Karajan dirigierte damals Mahlers Dritte. Danach zunächst gelegentliche 265
Telefonate, ab und zu eine Ansichtskarte, wie das so läuft. Anfang Oktober, sie hatte Herbstferien, lud ich sie nach Venedig ein. Wir wollten uns endlich näher kennenlernen. In diesem Hotel, und sogar genau in diesem Zimmer, verbrachten wir unsere erste gemeinsame Nacht. Da passierte es. Wie vor vielen Jahren im Hause meiner Eltern in Würzburg ging ein schweres Gewitter nieder, wir lagen bereits im Bett. Andrea schlief, und ich beobachtete fasziniert, wie ihr Gesicht für Bruchteile von Sekunden von den aufflammenden Blitzen erhellt wurde. In diesen Momenten wurde mir zum ersten Mal bewußt, daß sie meiner Mutter, die ich auch nach ihrem Tod noch immer haßte, ungemein ähnlich sah. Da packte ich zu, begann sie zu würgen, wollte mit ihr die Erinnerung an meine Mutter töten und für alle Zeiten auslöschen. Aber ich war zu ungeübt im Töten, die Frau entzog sich mir in der Dunkelheit und konnte fliehen. Barfuß, nur mit einem leichten Sommermantel bekleidet, ihre kleine Handtasche dabei, rannte sie schreiend durch den Regen davon. Danach war ich endgültig reif für die Couch. Ich vertraute mich einem gewissen Dr. Gruson an, einem Psychotherapeuten aus Frankfurt. Nach vielen analytischen Sitzungen entwickelte er ein Konzept, mit dessen Hilfe er mich von meinen Problemen befreien wollte. Er nannte es Zwangsbefreiung durch kompensatorische Ersatzhandlung.« 266
»Klingt wahnsinnig intelligent, kannst du es mir erklären?« »Kein Problem, die Sache funktioniert etwa so: Ich bin wieder nach Venedig gereist, ins selbe Hotel und selbe Zimmer. Im Gepäck ein halbes Dutzend dieser absolut scheußlichen, aufblasbaren Partypuppen, die manche Männer zum alternativen Geschlechtsverkehr benutzen. Vor meiner Abreise suggerierte der Therapeut meinem Unterbewußtsein im Rahmen einer Hypnosebehandlung, bei den Vinylmonstern handele es sich um meine Mutter. Nach einem genau festgelegten Plan mußte ich mit diesen Damen abends ins Bett gehen, bestimmte sexuelle Handlungen an ihnen durchführen und sie anschließend würgen.« »Mein Gott, das ist ja abartig«, Marlene machte keinen Hehl aus ihrem Ekel. »Aber erzähl bitte trotzdem weiter, ich wollte schließlich die ganze Wahrheit hören.« »Der Rest meiner Aufgabe bestand darin, die Puppen anschließend mit einem scharfen Messer zu zerschneiden, portionsweise in kleine Päckchen zu verpacken und dann fortzuschaffen. Ein venezianischer Fischer half mir gegen gute Bezahlung dabei und warf die Resultate meiner Arbeit nachts in die Lagune. Möglicherweise hast du von diesen Funden gehört, es wurde allerlei darüber spekuliert und gemunkelt.« »Das angestrebte Ziel dieser Therapie ist mir immer noch nicht so ganz klar!« 267
»Im Prinzip ging es um folgendes: Anstatt eines Tages konkret zum Mörder zu werden, sollte ich Fee mehrmals symbolisch töten, um dadurch meine auf sie gerichteten Aggressionen für alle Zeiten abzubauen. Außerdem sollte ich tief verwurzelten Ekel sowie Abscheu und Wiederholungsängste gegenüber meinem Zwang entwickeln, als Schutz vor etwaigen Rückfällen.« »Und was meinst du, war die Therapie erfolgreich?« Bernstorff spürte, wie sehr ihr diese bange Frage im Herzen brannte. »Ich bin sicher, es geschafft zu haben.« »Also gut« sagte sie, »probieren wir es aus.« Marlene ging auf ihn zu, Bernstorff umschloß sie mit seinen Armen. Sie ließen sich fallen, ertasteten, suchten und fanden sich und gingen mit all ihren Sinnen auf Entdeckungsreise. Hemmungslos ergaben sie sich dem uralten Ritual der Liebesspiele, flüchteten immer wieder aus den Begrenzungen der Zeit in die Unendlichkeit des Augenblicks. Und wenn zwischen kurzem Schlaf, Erschöpfung und Wachträumen wieder Begierde aufkam, dann opferten sie ihre zurückgewonnene Unschuld erneut dem Eros und allen Göttern, die es gut mit ihnen meinten. Gegen Morgen umstellten schwere Gewitterwolken die Stadt, kraftvoller als in den Wochen zuvor entluden sie sich und wichen dann grollend der aufziehenden 268
Morgenröte. Erst als Maria mit ihrem Putzwagen wenig diskret an ihrer Tür vorbeipolterte, erwachten Marlene und Bernstorff. Das Mädchen sang ein altes venezianisches Volkslied; und für eine Weile lauschten sie, fast ängstlich aneinander gedrückt, der sentimentalen Melodie: Nur diese Woche, Kind, sollst du mich lieben, Denn in der nächsten schon muß ich verreisen, Und mancher schon ist ewig ausgeblieben; Nur diese Woche, Kind, sollst du mich lieben.
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10. Kapitel
Aeroporto Marco Polo, Bernstorff und Marlene zerrten gerade ihre Koffer auf die Waage am Abfertigungsschalter, als der Commissario im Gedränge der Abreisenden auftauchte. Ein Polizeiboot hatte ihn und zwei Kollegen gerade noch rechtzeitig übersetzen können, wenige Minuten später wäre die Maschine nach Frankfurt bereits in der Luft gewesen. Benedetti blieb zunächst in Deckung, ließ den Deutschen jedoch für keine Sekunde aus den Augen. Als dieser sich mit seiner attraktiven Begleitung vor der Paßkontrolle einreihte, war er mit wenigen ausholenden Schritten bei ihm. Bernstorff spürte eine fordernde Berührung auf seiner Schulter, sah sich um und erschrak. Benedetti sagte nichts, machte nur eine Kopfbewegung, die unmißverständlich andeutete, daß er ihm zu folgen habe. In einem schlecht klimatisierten Nebenraum bat er ihn an einen Tisch. Marlene, die natürlich mitgekommen war, zitterte nervös und fixierte den Beamten mit ängstlich fragenden Blicken. Benedetti war anzumerken, daß ihm die ganze Angelegenheit eher peinlich war. »Signore«, begann er das Gespräch, »ich bin nicht hier, weil Sie gerade dabei waren, unsere Vereinbarung zu bre270
chen. So, wie es im Moment aussieht, geht es leider um weitaus Schwerwiegenderes!« »Und worum bitte?« Bernstorffs Stimme klang trotzig und selbstbewußt. »In dem Zimmer, das Sie vor knapp zwei Stunden verlassen haben, wurde kurz darauf die Leiche einer gewissen Maria gefunden, ziemlich übel zugerichtet. Sie ist, oder treffender ausgedrückt, die junge Frau war Zimmermädchen in dem Hotel. Es tut mir leid, aber Sie müssen eine spätere Maschine nehmen, hoffentlich keine sehr späte.« Es folgte eine längere Vernehmung, in deren Verlauf auch Marlene wiederholt befragt wurde. Wahrheitsgemäß betonte sie immer wieder, die ganze Nacht mit dem Verdächtigten zusammengewesen zu sein. Allerdings habe sie das Zimmer etwa eine knappe Stunde vor der gemeinsamen Abfahrt zum Flughafen allein verlassen, um nebenan im Hotel Bauer Grunwald ihre Koffer zu packen und die Rechnung dort auszugleichen. Anschließend habe sie sich mit Bernstorff am Taxiboot hinter der Zecca getroffen. »Genau das macht die Sache kompliziert«, erklärte der Commissario. »Nach ersten Einschätzungen des Polizeiarztes wurde der Mord während oder kurz nach der Zeit ausgeführt, die Ihr Freund allein auf dem Zimmer verbrachte. Die Tatwaffe war übrigens ein großes Brotmesser aus deutscher Produktion, wie der Prägestempel auf der Klinge zeigt.« 271
Marlene wurde kreidebleich. »Sag jetzt bitte etwas«, forderte sie ihren Freund mit leiser, energischer Stimme auf und griff nach seiner Hand. »Falls die letzte Nacht dir irgend etwas bedeutet haben sollte, dann sag bitte ganz schnell etwas, und schau mir dabei in die Augen. Es könnte sonst sehr viel in mir zerbrechen, wahrscheinlich sogar alles.« Während Bernstorff noch um Fassung und erklärende Worte rang, trällerte Benedettis Handy. Das Gespräch war kurz. »Die Sache hat sich sehr schnell erledigt und erfreulicherweise genau so, wie ich es erahnt und gewünscht hatte«, eröffnete der Beamte ihnen. »Und was genau heißt das bitte?« erkundigte sich Marlene. »Daß Sie leider ein Flugzeug verpaßt haben, aber heute abend geht ja wieder eine Maschine nach Frankfurt.« »Eine letzte Frage, Signore«, schaltete sich Bernstorff ein, der inzwischen aus seiner Sprachlosigkeit zurückgefunden hatte, »Sie kennen den Mörder also bereits?« »Ja, es war Giovanni Luciano, der Portier des Hotels. Eifersucht, ganz offensichtlich.« Die Abendmaschine nach Frankfurt hob pünktlich ab. Während sie sich mit donnernden Triebwerken in einer weiten Rechtskurve über Torcello nach oben zog und kurz darauf die Serenissima überquerte, drückte 272
Bernstorff sein Gesicht gegen das Plexiglas der Innenscheibe und blickte erlöst in die Tiefe. Dunst und letztes Tageslicht waren wieder einmal dabei, den sterbenden Traum Venedig in einen zerbrechlichen Kokon einzuspinnen. An Bord wurden feuchtkalte Sandwiches in Klarsichtfolie angeboten. Die zwei lehnten ab, Bernstorff orderte eine Flasche Champagner.
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