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Zu diesem Buch Das neue, düstere Action-Spektakel des amerikanischen Bestsellerautors David Wellington: Die Polizistin Laura Caxton ist wieder auf der Jagd. Ihr ehemaliger Mentor Jameson Arkeley hat sich in einen Vampir verwandelt und trachtet nun nach dem Leben seiner Familie. Er beginnt ein Katzund-Maus-Spiel mit Caxton, die mit allen Mitteln gegen das Unausweichliche ankämpft. Doch dann begeht sie einen folgenschweren Fehler und wird suspendiert. Arkeley verwandelt seine Tochter, und auch sein Sohn steht kurz davor, zu einem blutsaugenden Monster zu werden. In Centralia, einer verlassenen Bergbaustadt, unter deren Oberfläche ein vernichtendes Kohlenfeuer schwelt, kommt es zum Showdown zwischen Caxton und den Vampiren. David Wellington wurde in Pittsburgh, Pennsylvania, geboren und studierte an der Syracuse University. Seine ersten Romane veröffentlichte er zunächst in seinem Internet-Blog, bevor mehrere große Verlage auf ihn aufmerksam wurden. Mit seinen Romanen »Der letzte Vampir« und »Krieg der Vampire« avancierte Wellington aus dem Stand heraus zum neuen Star der amerikanischen Horror- und Dark-Fantasy-Szene. Wellington ist verheiratet und lebt in New York, wo er als Archivar bei den Vereinten Nationen arbeitet.
David Wellington
Vampirfeuer Thriller Von David Wellington liegen bei Piper vor: Der letzte Vampir Krieg der Vampire Stadt der Untoten Nation der Untoten Vampirfeuer Titel der amerikanischen Originalausgabe: »Vampire Zero«,
Für meine Eltern
Helfen Sie mir! Sie können mich retten! Sie können noch mehr tun als das! Ich meine gar nicht mein Leben, den Verlust desselben achte ich nicht höher als den des scheidenden Tages, aber meine Ehre können Sie retten, Ihres Freundes Ehre! John Polidori, Der Vampyr
Rexroth I
Schnee wehte quer über die Straße und funkelte im Licht ihrer Scheinwerfer, die helle Bahnen in die Dunkelheit schnitten. Mechanicsburg war nicht mehr weit entfernt, ebenso wie die Adresse, die ihr die Zentrale der SSU durchgegeben hatte. Mitten in der Nacht gab es keinen Verkehr, nur die weißen Straßenmarkierungen, denen man folgte. Bei ihrer Ankunft befand sie sich noch immer so gut wie im Halbschlaf, aber das änderte sich in dem Augenblick schlagartig, da sie die Wagentür aufstieß und in die eisige Winterluft hinaustrat. Es war kurz nach Thanksgiving. Arkeley befand sich seit zwei Monaten im Untergrund, und Laura Caxton hatte ihn Tag und Nacht gejagt, aber vielleicht war der Weg hier zu Ende. Und mit ihm auch ihre Schuldgefühle und ihre Pflicht. Vielleicht.
»Verstärkung ist unterwegs, Ankunft in zehn Minuten. In dreißig Minuten können wir den ganzen Ort abgesperrt haben«, meldete Glauer und verzichtete auf jeden Gruß. Er war ein großer Kerl, einen ganzen Kopf größer als sie und wesentlich breiter. Er war der Inbegriff eines Streifenbeamten aus Pennsylvania - schlechter Haarschnitt, ein dichter, nicht gerade buschiger Schnurrbart und milchig weiße Hautfarbe, wenn man einmal von den Stellen absah, an denen die Sonne seine Ohren und den Hals erwischt hatte. Er trug die Uniform eines State Trooper - die gleiche wie Caxton. Früher war er ein einfacher Kleinstadtcop gewesen, der in seiner Laufbahn auch nicht einen einzigen Mord-Tatort zu Gesicht bekommen hatte. Seit er aber Laura Caxton kennengelernt hatte, hatte er schon viele schreckliche Dinge gesehen, dafür war er auch eine Besoldungsgruppe höher eingestuft worden. 3
Nach dem Massaker in seiner Heimatstadt Gettysburg hatte sie ihn zur SSU abkommandieren lassen, der Special Subjects Unit, der Einheit für Besondere Verdächtige. Ihrer neuen Einheit. Er war ein guter Mann und ein großartiger Cop, aber in den Fältchen um seine Augen herum erkannte man noch immer deutlich, wo sich die Furcht eingegraben hatte. »Ich dachte mir, wir könnten den hier vielleicht... aussitzen.« »So funktioniert das aber nicht«, erwiderte Caxton. Sie folgte ihm, während er den Eingang zu dem Seif Storage Zentrum mit Absperrband sicherte. Er trug die Patrol Rifle an einem Riemen über der Schulter. »Das hat er mir so beigebracht.« »Er hat Ihnen beigebracht, in eine offensichtliche Falle zu rennen?« Sie bemühte sich, durch die Glastüren in die Lobby des Lagerzentrums zu spähen, konnte von der Straße aus aber nichts erkennen. Glauer hatte sich bereits umgesehen und zwei Opfer gemeldet - natürlich waren beide tot. Aber sie musste sich das selbst ansehen. Sie musste wissen, wie tief Arkeley gefallen war. »Ja«, sagte sie. Die Lobby war ein Raum aus grellem weißen Licht, auch in der Nacht; er bestand nur aus Putz und rauen Trockenbauwänden. Da war ein Schalter zu sehen, wo der Nachtwächter hätte sitzen sollen; rote Tropfen beschmutzten die weiße Oberfläche. »Ich muss dort rein«, sagte sie. »Wie viele Ausgänge gibt es?« Glauer räusperte sich lautstark. »Zwei. Den hier vorn und dann noch einen Notausgang hinten. Der hinten hat einen Alarm, aber bis jetzt habe ich noch keine Sirene gehört.« »Natürlich nicht. Er wartet da drinnen auf mich. Aber er wird nicht ewig warten. Wenn wir hier sitzen bleiben, bis die Verstärkung eintrifft, ist er so schnell durch die Tür, dass wir ihn nie ins Visier bekommen.« Sie schenkte ihm ein beruhiio
gendes Lächeln, aber das kaufte er ihr nicht ab. Stattdessen drehte er sich um und spuckte auf den vereisten Bürgersteig. Sie verstand sein Zögern. Das war eine schlimme Situation, eine echte Todesfalle. Nicht, dass sie in dieser Angelegenheit irgendeine Wahl gehabt hätte. In ihrem schweren Mantel sackte sie etwas in sich zusammen. »Glauer, das ist die beste Spur, die wir bis jetzt hatten. Ich kann das nicht ignorieren.« »Klar.« Er befestigte das Absperrband und trabte dann um das Gebäude herum, ohne auf weitere Anweisungen zu warten. Er wusste genau, was er zu tun hatte: vor dem Notausgang in Stellung gehen und die Augen offen halten. Auf alles schießen, was dort hindurchtrat. Seine Sorge bedeutete ihr etwas, genau wie die vorsichtige Weise, auf die er sie ausdrückte. Das tat es wirklich. Aber es konnte sie nicht aufhalten. Sie stieß die Glastür auf und betrat die Lobby, die Beretta schon in der Hand, aber nach wie vor gesichert. Noch etwas, das Arkeley ihr beigebracht hatte. Sie näherte sich dem Schalter, als wollte
sie einen Lagerraum mieten, dann beugte sie sich darüber, um zu sehen, was sich dahinter befand. Der Teppichboden war mit trocknendem Blut vollgesogen. Zwei Tote, wie angekündigt. Der eine trug ein Uniformhemd und lag zusammengesunken auf einem Sicherheitsmonitor. Sein Hals bestand aus einer klaffenden roten Wunde. Der andere trug einen Hausmeisteroverall, seine offenen Augen starrten zu den Deckenfliesen. Sein rechter Arm fehlte. Caxton trat einen Schritt zurück, dann musterte sie die Aufzüge auf der linken Seite der Lobby. Eine Kabine stand einen Spalt breit geöffnet; etwas hinderte die Türen, sich zu schließen. Sie ging in die Hocke und sah genau das, was sie erwartet hatte. Der fehlende Arm des Hausmeisters hielt die Türen offen, die Finger zeigten hinein, als wollten sie ihr den Weg weisen. Unter Vampiren galt so etwas als gelungener Scherz. Sie hatte gelernt, ihren kranken Humor nicht an sich heranzulassen. Sie hob den Arm auf - machte sich keine Sorgen, mögliche Fingerabdrücke zu ruinieren, da Vampire keine hinterließen -und legte ihn so behutsam wie möglich zur Seite. Dann betrat sie den Aufzug und ließ die Tür hinter ihr zugleiten. Jemand hatte bereits die Taste für die zweite Etage gedrückt. Nach Caxtons Uhr hatte jemand vor genau siebenundzwanzig Minuten die Hinweisnummer der SSU angerufen. Das war nicht ungewöhnlich. Seit dem Massaker von Gettysburg sahen ständig irgendwelche Leute Vampire in ihren Hintergärten und an ihren Müllcontainern und vor Einkaufszentren herumlungern. Caxton und Glauer waren jedem einzelnen dieser Hinweise nachgegangen und hatten nichts Verwertbares dabei gefunden. Aber dieser Anruf heute war etwas anderes gewesen. Caxton hatte die Aufzeichnung gehört, und sie hatte ihr eine Gänsehaut verschafft. Die Stimme des Anrufers hatte sich unmenschlich angehört, die Worte klangen verwaschen, als hätte man sie aus einem Mund gespuckt, der mit bösartigen Zähnen gefüllt war. Der Anrufer hatte keine Zeit verschwendet, sondern nur eine Adresse in Mechanicsburg genannt und dann verkündet: »Sagt Laura Caxton, dass ich dort auf sie warte. Ich warte, bis sie hier ist.« Eine Falle, eine offensichtliche Falle. Arkeley hatte es geliebt, wenn Vampire Fallen stellten - weil man dann wusste, wo sie steckten. Vampire liebten Fallen, weil sie Raubtiere waren; außerdem waren sie oft faul und genossen es, wenn ihre Opfer zu ihnen kamen. Jetzt war Arkeley einer von ihnen, aber irgendwie hatte sie doch etwas mehr von ihm erwartet. Der Arm in der Aufzugtür war auch nicht sein Stil. Aber das hatte nichts zu bedeuten. Seit seiner Verwandlung waren zwei Monate vergangen. Seit er den Vampirfluch angenommen hatte. Natürlich hatte er es aus den richtigen Gründen getan. Er hatte geglaubt, nur so Caxtons Leben retten zu können. Vermutlich hatte er damit sogar recht gehabt, so wie meistens. Aber seine Logik wies einen Fehler auf. Wenn ein Mensch starb und als Vampir zurückkehrte, verlor er ein Stück seiner Menschlichkeit. Und mit jeder vergehenden Nacht verlor er ein Stück mehr davon. Arkeley war einst ein leidenschaftlicher Kreuzritter gewesen, ein Monsterkiller. Jedes Mal, wenn er jetzt in seinen Sarg kroch, kroch ein Stück weniger von ihm wieder heraus. Am Ende verwandelte sich nämlich jeder Vampir in die gleiche Kreatur. Er wurde zu einem Junkie, der Blut brauchte. Zu einem Soziopath mit sadistischer Ader. Zu einem skrupellosen Killer. Ein Bimmeln ertönte in der Aufzugskabine, dann glitten die beiden Türhälften auseinander. Caxton betrat die zweite Etage mit der Pistole auf Schulterhöhe. Sie hielt sie mit beiden Händen im Anschlag, hatte Augen und Ohren offen und bemühte sich, für alles bereit
zu sein. Sie bemühte sich, auf den Augenblick vorbereitet zu sein, da sie ihn sah, da sie Arkeley sah. Sie war bereit, das Feuer sofort zu eröffnen. Arkeley hatte sich nie als ihr Mentor betrachtet. Sie war ihm auf eine sehr beschränkte Weise nützlich gewesen, also hatte er sie sich als Partnerin zuteilen lassen. Manchmal hatte er sie dazu benutzt, die Beinarbeit für ihn zu machen, so wie sie nun Glauer benutzte. Meistens hatte Arkeley sie jedoch als Köder benutzt. Sie hatte lernen müssen, das nicht persönlich zu nehmen - er hatte es auch nicht persönlich gemeint. Er war ein getriebener, besessener Mann, und er hatte sie als nützlich betrachtet. Indem sie sich von ihm benutzen ließ, hatte sie viel gelernt. Alles, was sie über Vampire wusste, hatte sie von ihm erfahren, entweder in der Form widerstrebender Antworten auf ihre ständigen Fragen oder durch sein beispielhaftes Han 5
dein. Als er noch unter den Lebenden gewesen war, hatte sie oft die Befürchtung gehabt, dass es Dinge gab, die er sich nicht die Mühe gemacht hatte, ihr zu erzählen und seit er gestorben und zurückgekehrt war, verfolgte sie dieses Gefühl noch viel öfter. Geheimnisse, die er für sich behalten hatte. Nun war wohl die Zeit gekommen, das herauszufinden. Vor ihr erstreckte sich ein langer Korridor mit hellweiß gestrichenen Metallwänden, die mit zahllosen Türen versehen waren. Einige der Lagerräume hatten die Größe eines Kleiderschranks, andere waren groß genug für ein Auto. Sie warf einen Blick auf die Riegel. An jeder Tür baumelte ein schweres Vorhängeschloss, manche mit Kombinationsschlössern mit roten oder gelben Drehscheiben, andere wiederum benötigen nur einen Schlüssel zum Öffnen. Verbarg sich Arkeley in einem dieser Lagerräume? War das hier sein Versteck? Vielleicht hing er ja wie eine riesige Fledermaus an den Füßen von der Decke. Die Vorstellung ließ sie beinahe lächeln. Vampire und Fledermäuse hatten nichts gemeinsam. Fledermäuse waren Tiere, ganz normale Organismen, die mehr Respekt verdienten, als sie erhielten. Vampire aber, das waren... Ungeheuer. Nichts weiter. Sie studierte die Türen, die sich alle auf den Korridor hin öffneten, suchte nach der einen ohne Schloss. Nicht einmal ein Vampir konnte sich von innen in einem dieser Lagerräume einsperren. Sie schaute die Türreihen entlang, bis zum Ende, wo ein weiterer Korridor abzweigte. Stumm zählte sie die Schlösser - Schloss, Schloss, Schloss. Schloss. Wieder ein Schloss. Dann... da! Fast am anderen Ende gab es eine schmale Tür ohne Schloss. Vermutlich würde es so einfach auch wieder nicht sein. Dennoch musste sie es überprüfen. Langsam ging sie den Korridor entlang, den Rücken zur Wand, die Pistole im An '5 schlag. Ihre Schuhe knirschten auf dem groben Zementboden, ein Geräusch, dem jeder hätte folgen können. Als sie ihr Ziel erreichte, blieb sie daneben stehen, löste den Riegel mit der linken Hand und zog kräftig. Quietschend schwang die Tür auf nicht geölten Angeln auf. Nichts sprang heraus. Mit zwei Schritten passierte Caxton die Tür und drehte sich auf dem Absatz herum, bis sie vor dem Lagerraum stand. Dabei schob sie den Sicherungshebel der Pistole zurück, warf einen Blick hinein - und erkannte sofort, dass der Raum leer war. Es hatte kein Vorhängeschloss gegeben, weil niemand dieses Lager gemietet hatte, das war wohl alles. Langsam atmete sie aus. Und erstarrte mitten im nächsten Atemzug, als heiseres Gelächter den Gang erfüllte, von den Türen widerhallte und sie alle auf ihren Angeln erzittern ließ. Caxton fuhr herum, unfähig zu erkennen, aus welcher Richtung das Gelächter kam, und...
Am Ende des Ganges, hinten an den Aufzügen, stand eine bleiche Gestalt im Schatten zweier Leuchtstoffröhren. Sie war groß, ihr Kopf war rund und haarlos, mit zwei großen dreieckigen Ohren. Ihr Mund war mit langen und bösartigen Zähnen gefüllt, ganzen Reihen davon. Caxtons Herz setzte einen Schlag lang aus - und schlug dann doppelt so schnell weiter, als sie sah, dass der Vampir eine Schrotflinte hielt.
2.
Caxtons Gedanken wirbelten durcheinander und lähmten sie eine kritische Sekunde lang. Vampire trugen keine Waffen. Niemals. Sie brauchten sie nicht - in Gettysburg hatte sie miterlebt, wie ein einziger Vampir eine ganze Abteilung Nationalgardisten mit Sturmgewehren niedergemacht hatte. Ihre Krallen und vor allem ihre Zähne waren die einzigen Waffen, die sie verwendeten. Die Beretta in ihrer Hand hatte sie vergessen, Caxton konnte nur die Schrotflinte anstarren, während der Vampir sie hochriss und in ihre Richtung zielte. Der weiße Finger krümmte sich um den Abzug, und sie schaffte es gerade noch rechtzeitig, sich in Bewegung zu setzen. Irgendwie riss sie sich genug zusammen, um sich hinter die offenstehende Tür des leeren Lagerraumes zu werfen. Schrot prasselte gegen die Tür und grub Hunderte langer Furchen in den weißen Wandanstrich. Als sich Caxtons Gehör nach dem Detonationslärm wieder normalisierte, hörte sie nackte Füße über den Betonboden klatschen und auf sie zurennen, während sie in den Lagerraum huschte und die Tür hinter sich zuzog. Dumm, dachte sie - da hatte sie etwas sehr Dummes getan. Aus dem Lagerraum gab es keinen Weg nach draußen, und man konnte die Tür auch nicht von innen versperren. Die Tür selbst würde einen Vampir auch kaum aufhalten, vor allem keinen, der eben gerade das Blut der zwei Männer unten am Eingang getrunken hatte. Vampire waren immer sehr stark und so gut wie kugelsicher, aber nachdem sie Blut getrunken hatten, wurden sie noch weit stärker. Sie wich rückwärts zurück, tastete mit der einen Hand umher, bis sie die Rückwand des Lagerraums erreichte, und hob die Pistole. Bevor er die Tür aufriss, um sie sich zu schnappen, hatte sie vielleicht eine Chance - sie konnte blindlings durch die Tür feuern und hoffen, ihn irgendwie ins Herz zu treffen, seine einzige verwundbare Stelle. Traf sie ihn jedoch anderswo, würden die Wunden augenblicklich wieder heilen. All die Kugeln ihrer Beretta würden ihn nicht einmal langsamer werden lassen. Sie richtete die Mündung auf die Tür. Zielte auf eine Stelle 6
in der Höhe ihres eigenen Herzens, dann korrigierte sie die Höhe um sechs Zoll nach oben. Arkeley war größer als sie. Arkeley... Das Bild des Vampirs in dem Gang hatte sich ihr ins Gedächtnis eingebrannt. Wie er da stand und die Schrotflinte auf sie richtete. Die Schrotflinte mit beiden Händen hielt. Vampire heilten jede Wunde, die sie nach ihrer Wiedergeburt davontrugen, aber alte Verletzungen aus ihrer menschlichen Existenz behielten sie für alle Ewigkeit bei. Dem Vampir Arkeley würden noch immer die Finger einer Hand fehlen. Dieser Vampir dort hatte aber zehn Finger gehabt, mit denen er die Schrotflinte halten konnte. Scheiße, dachte sie. Er ist es nicht. Das war gar nicht Arkeley. Sie hatte diese Tatsache nicht verarbeiten können, als er auf sie geschossen hatte, aber jetzt, als sie darauf wartete, dass er kam und sie tötete, konnte sie das nicht mehr verdrängen. Wer auch immer dieser Vampir sein mochte, es war jedenfalls nicht ihr früherer Mentor. Was die Sache noch viel schlimmer machte.
Ein Vampir konnte sich nur auf eine Weise fortpflanzen, und dafür war direkter Blickkontakt nötig. Außerdem gab es nur zwei Vampire auf der Welt, die den Fluch überhaupt weiterreichen konnten - Arkeley und Justinia Malvern, eine hinfällige alte Untote, die Arkeley ständig in seiner Nähe aufbewahrt hatte. Wenn die beiden nun aber neue Vampire erschufen, wenn Arkeley zum Vampir Zero geworden war... Jemand donnerte gegen die Tür. Sie stählte sich, griff ihre Beretta fester. In der nächsten Sekunde würde sie schießen, wenn sie ihre Chance für gekommen hielt. Sollte er erst anfangen, die Tür aus den Angeln zu reißen. Wieder wurde gegen die Tür geschlagen. Dann hörte sie ein metallisches Klicken und wusste sofort, was geschehen war. Der Vampir wollte die Tür überhaupt nicht aufreißen. 7
Stattdessen hatte er den Riegel mit einem Vorhängeschloss verschlossen und sie eingesperrt. Er musste eins in der Tasche gehabt haben, nur für diese Möglichkeit. Wer auch immer er war, er war schlau. Offenbar schlauer als sie. Sie verfluchte sich. Man rannte einfach nicht in einen Raum mit nur einem Ausgang - noch etwas, das Arkeley ihr beigebracht hatte. Daran hätte sie denken müssen. »Wer bist du?«, rief sie. »Willst du mich nicht umbringen?« Sie rechnete mit keiner Antwort, und sie bekam sie auch nicht. Sie lauschte angestrengt, als ihre Stimme von den Metallwänden des Lagerraums widerhallte, hielt Ausschau nach einem Anzeichen, dass er möglicherweise direkt vor der Tür stand. Doch sie hörte nichts. Dann, einen Augenblick später, klatschten wieder nackte Füße über den Boden. Er ging weg. »Verdammt«, hauchte sie. Lief er jetzt weg? Vielleicht war die Verstärkung eingetroffen, und er floh vom Tatort. Das durfte sie aber nicht zulassen - sie durfte nicht noch einen Vampir davonkommen lassen. Jeder von ihnen, der sich dort draußen herumtrieb, bedeutete weitere schlaflose Nächte und eine endlose Suche. Sie hatte Arkeley immer dafür bedauert, wie sein hoffnungsloser Kreuzzug sein Leben aufgefressen hatte - er hatte mehr als zwanzig Jahre mit dem Versuch verbracht, die Vampire auszurotten, nur um im letzten Augenblick völlig zu scheitern. Aber allmählich verstand sie, was ihn so getrieben hatte. Allmählich verstand sie, dass man manchmal keine Wahl hatte, dass Ereignisse einen antreiben konnten, ohne jede Rücksicht auf die eigenen Wünsche zu nehmen. Wenn sie diesen Kerl erwischte, und Arkeley und Malvern -die Vampire, die es ihrer Einschätzung nach noch gab - wenn sie die alle erwischte, dann durfte sie aufhören. Bis dahin aber konnte sie bloß weiterkämpfen. 7
Es musste etwas geben, das sie tun konnte. Caxton betrachtete die Wände, aber die bestanden aus verstärktem Blech. Sie würde sich niemals einen Weg hindurchtreten können. Die Tür schloss dicht mit dem Rahmen ab. Sie war unmöglich aufzustemmen; sie würde nicht einmal die Finger dazwischen bekommen, um zu ziehen. Dann schaute sie in die Höhe. Die Lagerräume reichten nicht bis zur Decke - dort oben gab es fünfundvierzig Zentimeter freien Raum. Die Decke des Lagers bestand nur aus dünnem Maschendraht. Zwar kam sie so nicht daran, aber vielleicht konnte sie es mit einem Sprung schaffen. Sie schob die Beretta ins Holster - natürlich gesichert -, rieb sich die Hände und machte einen zaghaften Sprung. Ihre Fingerspitzen berührten den Draht, aber sie konnte sich nicht festhalten. Also versuchte sie es erneut und schaffte es nicht einmal annähernd. Beim dritten Mal klappt es, versprach sie sich und ging tief in die Knie.
Die Finger der linken Hand schlüpften durch die Lücken im Draht. Sie schloss sie sofort zur Faust, als sie zurückfiel - und nahm das Drahtgeflecht mit. Es schnitt ihr die Finger auf, bis sie vom Blut ganz glitschig waren, und der Lärm war ohrenbetäubend, als der Maschendraht durch ihr Gewicht zerriss. Aber nun hatte sie genau über sich ein Loch, durch das sie sich möglicherweise hindurchwinden konnte. Sie griff mit der anderen Hand nach dem herabbaumelnden Drahtgeflecht und arbeitete sich nach oben. Es fühlte sich zwar an, als würde man ihr die Finger in Scheiben schneiden, doch sie hatte keine andere Wahl - sie musste hier heraus. Als sie den Vampir draußen im Korridor hörte, erstarrte sie. »Was tust du da drin?«, fragte er belustigt. Die Stimme verwirrte sie. Irgendwie klang sie anders als die Stimme von 8
der Aufnahme, die sie in dieses Gebäude gelockt hatte. Weniger guttural, weniger unmenschlich. Sie sparte sich die Mühe einer Antwort, hangelte sich dagegen immer weiter nach oben, bis sie sich auf die Trennwand zum Nachbarlager schob. Dort warf sie einen Blick nach unten. Pappkartons, ein Paar Ski und Milchkästen aus Plastik voller Schallplatten füllten den engen Stauraum. Von ihrer Position aus konnte sie sich in den Korridor herablassen, obwohl der Vampir dort auf sie wartete, alarmiert von dem Lärm, den sie verursacht hatte. Vampire hatten wesentlich bessere Reflexe als Menschen und reagierten auch schneller. Sich auf einen zu stürzen würde vermutlich Selbstmord bedeuten. Nicht, dass sie eine Wahl gehabt hätte. Sie streckte den Kopf nach vorn und schaute in den Korridor. Genau unter ihr befand sich der weiße kahle Kopf des Vampirs. Er lehnte sich gegen die Tür des leeren Lagers und presste ein Dreiecksohr gegen die Tür, die lange, pfotenähnliche Hand auf das weiße Metall gelegt. Caxton zog die Waffe - und sprang. Ohne weiter nachzudenken. Sie landete hart auf seiner Schulter und musste ihn völlig überrascht haben, denn er ging gleich zu Boden, landete auf dem Rücken - und sie saß oben auf ihm drauf. Sie entsicherte und schoss in einer flüssigen Bewegung, nahm sich nicht einmal die Zeit zu zielen. Die Kugel sprengte die Haut seiner Schulter und schleuderte Gewebe durch die Luft, und sie erkannte ihren Fehler, erkannte, dass sie sein Herz verfehlt hatte. Unwillkürlich bäumte er sich auf, und sie schlug instinktiv mit dem Kolben zu, genau auf seinen Mund. Reißzähne zerbrachen und flogen in alle Richtungen. Er fing an zu husten und zu würgen, dann spuckte er die Reißzahnsplitter aus und enthüllte ganz normale weiße Zähne darunter. Caxton starrte mit wildem Blick in seine blauen 8
Augen und wurde sich der leuchtenden Haarstoppeln auf seiner Kopfhaut bewusst. »Ach, Scheiße«, stieß sie hervor. Sie packte ein Dreiecksohr und riss es ab. Es bestand aus Schaumgummi.
3.
draußen kniete ein SWAT-Team im Schnee, Sturmgewehre auf die Glastüren des Eingangs gerichtet. Blaue und rote Lichter blitzten in Caxtons Augen, die sie fortblinzeln musste. »Beweg dich, du Idiot«, sagte sie und stieß den Festgenommenen auf die Straße. Er wimmerte, als die angeschossene Schulter belastet wurde. Das SWATTeam entspannte sich sichtlich, als die Handschellen zu sehen waren, die seine Hände fesselten. Aber die Männer sicherten die Waffen erst, als sie den Befehl gab. »Glauer«, rief sie, und der große Cop kam um das Gebäude gelaufen, wo er den Notausgang bewacht hatte. Guter Soldat, dachte sie. »Glauer, rufen Sie einen Krankenwagen. Ein Verwundeter.«
Er starrte sie an, begriff offenbar überhaupt nichts. Die SSU war nicht dazu da, Vampire zu verhaften, und mit Sicherheit besorgte sie keine ärztliche Versorgung für sie. Sie war vielmehr dazu da, sie auszurotten. »Er ist ein Möchtegernblutsauger«, erklärte sie und riss dem Verdächtigen das andere Gummiohr ab. Darunter kam ein rundes, normales, fleischfarbenes menschliches Ohr zum Vorschein. Sie musste zugeben, dass er die Täuschung gut hinbekommen hatte. Unter den schlechten Lichtverhältnissen hatte nicht einmal sie den Unterschied zwischen diesem Jungen und einem echten Vampir erkannt. Natürlich hätte sie es sehen müssen. Echte Vampire waren unnatürliche Kreaturen. In ihrer unmittelbaren Nähe fühlte man, wie kalt ihre Körper waren. Die Härchen auf den Armen stellten sich auf. Sie hatten einen unverkennbar tierhaften Geruch. Der Möchtegernblutsauger hatte das nicht fälschen können, und hätte sie die Nerven behalten, wäre es ihr auch aufgefallen. Sie hatte Arkeley so verzweifelt finden und ihre Arbeit zu einem Ende bringen wollen, dass sie einen bösen Fehler gemacht hatte. Was, wenn sie ihn getötet hätte ? Was, wenn sie ihm drei Kugeln ins Herz gejagt hätte, einfach so, aus Prinzip ? Der Möchtegernblutsauger hatte zwei Menschen getötet und dann eine Waffe auf eine Polizeibeamtin im Dienst abgefeuert. Hätte sie ihn erschossen, wäre das mehr als ausreichend gewesen, um sie vor dem Gefängnis zu bewahren. Es entsprach beinahe einem Lehrbuchbeispiel von gerechtfertigter Gewalt, aber selbst wenn die interne Untersuchung der State Police sie von allen Vorwürfen entlastet hätte, hätte sie das dennoch nicht vor einer Zivilklage geschützt, falls die Familie des Jungen der Ansicht gewesen wäre, dass sie übertriebene Gewalt eingesetzt hätte. Die Special Subjects Unit war brandneu. Sie konnte keine Klagen - oder derartige dumme Fehler - überleben, und ohne die SSU würde die Bevölkerung von Pennsylvania in Gefahr schweben. Überall würden Menschen in Gefahr schweben. Sie konnte es sich einfach nicht leisten, auf diese Weise Mist zu bauen. Glauer holte seinen Wagen, einen Streifenwagen mit der Aufschrift SSU auf der Motorhaube. Es war ihr einziges offizielles Fahrzeug. Caxton half, den Möchtegernblutsauger auf den Rücksitz zu verfrachten, und drückte seinen Kopf nach unten, damit er sich nicht am Türrahmen stieß. Dort konnte er auf das Eintreffen des Krankenwagens warten. Die verletzte Schulter hatte sie bereits mit einem Notverband versehen. Wo sie ihn mit der Pistole an der Unterlippe getroffen hatte, bildete sich bereits ein übler Bluterguss, aber dagegen ließ sich nicht viel machen. »Nehmen Sie das hier«, sagte sie zu Glauer. Sie gab ihm die Schrotflinte des Festgenommenen und das blutverschmierte Jagdmesser, das sie aus seinem Gürtel gezogen hatte. Mit großer Sicherheit hatte er dieses Messer bei den beiden Männern in der Lobby benutzt. Es wies eine hässliche Säge an der einen Seite auf, die er dazu benutzt haben konnte, den Arm des Hausmeisters abzutrennen. Angewidert schüttelte sie den Kopf und schaute sich ihre Hände an. Sie waren mit Blut und weißer Schminke verschmiert. Sie wollte sie nicht an der Hose abwischen - es war ihre beste Uniformhose -, also nahm sie eine Handvoll Schnee vom Boden und säuberte sie damit. »Wie heißen Sie?«, fragte Glauer. Er war neben dem Jungen in die Hocke gegangen und sprach durch die offenstehende Tür des Streifenwagens. »Sie müssen mir das auch nicht sagen, wenn Sie nicht wollen. Sollen wir jemanden anrufen?« Caxton starrte ihren Beamten an, als hätte er den Verstand verloren. Dann begriff sie, dass er den Verdächtigen nur beruhigen wollte. Das war einer der Gründe, warum Caxton Glauer in ihrem Team brauchte - um mit Menschen zu sprechen, die Angst hatten und litten. Sie war noch nie besonders gut mit anderen Leuten klargekommen. »Rexroth«, sagte der Möchtegernblutsauger.
»Und Ihr Vornahme? Oder ist er das schon?«, fragte Glauer. Caxton lehnte sich an den Wagen und schloss die Augen. Es würde eine Weile dauern, bis der Krankenwagen da war, und selbst dann würde sie mit dem Kerl nicht fertig sein. Was für eine Zeitverschwendung. 10 »Sorgen Sie dafür, dass er seine Rechte kennt«, sagte sie reflexartig. Aber Glauer konzentrierte sich weiter auf den Jungen. »Was haben Sie sich heute Abend erhofft - dadurch?« Rexroth - mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit ein Deckname, entschied sie - schluchzte jetzt. Mit auf den Rücken gefesselten Händen konnte er weder Tränen noch Rotz abwischen, also sammelten sie sich in öligen Bahnen auf seinem geschminkten Gesicht. »Ich sollte sterben. Sie sollte mich töten.« Caxton versteifte sich. Der Kerl hatte Selbstmord begehen wollen: Selbstmord durch Polizei, wie man es in den Medien nannte. Er hatte in einer wilden Schießerei aus dem Leben scheiden - und die berühmte Vampirjägerin Laura Caxton vielleicht sogar noch mitnehmen - wollen. Vielleicht hatte er geglaubt, das würde reichen, um ihn in einen echten Vampir zu verwandeln. Denn man musste Selbstmord begehen, wollte man Mitglied dieses besonderen Clubs werden, und es war ganz egal, wie man es machte. Natürlich musste man vorher dem Vampirfluch ausgesetzt worden sein - was voraussetzte, dass man einem echten Vampir zu begegnen hatte. Dieser Junge war einem echten Vampir niemals näher gekommen als in einem schlechten Film an einem verregneten Samstagnachmittag. Caxton starrte in die Dunkelheit und beschwor den Krankenwagen, sich zu beeilen. Je früher er eintraf, desto eher durfte sie nach Hause und zurück ins Bett. Sie bezweifelte zwar, schlafen zu können, aber wenigstens konnte sie sich hinlegen, die Augen schließen und so tun als ob. Etwas in ihrem Inneren löste sich, und sie sackte gegen den Wagen. Plötzlich war ihr dieser Idiot Rexroth und alles andere, das sie von ihrem Bett fernhielt, vollkommen gleich. We lange war es her, dass sie mal eine Nacht ganz durchgeschlafen hatte ? Dass sie auch nur sechs armselige Stunden für 24
sich gehabt hätte ? Sie konnte sich nicht einmal mehr daran erinnern. Im Augenblick hatte sie einfach zu viel im Kopf, um sich überhaupt wirklich entspannen zu können. »Trooper?«, fragte Glauer. Sie riss die Augen auf. Wie lange hatte sie sie geschlossen gehabt? Sie wusste es nicht. »Was soll ich tun?«, fragte er. »Seine Rechte«, erwiderte sie. »Lesen Sie ihm jetzt seine Rechte vor. Dann bringen Sie ihn ins Krankenhaus. Wenn er entlassen wird, verfrachten Sie ihn in irgendeine Zelle. Nehmen Sie alles auf und beschuldigen Sie ihn zweier Morde. Beschuldigen Sie ihn... was weiß ich. Gefährdung eines Polizeibeamten. Was immer Ihnen einfällt.« »Wo... in welche Zelle?« Das war sogar eine gute Frage. Die SSU hatte keine Möglichkeit zur Gefangenenunterbringung. Caxton war nie der Gedanke gekommen, jemals eine eigene Zelle zu brauchen. »Das Gefängnis hier wird reichen. Koordinieren Sie alles mit der Ortspolizei - das kann ihr Fall sein, dafür sind wir nicht zuständig.« Glauer nickte, aber er wirkte unzufrieden. »Was noch?«, wollte sie wissen. »Wollen Sie ihn denn nicht selbst verhören?« »Jetzt nicht.« Sie hielt nach ihrem Wagen Ausschau und entdeckte ihn dort, wo sie ihn bei ihrem Eintreffen geparkt hatte. Als sie noch geglaubt hatte, zu ihrem letzten Kampf mit Arkeley zu fahren. Was für ein Witz. Sie setzte sich in Bewegung.
»Hey«, rief Glauer, »wollen Sie nicht hier bleiben?« »Nein«, erwiderte sie. »In vier Stunden muss ich wieder raus und mich anziehen. Ich muss zu einer Beerdigung.« -11
Als die Sonne das Küchenfenster in ein hellblaues Rechteck verwandelte, war Laura Caxton mit dem Frühstück fertig und hatte angefangen sich anzuziehen. Draußen berührte das Morgenlicht die dunklen Konturen des leeren Schuppens hinter dem Haus, erhellte eine der Wände des Gebäudes, in dem Deannas Kunstwerke gehangen hatten. Laura hatte sie vor einiger Zeit abgenommen, sorgfältig zusammengefaltet und auf dem engen Dachboden in einer Kiste verstaut, zusammen mit dem Rest von Deannas Sachen, die sie nicht übers Herz gebracht hatte wegzuwerfen. Der Morgen beleuchtete auch den Zwinger - ebenfalls leer. Die letzten drei Hunde, die Laura dort untergebracht hatte, drei gerettete Greyhounds, waren inzwischen alle in ein besseres Zuhause umgesiedelt. Seitdem hatte sie keine Gelegenheit mehr gehabt, neue Hunde aufzunehmen - obwohl es genug gab, die ihre Hilfe brauchten. Das Haus fühlte sich kalt und dunkel an, selbst dann noch, als die Sonne an Kraft gewann. Laura band die Krawatte um den Kragen des weißen Hemdes und schlüpfte in ihre einzige Anzughose. Sie hielt nach ihrem schwarzen Blazer Ausschau und erkannte, dass sie ihn im Schlafzimmerschrank hatte hängen lassen. Gerade wollte sie ihn holen, als Clara aus dem Schlafzimmer kam, in einem schlichten schwarzen Kleid. Ihr dunkles Haar, das bis zu den Ohren reichte, war sauber und glänzte seidig. Laura hatte sich so sehr bemüht, leise zu sein, um Clara nicht zu wecken - dabei musste sie sich die ganze Zeit über fertig gemacht haben. »Hier.« Clara reichte ihr den Blazer. »Wir müssen los. Das ist mindestens eine Fahrt von anderthalb Stunden. Und noch länger, wenn wir die Polders einsammeln.« Laura holte tief Luft. »Ich hab dir doch gesagt, dass du nicht mitkommen musst. Du hast ihn immer gehasst.« Clara lächelte warmherzig. Viel warmherziger, als Laura verdiente. »Das habe ich, und ich tue es noch immer. Aber zurzeit gehören Beerdigungen zu den wenigen Augenblicken, in denen ich mal Zeit mit dir verbringen kann.« Laura trat einen Schritt auf sie zu, um den Blazer entgegenzunehmen, dann zog sie Clara in eine enge Umarmung. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Dass sie versuchen wollte, dies zu ändern, um mehr Nächte zu Hause zu verbringen? Dieses Versprechen konnte sie nicht geben. Clara war der einzige Lichtblick, den sie noch hatte. Das Einzige, was sich gut anfühlte. Und sie war schon dabei sie zu verlieren. Das wusste sie auch. »Okay. Willst du was essen?« »Jetzt nicht«, sagte Clara. »Soll ich fahren?« Laura nickte. In den vergangenen zwei Monaten waren sie zu vielen Beerdigungen gegangen. Gettysburg war ein Erfolg gewesen -jedenfalls aus der Sicht des Touristikverbandes. Die Zivilbevölkerung der Stadt hatte überlebt, weil Caxton sie einen Tag vor Beginn der Kämpfe evakuiert hatte. Aus Sicht der Polizeibehörden war es jedoch ein Fiasko gewesen. Cops der Ortspolizei, SWAT-Beamte aus Harrisburg und sogar junge Männer der Nationalgarde waren zu Dutzenden gestorben. Sie hatten ihr Leben geopfert, um zu verhindern, dass die Vampire an die Zivilbevölkerung herankamen. Danach hatte mehr als nur eine Familie Caxton Hassbriefe geschickt. Aber sie hatte es sich zur Aufgabe gemacht, nach Möglichkeit jedes Begräbnis zu besuchen. Das hier war allerdings etwas anders. Nein, es war sogar ganz anders. Sie sprachen auf dem Weg nach Centre County nicht 11
viel miteinander. Laura drohte immer wieder einzunicken, schreckte aber jedes Mal hoch, bevor sie richtig einschlief. Es war ein vertrautes Gefühl, wenn auch kein willkommenes. Ein Stück vor State College verließ Clara den Highway und fuhr tief in ein Gebiet steiler Höhenzüge und toter Felder hinein, die braun, golden und voller Schnee waren. Sie passierten verwitterte Farmhäuser und Scheunen, die aussahen, als wären sie von Bunker brechenden Bomben getroffen worden; ein paar von ihnen waren einfach auf die Seite gekippt. Sie fuhren an einer Herde unglücklich aussehender Kühe vorbei, und dann bog Clara erneut ab, und zwar auf einen Feldweg, den man leicht übersehen konnte, wenn man nicht wusste, wo er sich befand. Vor einem Farmhaus, das sich in einem besseren Zustand als die meisten anderen zu befinden schien, hielten sie an. Dazu gehörten eine Scheune und ein Silo, die beide mit Hexenzeichen versehen waren. Die Polders warteten vor dem Haus. Urie Polder trug wie immer seine Caterpillar-Baseball-mütze, aber er hatte einen schwarzen Parka über sein fleckiges weißes T-Shirt gezogen. Die Jacke verbarg den größten Teil seines Holzarms, aber nicht die drei zweigähnlichen Finger, die aus dem Ärmel ragten. Polder kratzte sich damit an der frisch rasierten Wange, und Laura sah, dass sie sich bewegten, so flink wie menschliche Finger. Diese merkwürdige Hand war tatsächlich stärker und geschickter als seine normale. Vesta Polder trug das gleiche Kleid wie immer, das bis zu den Füßen reichte, am Hals zugeknöpft war und die Handgelenke bedeckte. Allerdings war das ungebändigte blonde Haar mit Haarnadeln zurückgesteckt, und ein schwarzer Schleier verbarg ihr Gesicht. Sie waren die seltsamsten Leute, die Laura je kennen gelernt hatte. Aber sie hatten sich als gute Freunde erwiesen. Nachdem der Wagen angehalten hatte, winkte Urie dem ?.8
Haus mit der Holzhand zu. Ein kleines Mädchen kam herausgerannt, vielleicht zwölf Jahre alt. Es trug die kleinere Version von Vestas Kleid, aber sein blondes Haar war von einer weißen Spitzenhaube bedeckt. Die Augen waren sehr groß. Laura war leicht geschockt. Sie wusste schon seit einiger Zeit, dass die Polders eine Tochter hatten, aber sie war ihr noch nie zuvor begegnet. Als sich das Paar auf den Rücksitz des Wagens gesetzt und das Mädchen es sich auf dem Schoß der Mutter bequem gemacht hatte, räusperte sich Urie lautstark. »Das hier ist Patience, sie ist ein braves Mädchen.« »Es ist schön, dich kennenzulernen«, sagte Clara und lehnte sich über den Fahrersitz. »Ich bin Clara, und das ist Laura.« »Ja, Ma'am, ich kenne Sie beide«, erwiderte das Mädchen. »Die Karten haben Sie mir gezeigt. Sie sind die Geliebte, und sie ist der Killer.« Laura verzog den Mund. So hatte sie sich diese Begegnung nicht vorgestellt. Sie sah Vesta an, aber die ältere Frau wies ihre Tochter keineswegs zurecht. »Ich glaube, das stimmt«, sagte Clara und weigerte sich, sich davon beeindrucken zu lassen. Sie warf Urie einen Blick zu. »Vermutlich geht es mich ja nichts an, aber ich weiß nicht, ob das für ein kleines Mädchen ganz das Richtige ist. Haben Sie keinen Babysitter bekommen?« Urie Polder grinste breit. »Die kleine Patience ist noch nie von einem Fremden beaufsichtigt worden, seit ihrer Geburt nicht. Und damit wollen wir auch jetzt nicht anfangen.« »Oh«, machte Clara, legte stumm den Gang ein und fuhr zur Straße zurück. Die Beerdigung sollte auf einem Friedhof außerhalb von Bellefonte stattfinden - was nicht weit entfernt war. Sie passierten den Campus der Penn State University, dann kamen sie in eine idyllische kleine viktorianische Stadt. Die Straße ;0
führte an einem zugefrorenen Teich vorbei, der von kleinen Pavillons und Häusern umgeben war, die mit lebkuchenähnlichem Schnitzwerk verziert waren. Laura war immer schon der Ansicht gewesen, dass die Stadt den Eindruck erweckte, hier müsste jeden Augenblick plötzlich eine Parade losgehen, mit Blaskapelle und Ballköniginnen auf dem Rücksitz von Kabrioletts. Es war ein flüchtiger Blick auf ein Pennsylvania, wie es vor Jahrzehnten einmal gewesen war, bevor die Kohlenminen erschöpft und die Stahlwerke geschlossen worden waren, weil sie mit ausländischen Produkten nicht mehr hatten mithalten können. Das Pennsylvania, in dem ihre Großeltern aufgewachsen waren. Arkeley hatte ein Haus in Bellefonte besessen. Es war beinahe zwanzig Jahre lang seine Operationsbasis gewesen. Jetzt würde man ihm in dieser Stadt einen Gedenkstein setzen. Der Friedhof, der außerhalb der Stadt lag, bestand aus einem großen Gelände voller gelblicher Hügel, wo das tote Gras selbst noch so spät am Morgen vor Frost funkelte. Der größte Teil des Schnees war geschmolzen oder von den Grabstellen geräumt worden. Clara hatte den Streckenplan von der Webseite des Friedhofs heruntergeladen, und nun steuerte sie selbstbewusst durch die endlosen Wege voller Obelisken und Familiengräber. Kleinere, bescheidenere Grabsteine ragten in ordentlichen Reihen auf. Sie fuhr weiter in weniger bevölkerte Regionen hinein. Ein kürzlich gewaschener Pickup mit einer verlängerten Fahrerkabine parkte am Straßenrand, und Clara hielt dahinter an. Dann stiegen sie alle aus und gingen über das knisternde Gras bis zu der Stelle, an der bereits drei Leute warteten. Ein älterer Mann, der so ähnlich wie Urie Polder gekleidet war, dessen Jeans an den Knien aber - deutlich sichtbar - noch fadenscheiniger waren - und zwei junge Leute im Alter von Collegestudenten. Arkeleys Kinder. 3°
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Ich halte das noch immer für eine lausige Idee. Soll das der Familie nun Trost spenden oder sie verhöhnen?«, wandte sich Laura an Vesta Polder. Aber Urie antwortete. »Das ist für Sie.« »Was?« »Damit Sie sich an die Vorstellung gewöhnen, dass er kein Mensch mehr ist. Damit Sie bei ihrer Begegnung nicht mehr denken, er sei noch derselbe Mann.« Laura schüttelte verwundert den Kopf. Ihr fehlte im Augenblick die geistige Energie, um das jetzt ergründen zu können. Dazu wären noch weitere Fragen nötig gewesen, aber plötzlich waren sie schon in Hörweite des Trios, das an dem Grabstein stand. Sie nahm die Sonnenbrille so beherrscht wie sie konnte ab und studierte die schlichte Aufschrift auf dem einfachen Stein: JAMESON ARKELEY 12. MAI 1941 - 3. OKTOBER 2004 Irgendwie war sie erfreut, dass da nicht »Ruhe in Frieden« oder eine andere Beschreibung stand, darüber wie er gelebt oder gestorben oder wiedergeboren worden war. Nur der Name und die Daten hatten eine gewisse Würde, und so verzweifelt sie Arkeley finden und zur Strecke bringen wollte, das gönnte sie ihm doch. Die kalte Form des Steins mit seiner soliden Gegenständlichkeit beruhigte sie etwas. Jedenfalls genug, um aufzusehen und die Leute zu mustern, die sie geduldig betrachteten. Der Älteste der Drei - Arkeleys Bruder Angus - hatte das gleiche faltige Gesicht, das sie so gut kannte; allerdings funkelte in seinen Augen eine Heiterkeit, die Arkeley nie gezeigt hatte. Er schüttelte ihr die Hand und murmelte eine Höflichkeit, die sie nicht verstand. Die beiden Kinder waren zwar konservativer gekleidet als ihr Onkel, aber sie
teilten dennoch eine gewisse Familienähnlichkeit mit dem Mann, dem man zu ihren Füßen gedachte. »Raleigh, richtig?«, fragte Laura und streckte die Hand aus. Arkeleys Tochter nickte, machte aber keine Anstalten, die Hand zu ergreifen. Sie trug ein formloses schwarzes Kleid und einen schweren Wintermantel, der wie ein Zelt an ihrem Körper herunterhing. Da war kein Make-up zu sehen, und ihre Brauen und Wimpern wirkten beinahe so farblos wie ihr Kleid. »Wir haben telefoniert.« »Ja, Trooper. Hi. Schön, Sie kennenzulernen.« »Gleichfalls.« Laura wandte sich Arkeleys Sohn zu. »Und Sie müssen Simon sein. Ihr Verlust... tut mir so leid.« »Mein Vater ist ja nicht tot«, erwiderte er. »Können wir diese Scharade vielleicht hinter uns bringen? Ich muss heute Abend wieder auf der Uni sein, und es ist eine lange Bahnfahrt.« Simon Arkeley hatte scharf geschnittene blasse Züge, eine lange dünne Nase und Augen, die schmalen Schlitzen glichen. Sein schwarzes Haar war nachlässig gekämmt. Er trug einen blassblauen Anzug, der für dieses Wetter nicht dick genug erschien. »Sie studieren in Syracuse, richtig? Was ist Ihr Hauptfach?« Sein Blick schien sie zu durchbohren. »Biologie.« »Wir sind... alle da«, verkündete Urie Polder. Laura erkannte, dass sie den Stein blockierte. Sie hätte genau auf dem Grab gestanden, hätte es denn eins gegeben. Alle anderen hatten so etwas wie einen unregelmäßigen Kreis um sie herum gebildet. Sie stellte sich zwischen Clara und Patience. Das kleine Mädchen nahm ihre Hand. Vesta Polder trat einen Schritt vor und hob die Hände. An ihren Fingern steckten Dutzende gleicher Ringe. Langsam griff sie nach dem Schleier. Laura wurde sich bewusst, dass die Frau kein Wort gesagt hatte, seit sie sie abgeholt hatten. Jeder verfolgte gebannt, selbst Simon, wie sie den Schleier langsam hob und ihr Gesicht entblößte. Sie schob ihn auf die Schultern und gab ihr dichtes blondes Haar frei. Ihre Augen waren geschlossen. Als sie sie aufschlug, waren sie rot und geschwollen, als hätte sie geweint; ein fiebriger Schein funkelte darin. Ihre Lippen waren fest aufeinander gedrückt. Sie schaute einen nach dem anderen an, hielt ihrer aller Blicke fest, bis sie wegsahen. Das galt selbst für Urie und Patience. Dann ergriff sie das Wort. »Früher«, sagte sie mit lauter und klarer Stimme, »gab es keine Winterbegräbnisse. Starb ein Mann im Winter, wickelte man seine Leiche in ein Laken und legte ihn ganz hinten in die Speisekammer, dorthin, wo es am kältesten war, und ließ ihn dort liegen, bis an den Bäumen die ersten Knospen blühten.« Raleigh runzelte die Stirn. »Warum denn? Brachte der Winter Unglück?« Vesta Polder schien die Unterbrechung nicht zu stören. »Nein. Der Boden war einfach zu hart zum Graben. Damals wurde nämlich jedes Grab mit der Schaufel gegraben. Ein Mann konnte sich den Rücken brechen bei dem Versuch, die gefrorene Erde auszuheben. Heute haben wir natürlich Bagger. Gräber werden das ganze Jahr über gegraben. Aber hier gibt es kein Grab. Nur einen Stein - nicht einmal einen Grabstein, sondern einen Kenotaph.« »Was ist ein Kenotaph?«, fragte Patience. Vesta lächelte ihrer Tochter nicht zu, sah sie nicht einmal an. »Das ist ein Gedenkgrabmal für einen Mann, des14
sen Knochen woanders liegen. Dieser Stein erinnert uns an einen Mann, der gestorben ist. Einen Mann, der es verdient hat, dass man sich an ihn erinnert. Jameson Arkeley hat sein Leben unserem Schutz gewidmet. Dem Schutz der ganzen Menschheit. Hier können wir seines Opfers gedenken.«
Seines Opfers. Laura biss sich auf die Lippe, um nichts zu sagen. Arkeley war verkrüppelt worden, er hatte nicht mehr Auto fahren, sich nicht einmal mehr selbst die Krawatte binden können. Diese Verletzungen hatte er im Kampf gegen die Blutsauger davongetragen. Der Vampirfluch hatte ihn jedoch wieder gesund und stark gemacht. Zu diesem Zeitpunkt hatte er das vermutlich auch noch als Opfer betrachtet. Mittlerweile hielt er es wohl aber eher für ein Geschenk. Er hatte die Chance bekommen, den Beweis anzutreten, dass sein Tod seinen Sinn gehabt hatte. Nachdem er ihr Leben gerettet hatte, hätte er zu ihr zurückkehren können. Er hätte sich eine Kugel ins Herz schießen lassen können. Das wäre ein wirkliches Opfer gewesen. Stattdessen hatte er die Flucht ergriffen und war untergetaucht. Vielleicht hatte er geglaubt, den Fluch irgendwie besiegen zu können. Vielleicht hatte er auch geglaubt, auf irgendeine Weise ein Mensch bleiben zu können. Der Mann, mit dem sie einmal zusammengearbeitet hatte, hätte es besser gewusst, aber der Fluch konnte sehr überzeugend sein. Sein Opfer war von Gier zunichte gemacht worden. Blutgier. »Aber wir können diesen Stein auch als Warnung begreifen. Eine Warnung, dass er noch immer da draußen ist.« Vesta sah Laura Caxton an. Sie streckte die beringten Hände aus, und Caxton ergriff sie. Vesta schaute ihr direkt in die Augen. »Trooper, das ist eine Warnung und eine Mahnung für Sie. Wir haben hier einen Ort für ihn geschaffen, an dem er ruhen kann. Wir haben für diesen Mann ein sehr nettes Grab geschaffen. Jetzt liegt es an Ihnen, es auch zu füllen.« 3 =1 Caxton blieb das Herz stehen. Sie wollte etwas erwidern, aber was? Da gab es keine richtigen Worte. »Ich arbeite daran« wäre schrecklich unangebracht gewesen. »Ich werde mein Bestes tun« klang auch nicht angemessen. »Nein!«, sagte Simon, ergriff Vestas Arm und zog sie von Caxton weg. Die ältere Frau schwankte, als hätte man sie ins Gesicht geschlagen. Eine Sekunde lang fühlte sich Caxton schwindlig, dann kam sie wieder zu Sinnen. Sie sprang zwischen Simon und Vesta und drängte den Jungen vom Grab fort, aus dem Trauerkreis heraus. »Was sollte das?«, fauchte sie und führte ihn außer Hörweite. »Wie können Sie es zulassen, dass diese Frau so über meinen Vater spricht?« »Sie ist meine Freundin. Und sie hatte vollkommen recht.« »Ich will aber nicht, dass Sie meinen Vater töten.« Caxton schüttelte den Kopf. »Er ist nicht länger Ihr Vater. Er ist ein Vampir. Ich weiß nicht, ob Sie begreifen, was das wirklich bedeutet...« Simon stieß ein bellendes Lachen aus, das allerdings vollkommen bitter klang. »... doch es ist meine Aufgabe, ihn zur Strecke zu bringen. Und das werde ich auch tun. Er ist eine Gefahr für die Gemeinde. Für jeden!« Simon schwieg einen Moment lang mürrisch, bevor er antwortete. »Verraten Sie mir etwas. Keine Meinung, nur die Tatsachen, in Ordnung? Haben Sie nur einen einzigen Beweis dafür, dass mein Vater auch nur einem Menschen etwas getan hat? Haben Sie Leichen gefunden?« »Nun, nein, aber...« »Dann lassen Sie ihn verdammt noch mal in Ruhe.« Er wandte sich ab, um zurück zum Grab zu gehen. Sie ergriff seinen Arm, doch er riss sich mühelos los. Es hätte sie nicht 15 überrascht, hätte er Vesta Polder auf der Stelle angegriffen, aber stattdessen ging er an ihr vorbei auf die Wagen zu. »Ich muss gehen!«, rief er und verschränkte die Arme. Das war alles, was er noch zu sagen hatte.
6.
Die Trauergäste lösten den Kreis bereits auf und gingen zu den Wagen hinüber anscheinend hatte keiner mit der unerfreulichen Feier weitermachen wollen. Caxton eilte auf Angus und Raleigh zu, die in den Pickup stiegen. »Ich möchte mit Ihnen sprechen«, sagte sie. »Sie könnten etwas wissen, das mir wirklich dabei helfen würde ihn aufzuspüren.« »Also, das bezweifle ich doch sehr«, sagte Angus. »Ich habe meinen Bruder seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen. Andererseits...« Er hielt mitten im Satz inne, musterte Caxton von unten bis oben, von den Beinen bis zur Brust, kam aber nicht bis zu ihrem Gesicht und den Augen. »Ich wollte eine Dusche nehmen und dann ein Nickerchen machen. Wenn Sie heute Abend etwas mit mir trinken möchten, dann ist das in Ordnung. Ich wohne in einem Motel in der Nähe von Hershey. Dachte mir, wenn ich schon den ganzen Weg herüberkomme, dann kann ich mir auch den Freizeitpark ansehen. Was ist mit dir, Süße? Willst du mit der Polizistin sprechen?« Raleigh schaute zu Boden und errötete. »Bitte, Trooper. Verstehen Sie das nicht falsch. Mein Onkel ist ein guter Mensch, er ist bloß in Armut aufgewachsen. Er ist kein solcher...« Sie schob die Schultern nach vorn und schaute in den Himmel, suchte nach den richtigen Worten. Schließlich fiel ihr ein: »... Ignorant, wie es vielleicht den Anschein hat.« 16 »Ich bin selbst in ziemlich ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen«, sagte Caxton. »Als Tochter eines Sheriffs in einer sterbenden Kohlenstadt nördlich von hier. Ich weiß, wie ich einen Hinterwälder zu nehmen habe.« Das ließ Angus kichern. »Aber Sie haben die Frage nicht beantwortet. Haben Sie etwas dagegen, mit mir zu sprechen? Ich weiß, dass es Ihnen im Augenblick schwerfallen könnte, über Ihren Vater zu reden.« Das Mädchen rieb sich die Hände. »Nein. Nein, das ist schon okay. Aber nicht hier, ja? Friedhöfe machen mich nervös.« »Das ist schon in Ordnung«, sagte Caxton. »Wir können ja einen Termin ausmachen Sie wohnen in Emmaus, nicht wahr?« »Da in der Nähe.« Damit war Caxton fertig. Es erschien ihr unwahrscheinlich, dass Simon zu einem Gespräch bereit war, also würde sie ihn auch in Ruhe lassen. Allerdings war er noch nicht damit fertig, ihr Schwierigkeiten zu machen. Er sprach lange mit Clara, leise aber aufgeregt. Schließlich seufzte sie verzweifelt und kam mit vor der Brust verschränkten Armen auf Caxton zu. »Er will zum Bahnhof gefahren werden.« »Das lässt sich einrichten«, erwiderte Caxton und sah Angus an. Der alte Mann zuckte mit den Schultern. »Er will, dass ich ihn fahre. Weil er mich nicht kennt, und das bedeutet, dass er mich noch nicht hasst. Er sagt, er will nicht mehr mit seiner Familie fahren. Er sagt, sie hätten Arkeley verraten. Ich meine Jameson Arkeley«, verbesserte sie sich nach einem Blick auf Angus und Raleigh. »Er sagt, dass sie ihn allein deshalb schon verraten haben, weil sie mit dir sprechen. Er will auch nicht mit dir fahren, weil du seinen Vater töten willst.« 16
Caxton kniff die Augen zusammen. Irgendwie war ihr nicht klar, wieso das jetzt ihr Problem sein sollte. Aber dann dachte sie an Glauer. Er wies sie doch ununterbrochen darauf hin, sensibler für die Bedürfnisse der Öffentlichkeit und die Gefühle von Zivilisten zu sein. »Okay. Das bekommen wir schon hin. Hat er auch ein Problem mit Vesta?« »Ja«, sagte Clara, »aber weniger als mit dir. Oder seiner Familie. Sagt er.«
Caxton sah Angus an. »Können Sie mich bis nach Harrisburg mitnehmen? Dann könnte Clara Ihren Neffen zum Bahnhof fahren und unterwegs die Polders absetzen.« »Hast du was dagegen, hinten zu sitzen, Süße?«, fragte Angus seine Nichte, die den Kopf schüttelte.. Das war nervig, fand Caxton, die reine Zeitverschwendung. Die Arbeit wartete auf sie eine Besprechung in der SSU am Nachmittag -, und sie würde Zeit brauchen, sich darauf vorzubereiten. Simons Wutanfall beschränkte ihre Arbeitszeit. Aber so sah für die meisten Leute nun einmal der Alltag aus: ständig kleine Verhandlungen und Verpflichtungen und Zumutungen. All die Dinge, die Jameson Arkeley bei seiner Jagd auf Vampire zur Seite gewischt hatte. Und so hatte er auf jeden, der ihn kennengelernt hatte, wie ein Arschloch gewirkt - Caxton eingeschlossen. Vielleicht hätte sie etwas verständnisvoller sein sollen. Sie verabschiedete sich von den Polders. Urie und Vesta schenkten ihr ein warmherziges Lächeln, aber die kleine Patience ergriff ihre Hand und wollte nicht loslassen, bevor sie ihr ins Gesicht schaute. »Trooper, ich möchte Ihnen von ganzem Herzen danken, dass Sie mir erlaubt haben, an Ihrer Gedenkfeier teilzunehmen«, sagte das Mädchen und ratterte die Worte heraus, als hätte sie sie auswendig gelernt. »Es war ein großes Vergnügen.«
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»Äh... gern geschehen«, sagte Caxton. Das Mädchen streckte die Hand aus, und Caxton schüttelte sie. »Es ist meine ehrliche Hoffnung«, sagte Patience, »dass Sie den Unhold erschlagen, bevor er Sie erschlägt. Selbst wenn die Chancen dafür ganz schlecht stehen.« Damit drehte sie sich um und stieg in den Wagen. Kleine Mädchen sollten nicht so ehrlich sein, dachte Caxton. Clara lehnte sich aus dem Fahrerfenster und warf ihr einen Handkuss zu. Dann fuhren sie los, Simon auf dem Beifahrersitz. Er drehte sich nicht einmal um. Caxton seufzte und ging zu den beiden Arkeleys zurück, die auf sie warteten. Angus hatte den Fuß bereits auf das Trittbrett seines Pickups gestellt, während sich Raleigh nach hinten quetschte. Als Caxton auf den Beifahrersitz stieg und den Sicherheitsgurt anlegte, versuchte sie alles auszublenden, was gerade passiert war. Es war Zeit, in den Verhörmodus zu wechseln, Fragen zu stellen, sich die Antworten genau anzuhören und zu versuchen, dabei keine Urteile zu fällen. Sie bezweifelte, dass die Arkeleys ihr etwas Brauchbares sagen konnten, aber man konnte ja nie wissen - das war die erste Regel bei der Polizeiarbeit. Die letzte Person, von der man es erwartete, lieferte immer die beste Spur. Die erste Überraschung erlebte sie, als sie sich zurücklehnte und umsah. Das Wageninnere wirkte makellos - selbst die Bodenmatten sahen frisch gereinigt aus, obwohl der Wagen mehr als hunderttausend Meilen auf dem Tacho haben musste. Angus war genau die Art von Mann, der in einem weißen T-Shirt und einer an den Knien durchgescheuerten Jeans auf einem Begräbnis auftauchte - aber auf sein Auto war er unglaublich stolz. Das Einzige, was hier störte, war eine offene Packung Beef Jerky auf dem Armaturenbrett. 17 »Hab ich noch nicht ganz auf«, sagte er, als er ihren Blick bemerkte. Dann lächelte er breit und zeigte einen völlig zahnlosen Mund. »Das Schöne an Jerky ist, dass es zuerst ganz hart ist, aber wenn man es lange genug im Mund behält, wird es weich. Ich habe drei Packungen für die Hinfahrt mitgenommen, und ich brauchte auf dem ganzen Weg nichts anderes zu essen.« Caxton öffnete den Mund, wusste aber einfach nicht, was sie sagen sollte. »Ich habe versucht, Sie zu warnen«, sagte Raleigh vom Rücksitz aus.
Für den Rest der Fahrt nach Harrisburg brachten sie es zu kaum mehr als Smalltalk. Caxton konnte es kaum erwarten, mit der Befragung der Arkeleys zu beginnen, aber sie brauchte sie allein in kontrollierten Umgebungen, wo sie ihre Worte aufnehmen und klar genug denken konnte, um sich die Fragen einfallen zu lassen, die überhaupt einen Sinn hatten, gestellt zu werden. Der Pickup war nicht für eine sanfte Fahrt gebaut - sie bekam jede Unebenheit und vor allem jedes Schlagloch zu spüren. Und so konnte sie nur die eine Frage stellen, die sie am meisten beschäftigte. »Raleigh«, sagte sie, »Ihre Mutter. Sie war gar nicht auf der Beerdigung.« Das Mädchen seufzte schwer. »Nein. Ich habe sie zwar angefleht, aber sie schien nicht interessiert. Sie sagte, sie wolle keine Erinnerungen an Dad teilen, nicht mit Fremden. Und vor allem nicht, wenn Vesta Polder dabei ist.« Caxton runzelte die Stirn. »Sie kennen sich?«
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»Von früher. Vor langer Zeit hat Mom Dad den Polders vorgestellt. Wir lebten zu dieser Zeit in State College. Vor vielleicht zehn Jahren hatten Mom und Vesta dann einen Streit. Seitdem waren sie nicht mehr zusammen an einem Ort, und keine von ihnen scheint daran etwas ändern zu wollen. Aber ich weiß wirklich keine Einzelheiten. Tut mir leid.« Caxton hatte immer schon eine gewisse morbide Neugier verspürt, was Arkeleys Ehefrau Astarte betraf. Sie hatte die Frau nie kennengelernt, hatte nicht einmal ein Foto von ihr gesehen. Arkeley hatte sie auch nur selten erwähnt und nicht einmal ein paar flüchtige Informationen über sie zum Besten gegeben. Caxton glaubte, dass sie noch immer in Bellefonte wohnte, aber sie war sich da nicht sicher. »Ich würde wirklich gern mit ihr sprechen. Können Sie sie für mich anrufen?« Raleigh schenkte ihr ein höfliches aber hoffnungsloses Lächeln. »Ich kann... es versuchen.« »Okay«, sagte Caxton, die einen Anflug von Kopfschmerzen spürte. »Könnten Sie mir dann vielleicht ihre Nummer geben, damit ich sie anrufen kann?« Das Mädchen nickte und sagte die Nummer aus dem Gedächtnis auf. Caxton tippte sie in ihr Handy und drückte auf Wählen. Am anderen Ende klingelte es endlos, ohne dass die Voicemail oder auch nur ein Anrufbeantworter ansprang. Schließlich trennte Caxton die Verbindung. Kurz darauf erreichten sie Harrisburg und das Hauptquartier der State Police. Caxton machte einen Termin mit Raleigh, dann stieg sie aus und betrat das Gebäude. Ihr Ziel war ein Raum im Kellergeschoss. Einst war es ein Klassenraum für angehende Trooper gewesen, wo sie die Feinheiten von Verhörtechniken und Festnahmeformalitäten lernten. Fenster gab es keine, dafür aber zwei wandlange weiße Tafeln und ein Dutzend Erwachsenenschulmö 18
bei, was Caxton sehr nützlich fand. Außerdem gab es einen Regalschrank, den Caxton selbst organisiert und neben der Tür aufgestellt hatte. Hier standen größtenteils Aktenordner voller fotokopierter Dokumente - jeder Polizeibericht über Vampiraktivitäten, jeder Nachrichtenschnipsel, den sie hatten finden können, und auch die wenigen wissenschaftlichen Berichte, die es über Vampire gab. Darauf lag ein Laptop, der hier unten im Keller jedoch nur unzuverlässigen Wi-Fi-Empfang hatte. Sie warteten noch immer auf die nötige Finanzierung, um alles digitalisieren lassen und eine Datenbank mit Suchfunktion anlegen zu können. Der größte Teil des SSU-Budgets wurde dafür verwendet, die kostenlosen Telefonleitungen für Hinweise aus der Bevölkerung offenzuhalten und Caxtons und Glauers dürftige Gehälter zu bezahlen.
Neben dem Regal standen drei gewaltige Aktenschränke aus Metall, die größtenteils noch leer waren und für die Abschriften der Anrufe und Caxtons detaillierte Berichte bestimmt waren. Glauer war bereits da und schrieb etwas auf die Tafel. Er hatte von Dunkin' Donuts Kaffee mitgebracht, zusammen mit einem Stapel Pappbecher. Er bot Caxton eine Tasse an, aber sie stillte ihren Koffeinbedarf größtenteils mit Diätcola. Im Erdgeschoss gab es zwar einen Automaten, doch sie hatte jetzt keine Zeit mehr, hinaufzulaufen und sich eine zu holen. Die Besprechung fing gleich an. Sie setzte sich auf eine Tischkante in der Nähe der Tafel und begrüßte jedes eintreffende Mitglied der SSU. Glauer war der einzige Vollzeitbeamte der Einheit, aber es gab ungefähr ein Dutzend Cops, die zu den Einsatzbesprechungen kamen und stets auf Abruf bereit standen, falls sie sie brauchte. Die SSU stellte eine abteilungsübergreifende Einsatzgruppe dar, die verschiedene Zuständigkeitsbereiche umfasste. Es gab State Trooper wie Caxton, Angehörige des Area Response 19
Teams (bei der State Police von Pennsylvania das Äquivalent eines SWAT-Teams) sowie Trooper vom Bureau of Investigation, der Kriminalpolizei. Sie kamen als Erste vermutlich weil sie schon im Gebäude waren und vor der Mittagspause noch Zeit totzuschlagen hatten. Später stießen noch einige Cops aus den lokalen Gemeinden dazu, viele davon aus Gettysburg. Einige waren Überlebende des Vampirmassakers. Andere kamen aus so weit entfernten Orten wie Pittsburgh, Philly und sogar Erie. Bei ihnen handelte es sich um ganz normale Cops, die sich ein paar Überstunden aufschreiben lassen wollten. Sie dienten in diesen entfernten Städten als Caxtons Augen und Ohren, erweckten allerdings keinen besonders aufmerksamen Eindruck. Es schien immer, als hätten sie anderswo wichtigere Dinge zu erledigen, aber immerhin kamen sie, und nur das allein zählte. Die letzte Person, die eintrat, war ein Mann in einem schwarzen Anzug mit roter Krawatte. Er trug ein kleines Abzeichen am Revers - einen Stern in einem Kreis. Caxton hatte es das erste Mal in jener Nacht gesehen, in der sie Arkeley kennen gelernt hatte. »Deputy Marshal Fetlock«, stellte er sich Glauer vor. Er war vielleicht fünfzig Jahre alt, hatte aber noch immer volles rabenschwarzes Haar, das aus einer hohen Stirn gekämmt war. Seine Koteletten waren ergraut, aber so kurz geschnitten, dass man schon schon genau hinsehen musste, um das zu erkennen. »Ich bin nur hier, um mir ein Bild zu machen.« Es überraschte Caxton nicht, ihn hier zu sehen, obwohl sie ihn keineswegs eingeladen hatte. Der Mann war U.S. Marshal, genau wie Arkeley einer gewesen war. Arkeley war lange bevor er zum Vampir geworden war aus dem Dienst ausgeschieden, doch sie wusste, dass Fetlock und seine Vorgesetzten ihre Untersuchung mit großem Interesse verfolgten. Sollte Arkeley anfangen, Menschen in Stücke zu reißen, würde das die 19 Marshals in ein schlechtes Licht rücken, also hatten sie genügend gute Gründe, ihr falls das möglich wäre - zu helfen. Caxton fing an, sobald sich Fetlock gesetzt hatte; ein Becher mit lauwarmem Kaffee stand unberührt neben ihm am Boden. Sie stellte sich den neuen Gesichtern vor und dankte jedem für sein Kommen, während die Männer ihre PDAs und Notizblöcke zückten. Dann kam sie sofort zur Sache. Glauer hatte ein paar Fotos auf die weiße Tafel geklebt und Striche gemalt, die die verschiedenen Beteiligten bei der Untersuchung miteinander verbanden. »Denjenigen von Ihnen, die schon zuvor hier waren, wird gewiss etwas Neues auffallen«, sagte Caxton und zeigte mit einem Stift auf ein Stück der Tafel, das mit der Überschrift
VAMPIRMUSTER #2 betitelt war. Darunter klebte ein Foto von Kenneth Rexroth. Es sah wie ein Verbrecherfoto aus. Daneben hatte Glauer IN HAFT geschrieben. Unter dem Foto befanden sich zwei Kreuze mit Namen, die ihr unbekannt waren. Aber sie wusste, um wen es sich da nur handeln konnte - der Nachtwächter und der Hausmeister, die Rexroth umgebracht hatte. Eine Sekunde lang dachte sie an den abgetrennten Arm des Hausmeisters, dann brachte sie sich unter Kontrolle und fuhr fort. »Vergangene Nacht ging ich einem Bericht über Vampiraktivitäten in einer Lagerhalle in Mechanicsburg nach. Es stellte sich aber als Zeitverschwendung heraus. Der Verdächtige, ein gewisser Kenneth Rexroth, Adresse unbekannt, andere Namen unbekannt, erwies sich als ein ganz normaler Mensch, der sich bloß als Vampir verkleidet hatte. Ein Nachahmungstäter. Er hatte keinen direkten Kontakt mit Vampiren, es sei denn durch die Medien. Ich nahm ihn ohne großen Kampf fest, und für den Augenblick betrachte ich diesen Fall erst einmal als abgeschlossen. Aber wir wollten sichergehen, dass die Bevölkerung weiß, dass solche Dinge geschehen. 20
Dumme Jugendliche. Gelangweilte Jugendliche, die Vampire für cool halten. Ähnliche Berichte gab es schon zuvor, aber dieser Fall endete mit zwei Toten. Ich will das nicht noch einmal sehen - ehrlich gesagt habe ich auch keine Zeit dafür. Officer Glauer hat vorgeschlagen, eine Taskforce zu gründen, die den Jugendlichen an den Schulen zu vermitteln versucht, was für ein gefährliches Spiel sie da spielen. Das fällt nicht in mein Aufgabengebiet. Ich lasse ihn später noch über diese Idee berichten.« Sie ging zu dem Teil der Tafel mit der Überschrift VAMPIRMUSTER #i. Die ArkeleyUntersuchung. »Darum sind wir eigentlich hier. Sie ist noch nicht erledigt. Für die Neuen unter uns« - sie warf Fetlock einen Blick zu - »lassen Sie mich ein paar der Details wiederholen.«
8.
Auf der Tafel klebten drei Fotos. Das Erste zeigte ein Gesicht, das wie das einer Leiche aussah. Die Haut war verwest, es fehlte ein Auge. Der Mund hing offen und entblößte reihenweise einstmals bösartige Zähne, von denen aber etliche fehlten, während andere zu schwarzen Stümpfen verfault waren. »Das ist Justinia Malvern«, sagte Caxton. »Die älteste lebende Vampirin, auch wenn >lebendig< nur ein relativer Begriff ist. Vampire leben zwar ewig, wenn sie nicht getötet werden, aber im Gegensatz zu dem, was Sie vielleicht gehört haben, altern sie sehr wohl, und das keineswegs auf sehr ansprechende Weise.« Dies rief im Publikum ein paar Lacher hervor. Wenigstens waren sie wach. »Mit jeder weiteren Nacht, die vergeht, brauchen sie mehr Blut, um stark und aktiv zu bleiben, als noch in der Nacht zuvor. Nach dreihun 20
dert Jahren kann sich Malvern nicht einmal mehr in ihrem Sarg aufsetzen. Das bedeutet allerdings nicht, dass sie harmlos wäre. Vor einem Jahr erschuf sie vier neue Vampire, und gute Menschen starben bei dem Versuch, sie auszuschalten. Sie war auch für das Vampirheer verantwortlich, gegen das wir im Oktober in Gettysburg kämpften und Sie alle wissen, wie böse das hätte ausgehen können. Den letzten Vampir, den sie erschuf, ist dieser Mann.« Sie zeigte auf das zweite Foto an der Tafel und dann auf das dritte: Jameson Arkeley wie er im Leben ausgesehen hatte. Und dann später im Tod. Das Vorher-Foto stellte einen alternden Mann mit einem so durchdringenden Blick dar, dass sie noch immer Schwierigkeiten hatte, sich ihm zu stellen. Das Nachher-Foto zeigte - wie sie fand lediglich einen typischen Vampir. Es handelte sich nicht um ein echtes Foto, sondern
um eine Computergrafik, die zeigte, wie Arkeley als Vampir aussehen würde. Sie hatte aber das Original gesehen und wusste, dass ihm das Bild nicht gerecht wurde. Es war nicht fürchteinflößend genug. »In der letzten Phase von Gettysburg empfing Arkeley freiwillig den Fluch. Er tat es, um Leben zu retten, und ich weiß nicht, was ohne ihn dort draußen geschehen wäre.« Sie schüttelte den Kopf. »Damals gab er mir das Versprechen, dass er sich stellen würde, sobald der letzte Vampir vernichtet war. Dann hätte ich ihn töten und der Sache ein Ende bereiten können. Seitdem sind zwei Monate vergangen, und bis jetzt hat er sich noch nicht gezeigt.« Glauer hatte GZ neben das Vampirbild geschrieben. Das stand normalerweise für »Gesuchter Zeuge« und bedeutete, dass man ihn wegen einer Befragung suchte, er bis jetzt aber noch nicht in direkter Verbindung zu einem verübten Verbrechen stand. »Wir haben keine Leichen gefunden, die wir ihm zuschreiben können. Wir haben keine Halbtoten gefunden, die er erschaffen hat...« 21
Hinten im Raum hob Deputy Marshal Fetlock die Hand. Sie machte sich nicht die Mühe, ihn anzusprechen. »Ein Halbtoter ist ein Vampirsklave. Sobald ein Vampir das Blut eines Menschen trinkt, sobald er einen tötet, haben sie die Fähigkeit, die Leiche wiederzubeleben. Dem Körper wird es nicht gefallen, und die Seele kann das nicht verkraften. Sie verfallen in beschleunigtem Tempo, darum bringen es die meisten Halbtoten bestenfalls auf eine Woche, bevor sie sich in ihre Einzelteile auflösen. Aber solange es andauert, tut man alles, was der Vampir verlangt. Wirklich alles, und wenn es darum geht, seinen besten Freund umzubringen.« Fetlock senkte die Hand und nickte. Sie hatte die Frage beantwortet. »Jameson Arkeley war mein Partner«, sagte sie, was größtenteils auch stimmte. Jedenfalls empfand sie es so, ganz gleich, was er in ihr gesehen haben mochte. »Er war ein guter Freund. Er hat mich gebeten, ihn zu töten, weil er wusste, was aus Menschen wird, die auch mit den besten Absichten zu Vampiren werden. In den ersten paar Nächten sind sie fast noch Menschen. Sie können edel sein und gut, auch weise. Aber dann werden sie durstig. Sie fangen an, über Blut nachzudenken. Sie denken darüber nach, wie es schmecken würde, und wie stark es sie machen könnte. Dass es so viele Leute gibt, die es in sich tragen, und dass da ruhig einer oder zwei verschwinden könnten, ohne dass es groß auffiele. Ich habe das erlebt. Ganz egal, wie stark ihre Willenskraft auch sein mag - und Arkeley war einer der willensstärksten Männer, die ich je kennengelernt habe -, sie erliegen ihm immer. Mit jedem Mord fällt es ihnen leichter. Es wird aufregender. Ihre Körper verlangen immer mehr Blut, immer mehr...« Sie drehte sich um und sah die Fotos an. Arkeleys Augen. Wie immer musste sie an diesen letzten Augenblick in Gettysburg denken, als er versprochen hatte zurückzukehren. Dass 21 er sie direkt in sein Herz schießen ließe. Er hatte geglaubt, dass er dazu fähig sein würde, aufrichtig geglaubt, dass er sich ihr so ausliefern konnte. Sie hatte es ebenfalls geglaubt. Doch irgendwann zwischen diesem Augenblick und dem Sonnenaufgang hatte er es sich anders überlegt. Er war in die Schatten geflohen, an einen Ort, an dem sie ihn nicht finden würde. Was hatte er sich dabei gedacht? Hatte er einfach nur Angst vor dem Tod gehabt? Das war nicht der Mann, den sie gekannt und respektiert hatte. Hatte er denn wirklich geglaubt, die Blutgier kontrollieren zu können? Dabei war doch er es gewesen, der ihr beigebracht hatte, dass das unmöglich war. Glauer räusperte sich. Sie blinzelte und wandte sich wieder ihrem Publikum zu. »Arkeley ist gefährlich. Er muss bei Sichtkontakt vernichtet werden«, betonte sie. »Er
kann gewaltigen Schaden anrichten. Er ist bedeutend kräftiger als ein Mensch und unendlich viel schneller. Außerdem kennt er jeden Trick, mit denen Menschen Vampire getötet haben. Aber am schlimmsten ist, dass er jederzeit zum Vampir Zero werden könnte.« Sie zückte einen Marker und malte ein einfaches Diagramm auf die Tafel. Unter Arkeleys Bild zeichnete sie zwei Kreise, von denen jeder durch eine kurze Linie mit dem Bild verbunden war. Unter die beiden Kreise malte sie vier, dann acht. Sie verband sie alle. »Das ist ein Begriff, den wir für die SSU erfunden haben. Wir haben ihn gewissermaßen der Epidemiologie entliehen. Wenn man die Ausbreitung eines Killervirus verfolgt, dann will man so weit zurückgehen wie möglich, bis zurück zu der ersten Person, die infiziert wurde. Diese Person nennt man Patient Zero. Man muss diesen Typen finden und ihn so schnell wie möglich aus dem Verkehr schaffen, bevor er noch andere Leute infiziert. Dies hier ist dasselbe.« 22
Sie tippte auf Arkeleys Bild. »Vampire können weitere Vampire erschaffen. Sie tun es, weil sie sich einsam fühlen, oder damit sie über jemanden verfugen, der sie füttert, wenn sie zu alt und verfallen sind, um sich selbst um sich kümmern zu können. Wenn sie glauben, in Gefahr zu schweben, erschaffen sie weitere Vampire, weil in der Menge ihre Sicherheit liegt. Das ist die größte Gefahr, die von ihnen ausgeht, ihre Fähigkeit zur Kooperation und die Fähigkeit, ihre Zahl zu erhöhen. Ausreichend motiviert kann ein Vampir in jeder Nacht ein paar neue erschaffen. Und jeder von den Neuen kann wiederum weitere erschaffen. Ihre Zahl wird dann sehr schnell sehr groß. Wir sprechen hier von einem krankhaften Organismus, der alle vierundzwanzig Stunden eine neue Generation erschaffen kann. Und jeder neue Vampir ist genauso tödlich wie der vorherige, und genauso schwer zu töten. Die einzige Möglichkeit, um sicherzugehen, dass das nicht passiert, besteht darin, Arkeley und Malvern jetzt zu finden. Sie zu finden und zu vernichten, ohne jedes Zögern, ohne Bedenken.« Sie hielt inne und sah sich im Raum um. Viele der Beamten hatten diese Rede schon zuvor gehört. Die Neuankömmlinge zeigten allerdings genau den Gesichtsausdruck, mit dem sie gerechnet hatte. Ihnen stand der Mund offen. Sie hatten die Augen weit aufgerissen. Sie hatten Angst. Gut. Genau das wollte sie auch. Fetlocks Hand hob sich wieder. Sie zeigte auf ihn. »Sie sagten, wir müssten auch Malvern finden. Ich dachte, sie wäre in Gewahrsam.« Caxton schüttelte den Kopf. »Sie befand sich in Arkeleys Gewahrsam, während er sich verwandelte. Ich bin danach zu ihr gegangen, aber sie war fort. Offensichtlich hat er sie mit 22
genommen, als er untertauchte. Vielleicht brauchte er einen Mentor, jemanden, der ihm in seiner Existenz Hilfestellung leistete. Vielleicht wollte er sie auch einfach nur beschützen. Das wissen wir ebenfalls über Vampire. Sie bleiben zusammen und passen aufeinander auf. Jetzt ist sie auch da draußen, und sie ist in mancherlei Hinsicht genauso gefährlich wie er.« »Gab es da nicht einen Gerichtsbeschluss, der sie vor der Hinrichtung schützte?«, fragte Fetlock. »Ja«, erwiderte Caxton. »Man hat ihn aber nach Gettysburg wieder aufgehoben. Das Rechtssystem hat endlich eingesehen, dass sie eine echte Bedrohung ist. Wenn ich sie
finde, habe ich das Recht, sie auf der Stelle zu töten. Und genau dies habe ich auch vor.« Sie zog die Kappe von ihrem Stift und schob ihn mit einem ploppenden Geräusch wieder drauf. »Wir haben einen Plan, wie wir sie beide erwischen. Ich verhöre Zeugen und verfolge Spuren, mit Trooper Glauers Hilfe. Von Ihnen allen brauche ich dabei ebenfalls Hilfe, ihr Versteck zu finden. Wir hoffen, dass es irgendwo in Pennsylvania ist, wo wir die Zuständigkeit haben. Es könnte überall sein, allerdings haben Vampire ganz spezielle Bedürfnisse, wenn es um ihren Ruheort geht. Es wird ein isolierter Ort sein, an dem neugierige Leute während des Tageslichts nicht herumschnüffeln. Vielleicht befindet er sich unter der Erde, oder zumindest teilweise. In der Vergangenheit haben sie stillgelegte Stahlwerke genutzt, Jagdhütten und leer stehende Stromstationen. Ich brauche Sie, um sie zu kontrollieren, aber bitte mit Vorsicht. Nähern Sie sich den Orten nur am Morgen, wenn es noch für lange Zeit Tageslicht gibt. Und bleiben Sie auch dann vorsichtig - die Halbtoten sind am Tag aktiv, und sie werden für jeden Fallen bauen, der ihren Herrn bedroht. Sollten Sie etwas finden, Anzeichen kürzlicher Benutzung, Dinge, die merkwürdig erscheinen, verlassen Sie den 5°
Ort sofort. Rufen Sie mich an, und ich komme und sehe es mir selbst an. So werden wir sie erwischen, Leute. So werden wir die Vampire ausrotten. Noch Fragen?« Es gab keine Fragen. Cops und Trooper erhoben sich und verließen den Raum, ein paar von ihnen sprachen noch kurz mit ihr, aber die meisten gingen wortlos. Fetlock war einer von ihnen. Sie hatte erwartet, dass er noch bliebe, aber als sie sich nach ihm umsah, war er bereits fort. Der Rest des Tages war arbeitsreich - Papierkram, was sie am meisten hasste. Sie musste einen vollständigen Bericht über die Ereignisse in Mechanicsburg in der vergangenen Nacht anfertigen. Danach musste sie eine endlose Konferenzschaltung mit dem Bezirksstaatsanwalt und dem Polizeichef von Mechanicsburg über sich ergehen lassen, die Beweise durchgehen und einen eindeutigen Fall konstruieren wollten, warum man Rexroth anklagen sollte. Eigentlich hätte das offensichtlich sein müssen. Er hatte zwei Menschen verstümmelt und ermordet. Aber die Mühlen der Justiz mahlten eben langsam, und als sie wieder auf der Straße war, war es vier Uhr nachmittags und die Sonne ging schon unter. Vor ihrem Feierabend musste sie noch mit Angus sprechen und versuchen, Arkeleys Frau zu erreichen. Das Letztere war leichter gesagt als getan. Sie rief die Nummer an, die Raleigh ihr gegeben hatte, und ließ es zehnmal läuten, bevor sie wieder auflegte. Eigentlich hatte sie auch nicht damit gerechnet, jemanden zu erreichen. Sie würde der Frau einen Besuch abstatten müssen, je früher, umso besser. Vermutlich war Astarte das letzte Familienmitglied, das ihn 5i gesehen hatte, bevor er den Fluch annahm. Im Augenblick würde sie sich jedoch mit Angus begnügen müssen, der ihr bereits gesagt hatte, dass er seit zwanzig Jahren keinen Kontakt mehr zu seinem Bruder gehabt hatte. Angus wohnte in einem sehr heruntergekommenen Motel an der Straße nach Hershey, einem einstöckigen Gebäude mit Zimmern, die sich eine Veranda teilten. Der ganze Bau stand eher planlos mitten auf einem schwarz asphaltierten Parkplatz. Das ZimmerFrei-Schild summte emsig auf die Route 322 hinaus - nur zwei der Zimmer waren belegt. Auf der anderen Straßenseite befand sich ein brachliegendes Feld mit abgestorbenem Unkraut und einigen Schneeflächen, die im letzten purpurfarbenen Tageslicht auf unheimliche Weise glühten. Caxton parkte in der Nähe der Motelrezeption und stieg in die Kälte hinaus. Seit der Gedenkfeier am Morgen war die
Temperatur beträchtlich gefallen, also griff sie nach ihrer Jacke auf dem Rücksitz. Als sie sich vorbeugte, sah sie aus dem Augenwinkel ein Aufglühen in den Schatten vor einem der Zimmer. Blutrote Zigarrenglut. Angus lächelte ihr aus der Dunkelheit zu und winkte sie heran. Er hatte zwei Stühle aus dem Zimmer geschleift und sie vor seiner Tür aufgebaut. Daneben standen eine Zwei-Liter-Flasche Cola und eine Flasche Maliburum. Er reichte ihr ein Motelglas, als sie sich setzte. »Dachte, wir könnten uns hier draußen unterhalten, falls Ihnen das recht ist, und wenn nicht, haben Sie Pech gehabt«, fügte er mit einem Lächeln hinzu. »Ich darf im Zimmer nicht rauchen.« »Schon in Ordnung«, sagte sie und zog einen Digitalrekorder aus der Tasche. »Stört es Sie, wenn ich unsere Unterhaltung aufnehme?« »Nee«, sagte er. Sie schaltete das Gerät ein und versuchte ihre Gedanken zu ordnen. Versuchte, an die erste Frage zu denken. Glauer 24
hatte ihr immer gesagt, sie solle mit einem Scherz anfangen, um die Anspannung zu beseitigen, die jedes Polizeiverhör mit sich brachte, aber sie kannte keine Witze. Und wusste nur wenig über Smalltalk. »Angus und Jameson«, sagte sie in dem Versuch, das Eis zu brechen. »Sind das alte Familiennamen?« Angus kicherte. »Sie wollen etwas über unsere Familie wissen? Nun, die einzige ausgefallene Sache, die wir uns je leisten konnten, waren diese Namen. Wenn man so arm ist, dann nimmt man wohl das Beste, das man kriegen kann, und Namen kosten nun mal nichts. Unser Vater hat uns diese Namen gegeben. Er war ein echtes Original. Man nannte ihn auch Langbein Arkeley, weil er immer wegrannte, wenn die Polizei zu nahe kam. Er war die Sorte von Mann, die das Leben bis zur Neige auskosten. Was heißen soll: Er genoss seinen Whiskey, gute Zigarren und junge Frauen. Hat uns in seinen Siebzigern bekommen und wurde hundertundein Jahre alt. Seine letzte Freundin kam zu seinem Begräbnis. Unsere Mutter aber, Fae, die kam aus einer sieben Generationen alten Reihe von Hochlandfrauen aus North Carolina, was man bei denen ein Hexenbalg nennt. Sie konnte die Milch in der Kanne sauer werden lassen, wenn sie es wollte, und sie verfügte über einen bösen Blick, der den Lack eines Cadillacs abbeizte. Aber sie starb jung. Vermutlich hauptsächlich deswegen, weil sie versuchte, mit Langbein Arkeleys beiden Söhnen mitzuhalten.« »Ihr Vater mochte keine Polizei. Interessant. War er Schwarzbrenner?«, fragte Caxton. Sie glaubte sich zu erinnern, dass Jameson mal so etwas erwähnt hatte. Angus nickte. »Yep. Eine Weile sah es so aus, als würde der junge Jameson den gleichen Weg einschlagen, ein Leben auf der falschen Seite des Gesetzes. Er und ich, wir waren richtige Draufgänger, als wir noch voll im Saft standen. Haben 24 uns allen möglichen Unfug einfallen lassen, weil es da, wo wir groß wurden, sonst nichts Vernünftiges zu tun gab.« »Wo war das?« Angus schüttelte den Kopf. »Hatte keinen richtigen Namen. Ein Stück Land in North Carolina, wo es vor den Sechzigern nicht mal elektrischen Strom gab, wenn Ihnen das was sagt. Wir nannten es Bald Hill, aber das werden Sie auf keiner Karte finden.« Caxton lächelte. »Schon komisch. Ich hätte ihn nie für einen Jungen vom Land gehalten.« Angus kratzte sich am Kinn. »Das ist verständlich, denn das war er auch nicht. Er machte sich so schnell aus dem Staub, wie er nur konnte. Wollte das Handwerk seines Vaters lernen, aber als den alten Langbein dann mal das Gesetz erwischte - nicht zum ersten und auch nicht zum letzten Mal -, da ging Jameson zu seiner Ma und sagte ihr, er wolle dort weg. Sagte, er hätte eine Eingebung gehabt und wolle selbst ein Bulle werden, weil sie am Ende ja immer siegen. Die alte Fae grinste bloß von einem Ohr
zum andern, gab ihm vierzig Dollar, die sie in einer alten Pomadedose aufbewahrt hatte, und schickte ihn nach Raleigh-Durham zur Polizeischule. Soweit ich weiß, ist er nie nach Bald Hill zurückgekehrt. Eine Weile war er Streifenbeamter in der Stadt, aber das war auch nichts für ihn, also lernte er für das große Examen und bekam einen Job bei den Bundesbehörden.« »Den U.S. Marshals«, sagte Caxton. Angus nickte. »Langbein gefiel das gar nicht, kein bisschen. Sagte sich von ihm los und alles. Aber ich war der Ansicht, dass es das Beste war, das Jameson für sich tun konnte. Ich hab mir immer gewünscht, ich hätte die gleiche Idee gehabt. Stattdessen habe ich weitere vierzig Jahre damit verbracht, in den Bergen rumzuhängen und alles Mögliche zu tun. Die alte Fae hat mir was von dem beigebracht, was sie über Magie 25
wusste, auch wenn das nicht genug war, um mich in echte Schwierigkeiten zu bringen. Eine Weile habe ich Leuten die Zukunft vorhergesagt, ihnen gesagt, was sie hören wollten. In den Achtzigern ging es mir ganz gut, da hab ich Voodoosachen und so'n Zeugs an Farmarbeiter verkauft, aber als dann die Panik wegen der Satanisten aufkam, die überall Babys stahlen, war es schlagartig damit vorbei. Stellte sich heraus, dass das alles bloß ein Schwindel gewesen war, aber ich war ruiniert. Danach wechselte ich zu Religionsartikeln - Figuren des Heiligen Joseph, die man vorn im Garten vergräbt, wenn man sein Haus verkaufen will, Gebetsduftkerzen, wenn es um Geld oder Liebe geht. Sie wissen schon.« Caxton runzelte die Stirn. »Haben Sie Jameson oft gesehen, nachdem er Marshal wurde - also nachdem er nach Pennsylvania kam?« »Wie ich Ihnen schon sagte, da gibt es nicht viel zu erzählen. Ich habe Jameson 1984 besucht, bei seiner Heirat. Davor muss es einmal in den Siebzigern gewesen sein, denn ich weiß noch, dass ich da noch schwarze Haare hatte.« In Caxton breitete sich Enttäuschung aus. Die ganze Fahrt war die reine Zeitverschwendung gewesen. »Da haben Sie ihn das letzte Mal gesehen? Haben Sie seitdem nie mit ihm telefoniert oder eine E-Mail geschickt oder so?« »Meistens nur zu Weihnachten.« »Ich verstehe.« »Natürlich hat er meistens nur gefragt, wie es mir geht, und ich habe gesagt gut. Dann habe ich ihn gefragt, was er so macht, und er sagte, er hätte viel zu tun, und dann gab er den Hörer an Astarte oder eins der Kinder weiter.« »Okay.« Angus drückte den Zigarrenstummel auf der Plastiklehne seines Stuhls aus, bis es zu zischen anfing. »Sie greifen nach Strohhalmen, was, Mädchen? Sie haben keine bessere Spur 25 als irgendetwas, das er zu mir gesagt hat - bei seiner Hochzeit.« Er sah ihr direkt ins Gesicht. »Das muss bedeuten, dass Sie nicht mal wissen, wo Sie mit der Suche nach ihm anfangen sollen.« Selbst in der Kälte brannten Caxtons Wangen. »Ich bin ihm auf der Spur. Ich finde ihn. Aber da es Sie so interessiert, nein, viele Anhaltspunkte habe ich tatsächlich nicht.« Angus zuckte ausdrucksstark mit den Schultern und trank einen Schluck. »Nun, falls Sie nichts gegen einen kleinen Rat einzuwenden haben, vor allem, da er Sie nichts kostet, ich sage Ihnen, Sie bellen hier den falschen Baum an. Sprechen Sie nicht mit seiner Familie.« »Ich muss jeden befragen, der ihn kannte, nur für alle Fälle.« Angus schüttelte den Kopf. »Sie müssen tun, was Sie tun müssen. Ich sage nur, dass es hier um einen Mann geht, der sich weniger für seine Familie interessierte als darum,
was es zum Frühstück gab. Haben Sie seine Kinder gesehen? Sie kennen ihn kaum, und eigentlich gibt es da nichts als Hass. Sie hassen ihn, weil er den größten Teil ihres Lebens nicht da war, weil er mit der Vampirjagd viel zu beschäftigt war, und war er doch einmal da, so hassten sie ihn, weil er nicht genug Liebe für sie übrig hatte. Es sind verdorbene kleine Bälger, beide, aber vielleicht haben sie dazu auch allen Grund. Jameson war einmal mein Bruder, mein kleiner Bruder, und trotzdem schaute ich zu ihm auf. Aber seit er diesen ersten Vampirfall bearbeitet hat, kurz vor seiner Hochzeit, ist er nicht mehr derselbe Mann gewesen, den ich kannte. Er war überhaupt kein Mann mehr.« Caxtons erste Reaktion auf Angus' Worte schockierte sie. Sie fühlte, wie sich etwas in ihrer Brust verkrampfte. Um ein Haar wäre sie aufgestanden. Sie war, wie ihr klar wurde, empört. Er war ein großer Mann, dachte sie. Er war ein Held. Aber vermutlich lag auch das nun weit hinter ihm. »Ach, Scheiße«, sagte Angus plötzlich. »Was zum Teufel macht der denn hier? Der sollte doch erst in ein paar Stunden kommen.« Caxton war noch immer viel zu sehr mit ihrer Wut beschäftigt, um zu begreifen, was er meinte. Dann drehte sie sich um und sah, dass eine weinrote Limousine älteren Baujahrs auf den Motelparkplatz einbog. Die Scheinwerfer blendeten sie eine Sekunde lang und erloschen dann, während der Wagen plötzlich ruckartig anhielt. Vielleicht war der Motor abgesoffen, vielleicht war der Fahrer auch betrunken. Sofort glitt ihr Blick zum Nummernschild, um es sich zu merken, nur für alle Fälle. »Haben Sie noch eine Verabredung?«, fragte Caxton. »Ich hab zwar noch ein paar Fragen, aber die können auch warten.« Sie hatte sich wieder Angus zugewandt, aber der starrte noch immer den Wagen an. Leise vor sich hinfluchend wuchtete er sich aus dem Stuhl. Caxton konnte nur ungläubig zusehen, wie er ein gewaltiges Hirschmesser aus der Tasche zog und die Klinge aufklappte. Die Fahrertür sprang auf und etwas sackte auf den dunklen Asphalt. Es war der Körper eines Mannes, und im ersten Augenblick hielt Caxton ihn für so betrunken, dass er nicht mehr richtig stehen konnte. Dann aber erkannte sie, dass es bloß ein Junge war, ein Teenager mit einem Kapuzenshirt. Er wandte ihnen das Gesicht zu, und es war aufgerissen und blutig, bleiche Hautstreifen baumelten von Wangen und Kinn. »Ein Halbtoter«, flüsterte sie und griff nach der Waffe. Angus war bereits auf halbem Weg zum Wagen, das Messer bereit. 26 Angus, zurück«, rief Caxton, sprang aus dem Stuhl und zog die Beretta. Der alte Mann war ein gutes Stück vor ihr und näherte sich dem Halbtoten schnell. »Keine Angst, junge Lady, mit dem hier komm ich schon klar.« Der Halbtote kniete auf dem Asphalt, hockte auf allen vieren, als wäre er zu schwach zum Stehen. Angus packte die Kreatur am Arm und riss sie brutal in die Höhe, bis sie auf den Füßen stand. »Du hast gesagt, du kämst um Mitternacht. So spät ist es noch nicht!« Caxton bewegte sich schnell, die Mündung der Pistole zu Boden gerichtet. Der Halbtote war nicht bewaffnet, und er schien kaum stehen zu können - tatsächlich schwankte er, als würde er fallen, sollte Angus ihn loslassen. Das bedeutete aber nicht, dass er ungefährlich war. Halbtote waren Vampiropfer, denen man erst das Blut ausgesaugt und die man danach von den Toten zurückgeholt hatte. Sie waren widerwärtige kleine Kreaturen, bösartig und grausam, und ihnen fehlten sämtliche menschlichen Qualitäten, über die sie im Leben verfügt hatten. Der Fluch, der sie belebte, griff sowohl ihre Körper als auch ihre Seelen an; der Körper eines Halbtoten begann beinahe auf der Stelle zu verfaulen, und nur selten hielt einer länger als zehn Tage durch, bevor er sich
in seine Einzelteile auflöste. Dieser hier sah mindestens eine Woche alt aus und roch fürchterlich, und dies selbst noch in der kalten Nachtluft. Aber so schwach er auch war, er konnte Angus durchaus noch beißen und ihm eine hässliche Infektion verpassen, wenn nicht Schlimmeres. »Lassen Sie ihn los und treten Sie zurück«, befahl Caxton, aber Angus tat so, als hätte er sie nicht gehört. »Vierundzwanzig Stunden, hast du gesagt«, brüllte er das Wesen an. »Du bist zu früh!« 27
Caxton hatte noch ein anderes Interesse an dem Halbtoten, als nur Angus zu schützen. Nur ein Vampir konnte einen Halbtoten wieder auferstehen lassen - was bedeutete, dass Jameson Arkeley es getan hatte. Was alle möglichen Schlussfolgerungen nach sich zog - und nur wenige gute. Es bedeutete, dass Arkeley einen Menschen getötet hatte, ein eindeutiger Beweis dafür, dass er auf die Seite der Dunkelheit gewechselt war. Wenn Caxton den Halbtoten noch eine Weile am Leben halten konnte, versprach das möglicherweise einen echten Durchbruch in ihrem Fall. Der Halbtote kannte möglicherweise Jamesons Versteck. Sie konnte ihn verhören. Sie konnte ihn so einschüchtern, dass er alles verriet, was er wusste. Solange Angus ihn nicht vorher erledigte. Sie hob die Waffe und war bereit, sie auf ihn zu richten, falls er nicht endlich ihren Anweisungen folgte. Und als der Halbtote zu reden anfing, erstarrte Caxton mitten in ihrer Bewegung. »Mein Meister wird ungeduldig«, krächzte er. Seine Stimme war schrill und unnatürlich, wie ein Nagel, den man aus einer verrotteten Planke zog. »Er hat dir ein Geschenk angeboten, und du hast es nicht angenommen. Du kennst die Alternative. Was sagst du dazu, Angus Arkeley?« »Wie wäre es hiermit?«, erwiderte der alte Mann und zog dem Halbtoten das Jagdmesser durch das Gesicht. Die Kreatur schrie auf und sackte zu Boden. Angus versetzte ihr einen gemeinen Tritt. »Wie klingt das? Meine Antwort lautet Nein, du Hurensohn. Er kann eine Million Mal fragen, und sie wird immer Nein lauten.« »Treten Sie zurück«, befahl Caxton. »Lassen Sie ihn in Ruhe!« Angus hatte bereits zu einem weiteren Tritt ausgeholt, aber jetzt starrte er sie an, sein Blick glitt an ihrem Arm herunter bis zu ihrer Pistole. »Scheiße«, sagte er. Speichelblasen be 27 fleckten seine Lippen und das Kinn. »Ich kann das schon selbst regeln. Sie sollten sich nicht hier rein verwickeln lassen.« »Dieses... Wesen ist ein Vampirdiener. Darum liegt es jetzt in meiner Verantwortung. Und jetzt treten Sie zurück«, sagte sie so ruhig, wie sie konnte. Ihr Herz pochte schnell. Angus hielt die Hände hoch, hielt das Messer hoch. An der funkelnden Klinge war kein Tropfen Blut zu sehen, nur ein paar schuppige Streifen graues Fleisch. »Ich schätze mal, Sie haben die größere Waffe«, sagte er. »Aber das hier ist mein Problem.« Sein Fuß schoss nach vorn und krachte in die Seite des Halbtoten, der ein Würgen ausstieß. »Sie sollen zurücktreten. Sie haben mich angelogen, nicht wahr? Sie hatten sehr wohl Kontakt mit Jameson. Stimmt das?« Angus grinste sie an, während er einen Schritt zurück machte. »Ich sagte, ich hätte Jameson seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen oder mit ihm gesprochen, und das ist die Wahrheit. Habe ich bis heute nicht. Ich habe diesen Burschen hier vergangene Nacht gesehen; er sagte, mein Bruder hätte ihn geschickt. Sagte, er hätte eine Botschaft für mich, eine Art Handel, und ich hätte vierundzwanzig Stunden, um darüber nachzudenken. Er wusste auch, dass Sie kommen und Fragen stellen würden. Sagte, wenn ich mit Ihnen kooperiere, würde das meinen Tod bedeuten.«
»Ich kann Sie beschützen. Hätte ich das gewusst... ich hätte Sie an einen sicheren Ort bringen können«, sagte Caxton kopfschüttelnd. Sie warf einen Blick auf den Halbtoten und sah, dass er sich nicht mehr rührte. »Ein Mann kümmert sich selbst um seine Familienangelegenheiten. Ich erwarte nicht, dass Sie das verstehen. Jameson ist mein Bruder, und das macht es zu meiner Aufgabe, ihn zu töten...« 28 Angus' Blick richtete sich auf den Wagen des Halbtoten und verharrte dort. Caxton hielt das für einen Trick, einen Vorwand, um sie abzulenken und noch einen Tritt landen zu können. Aber dann trat sie langsam zurück und schaute ebenfalls in die Richtung. Ein gewaltiger dunkler Schatten bewegte sich im Wageninneren. Rote Augen glühten auf dem Rücksitz. Caxton schwang die Waffe herum, um sie auf den Wagen zu richten, aber sie war zu langsam. Die hintere Wagentür explodierte förmlich, ein schwarzweißer Schemen schoss über den schwarzen Asphalt auf Angus zu. Er verlangsamte das Tempo noch gerade genug, um ihn an der Taille packen zu können. Und in diesem Augenblick sah sie genau das, was sie erwartet hatte. Es war Jameson Arkeley, der Vampir. Er trug ein schwarzes Hemd und schwarze Hosen, aber seine Füße waren nackt. Seine Haut hatte sämtliche Pigmente und Haare verloren, selbst die Wimpern. Seine dreieckigen Ohren, die roten Augen und der Mund - voll von hässlichen Zähnen - konnten jedoch nicht die Ähnlichkeit verbergen, die er noch immer mit seinem Bruder hatte. Aber wo Angus' Gesicht die Falten des Alters aufwies, waren Jamesons Züge glatt und makellos. Nur seine linke Hand war nicht unversehrt. Sämtliche Finger fehlten. Er war als Lebender verstümmelt worden, und nicht einmal der Vampirfluch konnte sie nun wieder wachsen lassen. Seine roten Augen starrten Caxton an. Es war ein Gefühl, als würde eine kalte Brise durch ihr Schädelinneres wehen, und sie hörte seine Stimme - seine menschliche Stimme. Sie hörte sie ihren Namen rufen, obwohl sich seine Lippen nicht bewegten. Ihre Arme sackten schlaff herunter, ihre Lider senkten sich langsam. Caxton wusste genau, was da geschah. Sie hatte es schon zuvor erlebt, sogar viel zu oft. Er hypnotisierte sie. Ließ sie erstarren.
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An einem Band um ihren Hals hing ein Amulett, eine Spirale aus silbrigem Metall, ein Talisman, den Vesta Polder ihr gegeben hatte, damit sie diese Art von Zauber brechen konnte. Sie wollte danach greifen, während er sich bereits an ihrem Schlüsselbein erwärmte. Aber ihre Hände trafen auf Widerstand, als bewegten sie sich durch Gelatine. Jameson blieb genug Zeit, sie zu töten, bevor sie den Talisman packen und die Kontrolle über ihren Körper zurückerlangen konnte. Aber offenbar schien er das gar nicht zu wollen. Er beendete den Blickkontakt, und plötzlich war er aus ihrem Kopf verschwunden. Ihre Finger erreichten den Talisman, und sie spürte seine Hitze durch den Stoff, aber sie war bereits frei. Ihre andere Hand, ihre Schusshand, glitt in die Höhe, und sie zielte automatisch auf sein Herz. Zu langsam, viel zu langsam. Er war schon wieder in Bewegung, bewegte sich schneller, als sie ihn verfolgen konnte. Sie ließ sich auf ein Knie fallen, um besser zielen zu können, versuchte seinen Rücken ins Visier zu bekommen, obwohl sie wusste, dass die Chancen schlecht standen, auf diese Weise sein Herz zu treffen. Und noch viel schlimmer war, dass er sich Angus über die Schulter geworfen hatte! Aus vielerlei Gründen durfte sie nicht riskieren, den lebenden Bruder zu treffen. »Stehen bleiben!«, brüllte sie, aber sie konnte ihn in ihren Gedanken lachen hören, ein bösartiges, lang gezogenes Kichern, das erst verblich, als sich sein hypnotischer Bann endlich ganz auflöste.
Sie sprang auf die Füße und rannte hinter ihm her, aber sie kam nicht weit. Jameson lief direkt auf das Motel zu und trat die Tür zu Angus' Zimmer auf. Er schlüpfte zusammen mit seinem Bruder hinein. Die Tür schwang hinter ihm wieder zu. Caxton rannte auf das Zimmer zu und warf sich links ne 6.:
ben dem Eingang gegen die Wand. Falls Jameson wieder auf dem Weg hervorstürmte, den er gekommen war, wollte sie nicht dort stehen. Sie hob die Waffe auf Schulterhöhe und versuchte zu atmen, wollte ihren nächsten Schritt planen. Der Vampirjäger Jameson Arkeley hätte ihn gewusst, ohne nachdenken zu müssen. Einfach ins Zimmer stürmen und auf das Beste hoffen? Draußen darauf warten, dass der Vampir wieder herauskam? Er hätte sich diese Fragen nicht einmal gestellt. Aber Caxton konnte das nicht so schnell entscheiden. Eilte sie durch die Tür, so lief sie möglicherweise direkt in die Falle. Vampire liebten es, Fallen zu stellen. Jameson konnte neben der Tür warten und sie packen und in Stücke reißen, bevor sie ihn überhaupt wahrnahm. Aber wenn sie draußen auf ihn wartete - wer vermochte schon zu sagen, was er Angus antat? Ihre Pflicht galt dem lebenden Bruder, so entschied sie. Wenn sie die Chance haben wollte, ihn zu retten, dann musste sie schnell handeln. Sie hatte bereits kostbare Sekunden verschwendet. Mit bereitgehaltener Waffe warf sie sich gegen die Tür, vollführte mit eingezogenem Kopf eine Rolle ins Zimmer hinein und machte einen Hechtsprung hinter das Bett. Hob nur Augen und Hände über die Bettdecke mit dem Dschungelmuster und schwang die Beretta hin und her, deckte den ganzen Raum ab. Er war leer - doch die Tür zum Bad stand offen. Drinnen brannte kein Licht, sie konnte nur Schatten erkennen. Sie rollte sich über das Bett und eilte durch die offene Tür. Sie führ auf dem Absatz herum, zielte auf die Toilette, das Plastikwaschbecken, die Tür der Duschkabine. Als nichts versuchte, sie auf der Stelle zu töten, schaltete sie mit der linken Hand das Licht an. Die Duschtür war in Blut getaucht.
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Gott, nein - nicht deinen eigenen Bruder.« Caxton seufzte. Sie zögerte eine Sekunde lang, weil sie es eigentlich nicht wissen wollte, aber dann schob sie die Duschtür zurück. Sie bewegte sich viel zu leicht, die Schiene war mit nassem Blut geschmiert. Noch mehr Blut füllte die Duschtasse, bedeckte beinahe den ganzen Körper von Angus Arkeley. Der alte Mann lag verkrümmt da, einen Arm unter dem Körper, den anderen der Seifenschale entgegengestreckt. Seine Augen waren weit aufgerissen. Noch immer sprudelte Blut aus einer massiven Verletzung an seinem Hals. Das Protokoll verlangte, dass sie den Polizeinotruf wählte, und das tat sie auch obwohl sie wusste, dass Angus vor dem Eintreffen der Hilfe sterben würde. »Ich habe einen Verletzten in Zimmer Vier«, instruierte sie den Dispatcher, nachdem sie sich ausgewiesen und ihren Standort durchgegeben hatte. »Ich sehe hier einen massiven Blutverlust durch tiefe Wunden im Halsbereich. Ich brauche sofort einen Krankenwagen und jeden verfügbaren Officer.« Sie ließ ihr Telefon zuschnappen und griff nach einem gestärkten weißen Handtuch. Sie stopfte es in die Wunde, aber das Blut quoll daran vorbei in dicken Schüben, die nicht einmal angefangen hatten zu gerinnen. Angus' Augen drehten sich langsam, versuchten sich auf Caxtons Gesicht zu konzentrieren. Da waren keine Emotionen zu erkennen. Der alte Mann hatte nicht einmal mehr die Kraft, um Hilfe zu bitten. Caxton dachte daran, ihm Fragen zu stellen, doch sie wusste, dass er sie nicht beantworten konnte. Außerdem hatte er ihr bereits genug gesagt, auch wenn er sie angelogen hatte.
So schlimm Angus' Zustand auch sein mochte, es gab noch einen anderen Arkeley, um den sie sich sorgen musste. 30
Sie sah sich im Badezimmer um. Von Jameson war keine Spur zu sehen. Sie hatte alte Sagen über Vampire gelesen, die durch einen Spalt zwischen Tür und Rahmen schlüpfen konnten, aber in der Realität gab es das nicht. Jameson war ein großer Kerl, und er konnte sich nirgendwo in dem kleinen Raum verstecken. Ihr Blick fiel auf das Fenster über der Toilette. Es stand offen und ließ die kalte Nachtluft hereinströmen. Doch es sah zu klein aus, als dass sich Jameson hätte durchquetschen können - und trotzdem wusste sie, dass er genau das getan hatte. Der Metallrahmen des Fensters war nach außen hin verbogen. Mit genug Kraft und Entschlossenheit und einer völligen Missachtung von Schmerzen (was alles auf einen Vampir zutraf) konnte er es gerade so geschafft haben. Sie war versucht, aufzuspringen und ihm auf demselben Weg zu folgen, aber zuerst wandte sie sich wieder Angus in der Dusche zu. Das Protokoll verlangte von ihr, bei dem Mann zu bleiben, bis die Notfallsanitäter eintrafen. Simpler menschlicher Anstand verlangte das ebenfalls. Aber wenn sie wartete, würde sie Jameson nur eine Chance zur Flucht geben - und Angus würde trotzdem sterben. »Ich schnapp ihn mir«, schwor sie und sah in seine erlöschenden Augen. Mehr Trost hatte sie nicht zu bieten. Sie hoffte, dass er sie hören konnte und wusste, dass er nicht ungerächt sterben würde. Sie ignorierte seinen Blick, beugte sich über die Toilette und spähte aus dem Fenster. Sie konnte nicht das Geringste sehen. Die Lichter des Motels und des Highway vorn reichten nicht so weit. Sie glaubte, dass dort ein Feld war, vielleicht eine Anbaufläche, die man den Wnter über brach liegen ließ. Direkt unter dem Fenster konnte sie dicht wucherndes Unkraut ausmachen. Jameson würde dort draußen sein, nahe genug, um die Hand auszustrecken und ihn zu berühren. Aber ihr war klar, dass sie ihn niemals zu sehen be 30
käme. Seine schwarze Kleidung würde den größten Teil seines Körpers verbergen und die Schatten den Rest erledigen. Das Protokoll schrieb vor zurückzugehen, die Eingangstür zu benutzen und um das Gebäude herum nach hinten zu gehen. Das Protokoll legte ebenfalls nahe, dass sie immer einen Partner an der Seite hatte, zu allen Zeiten, jemanden, der ihr Rückendeckung geben konnte. Scheiß auf das Protokoll, dachte Caxton und schob die Waffe ins Holsten Sie stieg auf den Spülkasten und schob sich mit Kopf und Schultern voraus durch das Fenster. Dann griff sie nach unten, um sich abzustützen, ließ die Beine nachfolgen und landete angespannt in der Hocke. Das war der Augenblick. Es war ihr völlig klar. Das war der Augenblick, an dem Jameson angreifen würde, falls er es vorhatte. Wenn ihre Waffe noch im Holster steckte und sie sich nicht wehren konnte. Sie stählte sich, rechnete damit, dass er wie ein Frachtzug in sie hinein krachte, bevor sie etwas tun konnte. Nichts geschah. Nichts bewegte sich. Ihre Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit, während sie wieder die Pistole zog. Das graue Unkraut um sie herum endete etwa sechs Meter entfernt am scharf begrenzten Rand des Feldes. Auf der von Furchen durchsetzten Erde lag eine dünne Schneeschicht, die im Sternenlicht funkelte. Die flache weiße Ebene schadete Caxtons Tiefenwahrnehmung und schmerzte in ihren Augen. Die Härchen auf ihren Armen stellten sich einen Moment später langsam auf, und sie... Warte, dachte sie. Dieses Gefühl kannte sie. Es war die kaum wahrnehmbare Empfindung von etwas Widernatürlichem, etwas Unnatürlichem in unmittelbarer
Nähe. Es war das Gefühl, das sie immer hatte, wenn Vampire in der Nähe waren. Jameson. Er war nicht geflohen. Er war in der Nähe geblieben, wartete auf sie. Spielte mit ihr. 31 Links ertönte ein kaum zu hörendes Knistern, und sie drehte sich herum und wäre dabei beinahe zur Seite gekippt. Ein Schatten löste sich von der dunklen Hinterseite des Motels - sie feuerte ohne zu zögern. Der Schuss zerriss die Dunkelheit um sie herum und dröhnte in ihren Ohren. Der Schatten raste auf das verschneite Feld zu, sie zog den Abzug erneut durch. Der Schuss traf, stieß Jameson zur Seite. Eine Sekunde lang konnte sie ihn genau sehen, das weiße Gesicht verschmolz mit dem Schnee, aber sein schwarzes Hemd zeichnete sich deutlich von der hellen Fläche ab. Sie sah, wie er die Hände zur Brust hob, als würde er eine Wunde halten. Es war eine Chance. Eine Gelegenheit. Sie verschwendete sie nicht. Sie stürmte auf den Schatten zu, schoss die dritte Kugel ab und wusste sofort, dass sie weit daneben gegangen war. Es fiel ihr schwer einzuschätzen, wie weit entfernt er war, aber sie rannte weiter und seine Silhouette wurde immer größer, bis er sie überragte, bis sie nahe genug war, um die Kälte seines Körpers zu fühlen, eine Kälte, die noch kälter war als die Nacht um sie herum. Er hob seine gesunde Hand, um sie aufzuhalten, aber sie stürmte weiter, mit gesenktem Kopf, um keinen Blickkontakt herzustellen und ihm keine weitere Chance zu geben, sie zu hypnotisieren. »Trooper«, sagte er, und seine Stimme glich einem tiefen Knurren. »Laura. Lassen Sie uns darüber reden...« Jameson Arkeley hätte in seinen Tagen als Vampirjäger in diesem Augenblick ganz genau gewusst, was zu tun war. Genauso wie sie es jetzt wusste. Caxton kam bis auf Kernschussweite heran, bis der Lauf ihrer Beretta nur Zentimeter von seiner Brust entfernt war, links vom Brustbein. Sie schoss, bevor er noch ein weiteres Wort sagen konnte. Die Kugel verließ den Lauf ihrer Waffe mit Überschallgeschwindigkeit. Sie traf genau ins Ziel und schleuderte ihn 31 zurück, als wäre er von einem Pferd getreten worden. Mit rudernden Armen und Beinen landete er auf dem Rücken. Es hätte reichen müssen. Die Kugel hatte genug Energie - über 600 Joule -, um Haut, Brustmuskeln und Rippen zu durchbohren. Danach würde sie noch genügend Energie übrig haben, um sein Herz zu durchschlagen. Caxton wusste, was eine Kugel auf diese Distanz mit einem Körper anstellte, selbst mit einem Vampirkörper. Es musste reichen. Sie hatte schon zuvor Vampire getötet. Sie wusste, dass sie zäh waren, manchmal sogar kugelsicher erschienen. Aber sie wusste auch, dass sie keineswegs unverwundbar waren. Fügte man einem Vampirherzen genug Schaden zu, dann blieb er auf dem Boden liegen. Für immer. Sie hatte ihn getötet. So sah es aus. So fühlte es sich an. Warum konnte sie es dann nicht glauben? Im Leben war Arkeley ein zäher Bastard gewesen. Als Untoter würde er zehnmal so schwer zu töten sein. Natürlich hatte sie schon Vampire getötet, aber dieser hier - der war anders. Sie musste sichergehen. Sie trat vor, spreizte die Beine ein Stück. Fasste ihre Waffe mit beiden Händen. Reglos lag er zu ihren Füßen, scheinbar bewegungsunfähig. Sie konnte die Wunde in seiner Brust nicht sehen, nicht in dieser Beinahe-Finsternis, aber sie musste entsetzlich sein. Sie dachte darüber nach, ihm noch einmal ins Herz zu schießen, einfach nur aus Prinzip. Der Gedanke widerte sie jedoch an. Als würde sie eine Leiche schänden.
Der Vampirjäger Jameson Arkeley hätte es trotzdem getan. Sie zielte sorgfältig, nahm sich Zeit, schoss erneut. Der Körper zuckte nicht. Wäre er nicht bereits tot gewesen, dachte sie, dann aber jetzt. Das reichte. In der Sekunde, in der sie die Waffe senkte, war er auf den Beinen, riss sie mit dem einen Arm an sich, schlug ihr die 32
Beretta aus den Fingern. Ihr Handgelenk protestierte, als der Hieb ihre Hand gewaltsam umknickte. Sie bemerkte nicht einmal, wo die Pistole landete. Sie sah nur noch seine Zähne. Sie waren groß und gezackt, voll von geronnenem Blut. Sie waren nur Zentimeter von ihren Augen entfernt. Sein Atem stank. Sein Atem stank nach dem Blut seines eigenen Bruders. »Machen Sie schon«, sagte sie. Sie konnte nicht atmen, konnte nicht denken - konnte nicht einmal Angst haben, das ließ ihr Gehirn nicht zu. Sie wusste, dass diese kleine Gnade nicht andauern würde. »Töten Sie mich. Nur machen Sie es schnell. Das schulden Sie mir.« Er kicherte, der Grabgestank aus seinem Mund stieg ihr in Nase und Hals und ließ sie den Kopf abwenden, ließ sie sich gegen seinen Griff wehren. »Ich schulde Ihnen viel mehr als das«, sagte er. »Und ich beabsichtige, Ihnen alles zurückzuzahlen.« Er drückte ihren Kopf in die Höhe, die Finger seiner unversehrten Hand gruben sich in das Fleisch unter ihrem Kinn. Er war so stark, dass sie nichts dagegen tun konnte. Ihre Blicke trafen sich, und jeder Gedanke flog aus ihrem Verstand -wie Fledermäuse bei Sonnenuntergang aus ihrer Höhle. Die Zeit hielt an - und als sie weiterlief, lag sie im Schnee und starrte in den dunkelblauen Himmel hinauf zu den silbrigen Sternen. So viele Sterne... Caxton setzte sich auf, griff sich an den Kopf und zwang sich, sich zu konzentrieren. Sah sich um, in alle Richtungen. Keine Spur von ihm zu entdecken, nicht einmal Fußabdrücke im Schnee. Aber - aber sie hatte ihn doch erwischt! Sie hatte ihm eine Kugel direkt durchs Herz geschossen. Wie hatte er nur wieder aufstehen und fliehen können? 32
1 2.
Stunden später. Im Osten beschmutzte ein verwaschener roter Fleck den Horizont. Nur wenige Minuten vor Sonnenaufgang. Sie fing schon an, sich wieder sicher zu fühlen, jedenfalls ein bisschen. Doch als Deputy Marshal Fetlock ihr von hinten auf die Schulter tippte, zuckte sie trotzdem zusammen. »Es tut mir leid, Trooper, ich wollte Sie nicht...« Sie blickte auf die Schuhe, bis ihr Herz aufgehört hatte in der Brust zu trommeln. »Schon gut. Man hat mir gesagt, dass Sie kommen. Ich hätte Sie in Empfang nehmen sollen.« Langsam löste sie die Arme. Sie hatte sich den Bauch gehalten. Fest. Sie streckte die Hand aus, und Fetlock schüttelte sie. »Es ist nur... es war eine sehr lange Nacht.« »Ich weiß es zu schätzen, dass Sie sich die Zeit nehmen, mit mir zu sprechen«, sagte er und schenkte ihr ein geduldiges Lächeln. »Sie sind sicher sehr beschäftigt.« Sie zuckte mit den Schultern. Vor einer Stunde war sie sehr beschäftigt gewesen, als sie den Polizeieinsatz koordiniert, das Motel abgesperrt und ein Team Trooper angeführt hatte, das das Feld nach Spuren von Jameson abgesucht hatte. Als sie nichts gefunden hatten, hatte sie schließlich entschieden, jetzt ruhig nach Hause fahren zu können: dass es für sie an diesem Tatort nichts mehr zu tun gab. Dann hatte Fetlock angerufen und um Zugang zum Tatort gebeten. Das Timing war lausig - es war sechs Uhr morgens; sie hatte die ganze Nacht nicht geschlafen und wollte einfach nur noch ins Bett. Kurz hatte sie mit dem Gedanken gespielt, ihn warten
zu lassen, bis sie sich ausgeruht hatte. Aber er hatte ihr versichert, es sei wichtig, dass er den Tatort unbedingt sehen müsse, solange er noch frisch war. Caxton war lange genug Cop, um zu wissen, wie die Hierarchie funktionierte. 33 Man sagte nicht nein zu einem Fed, das brachte einem nichts Gutes ein. Also hatte sie im Motel festgesessen, während sie auf ihn wartete. Sie hatte keine Ahnung, was er wollte. Er war bei ihrer Besprechung in der SSU gewesen, war aber wortlos gegangen, und jetzt drängte er sich in ihre Untersuchung. Nichts davon ergab einen Sinn. »Es ist nicht so, dass ich nicht froh bin, Sie zu sehen«, sagte sie, »aber vielleicht könnten Sie mir Ihr so dringendes Interesse an diesem Tatort erklären. Vor allem zu dieser Zeit am Morgen.« Er lächelte breit. »Ich schätze, ich bin eben ein Morgenmensch. Was mein Interesse angeht, es ist rein informeller Natur, das versichere ich Ihnen. Wenn Sie jetzt keine Zeit für mich haben, gehe ich Ihnen gern aus dem Weg.« Caxton schüttelte den Kopf. Sie hatte schon früher mit den Feds zusammengearbeitet, und sie wusste, dass sie vermutlich keine bessere Erklärung bekommen würde zumindest nicht, bevor er etwas von ihr wollte. »Nein, nein«, sagte sie. »Ich bin mir nur nicht sicher, wie ich Ihnen helfen soll.« »Warum erzählen Sie mir nicht einfach, was hier passiert ist?« »Eine Routinevernehmung. Ich hatte einen Termin mit Angus Arkeley gemacht, Jamesons Bruder, und wir sprachen miteinander. Dann lief die Situation aus dem Ruder.« Sie schilderte ihm kurz die Ereignisse der Nacht und unterschlug lediglich ihre privaten Eindrücke - ihre Zweifel, die Augenblicke panischer Furcht, die Aussetzer, nachdem Jameson sie hypnotisiert hatte. Nachdem er sich ihren Bericht angehört hatte - kommentarlos -, zeigte sie ihm, was noch zu sehen war. Als Jameson sie verlassen und sie sich wieder sicher auf den Beinen gefühlt hatte, war sie zurück zur Vorderseite des Mo7i
tels gegangen. Zunächst war der angeforderte Krankenwagen erschienen, aber die Sanitäter hatten nicht gewusst, wo sie anfangen sollten, und Caxton hatte ihnen erst erklären müssen, dass es sich bei der Leiche auf dem Parkplatz nicht um ihren Patienten handelte. Das hätte eigentlich klar sein müssen. Die Überreste des Halbtoten stanken, als hätten sie Monate unter der Erde vor sich hingemodert, und von den Muskeln und inneren Organen war nur noch so wenig übrig, dass sie ihn mühelos mit einer Hand hätte aufheben können. Am Ende hatten die Sanitäter gelbes Absperrband um den Toten gezogen und einfach eine Decke über ihn geworfen. Jetzt schlug Caxton die Decke zurück, während gelbes Sonnenlicht über den Parkplatz kroch, damit Fetlock sehen konnte, wie er aussah. Der Fed zuckte deutlich sichtbar zusammen. Vielleicht lag es an dem Geruch, vielleicht auch am Aussehen des Halbtoten. »Die Identifizierung wird schwer fallen«, erklärte er. »Das können Sie laut sagen. Die Haut ist zu zerfallen für Fingerabdrücke, die Zähne sind alle zerbrochen, also fällt der Abgleich mit Zahnarztunterlagen aus. Er hat weder eine Brieftasche noch irgendeine andere Identifizierung dabei -oder im Wagen. Das habe ich bereits überprüft.« Was nicht unbedingt ein Vergnügen war. »Also hat Angus ihn zu Tode getreten?«, fragte Fetlock. »Das erklärt aber nicht die Verwesung.« Caxton schüttelte den Kopf. »Angus war ziemlich brutal, aber er hätte trotzdem so ausgesehen. Nein, die Todesursache hier ist Alter.« Fetlock runzelte die Stirn, aber sie zuckte bloß mit den Schultern und fuhr fort. »Jameson muss ihn vor mehr als einer Woche wiederbelebt haben, und seitdem ist er verwest. Dieser Kerl war keine
Bedrohung mehr. Er konnte nicht mal mehr stehen, geschweige denn eine Waffe halten. Ich glaube, das war Absicht.« J34 »Wie meinen Sie das?« »Jameson muss gewusst haben, wie gering die Lebensspanne seines Dieners war. Er hätte seine Botschaft von einer frischeren Leiche überbringen lassen können, aber hätte er das getan, dann hätte der Halbtote noch ein paar Stunden länger gelebt, und ich hätte ihn verhören und erfahren können, wo sich Jameson versteckt. Dieser hier sagt mir nichts mehr.« Sie schlug die Decke über das Gesicht der Leiche. Aus Harrisburg sollte eine spezielle Spurensicherungseinheit kommen, um ihn sich anzusehen, aber sie bezweifelte, dass sie noch etwas finden würden. Der Körper verweste noch immer mit beschleunigtem Tempo, und bis sie eintrafen würde er vermutlich nicht mehr als ein Haufen stinkender Matsch und zerbrochene Knochen sein. »Das könnte auch erklären, warum Jameson so früh kam. Der Halbtote sollte eigentlich um Mitternacht eintreffen, um Angus' Antwort einzuholen, aber er kam schon abends gegen sechs Uhr. Ich glaube, Jameson kam zu dem Schluss, dass sein Diener es nicht mehr bis um zwölf schaffen würde.« »Das erwähnten Sie schon. Dass Jameson seinem Bruder eine Art Angebot machte und Agnus ablehnte. Sie sagten aber nicht, um was für ein Angebot es sich da handelte.« »Nun, es hat sich auch niemand die Mühe gemacht, mir das zu verraten.« Caxton führte den Fed zu dem Motelzimmer. Zwei State Trooper bewachten die Tür, während drinnen Fotografen die letzten Augenblicke Angus Arkeleys dokumentierten. »Angus hat mich vorsätzlich belogen und mir nichts von dem Angebot erzählt. Es klang so, als würde er das für eine Familienangelegenheit halten. Dass er glaubte, Jameson selbst töten zu können. Kommen Sie, ich zeige Ihnen, was ihm das einbrachte.« Sie drängten sich in das kleine Badezimmer und schick 34 ten einen Fotografen und einen Corporal, der die Aufsicht und die Verantwortung über den Tatort hatte, hinaus. Caxton schob die Duschtür zurück und ließ Fetlock hineinsehen. Sie war leer. Dort lag kein Körper mehr. Die Sanitäter hatten Angus mitgenommen, ihn mit Blutplasma voll gepumpt und versucht, sein Herz bis zum Eintreffen im Krankenhaus am Schlagen zu halten. Es war aber sinnlos gewesen - man hatte ihn schon unterwegs für tot erklärt. Die Leiche lag jetzt unter sorgfältiger Bewachung in der Leichenhalle des Krankenhauses. Jameson hatte die Macht, seinen Bruder von den Toten zurückzuholen - in Gestalt eines Halbtoten wie dem auf dem Parkplatz. Caxton hatte zwar keinen Grund zu der Annahme, dass er dies auch täte - es würde ihr ja bloß Gelegenheit geben, Angus erneut zu verhören -, aber sie ging kein Risiko ein. »Jameson zerrte ihn hier herein, hauptsächlich um ihn von mir wegzubringen. Er war vielleicht fünf Sekunden mit seinem Bruder allein, bevor ich die Tür aufbrach und da war. Was sehen Sie hier?« Fetlock wandte den Kopf ein Stück. »Erdbeermarmelade. Literweise.« Caxton gestattete sich ein schmales Lächeln. Sie fing an, den Fed nicht zu mögen. Er ließ sich nicht in die Karten sehen, obwohl sie sich doch unterstützen sollten. »Das ist natürlich geronnenes Blut. Angus' Blut. Ich sehe hier einen Vampir, der vergangene Nacht bereits getrunken hatte.« »Das ist eine interessante Schlussfolgerung.« Sie nickte. »Ein hungriger Vampir hätte eine Möglichkeit gefunden, noch mehr zu trinken. Er hätte jeden Tropfen als kostbar betrachtet. Das ist einfach nur gedankenlose
Verschwendung. Jameson hat seinen Bruder nicht hier hereingeschleppt, um sein Blut zu trinken, er brachte ihn her, um ihn zu ermorden. So einfach ist das.« 35
»Den eigenen Bruder. Warum?« »Weil er ablehnte. Sie haben mich gefragt, was Jameson Angus angeboten hat, und ich erwiderte, ich wüsste es nicht genau. Aber ich glaube, ich kann es mir denken. Ein Vampir kann einem nur eines geben, und das ist sein Fluch. Ich glaube, Jameson Arkeley hat seinem Bruder angeboten, ihn zum Vampir zu machen. Er gab ihm vierundzwanzig Stunden, um darüber nachzudenken, und vielleicht war Angus sogar versucht, es zu tun - ewiges Leben muss für einen alten Mann ganz schön verführerisch klingen, selbst wenn er weiß, welchen Preis ihn das kostet. Als Angus strikt ablehnte, hat Jameson ihn getötet, bevor er mir noch etwas verraten konnte.« Zum ersten Mal zeigte Fetlock so etwas wie Überraschung. Er wurde einen Hauch blasser im Gesicht. »Er wollte seinen Bruder zu dem machen, was er selbst ist. Und wenn das nicht ging, wollte er ihn davon abhalten, mit Ihnen zu sprechen. Und er benutzte absichtlich einen verwesenden Diener, damit dieser Ihnen auch nichts verraten kann.« »Ja, diese Theorie klingt gut«, erwiderte Caxton. »Dann fürchtet er sich vor Ihnen.« Das ließ sie dann doch lachen. »Ja, genau. Ich bin seine größte Bedrohung.« Sie zeigte Fetlock das Fenster, durch das sie und Arkeley gekrochen waren. »Dort draußen«, sagte sie, »habe ich ihm auf kürzeste Distanz zwei Neun-Millimeter-Kugeln in sein Herz geschossen. Danach stand er auf, überwältigte mich und floh völlig unbehelligt vom Tatort. Und ob ich eine Bedrohung für ihn bin!« Wieder durchfuhr sie Angst, und unwillkürlich erschauderte sie. Fetlock musste sehen, wie verängstigt sie tatsächlich war. Sie konnte es nicht länger verbergen. Der Fed zuckte mit den Schultern. »Von allen Menschen auf der Welt sind Sie derjenige, vor dem er am meisten Angst hat. Sie kennen ihn am besten. Sie kennen seine Stärken, das 35 bedeutet etwas. Und Sie wissen mehr darüber, wie man Vampire tötet, als sonst jemand.« Aber nicht notwendigerweise als ein Untoter, dachte sie. Jameson hatte ihr alles beigebracht, was er wusste. Jetzt bewies er, dass er ein paar Geheimnisse nicht geteilt hatte. »Danke«, sagte sie spöttisch. »Es ist schön, das zu hören.« Und doch merkte sie, dass sie diese Worte irgendwie auch ernst gemeint hatte. Das Wissen, dass jemand an sie glaubte, half. »Nun. Wie wäre es denn, wenn Sie mir jetzt verrieten, warum Sie tatsächlich hier sind?« »In Ordnung«, sagte er und setzte sich auf die Toilette. »Ich bin gekommen, um Ihnen einen Stern anzubieten.« Einen Stern«, sagte Caxton stirnrunzelnd. »Sie wollen mir einen Stern verleihen. Was denn, wie ein Lehrer, der einem guten Schüler ein Sternchen ins Heft malt?« »Er ist aus Silber.« Er griff sich in die Jackentasche und holte einen Anstecker in der Form eines Sterns in einem Kreis hervor. Natürlich erkannte sie ihn sofort. Fetlock trug selbst einen. Jameson Arkeley hatte auch einen getragen. Special Deputy Jameson Arkeley vom U.S. Marshals Service. »Ich bin dazu autorisiert, nach eigenem Ermessen jeden Polizeibeamten zeitweise zum Deputy zu ernennen, und zwar für so lange, wie ich es erforderlich halte.« »Was denn, so wie ein Sheriff ein paar Cowboys für eine Posse verpflichtet?«
»Das trifft es beinahe genau. Der Marshals Service ist der älteste Teil des Justizministeriums. Ursprünglich hat man uns geschaffen, um an der Grenze für Recht und Ordnung
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zu sorgen. Viele Cowboys waren Marshals - Wyatt Earp, Bat Masterson, Bill Hickcock.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin kein großer Western-Fan.« »Frederick Douglass war auch einer von uns. Präsident Kennedy setzte uns an vorderster Front der Bürgerrechtsbewegung ein. Wir sind die Guten.« Er zwinkerte. Wortlos starrte sie das Abzeichen in seiner Hand an. Was zum Teufel ging hier vor? Als sie es nicht nahm, schloss er die Finger darum, steckte es aber nicht wieder weg. »Sie haben gefragt, warum ich hergekommen bin. Vermutlich haben Sie sich gewundert, was ich bei Ihrer SSU-Besprechung wollte. Mein Direktor hat mich geschickt. Er ist wegen Ihrer Untersuchung ausgesprochen besorgt, und er will, dass wir Ihnen auf jede erdenkliche Weise helfen. Vielleicht sollte ich damit anfangen, Ihnen ein paar Hintergrundinformationen zu geben, Ihnen unsere Seite der Dinge erläutern. Was ich damit zu tun habe.« Er machte eine Pause. »Ich wurde am 21. November in unserem Hauptquartier in Arlington, Virginia, gebeten, Jameson Arkeleys alte Akten aus unserem Archiv zu holen, und zwar alle. Ich sollte von allem Fotokopien anfertigen und Ihnen die Originale schicken. Unserem Onlinekatalog zu Folge gab es da nicht viel - ein paar Notizbücher, einige Ermittlungsberichte und sein persönliches Dossier. Nichts davon war digital, also musste ich persönlich ins Archiv gehen und die Dokumente heraussuchen. Ich machte eine beunruhigende Entdeckung. Jede einzelne Akte war verschwunden.« Er musterte sie, aber sie weigerte sich, eine Reaktion zu zeigen. Sie war nicht einmal zu einem Schulterzucken bereit, nicht, bevor sie mehr gehört hatte. »Mein nächster Schritt bestand natürlich darin, den Bibliothekar des Service aufzusuchen und das Zugangsregister ein 36
zusehen. Die von mir gewünschten Akten waren alle zusammen angefordert und nicht wieder zurückgebracht worden. Man hatte für sie unterschrieben. Ich wette, Sie ahnen, wessen Unterschrift auf dem Blatt stand. Jameson Arkeleys.« Caxton blinzelte, vielleicht zu schnell. »Klingt absurd, nicht wahr? Das war lange, nachdem er zum Vampir wurde. Mehr als ein Jahr, nachdem er aus dem Service ausschied. Er hätte einen Ausweis mit Foto vorweisen müssen, um dieses Material ausleihen zu können. Er hätte einen Ausweis haben müssen, nur um in das Gebäude zu kommen. Ich habe bei der Abteilung nachgefragt, die diese Ausweise ausgibt, und man sagte mir, dass sie die Ausweise vernichten sollen, wenn ein Deputy aus dem Dienst ausscheidet. Aber manchmal geben die Leute die Karte nicht zurück, wenn sie ihre Schreibtische räumen. Manchmal wollen sie sie als Souvenir behalten, manchmal vergessen sie es auch einfach. Die Ausweisabteilung kümmert sich nicht darum, auch nachzuprüfen, ob ein ausgegebener Ausweis zurückgegeben und vernichtet wurde oder nicht. Nun, ab jetzt werden sie es tun, das hat man mir versichert. Vermutlich wird das jemanden dort seinen Job kosten.« »Videoüberwachung«, sagte Caxton. Fetlock beobachtete sie, als wartete er darauf, dass sie noch mehr sagte, aber vermutlich wusste er ganz genau, worauf sie hinauswollte. »Sie meinen, ob der Eingang zum Archiv elektronisch überwacht wird? Natürlich. Ich habe die Aufnahmen selbst gesehen - selbstverständlich handelt es sich nicht um ein Videoband. Es sind alles komprimierte Dateien auf unseren Servern. Ich habe mir sechs Stunden bevor und
nachdem Arkeley - angeblich - diese Akten holte angesehen. Falls Sie sich fragen, ob ich einen großen Albino mit spitzen Ohren und kahlem Kopf sah, nein. Nichts dergleichen. Natürlich könnte er einen Halbtoten geschickt haben, aber der Biblio 37 thekar hätte vermutlich bemerkt, wenn jemand ohne Gesichtshaut hereingekommen wäre.« »Dann ein menschlicher Helfer.« Fetlock nickte. »Das muss es sein. Die Identität dieser Person ist zu diesem Zeitpunkt aber noch unbekannt. Als ich den Direktor über die Geschichte unterrichtete, die ich Ihnen jetzt erzählt habe, traf er eine schnelle Entscheidung. Wir können ein derartiges Sicherheitsleck nicht auf die leichte Schulter nehmen. Vielleicht sind Sie ja der Ansicht, dass der Diebstahl von Akten keine große Sache ist, aber es demonstriert etwas, das wesentlich mehr Besorgnis erregt. Es zeigt, dass er alle unsere Tricks kennt - und wie man sie umgeht. Jameson Arkeley hat konspiriert, um unbefugt an Eigentum des Service heranzukommen, zusätzlich zu anderen Verbrechen, die er möglicherweise auch begangen hat. Man betrachtet ihn jetzt als abtrünnigen Deputy des U.S. Marshals Service. Das bedeutet, dass er ganz oben auf unsere Major-Cases-Liste rückt - also unsere Version der Liste der Meistgesuchten vom FBI.« Caxton fragte sich, warum der Service Jameson wirklich so dringend erwischen wollte. Vielleicht war Fetlock bloß auf eine Beförderung aus und wollte die Lorbeeren dafür ernten, dass er ein schwebendes Verfahren zum Abschluss brachte. Vielleicht ging es auch einfach nur um schlechte PR. Schließlich würde ein Ex-Deputy, der zum Massenmörder wurde, den Service in ein sehr schlechtes Licht setzen. Aber vielleicht war sein Direktor auch einfach nur um die öffentliche Sicherheit besorgt. Wenn sie an ihre Erfahrungen mit Bundesbeamten dachte, bezweifelte sie das jedoch. Fetlock hob die geschlossene Faust und schüttelte den Anstecker wie ein Spieler seine Würfel vor dem Wurf. »Solange er noch niemanden verletzt hatte, haben wir seinen Namen von der Website heruntergehalten und nicht an die 37 Medien weitergegeben. Aber nach den Ereignissen dieser Nacht bezweifle ich, dass diese Option weiterbesteht. Wir sind entschlossen, ihn zu schnappen. Wir setzen jede unserer Ressourcen ein. Und wir wollen, dass Sie eine dieser Ressourcen sind.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe schon einen Job.« »Und Sie würden ihn behalten«, sagte er. »Das ist eine rein temporäre Ernennung zum Deputy. Sie gilt nur, bis Sie ihn erwischt haben. Dann machen Sie mit dem weiter, was Sie getan haben, bevor sie auf Vampirjagd gingen.« Wenn sie ehrlich war, war sie sich nicht einmal mehr sicher, was das war. Sie riskierte ihr Leben jetzt schon so lange, dass sie nie ausführlich darüber nachgedacht hatte, was sie tun würde, nachdem man die Vampire ausgerottet hatte. Vielleicht würde sie aus dem Dienst ausscheiden und als Hundetrainerin arbeiten. Das machte bestimmt Spaß. Aber noch nicht. Im Augenblick war sie ein Cop. »Was habe ich davon?«, fragte sie. Sie begriff es einfach nicht. Erwartete er denn von ihr, dass sie sich ohne Weiteres auf diese Chance stürzte? Er lehnte sich zurück und schien darüber nachzudenken, bevor er antwortete. »Es würde Ihnen eine Menge Türen öffnen. Zum einen könnten Sie einen Flüchtigen über Staatsgrenzen hinweg verfolgen. Sollte sich Jameson im Augenblick nach West Virginia bewegen, dürften Sie ihm - zumindest legal - nicht dorthin folgen.« Natürlich würde sie es trotzdem tun, ob es nun legal war oder nicht. Aber es könnte sich als nützlich erweisen, überall im Land über Polizeigewalt zu verfügen. Sie hatte oft darüber nachgedacht, was passieren würde, sollte der Vampir das Commonwealth von Pennsylvania verlassen. An seiner Stelle hätte sie das schon vor Monaten getan. »Sie hätten außerdem Zugang zu den Ressourcen unseres
38 Major Case Fugitive Program.« Er seufzte und stand auf. »Lassen Sie mich Ihnen etwas zeigen, das Sie möglicherweise bereits gesehen haben.« Er zog einen Kugelschreiber aus der Tasche und zeigte auf den verbogenen Fensterrahmen. »Da.« Er wies auf einen winzigen Fetzen aus schwarzem Stoff, der in der Ecke klemmte. »Fasernbeweise. Vielleicht sind sie nützlich, vielleicht könnten sie Sie zu Jameson Arkeley fuhren.« »Vielleicht«, sagte sie. »Auch ich bin dort durchgestiegen. Es könnte von meiner Hose stammen. Wie dem auch sei, unsere Forensikeinheit ist bereits auf dem Weg. Sie machen ständig Haare und Fasern und DNS-Abgleiche. Bis jetzt habe ich noch nie erlebt, dass diese Art von Beweisen etwas gebracht hätten.« »Und warum sollten Sie auch? Ihre Einheit operiert in einer strikt beweismittelunterstützenden Rolle. Sie bauen den Fall auf, nachdem der Verdächtige in Haft ist. Wie lange brauchen sie für eine gründliche Untersuchung? Sechs Wochen?« »Ungefähr«, gab sie zu. »In sechs Wochen könnte es eine Menge Leichen geben. Meine Leute werden diese Fasern nehmen und sie mit jeder nationalen Datenbank abgleichen, damit sie Ihnen in vierundzwanzig Stunden Ergebnisse liefern können. Nur ein Anruf, und ich kann sie heute Mittag hier haben.« »Vampire haben keine Haare, und sie tragen auch nicht viel Kleidung. Falls sie überhaupt so etwas wie DNS haben, hat sie noch niemand gefunden.« Fetlock seufzte. »Also gut, aber was ist mit Arbeitskraft? Sie haben zwei Vollzeitkräfte in Ihrer SSU, Sie selbst eingeschlossen. Sie können es sich nicht leisten, noch jemanden einzustellen, also sind Sie auf Teilzeitfreiwillige angewiesen. Mit Bundesgeldern könnten Sie jeden einstellen, den Sie wollen, und zwar solange Ihre Untersuchung andauert.« 38
Das war verführerisch, sie musste es zugeben. »Wo ist der Haken?« Fröhlich zuckte er mit den Schultern. »Sie müssten den Richtlinien des Justizministeriums folgen. Der Papierkram ist schlimm. Aber Sie könnten jemanden einstellen, der die Formulare für Sie ausfüllt.« Er warf einen nachdenklichen Blick in die Dusche. »Und Sie würden für mich arbeiten.« »Aber ich würde die Untersuchung noch immer leiten«, sagte sie, weil das klar sein musste. Er lächelte. »Natürlich. Wie ich bereits sagte - Sie sind diejenige, die ihn zur Strecke bringt. Ich werde mich im Hintergrund halten und für Hilfe sorgen, wenn Sie sie brauchen. Ich bin nicht einmal ein Feldagent, nur ein Schreibtischtäter. Um ehrlich zu sein, ist so etwas nicht mein Ding.« »Ja«, sagte sie. »Bitte?« Sie hielt die Hand auf. »Ja, ich bin dabei. Alles, was mir hilft, ihn zu erwischen, ist okay. Und was muss ich tun? Einen Eid auf die Bibel leisten?« Er strahlte sie an. »Ich glaube, wir können uns die Formalitäten sparen. Das wird eine sehr profitable Beziehung, für uns beide.« Er reichte ihr den Stern und schüttelte ihr die Hand, dann verließen sie das Badezimmer und traten hinaus auf den Parkplatz. Die Sonne war eine orangefarbene Scheibe am Horizont, die von den schwarzen Asten toter Bäume in Stücke geschnitten wurde. Caxton kratzte sich am Kopf - ihr Haar fühlte sich fettig und dicht an - und ging auf ihr Auto zu. »Also gut, Fetlock. Schaffen Sie Ihre Faserexperten so schnell wie möglich her«, sagte sie, während sie den Marshalstern an das Jackenrevers steckte. »Wer weiß? Vielleicht finden sie ja was. Ich fahre zurück zum Hauptquartier, um meinen Commissioner zu informieren. Er sollte Bescheid wissen.«
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»Special Deputy?«, rief Fetlock, als sie die Wagentür aufriss. Zuerst begriff sie gar nicht, dass sie damit gemeint war. »Was?«, fragte sie dann. »Da ich jetzt Ihr Boss bin... könnten Sie mich da nicht als >Fetlock< ansprechen, sondern als >Deputy Marshal?« Caxton biss sich auf die Zunge, bevor sie sagen konnte, was sie davon hielt. Sie hatte nicht viel für den Marshals Service übrig. Zu lange war sie eine kleine Polizeibeamtin gewesen, um den Bundesagenten jemals wirklich vertrauen zu können. Aber wenn er bloß etwas Respekt verlangte, dazu konnte sie sich durchringen. »Natürlich«, sagte sie. »Bitte schaffen Sie Ihre Faserexperten so schnell wie möglich her, Deputy Marshal. Besser so?« »Für den Moment schon!«, erwiderte er. Aber da war sie schon eingestiegen und fuhr los. Auf ihrer Jacke fühlte sich der Silberstern seltsam an. Sie hatte noch nie zuvor ein Abzeichen getragen - State Trooper von Pennsylvania taten das nie. Ihr tadelloses Verhalten war Abzeichen genug; so hieß es sogar in ihrem Diensteid. Nun, sie würde sich wohl daran gewöhnen müssen. Es gab Millionen Dinge zu erledigen. Zuerst stand ein Nickerchen auf der Tagesordnung. Ihr Haus war zu weit entfernt, also fuhr sie zu der Kaserne der State Police auf der Cocoa Avenue in Hershey. Das war der nächste Ort, der ihr einfiel. Dort befand sich die Akademie - wo sie Dutzende von Kursen durchlaufen hatte -, und sie kannte den Ort gut genug, um sich dort sicher zu fühlen. Der Trooper, der in 39 der Frühschicht den Empfang besetzte, führte sie in einen Personalraum mit einer schmalen Pritsche und einem summenden Cola-Automaten. Es war nicht ungewöhnlich, dass Trooper kamen und das Bett benutzten. Troop T, die Mautstraßenpatrouille, arbeitete zu den unmöglichsten Zeiten und hatte ausgesprochen lange Schichten; man ermunterte sie, sich frisch zu halten und gelegentlich Ruhepausen einzulegen. Der Trooper stellte keine Fragen, als er eine Decke und ein Schaumstoffkissen für sie besorgte, obwohl er ihren neuen Stern unverhohlen anstarrte. Als sie sich weigerte, seinem Blick zu folgen, wünschte er ihr einen guten Schlaf und ließ sie allein. Sie schaltete das Licht aus, aber der Cola-Automat erfüllte den Raum mit einem unheilvollen roten Glühen. Sie ignorierte es und legte sich hin, das Kissen noch im Arm, und war eingeschlafen, bevor sie daran dachte, sich zuzudecken. Vier Stunden später riss sie die Augen auf - und war sofort wach. Mit protestierenden Knochen setzte sie sich auf; ihr Körper verlangte nach mehr Schlaf, aber ihr Verstand wusste es besser. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass es kurz nach Mittag war. Der halbe Tag war vorbei, und sie hatte nichts erreicht. Nun ja, sie war zu einem Fed ehrenhalber befördert worden, aber das fühlte sich nicht im Mindesten nach Wirklichkeit an. Noch nicht. Sie gab ihr Kissen und die sorgfältig zusammengefaltete Decke zurück und ging zu ihrem Wagen. Sie musste viele Leute über ihr neues Beschäftigungsverhältnis informieren einschließlich dem Commissioner der State Police und, was viel wichtiger war, Clara. Als sie in Richtung Harrisburg fuhr und dagegen ankämpfte, dauernd gähnen zu müssen, griff sie nach dem Handy, nur um sehen zu müssen, dass der Akku irgendwann während der Nacht den Geist aufgegeben hatte. Von der Sorge erfüllt, möglicherweise einen 39
wichtigen Anruf verpasst zu haben, steckte sie es in die Autoladestation. Sofort gab das Mobiltelefon einen Summton von sich. Sie hatte also neue Nachrichten: eine Textnachricht und mindestens eine neue Voicemail. Genau wie sie befürchtet hatte. Caxton las zuerst die SMS - und ließ das Handy fallen. Als sie es wieder aufhob und auf die Worte auf dem Display starrte, gefror ihr das Blut in den Adern.
Ergreifende Gedenkfeier, Laura, Zu Tränen war er gerührt.
Caxton biss einen Niednagel am Daumen ab. Die Nachricht trug keine Unterschrift. Unbekannte Nummer, sagte das Handy. Sie wusste genau, wer sie geschickt hatte. Justinia Malvern. Die uralte Vampirin konnte nicht sprechen, jedenfalls nicht bei ihrer letzten Begegnung. Sie war zu hinfällig, um sich im Sarg aufsetzen zu können. Ihre einzige Kommunikationsmöglichkeit waren kryptische Botschaften, die sie auf einer Computertastatur tippte. Offenbar hatte sie jetzt auch zu texten gelernt. Außerdem hatte es den Anschein, als hätte sie die Zeremonie an Jamesons leerem Grab verfolgt. Nein, dachte Caxton, das war unmöglich. Die Zeremonie hatte am Tag stattgefunden, als Malvern tot - für die Welt - in ihrem Sarg gelegen hatte. Was bedeutete, dass die Vampirin einen Halbtoten als Beobachter geschickt hatte. Während sie sich die ganze Zeit mit Jamesons Kindern herumgestritten hatte, musste ein untoter Freak in der Nähe gestanden und sie beobachtet haben. Sie fragte sich, wie lange Jameson und Malvern sie schon beobachteten. Die Vorstellung verschaffte ihr eine Gänsehaut. Nur um den Kopf klar zu bekommen, entschied sie, sich ihre Nachrichten anzuhören. Sie drückte die Kurzwahl für «40
die Voicemail, dann schaltete sie den Lautsprecher ein. »Sie haben sechs neue Nachrichten«, verkündete das Handy. »Die erste neue Nachricht.« »Trooper, hier ist Glauer. Ich wollte mich nur melden. Vermutlich fahre ich in einer oder zwei Stunden nach Hause, aber ich habe mein Handy dabei, wenn Sie mich brauchen.« »Nächste neue Nachricht.« »Hey, du Schöne! Ich bin's, die oft vernachlässigte aber noch immer wunderbare Clara. Ich bin gerade bei der Arbeit und kann eigentlich nicht reden. Der Sheriff und seine Jungs haben wieder ein Drogenlabor auffliegen lassen. Gott sei Dank gab es keinen Schusswechsel, alles lief glatt. Ich mache gerade Bilder von all diesen Tüten mit Heroin und Geldbündeln. Ich bring dir was Hübsches mit. Spaß! Eigentlich ruf ich an, weil ich dich vermisse, also so richtig, und ich werde hier um eins oder um zwei fertig sein und dachte, wir könnten zusammen mittagessen. So weiß ich wenigstens, dass du etwas isst. Ich vermisse dich. Hab ich das schon erwähnt? Das ist mein Ernst. Ruf mich an.« »Nächste neue Nachricht.« »Trooper, hier ist Glauer. Ich bin gerade zur Arbeit gekommen und habe gehört - nun, ich habe gehört, was passiert ist. Im HQ gibt es kein anderes Gesprächsthema. Ich war froh zu hören, dass Sie in Ordnung sind. Das mit Angus Arkeley tut mir leid. Das ist... ich schätze, dagegen haben wir uns die letzten beiden Monate gewappnet. Es ist komisch, ich weiß nicht, wie ich mich fühlen soll. Unter uns gesagt bin ich irgendwie erleichtert. Hören Sie, ich sitze hier ohne einen genauen Auftrag herum. Wenn Sie also nichts Bestimmtes für mich zu tun haben, mache ich mich an die Arbeit. Kenneth Rexroth hat mit der Polizei in Mechanicsburg gesprochen. Sie riefen gestern Abend an, er hat die beiden Morde so gut wie gestanden. Sie sagten, er hätte sich damit förmlich gebrüstet. Ich 80
will hinfahren und selbst mit ihm sprechen. Ich weiß, was Sie gesagt haben, dass er nur ein Möchtegernvampir und unsere Zeit nicht wert ist. Aber, Trooper, das ist ein
wirklich übler Typ. Es war gut von Ihnen, ihn von der Straße zu holen. Ich melde mich später. Sie können mich über Handy erreichen.« »Nächste neue Nachricht.« »Hier ist Clara. Wieder einmal. Bitte ruf mich an, sobald du kannst. Ich liebe dich.« »Nächste neue Nachricht.« »Trooper, hier ist noch einmal Glauer. Die Dinge haben eine seltsame, schlimme Wendung genommen. Ich bin etwa vor einer Stunde in Mechanicsburg angekommen. Ich habe die Cops gebeten, mit Rexroth sprechen zu dürfen. Man sagte mir, er schlafe er verschläft den ganzen Tag, weil er ja ein Vampir ist. Sie wollten ihn für mich wecken, aber ich kam zu dem Schluss, dass ich mehr aus ihm herausbekomme, wenn ich warte. Ich dachte schon, ich hätte die Fahrt umsonst gemacht, aber die Kollegen hier hatten Informationen für mich. Wie sich herausstellt, ist Kenneth Rexroth ein falscher Name, der Junge heißt in Wirklichkeit Dylan Carboy. Er ist neunzehn und lebt bei seinen Eltern oben in Northumberland County, in Mount Carmel. Lebt... lebte, sollte ich wohl besser sagen. Die Cops in Mount Carmel haben einen Wagen zu den Eltern geschickt, um mit der Familie Kontakt aufzunehmen, aber es kam niemand zur Tür. Sie brachen das Schloss auf und gingen rein. Sie fanden drei Leichen, alle im Stadium fortgeschrittener Verwesung. Die Opfer waren ... warten Sie einen Moment... Mark Carboy, der Vater, dreiundvierzig Jahre alt, Ellen Carboy, die Mutter, neununddreißig, und Jenny Carboy, die Schwester, siebzehn. Die Eltern sind mit Schüssen aus einer Schrotflinte getötet worden, das gleiche Kaliber wie bei der Schrotflinte, die Sie Dylan in dem Lagerhaus abgenommen haben. Die Schwester wurde 41
im Bett erdrosselt und hatte... mein Gott, sie hatte Bissspuren am Hals. Von menschlichen Zähnen, keine Vampirzähne. Ich glaube nicht, dass er sie vorher geweckt hat. Das glaube ich wirklich nicht. Ich will es auch nicht glauben. Sie haben in Dylans Zimmer eine Menge Zeugs gefunden. Notizbücher voller handschriftlicher Tagebucheinträge und Zeitungsausschnitte. Man hat das nach Mechanicsburg geschickt, wo ich es mir ansehen konnte. Ich habe die Kollegen hier gebeten, mir die Notizbücher ausleihen zu können, um sie Ihnen zu zeigen, und das ist in Ordnung, solange ich sie quittiere, für den Fall, dass sie sie für die Gerichtsverhandlung brauchen. Der Junge hatte so vieles, für das es sich zu leben lohnte, Trooper. Er ist einmal aktenkundig geworden, Besitz von Marihuana, aber der Richter hat die Anklage verworfen, unter der Voraussetzung, dass er wieder in die Schule geht. Er war auf dem Community College und wollte Koch werden. Sie müssen sich diese Notizbücher ansehen, Trooper. Ich finde, Sie sollten sie sehen. Dort steht überall Ihr Name. Ich fahre jetzt zurück nach Harrisburg. Ich habe mein Handy dabei, falls Sie mich brauchen.« »Nächste neue Nachricht.« »Laura, hier ist Clara. Ich habe gehört... ich habe... die Jungs hier reden andauernd darüber, sie reden über dich. Ruf mich einfach an. Bitte. Ich hab Angst. Ich habe Angst um dich, also ruf mich einfach an, ja? Ruf mich an, verdammt.« »Ende der neuen Nachrichten. Sie haben fünfundvierzig gespeicherte Nachrichten.« Caxton ließ das Telefon zuschnappen. Überlegte, wen sie zuerst anrufen sollte. Glauer sollte den Fall Rexroth nicht bearbeiten. Es war nicht einmal ein Fall! Jameson Arkeley zu finden und zu töten, das war das Einzige, was hier zählte. Sie wählte seine Nummer, landete aber sofort bei der Voicemail. Typisch. In den zwei Monaten, in denen sie eigentlich nicht 41
viel hatten tun können, war er immer an ihrer Seite gewesen, hatte immer auf seine nächste Anweisung gewartet. Und jetzt, wo sie eine Anweisung hatte, war er außer Handyreichweite.
»Officer Glauer, hier ist Caxton. Ich will, dass Sie mit der Herumspielerei aufhören. Sie haben gehört, was letzte Nacht passiert ist. Nun, Sie haben recht, darauf haben wir gewartet und uns vorbereitet. Und es passiert jetzt. Ich habe keinen Zweifel, dass Arkeley wieder töten will, und wir müssen ihn erwischen, bevor das passiert. Wenn Sie das hier also abhören, fangen Sie an, eine Maßnahmenliste zu erstellen, die wir an jeden in der SSU schicken können.« Sie warf einen Blick auf den Stern an ihrer Jacke. »Es wird ein paar Veränderungen in unserer Arbeitsweise geben, aber das erkläre ich Ihnen, wenn wir uns sehen. Konzentrieren Sie sich, Glauer. Lassen Sie mich nicht hängen.« Sie ließ das Handy zuschnappen. Holte tief Luft. Der nächste Anruf erforderte Ruhe und Gelassenheit. Sie scrollte bis zu Claras Nummer und wählte. Sie erwischte Claras Voicemail. Der Anschluss klingelte nicht einmal vorher. »Hi, Baby. Ich hab deine Nachrichten gehört. Hör zu, mir geht es gut. Nichts passiert.« Er wollte mir nicht einmal etwas tun, wollte sie sagen, hielt dann aber inne. Clara war keine Idiotin. Sie wusste, dass wenn ein Vampir einen nicht in der einen Nacht tötete, das lediglich bedeutete, dass er einen für das nächste Mal aufsparte, wenn er wieder Hunger hatte. »Lass uns zusammen essen, okay? Komm nach Harrisburg, ins HQ, wann immer du Zeit hast. Dann essen wir was und ich erzähl dir alles ganz genau. Ich vermisse dich auch.« Sie beendete den Anruf - und wollte sofort noch einmal anrufen, um zu sagen, dass sie Clara liebte, dass sie nichts lieber wollte als nach Hause zu fahren und mit ihr zusammen zu sein, in aller Abgeschiedenheit und Ruhe, ohne zu reden oder 42
an etwas denken zu müssen, einander eine Weile nur im Arm zu halten, ohne etwas tun zu müssen, ohne dass sie irgendwo hin musste. Sie sollte noch einmal anrufen, dachte sie. Wirklich. Sie griff sogar wieder nach dem Handy. Dann summte es. In der Annahme, dass es sich um Glauer oder Clara handelte, die zurückriefen, reagierte sie sofort. »Trooper Caxton.« »Guten Tag, Officer«, sagte eine Frauenstimme. Caxton erkannte die Stimme nicht. »Ich bin kein Officer. Ich bin State Trooper.« Sie dachte an ihren neuen Stern. »Seit heute bin ich außerdem Special Deputy des U.S. Marshals Service.« »Tatsächlich? Wie schön für Sie. Das ist ja der gleiche Rang, den Jameson hatte.« Caxton erschauderte, als sie den Namen des Vampirs hörte. »Wer ist denn da?«, knurrte sie, brachte sich aber wieder sofort unter Kontrolle. »Es tut mir leid. Darf ich fragen, wer mich da anruft?« »Natürlich. Hier spricht Astarte Arkeley. Die Witwe. Ich glaube, Sie wollten mich erreichen.« Ja, das wollte ich«, sagte Caxton. »Vielen Dank für Ihren Rückruf. Darf ich Sie fragen, wer Ihnen meine Nummer gegeben hat?« Offenbar hatte mittlerweile jeder ihre Telefonnummer - selbst Malvern. »Das dürfen Sie«, erwiderte Astarte. »Das war mein Sohn Simon. Er drängte sehr beharrlich darauf hin, dass ich Sie kontaktiere. Er schien der Überzeugung zu sein, ich könnte 42
an Ihre Gnade appellieren und Sie davon überzeugen, Ihre verzweifelte Jagd auf den Vampir einzustellen. Ich habe ihm aber gesagt, dass ich das auf keinen Fall tun werde.« Caxton fuhr an den Straßenrand und parkte. Das hier war wichtig - sie musste sich auf das Gespräch konzentrieren. »Da bin ich eigentlich erleichtert, das zu hören. Ich muss Ihnen etwas sagen, Mrs. Arkeley. Es ist vielleicht beunruhigend.« »Da bin ich ja froh, dass ich sitze. Bitte erzählen Sie.«
Caxton rieb sich die Stirn. »Jameson hat vergangene Nacht seinen Bruder ermordet. Er hat Angus getötet. Ich war dabei.« »Wie traurig. Ich vermute, der Vampir wird auch versucht haben, Sie zu töten. So sind sie natürlich.« »Eigentlich...« Caxton hielt inne. Sie wusste so gut wie nichts über Astarte. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, wie weit sie ihr vertrauen konnte. Darum entschied sie sich, das Risiko vollkommener Offenheit einzugehen. »Eigentlich hat er das nicht getan. Eher habe ich versucht, ihn zu töten.« »Was im Grunde ja Ihr Auftrag ist.« »Ja. Ja, das ist es. Ich habe versucht, ihn zu töten, aber ich habe es nicht geschafft. Er war stärker als erwartet. Stärker als jeder Vampir, der mir bisher begegnet ist. Er hätte mich mühelos töten können, selbst mit seiner... beschädigten Hand, aber er tat es nicht. Er behauptete, er würde mir etwas schulden. Sie wissen nicht zufällig, was er damit meinen könnte, oder?« »Keine Ahnung.« »Okay. Also gut. Hören Sie, ich würde mich wirklich gern mit Ihnen treffen. Falls möglich noch heute. Ich möchte Ihnen in aller Ruhe ein paar Fragen über Jameson und den Augenblick stellen, an dem Sie ihn das letzte Mal gesehen haben. Wäre das machbar?« »Ich glaube nicht«, sagte Astarte. 9{
»Das ist aber sehr wichtig, Ma'am. Zwei Männer wurden bereits getötet, und andere werden sicherlich folgen. Ich würde Sie nicht darum bitten, vor allem nicht in Ihrer Zeit der Trauer, wenn ich nicht der Meinung wäre, dass es helfen könnte, Menschen in Sicherheit zu bringen.« »Aber natürlich würden Sie das nicht. Doch ich muss sagen, dass ich kein Interesse dafür aufbringen kann, noch länger mit Ihnen zu sprechen. Ich habe mich bei Ihnen nur aus reiner Höflichkeit gemeldet.« »Ihr Mann tötet Menschen«, sagte Caxton. Sie bemühte sich, nicht zu brüllen. »Erlauben Sie mir, Sie zu korrigieren, was diesen Irrtum betrifft. Ich bezweifle sehr, dass man Sie in die geheime Doktrin der Theosophie eingeführt hat, also will ich versuchen, Ihnen zu erklären, was ich meine. Die mörderische Kreatur, die Sie da gerade versuchen zu stellen, ist keineswegs mein Ehemann. Als sich mein Ehemann das Leben genommen hat, hat er aufgehört, auf dieser Ebene zu existieren. Seine Seele ist verloren gegangen. Als Resultat wird er sich mit Sicherheit auf seinem Pfad zurückentwickeln und als Insekt reinkarniert werden oder, wenn er Glück hat, als irgendeine Art Pflanze. Das ist eine Schande, denn ich hatte gehofft, wir beide würden uns zusammen weiterentwickeln, aber das ist nun unmöglich. Sein Körper mag sich ja noch bewegen, aber das ist nicht mehr Jameson, es ist auch kein Teil des Wesens mehr, das einst Jameson genannt wurde. Haben Sie das begriffen?« Caxton hieb aufs Lenkrad. »Nein!« »Das habe ich befürchtet. Mit der Zeit lernen Sie aber vielleicht noch, den Blick nach innen zu richten. Ich fürchte allerdings, jetzt muss ich gehen. Da wir niemals wieder miteinander sprechen werden, möchte ich Ihnen danken.« »Mir danken? Wofür?« »Dass Sie das letzte Jahr von Jamesons Leben erträglicher 43
gemacht haben. Das körperliche Vergnügen, das Sie ihm bereiteten, muss eine Art Trost gewesen sein. Natürlich bin ich davon überzeugt, dass Sie ebenfalls etwas von ihren Vereinigungen hatten. Er war ein erfahrener und leidenschaftlicher Liebhaber, wenn ich mich richtig erinnere.«
Caxton schlug die Hand vor den Mund, um ein Auflachen zu unterdrücken. »Sie glauben, ich hätte mit ihm geschlafen? Ach, ich bitte Sie.« »Es ist eine uralte Geschichte, Officer. Ein Mann und eine Frau zusammen in einer gefährlichen Situation werden voneinander angezogen, und zwar so unweigerlich, als wären sie Magneten. Es ist wirklich unnötig, so zu tun, als habe es sich anders abgespielt, meine Liebe. Ehrlich, ich vergebe ihnen beiden. Einen schönen Tag.« Die Leitung klickte, ein altmodisches Geräusch, als würde ein antiker Hörer auf die Gabel gelegt. »Magneten! Ja, ist klar, bloß dass der eine Magnet eine gottverdammte Lesbe ist«, brüllte Caxton ins Handy, als könnte Astarte sie noch immer hören. Sie hieb auf das Lenkrad ein, immer wieder, und als sie mit ihrem Wutausbruch fertig war, fuhr sie zurück auf die Straße. Astarte würde nicht mit ihr reden. Würde ihr nicht helfen. Nun, wenigstens würden Clara und sie etwas haben, über das sie beim Essen lachen konnten. Sie konnte sich gar nicht erinnern, wann sie das letzte Mal über etwas gelacht hatten. Sie eilte zurück nach Harrisburg zum Hauptquartier der PSP und parkte auf dem Parkplatz hinter dem Gebäude. Ein paar Trooper aßen an den Picknicktischen neben dem Hintereingang - Männer mit kurz geschorenen Köpfen, die die vorgeschriebenen Uniformjacken mit den Kragen aus Schafswolle trugen und ihre Smokey-Bear-Hüte neben sich auf den Bänken abgelegt hatten. Sie aßen große Sandwichs mit Schinken und Provolone. Caxton lief das Wasser im Mund 44
zusammen, als sie sie sah. Sie hatte den ganzen Tag nichts gegessen, und auch wenn ihr Morgennickerchen ihr Zeitgefühl durcheinander gebracht hatte, konnte es ihren Magen doch nicht davon überzeugen, dass sie keinen Hunger hatte. »Trooper«, sagte einer der Männer, als sie sie sahen. Er stand auf, auch wenn er nicht salutierte. »Wir haben das von gestern Abend gehört, und wir wollten nur...« »Mir geht es gut, danke«, sagte Caxton, ohne den Schritt groß zu verlangsamen. Sie stieß die Schwingtür auf und trat in eine Woge erhitzter Luft. Ihr war vorher gar nicht bewusst geworden, wie kalt es draußen doch war. Ihre Hände fühlten sich plötzlich wie eisige, knochige Klauen an, also rieb sie sie, bis sie zu schmerzen anfingen. Unten im Kellergeschoss organisierte Glauer die Bibliothek des Konferenzraums vermutlich suchte er verzweifelt eine Beschäftigung. Sie winkte ihm zu, dann ging sie weiter in ihr eigenes Büro am Ende des Korridors. Es war ein enger kleiner Raum, die Betonblockwände in grellem Weiß gestrichen, aber die Farbe blätterte an einigen Stellen ab und enthüllte den blassen beigen Untergrund. Er hatte die gleiche Farbe und Textur wie Rice Cracker. Dick isolierte Rohre hingen unter der Decke und führten weiter an einer Wand herunter. Seit der Herbst zum Winter geworden war, tropften sie manchmal auf ihren Schreibtisch und, was viel alarmierender war, auch auf ihren Computermonitor. Der einzige Wandschmuck bestand aus dem Zertifikat, das sie bei dem Abschluss an der Akademie bekommen hatte und das sie offiziell zum State Trooper erklärte. Vielleicht hätten ihr die Feds für den Aufstieg zum Special Deputy ebenfalls eins geben sollen, dachte sie. Sie hatte sich gerade an den Schreibtisch gesetzt und sah ihre E-Mails durch, als es an der Tür klopfte. Sie starrte auf den Bildschirm und war in eine sehr lange E-Mail vom U.S. 44
Marshals Service vertieft, die genau erklärte, welche Art Krankenversicherung ihr nun zustand. »Kommen Sie rein, Glauer.«
Die Hände, die ihre Schultern von hinten ergriffen, waren jedoch weiblich, mit kleinen dünnen Fingern. Sie gruben sich in ihre Muskeln und bearbeiteten die Knoten in ihrem Nacken. Caxton ließ den Kopf nach vorn sacken und versuchte, die Massage zu genießen. »Du bist fantastisch«, sagte sie. »Noch nie hat sich etwas so gut angefühlt.« Clara lachte, dann ergriff sie ihr Kinn und hob ihren Kopf für einen tiefen, leidenschaftlichen Kuss. »Lade mich öfter zum Essen ein, und vielleicht fühlst du bald etwas noch viel Besseres.« Das Gesicht der kleineren Frau verdunkelte sich. »Würdest du mich jeden Tag zu einer bestimmten Zeit anrufen, nur um mich wissen zu lassen, dass es dir gut geht...« »... dann würdest du dir nur noch mehr Sorgen machen als jetzt, sollte ich mich mal verspäten«, erwiderte Laura und zog ihre Partnerin zu sich auf den Schoß. Sie runzelte die Stirn. »Es war ganz schön schlimm. Vermutlich hast du die blutigen Einzelheiten alle schon gehört. Aber ich weiß, was ich tue.« »Was ist das?«, wollte Clara wissen. Laura schaute nach unten und sah, wie sie mit dem Daumen über das Abzeichen auf ihrem Revers strich. »Ich bin jetzt Special Deputy«, sagte sie. »Ich arbeite für den Marshals Service. Offenbar macht mich das zu einem Ehrencowgirl.« »Ein Special Deputy. Genau wie er.« Laura schüttelte den Kopf. »Das ist bloß eine Formalität, ehrlich. Es verleiht mir bundesweite Zuständigkeit, und anscheinend kann ich das Geld der Steuerzahler für die Untersuchung ausgeben. Es ist ein Werkzeug und soll mir dabei helfen, diesen Job zu erledigen.« »Zuerst bringt er dich in Gefahr. Er hat dich zu seinem 45
Vampirköder gemacht. Dann hat er dich zu einem echten Vampirkiller gemacht. Jetzt verwandelst du dich richtig in ihn. Vielleicht endest du auch genauso wie er. Dazu bereit, alles zu tun, nur um den Kampf fortzusetzen. Dazu bereit, schreckliche Dinge zu tun.« »Nein, nein, nein.« Laura umarmte Clara fest, vergrub das Gesicht am Hals ihrer Freundin. »So ist das nicht.« Aber natürlich war es das doch. Jeden Tag musste sie mehr zu Jameson werden. Ihr blieb gar keine andere Wahl - die Alternative bestand darin, sich auf irgendeine idiotische Weise umbringen zu lassen oder - was noch viel schlimmer war - die Vampire entkommen zu lassen. »Lass uns einfach zum Mittagessen gehen. Es ist schon zwei Uhr.« Clara entzog sich ihr und stand auf. Sie lehnte sich an den Türrahmen und sah Laura nicht einmal an. »Wo willst du hin? Wie wäre es mit dem Griechen?« Laura biss sich auf die Unterlippe. Sie begriff die Botschaft, die Clara schickte - diese Unterhaltung war vorbei. Beim Essen würden sie über alles Mögliche reden, nur nicht über ihre eigentlichen Probleme. Aber sie konnte dieses Spiel auch spielen. »Der ist so teuer.« »So oft, wie du mich zum Essen ausführst, können wir uns das leisten.« Laura stand auf und fing an, ihr zum Teil tödliches Waffenarsenal in einem abschließbaren Schrank neben ihrem Schreibtisch zu verstauen - ihre Handfeuerwaffe, ihr Pfefferspray, ihren ASP-Teleskopschlagstock. Fürs Essen brauchte sie nur die Brieftasche und das Handy. »Tatsächlich habe ich darüber nachgedacht«, sagte sie. »Wie wir fast jeden Tag zusammen essen könnten.« Sie folgte Clara in den Korridor. Clara drehte sich um und warf ihr einen misstrauischen Blick zu, gemischt mit dem Anflug eines Lächelns. »Wirklich?« 45
»Ja«, sagte Laura, aber da kam Glauer in den Korridor gestürmt. »Das müssen Sie sehen«, verkündete er und drückte ihr eine schwere Plastiktüte so energisch in die Hände, dass er sie beinahe zurückschubste. Die Tüte enthielt drei Notizbücher mit Spiralheftung, von denen das oberste einen getrockneten Blutfleck aufwies. ein Gott, Glauer. Hatte ich Ihnen nicht gesagt, die Sache fallen zu lassen?« Caxton hatte sich geduldig gezeigt, die Tüte in den Konferenzraum gebracht und ihren Inhalt auf einem Tisch ausgekippt. Eines der Notizbücher fiel in ihren Händen auseinander und verwandelte sich in einen Haufen Papier. Das blutbefleckte ließ sich nur mühsam aufschlagen - das Blut war durch die Seiten gedrungen, und sie sträubten sich bei jedem Umschlagen, wölbten sich, platzten auseinander und bestäubten ihr Hosenbein mit einem funkelnden braunen Pulver. Sie legte dieses Notizbuch schnell zur Seite und nahm sich das, das sich von allen im besten Zustand befand. Rexroth - oder Carboy, so lautete ja sein richtiger Name - hatte den Umschlag mit der primitiven Zeichnung eines Halloweenkürbis mit spitzen Reißzähnen verziert, die denen eines Vampirs glichen. »Ich schätze, das ist die Halloween-Ausgabe«, sagte Caxton und schlug es auf. Auf der nächsten Seite standen nur sechs Wörter, aber die waren in riesigen Buchstaben geschrieben, man hatte viel Aufwand für sie betrieben. Sie waren mit Kugelschreiber geschrieben, und Carboy hatte so hart aufgedrückt, dass er an manchen Stellen das Papier zerrissen hatte. Die Botschaft selbst war simpel: 46
Caxton grunzte. Sie wusste nicht, wie sie darauf reagieren sollte. Also blätterte sie um. Die nächste Seite erwies sich als eine Art Tagebucheintrag, der in einer nur schwer zu entziffernden engen, schiefen Handschrift geschrieben war. Die Ecken waren mit unbeholfenen Zeichnungen von Vampiren verziert. Einem von ihnen ragte ein säuglingsgroßes Bein aus dem Rachen. Sie überflog den Text und fand schnell ihren Namen, der mehrere Male wiederholt wurde, meistens im Mittelpunkt einer weitschweifigen Drohung. »Laura Caxton wird... wird...«, las sie laut vor. »Was soll das heißen? Oh, ich werde bezahlen. Außerdem werde ich bluten - das wird dreimal wiederholt -, und dann wird er mit seinen Lieblingsstiefeln in meinem Blut tanzen. Er wird mich in kleine Stücke hacken, und wenn zu Halloween die Kinder kommen, wird er ihnen statt Süßigkeiten Stücke von mir geben. Offenbar verdiene ich das wegen der Dinge, die ich Kevin Scapegrace angetan habe. Interessant.« »Der Name sagt Ihnen doch was?«, fragte Glauer. »Scapegrace?« »Ja, natürlich. Vampir im Teenageralter.« Sie zuckte mit den Schultern. »Ging genauso schnell zu Boden wie der Rest von ihnen.« Ihre Prahlerei konnte dennoch nicht ganz verhindern, dass sie die Schultern nach vorn krümmte und die Arme vor der Brust verschränkte. Scapegrace hatte sie gefangen genommen und gefoltert, bevor er starb. Sie wollte nicht daran denken. »Ich finde, Sie sollten auch den Rest lesen«, beharrte Glauer. »Ich hatte zwar selbst noch nicht die Gelegenheit, alles zu lesen, aber...« »Nein«, sagte sie. 46
»Was? Bereitet Ihnen das keine Sorgen?«, fragte er und blätterte zu der Zeichnung eines State Trooper um. Die Beamtin baumelte an einer Schlinge, den Smokey-BearHut noch immer auf dem Kopf, obwohl ihr Gesicht blau war und die Zunge aus dem Mund ragte. »Das stört Sie nicht?« »Es würde mich wesentlich mehr stören, säße Carboy nicht schon in Haft«, gab sie zu. »Aber das tut er. Also was soll's? Nach dem hier zu urteilen sollte ich zu Halloween sterben, und das war vor über einem Monat. Selbst nach seinem eigenen Zeitplan kam er also zu spät.« Sie ergriff den Arm des Cops. »Hören Sie. Ich weiß Ihre Sorge zu schätzen. Aber Dylan Carboy war bloß ein einsamer Junge, der nichts Besseres zu tun
hatte, als Drohungen in ein Tagebuch zu schreiben und sich für einen Vampir zu halten. Vermutlich hat er meinen Namen aus der Zeitung gefischt, und dann hat er sich einfach darauf fixiert. Es ist wirklich traurig, dass ihn niemand aufgehalten hat, bevor es zu spät war, aber jetzt geht er ins Gefängnis, vermutlich für den Rest seines Lebens, und ich bin sicher.« Sie schlug das Notizbuch zu. »Also packen Sie alles wieder zusammen und bringen es zurück nach Mechanicsburg.« Glauer schüttelte den Kopf. »Ich glaube, das wäre ein Fehler. Hier ist etwas. Ich fühle es. Lassen Sie mich noch einen Blick darauf werfen.« Caxton verdrehte die Augen. »Also schön. Aber Sie haben nicht viel Zeit, die Sie dafür verschwenden können. Nach der letzten Nacht wird es viel zu tun geben, und zwar sehr bald. Am besten, Sie begleiten uns zum Essen - es gibt viel zu besprechen.« Clara hatte vor dem Konferenzraum gewartet. Sie sah etwas verwirrt aus, als sie hörte, dass sich Glauer ihnen anschließen würde, behauptete aber, nichts dagegen zu haben. Sie und der hünenhafte Cop waren immer gut miteinander ausgekommen, auch wenn sie sich nur selten begegneten. Caxton und Glauer nahmen den Mazda - Clara war in ihrem eigenen Wagen gekommen - und fuhren zu dem griechischen Restaurant, das nur wenige Minuten entfernt war. Bei gefüllten Weinblättern und Feta erzählte ihnen Caxton von Fetlock und ihrer Schlachtfeldbeförderung. »Das können sie einfach so machen? Den Zauberstab schwingen und, zack, man ist ein Fed?«, fragte Glauer. »Ich dachte immer, man müsste erst alle möglichen Tests machen und ihre Akademie besuchen.« Bei der Gründung der SSU hatte Caxton versucht, Glauer zum State Trooper ernennen zu lassen, aber man hatte ihr gesagt, dass das nicht so ohne Weiteres ginge. Technisch gesehen stand er noch immer auf der Gehaltsliste des Gettysburg Borough Police Department, obwohl die Pennsylvania State Police Gettysburg für sein Gehalt entschädigte und er schon seit Wochen nicht mehr mit seinem Polizeichef gesprochen hatte. »Anscheinend läuft das bei den Marshals anders. Das ist so, als würde ein Sheriff in die Stadt reiten und die örtlichen Revolverschwinger zu seinen Deputys machen, damit sie die schwarzen Hüte abnehmen. Es ist auch zeitlich begrenzt. Für den Augenblick macht es mich jedoch zur nationalen Ansprechperson für alle Vampirfälle, und es verleiht mir Polizeibefugnisse, die ich niemals gedacht hätte zu bekommen.« »Okay«, sagte Glauer. »Aber was bedeutet das für uns?« »Nun, eins nach dem anderen. Wir bekommen beide eine saftige Gehaltserhöhung.« Das ließ sie alle lächeln. »Außerdem kann ich Sie endlich offiziell einstellen.« Sie griff über den Tisch und schüttelte seine Hand. »Willkommen an Bord. Fetlock sagte mir, ich könnte einstellen, wen ich wolle, einschließlich jemanden für den Papierkram.« »Das wird eine Erleichterung sein.« Glauer lachte. Er griff nach seinem großen Glas Diätcola und trank durstig. »Vermutlich wollen Sie noch mehr Leute dazu holen, oder? Ich IOO
kann ein paar Männer empfehlen, die wir an unserer Seite haben sollten. Johnson, aus Erie - auf der High School war er Linebacker, das ist ein knallharter Teufelskerl.« Glauer verlagerte seine beträchtliche Masse auf dem Stuhl - er passte kaum drauf. »Dann wäre da Eddie Davis von Troop K. Ich kenne keinen, der so Auto fahren kann, er könnte unser Transportspezialist sein...« »Ehrlich gesagt gefällt es mir, die meisten unserer Leute nur auf Abruf zu haben«, gestand Caxton. »Ich will ein Team, dessen Kern aus wenigen Leuten besteht. Ich dachte da an uns drei. Sie, ich und sie.« Sie fasste nach Claras Handgelenk. Clara war gerade damit beschäftigt gewesen, eine Papierserviette zu einem Haufen winziger Fetzen zu zerreißen. »Schwachsinn«, sagte sie.
Caxton runzelte die Stirn. »Was?« Clara sah Glauer hilfesuchend an. »Du erzählst Schwachsinn. Was denn? Ich? Ich gehöre nicht zu deinem Team.« »Aber ich möchte das«, sagte Caxton. »Um was zu tun? Soll ich jedes Mal schreien, wenn ich einen Vampir sehe, damit du weißt, dass er in der Nähe ist? Vielleicht kann ich sie ja auch mit dem Blitzlicht meiner Kamera verwirren. Denn das ist meine Arbeit, Laura. Ich mache Bilder von Tatorten und Leichen und ekelhaftem Zeug. Ich bin sehr gut darin, aber ich glaube nicht, dass du in deinem Kernteam eine Fotografin brauchst.« »Du könntest meine Forensikexpertin sein. Wie bei CSI: Miami«, sagte Caxton. »Du könntest Haare und Fasern und DNS untersuchen.« Die Idee war ihr gekommen, als Fetlock sein Forensikteam zur Sprache gebracht hatte. Clara lachte bloß. »Was? Dir ist aber schon klar, dass die genau dafür vorher zur Schule gehen? Das sind Wissenschaftler. Ihre Ausbildung dauert Jahre, und sie lesen wissenschaftliche Zeitschriften und fahren zu Konferenzen, um mit anderen Eierköpfen darüber zu diskutieren, wie viele Beine eine bestimmte Art Küchenschabe hat. Ich habe auf Slippery Rock als Fach Kunstfotografie belegt, und ich benutze nicht mal alles, was ich gelernt habe.« Caxton schüttelte den Kopf. »Ich erwarte ja gar nicht, dass du dir alles aneignest, indem du ein paar Webseiten über Forensik liest. Aber du könntest die Leute vom Marshals Service koordinieren. Du kannst sie anleiten - du weißt viel mehr über Vampire als sie und kannst ihnen sagen, wonach sie Ausschau halten sollen, oder wie sie ihre Funde interpretieren müssen.« »Dafür sind so viele Leute besser qualifiziert als ich«, protestierte Clara. »Warum willst du ausgerechnet mich dafür haben?« »Du hast gesagt, dass wir nicht genug Zeit zusammen verbringen«, gab Caxton zu. »Du hast gesagt, ich arbeite zu viel, und wir sehen uns kaum noch zu Hause. Nun, so wären wir beide immer zur selben Zeit bei der Arbeit. Dann sehen wir uns ständig.« Clara schüttelte ungläubig den Kopf. »Nun?«, fragte Caxton. »Bekomme ich eine Antwort?« »Nein!«, sagte Clara. »Jedenfalls nicht sofort.« Sie verspeisten eine ordentliche Moussaka, ohne sich noch viel zu unterhalten. Clara entschuldigte sich, bevor ihre Baklava eintraf, weil sie zurück zur Arbeit musste. »Das gilt auch für uns«, sagte Caxton zu Glauer. »Kommen Sie. Wir können den Nachtisch auch mitnehmen.« Auf dem Rückweg zum HQ zählte Caxton die Dinge auf, I48
die zu tun waren. »Irgendwie müssen wir diesen Halbtoten vom Motel identifizieren. Es gibt nicht viel, was man da zum Arbeiten benutzen kann, aber vielleicht können wir ihn mit der Vermisstenkartei abgleichen. Wer weiß, vielleicht rinden wir ja jemanden. Dann gibt es da hinter dem Motel ein Feld. Ich habe es schon absuchen lassen, aber vielleicht haben wir im Dunkeln etwas übersehen. Besorgen Sie ein paar Leute, die sich dort umsehen sollen. Oh, und rufen Sie Raleigh Arkeley an und machen einen neuen Termin. Dann kontaktieren Sie die Feds und sehen nach, ob sie eine Akte über Angus Arkeley haben - er hat behauptet, vor langer Zeit Arger mit dem Gesetz gehabt zu haben. Er hat zwar nicht klar gesagt, ob er tatsächlich angeklagt oder verurteilt wurde, aber es könnte ja Akten geben. Außerdem habe ich eine Wache für seine Leiche abgestellt, aber die muss abgelöst werden, also finden Sie jemanden, der zur Leichenhalle gehen und sich darum kümmern kann. Ich versuche Kontakt mit seiner Familie aufzunehmen und die Erlaubnis zu bekommen, ihn sofort nach der Autopsie verbrennen zu lassen.« Es war Standardpraxis, die Überreste von Vampiropfern
einzuäschern. Sonst konnte der Vampir sie als Halbtote auferstehen lassen, wann immer er sie brauchte. Als sie das Hauptquartier erreichten, war es bereits vier Uhr. Die Sonne ging gerade unter; rosafarbene Wolken trieben am Himmel entlang. Caxton stieg aus dem Wagen und studierte den Horizont, als gäbe es dort einen Hinweis. Die Nacht brach herein, was bedeutete, dass Jameson Arkeley bald wieder aktiv sein würde. Bis jetzt hatte er mindestens zweimal getötet. Sie fragte sich, ob er in dieser Nacht wieder töten würde. Alle Vampire fingen als Menschen an, als individuelle Persönlichkeiten mit eigenen Moralvorstellungen. Am Ende waren sie aber alle gleich. Wie lange hatte Jameson durchgehalten, bevor er sein erstes Opfer tötete? Vermutlich länger als die meisten. Er hatte dagegen angekämpft, davon war sie überzeugt, mit jeder Faser seines Wesens. Er musste Nächte zusammengekrümmt in seinem Versteck verbracht haben, von dem verzweifelten Verlangen heimgesucht, nach draußen zu gehen, immer mit dem Wissen, wozu ihn das werden ließ. Andererseits... vielleicht hatte er auch schnell nachgegeben. Vielleicht hatte er gewusst, dass es unausweichlich sein würde und entschieden, dass es sich nicht lohnte, sich selbst so zu quälen, bloß damit ein paar Menschen noch einen Tag länger leben konnten. Vampire sahen den Tod - den Tod von Menschen - aus einem sehr anderen Blickwinkel. Für Vampire stellten Menschen einfach nur Jagdbeute dar. Eine Viehherde, die man nach Bedarf ausdünnte. Angus hatte Gelegenheit erhalten, zu einem der Raubtiere zu werden. Als er das Geschenk jedoch abgelehnt hatte, musste Jameson den Tod für das Nächstbeste gehalten haben - immerhin für seinen Bruder. Plötzlich zitterte sie unkontrolliert. »Alles okay, Caxton?«, fragte Glauer. Sie blinzelte und blickte vom Sonnenuntergang weg. Hinter ihren geschlossenen Lidern glühten Nachbilder wie Phosphor. »Mir geht es gut. Lassen Sie uns reingehen.« Unten im Keller fuhr sie ihren Computer hoch und fing an, ihren Bericht über die Ereignisse der vergangenen Nacht zusammenzustellen. Als sie mit Arkeley zusammengearbeitet hatte, als sie Malverns Brut vernichtet hatten, als sie später Gettysburg während des Massakers verteidigt hatte, da hatte sie nur selten an den Papierkram gedacht. Vielleicht hatte Jameson ja in jeder Nacht Berichte geschrieben, aber sie war hauptsächlich mit dem Überleben beschäftigt gewesen. Als Leiterin der SSU konnte sie sich nicht mehr davor drücken. Der Commissioner der State Police verlangte, ständig über 49 ihre Untersuchung auf dem Laufenden gehalten zu werden; jedes Mal, wenn sie eine Waffe abfeuerte, mussten auch Formulare ausgefüllt werden. Jedes Mal, wenn sie eine Leiche fand, musste sie den Untersuchungsbericht für nicht-verkehrsbezogene Todesfälle ausfüllen, ein bedeutend komplizierteres Formular als die Verkehrstotenberichte, die sie als Beamtin der Highway Patrol abgegeben hatte. Sie brauchte jeden Tag Stunden, um alle erforderlichen offiziellen Akten zu tippen, und noch mehr Zeit für die Erstellung der Dateien für die SSU-Datenbank. Sie hatte sogar auf der Akademie in Hershey einen Kurs im Zehnfingersystem besucht, nur damit es schneller ging. Trotzdem verschlang der bürokratische Unsinn zu viel von ihrem Arbeitstag. Irgendwann schaute Glauer rein und erstattete Bericht. »Wissen Sie, was das für ein merkwürdiges Haus ist, in dem Raleigh Arkeley da wohnt?«, fragte er dann. »Nein, warum?« »Das muss eine Art Krankenhaus oder Durchgangsheim für Frauen sein. Man sagte mir, Männer hätten dort keinen Zutritt.«
Caxton zuckte nur mit den Schultern und konzentrierte sich wieder auf den Schreibkram. Um fünf Uhr, als Leute mit normalen Jobs ihr Tagwerk beendeten (zumindest glaubte sie das, da sie nie einen normalen Job gehabt hatte), lehnte sie sich in ihrem Stuhl zurück und rieb sich den Nasenrücken. Sie fing gerade erst an. Als Fetlock hinter ihr eintrat und sich räusperte, zuckte sie zusammen und stieß sich die Knie an der Tischunterseite. »Deputy Marshal.« Sie hatte sich gerade noch rechtzeitig daran erinnert, wie sie ihn ansprechen sollte. »Ich habe gerade den Bericht geschrieben.« Er nickte und lehnte sich an die Tischkante. »Ich möchte natürlich eine Kopie haben. Schicken Sie sie mir an meine io50 Mailadresse.« Er steckte eine Visitenkarte zwischen zwei Tastenreihen ihrer Tastatur. »Schicken Sie mir von jetzt an jedes Dokument, das Sie erstellen. Nur damit der Marshals Service Unterlagen hat.« »Ja, natürlich«, sagte sie. »Ich habe Officer Glauer - ich glaube, Sie haben ihn bei der S SU-Besprechung kennen gelernt - beauftragt, die abschließenden Ermittlungen am Tatort im Motel zu organisieren. Er fährt morgen hin und sieht nach, was wir in der Dunkelheit übersehen haben. Ich habe noch nichts von Ihren Forensikern gehört...« »Die sind schon wieder weg, Special Deputy«, sagte Fetlock. »Sie werden morgen etwas für Sie haben.« Caxton nickte. »In der Zwischenzeit habe ich einen Posten bei Angus' Leiche und...« »Schön«, sagte er. Sie runzelte die Stirn, begriff nicht... »Wollen Sie das nicht hören?« »Nicht unbedingt. Wie wir schon sagten, das ist Ihre Untersuchung. Ich bin nicht gekommen, um Ihnen auf die Finger zu sehen, wenn Sie das glauben.« Er schenkte ihr ein warmherziges Lächeln. »Ich handhabe die Dinge vielleicht etwas anders als die Leute, für die Sie bis jetzt gearbeitet haben. Etwas mehr aus der Distanz. Eigentlich bin ich nur gekommen, um Ihnen das hier zu geben.« Er reichte ihr einen braunen Umschlag mit ihrem Namen. Sie öffnete ihn in der Hoffnung, dass er ihr etwas Nützliches mitgebracht hatte - vielleicht eine Beschreibung des Mannes, der Jamesons Akten aus dem USMS-Archiv gestohlen hatte. Stattdessen fand sie eine dicke Broschüre, die auf billiges Papier gedruckt war. Es war das Angestelltenhandbuch der Bundesregierung, das unter anderem die Natur ihrer Beschäftigung als unabhängige Vertragsnehmerin beschrieb und sie über die Gehaltsstufen im öffentlichen Dienst informierte. 50 »Oh. Danke.« »Sie müssen bei nächster Gelegenheit die letzte Seite unterschreiben und mir faxen.« Sie nickte. Dann fing sie an zu lachen. Sie konnte es nicht verhindern. Er lächelte sie an, als würde nun er nicht begreifen. »Tut mir leid«, sagte sie und bedeckte den Mund. »Es ist nur, dass...« Sie schüttelte den Kopf, nicht dazu in der Lage weiterzusprechen. »Vor weniger als vierundzwanzig Stunden habe ich noch um mein Leben gekämpft. Jetzt soll ich über meinen Rentenplan nachdenken.« Er stand vom Tisch auf und zog die Ärmel seines Jacketts zurecht. Er wirkte leicht verärgert. »Es tut mir leid«, sagte sie und versuchte sich unter Kontrolle zu bringen. »Ich mache das zu meiner Priorität. Nun, gibt es noch etwas...?« Sie unterbrach sich, als ihr Handy klingelte. Sie sah ihn fragend an, er zuckte aber nur mit den Schultern. Sie zog das Telefon aus der Tasche und sah, dass der Anruf von Astarte Arkeley kam. Das wird lustig, dachte sie. Vielleicht wollte die alte Fledermaus sie wieder des Ehebruchs bezichtigen.
Sie klappte das Handy auf. »Hallo, Ma'am.« Astartes Stimme am anderen Ende klang sehr blechern und wurde von heftigen Störgeräuschen unterbrochen. Sie verstand nur wenig von dem, was die Frau sagte. »...Deputy, ich... Hilfe... sehr ernst...« Caxton fluchte lautlos. Sie hatte vergessen, wie lausig der Empfang im Kellergeschoss war. »Warten Sie, Ma'am. Ich kann Sie kaum verstehen. Geben Sie mir eine Sekunde, damit ich mir einen besseren Empfang suche.« Lautlos formte sie mit den Lippen Es tut mir leid in Fetlocks Richtung, schnappte sich im Vorbeigehen ihren Mantel, verließ das Büro und eilte zur Treppe. Astarte sprach 51
weiter. Vielleicht hatte sie nicht gehört, was Caxton gesagt hatte. »... wirklich... nicht getan, wenn nicht...« Auf der Treppe verlor sie einen weiteren Balken des Signals, also nahm sie zwei Stufen auf einmal. Oben stieß sie eine Tür auf und betrat die Hauptlobby des Gebäudes. Trooper versammelten sich um den Tisch des diensthabenden Sergeants und bekamen vermutlich gerade ihre Befehle für die Nacht. Caxton drängte sich zwischen ihnen weiter und trat durch den Haupteingang hinaus in Schneegestöber und Dunkelheit. Ver Balken. Gut. »Ma'am, können Sie das bitte wiederholen?«, sagte Caxton. »Die schlechte Verbindung tut mir sehr leid.« »Dazu ist jetzt keine Zeit«, sagte Astarte. Ihre Stimme klang angespannt, aber das lag nicht an der Leitung. »Ich sagte es doch schon - er ist hier!«
18.
Mrs. Arkeley, bitte bleiben Sie in der Leitung«, sagte Caxton und nahm das Handy herunter. Sie eilte zurück ins HQ und zeigte auf den ersten Trooper, den sie sah. »Sie da - holen Sie Officer Glauer her. Er ist im Keller.« Sie zeigte auf einen anderen. »Sie, rufen Sie das örtliche Polizeirevier in Bellefonte an und teilen Sie ihnen mit, dass es einen Notfall gibt.« Sie sah auf ihr Handy und gab ihm Astartes Nummer, damit man die Adresse ermitteln konnte. Sie hasste es, normale Cops an einen Vampirtatort zu schicken - sie würden nicht auf das vorbereitet sein, was ihnen dort bevorstand - aber sie hatte keine andere Wahl. Sie würde mehr als 51 eine Stunde brauchen, um dort hinzugelangen, selbst wenn sie die ganze Strecke verantwortungslos raste. Astartes Leben hing möglicherweise von wenigen Minuten ab. »Ma'am, Astarte, sind Sie noch da?«, rief sie ins Handy. »Ja, meine Liebe. Im Augenblick noch. Er ist genau vor meinem Haus.« In der Ferne hörte Caxton ein leises Klirren. »Ah! Er hat gerade ein Küchenfenster eingeschlagen, glaube ich. Sie werden es nicht mehr rechtzeitig schaffen, oder?« »Ich habe schon Beamte losgeschickt. Wenn er die Polizei kommen hört, vielleicht verscheucht ihn das ja«, sagte Caxton und versuchte so zu klingen, als würde sie das selber glauben. »Ich komme, so schnell ich kann. Schließen Sie sich irgendwo ein, wenn das möglich ist - Hauptsache, es hält ihn eine Weile auf.« »Dann glauben Sie also, dass er es ernst meinte, als er sagte, meine einzige andere Möglichkeit sei der Tod? Ja, Laura, ich kann es Ihrer Stimme anhören. Das ist seltsam. Ich bin immer von der Annahme ausgegangen, dass ich den Sensenmann mit offenen Armen begrüße, wenn meine Zeit gekommen ist.« »Gehen Sie an einen sicheren Ort, so sicher es nur geht«, beschwor Caxton sie. »Ich fahre jetzt los!« Glauer kam die Treppe hinaufgelaufen und stürmte in die Lobby. Man musste ihm nicht sagen, was los war - als Caxton winkte und zum Parkplatz rannte, folgte er ihr einfach.
Eine dünne Schicht Pulverschnee lag auf dem Mazda. Caxton hatte keine Zeit, ihn fortzuwischen. Sie stieg ein, griff nach dem Blaulicht, das sie für Notfälle hatte, und befestigte es auf dem Wagendach, dann schob sie den Stecker in den Zigarettenanzünder. Sie hatte keine Sirene in den Wagen einbauen lassen, aber das Blaulicht würde zumindest verhindern, dass man sie unterwegs anhielt. Sie wartete, bis sich Glauer in den Beifahrersitz gequetscht hatte, dann trat sie das Gaspedal durch, schoss mit quietschenden Reifen vom Parkplatz los 52
und fuhr in Richtung Highway. Die Scheibenwischer fegten den Schnee vor ihr weg, aber neue Schwaden türmten sich auf der Motorhaube. An der Highwayauffahrt kämpfte sie sich durch den Rush-Hour-Verkehr - wenigstens dieses eine Mal machten ihr die Leute den Weg frei, als sie das Blaulicht sahen. Sie raste auf der zugeschneiten Fahrspur in Richtung Nordosten. »Es ist Jamesons Frau. Seine Witwe. Seine was auch immer«, erklärte Caxton. Glauer hatte nicht gefragt, aber sicher wunderte er sich, wo sie so eilig hinmussten. »Sie wird angegriffen.« Sie riskierte einen Blick zur Seite. Er sah geduldig geradeaus, die Hände auf dem Armaturenbrett, um sich jedes Mal abstützen zu können, wenn sie auf die Bremse trat. »Nach dem zu urteilen, was ich gehört habe, bleibt ihr nicht viel Zeit.« Glauer warf einen Blick auf den Tacho. »Wir werden es schaffen«, versprach er, obwohl er genauso gut wie sie wusste, dass das reiner Zweckoptimismus war. Sie warf ihm ihr Handy rüber. »Koordinieren Sie alles mit der Ortspolizei. Bellefonte kann kein großes Polizeirevier haben; das ist ein winziges Nest. Aber gibt es da nicht eine Kaserne der State Police?« »Ja. In Rockview Station. Das ist nur ein paar Meilen von der Stadt entfernt.« Er machte die nötigen Anrufe, trieb die Leute an. Bevor Caxton die halbe Strecke nach Bellefonte zurückgelegt hatte, hatte er drei Streifenwagen auf den Weg zum Tatort geschickt, und zwei weitere Wagen mit jeweils zwei örtlichen Polizisten parkten bereits vor dem Haus. »Da antwortet niemand. Sie wollen die Genehmigung, sich gewaltsam Zutritt zu verschaffen. Soll ich sie reinschicken?« Vermutlich werden sie getötet, wenn sie das tun, dachte Caxton. Astarte würde aber auf jeden Fall sterben, wenn sie es nicht taten. »Ja«, sagte sie. »Nur sagen Sie ihnen... sagen Sie ihnen, sie sollen vorsichtig sein. Sagen Sie ihnen, sie sollen vorgehen, als würden sie in ein Survivalistenlager voller Waffennarren eindringen. Sagen Sie ihnen, sie sollen sich nach Möglichkeit nicht umbringen lassen.« Kurz darauf erfolgte die Bestätigung, dass die Trooper einen Angriff auf das Haus anführten, während die Ortspolizei ihnen Rückendeckung gab. Es würden lange, angespannte Minuten vergehen, bevor sie sich wieder meldeten, aber Caxton riss Glauer das Handy aus den Fingern und hielt es gegen das Lenkrad geklemmt, bereit, in dem Moment ranzugehen, da es klingelte. Sie versuchte sich aufs Fahren zu konzentrieren. Die Straßenbedingungen waren keineswegs gut - eine Menge Schnee wehte über die Straße; auf jeder Brücke oder auf jedem schlecht gewarteten Stück Highway gab es vereiste Flächen. Der Mazda war nicht für eine solche Fahrt gebaut, und bei ihrer Geschwindigkeit - achtzig Meilen die Stunde oder mehr - brach er sofort aus, wenn sie den Griff um das Lenkrad lockerte. Sie musste mit der Geschwindigkeit drastisch heruntergehen, als sie durch State College raste. Die Straße führte direkt durch die Universitätsstadt, und sie konnte es nicht riskieren, einen Studenten anzufahren. Aber sobald sie die Nittany Mall passiert hatte, trieb sie den Motor erneut an seine Grenzen. Das Telefon in ihrer Hand summte, und um ein Haar hätte sie die Kontrolle über den Wagen verloren. Keine Zeit, die Freisprechanlage einzuschalten, entschied sie, und
klemmte sich das Handy zwischen Schulter und Ohr. »Sprechen Sie!«, brüllte sie beinahe hinein. »Trooper?«, fragte die Stimme am anderen Ende und klang irgendwie überrascht. »Sind Sie das?« Die Stimme war tief und knirschend, und im ersten Moment erkannte sie sie nicht. »Eigentlich heißt es Special Deputy. Was passiert da bei euch?« »Man hat Sie zum Special Deputy ernannt. Das ist faszinierend. Ich habe mein ganzes Berufsleben in der Annahme verbracht, dass ich einzigartig bin, dass niemand meine besondere Stellung einnehmen kann. Aber in dem Augenblick, als ich weg war, hat das Schicksal die frei gewordene Stelle mit jemand anderem besetzt. Haben wir den Kreislauf also vollendet?« »Oh, Scheiße«, sagte Caxton. Ihr Fuß glitt vom Gaspedal. Plötzlich hatte sie Angst, weiter so schnell zu fahren. »Jameson. Sie sind das, oder?« »Das ist eine Frage für die Philosophen. Meine Frau scheint da anderer Ansicht zu sein.« Caxton schluckte schwer. Wenn das Jameson am Telefon war, dann war er irgendwie an das Handy des Anführers der State Trooper gekommen, und das wiederum bedeutete, dass sehr viele schlimme Dinge geschehen sein mussten. »Sie sind zu Astarte gegangen. Sie haben ihr das gleiche Angebot wie Angus gemacht, oder? So wie Sie zu werden - oder zu sterben. Und sie hat sich ebenfalls geweigert.« »Es dürfte besser sein, wenn Sie sich eine Weile von meiner Familie fern halten, Special Deputy. Ich vermute, Sie sind gerade auf dem Weg hierher. Es wäre jedoch besser, Sie würden umdrehen und nach Hause fahren. Natürlich wissen wir beide, dass Sie das nicht tun werden.« »Wenn ich eintreffe, werden Sie auf mich warten?«, fragte sie. Sie war sich nicht sicher, ob sie wollte, dass er da war oder nicht. Das letzte Mal hatte sie ihm zwei NeunMillimeter-Kugeln direkt ins Herz gefeuert, und es hatte nicht gereicht. Würden drei reichen? Würde das ganze Magazin ihrer Beretta mit allen fünfzehn Kugeln reichen? »Ich werde mein Möglichstes tun, Sie noch nicht zu töten, Special Deputy. Ich habe nämlich einen Grund, warum ich Sie am Leben erhalten will. Aber wenn Sie sich dem Unheil in den Weg stellen, darf man mich nicht mehr für Ihre Sicherheit verantwortlich machen.« »Bleiben Sie nur. Ich bin gleich da«, erwiderte sie. Der Puls hämmerte in ihren Schläfen. »Bleiben Sie, dann können wir zu Ende bringen, was wir angefangen haben. Sie wollten nicht zu diesem Ungeheuer werden, Jameson. Können Sie sich noch daran erinnern? Sie haben den Fluch angenommen, um eine letzte gute Tat zu vollbringen. Um noch einmal ein Held zu sein. Das haben Sie nun alles zunichte gemacht, aber es muss doch nicht noch weiter gehen. Wir können noch immer etwas von Ihrem Ruf retten.« Sie sprach mit einer toten Leitung. Das Handy piepste zweimal, um sie darüber zu informieren, dass der Anrufer die Verbindung getrennt hatte. Caxton ließ das Handy fallen und schrie, hämmerte mit den Händen gegen das Lenkrad. Glauer griff zu, um es zu übernehmen, aber sie schüttelte sich ruckartig und sagte: »Nicht. Ich bin okay.« Aber natürlich war sie es keineswegs. Nicht einmal annähernd. Doch fahren konnte sie noch.
I9.
Die Straßen von Bellefonte waren so gut wie leer, als sie in die Stadt rasten, die Water Street entlang preschten, die dem Verlauf des Spring Creek folgte. Im Mondlicht und vom Schnee gesprenkelt wies die Stadt eine unheimliche Schönheit auf. Caxton war
bestimmt schon tausendmal an dem mit einem Damm versehenen Teil des Flussufers am westlichen XI54 Ende der Stadt vorbeigefahren und hatte die Parks dort bewundert. Aber nie zuvor hatten sie so gespenstisch, so von Geistern heimgesucht ausgesehen. Hör damit auf, rief sich Caxton zur Ordnung. Sie ließ zu, dass ihr die Geschehnisse der Nacht zusetzten. Sie riss den Stecker des Blaulichts aus dem Zigarettenanzünder, als sie in eine Seitenstraße einbog und die Geschwindigkeit zu einem Kriechen reduzierte. »Im Kofferraum liegt eine Schrotflinte«, sagte sie zu Glauer. »Ich dachte, das wäre Ihr Privatwagen.« Sie zuckte nur mit den Schultern. »Die letzten beiden Monate war ich immer im Dienst. Sie ist geladen, daneben liegt eine Schachtel Munition. Sie schnappen sie sich genau in der Sekunde, in der ich den Wagen anhalte, dann machen Sie genau das, was ich tue. Dies hier wird kein Kinderspiel.« »Verstanden«, sagte er. Sie fuhr eine Straße entlang, die von großen Bäumen gesäumt wurde. Dahinter erhoben sich Häuser im viktorianischen Stil mit Mansardendächern und aufwendigen Giebeln. Astartes Haus war nicht schwer zu finden. Sie hielt einfach nach dem mit den vielen Streifenwagen davor Ausschau. Caxton brachte den Mazda ein ordentliches Stück davor zum Stehen, parkte in der Straßenmitte für den Fall, dass sie hier schnell wieder verschwinden mussten - oder dass das ein anderer tat. Ihr Wagen würde den Hauptweg zurück zum Highway versperren. Das war ein Trick, den sie bei einem Kurs in taktischem Parken auf der Akademie gelernt hatte. Sie schaltete die Scheinwerfer aus und zog die Beretta aus dem Holster, bevor sie den Fuß auf den Asphalt setzte. Ihr Blick blieb fest auf die Straße vor dem Haus gerichtet, darum konnte sie nicht sehen, wie Glauer ausstieg. Aber sie hörte, wie er zum Kofferraum ging. Auf ihn konnte sie sich verlas 54
sen, das wusste sie. Darum arbeiteten sie auch so gut zusammen. Er tat immer genau das, was sie wollte. Die Waffe bereithaltend eilte sie zu dem Streifenwagen, der ihr am nächsten stand einer von der Ortspolizei. Sein Blaulicht rotierte wild auf dem Dach, und aus dem Funkgerät drangen gelegentlich Anfragen des Dispatchers von Bellefonte, aber sämtliche Sitze waren leer, sowohl Vorder- wie Rücksitz. Sie ging zum nächsten Wagen, dem anderen örtlichen Dienstfahrzeug, und hörte, dass der Motor noch immer lief. Er war genauso verlassen wie der erste, aber da war Blut auf der Windschutzscheibe. Innen. Die Cops von Bellefonte hatten nicht einmal die Chance gehabt aus dem Wagen zu steigen, bevor Jameson über ihnen war - wie eine Katze in einem Taubenschwarm. Sie biss sich auf die Lippe und versuchte nicht daran zu denken, dass sie ihren Einsatz autorisiert hatte. Sie war also unmittelbar für das verantwortlich, was ihnen zugestoßen war, aber darüber konnte sie sich später noch grämen. Ein Stück weiter die Straße entlang, an ihrem östlichen Ende, hatten die drei Dienstwagen der State Police eine Straßensperre errichtet. Ihre Blaulichter und Motoren waren ausgeschaltet, aber sie konnte sehen, dass auch sie verlassen waren. Nirgendwo lagen Leichen, auch keine Körperteile. Im Schnee auf Astartes Rasen waren lediglich Blutflecken, aber bei Weitem nicht genug, um für alle Cops zu reichen. Drei State Trooper und vier Stadtcops hatten den Zugriff vorgenommen - sieben Männer, und kein einziges Zeichen von einem von ihnen. Es sah einem Vampir nicht ähnlich, hinter sich aufzuräumen. Sie zog die Tatsache in Betracht, dass einige von ihnen durchaus noch am Leben sein konnten. Wenn dem so
war, musste sie schnell handeln. Sie gab Glauer ein Handsignal, stürmte die Stufen von Astartes Veranda hinauf und warf sich 55 links neben der Tür gegen die grüne Schindelwand. Dort hing ein poliertes Messingschild, auf dem die Umrisse einer Hand von Wellenlinien gekreuzt wurden. Darunter stand: MADAME ASTARTE WAHRSAGEN UND BERATUNG NUR NACH TERMIN ABSPRACHE Glauer kam die Stufen heraufgepoltert und ging auf der rechten Seite der Tür in Position. Er hielt die Schrotflinte, seine Taschen wölbten sich mit zusätzlichen Patronen. »Vermutlich gibt es eine Hintertür. Wir machen das genau so wie in Mechanicsburg, okay?«, flüsterte sie. Gegen Jameson würde seine Schrotflinte zwar kaum etwas ausrichten können, aber sie bezweifelte auch, dass der Vampir direkt in sein Schussfeld rennen mochte. »Sie übernehmen die Hinterseite, und lassen Sie keinen raus. Wenn ich das Signal gebe, kommen Sie schnell rein.« »Was ist das Signal?« »Wenn ich schreie, das ist das Signal.« Er nickte und verschwand um die Ecke der Veranda, seine Stiefel polterten über die Bodenbretter. Als sie seine Schritte nicht mehr hören konnte, trat sie die Tür auf. Sie war nicht verschlossen - die State Trooper hatten sie bereits für sie aufgebrochen -, und sie war in weniger Zeit drinnen, als ihr Herz brauchte, um zweimal zu schlagen. Eine einsame Lampe am anderen Ende des Raums tauchte die Eingangshalle in einen orangefarbenen Lichtschein. Einen Augenblick lang war sie davon geblendet, und sie wandte den Blick ab, damit sich ihre Augen daran gewöhnen konnten. Im Haus war es warm, warm genug, dass ihr in ihrem Wintermantel unbehaglich zumute war. Als sie wieder deutlich sehen konnte, blickte sie sich um. Auf dem Boden lag ein Persertep 55
pich, um einen runden Tisch standen dick gepolsterte Lehnsessel. Es sah wie die perfekte Kulisse für eine Seance aus. Links führte eine breite Treppe nach oben zu einer Galerie. An der Wand hing ein gewaltiger Wandteppich, schwarz mit goldener Stickerei, die eine Schlange zeigte, die ihren eigenen Schwanz fraß. In dem Kreis, den die Schlange bildete, standen die Worte: WIR KEHREN ALLE ZURÜCK. Caxton spähte die Stufen hinauf. Sie konnte sich lebhaft vorstellen, wie Astarte in einem großen Auftritt die Holzstufen hinunterkam, in einem schäbigen alten Kleid, das Haar zu einem lockeren Knoten gebunden. So hatte sie sich die Frau bei ihrem Telefongespräch vorgestellt, obwohl sie ehrlich gesagt nicht die geringste Ahnung hatte, wie Jamesons Witwe tatsächlich aussah. Drei Türen führten aus dem Foyer, aber sie waren alle geschlossen. Hinter jeder von ihr konnte sich Jameson verbergen. Caxton zwang sich, ganz ruhig zu atmen, versuchte auf die Härchen an ihren Armen zu hören, auf die empfindliche Haut hinter den Ohren. Wenn er in der Nähe war, würde sie ihn spüren, würde die Aura der Unnatürlichkeit spüren, die Vampire ausstrahlten. Sie zwang sich dazu, fünf Sekunden zu warten, bevor sie entschied, dass da überhaupt nichts zu fühlen war. Dann hörte sie etwas und hätte beinahe aufgeschrien. Es war ein sehr leiser Laut, ein kaum wahrnehmbares Knirschen, das sie an das Geräusch von fallendem Schnee erinnerte. Es kam vom Fundament der Treppe. Caxton setzte sich in Bewegung, aber die von der einsamen Lampe geworfenen Schatten machten es ihr unmöglich, irgendetwas zu sehen. Sie griff in die Tasche und holte ihre Maglite hervor. Ein Druck auf den Schalter der Stablampe - und sie ließ den grellen Lichtstrahl über die untersten drei Stufen wandern.
Da war wieder dieser Laut. Sie schwenkte das Licht nach 56 links und erkannte, wo er herkam. Ein schmales Blutrinnsal rann die Treppe herunter, tropfte leise auf jede Stufe. Caxton hob die Taschenlampe und folgte der Blutspur bis zum Treppenabsatz in der Höhe. Sie bemühte sich, sich so leise zu bewegen, wie ihr das möglich war, versuchte nicht zu laut und hastig zu atmen, und stieg die Treppe hinauf, setzte die Füße auf den Läufer am Stufenrand. Die Taschenlampe bereithaltend hob sie die Waffe auf Schulterhöhe, bereit, auf alles zu schießen, das den Kopf über das Geländer hob. Als sie den Treppenabsatz erreichte, drehte sie sich nach links, dann nach rechts, sicherte beide Enden der Galerie. Doch nichts zeigte sich. Die Blutspur hatte ihren Anfang unter einer Tür direkt vor ihr. Sie schimmerte in dem elektrischen Licht, das auf die Galerie fiel, weil die Tür einen Spalt offen stand. Caxton tippte mit dem Ende der Maglite sanft dagegen, sie schwang problemlos zurück und enthüllte den dahinter liegenden Raum. Das brennende Licht war nicht heller als die einsame Lampe unten in der Eingangshalle. Aber es zeigte genug: ein schmales Zimmer, das beinahe völlig von einem großen Himmelbett und einer Kommode ausgefüllt wurde. Ein hoher Vogelständer, der für einen Papagei bestimmt zu sein schien, war zurzeit unbenutzt. An den Wänden hingen gerahmte Schwarz-Weiß-Fotografien, doch Caxton machte sich nicht die Mühe, sie sich anzusehen. Eine etwa fünfundvierzigjährige Frau lag auf dem Bett. Sie trug einen eleganten Midirock und eine schwarze Seidenbluse. Ihr kinnlanges Haar war beinahe vollständig silbern, abgesehen von einer einzigen pechschwarzen Strähne, die sich über ihre bleiche Wange schlängelte. Ihre Augen starrten zur Decke, aber sie nahmen nichts mehr wahr. Das Blut, das sich auf dem Boden gesammelt und dann auf den Treppenabsatz geflossen war, kam aus ihrem rechten Arm, der an der 56
Bettseite so herunterhing, dass die gekrümmten Finger beinahe den Boden berührten. Das Handgelenk war bis zur Arterie aufgerissen. So schlimm die Wunde auch sein mochte, zog man in Betracht, was Vampirzähne anrichten konnten, sah sie beinahe behutsam aus, als hätte Jameson noch genügend Menschlichkeit in sich gehabt, um den Tod seiner Frau so schmerzlos wie nur möglich zu gestalten. Caxton suchte nach einem Puls und fand keinen, genau wie sie es erwartet hatte. Er war schon immer gründlich gewesen. Caxton hatte nicht den geringsten Zweifel, dass das hier Astarte war, und ihr Ehemann musste ihr Mörder gewesen sein. Sie schloss die Augen und senkte die Waffe. »Es tut mir leid«, sagte sie. »Ich habe versucht, rechtzeitig hier zu sein.« Es war albern, zu einer Leiche zu sprechen. Aber sie konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass sie hier versagt hatte, dass der Tod dieser Frau ihre Schuld war. Sie wandte sich ab. Es gab noch eine Menge Räume zu durchsuchen, vielleicht gab es vernünftige Beweismittel zu finden. Sie machte einen Schritt aus dem Zimmer, dann den nächsten zur Treppe. Die Lampe unten in der Halle zerbrach klirrend, und Dunkelheit erfüllte das Erdgeschoss, als hätte man einen Vorhang vorgezogen. Caxton hörte, wie sich dort unten etwas bewegte, ungeschickt gegen ein Möbelstück stieß. Jemand anders zischte aufgebracht. Zwei Leute, mindestens - und sie glaubte kaum, dass Glauer zu ihnen gehörte. 56
20.
Caxton trat in das Zimmer zurück, in dem sie Astartes Leiche gefunden hatte. Sie überlegte, die Tür hinter sich zu schließen, aber das einzige Licht im Haus fiel aus diesem Raum. Schloss sie sie, so würde unten jeder wissen, wo sie sich aufhielt, weil das Licht erlosch. Stattdessen ging sie auf der anderen Bettseite in die Hocke, wo keiner, der an der Tür vorbeiging, sie sehen konnte. Dabei entstand natürlich ein Problem. Es gab keinen anderen Ausgang. Sie hatte sich in eine Ecke manövriert, aus der es kein Entkommen gab. Angenommen, die Leute unten wollten ihr schaden - eine ziemlich sichere Annahme -, so konnten sie sie holen, wann immer sie wollten, und mit dem Rücken zur Wand würde sie sich nur schwer verteidigen können. Jameson hatte sie besser ausgebildet. Mehr als nur einmal hatte er ihr eingeschärft, sich nicht in genau diese Situation bringen zu lassen. Also musste sie in Bewegung kommen. Sie musste kühl nachdenken. Furcht vernebelte ihren Verstand. Sie musste sie abschütteln, wieder anfangen, taktisch zu denken. Was wusste sie? Mehrere Personen befanden sich zusammen mit ihr in dem Haus. Sie war sich ziemlich sicher, dass keiner davon ein Vampir war. Weder hatte sie eine Gänsehaut, noch hatte sie die Abartigkeit eines Vampirs gespürt. Das bedeutete, dass es sich bei den Eindringlingen mit ziemlicher Sicherheit um Halbtote handelte. Eine Handvoll von ihnen würde sie ohne zu große Probleme ausschalten können. Sie hatte von Jameson eine Menge darüber gelernt, wie man unfair kämpfte und seine Gegner aus dem Gleichgewicht brachte. Aber es würde kein einfacher Kampf werden. Die Eindringlinge hatten das Haus verdunkelt und warteten ver57
mutlich im Hinterhalt auf sie, bereit, sich auf sie zu stürzen, sobald sie sich zeigte. Außerdem hatte sie nicht die geringste Vorstellung davon, wie viele es waren. Ein einsamer Halbtoter war langsam und schwach, aber in Gruppen konnten die mörderischen Bastarde gefährlich sein. Sie überschlug ihre Möglichkeiten. Sie konnte die Treppe hinunterstürmen und zum Eingang laufen. Hatte sie das Haus verlassen, konnte sie in ihren Wagen springen und flüchten. Alles nur unter der Voraussetzung, dass sie nicht vor der Tür warteten und auf dem Weg keine Fallen gestellt hatten. Es wäre sehr dumm, von dieser Annahme auszugehen. Ein viel besserer Plan würde es sein, Glauer das Signal zu geben, damit er mit donnernder Schrotflinte hereinstürmte und die Eindringlinge in Panik versetzte. Jameson hatte immer behauptet, dass Halbtote im Grunde ihres Herzens Feiglinge waren. Falls Glauer sie richtig überraschte, würden sie vielleicht einfach in alle Richtungen verschwinden und ihr die Flucht erlauben, ohne gegen sie alle kämpfen zu müssen. Caxton griff in die Tasche nach dem Handy, damit sie Glauer anrufen und den Überraschungsangriff koordinieren konnte. Ihre Finger tasteten jedoch ins Leere. Lautlos fluchte sie, als ihr einfiel, dass sie es im Auto gelassen hatte. Natürlich hätte sie um Hilfe schreien können, um ihm ein Zeichen zu geben (ein Schrei erschien so würdelos, auch wenn sie ihn ursprünglich als Signal ausgemacht hatten). Natürlich würde das jeden Halbtoten im Haus alarmieren und ihren Standort verraten. Sie konnten wie ein Heuschreckenschwarm über ihr sein, bevor Glauer durch die Tür kam. Hätte das Zimmer ein Fenster gehabt, hätte sie es öffnen und an der Hinterseite nach unten sehen können, um Glauer irgendetwas zu signalisieren. Aber das Zimmer hatte kein Fenster. Doch vielleicht einer der anderen Räume im ersten Stock. Einen Versuch war es wert. Sich langsam und geduckt bewegend schlich sie um das Bett herum und an Astartes baumelndem Arm vorbei. Sie durchquerte die Blutpfütze am Boden - die Vorstellung, durch das vergossene Leben eines anderen Menschen zu
gehen bereitete ihr leichte Übelkeit, aber sie hatte schon Schlimmeres tun müssen und passierte dann die Tür. Die Halbtoten streiften durch das Erdgeschoss. Schubladen wurden aufgerissen, dann hörte es sich so an, als würde jemand im Besteckkasten herumwühlen. Die Halbtoten bewaffneten sich, verteilten die Steakmesser in der Küche. Vermutlich leuchteten ihre kleinen Knopfaugen vor Entzücken. Halbtote benutzten niemals Schusswaffen, weil ihren verwesenden Körpern die nötige Koordination zum Zielen fehlte. Aber sie liebten Messer. Leidenschaftlich. Mit dem Rücken zur Wand schob sich Caxton nach rechts, auf die nächste Tür der Galerie zu. Sie passierte sie, dann tastete sie in die Höhe nach dem Glasknauf und drehte ihn. Die Tür öffnete sich so gut wie ohne jedes Quietschen, trotzdem hielt sie inne, erstarrte und lauschte. Die Halbtoten waren noch immer in der Küche beschäftigt - sie konnten sie nicht gehört haben. Sie zog die Tür ein Stück weiter auf und spähte hinein. Ordentliche Stapel sauber gefalteter weißer Laken und Tischdecken lagen auf Regalbrettern und rochen nach alter, sauberer Baumwolle. Also hatte sie den Wäscheschrank gefunden. Keine Zeit, ihr Pech zu verfluchen. Sie spähte über die Galeriebrüstung nach unten in die Finsternis, hielt nach Anzeichen von Bewegung Ausschau. Das einzige Licht kam von den Blaulichtern der Streifenwagen, die abwechselnd blaue oder rote Lichtstrahlen durch die Fenster schickten. Dort unten hätte alles Mögliche sein können, und sie hätte es nicht gesehen, selbst wenn sie sich bewegt hätten; der stroboskopähnliche Effekt der Blaulichter ruinierte ihre an die Dunkelheit angepasste Sicht bei jedem Aufblitzen. Sie bewegte sich so leise, wie sie konnte, und begab sich zur nächsten Tür. So weit reichten weder das Blaulicht noch der sanftere Schein aus Astartes Zimmer. Caxton hatte noch immer ihre Maglite, wagte aber nicht, sie zu benutzen. Im tiefen Zwielicht strich sie über das polierte Holz der Tür, dann ertastete sie einen Messingbeschlag mit Schlüsselloch. Ein paar Zentimeter darüber stieß sie auf einen wackligen Porzellanknauf, der sich mit einem kaum hörbaren Quietschen drehte. Langsam öffnete sie die Tür, immer nur einen oder zwei Zentimeter, bereit, in dem Augenblick innehalten, da die Türangeln quietschten. Nur noch ein kleines Stück. Sobald der Spalt groß genug war, würde sie hineinschlüpfen und die Tür wieder genauso lautlos hinter sich schließen. Ein schriller Schrei zerriss ihre Wahrnehmung, und ein ehemals menschlicher Körper krachte gegen sie und riss sie zu Boden. Ihr wurde lediglich bewusst, dass sein Atem entsetzlich stank, während er sie auf den Teppich drückte. Eine lange Waffe funkelte, als sie in die Höhe gehoben wurde - es sah aus wie eine Fleischgabel, dreißig Zentimeter lang und mit vier hässlichen Zinken versehen. Dann konnte Caxton gerade noch rechtzeitig den Kopf zur Seite reißen, als die Gabel genau da landete, wo sich eben noch ihr linkes Auge befunden hatte. Der Halbtote, der auf ihr hockte, schrie erneut, und sie sah, wie die in Streifen gerissene Haut seines Gesichts herabbaumelte, während ihr sein Speichel auf Wangen und Oberlippe sprühte. Er wollte die Gabel zum nächsten Angriff heben, konnte es aber nicht. Die Spitzen hatten sich tief in den Holzfußboden gebohrt. Caxton hatte einen Grundkurs in Selbstverteidigung belegt, also wusste sie, was zu tun war. Sie brachte ein Knie zwi 58
schen die Beine des Angreifers und rammte es mit aller Kraft nach oben. Ob die Halbtoten empfindliche Hoden hatten oder nicht, das war jetzt nicht der Punkt; das Manöver sollte dieses Wesen von ihrem Körper befördern - und es gelang. Nun hätte sie sich auf ihn rollen und seine Arme nach unten drücken können, aber sie machte
sich gar nicht erst die Mühe. Stattdessen riss sie die Beretta aus dem Holster und rammte dem Halbtoten die Mündung unters Kinn. Er riss die Augen weit auf, bevor sie den Abzug durchzog. Danach erschlaffte, was von seinem Gesicht noch übrig war. Caxton nahm sich eine Sekunde, das tote Etwas zu betrachten, versuchte herauszufinden, was es einst gewesen war und was es in diesem Haus zu suchen hatte. Ein Blick auf die Kleider verriet ihr die ganze Geschichte. Die Kreatur trug das graue Hemd und die marineblauen Hosen eines State Trooper aus Pennsylvania. Es war einer von ihnen. Jameson musste im Haus gewartet haben, als die State Trooper eindrangen. Gewiss hatte er sie mühelos erledigt. Auch wenn Caxton versucht hatte, sie vor den Gefahren zu warnen, die auf sie lauerten, sie hatte dennoch gewusst, dass die Beamten nicht darin ausgebildet waren, ein blutdürstiges Monster zu bekämpfen. Nachdem er sie getötet hatte, waren sie zu seinen Spielzeugen geworden, und er musste sie von den Toten zurückgeholt haben, noch während Caxton am Tatort eingetroffen war. Darum hatte es keine Leichen in den Wagen vor dem Haus gegeben weil die Leichen zu diesem Zeitpunkt bereits im Haus gewesen waren. Also konnten mindestens sechs weitere Halbtote noch im Haus lauern. Sie hatte keine Zeit, sich schuldig zu fühlen. So schnell wie möglich rollte sie sich herum und sprang auf die Füße. Sie warf einen Blick durch die Tür, durch die ihr Angreifer gekommen war, in eine Art Butleranrichte vol59
ler Geschirrschränke. Der Raum enthielt auch einen einfachen Tisch, ein paar Stühle und am anderen Ende eine sehr schmale Treppe, die nach unten führte. Vermutlich in die Küche. Caxton konnte schon jetzt hören, wie weitere Halbtote die Stufen hinaufpolterten. Ihre Gedanken rasten. Auf der Innenseite der Tür ragte ein Messingschlüssel aus dem Schlüsselloch. Sie riss ihn heraus, knallte die Tür zu und schloss von außen ab. Als der Mechanismus klickte, hieb sie mit dem Knauf ihrer Waffe zu und brach den Schlüssel im Schloss ab. Ihr nächster Zug lag auf der Hand. Jede weitere Verstohlenheit war sinnlos geworden. »Glauer!«, brüllte sie so laut, wie sie konnte, nur für den Fall, dass er den Schuss nicht gehört hatte. »Glauer! Jetzt!«
21 .
Die Halbtoten in der Anrichte hämmerten gegen die Tür. Sie bebte wild im Rahmen. Aber sie bestand aus dicker Eiche, und Caxton ging davon aus, dass sie eine Weile standhielt. Sie eilte zur Treppe und brüllte weiter nach Glauer. Sie hoffte, dass er sie hören konnte. Falls nicht, steckte sie in echten Schwierigkeiten. Im Erdgeschoss polterten weitere Halbtote herum, aber sie konnte nichts sehen. Der Lichtstrahl ihrer Maglite zeigte nur verblichene Teppiche und Staubpartikel in der Luft. Sie würde einfach die Treppe hinunterlaufen und das Beste hoffen. Sie hatte ihre Beretta und genügend Munition, aber ihr war klar, dass sie in dem dunklen Haus nicht zielgenau schießen konnte. Also hielt sie die Lampe hoch und die Waffe niedrig, dann ging sie die Treppe hinunter, langsam und sorgfältig, eine Stufe nach der anderen. Auf halber Höhe segelte ein Messer an ihrer Wange vorbei und klirrte hinter ihr auf die Stufen. Es verfehlte sie so knapp, dass sie die Messingnieten im Holzgriff und die Zacken der Klinge sehen konnte - es kam ihr so nahe, dass sie sich zur Seite warf und das Gleichgewicht verlor. Sie stolperte drei Stufen herunter, ihre linke Hand griff Halt suchend nach dem Geländer. Sie erwischte es zwar, aber dabei verlor sie die Taschenlampe, die die Stufen hinunterfiel. Der wild umherspringende Lichtstrahl fuhr einen Augenblick lang über das verwüstete Gesicht eines Halbtoten und zeigte die
grauen, zuckenden Muskeln unter der abgerissenen Haut. Die Kreatur grinste breit aber dann hüpfte das Licht weiter und rollte am Fuß der Treppe herum, wo eine bleiche Hand danach griff und es ausschaltete. Caxton ging blitzartig in die Hocke - für den Fall, dass noch ein Messer geflogen kam und feuerte blindlings zwei Schüsse auf die Monster ab, die dort unten auf sie warteten. Eines schrie auf, in einem schrillen Jammern, das an ihren Nerven zerrte. Es war ein Geräusch wie von einer Katze, die man in eine Badewanne voll von eiskaltem Wasser warf. Aber es war kein Todesschrei. Sie musste ihr Ziel nur angeschossen haben. Das Aufblitzen der Schüsse reichte, um sie kurz zu blenden. Die Dinge hatten sich von schlecht zu katastrophal verändert, und dann wurden sie noch katastrophaler. Oben splitterte die verschlossene Tür und krachte gegen die Wand. Schritte eilten die Galerie entlang auf Caxton zu. Blind, von allen Seiten umzingelt, tat sie das Einzige, das ihr einfiel. Ihre Hand lag noch immer auf dem Geländer. Sie schob die Pistole ins Holster, packte das Geländer auch noch mit der anderen Hand und schwang sich von der Treppe in den leeren, lichtlosen Raum. 60
Eine Sekunde später trafen ihre Füße den runden Seance-tisch. Da sie nicht hatte sehen können, wo sie landen würde, hatte sie sich innerlich für eine Landung auf dem Teppich vorbereitet, vielleicht zweieinhalb Meter tiefer. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass der Tisch im Weg stand, also rutschten ihre Füße unter ihr weg. Schmerzhaft prallte sie mit der Seite auf die Tischplatte, rollte weiter und fiel auf den mit Teppichen ausgelegten Boden. »Wo ist sie hin?«, rief einer der Halbtoten. »Ich seh sie nicht!«, erwiderte ein anderer. Caxton wusste aus einer früheren Erfahrung, dass Halbtote im Dunkeln nicht besser sehen konnten als sie. Im Gegensatz zu ihren Vampirherren waren sie im gleichen Nachteil wie sie. Trotzdem verschaffte ihnen die Dunkelheit einen Vorteil. Caxtons einziger Vorteil war die Reichweite der Beretta gewesen, die ihr gestattet hätte, sie zu erschießen, bevor sie sie mit ihren Messern erreichen konnten. In der Finsternis nützte das aber nichts - wenn sie nicht sehen konnte, konnte sie auch nicht zielen. Wenn sie nicht zielen konnte, hätte sie mehr davon gehabt, blindlings mit dem Pistolenknauf zuzuschlagen und zu hoffen, sie alle zu Tode prügeln zu können. Sie konnte versuchen, einen Lichtschalter zu finden - aber dabei würde sie vermutlich einen Kerzenleuchter oder etwas anderes umstoßen und so ihre Position verraten. Wo zum Teufel blieb nur Glauer? Sie war aus dem Hinterhalt ausgebrochen, nur um in einer fast genauso schlimmen Lage zu enden. Die roten und blauen Blitze, die durch die Fenster drangen, zeigten ihr gar nichts. Dafür konnte sie hören, wie die Halbtoten ausschwärmten, um sie zu finden. Zeit für noch so einen stummen Fluch, der auf ihren Lippen hängen blieb. Wurde ein Opfer wieder als Halbtoter ins Leben zurückgerufen, starb die Seele zuerst; die Persönlichkeit wurde ausgemerzt und durch Hass und hämischen Blut 60 durst ersetzt. Aber sie behielten einen Teil ihrer Erinnerung. Diese Halbtoten waren Polizisten gewesen. Man hatte sie also darin ausgebildet, Zimmer zu durchsuchen und einen Verdächtigen an der Flucht zu hindern. Caxton hatte nicht den geringsten Zweifel, dass sie die drei Türen bewachten, die aus dem Foyer führten. Ihr blieben nur Augenblicke - bloße Sekunden, bevor sie eingekreist war. Beide Knöchel schmerzten, als sie sich an der hinteren Zimmerwand in die Höhe schob und wieder auf die Füße kam. Es schien unwahrscheinlich, dass sie sich etwas gebrochen hatte, aber selbst wenn dem so wäre, musste sie schnell handeln. Ihre beste
Chance bestand sicher darin, sich in den hinteren Teil des Hauses zurückzuziehen, also schob sie sich an der Wand entlang und tastete nach dem Wandteppich, der ihr beim Eintreten aufgefallen war. Da - ihre Hand berührte eine Ecke davon. Die Tür befand sich genau daneben. Sie griff nach dem Türknauf - und riss die Finger zurück, als die Tür dröhnte, als würde jemand dagegenschlagen. »Hier drüben!«, kreischte ein Halbtoter. Caxton hörte sie in der Dunkelheit angelaufen kommen. Einer krachte gegen einen Stuhl und stürzte mit einem erbärmlichen Jaulen der Länge nach zu Boden. Aber die anderen kamen näher. Caxton wusste nicht, in welche Richtung sie sich wenden sollte. Da öffnete sich lärmend die Tür, ein kräftiger Lichtstrahl streifte durch den Raum und beleuchtete zwei Halbtote mit hoch erhobenen Steakmessern. Als Nächstes schob sich der Lauf einer Schrotflinte durch die Tür und entlud sich brüllend, ließ Caxtons Ohren dröhnen und füllte ihre Nase und ihren Hals mit dem Gestank von Schießpulver. Sie würgte und hustete. Die beiden Halbtoten fielen aus dem Lichtkegel und krachten zu Boden; sie hatten nicht einmal Gelegenheit zu einem letzten Schrei gehabt. 61
Glauer kam durch die offene Tür, hebelte die nächste Patrone in den Lauf. Offensichtlich sah er den dritten Halbtoten nicht, den, der über den Stuhl gefallen war und jetzt direkt mit erhobenem Schürhaken auf ihn zukam. Caxton beugte sich so weit vor, wie sie konnte, und schnappte sich den Arm der Kreatur. Sie riss ihn ihr hart auf den Rücken, und der Schürhaken fiel polternd zu Boden. Glauer hob die Flinte, und sie konnte ihm noch zurufen, das nicht zu tun, aber es war schon zu spät. Der schwere Kolben krachte genau zwischen die Augen des Halbtoten und schlug ihm den Schädel ein. »Was meinten Sie damit, ich solle es nicht tun?«, fragte Glauer, als die Kreatur zu Boden fiel. Er leuchtete ihr mit seiner schweren Taschenlampe ins Gesicht. »Ich wollte ihn lebend haben, für eine Befragung«, erwiderte sie und drückte die Taschenlampe zur Seite. Das Licht schmerzte in ihren Augen. »Warum haben Sie so lange gebraucht?« Er zuckte liebenswürdig mit den Schultern. »Hier gibt es mindestens fünfzig Türen, und sie waren alle verschlossen.« Es spielte ja auch keine Rolle mehr. Er war da. Caxton rechnete schnell nach. »Ursprünglich gab es sieben von ihnen, vorausgesetzt, Jameson hat sie alle wiederbelebt.« »Sieben? Es wurden sieben Cops an diesen Tatort geschickt...« Offenbar wurde ihm erst jetzt klar, gegen wen er da gekämpft hatte. Sie hob die Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. »Ich habe oben einen erwischt.« Sie nahm ihm die Taschenlampe ab und richtete sie auf die beiden am Boden. Die Schrotladung hatte ihre Körper verkrümmt und völlig leblos gemacht. Sie richtete das Licht auf den mit dem eingeschlagenen Schädel. »Das macht vier.« »Zwei weitere haben versucht, in der Küche über mich 61 herzufallen«, sagte Glauer. »Sehen Sie.« Er versuchte, ihr einen bösen Schnitt am Arm zu zeigen. »Ging direkt durch Jacke und Hemd. Bloß ein kleines Schälmesser, aber der Kerl wollte mich unbedingt erwischen.« »Also sind sechs tot - damit bleibt einer«, zählte Caxton, viel zu sehr in die Situation vertieft, um sich um seinen Arm zu sorgen. Sie fuhr - von einer plötzlichen Intuition angeregt - herum und richtete den Lichtkegel auf die Eingangstür. Sie stand offen und ließ die Nacht herein. »Kommen Sie, schnell«, sagte sie, rannte auf die Veranda und weiter auf die Straße.
Zuerst sah sie nichts, da standen nur die Wagen auf der Straße. Sie hatte erwartet, dass der letzte Halbtote einen davon stahl und einen Fluchtversuch machte - und sie hatte bloß gehofft, dass das Monster nicht ihren Mazda nahm. Aber alle Autos waren da, wo sie hingehörten. »Dort«, sagte Glauer und zeigte auf die Straße. Seit ihrer Ankunft hatte sich eine dünne Schneeschicht auf dem Asphalt gebildet. Eine Spur aus Stiefelabdrücken führte in einem Bogen vom Haus fort nach Westen, auf den Highway zu. Glauer wollte in den Mazda steigen, aber sie schüttelte den Kopf. »Dafür ist jetzt keine Zeit. Wir können ihn zu Fuß erwischen.« Sie rannte los. Das Licht der Straßenlaternen und das grelle Funkeln des Schnees ließen nach der Dunkelheit im Haus ihre Augen tränen. Aber sie hatte keine Probleme, der Spur zu folgen - die Fußabdrücke zeichneten sich dunkel auf der zugeschneiten Straße ab, und sie führten direkt nach Westen, wichen nie von der Richtung ab, als hätte der Halbtote über die Schulter geschaut, um zu sehen, ob er auch verfolgt wurde. In ihr stieg die böse Ahnung auf, zu wissen, was das zu bedeuten hatte. Trotz ihres kranken Humors und aller BösJ62 Willigkeit waren diese Halbtoten den Launen ihres Vampirs unterworfen. Sie konnten den Befehlen ihres Meisters genauso wenig widerstehen, wie sie sich selbst heilen und zurück ins Leben zu holen vermochten. Dieser hier floh nicht nur vor einem aussichtslosen Kampf - nein, er wäre bis zum bitteren Ende geblieben, hätte Jameson das so gewollt. Er befolgte einen ganz anderen Befehl. Caxton rannte so schnell, wie sie konnte, rutschte ständig in dem nassen Schneematsch aus. Sie hatte keine Gelegenheit gehabt, vernünftige Stiefel anzuziehen, sondern trug immer noch ihre Schuhe. Glauer trampelte hinter ihr her, mit sichererem Schritt als sie, aber nicht ganz so schnell. Und doch erblickte er den Halbtoten zuerst. Er rief und zeigte, und Caxton folgte der Richtung seines Fingers. Einen Block voraus rannte das Wesen. Es humpelte schlimm und eines seiner Hosenbeine war aufgerissen. Es hatte eine hässliche blutlose Wunde an der Wade, wo die Muskeln weggeschossen worden waren. Caxton wurde klar, dass dies derjenige sein musste, den sie mit ihren ungezielten Schüssen auf der Treppe verletzt hatte. Doch so behindert er auch war, er zwang sich zum Weiterlaufen. Sie hatte die Distanz zwischen ihnen auf einen halben Block reduziert, als sie bemerkte, dass sie die Straße verlassen würden. Vor ihnen beschrieb der Asphalt einen Bogen nach Süden, um dem Fluss zu folgen, aber der Halbtote rannte einfach geradeaus weiter. Sie versuchte, einen Sprint einzulegen, und stürzte um ein Haar mitten aufs Gesicht. »Glauer - schnappen Sie ihn sich, schnell!«, rief sie, und der große Cop trabte keuchend an ihr vorbei. Sie rannte hinter beiden her und traf gerade noch rechtzeitig an dem erhöhten Flussufer ein, um zu sehen, wie der Halbtote unbeholfen über den Rand sprang und wie ein Stein im pechschwarzen Wasser eintauchte. Er verschwand *3*
mit einem gurgelnden Jammern und war sofort aus der Sicht verschwunden. Glauer fing an, die Jacke abzustreifen, als wollte er ihm nachspringen, aber sie ergriff seinen Arm und riss ihn zurück. »Seien Sie kein Idiot«, stieß sie keuchend hervor. »Sie wären in Minuten erfroren.« »Aber er kommt davon!«, erwiderte Glauer aufgebracht. »Nein, das tut er nicht.« Caxton hatte sofort begriffen, was Jameson von seiner Kreatur verlangt hatte. Sie hatte keine Ahnung, ob das eiskalte Wasser ihr schadete, aber sie wusste, dass Halbtote nicht atmeten. Vermutlich verfügten sie nicht über viel Auftrieb. Er musste
wie ein Stein gesunken sein. Unter Wasser würde sein Gehirn einfrieren -und das war dann das Ende seines kurzen Nicht-Lebens. »Damals, als wir noch zusammengearbeitet haben - also ich meine Jameson und mich -, war es Standardpraxis zu versuchen, Halbtote zu fangen. Das war unsere beste Informationsquelle. Er wusste also, dass ich versuchen würde, mit dem hier zu sprechen, und er hat dafür gesorgt, dass ich keine Gelegenheit dazu bekam.«
Raleigh Ich habe lange auf dich gewartet. Endlich bist du gekommen. Heute Nacht werde ich trinken; bald trinken wir gemeinsam. E.E Benson, Das Zimmer im Turm 22.
Caxton und Glauer stapften durch den Schnee zum Haus zurück. Seit ihrer Ankunft in Bellefonte war es bedeutend kälter geworden, und der Himmel hatte jetzt die Farbe von Blei. Der Schneefall, der kurz nach Einbruch der Dämmerung angefangen hatte, hatte zwar wieder aufgehört, aber es sah so aus, als wären die Wolken für diese Nacht noch nicht fertig. »Wie sieht unser nächster Schritt aus?«, fragte Glauer. Seine Worte wurden von dem Lärm ihrer Schuhe beinahe übertönt, die den pulverigen Schnee zusammendrückten. In Caxtons Ohren klang das wie Zähneknirschen, wie grimmiges Zähneknirschen. Sie schüttelte den Kopf. Es war erst sieben Uhr, aber es fühlte sich schon sehr viel später an. »Wir sichern den Tatort. Rufen Sie die nötigen Leute an und warten auf sie.« »Ich meinte...«, setzte Glauer an, aber dann schüttelte er bloß den Kopf. Den Rest des Weges legten sie schweigend zurück. Astar-tes Haus war noch genauso, wie sie es verlassen hatten. Auf dem Streifenwagen hatte sich eine dünne Schneeschicht gesammelt, die nun den Schein der Blaulichter dämpfte, und statt in die Nacht zu blitzen glühten sie ruckartig, zuerst in der einen Farbe, dann in der anderen. Glauer wollte die Motoren der Wagen abstellen, doch Caxton verbot es - es war wichtig, die Integrität des Tatorts zu bewahren, und zwar bis ins letzte Detail. Sie kümmerte sich um die erforderlichen Anrufe. Ein einsamer Beamter des örtlichen Polizeireviers kam schnell, aber er tat kaum mehr, als gelbes Absperrband auszurollen. Das J63 Haus betrat er nicht. Als Nächstes kamen die Krankenwagen, aber die Sanitäter mussten auf den zuständigen Leichenbeschauer warten, damit jeder offiziell für tot erklärt wurde. Eine halbe Stunde später kam ein Mann vom Leichenschauhaus, ein verärgert aussehender Arzt in einem fellbesetzten Parka, dessen Kapuze hochgeschlagen war. Er betrat das Haus und kam fünf Minuten später wieder heraus. Er nickte den Sanitätern bloß zu, und sie gingen hinein. Nicht, dass es viel für sie zu tun gegeben hätte. In den anderen Häusern an der Straße erwachten Lichter zum Leben. Besorgt aussehende Leute schauten aus den Fenstern, aber keiner kam heraus, um sich alles genauer anzusehen. Glauer bot an, die Nachbarschaft abzugrasen, an den Türen zu klopfen und jeden zu fragen, ob er etwas gesehen hatte. »Ich bezweifle es zwar«, sagte er, »aber es wird sie beruhigen, wenn sie mit jemandem sprechen können.« Caxton war es ziemlich egal, was Astartes Nachbarn dachten, aber so hatte der große Cop immerhin etwas zu tun, und so ließ sie ihn mit einem erleichterten Seufzer gehen. Er war auf dem Bürgersteig auf- und abgegangen und hatte ausgesehen, als hätte er etwas zu sagen, ohne es dann aber tatsächlich auch auszusprechen.
Ihre eigene Anspannung stieg, sie wollte einfach hier weg. Es war Nacht - und es würde noch weitere zwölf Stunden Nacht sein. Sie wusste, dass sie sich vor Einbruch der Morgendämmerung nicht würde entspannen können. Da wartete Arbeit auf sie, aber sie konnte hier nicht weg, nicht, bevor sie den Tatort an jemanden übergeben hatte, der offiziell die Leitung übernahm. Ohne sich dessen bewusst zu werden fing sie selbst an, auf und abzutigern. Die Bewegung verhinderte wenigstens, dass ihre Beine einfroren. Ein Zivilfahrzeug jüngeren Baujahrs fuhr heran, und sie schaute mit zusammengekniffenen Augen durch das Licht der 64 Scheinwerfer und versuchte zu erkennen, wer dort drinnen saß- Es waren ein Mann und eine Frau. Sehr überrascht war sie, als sie dann ausstiegen: Fetlock und Vesta Polder. Der Deputy Marshal nickte ihr zu, dann ging er zu dem örtlichen Cop, der vor dem Hauseingang Wache hielt, um mit ihm zu sprechen. Vesta kam auf direktem Weg zu Caxton und ergriff ihre Hände. Die ältere Frau schaute über ihre Schulter und musterte die Bäume, die die Straße säumten, als erwartete sie, dort Geister zu sehen. »Astarte ist von uns gegangen«, sagte sie, und es war keine Frage. »Normalerweise wäre ich nicht gekommen, vor allem nicht zu dieser späten Stunde. Ich mag es nicht, nachts von meinem Zuhause... weg zu sein, wie Sie wissen. Aber ich muss sie sehen.« Caxton war sich nicht sicher, was sie davon halten sollte. Es verstieß gegen jedes ihr bekannte Protokoll, einen Zivilisten an einen Tatort zu lassen, der noch untersucht wurde. Manchmal machte man Ausnahmen für direkte Familienangehörige, aber Vesta Polder war ja gar nicht mit den Arkeleys verwandt. Und sie wollte auch nicht erklären, warum es ihr so wichtig war, die Tote zu sehen. Sie starrte Caxton bloß in die Augen, als wollte sie sie hypnotisieren. »Kommen Sie«, sagte Caxton schließlich. Es war noch immer ihr Tatort, bis der Detective vom örtlichen PD eintraf, also war es auch noch immer ihre Sache, wer das Haus betreten durfte. Sie führte Vesta hinein, schärfte ihr ein, nichts anzufassen, und brachte sie in das Zimmer, in dem Astartes Leben sein Ende gefunden hatte. Die Witwe lag noch genauso da, wie Caxton sie aufgefunden hatte. Das Blut auf dem Boden hatte in der Wärme des Hauses zu trocknen angefangen, aber Vesta ging mit kleinen, behutsamen Schritten umher und achtete peinlichst darauf, nichts davon an ihre schwarzen Stiefel zu bekommen. Caxton 64
kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie nicht bloß zimperlich war. Vesta trat ans Bettende und schloss die Augen. Ihre Lippen bewegten sich zwar, aber Caxton konnte nicht hören, was sie sagte. Vermutlich ein Gebet. Als sie fertig war, blieb sie dort stehen, die Augen geschlossen, die Hände leicht vom Körper abgespreizt. Caxton fragte sich, wie lange das dauern würde. Nach ein paar Minuten räusperte sie sich, und Vesta öffnete die Augen. »Der Größe der Wunde nach zu urteilen würde ich sagen, dass er ihr keine großen Schmerzen zugefügt hat«, meinte Caxton und zeigte auf Aastartes Arm. »Als er Angus tötete, hatte er es sehr eilig, aber hier hat er sich Zeit gelassen.« Vesta nickte zustimmend. »Zuerst seinen Bruder. Jetzt seine Frau.« »Wissen Sie schon, warum er sie getötet hat?«, fragte Vesta. Sie selbst klang, als wüsste sie den Grund bereits und wollte nur hören, dass Caxton es laut aussprach. Das war ziemlich typisch für Vesta Polder. Sie sah alles und wusste alles - zumindest wollte sie das Glauben machen. Caxton war ziemlich davon überzeugt, dass es nur
Theater war, eine erprobte Technik, um Menschen aus der Reserve zu locken und sie dazu zu bringen, das zu verraten, was sie wussten. Sie fand es noch immer unheimlich. »Ich glaube, er hat beiden das gleiche Angebot gemacht. Sie konnten ebenfalls Vampire werden und sich zu ihm gesellen, oder sie konnten auf der Stelle sterben. Was den Grund betrifft, so verstehe ich ihn noch immer nicht so richtig.« »Er hat sie geliebt«, erwiderte Vesta Polder. »Er liebte sie, aber sie waren Menschen, und für einen Vampir ist menschliches Leben etwas Verachtenswertes. Er konnte diese beiden Emotionen nicht miteinander in Einklang bringen. Um diese Anspannung loszuwerden, musste er sie entweder zu seines 65 gleichen machen, sie auf seine Ebene holen, oder sie auslöschen.« »Das verstehe ich ja«, sagte Caxton mit einem Schulterzucken. »Aber Vampire betrachten uns als Beute. Als Nutzvieh. Er hat von keinem von beiden getrunken, er hat sie bloß verletzt und ausbluten lassen.« »Vielleicht ist das für Jameson ja jetzt eine Form der Zuneigung«, sagte Vesta. »Er schläfert sie ein, wie man es bei einem geliebten Haustier tun würde, statt sie wie eine Kuh oder ein Schwein zu einer Mahlzeit zu machen.« Sie ging um das Bett herum und beugte sich über Astartes Gesicht, nahe genug, dass Caxton warnend die Hand hob. Vesta fuhr mit der Hand an Astartes Mund vorbei und ließ dann die beringten Finger zuschnappen, als finge sie eine Fliege. »Sie ist fort von hier. Jameson wird sie nicht als Halbtote wieder auferstehen lassen können. Darum kam ich her. Darf ich ihre Augen schließen?« Wieder war das etwas, das man am Tatort eines Mordes einfach nicht tat, aber Caxton biss sich einfach auf die Unterlippe und nickte. Vesta schob die Lider der toten Frau sanft nach unten, mit zwei Fingern der linken Hand. Dann trat sie zurück. Offensichtlich war sie nun fertig. Aber bevor sie gehen konnte, hatte Caxton noch ein paar Fragen. »Die Nacht hat gerade angefangen. Ich habe die Sorge, dass er erneut zuschlägt.« »Heute Nacht nicht«, sagte Vesta und schüttelte so energisch den Kopf, dass ihre blonden Ringellocken über die Schultern des strengen schwarzen Kleides strichen. »Das hier hat ihn gerührt. Es hat den Teil seines Herzens berührt, das noch lieben kann. Er wird in sein Versteck zurückkehren und schmollen.« Caxton konnte sich Jameson wirklich nicht schmollend 65 vorstellen, aber sie akzeptierte, was Vesta Polder gesagt hatte. Irgendwie wusste sie Dinge, die anderen Leuten verborgen blieben. Es war aber besser, sich die Frage zu verkneifen, woher sie sie wusste. »Sie wissen nicht zufällig, wo sich sein Versteck befindet, oder?« Vesta schüttelte erneut den Kopf. »Das bleibt mir und allen menschlichen Augen verborgen. Gute Nacht, Astarte«, sagte sie dann. Sie setzte sich in Bewegung, aber Caxton hielt sie auf. »Sie haben sich große Mühe gemacht, um heute Nacht herzukommen.« »Astarte war eine Freundin. Jemand musste kommen, um das zu tun, was ich tat.« Caxton war da anderer Meinung. »Raleigh hat mir bei der Gedenkfeier von ihnen beiden erzählt. Sie sagte, Sie und Astarte hätten sich entzweit oder so etwas. Verraten Sie mir, worum es da ging? Sie sagte, sie hätten seit Jahren nicht mehr miteinander gesprochen.« »Sind Sie selbst noch nicht darauf gekommen?«, fragte Vesta Polder und sah zur Seite. »Ich hatte natürlich eine Affäre mit Jameson.« Caxton konnte sich schon nicht vorstellen, wie Jameson in seinem Versteck schmollte, aber das konnte sie sich erst recht nicht vorstellen. Nicht in tausend Jahren.
Vesta Polder hob das Kinn und starrte zur Decke. »Das war 1987. Jameson und Astarte waren erst ein paar Jahre verheiratet, aber sie hatten bereits angefangen, sich zu entfremden. Natürlich war es eine Art arrangierte Ehe gewesen. Jameson war der schneidige Held, der die große Finsternis besiegt hatte - der Mann, der ganz allein die Vampire vom Antlitz der Erde getilgt hatte. Zumindest dachten wir das. Er erzählte keinem, dass Justinia Malvern überlebt hatte, jedenfalls anfangs nicht. Astarte kam aus einer sehr respektablen, 66
alten Familie. Sie konnte ihren Stammbaum bis zur Gründung dieses Staates zurückverfolgen.« »Sie meinen den Plymouth Rock, wo die Pilgerväter landeten?« Vesta lächelte. »Ich meine Salem. Aber sie passten nicht gut zusammen. Zumal er zwanzig Jahre älter war als sie. Sie waren niemals glücklich. Er verbrachte zu viel Zeit bei der Arbeit und ließ sie hier den Haushalt führen, so gut wie auf sich allein gestellt. Eigentlich schien er bloß vorbeizukommen, um sie zu schwängern - in jenem Herbst und dann im Winter des darauf folgenden Jahres. Sie musste die Kinder allein großziehen, eigentlich war sie eine allein erziehende Mutter. Ich half ihr dabei, so gut ich konnte - damals war ich weniger eingeschränkt in meiner Zeit. Sie müssen wissen, sie war meine beste Freundin. So habe ich Jameson kennengelernt. Damals habe ich ihn überhaupt nicht leiden können. Sicher, er hat sie nie geschlagen, das nicht, und jedes Wort aus seinem Mund war liebevoll, trotzdem hielt ich ihn aufgrund der Weise, auf die er sie vernachlässigte, für ein echtes Monster.« »Und doch haben Sie sich irgendwie auf ihn eingelassen«, sagte Caxton. »Einige von uns finden Monster sehr attraktiv«, sagte Vesta. Auf ihren Lippen lag ein wissendes, hämisches Lächeln, das Caxton innerlich zusammenzucken ließ. »So ein kräftiger Mann. Leidenschaftlich und besessen. Es ist sehr schwer, dieser Art Aufmerksamkeit zu widerstehen, wenn sie auf einen gerichtet wird.« Caxton kratzte sich an der Augenbraue. »Als ich kürzlich mit Astarte, äh, sprach, deutete sie, nun ja, an, dass er und ich ebenfalls... romantisch verbunden gewesen wären.« »Das ist sehr albern. Jeder mit Augen im Kopf sieht doch, dass Sie Frauen lieben.« 66
Die Unterhaltung hatte eine Richtung eingeschlagen, die ihrer Untersuchung nichts nutzen würde, entschied Caxton. Sie führte Vesta aus dem Zimmer und dann aus dem Haus. Fetlock wartete schon auf sie. Er wirkte ungeduldig. »Also kennen Sie diese Frau«, sagte er, als Vesta Polder wieder in seinen Wagen stieg. »Sie kam kurz nach Ihrem Aufbruch ins HQ der State Police und verlangte, auf der Stelle zu Ihnen gebracht zu werden. Ich wollte ihren Ausweis sehen, aber sie behauptete, dazu wäre keine Zeit.« »Vermutlich hat sie nicht einmal einen Ausweis. Sie lebt weit abseits... von allem. Aber sie gehört zu den Guten.« Fetlock nickte. Offenbar reichte ihm, dass sie für Vesta Polder bürgte. »Davon könnten wir mehr gebrauchen. Vor allem, da wir gerade sieben verloren haben.« Er wies mit dem Kopf in Richtung Haus. »Ihnen ist doch wohl klar, dass das nicht gut aussieht, oder? Das war gewissermaßen ein Desaster.« Caxton musste sich eingestehen, dass sie seine Sichtweise verstehen konnte. »Wenn man Vampire bekämpft, gibt es eben Opfer«, murmelte sie. Genau das Gleiche hätte auch Jameson sagen können. »Sagen Sie mir, dass es wenigstens eine Erfolgsmeldung gibt«, beharrte er. Caxton blickte ihm direkt in die Augen. »Ich weiß, wo er als Nächstes zuschlägt.«
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Also gut«, sagte Fetlock. »Sagen Sie mir, was Sie wissen. Und woher Sie es wissen.« Caxton setzte sich auf die Motorhaube seines Wagens. Die Wärme des Motors sickerte durch ihre Kleidung. »Er machte 67
seinem Bruder Angus ein Angebot - werde wie ich oder stirb. Heute Nacht hat er seiner Frau das gleiche Angebot gemacht. Er ist hinter seiner eigenen Familie her. Er glaubt, ihnen damit einen großen Gefallen zu tun, wenn er sie so unsterblich und mächtig macht, wie er selbst es ist. Sie sehen das aber anders, und soweit es ihn betrifft, blieb ihm bis jetzt nur die Möglichkeit, sie schmerzlos zu töten. Er kann sie einfach nicht in Ruhe lassen.« »Aber warum?«, fragte Fetlock. »Was hat er davon?« »Verstärkung. Er weiß, dass er nicht unverwundbar ist. Er hat zu viele Vampire getötet, um das zu glauben. Ganz egal, wie hart er auch sein mag, es wird eine Zeit kommen, in der er einfach nicht hart genug sein wird. Wenn ihn jemand endgültig erwischt. Ich glaube nicht, dass er sich wegen mir große Sorgen macht. Ich bin doch nur irgendeine Person... und er kennt meine besten Tricks, denn er hat sie mir ja beigebracht. Für sich allein genommen ist niemand stark genug, um eine ernsthafte Bedrohung darzustellen. Aber er ist schlau, und er weiß, dass er kräftemäßig unterlegen ist. Kann ich ihn nicht aufhalten, wird er es irgendwann mit mehr von meiner Sorte zu tun bekommen. Will er weiterhin Blut trinken - und er kann jetzt nicht mehr damit aufhören -, wird er um jeden Tropfen mit uns kämpfen müssen. Das weiß er. Erschafft er neue Vampire, können sie an seiner Seite kämpfen.« »Also ist er jetzt der Vampir Zero. Genau das, wovor Sie gewarnt hatten.« Sie nickte. »Zumindest versucht er, es zu werden. Angus und Astarte haben ihn beide zurückgewiesen.« »Sie glauben, er wird das Angebot auch anderen machen.« »Ja. Ich glaube, er wird auf jeden zugehen, den er einst als Mensch liebte - angeblich. Jameson Arkeley war vieles, aber ein guter Familienmensch war er nun wirklich nicht. Er hat so viel Distanz zwischen sich und seinen Bruder gelegt, wie 67 er nur konnte, und nicht einmal zurückgeblickt - sie hatten sich zwanzig Jahre lang nicht mehr gesehen. Er hat seine Frau betrogen und beinahe verlassen. Seine Kinder kannten ihn kaum. Seine Kinder...« »...sind die nächsten auf der Liste«, fuhr Fetlock fort. »Mein Gott.« Er drückte die Finger gegen die Schläfen und führte sie dann nach unten, die Wangen hinunter. »Es sind zwei, oder? Raleigh und Sam?« »Simon«, korrigierte Caxton. »Er ist zwanzig, sie ist neunzehn. Viel zu jung, um zu sterben. Ich weiß nicht, bei wem er es zuerst versuchen wird, aber ich habe bereits einen Termin mit Raleigh - morgen. Sie lebt außerhalb von Allentown. Das ist oben im Kohlenland, ich bin ganz in der Nähe aufgewachsen. Ich kenne die Gegend gut, also ist es ein passender Ort, um sich ihm zu stellen. Wenn ich dort sein kann, wenn Jameson auftaucht, kann ich einen Hinterhalt legen, und vielleicht ist es dann vorbei. Was Simon angeht, bin ich mir eher unsicher. Ich wollte mit ihm reden, aber er war nicht sehr zugänglich, um es höflich auszudrücken. Er wird nicht kooperieren. Er lebt auch weiter entfernt. Er studiert oben in Syracuse.« »Sie sind in Ihrer Zuständigkeit nicht mehr auf den Bundesstaat beschränkt, jetzt, da Sie ein Fed sind«, erinnerte sie Fetlock. »Ich kann ein paar Deputies vorbeischicken, um ihn zu holen. Ihn in Schutzhaft nehmen. Der Marshals Service verfügt über einige
Schutzverstecke, die wir benutzen können. Wir sind für das Zeugenschutzprogramm tätig - wir können den Jungen auf jeden Fall für ein paar Tage unterbringen.« »Aber nicht gegen seinen Willen. Wie ich bereits sagte, er wird nicht kooperieren. Jedenfalls nicht freiwillig.« »Nein. Aber wenn wir ihn davon überzeugen können, dass sein Leben in Gefahr ist, warum sollte er sich dann weigern? Wie sicher sind Sie, dass er jetzt hinter seinen Kindern her ist?« »Neunzig Prozent. Er hat mir am Telefon gesagt, ich solle 68 mich von seiner Familie fernhalten. Ich glaube, das war ein ziemlich deutlicher Hinweis, dass er...« »Was? Was war das?« Fetlock trat einen Schritt näher heran und beugte sich vor, als könnte er sie so besser verstehen. »Haben Sie gerade gesagt, dass Sie mit Jameson Arkeley am Telefon gesprochen haben?« Es war sinnlos, das abzustreiten. »Ja. Er hat sich das Mobiltelefon des Einsatzgruppenführers genommen. Ich rief die Nummer an, weil ich mit dem befehlshabenden Trooper sprechen wollte, aber da war der Mann bereits tot. Jameson antwortete an seiner Stelle und wollte mich warnen. Das wird alles in meinem Bericht stehen, ich schwöre es.« Fetlock richtete sich auf und kratzte sich an der Nase. »Das... das ist interessant.« Sie biss sich auf die Unterlippe. »Ich habe auch von Malvern gehört. Eine SMS.« Fetlock verlor etwas die Farbe. »Hören Sie«, sagte er. »Ich werde Ihnen ein neues Telefon besorgen. Wir wechseln einfach die SIM-Karte aus. Aber mit dem Telefon, das ich Ihnen gebe, können Sie Anrufe aufnehmen. Außerdem kann ich mithören. Falls er Sie erneut anruft, werden wir zumindest einen Mitschnitt von seinen Worten haben.« Caxton runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht. Ich weiß nicht, ob es mir gefällt, wenn Sie meine Anrufe abhören. Das ist doch ein ziemlicher Einbruch in meine Privatsphäre, finden Sie nicht?« »Das ist ein Teil Ihrer Arbeit. Außerdem benutzen Sie Ihr Handy ja nicht für persönliche Anrufe. Es ist ein Diensttelefon, oder? Die Regierung zahlt für diese Einheiten, also gehören sie dem Steuerzahler und nicht Ihnen.« Caxton zwang sich zu einem Lächeln. »Also gut, Deputy Marshal .« *68 »Sieht aus, als wüssten Sie, was zu tun ist. Morgen fangen Sie damit an, die Kinder in Sicherheit zu bringen. Aber was ist mit heute Nacht? Wird Arkeley noch irgendwo anders zuschlagen?« Caxton zuckte mit den Schultern. Sie dachte an Vesta Polders Worte - dass Jameson in seinem Versteck schmollte. Aber es gab noch einen besseren Grund für die Annahme, dass er für diese Nacht fertig war. »Vermutlich nicht. Er hat genug getrunken, um für eine Weile satt zu sein, und er hat noch nicht den Punkt erreicht, wo er zum Spaß tötet. Gott sei Dank.« Fetlock nickte. »Ich will alles wissen, was sich heute Abend hier abgespielt hat. Aber ich sehe, dass Sie erschöpft sind. Gehen Sie schlafen. Sie können alles in Ihren Bericht aufnehmen, den Sie mir morgen schicken.« Nach diesen Worten fuhr er los und nahm Vesta Polder mit. Kurz darauf traf der Polizeichef des Bellefonte Police Departments ein. Caxton schüttelte ihm die Hand und gab ihm einen kurzen Überblick über die Ereignisse. Sie wollte sich die blutigen Einzelheiten ersparen - die konnten ihm auch seine eigenen Leute erzählen. Nachdem sie ihm den Tatort offiziell übergeben hatte, konnte sie es gar nicht mehr erwarten, hier zu verschwinden.
Glauer ging noch immer von Tür zu Tür und informierte Astartes Nachbarn, dass es keinen Grund zur Sorge gab. Sie rief ihn und teilte ihm mit, dass die Zeit zum Aufbruch gekommen war. »Ich fahre Sie zum HQ zurück. Wir sollten beide vor Mitternacht im Bett sein - morgen wartet ein arbeitsreicher Tag auf uns.« Er sagte kein Wort. Sie ging voraus zu ihrem Wagen, aber er blieb dort einfach stehen und starrte Astartes Haus an. Ein paar Lichter waren eingeschaltet worden, und die Haustür stand weit offen. Caxton konnte sehen, wie sich ein paar Cops 69 über die Leichen der drei Halbtoten beugten. Blitzlichter verrieten, dass ein Fotograf am Tatort war - was sie an Clara denken ließ. Clara, die zu Hause auf sie wartete. Vielleicht würde sogar eine warme Mahlzeit warten. »Kommen Sie, Glauer, ich bin müde«, sagte sie. Der große Cop drehte sich um und sah sie traurig an. Er machte keinerlei Anstalten einzusteigen. Sie wusste, was ihm unter die Haut ging. »Es hieß sie oder wir«, sagte sie. »Es waren Polizisten.« »Es waren Halbtote«, erwiderte sie. »Sie waren nicht mehr sie selbst.« »Sie waren aber Polizisten, bevor sie zu Halbtoten wurden«, sagte er. »Sie haben sie herbeordert. Sie haben sie in dem Wissen hergeschickt, dass er sie umbringt.« »Nein, da irren Sie sich«, beharrte sie. »Ich habe sie in dem Wissen hergeschickt, dass lediglich die Möglichkeit besteht, dass sie getötet werden könnten. In dem Wissen, dass das zu ihrem Job gehört. Polizisten bringen sich ununterbrochen in Gefahr. Dafür leisten sie einen Eid. Dafür haben auch wir einen Eid geleistet.« Er schüttelte den Kopf. »Es stimmt«, sagte er, »Polizisten haben es ständig mit Verbrechern zu tun, und manchmal, gelegentlich, wird auch auf einen ihnen geschossen. Manchmal wird sogar einer getötet. Das hier war aber etwas anderes, etwas weit Schlimmeres. Ich gebe nicht Ihnen notwendigerweise die Schuld an ihrem Tod. Aber der Leichenstapel wird immer höher.« »Darum tun wir das: um Jameson daran zu hindern, noch mehr zu töten.« »Wirklich?«, fragte Glauer. »Ja, verdammt!« Caxton sah den großen Cop stirnrunzelnd an. »Ja. Alles, was ich tue. Seit Oktober ist jeder Tag meines 69 Lebens dieser Aufgabe gewidmet. Jede Nacht riskiere ich mein Leben, und ich bitte niemanden, etwas zu tun, zu dem ich nicht selbst bereit wäre. Manchmal muss ich schwere Entscheidungen treffen. Ich muss sie schnell treffen. Manchmal treffe ich auch falsche Entscheidungen.« »So wie heute Abend. Ich sage ja bloß...« »Ich habe alles gesagt, was es dazu zu sagen gibt. Steigen Sie ein, bevor ich mir den Arsch abfriere.« »Sie müssen vorsichtiger mit den Menschen in Ihrer Umgebung sein. Vielleicht ist es Ihnen ja egal, ob Sie leben oder sterben, aber die Familien dieser Männer...« »Steigen Sie in den gottverdammten Wagen!« »Ja, Deputy«, knurrte er und riss die Beifahrertür auf. »Es heißt Special Deputy!«, fauchte sie zurück und stieg ein. Wortlos fuhr sie ihn nach Harrisburg zurück. Als sie eintrafen, sprang er aus dem Wagen und lief ins Gebäude, ohne ihr auch nur einen Blick zu widmen.
24.
Reines, weißes Licht strömte durch Caxtons Fenster und weckte sie. Während der Nacht hatte es so viel geschneit, dass sich die weiße Pracht bis zur Scheibe auftürmte. Sie konnte nicht einmal mehr den Hinterhof sehen. Aus der Küche drang der Geruch von Schinken und Eiern. Zögernd trat sie die Heizdecke weg und ging im Schlafanzug zum Tisch. Clara strahlte sie vom Herd aus an. »So, wie du ausgesehen hast, als du gestern Abend reinkamst, dachte ich mir, du könntest bestimmt eine handfeste Mahlzeit gebrauchen.« 70 Caxton bemühte sich, das Lächeln zu erwidern, aber ihr Gesicht war einfach nicht dazu fähig. Als Clara eine Tasse Kaffee vor ihr abstellte, schlürfte sie einen Schluck, dankbar zwar, aber unfähig, es zu sagen. Sie wollte Clara alles erzählen, was passiert war. Sie wollte den Arm um ihr Bein schlingen und sie umarmen. Auch das brachte sie nicht zustande. »Ich habe nachgedacht«, sagte Clara, als sie mit ihren Omeletts fertig war und sie auf den Tisch gestellt hatte. »Was du da gestern gesagt hast. Es versteht sich doch von selbst, dass ich nicht deine Forensikspezialistin sein kann. Aber vielleicht könnte ich tun, was du gesagt hast. Du weißt schon, Koordination. Ich könnte mit dir zusammenarbeiten. Wenn dir damit geholfen wäre.« Laura riss die Augen auf. »Das wäre es.« Clara nickte und fing an zu essen. »Du kannst mich auch jeden Tag zum Mittagessen einladen. Falls du möchtest.« »Das tue ich«, erwiderte Laura. »Wo müssen wir dann heute hin?« »Äh...« »Äh?« »Da gibt es ein Problem«, sagte Laura. »Heute fahre ich nach Allentown. Um mit Jamesons Tochter Raleigh zu sprechen. Und vermutlich muss ich dort auch die Nacht verbringen.« »Natürlich«, sagte Clara und trat wieder an den Herd. »Hey«, sagte Laura so tröstend, wie sie konnte. »Bis jetzt warst du toll. Ich weiß, dass ich kein Recht habe, um noch mehr Verständnis zu bitten. Aber ich brauche es trotzdem.« »Ja«, erwiderte Clara. »Ja, natürlich ist das okay. Ich vermute, sie schwebt in Todesgefahr, dieses Mädchen.« »Ihr eigener Vater will sie umbringen.« Clara drehte sich mit einem traurigen Lächeln um. »Damit 70 kann ich nicht mithalten. Fahr hin. Tu, was du am besten tust. Ich bin hier, wenn du heimkommst.« Laura küsste sie. Sie aß ihren Schinken und ihre Eier, auch wenn sie nichts davon schmeckte, weil sie mit den Gedanken anderswo war. Dann zog sie sich an. Eine halbe Stunde später war sie unterwegs zu ihrem Büro. Arbeit war zu erledigen. Zum einen musste sie ihren Bericht über die Katastrophe der vergangenen Nacht verfassen. Ihr neues Mobiltelefon wartete schon in seinem Karton auf ihrem Schreibtisch - Fetlock hatte es wohl während der Nacht liefern lassen. Denn die Feds reisen schnell, dachte sie. Es war größer und kompakter als ihr altes, mit einem winzigen schwarz-weiß Display. Seufzend fummelte sie die SIM-Karte aus dem alten Gerät, verfrachtete sie in die neue Bestie und schob sie in die Tasche. Bereits einen Augenblick später klingelte es. Fetlock rief an.
»Sie passen auf Raleigh auf?«, fragte er, nachdem sie sich gemeldet hatte. »Gut. Lassen Sie sich nicht von mir aufhalten. Ich habe gesehen, dass Sie das neue Telefon aktiviert haben, also dachte ich mir, ich probier es mal für Sie aus.« »Anscheinend funktioniert es«, sagte sie. »Ja, hier auch. Hören Sie, ich habe Ihnen gerade eine E-Mail geschickt - sehen Sie bitte kurz rein. Ich warte.« Wahrend Caxton den Computer einschaltete, erklärte er: »Ich habe meine besten Leute auf die Videobänder aus unserem Archiv angesetzt. Ich dachte, wir könnten unseren Eindringling auf frischer Tat ertappen. Und es sieht so aus, als hätten wir da etwas.« Caxton öffnete die E-Mail und sah ein Bild. »Das ist der Kerl, der Jamesons Akten stahl?« »Ich glaube schon«, bestätigte Fetlock . »Wir haben ihn nur für den Bruchteil einer Sekunde aufnehmen können, aber meine Leute haben das Bild digital analysiert und etwas aufhellen können. Ich war der Meinung, Sie sollten sich das ansehen.« r5°
Das Foto auf dem Bildschirm zeigte einen Mann im hellblauen Anzug, der den Metalldetektor passierte. Die Aufnahme war bestenfalls verschwommen, und das Gesicht war überhaupt nicht zu sehen - nur der Hinterkopf des Mannes. Sein Haar hätte braun oder schwarz sein können - das Bild war zu schlecht beleuchtet, um das genau sagen zu können. »Er benutzte Jamesons Ausweis, nicht wahr? Aber er ist es nicht.« »Sie glauben nicht, das könnte ein verkleideter Vampir sein?« Caxton runzelte die Stirn. »Möglich wäre es. Manchmal verändern Vampire ihr Erscheinungsbild. Sie setzen eine Perücke auf, benutzen Make-up. Ich kannte einen, der riss sich die Spitzen seiner Ohren ab, damit sie menschlicher aussahen.« Sie tippte auf den Bildschirm. »Aber das da ist anders. Diese Vampire würden niemanden hereinlegen können, höchstens auf große Entfernung. Man würde schon einen Maskenbildner aus Hollywood brauchen, damit sie so menschlich aussehen. Nein, ich bin immer noch der Meinung, dass das ein Mensch ist, der sich für Jameson ausgibt. Er hat einen menschlichen Helfer gefunden und ihn an seiner Stelle geschickt. Aber da ist noch etwas. Er hat alle Finger. Jameson fehlen alle Finger an der einen Hand.« »Er könnte eine Prothese tragen«, meinte Fetlock. »Ein Kerl betritt Ihre Behörde, mit Puder im Gesicht, einer offensichtlichen Perücke und einer falschen Hand.« Caxton verdrehte die Augen. »Selbst wenn das Make-up gut war, glauben Sie nicht, dass das jemandem aufgefallen wäre?« »Also war es definitiv nicht Jameson. Was nur weitere Fragen aufwirft.« »Ja. Nun, wenn es das war - ich muss los. Die Zeit rast«, sagte Caxton. Der Einbruch in das Archiv interessierte sie verhältnismäßig wenig. Die Aussicht, noch eines von JameiS71
sons Familienmitgliedern zu verlieren, beunruhigte sie viel mehr. Aber sie war noch nicht ganz so weit. Vor ihrem Aufbruch steckte sie den Kopf in den Konferenzraum. Sie hoffte, Glauer dort zu finden. Sie wollte sich bei ihm entschuldigen. Es war für alle eine schlimme Nacht gewesen, aber er hatte den Mist nicht verdient, den sie ihm an den Kopf geworfen hatte. Er war genau da, wo sie es erwartet hatte, und er war fleißig gewesen. Er hatte sich die Freiheit genommen und die Tafel aktualisiert. Für das VAMPIRMUSTER #2 hatte er unter den Aufnahmen von Rexroths/Carboys Opfern Bilder der Familie Carboy angeklebt. Für VAMPIRMUSTER #1 hatte er Bilder der State Trooper und Polizisten aufgetrieben, gegen die sie in Astartes Haus gekämpft hatten, außerdem war da der anonyme Halbtote aus dem Motel, in dem Angus gestorben war. Jamesons Bruder und Witwe hatten beide ihre eigenen Plätze bekommen, mit Rot
eingekreist. Auf der Tafel wurde es allmählich eng; für zukünftige Opfer war nicht mehr viel Platz. Es war in Ordnung, dass er sich darum gekümmert hatte -aber als sie sah, was er sonst noch gemacht hatte, wäre sie um ein Haar ausgerastet. Er hatte eines von Dylan Carboys Notizbüchern genommen - das, das mit Blut zusammengeklebt gewesen war und alle Seiten voneinander getrennt. Sie lagen wie ein übergroßes Tarotspiel über alle Tische ausgebreitet. Sie hatte ihm ausdrücklich befohlen, sich nicht mehr um die Notizbücher zu kümmern. Offensichtlich hatte er aber entschieden, sich nicht an ihre Anweisungen halten zu müssen. Doch bevor sie explodieren konnte, hob er die Hände. »Ich kann es erklären. Ich weiß, dass Sie das alles für Müll halten. Und der größte Teil ist es fraglos auch. Da gibt es ganze Abschnitte, wo er bloß den Text seiner Lieblingslieder kopierte, auf manchen Seiten hat er Ausdrucke von Webseiten eingeklebt, manche ohne Sinn und Verstand. Anscheinend war er eine Weile völlig von dem Schulmassaker von Columbine besessen. Ich glaube, er plante etwas Ähnliches an seinem College - für den Anlass hat er vermutlich auch das Schrotgewehr gekauft.« Er klopfte auf einen der Tische. »Aber hier fangen die Dinge an, sich zu verändern. Keiner der Einträge ist datiert, aber er spricht von einer Fernsehserie, die er sah, und ich habe ein bisschen nachgeschlagen. Die von ihm erwähnte Episode lief in der ersten Oktoberwoche.« »Direkt nachdem Jameson den Fluch annahm«, meinte Caxton. »Genau.« Glauer hob eine Seite hoch. »Die Serie ist nicht wichtig, aber sie gibt uns einen Zeitrahmen für die Veränderung. Vor diesem Datum sind die meisten seiner Einträge langatmig und wirr: er ist der Meinung, dass ihn keiner versteht - und er fühlte sich sogar seiner Familie entfremdet. Dann kommt aber die hier. Zuerst sticht sie nur hervor, weil sie so kurz ist: >Heute Nacht sah ich ihn draußen vor meinem Fenster. Er ist jetzt nahe und kommt näher<.« Caxton hob eine Braue. Glauer suchte sich einen Weg zwischen den Tischen und stieß in seiner Aufregung ein paar davon zur Seite; ihre Beine quietschten über das Linoleum. »Hier ist noch mehr! Hier, möglicherweise ein paar Tage später: >Er sagte mir, dass die Starken immer die Schwachen jagen werden. So sind die Gesetze der Natur. Er sagte: ist man schwach, hat man die Pflicht, stärker zu werden, oder man sieht zu, dass man den anderen nicht im Weg steht. Niemand ist so stark wie er<.« »Erwähnt er Jameson jemals mit seinem Namen?«, fragte Caxton. Glauer senkte den Kopf. »Nein. Zumindest nicht in den Tagebucheinträgen. Es gibt zahlreiche Zeitungsartikel über Vampire. Viele über die Ereignisse in Gettysburg.« 72 Caxton lehnte sich an das Bücherregal. »Aber Sie glauben, >er< ist Jameson. Sie glauben, er hatte irgendwie Kontakt mit Carboy. Und vermutlich nicht durch ihre MySpace-Seiten.« »Wir wissen, dass sie telepathisch kommunizieren können«, meinte Glauer zaghaft. Das konnte Caxton nicht abstreiten - in ihren Verstand waren schon mehr Vampire eingedrungen, als ihr lieb war. »Nach der zweiten Oktoberwoche fängt er an, auch von einer >sie< zu sprechen. Hier: >Sie war einst wunderschön, und sie könnte es wieder sein. Es wäre eine Ehre, sie zu nähren, sie gesund zu machen. Es wäre eine Tat der Liebe<.« »Also hat er auch zu Malvern gesprochen. Okay. Und nach allem Gehörten zu urteilen scheint dieser Junge der richtige Typ zu sein, um das Interesse eines Vampirs zu erregen. Er war bereits völlig kaputt, raste in einer Abwärtsspirale der Gewalt nur so entgegen und war bereit, sich selbst auszulöschen, solange er noch ein paar andere
Menschen mitnehmen konnte. Das würde ihn zum perfekten Kandidaten für den Fluch machen.« Glauer nickte. »Aber am Ende haben sie ihn ihm nicht gegeben. Er musste den Vampir spielen. Wir wissen, dass Jameson rekrutiert. Wir wissen, dass Malvern ihn in der Vergangenheit rekrutiert hat, und ich habe nicht den geringsten Zweifel, dass sie sich von mehr Vampiren anbeten lassen will. Keiner von ihnen hat Carboy das gegeben, was er wollte. Für mich ist das ein Hinweis, dass er keinem von ihnen persönlich begegnet ist. Vielleicht hat er sich diese Unterhaltungen ja auch nur eingebildet. Vielleicht war er einfach nur verrückt.« »Vielleicht, aber hier ist noch etwas. Etwas... ich muss noch mehr davon lesen.« Caxton warf die Arme in die Luft. »Also gut. Tatsächlich brauche ich Sie im Augenblick nicht. Ich fahre nach Allen 73
town, zu Raleighs Unterkunft. Aber da haben Männer ja ohnehin keinen Zutritt, haben Sie gesagt. Also verbringen Sie den Tag damit, wenn Sie wollen. Einen Tag.« Er nickte ernst. »Danke. Das hier verfolgt mich. Wenn ich herausbekomme, was ihn zu dieser Tat gebracht hat... ich weiß nicht. Ich weiß nicht, was wir davon haben, also konkret gesehen, aber es bedeutet mir etwas.« »Einen Tag«, wiederholte sie. »Wünschen Sie mir Glück.« Sie verließ den Keller und ging zu ihrem Wagen, endlich auf dem Weg nach Allentown. Sie hatte schon den Schlüssel in der Zündung, als ihr bewusst wurde, dass sie sich gar nicht bei Glauer entschuldigt hatte. Nun ja, vielleicht genügte es ja als Entschuldigung, wenn sie ihn Carboys krankes Hirn durchforsten ließ. Sie hoffte es zumindest. Nach Allentown war es eine lange Fahrt, und sie brauchte auf dem ganzen Weg ihre Sonnenbrille. Auf den Feldern am Straßenrand lag hoher Schnee, aber die Sonne schien. In den stillen Wohnvierteln der Städte, durch die sie fuhr, funkelte getautes Eis an Dachrinnen und Rinnsteinen, und auf den Straßen lag dunkler Schneematsch. Das Autoradio verriet ihr, dass am Nachmittag zwar mit zehn Grad zu rechnen war, sich der nächste Schnee aber bereits ankündigte. Sollte es einen Blizzard geben, würde sie Fetlock bitten müssen, ihr einen Allradwagen zu besorgen. Der kleine Mazda war nicht für glatte Straßen geschaffen. Schließlich stieß sie auf die ersten bekannten Ansichten, uralte Familienrestaurants, die es seit Jahrzehnten gab, die Hauptplätze von Kleinstädten, die sie bereits unzählige Male besucht hatte. Caxton war in dieser Gegend aufgewachsen, den alten Kohlebergbaugebieten von Pennsylvania, manchmal in Städten und manchmal an Orten, die kaum mehr als Blöcke billiger Werkshäuser waren, die man im vergangenen J73 Jahrhundert für Bergarbeiterfamilien gebaut hatte - Orte, die die Bezeichnung »Stadt« nicht einmal verdienten. Also bezeichnete man sie nur als »Siedlung«. Ein paar von ihnen bekam Caxton zu Gesicht, als sie daran vorbeifuhr, obwohl nur wenige davon in der Nähe einer Hauptstraße lagen. Die meisten der alten Siedlungen waren einfach in Vergessenheit geraten, nachdem die Kohlenadern erschöpft oder die Bergwerke stillgelegt waren. Die Wegbeschreibung, die sie von MapQuest heruntergeladen hatte, führte sie durch die Gemeinde Emmaus brav in den Süden der Stadt Allentown. Emmaus war als eine ursprüngliche Ansiedlung der Herrnhuter Brüdergemeine in Pennsylvania berühmt eine protestantische Kirchengemeinde mit eigenen einzigartigen Bräuchen, die allerdings nicht so streng wie bei den Amischen oder den Mennoniten waren. Caxton war nur im Gedächtnis haften geblieben, dass sie eine besondere Art Friedhof hatten -
namens Gottesacker. Statt ihre Toten im Familienverbund zu bestatten, betteten die Herrnhuter Brüdergemeine sie nach Alter, Geschlecht und Familienstand zur letzten Ruhe. An den Grund dafür konnte sie sich nicht mehr erinnern - vielleicht wollten sie sie für Gott gewissermaßen ordentlich ablegen, wenn er sie am Tag des Jüngsten Gerichts holen kam. Viele religiöse Gruppierungen lebten in der Gegend nach ihren eigenen Regeln. In den umliegenden Bergen gab es verborgene Klöster, Zufluchten und Kirchen. Als Caxton endlich die von ihr gesuchte Seitenstraße fand, fuhr sie durch ein langes Gehölz voller toter Bäume, das an einer Steinmauer endete, die entweder ein Museum oder ein Altersheim umgab. Das Gebäude war drei Stockwerke hoch und so breit wie ein Häuserblock. Es bestand aus roten Backsteinen und war mit granitenen Reliefs verziert. Es wimmelte dort von Fenstern, einige mit gotischen Rundbögen. Die Vorderseite war 74 größtenteils mit Efeu überwuchert, das jetzt braun und tot war, aber sie konnte sich vorstellen, wie es im Sommer grünte. Ein breiter Rasen umgab den Bau; hier und da ragten gelbe Grasbüschel aus der Schneedecke. Es gab auch eine Reihe Steinmonumente, einen Springbrunnen und einen rustikalen Gazebo. An der Seite schlängelte sich ein Bach voller heller Kiesel über das Grundstück. Ein Parkplatz war nicht in Sicht. Neben dem Tor in der Mauer standen ein paar sehr alte und sehr unauffällige Wagen auf dem Rasen. Daneben stellte sie ihren Mazda ab. Sie stieg aus und ging zum Tor, einer gewaltigen schmiedeeisernen Konstruktion, auf dem ein schlichtes Kreuz in die Höhe ragte. Dann hielt sie nach einer Glocke Ausschau, aber bevor sie fündig wurde, kam jemand, um sie einzulassen, eine Teenagerin in einem unförmigen Kleid und einem Parka, der mindestens zwei Nummern zu groß war. »Hi, ich bin Special Deputy Caxton«, sagte sie zu dem Mädchen. Das Mädchen grinste breit und nickte. »Ich habe einen Termin. Ich meine, ich will mit Raleigh Arkeley sprechen. Sie lebt doch hier, nicht wahr?« Das Mädchen lächelte und nickte erneut. Offenbar redete sie nicht viel. Caxton schaute zu dem Kreuz über dem Tor und fragte sich, ob das hier ein Kloster war und ob wohl jede Frau ein Schweigegelübde abgelegt hatte. Das würde es verdammt schwer machen, Raleigh über ihren Vater zu befragen. »Können Sie mich zu ihr bringen?« Das Mädchen nickte, drehte sich um und schlurfte über den Rasen. Der Saum ihres Kleides schleifte durch den Schnee, aber sie schien es weder zu bemerken, noch schien es sie zu stören. Caxton folgte ihr dichtauf. 74
25-
Caxton wurde in die Halle eines gewaltigen Gebäudes geführt, einer Höhle mit Marmorboden und hohen Säulen voller hallender Geräusche. Im hinteren Teil der Halle stieg eine schmiedeeiserne Wendeltreppe in die Höhe; in zwei riesigen Kaminen an beiden Seiten prasselten gewaltige Feuer. Standkerzenleuchter sorgten für die restliche Beleuchtung. Es schien kein elektrisches Licht zu geben. Caxton fragte sich, ob das Haus überhaupt an das Stromnetz angeschlossen war. Ihre stumme Führerin brachte sie zu einer Tür an der Seite der Halle. Das Mädchen klopfte einmal, zögerlich, als hätte sie Angst, zu viel Lärm zu verursachen, dann trat sie schnell zurück, drehte sich um und lächelte Caxton an. Sie zeigte viele Zähne. Auf der anderen Seite rief jemand: »Herein!« Caxton zuckte mit den Schultern und stieß die Tür auf, dann betrat sie ein kleines aber freundliches Büro. Überfüllte
Bücherregale standen an den Wänden, unterbrochen nur von einem breiten Fenster, das auf den Rasen hinausschaute, und einem weiteren, wenn auch kleineren Kamin, in dem ein fröhliches Feuer brannte. Hinter einem wuchtigen Schreibtisch aus Eiche saß eine junge Frau in einem strengen schwarzen Kleid, die ein weißes Kopftuch trug. »Sie müssen Trooper Caxton sein«, sagte die Frau und stand auf, um eine behandschuhte Hand auszustrecken. Caxton schüttelte sie. »Willkommen in unserer kleinen Zuflucht. Raleigh hat uns von Ihnen erzählt. Ich bin Schwester Margot.« »Schwester?«, wiederholte Caxton. »Mir war nicht klar, dass dies hier ein Kloster ist. Aber die Kleidung... hätte es mir verraten müssen.« 75
»Dieses Haus war einmal ein Frauenkloster, aber es hat sich mit der Zeit verändert. Das Personal untersteht den Ordensregeln, aber wir sind nicht konfessionsgebunden. Und die Kleidung, die ich trage... man nennt das auch Habit«, sagte die Frau. »Bitte, setzen Sie sich doch. Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?« Neben dem Fenster stand eine Kühlbox. Sie passte nicht in den Raum, der genauso gut im vergangenen Jahrhundert hätte eingerichtet und nie renoviert worden sein können. »Eine Diätcola wäre nett«, sagte Caxton. Es war eine lange, durstig machende Fahrt gewesen. »Tut mir leid. Wir nehmen keine Stimulantien zu uns. Wie wäre es mit einem Apfelsaft?« »Sicher.« Caxton nahm die angebotene Flasche entgegen und schraubte den Verschluss ab. »Es ist wichtig, viel zu trinken.« Sie bot dem stummen Mädchen, das neben der Tür stand, eine Flasche Mineralwasser an. »Sie haben Violet ja bereits kennengelernt, aber natürlich hat sie sich nicht vorgestellt.« »Ich freue mich, Sie beide kennenzulernen. Sie wissen vermutlich, warum ich hier bin.« »Natürlich«, sagte Schwester Margot. »Schwester Raleigh wird bald unten sein. Sie nimmt im Augenblick an einer Gruppentherapiesitzung teil, die nicht unterbrochen werden darf. In der Zwischenzeit würde ich mich glücklich schätzen, Ihnen alle Fragen zu beantworten, die Sie möglicherweise stellen wollen. Wir sehen vielleicht so aus, als hätten wir uns von der Welt abgewendet, und das trifft auch zu« - sie kicherte, und auch Violet schien amüsiert zu sein - »aber wir glauben dennoch an Gastfreundschaft, und das beinhaltet, dass wir falls notwendig mit den Behörden kooperieren. Wir zahlen auch unsere Steuern, und das ziemlich pünktlich.« »Gut zu hören, aber das ist nicht meine Sache. Sie haben 75 es übrigens sehr schön hier. Nur Frauen, wenn ich das richtig verstanden habe. Muss sehr friedlich sein. Gehören Sie zu den Herrnhuter Brüdergemeinen? Ich wusste gar nicht, dass es bei denen auch Nonnen gibt.« »O nein«, rief Schwester Margot. »In diesen Mauern gibt es keine Religion. Wenn ich beten will, gehe ich sogar hinaus. Wir legen großen Wert darauf, niemanden auszuschließen.« »Ausgenommen Männer«, meinte Caxton. Schwester Margot zuckte mit den Schultern. »Sie können eine Ablenkung bei der Arbeit sein, die wir hier verrichten.« »Ich verstehe«, sagte Caxton, obwohl sie ziemlich verwirrt war. »Und was für eine Arbeit ist das? Ich fürchte, ich weiß nicht so viel über Raleigh, wie ich dachte.« »Dies ist ein Zufluchtsort. Die Mädchen, die herkommen, sind alle der dunklen Seite des Lebens begegnet, auf die eine oder andere Weise. Sie brauchen einen Ort, an dem sie weit von den Versuchungen und den Belastungen des modernen Lebens entfernt
sind. Wir bieten Beratung und Therapie an, aber hauptsächlich besteht unsere Arbeit darin, einen anderen Lebensstil zu prägen. Einen einfacheren.« »Also ist das hier ein Rehabilitationszentrum?« Schwester Margots Lächeln verlor an Strahlkraft, aber nur ein wenig. »Eher ist es eine Zuflucht. Ein Schutz vor dem Sturm. Trooper, wir versuchen, eine Oase zur Verfügung zu stellen: vor allen Ablenkungen. Das ist alles.« »Ah, es heißt Special Deputy. Nicht Trooper. Also ist Religion eine dieser Ablenkungen. Aber Sie selbst sind doch eine Gläubige, oder? Ich meine, Sie sind Christin oder so etwas in der Art.« Margots Lächeln kühlte sich noch mehr ab. »Ich habe gewisse Eide abgelegt, ja. Diese Eide verlangen von mir, einen solchen Habit zu tragen. Das Gebäude, in dem wir uns befinden, war einst einem Heiligen Orden geweiht. In der 76 Vergangenheit war es ein Heim für Mädchen, die vom Weg abgekommen waren unverheiratete Mütter, um genau zu sein. In der jüngeren Vergangenheit haben wir sowohl unser Betätigungsfeld als auch unsere Perspektiven ausgeweitet. Wir leisten hier wichtige Arbeit, und sie muss in einer Atmosphäre stattfinden, die völlig frei von sämtlichen Vorurteilen und Urteilen ist. Alle Mädchen, die herkommen, haben in ihrem Leben böse Fehler gemacht. Das Letzte, was sie brauchen, sind Autoritätsfiguren wie Gott -, die sie daran erinnern, wie tief sie gefallen sind.« »Fehler?«, fragte Caxton. »Manche wurden drogensüchtig, andere fielen weniger materiellen Süchten zum Opfer. Einige haben sich auch einfach nur verirrt. Was sie vermutlich als geistig krank bezeichnen würden. Ich habe hier selbst vor Jahren angefangen. Ich litt an Schizophrenie und Größenwahn. Dieser Ort half mir auf unschätzbare Weise.« »Oh«, sagte Caxton. Sie drehte sich auf ihrem Stuhl um und sah das Mädchen hinter sich an. »Warum ist Violet hier?« Das stumme Mädchen griff sich an den Hals und simulierte eine Strangulation. »Sie wollte sich mit Abflussreiniger umbringen«, erklärte Schwester Margot. »Sie hat nur durch einen Akt großer Gnade überlebt, auch wenn sie dadurch nie wieder sprechen wird. Oder normal essen kann.« Violet zuckte mit den Schultern und lächelte wieder so strahlend wie zuvor. »Ich nehme an, dass manche Frauen länger bleiben als andere«, bemerkte Caxton. »So lange sie es müssen. Manche unserer Patientinnen gehen nie wieder.« Unwillkürlich fragte sich Caxton, was Raleigh wohl getan hatte, um an einen solchen Ort geschickt zu werden. »Es ist 76 wichtig, dass ich Raleigh so schnell wie möglich sehe. Auf jeden Fall vor Einbruch der Dunkelheit. Wie lange dauert ihre Sitzung noch?« »Fünfzehn Minuten ungefähr. Man wird sie in der Sekunde zu Ihnen bringen, in der sie fertig ist. Trooper, ich möchte, dass Sie wissen, dass Sie hier willkommen sind, solange Sie hier bleiben müssen. Ich wäre allerdings nicht ganz ehrlich, wenn ich behaupten würde, dass Ihre verlängerte Anwesenheit wünschenswert wäre. Ich mache mir Sorgen, dass Sie einigen der Mädchen Unbehagen bereiten könnten. Ein paar von ihnen haben eine Geschichte mit den Polizeibehörden hinter sich, die alles andere als... lustig ist.« »Ich werde mich so sehr beeilen, wie ich kann, das verspreche ich. Wo kann ich mit Raleigh sprechen?« Schwester Margot sah Violet an. »Bitte such ein Zimmer, wo sie sich unterhalten können, und bereite es mit Kerzen und einem Feuer vor.« Das stumme Mädchen senkte den Kopf und lief los, ohne einen Blick zurückzuwerfen. »Darf ich Ihnen in der Zwischenzeit einen ruhigen Ort anbieten, an dem Sie warten können?«
Caxton holte ihr Handy hervor und warf einen Blick darauf. Der Empfang im Büro war lausig, und sie hatte schon lange nicht mehr mit Glauer gesprochen. »Vielleicht einen Raum mit Telefon?« Schwester Margots Lächeln erlosch für eine Sekunde. »Im Gebäude gibt es nur ein Telefon, und das befindet sich hier, in meinem Büro. Wenn Sie es benutzen möchten, warte ich gern solange draußen auf dem Flur.« Caxton fing an zu protestieren, aber die Nonne ließ ihr keine Gelegenheit. Sie verließ auf der Stelle das Büro. Wie du willst, dachte Caxton und griff nach dem Telefon der Frau. Sie rief im HQ an und ließ sich zu Glauer durchstellen, der tatsächlich ein paar Informationen für sie hatte. 77 »Sie baten darum, dass die Angehörigen der SSU nach potenziellen Vampirverstecken suchen«, sagte er, und eine Sekunde lang verspürte sie Aufregung. »Sie haben einundsechzig Möglichkeiten aufgetan, von Erie bis nach Reading.« »Das ist gut«, erwiderte sie, obwohl die Zahl überraschend groß war. Die Cops, die nebenher für die SSU arbeiteten, mussten jedes verlassene Farmhaus und jede stillgelegte Fabrik im Staat auf die Liste gesetzt haben. Diese vielen Spuren konnte sie unmöglich allein verfolgen. »Rufen Sie Fetlock an. Sagen Sie ihm... nein, vergessen Sie das, bitten Sie ihn höflich - er ist etwas empfindlich -, die Orte von seinen Leuten überprüfen zu lassen. Sie sollen so viele wie möglich vor Einbruch der Dunkelheit abarbeiten. Sie wissen, wonach wir suchen. Orte, die schon seit Jahren nicht mehr in Gebrauch sind, wo es aber Anzeichen für kürzliche Aktivitäten gibt. Sie können diejenigen Orte ausschließen, wo sich die Dorfjugend zum Trinken trifft, auch alles, was von der Hauptstraße aus deutlich sichtbar ist. Das sollte die Suche etwas eingrenzen.« Wie großartig wäre es doch, wenn sie innerhalb der nächsten Stunde das Versteck aufspürten? So, wie sie Jameson kannte, würde seine Unterkunft gut geschützt und vermutlich voller Fallen sein. Aber es gab immerhin Möglichkeiten, damit klarzukommen. Wenn sie bei Tageslicht in das Versteck eindringen konnte, konnte sie Jameson und Malvern noch in ihren Särgen vorfinden, und es würde eine Sache von wenigen Minuten sein, die Herzen von ihren Körpern zu trennen. Die Herzen zu vernichten. Dem allen ein Ende zu bereiten. Dann konnte sie nach Hause fahren. Eine Woche lang schlafen. Dann konnte sie mit Clara allein sein, für eine lange Zeit. Sie konnte alles in Ordnung bringen. Alles, das mit ihrem Leben nicht stimmte. 77 Sie wusste jedoch mit deprimierender Sicherheit, dass dies so nicht geschehen würde. »Jameson ist schlau«, sagte sie. Das sagte sie so oft, dass es geradezu ein Mantra geworden war. »Er wird an keinem der Orte sein, die mir einfallen, oder?« »Wir könnten Glück haben«, sagte Glauer. Caxton schnaubte nur und legte auf. In der folgenden Stille - sie hörte nichts außer dem Prasseln der Flammen - setzte sie sich wieder auf ihren Stuhl und trank in kleinen Schlucken von ihrem Apfelsaft. Sie dachte darüber nach, was Raleigh veranlasst haben konnte, an einen solchen Ort zu kommen und sich auf diese Weise völlig von der Welt abzukapseln. Es ging eine gewisse Verlockung davon aus, wie sie sich eingestand. Allen zu sagen, sie sollten sich zum Teufel scheren. Flüchten und sich vor allen Problemen zu verstecken. Sie hätte das nur zu gern selbst getan. Aber nein. Der einzige Grund, aus dem dieses ehemalige Kloster, das nun einem anderen Zweck zugeführt worden war, überhaupt existieren konnte, bestand darin, dass es da draußen
in der realen Welt Menschen gab, die kämpften und ihr Blut dafür vergossen, damit Schwester Margots Recht garantiert wurde, sicher und immun vor Gefahr und Schaden zu leben. Caxton kannte viele alte Cops - ihr Vater war einer davon gewesen, genau wie alle seine Freunde -, und sie erinnerte sich noch gut daran, dass sie in den siebziger Jahren eine bestimmte Denkweise gehabt hatten, eine Metapher für das, was sie taten. Die moderne Welt mit all ihren Verbrechen, Drogen, der vielen Gewalt und den Irren überall war ein Mülleimer, ein einziger großer, überquellender Mülleimer, der zu klein war, um alles in sich aufzunehmen, der ständig zu bersten und seinen Inhalt auf die Straße zu verteilen drohte. Als Cops wurden sie dafür bezahlt, sich auf den Deckel zu setzen. 78 Und nun war das ihr Job. Es klopfte an der Tür. Es war Schwester Margot. »Raleigh ist jetzt bereit.«
26.
Schwester Margot führte Caxton in einen fensterlosen Raum im ersten Stock, in dem ein Tisch und ein paar unbequeme Stühle standen. Hier war es eiskalt, nur eine Kohlenpfanne in der Ecke sollte den Raum erwärmen. Hohe Kerzenständer flankierten den Tisch und sorgten für etwas Licht. Raleigh saß bereits am anderen Ende des Tisches. Sie begrüßte Caxton herzlich, dann setzte sie sich wieder und lächelte. Caxton zog einen Digitalrekorder aus der Tasche. »In Ordnung, wenn ich den benutze? Mir ist aufgefallen, dass es hier keinen Strom gibt.« »Schwester Margot sagt, wir brauchen ihn nicht. Denn wenn wir ihn hätten, wären wir nur in Versuchung, uns Radios zu besorgen oder sogar einen Fernseher, was ein Fehler wäre. Manchmal glaube ich, sie war eine Amische, bevor sie Nonne wurde. Aber ich vermute nicht, dass das kleine Ding ein Problem sein sollte.« Caxton bedankte sich mit einem Nicken und bereitete den Rekorder vor, stellte ein kleines Mikrofon auf den Tisch, das ihre beiden Stimmen auffing. Sie entschied, sofort zur Sache zu kommen. »Ich wollte Ihnen ein paar Fragen über Ihren Vater stellen. Hatten Sie in letzter Zeit mit ihm Kontakt? Ich meine, vor seiner Verwandlung?« Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Seit etwa sechs Monaten nicht. Die ganze Familie hat sich gewissermaßen entfremdet. Bis vor zwei Tagen hatte ich auch Onkel Angus nicht 78 mehr gesehen - seit meiner Kindheit. Mom sah ich vor ein paar Wochen, aber wir haben uns nicht lange unterhalten, wir waren...« Caxton unterbrach sie; sie wollte nicht über Astarte sprechen. Das brachte vermutlich nur viele emotionale Dinge an die Oberfläche, die sie jetzt nicht gebrauchen konnte. Sie musste das Verhör unter Kontrolle halten. »Wann haben Sie das letzte Mal mit Ihrem Vater gesprochen?« »Ich war in... Belgien«, sagte Raleigh. Ihre Miene verdüsterte sich, als schmerzte sie die Erinnerung. »Sie waren damals auf dem College. Das hat mir Ihr Vater erzählt. Sie waren ein Semester in Übersee.« Raleigh zuckte mit den Schultern. »So hat es angefangen. Ich wollte die großen Künstler studieren. Sie haben viele erstaunliche Museen in Belgien. Waren Sie jemals dort?« Caxton lächelte. »Nein.« Sie war noch nie im Ausland gewesen, außer einem kurzen Besuch in Kanada - als Kind. Sie hatte selbst ihren Heimatstaat nur selten verlassen. »Sie haben also die Museen besucht«, hakte sie nach.
»Ja. Und sie waren wundervoll. Aber man kann sich nicht den ganzen Tag lang Gemälde ansehen und abends Aufsätze darüber schreiben. Ich war mit einer Freundin unterwegs, Jane, und sie...« Caxton holte einen Notizblock aus der Tasche. »Nachname?« Das Mädchen runzelte die Stirn. »Das ist für meine Geschichte ohne Belang.« Caxton lächelte durch die zusammengebissenen Zähne. »Man weiß nie, was wichtig ist. Es sind oft die nebensächlichen Details, auf die es ankommt.« »Plötzlich komme ich mir vor, als würde ich verhört«, sagte Raleigh. Ich habe keine Zeit für diesen Mist, dachte Caxton. »Ich 166 versuche nur so viel zu erfahren wie möglich. Das ist nicht einmal eine offizielle Unterhaltung, einfach nur Hintergrundrecherche.« »Es ist nur... ich will Jane nicht in Schwierigkeiten bringen. Sie... nun ja. Sie lebt so einen bestimmten Lebensstil. Manche Leute halten nichts davon. Es hat damit zu tun, einige sehr alberne Gesetze zu brechen.« »Sie meinen, sie nimmt Drogen«, sagte Caxton. Raleigh sah überrascht aus. »Ja! Woher wussten Sie das?« »Das ist keine Zauberei. Nur Erfahrung.« Sie hörte diese Ausflüchte nicht zum ersten Mal. »Befindet sich Jane zurzeit innerhalb der Grenzen der Vereinigten Staaten?« Raleigh schüttelte den Kopf. »Sie ist also noch immer in Europa?« Das rief ein Nicken hervor. »Dann könnte ich sie nicht einmal festnehmen, wenn ich das wollte. Ich habe dort keine Befugnisse. Aber vergessen wir das mit dem Nachnamen. Erzählen Sie mir einfach, was passiert ist.« Raleigh schaut zur Decke. Sie atmete lange und geräuschvoll aus, dann gab sie sich einen Ruck. »Ich war sehr jung und dumm. Außerdem war ich sehr gelangweilt. Jane und ich teilten uns ein Zimmer in diesem winzigen Haus in Brüssel. Die Miete war lächerlich, aber trotzdem waren wir immer pleite. Wir aßen viel Pommes Frites, weil sie so billig waren - man hat Pommes Frites in Belgien erfunden, wussten Sie das? So billig zu leben war auf mancherlei Weise eine spirituelle Erfahrung. So gut wie nichts zu besitzen befreit einen förmlich. Wir saßen da und unterhielten uns über Kunst, die ganze Nacht. Wir bekamen nicht viel Schlaf, aber am nächsten Tag fühlten wir uns nie müde. Sie wissen ja, wie das ist, wenn man jung ist.« Caxton lächelte und nickte, obwohl sie keine Ahnung hatte. Sie hatte ganz andere Erfahrungen gemacht. 79 »Jane feierte gern. Sie wissen, was ich meine? Zuerst war es nur das Trinken. Wir hatten einen ganz billigen Wein, den es in blauen Flaschen gab, und er schmeckte schrecklich, aber man bekam einen ganzen Kasten für so gut wie nichts. Wir luden Leute ein, andere Studenten, manchmal auch junge Belgier, und wir hatten immer so viel Spaß. Wir lachten und sangen, bis die Leute, die unter uns wohnten, mit dem Besenstil an die Decke klopften, und da mussten wir nur noch mehr lachen. Manchmal brachten die Leute auch andere Sachen mit.« »Sie meinen Drogen.« Raleigh nickte und sah zur Seite »Das war nichts für mich. Ich habe immer abgelehnt. Zuerst jedenfalls. Sie ließen einen Joint herumgehen, er sah einfach eklig aus, und am Ende war jedermanns Spucke dran. Manchmal hatten sie auch Pillen dabei, dann blieben sie tagelang wach. Jane liebte das. Sie liebte es, ihre Hausaufgaben um vier Uhr morgens zu machen, wenn alles still war. Behauptete sie jedenfalls. Der Typ mit den Pillen kam immer öfter vorbei. Sein Name war Piet, und er hatte so schöne Augen. Einmal waren wir in der Küche, und er küsste mich. Dann stand er einfach da und sah mich so lange an, bis es mir peinlich war und ich aus dem Zimmer lief. In derselben Nacht tat er sich mit Jane zusammen, und kurz darauf zog er ein. Er fing an, seine
Freunde anzuschleppen, und ein paar von denen waren, na ja, nicht so nett.« Raleigh fing an, sich an den Armen zu kratzen, während sie erzählte, grub die Fingernägel durch die Ärmel ihres formlosen Kleides in die Armbeugen. »Sie nahmen Heroin. Da drüben ist es nicht wie hier. Man wird nicht gleich als Junkie beschimpft, nur weil man mal was ausprobiert. Zusammen mit Piet fing Jane an zu drücken, und sie hörten auf, die Nächte durchzumachen. Sie sackten einfach auf die Couch und standen nicht mehr auf. Sie hörte auf, zu den Vorlesungen zu gehen.« 80 Caxton seufzte. »Wann haben Sie angefangen, Heroin zu nehmen?« Wieder dieser überraschte Ausdruck, als hätte Caxton ihre Gedanken gelesen. »Das habe ich nicht gesagt. Ich habe nie gesagt, dass ich das getan habe.« »Aber Sie haben es ausprobiert«, sagte Caxton. »Oder?« Raleigh nickte besiegt. »Ja. Sie meinten, es wäre das tollste Gefühl auf der Welt. Sie meinten, man könnte es ein paarmal gefahrlos nehmen, ohne gleich süchtig zu werden. Dass es okay ist, solange man es nur ein paarmal nimmt. Ich dachte... ich meine, das war am Ende des Semesters. Ich dachte, ich versuche es einmal. Vielleicht auch zweimal, falls es mir gefällt. Dann würde ich nach Hause fliegen müssen, da ich bereits den Rückflug gebucht hatte, und ich würde nie wieder in Versuchung geraten.« »Was ist dann passiert?« »Es gefiel mir. Es gefiel mir sehr.« Raleigh schaute nach unten auf ihre Hände. Unter dem Tisch schwangen ihre Füße hin und her. »Ich habe es öfter genommen. Wir hatten kein Geld. Das sagte ich ja schon. Wir konnten uns keine Drogen kaufen und die Miete bezahlen, also musste etwas passieren. Jane überredete mich, die Flugtickets zu Geld zu machen. Wir wollten unseren Eltern sagen, dass wir das Geld für die Miete brauchten. Dann, hofften wir, würden sie uns neue Tickets schicken. Nur dass wir gar nicht mehr nach Hause wollten. Das College rief an und sagte, wenn wir nicht nach Hause kämen, würde man uns rausschmeißen. Da geschah diese merkwürdige Sache, ich wusste, dass alles schrecklich schief lief. Ich wusste es, aber ich konnte nichts dagegen tun. Wenn ich high war, spielte es keine Rolle, und wenn ich herunterkam, dann konnte ich mich einfach nicht genug konzentrieren, um das Nötige zu tun. Wir wurden aus der Wohnung geworfen, weil wir nie die Miete zahlten, und dann lebten wir bei Piet. Und seinen Freunden.« 80 »Wie haben Sie sich Geld besorgt?« Raleigh schaute auf der anderen Seite des Tisches auf und starrte Caxton direkt an. »Das will ich nicht sagen. Nicht, wenn es aufgenommen wird.« »Okay«, sagte Caxton. Im Grunde wollte sie die schmutzigen Details sowieso nicht hören. »Sie haben mich nach meiner letzten Begegnung mit meinem Vater gefragt. Es tut mir leid. Ich bin abgeschweift. Die Antwort ist, ich sah ihn vor etwa sechs Monaten. Er wusste, dass etwas nicht stimmte, als ich nicht nach Hause kam. Er ging zu Vesta Polder und bat sie, sich die Sache einmal anzusehen, nachzusehen, wo ich war. Sie kann so etwas. Aber egal, sie besuchte ihn dann und sagte ihm, sie hätte herausgefunden, wo mein Körper ist, aber meine Seele könnte sie nirgendwo entdecken.« Ihre Stimme wurde schriller, als sie ihre Geschichte beendete. »Daddy kam. Er tauchte auf, und er verletzte ein paar Leute. Ein paar von Piets Freunden. Ich sagte so schlimme Dinge zu ihm, beschimpfte ihn so, aber er hörte mir nicht einmal zu. Er zerrte mich dort heraus und schaffte mich ins Flugzeug. Wir saßen auf der ganzen Rückreise nebeneinander. Ich wurde krank, richtig krank. Ich übergab mich ein paarmal. Er hielt mein Haar zurück, aber er sprach nicht mit mir. Er sagte allen, ich sei bloß... /«//krank. Als wir zu Hause eintrafen, brachte er mich direkt hierher. Er konnte
nicht durch das Tor, aber Schwester Margot warf nur einen Blick auf mich und brachte mich rein. Sie schlossen mich ein paar Tage lang ein, und als ich endlich aus dem Zimmer durfte, warteten sie mit diesen hässlichen Klamotten. Sie sagten, wenn ich hier bleiben wolle, müsste ich mich wie alle anderen anziehen. Ich zog die Sachen an, weil ich etwas brauchte. Ich brauchte etwas, das das Heroin ersetzte. Ich hatte keine Ahnung, worauf ich mich da einlasse. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie viel Angst ich hatte. Jetzt ist aber alles anders.« 81
»Woher wusste Ihr Vater, dass er Sie herbringen kann?« »Vesta empfahl es als einen Ort, an dem ich wieder clean werden könnte. Es ist wirklich ein besonderer Ort. Sie sollten etwas Zeit mit uns verbringen.« »Das würde mir schon gefallen«, log Caxton. »Dies alles geschah also vor sechs Monaten.« Im Sommer 2004. Ein paar Monate vor dem Massaker von Gettysburg. Er hatte Caxton nichts davon erzählt, nicht einmal eine Andeutung. Aber das war keine Überraschung, nicht, wenn man Jameson Arkeley kannte. »Er hat mich gerettet«, sagte Raleigh und lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. Sie sah erschöpft aus, als hätte es sie viel Kraft gekostet, die Geschichte zu erzählen. »Er hat mein Leben gerettet. Und meine Seele.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe gehört, was er Onkel Angus angetan hat. So was Schreckliches. Zu seiner Ehre werde ich drei Wochen fasten.« »Das ist... nett von Ihnen«, sagte Caxton. »Er ist nicht mehr mein Vater. Er ist nicht mehr dieselbe Person, oder?« »Ihre arme Mutter dachte es zumindest«, stimmte Caxton ihr zu. »Meine arme Mutter? Was meinen Sie damit?« Caxton verspürte einen Stich in der Brust. Raleigh wusste es noch nicht. »Es tut mir so leid. Ich bin von der Annahme ausgegangen, dass die Polizei von Bellefonte Sie benachrichtigt hat. Vermutlich wussten die nicht, wo Sie sich aufhalten.« Sie fragte sich, ob sie wohl mit der Hand über den Tisch greifen sollte, um das Mädchen zu trösten. Aber sie tat es nicht. »Ihr Vater hat sie letzte Nacht getötet. Genau auf die gleiche Weise wie Ihren Onkel. Es... es tut mir leid.« Raleigh fing an zu schreien. 81
27-
Schwester Margot stieß die Tür auf, packte Caxton am Arm und riss sie mit Gewalt vom Stuhl. Caxton wehrte sich nicht, sondern ließ sich von der Nonne auf den Flur zerren. Sie wollte nicht herausfinden, zu was Margot in ihrer Aufregung fähig war. Das Gesicht der Schwester war wutverzerrt, ihre zarten Züge angespannt und rot angelaufen. Ihre Augen waren schmale Schlitze, in denen Zorn pulsierte, ihre Lippen waren mit Speichelblasen befleckt. Sie sah aus, als wollte sie irgendeinen schrecklichen Bannfluch verhängen. Dann schaute sie zur offenen Tür zurück, hinter der sich Raleigh mit beiden Händen den Kopf hielt und hemmungslos schluchzte. Margot kämpfte sichtlich um ihre Beherrschung, schloss die Augen und sagte dann in einem süßlich leisen Tonfall: »Ist alles in Ordnung?« Caxton runzelte die Stirn. »Ich hatte eine schlechte Nachricht für sie. Ihre Mutter ist vergangene Nacht gestorben.« Eine Ader in Margots linker Schläfe pochte alarmierend. »Ja«, sagte sie. »Ich weiß.« »Das wissen Sie?« Caxton war verwirrt. »Die Polizei rief in der Nacht an, und als ich sagte, dass sie nicht zu sprechen sei, haben sie mir erzählt, um was es ging. Nach einer Zeit langen Nachdenkens entschied ich
aber, es wäre besser für Raleigh, nicht derart negativen Einflüssen von außen ausgesetzt zu werden.« »Finden Sie das ihr gegenüber fair?« Schwester Margot senkte den Blick. »Sie macht gerade eine weitreichende Therapie wegen Drogenmissbrauchs, und das braucht viel Zeit, Ruhe und Frieden. Das erste Mal, als man wegen ihres Onkels kam, erlaubte ich ihr, zum Tor zu gehen und sich die Nachricht selbst anzuhören. Sie kam sehr 82
verstört zurück. Natürlich hätte ich ihr das mit ihrer Mutter irgendwann erzählt, aber ich habe mich entschieden, dass sie zwei derartige Schocks innerhalb einer so kurzen Zeitspanne völlig aus der Bahn werfen würden.« »Ich verstehe«, sagte Caxton. »Ich war mir auch nicht sicher, ob ich Sie überhaupt mit ihr sprechen lassen sollte. Am Ende wollte ich aber möglichen Ärger mit der Polizei vermeiden. Langsam frage ich mich, ob das nicht ein Fehler war. Sind Sie nun fertig?« »Nein«, sagte Caxton. »Glauben Sie mir, ich würde sie alle hier nur zu gern in Ruhe lassen. Aber ich fürchte, ich werde die Nacht auch noch hier verbringen müssen.« Schwester Margots Miene verfinsterte sich wieder, also fügte sie hinzu: »Das ist ein Notfall. Wissen Sie über Raleighs Vater Bescheid?« »Der Vampir?« »Ja. Es gibt Grund zu der Annahme, dass er herkommen und versuchen wird, ihr etwas anzutun. Offenbar will er seine eigene Familie auslöschen. Würde es nach mir gehen, ich würde Raleigh sofort hier wegschaffen und an einen sicheren Ort bringen.« Margot schien nicht beeindruckt zu sein. »Ich kann Ihnen versichern, dass es keinen sichereren Ort als dieses Haus gibt, vor allem wenn es um seine Sorte geht. Keine Kreatur würde sich jemals über die Schwelle dieses Ortes wagen. Das ist noch immer geweihter Boden. Und da er ein Mann ist, besteht auch nicht die geringste Chance, dass ihn eine der Schwestern hereinbittet.« »Sie meinen, weil er ein Vampir ist, kann er einen Ort nur betreten, wenn man ihn hereinbittet? Das ist ein Mythos«, sagte Caxton. »Sie müssen nicht hereingebeten werden. Sie können überall hin, wohin sie nur wollen. Selbst auf geweihten Boden. Tut mir leid.« »Vielleicht werden wir das ja sehen«, sagte Margot mit ei 82 nem trockenen Lächeln. »Also gut, ich werde einen Schlafplatz für Sie finden...« »Ich muss im selben Raum wie Raleigh schlafen«, unterbrach Caxton sie. »Da könnten Sie es etwas zu eng finden. Sie teilt sich ein sehr kleines Zimmer mit Violet«, warnte Margot. »Das geht schon.« »Wie Sie wollen. Brauchen Sie sonst noch etwas, Special Deputy? Wenn nicht, das Abendessen wird um fünf Uhr aufgetischt. Ich würde es zu schätzen wissen, wenn Sie Raleigh bis dahin in Ruhe lassen. Und bitte, würden Sie etwas für mich tun? Sagen Sie ihr nicht, dass ihr Vater sie Ihrer Meinung nach umbringen will. Das wäre einfach zu viel für ihre geistige Verfassung.« Es klang wie eine schreckliche Idee - Caxton hatte stets nach dem Grundsatz gelebt, dass es immer besser war, wenn man vorgewarnt wurde. Aber sie nickte nur. Als Schwester Margot fertig war, überlegte sie, zu Raleigh zurückzugehen und sie zu trösten, aber dann entschied sie, dass sie nicht die Richtige für diese Aufgabe sei. Stattdessen suchte sie einen Ausgang aus dem finsteren Gebäude und trat in das schwindende Licht des Nachmittags. Es war halb vier, die Sonne hing bereits tief am Himmel und warf lange, scharfe Schatten über den schneeverkrusteten Rasen. Sie spazierte eine Weile herum, sah sich die Mauer an und suchte nach einer Stelle, an der
sich der Vampir einschleichen konnte. Natürlich konnte ein entschlossener Eindringling überall über die Mauer klettern, aber sie glaubte, Jameson würde es auf die verstohlene Weise versuchen. Die größte Schwachstelle, die sie fand, war ein Ziegelbogen jeweils an beiden Enden des Besitzes, durch den der Bach floss. Die Bögen waren nicht höher als neunzig Zentimeter, aber Jameson hätte mühelos durch sie hindurchkriechen können. 83
Es würde so gut wie unmöglich sein, beide Stellen zu bewachen. Es sei denn, sie hatte Unterstützung. Sie musste ein paar Anrufe erledigen. Caxton zog ihr Handy hervor - sie wollte Schwester Margot nicht noch mehr verärgern, indem sie ihr Bürotelefon benutzte - und war nicht überrascht, dass sie selbst außerhalb des ehemaligen Klosters nur schlechten Empfang hatte, bloß einen Balken, und der flackerte ständig. Sie wanderte umher, bis ihre Schuhe völlig durchnässt waren, jagte nach einem besseren Signal. Sie fand es erst in der Nähe des Eisentors, vor dem sie ihren Wagen abgestellt hatte. Sofort piepte das Telefon und teilte ihr mit, eine Nachricht warte auf sie. Sie kam von Clara. »Hey, Süße, ich hoffe, du hast einen schönen Tag. Ich bin vorhin in deinem HQ gewesen, um mit deinen Forensikleuten zu sprechen. Ich hab sie zwar verpasst, aber sie haben einen Bericht hinterlassen. Zwei Dinge darin klingen wichtig. Sie konnten den Halbtoten aus dem Motel nicht identifizieren, aber sie versuchen seinen Schädel wiederherzustellen, um am Computer eine Gesichtsrekonstruktion machen zu können. An deiner Stelle würde ich mir aber keine allzu großen Hoffnungen machen - sie sagten, das würde Tage dauern. Außerdem konnten sie die Fasern aus dem Motelbadezimmer identifizieren. Sie fanden drei verschiedene Arten von Fasern: Baumwolle, Nylon und ein aromatisches Polyamid, äh, das dem Bericht zufolge den Handelsnamen Twaron trägt. Ich hoffe, das hilft.« Caxton biss sich auf die Lippe. Natürlich half das überhaupt nicht. Es war genau so, wie sie Fetlock gesagt hatte. In diesem Fall war eine Fasernanalyse nutzlos. Sie rief Clara an, um ihr trotzdem für ihre Hilfe zu danken, erreichte aber nur ihre Voicemail. Sie hinterließ eine kurze Nachricht, legte auf und wählte Fetlock. »Ich habe den Ort gesichert, soweit das möglich ist«, sagte J83 sie, als er wissen wollte, wie sie Raleigh zu beschützen dachte. »Ich habe da ein paar Ideen, wie ich mit ihm umgehe, falls er auftaucht. Auch wenn ich mich ehrlich gesagt nicht besonders darauf freue.« »Verständlich.« »Die Sache, die mir im Augenblick wirklich Sorgen bereitet, ist, dass ich zwar weiß: er wird Raleigh und Simon jagen. Aber ich weiß nicht, bei wem er zuerst zuschlägt. Ich könnte genau in diesem Augenblick am falschen Ort sein und Däumchen drehen.« »Das werden Sie bald genug herausfinden.« »Ja.« Caxton rieb sich die Augen. Sie brauchte Schlaf. Nun, sie brauchte bereits Schlaf, seit Arkeley den Fluch angenommen hatte. Seit Gettysburg. Sie lernte, jede Nacht nur mit ein paar Stunden auszukommen. »Hat Glauer Sie wegen der Überprüfung möglicher Verstecke angerufen?« »Ja, ich habe ein paar Leute darauf angesetzt.« Caxton schloss die Augen. »Wie viele Leute denn? Wissen sie, wie gefährlich das sein kann? Wie viele Orte können vor Einbruch der Dunkelheit überprüft werden?« »Lassen Sie das meine Sorge sein. Sie haben genug zu tun.« Caxton hielt das Handy vom Gesicht weg und versuchte nicht zu schreien. Natürlich würde sie sich darüber Sorgen machen. Das war ihr Fall. Sie wollte einige Dinge erwidern. Dann dachte sie noch einmal darüber nach uns sagte stattdessen nur: »Okay, gut. Haben Sie einen Deputy nach Syracuse geschickt, um Simon einzusammeln?«
»Das... habe ich... getan«, erwiderte Fetlock. Sein Tonfall verriet Caxton, was passiert war. »Er hat also jede Schutzhaft abgelehnt.« Scheiße, dachte sie. Das war ihre Schuld. »Man sagte mir, er würde sich weigern, seinen derzeitigen Aufenthaltsort zu verlassen. Er säße an einem Experiment, das 84
er nicht aus den Augen lassen könnte. Ist Simon denn Wissenschaftler?« »Er studiert auf dem College. Sorgt sich Vermutlich , eine Zwei in Geologie zu bekommen oder so. Nicht unbedingt der vernünftigste Kerl, der mir bislang begegnet ist.« Fetlock versuchte aufmunternd zu klingen. »Ich habe drei Einheiten abgestellt, um seine Wohnung zu überwachen, in Schichten. Er wird rund um die Uhr überwacht. Sollte Jameson dort auftauchen, stehen wir für ihn bereit.« Sie dachte an die Cops, die sie losgeschickt hatte, um Astarte zu beschützen. »Nein. Wir stehen Vermutlich keineswegs - bereit. Sollte er Simon heute Nacht besuchen, dann weiß ich nicht, was passieren wird.« »Was wollen Sie also tun, Special Deputy?« »Ich kann nicht zugleich an zwei Orten sein«, sagte Caxton. »Und ich bin bereits hier. Ich bleibe in Verbindung, Deputy Marshal.« »Ich bitte darum«, erwiderte Fetlock und legte auf. Sie machte noch ein paar Anrufe und traf Vorbereitungen für die kommende Nacht, dann ging sie zurück ins Haus - es war Zeit zum Abendessen.
28.
Das Abendessen im Kloster war schlicht, ein grüner gemischter Salat, Gerstensuppe und körniges Brot, das Caxton immer wieder kauen musste, bis es weich genug war, um heruntergeschluckt werden zu können. Sie saß mit zwanzig Mädchen an einem Tisch. Alle trugen Kleider in Übergröße, die sie vom Hals bis zu den Knöcheln verhüllten. Offenbar war attraktive Kleidung eine Ablenkung und musste 84
darum in dieser Zuflucht gemieden werden. Keines der Mädchen sprach auch nur ein Wort beim Essen, aber sie alle starrten Caxton mit großen Augen an und fragten sich vermutlich, was sie hier zu suchen hatte. Raleigh saß ihr gegenüber, suchte während der Mahlzeit aber keinen Blickkontakt. Die eine lange Wand wurde von hohen Bogenfenstern gesäumt. Dahinter lag nur tiefe Dunkelheit. Falls Jameson sich durch eines davon warf, falls er diesen Augenblick gewählt hatte, um seine Tochter anzugreifen, würde Caxton nur wenig tun können, um ihn aufzuhalten. In der Dunkelheit würde sie sich klar im Nachteil befinden. Für sie war der Speisesaal eine riesige Höhle mit ein paar flackernden Kerzen. Für einen Vampir würde er aber strahlend hell sein - selbst im tiefsten Dämmerlicht konnten sie Menschenblut leuchten sehen. Um alles noch schlimmer zu machen - falls Jameson angriff - würde der Raum voller panischer Mädchen sein, die alle durcheinander liefen. Bei einer solchen Menge konnte Caxton unmöglich schießen, nicht, wenn sie nicht Raleigh oder eine der anderen Schwestern treffen wollte. Also war sie erleichtert, als sich die Schwestern eine nach der anderen von den langen Tischen erhoben und den Speisesaal wortlos verließen. Sie stapelten ihre Suppenschüsseln und ihre Teller auf ein hohes Metallregal neben der Tür und gingen nacheinander hinaus. Als nur noch wenige da waren, die mit ihrem harten Brot kämpften, brachte auch Caxton ihr Geschirr weg und trat zu Raleigh. Das Mädchen saß allein da, die Arme um den Oberkörper geschlungen, und starrte auf die raue Tischoberfläche. Vor ihr stand kein Essen, nur ein zur Hälfte gefülltes Glas mit
warmem Wasser. Caxton erinnerte sich, dass sie im Gedenken an Onkel Angus fastete, vielleicht auch im Gedenken an ihre Mutter. Vermutlich musste sie diese Art der Ehrerbietung respektieren, obwohl sie bezweifelte, dass ein Arzt ihre Mei 85 nung geteilt hätte - Raleigh konnte nicht mehr als hundert Pfund wiegen, eine Tatsache, die nicht einmal ihre voluminöse Kleidung zu verbergen vermochte. Caxton berührte sie an der Schulter, und sie schaute auf und nickte, dann stand sie auf und ging in Richtung Tür. Caxton folgte ihr dichtauf und wandte nur einmal den Kopf, als sie bemerkte, dass Violet ihnen in dezentem Abstand folgte. Die meisten Mädchen waren nach dem Abendessen auf dem Weg in den Gemeinschaftsraum, wo sie lesen oder sich leise unterhalten konnten. Sonst gab es nicht viel, das ihnen erlaubt war. Sie durften nicht einmal Brettspiele machen oder Karten spielen; als Caxton sich nach dem Grund erkundigte, deutete Raleigh auf ein Mädchen namens Kelli, das allein auf der gegenüberliegenden Zimmerseite saß und in die Luft starrte. »Sie ist hier, weil sie süchtig nach Internetspielen war. Sie hat in sechs Monaten einen ganzen Treuhandfond durchgebracht, dann hat sie angefangen, sich Geld zu leihen, das sie nicht zurückzahlen konnte. Wenn wir auch nur Quartett spielen würden, würde sie nach jemanden suchen, der mit ihr wettet, wer gewinnt und wer verliert.« Eins nach dem anderen gingen die Mädchen zu Bett, allein oder in kleinen Gruppen. Es war noch nicht ganz acht Uhr, als Raleigh verkündete, müde genug zum Schlafen zu sein. Es war klar, dass Caxton die Nacht in Raleighs Zimmer verbringen würde. Caxton war davon ausgegangen, dass das Mädchen misstrauisch sein würde, nachdem sie davon erfuhr -sicherlich musste sie vermuten, dass etwas nicht stimmte. Aber Raleigh hatte nicht eine einzige Frage gestellt, Caxton nicht einmal fragend angesehen. Sie hatte die weitere Anwesenheit der Polizistin einfach als Tatsache akzeptiert. Violet saß in einem massiven Holzstuhl auf dem Korridor, der größer als sie selbst war, und wartete. Als sie kamen, sprang sie auf und rannte zu ihnen. 85 »Was ist mit ihr?«, flüsterte Caxton und wies mit dem Kopf in Violets Richtung. »Sie hat Abflussreiniger getrunken und...« »Nein, das hat mir schon Schwester Margot erzählt. Ich meine, soll sie uns im Auge behalten oder so? Irgendwie finde ich sie beunruhigend.« Raleigh zuckte mit den Schultern. »Schwester Margot würde uns nie nachspionieren. So ist sie nicht.« »Okay«, sagte Caxton. Sie war aber nicht davon überzeugt. »Davon abgesehen ist Violet harmlos. Ich glaube, man könnte sagen, sie ist etwas verrückt.« Das glaubte Caxton sofort. »Ich hab sie einmal gefragt, warum sie das getan hat«, fuhr sie fort. »Sie kann natürlich nicht reden, aber sie kann ganz gut schauspielern. Sie rollte so mit den Augen und seufzte dramatisch, was meiner Meinung nach bedeutete, dass sie es einfach getan hat, weil sie sich langweilte. Eines der anderen Mädchen hat mir erzählt, dass Volet die Tochter einer der reichsten Familien in Ohio ist. Sie haben sie hergeschickt, damit sie die Ruhe bekommt, die sie braucht.« »Wäre da eine Psychotherapie nicht die bessere Wahl gewesen?« Raleigh schüttelte den Kopf. »Sie war viermal in der Woche beim Therapeuten, als sie... als sie sich selbst wehgetan hat. Aber sehen Sie doch, wie glücklich sie hier ist.« Hinter ihnen verharrte Violet mitten im Schritt und strahlte Caxton an, entblößte viele große weiße Zähne.
»Dieser Ort hier bewirkt Wunder«, sagte Raleigh. Ihre Augen schimmerten feucht. Wenn ich mehr als eine Nacht hier verbringen muss, dachte Caxton, fange ich an, um einen
Vampirangriff zu beten. Nur damit die Langeweile aufhört.
Sie hatten das Zimmer erreicht, das sich Raleigh und 86 Violet teilten. Die Tür ähnelte Dutzenden anderer auf dem Korridor. Die Kammer erwies sich als etwas größer als ein Kleiderschrank. Es gab zwei Holzpritschen mit dünnen Matratzen und noch dünneren Laken; auf der Seite, die der Tür gegenüberlag, war ein winziger Kohlenofen an der Wand festgeschraubt. Es gab keine Fenster und definitiv keinen Platz für einen Tisch oder Stühle oder eine dritte Pritsche. Caxton runzelte die Stirn, als sie begriff, dass sie entweder auf dem Boden oder draußen im Korridor schlafen musste. Im Korridor war es aber eiskalt - der Ofen würde sie wenigstens während der Nacht warm halten. »Ich sehe kein Badezimmer«, sagte Caxton und versuchte Raleigh anzulächeln. »Kann ich mich vor dem Schlafengehen irgendwo waschen? Und haben Sie vielleicht eine Zahnbürste für mich?« Es war eine Weile her, und vermutlich stank ihr Atem allmählich. Raleigh gab ihr, was sie brauchte, einschließlich eines Waschlappens und eines Stückes organischer, reizfreier Seife. Das kam alles in einen süßen kleinen Plastikeimer. Dann zeigte sie auf einen Gemeinschaftswaschraum, in dem sich ein halbes Dutzend Mädchen in verschiedenen Stadien der Entkleidung fürs Schlafengehen bereitmachten. Es gab eine einzige Badewanne, die in ständigem Gebrauch war. Caxton wollte nicht ewig warten, bis sie dran war, also nahm sie ein Discobad - eine ordentliche Portion Wasser ins Gesicht und ein paarmal mit dem Waschlappen unter den Achseln durch und ging zurück ins Zimmer. Raleigh und Violet lagen bereits zusammengerollt und mit geschlossenen Augen auf ihren Pritschen. Sie hatten ihre hässlichen Kleider mit Flanellnachthemden vertauscht. »Gute Nacht«, sagte Caxton, aber Raleigh antwortete nicht - vielleicht schlief sie schon. Volet öffnete ein Auge und blinzelte ihr verschwörerisch zu, dann machte sie es wieder zu und fing an zu schnarchen. 86 Caxton schloss die Tür, was den Raum in eine fast vollständige Finsternis tauchte. Nur ein orangeroter Schimmer kam vom Rand der Ofentür. Sie setzte sich zwischen beiden Pritschen auf den Boden und legte die Beretta zwischen die Knie. Sie hatte nicht die Absicht zu schlafen, zumindest nicht so lange, bis sie sicher war, dass Jameson nicht in dieser Nacht angriff. Sie lehnte sich an die Wand, wobei sie darauf achtete, dem Ofen nicht zu nahe zu kommen, und wartete. Dann passierte nichts. Nichts. Gar nichts. Irgendwann wurde sie sich bewusst, dass ihr Kinn ihre Brust berührte. Ihr Mund hing ein Stück offen, Speichel sickerte auf ihr Hemd herunter. Plötzlich setzte sie sich auf und schlug mit dem Kopf gegen die Wand hinter sich. War sie eingenickt? Und wenn ja, wie lange? Sie starrte wild um sich, hoffte verzweifelt, dass Jameson sie nicht schlafend erwischt hatte. Aber nein, beide Schwestern lagen noch immer schlafend auf ihren Pritschen. Mit einer Hand das Hemd abwischend zwang sie sich in die Höhe, bis sie stand. Der abrupt beendete Schlaf ließ ihren Kopf wie eine Glocke dröhnen, und nun konnte sie förmlich fühlen, wie das Blut nach unten in ihre Beine schoss. Irgendwann würde sie acht Stunden Schlaf an einem Stück bekommen, versprach sie sich. Etwas kaltes Wasser im Gesicht würde ihr gut tun, also öffnete sie leise die Tür und trat in den
Korridor hinaus. Eine Kerze in einer Sturmlampe stand am Ende des Ganges und sorgte für gerade genug Licht, damit sie den Weg ins Badezimmer finden konnte. Auf halbem Weg hörte sie in der Dunkelheit einen Schrei. 87
29«
Caxton rannte mit gezogener Pistole los, obwohl sie in dem finsteren Korridor kaum etwas sehen konnte. Der Laut war aus der Ferne gekommen, vielleicht aus einem ganz anderen Teil des Gebäudes. Sie hatte sich mit dem Grundriss von jedem Stockwerk vertraut gemacht und wusste, dass es an beiden Enden des Gebäudes Schlafräume gab. Im Dunkeln zur anderen Seite zu gelangen würde schwierig werden, und wenn der Schrei nicht noch einmal ertönte, würde sie vermutlich niemals erfahren, aus welchem Zimmer er gekommen war. Sie blieb stehen, versuchte nicht zu schwer zu atmen, und lauschte. Da - da hörte sie ihn erneut. War es ein Schmerzensschrei oder war es Angst? Sie vermochte es nicht mit Sicherheit zu sagen. Dieses Mal schien es aus einem Zimmer in der Nähe zu kommen. Angespannt schloss sie die Augen und... ja, da. Sie sprintete den Korridor entlang, bog um eine Ecke und fand sich in einem weiteren beinahe lichtlosen Gang wieder, in dem genau wie zuvor schmale Türen zu den Zimmern der Mädchen führten. Was würde sie tun, wenn sie Jameson in einem der Räume fand, wie er gerade jemanden in Stücke riss? Natürlich würde sie schießen, aber würde das etwas nützen? Sie hatte ihm auf kürzeste Distanz ins Herz geschossen und auch nichts erreicht. Wieso sollte es dieses Mal anders sein? Aber sie hatte keine Ahnung, was sie sonst tun sollte. Jetzt war nicht der Augenblick darüber nachzudenken, rief sie sich zur Ordnung. Sie zwang sich zur Konzentration, lauschte wieder angestrengt. Sie hatte keine Wahl. Schließlich hatte sie einen Eid abgelegt, Menschen vor den Vampiren zu 87 schützen. Mit fest zusammengekniffenen Augen lenkte sie jeden Funken Aufmerksamkeit auf ihr Hörvermögen. »O mein Gott!« Ein Ausruf der Verzweiflung. Sie stürmte in die Dunkelheit. Ihre Gummisohlen klatschten auf den Fliesenboden, und sie fragte sich, ob Jameson sie kommen hörte. Der Schrei war jetzt lauter, ertönte immer wieder... »O mein Gott!« Dieses Mal war es beinahe ein Seufzen, und dann hörte sie etwas lauter: »Niemals!« Caxton erreichte die Tür, von der sie überzeugt war, dass sich dahinter die Quelle der Schreie befand. Die Waffe bereit griff sie nach dem Türknauf, um die Tür aufzustoßen und zu erfassen, was auch immer sich dort verbarg. Aber da war etwas, das sie an den Lauten störte. Es klang eher... »Du bist so was von erledigt«, sagte jemand hinter der Tür. Caxton stieß die Tür mit der Schulter auf. Sie war nicht verschlossen. Sechs Mädchen saßen mit angezogenen Knien auf den beiden Pritschen und sahen verängstigt aus. Eine von ihnen hielt eine billige Taschenlampe, die weniger Licht als der Kohlenofen verbreitete. Auf dem Boden zwischen den Pritschen lag ein Haufen alter, sehr zerfledderter Magazine. Aufgeschlagen zeigten sie Bilder verschiedener Filmstars. Brad Pitt. Angelina Jolie. Tom Cruise. Eines der Mädchen hielt eine angezündete Zigarette wie einen Joint. »Bitte, nicht«, flüsterte eine der anderen. Ihre Lippen wiesen Lippenstift auf, sie rieb sich jetzt hastig mit dem Handrücken darüber und versuchte ihn abzuwischen. »Bitte, sagen Sie nichts. Oh, bitte. Wir bekommen solchen Arger...«
Caxton verließ das Zimmer und zog die Tür hinter sich zu. Von innen hörte sie verzweifeltes Geflüster. Kopfschüttelnd ging sie langsam zu Raleighs Kammer zu 88 rück. Es war nicht das gewesen, was sie gedacht hatte. Sie hatte so sehr mit einem Vampirangriff gerechnet, dass sie jeder Laut alarmiert hätte. Jetzt fragte sie sich, ob Jameson überhaupt in der Nähe war. Er konnte Meilen weit entfernt sein. Er konnte oben in Syracuse sein. Der Gedanke ließ sie frösteln. Vielleicht war es aber auch nur die kalte Luft in dem Kloster. Sie rieb sich die Arme und schwang sie hin und her, versuchte ihren Kreislauf in Schwung zu bringen. Sie bog um die Ecke und versuchte sich zu erinnern, welches Zimmer Raleigh bewohnte. Alle sahen gleich aus. Violet löste das Problem für sie, indem sie in diesem Augenblick die Tür öffnete und den Kopf hinaussteckte. Ihre Augen waren weit aufgerissen. Caxton eilte zu dem stummen Mädchen und fragte, was los sei. Als Antwort öffnete Violet die Tür ganz und trat zur Seite, ließ Caxton in den kleinen Raum sehen. Der Ofen glühte fröhlich, und sein Licht zeigte deutlich, dass beide Pritschen leer waren. »Wo ist Raleigh?«, fragte Caxton. Vielleicht war sie ja einfach nur zur Toilette gegangen. Vielleicht hatte sie nicht schlafen können und machte einen kleinen Spaziergang, um den Kopf klar zu bekommen. An die letzte Möglichkeit wollte Caxton gar nicht denken, so schrecklich war sie. Violets Miene drückte zum ersten Mal, seit Caxton sie kannte, Besorgnis aus. Sie schüttelte den Kopf, dann hob sie die Hände zu einer Geste der Unterordnung. Caxton runzelte die Stirn, was die Aufregung des Mädchens nur noch verstärkte. Violet hielt eine Hand hoch und zeigte mit Zeigefinger und Ringfinger nach unten. Sie bewegte sie eifrig und stellte dar, wie sich jemand leise davonschlich, um nicht gehört zu werden. »Okay, danke«, sagte Caxton. Dann lief sie los, blieb aber 88 sofort wieder stehen. Eigentlich hatte sie keinen Grund zu der Annahme, dass Raleigh in Gefahr schwebte. Es gab keinerlei Hinweis, dass sich Jameson im Haus befand. Aber sie hatte die Verpflichtung, die Bewohner zu beschützen. Das war wichtiger als ihr Wunsch, ihren Schlaf nicht zu stören. »Geh und wecke Schwester Margot«, sagte sie und starrte Violet in die Augen, bis die Stumme nickte. »Sag ihr... sag ihr, es könnte hier Schwierigkeiten geben.« Dann rannte sie los. Raleigh konnte überall sein. Falls nötig würde sie das ganze Gebäude durchsuchen. Zurück um die Ecke. Den Korridor entlang, der zu dem anderen Flügel führte vielleicht war Raleigh ja bloß zu einer mitternächtlichen Magazinsession in einem der anderen Zimmer gegangen. Und vielleicht war sie unterwegs zu ihrem Vater, um ihm zu sagen, dass sie gern Vampirin werden wollte, ja, bitte. Nein. Das war unmöglich. Caxton hatte das Mädchen gut genug kennengelernt, um zu wissen, dass sie nicht fähig war, eine solche Entscheidung von sich aus zu treffen. Simon hingegen ... aber Simon befand sich in einem anderen Bundesstaat unter Polizeischutz. Keine Zeit, sich jetzt um Simon zu sorgen. Caxton ergriff eine Kerze, die oben auf dem Geländer der Haupttreppe brannte, musterte sie einen Augenblick lang, schüttelte dann den Kopf und stellte sie zurück. In ihrer Tasche steckte eine kleine Maglite, und sie hatte keine Angst, sie zu benutzen. Sie eilte die Stufen hinauf, schaltete sie an und ließ den Strahl über die langen, weiß gestrichenen Wände streifen.
Die zweite Etage war menschenleer und so still, wie es sich gehörte - alles nur Therapieräume. Alle kalt und verlassen. Caxton eilte weiter. Der erste Stock mit den Mädchenzimmern (die sie bereits überprüft hatte), einer großen, ungenutzten Bibliothek und ein paar Yogaräumen war ebenfalls 89 verlassen, auch wenn im Zentralkorridor das Schnarchen der Mädchen deutlich zu hören war. Caxton starrte ins Zwielicht, hielt Ausschau nach halb geöffneten Türen oder verstohlen eingedrückten Fenstern. Aber da war nichts zu sehen. Das Erdgeschoss. Die Halle war leer. Die Büros auch - die Tür zu Schwester Margots Büro stand weit offen, und Caxton warf einen Blick hinein, fand aber nichts. Sie eilte in den anderen Flügel und den großen Speisesaal. Die langen Holztische waren abgeräumt und die Wagen mit dem Geschirr schon vor Stunden weggebracht. Caxton studierte die langen Schatten des großen Raums mit ihrer Minitaschenlampe, fand aber nichts, nicht mal eine Maus. Sie drehte sich um, unsicher, wo sie jetzt suchen sollte, als ein Laut sie zusammenschrecken ließ. Es war ein Laut, der sie auch sonst hätte zusammenschrecken lassen, aber in diesem besonderen Augenblick ließ er sie vor Angst beinahe aufschreien. Es war der Laut eines Löffels, der auf dem Steinfliesenboden landete. Ein klirrender, hallender Laut, in dem stillen Speisesaal erklang es aber so ohrenbetäubend wie ein Kanonenschuss. Caxton stürmte durch den großen Raum und stieß die Tür am anderen Ende mit der Schulter auf. Dahinter befand sich die Küche - ein Raum voller großer Arbeitstische und breiter Spülbecken. Von der Decke baumelten Eisentöpfe und Pfannen. Caxtons Lichtstrahl brach sich an dem hängenden Geschirr und zeigte ihr seltsam geformte Ausschnitte der dahinter liegenden Wand. Sie eilte zur Seite des Raums und dann weiter in sein Inneres, wo die Lebensmittel in einer gewaltigen begehbaren Speisekammer aufbewahrt wurden. Caxton befeuchtete sich die Lippen. Plötzlich waren sie sehr trocken. Sie bewegte sich langsam und lautlos auf die Tür zu, die einen Spalt offen stand - und riss sie ganz auf. 89 Der Strahl ihrer Taschenlampe traf Raleigh wie ein anklagender Finger; sie kniete auf dem Boden, das Gesicht vor Entsetzen verzerrt. In der einen Hand hielt sie ein geöffnetes Glas Honig. Es war ihr Löffel gewesen, der heruntergefallen war. »Wollten Sie nicht zum Andenken Ihres Onkels fasten?«, fragte Caxton. Sie war plötzlich sehr wütend, rang um ihre Beherrschung. »Wissen Sie, wie schwer es ist, drei ganze Wochen nichts zu essen?«, fragte Raleigh zaghaft. »Kommen Sie«, sagte Caxton. Sie hatte genug von den mitternächtlichen Eskapaden der Mädchen. »Wir gehen zurück zu Ihrem Zimmer. Sie werden dort in dieser Nacht schlafen, und wenn ich mich auf Sie draufsetzen muss.« Sie griff nach Raleighs Arm, nicht allzu grob, und zerrte sie auf die Füße. Das Mädchen riss sich nicht los, als Caxton sie durch den Speisesaal und dann weiter zur Treppe führte. Aber unmittelbar vor der Halle ergriff Raleigh Caxtons Arm und schüttelte den Kopf. »Haben Sie etwas gehört?«, fragte Caxton. Als sie eine Sekunde lang lauschte, hörte sie es auch. »Was ist das?« Jetzt klang es wie ein erbarmungswürdiges Würgen und Zischen, das nicht im Mindesten auf ein Tier hindeutete. Caxton stieß die Tür auf und ließ den Lichtstrahl umherwandern. Er traf Violet, die auf den unteren Stufen der Treppe lag und mit den Armen um sich schlug, da sie versuchte,
einen brutalen Angriff abzuwehren. Caxton richtete das Licht ein Stück weiter zur Seite - und sah Jameson Arkeleys rote Augen heller brennen als die Kerze im Raum, während er sich über das Mädchen beugte. 90
3o.
Caxton hob die Waffe und schoss auf Jamesons Herz. Die Kugel riss sein schwarzes Hemd auf, nur ein paar Zentimeter daneben. Der Vampir fuhr herum und starrte sie an. Aber sie griff mit der freien Hand bereits nach dem Amulett um ihren Hals. Es fühlte sich warm an, was bedeutete, dass es wirkte. Violet wand sich und schob sich die Stufen hinauf. Ihre Gesicht war angstverzerrt, ihre Hände griffen ins Leere. Caxton feuerte erneut, und dieses Mal traf sie ihr Ziel. Die Kugel prallte jedoch von seiner Brust ab und verschwand in der Dunkelheit. Wie war das möglich? Jameson krümmte sich zusammen wie eine Raupe im Feuer, aber nur ganz kurz. Er richtete sich schnell wieder auf - und dann war er über ihr. So schnell war er. Sie fühlte einen kalten Windstoß, und dann lag sie auf dem Boden, der Vampir auf ihr; er klemmte ihre Schusshand fest, seine Zähne berührten ihre Wange. Er fühlte sich kalt und falsch an, und er stank nach Tod. Sein Gewicht drückte auf ihr Handgelenk, auf ihre Sehnen. Ihre Finger verkrampften sich und öffneten sich ruckartig, die Beretta klirrte zu Boden. Er schnappte sie und warf sie in die Dunkelheit. Stumm hielt er sie fest, während sie sich wehrte. Er war beträchtlich schwerer als sie, aber eigentlich hielt sie seine Kraft fest - genauso gut hätte sie gegen eine Granitstatue kämpfen können. Sie kniff die Lider fest zu, drehte das Gesicht dem Boden entgegen und versuchte den freien Arm hochzubringen, um ihre Augen zu schützen, aber er schnappte sich einfach ihr Handgelenk und knallte es schmerzhaft auf die Fliesen. Ihre Taschenlampe rollte weg. Sie konnte Violet auf der Treppe keuchen hören. Sie konnte 90 ihren eigenen hechelnden Atem hören. Sie konnte ihren Herzschlag im Hals pochen hören. Jameson war so stamm wie eine Gruft. Dann zog er sich um den Bruchteil eines Zentimeters zurück. Genug, dass sie sich auf die Seite drehen konnte. Nicht genug aber, um die Beine anzuziehen. »Ich habe Sie gewarnt, es sein zu lassen«, sagte er, »aber Sie wollten ja nicht hören. Ein Teil von mir will Sie noch immer nicht töten. Können Sie das glauben?« Sie gab keine Antwort - sie konnte es einfach nicht. Aber dann schüttelte er sie grob. »Ja«, stieß sie mühsam hervor. »Dieser Teil wird aber jede Nacht kleiner. Der andere Teil von mir, der Fluch, wird stärker. Gerade beschwört er mich, Ihre Halsarterie aufzureißen. Ihr Blut zu schlürfen. Ich kann mir vorstellen, wie gut sich das anfühlen würde. Wie gut es schmecken würde. Es könnte auch einige Probleme lösen. Es dürfte meine Aufgabe erleichtern.« Er versuchte sich selbst davon zu überzeugen, sie zu töten. Das wurde ihr klar. Er steigerte sich hinein. Sie musste sich schnell etwas einfallen lassen. »Sie haben das getan, um mich zu retten«, sagte sie. »Sie haben den Fluch angenommen, um mein Leben zu retten. Wenn Sie mich jetzt töten, bedeutet dieses Opfer gar nichts.« »Ich habe Ihr Leben schon einmal verschont, im Motel. Vielleicht sind wir damit ja quitt.« Sie schüttelte den Kopf. »Und was ist mit dem Haus Ihrer Frau? Sie haben sieben Halbtote zurückgelassen, die mich töten sollten.«
»Ich wusste, dass Sie mit denen fertig werden. Die waren nur da, um meine Flucht zu decken. Und nun... Pst!«, flüsterte er und fuhr mit einem Finger ihre Wange entlang. Er fand ihren Puls und tippte in Übereinstimmung mit ihrem 91 Herzschlag gegen die Haut. Wie sie nur zu genau wusste, war sein Fingernagel schärfer als eine Wolfskralle. Er konnte sie genau dort aufschneiden und das Blut herausspritzen lassen. Wenn er sie aber kratzte, wenn er auch nur einen Tropfen Blut vergoss, würde ihn nichts mehr zurückhalten können. Er würde ihr Blut riechen, wie es warm und frisch über ihre Haut lief, und es würde ihn in Raserei verfallen lassen. Welche moralischen Skrupel er auch immer gehabt hatte, sie würden ihn dann nicht mehr aufhalten können. Das wusste er auch. Er nahm den Finger von ihrem Hals, dann legte er den Nagel wieder an ihre Haut. Er fühlte sich kalt und hart an. Er fing an zuzudrücken, erst ganz sanft. Aber sie wusste, dass er jeden Augenblick anfangen würde sie zu schneiden. »Daddy«, sagte da Raleigh. Caxton hatte die Augen noch immer geschlossen. Sie konnte das Mädchen nicht sehen. »Daddy, bitte, nicht. Ich tue, was immer du willst. Aber tu ihr nicht weh.« Caxton wollte laut Nein schreien, wollte Raleigh befehlen wegzulaufen. Aber sie schien die Worte nicht herauszubekommen. »Bitte, Daddy.« Jameson nahm den Finger von Caxtons Hals. Die verstümmelte Fläche seiner linken Hand nagelte noch immer ihr Gelenk auf den Boden. Sie konnte fühlen, wie sich sein Körper bewegte, und zwar fort von ihr, aber er hielt sie noch immer fest. »Raleigh, ich will dir etwas geben«, sagte er. »Etwas Wunderbares. Ich war nie ein guter Vater.« »Nein, Daddy, sag so etwas nicht.« Caxton fühlte, wie er am ganzen Leib bebte. »Ich war sogar ein ganz lausiger Vater. Aber ich kann es jetzt wieder gut machen. Komm her. Komm näher.« 91 »Nein!«, kreischte Caxton, und im gleichen Augenblick krachte etwas Hartes und Metallisches gegen Jamesons Schädel. Sie riss die Augen auf und sah Violet über ihnen stehen, einen gewaltigen gusseisernen Kerzenständer in beiden Händen. Eine der Kerzen steckte noch in ihrem Halter und flackerte wild. Jameson sprang von Caxton herunter, um dem nächsten Angriff des Mädchens auszuweichen. Er lachte, als sie mit dem Kerzenständer wie mit einer Harke durch sein Gesicht fuhr, lachte wieder, als sie damit weit über ihrem Kopf ausholte und gegen sein Ohr schlug. »Raleigh«, brüllte Caxton und rollte sich auf den Bauch, »hauen Sie ab.« Jamesons Tochter nickte und verschwand wieder hinter der Tür. Caxton brachte die Füße unter ihren Körper. Halb kroch, halb rannte sie zu der Stelle, wo sie glaubte, dass Jameson dort ihre Waffe hingeworfen hatte. In der dunklen Halle konnte sie sie nicht sehen. Aber sie musste sie finden. Sie wusste, ihr blieben nur Sekunden, bis Jameson Violets Angriffe nicht mehr amüsant fand und sich entschied, etwas dagegen zu unternehmen. Wo war die Pistole? Wo denn? Vor ihr auf dem Boden erhob sich ein Schatten, und sie warf sich mit ausgestreckten Händen darauf. Kühles Metall begrüßte ihre Fingerspitzen, und sie schnappte es sich, fuhr mit dem Daumen über den Sicherheitshebel, vergewisserte sich, dass er nicht umgelegt war. Sie rollte sich auf den Rücken, setzte sich auf und zielte auf die Stelle, wo sie Jameson erwartete. Sie lag weit daneben. Der Pistolenlauf zielte auf nichts als Dunkelheit. Sie stieß einen wüsten Fluch aus und schwang den Arm herum - gerade noch rechtzeitig um zu sehen,
wie Jameson Violet vom Boden hochstemmte. Sein Mund versank in ihrer Brust. Rotes Blut strömte ihr voluminöses Nacht 92
hernd herunter. Ihr Kerzenständer lag vergessen auf dem Boden. »Nein«, stöhnte Caxton und schoss Jameson in den Rücken. Der Vampir zuckte zusammen und drehte sich blitzschnell herum. Sie glaubte, er würde sich wieder auf sie stürzen. Dieses Mal würde er sie töten, das war klar. Stattdessen warf er Violet wie eine Puppe durch die Luft und raste aus der Vordertür in die Nacht hinein. Sie folgte ihm, so schnell sie konnte; ihr Körper zuckte vor Adrenalin. Die Sterne strahlten am dunklen Himmel und erhellten den Schnee mit einem unirdischen Schimmer. Zuerst konnte sie Jameson nicht entdecken, und sie sorgte sich, dass er sie hereingelegt hatte, dass er vielleicht aus der Tür gelaufen und sich sofort mit dem Rücken an die efeubewachsene Hauswand gedrückt hatte, damit sie an ihm vorbeilief. Dann würde er aus dem Dunklen zugreifen und sie sich schnappen und mühelos töten. Nun sah sie ihn aber vor sich. Seine dunkle Kleidung zeichnete sich wie eine schwarze Säule vor dem Schnee ab, er pumpte mit Armen und Beinen. Sie rannte mit erhobener Waffe los, wusste aber, dass jeder Schuss sinnlos war, solange sie beide liefen. Sorgte sich, dass jeder Schuss sowieso sinnlos war. Wie oft hatte sie ihn jetzt getroffen? Es hatte ihn kaum langsamer gemacht. Er rannte auf das Tor am Vordereingang zu, das Eisentor mit dem Kreuz. Natürlich konnte ihn Caxton nicht einholen - er war viel zu schnell, sein neuer Körper konnte das gestohlene Blut in eine unglaubliche Geschwindigkeit umwandeln. Zu Fuß war sie ihm nicht gewachsen, und das musste er wissen. Glücklicherweise hatte sie genug Zeit für ein paar Vorbereitungen gehabt. Sie zog das Handy aus der Tasche. Im Laufen konnte sie J92 sich nicht vergewissern, ob sie genug Balken hatte oder nicht. Sie ließ es trotzdem aufklappen und drückte auf die Wahltaste. Vor Stunden hatte sie die nötige Nummer eingegeben, und jetzt wählte das Mobiltelefon automatisch. Sie drückte es ans Ohr und hörte ein zerfasertes Freizeichen; die Atmosphäre zupfte mit unsichtbaren Fingern an ihrem Signal. Ein weiteres Freizeichen, dann nahm jemand ab. »Jetzt!«, sagte sie. Grelles Licht schoss durch das Tor, Dutzende Fernlichter, die alle zugleich eingeschaltet worden waren. Wenn alles nach Plan gegangen war, würden dort draußen mindestens zehn Streifenwagen stehen, alle mit der Ortspolizei besetzt. Nach der Katastrophe in Bellefonte hatte sie gezögert, sie vor dem Kloster antreten zu lassen, aber draußen vor dem Tor waren sie ihr nützlich. Das Licht traf Jameson wie ein Artilleriehagel. Er riss die Arme vors Gesicht und fiel im Schnee auf die Knie, von den Scheinwerfern viel schlimmer verletzt als von allen Kugeln, die sie an ihn verschwendet hatte. Er war ein Geschöpf der Nacht, und seine Augen waren auf die Nachtsicht eingestellt. So viel Licht war zu viel für sie. Langsam erhob er sich wieder auf die Füße und wandte sich vom Tor ab, hielt sich das Gesicht mit beiden Händen. »Dort ist kein Durchkommen«, rief Caxton. »Und am Bach warten Männer, falls Sie es da versuchen wollen.« Sie zielte auf seinen Rücken. »Ich gebe Ihnen die Chance sich zu ergeben.« Jameson erhob sich zu seiner vollen Größe und rieb sich noch immer die Augen. Hinter ihm kamen Cops in Sicht, die Gewehrläufe durch das Tor schoben und zielten. Caxton wusste nicht, ob sie mehr Glück als sie haben würden, aber es gab eine Möglichkeit, das herauszufinden.
Da fing er an zu lachen. Vielleicht war es das Lachen eines Mannes, der wusste, dass es keinen Ausweg mehr gab. Aber 93 das glaubte sie nicht. Sie hob das Handy an die Lippen und sagte: »Feuer frei!« Die Gewehre krachten, spuckten Feuer und füllten die Luft mit Kugeln, aber Jameson war bereits in Bewegung. Er sprang aus dem Licht und landete auf allen vieren wie eine Katze im Schnee, dann drehte er sich herum und sprang erneut, als die Mündungen ihm folgten. Caxton rannte aus dem Schussfeld, von der Angst getrieben, von einer verirrten Kugel aus den Polizeigewehren getroffen zu werden. Sie konnte den Vampir noch immer lachen hören, ein kaltes Kichern, das in ihrem Kopf schepperte - wie eine getrocknete Erbse in einer Tasse. Sie rammte sich die Finger in die Ohren, was gegen den Gewehrlärm half, das Gelächter aber nicht zum Verstummen bringen konnte. Jameson bewegte sich schneller, als sie sich je einen Vampir hatte bewegen sehen, duckte sich zusammen und schnellte hinter eine Marienstatue. Ein Gewehrschuss sprengte ein Stück von ihrer Haube ab, aber Jameson raste weiter. Eine Reihe verwitterter Grabsteine diente ihm als nächste Deckung, und Caxton konnte seine dunkle Kleidung noch so gerade eben als Silhouette ausmachen, die sich vor dem schwach leuchtenden Schnee abzeichnete, während er sich mit dem Rücken gegen den Stein drückte. Einen Augenblick lang bewegte er sich gar nicht, oder doch... seine gesunde Hand fummelte an seinem Gürtel herum. Hatte er eine Waffe mitgebracht, mit der er sich wehren konnte? Sie hatte noch nie zuvor einen Vampir mit einer Pistole gesehen. Die brauchten sie doch nicht. Aber vielleicht war das ja nur Arroganz von *93 ihrer Seite. Vielleicht hatte sich Jameson entschieden, gegen den Strom zu schwimmen. Doch er zog keine Waffe. Es war sein Gürtel. Er wirbelte ihn herum und ließ ihn dann in die Luft schnellen. Ein oder zwei Cops schössen darauf - aber Jameson bewegte sich bereits in die andere Richtung. »Alle auf ein Ziel konzentrieren«, brüllte Caxton ins Handy. »Lasst euch nicht ablenken.« Aber sie hatte Mühe, ihren eigenen Befehl zu befolgen. Jameson duckte sich hinter einen massiven Stein und verschwand fast aus ihrer Sicht, während er einen Schuh nach rechts und den anderen nach links schleuderte. Sie versuchte ihm mit dem Pistolenlauf zu folgen, aber die doppelte Finte lenkte sie für den Bruchteil einer Sekunde ab. In dieser Zeit huschte Jameson geduckt bis zu dem massiven Springbrunnen in der Mitte des Rasens. Caxton konnte gerade noch die Wölbung seines Rückens hinter dem Brunnen erkennnen. Er wand sich wie eine Schlange, und sie fragte sich, ob er wohl getroffen worden war. Vermutlich war das eine vergebliche Hoffnung, und selbst wenn, für jeden Treffer außerhalb des Herzens würde er nur Sekunden brauchen, ihn zu regenerieren. Da Violets Blut durch seine Adern strömte, würde er so gut wie unverwundbar sein. »Komm schon«, flüsterte sie, beschwor ihn in Gedanken, sich wieder zu bewegen, sich nur eine Sekunde lang zu zeigen. Stattdessen schien er sich zu entspannen, legte sich in den Schnee. »Komm schon, du kannst da nicht ewig bleiben.« Er regte sich nicht. Die Gewehre waren verstummt, da sich kein Ziel bot. Caxton überlegte, die Cops näher rücken zu lassen, aber damit würde sie sie nur in Gefahr bringen. Den Brunnen anzugreifen war ihre Sache. »Feuer einstellen«, sagte sie ins Handy. Dann schob sie es in die Tasche, die Leitung noch immer offen für den Fall, dass 93
sie einen neuen Befehl geben musste. Geduckt arbeitete sie sich Schritt um Schritt näher an den Springbrunnen heran. Jameson - jedenfalls, das, was sie von ihm sehen konnte -rührte sich nicht. Er mochte ihr auflauern. Er mochte einfach darauf warten, dass sie nahe genug war, genau in jener kritischen Reichweite, wo er aufspringen und sie angreifen konnte. Sie hielt die Beretta mit beiden Händen. Der nächste Schritt näher heran - und sie sah sein Hemd, die Ärmel ausgestreckt, als würde er den Brunnen umarmen. Wenn er sich auf sie stürzte, blieb ihr nur ein Sekundenbruchteil zur Reaktion. Noch ein Schritt - und da waren seine Hosen, die Knie gekrümmt wie angespannte Federn. Ohne die Schuhe an den Füßen würde er im Schnee so gut wie unsichtbar sein. Seine Haut war so weiß wie der Boden, und... Seine Füße waren gar nicht da. Sie waren nicht einfach nur schwer zu erkennen. Sie fehlten, als hätte man sie am Hosensaum abgeschnitten. Sie hob die Waffe ein paar Zentimeter und sah, dass auch seine Hände fehlten. Was zum Teufel, konnte sie noch denken, bevor sie schlagartig begriff, was geschehen war. Da lag nur seine Kleidung, so drapiert, dass es so aussah, als trage er sie noch. Eine Täuschung. Sie drehte sich herum und riss das Handy aus der Tasche, während sie schon hastig den Schnee absuchte. »Er ist in Bewegung«, brüllte sie. »Er ist nackt und in Bewegung! Da, auf neun Uhr, jemand soll schießen!« Sie konnte ihn kaum erkennen. Er schlängelte sich über den Boden und war bereits zwanzig Meter weit entfernt. Vollkommen nackt und darum beinahe perfekt getarnt. Sie rannte hinter ihm her, und es war ihr egal, ob sie ins Schussfeld geriet. Sie drückte einfach jedes Mal ab, wenn sie glaubte, ein klares Ziel zu haben. 94 Doch es war sinnlos. Selbst auf allen vieren und wie eine Krabbe über den Boden kriechend war er schneller, als sie es jemals sein konnte. In Sekunden hatte er die Mauer erreicht, ein Schneemann, der im Sternenlicht funkelte. Dann, mit einem gewaltigen Sprung seiner kräftigen Beine, setzte er über das Hindernis hinweg. »Nein!«, schrie Caxton auf und raste zum Tor zurück. Sie konnte unmöglich über die Mauer klettern, nicht ohne viel Zeit zu verschwenden. Am Tor starrte diese ganze Reihe Cops sie ungläubig an, aber sie hatte keine Zeit für Erklärungen. Sie eilte an der Mauer vorbei, stolperte einen Abhang hinunter, wich ein paar Baumstümpfen aus. Sie kam um die Ecke der Mauer und lief weiter, wollte die Stelle erreichen, wo er hinübergesprungen war. Aste über ihrem Kopf verschluckten das Sternenlicht, und sie konnte in der Dunkelheit kaum etwas sehen. Sie stolperte über eine Wurzel und ging mit der Bewegung mit. Darauf bedacht, sich nicht den Knöchel zu verstauchen, nicht jetzt, nicht, wo er so nahe war. Sie schlug gegen einen Baumstamm, schabte sich die halbe Haut von ihrer Handfläche. Und sie lief weiter. Sie durfte ihn nicht entkommen lassen - nicht noch einmal. Und doch geschah genau das. Ein Stein gab unter ihrem Fuß nach, und sie stürzte der Länge nach auf den gefrorenen Teppich aus braunen Kiefernadeln. Als sie langsam und von Schmerzen gepeinigt wieder aufstand, wusste sie, dass er bereits verschwunden war. Sie fand die Mauer und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Schloss die Augen und lauschte. Da war nichts. Fünfzehn Meter über ihrem Kopf rutschte Schnee von einem Ast. In der Ferne, im Garten des Klosters, rief jemand etwas. Hinter ihr stiegen Cops in ihre Streifenwagen und knallten die Türen zu. Das Handy in ihrer Tasche läutete. Aber ein Vampir war nirgendwo zu hören. 94
Sie wartete, bis sich ihr Pulsschlag wieder beruhigt hatte. Bis sie wieder normal atmen konnte. Auf dem Rückweg zum Tor kontrollierte sie das Handy und entdeckte, dass sie eine neue Textnachricht hatte.
Beinahe hast du ihn heute Nacht erwischt, nicht wahr? Vielleicht klappt es ja beim VIERTEN Mal.
Malvern. Malvern, die irgendwie wusste, dass Caxton versagt hatte. Einen Augenblick lang erwog sie, das Handy zwischen die Bäume zu schleudern, so weit weg, wie sie nur konnte. Aber es war Regierungseigentum, und sie wusste, dass Fetlock kein Verständnis dafür haben würde. Also schaltete sie es bloß aus und steckte es ganz tief in ihre Tasche.
3
Wie gewöhnlich hatte Jameson ihr einen üblen Schlamassel hinterlassen, den es aufzuräumen galt. Ihre erste Sorge galt Raleigh. Schwester Margot und mehrere der anderen Mädchen warteten in der Halle und verlangten nach Antworten. Sie drängte sich einfach an ihnen vorbei zu dem Korridor, in dem sie Jamesons Tochter das letzte Mal gesehen hatte. Das Mädchen hockte dort auf einem schweren Holzstuhl. Ihr Gesicht war weiß vor Angst, ihre Fäuste geballt. Sie schien sie nicht entspannen zu können. »Einfach nur atmen«, sagte Caxton und kniete vor ihr nieder. »Atmen.« Wild schüttelte sie den Kopf. Caxton zwang das Bedürfnis nieder, ihr eine Ohrfeige zu verpassen. Es wartete Arbeit
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auf sie, aber zuerst musste sie dafür sorgen, dass es Raleigh gut ging. Sie versuchte sich vorzustellen, was Glauer in dieser Situation täte. Glauer war so viel besser darin, mit hysterischen Leuten klarzukommen. »Sehen Sie«, sagte sie. »Alles wird gut. Ja. Ihr Vater will Sie zum Vampir machen, aber...« »Er will was?«, stieß Raleigh hervor. Sie fing an, noch schneller zu atmen. Sie stand kurz vor dem Hyperventilieren. »Sie sind jetzt in Sicherheit. Er wird heute Nacht nicht zurückkehren. Ich verspreche es. Das ist bis jetzt sein modus operandi, ein Angriff pro Nacht.« »Und was ist mit morgen?« »Dann beschütze ich Sie auch.« Es ging einfach nicht. Raleighs Angst steigerte sich nur, und nichts, was Caxton sagte, schien zu helfen. Sie ging zurück in die Halle, um Schwester Margot um Hilfe zu bitten. »Hat Raleigh hier irgendwelche Freunde, denen sie etwas näher steht?«, fragte Caxton. Sie warf einen Blick auf die Leiche am Boden. »Ich meine: außer Violet. Jemand muss ihr Gesellschaft leisten. Ich glaube nicht, dass sie heute Nacht noch Schlaf findet. Außerdem brauche ich ein paar Plastikbecher oder etwas Ähnliches.« Überall auf dem Boden lagen Patronenhülsen, in den Wänden waren Einschusslöcher, und, was noch schlimmer war, draußen auf dem Rasen lagen vermutlich Dutzende von Kugeln. Sie musste anfangen, sie zu markieren. Normalerweise hätte sie diese Arbeit jemand anderem überlassen, aber solange sich die Mädchen hier herumtrieben, würde es schwer sein, den Tatort zu sichern. Sie hielt nach ihren Hülsen Ausschau, bis ihr bewusst wurde, dass Schwester Margot ihr nicht geantwortet hatte. »Stimmt etwas nicht?« »Sie haben den Tod an diesen heiligen Ort gebracht«, sagte Schwester Margot. »Sie werden auf der Stelle gehen!« Caxton biss sich auf die Lippe. Schwester Margot stampfte mit dem Fuß auf. »Sofort!«
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Caxton musterte die junge Frau intensiv. Schätzte sie ab. »Ich fürchte, das wird nicht geschehen können«, sagte sie dann. »Dies hier ist ein Ort der Heilung. Des Friedens! Ich habe mein ganzes Leben lang dafür gearbeitet, ihn zu einem stillen Zufluchtsort zu machen, und Sie haben in nur einer Nacht alles ruiniert!« Nicht mit den Schultern zu zucken war das Beste, das Caxton zustande brachte, um die Frau zu beruhigen. »Ich muss ein paar Forensiker holen, um diesen Tatort zu klären, das wird den größten Teil der Nacht in Anspruch nehmen, dann muss ich ein paar Leute hereinholen, die jeden befragen, der sein Zimmer verlassen hat, damit wir erfahren, wann der Vampir hereinkam und auf welchem Weg. Dann werde ich...« »Violet liegt tot am Boden, tot!«, kreischte Margot. »Ja. Ich muss sofort ihre Eltern benachrichtigen.« »Das hoffe ich. Wenn sie hören, was passiert ist, werden sie...« »Ich muss sie zu einer sofortigen Noteinäscherung überreden. Der Vampir kann sie von den Toten zurückrufen, wann immer er will. In der Zwischenzeit werde ich einen bewaffneten Posten hereinholen, der auf Zeichen einer Reanimation achtet.« Natürlich wäre es viel einfacher gewesen, dem Mädchen den Kopf abzutrennen. Geköpfte Leichen kehrten ja nicht als Halbtote zurück. Aber die Familie hatte wohl ein Recht, diese Entscheidung zu treffen. »Warum schaffen Sie in der Zwischenzeit nicht wieder alle ins Bett? Meine Leute werden kommen und hoffentlich fertig sein, wenn sie morgen früh aufstehen. Danke, Margot.« Das Gesicht der Nonne war tiefrot. Caxton drehte sich um und verließ das Haus in Richtung Tor, wo sie ein paar Anrufe machen konnte. 96
Das Wichtigste kam zuerst - sie gab einen APB für den nackten Vampir heraus. Der All Points Bulletin wurde an alle Polizeidienststellen weitergegeben, und in der Fahndungsmeldung wurde ausdrücklich unterstrichen, wie extrem gefährlich er war. Sie rief den örtlichen Polizeichef an und zeigte den Mord an Violet an, um eine Untersuchung in Gang zu bringen. Nicht, dass es da viel zu untersuchen gab, aber der nötige Papierkram musste doch erledigt werden. Schließlich rief sie Fetlock an - oder fing vielmehr an, seine Nummer zu wählen. Bevor sie die Hälfte der Zahlen eingetippt hatte, klingelte das Telefon. »Ja, äh, hallo«, meldete sie sich. »Ist sie tot?«, fragte Fetlock. Caxton rieb sich den Nasenrücken. »Nein. Raleigh... Raleigh geht es gut. Etwas durcheinander. Woher wissen... ?« »Aber Jameson ist entkommen. Ich habe gerade Ihren APB gesehen.« Offenbar wusste jeder über die Situation Bescheid, die nun entstanden war. Malvern, Fetlock - wann würde sich Vesta Polder melden? »Ja. Ja, er konnte entkommen. Ich erkläre es Ihnen später. Hören Sie, Deputy Marshal, woher wissen Sie das? Es ist doch gerade erst passiert.« »Ich habe Ihr Telefon überwacht«, erwiderte er. »Sie ließen es so klingen, als würden Sie mit Jamesons Angriff rechnen, also bin ich aufgeblieben, um zu hören, was passiert. Ich hoffe, es stört Sie nicht, dass ich Ihre Anrufe mithöre.« »Nein... natürlich nicht«, sagte Caxton. »Es ist von entscheidender Bedeutung, dass wir bei diesem Fall in enger Verbindung bleiben. Sie hätten mich anrufen sollen, als Sie Ihren Hinterhalt planten. Ich hätte ein SWAT-Team schicken können. Warum haben Sie mich nicht angerufen?« »Ich dachte, ich würde es allein schaffen«, sagte Caxton. 96 Um ehrlich zu sein: sie hatte überhaupt nicht an Fetlock gedacht.
»Nun gut, dann das nächste Mal. Jetzt sagen Sie mir, was Sie im Moment alles brauchen. Ich kann in weniger als einer Stunde bei Ihnen sein.« Caxton dachte einen Augenblick lang darüber nach. Sie dachte an Margot - und die Mädchen. Violets Tod würde sie mehr aufregen, als sie es für möglich gehalten hatte. In Zukunft musste sie einfach versuchen, etwas sensibler zu sein. Das hätte jedenfalls Glauer zu ihr gesagt. »Hier dürfen keine Männer herein. Vielleicht sollten Sie da bleiben - aber ich brauche ein paar Polizisten, die den Tatort bewachen und die Leiche. Weibliche Beamte.« Sie ließ den Blick über den schneebedeckten Rasen gleiten. »Außerdem habe ich hier ein paar Beweisstücke. Jameson hat seine Kleidung zurückgelassen.« »Seine Kleidung?« Also musste sie doch erklären, wie er hatte entkommen können. Fetlock versprach, sich darum zu kümmern, ein paar Polizistinnen zu dem Kloster zu schicken, und Caxton legte auf. Dann schickte sie die Cops nach Hause, die sich für sie auf die Lauer gelegt hatten. Sie dankte ihnen überschwänglich und war froh, dass sie alle unbeschadet wieder gehen konnten - aber einer von ihnen drehte sich noch einmal um. Er war ein ernst dreinblickender junger Cop vom Revier des örtlichen Bezirks. Seine Uniform schien makellos, und seine Augen funkelten, obwohl es schon spät war. Er wartete geduldig, bis sie den abrückenden Wagen nachgewunken hatte, dann trat er einen Schritt näher an sie heran, hustete diskret in die Hand und nahm Haltung an, bis sie seinen Blick erwiderte. »Entschuldigung, Ma'am«, sagte er. »Stehen Sie bequem«, erwiderte sie. »Haben Sie mir etwas zu sagen?« 97
Er nickte und entspannte sich etwas. »Ich habe ihn getroffen.« Caxton zuckte mit den Schultern. »Das habe ich auch. Mehrmals.« Der Cop runzelte die Stirn. »Entschuldigung, Ma'am, Sie haben ihn nicht einmal langsamer gemacht. Wir haben uns eben darüber unterhalten und uns gefragt, ob er kugelsicher war. Vielleicht durch Magie. Aber ich jage, seit ich ein kleiner Junge bin, und ich weiß, wann ich ein Tier getroffen habe oder eine Zielscheibe. Ich sah sein Blut. Ich wollte nur, dass Sie das wissen. Er ist nicht unverwundbar, jedenfalls nicht völlig.« Sie starrte ihn ungläubig an. »Sie haben sein Blut gesehen?« »Ich sah, wie er sich nach links drehte und sein Arm nach oben flog, so.« Er demonstrierte es. »Dann schoss Blut aus der Wunde. Nicht viel. Aber ich weiß, wenn ich jemanden getroffen habe.« »Ich danke Ihnen sehr, Officer. Das ist gut zu wissen.« Und das war es in der Tat. Sie schickte ihn nach Hause. Er hatte ihr viel Stoff zum Nachdenken gegeben. Bis jetzt hatte sie Jamesons Haut mit ihren besten Treffern nicht einmal ankratzen können. Wenn der junge Officer ihn tatsächlich hatte bluten lassen - dann bestand ja vielleicht noch Hoffnung. Sie sicherte den Tatort im Haus so gut, wie ihr das überhaupt möglich war, dann setzte sie sich in ihren Wagen und wartete darauf, dass Fetlocks Forsensikteam kam. Die Sonne erhellte gerade die Baumwipfel, als es eintraf - oder vielmehr sie, denn es kam nur eine einzige Frau. Sie war etwa fünfzig, hatte blondes Haar und Ringe unter den Augen. Sie war nicht begeistert, aus dem Bett gezerrt worden zu sein, um sich ein paar weggeworfene Kleidungsstücke anzusehen. »Da drinnen liegt noch eine Leiche?«, fragte sie und streifte Latexhandschuhe über. »Kann ich die auch haben?« »Der örtliche Coroner war noch nicht da, also können wir 97 sie noch nicht bewegen. Ich warte auf Nachricht von ihrer Familie, damit ich sie einäschern lassen kann.«
Die Forensikexpertin grunzte. »Schwierig, aus Asche etwas Verwertbares herauszubekommen. Auch wenn eine Einäscherung nicht ganz so gründlich ist, wie die meisten Leute glauben. Normalerweise hinterlassen die Flammen doch etwas, und ein Teil davon bleibt durchaus erkennbar. Man findet Zähne in der Asche, manchmal schmelzen die Füllungen nicht, also kann man Zahnarztunterlagen vergleichen. Knochennägel aus Titan, Tefionkniescheiben, die überstehen alles.« »Die Leiche ist bereits identifiziert.« Die Frau zuckte mit den Schultern. »Wollen Sie einen Blick darauf werfen?«, fragte Caxton. Sie führte die Forensikerin ins Haus, wo Violet noch immer genau da lag, wo sie gestürzt war. »Vampirangriff«, sagte die Expertin nach einem langen Blick auf die Leiche. »Gewalttätiger als die, die wir zuvor gesehen haben. Das war nicht so geplant.« »Nein«, sagte Caxton. »Hören Sie, ich war dabei. Das ist mir alles nicht neu. Glauben Sie, Sie könnten mir etwas sagen, das mir weiterhilft?« Die Expertin grunzte wieder. »Vielleicht. Das ist keine genaue Wissenschaft, Trooper.« »Special Deputy. Lassen Sie uns einen Blick auf die Sachen werfen.« Sie führte die Frau zu dem Springbrunnen, wo das Hemd und die Hose lagen, die Arkeley zurückgelassen hatte. »Niemand hat sie berührt. Dafür habe ich gesorgt.« »Gut. Ehrlich, Fasern sind meine Spezialität.« Caxton seufzte erleichtert. Also hatte Fetlock die richtige Person für diese Aufgabe geschickt. Am Tatort würde es weder Fingerabdrücke noch DNS geben. Vampire ließen nichts dergleichen zurück. Fasern waren aber eine andere Sache. Jeder, der Kleidung trug, ließ irgendwo Fasern zurück. 98 Die Frau warf einen schnellen Blick auf die Kleidungsstücke, dann untersuchte sie ein paar lose Fäden mit einer Juwelierlupe. »Ich glaube, ich kann bestätigen, dass das mit dem übereinstimmt, was wir im Motel gefunden haben. Drei verschiedene Arten von Fasern. Wir haben Ihrem Verbindungsoffizier einen Bericht dagelassen.« »Den habe ich bekommen«, sagte Caxton. »Ja. Sie befand sich nicht in Ihrem HQ, als wir dort waren. Wir mussten den Bericht beim Empfang abgeben. Sie hat mich nicht einmal wissen lassen, dass sie ihn bekommen hat. Das ist einfach nicht professionell. Wollen Sie einen kostenlosen Rat? Feuern Sie diese Niete. Sie haben doch richtige forensische Pathologen in Harrisburg. Jeder von denen würde bessere Arbeit abliefern.« Die Frau sprach von Clara. Caxton hielt den Mund. »Wie dem auch sei, ich mache noch genaue Vergleichstests, aber für den Augenblick ist es meine professionelle Meinung, dass wir es mit den gleichen drei Fasern zu tun haben. Baumwolle, Nylon, Twaron.« »Was zum Teufel ist Twaron?«, fragte Caxton. Das hatte sie sich schon den ganzen Tag über gefragt. Die Expertin knöpfte das schwarze Hemd auf. Darunter kam eine weitere Stoffschicht zum Vorschein, eine Art Weste. Sie nahm die Weste und warf sie Caxton zu, die sie automatisch fing - aber sie war viel schwerer als erwartet, und beinahe ließ sie sie fallen. Sie strich darüber und wusste sofort, um was es sich handelte. »Twaron«, erklärte die Expertin, »ist ein Konkurrenzprodukt zu Kevlar. Es wird hauptsächlich für Polizeischutzwesten verwendet. Ihr Vampir trug eine Ballistikweste.« 98
33-
Ein paar Stunden später knallte Caxton die Weste auf einen der Tische im Konferenzraum. Glauer starrte sie an, als trüge sie eine verborgene Botschaft, etwas, das er würde lesen können, wenn er nur aufmerksam genug hinsah. »Das ist eine ballistische Schutzweste der Klasse IIIA«, sagte Caxton. »Standardausgabe der Polizei. Twaronfasern, die so gewebt sind, dass sie den Kugeleinschlag reduzieren.« Sie pochte mit den Knöcheln auf eine Stelle, unter der sich das Herz des Trägers befinden würde. »Hier ist dann noch zusätzlich eine stählerne Traumaplatte, nur für den Fall, dass etwas durch die Fasern kommt. Sie stoppt so ziemlich jede Handfeuerwaffe - 38er Spezial, 44er Magnum und so gut wie jede 9Millimeter-Patrone auf dem Markt, einschließlich der Parabellum, die ich verwende.« Glauer legte den Kopf zur Seite. »Also als Sie auf ihn schössen, selbst auf kürzeste Distanz...« »Bestimmt hat er das gespürt, aber vermutlich tat es nicht einmal weh.« Sie schüttelte den Kopf. »Wenn man überlegt, wie zäh ein Vampir ohnehin schon ist - ich bin mir nicht sicher, was ihn dann töten könnte.« »Verdammt«, fluchte Glauer. Der Mann fluchte so gut wie nie. »Aber ich bin verwirrt. Er warf sie mitten in einer Schießerei weg. Warum?« »Wir schössen nicht mehr mit Handfeuerwaffen auf ihn. Dieses Mal waren es Gewehre. Eine Gewehrkugel durchschlägt das hier wie Papier«, sagte sie und schob den Zeigefinger durch ein Loch an der unteren linken Seite, etwas auf Höhe der Niere des Trägers. Der Cop, mit dem sie nach dem Hinterhalt gesprochen hatte, hatte recht gehabt - er hatte Jameson tatsächlich 99 getroffen, nur eben nicht an seiner einen verwundbaren Stelle. »Jameson ist schlau. Das wussten wir bereits. Er ist schlau genug, um seine Schwächen zu kennen. Die meisten Vampire tun das nicht. Sie sind härter als wir, viel schneller, aber sie sind auch überheblich. Sie halten sich für unbesiegbar, und das macht sie übermütig. Jameson ist der am wenigsten eingebildete Vampir, der mir je begegnet ist.« »Vielleicht, andererseits hat er das hier zurückgelassen, richtig? Also ist er jetzt ungeschützt. Diese Westen kann man nicht einfach im Internet kaufen. Man muss bei der Polizei sein, um eine zu bekommen, und niemand wird einem Vampir eine Weste verkaufen.« Caxton schlug gegen die Weste, und zwar fest. »Das wäre großartig, was? Fetlocks Forensikexpertin sagte ziemlich das Gleiche. Etwa eine Stunde lang war ich glücklich. Dann bekam ich einen Anruf. Ein Officer aus Lenhartsville hatte über Funk gemeldet, einen Verdächtigen gesehen zu haben, auf den die Beschreibung meines APB passte. Groß, Vampir, nackt, rannte die I-78 am Straßenrand entlang. Er sagte, er würde es sich näher ansehen. Dann hat er sich nicht mehr gemeldet.« »O nein.« Caxton nickte. »Eine zweite Einheit wurde hingeschickt. Der Beamte wurde blutleer aufgefunden. Der Motor seines Streifenwagens lief noch, aber der Kofferraum war wie mit einem Stemmeisen aufgebrochen. Wollen Sie raten, was aus dem Kofferraum fehlte?« »Eine Ballistikweste vom Typ IIIA?«, fragte Glauer. Caxton berührte ihre Nasenspitze. »Es stört ihn nicht, ohne Hose herumzulaufen, aber ohne Traumaplatte über dem Herzen fühlt er sich nackt. Er hat keine Zeit verschwendet, sich eine neue zu beschaffen.« 99 Glauer rieb sich über den Mund. »Noch einen Cop.«
»Noch ein Begräbnis«, stimmte Caxton ihm zu. Eine Weile schwiegen sie beide. Dann sagte Glauer sehr leise: »Wenigstens war es keine Magie.« Caxton setzte sich an einen der anderen Tische. »Ja. Ich dachte auch schon, er besäße eine Art Schutzzauber, der ihn gegen Kugeln schützt. Jetzt weiß ich es besser. Und was habe ich davon? Ich nehme doch nicht jedes Mal ein Gewehr mit nach draußen. Gegen die Waffe, die ich trage, ist er - gottverdammt - kugelsicher!« »Hey«, sagte Glauer und tat einen Schritt auf sie zu. Eine Sekunde lang zuckte sie zurück, weil sie glaubte, er wollte sie zum Trost umarmen. »Wollen wir doch nicht das Wichtigste aus den Augen verlieren. Gestern Nacht haben Sie etwas erreicht.« Caxton runzelte die Stirn. »Was denn? Ich habe mich nicht umbringen lassen? Ich habe einem Haufen Mädchen einen Schrecken eingejagt, die nun wirklich keine weiteren traumatischen Erfahrungen brauchen können?« »Sie haben ihr das Leben gerettet.« Beide drehten sich um und schauten zu Raleigh hinüber, die in der Zimmerecke auf dem Boden hockte, die Arme um die Knie geschlungen. Einen Stuhl hatte sie abgelehnt. Seit Caxton sie aus dem Kloster geführt hatte, hatte sie kein Wort gesprochen außer »Ja« und »Nein«, als sie gefragt worden war, ob sie bereit sei, mit nach Harrisburg zu kommen, und ob es ihr gut ging. Sie hatte Angst. Todesangst. Caxton konnte das verstehen. Ehrlich gesagt sollte sie auch Angst haben. Es war nur eine Frage der Zeit, bevor ihr Vater wieder Jagd auf sie machte. Caxton wandte sich erneut Glauer zu. »Ja«, sagte sie. »Ich habe sie gerettet. Aber sie wird nicht in Sicherheit sein, bis ich Jameson zur Strecke gebracht habe.« 100
»Okay. Wie wollen Sie vorgehen?« Caxton kratzte sich am Kinn. »Nun, so wie ich das sehe, gibt es da zwei Dinge, die ich tun muss. Ich muss nach Syracuse und Jameson davon abhalten, Simon zu töten. Dann muss ich sein Versteck finden. Auf ihn zu schießen bringt ja offenbar nichts. Also muss ich ihn erwischen, wenn er hilflos ist. Erwische ich ihn am Tag, finde ich seinen Sarg, kann ich das Herz aus der Brust reißen.« »Wie geht die Suche nach dem Versteck voran?«, fragte Glauer. Sie nickte zufrieden. Mit Fetlock zusammenarbeiten zu müssen mochte zwar unerfreulich sein, aber er lieferte immerhin Resultate. »Gestern hatten wir eine Liste von etwa sechzig zu überprüfenden Orten. Die Feds konnten zwanzig davon streichen, indem sie zwanzig persönlich in Augenschein nahmen. Nirgendwo ein Zeichen von einem Vampir. Vermutlich werden sie heute mit der Liste fertig. Ich würde sie zu gern alle selbst überprüfen, aber dies wird reichen müssen - ich fahre so bald wie möglich nach Syracuse, um Simon persönlich in Sicherheit zu bringen. Wir wissen, dass Jameson dort als Nächstes zuschlägt. Das ist sein letzter Halteort. Wenn wir ihn dort nicht stellen - ich habe keine Ahnung, wo er danach auftauchen wird, und alles wird viel schwieriger.« »Wie weit ist es nach Syracuse?«, fragte Glauer. »Mit dem Auto etwas mehr als vier Stunden. Ich weiß nicht, auf welche Weise er fährt.« Glauer nickte. »Das ist eine lange Fahrt. Sind Sie sicher, dass Sie dem gewachsen sind? Sie sehen aus, als würden Sie Schlaf brauchen.« Caxton zuckte mit den Schultern. »Ich bin an die Highway Patrol gewöhnt. Damals habe ich Zwölf-Stunden-Schichten im Auto gemacht. Damit komm ich schon zurecht. Ich muss noch ein paar Dinge erledigen, aber gegen Mittag sollte ich 100
auf dem Highway sein - was bedeutet, dass ich vor Einbruch der Dunkelheit dort bin. Vielleicht habe ich sogar Zeit, mit Simon zu sprechen, bevor sein Vater versucht, ihn umzubringen.« »Okay. Wenn ich Sie richtig interpretiere, werde ich Sie also nicht begleiten. Dann kümmere ich mich weiter um Carboys Tagebücher.« »Haben Sie denn noch was herausgefunden?« Glauers Miene hellte sich ein wenig auf. Er zeigte auf die Tafel, und Caxton entdeckte ein neues Portraitfoto unter Jamesons Bild. Es zeigte ein etwas molliges Mädchen im Teenageralter, mit stacheligem schwarzen Haar (das an den Schläfen hellblau getönt war) und sehr sanften, freundlich aussehenden braunen Augen. »Wer ist das? Ich habe sie noch nie zuvor gesehen.« »Doch, das haben Sie«, sagte Glauer. »Fetlocks Leute haben den Teil einer Gesichtsrekonstruktion geschickt, als Sie fort waren. Sie war die Halbtote, die Angus besuchte.« »Tatsächlich?« Caxton sah sich das Bild näher an. »Ich habe den immer für einen Mann gehalten. Sie sah überhaupt nicht so aus.« Natürlich war sie da schon eine Woche lang tot gewesen, und sie hatte sich die Gesichtshaut abgezogen. »Ich habe die Teilrekonstruktion genommen und sie von ein paar Troopern mit der Vermisstenkartei abgleichen lassen. Sie tauchte ziemlich schnell auf. Cady Rourke, achtzehn. Wohnhaft in Mount Carmel.« Caxton runzelte die Stirn. »Das ist Carboys Stadt.« »Ja. Und Cady Rourke war seine erste Freundin. Zumindest hat er das geschrieben. Ich rief ihre Familie an, und man sagte mir, sie und Dylan wären nur Freunde gewesen. Aber egal. Was hat Jameson mit ihr gemacht? Außer ihr Blut zu trinken?« »Das ist eine Verbindung«, musste Caxton zugeben. »Könnte ein Zufall sein, aber immerhin.« »Ich möchte diese Spur weiterverfolgen. Es sei denn, Sie haben etwas Besseres für mich zu tun.« »Das habe ich in der Tat. Ich brauche Sie, um auf sie hier aufzupassen.« Caxton warf nicht einmal einen Blick in Raleighs Richtung, aber sie wussten beide, von wem sie sprach. »Oh, okay«, sagte Glauer und nickte. »Sagen Sie das nicht so leichthin. Das ist eine ziemlich ernste Sache. Jameson ist nicht mit ihr fertig, noch nicht. Er wird wieder versuchen, ihr den Fluch zu geben. Normalerweise schicke ich Sie bei Vampirsichrungen zur Hintertür. Ich beauftrage Sie mit dem Personenschutz. Dieses Mal stehen Sie in der Schusslinie. Sie können ablehnen, wenn Sie wollen.« »Ich schaff das schon«, sagte der große Cop. »Sie sollten sie an einem Ort lassen, wo es viele Beamte gibt. So wie hier. Es ist möglich, dass er hart genug ist, es mit einer ganzen Kaserne voll von Troopern aufzunehmen, aber er ist zu schlau, das herausfinden zu wollen. Ihnen sollte nichts passieren, solange Sie keine dummen Fehler machen.« »Ich sagte ja, ich schaffe das schon«, grunzte er. »Sie haben auch keine magischen Kräfte.« Caxton musterte ihn. Hatte sie seine Gefühle verletzt? »Was soll das denn heißen?« »Das soll heißen, dass Sie nicht die einzige Person auf der Welt sind, die gegen Vampire kämpfen kann. Ich weiß, wir haben dabei zusehen müssen, wie viele Cops bei dem Versuch ihr Leben verloren. Aber das lag daran, dass sie nicht für diese Arbeit ausgebildet wurden. Ich habe jetzt zwei Monate lang von Ihnen gelernt.« Sie versuchte, ihn mit ihrem besten Copblick niederzustarren. Er gab nicht nach. Nach etwa einer Minute blinzelte sie.
Sie hatte sich den Kampf gegen Vampire bei Jameson abgeschaut. Er war nie der Ansicht gewesen, dass sie irgendwann bereit war, es auf eigene Faust zu versuchen. Sie hatte das Gleiche zu Glauer sagen wollen - aber Jameson hatte sich geirrt, was sie anging. Vielleicht irrte sie sich ja ebenso, was Glauer betraf. »Da ist was dran.« Sie wandte sich Raleigh zu. »Officer Glauer wird sich um Sie kümmern«, sagte sie. Das Mädchen schaute mit großen Augen zu ihr hoch. »Er wird Sie beschützen. Halten Sie sich nur an seine Anweisungen, dann wird Ihnen nichts passieren.« Raleigh blieb der Mund offen stehen. »Was ist mit Ihnen? Bleiben Sie nicht bei mir? Sie sagten doch, Sie würden mich beschützen. Das haben Sie versprochen!« »Ich muss Ihren Bruder treffen«, sagte Caxton und ging neben dem verängstigten Mädchen in die Knie. »Ich bringe ihn her, dann sind Sie beide in Sicherheit.« »Befürchten Sie, mein Vater wird Simon angreifen?« Eigentlich befürchte ich sogar, dass Jameson Simon sein Angebot unterbreitet, und dass Simon es annimmt, dachte Caxton. »Keiner mehr wird sterben«, sagte sie. »Nicht, wenn ich es
verhindern kann.«
34 Der Waffenwart der State Police grinste breit, als sie ihm sagte, was sie brauchte. Er verschwand in einem Schuppen neben dem Schießstand, und als er zurückkam, trug er viele Pappkartons. Einige enthielten Munition - Patronen, die wesentlich dicker und schwerer waren als alle, die Caxton je zuvor gesehen hatte. Andere enthielten verschiedene Schusswaffen. »Sie wollen also kein großkalibriges Gewehr ständig mit sich herumschleppen«, sagte er und zwirbelte das Ende seines 102 Schnurrbarts. »Das ist immer noch die beste Methode, um einen Körperpanzer zu schlagen.« Caxton schüttelte den Kopf. »Ich kämpfe viel auf Nahdistanz in Gebäuden. Ich habe ein Gewehr im Kofferraum, aber für die meisten Situationen brauche ich eine Handfeuerwaffe.« »Nun, wäre das ein normaler böser Junge«, sagte er, »dann würde ich vorschlagen, dass Sie sich nicht mit diesen Spielzeugen abgeben. Ich würde Ihnen vorschlagen, mehr Zeit auf dem Schießstand zu verbringen, bis Sie ihn mit einem Kopfschuss verlässlich niederstrecken können.« Caxton schüttelte erneut den Kopf. »Die einzige verwundbare Stelle eines Vampirs ist sein Herz. Er trägt eine Ballistikweste IIIA mit einer stählernen Traumaplatte.« Der Waffenwart rieb sich das Kinn. »Westen sind nicht perfekt. Sie helfen nicht gegen Messer oder, sagen wir, einen Holzpflock.« Bevor sie reagieren konnte, winkte der Mann ab. »Kleiner Scherz. Außerdem wollen Sie ihn ja sowieso nicht mit dem Messer angreifen. Sie wären tot, bevor sie nahe genug herangekommen wären, um ihn zu stechen. Okay, nächster Gedanke. Das Ballistikgewebe verliert an Effektivität, wenn es nass wird.« »Also soll ich nur auf ihn schießen, wenn es regnet, habe ich das richtig verstanden? Diese Option habe ich leider nicht.« Sie holte tief Luft. »Ich brauche Feuerkraft.« »Und da bin ich Ihnen gern zu Diensten. Ich hole die hier nicht so oft raus, wie ich gern würde.« Die kleinen Augen des Waffenwarts funkelten vor Begeisterung, als er den ersten Karton öffnete. Darin lag ein Revolver mit einem dreißig Zentimeter langen Lauf doppelt so lang wie der Laut ihrer Beretta. Er war aus rostfreiem Stahl und wies einen dicken Gummigriff auf, der helfen sollte, den Rückstoß zu meistern. Caxton hob ihn mit beiden Händen und hätte beinahe aufge 102
keucht. Er musste fünf Pfand wiegen. Es fühlte sich an, als würde sie ein massives Maschinenteil halten, und sie fragte sich, ob sie ihn überhaupt vernünftig würde ziehen können. »Was ist das?« »Smith & Wesson Model 500. 500H, um präzise zu sein. Er lädt Patronen vom Kaliber .500 Smith & Wesson Magnum, die zu den stärksten Projektilen auf der Welt gehören. Die Waffenkontrolllobby nennt diese Patrone Westenzerstörer.« »Und wie nennen sie andere Leute?« Der Mann zuckte mit den Schultern. »Die NRA behauptet, dass sie in Wahrheit keine Traumaplatte durchschlagen kann. Sie haben die ballistischen Tests, um das zu beweisen. Suchen Sie sich aus, was Sie glauben wollen. Ich weiß nur, dass diese Patrone dafür ausgerichtet ist, einen angreifenden Grizzly zu stoppen, bevor er einen in seine Klauen bekommt.« Caxton staunte. Sie griff nach Ohrstöpseln. Der Waffenwart gab ihr außerdem ein paar herkömmliche Ohrenschützer. »Sie werden beide brauchen.« Sie zielte auf eine zwanzig Meter entfernte Zielscheibe, korrigierte ihren Stand, lehnte sich in den Schuss hinein. Drückte ab. Eine Stichflamme schoss aus dem Revolver, der sich aufbäumte - ihr Arm fuhr in die Höhe und die Waffe schlug ihr beinahe ins Gesicht. Es fühlte sich an, als hätte ihr jemand gegen die Schulter getreten. »Mein Gott«, quiekte sie. Ihre Ohren dröhnten noch immer, als sie die Waffe ablegte und die Ohrenschützer abnahm. »Sie sind nicht mal zusammengezuckt«, sagte der Waffen-wart beeindruckt. »Die meisten Frauen schließen die Augen und wenden sich von dem Schuss ab, wenn sie das erste Mal mit dieser Art Feuerkraft konfrontiert werden.« Sie hob den Revolver wieder hoch und musterte ihn. »Wenigstens ist es ein Double Action. Man muss vorher nicht den Hahn spannen. Aber irgendwie sieht er falsch aus.« Bei 103 den meisten Revolvern war hinter dem Lauf ein Zylinder für sechs Patronen angebracht. »Das sind ja nur fünf Kammern.« »Die Patronen sind zu groß für sechs«, erklärte der Waffenwart. Er drückte auf einen Knopf und holte die Zielscheibe heran. Caxtons Schuss hatte ein ordentliches Loch in der Nähe der Schulter der aufgedruckten Silhouette hinterlassen. Sie wollte sich gar nicht erst vorstellen, was die Kugel bei einem menschlichen Ziel angerichtet hätte. Aber sie war nicht einmal in die Nähe des Herzens gekommen - und sie war eine gute Schützin. Sie übte emsig, und ihr Vater, der oben im Kohlenland als Sheriff gearbeitet und ein ausgezeichneter Schütze gewesen war, hatte ihr das Schießen beigebracht. Das bedeutete, dass sie ihre Grenzen kannte. Sie wusste, dass die erste Kugel, die sie aus einer neuen Waffe verfeuerte, niemals ins Schwarze treffen würde. Und sie wusste auch, dass sie gewaltige Probleme gehabt hatte, diese Waffe zu kontrollieren. »Ich bin nicht kräftig genug dafür«, sagte sie. »Vielleicht, wenn ich Arnold Schwarzenegger wäre. Aber das bin ich nun mal nicht.« »Mit genug Zeit und Übung kämen Sie gut zurecht.« »Zeit ist etwas, das ich nicht habe.« Der Waffenwart runzelte verständnisvoll die Stirn und legte den Revolver zurück in seinen Karton. Er hatte noch eine Waffe für sie, und sie erkannte sie sofort. Sie hatte sie schon in genügend Kinofilmen und Fernsehserien gesehen -eine Mark XIX Desert Eagle, eine in Israel hergestellte Automatikpistole, die sie immer für die perfekte Wahl für Männer mit ausgesprochen kleinem Penis gehalten hatte. Die Pistole hatte ein dickes, dreieckiges Laufgehäuse und einen massiven Griff, der kaum in ihre Hand passte. Der Lauf wies eine beinahe schon absurde Länge auf - fünfunddreißig Zentimeter, noch länger als der des Model 500. Und als sie sie hielt, fühlte
104 es sich an, als hätte sie eine Filmrequisite in der Hand. Dagegen sah ihre Beretta wie ein Spielzeug aus. Sie überprüfte die Sicherung, dann warf sie das Magazin aus. Es fasste sieben Patronen. Besser als die fünf in dem Revolver, aber ihre Beretta lud fünfzehn. Der Waffenwart strich über eine der Patronen. »Kaliber .50 AE. Sehr bösartig. Hohe Durchschlagskraft.« »Okay.« Er nahm ihr die Waffe ab und lud sie wieder. »Normalerweise nimmt man für so starke Munition einen Revolver. Die Desert Eagle ist etwas anders. Sie ist mehr wie ein Gewehr, weniger wie eine Handfeuerwaffe gebaut, vor allem mit diesem Lauf. Gasdrucklader. Polygonlauf. Der Drehkopfverschluss weist eine starke Ähnlichkeit mit dem auf, den man in einem Mi6 findet.« »Cool.« Caxton setzte die Ohrenschützer wieder auf, rief, den Schießstand zu räumen, zielte und schoss. Der Rückstoß war nicht so schlimm wie bei dem Model 500, trotzdem verlor sie nach dem Abfeuern beinahe die Kontrolle über die Waffe. Als die Zielscheibe heranflatterte, sah sie, dass sie dem Herz etwas näher gekommen war, wenn auch nicht sehr. »Nicht so cool.« Sie seufzte und legte die Pistole ab. »Größere Kugeln bringen nichts. Was ist mit anderen Kugeln? Hohlspitzgeschosse oder so?« »Tatsächlich verringern Hohlspitzgeschosse die Penetration«, sagte der Waffenwart. »Sie sind dazu konstruiert, einen größtmöglichen Gewebeschaden in der Zielperson anzurichten, aber sie werden niemals eine Traumaplatte durchschlagen. Wenn Sie nach einer magischen Kugel suchen, dann wollen Sie abgereicherte Urangeschosse.« »Ja?« Caxton hob die Brauen. »Klar. Viel dichter als Blei, also schlagen sie härter ein. Urangeschosse sind perfekte Panzerbrecher. Außerdem wei 104 sen sie eine pyrophore Wirkung auf. Wenn sie sich also beim Aufschlag deformieren, neigen sie dazu, Feuer zu fangen und zu explodieren. Sie sind auch leicht radioaktiv, wenn man sein Ziel also nicht in die Luft jagt, verursacht man immer noch Krebs. Da gibt es allerdings nur ein Problem...« »Welches?« »Sie müssten in der Army sein, um ein Urangeschoss auch nur zu Gesicht zu bekommen, und selbst die Army stellt keine Handfeuerwaffenmunition mehr daraus her. Damals in den Neunzigern hat sie es getan, aber dann wurde jemandem klar, dass wir jeden Bunker, jede Hütte und jedes Krankenhaus im Mittleren Osten mit radioaktiven Kugeln durchlöcherten. Die politische Entrüstung hätte gewaltig sein können, also hörte man auf, sie zu produzieren. Die UN versucht, die Leute dazu zu bringen, keine Uranmunition mehr zu benutzen.« »Also... haben Sie nicht zufällig eine Schachtel davon hier herumliegen?«, fragte Caxton. »Nein.« Er strich sich eine Weile den Schnurrbart, dann öffnete er eine unmarkierte Pappschachtel und stellte sie vor ihr ab. »Ich habe die hier. Sind natürlich völlig illegal. Wir haben sie vor ein paar Jahren bei einer großen Drogenrazzia konfisziert.« Caxton nahm eine Patrone aus der Schachtel. Von der Größe und Form her entsprach sie den Patronen, mit denen sie ihre Beretta 92 lud. Der einzige sichtbare Unterschied bestand darin, dass die Spitze eine glatte, grüne Beschichtung aufwies. Sie strich mit dem Finger darüber und fragte sich, warum sich das so bekannt anfühlte. »Was ist das?« Der Waffenwart mied ihren Blick. Stattdessen betrachtete er die Munitionsschachtel. Er sah sie an, als enthielte sie Giftschlangen. Schließlich verlagerte er das Gewicht auf den anderen Fuß und verriet ihr, was sie sich da ansah. »Cop-Killer.«
»Wirklich?« Sie untersuchte die Patrone erneut. Seltsamer 105 weise war sie leichter als herkömmliche Munition. »Das sind Tefiongeschosse ?« Er zuckte mit den Schultern. »Die Bezeichnung ist missverständlich. Der Teflonüberzug dient nur dazu, die Waffe zu schützen. Er macht sie nicht tödlicher. Die eigentliche Verbesserung liegt darin, den Bleikern durch Messing zu ersetzen. Messing ist viel härter als Blei, wenn es also auf das Ziel trifft - in diesem Fall Ihre Traumaplatte - wird es weder zerdrückt, noch schmilzt es. Es fliegt in einem Stück weiter, mit vollständig intakter Energie. Theoretisch kann diese Kugel jede Polizeiweste durchschlagen.« »Funktioniert das auch?« Der Mann zuckte wieder mit den Schultern. »Kommt drauf an, wen Sie fragen. Ich kenne auch da Ballistiktests von beiden Seiten. Niemand ist jemals damit angeschossen worden - sie wurden etwa zehn Minuten nach ihrer Erfindung für illegal erklärt. Also wissen wir es nicht genau. Selbst ich habe nie welche zu Gesicht bekommen, ausgenommen diese hier in der Schachtel. Theoretisch kann jede Polizeidienststelle sie kaufen, aber Sie sollten den Papierkram sehen, den das ATF vorschreibt. Ich selbst habe nur ein paar Patronen davon abgeschossen. Sie durchschlagen mühelos eine stählerne Wagentür, das kann ich Ihnen versichern. Ich weiß nur eines: Wenn diese Schachtel leer ist, werde ich für lange Zeit keinen Nachschub mehr bekommen. Also benutzen Sie sie sorgfältig.« Caxton nickte. Sie nahm die Schachtel und steckte sie in die Tasche. »Danke.« Er nickte, wobei er sie noch immer nicht ansah. »Ich habe noch etwas für Sie. Sie tragen eine Beretta 92, richtig? Für dieses Model gibt es ein Upgrade.« »Ach?« Sie zog ihre Waffe und legte sie auf die Theke. »Die hat sich brav benommen.« 105 »Hier, versuchen Sie es mal mit der.« Er öffnete einen weiteren Karton. Darin lag eine Pistole, die so gut wie identisch mit der ihren war - einmal davon abgesehen, dass sie aus der Zukunft hätte stammen können. Der Griff wirkte ergonomischer, die ganze Pistole etwas leichter, und unter dem Lauf war ein Lampenmodul angebracht. »Das ist die Beretta 90-Two.« Er zeigte ihr den Namen auf dem Schlitten. »Sie ist auf vielerlei Weise verbessert worden, aber lassen Sie mich Ihnen mein Lieblingsteil zeigen. Hier.« Er zeigte auf drei hellgrüne Punkte. »Das Visier glüht im Dunkeln. Also können Sie nachts besser schießen. Der rote Stift hier zeigt sich, wenn eine Patrone in der Kammer ist, also braucht man den Schlitten nicht zu bewegen, um nachzusehen. Dann ist da dieses Modul, das nützlich sein könnte, wenn man überlegt, mit welchen Orten Sie es so zu tun haben.« Er betätigte zwei Schalter an der Lampe. Der Strahl war hell genug, um ihn selbst im Wintertageslicht zu sehen. Das würde nützlich sein, wenn sie in mondlosen Nächten auf Vampirjagd ging. Aber was noch besser war: Direkt unter der Lampenöffnung befand sich die winzige rote Linse eines Ziellasers. »Wenn Sie Lampe und Laser gleichzeitig benutzen, hält die Batterie etwa eine Stunde. Vergessen Sie das nicht. Außerdem müssen Sie mit dem Laser manuell zielen. Zusammen mit dem Lampenmodul passt die Pistole nicht mehr in Ihr derzeitiges Hülster, aber ich habe ein neues.« Er sah zu, wie sie die Pistole auf den Schießstand richtete, sie senkte und dann wieder hochriss. »Und der beste Teil: Das Magazin fasst siebzehn Patronen. Zwei mehr, als Sie gewöhnt sind. Gefällt Sie Ihnen?« Die Waffe schmiegte sich perfekt in ihre Hand. »Ich nehme sie«, sagte Caxton. »Packen Sie sie als Geschenk ein.« 105
35'
Vor dem Aufbruch nach Syracuse hatte Caxton noch zwei Dinge zu erledigen. Das Erste würde das Schwerere sein: sie musste zu Hause vorbeisehen. Es war keine lange Fahrt zu dem Haus, das sie sich mit Clara teilte. Als sie eintraf, fuhr sie auf die Auffahrt und schaltete den Motor des Mazdas ab. Dort blieb sie eine Weile sitzen und starrte ihr Küchenfenster an. Als sie zu dem Schluss gekommen war, dass sie es nicht länger aufschieben konnte, stieg sie aus und ging zur Haustür. Sie war nicht verschlossen, was bedeutete, dass Clara zu Hause war. Caxton war nicht überrascht, ihre Geliebte am Küchentisch zu finden, wo sie ein Buch las. »Hey«, sagte Clara und schaute nur flüchtig auf. »Lange nicht gesehen.« Caxton versteifte sich. Dann zwang sie sich dazu, sich zu entspannen und sich Clara gegenüber hinzusetzen, damit sie reden konnten. Schließlich schaute Clara wieder auf, legte dann einen Finger in das Buch, um sich die Stelle zu merken, und schloss es. »Also«, sagte sie. »Hast du noch herausgefunden, wozu man Twaron eigentlich braucht?« »Ja«, sagte Caxton. Sie legte die Hände auf den Tisch, dann fing sie an, an dem Laminat am Rand herumzuzupfen. »Es wird in Ballistikwesten verarbeitet. Arkeley trug eine.« Clara riss die Augen auf. »Das also schützte sein Herz und...« »... machte es mir so gut wie unmöglich, ihn zu töten. Das ist... es hätte mir wirklich sehr geholfen, das zu wissen, bevor er gestern Nacht Jagd auf Raleigh machte.« Clara wollte etwas sagen, aber Caxton hob die Hand. »Raleigh geht es gut. 106
Aber ein anderes Mädchen hat es nicht geschafft. Hätte ich gewusst, womit ich es zu tun habe, wäre es vielleicht anders ausgegangen.« Claras Mund bebte. »Ich habe noch nie von Twaron gehört. Ich kenne nur Kevlar. Hätte in dem Bericht Kevlar gestanden, hätte ich die richtigen Schlüsse gezogen. Hey! Komm schon, du kannst mich doch nicht für den Tod eines Mädchens verantwortlich machen, nur weil ich nicht wusste, um was es sich bei Twaron handelt. Das ist nicht dein Ernst!« »Ich mache dir auch keinen Vorwurf. Ich mache ihn mir. Du hast mir gesagt, dass du für Forensik nicht qualifiziert bist. Ich hätte auf dich hören sollen.« Clara sprang auf und schlang die Arme um den Körper. Ihr Gesicht war zu einer reglosen Maske erstarrt. Caxton war lange genug mit ihr zusammen, um zu wissen, was das bedeutete - sie fühlte sich angegriffen. »Clara, ich sage doch nur, dass du es hättest googeln können. Als ich dir diesen Posten übergab, ging es mir darum, dass du mich mit Informationen versorgst. Fetlocks Experten sind schlaue Leute, und sie machen eine bestimmte Aufgabe sehr gut, aber sie geben einem nur die reinen Fakten weiter. Sie hätten mir ihren Bericht sowieso geschickt, aber ich brauchte jemanden, der ihn liest und mich über die wichtigsten Eckdaten informiert. Diese zusätzliche Mühe hättest du dir ruhig machen können. Das nächste Mal...« »Das nächste Mal? Du feuerst mich also nicht? Oh, vielen Dank!« Clara stürmte ans Fenster und starrte auf den Schnee hinaus. »Ich glaube das einfach nicht, Laura. Dieses Mal hast du mich wirklich erwischt, was? Sonst waren es immer nur Schuldgefühle, mit denen du mich in Schach gehalten hast. Jetzt muss ich mir auch noch dumm vorkommen.« »Wovon redest du? Welche Schuldgefühle?« »Mein Gott! Tu doch nicht so, als wüsstest du nicht, wovon ich spreche. Unsere Beziehung fällt auseinander. Ich hätte dich schon vor langer Zeit verlassen sollen. Aber wie konnte ich denn? Ich habe dich um mehr Zeit für uns gebeten, um mehr Intimität. Aber nein, du bist zu sehr damit beschäftigt, die Welt zu retten. Damit kann ich nun
wirklich nicht mithalten, und ich fühlte mich schuldig, weil ich es mir überhaupt wünsche. Also bleibe ich hier, ich habe Geduld, bin liebevoll und mache dir jeden Morgen dein verdammtes Frühstück. Dann kommst du mit diesem Jobangebot, und ich denke, hey, vielleicht ist es dir ja doch wichtig. Vielleicht verstehst du. Also stürze ich mich blind auf etwas, von dem ich keine Ahnung habe, etwas, an das ich noch nie gedacht habe. Und jetzt schiebst du mir den Tod eines Mädchens in die Schuhe? Gottverdammt noch mal!« »Aber so ist das doch nicht gemeint«, sagte Caxton, doch Clara stürmte bereits aus der Küche. Sie eilte ins Schlafzimmer und knallte die Tür hinter sich zu. Caxton blieb eine Weile einfach nur am Tisch sitzen, in der Hoffnung, dass ihre Freundin zurückkäme. Sie tat es nicht. Es gab zu viel zu tun, zu viele Leben standen auf dem Spiel, um noch länger warten zu können. Caxton würde später versuchen, die Wogen zu glätten. Aber bevor sie ging, nahm sie das Buch auf, in dem Clara gelesen hatte. Es war ein dickes Buch, auf dessen Einband in Großbuchstaben stand: GRUNDSÄTZE DER KRIMINALUNTERSUCHUNG, SIEBTE AUFLAGE. Sie legte es sanft auf den Tisch zurück und verließ das Haus. Der nächste Zwischenstopp war das Gefängnis in Mechanicsburg. Die Cops und Strafvollzugsbeamten, die hier Dienst taten, waren überrascht sie zu sehen, aber als sie den Silberstern aufblitzen ließ, parierten sie. Einer der COs schnappte sich einen dicken Schlüsselbund und führte sie zu den Zellen im Keller. »Als wir ihn in eine Zelle mit Fenster sperren wollten, schrie er jedes Mal«, erklärte der Correction Officer und suchte nach dem passenden Schlüssel. »Das hier sind unsere Einzelhafteinheiten, die wir für unsere übelsten Kunden reservieren. Gepolsterte Wände, keine Möbel, mal abgesehen von einer selbstmordsicheren Toilette. Das elektrische Licht brennt rund um die Uhr, damit wir sehen können, was sie tun.« »Und was tut er so?«, fragte Caxton. Der CO zuckte mit den Schultern. »Nachts sitzt er da und starrt ins Leere, manchmal geht er auch auf und ab. Die Zelle ist bloß drei Schritte breit, aber das macht er dann stundenlang. Am Tag schläft er nur, jedes Mal von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Es ist schon komisch.« »Was denn?« »Hier unten kann er nicht sehen, ob die Sonne am Himmel steht oder nicht«, sagte der CO. »Aber irgendwie weiß er es trotzdem. Er wird jetzt natürlich schlafen, aber ich kann ihn wecken, falls Sie es wünschen.« »Das tue ich«, sagte Caxton. Der Beamte schloss die schwere Tür auf und öffnete sie. Dylan Carboy lag ausgestreckt auf dem Boden, den Kopf auf der Seite. Er sah wie ein lebloser Leichnam aus. Seine Hände waren mit Nylonfesseln auf dem Rücken gefesselt, seine Füße waren nackt. »Komm schon, Junge. Du hast Besuch.« Der Junge rührte sich nicht. »Das könnte eine Weile dauern«, sagte der CO, dann packte er Carboy unter den Achseln und bemühte sich grunzend, ihn in eine aufrechte, sitzende Stellung zu bringen. »Sie sind ein U.S. Marshal, nicht wahr? Wollen Sie ihn verlegen?« Caxton war klar, wie er darauf kam - Gefangenentransport über Staatsgrenzen war eine der Hauptbeschäftigungen des 107 USMS. »Nein«, sagte sie. »Ich will nur mit ihm sprechen. Es geht um eine laufende Ermittlung.« Der CO zuckte mit den Schultern. »Mist, ich dachte schon, wir würden ihn loswerden. Der kleine Bastard ist richtig unheimlich. Wenn Sie mit ihm reden wollen, nur zu. Ich weiß aber nicht, ob er auch antworten wird.«
Caxton ging neben Carboy in die Hocke und studierte sein Gesicht. Er war bloß ein Junge und sah noch jünger aus, als sie ihn seit dem Tag der Verhaftung in Erinnerung hatte. Natürlich hatte er sich damals als Vampir verkleidet. Er war noch immer blass, aber nicht mehr so totenbleich, und seine Ohren waren rund und normal. Ein Stoppelfeld bedeckte seinen Kopf, wo die Haare wieder wuchsen. Seine Augen standen offen, bewegten sich aber nicht, sondern starrten nur blind ins Leere. »Ich kann ihn auf die Füße zerren, wenn Sie wollen«, sagte der CO. »Wir können ihn in einen Verhörraum schleifen.« »Das ist nicht nötig. Sagen Sie - hat er nach einem Anwalt verlangt?« Der CO schüttelte den Kopf. »Wir haben es ihm mehrmals angeboten. Sogar nach Einbruch der Dunkelheit, wenn er redet. Er will sich rächen, sagt er. Er will Blut. Das sagt er oft. Aber auf einen Anwalt kann er verzichten.« »Also gut. Ich spreche eine Weile mit ihm, dann sorge ich dafür, dass Sie ihn loswerden.« Der CO nickte und nahm neben der Tür Aufstellung, die Hände auf dem Rücken, und wartete darauf, dass sie tat, was sie tun musste. Caxton bat gar nicht erst darum, mit dem Gefangenen allein sprechen zu können. Das würde man unter keinen Umständen genehmigen, nicht bei jemanden, der so labil und gewalttätig war wie Carboy. »Erinnern Sie sich an mich?«, fragte sie. Das Gesicht des Jungen veränderte sich nicht. Er wollte ein Vampir sein, und 108
natürlich sprachen Vampire nicht, während die Sonne schien. Offenbar war er entschlossen, das Spiel weiter durchzuhalten, auch wenn es ihm niemand abnahm. »Ich bin Laura Caxton. Sie wollten mich töten. Erinnern Sie sich?« Caxton runzelte die Stirn. »Es stand überall in ihren Notizbüchern.« Carboys Oberlippe zuckte. Nur ein Zucken, aber es reichte, dass Caxton es bemerkte. Vielleicht war es das, was sie brauchte: einen Zugang. Das Geheimnis eines Polizeiverhörs lag nicht darin zu wissen, wann jemand log. Man musste von der Annahme ausgehen, dass alles, was der Verdächtige sagte, eine Lüge war. Nein, das Geheimnis bestand darin, den Knopf zu finden, den man drücken musste, die eine Sache, die den Verdächtigen so sehr störte, dass sie ihn genug aus der Bahn warf, um die von ihm sorgfältig zurechtgelegten Fakten in Unordnung zu bringen. In diesem speziellen Fall würde es darum gehen, etwas zu finden, das bei Carboy eine Reaktion hervorrief. »Wir haben die Notizbücher in Ihrem Haus gefunden. Sie erinnern sich doch, das Haus, in dem Sie Ihre Schwester erwürgt haben.« Das Zucken kam erneut, als sie die gefundenen Notizbücher erwähnte, aber bei der Erwähnung seiner Schwester blieb es aus. Ja, sie hatte ihn. Diese Notizbücher waren ihm wichtig. »Ich habe mir nicht die Mühe gemacht, sie zu lesen. Alles wiederholte sich bloß, und es war nicht besonders gut geschrieben. Also gab ich sie einem meiner Officer. Er musste eines sogar richtig auseinanderreißen, weil das Blut die Seiten so verklebt hatte. Danach bestand es nur noch aus Fetzen.« Die Oberlippe des Jungen hatte sich so weit hochgeschoben, dass sie seine Zähne sehen konnte. »Was ich gelesen habe, war irgendwie witzig. >Laura Caxton wird zu Halloween sterben<. Aber jetzt ist schon fast Weihnachten - und da sitzen wir hier zusammen. Ich laufe 108
völlig gesund herum, und Sie hocken hier, wo Sie nicht einmal armselige Gedichte schreiben können, um sich die Zeit zu vertreiben.«
Sein Mund öffnete sich, und sie glaubte, gleich würden Worte hervorsprudeln. Stattdessen setzte er vorsichtig die Zähne aufeinander und schloss die Lippen. Sie waren weiß vor Anspannung. »Ich glaube, ich mache von den witzigeren Seiten Fotokopien und zeige sie all meinen Freunden bei der Truppe.« »Ich würde sie auch gern sehen«, sagte der CO hinter ihr und spielte mit. Guter Mann, dachte sie. »Ich glaube, da hätten wir hier alle unsern Spaß dran.« Caxton nickte eifrig. »Klar, ich schreibe Ihre Adresse auf, bevor ich aufbreche, damit ich sie Ihnen schicken kann. Eine Stelle ist einfach köstlich. Er schreibt da über Jameson Arkeley - Sie wissen schon, das ist der echte Vampir. Dylan hier behauptet doch tatsächlich, mit ihm gesprochen zu haben. Also bitte!« Der Junge schnellte nach vorn, seine Zähne erwischten ihr Mantelrevers. Der CO stürmte heran, aber Caxton stoppte ihn mit einer Handbewegung. Carboy knurrte und trommelte mit den Füßen auf den Boden, doch sie hielt ihn mühelos unten, drückte ihn an den Schultern auf den Boden, wobei sie auf seine Verletzung achtete. Der Junge war so schwach wie ein halb verhungerter Hund, und kurz fragte sie sich, ob er im Gefängnis überhaupt schon etwas gegessen hatte - wenn er wollte, dass ihn jeder für einen Vampir hielt, konnte er ja schlecht feste Nahrung zu sich nehmen. Carboy wand sich und stöhnte. »Er kam zu mir. Er kam zu mir! Er wusste, dass ich würdig bin. Er wusste, dass ich alles tun konnte, was er wollte, dass ich nicht versagen würde! Das habe ich ihm bewiesen. Ich habe bewiesen, dass ich jeden töten kann, jeden, den ich liebe. Genau so wie er.« 109 »Und Malvern?«, fragte Caxton. »Ist sie auch zu dir gekommen?« »Nur im Traum«, sagte der Junge. »Wo sind sie, Rexroth?«, fragte Caxton. Möglicherweise erhielt sie bessere Resultate, wenn sie seine angenommene Vampirpersönlichkeit ansprach. »Sag mir, wo sie sind.« Carboy schüttelte sich wild, versuchte sich zu befreien. Der CO hustete. Es war seine Weise, ihr zu sagen, dass sie kurz davor stand, ihren Gefangenen zu misshandeln. Sie ließ aber nicht los. »Sag es mir, wenn du so viel weißt. Wenn sie wirklich zu dir gekommen sind, dann sag es mir. Oder ich werde dir niemals glauben. Wo ist ihr Versteck?« »Ich bin noch immer würdig! Er wird wieder zu mir kommen. Er wird mich befreien!«, kreischte der Junge. »Du lügst! Du bist ein wertloses, verlogenes Stück Scheiße«, bellte Caxton. »Er ist niemals zu dir gekommen. Warum sollte er auch? Du bist ja gar nichts. Du bist ein Niemand.« »Ich werde ihn nie verraten! Er hat mich vor dir gewarnt! Er hat mir gesagt, ich soll nichts sagen. Nichts! Ich bin noch immer würdig, Jameson! Ich bin noch immer würdig!« Der CO hustete wieder, dieses Mal viel lauter. Caxton zwang sich dazu, den Jungen loszulassen. Sie sprang auf und zurück, damit er sie nicht noch einmal beißen konnte, überlegte, ihn in die Rippen zu treten. Aber dann verließ sie einfach nur die Zelle. Der CO folgte ihr wenige Augenblicke später und fragte sie, ob sie noch etwas brauchte, aber sie sah ihn nicht einmal an. Sie war schon unterwegs zu ihrem Wagen - und nach Syracuse.
Simon »Fliehe - Fliehe um dein Leben«, rief der Versucher, »breche aus ins Leben, in die Freiheit und die Normalität. Dein Glück, dein Verstand, vielleicht auch
deine unsterblichen Interessen hängen von der Entscheidung ab, die du triffst - in diesem Augenblick.« Charles Maturin Melmoth der Wanderer
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Caxton war schon auf dem Highway - auf der 1-81 , in Richtung Syracuse -, als ihr bewusst wurde, dass ihr Gesicht schweißnass war. Sie wischte es mit einer Hand ab und steuerte mit der anderen. Das hätte besser laufen können, dachte sie. Sie hatte dem Jungen wehtun wollen. Sie hatte ihn in den Zellenboden stampfen wollen, bis er ihr verriet, was sie wissen wollte. Nur die Anwesenheit des CO hatte sie davon abgehalten. Dabei bezweifelte sie, dass er überhaupt etwas Nützliches wusste Jameson war zu sorgfältig und zu gut im Verwischen seiner Spuren, um einem verrückten Jungen sein größtes Geheimnis anzuvertrauen, nämlich sein Versteck. Soweit sie wusste - und trotz aller Beweise, die das Gegenteil vermuten ließen - war Carboy Jameson vermutlich niemals persönlich begegnet. Glauer hatte sie zwar so gut wie davon überzeugt, aber ein Teil von ihr glaubte noch immer, dass Carboy das alles nur erfunden hatte, dass seine Geschichte, mit Vampiren gesprochen zu haben, der Auswuchs eines kranken Hirns war. Der Junge war zweifellos geisteskrank. Geistig gesunde Menschen ermordeten nicht ihre Familien, um sich dann als Vampire zu verkleiden und auf State Trooper Jagd zu machen. Aber er log. Oder nicht? Sie hatte ihn besucht, weil sie es sich nicht leisten konnte, einen Stein unumgedreht zu lassen. Weil ihr die Ideen ausgingen. Das machte ihr Angst - und ihre Angst hatte sie gewalttätig gemacht. Also musste sie diese Angst unter Kontrolle bringen. Sie versuchte sich auf die Fahrt zu konzentrieren. Sie widmete den Autobahnmarkierungen ihre volle Aufmerksamkeit,
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damit sie an nichts anderes denken musste. Ein paar Stunden später fing es tatsächlich an zu funktionieren - hauptsächlich, weil die Fahrt immer schwieriger wurde, je weiter sie nach Norden kam. Schnee färbte die Straße weiß, zuerst in Form breiter Pulverbahnen, die fächerförmig über den Asphalt wehten, dann als eine dünne Matschschicht, in die ein Schneepflug eine dreieckige Schneise gegraben hatte. Nördlich von Binghamton, direkt hinter der Staatsgrenze von New York, verwandelte sich der Schnee in eine dicke, reine, weiße Decke, und ihre Räder fingen an, den Halt zu verlieren. Sie musste an einem Rastplatz anhalten und Schneeketten aufziehen. Sie arbeitete schnell, weil sie keine Zeit verlieren wollte und weil es kalt war, kälter, als sie erwartet hätte. Ihre Hände brannten jedes Mal, wenn sie das Metall berührte. Sie verfluchte sich und wünschte, sie hätte sich die Mühe gemacht, den Wetterbericht zu kontrollieren. Ihr Mazda war nicht für extreme Wetterverhältnisse geeignet - hätte sie das vorher besser durchdacht, hätte sie einen Streifenwagen oder sogar ein Fahrzeug mit Allradantrieb anfordern können. Wieder auf dem Highway musste sie mit dem Tempo heruntergehen. Die Ketten sorgten für eine bessere Bodenhaftung auf der Straße, aber es war noch immer glatt genug, um gefährlich zu sein. Hinter Cordand holte sie den Sturm ein. Und plötzlich war der Himmel so weiß wie die Straße, voller dicker Flocken, die auf ihrer Windschutzscheibe zerplatzten. Scheinwerfer durchbohrten das Schneegestöber und blendeten sie, während die Bremslichter der vorausfahrenden Wagen rote Rosen auf ihrer Scheibe erblühen ließen. Eine wie ein Stroboskop blitzende Warnleuchte ließ sie blinzeln und beinahe von der Straße abkommen. Vor ihr donnerte ein Schneepflug nach Norden und blies eine nasse Schneefontäne von beiden Seiten seiner Schaufel. Er
konnte zwar nicht schneller als dreißig Meilen fahren, doch sie musste ihre Instinkte niederkämpfen, die 111 sie drängten, ihn zu überholen. Denn so schlimm der Schnee hinter dem Pflug auch sein mochte, vor ihm würde er ganz unpassierbar sein. Also behielt sie beide Hände am Steuer und versuchte in den Spuren des Pfluges zu bleiben, zwei dunklen Kanälen voller Matsch. Nur diese Spuren verrieten ihr, wo die Straße eine Biegung beschrieb im Sturm konnte sie nicht einmal mehr die Seitenplanken sehen. Bis Syracuse brauchte sie drei weitere Stunden, und dann musste sie sich noch den Weg durch das Straßenlabyrinth der Stadt suchen. Ein paar Straßen waren geräumt, es gab eine schmale Fahrspur und einen Meter achtzig hohe Schneeberge zu beiden Seiten; hier und da standen Fahrzeuge so tief in den Verwehungen begraben, dass sie sich fragte, ob man sie jemals wiederfinden würde. Die viktorianischen Häuser, die sie passierte, waren zur Hälfte eingeschneit, auf den Dächern lagen dicke Schneeschichten - wie der Zuckerguss auf einer Torte. Selbst die Straßenschilder wurden von verkrustetem Schnee zum Teil unlesbar gemacht, und mehr als nur einmal musste sie mitten auf der Straße stehen bleiben und die Karte zu Rat ziehen. Um sechzehn Uhr fünfundvierzig erreichte sie den Universitätscampus, eigentlich schon nach Einbruch der Dunkelheit, obwohl das schwer zu sagen war. Der Himmel hatte eine ungewöhnliche blaugraue Färbung angenommen; der Lichtschleier, der von den Gebäuden der Stadt herrührte, lag unter schweren Wolken gefangen. Die Straßenlampen sahen wie Duschköpfe aus, die diamantenhelle Schneeflocken herabregneten; Nebelschwaden strichen durch die Straßen, wie frierende Geister auf der Suche nach einem warmen Ort zum Spuken. Der Campus ragte aus dem Sturm empor, während sie vorbeiratterte. Sie erkannte Ziegelbauten mit beschlagenen Fenstern, die als Studentenunterkünfte dienten, Bibliotheken und Unterrichtsgebäude aus großen Betonplatten, die der 111
schmelzende Schnee mit dunklen Flecken zeichnete. Ihr fiel ein gewaltiges graues Haus mit einem schwarzen Mansardendach auf, bei dem es von Giebeln und Dachfenstern nur so wimmelte. Es erinnerte sie an das Anwesen der Addams-Familie aus der Fernsehserie. Fetlocks Wegbeschreibung zufolge bog sie links ab und fuhr an einem weitläufigen Park vorbei, dessen geschwungene Hügel wie ein Ozean mit rollenden weißen Wellen aussahen, dann ging es wieder nach links auf die Westscott Street, wo kleine Läden und Geschäfte gelbes Licht auf die verhüllte Straße warfen. Sie passierte einen großen New-Age-Buchladen und erreichte endlich ihr Ziel, die Ecke von Westscott und Hawthorne. Auf jeder Seite duckten sich zweistöckige Häuser in den Schnee, die aus den Zeiten der vorletzten Jahrhundertwende stammten. Sie waren in hellen Farben gestrichen, die das Wetter in Pastelltöne verwandelte, und aus irgendeinem Grund wiesen sie im ersten Stock alle Balkone auf. Caxton fragte sich, wie dieser Ort wohl im Sommer aussehen mochte, aber sie bekam das Bild in ihrem Kopf letztlich nicht richtig hin. Alles war so voller Schnee, dass sie sich das Winterende einfach nicht vorstellen konnte. Sie parkte hinter einem weißen Van, einem Ford E-150 mit getönten Scheiben und ohne jede Markierung. Er stand bis zu den Radkästen im Schnee begraben, aber die Windschutzscheibe war gesäubert worden, und zwar erst kürzlich. Es war so offensichtlich ein Überwachungswagen der Polizei, dass es schon wehtat, ihn anzusehen. Für die lokalen Feds war Diskretion anscheinend ein Fremdwort. Vielleicht war Simon ja so mit seinen Studien beschäftigt gewesen, dass er gar nicht bemerkt hatte, dass der Wagen seit zwei Tagen ununterbrochen vor seinem Haus parkte. Aber natürlich hatte sie noch nie so viel Glück gehabt.
Fetlock hatte seine U.S. Marshals mit der Überwachung beauftragt, weil er der Überzeugung war, dass sie das besser 112 konnten als die Ortspolizei. Es war nicht Caxtons Aufgabe, diese Entscheidung zu hinterfragen. Als sie Motor und Scheinwerfer ausschaltete, öffnete sich die Hintertür des Vans, und eine behandschuhte Hand winkte sie heran. Sie sprang aus dem Mazda und eilte durch das heulende Schneegestöber in den Van hinein und schlug die Tür hinter sich zu. Drinnen saßen drei Männer, die genau so wie sie Silbersterne am Revers trugen, auf Drehstühlen und ließen eine Thermoskanne kreisen. Sie alle trugen Parkas, Handschuhe, Hüte und schwere Stiefel. Einer von ihnen erhob sich ein Stück von seinem Sessel, um ihr die Hand zu schütteln. »Deputy Marshal Fetlock hat uns gesagt, dass Sie kommen. Caxton, oder? Ich bin Young, das ist Miller, und der Bursche dahinten heißt Benicio.« »Nennen Sie mich Lu«, sagte Benicio und winkte ihr zu. »Die Kurzform für Luis, aber das spricht keiner richtig aus. Obwohl es da, wo ich herkomme, ein ganz gebräuchlicher Name ist.« »Und wo kommen Sie her?«, fragte Caxton. Er lächelte. »Utica.« Ihre Füße machten schmatzende Geräusche auf dem Teppichboden, der sich mit einem halben Zentimeter schlammigem Wasser vollgesogen hatte. Plastikwasserflaschen schwammen in der Brühe, jede davon mit einer gelben Flüssigkeit gefüllt, die sie lieber gar nicht erst identifizierte. Sie kämpften mit der Verpackung von Mikrowellenburitos und Fast-Food-Kartons um Platz. In dem Van war es kalt genug, um den eigenen Atem zu sehen, wenn auch nicht ganz so schlimm wie draußen. Caxton ließ sich auf einen vierten Stuhl sacken und erwiderte die Vorstellung mit einem Nicken. »Ihr Jungs seid schon eine Weile hier, was? Dafür habt ihr euch ja einen tollen Tag ausgesucht.« 112 Young lachte. »Was, Sie meinen das Wetter? Das ist doch gar nichts. Wir kommen alle aus dem Syracuse-Büro des USMS, also sind wir daran gewöhnt. Syracuse ist die schneereichste Stadt am achtundvierzigsten Breitengrad. Was bekommen wir? So dreihundert Zentimeter Schneefall pro Jahr?« Miller nickte eifrig. »Das sind hauptsächlich Schneeböen. Es fällt viel, schmilzt dann aber nach ein paar Tagen. Warten Sie bis Januar, wenn Sie mal richtigen Schnee sehen wollen. Wenn er so tief wird, dass man die Haustür nicht mehr aufbekommt, dann fangen wir an, uns Sorgen zu machen.« Caxton schüttelte den Kopf. Verglichen damit ging es ja in Pennsylvania zu wie in den Tropen. »Was macht unsere verdächtige Person?«, fragte sie und beugte sich vor, um durch die Frontscheibe sehen zu können. Von dem Wagen aus hatte man einen guten Blick auf das gegenüberliegende Haus, das Simon Arkeleys letzte bekannte Adresse war. Im viktorianischen Stil erbaut und weiß gestrichen wie alle anderen auch verschmolz es mit dem Himmel. Seine gelben Fenster schienen in der Luft zu hängen. Sie konnte die Veranda sehen, die mit Gartenmöbeln und allem möglichen Krempel vollgestellt war, und den Balkon, der größtenteils leer schien. Lu ging neben ihr in die Hocke und gab ihr ein Fernglas. Nur hinter zweien der Fenster brannte Licht. »Das da oben im ersten Stock ist seins. Er sitzt da schon den ganzen Nachmittag und liest ein Buch.« Sie schaute in die vorgegebene Richtung und erkannte dort jemanden hinter dem Fenster sitzen. Aber bei den schlechten Lichtverhältnissen konnte sie lediglich eine grobe Silhouette ausmachen. Es musste Simon Arkeley sein. Wie beschrieben hielt er ein Buch in den Händen und beugte den Kopf darüber. Sie sah zu, wie er ein paarmal umblätterte, dann ließ sie sich zurücksinken.
»Wer wohnt im Erdgeschoss?«, fragte sie. Durch das Fens 113
ter war niemand zu sehen, nur das gelegentliche Flackern des Fernsehers. »Der Hausverwalter«, sagte Lu. »Ein alter Kerl, ist meistens betrunken. Er ist den ganzen Tag noch nicht vor der Tür gewesen, das heißt, einmal schon, um unten im Schnapsladen Bier zu holen.« Caxton seufzte und blickte wieder durch die Wagenscheiben. Sie bezweifelte, dass Simon in dieser Nacht das Haus verlassen würde, nicht bei diesem heftigen Schneefall. Vermutlich würde sie lange Zeit in dem kalten Wagen sitzen müssen. »Wie sieht Ihr Plan aus?«, fragte Lu. »Ich vermute mal, Sie sind den weiten Weg nicht hergekommen, nur um die Vierte beim Bridge zu sein.« Sie lächelte. Diese lockere Kameradschaft bei Überwachungen kannte sie gut. Bei der Highway Patrol hatte sie oft genug dabei mitgemacht. »Nun«, sagte sie und versuchte ihren nächsten Zug zu entwickeln, indem sie laut dachte, »ich werde...« Aber weiter kam sie nicht. Ihr Handy klingelte. Es war Fetlock. »Wir haben ein Versteck gefunden«, sagte er. Ist er da? Ist Malvern da?«, wollte Caxton wissen. »Nein, keiner von ihnen«, erwiderte Fetlock und klang beinahe schuldbewusst. »Und allem Anschein nach sind sie schon eine ganze Weile nicht mehr dort gewesen. Lassen Sie mich Ihnen in Ruhe die Einzelheiten erklären, einverstanden?« 2 113
Caxton schloss die Augen und ließ sich auf ihren Sitz zurücksinken. »Also gut«, sagte sie und klemmte sich das Handy gegen das Ohr. Sie holte ein kleines Notizbuch aus der Tasche, dann schnippte sie mit den Fingern und machte eine Geste, dass sie etwas aufschreiben wolle. Lu reichte ihr einen Kugelschreiber. »So gegen vierzehn Uhr hatten wir alle anderen möglichen Verstecke von Ihrer Liste ausgeklammert«, fuhr Fetlock fort. »Ein paar meiner Männer aus Reading wollten sich um den letzten Eintrag kümmern, aber es wurde schon spät, und sie wollten nicht nach Sonnenuntergang dort sein.« »Gut«, sagte Caxton. »Schlau.« »Nun, Sie haben uns ja gewarnt. Sie näherten sich dem Ort und schauten sich schnell um. Es handelte sich um ein stillgelegtes Getreidesilo direkt außerhalb von Mount Carmel. Da gab es definitive Zeichen kürzlicher Benutzung - jemand hatte sich Zugang zu einem der Außengebäude verschafft, die Ketten von der Tür gerissen und sich gar nicht erst die Mühe gemacht, sie wieder zu ersetzen. Meine Leute nahmen an, dass es sich um harmlose Einbrecher handelte, die sich dort umgesehen hatten, ob es etwas zu stehlen gab. Nachdem sie sich vergewissert hatten, dass keine Halbtoten irgendwo lauerten, betrat ein Drei-Mann-Team das Gebäude und fand leere Infusionsbeutel wie aus dem Krankenhaus. Wie die, in denen man Blutkonserven aufbewahrt.« »Was ist mit menschlichen Überresten? Möbel aus Knochen, Leichen, die man mit Draht in lebensähnliche Posen brachte?« Das waren die Dinge, die man in einem Vampirversteck zu finden erwartete. Die Caxton dort zuvor auch schon gefunden hatte. »Nichts dergleichen, aber die Blutkonserven allein hätten schon ihr Interesse geweckt, wäre da nicht auch noch ein Sarg gewesen. Ein sehr alter, sehr billiger Sarg, der zerbro 113 chen war. Sie befolgten ihre Befehle und riefen Verstärkung. Viel Verstärkung. Als keine Vampire auftauchten, schickten sie schwer bewaffnete Einheiten rein, um den Ort zu sichern und die Beweise zu holen. Sie erledigten es und zogen sich augenblicklich wieder von dem Ort zurück, so gegen halb fünf, gerade als die Sonne unterging.«
Caxton stieß einen beinahe glücklichen Seufzer aus. Wenigstens Fetlock schien zu begreifen, wie das funktionierte, wenn es schon kein anderer tat. Man hielt sich gegen Sonnenuntergang nicht in einem Vampirversteck auf, ganz gleich, wie verlassen es auch aussehen mochte. Da provozierte man den Arger förmlich. »Die Beweismittel hat man in Ihr HQ in Harrisburg gebracht. Ich habe dann meine Forensiker und Ihre Teamführerin geholt - Clara Hsu - zur Anleitung.« »Clara war Teil der Untersuchung?«, fragte Caxton etwas überrascht. »Wie war sie denn... ich meine, konnte sie helfen?« »Ja«, sagte Fetlock. Caxton staunte, als er fortfuhr. »Sie ist zwar offensichtlich nicht in Forensik ausgebildet, aber sie hat viele interessante Fragen gestellt und eine mysteriöse Sache für uns aufgeklärt. In dem Sarg befanden sich ein paar Hautzellen. Nur ein paar Flocken, wie Kopfschuppen, aber als wir einen DNS-Test machten, bekamen wir kein Ergebnis.« »Keine Übereinstimmung in der Datenbank?« »Nein«, sagte Fetlock. »Ich meine, es gab keine DNS. Was meine Forensiker völlig verwirrt hat. Dann wies uns Clara darauf hin, dass Vampire gar nicht über menschliche DNS verfügen.« Wow, dachte Caxton. Clara hatte zugehört. Sie hatte den richtigen Schluss gezogen. Caxton wäre wahnsinnig stolz auf ihre Freundin gewesen, hätte sie sich nicht so schuldig gefühlt, weil sie zuvor nicht an Clara geglaubt hatte. 114 »Sie konnten die Hautproben aber einer Radiokarbon-Datierung unterziehen. Sie müssen mindestens ein paar hundert Jahre alt sein.« »Also stammen sie von Malvern«, sagte Caxton. »Malvern hat sich in diesem Versteck aufgehalten. Ohne Jamesons Hilfe kann sie nirgendwo hin, also müssen sie beide dort gewesen sein.« »Nicht nur sie. Wir fanden Fingerabdrücke an den Blutkonserven. Als wir die in die Datenbank eingaben, bekamen wir sofort eine Übereinstimmung. Die Abdrücke gehören Dylan Carboy alias Kenneth Rexroth.« »Wirklich?« Am liebsten hätte sich Caxton vor die Stirn geschlagen. Also hatte Glauer recht gehabt. Es gab eine eindeutige Verbindung zwischen Carboy und Jameson. So wie es aussah, würde sie sich bei einigen Leuten entschuldigen müssen. »Das ist alles, was wir bis jetzt haben, die eindeutigen Beweise. Meine Leute waren allerdings bereit, eine Annahme auszusprechen. Nach dem Staub auf dem Sarg und den Blutkonserven zu schließen hat sich schon seit Wochen niemand mehr in diesem Versteck befunden. Das würden sie zwar vor Gericht nicht beschwören, aber sie waren sich ziemlich sicher.« »Das ist großartig«, sagte Caxton. »Das ist eine Menge an Informationen, die wir zuvor nicht hatten. Das hilft wirklich, ein paar Lücken aufzufüllen. Blutkonserven - es klingt, als hätte Jameson dieses Versteck benutzt, bevor er durchdrehte, bevor er jemanden tötete. Aber er dürfte hungrig gewesen sein. Sich verzweifelt nach Blut gesehnt haben. Er muss Carboy losgeschickt haben, Blut aus einem Krankenhaus oder einer Blutbank zu stehlen - aber das konnte nicht funktionieren. Vampire können kein kaltes Blut trinken. Es muss frisch oder warm sein, damit sie sich davon nähren können.« »Okay«, sagte Fetlock. »Nicht mein Fachgebiet. Ich lasse 114 den Ort überwachen - aus der Ferne. Falls dort jemand während der Nacht rein- oder rausgeht, lasse ich es Sie wissen.«
»Danke.« Caxton klappte das Handy zu. Sie war sich ziemlich sicher, dass das alte Versteck aufgegeben und Jameson längst woanders hingezogen war. Aber es war gut, dass Fetlock kein Risiko einging. Eine Weile war sie ganz kribbelig vor Aufregung, fügte im Kopf Puzzleteile zusammen, fügte neue Informationen zu denen hinzu, die sie bereits kannte. Aber während der Abend seinen Verlauf nahm, verblich diese Aufregung schließlich. Die neuen Informationen waren nützlich. Doch es änderte nichts. Jameson war noch immer da draußen. Möglicherweise würden ihr die Beweise helfen, ihn zu erwischen, aber im Augenblick musste sie sich weiter auf Simon konzentrieren. Dass er am Leben blieb. Sie versuchte sich zu entspannen, sich auf die Unterhaltung der drei Feds zu konzentrieren. Sie unterhielten sich über die Orangemen, Syracuses Basketballmannschaft. Offenbar hatte man einen der Starspieler dabei erwischt, wie er im Umkleideraum Crack rauchte. Es gab eine Diskussion, ob man ihm erlauben sollte, die Saison zu beenden, bevor man ihn anklagte. »Es ist ja nicht so, als hätte er gedealt«, sagte Miller. »Das war nur Besitz.« »Mit oder ohne die Absicht zum Weiterverkauf?«, fragte Young. Er öffnete eine neue Tüte Cornchips und schob sich ein paar in den Mund. Caxton blickte durch das Seitenfenster auf die Straße, auf die Kreuzungen zu beiden Seiten. Etwas fühlte sich falsch an. Vielleicht war sie einfach zu angespannt, zu paranoid. Vermutlich war es ja das. Trotzdem. Sie hatte nicht so lange überlebt, weil sie von der Annahme ausgegangen war, alles sei in Ordnung. »Ihr kennt doch diese Gegend, oder?«, fragte sie. »Was ist hinter dem Haus?« 115 Miller grunzte. »Ein paar Hinterhöfe, dazwischen Zäune.« »Könnte sich jemand durch die Hintertür verdrückt haben, ohne dass ihr das bemerkt? Über den Zaun gesprungen sein und dann über eine Seitenstraße weg?« Young setzte sich aufrecht hin. »Klar. Vorausgesetzt, jemand fehlt. Daran haben wir auch schon gedacht, und wir haben dafür gesorgt, dass wir in jedem Augenblick wissen, wo sich Simon und der Hausverwalter aufhalten. Hätte Ihr Verdächtiger das Fenster verlassen, wäre einer von uns gegangen, um die Hinterseite des Hauses zu überwachen. Aber er hat sich nicht gerührt, nicht seit heute Mittag.« »Er war nicht mal im Badezimmer?«, fragte Caxton. Miller zuckte mit den Schultern. »Vielleicht einmal vor ein paar Stunden, aber nach ein paar Sekunden war er wieder da. Nicht lange genug, um etwas zu unternehmen.« Caxton richtete das Fernglas wieder auf Simon. Die Gestalt war schwer zu erkennen, nur die grobe Silhouette eines jungen Mannes, der ein Buch las. Ein junger Mann... »Scheiße!«, sagte sie und schlug kräftig genug auf die Stuhllehne, um die Männer zusammenzucken zu lassen. »Er hat euch reingelegt. Gottverdammt noch mal, er muss es schon vor Stunden getan haben. Lu, Sie kommen mit mir. Miller, Young, Sie bleiben hier und geben uns Deckung.« »Was zum Teufel«, fragte Young. »Wovon reden Sie? Er hat sich nicht gerührt seit...« »Sehen Sie sich seine Finger an«, knurrte Caxton. »Seine Finger. Simon Arkeley trägt keinen Nagellack.« Lu hatte die Wagentür schon aufgestoßen. Er sprang in den Schnee hinaus, und sie folgte ihm, nachdem sie sich ein Walkie-Talkie geschnappt hatte. Sie kämpften sich über den Bürgersteig und die Veranda hinauf. Caxton hämmerte gegen die Haustür. »Aufmachen!«, brüllte sie. »Aufmachen! Bundesagenten!« 115 Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis der Verwalter zur Tür kam. Als er sie einen Spalt öffnete, hob Caxton das Revers an, um ihm ihren Stern zu zeigen.
»Was wollen Sie denn?«, fragte der Mann. Er war Ende fünfzig, etwa mittelgroß. Die untere Gesichtshälfte war voller Bartstoppel, seine Augen wirkten feucht und rot. Vielleicht hatte er geschlafen. Sein Atem stank nach Bier. Er sah von Caxton zu Lu und wieder zurück. »Bundesagenten«, wiederholte Caxton. »Wir müssen rein. Könnten Sie einen Schritt zurücktreten, Sir?« Es war sein Recht, einen Durchsuchungsbefehl zu verlangen. Caxton war sich nicht sicher, wie sie reagieren würde, wenn er es tat. Aber nach einem Moment lang zuckte er bloß mit den Schultern und trat zurück, damit sie und Lu ins Haus drängen konnten. Es war warm hier, beinahe erdrückend heiß. Die Eingangshalle stand voller sehr alter Möbel - einer Kommode, einem Spiegel, einem Sofa, das eine Antiquität hätte sein können, wäre der Polsterbezug nicht voller Risse gewesen, aus denen Füllmaterial drang. »Es geht um diesen Jungen da oben, richtig? Arkeley? Hat er was Schlimmes gemacht? Ich hab mir schon immer gedacht, dass er mal Arger bekommt«, flüsterte der Verwalter. »Er ist sowieso der Einzige, der hier ist. Kommt ständig mitten in der Nacht nach Hause, scheint nie zu schlafen, und ich habe ein paar der Bücher gesehen, die er mitbringt, skandalöse Sachen...« »Welches Zimmer hat er?«, unterbrach ihn Caxton. »Oben an der Treppe, links.« Der Mann zuckte wieder mit den Schultern. »Wenn Sie mich brauchen, ich bin hier unten.« Er schlurfte zu seiner Wohnung zurück, wo der Fernseher irgendwas über Unterwäschemodels dröhnte, die offenbar einen Wettkampf darüber austrugen, wer die meisten Zuckmückenlarven essen konnte. 116 Caxton stürmte bereits die Treppe hinauf. Das Geländer unter ihrer Hand wies zahllose tiefe Kratzer und Stellen auf, wo der Lack bis auf das Holz abgescheuert war, vermutlich von zahllosen Generationen von Studenten, die hier ein- und ausgegangen waren. Oben bog sie nach links ab und fand die gesuchte Tür. Sie klopfte zweimal an, dann zog sie die Waffe. Hinter ihr schaute Lu sie überrascht an, aber dann zog auch er die Pistole. Caxton klopfte erneut. Es klang nach einer Wabentür, die Art, die man mühelos eintreten konnte. Als niemand antwortete, machte sie Anstalten, genau das zu tun. »Whoa, whoa«, sagte Lu und griff nach ihrem Arm. Sie starrte ihn finster an. »Das können Sie nicht machen. Das ist nicht koscher.« Sie wusste ganz genau, was er meinte. Ohne Durchsuchungsbefehl oder Beweise, dass im Zimmer ein Verbrechen verübt wurde, konnte sie nicht einfach die Tür eintreten, jedenfalls nicht auf legale Weise. Sie hatte aber keine Zeit, auf legale Weise vorzugehen. »Der Vampir kommt. Vielleicht heute Nacht, vielleicht morgen. Wollen Sie, dass dieser Junge von seinem eigenen Vater getötet wird? Dass man ihm die Kehle herausreißt und überall sein Blut verteilt?« »Nein«, gestand Lu. Sie hob den Fuß, doch er griff schon wieder nach ihrem Arm. »Aber ich will mich auch nicht vor der Dienstaufsicht verantworten müssen«, sagte er. »Hören Sie, ich habe diesen Job erst seit etwa einem Monat. Davor bin ich in Tipp Hill Streife gegangen, und da will ich nicht wieder hin. Young kann ein richtig harter Brocken sein, wenn es um die Vorschriften geht.« »Er muss es ja nicht erfahren«, schlug Caxton vor. »Vielleicht stand die Tür bei unserem Eintreffen ja offen und wir 116
haben keine Ahnung, wieso das Schloss kaputt war. Vielleicht glaubten wir auch, jemand würde um Hilfe rufen, dabei war es nur der Fernseher des alten Mannes, wie sich hinterher herausstellte.« Lu starrte sie ungläubig an. »Es ist niemand hier, der sagen kann, ob es sich so abgespielt hat oder nicht«, sagte sie, »außer Ihnen und mir.« Dann trat sie die Tür auf. Sie flog ohne jedes Problem zurück; der Riegel klirrte. »Ach, zum Teufel«, stöhnte Lu. »Lady, Sie sind verrückt!« »Ich bin verzweifelt«, sagte Caxton und betrat das Zimmer.
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Das Zimmer schien mit Büchern gefüllt zu sein - mit sonst nichts. Sie erhoben sich vom Boden zu schwankenden Stapeln, füllten einen der zwei vorhandenen Tische, und mehr als nur ein paar lagen scheinbar sorgfältig aufgeschlagen auf dem Bett. Es gab normale Bücher und in Leder eingebundene Bände und eselsohrige Taschenbücher, eine Menge Flugblätter und diverse fotokopierte Faksimilies von Büchern mit Spiralheftung und Acetat-Cover. Es gab auch Lehrbücher, die so neu waren, dass sie noch eingeschweißt waren, und Bücher, die so alt waren, dass sich der Rücken nach hinten kräuselte und roter Staub auf die Einbände anderer Bücher rieselte. Caxton schaute sich ein paar davon wahllos an. Sie sah ein Taschenbuch mit dem Titel Secret Societies von Arkon Darauf und einen abgenutzten alten Text auf Latein mit dem Bild eines Dämons auf dem Titelbild, das Lemegeton Clavicida Salmonis. Irgendwie bezweifelte sie, dass es etwas mit den Schlüsselbeinen von Fischen zu tun hatte. 117 Caxton schwang die Beretta herum und nahm sämtliche Ecken ins Visier. Sie entdeckte keine Küche, sondern nur eine Kochplatte, die natürlich mit zwei Bücherstapeln bedeckt war. Das Bett stellte kaum mehr als eine Pritsche dar; es war unbenutzt und gemacht. Darunter lagen staubige Bücher. Der Wandschrank befand sich voller Bücher, aber es gab auch Kleidung - allerdings fehlte eine Winterjacke. Am Fenster stand ein leerer Stuhl, auf dessen Sitzfläche ein aufgeschlagenes Buch lag. Am anderen Ende des Raumes gab eine geöffnete Tür den Blick auf ein Badezimmer frei, ebenfalls voller Bücher - sie standen wie provisorische Wände zu beiden Seiten der Toilette und oben auf dem Spülkasten; ein paar waren sogar unter dem Waschbecken gestapelt worden, wo ein tropfendes Abflussrohr sie schimmeln ließ. Ein sehr ängstlich aussehendes Mädchen mit kurzem schwarzen Haar, das einen zerlumpten Pullover trug, hockte auf dem Badewannenrand und hielt die Hände schützend vors Gesicht. Ihre Fingernägel waren schwarz lackiert, genau wie die Nägel, die Caxton durch ihr Fernglas gesehen hatte. »Wer zum Teufel sind Sie?«, fragte Caxton und hob die Pistole, bis die Mündung zur Decke zeigte. »Linda«, quiekte das Mädchen. »Ich bin eine Freundin von Simon. Er hat mich gebeten, herzukommen und mich ans Fenster zu setzen.« »Warum?« Das Mädchen zuckte mit den Schultern. »Er sagte, die Cops würden ihn beobachten. Aber er sei nicht in Schwierigkeiten. Er hätte nichts getan. Ist er okay?« Lu fing an, dem Mädchen viele Fragen zu stellen, aber Caxton machte sich gar nicht die Mühe, das mit anzuhören. Sie eilte zurück in den Korridor und fand, womit sie gerechnet hatte - ein großes Fenster, das von einem kurzen Holz 117 scheit aufgehalten wurde. Im Schneegestöber war eine Holzkonstruktion zu sehen, an der Stufen in den Hinterhof des Hauses führten. Eine Feuertreppe, eine Möglichkeit für
die Bewohner des ersten Stocks, das Haus zu verlassen, falls sie die Treppe ins Erdgeschoss nicht benutzen konnten. Mühsam konnte sie die runden Umrisse von Fußabdrücken auf den Stufen der Feuertreppe ausmachen, die der Sturm größtenteils bereits wieder bedeckt hatte. Sie griff nach dem Fensterrahmen, in der Absicht, ihn nach oben zu schieben und hinauszuklettern, um Simons Spuren zu folgen. Aber dann begriff sie, dass das sinnlos wäre. Der Junge würde so schnell wie möglich zur Straße gelaufen sein, und dort würde sich die Spur verlieren, von vorbeifahrenden Autos zerstört oder vom Schneegestöber verwischt. Das war schlimm, sehr schlimm. Richtig schlimm. Wenn sie ihn verloren hatte, wenn er verschwunden war, konnte sie nicht in Erfahrung bringen, ob er einen Kontakt zu Jameson hergestellt hatte oder nicht. Sie musste ihn finden - es standen mehr Leben als nur das seine auf dem Spiel. Aber wie? Sie musste nachdenken. War er mitten im Sturm nach draußen gelaufen, hätten Young und sein Team ihn niemals bemerkt. Er hatte ihren Wagen gesehen und gewusst, dass er unter Beobachtung stand, dann hatte er sich die Mühe gemacht, seine Freundin zu holen, um sie glauben zu machen, dass er noch immer in seinem Zimmer saß und friedlich las. Entweder gefiel es ihm einfach nicht, beobachtet zu werden, oder er hatte dringend etwas erledigen müssen und vermeiden wollen, dass die Cops das erfuhren. Er hatte seinen Wintermantel genommen - dessen Fehlen war Caxton im Zimmer aufgefallen. Aber bestimmt würde er nicht weit gehen, nicht, wenn der Schnee ihm an einigen Stellen bis zu den Knien reichte. Sie wusste bereits von Fetlock, dass Simon keinen Wagen besaß; das gehörte zu den ersten Dingen, die man 118 feststellte, wenn man jemanden überwachte. Er hätte den Bus nehmen können, aber auch das bezweifelte sie. Wer würde bei so einem Wetter auf den Bus warten wollen? Sie kam zu dem Schluss, dass er sich von jemandem mit dem Auto hatte abholen lassen. Was bedeutete, dass jemand wissen musste, wo er sich jetzt befand. Das Walkie-Talkie in ihrer Hand summte und verlangte ihre Aufmerksamkeit. Sie ignorierte es aber. Stattdessen eilte sie die Treppe hinunter und platzte bei dem Verwalter herein, der gerade die nächste Bierdose öffnete. Seine Wohnung wies die besten Möbel des Hauses auf - einen Schrank aus massiver Eiche, einen Küchentisch mit vier dazu passenden Stühlen. Aber Staub dämpfte die Farben, und in der Küche stapelten sich volle Mülltüten. Bücher waren keine in Sicht. »Was zum Teufel ist denn jetzt schon wieder?«, fragte der Mann, als er sie sah. »Ich brauche ein paar Informationen, und ich habe nicht viel Zeit, also verzeihen Sie mir, wenn ich unhöflich klinge«, sagte sie. »Wie lange wohnt Simon jetzt schon hier?« »Der junge Arkeley? Nur dieses Semester. Hat einen einjährigen Mietvertrag unterschrieben.« »Hat er eine Freundin?« Der Hausverwalter lachte. »Sie meinen diese Linda? Die schnüffelt zwar hier oft herum, aber wenn Sie mich fragen, ist der Typ schwul. Hat kaum einen Blick für sie übrig.« »Hat er je andere Besucher?« Der Mann runzelte die Stirn. »Hah! Ja, hat er. Die Art, die die ganze Nacht bleibt, und man muss ihnen beim Reden und Lachen zuhören, während man schlafen will. Sie legen auch ein Handtuch vor die Tür, aber glauben Sie nicht, dass ich schon so alt bin und nicht den Geruch von dem Zeug erkenne, das sie da oben rauchen. Ich war in den Sechzigern jung und...« Caxton schüttelte den Kopf. »Beantworten Sie nur meine 118
Fragen, in Ordnung? So kurz und einfach Sie können. Erinnern Sie sich an die Namen der Besucher? Hat er sie Ihnen jemals vorgestellt?« »Wir sind nicht gerade Freunde, er und ich«, erwiderte der Verwalter. Er kratzte sich die Stoppeln und sagte dann: »Da war so ein Typ. Simon nannte ihn >Murph<. Hässlicher kleiner Potraucher mit Sommersprossen und rotem Haar. Kommt sogar oft vorbei. Den Nachnamen kenn ich aber nicht.« »Wissen Sie, wo er wohnt? Bitte, denken Sie genau nach.« Der Mann zuckte mit den Schultern. »Irgendwo auf dem South Campus.« Sie musste ihn fragend angesehen haben. »Es gibt hier einen zweiten Campus, den man South Campus nennt, von hier aus etwa zwei Meilen die Comstock Avenue entlang. Da gibt es fast nur Wohngebäude. Beschissene kleine Betonbunker, die sie für so gut wie nichts vermieten.« »Mehr wissen Sie nicht?«, fragte Caxton verzweifelt. »Vielleicht reicht das«, sagte Lu hinter ihr. Er nahm ihr das Walkie-Talkie ab. »Deputy Marshal Young, hören Sie?« »Ja. Sprechen Sie weiter, Lu.« »Special Deputy Caxton bittet Sie, die Studentenverwaltung anzurufen. Wir müssen einen Studenten aufspüren, der Name ist Murph oder Murphy. Wir wissen nicht, ob es der Nachname oder der Vorname ist. Letzte bekannte Adresse ist South Campus, und er könnte wegen Drogenverstößen aktenkundlich sein. Glauben Sie, da könnten wir etwas finden?« »Wir kümmern uns darum, vielleicht haben wir ja Glück. Over.« Caxton nickte aufgeregt. »Gut mitgedacht«, sagte sie zu Lu. Dann wandte sie sich wieder dem Hausverwalter zu. »Sir, ich danke Ihnen für Ihre Hilfe.« »Simon wandert nicht in den Knast, oder?« »Ich habe keinen Haftbefehl.« »Gut, denn sein Mietvertrag läuft noch sechs Monate.« 119 Caxton führte Lu wieder hinaus auf die Straße und stieg in ihren Mazda, bedeutete ihm, den Beifahrersitz zu nehmen. »Sie müssen mir den Weg zeigen. Wir fahren sofort zum South Campus, und ich hoffe, wir haben die Adresse, wenn wir eintreffen.« »In Ordnung«, sagte Lu. »Aber was macht Sie so sicher, dass er bei seinem Freund rumhängt?« »Mir ist nichts anderes eingefallen.«
39Caxton ließ Young und Miller zur Überwachung des Hauses zurück, für den Fall, dass sie sich irrte. Sollte Simon in der Zwischenzeit zurückkommen, hatten sie den Befehl, ihn nicht aus den Augen zu lassen - sie sollten jede seiner Bewegungen beobachten und ihm folgen, falls er das Haus wieder verließ. Jede Diskretion war nun sinnlos geworden. Wenn der Junge nichts Besseres zu tun hatte, als in der Dunkelheit herumzurennen, würde sie alles ton, was in ihrer Macht stand, um ihn von seinem Vater fern zu halten. Denn langsam kam sie zu dem Schluss, dass sie es sonst bald mit einem zweiten Vampir zu ton haben würde, der genauso gefährlich wie der erste war. Simons Weigerung, mit ihr zu sprechen, sein offensichtliches Misstrauen gegenüber den Behörden, das hätte sie noch als jugendliches Rebellentam oder allgemeine Dummheit abhaken können. Der Trick, seine Freundin für sich am Fenster sitzen zu lassen, deutete jedoch auf tiefgreifendere Dinge hin. Vielleicht hatte er etwas zu verbergen. »Wenn wir dort ankommen«, sagte sie zu Lu, »unterstützen Sie mich einfach. Ich übernehme das Reden.«
120 »Gut.« Er klang nicht sehr überzeugt. Als sie Simons Tür eingetreten hatte, hatte sie ihn bis an seine Grenzen gedrängt, und sie war sich nicht sicher, wie weit er sie noch gehen ließe, bevor er einschritt. Nun, sie würde es eben einfach herausfinden müssen. Sie fuhr mit gemäßigter Geschwindigkeit zum South Campus. Es war nicht weit, aber das Wetter machte jede Fahrt riskant. Große Lastwagen voller Steinsalz gruben Schneisen in den hohen Schnee, doch sie wollte kein Risiko eingehen. Wenn sie von der Straße abkam und den Mazda zu Schrott fuhr, würde sie entscheidende Zeit und Mobilität verlieren. »Sie sind von hier, richtig? Aus Syracuse? Sollten wir an der Tür eines Drogenvergehens klopfen, müssen wir dann damit rechnen, mit Waffen bedroht zu werden?« Lu schüttelte den Kopf. »Ach was, nein. Die Drogenbenutzer hier sind bloß Studenten Teenager. Sie rauchen Pot, werfen auch schon mal Acid ein. Das ist eine Collegestadt, also muss man damit fast schon rechnen. Sie werden nur selten gewalttätig. Hier ist es einfach zu kalt für solche Dummheiten.« »Gut«, sagte sie, rutschte auf ihrem Sitz herum und versuchte sich zu entspannen. Es war nicht leicht. Dieser Ort, zu dem sie fuhren, dieses Apartment. Möglicherweise wartete Jameson dort auf sie. Es konnte eine Falle sein. Er konnte den Fluch bereits an Simon weitergegeben haben. Dort konnte es vor Halbtoten wimmeln. Sie konnte dort mit allem konfrontiert werden, einfach mit allem. Sie bog von einer Straße namens Skytop ab und warf ihren ersten Blick auf den South Campus. Die Beschreibung des Hausverwalters lag gar nicht so daneben. Bei den Wohnheimen handelte es sich um billig hochgezogene zweistöckige 120 Gebäude. Sie wiesen wenige Fenster auf und sahen alle genau gleich aus. Wie blindlings verstreute Monopolyspielsteine auf einem gewaltigen Meer aus Parkplätzen, die mit Salz bestreut waren. Caxton konnte sich nur wenig deprimierendere Wohnorte vorstellen - aber Vermutlich reichten sie den Studenten, solange sie nur billig waren. Sie fuhren auf einen großen Parkplatz, der für ein Einkaufszentrum gereicht hätte. Und dort saßen sie dann. Und warteten. Und warteten. Caxton wurde ungeduldig und hieb ein paarmal gegen das Steuer, aber das half auch niemandem. Also hörte sie damit auf. Schließlich meldete sich Young mit einer Adresse. Er hatte hundert Studenten mit dem Nachnamen Murphy kontrolliert und sie ausgeschlossen - entweder waren sie weiblich, wohnten nicht auf dem South Campus oder hatten kein rotes Haar. Danach hatte er es mit den Vornamen versucht. An der Universität gab es nur einen einzigen Studenten, der mit Vornamen Murphy hieß, männlich war und auf dem South Campus wohnte. Wenn das nicht der Gesuchte war, wenn Murph nur ein Spitzname war, dann hatten sie eben einfach Pech gehabt. Er gab ihnen die genaue Adresse, und Caxton hatte den Wagen schon gestartet, als sie sich bei ihm bedankte. Sie parkte direkt vor der betreffenden Wohneinheit. Laut Young war sie an einen Studenten namens Murphy Frissell vermietet. Frissell belegte Umweltwissenschaft und im Hauptfach Forstwirtschaft - Lu zufolge nannte man solche Leute hier einen Stumpfy. Angeblich hatte Frissell einen Mitbewohner namens Scott Cohen, der Musik studierte. Beide waren im Vorjahr wegen des Besitzes von Marihuana verhaftet worden, aber man hatte ihre Urteile zur Bewährung ausgesetzt. Frissell - das hörte sich genau nach dem Jungen an, den der Hausverwalter beschrieben hatte. Young hatte sogar ein Foto von der Studentenverwaltung heruntergeladen und bestätigt, dass Frissell rote Haare hatte. 120
Caxton und Lu stiegen aus dem Wagen und näherten sich dem Haus. Dröhnende Musik drang hinter den zugezogenen Vorhängen hervor, und Caxton glaubte sogar Pot zu riechen. Sie bedeutete Lu, ihr Deckung zu geben, dann stellte sie sich vor die Haustür und pochte dagegen. »Aufmachen«, brüllte sie. »Bundesagenten!« Keine Antwort. Sie hatte auch mit keiner gerechnet - die Musik drinnen musste mit ohrenbetäubender Lautstärke spielen, wenn sie so deutlich durch die Hauswände zu hören war. Sie hämmerte wieder gegen die Tür und drückte ununterbrochen die Klingel. Schließlich hörte sie, wie jemand kam. Sie trat ans Fenster und pochte mit ihrem Teleskopschlagstock dagegen. »Scheiße«, sagte jemand im Gebäude. »Hast du das gehört?« »Kommt schon!«, brüllte Caxton. »Macht die Tür auf!« Abrupt verstummte die Musik. Caxton hämmerte wieder gegen die Tür. Schließlich öffnete sie jemand und spähte hinaus. Es war ein junger Mann, etwa in Simons Alter, mit schwarzen Locken, die ihm bis zur Schulter reichten. Seine Augen waren blutunterlaufen, und er hatte Mühe, sich auf Caxtons Gesicht zu konzentrieren. »Was ist?«, fragte er. Caxton seufzte. »Scott Cohen? Ich bin Special Deputy Caxton, und das hier ist Special Deputy Benicio. Wir sind hier, um mit Simon Arkeley zu sprechen. Dürfen wir bitte reinkommen?« Der Junge leckte sich die Lippen. Anscheinend dachte er angestrengt nach. Caxton versuchte, geduldig und ruhig zu bleiben, aber sie wusste ganz genau, dass - sollte Cohen nicht in einer Sekunde zur Seite treten - sie ihn mit Gewalt von der Tür entfernen würde. »Ah, okay«, sagte Cohen. »Warten Sie. Sind sie Cops?« Caxton drängte sich an ihm vorbei. »Bundesagenten«, sagte sie und bedeutete Lu, ihr zu folgen. 121 »Ich bin mir nicht sicher, ob ich Sie hereinlassen sollte«, sagte Cohen, aber da war es bereits schon zu spät. Caxton war drinnen. Hinter der Tür befand sich die Küche. Sie wies eine eingedellte und versengte Arbeitsfläche und schrecklich lackierte Hängeschränke auf. Der Kühlschrank war mit dem Poster einer Organisation namens NORML geschmückt, das ein übergroßes Hanfblatt zeigte. An der Wand hing ein gerahmter M.C.Escher-Druck. Der Rest des Erdgeschosses bestand aus einem geräumigen Wohnzimmer mit einem braunen Flokati. Im Teppich gab es zahllose verbrannte runde Löcher, vermutlich von fallen gelassenen Zigaretten. Auf einem gigantischen Sofa lag ein Junge, bei dem es sich nur um Murphy Frissell handeln konnte. Entweder war er ohnmächtig oder er schlief. Ein Vierzig-Zoll-Flachbildfernseher war ausgeschaltet. Auf dem Couchtisch stand eine Sammlung aus Glas- und Plastik-bongs sowie zahllose Butan-Feuerzeuge und kleine Lötlampen, wie man sie zur Herstellung von Creme Brulee benutzt -oder um eine Crackpfeife am brennen zu halten. Caxton suchte in den Zimmerecken nach Schrotflinten oder Pistolen oder sogar nach Schwertern - sie hatte genügend solcher Wohnungen gesehen, um das Bizarrste zu erwarten. Aber es gab überhaupt keine Waffen zu sehen. Cohen war ihr wie ein Schoßhündchen gefolgt, die Hände vor den Körper gehalten, als würde er sich ergeben, bevor sie ihn überhaupt wegen etwas beschuldigt hatte. »Wo ist er?«, verlangte sie zu wissen. Bevor Cohen fragen konnte, wen sie überhaupt meinte, sagte sie: »Arkeley. Simon Arkeley.« Cohen sah sich im Zimmer um. »Er ist nicht hier«, sagte er, und Caxtons Herz sank. Dann runzelte er die Stirn. »Dann muss er oben sein. Ist er oben?«
»Sehen wir doch einfach nach«, schlug Caxton vor und nickte Lu zu. »Scott, Sie bleiben hier.« 2 122 Der Junge sah sie konzentriert an. »Okay.« Caxton fragte sich, was in aller Welt Simon mit diesen verlorenen Typen überhaupt anfing. Bei ihrer Begegnung hatte er nicht den Eindruck eines Drogensüchtigen gemacht. Andererseits hatten sie sich auch nur kurz gesehen, und sie konnte sich geirrt haben. Die Treppe befand sich am anderen Ende des Raumes. Caxton stieg langsam die Stufen hinauf, unsicher, was sie dort oben erwarten würde. Eine Rauchfahne schlängelte sich um eine Deckenlampe - sie zog die Pistole. Falls Simon dort oben saß und Pot rauchte, würde er beim Anblick der Polizei vielleicht falsch reagieren. Er löste das Problem für sie, indem er einfach aus der Tür am Treppenabsatz trat und finster zu ihr herunterstarrte. Simon war lebendig, das sah sie sofort. Lebendig und unverletzt. Es war noch nicht zu spät. »Mr. Arkeley«, sagte Lu. »Ich hoffe, wir stören Sie nicht, Sir.« »Nicht im Mindesten«, erwiderte Simon. »Hallo, Trooper.« Caxton knirschte mit den Zähnen. »Es heißt jetzt Special Deputy.« Simon nickte. »Ich vermute, wir müssen uns unterhalten. Kommen Sie rauf.«
40.
Oben drehte sich Caxton zu Lu um. »Behalten Sie ein Auge auf die beiden da unten. Die sind vermutlich außer Gefecht, aber ich will nicht, dass sie gehen, bevor ich die Erlaubnis dazu gebe.« 122 Lu nickte, doch bevor er ging, berührte er sie am Arm. »Tun Sie nichts, das ich nicht auch tun würde«, sagte er stirnrunzelnd. Glaubte er etwa, sie würde die Informationen aus Simon herausprügeln? Oder seine Bürgerrechte auf andere Weise verletzen? Im Augenblick hatte sie gar nicht das Gefühl, irgendwelche Gesetze brechen zu müssen. Nicht, solange Simon noch okay war. Sie folgte ihm den kurzen Korridor entlang in ein Schlafzimmer. Zwei Matratzen lagen in gegenüberliegenden Ecken am Boden. Die Wände waren mit Postern von Bands und verstorbenen Rockstars gepflastert. Klamotten lagen auf dem Boden verstreut; in einer Ecke lag fein säuberlich aufgeschichtet ein Stapel pornografischer Magazine. Blauer, sich träge windender Rauch füllte die Luft und ließ alle Gegenstände verschwommen aussehen. Er stieg aus einer Silberschale aus dem Boden, in der Kräuter langsam verbrannten. Simon setzte sich neben die Schale, nahm mühelos die Lotusposition ein und bedeutete Caxton, es ihm gleichzutun. Sie zog es allerdings vor, stehen zu bleiben. »Wir sind Ihrem Trick mit Linda auf die Schliche gekommen«, sagte sie. »Offensichtlich.« »Damit habe ich gerechnet, bei Ihrem Ruf. Ich wollte nur genug Zeit schinden, um entkommen zu können. Natürlich ist das jetzt Stunden her.« Seine Augen waren geschlossen, der Kopf leicht zurückgelegt. »Ich hatte heute Morgen viel zu tun und bin eben erst hier eingetroffen. Sie werden mir also nicht helfen, oder?« Seine Schultern hoben sich andeutungsweise. »Ich habe ein paar Recherchen angestellt. Rechtswissenschaften sind normalerweise nicht meine Sache, aber als Ihre Laufburschen kamen, um mich zu belästigen, informierte ich mich einfach mal über meine Möglichkeiten. Ich darf Ihre Untersuchun
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gen nicht aktiv behindern. Darüber hinaus haben Sie keine Macht über mich - ich muss nicht einmal Ihre Fragen beantworten, wenn ich das nicht will.« Er schlug die Augen auf. »Und ich will nicht.« Caxton lächelte. »Warum nicht?« Seine Antwort bestand auch nur aus einem Lächeln. »Ich könnte Sie festnehmen. Ich könnte Sie zum örtlichen Polizeirevier zerren und Sie dort einsperren lassen«, drohte sie. »Tatsächlich? Mit welcher Beschuldigung?« Sie wedelte mit der Hand durch den Rauch, der das Zimmer füllte. »Drogenbesitz.« Simon schüttelte den Kopf. »Nein, das können Sie eben nicht. In diesem Haus hat niemand gegen das Drogengesetz verstoßen. Ich sehe Ihnen an, dass Sie mir nicht glauben, aber wenn Sie diesen Ort von oben bis unten auf den Kopf stellen - und ich habe nicht den geringsten Zweifel, dass Sie das tun würden -, würden Sie nicht einmal ein Samenkorn von einer illegalen Droge finden. Ich komme her, wenn ich Sal-via divinorum rauchen will, Wahrsagersalbei. Was nicht illegal ist.« »Noch nicht«, erwiderte Caxton. »Der Gesetzgeber arbeitet daran.« »Aber bis das Gesetz erlassen ist...«, bemerkte Simon und lächelte wieder. Caxton kannte diese Droge. Im Bundesstaat New York war sie noch legal. In Pennsylvania auch, obwohl ihr Staat in dem Ruf stand, ausgesprochen harte Drogengesetze zu haben. Sal-via war eine Pflanze aus Mexiko, die von den dortigen Indianern seit Tausenden von Jahren bei ihren religiösen Zeremonien verwendet wurde. Außerdem war es ein sehr starkes Halluzinogen, das in den letzten Jahren bei gelangweilten Vorstadtkids recht populär geworden war, nachdem die Be 123 zugsquellen für LSD so ziemlich alle ausgetrocknet waren. In kleinen Dosen sorgte Salvia für ein fünfzehnminütiges Hoch mit visuellen Effekten. In sehr großen Dosen bewirkte es Benommenheit und Bewusstlosigkeit - was das Verhalten der beiden Jungen unten erklärte. »Was sehen Sie, wenn Sie es rauchen?«, fragte Caxton. Simon schüttelte den Kopf. »Früher glaubte ich, es würde mich zu anderen Bewusstseinszuständen führen, und ich könnte etwas Nützliches erfahren. Das hat aber nie richtig geklappt. Heute Abend habe ich nichts davon geraucht.« Er nahm einen Glasstab und stocherte in den brennenden Kräutern herum. Sie flammten erst zu neuem Leben auf und erstarben dann sofort zu einem orangefarbenen Glühen, während neue Rauchwolken aufstiegen. »Das ist weißer Salbei, Salvia apiana. Es wird zu Reinigungsritualen gebraucht.« »Haben Sie etwas getan, weswegen Sie sich schuldig fühlen?«, fragte Caxton. »Müssen Sie Ihre Aura säubern?« »Ich kam her, weil es eine Zuflucht vor Schnüfflern ist.« »Diese Schnüffler haben Sie beschützt«, sagte Caxton. »Ich bin nur hier, um Sie zu beschützen. Ich verstehe nicht, warum Sie so gegen mich sind. Sie müssen doch wissen, was Ihr Vater vorhat. Er hat Ihren Onkel getötet, dann Ihre Mutter...« »Ja, natürlich«, sagte Simon lächelnd, aber seine Stimme hatte etwas von ihrem vergeistigten Tonfall verloren. Caxton dachte an Dylan Carboy und sein Zucken, das ihn verraten hatte, als sie die Notizbücher erwähnte. Offenbar hatte auch Simon eine Schwachstelle in seiner Rüstung. »Er hat versucht, Ihre Schwester zu töten.« »Das wusste ich nicht.« Simon räusperte sich. »Sie haben sie bestimmt gerettet, oder?«
»Er hat eine ihrer Freundinnen getötet. Nettes Mädchen, sie war stumm. Raleighs Zimmergenossin. Er hat etwas von ihrem Blut getrunken, aber eigendich stand sie ihm nur im Weg.« 124 »Hören Sie auf!« »Er riss sie in Stücke, also mussten wir einen undurchlässigen Leichensack kommen lassen, um sie...« »Sie sollen damit aufhören!«, brüllte Simon und sprang auf die Füße. Caxton schüttelte bloß den Kopf. »Wird Ihnen übel?«, fragte sie. »Ich kenne das Gefühl nur zu gut. Helfen Sie mir, Simon. Helfen Sie mir dabei, ihn aufzuhalten, bevor er noch jemanden tötet. Bevor er versucht, Sie zu töten. Oder ist das der Plan? Stehen Sie mit ihm in Kontakt? Hat er Ihnen angeboten, Sie zum Vampir zu machen? Haben Sie Ja gesagt?« Simons Gesicht lief vor Wut dunkel an. Er wollte etwas sagen, aber dann durchfuhr ihn ein gewaltiges Zucken. Er schwankte leicht, doch das Blut hatte bereits seine Wangen verlassen. »Ich glaube«, sagte er schließlich, »dass ich ohne meinen Anwalt nicht länger mit Ihnen sprechen möchte.« Caxton seufzte innerlich. »Das ist Ihr Recht«, erwiderte sie. Aber sie konnte nicht widerstehen hinzuzufügen: »Bedeutet dies, dass er Sie kontaktiert hat... ?« »Es reicht, Special Deputy«, sagte er. »Ich gehe jetzt nach Hause. Ich bin müde.« »Okay«, sagte sie. »Wer ist Ihr Anwalt?« Er griff in die Tasche und holte ein Nylonportemonai an einer Kette hervor. Er öffnete es und suchte eine Visitenkarte heraus, die er dann Caxton gab. Interessant, dachte sie. Nicht viele zwanzigjährige Collegestudenten hatten einen Anwalt griffbereit. Also musste er kürzlich bei diesem Anwalt gewesen sein, nachdem er herausgefunden hatte, dass er unter Beobachtung stand. Wenn er sich solche Mühe gemacht hatte, fragte sie sich, was er zu verbergen hatte. Sie ging zur Tür und rief Lu herauf. Sie gab dem Fed die Karte, ohne einen Blick darauf geworfen zu haben. »Rufen Sie ihn an«, sagte sie. »Sagen Sie ihm, er soll uns gleich in Simons Woh 124
nung treffen. Sollte er sich beschweren oder darauf bestehen, dass es bereits nach Geschäftsschluss ist, dann sagen Sie ihm, sein Klient würde von der Polizei gejagt.« Lu ging wieder auf den Korridor hinaus. »Ich fahre Sie«, sagte Caxton, »und dort warten wir dann auf Ihren Anwalt, einverstanden?« Simon senkte den Kopf. Sie wandte sich wieder Lu zu. »Sie bleiben hier und passen auf. Wenn wir das so leicht finden konnten, dann kann es ein Vampir auch. Sollte Jameson auftauchen, wissen Sie, was Sie zu tun haben.« Lu nickte. »Klar. Rennen, als wäre der Teufel hinter mir her.« Er trat zur Seite, um Caxton und Simon aus dem Zimmer zu lassen. Sie schritten nebeneinander die Treppe hinunter und traten dann in die Kälte des Parkplatzes hinaus. Eigentlich rechnete sie im Stillen damit, dass er ihr Angebot, ihn zu fahren, ablehnen würde. Aber als sie die Tür des Mazda öffnete, stieg er wortlos ein. Schweigend fuhren sie zurück. An der Haustür sagte er: »Ich möchte nicht, dass Sie hereinkommen. Sie können nicht hereinkommen, solange ich es Ihnen nicht gestatte, nicht legal.« »Das ist eine interessante rechtliche Frage, da ich bereits drinnen war«, erwiderte Caxton. »Wenn Ihr Anwalt kommt, können wir ihn ja nach seiner Meinung fragen.« Simon warf ihr einen finsteren Blick zu, knallte ihr aber nicht die Tür ins Gesicht, als sie nach ihm das Haus betrat, und oben auf der Treppe hielt er ihr sogar die Tür zu seinem Zimmer auf. Er zog den Wintermantel aus und ließ sich auf seine Pritsche fallen. »Wollen Sie mir zusehen, wie ich mich ausziehe?«
Caxton winkte ab. »Bleiben Sie angezogen. Eigentlich sollten Sie sogar eine Tasche packen.« Sie ging zum Wandschrank und zog einen kleinen schwarzen Koffer von der oberen Ablage. 125 »Warum? Fahre ich irgendwo hin?« »Nach Pennsylvania, Harrisburg, glaube ich«, sagte sie. »So kann ich Sie und Ihre Schwester gleichzeitig im Auge behalten.« »Das glaube ich kaum.« Sie zuckte nur mit den Schultern und fing an zu packen, faltete Hemden ordentlich zusammen und legte sie dann in den Koffer. Ihr blieb nur noch wenig Zeit, das wusste sie genau. Sobald der Anwalt auftauchte, würde sie Simon nicht mehr dazu bewegen können, sie nach Pennsylvania zu begleiten, ganz gleich, was sie tat. Sie musste ihn aus dem Gleichgewicht bringen. Ihm Angst einjagen. Sie suchte in dem kleinen Schrank nach Hosen. »Lassen Sie die Finger von meinen Sachen«, sagte Simon gereizt. Sie zuckte wieder mit den Schultern und schaute die Sachen durch, die auf Kleiderbügeln hingen. Da gab es nicht viel, nur ein paar nette Hemden und einen taubenblauen Anzug. Es war derselbe Anzug, den er bei Jamesons Gedenkfeier getragen hatte. Vermutlich war es überhaupt der einzige Anzug, den er besaß. Sie berührte einen Ärmel und ließ den Stoff durch die Finger gleiten. Dieser Anzug... Nein. Es konnte nicht derselbe sein. Das war zu... Ihre Gedanken überschlugen sich. Falls sie recht hatte, falls dieser Anzug mit dem auf dem Foto übereinstimmte, machte das alles nur noch komplizierter. Aber vielleicht würde es eine Sache auch ganz einfach machen. Sie drehte sich um und sah ihn an, studierte sein Gesicht das erste Mal richtig. Dann ging sie auf ihn zu und griff dabei an ihren Gürtel. »Wollen Sie auf mich schießen?«, fragte er. Es sollte zwar sarkastisch klingen, schlug aber in Angst um. »Nein«, sagte Caxton. Ja. Sie war sich sicher, entschied sie. 125 Der Anzug hatte dieselbe Farbe, es war dasselbe Taubenblau. Sie öffnete eine Tasche an ihrem Gürtel und holte ihre Handschellen hervor. »Ich verhafte Sie.«
41.
Was soll das alles eigentlich«, verlangte Simon ein paar Stunden später zu wissen. »Weswegen beschuldigen Sie mich?« Er sah verängstigt aus. Sie hatte ihn ins örtliche Polizeirevier geschleift und ihn dann den Beamten überlassen, damit sie die Formalitäten erledigen konnten. Er wurde fotografiert und man nahm ihm die Fingerabdrücke ab, man unterzog ihn einer Leibesvisitation und steckte ihn zu ein paar Drogenhändlern und Dieben in eine Zelle, wo er erst einmal eine Weile schmoren konnte. Er wirkte sehr verängstigt. Das war das erste Mal, dass sie Simon seit ihrer Ankunft sah. Sie hatte die ganze Zeit damit verbracht, ihre Untersuchung mit dem örtlichen Polizeichef zu besprechen und in ihre E-Mails rein zu sehen. Sie musste Gewissheit haben. Als sie dann bereit war - oder, um ehrlich zu sein, nachdem sie schon eine Weile bereit war -, ließ sie ihn aus der Zelle holen und in ein Verhörzimmer bringen. Es war nicht das beste Verhörzimmer, das Caxton je gesehen hatte. Es gab einen Resopaltisch, den Generationen glühender Zigarettenkippen und Kaffeeflecken braun und schwarz verfärbt hatten. Zwei Stühle standen nebeneinander - der Raum war nicht so groß, dass sich der Verdächtige und der Beamte gegenübersitzen konnten. An der Wand baumelte
ein starker Ring, an den man Simon mit seinen Handschellen angekettet hatte. Er war ziemlich weit oben angebracht, damit die Videokamera 126 in der Deckenecke immer aufnehmen konnte, wo sich seine Hände befanden. Caxton lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. Sie hatte einen braunen Umschlag mitgebracht, zog ein Blatt hervor und las laut vor. »Sie haben das Recht zu schweigen. Alles, was Sie sagen, kann und wird vor Gericht gegen Sie verwendet werden. Sie haben das Recht auf einen Anwalt. Können Sie sich keinen Anwalt leisten, wird man Ihnen für das Verhör und vor Gericht einen stellen. Haben Sie diese Rechte verstanden, die ich Ihnen gerade vorgelesen habe? Verzichten Sie auf diese Rechte und wollen mit mir sprechen?« Sie sah ihn erwartungsvoll an. »Scheiße!«, heulte er auf. »Sagen Sie mir, was hier los ist. Ich muss mir diesen Mist nicht gefallen lassen. Ich kann sofort gehen, wenn Sie mich nicht anklagen.« Caxton schüttelte mit einem traurigen kleinen Lächeln den Kopf. »Die Beschuldigungen? Also gut. Suchen wir uns eine aus. Wie wäre es mit dem unbefugten Betreten einer Regierungsbehörde? Oder Diebstahl von Beweisen in einer laufenden Ermittlung? Dann wäre da noch, sich für einen Polizisten ausgegeben zu haben. Soll ich noch weitermachen?« »Sie haben... Dafür haben Sie keinen Beweis.« Seine Augen glänzten vor Furcht. Gut. Falls sie ihm genug Angst einjagen konnte, würde er sich freiwillig ihrem Schutz unterstellen. Sie seufzte dramatisch und sagte: »Sie haben das Recht zu schweigen. Alles, was...« »Schön«, unterbrach er sie. »Ja, ich hab schon verstanden. Jetzt sagen Sie mir, worum es hier geht, verdammt.« »Ihr Anzug. Der taubenblaue Anzug.« Er sah sie mit zusammengekniffenen Augen an. »Den habe 126
ich bei dieser albernen Beerdigung getragen. Das ist das einzige Mal, dass Sie ihn gesehen haben.« Sie schüttelte wieder den Kopf, dann griff sie in den Umschlag und zog einen Computerausdruck auf schimmerndem Fotopapier heraus. Er zeigte einen Mann in einem taubenblauen Anzug, der am Eingang des USMS-Archivs stand. Simon warf einen schnellen Blick darauf, aber nicht lange genug, um es sich wirklich angesehen haben zu können. »Das bin ich nicht. Man kann ja nicht mal das Gesicht erkennen.« »Glauben Sie, das ist alles, was ich habe? Bloß ein Bild?« »Ich... ich sage gar nichts mehr, bevor mein Anwalt hier ist.« »Gut«, sagte Caxton. »Das gibt mir die Zeit, Ihre Fingerabdrücke mit denen zu vergleichen, die wir am Tatort fanden.« Das war ein Bluff, aber er fiel nicht schwer. Der Mann auf dem Foto trug keine Handschuhe. Bei seinem Aufenthalt im Archiv würde er mit Sicherheit etwas angefasst haben, einen Türknauf oder eine Tischoberfläche. »Warten Sie«, sagte Simon. »Sobald wir die Übereinstimmung haben, werde ich Ihnen bestimmt keine Fragen mehr stellen müssen. Wir können Sie einfach in eine Zelle sperren und auf den Gerichtstermin warten. Dort werden Sie sicher genug sein, während ich Ihren Vater aufspüre und töte. Natürlich gibt es da ein paar Dinge, die ich gern wüsste, aber gut, Sie wollen Ihren Anwalt - und Sie bekommen Ihren Anwalt. Lu hat ihn eben endlich erreicht, und er sagte, er könnte morgen früh hier sein.« Sie steckte die Papiere in den Umschlag zurück. »Sie können die Nacht in der Untersuchungszelle verbringen, bis er eintrifft.«
»Warten Sie«, sagte Simon. Sie sah ihn erwartungsvoll an. »Warten Sie. Bin ich... okay, ich stecke in Schwierigkeiten. Das begreife ich. Ich gestehe hier gar nichts. Aber wenn ich Ihre Fragen beantworte...« 127 Sie schüttelte den Kopf. »Ich darf Sie nicht dazu verleiten, mit mir zu sprechen. Das bedeutet auch, dass ich Ihnen keinen Deal anbieten kann, damit Sie mit mir sprechen.« Er schloss die Augen und nickte. »Aber es muss doch etwas geben, das wir tun können. Wenn ich mich freiwillig bereit erkläre, Ihre Fragen zu beantworten, vielleicht lassen Sie mich dann nicht in einer Zelle verfaulen.« Sie zuckte mit den Schultern. »Es ist nicht meine Entscheidung, Anklage zu erheben oder nicht.« Das war die Wahrheit. Diese Entscheidung würde Fetlock treffen, wenn die Zeit gekommen war, aufgrund von Caxtons Empfehlung. »Als U.S. Marshal ist es allerdings eine meiner Pflichten, Gefangene zu transportieren. Ich kann Sie in eine andere Vollzugsanstalt bringen. Sagen wir, eine in Pennsylvania, wo Sie bei Ihrer Schwester sein könnten.« Eine Weile starrte er sie mit großen Augen an. Dann zitterte sein Kinn einmal rauf und runter. Sie brauchte eine Sekunde, um zu entscheiden, dass das ein Ja war und nicht bloß ein Muskelzucken. »Okay«, sagte sie. »Erzählen Sie mir zuerst, was genau im Archiv des USMS geschehen ist. Ich will wissen, wer Ihnen befohlen hat, das zu tun, und wer Ihnen überhaupt gesagt hat, was zu tun ist. Ich will wissen, wie Sie das gemacht haben, und ich will wissen, wo diese Akten jetzt sind.« Danach öffnete er sich wie eine Dose Erbsen. Seine Geschichte begann direkt nach dem Massaker von Gettysburg, wo sich Caxton und Glauer einer Vampirarmee gestellt - und verloren hatten. Jameson hatte Caxtons Leben gerettet, indem er die Vampire erledigte, die zu stark für sie gewesen waren. »Er war wirklich der Überzeugung, er könnte das tun und hätte dann noch die Willenskraft, sich freiwillig zu stellen. Sich Ihnen zu stellen, meine ich. Um... entsorgt zu werden.« 127 »Eine seltsame Formulierung«, erwiderte Caxton. »Aber akkurat, glaube ich. Alles sollte sauber und ordentlich ablaufen, er sollte zu Ihnen kommen, sich die Pistole vor die Brust halten lassen, und alles wäre vorbei. Er hielt sein Leben ohnehin für beendet, bevor er sich der Verwandlung überließ. Er war verkrüppelt. Er war ein Vampirjäger, der kaum noch die Treppe hochkam, geschweige denn schießen konnte. Er hatte das Gefühl, seine einzige Existenzberechtigung sei nicht länger gegeben. Darum hat er diese Entscheidungen getroffen. Er hat mir von seiner ersten Nacht als Vampir erzählt, und von der Kraft, die er plötzlich hatte, von den Dingen, die er sehen konnte. Sie können weiter in das rote Ende des elektromagnetischen Spektrums schauen als wir. Beinahe ins Infrarote. Ich kann mir das nicht einmal vorstellen - die Dinge, die er beschrieb: wie der Himmel leuchtet, wie Bäume mit Leben pulsieren und jedes Tier...« »Voller Blut ist«, unterbrach ihn Caxton. »Ich weiß, dass sie unser Blut sehen können, selbst im Dunkeln.« Sie schüttelte den Kopf. »Sie lassen das alles sehr verlockend klingen.« »Nun, vielleicht war es das auch irgendwie. Ich meine, zuerst jedenfalls. Er schwor, niemals ein menschliches Leben zu verletzen. Alles, was er wollte, war noch eine solche Nacht - und dann noch eine. Ihm wurde klar, dass er gar keinen Selbstmord hatte begehen wollen. Dass er nur in Selbstmitleid geschwelgt hatte. Ich vermute, er glaubte noch immer daran, etwas Gutes tun zu können. Mehr Vampire töten zu können - Sie
wissen schon, von innen heraus arbeiten zu können. Als er das erste Mal mit mir Kontakt aufnahm, hatte ich jedenfalls diesen Eindruck.« »Wann war das?« Simon rieb sich die Stirn. »Oktober. Ende Oktober - ich erinnere mich, dass in dieser Nacht ein Pappkürbis an meiner Tür hing.« 128
Also war Jameson fast einen ganzen Monat lang aktiv gewesen, bevor er mit seinem Sohn Kontakt aufgenommen hatte. Sie fragte sich, was er davor getan hatte. Hatte er bis zum Morgengrauen Dylan Carboy Gesellschaft geleistet und sich darüber unterhalten, wie sehr der Junge die Schule hasste? Hatte er Blut aus einem Plastikbeutel geschlürft und gehofft, dass das reichte? Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, was er in diesen ersten Tagen gedacht und getan hatte. Noch nicht. »Wie hat er sich mit Ihnen in Verbindung gesetzt? Ist er persönlich vorbeigekommen?« »Nein«, sagte Simon. »Er hat angerufen.« »Erinnern Sie sich an seine Nummer?« »Das war auf meinem Festnetzanschluss. Ich habe da keine Anruferkennung.« Caxton nickte. Sie lehnte sich zurück. »Hat er Ihnen je gesagt, wo er war, oder zumindest, von wo aus er anrief?« »Natürlich nicht«, sagte Simon. »Er rief nur ein paarmal an. Das erste Mal, nun, da wollte er bloß wissen, wie es mir ginge. Sie können sich sicher vorstellen, wie ich darauf reagierte, mein toter Vater ruft mich an, um mich nach meinen Noten zu fragen. Ich bin ausgerastet und habe sofort aufgelegt. Das nächste Mal, als er dann anrief... Da habe ich zugehört.« Caxton versuchte Glauer und sein Verständnis für seine Mitmenschen zu kanalisieren und den Grund zu erraten. »Sie haben ihn vermisst«, meinte sie. »Scheiße, nein«, fauchte Simon. »Sie müssen wissen, dass er mich noch nie zuvor in der Schule angerufen hatte. Ich meine, als er noch lebte. Als ich in der High School war, habe ich ihn kaum zu Gesicht bekommen, er war immer fort. Entweder auf einem Vampirseminar oder bei einem Polizeilehrgang. Oder er war in irgendeiner abgelegenen Ecke von Pennsylvania unterwegs, weil irgendjemand einen Albino mit spitzen Ohren den Müll durchwühlen sah, wo sich dann he 128 rausstellte, dass es ein Kojote war. Nein, ich habe ihn nicht vermisst. Eigentlich hatte ich niemals einen Vater. Aber nach dem ersten Anruf fühlte ich mich irgendwie... ich weiß, das klingt jetzt dumm... ich fühlte mich, als wäre zum ersten Mal jemand für mich da. Als er wieder anrief, war ich glücklich, seine Stimme zu hören, so verändert wie er auch war. Da hat er mir dann erzählt, wie das für ihn so war, wie gern er doch weiterleben wollte, und wie Sie ihn jagten. Er sagte mir, ich könnte da etwas tun, um ihm zu helfen, dabei zu helfen, ihn am Leben zu halten.« »Und Sie waren einverstanden?« Simon zuckte mit den Schultern. »Es hat eine Weile gedauert. Aber am Ende war er noch immer derselbe. Der Mann, der genau wusste, wie er mit mir umgehen muss. Er wusste, welche Knöpfe er bei mir drücken muss. Damit ich Mitleid mit ihm empfinde. Er erzählte mir, wie einsam er sei und wie verzweifelt. Dass ihm jeder etwas antun wollte. Das war alles nur vorgespielt, oder? Antworten Sie nicht, ich kenne die Antwort selbst. Sie können einen hypnotisieren, wenn sie einem in die Augen blicken. Ich glaube, sie können es vielleicht auch mit ihren Stimmen. Vielleicht... vielleicht war ich auch nur ein leichtes Ziel.« Dann sprach er weiter, ohne jede Ermunterung, erzählte eine Geschichte, die allmählich in Schwung gekommen war. »Ein paar Tage später erhielt ich einen Brief ohne Absender. Er war in Bellefonte abgestempelt. Darin befand sich ein Si-
cherheitsausweis an einem Nylonband. Es war sein alter Ausweis aus der Zeit beim USMS. Ich sollte seine alten Akten suchen und stehlen. Das Schwierigste daran war, nach Virginia zu kommen. Ich musste den Zug nehmen und dann fünf Meilen vom Bahnhof zu Fuß gehen. Am Eingang stand ein gelangweilter Wachmann, der kaum einen Blick auf die Ausweiskarte warf, bevor er mich durchwinkte. Das Gleiche 129 im Archiv. Ich unterschrieb für die Akten, natürlich nicht mit meinem Namen, packte sie ein und ging denselben Weg zurück, den ich gekommen war. Einfach so. Ich ging zum Bahnhof zurück, benutzte den Waschraum, wechselte die Kleidung und zerzauste mein Haar. Hätte mich jemand gesucht, hätten sie mich nicht mehr erkannt. Ich nahm den nächsten Zug zurück nach Syracuse und war um halb sechs an diesem Abend in einem Kurs. Französisch für Fortgeschrittene 206. Den durfte ich nicht versäumen. Ich besuchte ihn an jedem Wochentag, zwei Stunden und fünfzig Minuten, und am Ende des Semesters hatte ich neun Scheine und meine Pflichtfremdsprachen erfüllt. Hätte ich auch nur eine Sitzung versäumt, wäre ich eine ganze Note nach unten gerutscht.« Caxton seufzte. »Wo sind die Akten jetzt?« »Er sagte, in diesen Papieren stünden Dinge, die ihm schaden könnten. Die Sie direkt zu ihm führen würden. Eine Liste von Orten, die gute Vampirverstecke abgeben. Persönliches über seine Familie. Viel über Malvern.« Er hob die Hände. »Ich habe sie verbrannt. Sie müssen das verstehen. Ich glaubte, ich würde etwas Gutes tun. Ich glaubte, ich würde meinem Dad helfen. Als Sie dann bei dem falschen Begräbnis davon anfingen, wie Sie ihn umbringen würden...« »Ja«, sagte Caxton. »Sie hielten ihn noch immer für einen der Guten. Bis...?« »Bis er meinen Onkel ermordete.« Er atmete tief ein. »Da habe ich mir dann einen Anwalt genommen. Darum habe ich Ihr Angebot mit der Schutzhaft abgelehnt. Er tötet Leute, weil sie etwas wissen. Jetzt tötet er Leute, weil sie ihm im Weg sind. Er ist nicht mehr der Mann, mit dem ich am Telefon sprach.« »Er ist nicht Ihr Vater«, sagte Caxton. »Tatsächlich... auf gewisse Weise ist er sogar noch mehr mein Vater als je zuvor.« 129 Irgendwie glaubte Caxton, das zu verstehen. »Okay. Nächste Frage. Wann haben Sie das letzte Mal mit ihm gesprochen?« »Das war das letzte Mal, als er mich bat, die Akten zu besorgen. Seitdem habe ich nichts von ihm gehört.« Caxton nickte und machte sich eine Notiz auf ihrem Block. »Aber vor drei Tagen sprach ich mit Malvern.« Beinahe wäre ihr der Stift aus der Hand gefallen.
42.
Malvern... Sie stehen in Kontakt mit Malvern?« Caxton stockte der Atem. »Ist das eine neue Entwicklung?« Simon schüttelte den Kopf. »Das fing schon Vorjahren an. Bevor es Sie überhaupt gab. In dem Jahr, in dem ich auf dem College anfing.« Caxton biss sich auf die Lippe. »Das war wann} Vor zwei Jahren? Damals hielt man Malvern in einer teilweise stillgelegten Klinik fest. Sie war die einzige Patientin. Ich kenne den Ort. Ich wäre dort beinahe gestorben. Die Sicherheit war ziemlich streng, da Ihr Vater die Aufsicht hatte. Sie können dort unmöglich eingebrochen sein und mit ihr gesprochen haben, und ich weiß, er hätte es niemals erlaubt, dass man Sie dort unbeaufsichtigt hereinlässt.« »Nun, ja«, sagte Simon. »Ich bin ihr auch nie persönlich begegnet. Wir haben über EMail korrespondiert.« Er lächelte. »Mein Vater war in vielen Dingen gut, aber den
Computer hat er nie so richtig gemeistert. Aus irgendeinem Grund hatte Malvern dort einen Laptop...« »Ja«, unterbrach ihn Caxton. »Das war die einzige Möglichkeit, wie sie mit ihren Wächtern kommunizieren konnte. 130 Sie kann nicht sprechen, dafür ist sie zu alt und verwest. Sie spricht, indem sie Botschaften eintippt.« Simon nickt. »Stimmt. Und offensichtlich sollte sie keine Leitung nach draußen bekommen. Sie befand sich hinter einer Firewall. Mein Vater hatte mir von ihr erzählt wenn er dann mal zu Hause war, was selten genug vorkam, sprach er nur von Vampiren. Über sie besonders oft. Als ich nach Syracuse kam, entschied ich mich, mit ihr Kontakt aufzunehmen. Ich hatte einen Freund, der als Hauptfach Computerwissenschaft belegt hatte, und er schaltete eine VPN-Verbindung direkt durch die Firewall. Sie war zwar ganz schön überrascht, sehnte sich aber verzweifelt danach, mit jemandem sprechen zu können, und sie war mehr als nur bereit, unsere Unterhaltungen geheim zu halten. Ich habe mich in diesem Semester oft mit ihr unterhalten. Ich hatte eine Million Fragen, und sie hat sie gern beantwortet.« Caxton konnte sich denken, warum Malvern gern mit dem Jungen gesprochen hatte. Sie war immer auf der Suche nach einem neuen Ansatz, nach neuen Möglichkeiten, ihren Zustand zu verbessern - mehr Blut zu bekommen, das Einzige, das ihren verfallenen Körper heilen konnte. Jameson hatte jeden ihrer Pläne zunichte gemacht. Es bedurfte keiner großen Fantasie, um zu sehen, wie sehr es ihr gefallen hätte, seinen einzigen Sohn in ihre Krallen zu bekommen. Vielleicht hatte sie Simon in einen Vampir verwandeln wollen, um seinen Vater zu quälen. Vielleicht gefiel ihr auch einfach nur die Ironie des Ganzen. Aber warum war Simon ein solches Risiko eingegangen? Das konnte Caxton nicht verstehen. »Hatten Sie keine Angst, erwischt zu werden?« »Doch, natürlich. Hätte mein Vater gewusst, was ich da tue, er hätte mich umgebracht.« Der Junge wurde blass. »Ich meine, er wäre... er wäre sehr wütend gewesen. Aber das Risiko war es mehr als wert. Wie ich Ihnen ja schon sagte, 130
studierte ich Biologie. In gewisser Weise stimmt das auch. Tatsächlich ist mein Hauptfach Teratologie. Das Studium von Monstern.« Aber natürlich ist es das, dachte sie. Wenn man als der Sohn von Jameson Arkeley aufwächst, Amerikas letzten Vampirjäger, welches Studienfach hätte er sonst wählen sollen? »Sie müssen wissen, das ist kein großes Gebiet. Die meisten Monster wurden ausgerottet, lange bevor sich jemand die Mühe machte, sie auf vernünftige wissenschaftliche Weise zu studieren. Es gibt ein paar Fossilienbeweise und ein paar so genannte historische Berichte. Es gibt aber keine Daten aus erster Hand. In einem Museum in Moskau steht ein ausgestopfter Werwolf, aber den halten viele Leute für eine Fälschung - und man lässt bestimmt keine Erstsemestler von amerikanischen Universitäten rüberfliegen, damit sie an ihm herumexperimentieren können. Aber da saß ich nun und hatte Zugang zu einer lebenden... nun ja, untoten Vampirin. Der Letzten, soweit bekannt ist.« Caxton schloss die Augen. Wenn es doch nur so wäre. »Können Sie sich vorstellen, wie verlockend das war?« Simon schaute zur Seite, er konnte ihren Blick nicht erwidern. »Natürlich habe ich mit ihr gesprochen, was denn sonst?« »Sie hat Ihnen etwas über Vampire beigebracht. Hat sie Sie jemals um eine Gegenleistung gebeten?«
»Ich hatte eine Ahnung, dass sie darauf hinauswollte. Sie schickte mir dauernd EMails, wie dringend sie Blut benötigte, und wie mein Vater sie aushungerte. Ich erwiderte, es sei eine Schande, aber ich könnte nichts daran ändern. Vielleicht wäre sie weitergegangen, aber eines Tages erhielt ich keine Antwort mehr von ihr. Ich habe lange Zeit nichts mehr von ihr gehört. Ich ließ die VPN-Verbindung bestehen, nur für den Fall, dass sie sich wieder mit mir in Verbindung setzen wollte. Später hörte ich dann die Geschichte, wie sie diese 131
neuen Vampire erschuf, und wie Sie und mein Vater sich kennenlernten, und mir wurde klar, dass die Daten übereinstimmten. Sie hörte auf, mir zu schreiben, als sie anfing, neue Vampire zu schaffen. Vermutlich dauerte es zu lang, mich dazu zu verführen, den Fluch anzunehmen.« »Aber jetzt hat sie wieder mit Ihnen Verbindung aufgenommen?« »Ja. Vor etwa zwei Monaten, als mein Vater getan hat... was er getan hat.« Simon zuckte mit den Schultern. »Die Verbindung war plötzlich wieder aktiv. Eine Nachricht wartete auf mich. Aber sie war anders als früher.« »Inwiefern?« »Früher hat sie lange gebraucht, um eine E-Mail zu schreiben. Oft Tage. Ich stellte eine einfache Frage und musste lange warten, bis ich eine Antwort erhielt. Als sie jetzt aber wieder da war, schickte sie gleich zwei oder drei E-Mails am Tag, lange Briefe, wie viel ihr unser Kontakt bedeutet hatte, und dass sie mich jetzt persönlich kennenlernen wollte. Auch ihre Grammatik war viel besser, ihre Texte wiesen tatsächlich Satzzeichen auf. Vermutlich musste sie nicht mehr heimlich schreiben, nachdem sie mit Dad unterwegs war, und sie hatte mehr Zeit...« »Nein«, sagte Caxton. »Nein?« Caxton runzelte die Stirn. »Ihr Schreiben wird besser, wenn sie kürzlich getrunken hat. Das Tippen fällt ihr dann leichter, weil sie kräftiger ist. Ihr Vater füttert sie regelmäßig, und es wird nicht mehr lange dauern, bevor sie sie anruft. Bis sie wieder sprechen kann.« »Wirklich? Sie können sich ja gar nicht vorstellen, wie viel man noch von ihr lernen kann.« Caxton hielt sich zurück und verzichtete darauf, sein dummes Gesicht zu ohrfeigen. »Das alles hätten Sie mir bei unse 131 rer ersten Begegnung erzählen sollen. Sie hätten es wenigstens irgendeinem Polizisten erzählen sollen, und zwar in der Sekunde, in der sie wieder mit Ihnen in Kontakt getreten ist.« Er schüttelte den Kopf. »In diesen Nachrichten stand nichts, das Ihnen helfen könnte. Es ging hauptsächlich um persönliche Dinge. Und man kann diese Verbindung unmöglich zurückverfolgen, um herauszubekommen, wo sie sich aufhält.« »Sind Sie sich da so sicher? Sie sind kein Detective, Simon. Sie haben keine Ahnung, wie wir arbeiten. Wie wir selbst aus scheinbar bedeutungslosen Hinweisen Neues erfahren. Diese Informationen hätten mir helfen können.« Sie wusste, dass sie eine Bombe platzen lassen würde, dass ihre nächsten Worte ihn möglicherweise lebenslang traumatisieren würden, aber es war ihr jetzt ziemlich egal. »Hätte ich sie gehabt, hätte ich mittlerweile vielleicht ihr Versteck aufgespürt. Vielleicht hätte ich Ihren Onkel retten können. Oder Ihre Mutter.« Simons Miene wurde ausdruckslos. »Aber das war alles harmlos! Meine Mom...« »Sie wissen, dass sie tot ist, oder? Ich musste Raleigh diese Nachricht überbringen.«
Der Mund des Jungen verwandelte sich zu einem schmalen Strich. »Ich... ich weiß. Vermutlich habe ich das bis jetzt verdrängt. Sie ist tot. Sie ist wirklich tot.« Wie Nebel erfüllte das Schweigen den Raum. Simon saß ganz still da und starrte ins Leere. »Und ich hatte daran einen Anteil. O Scheiße«, sagte er sehr leise. »O Gott. Ich wollte nicht... ich habe nicht nachgedacht.« Caxtons Wut und ihre furchteinflößende Entschlossenheit zerbrachen von einer Sekunde auf die andere. Er verkörperte nicht das Böse. Er hatte diese Informationen nicht zurückgehalten, um sie aufzuhalten. Er hatte nur nicht begriffen, wie verzweifelt die Situation tatsächlich war. Bis vor wenigen 132 Tagen war er noch immer der Überzeugung gewesen, dass sein Vater ein guter Mensch war. Der Junge, der da vor ihr saß, fing an zu weinen. Er schluchzte nicht, heulte auch nicht unkontrolliert. Lautlos liefen ihm die Tränen die Wangen hinunter. Er sah nicht so aus, als wäre er sich ihrer überhaupt bewusst. Sie hatte ihn zu sehr bedrängt. Ihm zu große Schuld aufgebürdet. Manche Menschen waren nicht so stark, wie sie es manchmal war. Manche Menschen hatten auch nicht ihre Übung, mit der Schuld am Tod anderer klarzukommen. Das durfte sie nicht vergessen. Glauer war dafür da, die emotionellen Dinge zu übernehmen. Glauer war derjenige, der mit anderen Menschen umzugehen verstand. Sie war diejenige, die Vampire erschoss. Aber selbst sie konnte die Trauer erkennen, die den Jungen zu zermalmen drohte: wie eine sich schließende Faust. Sie beugte sich vor und drückte seine Hand. »Hey. Wir werden nie erfahren, ob die Dinge einen anderen Verlauf genommen hätten.« Er ließ die Stirn auf den Tisch fallen. Sie versuchte sich etwas anderes einfallen zu lassen. »Als ich meine Mutter verlor, war ich fünfzehn«, sagte sie. »Es ergibt nie irgendeinen Sinn. Mütter sind größer als wir. Sie sind zäher. Oder sollten es zumindest sein.« Er drehte langsam den Kopf, um sie anzusehen. »Danke. Ich glaube, ich wäre jetzt gern einen Augenblick allein. Sind wir fertig?« Sicher«, sagte Caxton. Sie stand auf und verließ den kleinen Raum. Seine Fesseln löste sie nicht. Schließlich war sie noch immer ein Cop. 132
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Das Telefon weckte Caxton. Sie wollte es zwar ignorieren, doch es war zugleich auf Vibration eingestellt und kitzelte ihre Rippen. Sie setzte sich auf. Es war eine lange Nacht gewesen. Sie hatte ein Team von Feds beaufsichtigt, das Simons Wohnung durchsucht und seine Computer beschlagnahmt hatte; sie hatte sie alles kopieren lassen, was von der jahrelangen Korrespondenz zwischen dem Jungen und der Vampirin noch übrig war. Möglicherweise brachte das etwas - völlig unverfänglich aussehende Hinweise konnten manchmal zu einem unvorhergesehenen Durchbruch in einer Ermittlung führen. Aber es würde dauern, bis die Ergebnisse vorlagen. Als sich die Computerspezialisten an die Arbeit machten, wurde ihr bewusst, dass sie keine Hilfe war, also kehrte sie zum Gefängnis zurück und hielt zusammen mit jedem Fed Wache, den sie mitten in der Nacht hatte mobilisieren können. Und nichts war geschehen. Gegen fünf Uhr morgens war sie schließlich eingeschlafen, auf einem Stuhl in einem unbenutzten Raum in der Nähe der Untersuchungszellen im Keller. Als Deckenersatz hatte ihr Wintermantel herhalten müssen. Das Handy steckte in einer der Taschen.
Sie wollte die Augen öffnen, aber sie waren müde und vom Schlaf verklebt. Ihr Körper protestierte, als sie sich mühsam hochkämpfte. Jeder Muskel war steif, jedes Gelenk schmerzte. Sie klopfte den Mantel mit einer Hand ab, bis sie die Tasche mit dem Telefon fand, es hervorholte und antwortete. »Hallo? Wer ist da?«, fragte sie. Zu mehr war sie im Augenblick nicht imstande. »Deputy Marshal Fetlock. Alles in Ordnung?« 133 Caxton rieb sich mit der freien Hand die Augen. Dann setzte sie sich etwas aufrechter hin und ignorierte die schmerzenden Muskeln. »Ja, Sir.« Sie wollte aufstehen. »Ich habe da ein paar sehr beunruhigende Berichte aus dem Field Office in Syracuse erhalten. Ich wollte mich mit Ihnen über Ihr Verhalten unterhalten. Special Deputy Beni-cio hat mich darüber unterrichtet, dass Sie Simon Arkeleys Apartment auf illegale Weise betreten und durchsucht haben.« »Es handelte sich um Gefahr in Verzug«, erwiderte sie. Das war nicht einmal eine direkte Lüge. Simons Leben war in Gefahr gewesen, und sie hatte die Tür nur aufgetreten, um ihn zu beschützen. »Benicio bestätigt diese Geschichte nicht!« Sie stand auf. Mit schleppenden Bewegungen wankte sie zur Tür und stieß sie auf. Die Untersuchungszellen befanden sich ein paar Schritte den Korridor hinunter - sie musste sie überprüfen. »Sir, Simon befindet sich jetzt in meinem Gewahrsam.« Sie zog in Betracht, ihn darüber zu unterrichten, dass der junge Mann gestanden hatte, die Akten aus dem Archiv des USMS gestohlen zu haben, aber möglicherweise würde er darauf bestehen, nach Virginia gebracht und den dortigen Behörden übergeben zu werden. Das war das Letzte, was sie wollte. Sie musste ihn in der Nähe haben, wo sie ihn im Auge behalten konnte. »Ich glaube kaum, dass er ein Interesse daran haben wird, sich zu beschweren.« »Das kann ich um Ihretwillen nur hoffen. Wir können ein solches Verhalten nicht dulden, Caxton.« Es gab acht Zellen, alle kaum größer als ein Wandschrank, die die eine Seite eines kurzen Korridors in Beschlag nahmen. Nur ein paar waren besetzt. Sie zählte die Zellen ab. Sie hatte Simon in der dritten Zelle auf ihrer linken Seite untergebracht. Sie erreichte die Gitterstäbe und sah hinein. Da 133 war er. Schlief. Sie beobachtete, wie sich seine Brust hob und senkte. Er lebte noch. »Sir«, sagte sie, »darf ich Sie fragen, wie spät es ist?« »Nach meiner Uhr ist es zwei Minuten nach acht«, erwiderte Fetlock. »Versuchen Sie nicht, das Thema zu wechseln.« Sie versuchte sich zu erinnern, um wie viel Uhr mit dem Sonnenaufgang zu rechnen war, aber es wollte ihr nicht einfallen. »Bitte. Sagen Sie es mir nur einfach. Ist die Sonne schon aufgegangen?« »Ja, Special Deputy, das ist sie. Aber...« »Gott sei Dank«, sagte Caxton. Das bedeutete, dass sie die Nacht überstanden hatte. Es bedeutete, dass sie vierundzwanzig Stunden hinter sich gebracht hatte, ohne ihre Waffe abfeuern zu müssen. Aber noch viel wichtiger: es bedeutete, dass seit mehr als vierundzwanzig Stunden niemand mehr gestorben war. »Gott sei Dank«, wiederholte sie. »Gott sei Dank.« Fetlock redete weiter, doch sie nahm ihn kaum wahr. An den passenden Stellen gab sie beschwichtigende Geräusche von sich, aber sie machte sich nicht die Mühe, ihre Handlungen zu rechtfertigen - warum sollte sie auch? Raleigh und Simon waren am Leben. Jamesons Plan, neue Vampire zu rekrutieren, war gescheitert. Sie konnte seine Kinder beschützen, während sie ihn jagte. Und wenn sie ihn aufspürte, würde sie auch Malvern
finden. Sie war noch nicht fertig. Es würde noch mehr Zeit, mehr Arbeit und mehr Risiken erfordern, die Vampire zu erledigen, aber immerhin war sie einen wichtigen Schritt vorangekommen. Natürlich konnten die Vampire ihr den Augenblick des Triumphs nicht gönnen, ohne ihn irgendwie zu ruinieren. Als sie Fetlock endlich abgewimmelt hatte, teilte ihr das Handy mit, dass sie eine Voicemail erhalten hatte. Sie war während der frühen Stunden des Morgens eingetroffen, kurz 134 nachdem sie eingeschlafen war. Sie erkannte die Nummer sofort: Es war das Handy, das Jameson dem toten Cop in Bellefonte gestohlen hatte. Sie stählte sich, wählte ihre Voicemail und wartete auf seine knurrende Stimme. Aber es war keine männliche Stimme, die da ertönte. Die Nachricht war kurz. »Beschütze den Jungen vor allem Leid, Laura. Ich habe Pläne mit ihm.« Es handelte sich deutlich um eine Frauenstimme, die allerdings so eingerostet klang, dass sie die Worte kaum verstand. Im ersten Augenblick war sie verblüfft, aber dann fiel ihr ein, dass sie die Stimme schon zuvor gehört hatte, nur einmal, vor mehr als einem Jahr. Es war die Stimme von Justinia Malvern. Sie sprach also wieder. Jameson hatte ihr genug Blut gegeben, so hatte sie ihre Stimme zurückerhalten. Das bedeutete, dass es nur noch eine Frage der Zeit war, bevor sie wieder ohne Hilfe laufen konnte. Aber das spielte keine Rolle. Das sagte sich Caxton immer wieder. Beide Kinder befanden sich in Schutzhaft. Sie machte Fortschritte. Nachdem sie den Papierkram erledigt hatte, übergab man Simon ihrer Obhut. Der Junge sah beinahe schon übertrieben dankbar aus, als sie ihn auf den Parkplatz des Polizeireviers führte. Irgendwann während der Nacht hatte das Schneien aufgehört, und ganz Syracuse lag unter einer dicken weißen Schicht begraben, die in ihren Augen schmerzte. Sie setzte die Sonnenbrille auf und suchte nach ihrem Wagen. Fünfzehn Zentimeter Neuschnee bedeckten ihn, aber hier und da schimmerte die rote Farbe durch. Mit Simons Hilfe grub sie ihn aus, dann stiegen sie ein. Ihr Atem dampfte und ließ die Scheiben beschlagen. Vor dem Highway hielt Caxton an einem Schnellimbiss an, um zu frühstücken. Wie sich herausstellte, war Simon Vegetarier. Sie hatten Probleme, einen Salat zu bekommen, aber 134 schließlich gab er sich mit einem labbrigen Teller Grünzeug zufrieden, aus dem er die Stücke Hühnerfleisch herauspickte. Er legte sie sorgfältig auf eine Serviette, die er zusammenfaltete und in eine Papiertüte packte. Diese zerknüllte er dann und schob sie in die Tasche, um sie später zu entsorgen. Caxton warf einen Blick auf den Rücksitz des Mazda und betrachtete die unzähligen Verpackungen und Tüten, die sie dort hingeworfen hatte. Keiner von ihnen sagte ein Wort. Die Pflüge hatten den Highway geräumt und eine dicke Schicht Steinsalz gestreut. Der Asphalt war nass und glänzte. Es war erst kurz nach Mittag, als sie in Harrisburg im Hauptquartier der State Police eintrafen. Sie führte Simon hinein und machte sich auf die Suche nach Glauer. Er war unten im Konferenzraum der SSU und heftete gerade ein Foto von Raleighs Freundin Violet unter der Rubrik VAMPIRMUSTER #i ab. Das Mädchen trug hier ein schwarzes Kapuzenshirt, dessen Reißverschluss weit nach unten gezogen war, um den Blick auf ein üppiges Dekollete freizugeben; in Nase und Ohren steckten Piercings. Sie sah
unglücklich aus. Ganz anders als das lächelnde Mädchen in dem voluminösen Pullover, das Caxton in dem Kloster kennengelernt hatte. »Wo haben Sie das her?«, wollte sie wissen. »Von ihren Eltern. Sie haben der Einäscherung übrigens zugestimmt. Das wurde schon gestern Abend erledigt, man hat es dazwischengeschoben.« »Gut, auch wenn es vermutlich unnötig war. Jameson wusste, dass ich die Leiche bewachen ließ. Hätte er sie wiederbelebt, hätte ich sie verhört.« »Klar«, sagte Glauer. Er schrieb ihren Namen auf die Tafel. VIOLET HARMON. Caxton hatte bis jetzt nicht einmal ihren Nachnamen gekannt. »Ich habe Simon in einem Stück zurückgebracht«, sagte Caxton und stellte den Jungen vor. 135 »Es tut mir so leid«, sagte Glauer und nahm Simons Hand in seine große Pranke, »wegen allem, was passiert ist. Wir haben alles in unserer Macht Stehende getan, um Ihrer Mutter zu helfen, das schwöre ich.« »Sicher doch«, sagte Simon. »Hören Sie, Ihre Schwester ist auch hier. Wollen Sie zu ihr?« Der junge Mann runzelte die Stirn. »Warum?«, fragte er. Dann schüttelte er den Kopf, als wollte er sich auf diese Weise Klarheit schaffen. »Sie sollten über das sprechen, was geschehen ist.« Glauer klopfte Simon auf die Schulter. »In einer solchen Zeit muss eine Familie zusammenhalten. Im Angesicht der Trauer bedeuten Liebe und gegenseitige Unterstützung alles.« Simon zuckte mit den Schultern. »Ich bin eigentlich nie der große Bruder gewesen.« »Dann warten Sie doch einfach im Aufenthaltsraum«, meinte Glauer und zeigte auf die Tür. Nachdem Simon den Raum verlassen hatte, wandte sich der große Cop Caxton zu und rollte mit den Augen. »Der ist ja fast genauso schlimm wie Sie.« »Was soll das denn heißen?«, fragte Caxton, aber sie tat es lächelnd. Nichts konnte ihre gute Stimmung ruinieren. Als Glauer keine Antwort gab, setzte sie sich in Bewegung, und er schloss sich ihr an. »Da hier noch alle lebendig sind, gehe ich mal davon aus, dass Jameson vergangene Nacht nicht angegriffen hat.« »Nein, das hat er nicht«, sagte Glauer. »Und ich muss zugeben, dass ich schon richtig erleichtert war. Sie hatten es ja so klingen lassen, als würde eine Nacht allein mit Raleigh meinen Tod bedeuten. Tatsächlich war es sogar ganz lustig.« »Tatsächlich?« Caxtons Lächeln wurde noch breiter. »Sie ist etwas jung für Sie, oder?« 135 Glauer errötete, versicherte ihr aber sofort, dass nichts Unschickliches passiert war. »Sie langweilt sich schnell, was mich nicht überrascht hat. Ich meine, was soll ein neunzehnjähriges Mädchen, das die Nacht in einem Polizeirevier verbringen muss, schon tun? Wir haben eine Partie Scrabble gespielt...« »Wer hat gewonnen?«, fragte Caxton. »Sie. Mit Chasmus bei dreifachem Wortwert. Ich wollte das nicht gelten lassen, weil ich es noch nie zuvor gehört hatte, aber wie sich herausstellte, ist das ein medizinischer Begriff für Gähnkrampf. Danach habe ich ihr das Gebäude gezeigt -den Bereitschaftsraum, die Abteilung für Computerkriminalität, die Asservatenkammer, die Garage...« »Haben Sie sie auch Ihren Smokey-Bear-Hut tragen lassen?« Glauer errötete erneut, behielt aber für sich, ob er es nun getan hatte oder nicht. Sie stiegen die Stufen zum Kasernenflügel des Hauptquartiers hinauf, wo dienstfreie Trooper oft zwischen zwei Schichten schliefen. Dort gab es mehrere halbwegs gemütlich eingerichtete Schlafräume. »Ich habe sie lange wach gehalten - ich selbst habe natürlich gar nicht geschlafen, weil ich Wache hatte. Ich glaube, sie schläft jetzt
immer noch, jedenfalls ist sie noch nicht aus dem Zimmer gekommen.« Er zeigte auf eine bestimmte Tür und hob die Hand, um anzuklopfen. Dann zögerte er. »Ich weiß nicht, vielleicht sollten wir sie schlafen lassen.« »Es ist fast ein Uhr«, protestierte Caxton. »Wenn sie noch länger schläft, wird sie heute Abend gar nicht schlafen können.« Glauer klopfte einmal zögernd und wartete eine Sekunde lang. Als keine Antwort ertönte, klopft er erneut, dieses Mal nur mit mehr Entschlossenheit. Als Caxton anfing, die Stirn zu runzeln, hatte er dreimal geklopft, ohne die geringste Reaktion zu erhalten. 136 »Machen Sie auf«, sagte sie. Er drehte den Knauf und stieß die Tür auf. Die Jalousien vor den Fenstern waren heruntergezogen, die einzige Lichtquelle im Zimmer war der Fernseher, der mit stumm geschaltetem Ton lief. Er verlieh allem einen bläulichen Schimmer, aber Caxton erkannte sofort, dass das nicht die Erklärung für Raleighs blaurote Lippen oder ihr auffallend blasses Gesicht sein konnte. Sie eilte herein und hielt die Hand über Mund und Nase des Mädchens. »Sie atmet nicht«, verkündete sie und sah den hünenhaften Cop auf der Türschwelle an, der nur völlig verblüfft zurückstarren konnte. Caxton zog die Decke von Raleighs Körper. Sie war nackt, aber jetzt war keine Zeit für Schamhaftigkeiten. Sie griff nach den Gelenken des Mädchens und rieb sie hart. Ihre Haut war eiskalt. »Nein«, stöhnte sie, dann sah sie wieder Glauer an. »Kommen Sie schon her und helfen mir. Rufen Sie den Notarzt, melden Sie, dass wir einen Notfall haben.« Sie platzierte die übereinander gelegten Hände auf Raleighs Brustbein und übte in schnellen Bewegungen Druck aus. Glauer legte den Mund auf Raleighs Lippen und blies Luft in ihre Lungen. Sie hatten beide einen Kurs in Wiederbelebung gemacht -tatsächlich verlangte die State Police von ihnen, jedes Jahr eine Prüfung in Erster Hilfe abzulegen. Aber sie wussten auch beide, dass es sinnlos war. Das Mädchen war tot. Vermutlich schon seit Stunden. Trotzdem machten sie mit den Wiederbelebungsversuchen 136 weiter. Caxton führte eine Herz-Lungen-Massage durch, bis ihre Arme schmerzten und ihr fast die Luft ausging. Irgendwann kamen die Rettungssanitäter. Einer von ihnen ergriff das Handgelenk des Mädchens und erkundigte sich, wie lange sie schon keine Reaktion mehr zeigte. Caxton wusste es nicht und sagte das auch, während sie Raleighs Brust weiter bearbeitete. Der Sanitäter versuchte es mit einer Adrenalininjektion, aber das war nur Formsache. Schließlich befahlen sie Caxton, damit aufzuhören. Sie trat zurück; in ihren Ohren rauschte das Blut. Sie ließ sich auf einen Stuhl sacken und starrte die Leiche an. »Wie?«, fragte sie. »Wie ist das passiert?« Glauer schüttelte bloß den Kopf. Er mied ihren Blick. Er sah gar nichts an, sondern starrte bloß ins Leere. Es war einer der Sanitäter, der antwortete. »Man braucht eine Autopsie und eine Blutuntersuchung, um sicherzugehen.« Er ergriff den Arm der Toten und drehte ihn, um ihn Caxton zu zeigen. In Raleighs Armbeuge war eine kleine wulstförmige Verletzung zu sehen. Dort waren noch mehr Spuren, lange, geschlängelte Furchen. Viel älter, fast verheilt. Caxton blickte sich im Zimmer um, dann ging sie auf die Knie und schaute unter das Bett. Dort lag eine leere Spritze, außerdem glaubte sie braune Krümel zu sehen. Man hatte Caxton beigebracht, Heroin zu erkennen, wenn sie damit konfrontiert wurde. »Vermutlich hat sie eine massive Dosis genommen, bevor sie gestern Abend zu Bett ging«, sagte der Sanitäter. »Dann hat sie das Bewusstsein verloren und kurz danach
aufgehört zu atmen. Falls das ein Trost ist: Sie wird keine Schmerzen verspürt haben. Tatsächlich wird sie sich ziemlich gut gefühlt haben, bevor sie das Bewusstsein verlor.« »Das ist kein Trost«, sagte Caxton. »Gehen Sie jetzt.« 137 »Wir können sie mitnehmen, aber Sie müssen zur Seite gehen, damit wir mit der Trage hereinkönnen. Sie müssen für die Leiche unterschreiben, und wir müssen mit den nächsten Angehörigen sprechen.« »Ich habe Ihnen gesagt, dass Sie gehen sollen. Sie sind hier fertig«, wiederholte Caxton. »Moment mal, ich weiß, dass das jetzt schwer zu verstehen ist, aber bei einem solchen Fall gibt es Vorschriften. Es gibt Gesetze...« »Vielleicht ist es Ihnen entgangen«, sagte sie, »aber ich bin Polizistin. Ich bin hier das Gesetz, und was ich sage geschieht. Und ich sage, dass Sie und Ihr Partner jetzt hier verschwinden, und zwar schnell.« Der Sanitäter runzelte die Stirn, gehorchte aber. Glauer und sie blieben allein mit der Leiche zurück. »Ich weiß nicht, wie das passieren konnte«, sagte Glauer. Er saugte an seinem Schnurrbart. »Special Deputy, ich verspreche, ich weiß es...« »Sie haben die große Besichtigungstour mit ihr gemacht. Sie haben ihr den Bereitschaftsraum gezeigt. Und die Abteilung für Computerkriminalität. Das haben Sie gesagt. Sie haben ihr die Asservatenkammer gezeigt.« »O nein«, stöhnte Glauer. »Sie wussten, dass sie heroinsüchtig war«, fuhr Caxton fort. »Sie hätten auf die verräterischen Merkmale einer nach Drogen suchenden Süchtigen achten müssen.« »Sie war doch clean! Sie haben sie doch gesehen, sie sah überhaupt nicht aus wie ein Junkie!« Caxton stand kurz davor, ihn auf der Stelle zu feuern. »Wir haben sie aus einer stabilen Umgebung geholt. Sie stand bereits unter unglaublichem Stress - Todesangst, Trauer. Dann bringen wir sie an einen Ort, wo es Drogen gibt. Wie viele Risikofaktoren brauchte sie, bevor sie nachgab? Sie sah die 137 vielen Drogen in der Asservatenkammer. All die Drogen, die wir wer weiß wie lange schon konfisziert haben. Sie muss etwas getan haben, um Sie abzulenken, und wenn es nur für eine Sekunde war.« »Ja«, gab Glauer zu. »Sie hat mich geküsst.« »O Scheiße, nein«, stöhnte Caxton. Sie wollte auf etwas schießen. Stattdessen nahm die Fernbedienung und hieb auf die Austaste. »Es war... es war richtig süß, fand ich. Ich habe ihr gezeigt, wie wir jedes Beweisstück eintragen. Ich dachte, ich würde sie langweilen. Da drehte ich mich um, und plötzlich küsste sie mich... stellte sich auf die Zehenspitzen, warf die Arme um meinen Hals. Das ganze Programm. Ich sagte... ich weiß nicht, was ich sagte. Ich war so überrascht, ich könnte alles gesagt haben. Vermutlich sagte ich, dass ich zu alt für sie bin, und sie sagte, der Kuss sei nur ein Dankeschön gewesen. Weil ich auf sie aufpasse.« Caxton kannte Glauer gut genug, um zu wissen, wie seine Reaktion darauf gewesen war. Der große Cop lebte dafür, Zivilisten aus Gefahren zu retten. Allein deswegen war er überhaupt erst Cop geworden. Hatte Raleigh ihn so leicht durchschaut? Drogensüchtige konnten teuflisch clever sein, wenn es darum ging, sich die nächste Dröhnung zu organisieren. »Ich drehte mich um und ging einfach aus dem Raum, ich wusste nichts zu erwidern. Ich ließ sie vielleicht ein paar Sekunden aus den Augen, das ist alles.« »Viel Zeit.«
»Klar. Sie konnte sich ein Besteck und eine Tüte Heroin schnappen, und es wäre mir nicht aufgefallen.« Glauer starrte auf seine Füße. »Das ist schrecklich.« »Yep«, sagte Caxton. Sie war so wütend, dass sie Sterne sah. Sie dachte darüber nach, Glauer zu feuern. Nach ihrem Bericht über diesen Zwischenfall würde ihn zumindest eine An 138 hörung vor dem Disziplinarausschuss erwarten. Selbst wenn sie zu seinen Gunsten aussagte - und sie war sich nicht sicher, ob sie das tun würde würde man ihn für eine lange Zeit ohne Bezüge suspendieren. Vielleicht würde man ihn auch feuern, ohne dass sie einen Finger rühren musste. »Ich hatte Sie gebeten, auf sie aufzupassen. Ich habe sie vor ihrem Vater gerettet, und alles, was ich wollte, war, dass Sie sie am Leben erhalten.« »Hey«, sagte Glauer. »Sie müssen jetzt nicht persönlich werden.« »Nein?« »Nein! Das war ein schrecklicher Unfall, aber...« Caxton sah ihn an. »Sind Sie da so sicher? Sind Sie sicher, dass es ein Unfall war? Was, wenn es Selbstmord war?« »Nein«, sagte Glauer und weigerte sich, diese Möglichkeit zu akzeptieren. Caxton konnte sich nicht leisten, das zu tun. Man musste ja Selbstmord begehen, wenn man Vampir werden wollte. Das war eine der Regeln - zufällige Unfälle zählten da nicht. »Ihr Vater könnte seinen Fluch an sie weitergegeben haben.« »Nein«, sagte Glauer erneut. »Er könnte es getan haben. Heute Abend, in nur wenigen Stunden, könnte sie die Augen aufschlagen, und sie könnten rot sein. Sie könnte ihren Mund öffnen, und er könnte mit diesen Zähnen gefüllt sein. Sehen Sie sie sich doch nur an. Sie hat bereits ihre Farbe verloren.« »Das heißt doch nicht... Sie machen da einen Fehler. Das war doch bloß ein dummer Unfall. Sie hat die falsche Dosis erwischt. Das ist alles!« Caxton schüttelte den Kopf. »Wir müssen ihre Leiche vor Einbruch der Dunkelheit einäschern. Ich habe diesen Fehler schon einmal gemacht. Und er hat mich alles gekostet.« 138
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Caxton hatte sich wegen Simon gesorgt. Sie hatte befürchtet, dass Jameson an Simon herantreten und sein Angebot machen würde, und dass Simon einverstanden wäre. Sie hatte sich nicht vorstellen können, dass es Raleigh sein würde, die arme, zaghafte, kleine Raleigh, die so zerbrechlich gewesen war, dass Jameson sie hatte retten und an einem stillen Ort so weit abseits von der realen Welt unterbringen müssen. Sie schnappte sich das Telefonbuch und suchte los. Sie brauchte eine Notfallkremation - noch vor halb fünf. Das waren keine zwei Stunden mehr. Die ersten drei Bestattungsunternehmen, bei denen sie es versuchte, führten keine Feuerbestattungen durch; diese Art Bestattung war nicht einmal als Kategorie im Branchenbuch aufgelistet - Caxton rief einfach auf gut Glück an. Die vierte Nummer verband sie mit einem sehr höflichen, sehr verständnisvollen jungen Mann, der ihr versicherte, dass das unmöglich sein würde. »Ich brauche die Einwilligung des nächsten Angehörigen.« »Ich bin U.S. Marshal«, sagte sie. »Kann ich ohne Erlaubnis überhaupt eine Einäscherung anordnen?« »Nicht, solange Sie nicht auch Gesundheitsbeamtin sind. In jedem anderen Fall brauchen Sie die Zustimmung der Familie.« »Es gibt nur noch ihren Bruder. Ich bringe ihn dazu einzuwilligen.«
»Sie wollen ihn dazu bringen? In diesem Geschäft gibt es Vorschriften«, sagte er. »Selbst wenn er einwilligt, würden Sie immer noch zusätzlich einen Totenschein brauchen.« »Ich verspreche Ihnen, dieser Körper ist tot.« Der höfliche Mann hustete, ein Laut, den sie auch als Lachen hätte interpretieren können, hätte sie das gewollt. An 139 scheinend lernte man im Bestattungsgeschäft diplomatisch zu sein. Aber Caxton wusste, dass sie bereits verloren hatte. Ohne Totenschein war es unmöglich, und um einen zu bekommen, würde sie auf einen Coroner warten müssen, der das Mädchen für tot erklärte. Wartete sie aber darauf und rechnete sie dann noch die Fahrt zu dem Bestattungsunternehmen dazu, so konnte es bereits zu spät sein. Glauer und Simon versuchten abwechselnd, ihr die Kremation auszureden. Der große Cop hielt es für unnötig, da Raleighs Tod ein Unfall gewesen sei. Dass Jameson nie Gelegenheit gehabt hatte, seinen Fluch weiterzugeben. »Sie waren da, die ganze Zeit«, sagte er. »Sie haben gehört, was sie miteinander sprachen.« »Man kann den Fluch durch einen Blick weitergeben. Mehr ist nicht dazu nötig«, beharrte sie. »Aber wissen Sie denn nicht mehr, der Fluch muss doch in aller Stille weitergegeben werden. Justinia Malvern nannte es sogar >Den stummen Ritus<. Wenn sie sprachen, können sie es nicht getan haben.« Das war ein gutes Argument, das musste Caxton zugeben, aber eigentlich spielte es keine Rolle. »Er hätte den Fluch jederzeit an sie weitergeben können. Lange, bevor ich dort eintraf. Ich habe mich auf ihr Wort verlassen, dass sie seit sechs Monaten keinen Kontakt mehr mit ihm hatte. Aber wenn sie nun gelogen hat?« Nun war Simon dran. »Das würde sie niemals tun«, sagte er. »Der Anblick von Blut ängstigte sie. Als wir noch Kinder waren und sie sich mal das Knie aufschlug, rannte sie immer gleich los und versteckte sich unter dem Sofa.« »Nadeln schienen ihr aber nichts auszumachen. Und wo Nadeln sind, da ist auch Blut«, erwiderte Caxton. »Sie hat es überwunden.« Niemand vermochte sie zu überzeugen. Sie konnte es sich 139 gar nicht leisten, sich von jemandem überzeugen zu lassen. Sie stürmte aus dem Raum in den Korridor, dann weiter in einen Bereitschaftsraum, in dem sich ein paar Trooper gerade um die Snackmaschinen versammelt hatten. »Sie vier, kommen Sie mit«, sagte sie und verließ das Gebäude durch den Haupteingang. Auf dem Parkplatz war es kalt, und es schneite - nicht das blizzardähnliche Schneegestöber wie in Syracuse, sondern nur ein paar Flocken, aber trotzdem schlug sie den Kragen hoch. »Kommen Sie«, sagte sie und führte sie hinter das Gebäude. Dort standen ein paar Schuppen, in denen Streusalz eingelagert wurde; ein lang gezogenes, niedriges Gebäude enthielt Sägeböcke für Straßensperren. Sie öffnete das Tor und scheuchte ihre vier Zwangsfreiwilligen hinein. Drinnen standen Hunderte von hölzernen Sägeböcken, die mit reflektierender weißer und gelber Farbe gestrichen waren. Sie befahl jedem Mann, sich einen zu schnappen, und nahm selbst auch einen. Er war schwer. Das war ihr aber egal. Auf dem Parkplatz ließ sie die Männer ihre Böcke aufschichten. Ihren stemmte sie oben drauf. Es sah nicht so aus, als würde das reichen. »Mehr«, befahl sie also und ging zurück. Einer der Trooper fragte sie, was sie da überhaupt täten. Sie befahl ihm, den Mund zu halten und einen Holzbock zu nehmen, und er gehorchte. Sie schleppten ihre Last zum Parkplatz zurück und warfen sie auf den Haufen. Es polterte laut. Die Beine der Sägeböcke verhinderten, dass sie sie so aufstapeln konnten, wie sie es wollte. Sie schickte die Männer zurück, um noch mehr zu holen, und kletterte auf den Holzstapel.
Sie sprang auf und ab, landete hart mit den Stiefeln. Ein paar der Beine brachen ab. Die Männer brachten weitere Sägeböcke - sie ließ sie abladen und noch mehr holen. Glauer und Simon standen am Eingang und sahen ihr zu. Sie ging davon aus, dass sie begriffen, was sie da tat, aber es war ihr egal. Immerhin versuchten sie nicht, sie aufzuhalten. 140 Als die leise maulenden Trooper mit ihrer Last kamen, nickte sie dankend und fing an, den Holzhaufen etwas gleichmäßiger aufzuschichten. »Sie da«, sagte Caxton. »Gehen Sie zur Fahrbereitschaft und holen Sie den größten Benzinkanister, den man Ihnen geben kann. Sie beide - gehen Sie in die Kaserne. Da liegt eine Tote auf einem Bett. Wickeln sie sie in ein Laken und bringen sie her.« Wenn das Krematorium es nicht tun wollte, dann würde sie Raleighs sterbliche Überreste eben selbst einäschern. Sie fing an, wieder auf das Holz einzutreten, um das Brennmaterial gleichmäßiger verteilen zu können. »Caxton«, sagte Glauer schließlich. Er stand direkt hinter ihr. »Caxton, das ist doch verrückt.« »Ach ja? Da drinnen liegt ein Mädchen, das möglicherweise um halb fünf als Vampirin voller Blutdurst aufwacht. Sie haben gesehen, was sie anrichten können, und Sie wissen, dass sie nie stärker sind als im Augenblick ihres Erwachens.« »Sie nehmen an...« »Ich nehme gar nichts an«, erwiderte sie. »Ich bereite mich auf eine Eventualität vor. Bei den Risiken, mit denen wir es hier zu tun haben, wäre es unsagbar dumm, es nicht zu tun. Wenn man zwei Entscheidungen zur Auswahl hat, von denen die eine alle glücklich macht und die andere eben nicht gefährlich idiotisch ist, dann wählt man die zweite. Das hat mir Jameson beigebracht.« »Hören Sie, es besteht die Möglichkeit, dass sie wieder aufsteht. Es besteht auch die Möglichkeit, dass Sie Simon für sein Leben lang traumatisieren. Warum...« »Sie geben also zu, dass die Möglichkeit besteht! Das ist kein Spiel, Glauer. Jetzt helfen Sie entweder, die Leiche zu holen, oder verpissen Sie sich.« Er griff nach ihrem Arm. Sie schwang herum, blitzschnell, 140 und schlug ihm gegen das Handgelenk. Er wich zurück und schlenkerte schmerzerfüllt den Arm. Es war seine Schuld, dass Raleigh tot war. Er hatte sie Selbstmord begehen lassen. Falls er Caxton jetzt noch einmal ansprach, würde sie ihn anderswo hinschlagen, ins Gesicht oder in den Magen. Die Leiche wurde herausgebracht. Die Trooper hatten sie in ein weißes Laken gewickelt, dann hatten sie Klebeband um Füße und Hals geschlungen, um es an Ort und Stelle zu halten. Zwei der Männer legten sie behutsam auf das Holz, ein dritter übergoss sie nach Caxtons Befehl mit Benzin. Ihr kam der Gedanke, dass jemand vielleicht ein paar Worte sagen sollte, aber der Kaplan des HQs weigerte sich, etwas damit zu tun haben zu wollen, als sie ihn anrief. Sie selbst hatte keine Ahnung, was sie sagen sollte. In einem Mülleimer fand sie eine weggeworfene Zeitung und knüllte sie zusammen. Sie sah die Trooper an, die ihr geholfen hatten. »Wer von Ihnen raucht? Ich brauche ein Feuerzeug.« Die Trooper starrten sie bloß an. »Jetzt wollt ihr nicht mehr mitmachen? Ihr habt sie mit Benzin getränkt! Was habt ihr denn geglaubt, was ich tun werde?« Eine Hand legte sich auf ihre Schulter, und sie fuhr herum, in der Absicht, Glauer einen Stoß zu versetzen, aber er war es gar nicht. Deputy Marshal Fetlock stand da, einen Ausdruck fassungslosen Entsetzens auf dem Gesicht.
»Aufhören«, sagte er. Sie überlegte, ihn zu schlagen. Sie tat es nicht. Aber es kostete sie einige Mühe. »Wer zum Teufel hat ihn angerufen?«, verlangte sie zu wissen und starrte die Trooper an, die um sie herumstanden. Alle starrten sie an, einige peinlicher berührt als andere. »Glauer? Waren Sie das? Gottverdammt noch mal...« »Aufhören«, sagte Fetlock erneut. 141 »Deputy Marshal.« Sie bemühte sich, beherrscht und vernünftig zu klingen. »Dieses Mädchen könnte mit dem Vampirfluch infiziert sein. Wenn wir ihren Körper nicht vor Sonnenuntergang vernichten, könnte sie zurückkehren. Ich habe das selbst noch nie miterlebt. Ich kann mich nur auf das verlassen, was Jameson mir beigebracht hat. Aber sie kommen schnell zurück, und sie kommen außergewöhnlich stark zurück. Sie kommen zurück und sind zur Jagd bereit.« »Aufhören«, sagte Fetlock. »Treten Sie da weg.« Es war ihm ernst. Sie trat einen Schritt von dem Scheiterhaufen zurück. Dann noch einen. Er hielt die Hand hoch, die Fläche nach oben, und sie trat einen dritten Schritt zurück. Sie ließ die zusammengedrehte Zeitung zu Boden fallen. Der Deputy Marshal wandte sich an Simon, warf ihr aber immer wieder einen Blick zu, als erwartete er, dass sie sich jeden Augenblick auf den Scheiterhaufen stürzte und ihn in Brand setzte. Der Gedanke war ihr auch gekommen. »Simon Arkeley«, sagte er. »Ist das Ihre Schwester hier? Wir werden sie heute nicht verbrennen.« »Sie sind Caxtons Boss, nicht wahr?« »Das stimmt.« Fetlock wandte sich wieder ihr zu, obwohl er weiter mit Simon sprach. »Ihr Verlust tut mir sehr leid.« »Ja. Nun. Ich hatte noch keine Zeit, richtig darüber nachzudenken...« Fetlock unterbrach ihn. »Vielleicht könnten Sie wieder hineingehen und die Polizei ihre Polizeiangelegenheiten erledigen lassen, ja? Glauer, Sie behalten ihn im Auge.« Glauer brachte den jungen Mann hinein. Fetlock ging auf Caxton zu. »So ist das besser.« Er blieb erst stehen, als er nahe genug herangekommen war, um ihr eine Ohrfeige zu geben. Aber das tat er nicht. Stattdessen sagte er: »Geben Sie mir Ihren Stern.« 141
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Das können Sie nicht machen«, sagte Caxton. »Nicht jetzt.« Fetlock streckte die Hand aus. »Hören Sie. Sie muss vernichtet werden. Wenn ich das nicht tue...« »Caxton, ich bin kein Narr. Ich kümmere mich darum. Aber ich werde sie bestimmt nicht einfach auf dem Parkplatz verbrennen. Erstens ist das illegal. Und außerdem ist es falsch.« »Sie haben mir vertraut! Sie haben gesagt, das wäre meine Untersuchung, und ich könnte sie handhaben, wie ich es für richtig halte. Sie haben gesagt, Sie würden sich nicht einmischen.« »Da habe ich Sie auch noch für eine kompetente Polizistin gehalten. Ich bezweifle nicht, dass Sie wissen, was Sie tun, oder dass das hier wichtig ist. Aber Ihr Verhalten wird zusehends unberechenbar, und Ihre Methoden sind nicht akzeptabel. Ich übernehme jetzt.« Du wirst Jameson niemals finden, dachte sie. Und wenn doch, wird er dich in kleine Stücke reißen. Sie presste die Lippen zusammen, bis sie brannten, damit sie nichts sagen
konnte. Dann zog sie den Stern vom Revers. Sie übergab ihn und sah zu, wie er ihn in die Tasche schob. Danach wurde er schnell aktiv. Er zeigte auf die Trooper, die einfach dastanden und sich ihre Degradierung angeschaut hatten. »Sie und Sie - bringen sie die Leiche hier weg. Bringen sie sie in einen Raum mit nur einem Ausgang. Sie - gehen Sie zu Ihrem Commissioner und teilen Sie ihm mit, dass Laura Caxton nicht länger eine Beamtin der Bundesregierung ist. Wenn er sie als State Trooper zurückhaben will, ist das seine Sache. Trooper Glauer.« 2 94 »Sir?« Der große Cop war in der Zwischenzeit zurückgekehrt. Er nahm sofort Haltung an. »Sie arbeiten jetzt für mich. Gehen Sie runter zur SSU und bereiten Sie alles vor, um mich auf den neuesten Stand zu bringen, wenn ich komme. Ich will alles wissen, was sie während meiner Abwesenheit getan hat.« Plötzlich standen sie allein auf dem Parkplatz. Caxton starrte ihn mit wachsendem Entsetzen an. Das hier geschah wirklich. Man nahm ihr den Fall weg. Sie hatte keine Berechtigung mehr, Jameson und Malvern zu jagen. »Verdammt, Fetlock! Lassen Sie mich wenigstens ihr Herz herausschneiden!« Sein Blick, als er sie von oben herab ansah, war nur als tückisch zu bezeichnen. Er starrte sie an wie ein Vampir, der sein Opfer hypnotisieren wollte, viel zu lang. Dann gab er plötzlich klein bei. »Hören Sie. Wir schulden Ihnen was, weil Sie uns so weit gebracht haben. Ich lasse Sie zusehen.« Er ließ Caxton dort stehen, um weitere Anordnungen zu geben. Es war drei Uhr nachmittags, die Sonne stand tief am Horizont und würde bald untergehen. Es gab Dinge, die sie vorher noch erledigen musste. Sie lief zu ihrem Auto und ging neben der Fahrertür in die Hocke. Vorsichtig, um so wenig Lärm wie möglich zu machen, löste sie den Velcroverschluss, der ihr Holster an Oberschenkel und Taille hielt. Sie warf einen Blick auf die 90-Two mit ihrem Magazin voller Teflonpatronen und dem unter dem Lauf befestigten Lampen/Laser-Modul, vergewisserte sich zweimal, dass der Sicherungshebel vorgeschoben und keine Patrone in der Kammer war. Dann öffnete sie die Tür und schob Waffe und Holster unter den Sitz. Aus dem Handschuhfach holte sie ihre Ersatzpistole - die altmodische Beretta 92, das Modell, das sie immer getragen hatte, bevor Jameson Ballistikwesten benutzte. Sie schob sie in die 142 Tasche. Für die Pistole hatte sie kein Ersatzholster, aber das musste eben auch so gehen. Im Gebäude suchte sie nach Glauer, in der Absicht, ihm gehörig die Meinung zu sagen. Sie fand ihn unten im SSU-Konferenzraum, wo er seinen Befehlen gehorchte. »Eigentlich sollte ich Sie nicht einmal hereinlassen«, sagte er und schaute vom Aktenschrank auf. »Sie haben mich verkauft«, stieß sie hervor. »Da können Sie mich wenigstens ein paar Dinge überprüfen lassen.« Sie ging zu dem Laptop und schaltete ihn ein. Sie hatte noch nie zugesehen, wie sich ein Vampir in der ersten Nacht erhob, aber sie besaß ein paar Augenzeugenberichte früherer Vampirjäger, und vielleicht konnte sie etwas finden, das ihre Befürchtungen bestätigte. Sie wollte auf das, was passieren würde, falls Raleigh erwachte, so gut wie möglich vorbereitet sein. Als Glauer sie an der Schulter berührte, wäre sie beinahe zusammengefahren. Sie fuhr herum, bereit ihn anzubrüllen, ihm vielleicht sogar eine zu verpassen, aber er sah sie derart verletzt an, dass sie einfach innehielt.
Dann hob er einen Finger an die Lippen und den Schnurrbart. Sie kniff die Augen zusammen - was wollte er ihr sagen? Still zu sein? Er zeigte auf ihren Gürtel. Auf das Handy, das sie dort trug. Es hatte ihr nie gefallen, es war zu groß und sperrig, und sie würde es gern Fetlock zurückgeben, falls es das war, worauf Glauer hinaus wollte. Er nahm es entgegen, aber statt es in die Tasche zu stecken, fummelte er eine Sekunde lang daran herum und schob dann den Daumennagel in eine schmale Ausbuchtung an der Hinterseite. Die Batterie flog mit einem hässlichen Knacken heraus, das nach zerbrechendem Plastik klang. Er legte Batterie und Telefon neben sich auf den Tisch. »Manchmal können Sie wirklich dumm sein, wissen Sie 143 das?«, sagte er. »Ich habe ihn nicht angerufen. Das war gar nicht nötig.« Sie starrte das Handy an. »Er hat meine Anrufe mitgehört.« Das hatte sie gewusst. »Sie wollen doch nicht andeuten...« »Er sagte, er würde auch mir so ein Handy besorgen. Er sagte, er hätte alles hören können, was Sie gesagt haben, wenn Sie es dabei hatten, und auch das meiste von dem, was in Ihrer direkten Umgebung vorging. In der Sprechöffnung ist ein Mikrofon eingebaut, das auch dann aktiv ist, wenn man nicht telefoniert. Er konnte Sie hören, wann immer er wollte.« »Er hat mir die ganze Zeit über zugehört?«, fragte Caxton entsetzt. »Sie meinen, die Regierung hat mich überwacht?« Glauer zuckte mit den Schultern. »Das kann sie doch gut.« »Mein Gott. Soviel zu seinem lockeren Führungsstil und seiner Nichteinmischung.« »Ich soll die Untersuchung für ihn leiten«, sagte Glauer. »Aber ich bin noch nicht so weit.« Da tat sie etwas ausgesprochen Untypisches für sie. Sie umarmte ihn fest. Er war so groß, dass ihre Arme kaum um ihn herum passten. »Seien Sie einfach nur vorsichtig«, sagte sie. »Gehen Sie keine Risiken ein, wie ich es gemacht habe. Wenn Sie glauben, Sie sind in Gefahr, laufen Sie einfach weg.« Das hatte ihr Jameson anders beigebracht. Auf diese Weise erwischte man auch keinen Vampir. Aber vielleicht verhinderte es, dass er den Tod fand. »Es tut mir leid, was ich eben sagte. Uber Sie und Raleigh. Ich weiß, dass Sie Ihr Bestes taten - so, wie sie sich gab, hätte es niemand für möglich gehalten, dass sie auch nur einen Funken Arglist im Leib hatte.« »Nein, Sie hatten recht. Ich habe Mist gebaut. Und jetzt wurde ich gerade dafür befördert.« Er erwiderte die Umarmung, so fest, dass sie das Gefühl hatte, ihr würden die Augen aus dem Leib quellen, dann ließen sie zugleich los. »Hören 143
Sie, dem Commissioner wird das nicht gefallen. Vermutlich degradiert er Sie zurück zur Highway Patrol. Falls es etwas gibt, das Sie von hier brauchen, schnappen Sie es sich jetzt und bringen es an einen sicheren Ort.« Sie nickte dankbar und beugte sich über die Reste des Handys. Sie öffnete ein anderes Fach und schob die SIM-Karte heraus. Bevor sie den Raum verließ, warf sie noch einen Blick auf die Tafel. Dylan Carboy, Jameson Arkeley und Justinia Malvern schauten zurück. »Viel Glück«, sagte sie zu Glauer und ging dann in ihr Büro. Dort kopierte sie sämtliche E-Mails und schickte sie an ihre Privatadresse, dann sammelte sie die wenigen persönlichen Dinge ein, mit denen sie die Wände geschmückt hatte - ein Bild von Clara bei der jährlichen Autoshow, ein Bild von Wil-bur, das war einer der Hunde, die sie gerettet hatte, ihre Zertifikate von der Akademie. Sie stopfte alles in einen Umschlag und steckte ihn sich unter den Arm. Aus der Schreibtischschublade nahm sie ihr altes Handy und rüstete es wieder mit ihrer SIM-Karte aus,
steckte es in die Tasche. Sie hatte nicht den geringsten Zweifel, dass Fetlock wissen würde, was sie getan hatte. Aber es war ihr egal. Sie verließ das Büro und ging in die Richtung des Cola-Automaten. All die Demütigungen und die öffentliche Rüge hatten sie durstig gemacht, aber sie blieb stehen, bevor sie ihn erreichte. Suzie Jesuroga, Captain des Area Response Teams, stand im Korridor. Captain Suzie - unter dieser Bezeichnung kannte Caxton sie - trug vollständige Schutzrüstung einschließlich Helm und hielt eine Patrol Rifle, ein großes halbautomatisches Sturmgewehr. »Hi«, sagte Caxton. Sie kannte Captain Suzie relativ gut, hatte gelegentlich mit ihr zusammengearbeitet. Sie hatte keine Ahnung, was die Frau hier wollte. »Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?«
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»Eher umgekehrt«, sagte die Befehlhaberin des Sondereinsatzkommandos. »Kommen Sie, dieser Fetlock wollte, dass ich Sie mitnehme.« »Mein Gott, wie viel Uhr ist es?«, fragte Caxton. Sie warf einen Blick auf die Uhr - es war viertel nach vier. Sie fuhr herum, um einen Blick aus dem Fenster zu werfen. Die Sonne war nur noch ein roter Streifen am Horizont. In wenigen Minuten würde sie untergehen.
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Die hatten einen Raum mit einem Fenster nach Westen hinaus gewählt, damit sie die Sonne sehen konnten. Sie warf einen stumpfen roten Schimmer auf Fetlocks Gesicht und ließ seine Augen funkeln. Stocksteif stand er vor dem breiten Holztisch, auf dem sie Raleighs Leiche aufgebahrt hatten. Sie war noch immer in das Laken mit den Klebestreifen gehüllt. Hinter Fetlock standen die Mitglieder von Captain Suzies ART mit dem Rücken zur Wand, die Patrol Rifles gesenkt. Caxton brauchte keine Erklärung. Sollte Raleigh nach Sonnenuntergang auferstehen, würden sie auf der Stelle das Feuer eröffnen. Es war mehr, als sie gehofft hatte. Mehr auch, als sie erwartet hatte. Sie trat über die Schwelle. Fetlock hörte sie kommen und drehte den Kopf um den Bruchteil eines Zentimeters. Er nickte ihr zu, und sie nickte zurück. Ganz egal, was zwischen ihnen geschehen war oder was nun mit Caxton passierte, bei dieser einen Sache arbeiteten sie zusammen. Man würde es Raleigh nicht erlauben, wieder zurückzukehren. Am Horizont verlor die Sonne ihre Form. Der Schnee 2 144 draußen am Boden glühte beinahe blutrot, die Wolken am Himmel wurden von purpurn- und orangefarbenen Streifen durchzogen. Es war 16:29 Uhr, und der Sonnenuntergang fand an diesem Tag um genau 16:31 statt. Caxton notierte sich solche Sachen. Sie musste an jedem Tag wissen, wann die Nacht begann. Das Zimmer füllte sich allmählich mit den Dämpfen des Benzins, das Raleighs Laken durchtränkte. Die Flüssigkeit sammelte sich auf der Tischplatte und tropfte zu Boden. Caxton wurde sich bewusst, dass sie den Atem anhielt, und entspannte sich, atmete den scharfen Benzingeruch ein. Die Sonne flackerte in den Hügeln. Caxton zog die Waffe, ihre alte 92er, und hielt sie eng am Oberschenkel, dazu bereit, beim ersten Anzeichen zu schießen. Was würde es wohl sein? Ein Zucken im Laken, ungefähr in seiner Mitte, wo sich Raleighs Hände befinden mussten? Würde Raleigh den Mund öffnen, überrascht von den brandneuen Zähnen, und so das Laken über dem Gesicht verziehen? Vielleicht würde sie sich ja auch ganz langsam aufsetzen. Oder sie würde schreien, weil sie in ein stinkendes Leichentuch gehüllt war.
Fetlocks Digitaluhr piepte, und jeder der Anwesenden zuckte leicht zusammen und wechselte die Haltung. Das Piepen bedeutete lediglich, dass es genau 16:30 Uhr war: es signalisierte die halbe Stunde. Einer der ART-Leute lachte, ein trockenes Kichern, das schnell wieder verstummte und dem sich keiner anschloss. Caxton hatte sich zusammenreißen müssen, nicht die Waffe zu heben, nicht blindwütig auf die Leiche zu schießen. Mühsam versuchte sie sich zu entspannen, zumindest den verkrampften Griff um den Kolben etwas zu lockern. Sie versuchte, tief und ruhig zu atmen. Von der Sonne draußen war nur noch ein Fragment ihrer vorherigen Gestalt sichtbar. Caxton konnte nun ohne jedes Unbehagen hinein 145
starren. Atmen, befahl sie sich wieder. Ausatmen. Einatmen, ausatmen. Fetlock gestikulierte mit einer Hand. Caxton war sich nicht sicher, was das zu bedeuten hatte. Hatte er etwas gesehen? Sie wollte einen Schritt näher an die Leiche herantreten, aber da drehte sich Captain Suzie um und kam auf sie zu. Ihre Miene war ruhig. Emotionslos. Mit ruhiger Hand griff Captain Suzie um Caxton herum - und schaltete die Deckenlampe an. Die plötzliche Veränderung der Beleuchtung ließ Schatten über das Laken flackern, und es sah beinahe so aus, als hätte es sich bewegt. Aber nein. Es hatte sich nicht bewegt selbst die Muster der Falten waren unverändert. Die Sonne war verschwunden und hinterließ ein verschwommenes, grünliches Zwielicht am Himmel. Es war 16:31 Uhr. Die Leiche hatte sich nicht bewegt. »Da«, sagte Fetlock. »Zufrieden... ?« »Warten Sie«, sagte Caxton. Sie hatte noch nie einen Vampir bei der Auferstehung beobachtet, und das bedeutete, dass sie keine Ahnung hatte, ob sie während der Abenddämmerung aktiv waren. »Es gibt noch immer etwas Licht.« Sie hatte keine Ahnung, wie ein Vampir die Zeit spürte. Brauchten sie vollständige Dunkelheit, um sich zu erheben, oder reichte es, dass die Sonne hinter dem Horizont verschwunden war? In den Bergen würde die Sonne früher untergehen als im Flachland. Eine dichte Wolkendecke konnte den Einbruch der wahren Dunkelheit verändern - es gab so viele Variablen. »Wir haben so lange gewartet, ein paar Minuten mehr können nicht schaden.« Eines der ART-Mitglieder seufzte - Vermutlich der, der vorher gelacht hatte. Caxton runzelte die Stirn und ignorierte ihn. »Das ist wichtig«, sagte sie. »Hier geht es um Leben und Tod.« 145 Fetlock zuckte mit den Schultern, enthielt sich aber jeden Kommentars. Caxton trat näher an die Leiche heran, die Waffe nach unten gehalten, aber bereit. Die freie Hand hielt sie über das Laken und suchte nach der verräterischen Kälte, die ein Vampirkörper ausstrahlte. Das reichte, um Fetlock reagieren zu lassen - er zog sie sanft fort. »Ich spreche mit Simon Arkeley und frage, ob er der Einäscherung trotzdem zustimmt«, sagte er. »Aber wirklich, Trooper...« »Nur noch eine Minute, bitte. Nur noch eine Minute, okay?« »Wissen Sie, es ist illegal, eine Leiche zu schänden. Ich könnte Sie auf der Stelle festnehmen lassen«, sagte Fetlock. »Mir reicht es langsam. Sagen Sie, verfügt dieses Gebäude über eine Kühlkammer oder so etwas? Wo wir den Leichnam aufbewahren können, bis er abtransportiert wird?«
Captain Suzie meldete sich zu Wort. »Ja, Sir. Wir haben sogar ein Leichenschauhaus, ob Sie es glauben oder nicht. Hier bewahren wir Verkehrsunfallopfer auf, falls die Leichen irgendwie von beweiskräftiger Natur sind.« Fetlock rollte mit den Augen. »Das wäre dann wohl genau das Richtige. Officer, gehen Sie ins Krankenrevier und besorgen Sie eine Trage. Wir schaffen sie augenblicklich in die Leichenkammer.« »Moment mal!«, sagte Caxton. »Herrgottnochmal, bin ich denn hier die Einzige, die weiß, dass man bei Vampiren kein Risiko eingehen darf? Fetlock, Jameson hat mir beigebracht, sie niemals zu unterschätzen. Geben Sie uns doch noch ein paar Minuten. Ich bitte Sie.« »Ich bin davon überzeugt, dass Jameson Ihnen auch eine Menge schlechter Gewohnheiten beigebracht hat«, erwiderte Fetlock. Sie grunzte frustriert. »Er hat mir beigebracht, wie man gegen Monster kämpft. Er hätte Ihnen diese Leiche nicht 146 überlassen. Er hätte sie auf dem Parkplatz verbrannt, und hätten Sie ihn aufhalten wollen, hätte er Sie einfach ignoriert und weitergemacht. Sie hätten ihn in den Rücken schießen können, und es hätte ihn nicht aufgehalten. Ihm war es egal, wenn Leute sein Verhalten unberechenbar fanden, ihm ging es nur darum, die Dinge richtig zu machen.« »Und jetzt sehen Sie mal, wo ihn das hingebracht hat.« Fetlock lächelte. »Ihre Loyalität wäre ja lobenswert, würden Sie da keinen Vampir in Ehren halten. Los jetzt, Sie beide da - einer nimmt die Schultern, der andere die Füße.« »Nein!«, brüllte Caxton. »Noch nicht!« »Trooper«, sagte Fetlock. »Sehen Sie doch.« Er zeigte auf das Fenster. Sogar Caxton musste zugeben, dass die Dunkelheit hereingebrochen war. Das Fenster bestand aus einer Fläche ungebrochener Schwärze. Sie konnte das Spiegelbild ihres verzerrten, verrückten Gesichtsausdrucks sehen. »Die Nacht ist hereingebrochen. Würde sie sich erheben, hätte sie es bereits getan.« Caxton ließ den Kopf hängen. Vielleicht hatte er ja recht. Vielleicht hatte sie eine Art Grenze überschritten - in den Wahnsinn hinein. Hatte sie zugelassen, dass Jamesons Tricks und Psychospielchen ihr Urteilsvermögen beeinträchtigten? Sie drehte sich um und wollte den Raum verlassen. Und noch immer rechnete sie eigentlich damit, dass sich Raleigh jede Sekunde aufsetzte und vor Blutdurst fauchte. Sie hatte noch keinen Schritt getan, da hörte sie Fetlock husten. Er hielt die Hand ausgestreckt. Ihr Abzeichen hatte er bereits. Jetzt wollte er ihre Waffe. »Denken Sie nicht einmal daran«, sagte sie. »Ich will hier niemanden verletzen. Ich bestehe darauf, dass Sie nach Hause gehen und sich ausruhen. In der Zwischenzeit verwahre ich Ihre Waffe.« Sie schüttelte nur den Kopf - und zog da eine gute Show 3°146 ab. Schließlich tat sie so, als würde sie einlenken, und gab ihm die Waffe. Das ging schon in Ordnung. Das war genau das, was sie gewollt hatte. Ihre neue Waffe, die, die mit den Cop-Killern geladen war, lag ja in ihrem Wagen. Fetlock konnte sie vielleicht von dem Fall abziehen, aber sie wusste, dass sie noch nicht mit Jameson fertig war. Sie schlug die Richtung zum Parkplatz ein. Auf dem halben Weg hörte sie ihr Handy läuten, das alte Handy mit dem Pat-Benetar-Klingelton. Möglicherweise war es ja Clara. Clara! Wie sollte sie Clara nur erklären, was alles geschehen war? Aber als sie auf das Display schaute, sah sie, dass es Vesta Polder war, die sie anrief. »Vesta«, sagte sie. »Das ist kein besonders guter Augenblick. Worum geht es?«
»Es geht um Jameson.« Vestas Stimme klang seltsam, als wäre es eine schlechte Leitung oder als hätte sie geweint. »Er ist vorbeigekommen.«
48. Scheiße Scheiße Scheiße, dachte Caxton. Sie griff sich an die Stirn und drückte fest zu. Als Jameson in Syracuse nicht angegriffen hatte, hatte sie angenommen, er wäre untergetaucht. Sie glaubte, dass sie ihm zu viel Arger machte - oder er einfach nur darauf wartete, dass sie etwas Dämliches tat, Raleigh und Simon an einen schlecht zu verteidigenden Ort brachte, wo man mühelos an sie herangekommen wäre. Sie war nicht einmal auf die Idee gekommen, dass er fleißig an einem anderen Plan bastelte. »Ich verstehe nicht - er hat Sie besucht, Ihnen den Fluch angeboten? Das ergibt doch keinen Sinn. Sie sind kein Teil seiner Familie.« 3°147 »Muss man denn Arkeley heißen, um ein Teil dieser Brut zu werden?«, fragte Vesta Polder. »Er kommt zu jedem, den er liebt, Laura. Zu jedem, den er je geliebt hat.« Natürlich. Vesta hatte ihr doch davon erzählt, dass sie einst eine Affäre gehabt hatten. Sie musste ihm noch immer etwas bedeuten, ganz gleich, wie sehr er der Finsternis verfallen war. »Hören Sie«, sagte Caxton. »Er ist doch nicht noch immer in Ihrem Haus, oder?« »Nein, er ist jetzt weg. Vielleicht hätte ich versuchen sollen, gegen ihn zu kämpfen, oder zumindest ihn danach zu verfolgen, aber ich hatte zu viel Angst. Ich weiß, dass Sie das verstehen.« Das tat Caxton in der Tat. »Er hat mir die gleiche Frist wie den anderen gegeben. Vierundzwanzig Stunden, um über sein Angebot nachzudenken. Eine Weigerung ist so gut wie ein Todesurteil. Sie müssen ihn morgen vor Sonnenuntergang finden!« »Das werde ich«, versprach Caxton, auch wenn sie nicht die geringste Ahnung hatte, wie sie das machen sollte. »Hören Sie, ich komme vorbei. Bleiben Sie, wo Sie sind, und ich komme so schnell ich kann.« »Das wird nicht nötig sein. Ich bin bereits auf dem Weg. Ich sehe schon Ihr Hauptquartier. Holen Sie mich auf dem Parkplatz ab.« Sie legte auf. Caxton biss sich auf die Lippe und fragte sich, was sie nun tun sollte. Sie hatte nicht länger die Autorität, Vesta in Schutzhaft zu nehmen. Sie konnte sie zu Fetlock schicken und ihn um Hilfe bitten, aber sie fragte sich, ob die Frau das überhaupt wollte. Vesta war BorderlineAgoraphobikerin, verließ ihr Haus nur selten für länger als nur ein paar Stunden und niemals bei Nacht - ausgenommen natürlich, als sie Astarte den letzten Dienst erwiesen hatte. Vesta musste wirklich in Panik sein, wenn sie nach Sonnenuntergang nach Harrisburg fuhr. 147 Ich tue für sie, was ich kann, dachte Caxton. Das schulde ich ihr. Für ihre Ratschläge im Laufe der Jahre und den Anhänger, den sie noch immer um den Hals trug und der ihr einziger Schutz gegen Vampire war. Sie stieß die Tür des Haupteingangs auf und betrat den Parkplatz. Zwei Scheinwerfer kamen auf sie zu. Die Scheinwerfer eines alten Wagens, es war diese Art eines uralten Pickups, wie man sie noch immer auf den Farmen in der Mitte Pennsylvanias fand. Eine Karosserie aus reinem Rost, zusammengehalten von Klebeband und schierer Verzweiflung. Sie konnte sich gar nicht mehr daran erinnern, dass die Polders so ein Fahrzeug besaßen - vielleicht hatte Vesta es sich bei einem Nachbarn leihen müssen. Caxton winkte und zeigte auf einen freien Parkplatz in der Nähe des Eingangs. Aber Vesta bremste auf halben Weg die Einfahrt hinauf, die sie damit teilweise blockierte, und schaltete die Scheinwerfer aus.
Nun, dachte Caxton, sie ist keine gute Fahrerin. Tatsächlich fragte sie sich, ob Vesta
überhaupt einen Führerschein besaß. Sie winkte erneut. Vesta stieß die ächzende Wagentür auf und glitt auf den verschneiten Asphalt. Wie immer trug sie ihr langes, schmuckloses schwarzes Kleid. Aus irgendeinem Grund hatte sie das Haar zu einem strengen Knoten nach hinten gebunden. Man sah den schwarzen Schleier, den sie am Tag von Jamesons Beerdigung getragen hatte. »Es tut mir so leid, Laura, auf diese Weise zu Ihnen zu kommen«, rief sie aus einer Entfernung von zehn Metern mit einer Stimme, die so hoch war, dass sie vor Trauer und Leid beinahe brach. »Ich hatte keine andere Wahl.« »Schon gut, ich bin froh, dass Ihnen nichts passiert ist«, erwiderte Caxton. »Kommen Sie rein, lassen Sie uns aus der Kälte gehen. Ich will alles hören. Erzählen Sie mir, wie das mit Jameson... war.« »Er hat sich verändert«, sagte Vesta und kam langsam auf 148
Caxton zu. »Das Böse verschlingt ihn. Einst schien er der Ansicht gewesen zu sein, dass der Tod eines geliebten Menschen ein Segen ist.« Weitere Wagen kamen die Auffahrt hinauf. Sie hatten keine Lichter an, waren schnell und voller Leute. Als einer davon über den Bürgersteig holperte und mit quietschenden Reifen auf den Parkplatz bog, blieb Caxton noch gerade genug Zeit, sich zu fragen, was das sollte, bevor Vesta Polder weitersprach. »Jetzt betrachtet er es als Gelegenheit!«, sagte sie. Dann hob sie den Schleier. Die Haut baumelte in grässlichen pink-farbenen Streifen von ihrem Gesicht herunter. Sie zog ein langes Messer aus dem Ärmel, das so oft geschärft worden sein mochte, dass die Klinge lang und gebogen war. »Verzeih mir!«, kreischte Vesta, während die Wagentüren der Neuankömmlinge hinter ihr aufgestoßen wurden und Halbtote herausdrängten. Es waren Dutzende - Caxton blieb keine Zeit, sie genau zu zählen. Sie war zu sehr damit beschäftigt, dem Messer auszuweichen, das nach ihrer Kehle zuckte. Vesta war eine hochgewachsene Frau mit langer Reichweite. Caxton musste zurückweichen, musste sich auf ein Knie fallen lassen und den Kopf zurückwerfen. Es war eine lausige Position für einen Gegenangriff, und sie bekam auch keine Chance dazu. Ihr Gehirn, das nur noch reflexartig funktionierte, schickte ein Signal an ihren Arm, ein Signal, das es tausendmal zuvor schon geschickt hatte. Das Signal hatte stets ihrer Hand befohlen, nach einer bestimmten Stelle an ihrer Hüfte zu greifen und die Finger um ihren Pistolengriff zu schließen. Doch die Pistole war nicht da. Auf einer bewussten Ebene war sich Caxton dessen klar, aber ihr Bewusstsein versuchte noch immer zu begreifen, was da geschah. Ihre Finger schlossen sich sinnlos um die Stelle, wo die Waffe hätte hängen sol 148 len, und sie verschwendete einen weiteren Sekundenbruchteil. »Beschütze meine Tochter und meinen Mann! Bitte!«, schrie Vesta, und das Messer bohrte sich tief in den Stoff von Caxtons Wintermantel. Die Schneide glitt über Caxtons Haut, und heißes, nasses Blut strömte den Arm hinunter. Die anderen Halbtoten eilten auf das Gebäude zu. Alle waren mit Messern und Sicheln bewaffnet. Was hatte Jameson getan? Es hatte den Anschein, als hätte er die Hälfte des Staates ermordet und in seine Dienste gezwungen. Caxton musste hier weg. An ihrem Gürtel hingen noch andere Waffen, aber keine davon würde ihr die Kontrolle über diesen Mob geben. Doch vielleicht gaben sie ihr die Chance, wieder auf die Füße zu kommen. Vesta riss das Messer hoch über den Kopf, ließ es in der Hand herumwirbeln und brachte es mit der Klinge zuerst nach unten, in
der klaren Absicht, die Polizistin aufzuspießen. Caxton wich aus, und ihr Arm schwang herum, das Pfefferspray in der Faust. Sie drückte auf den Auflöser der Dose, und Sprayschaum spritzte in Vestas Augen. Die Halbtote riss den Messerarm vor das zerfetzte Gesicht, genau wie Caxton erwartet hatte - die unweigerliche Reaktion, wenn jemand besprüht wurde. Das brachten sie einem auf der Akademie bei. Offenbar konnte nicht einmal der Tod diesen primitiven Instinkt verhindern. Caxton verschwendete keine Zeit mit einem weiteren Angriff. Sie ließ das Spray fallen und stemmte beide Hände auf den kalten Asphalt, stieß sich nach oben, bis ihr Körper halb aufrecht, halb vornübergebeugt war. So konnte sie losrennen. Sie sah nicht zurück, als sie zum Eingang des HQ sprintete und um Hilfe schrie. Simon, dachte sie. Vesta war wegen Simon gekommen -dem letzten Mitglied der Familie Arkeley, dem Letzten, der noch lebte. Er war der Letzte, den Jameson hoffen konnte zu 149 rekrutieren. Sie musste Simon finden, sie musste ihn aus dem Gebäude schaffen, ihn in Sicherheit bringen. »Die Tür«, rief sie. »Jemand soll die Tür schließen!« Aber es war zu spät. Die Halbtoten waren bereits drinnen.
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Caxton rannte den Korridor entlang, suchte nach Hilfe. Sie konnte aber niemanden finden. Der Bereitschaftsraum war leer - sie warf einen Blick hinein und eilte weiter. Wo steckten denn alle? Einen schlimmen, atemstockenden Moment lang glaubte sie, dass alle Trooper, die sich normalerweise im HQ aufhielten, tot waren - oder schlimmer, dass man sie irgendwie verraten und ihrem Schicksal überlassen hatte, nachdem Fetlock sie in ihrer Anwesenheit gefeuert hatte. Aber nein. Das war nur Paranoia. Als sie eine Sekunde lang nachdachte, begriff sie genau, was passiert sein musste. Es war kurz nach fünf und damit Hauptverkehrszeit. Der größte Teil der Trooper war im Dienst, fuhr Patrouille um die Hauptstadt herum. Sie waren alle aufgebrochen, nachdem die Sonne untergegangen und Raleigh nicht auferstanden war. Die Trooper, die sich im Gebäude aufhielten, waren lediglich Verwaltungsbeamte und würden nicht bewaffnet sein. Vesta hätte keinen besseren Augenblick für ihren Angriff wählen können - Jameson hatte ihr befohlen, in dem Moment zuzuschlagen, in dem das HQ am verwundbarsten war. Das bedeutete, dass Vesta alles wusste, was auch Jameson über das Gebäude und seinen Bauplan wusste. Sie würde keine Zeit damit verschwenden, nach Simon zu suchen. Sie würde genau wissen, wo er war, und den schnellsten Weg zu ihm ken 3°149 nen. Caxton kannte ihn ebenfalls, wenn sie sich nur eine Sekunde gestattete, darüber nachzudenken. Sie eilte um eine Ecke und warf sich gegen die Wand. Halbtote kamen den Korridor entlang, auf sie zu, schnell. Caxton griff zum Gürtel und löste den Knopf, der ihren ASP-Teleskopschlagstock hielt. Das war die einzige Waffe, die sie hatte, zwanzig Zentimeter schwarz lackierten Stahl. Sie drückte auf eine Arretierung und ließ das Handgelenk herumschnellen. Drei Teleskopsegmente glitten heraus und fuhren den Schlagstock zu seiner vollen Länge aus. Die Spitze, das dünnste der Segmente, bestand aus solidem Stahl, und richtig angewandt konnte er äußerst schmerzhafte Treffer landen. Im Gegenteil zu den Schlagstöcken, die die meisten Trooper mit sich führten, konnte Caxtons Schlagstock Knochen brechen - wenn sie die richtige Stelle mit ausreichend Kraft traf.
Die Halbtoten hatten sie beinahe erreicht. Caxton konnte sie kichern hören; sie freuten sich auf das kommende Gemetzel. Sie zwang sich, bis zur letzten möglichen Sekunde zu warten, dann wirbelte sie um die Ecke und schwang den Schlagstock wie einen Baseballschläger mit zwei Händen. Der Halbtote, der sie anführte, eine geschlechtlose Gestalt mit zerfetztem Gesicht in einem schwarzen Mantel, hatte gerade noch genug Zeit, überrascht auszusehen, bevor der Schlagstock seine verfaulte Wange zertrümmerte. Er ließ das Fleischerbeil fallen, das er trug, und riss die Hände vors Gesicht, während er vor Schmerzen röchelte. Caxton hatte keine Zeit für Mitleid. Sie führte den Schlagstock in einem Bogen herum, legte den ganzen Körper in den Schlag hinein, um ihm mehr Wucht zu verleihen, und zertrümmerte den Hinterkopf des Halbtoten. Er brach zusammen. Hinter ihm standen noch mehr. Viel mehr. Ganz hinten in der Gruppe entdeckte Caxton Vesta Polder, die sie sorgfältig musterte. 150 Caxton rannte los. Sie drehte sich auf dem Absatz um und stürmte den Korridor entlang, rannte um ihr Leben. Simon war vermutlich im Pausenraum, einem Aufenthaltsraum auf der anderen Gebäudeseite mit Fernseher und Snackautomaten. Glauer würde ihn dorthin gebracht haben, während Caxton Raleighs Leiche bewacht hatte. Es war ein sicherer Ort, ein Ort, an dem sich Simon nicht in Schwierigkeiten bringen konnte. Hinter ihr trampelten Schritte, untermalt von einem knirschenden Laut: wie von einem Messer, das man über die Tapete zog. Sie wusste, dass ihr die Halbtoten folgten. Sie führte sie direkt zu Simon, aber sie hatte keine andere Wahl. Vor ihr wurde der Korridor breiter, wo ihn ein Seitengang kreuzte. Dort standen der Schreibtisch des Empfangsbeamten - in diesem Gebäudeteil befanden sich die Büros der Abteilungsleiter - ein Sofa und ein paar Stühle. Der Empfangsbeamte stand hinter seinem Tisch neben ein paar Zimmerpflanzen. Er hielt eine Gießkanne und starrte entsetzt auf die herannahenden Halbtoten. »Verschwinden Sie«, brüllte Caxton ihn an. Er griff nach seiner Krawatte, um sie zu richten, und ihr wurde klar, dass er unter Schock stand. So etwas konnte er niemals erwartet haben: dass das HQ von einer Horde gesichtsloser Freaks gestürmt wurde. Aber wenn er sich nicht bewegte, würde er getötet werden. Caxton wäre beinahe mit ihm zusammengeprallt; sie schnappte sich seinen Arm und drückte hart zu. »Hauen Sie ab!«, brüllte sie ihm ins Ohr. Endlich begriff er und rannte los, die Gießkanne noch immer in der Hand. Auch wenn der Mann niemals an diese Möglichkeit gedacht hatte, der Architekt des Gebäudes hatte es glücklicherweise. Unter der Empfangstischkante ragte ein Panikknopf hervor, der mit einem Alarm im Bereitschaftsraum verbunden war, in dem sich Trooper, die auf ihren Einsatz warteten, auf die nächtliche Arbeit vorbereiteten. Caxton hieb auf den 3" Knopf, ohne auch nur aus dem Schritt zu kommen. Irgendwo ging zwar ein Alarm los, aber sie konnte es sich nicht leisten, ihm ihre Aufmerksamkeit zu schenken. Vor ihr wurde der Korridor von Glastüren gesäumt. Hier arbeitete der größte Teil des HQ-Stabes. Ein paar von ihnen waren State Trooper, aber die meisten setzten sich aus Zivilisten für die Verwaltungsarbeit, IT-Management und PCOs zusammen - Police Communication Ofncers, die Dispatcher, die die Streifenwagen dorthin schickten, wo sie gebraucht wurden. Der größte Teil von ihnen würde noch an der Arbeit sein, und keiner war bewaffnet. Falls sie die Köpfe heraussteckten, um zu sehen, was der Aufruhr zu bedeuten hatte, würden sie alle getötet werden. Ende der Geschichte. Caxton überlegte kurz, an alle Türen zu hämmern und die Angestellten vor der Gefahr zu warnen, aber sie wusste, dass auch nur eine Sekunde der Verzögerung für Simon den
sicheren Tod - oder Schlimmeres - bedeuten konnte. Mit der Atemluft, die sie erübrigen konnte, brüllte sie den Angestellten zu, sich in ihren Büros einzuschließen und hielt dabei keine Sekunde lang an. Hinter den Büros kam endlich die Tür des Aufenthaltsraums in Sicht. Sie stand offen, und Caxton konnte Simon sehen. Er lag zusammengekrümmt auf der Couch, machte vielleicht ein Nickerchen oder war einfach in seine Gedanken versunken. Sie stürmte ins Zimmer, knallte die Tür zu und verriegelte sie. »Verdammt, was ist denn jetzt schon wieder?«, fragte Simon und streckte die Beine aus. Caxton trat hart gegen die Couch, und er sprang auf die Füße. Er starrte sie mit wildem Blick an, aber sie schüttelte bloß den Kopf, zu sehr außer Atem, um sprechen zu können. Sie packte ein Ende der Couch und bedeutete ihm mit dem Kopf, das andere Ende zu nehmen; gemeinsam schoben sie sie vor die Tür. 151 Erst nachdem sie sich selbst eingesperrt hatten kam Caxton auf den Gedanken, nach anderen Ausgängen Ausschau zu halten. Es gab aber keine. Am anderen Ende des Raumes befand sich eine Fensterreihe, aber die konnte man nicht öffnen. Außerdem bestanden sie wie alle Fenster im Erdgeschoss aus kugelsicherem Glas von anderthalb Zentimeter Dicke. Caxton konnte keinen Stuhl hindurchwerfen und auf diese Weise entkommen. Jameson hatte ihr beigebracht, sich niemals in einem Raum ohne zweiten Ausgang zu verbarrikadieren. In ihrer Panik hatte sie diese Lektion vergessen. Schon wieder. Sie verfluchte sich, als jetzt Messer und Sicheln auf die Tür einhackten. »Ihr Vater«, keuchte Caxton und beobachtete, wie die Tür unter dem Ansturm erbebte, »will Sie unbedingt in die Finger bekommen.« »Aber das werden Sie doch nicht zulassen, oder?«, verlangte Simon zu wissen. Caxton schüttelte den Kopf und atmete eine Sekunde lang ruhig. »Mein Junge, ich kann Ihnen gar nichts versprechen. Aber ich werde mein Bestes tun, Sie zu beschützen.« Draußen im Korridor schrie jemand auf. Und es handelte sich nicht um das schrille Kreischen eines Halbtoten. Die Explosionen von Schüssen schnitten den Schrei abrupt ab, und Caxton zuckte zusammen. Dort draußen kämpften Trooper -alles gute Männer und Frauen. Einige starben vielleicht sogar, und sie konnte ihnen nicht helfen. Sie hatte nicht einmal eine Pistole, sondern bloß einen albernen Schlagstock. Die Halbtoten warfen sich mit ihren Waffen, ihren Schultern und dem Gewicht ihrer Körper gegen die Tür. Caxton konnte hören, wie sie sich gegenseitig anfeuerten. Sie glaubte auch hören zu können, wie Vesta Befehle gab. Die Tür würde nicht ewig standhalten. »Da draußen sind Polizeibeamte, aber 3*3 ich glaube, sie sind in der Minderzahl. Wir können wohl nicht davon ausgehen, dass sie uns retten.« »Wir müssen hier raus«, sagte Simon. Er starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an. »Wir müssen hier raus. Er bringt mich um! Er bringt mich um!« Wieder ertönten Schüsse, und er schrie auf, als wäre er getroffen. »O mein Gott! O mein Gott! Ich werde sterben, ich werde sterben! Ich werde...« Caxton gab ihm eine kräftige Ohrfeige. Sie war eine starke Frau, und sie holte ihn von den Beinen, warf ihn auf einen abgenutzten alten Sessel. Er hielt sich die Wange und schaute zu ihr hoch, plötzlich viel ruhiger. »Danke«, sagte er. »Sie fingen wirklich an zu nerven«, sagte Caxton. Plötzlich hörte das Hämmern an der Tür wie abgeschnitten auf. Caxton hörte einen Halbtoten flüstern: »Zurück, sie kommt.« Vielleicht kannte Vesta Polder ja irgendeinen
Zauber zum Öffnen von Türen, dachte Caxton, obwohl sich Vestas Talente niemals solch alltäglichen Dingen gewidmet hatten. Trotzdem ging sie ein Stück von der Tür zurück, den ASP-Schlagstock erhoben und bereit. Sie warf Simon einen Blick zu, der sich beeilte, hinter sie zu kommen. Er wollte etwas sagen, aber da verzog sich die Tür mit einem schrecklichen Ächzen und riss schließlich von den Angeln ab. Sie verschwand einfach aus der Sicht, und die Couch, die sie zusammen davor geschoben hatten, flog wie ein Geschoss ins Zimmer und krachte so hart gegen einen Getränkeautomaten, dass seine beleuchtete Vorderseite ein-dellte und die Lichter erloschen. Einen Augenblick später betrat ein Vampir den Raum. 152 Caxton schwang den Schlagstock, aber er wurde ihr schmerzhaft aus den Fingern gerissen, bevor sie auch nur einen Treffer landen konnte, und quer durchs Zimmer geworfen. Sie fühlte einen Schlag heranrasen - sie fühlte die kalte, unnatürliche Aura des Vampirs, der mit hoher Geschwindigkeit auf sie zukam. Und sie versuchte ihm auszuweichen, aber ihre Wirbelsäule verdrehte sich auf eine Weise, die sie aufschreien ließ, und plötzlich lag sie rücklings auf dem Linoleumboden und starrte auf die Leuchtstoffröhren an der Decke. Der Vampir stellte einen schlanken Fuß auf ihre Kehle. Der Druck auf ihre Luftröhre machte es ihr unmöglich aufzuschreien, aber immerhin bekam sie noch etwas Luft, ein flaches, pfeifendes Atmen, das Sterne vor ihren Augen tanzen ließ. Caxton versuchte, zu dem Vampir hochzusehen, zu erkennen, wer es war. Nicht Urie Polder, dachte sie. Bitte nicht. Vesta zu verlieren war schon schlimm genug gewesen. Sie hatte nicht genug Freunde, um es sich leisten zu können, noch einen zu verlieren. Aber der Vampir, der sie am Boden hielt, war eine Frau. Dünn, schmaler als der gewöhnliche Blutsauger, mit scharf geschnittenen Gesichtszügen, die man als schön hätte bezeichnen können, wären da nicht die Reißzähne gewesen, die ihre Lippen deformierten. Sie trug eine Art Sack oder ein lose anliegendes Kleid aus weißer Baumwolle und Klebeband, das an der Vorderseite mit geronnenem Blut beschmutzt war. Plötzlich erkannte Caxton, dass es sich gar nicht um ein Kleid handelte. Es waren die Reste eines Leichentuchs. »Raleigh?«, fragte Simon, der in Caxtons Nähe auf dem Boden kauerte. »Hallo, Simon«, knurrte die Vampirin. »Lange nicht gesehen.« Dann versetzte sie ihrem Bruder einen Schlag gegen die Schläfe. Er verdrehte die Augen und kippte zuckend um, sabberte etwas. »Ich habe ihn nicht getötet«, sagte Raleigh und starrte Caxton mit roten Augen an. »Ich bin nicht böse. Ich habe ihm bloß eine kleine Gehirnerschütterung verpasst. Ich soll ihn zu Daddy bringen. Er wird vor die gleiche Wahl gestellt, die wir alle hatten, und hoffentlich entscheidet er klug. So wird er leichter zu transportieren sein.« Caxton bemühte sich, ein paar Worte zu krächzen, obwohl sie eigentlich gar nicht wusste, was sie überhaupt sagen sollte. »Tut mir leid«, sagte Raleigh und nahm den Fuß von Caxtons Hals. »Du hast getrunken«, röchelte Caxton. Sie wies mit dem Kopf auf das Blut, vorn auf Raleighs notdürftigem Kleid. »Ja«, stimmte Raleigh ihr zu. »Einer von deinen Kollegen stand mir im Weg. Ich hatte Hunger. Ich hatte das nicht geplant.« »Bedauerst du es?« »Nicht besonders.« »Und genau das macht dich zu etwas Bösem«, sagte Caxton. Die Vampirin kniff die Augen zusammen.
»Ich habe darauf gewartet, dass du auferstehst. Ich habe gewartet, bis die Sonne völlig untergegangen war. Hast du uns etwas vorgespielt?« »Klar«, sagte Raleigh mit einem schrecklichen Lächeln. »Daddy und ich haben uns tagelang darüber unterhalten. Als ich noch lebte, konnte er in meinen Gedanken sprechen, aber es war, als würde jemand im anderen Zimmer flüstern. Jetzt ist er immer bei mir.« Das Lächeln wurde breiter. »Das ist schön.« 153
»Wie lange hast du das schon geplant? Deinen Tod vorzutäuschen... ich meine, so zu tun, als wärst du noch tot? Der Angriff auf dieses Gebäude?« »Daddy kam vor ein paar Wochen zu mir. Bevor ich dich kennenlernte. Seitdem ist alles nur Theater gewesen. Unter dem Laken zu liegen war schwer. Es fiel so schwer, sich nicht zu bewegen, sich nicht einmal zu strecken. Aber ich habe es ja geschafft. Daddy wusste, dass du mich nicht aus den Augen lassen würdest - also war das der einzige Weg.« »Du hast den Fluch vor so langer Zeit schon angenommen? Dann hast du mich belogen, als ich dir helfen wollte. Du hast mir gesagt, du hättest seit sechs Monaten nicht mehr mit deinem Vater gesprochen. Auch das war etwas Böses.« Die Miene des Mädchens versteinerte. Es war ein gefährliches Spiel, aber Caxton musste versuchen, mit Argumenten zu ihr durchzudringen. »Hör zu, es ist noch nicht zu spät. Nach einer gewissen Zeit ist jeder Vampir gleich, sie verlieren den Respekt vor dem menschlichen Leben und werden zu Scheusalen. Aber ich weiß, dass du jetzt noch nicht dazugehörst. In dir ist immer noch viel Menschlichkeit. Ergib dich. Oder wenn du das nicht möchtest, hilf mir wenigstens, deinen Vater zu vernichten.« Die Vampirin warf sich zu Boden, fing sich mit den Armen ab und ging tiefer, bis ihr Gesicht über demjenigen Caxtons schwebte. Nahe genug, dass Caxton am ganzen Körper vor Entsetzen zitterte, weil sie fast berührt wurde. »Im Kloster, da hat man mich immer gefragt, warum ich das Heroin überhaupt ausprobiert habe. Warum sollte ich etwas so Suchterzeugendes und Gefährliches anfassen, obwohl ich doch die Risiken kannte? Ich antwortete, dass die Welt schmerzt, Drogen aber alles lindern. Das ist doch ganz einfach. Der einzige Nachteil war, dass ich bei jedem Schuss schwächer wurde. Jetzt bekomme ich Blut. Blut fühlt sich gut an. Und es lässt mich stärker werden. Ich glaube, ich halte mich an den Plan.« Sie sprang zurück auf die Füße, dann bückte sie sich und hob Simon mühelos auf. »Als du ihn angefleht hast, mich nicht zu töten - gehörte das zum Schauspiel?« Die Vampirin sah zur Decke. »Nein«, seufzte sie. »Nein. Du warst nett zu mir. Netter als die meisten Menschen in meinem Leben. Du wolltest mich beschützen. Du dachtest, ich wäre es wert, gerettet zu werden. Genau wie Daddy.« »Der Meinung bin ich immer noch. Ich kann dir dein Leben nicht zurückgeben, aber ich kann bewahren, was noch von deiner Seele übrig ist«, beschwor Caxton sie. »Erinnerst du dich nicht mehr?«, fragte Raleigh. »Vesta Polder hat einmal danach gesucht, und sie konnte sie nicht finden. Sie ist längst schon weg.« Sie hob Caxton ohne jede Anstrengung vom Boden auf und warf sie auf die Couch. »Versuch nicht, mir zu folgen. Ich habe die Anweisung, dich nicht zu töten. Im Augenblick will Daddy noch, dass du lebst. Aber wenn du mich verfolgst, darf ich dich verletzen. Und zwar richtig.« Und mit diesen Worten eilte sie aus dem Zimmer, Simon unter dem Arm wie einen Sack voller Schmutzwäsche. Caxton blieb eine Sekunde lang dort liegen, wo sie lag. Nur eine Sekunde, um zu verschnaufen. Und um Raleigh einen vernünftigen Vorsprung zu geben. Dann sprang sie auf die Füße und rannte den Korridor entlang. Sie war fest davon überzeugt, dass Raleigh Simon direkt zu ihrem Vater brachte - geradewegs in ihr Versteck.
Sie stieß die Eingangstüren des HQs auf und eilte zu ihrem Mazda, blieb aber stehen, als sie hörte, wie die Tür hinter ihr erneut aufgestoßen wurde. Sie fuhr herum, bereit, den ersten Bastard zu töten, den sie erblickte. Vesta Polder war da und 3l154 kreischte wie eine Verrückte; ihr Schleier hing wie ein gebrochener Flügel nur noch an einer Nadel an der Seite herunter. Man musste sie durch die Eingangstüren gestoßen haben, denn sie rollte über den Boden, einen Arm unter dem Körper, den anderen erhoben, als wollte sie einen Schlag abwehren. Fetlock kam hinter ihr heraus, Caxtons alte Beretta 92 in der Hand. Auf seinem Gesicht war ein Schnitt, sein Haar war zerzaust. Er atmete schwer und schwitzte wie ein Schwein. Er warf Caxton einen Blick zu, versuchte mit offenem Mund zu Atem zu kommen. Dann zielte er mit der Beretta auf Vestas hautlose linke Schläfe, drückte ab und verteilte ihr Gehirn über den Asphalt. Eine Sekunde lang erwiderte Caxton seinen Blick. Dann schlüpfte sie auf den Fahrersitz ihres Wagens und drehte den Zündschlüssel. Sämtliche Reifenspuren, die vom Parkplatz führten, wiesen in dieselbe Richtung - nach Osten, in Richtung Highway. Das war die Richtung, in der Raleigh und die Halbtoten verschwunden waren. Simon hatte noch vierundzwanzig Stunden zu leben. Wenn es soweit war, wenn Jameson ihm den Fluch anbieten und er sich der Alternative bewusst werden würde Caxton glaubte nicht, dass der Sohn Nein sagen würde. Sie gab Gas, in der Absicht, hinter Raleigh und den Halbtoten herzujagen, ob sie es wollten oder nicht. Der Wagen bockte - und der Motor ging aus. Jeder Muskel in Caxtons Körper spannte sich an. Sie drehte den Zündschlüssel erneut. Schob den Hebel auf Fahren. Der Mazda erbebte und machte einen Satz nach vorn, dann blieb er wieder stehen. Der Motor verstummte. Sie brauchte zu lange, um darauf zu kommen. Sie brauchte zehn Minuten, um die Haube zu öffnen und zu entdecken, was die Halbtoten mit dem Motor angestellt hatten, und noch länger, um es wieder zu reparieren. Als sie endlich nach Osten 3J9 auf die Straße einbog, waren sie lange verschwunden und es gab keine Spuren mehr, denen man folgen konnte. Sie verschwendete keine Zeit damit, sich zu ärgern. Stattdessen drehte sie um und fuhr nach Westen. Es gab noch eine Spur, der sie folgen konnte, das wusste sie. Eine letzte Chance, um herauszufinden, wo sich das Vampirversteck befand. Und sie wusste, diese Chance würde sie ergreifen - selbst wenn das bedeutete, ihre ganze Karriere endgültig auf den Müll zu schmeißen.
Jameson Soweit ich es sah, waren sie in der Bruderschaft des Todes alle gleich, ungleich jedoch in Wesen und Geschichte, wie diese sich an ihnen abzeichnete. George MacDonald, Lilith gl.
ie musste durch die Innenstadt von Harrisburg, um ihr Ziel zu erreichen. Sie fuhr durch Straßen voller kleiner Läden, Boutiquen, in denen teure Kleidung verkauft wurde. In einer Auslage sah sie zwei junge Frauen, die einer Schaufensterpuppe lachend ein hellrotes Minikleid mit weißem Pelzbesatz anzogen. An einem anderen Geschäft brachte der Besitzer rote und grüne Lämpchen an. Weihnachtsvorbereitungen. Weihnachten. Seit dem Tod ihrer Eltern hatte Caxton es nur selten gefeiert. Aber im Vorjahr, als es nur sie und Clara gegeben hatte, da hatten sie Geschenke ausgetauscht und Eierpunsch getrunken; sie hatten sogar einen Mistelzweig aufgehängt. Sie hatte Clara ein besonderes Objektiv für ihre Kamera besorgt, das sie sich monatelang im Internet angesehen hatte. Claras Geschenk war eine Packung mit Badesalz, Duftkerzen
und einem Massageroller aus Holz gewesen. Dinge, die ihr halfen zu entspannen. Das meiste davon lag noch immer in der Packung, die jetzt ganz hinten in dem Schränkchen unter dem Badezimmerspülstein stand, wo sie sie jedes Mal sah, wenn sie nach einem neuen Einmalrasierer griff. Diese Packung hätte sie jetzt gut gebrauchen können. Sie musste sich wirklich entspannen, wenn sie ihren Plan durchziehen wollte. In Mechanicsburg fuhr sie auf den Gefängnisparkplatz und schaltete den Motor aus. Eigentlich wäre sie am liebsten einfach nur eine Weile dort sitzen geblieben und hätte ihre Gedanken gesammelt. Aber wenn sie das getan hätte, wäre sie nie aus dem Wagen ausgestiegen, das wusste sie genau, also 155 stieß sie die Tür auf und ließ die kalte Winterluft herein. Der eisige Wind drückte den Mantel an ihren Körper und ließ ihre Wangen brennen. Sie öffnete den Verschluss des Sicherheitsgurtes, stieg aus dem Wagen und warf die Tür zu. Im Gefängnis waren nur noch wenige Vollzugsbeamten an der Arbeit. In den Zellen herrschte Ruhe, die einsitzenden Gefangenen schliefen entweder oder dachten über ihr Schicksal nach. Als ein CO - glücklicherweise war es ein Beamter, der ihr zuvor nicht begegnet war - sie die Treppe zum Keller hinunterführte, hörte sie Gebrüll; es handelte sich nicht um Worte, sondern nur um unartikulierten Lärm. Sie war nicht überrascht, als sie erfuhr, dass Dylan Carboy den Krach veranstaltete. »Er ist nicht ganz richtig im Kopf, oder?«, fragte der CO. »Das veranstaltet er die ganze Nacht lang. Das ist schon seltsam. Es ist, als würde er beten, aber zu keinem Gott, der mir bekannt ist. Sie müssen ihn im Auge behalten.« Caxton nickte. Sie gab dem CO das Klemmbrett, auf dem sie die nötigen Formulare ausgefüllt hatte. Sie hatte bei den Häkchen in den vielen Kästchen und den erforderlichen Zahlen und Genehmigungen oft gelogen. Sie hatte Fetlocks Namen angegeben, als es um die Autorisierung der Verlegung gegangen war, und ihre eigene Telefonnummer aufgeschrieben. Sollte jemand ihre Befugnis telefonisch überprüfen, würde ihr Handy klingeln, und sie würde zumindest wissen, dass man ihr auf die Schliche gekommen war. Aber eigentlich bezweifelte sie das. Derartige Verlegungen waren alltäglich, und Cops neigten dazu, sich zu vertrauen. Sie verließ sich darauf. »Sie sind beim Marshals Service«, sagte der CO und blätterte den Papierkram durch. »Hat der Bursche ein Bundesverbrechen begangen? Wir haben ihn hier wegen einiger Morde, die er in diesem Bundesstat beging.« 155 »Er ist ins Archiv des USMS eingebrochen und hat ein paar Akten gestohlen«, log sie. »Ich bringe ihn ins Büro in Harrisburg, wo wir ihn fragen können, was in den Dokumenten stand, die er mitgenommen hat.« »Aha. Machen Sie viele nächtliche Verhöre?« »Wenn der Verdächtige den ganzen Tag schläft, dann schon. Wir gehen davon aus, dass er jetzt gesprächiger sein wird als morgen früh.« Der CO lächelte. »Also kennen Sie ihn.« »Ich habe ihn sogar verhaftet. Hören Sie, ich mache so schnell, wie ich kann. Vermutlich ist er vor dem Frühstück schon wieder zurück.« »Sie können ihn haben, solange Sie wollen«, erwiderte der CO. Die Tür der Gummizelle öffnete sich, und sie starrte hinein. Das Gejammer und Gebrüll hörte wie abgeschnitten auf. Carboy drückte sich gegen die Wand, die Hände hoch über den Kopf erhoben, die Finger gespreizt, als würde er nach etwas an der Decke greifen. Aber da war nichts. Caxton hatte keine Ahnung, was das sollte. Und sie sagte sich, dass es ihr auch egal war.
»Kommen Sie, Carboy«, sagte der CO. »Machen Sie keinen Ärger, okay? Die Lady hier kommt von den U.S. Marshals, und sie will mit Ihnen sprechen.« Carboys Blick konzentrierte sich langsam auf sie. »Caxton«, murmelte er. »Ich wusste, dass Sie zurückkommen.« »Soll ich Ihnen eine Zwangsjacke holen?«, fragte der CO an Caxton gewandt. »Er kann gewalttätig sein.« »Ich weiß, wozu er fähig ist. Kommen Sie, Dylan. Wir machen einen Ausflug.« Carboy schlurfte so schnell aus der Zelle, wie er nur konnte. Der CO fesselte ihm die Hände auf den Rücken. Seine Fußknöchel waren mit einem weichen Plastikstreifen aneinander 156 gebunden. Er war barfuß. Der CO gab ihm ein Paar Slipper und legte eine Decke um seine Schultern, um ihn vor der Kälte zu schützen. Er ließ Caxton als Erste die Stufen hinaufgehen, dann Carboy, und er selbst bildete mit einem Taser in der Hand den Abschluss, nur für alle Fälle. Aber der Gefangene griff Caxton nicht an. Er schwieg sogar, als sie in die Gefängnislobby kamen. Sie musste noch ein paar Entlassungsformulare unterschreiben, dann war sie fertig - aber da tippte ihr der CO auf die Schulter. »Ihr Abzeichen«, sagte er und deutete auf ihr Revers. Den Stern hatte sie völlig vergessen. State Trooper trugen keine Abzeichen, und sie hatte sich nie so richtig an den Stern gewöhnt, solange sie ihn getragen hatte. Sie berührte das Revers, dann schaute sie den Mann mit pochendem Herzen an. Sie erzwang ein Lächeln. »Der ist mir im Wagen abgefallen. Das passiert dauernd - soll ich ihn holen?« Er sah sie prüfend an, dann Carboy »Nee«, sagte er. »Schaffen Sie bloß diesen Kerl hier raus. Dann bekommen wir wenigstens mal eine Nacht Ruhe, stimmt's?« Caxton bedankte sich und führte ihren Gefangenen in die Kälte hinaus. Carboy stieg willig in den Mazda ein, und sie setzte sich auf den Fahrersitz, nahm die Handschellen vom Gürtel und kettete ihn an der Beifahrertür an. Das bot ihm die Chance, sie in den Hals zu beißen. Aber er reagierte nicht. »Du bist sehr kooperativ«, sagte Caxton überrascht. »Weil ich weiß, dass meine Zeit kommt. Der Augenblick, in dem ich dich töte.« »Klar«, sagte Caxton. »Vielleicht glaubst du, ich kann das nicht. Vielleicht glaubst du, du hättest mich genau da, wo du es willst. Aber das ist dein Fehler - zu glauben, du wärst klüger als wir. In dieser Zelle kam ich nicht an dich heran. Ich hatte keine Waffen, 156 und du warst weit entfernt. Jetzt hast du diesen Nachteil aber beseitigt. Jetzt sind wir ganz allein. Du hast mich zwar angekettet, aber ich werde freikommen. Ich sprenge diese Fesseln, und dann wirst du schon sehen. Dann wirst du begreifen, wie dumm du doch warst.« Caxton schüttelte müde den Kopf. »Halt doch einfach die Klappe.« »Du willst das nicht hören? Das ist verständlich. Wer will schon hören, dass er sterben wird? Aber ich will, dass du es hörst. Ich will, dass du Angst hast. Denn dann machst du noch mehr Fehler. Verzweifelte Menschen denken nicht nach. Sie handeln übereilt und bedenken ihre Möglichkeiten nicht.« Caxton schaltete das Radio ein, aber er überbrüllte die Musik. »Wenn ich dich getötet habe, bleibt ihm keine andere Wahl mehr. Jameson wird mich respektieren müssen. Er wird sehen, was ich geschafft habe - was er selbst nicht konnte. Und er wird wissen, dass ich würdig bin. Er wird mir den Fluch geben, und ich
werde nicht warten. Manche Leute kämpfen dagegen an, das weiß ich. Jameson hat sich lange gewehrt, bevor er begriff, was er da bekommen hatte. Aber ich werde ihn willkommen heißen. Ich werde eine Pistole nehmen, vielleicht schneide ich mir auch mit einem Messer die Kehle durch, damit ich meinen Platz unter ihnen schneller einnehmen kann. Damit ich mein Schicksal...« Sie ballte die Faust und schlug ihn ins Gesicht. Es fiel schwer, aus ihrer Position genug Schwung zu bekommen, aber sie traf ihn hart genug, um seine Lippe zu spalten und die Wange schmerzhaft gegen die Zähne zu quetschen. Sein Kopf flog zur Seite und prallte vom Wagenfenster ab. »Das war für deine Schwester«, sagte sie. Aber das stimmte nicht. Es war für sie selbst gewesen. Weil je länger er seinen Unsinn verzapfte, ihr immer stärker be 3*157 wusst wurde, dass er bloß ein Junge war, lediglich ein menschliches Wesen. Seine Stimme war menschlich, nicht das raue Knurren eines Vampirs. Sie konnte ihn atmen hören und wie er versuchte ein Wimmern zu unterdrücken, selbst nachdem sie ihn geschlagen hatte. Wenigstens hielt er jetzt den Mund. Sie hoffte, dass sie ihn wieder zum Reden bringen konnte, wenn der Augenblick gekommen war. Sie brachte ihn nicht weit weg. Nur bis zum Stadtrand, wo die letzten Häuser und Bars dichtem Baumbewuchs wichen, der den Blick auf die verschneiten Felder versperrte. Sie bog in eine schmale Seitenstraße ein, von der sie wusste, dass sie viele Meilen weiter zu einem verlassenen Gewerbegebiet führte. An dieser Straße gab es keine Häuser, und es war die falsche Jahreszeit, um dort parkende Teenager zu überraschen. Als sie die Scheinwerfer ausschaltete, gab es nur noch das Sternenlicht, das vom Schnee reflektiert wurde und sie einander erkennen ließ. Caxton zog die neue Pistole aus dem Holster und schaltete Lampe und Laser ein. Carboy kniff die Augen zusammen und drückte sich gegen die Tür, als sie ihm ins Gesicht leuchtete. »Du weißt etwas, das ich wissen muss«, sagte sie. »Du weißt, wo sich Jameson befindet. Ich habe dich das schon einmal gefragt, aber da war ein Vollzugsbeamter anwesend. Er hielt mich davon ab, übertriebene Gewalt anzuwenden. Jetzt ist er nicht dabei.« »Du verschwendest deine Zeit«, erwiderte Carboy. Also schlug sie ihn wieder. Dieses Mal mit dem Pistolenknauf. Sie hinterließ einen sechs Zentimeter langen Riss an seiner Wange, die sich bereits verfärbte, bevor sie ihm wieder das Licht in die Augen leuchtete. Entführung, dachte sie. Schwere Körperverletzung. Nicht gerechtfertigte Gewaltanwendung durch einen Polizisten. Folter.
157 Halbtote hatte sie zuvor schon gefoltert. Einem hatte sie die Finger abgerissen, einen nach dem anderen, bis er ihr verraten hatte, was sie wissen wollte. Halbtote waren Ungeheuer. Ihre Körper verfielen von dem Augenblick an, an dem sie von den Toten zurückkehrten. Ihr Verstand war verwirrt, und sie hatten nur noch wenig mit dem Menschen gemein, der sie einst gewesen waren. Dylan Carboy dagegen war ein Mörder. Einer von der schlimmsten Sorte - ein Elternmörder mit verderbter Gleichgütigkeit. Er hatte die eigene Familie umgebracht, nur damit er sich stark fühlen konnte. Er hatte zwei Angestellte des Lagerhauses ermordet, nur um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Er hatte ihr mehrmals angedroht, sie zu töten.
Aber er war noch immer ein Mensch. »Mir fehlt einfach die Zeit, es aus dir herauszuprügeln«, sagte sie. Sie beugte sich über ihn und machte ihn von der Tür los. Seine Hände waren noch immer mit dem Plastikstreifen aus dem Gefängnis auf den Rücken gefesselt. Caxton stieß die Tür auf und fühlte die kalte Luft, die hereinwehte und ihr Gesicht kühlte. Es fühlte sich gut an. »Raus«, sagte sie. Er starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an. »Raus. Entferne dich nicht mehr als zehn Schritte vom Wagen. Läufst du weg, schieße ich dir in die Beine.« Er stieg mühsam aus dem Wagen, da er die Hände nicht benutzen konnte. Dann stand er da und wartete auf sie, starrte sie durch die Scheibe an. »Zieh die Slipper aus und wirf sie in den Wagen«, befahl sie. Er gehorchte, indem er sie am Türrahmen abstreifte. Jetzt stand er in drei Zentimeter tiefem Schnee und trat langsam von einem Fuß auf den anderen. »Fühlt sich das kalt an? Das sollte es. Aber in ein paar 158
Minuten fühlst du das nicht mehr«, erklärte sie. »Das ist schlimm. Da fangen nämlich die Erfrierungen an. Du weißt doch, was Erfrierungen sind, Dylan, oder? Deine Zehen werden schwarz. Die Nerven und Gefäße in deinen Zehen sterben ab, eines nach dem anderen. Wenn sie danach dein Leben retten wollen, wird man dir die Zehen abschneiden müssen. Vielleicht amputiert man dir auch die Füße, falls es Wundbrand gibt, und den gibt es meistens.« Sie zog die Beifahrertür zu und rollte das Fenster herunter, damit sie weiter mit ihm sprechen konnte. »Ich fahre jetzt los und lasse dich hier. Du kannst zurücklaufen.« Carboy fletschte die Zähne. »Wenn ich den Fluch erhalte, finde ich dich, Caxton. Ich zahl dir diese Folter heim, und zwar tausendfach und...« Sie unterbrach ihn. »Weißt du über Malverns Auge Bescheid? Sie hat nur eines. Das andere verlor sie, bevor sie zur Vampirin wurde. Ganz egal, wie viel Blut sie trinkt, ganz egal, wie lange sie sich in ihrem Sarg verjüngt, sie hat trotzdem nur ein Auge. Körperteile wachsen nicht nach.« Sie zuckte mit den Schultern. »Sagen wir, das Unmögliche geschieht und Jameson schenkt dir wirklich den Fluch. Du wirst der Vampir ohne Füße sein. Du wirst den Rest deines Lebens nicht mehr laufen können, du wirst keine Opfer jagen können. Und natürlich leben Vampire ewig.« »Du aber nicht, Caxton, und du wirst um deinen Tod betteln...« Sie ließ den Motor an und drehte das Fenster hoch. Im Wagen war es eiskalt. Sie konnte sich nur vorstellen, wie sich seine Füße anfühlen mussten. Tu das nicht, befahl sie sich. Stell es dir nicht vor. Lass es einfach. Sie hörte ihn Verwünschungen brüllen, aber der Motorenlärm dämpfte seine Worte. Sie legte den Rückwärtsgang 33° ein und gab langsam Gas. Natürlich rannte er hinter ihr her, also gab sie etwas mehr Gas und schaute nach hinten, um zu sehen, wo sie hinfuhr. Sie hatte etwa hundert Meter zurückgelegt, als er den Wagen einholte und versuchte, gegen die Scheibe zu pochen. Sie fuhr weitere hundert Meter zurück, dann ließ sie das Fenster herunter. »Ja?« Er atmete schwer. Sein Gesicht war bleich, seine Nasenhaare schienen aneinander gefroren zu sein. »Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, wo das Versteck ist.« Sie fing an, das Fenster wieder hochzulassen. Er warf sich gegen den Wagen, und sie sah, dass er weinte. »Ich sage die Wahrheit«, versprach er. »Er hat mich nie dorthin mitgenommen. Ich habe ihn zwar angefleht, aber er sagte nur, dort wäre es wie in der Hölle und Sterbliche
könnten da nicht überleben. Er sagte, er würde mich dorthin bringen, wenn ich den Fluch empfangen hätte.« »Denk scharf nach«, sagte sie. »Du musst mehr wissen. Du musst etwas gesehen oder gehört haben. Tun deine Füße noch weh?« Er nickte mitleidserregend. »Bitte...« »Scharf nachdenken«, wiederholte sie. »Blumen«, murmelte er. »Malvern...« »Sprich in ganzen Sätzen«, sagte sie, »oder ich fahre los.« »Ich habe Malvern nie persönlich kennengelernt, sondern immer nur in meinen Träumen. Da habe ich sie gesehen, und manchmal, glaube ich, konnte ich sehen, was sie sieht. Eines Nachts habe ich gesehen, wie sie sich in ihrem Sarg aufsetzte. Jameson hatte sie nach draußen an die frische Luft gebracht. Ich weiß nicht, was das bedeutet, aber vor ihr blühten Blumen. Ein Feld voller Blumen, wie im Sommer, dabei lag da sonst nur Schnee. Ich erinnere mich, dass sie dachte, da sind Blumen auf seinem Grab.« 159 »Das ist es? Das ist alles, was du hast?« »Bitte«, flehte er. »Bitte... Mehr weiß ich nicht. Ehrlich.« Sie beugte sich vor und hob die Slipper vom Wagenboden auf, in der Absicht, sie ihm zuzuwerfen und loszufahren. Aber nein, das konnte sie nicht tun. Sie wusste, zu was er fähig war - sie konnte ihn nicht einfach frei herumlaufen lassen. »Steig ein«, sagte sie und stieß die Beifahrertür auf. Eine Weile fuhr Caxton schweigend und starrte stur geradeaus. Sie hatte fest daran geglaubt, dass es funktionieren würde, die Adresse des Verstecks aus Carboy herauszubekommen. Stattdessen hatte er nur von einem sehr hübschen und sehr nutzlosen Bild geschwafelt. Sie war der Lösung nicht einen Schritt näher gekommen. Es war Carboy, der zu reden anfing. Offenbar konnte er nicht mehr kontrollieren, was aus ihm heraussprudelte, nachdem sie seinen Mut gebrochen hatte. Er fing damit an, ihr von seiner Kindheit zu erzählen, von den Frustrationen und Entbehrungen, die das Dasein eines einsamen Teenager-Psychopathen so mit sich brachte. Er sprach offen von seinem Verlangen, seine Schule in Stücke zu schießen, und dann sprach er von der Nacht, in der er seine Familie ermordet hatte - was noch schlimmer war. Caxton wollte das nicht hören, nichts davon. Beinahe hätte sie ihn wieder geschlagen, nur um ihn zum Schweigen zu bringen - aber sobald er anfing von Jameson zu sprechen, spitzte sie die Ohren. »Als ich ihn fand, war er erschöpft und halb verhungert. Er lag in unserem Hinterhof. Ich brachte gerade den Müll raus, er stützte sich an unserer Garagenwand ab. Zuerst war 159 ich ja erschrocken. Ich meine, ich wusste sofort, was er war. Ich glaubte, er würde mich töten. Aber das tat er nicht. Das war im Oktober, als er gerade den Fluch angenommen hatte. Er hatte seinen Blutdurst bekämpft, aber er war bis an die Grenzen gegangen. Er schlief im Wald, erzählte er mir, in einer verlassenen Hütte in einer Badewanne. Das Dach war eingestürzt, auf dem Boden lagen zerbrochene Bierflaschen. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass jemand, der von einer solchen Schönheit war, so lebte. Ich brachte ihn ins Haus, nachdem meine Eltern eingeschlafen waren. Ich wusste, was er brauchte, also schnitt ich in meinen Arm und ließ Blut in seinen Mund tropfen.« Caxton fasste das Lenkrad fester und versuchte nicht, entsetzt aufzuschreien. Wäre Jameson in jedes andere Haus gekrochen oder hätten Carboys Eltern auch nur einmal in sein Zimmer gesehen und entdeckt, was er da in seinem Schrank schlafen ließ - alles
hätte vermieden werden können. Die ganze Suche. All die ganzen falschen Spuren und Sackgassen. Die vielen Toten. »Er hat sich die ganze Nacht mit mir unterhalten. Einfach nur so, aus Kameradschaft, glaube ich. Ich habe ihm gesagt, wie sehr ich ihn respektiere. Seine Willenskraft - in einem Haus voller Menschen zu sein, unser Blut zu riechen. Und trotzdem hat er keinem von uns etwas angetan. Obwohl wir es alle verdient hatten.« Das war der Jameson, den Caxton in Erinnerung hatte. Übelkeit stieg in ihr auf. Sie wusste, was jetzt kommen musste. »Du hättest mich rufen können«, fauchte sie. »Du hättest das alles verhindern können.« »Aber, aber... das wollte ich ja gar nicht. Er war... er war doch mein Freund. Er verstand mich, verstand meine, meine Wut. Das hat sonst niemand getan. Niemand hat es auch nur versucht. Sie wollten, dass ich eine Therapie mache. Als wäre 160 ich hier der Kranke. Nicht die Gesellschaft, nicht alle anderen, die nur an Geld und... und Sex denken... und daran, wie man berühmt wird.« Und natürlich war dann die eine Person, die ihm den Freund wegnehmen konnte, zum Gegenstand dieser Wut geworden. Caxton. Da hatte er angefangen, seine Notizbücher mit ihrem Namen zu füllen, und mit seinen Schwüren, sie zu vernichten. Carboy war noch nicht fertig. »Dank meines Blutes erholte er sich schnell. Nach nur einer Nacht konnte er wieder stehen, war er wieder stark. In der zweiten Nacht ging er hinaus. Als er zurückkam, sagte er mir, er hätte niemanden getötet. Ich glaube, er hat nur ein paar Leute verfolgt und darüber nachgedacht. Darüber nachgedacht, was aus ihm geworden war, und wozu uns das werden ließ. Es machte uns zu seiner Nahrung. Er hat mir von Ihnen erzählt. Dass Sie ihn jagten. Er sagte, er könnte nicht in meinem Haus bleiben. Also suchten wir einen neuen Ort für ihn.« »Ein stillgelegtes Getreidesilo«, sagte sie. »Ja! Es war perfekt. Er hat Malverns Sarg dort untergebracht. Dort wollte er sich mit ihr einschließen. Er hatte vor, sie beide dort lebend zu begraben. Er wollte da unten verfaulen, bis er sich den Weg nicht mehr freigraben konnte. Er wollte nicht sterben, aber er war bereit, den Rest seiner Zeit unter dem Boden begraben zu verbringen, ohne etwas sehen oder fühlen zu können. Aber das Blut - er wollte ein letztes Mal Blut schmecken. Da hatte er schon angefangen, sich zu verändern. Er wurde aggressiver. Wir sprachen darüber, mein Blut zu nehmen, aber ihm war klar, dass er nicht mehr würde aufhören können, wenn ich noch einmal meine Adern öffnete. Er würde mich töten. Also schlug ich einen anderen Weg vor.« »Du hast eine Blutbank ausgeraubt.« 160 Carboy schluchzte laut. »Es hat nicht funktioniert. Das Blut war kalt. Es hat nicht funktioniert. Es hat ihn nur noch hungriger gemacht. Hätte ich nicht... hätte ich nicht Cady von ihm erzählt...« »Cady Rourke«, sagte Caxton. »Deine Freundin.« Der Junge fuhr mit gebrochener Stimme fort. »Sie wollte ihn sehen. Übrigens war sie gar nicht meine Freundin. Wir waren bloß Bekannte... na ja, manchmal haben wir eben auch rumgemacht. Aber wir haben uns auch mit anderen getroffen. Cady jedenfalls. Ich kam damit nicht klar. Es hat mich fertig gemacht, aber ich brachte nicht den Mut auf, mit ihr Schluss zu machen. Ich hatte solche Angst, allein zu sein. Als ich Cady zu Jameson brachte, wurde er sauer. Ich meine, so richtig sauer. Er sagte, ich bringe ihn in Gefahr. Dass er Cady nicht vertrauen könnte. Er... er...« »Er tötete sie. Trank ihr Blut.«
»Ich glaube nicht, dass er das wollte, er sah einfach keinen anderen Ausweg.« Carboys Worte kamen jetzt schnell und tränenreich. »Dann hat er mich verlassen, und ich sah ihn nie wieder. Nur in meinen Träumen. Ich glaube, die hat Malvern mir geschickt. Sie kannte meine Gefühle. Sie erkannte meine Schwäche. Sie verachtet mich, das habe ich genau gespürt... ich dachte, wenn ich stark bin, so stark wie Jameson... dann müsste ich mich nie wieder so fühlen.« Also hatte er sich in das Zimmer seiner Schwester geschlichen, die Hände um ihren Hals gelegt und zugedrückt. Als das nicht gereicht hatte, als die Gefühle einfach nicht verschwunden waren, hatte er sich seine Schrotflinte geschnappt und auch noch seine Eltern ermordet. Von dort war es kein langer Weg zu der Verkleidung als Vampir gewesen. Um sich als Vampir zu fühlen. Damit er sich stärker fühlte. Je besser das Kostüm wurde, umso mehr fühlte er sich wie ein echter Blutsauger. Wie ein Raubtier. 161 Und plötzlich stand er in dem Seif Storage Zentrum, mit zwei Leichen und der Polizei. Jetzt sprach er mit ihr. Sah sie an. Sah sie an, als wäre sie die Starke. Als wollte er wie sie sein. Als wäre sie diejenige, von der er glaubte, dass sie ihn verstehen konnte. Auf eine ausgesprochen beunruhigende Weise tat sie es sogar. Caxton setzte ihn am nächsten Polizeirevier ab, nur ein paar Meilen weiter. Sie betrat es nicht, sah einfach nur zu, wie er die eisigen Stufen hinauflief. Seine Füße waren vor Kälte rot und gelb. Sie sah Gesichter in den Fenstern, die sie beobachteten, und ihr war klar, dass jemand ihre Autonummer aufschreiben würde, aber das spielte keine große Rolle. Sobald Carboys Identität geklärt war und er seine Geschichte erzählt hatte, würden Fetlock und so viele Cops er auftreiben konnte hinter ihr herjagen und nach ihrem Blut verlangen. Sie wusste bereits, dass ihre Zeit knapp war. Raleigh war vor drei Stunden mit Simon unter dem Arm aus dem HQ Harrisburg herausspaziert. Also blieben noch einundzwanzig übrig. Solange sie in Bewegung blieb, würde sie Fetlock mindestens diese Zeitspanne aus dem Weg gehen können. Natürlich half es bei einer Flucht, wenn man wusste, wo man hinwollte. Sie holte ihr Handy heraus, dann wurde ihr klar, dass sie nicht wusste, wen sie anrufen sollte. Früher hätte ihr Jameson einen Rat geben können, was sie nun als Nächstes tun sollte. Und wenn nicht er, dann Vesta Polder, die nun auch tot war. Sie hätte Glauer anrufen können, aber der arbeitete jetzt für Fetlock, wie sie nur zu genau wusste. Glauer war ein netter Kerl, aber er war doch schlau genug, seinen Hintern zu schützen. Wenn er Caxton jetzt half, würde er seinen Job aufs Spiel setzen. Am Ende rief sie Clara an, denn Clara würde wenigstens auf ihrer Seite sein. 161 »Süße, ich bin's«, sagte sie und seufzte, als sich Clara meldete. »Ich bin in keiner guten Verfassung, und ich brauche jemanden, mit dem ich sprechen kann...« »Laura, ich kann gerade nicht«, sagte Clara. Caxton fühlte sich, als hätte man sie geohrfeigt. »Ich bin... gerade bei der Arbeit«, fuhr Clara fort. »Fetlock hat mich ins HQ bestellt. Das ist ein Schlachthaus.« »Er hat mir den Stern abgenommen«, stieß Caxton hervor. »Laura, hör mir zu. Ganz genau.« Tränen ließen Caxtons Sicht verschwimmen. Sie fuhr schnell an den Straßenrand, weil sie nicht gut genug sehen konnte, um weiterzufahren. »Ich muss mit dir reden. Wirklich.« »Ich kann im Augenblick aber nicht. Fetlock kommt jede Sekunde herunter, und wenn er mich mit dir reden hört, stecken wir beide in ernsten Schwierigkeiten. Aber zuerst
musst du noch etwas wissen. Wir haben uns Vesta Polders Leiche angesehen. Fetlock hat mich sein Forensikteam überwachen und Fotos machen lassen. Sie vertrauen mir jetzt. Behandeln mich wie eine von ihnen. Sie haben noch nicht viel gefunden, mit Ausnahme von einem schwarzen Pulver auf der Kleidung. Ich bin mir ziemlich sicher, dass das Kohlenstaub ist.« »Okay«, sagte Caxton und hielt sich die Stirn. »Ich weiß nicht, warum das von...« »Kohlenstaub. Vesta hat aber nicht einmal in der Nähe einer Kohlenmine gewohnt. Ich habe vorgeschlagen, uns noch einmal die alten Fasern anzusehen. Das Twaron und Nylon aus dem Motel, und die im Kloster zurückgelassene Kleidung. Uberall gab es Spuren von Kohlenstaub. Wir glauben, Jameson hatte Kohlenstaub an den Händen, als er Vesta Polder ermordete.« Caxton wollte etwas sagen, aber ihr Hals war vor lauter Gefühlen zugeschnürt. Sie würgte mühsam ihre Tränen herunter, dann sagte sie: »Ich bringe das mit uns wieder in Ord 162 nung. Aber jetzt muss ich... du weißt ja, was ich tun muss. Aber wenn ich zurückkomme«, sagte sie und dachte: falls ich zurückkomme, »bringe ich alles in Ordnung. Ich liebe dich.« »Ich muss jetzt gehen«, sagte Clara. »Ich sag dir Bescheid, wenn ich reden kann.« Sie schwieg kurz, dann sagte sie: »Ich dich auch«, und legte auf. Caxton warf das Handy auf den Beifahrersitz, dann legte sie die Stirn sanft auf das Lenkrad. Ihr ganzer Körper verkrampfte sich vor Schluchzern, die sie niederkämpfte, Tränen der Trauer für alles das, was sie weggeworfen hatte. Wegen der Menschen, die sie verloren hatte. Auch Tränen der Angst. Es war echte Angst. Angst vor dem, was noch auf sie zukam. Denn als Clara ihr von dem Kohlenstaub erzählte, hatte sie bereits zwei und zwei zusammengezählt. Nun wusste sie, wo das Vampirversteck war.
53-
Ein Bergwerk. Das ergab endlich einen Sinn. Vampire liebten ihre Verstecke dunkel und still, und weit weg von jeder menschlichen Störung. Ein Bergwerk, ein stillgelegtes Bergwerk, das war der perfekte Ort. In Pennsylvania gab es jedoch Tausende von Kohleminen, und Hunderte waren stillgelegt. Selbst mit unbegrenzter Zeit hätte Caxton sie nie überprüfen können. Aber wenn sie das hinzufügte, was Carboy ihr erzählt hatte, dann konnte sie nur an ein stillgelegtes Bergwerk denken, wo mitten im Winter Blumen wuchsen. Sie wollte auf direktem Weg dorthin fahren, aber das würde nicht so einfach sein. Sie brauchte eine besondere Ausrüstung. Jameson hatte gesagt, dass Menschen in seinem Versteck nicht 162 überleben konnten, und das war sein Ernst gewesen. Diese Ausrüstung zu organisieren würde ein Problem sein. Das Hauptquartier der State Police hatte alles, was sie brauchte, aber sie würde dort nicht willkommen sein - und Fetlock würde ihr auf die Finger sehen, falls sie dort auftauchte, selbst wenn er noch nicht wusste, was sie mit Carboy gemacht hatte. Sie überlegte kurz, zu einer Feuerwache zu fahren und sich mit einem Bluff die nötige Ausrüstung zu verschaffen. Aber ihr war klar, dass es zu viele Fragen geben würde. Und man müsste zu viele Anrufe erledigen. Am Ende blieb ihr nichts anderes übrig, als einkaufen zu gehen. In Harrisburg gab es ein Geschäft, das sie kannte, einen Militaria-Laden, der lange geöffnet hatte. Sie waren gerade im Begriff zu schließen, als sie dort eintraf, aber sie ließ ihren Ausweis von der
State Police aufblitzen, und der Spätschichtmanager nickte und ließ sie herein, verschloss aber die Tür hinter ihr. Caxton starrte die Reihen mit Tarnkleidung an, ließ die Blicke über die Glaskästen voller Butterfly-Messer und Nachtsichtgeräte schweifen. Von den Letzteren hätte sie gut eines gebrauchen können, aber ihr war klar, dass sie sich das nicht leisten konnte. Sie war bereit, Schulden zu machen - sie hatte schon so viel verloren, dass ihr Kreditrahmen ihr jetzt auch nicht mehr besonders wichtig erschien. Aber das Limit auf ihrer Visa-Karte war nicht gerade üppig. Der Manager war ein junger Bursche in kariertem Hemd und Hornbrille. Er seufzte ungeduldig und fragte, womit er ihr helfen konnte. Caxton rieb sich mit beiden Händen das Gesicht, um den Kopf klar zu bekommen. Wollte sie das wirklich tun? Das Versteck befand sich unter der Erde, war vermutlich voller Kohlenstoffmonoxid, und die Temperatur dort unten konnte bis zu fünfhundert Grad erreichen. Nichts in diesem Laden konnte sie da am Leben erhalten. 163 Aber wenn sie nur gerade eben nahe genug heran kam... nahe genug... »Ich brauche einen feuerfesten Nomex-Schutzanzug«, sagte sie. »Handschuhe, Überstiefel, das ganze Paket. Ich brauche auch eine Schutzmaske und einen Helm. Und ein tragbares Atemgerät, das größte, das Sie haben.« Der Manager starrte sie mit offenem Mund an. »Wollen Sie ein Buschfeuer bekämpfen, Ma'am?« »Schlimmer. Ich muss in ein Minenfeuer.« »Wie das in Centralia?« Caxton schenkte ihm ein schmales Lächeln. »Genau wie das in Centralia. Haben Sie, was ich brauche?« Er zuckte mit den Schultern und trat in einen Gang, während er über die Schulter rief: »Zahlen Sie in bar oder mit Karte?« Fünfzehn Minuten später saß sie wieder im Wagen und fuhr nach Norden. Zu jenem Ort in Pennsylvania, der der Hölle noch am nächsten kam. Centralia. Jedes Kind im Commonwealth hatte von Centralia gehört, von dem Feuer unter der Stadt, das seit den sechziger Jahren brannte und noch immer über genügend Brennstoff verfügte, um auch dann noch zu brennen, wenn sie und ihre Enkel längst gestorben waren. Ein Ort, an dem sich der Erdboden auftat und Menschen und ganze Häuser verschlang. Ein Ort, an dem der Boden so heiß war, dass dort selbst mitten im Winter Blumen wuchsen. Caxton fuhr durch die Nacht und mied den Highway. Die Landstraßen nahmen zwar mehr Zeit in Anspruch, aber es senkte die Wahrscheinlichkeit, von einem Streifenwagen der Highway Patrol entdeckt und herausgewunken zu werden. Sie hatte nicht den geringsten Zweifel, dass sich mittlerweile jeder State Trooper auf Streife ihr Kennzeichen gemerkt hatte. So wie Jameson alle Tricks der Vampire gelernt hatte, lange 34° bevor er selbst zu einem wurde, wusste Caxton, wie man ohne entdeckt zu werden den Staat durchquerte. Schließlich hatte sie jahrelang bei der Highway Patrol gearbeitet. Sie kannte jede Radarfalle und jede Alkoholkontrolle in Pennsylvania, und sie wusste, welche Straßen niemals überwacht wurden. Sie fuhr vorsichtig. Müde wie sie war, achtete sie peinlich genau darauf, den Mittelstreifen nicht zu überfahren und in genau der richtigen Geschwindigkeit zu bleiben. Fuhr man zu langsam, fiel man auf. Hielt man sich genau an das vorgeschriebene Tempo, fiel man ebenfalls auf. Sie verharrte also stets ein Stück über der Geschwindigkeitsbegrenzung, aber niemals mehr als fünf Meilen, nur für den Fall, an einem Ortspolizisten vorbeizufahren, der seine monatliche
Quote an Strafzetteln noch zu erfüllen hatte. Sie setzte an jeder Abzweigung den Blinker und zeigte jeden Spurwechsel rechtzeitig an. Centralia. Einst eine blühende Stadt. Caxton war in einer Reihe von Bergwerkssiedlungen aufgewachsen, winzigen Minenstädten, die zu klein für eine eigene Polizei waren. An einigen dieser Orte war ihr Vater das Gesetz gewesen. Centralia hatte einst mehrere tausend Einwohner gehabt, aber zurzeit von Caxtons Geburt war es schon eine Geisterstadt gewesen, zu klein, um selbst noch als Minenstadt bezeichnet zu werden. Das Feuer war zufällig entstanden. Die örtliche Bergwerksgesellschaft hatte ihren Müll in einer stillgelegten Tagebaugrube direkt südöstlich von der Stadt verbrannt. Es musste kostengünstiger erschienen sein, als den Müll zu einer Deponie zu schaffen. Wie sich herausstellte, war die Grube dann doch nicht so erschöpft, wie alle angenommen hatten. Dort unten musste es noch Kohle gegeben haben, denn 1962 hatte sie sich entzündet und ein Feuer in Gang gesetzt, das nicht mehr zu löschen war. Kohle ist ein fossiler Brennstoff, der schnell verbrennt, und das selbst unter sauerstoffarmen Be 34*
dingungen. Die brennende Kohle in der Grube hatte einen Kohleflöz entzündet, der mit den Untertagestollen in der Nähe der Stadt verbunden war. Sobald der Flöz brannte, breitete sich das Feuer immer weiter aus. Die betreffenden Stollen mussten aufgegeben werden, aber das hatte zwanzig Jahre lang niemand als Problem betrachtet. Auf der ganzen Welt brannten Minenfeuer, und meistens war es einfach billiger, sie sich selbst ausbrennen zu lassen. Man nahm an, dass das nach ein paar Jahren auch in Centralia geschehen würde. Sie irrten sich jedoch. Caxton fuhr an den Straßenrand, um sich zu orientieren. Centralia stand nicht auf ihrer Straßenkarte. Dort sollte niemand mehr hinfahren. Aber sie wusste, wo sie war, und als sie den Finger auf Route 61 legte, sah sie, dass das weniger als zwei Meilen von Mount Carmel entfernt war, Dylan Carboys Heimatstadt. Weniger als eine Meile von dem stillgelegten Getreidesilo. »Hurensohn«, murmelte sie. Jameson war die ganze Zeit direkt vor ihrer Nase gewesen. Sie wusste, dass sie ihrem Ziel näher kam, als sie auf beiden Straßenseiten bleiche Rauchfahnen an den Bäumen vorbeischlängeln sah. Die Bergwerksgesellschaft hatte Löcher in das Inferno gebohrt, um den sich ansammelnden Rauch und die giftigen Gase zu entlassen. Aber das hatte nicht gereicht. In den Achtzigern hatte die Oberfläche von Route 61 angefangen aufzureißen und Buckel zu bilden. Man hatte einen neuen Highway gebaut, der um das betroffene Gebiet herumführte. Dann hatten sich in der ganzen Stadt Löcher geöffnet. Eines hätte beinahe einmal einen kleinen Jungen verschluckt. Etwa zu diesem Zeitpunkt kaufte die Regierung so viel von der Stadt auf, wie sie konnte, und siedelte die Einwohner in die Nachbargemeinden um. Ein paar sture Unbelehrbare waren geblieben und hatten überlebt, so gut sie konnten, obwohl sie die Risiken kannten. Bei der letzten Volkszählung hatte 164 die Bevölkerung von Centralia noch aus zwölf Personen bestanden. Es war der verlassenste, gefährlichste, umweltmäßig verseuchteste Ort im ganzen Bundesstaat. Die unterirdischen Temperaturen konnten eine Höhe von bis zu fünfhundert Grad im Herzen des Feuers erreichen. Die Hitze drang durch den Erdboden und schmolz den Schnee, bevor er sich auf dem Boden sammeln konnte. Selbst in der Dunkelheit konnte Caxton Winterblumen sehen. Wildblumen, winzige Blüten auf dünnen Stängeln, flatterten im Nachtwind. Umgeben von abgestorbenen Bäumen wiesen sie im Mondlicht eine unheimliche Schönheit auf.
Sie parkte den Wagen in der Nähe der einstigen Stadtmitte. Straßen kreuzten sich auf einem grasigen Feld, aber die Häuser waren alle verschwunden. Hier und da konnte sie überwucherte Fundamente ausmachen, die zerbröckelten Reste eines Ziegelschornsteins. Aber das war auch schon alles. Am Rand der einstigen Stadt standen noch ein paar kleine Häuser, aber nur in einem brannte noch Licht. Sie war angekommen. Sie war bewaffnet. Sie war bereit. Die Regierung hatte mit verschiedenen Methoden versucht, das Feuer zu löschen, aber keine war erfolgreich gewesen. Die Kohle brannte weiter. Caxton hatte gehört, dass es dort unten genug Kohle gab, um es weitere zweihundertfünfzig Jahre brennen zu lassen. Allerdings hatte die Regierung dafür gesorgt, dass jeder Eingang zu den Stollen geschlossen worden war. Sie hatten sie nicht nur verbarrikadiert oder mit Gittern abgesperrt - sie waren sogar gesprengt worden, in der Hoffnung, dem Feuer den Sauerstoffhahn zuzusperren. Die Tagebaugruben in der Nähe waren mit sterilem Abraum, zermahlenem Stein und nicht brennbarer Erde aufgefüllt worden. Das war gut, jedenfalls in einer Hinsicht. Das Vampirversteck befand sich unten 165 in den Bergwerksstollen, und je weniger Ausgänge die Stollen hatten, umso schwerer würde Jameson die Flucht fallen, wenn sie ihn holen kam. Aber es stellte Caxton auch vor ein Dilemma - selbst wenn sie wusste, wo das Versteck war, nutzte ihr das gar nichts, wenn sie den Eingang nicht finden konnte. Doch sie hatte eine Idee, wie das zu lösen war. Sie ging zu dem Haus mit dem brennenden Licht, um zu sehen, wer da noch wach war. Das Haus war voller Vögel. Hätte Caxton dort leben müssen, die Vögel hätten sie in den Wahnsinn getrieben. »Sie sagen, Sie kommen nicht von der Regierung«, sagte die Alte und strich das dünner werdende Haar zurück über eine kahle Stelle. Sie trug einen formlosen Polyesterhausmantel. Neben ihrem Ellbogen stand eine unberührte, angeschlagene Teetasse. Caxton hatte ihren Zwilling - die einzige andere Tasse, die die Frau besaß - auf dem Kaffeetisch vor sich stehen. Neben ihren Füßen lagen der Nomex-Anzug und die restliche Ausrüstung ordentlich in einem speziellen Rucksack verstaut. Nicht, dass sie vorhatte, ihn während der Nacht zu benutzen, aber sie wollte vorbereitet sein für den Fall, dass sich ihr die Chance bot, sich kurz umzusehen. »Nicht mehr. Ich weiß, dass man Ihnen angeboten hat, Ihr Land aufzukaufen...« »Und ich habe es abgelehnt.« Hektischer Flügelschlag übertönte beinahe diese leisen Worte. Die Alte runzelte die Stirn, senkte die dicken Lider und musterte Caxton. »Eines Tages geht das Feuer aus. Dann werden sie zu mir kommen 165 müssen, wenn sie die Kohle dort unten haben wollen. Ich besitze die Mineral-Rechte der halben Stadt, und die gebe ich nicht kampflos auf.« Neben Caxtons Schulter zirpte ein Kanarienvogel. Die hellgelben Vögel waren überall, Dutzende, wenn nicht Hunderte drängten sich in Drahtkäfigen, die mit uralten, brüchigen Zeitungen ausgelegt waren. Die Käfige hingen in jedem Zimmer von der Decke oder standen auf Tischen. Ein paar standen sogar auf dem Boden hinter den Möbeln. Es war durchaus möglich, dass die Alte Vögel liebte, aber das hier waren keine Haustiere. »Die halten Sie doch, um das Kohlenmonoxid zu testen, oder?« Das Gas stieg ununterbrochen in blassen Rauchfahnen vom Minenfeuer auf. Es sammelte sich in Kellern und schwebte wie gestaltlose Tentakel, die um Einlass pochten, vor den Fenstern. Selbst in geringsten Konzentrationen - wie 5 ppm - war es giftig, und eine plötzliche Aufwallung konnte die Alte jederzeit im Schlaf töten. Kanarienvögel waren
berühmt für ihre Empfindlichkeit gegenüber Kohlenmonoxid und anderen giftigen Gasen. Wenn sie umkippten, blieben ihrer Besitzerin noch ein paar Sekunden, sich eine Gasmaske aufzusetzen und den eigenen Tod nicht einzuatmen. Gasmasken gab es in dem Haus fast so viele wie Kanarienvögel - nun, zumindest stand in jedem Zimmer eine. »Ich behandle sie gut, fütterte sie zweimal täglich und halte sie sauber«, beharrte die Alte. »Kommen Sie von der ASPCA?« »Ich komme nicht vom Tierschutzverein«, sagte Caxton müde. »Vielleicht habe ich mich falsch ausgedrückt. Vielleicht hätte ich sagen sollen: die Vögel sollen nach bösem Wetter Ausschau halten.« Bergarbeiter bezeichneten Gase unter Tage als Wetter. Es gab matte Wetter, bei der die Luft einen verringerten Sauerstoffanteil hatte, oder schlagende Wetter, wenn die Mischung 166 aus Luft und brennbaren Gasen zu Explosionsgefahr führte. Am häufigsten kam das giftige oder böse Wetter vor, wenn die Luft mit Kohlenmonoxid verseucht war. Die Alte setzte sich auf und kratzte sich am Handgelenk. Es war, als hätte Caxton ein Codewort gesagt, auf das sie nur gewartet hatte. Trotzdem blickte sie noch immer misstrauisch. »Sie sind keine Bergarbeiterfrau, Lady.« Caxton lächelte. »Nein. Aber ich bin im Kohlebergbau aufgewachsen. Ich wurde in Iselin geboren, zur Schule ging ich in der Nähe von Whiskey Run. Ich will Sie nicht von Ihrem Grund und Boden vertreiben, Ma'am. Ich will bloß wissen, ob es hier in der Nähe illegale Minen gibt.« »Wenn Sie das sind, was Sie zu sein behaupten, dann wissen Sie, dass illegale Minen der Vergangenheit angehören.« Die Alte schüttelte den Kopf. »Kein Mann könnte allein an einem Tag genug Kohle ausgraben, um davon zu leben.« Den Spruch kannte Caxton zur Genüge - und sie wusste, dass es dasselbe war, als würde ein Italoamerikaner behaupten, es gäbe keine Mafia. »Er könnte genug ausgraben, um sein Haus im Winter zu heizen, und er könnte die Heizungsrechnung senken.« Caxton nahm ihre Teetasse und rollte sie zwischen den Händen hin und her. Langsam verlor sie die Geduld, und sie fragte sich, ob es eine schnellere Möglichkeit gab, an die gewünschten Informationen zu kommen. Natürlich konnte sie die Alte mit der Pistole bedrohen - aber nein, so verzweifelt war nicht einmal sie. »Wie dem auch sei, die, nach der ich suche, wird zurzeit gar nicht betrieben. Jedenfalls nicht von Lebenden.« Die Alte beugte sich auf ihrem Sessel vor. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich Sie richtig verstanden habe.« Caxton seufzte und schaute zur Decke. »Ich bin hinter einem Vampir her. Ich weiß, dass er sich in den Minen verschanzt hat, aber ich weiß nicht, wie er sie verlässt. Ich dachte...« 166 Die Alte warf die Hände in die Luft und stand auf. »Ich habe mich doch nicht verhört.« Sie klopfte auf einen Käfig auf dem Fernseher, was die Vögel aufscheuchte. Sie nahm ihn auf und ging zur Haustür. »Sie sollten mir lieber folgen.« Caxton schnappte sich den Rucksack. Sie wollte ihn nicht zurücklassen. Sie traten in die dunkle und kalte Nacht hinaus. Die Alte machte sich nicht einmal die Mühe, eine Jacke überzustreifen. Sie mussten nicht weit gehen. Caxton folgte ihr auf eine mit Unkraut überwucherte, von Rissen durchzogene Straße, dann weiter in die verwitterten Fundamente eines alten Hauses, das man schon vor langer Zeit abgerissen hatte. An einer erhöhten Stelle sammelten sich stapelweise Lumpen und Plastiktüten. Es sah
einfach wie ein Müllberg aus. Aber die Alte stellte den Vogelkäfig ab, schob den Müll zur Seite und enthüllte eine hölzerne Falltür. »Er kam vor etwa zwei Monaten her, Ihr Kerl. Wir haben ihn alle durch das Fenster gesehen - er machte nicht die geringsten Anstalten, sich zu verstecken. Warum sollte er auch? Wir haben uns ja vor ihm versteckt! Jedes Mal, wenn er kommt oder geht, gehen wir in Deckung.« »Und Sie haben nie die Polizei verständigt«, sagte Caxton. »Wir wussten, was mit uns geschehen würde, hätten wir das getan. Wir sind nur noch eine Handvoll in Centralia, und wir können es uns nicht leisten, dass jemand kommt und viele Fragen stellt. Nicht wenn wir den Anspruch auf das behalten wollen, was uns gehört. Niemand will, dass sich die Polizei auf unserem Grund und Boden herumtreibt, nach Beweisen sucht und die Nase in unsere Angelegenheiten steckt. Leute wie Sie sind hier nicht willkommen.« Caxton seufzte. »Ich bin kein Cop. Nicht mehr.« Jemand stand hinter ihr. 167 Caxton fuhr herum, die Waffe aus dem Holster gerissen und im Anschlag, bevor sie überhaupt sah, auf was sie zielte. Das Laserzielgerät projizierte einen hellroten Punkt auf die Brust eines hünenhaften jungen Mannes in einer rotgesteppten Jägerjacke. Er hob langsam die Hände und sah von Caxton zu der Alten und zurück. »Was ist hier los, Maisie?«, fragte er. »Ich habe dich aus dem Haus gehen sehen.« »Das ist nur mein Cousin Wally. Schießen Sie nicht auf ihn«, rief die Alte. »Warum treten Sie nicht beide einfach einen Schritt zurück, okay?«, sagte Caxton in ihrem besten Cop-Tonfall. »Sie wollen da nicht runter gehen«, sagte Wally. »Da unten ist etwas, das Sie nicht sehen wollen.« »Lassen Sie mich das selbst entscheiden.« Caxton erhob sich langsam aus ihrer geduckten Stellung und steckte die Waffe weg. »Aber ich habe sowieso nicht vor, heute Nacht da runter zu steigen. Es ist nicht mal halb zwölf. Ich warte bis zur Morgendämmerung.« Es gab nur eine vernünftige Zeit, sich in ein Vampirversteck zu begeben: wenn man genug Tageslicht hatte. »Ich weiß, dass Sie glauben, der Vampir könnte Ihnen etwas antun, wenn er mich hier sieht. Aber Sie müssen mir vertrauen. Ich steige morgen dort runter, und ich werde ihn töten. Sie werden sich wegen ihm nie wieder Sorgen machen müssen.« »Das ist schön«, sagte Wally. »Aber was ist mit ihr?« Caxton fuhr wieder herum, aber sie war viel zu langsam. Die Falltür hatte sich einen Spalt gehoben, und ein weißer Schatten schlängelte sich hindurch und griff nach ihr. Raleighs Hände schlossen sich wie ein Schraubstock um ihre Knöchel und zerrten sie in die Dunkelheit, bevor sie auch nur einen Schrei ausstoßen konnte. Sie sah das Gesicht der Alten über ihr aus ihrem Blickfeld 167 verschwinden, als sie in die Tiefe gerissen wurde. »Wie ich schon sagte«, bemerkte die Alte. »Sie sind hier nicht willkommen, Lady.« Mit dem Gesicht schlug Caxton hart gegen den Felsen; helle Funken blitzten vor ihren Augen auf. Dann wurde es finster. Sie glaubte eine Gehirnerschütterung zu haben oder sogar tot zu sein, aber die Falltür hatte sich bloß über ihr geschlossen, und sie wurde mit der tiefsten Dunkelheit konfrontiert, die sie je erlebt hatte: Mitternacht in einer Kohlenmine. Eine schmale Hand hielt ihren Knöchel fest. Man schleifte sie über den Steinboden. Der Untergrund war uneben und voller Vorsprünge, die noch aus der Zeit herrührten, als irgendein Bergmann diesen Schacht mit einer Schaufel und einer Spitzhacke und
vielleicht ein paar gestohlenen Stäben Dynamit gegraben hatte. Der Eingang zum Versteck führte durch einen illegalen Schacht - einen schmalen Gang, den man in der Nacht zu einer Kohlenader geschlagen hatte, die dem Arbeiter nicht gehört hatte. Ein Mann oder vielleicht sogar eine ganze Familie hatten sich jahrelang durch Erdreich und Felsen gegraben, immer auf der Suche nach dem schwarzen Funkeln der Kohle. Caxton war klar, dass die Decke nur gelegentlich von verrotteten Holzbalken gestützt wurde. Der Durchgang würde nicht größer als die breiten Schultern eines Mannes sein. Sie streckte die Arme aus und ertastete zu beiden Seiten unebene Wand. Sie versuchte Halt zu finden, aber Raleigh war jetzt viel stärker als sie, und sie fand keinen vernünftigen Griff, um die Vampirin auch nur zu bremsen. 168 Eine lange Zeit wurde sie auf diese Weise geschleift, ihr Gesicht prallte immer wieder auf den Boden, ihr Knöchel schmerzte höllisch, wo Raleigh sie gepackt hielt. Dann hörte die Vorwärtsbewegung auf, Caxtons Bein wurde fallen gelassen. Sie konnte zwar noch immer nichts sehen, wusste aber, dass Raleigh sie sehr gut zu erkennen vermochte - zumindest würde sie Caxtons Blut sehen; ihre Arterien und Venen und Kapillaren leuchteten in der Finsternis wie ein verschlungenes Neonlabyrinth. Caxton rechnete jeden Augenblick mit dem Tod, unfähig zu sehen, wann sich die Vampirin auf sie stürzte und ihr die Kehle herausriss. Vielleicht würde sie die kalte und scheußliche Aura spüren, die von Raleigh ausging, bevor der Biss erfolgte. Vielleicht auch nicht. Dann ertönte ein Klicken, und überall um Caxton herum flammten Lichter auf, strahlten von der hohen Decke in die Tiefe. Caxton rollte sich auf den Rücken, der unbequeme Rucksack ächzte unter ihr. Sie versuchte sich aufzusetzen. Eine weiße Hand packte ihren Hals, und sie streckte sich wieder aus - ihr blieb keine andere Wahl. Raleigh konnte sie mühelos überwältigen, ein Kampf war sinnlos. Caxton trug noch immer die Beretta in dem Holster an ihrem Gürtel. Ihre Hand schoss vor und wollte danach greifen, aber Raleigh war auch dafür bereit. Sie erreichte die Pistole als Erste und zog sie geschickt, dann ließ sie sie um den Finger wirbeln. Die Vampirin trug noch immer die Reste des Lakens, das an Hüften und Hals mit Klebeband zusammengehalten wurde. Darüber hing jetzt eine Ballistikweste. Natürlich vom Typ IIIA, mit einer Traumastahlplatte über dem Herzen. »Das hier« - sie hob die Pistole - »ist sinnlos. Wie oft hast du damit auf Daddy geschossen? Und er hat es so gut wie nicht gespürt.« 35° Raleigh warf die Beretta in die Ecke. Caxton versuchte zu sehen, wo sie landete. Dabei registrierte sie endlich, wo sie war. Es handelte sich um eine etwa sieben Quadratmeter große Kammer. Das war kein Teil des illegalen Schachtes, sondern eine Kammer des ursprünglichen Bergwerks, und hier lagerte Material, das man einfach zurückgelassen hatte, als man die Mine schloss. Es gab Kisten, in denen Dynamit und Sprengkapseln gelegen hatten, sowie gewaltige Werkzeuge wie Ankerbohrgeräte und Aufgabebrecher. In einer Ecke standen zwei Meter lange Bohrer an die Wand gelehnt, die die Traumaplatte und Raleighs Weste wie Butter durchdrungen hätten - hätte es denn eine Möglichkeit gegeben, sie mit Strom zu versorgen. Die Werkzeuge zerfielen, zerfressen von Rost oder allgemeinen Verfall. Sie mussten seit Jahrzehnten hier unten lagern, seit man das Bergwerk aufgegeben hatte. Falls in den Kisten Dynamit lag, war es schon vor Raleighs Geburt unbrauchbar geworden. Raleigh folgte ihrem Blick. »Es ist zwar nicht viel, aber es ist immerhin ein Zuhause.« Caxton hatte genau eine Chance. Raleigh wusste nicht, dass ihre Waffe ein neues Modell war - sie konnte nicht wissen, dass sie Teflonkugeln geladen hatte, die die Traumaplatte
möglicherweise - nur möglicherweise - doch durchschlugen. Wenn Caxton an die Beretta kam, wenn sie sie nur erreichen konnte... Mit unendlich langsamen Bewegungen kroch sie los, schob sich mit Händen und Füßen über den Boden. Raleigh hatte ein Funkgerät am Gürtel klemmen, das sie an den Mund hob. »Daddy, sie ist hier. Genau wie du es gesagt hast.« Mit einem verächtlichen Lächeln starrte sie auf Caxton herab, dann fuhrt sie fort: »Ich habe sie mühelos erwischt, und ich habe sie entwaffnet. Genau wie besprochen.« Das Funkgerät rauschte und knisterte mit Statik, aber 169 Caxton konnte Jamesons Stimme hören. »Geh kein Risiko ein. Schieß die Pistole leer und bring sie zu mir.« Eine kurze Pause trat ein. »Im Magazin werden fünfzehn Patronen sein, und vielleicht eine in der Kammer. Schieß sie alle ab.« Raleigh machte zwei große Schritte quer durch den Raum und hob die Beretta auf. Caxton hielt inne. Die Vampirin drehte die Pistole in den Händen. Sie fand den Sicherungshebel und legte ihn um. Dann hielt sie die Waffe mit ausgestrecktem Arm, direkt aus der Schulter heraus, und zielte auf Caxtons Gesicht. Es war eine lausige Schusshaltung, aber auf diese Entfernung war das unerheblich. »Peng, Peng«, sagte Raleigh und kicherte leise. »Du hättest mich schon vorher töten können«, sagte Caxton und bemühte sich, nicht in den dunklen Lauf zu schauen. »Dafür gibt es einen Grund.« »Für Simon. Wenn er den Fluch akzeptiert, wenn er einer von uns ist, wirst du sein erstes Opfer sein. Daddy und ich haben bereits getrunken.« Raleigh hob die Beretta ein paar Zentimeter und feuerte einen Schuss direkt über Caxtons Kopf. Der Lärm ließ sie beide zusammenzucken, denn er hallte durch den Raum, verstärkt von den nahen, harten Wänden. Raleigh schnitt eine Grimasse, die bösartigen Zähne ragten unter den bleichen Lippen hervor, aber dann drückte sie immer wieder ab, zielte jedes Mal gerade so an Caxton vorbei. Die kostbaren Kugeln schlugen auf den Felsboden und sausten als Querschläger durch die Kammer, unberechenbar und wild, aber unglücklicherweise geriet keine so weit außer Kurs, um zurückzufliegen und Raleigh zu treffen. Eine durchschlug Caxtons Ärmel. Sie wagte nicht hinzusehen, aber sie glaubte, dass ihre Haut unversehrt geblieben war und es keine blutige Schramme gab. Sie zog die Arme eng an den Körper und versuchte nicht zu sehr zusammenzuzucken. Raleigh zählte jeden Schuss laut mit, aber die Worte gin 169 gen im Krach unter, bis sie aufhörte und sagte: »Sechzehn.« Caxtons Ohren dröhnten noch immer, als die Vampirin auf den heißen Pistolenlauf blies und die Waffe dann ungesichert unter einen der Westengurte schob. »Und jetzt steh auf und lass uns gehen.«
56.
Caxton ging voran, gelegentlich von Raleigh gestoßen, die sich dicht hinter ihr hielt. Der Korridor war mit elektrischem Licht ausgestattet. Jameson musste die Lampen selbst hingehängt haben, denn normalerweise hatten Stollen keine Beleuchtung - die Bergarbeiter trugen Lampen an den Helmen und der Ausrüstung. Gelegentlich zweigten Nebenstollen von dem Hauptgang ab, und diese lagen in tiefer Finsternis stumme, leere, durch den Felsen getriebene Gänge waren das, in denen sinkender Staub und der sich setzende Felsen die einzigen Laute hervorbrachten. Einst waren diese Korridore voller Lärm und Aktivität gewesen, als die Arbeiter ihre Werkzeuge in die Wände hineingetrieben und tonnenweise Kohle gefördert hatten. Jetzt war es hier so still wie in der Gruft, zu der es geworden war.
Oder vielleicht doch nicht ganz so still. Caxton hatte während des Weges nichts Besseres zu tun, als sich umzusehen und die Ohren zu spitzen. Es dauerte nicht lange, und sie hörte ein leises aber durchdringendes Tosen, das aus den Tiefen der Erde kam. Irgendwo in diesen Gängen, nach einer Reihe linker und rechter Abzweigungen, loderte das Feuer mit derselben Intensität und Kraft wie schon seit Jahren. Dieser Laut war nicht der einzige Beweis. Mittlerweile fielen ihr feine Rauchfahnen auf, die an der Decke schwebten, 170 blasse Dunstschwaden, die dichter und ungestümer wurden, je weiter sie kam. Die besondere Präsenz von Kohlenmonoxid war zuerst kaum merklich, wurde aber ständig stärker. Als Kind hatte sie ihn schon kennengelernt. Sie versuchte sich daran zu erinnern, wie das roch, aber es wollte ihr nicht einfallen. Jedenfalls nicht wie der Geruch eines Lagerfeuers, das nach Baumharz und Holz duftete. Es war auch nicht der Geruch einer Kerzenflamme; nichts erinnerte an Paraffin. Es roch eher wie ein NichtGeruch, eine Abwesenheit von Geruch. Es roch wie eine Decke, die einem auf dem Gesicht lag und beim Atmen behinderte. Es roch wie Ersticken. Sie waren vielleicht eine Viertelmeile gelaufen, als Caxton hustete. Zuerst war es nur ein unwillkürliches Atemstocken, das bald zu einem tiefen Husten wurde. Sie drückte die Faust vor den Mund, um es zu stoppen, aber dadurch krampfte sich ihre Brust nur noch stärker zusammen. Als Letztes wurde sie sich der Hitze bewusst, und auf vielerlei Weise war das das Schlimmste. An der Oberfläche war es eine kalte Winternacht gewesen. Hier unten wärmte eine trockene Hitze ihren Körper, die sie in dem Kragen ihres Wintermantels schwitzen ließ. Ihre Achselhöhlen wurden feucht, dann ihre Brust. Schweißrinnsale rieselten ihren Körper herunter. An ihrer Nasenspitze formten sich Tropfen, die sie immer wieder abwischen musste. Die Hitze schlug ihr ins Gesicht, als hätte sie die Tür eines Hochofens geöffnet, um hineinzuschauen. Sie öffnete den Mantel, um ihn auszuziehen - und Raleigh stürzte sich auf sie, schlang den Arm um ihren Hals und schnürte ihre Luftröhre zu. Caxton versuchte, sich schlaff zu machen, aber die Vampirin hielt sie fest und hob sie ein Stück an, bis nur ihre Stiefelspitzen den Untergrund berührten. Dann schleuderte Raleigh sie wie eine weggeworfene Puppe zu Boden, und Caxton landete hart auf der Seite. Sie konnte nicht atmen, schnappte nach Luft, aber die wollte nicht durch 170 ihren Hals. Sie wollte es erklären, sprechen, aber die Worte ließen sich nicht formen. Sie zerrte an ihrem Kragen und bemühte sich verzweifelt, ihn aufzureißen. Doch Schwäche schlug über ihr zusammen, ihr Körper bewegte sich nicht mehr so, wie sie wollte, als sich jedes Fünkchen Kraft auf ihre Lungen konzentrierte und das Bedürfnis ihres Körpers nach Sauerstoff überhand nahm. Unten auf dem Boden war die Luft etwas reiner. Langsam, mit schmerzhaften, stockenden Atemzügen versorgte sie ihre Zellen mit dem Sauerstoff, den sie brauchten. Ein Luftzug traf auf ihr schweißbedecktes Gesicht und kühlte es etwas. »Ich wollte«, krächzte sie, und die Worte schnitten wie aufschnappende Messerklingen in ihren Hals, »wollte bloß... den Mantel ausziehen.« Raleigh starrte sie misstrauisch an, dann nickte sie. Caxton kämpfte sich aus dem Kleidungsstück und streifte dabei zugleich den Rucksack ab. Darin steckte das Atemgerät und Kleidung, die sie vor der Hitze hatte schützen sollen. Sie wollte ihn öffnen, aber Raleigh trat ihn ihr aus den Händen und weiter in den Gang hinein, in die Richtung, aus der sie gekommen waren. »Ich habe gehört, wie trickreich du bist«, sagte die Vampirin und kniff die Augen zusammen. »Vielleicht hast du da ja noch eine Waffe drin.«
Das wäre schön. Caxton senkte den Kopf und fing an, den Mantel zusammenzurollen,
um ihn unter dem Arm zu tragen. Raleigh riss ihn ihr aus den Händen und warf ihn dem Rucksack hinterher. »Den brauchst du nicht mehr«, sagte sie. Caxton begriff, was sie damit meinte. Sie würde die Mine nicht mehr verlassen, zumindest nicht lebend. Sie würde nie wieder frieren. Langsam kämpfte sich Caxton auf die Füße. Sie hielt die 171 Hände da, wo Raleigh sie sehen konnte, und als sie stand, hob sie sie über den Kopf. Raleigh nickte zufrieden, versetzte Caxton einen Stoß, der sie herumwirbelte und weiterstolpern ließ, auf ihr Ziel zu. Der Korridor wurde breiter und rechteckiger, als hätte man ihn hier mit mehr Sorgfalt gegraben. Caxton schätzte, seit dem illegalen Mineneingang etwa eine halbe Meile zurückgelegt zu haben, auch wenn es so gut wie unmöglich war, in einem langen, sich beinahe immer vollkommen gleichbleibenden Stollen Entfernungen vernünftig zu schätzen. Ein kurzes Stück weiter vor ihnen endete der Korridor an einer breiten Kreuzung, an der einige Stollen zusammenstießen und die einen Raum schaffte, der beträchtlich größer war als der, in dem Raleigh die Beretta abgeschossen hatte. Hier leuchteten die gleichen Lampen, aber sie waren viel weiter voneinander entfernt aufgehängt worden, was die Kammer in ein Dämmerlicht tauchte. Sie warfen fahlgelbe Lichtkegel auf den Boden, Lichtkegel, die der wirbelnde Qualm scharf akzentuierte. Viele Möbel gab es hier nicht. An einer Wand standen vier Särge, aufgereiht wie in einer Miniaturgruft. Ein Sarg musste für Jameson sein, ein zweiter für Raleigh. Der dritte enthielt wohl die Überreste von Justinia Malvern - aber warum er verschlossen war, wusste Caxton nicht zu sagen. Vielleicht konnte Jameson sie nicht die ganze Nacht ansehen, zog man ihren Zustand in Betracht. Sie mochte eine ständige Erinnerung an seine eigenen Schwächen sein, an die Tatsache, dass er zwar möglicherweise ewig lebte, aber nicht zu altern aufhören würde. Caxton fragte sich, wie es Malvern gefiel, hier wie ein Besen im Schrank aufbewahrt zu werden. Der vierte Sarg stand offen - und war leer. Der war vermutlich für Simon bestimmt. Den Jungen selbst hatte man an einen Pfosten gekettet, der die Decke stützte. Er schien nicht bei Bewusstsein zu sein. In seiner Nähe, wo er seinen Sohn 171 im Auge behalten konnte, saß Jameson auf einem seltsam aussehenden Stuhl. Er trug seine Schutzweste und schwarze Jeans, aber keine Schuhe. Seine Füße waren schwarz vor Kohlenstaub, aber sein Gesicht strahlte grellweiß. Er stand auf, als Caxton den Raum betrat, und sie sah, dass der Stuhl aus Menschenknochen bestand, die dicke Drahtbündel zusammenhielten. Hauptsächlich Beckenknochen und Schädel, als Beine dienten Oberschenkel. Klassisches Vampirdesign. Fünf Halbtote standen an den Wänden verteilt, als würden sie die Gänge bewachen, die hinausführten. Ihre zerfetzten Gesichter waren gesenkt, die Hände vor dem Körper gefaltet. Caxton hatte noch nie Halbtote gesehen, die so diszipliniert aussahen normalerweise bildeten sie einen kichernden, anarchistischen Mob. Das Einzige, das Halbtote motivieren konnte, sich zu benehmen, war Furcht. Jameson musste ein strenger Lehrmeister gewesen sein. Caxton stolperte hustend in den Raum. Der Rauch lag ihr dicht im Mund und in den Lungen, die Hitze war von tropisch auf höllisch gestiegen. Es kam ihr so vor, als bestünde ihr Körper aus geschmolzenem, in sich zusammenfallendem Blei. Sie brauchte ihre ganze Kraft, um sich nicht auf die Knie fallen zu lassen und aufzugeben. »Haben Sie nichts zu sagen, Trooper?«, fragte Jameson noch immer so förmlich wie einst und lächelte. Er näherte sich ihr. Beinahe so nahe kam er, dass sie ihn hätte
berühren können. Aber nicht ganz. Selbst in ihrem körperlichen Bestzustand wäre ihm Caxton nicht gewachsen gewesen - und mit bloßen Händen konnte sie ihm nicht einmal einen Kratzer zufügen, vor allem, nachdem er getrunken hatte. Aber er ging kein Risiko ein. Das hatte er schon als Lebender nicht getan. Jetzt schien er regelrecht paranoid zu sein. Sie schüttelte den Kopf, vollends damit beschäftigt, nach Luft zu ringen. Das war's, dachte sie. Seit sie Jameson das erste 172 Mal begegnet war, hatte sie dem Tod so oft ins Antlitz geschaut, dass sie geglaubt hatte, der Furcht gegenüber immun zu sein. Aber plötzlich war sie wieder da, intensiver als je zuvor. Sie würde sterben, und es gab nichts, das sie dagegen tun konnte. Doch etwas in ihr weigerte sich, so einfach aufzugeben. Ein Teil ihres Verstandes suchte nach Möglichkeiten, Gelegenheiten. Ihr fiel zwar nur wenig ein, aber sie versuchte es weiter. Ihr kam eine Idee, und sie betrachtete den Einfall von allen Seiten. Dann sog sie einen flachen, langen Atemzug ein und sprach. »Sie gewinnen.« Jameson musterte sie. »Das ist kein Wettbewerb«, knurrte er. »Das ist die natürliche Ordnung. Meine Tochter und ich sind Raubtiere. Sie und Ihre Gattung sind die Beute, das ist alles. Wollen wir überleben, müssen wir Ihr Blut trinken. Ich weiß, dass das aus Ihrer Perspektive furchtbar aussehen muss, aber wenn Sie über Ihre Sterblichkeit hinaussehen könnten, dann würden Sie das begreifen. So wie ich es begriffen habe.« Unwillkürlich musste Caxton lächeln. »Die natürliche Ordnung«, sagte sie. »Das ist interessant.« Ein Hustenanfall schüttelte sie, aber er wartete geduldig darauf, dass sie zu Ende sprach. »Sie waren derjenige, der mir beibrachte, dass Vampire alles andere als natürlich sind. Dass sie das wahre Böse verkörpern. Ich glaube, das waren Ihre genauen Worte.« »Ich hatte Zeit, meinen Horizont zu erweitern«, erwiderte er. »Also gut.« Er wandte sich einem der Halbtoten zu. »Du da, hol eine Kette. Der Rest von euch hilft ihm, sie an einen Balken zu fesseln.« Er wandte sich wieder Caxton zu. »Sie sind dabei, das Bewusstsein zu verlieren, Trooper. Hier unten gibt es nicht genügend Sauerstoff, um Sie wach zu halten. Ich werde versuchen, Ihren Tod schmerzlos zu gestalten - wenigstens das schulde ich Ihnen. Denn wären Sie nicht gewesen, ich wäre niemals so weit gekommen.« Caxton sah ihn erstaunt an. Natürlich hatte er recht. Er 172 hatte den Fluch akzeptiert, um ihr Leben zu retten. Hätte sje seine Hilfe nicht so dringend gebraucht, er wäre nie zu einem Vampir geworden. Alles, was er getan hatte, jeden, den er getötet hatte, das ganze Blut klebte an ihren Händen. Das hatte sie zu verzweifelten Maßnahmen getrieben, das hatte sie letztlich auch nach Centralia gebracht - um Vergebung für das zu finden, was sie erschaffen hatte. Jetzt würde dieses brennende Verlangen nach Absolution ihr Tod sein. Sie dachte sorgfältig über ihre nächsten Worte nach. »Sie schulden mir was - das haben Sie gesagt. Sie schulden mir viel und wollen Ihre Schuld auch begleichen.« »Und das habe ich getan. Ich hatte viele Gelegenheiten, Sie zuvor zu töten, und auch genügend Gründe dafür. Um Ihretwillen habe ich mich zurückgehalten. Ehrlich, wären Sie heute Nacht nicht hergekommen, wären Sie schlau genug gewesen, um zu wissen, wann Sie geschlagen sind, so hätten Sie weiterleben können. Aber jetzt haben Sie mein Versteck gefunden. Sie haben meiner Familie mit Gewalt gedroht. Ich glaube, damit sind wir endlich quitt. Ich lasse Sie nur lange genug am Leben, um meinem Sohn eine gute Mahlzeit zu liefern. Sie haben eine letzte Gelegenheit, nützlich zu sein. Das ist der edelste Tod, den ich kenne.«
Sie sah ihm nicht in die Augen, als sie fragte: »Wie wäre es mit einem letzten Wunsch?« »Das ist nur fair«, erwiderte er nach einer langen Pause. »Ich bin kein unvernünftiger Mann. Und ganz gleich, wie oft Ihre Freundin das auch gesagt haben mag, ich bin kein Arschloch.« Sie sah ihn an. »Sie haben Ihre Frau und Ihren Bruder getötet, weil Sie das mussten, um zu überleben. Ihnen war klar, dass Sie allein nicht überleben würden. Also sind Sie zu jedem gegangen, den Sie je geliebt haben, vielleicht zu jedem, von dem Sie glaubten, ihn für die Ewigkeit ertragen zu können. 173 Sie haben Raleigh gewonnen, und ich bezweifle nicht, dass Sie auch Simon überzeugen werden.« »Ja«, sagte Jameson. »Ich habe Sie nie gebeten, mich zu mögen«, fuhr Caxton fort. »Ich glaube auch nicht, dass Sie das je getan haben. Vielleicht haben Sie mich respektiert, jedenfalls ein bisschen. Widerstrebend. Aber, Jameson, ich will nicht sterben.« Sie schloss die Augen und sackte in sich zusammen. Die ganze Ansprache machte sie schwindelig. Sie hätte wirklich ihre Luft sparen sollen. Was sie nun sagen würde, würde mit ziemlicher Sicherheit reine Atemverschwendung sein. »Ich will leben«, sagte sie und öffnete ruckartig die Augen. »Ich will bis in alle Ewigkeit leben.«
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Jameson starrte sie aus weit aufgerissenen roten Augen f%% an. Dann öffnete er den Mund, zeigte Reihen rasiermesserscharfer Zähne, und fing an zu lachen. Caxton konnte sich nicht daran erinnern, ihn jemals lachen gehört zu haben, als er noch unter den Lebenden geweilt hatte. Als Untoter war das Lachen ein trockener, knisternder Laut, der von den Felswänden zurückhallte. Sie rechnete damit, mit einem schnellen Hieb zu Boden geschlagen zu werden; vielleicht würde er sie auch in Stücke reißen und ihr Blut auf der Stelle trinken. Er tat es nicht. Stattdessen trat er einen Schritt zurück und musterte sie von oben bis unten, als wollte er ihren Wert einschätzen. Sie versuchte, zusätzliche zündende Argumente zu finden, warum sie einen guten Vampir abgeben würde. Aber es fiel ihr nichts ein. »Nein, Daddy«, rief Raleigh, eilte an Caxton vorbei und 173 stieß sie dabei beinahe um. Das Mädchen versuchte Jameson zu umarmen, doch er hielt sie auf Armeslänge von sich. »Nein«, wiederholte sie. »Schlimm genug, dass ich die Ewigkeit mit Simon verbringen muss, aber... sie?« Jameson schaute auf seine Tochter herab. Ihm war entgangen, was passiert war, als Raleigh an Caxton vorbeigerannt war. Die Vampirin hatte es ebenfalls nicht bemerkt. Und falls es einem der Halbtoten aufgefallen war, waren sie zu diszipliniert, um etwas zu sagen. Caxtons Beretta hatte noch immer aus der Seite von Raleighs Schutzweste geragt, wo sie sie unter den Riemen geschoben hatte, nachdem sie sechzehn Schuss abgefeuert hatte. Es überraschte Caxton etwas, dass sie nicht auf dem Weg zur Gruft herausgerutscht war. Und so schwach und atemlos Caxton auch sein mochte, es war ganz einfach gewesen, nach dem Pistolengriff zu greifen, als sich die Vampirin an ihr vorbeigedrängt hatte, und die Waffe aus dem provisorischen Holster zu ziehen. »Es könnten nur du und ich sein!«, seufzte Raleigh. »Für alle Ewigkeit. Warum sollen wir unser Blut mit ihr teilen? Warum? Wo sie doch so oft versucht hat, dich zu töten? Sie hätte mich auf dem Polizeirevier lebendig verbrannt, wenn sie das gedurft hätte.«
Caxton verschwendete den Bruchteil einer Sekunde damit, den Sicherungshebel zu überprüfen. Die Waffe war noch immer entsichert, weil Raleigh sie für nutzlos gehalten hatte. Was auch so gut wie stimmte. Caxton hob die Beretta im Beid-handgriff und zielte auf Jamesons Traumaplatte. Sie zögerte einen weiteren Sekundenbruchteil. Sie war sich nicht sicher, ob die Kugeln die Stahlplatte tatsächlich durchschlagen würden, und sie hatte nur eine Chance. Raleigh andererseits drehte ihr den Rücken zu. Auf der Rückseite ihrer Weste hing keine Traumaplatte. 174 Caxtons Leben würde nur noch so lange dauern, bis einem der Vampire auffiel, was sie da gerade tat. Ihr blieb nicht die Zeit, ihren nächsten Zug zu planen, da war nur der Gedanke, dass es ein gutes Vermächtnis sein würde, die Welt mit einem Vampir weniger darin zu verlassen. Sie hielt den Atem an und drückte ab. Jameson und Raleigh schrien beide vor Überraschung und Wut auf. Die Vampirin warf die Arme um den Hals ihres Vaters und sackte in dem Augenblick gegen seine Brust, in dem ein Loch in die Rückseite ihrer Weste gesprengt wurde, direkt zwischen ihrem Rückgrat und dem linken Schulterblatt. Weißer Dunst zischte aus der Wunde und versprühte winzige Twaron-Fragmente und Knochensplitter. Sie rutschte an ihrem Vater herab und sackte zu Boden. Ihre Augen standen weit aufgerissen, ihre Hände krallten ins Leere. Ihr ganzer Körper zitterte plötzlich so stark, dass Caxton nur durch Zufall sah, dass die Traumaplatte von hinten ausgebeult war. Die Teflonkugel hatte ihren Körper durchschlagen. Die Platte fast auch. Jameson starrte an seiner Brust herab. Seine Weste wies tatsächlich eine Delle auf aber auf der rechten Seite, wo es sowieso keinen Schaden hätte anrichten können. Dann hob er den Blick und fauchte vor Wut. Caxton fühlte, wie sich sein Bewusstsein durch ihre Augen in ihr Inneres bohrte, wie ein außer Kontrolle geratener Zug in einen Tunnel, aber sie hielt bereits das Amulett um ihren Hals fest umklammert. Es wurde glühend heiß, und dann war er verschwunden, der geistige Angriff abgewehrt, bevor er überhaupt richtig begonnen hatte. Er zuckte zurück, als hätte er einen Schlag erhalten. Caxton nutzte den Augenblick der Überraschung und des Entsetzens, um zurückzuweichen. Sie stolperte nach hinten, auf den Durchgang in ihrem Rücken zu. Sie mied den Blick auf Jamesons Gesicht. Da richtete er sich wieder zu seiner 174 vollen Größe auf und stapfte auf sie zu. Sie hob die Beretta und zielte auf sein Herz. »Sie hat die Waffe entladen«, schrie er. »Ich habe gehört, wie sie schoss, bis sie leer war!« »Neues Modell«, erwiderte sie und versuchte ganz ruhig zu atmen. »Größeres Magazin.« Die Beretta 92, die sie seit ihrem ersten Tag als State Trooper getragen hatte, lud ein Magazin mit fünfzehn Patronen. Jameson hatte diese Waffe während ihrer Zusammenarbeit tausendmal gesehen. Er war natürlich von der Annahme ausgegangen, dass sie noch immer die gleiche Waffe benutzte. Er wusste nicht, dass das neue Modell siebzehn Kugeln verschoss. Jameson nickte bedächtig, als hätte sie ihn endlich beeindruckt. Vielleicht zum ersten Mal. »Aber jetzt haben Sie keine Munition mehr.« »Es sei denn, ich hätte eine Patrone in die Kammer geladen, bevor ich hier runterkam«, meinte Caxton und hielt die Waffe auch weiterhin auf ihn gerichtet. »Das wäre doch klug gewesen, finden Sie nicht?«
Bevor sie Jameson kennengelernt hatte, bevor sie je an einem Vampirfall gearbeitet hatte, hatte sie immer eine Patrone in der Kammer gehabt. Auf diese Weise konnte sie sofort schießen, nachdem sie die Waffe zog, und musste vorher nicht durchladen. Jameson andererseits war nie mit einer durchgeladenen und gespannten Waffe unterwegs gewesen. Für ihn wäre es das Gleiche gewesen, wie ohne Sicherheitsgurt zu fahren. Er war so viele Jahre vor ihr zur Polizei gekommen, und damals waren Handfeuerwaffen gelegentlich auch mal von selbst losgegangen. Heutzutage passierte das zwar so gut wie nie, aber Jameson war schon immer beinahe krankhaft vorsichtig gewesen. Doch er hatte keine Ahnung - und soweit es Caxton betraf, musste er auch nicht wissen -, dass sie so sehr zu ihm aufge 175 schaut hatte, dass sie ihn in jeder Kleinigkeit imitierte und ebenfalls keine Patrone mehr in der Kammer trug. Sie hatte es sich tatsächlich abgewöhnt. Die Waffe war leer geschossen. »Klug?«, sagte er und machte einen Schritt zur Seite. Dabei war er so anmutig, dass es mehr so aussah, als würde er wie ein Eisläufer über den Boden gleiten. »Sie verhalten sich also neuerdings klug? Klug wäre es gewesen, sofort zu schießen, statt dort herumzustehen und davon zu reden.« Und er sprang, erhob sich mühelos in die Luft und kam auf sie zu, gewaltig und unüberwindbar. Jedes Ausweichmanöver wäre sinnlos gewesen - er war einfach zu schnell. Stattdessen stach sie mit der Beretta wie mit einem Messer in seine Richtung und drückte erneut ab. Instinktiv riss er die Hände hoch, um sein Gesicht zu schützen, und landete nur Zentimeter zu kurz. Die Waffe feuerte nicht - der Abzug ließ sich nicht einmal durchziehen -, aber er hatte gerade noch lange genug Zweifel gehabt: vorläufig überlebte sie den Angriff. Wollte sie am Leben bleiben, musste sie rennen. Sie rannte.
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Caxton hatte sich bestenfalls eine oder zwei Sekunden erkauft. Das wusste sie. Jameson würde nicht aufhören, um seine Tochter zu trauern, nicht bis Caxton tot war - und er würde ihr keine weitere Gelegenheit für irgendwelche Tricks geben. Sie wusste auch, dass er sie nicht selbst verfolgen würde, zumindest nicht sofort. Zuerst würde er seine Halbtoten losschicken. Das war eine uralte Taktik der Vampire, eine von vielen, 175 die er schon studiert hatte, als er noch am Leben gewesen war und gegen sie gekämpft hatte. Entwaffnet, kaum in der Lage zu atmen, schwach und allein hatte Caxton bewiesen, dass sie gefährlich war, wenn man sie in die Ecke drängte. Die Halbtoten würden sie mürbe machen, sie vielleicht sogar verwunden - und dann würde er kommen und ihr den Rest geben. Aber selbst ohne Kugeln war sie nicht ganz hilflos. Im Laufen zog sie den ASPSchlagstock vom Gürtel und ließ ihn aufschnappen. Das beschwerte Ende pendelte an ihrer Seite, als sie den Korridor entlangeilte. Sie hatte auch noch ihre anderen CopSpielzeuge, für die sie genau wie für den Schlagstock Ersatz mitgeführt hatte, von denen einige nützlicher waren als andere. Zahllose Abzweigungen glitten an ihr vorbei. Alle waren sie finster; einige stießen ihr heißen Dampf entgegen, andere waren kühl und leer. Sie alle waren verführerisch. In dem hell erleuchteten Hauptkorridor fühlte sie sich verletzlicher. Aber bevor sie den Hauptgang verlassen konnte, musste sie erst einmal zu Atem kommen. In den
verräucherten Stollen bedeutete das vor allem eines - sie musste wieder an ihren Rucksack heran. Er lag genau dort, wo Raleigh ihn hingeworfen hatte, etwa auf der Hälfte des Ganges, der zu dem illegalen Eingang führte. Als Caxton ihn vom Boden aufhob, schaute sie in die Richtung der Kammer, in der Raleigh ihre Waffe beinahe ganz geleert hatte. Der Gedanke, einfach dort hinzulaufen, durch die Falltür zu klettern und zu ihrem Auto zu flüchten, war äußerst verlockend. Im Kofferraum lag Munition, eine Handvoll Teflongeschosse und eine unangebrochene Packung normaler Kugeln. Die konnte sie jetzt mehr als dringend gebrauchen. Aber da gab es nur ein Problem - die Halbtoten hatten sie beinahe schon eingeholt. Sie konnte sie hören; ihre Schritte ertönten hinter einer Biegung, die sie vor ihrer Sicht 176 verbarg. Unmöglich konnte sie den Eingang erreichen und es bis an die Oberfläche schaffen, bevor sie sie stellten. Womit nur eine Möglichkeit blieb. Sie duckte sich in einen Nebenstollen, der leer und weniger verräuchert aussah als der Rest, und drückte sich mit dem Rücken an die Wand. So leise wie möglich öffnete sie den Rucksack und zog das Notfallatemgerät hervor. Es setzte sich aus zwei Teilen zusammen, einer Gesichtsmaske und einer Sauerstoffflasche, die man an den Gürtel klemmte. Sie schob sie sich über das Gesicht und drehte das Ventil, dann atmete sie ein, bis der pure Sauerstoff kam, so rein und süß, dass ihr beinahe schwindlig wurde. Sie schloss die Augen und gab sich einen Augenblick lang nur dem Atmen hin. Der Rucksack glitt aus ihren Fingern und krachte zu Boden. »Hast du das gehört?«, flüsterte eine schrille, beinahe keckernde Stimme, die sie nur zu gut kannte. Der Halbtote flüsterte zwar, aber in den Stollen herrschte eine seltsame Akustik. Caxton vermochte nicht zu sagen, aus welcher Richtung die Stimme gekommen war, aber sie konnte sie deutlich hören. Es kam keine Erwiderung. Normalerweise verrieten sich die Halbtoten, weil sie zu viel redeten - es waren ja feige Kreaturen, die ständige Ermunterung brauchten, um sich auf ihre Aufgaben konzentrieren zu können. Aber dieser Haufen war dafür wohl zu gut ausgebildet. Sie versuchte ihre Schritte zu hören, das Rascheln ihrer Kleidung. Stattdessen hörte sie nur den eigenen Atem, der in der Maske zischte. Sie mussten ganz in der Nähe sein. Sie waren nur wenige Sekunden hinter ihr gewesen, bevor sie in dem Stollen verschwunden war. Sie machte sich bereit, wartete zehn Herzschläge ab, dann zwang sie sich, noch zehn weitere zu warten. Ihr Puls raste so schnell, dass er nicht länger ein verlässlicher Zeitmesser war. Sie glaubte direkt um die Ecke eine Gummisohle quietschen zu hören. Das war das beste Zeichen, das sie bekommen 176 würde. Sie schwang sich in den erleuchteten Korridor, und der Schlagstock pfiff im tödlichen Bogen durch die Luft. Der Halbtote war da - etwa fünfzehn Zentimeter von der Stelle entfernt, wo sie ihn erwartet hatte. Der Schlagstock krachte so hart gegen den Felsen, dass ihr Armknochen vibrierte. Der Halbtote grinste hämisch, sein zerfetztes Gesicht riss buchstäblich weiter auf. Er hielt eine Schaufel und holte zum Gegenangriff aus, dem Caxton nicht hätte ausweichen können. Mit der freien Hand schnappte sie sich das Pfefferspray, riss es hoch und spritzte den Reizstoff in das ruinierte Gesicht. Der Halbtote brüllte auf. Caxton hielt sich nicht damit auf zu sehen, ob hinter ihm noch andere kamen. Sie wirbelte herum und tauchte wieder in den dunklen Gang ein, schnappte sich den Rucksack und lief los.
Das Licht aus dem Korridor hinter ihr erhellte die Wände auf beiden Seiten, die blanken Oberflächen, die zurückgeblieben waren, nachdem die Kohlenhobel sämtliche Kohle abgeschält hatten, an die sie herankamen. Bergleute bezeichneten diese Wandflächen als Stoß, und sie wussten, dass man sie im Auge behalten mussten - die Wände bestanden nicht aus solidem Felsen, sondern aus einer Vermischung vieler verschiedener Gesteinsarten, die von ihrem eigenen Gewicht zusammengedrückt wurden. Zu jeder Zeit konnten Brocken abfallen, manchmal tonnenschwer. Geröll und Schutt übersäten den Boden. Caxton musste vorsichtig sein, damit sie nicht stolperte und sich das Bein brach. An den Seiten stapelten sich Säcke voller Ausrüstung, zurückgelassenes Werkzeug und ineinander verschlungene Schläuche und Kabel. Das Licht fiel auf einen weggeworfenen Handschuh mit reflektierenden Streifen, gepudert mit Kohlen- und Steinstaub. Vermutlich lag er schon seit Jahrzehnten ungestört da. Der Stollen wand sich vom Hauptkorridor fort und folgte 177 einem vor langer Zeit versiegten Kohleflöz. Das Licht reichte nur bis zur ersten Biegung. Bald war Caxton in eine Dunkelheit eingetaucht, die so dicht war, dass ihre Augen schmerzten. Ihr blieb nichts anderes übrig, als die Pistole zu ziehen und die unter dem Lauf angebrachte Lampe einzuschalten. Die Batterien hielten eine Stunde. Der Sauerstofftank an ihrem Gürtel, der bei jedem Schritt gegen ihr Bein schlug, würde nicht einmal so lange reichen. Falls ihr in diesen stygischen Gängen das Licht ausginge - nun, sollte sie in einer Stunde noch leben, dann konnte sie sich dann darüber Sorgen machen. Die Halbtoten verfolgten sie weiter. Einer von ihnen musste gesehen haben, wie ihre Lampe aufflammte. Sie konnte ihren Jubel hören. Und sie wusste, was sie nun zu tun hatte. Als sie sie einholten - sie waren zu dritt und bewegten sich langsam, ihre Hände waren dreckig, weil sie sich an den Wänden entlangtasteten -, rechneten sie vermutlich damit, von ihr geblendet zu werden. Aber sie hatte die Lampe ausgeschaltet und lauerte hinter einem Felsblock, der doppelt so groß war wie sie selbst. Die Halbtoten passierten Caxton - sie konnte jeden ihrer Schritte hören. Dann sprang sie auf und ließ das Licht wieder aufflammen. Obwohl sie kaum etwas sehen konnte, zerschmetterte sie einem Halbtoten mit einem faustgroßen Stein den Schädel. Er war noch nicht zusammengebrochen, da schleuderte sie den Stein wie einen Softball und traf einen anderen im Magen. Er ließ eine kurzschäftige Spitzhacke fallen. Der Dritte rannte auf sie zu, und sie zertrümmerte ihm mit dem Schlagstock die linke Kniescheibe. Ein weiterer Halbtoter war den anderen in einem Abstand gefolgt. Beinahe hätte Caxton ihn übersehen, aber als er die Schreie seiner Gefährten vernahm, eilte er herbei. Er hielt eine Brechstange, eine einen Meter lange Eisenstange mit angespitztem Ende. Er schwang sie wie ein Schwert. 177 Caxton bekam ihre Waffe kaum noch rechtzeitig hoch. Die Brechstange wog bedeutend mehr als der Schlagstock, und jene hatte genug Schwung, um Caxtons Schulter zu treffen und ein taubes Gefühl zu hinterlassen. Wenigstens hatte sie den Schlag teilweise abwehren können - er hatte auf ihren Kopf gezielt. Der Halbtote stieß ihr sein zerstörtes Antlitz entgegen: die abgebrochenen Zähne glitzerten im Licht der Lampe. Er drängte sie gegen die Wand, stemmte die Brechstange gegen ihren Schlagstock, um sie zu entwaffnen. Caxton hieb ihm den Pistolenknauf gegen die Schläfe und schickte lange Schatten und Lichtfragmente über die Wände, beleuchtete die Kohle, die wie Diamantenstaub funkelte. Der Griff um die Brechstange lockerte sich, der Halbtote sackte mit verdrehten Augen und eingeschlagenem Schädel zusammen.
Angeekelt stieß sie ihn von sich, dann tastete sie ihre Schulter ab. Der Schmerz hielt sich in Grenzen, was ein schlechtes Zeichen war. Hätte sie sich die Zeit genommen, um unter den Ärmel zu schauen, hätte sie zusehen können, wie sich da bereits eine hässliche Schwellung bildete - davon war sie überzeugt. Aber diese Zeit fehlte ihr jetzt. Mit der unversehrten Hand hob sie die Brechstange auf und ging zu der Stelle, an der die anderen Halbtoten lagen. Einer hatte ein eingeschlagenes Gesicht und regte sich nicht. Die anderen beiden wimmerten und versuchten wegzukriechen. Sie hieb so lange auf ihre Schädel ein, bis sie sich nicht mehr rührten. Der Schlagstock hatte eine böse Delle in der Mitte, wo ihn die Brechstange getroffen hatte. Er ließ sich nicht wieder zusammenschieben. Sollte sie ihn noch einmal benutzen, würde er sich möglicherweise im genau falschen Augenblick verbiegen, das war ihr klar. Also warf sie ihn weg. Das Gewicht der Brechstange und ihr spitzes Ende gefielen ihr zwar, andererseits war sie zu schwer und ihr linker Arm wollte ihr 178 kaum gehorchen. Sie konnte die Hand nicht richtig schließen. Vermutlich war ihre Schulter ausgekugelt oder sogar gebrochen. Die Taubheit bedeutete möglicherweise einen Nervenschaden. Nichts Tödliches. Mit der Rechten hob sie die Spitzhacke mit dem kurzen Stiel auf und prüfte ihr Gewicht. Das musste reichen. Die Pistole - und die kostbare Lampe - konnte sie in der linken Hand tragen und hoffen, dass sie sie nicht fallen ließ. Sie musste wieder in Bewegung kommen. Vielleicht konnte sie einen anderen Ausgang aus dem Bergwerk finden, auch wenn sie es bezweifelte. Aber vielleicht konnte sie die Verfolger bis zur Morgendämmerung auch abschütteln, wenn sie schnell genug war. Doch der Morgen war noch Stunden entfernt. Oder sie konnte sich in den lichtlosen Stollen verirren und schließlich entweder ersticken oder verdursten. Sie ging weiter. Der Stollen senkte sich ab und folgte dem Flöz. Die Temperatur stieg ständig, bis Caxton das Gefühl hatte, einen großen Ofen zu betreten. Sie fürchtete zu wissen, was das bedeutete. Ein paar kostbare Sekunden opfernd öffnete sie den Rucksack und holte den Nomex-Anzug hervor. Nur mühsam schaffte sie es mit ihren anderthalb funktionierenden Händen, ihn überzustreifen und die Klettverschlüsse der Stormflaps zu schließen. Sie bekam weder den Gesichtsschutz noch die Stiefel an - und hatte sowieso keine Zeit dafür. Als sie die Handschuhe überstreifte, entdeckte sie, dass sie ihre linke Hand völlig unbrauchbar machten, also ließ sie sie zurück. Sie ging weiter, und in dem Anzug brach ihr sofort der Schweiß aus. Aber sie bereute es nicht, ihn angezogen zu haben, denn hundert Meter weiter schien das Licht ihrer Lampe die Farbe zu verändern. Mit jedem weiteren Schritt nahm es zusehends einen roten Farbton an. Versuchsweise schaltete sie die Lampe aus. Vor ihr erfüllte ein schwaches, sehr mattes orangefarbenes Glühen den Stollen. Es erhellte 178
den in der Luft tanzenden Staub und ließ ihn funkeln. Noch ein paar Schritte, und sie fing an, das Tosen zu hören. In der Mitte des Ganges stand ein Sägebock. Darauf hatte man eine Signallampe montiert, aber die Batterien waren schon Vorjahren versiegt. Hinter dem Sägebock war ein sauber gezogener Spalt quer über den Felsboden zu sehen, eine drei Meter breite Lücke, die Caxton nicht überwinden konnte. Schwarzer, mit rot glühenden Funken durchsetzter Rauch quoll aus der Öffnung empor und zog durch einen weiteren Spalt in der Decke ab. Caxtons Brauen kräuselten sich angesenkt, als sie einen Blick über die Absperrung warf und sich dabei so wenig wie möglich vorbeugte. In dem kurzen Moment, den sie sich gestattete, schaute sie mitten in das Feuer hinein, das die Minen von Centralia in Besitz
genommen hatte. Durch den Rauch konnte sie nichts als ein orangerotes Glühen ausmachen, das pulsierte und spuckte und zerplatzte, als die Kohle dort unten den höllischen Flammen erlag. Diese Bodenspalte konnte sie nicht überspringen. Und selbst wenn sie es geschafft hätte, wäre sie mitten im Sprung geröstet worden. Der Weg, den sie gewählt hatte, war also eine Sackgasse.
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Caxton blieb keine Wahl. Sie wich vor dem Spalt zurück. Der Schweiß auf ihrem Gesicht trocknete auf der Stelle zu einer Salzmaske. Der Nomex-Anzug schützte den Rest ihres Körpers vor der Hitze, trotzdem fühlte sie sich erschöpft und unbeholfen, und ihre Schulter hatte angefangen richtig zu schmerzen. 179 Sie wusste nicht, was sie noch tun konnte. Die Möglichkeiten, die ihr einfielen, waren begrenzt. Sie konnte zurück zum Hauptkorridor gehen, und wenn sie das Glück hatte, dort unbeschadet anzukommen, konnte sie es mit einem anderen dunklen Stollen versuchen. Sie konnte eine Stelle im Stoß finden, wo sich die Kohle vom Felsen gelöst und vielleicht eine Nische geschaffen hatte, die groß genug war, um sich dort zu verstecken. Sie konnte... Leise Schritte ertönten, sie schaltete blitzartig die Lampe aus und drückte sich gegen die Wand. Das orangerote Licht, das zur Decke strömte, reichte gerade eben aus, um etwas sehen zu können, und da waren die Umrisse von Schatten, die sich die Wände entlangschoben... ja. Dort. Vier Halbtote waren vernichtet, dafür hatte sie gesorgt. Der Fünfte musste der sein, den sie mit Pfefferspray besprüht hatte. Ein menschliches Wesen, das so viel Spray in die Augen abbekommen hatte, würde sich noch immer vor Schmerzen auf dem Boden wälzen. Vielleicht waren Halbtote ja zäher als Menschen, dachte sie. Vielleicht hatte er aber auch bloß genug Angst vor seinem Herrn, um trotz der Qualen einfach weiterzumachen. Caxton ging in die Hocke und fasste die Spitzhacke anders. Sie war bereits verletzt - ihr linker Arm zuckte vor Schmerzen -, und sie konnte sich keine weitere Wunde mehr leisten, nicht, wenn sie sich noch Jameson stellen musste. Sie beobachtete die Schatten und lauschte den Echos, plante minutiös den Angriff. Sie würde die Hacke nach oben schwingen und den Halbtoten im Magen erwischen, mit einem Schlag, der ihn von den Beinen holen würde, damit sie ihm dann ungefährdet den Rest geben konnte. Die Schritte näherten sich. Jetzt. Caxton sprang mit einem Schrei in die Höhe und schwang ihre Waffe. Die Spitzhacke traf auf Fleisch, bohrte sich durch Muskeln 179 und tote, reglose innere Organe. Die Spitze kollidierte tief im Körper des Halbtoten mit Knochen, und Caxton glaubte schon, ihn doch mit einem Schlag getötet zu haben. Da gab es nur ein Problem. Sie hatte gar keinen Halbtoten getroffen. Es war Jameson selbst. Der Vampir brüllte seinen Schmerz hinaus und starrte auf seinen Bauch. Die Spitze war direkt durch den Hosenbund in sein Fleisch gedrungen, aber Muskeln und Sehnen wuchsen schon wieder zusammen. Haut wucherte über die Hacke. Nur mit Mühe hebelte Caxton sie wieder frei, bevor ihr die heilende Wunde die Waffe aus der Hand riss. Jameson starte mit funkelnden roten Augen auf sie herab. Er griff nach ihr, und sie schwang die Spitzhacke erneut. Dieses Mal drang die Spitze durch seine Weste, direkt unter der Traumaplatte. Twaron bot nur geringen Schutz gegen Messer oder
Holzpflöcke, genau wie der Waffenwart gesagt hatte. Die Spitzhacke zerteilte mühelos die kugelresistenten Fasern und durchbohrte Jamesons Brustkorb. Sie verfehlte das Herz nur um Zentimeter. Caxton riss die Waffe heraus und stolperte so schnell rückwärts, wie sie nur konnte. Jameson schloss mühelos die Lücke. Sie holte ein drittes Mal aus - und seine verstümmelte, fingerlose Hand schnellte nach oben, und die Spitzhacke durchbohrte den Handteller. Jameson grunzte leise und ärgerlich. Caxton zerrte an der Spitzhacke, um sie erneut zu schwingen, bekam sie aber nicht mehr frei. Jamesons intakte Hand legte sich um den Griff und nahm ihn ihr mühelos ab. Dann befreite er sich von der Spitzhacke. Statt sie so herauszuziehen, wie sie eingedrungen war, zerrte er sie einfach nach vorn, durch Knochen und Muskeln und die runden Stümpfe seiner fehlenden Finger. Die Hand wedelte wie totes Fleisch herum, bis fast zum Gelenk in zwei Teile gerissen. Er schüttelte sie wild, und 180 als er damit aufhörte, war die Wunde wieder völlig geheilt. Er drehte sich um und schleuderte die Spitzhacke gegen die Wand. Sie bohrte sich in weiche Kohle, und zwar so tief, dass Caxton wusste: sie würde sie nie wieder herausziehen können. Dann beugte er sich vor, hob sie mühelos an und warf sie gegen die Stollenwand. Caxton machte sich so schlaff wie möglich und verteilte den Schmerz des Aufpralls über den größten Teil ihres Körpers. Hätte sie das nicht getan, wäre sie hart genug gelandet, um sich das Rückgrat zu brechen. Man hatte sie schon zuvor auf diese Weise durch die Luft geworfen, dabei hatte sie gelernt, wie sie den Sturz abfangen musste. Wie eine knochenlose Stoffpuppe landete sie auf dem Boden und spannte die Beinmuskeln an, um sich zur Seite zu rollen, sobald Jameson den Angriff fortsetzte. Natürlich wusste er, dass sie genau damit rechnete. Und statt anzugreifen machte er einen Schritt zurück. Sie kämpfte sich in die Höhe - nicht einmal annähernd so schnell oder so anmutig, wie sie es gern getan hätte - und kam schwankend auf die Füße. Die Atemmaske war verrutscht, also griff sie danach, um sie zu richten. Jameson ließ sie gewähren. Ihr linker Arm war ein einziger, tobender Schmerz und verweigerte jeden Befehl. Ihre Beine bewegten sich aber noch. Sie führte einen heimtückischen Roundhouse-Kick gegen Jame-sons Gesicht, aber er zog im letzten Moment den Kopf zurück und schnappte sich ihren Knöchel, riss ihn in die Höhe, und sie landete erneut auf dem Felsboden. Wieder bereitete sie sich auf seinen Angriff vor, und als er ausblieb, kämpfte sie sich erneut langsam auf die Füße und stützte sich an der Wand ab. Er hatte keine Augenbrauen mehr, die er heben konnte, aber seine Augen weiteten sich etwas, nicht überrascht, sondern erwartungsvoll. Er war neugierig, was sie nun vorhaben mochte. Als Lebender hatte er sie dauernd auf diese Weise ange 180 sehen. Sie studiert. Getestet. Es hatte sie immer stinksauer gemacht. Jetzt jagte es ihr nur eine Heidenangst ein. Sie verschwendete keinen Atemzug mit Nachdenken. Sie handelte einfach, riss das Pfefferspray vom Gürtel. Sie hatte keine Ahnung, ob es einem Vampir überhaupt schaden konnte, aber ihr Arm schoss vor, und ihr Daumen senkte sich energisch auf den Auslöser. Bevor das Spray herausschießen konnte, legten sich seine beiden Hände um Dose und Hand und drückten, quetschten ihre Finger gegen den Metallbehälter, rieben ihre Knochen gegeneinander. Die unter Druck stehende Dose gab in ihrer Hand nach und explodierte inmitten einer Pfefferspraywolke. Caxton kniff die Augen zusammen und warf den Kopf zur Seite, um
das Reizmittel nicht ins Gesicht zu bekommen. Der Schmerz in ihrer Hand war erstaunlich - ihr Kopf füllte sich mit Licht, ihr Magen schickte schlagartig seinen Inhalt die Speiseröhre hinauf. Erbrach sie sich in die Atemmaske, würde sie sich verschlucken, das Erbrochene einatmen und möglicherweise daran sterben. Irgendwie meisterte sie also den Schmerz und würgte alles wieder herunter. Als sie die Augen wieder öffnete, kniete sie mit gesenktem Kopf zusammengesunken auf dem Steinboden, die Arme vor sich ausgestreckt. Sie waren so nutzlos wie zwei Stränge Seetang. Die rechte Hand war ein Schmerzklumpen aus Blut und gerissener Haut. Scharfkantige Metallsplitter - alles, was von der Dose übrig geblieben war ragten wie die Blütenblätter einer fremden und bösartigen Blume aus ihrer Handfläche. Jameson kauerte hinter ihr. Er schob ihr sanft das Haar aus dem Nacken, kam näher heran, und sie fühlte, wie seine Zähne die empfindsame Haut dort berührten. Das Gefühl wirkte auf absurde Weise erotisch - wie oft hatte Clara sie dort geküsst, heiß auf ihr Rückgrat geatmet? 181 Ihr blieb keine Zeit mehr, jedenfalls gewiss keine Zeit für sinnlose Gedanken, trotzdem musste sie daran denken, wie Astarte sie beschuldigt hatte, mit Jameson geschlafen zu haben, dass sie eine Affäre gehabt hatten. Hatte Jameson das gewollt? War es ein Wunsch gewesen, den er nie ausgesprochen hatte? Hatte er sie darum so lange am Leben gelassen? Aber das war nicht die Liebkosung eines Geliebten. Das war ein Todeshieb, ein sanfter coup de grace. Er würde seine Zähne in ihrem Nacken versenken und ihr den Hirnstamm herausreißen. Caxton tat das Einzige, das ihr einfiel - und was zugleich das Dümmste war, das ihr einfallen konnte. Sie fuhr herum und schlug ihm die gebrochene Hand ins Gesicht. Vielleicht hoffte sie, die Dosensplitter würden ihn verletzen, aber es war eher wahrscheinlich, dass ihr Unterbewusstsein genau wusste, dass nicht einmal der beherrschteste, kontrollierteste Vampir dem Duft von frischem Menschenblut widerstehen konnte. Jameson wollte einen Satz nach hinten machen, vielleicht spürte er, dass sie noch nicht geschlagen war. Er wich so weit zurück, dass sie wie ein Krebs auf allen vieren zurückkriechen konnte, bis sie sich gegen die Wand lehnte und zu einer halbwegs stehenden Position aufrichtete. Es tat weh. Sie musste weinen, ballte aber die rechte Hand zur Faust, bis frisches Blut aus den Wunden quoll. Dann schlenkerte sie mit der Hand in Jamesons Richtung, und die dunklen Tropfen regneten ihm mitten ins Gesicht. Er warf den Kopf zurück, als wären die Blutstropfen Kugeln gewesen. Sein Mund klaffte auf und enthüllte die zahllosen scharfen Zähne, während seine Augen aussahen, als würden sie gleich aus den Höhlen quellen. Nacktes Verlangen ließ ihn aufbrüllen, reine Blutgier, und sein ganzer Körper spannte sich an, die Arme flogen in die Höhe, seine Finger krallten sich zusammen. Was auch immer in diesem Gehirn und diesem 181 Herzen noch von Jameson Arkeley übrig war, der Fluss aus Blut, der nun durch seine Seele toste, spülte es hinfort. Vor einer langen, sehr langen Zeit hatte er ihr beigebracht, dass zwar die verschiedensten Menschen zu Vampiren wurden, aber sobald sie einmal Blut geschmeckt hatten, gab es nur noch eine Art von ihnen. Kannten sie ausschließlich einen Wesenszug. Alles, was einen Menschen besonders und einzigartig machte Persönlichkeit, Mitgefühl, Leidenschaft und Hass - ging verloren, und nur das bodenlose und unstillbare Verlangen des Vampirs blieb bestehen.
In diesem Augenblick hörte er auf, ihr Mentor oder ihr Partner oder selbst ihr widerstrebender Freund zu sein. Er hörte auf, der Held zu sein, der so viele Killer zur Strecke gebracht hatte, er hörte auf, der Ex-Cop zu sein, der von einem Fall nicht ablassen konnte, er hörte auf, ein Vater oder ein Bruder oder ein Ehemann zu sein. Er hatte ihr Blut geschmeckt, und jetzt bedeutete sie ihm nichts mehr, war nur noch Vieh, war bloß noch Nahrung. So hatte er seinen Bruder und seine Frau und Cady Rourke und Violet und all die anderen, die vielen anderen, töten können. Er war keine Person mehr. Er war ein Raubtier. Und dies war der Moment, in dem er verlor. Jameson Arkeley war ein brillanter Stratege und ein schlauer Ermittler gewesen. Jetzt war er nur noch eine Bestie, ein gieriges, blutgieriges Monster. Er schaute auf sie herab, und sie wusste, er würde sie jeden Augenblick packen und in Stücke reißen. Sie war fast darauf vorbereitet. Sie hielt ihre Pistole in den unbrauchbaren Händen. Kugeln hatte sie keine mehr für ihn, aber sie hatte das Lampenmodul, und sie schaltete es ein. Jamesons Augen hatten sich an das Zwielicht des Bergwerkstollens gewöhnt. Sie reagierten außergewöhnlich empfindlich auf jede Art Licht. Er brüllte auf und schlug den Unterarm vor die Augen, aber die Lampe war nur ein gerin 182 ges Ärgernis - sie konnte ihn nicht verletzen. Er blinzelte ein paarmal, dann sah er Caxton wieder an, nun besser darauf vorbereitet, mit dem Licht zurechtzukommen. Sie ignorierte die Schmerzen und drehte mit dem rechten Daumen eine Wählscheibe, drückte einen anderen Schalter. Der rote Punkt des Laserzielgeräts tanzte über das schwarze Material von Jamesons Schutzweste. Sie hatte ihn auf volle Kraft gestellt, auf ein Energielevel, das ihn Nebel oder Rauch durchschneiden ließ, um ein Hunderte von Metern entferntes Ziel zu markieren. Caxton riss nun die Pistole hoch und fuhr mit dem Laser wie mit einem Messer quer über die Augen des Vampirs. Er heulte auf und schrie, riss mit den Krallen an seinen Augenhöhlen. Seine Augäpfel kochten und rauchten, eine weiße Masse rann seine Wangen hinunter. Das war mehr, als sie sich hätte erhoffen können. Selbst auf volle Kraft gestellt hätte der Laser die Augen eines Menschen kaum mehr als geblendet - bestenfalls hätte er ihn für kurze Zeit erblinden lassen und sein Sichtfeld mit grellen Flecken übersät. Aber Vampire waren Kreaturen der Nacht, dazu verflucht, im Verlauf ihrer Existenz niemals das helle starke Licht der Sonne ertragen zu können. Ihre Augen waren nicht für eine solche Misshandlung geschaffen. Jameson hieb mit der Linken zu, und seine fingerlose Hand schlug ihr die Pistole aus dem schwachen Griff. Das war okay -sie hatte ihren Zweck auch erfüllt. Caxton wankte in die Stollenmitte, stellte sich vor ihn hin, während er blindlings nach ihr schlug. Sie war sich nicht sicher, ob er noch immer ihr Blut wahrnehmen konnte oder nicht. In völliger Finsternis hätte er es sehen können, und möglicherweise brauchte er ja gar keine Augen, um das Blut durch ihre Adern schießen zu sehen. Um 182 ihm den richtigen Weg zu zeigen, schlenkerte sie wieder mit ihrer Hand und verspritzte ihr Blut, erschuf eine Tropfenspur, die er mit Sicherheit riechen konnte. Dann drehte sie sich um und rannte in den Stollen hinein, den Weg, den sie gekommen war, bewegte sich so schnell sie konnte. Natürlich verfolgte er sie. Jetzt wollte er nur noch ihr Blut trinken. Vergessen war sein Sohn, vergessen das Ziel, neue Vampire zu rekrutieren, vergessen war alles bis auf das Blut. Er schnüffelte ihr mit ausgestreckten Händen hinterher, während seine Augen
schon wieder heilten, während weißer Nebel in den Höhlen wogte und die Gestalt von neuen Augäpfeln annahm, mit denen er sein Opfer sehen konnte. Sie hatten es nicht weit. Caxton hatte sich gerade wieder umgedreht und tänzelte rückwärts, als sich der Sägebock in ihre Oberschenkel bohrte und die Lücke im Boden aufklaffte. Der Riss, der auf direktem Weg in das Minenfeuer führte, das mit fünfhundert Grad Celsius brannte. »Komm und hol mich«, grunzte Caxton. Der Vampir gehorchte. Er kam so schnell auf sie zu wie ein galoppierendes Pferd. Im letzten Augenblick warf sie sich zur Seite, und er zerschmetterte den Sägebock in tausend Stücke, während er ihn über den Haufen rannte. In dieser einen Sekunde lief er an ihr vorbei, in der nächsten war er verschwunden. Caxton stolperte an den Rand der Felsspalte. Dort hinunterzusehen würde schmerzen, aber sie musste es wissen. Funken flogen ihr ins Gesicht, versengten ihr Haar, während sie in die Grube starrte. Er hing mit den Fingern seiner unversehrten Hand an der Kante der Bodenspalte, die nackten Füße baumelten über der brennenden Kohle. Seine fingerlose linke Hand hieb hilflos gegen die Wand, unfähig, sich festzuhalten. Wie tief ging es 183 nach unten... neun Meter? Einhundert? Caxton vermochte es nicht zu sagen. Seine roten Augen starrten zu ihr hoch, und sie las das nackte Verlangen darin. Nicht nach ihrer Seele, nur nach ihrem Blut. Er hungerte so sehr nach ihrem Blut, dass er nicht mehr klar denken konnte und gar nicht begriff, was er da tat. Er griff nach ihr, vergaß, dass ihn seine andere Hand nicht halten konnte... ... und stürzte in das Kohlenfeuer. Er schrie nicht auf. Als er auf den Flammen auftraf, teilten sie sich, um ihn zu verschlingen. Sie wirkten wie die Wogen auf einem Feuerfluss, und dann verschwand er darin. Dort unten war es heiß genug, um ihn in wenigen Augenblicken zu Asche zu verbrennen, das wusste Caxton. Heiß genug, um selbst die zähen Muskeln seines Herzens zu verbrennen. Er war tot. Jameson war tot. Aber nein, dachte sie dann - am Ende war er nicht mehr Jameson gewesen. Sie hatte Jameson nicht getötet. Sie hatte nur... einen Vampir getötet. Es war vorbei.
60.
Nichts war vorbei. im Licht der Spalte ging sie den Stollen zurück, soweit das möglich war. Dann ließ sie sich auf Hände und Knie herab und kroch im Staub herum, bis sie die Beretta fand. Sie versuchte die Lampe einzuschalten, aber die Linse war gesplittert, als Jameson sie ihr aus der Hand geschlagen hatte. Jameson - dessen Grab nun für alle Ewigkeit leer bleiben würde. Caxton gestattete sich, eine kurze Zeit zu weinen. Dann fing sie an, darüber nachzudenken, wie sie zu dem beleuchte 183 ten Korridor zurückkommen sollte. Das würde nicht einfach sein. Sie konnte sich nicht mehr erinnern, wie viele Biegungen der Stollen beschrieben hatte. Sie konnte sich auch nicht daran erinnern, ob es Seitengänge gab, die sie aus Zufall betreten und sich dann darin verirren konnte. Sie fing an, sich wirklich zu sorgen. Ihr Sauerstoffvorrat war nur noch gering. Falls sie den beleuchteten Korridor nicht fand, bevor ihr die Luft ausging, falls sie umherwanderte, bis sie nicht länger atmen konnte, bis sie sich hinlegen und einschlafen würde...
Ihre Füße mussten sich an den Weg erinnert haben. Bevor es ihr bewusst wurde, stand sie wieder in der Kammer mit den vielen Ausgängen, in der Simon noch immer an einen Pfosten gekettet war. Dort, wo Raleighs Leiche lag, wo sie gefallen war. Wo vier Särge auf ihre Inspektion warteten. Aber alles der Reihe nach. Caxton nahm die Maske ab und versuchte nicht zu viel Rauch einzuatmen. Sie hielt sie Simon ins Gesicht und gab ihm Sauerstoff, bis er sich regte und dann mühsam die Augen aufschlug. Es war nicht einfach mit zwei übel mitgenommenen Händen, aber sie befreite ihn von den Ketten. Sie überließ ihm den Sauerstoff - er hatte den Rauch viel länger eingeatmet als sie. Dann sank er zu Boden, nicht einmal kräftig genug, um ihr zu danken. Es spielte auch keine Rolle. Sie hatte jetzt Wichtigeres zu tun. Zuerst überprüfte sie Raleighs Leiche. Das Mädchen war tot, zum zweiten Mal tot, endlich tot. Caxtons letzte Kugel musste ihr Herz zerfetzt haben, ihre einzige verwundbare Stelle. Ihr Körper war kalt und reglos. Er fühlte sich noch immer irgendwie falsch und unnatürlich an, als Caxton ihre Haut berührte. Wenigstens konnte ihre Familie etwas begraben. Nicht dass sie noch eine Familie gehabt hätte, abgesehen von ihrem Bruder. Da war noch eine Sache. Caxton trat an die vier Särge. Drei 184 von ihnen waren geschlossen. Sie riss sie auf, beugte sich vor, um zu sehen, was sie enthielten. Alle waren leer. »Nicht schon wieder«, schluchzte Caxton. Es hatte einen fünften Halbtoten gegeben. Der, den sie mit Pfefferspray besprüht hatte. Er musste zurückgekommen sein, um seine Herren zu beschützen. Seine Herrin. Justinia Malvern hatte am Telefon mit Caxton gesprochen. In den vergangenen zwei Monaten hatte sie an Kraft gewonnen, hatte ihren Körper von den Verwüstungen der Jahrhunderte geheilt. Jameson hatte sie mit gestohlenem Blut gefüttert. War sie schon stark genug gewesen, um aus eigener Kraft zu gehen? Vielleicht hatte der Halbtote sie auch einfach weggetragen. Auch das spielte jetzt keine Rolle. In beiden Fällen hätte sie mühelos aus der Mine entkommen können, während Caxton gegen Jameson kämpfte. Malvern war also verschwunden. Sie war wieder entkommen. Dafür hatte sie ein echtes Talent. Caxtons Arbeit war noch nicht vorbei. So schwach und verletzt sie war, zerschlug sie die Särge mit einer verrosteten alten Schaufel in kleine Stücke und stieß dabei Flüche aus, bis ihr Speichel vom Kinn rann. Als sie fertig war, drehte sie sich um. Simon beobachtete sie. Seine Augen waren matt, sein Gesicht mit Kohlenstaub verdreckt, aber er schaffte es, sich ein Stück aufzusetzen. »Sind Sie... okay?«, krächzte er. »Noch nicht«, erwiderte sie. Es gelang ihr, ihn auf die Beine zu stellen, und er konnte sogar vorwärtsstolpern, solange sie ihn mit ihrer tauben Schulter stützte. Zusammen machten sie sich auf den langen und schmerzhaften Weg zurück zu dem illegalen Minenschacht und dem einzigen Ausgang an die Oberfläche. Caxton hatte genügend Zeit darüber nachzudenken, dass Malvern densel184 ben Weg benutzt haben musste, den gleichen endlos langen Gang, gestützt von ihrem Halbtoten, so wie Caxton nun Simon stützte. Am Ende des Ganges stieß Caxton die Falltür auf und half Simon, an die kalte frische Luft zu klettern. Dann zog sie sich in die Höhe und rollte sich auf den Rücken, um einfach nur im Gras zu liegen und in den Himmel zu starren. Simon sackte neben ihr
zusammen, und eine Weile lang atmeten sie bloß die saubere Luft und gönnten ihren Körpern Ruhe. Natürlich konnte das nicht lange gut gehen. Ein Quietschen ertönte, gefolgt von dem Geräusch von Schritten auf Kies und Unkraut. Caxton hatte die Augen geschlossen und war beinahe schon eingeschlafen - doch als zwei auf Hochglanz polierte Schuhe auf ihrer Gesichtshöhe verharrten, schaffte sie es hochzuschießen, während ihre mitgenommenen Hände nach Waffen griffen, die nicht mehr da waren. Aber es war kein Vampir oder Halbtoter oder einer von den Einwohnern von Centralia, die da zu ihr gekommen waren. Es war Fetlock. »Ich habe Simon gerettet. Jameson ist tot«, sagte sie. »Raleigh auch. Malvern ist entkommen, aber wenn Sie mir meinen Stern zurückgeben, werde ich sie finden...« Fetlock schüttelte den Kopf. Es gelang ihm, etwas traurig auszusehen, etwas mitfühlsamer, als sie erwartet hätte. Aber er war noch immer ein Fed, und sie wusste, wozu er gekommen war. Langsam und vorsichtig hob sie die Hände. »Ich weiß, was Sie mit Carboy gemacht haben, Ms Caxton. Mir bleibt keine andere Wahl, als Sie festzunehmen«, sagte er sehr leise. »Sie haben das Recht zu schweigen«, fuhr er dann fort und griff nach den Handschellen am Gürtel. »Alles, was Sie sagen, kann und wird vor Gericht gegen Sie verwendet werden...« I
Danksagung Ich bedanke mich bei Carrie Thornton, Jay Sones und so vielen anderen bei Three Rivers Press, die dieses Buch erst ermöglicht haben. Wie immer erwies mir meine Frau Elisabeth ihre unerschütterliche Unterstützung bei der Arbeit und verdient eine wesentlich größere Dankbarkeit, als ich hier auszudrücken vermag.