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UTOPIE, ESCHATOLOGIE, GESCHICHTSTELEOLOGIE Kritische Untersuchungen zum Ursprung und zum futurischen Denken der Neuzeit
VON WILHELM KAMLAH O. PROFESSOR DER PHILOSOPHIE AN DER UNIVERSITÄT ERLANGEN – NÜRNBERG
BIBLIOGRAPHISCHES INSTITUT • MANNHEIM/WIEN/ ZÜRICH HOCHSCHULTASCHENBÜCHER-VERLAG
Alle Rechte vorbehalten • Nachdruck, auch auszugsweise, verboten © Bibliographisches Institut AG • Mannheim 969 Satz und Druck: Zechnersche Buchdruckerei, Speyer Bindearbeit: Lachenmaier, Reutlingen Printed in Germany A
INHALT Vorwort
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .7
I. KRITIK DER FUTURISCHEN VERNUNFT UND DER SÄKULARISIERUNGSTHEORIEN . . . . . . . . . . . Utopie, Eschatologie, Geschichtsteleologie . . . . . . . . . . . 3 . Die Utopie 5 2. Die Eschatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 3. Futurische Geschichtsdeutungen . . . . . . . . . . . . . . 35 Profanisierung und Säkularisierung . . . . . . . . . . . . . . 53 . Profanisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 2. Kritik der Säkularisierungstheologie . . . . . . . . . . . . 58 3. Säkularisierung (im strengen Sinne) . . . . . . . . . . . .62 II. DIE NEUE PHYSIK UND DAS SELBSTVERTRAUEN DER NEUZEIT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Der Aufbruch der neuen Wissenschaft Descartes’ Descartes-Legende. . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Vom teleologischen Selbstverständnis zum historischen Verständnis der Neuzeit als Zeitalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 . Zeitalter und Zeitabschnitte. . . . . . . . . . . . . . . . .89 2. Neuzeit und Mittelalter, teleologisch und historisch als Zeitalter verstanden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 3. Ursprung und Versagen der Neuzeit und ihrer Vernunft 97
VORWORT Das Bibliographische Institut hat sich entschlossen, neben den philosophischen Lehrbüchern, die unter dem Titel »Systematische Philosophie« zu erscheinen begonnen haben, unter dem Titel »Philosophische Untersuchungen« eine weitere Reihe herauszugeben, die in der Regel geschlossene Untersuchungen zu bestimmten Problemen enthalten wird – wie die am Ende dieses Büchleins angekündigten Arbeiten von Peter Janich und Ivan Glaser –, deren Rahmen aber lose gefügt sein, sowohl Systematisches als auch Historisches zulassen soll. Nur so ist es zu rechtfertigen, daß ich den Reigen nicht mit einer Monographie eröffne, sondern mit einem Bändchen, das seinerseits aus Einzeluntersuchungen zusammengefügt ist. Es handelt sich, zunächst einmal halb metaphorisch gesagt, um terminologische und historische Aufräumungsarbeiten im Umkreis der praktischen Philosophie. Titel und Untertitel weisen auf den Schwerpunkt hin, das Inhaltsverzeichnis gibt vollständig die erörterten Themen an und läßt ihren Zusammenhang schon ungefähr erkennen. Die erste Abhandlung über »Utopie, Eschatologie, Geschichtsteleologie« ist ein Beitrag zur »Kritik der futurischen Vernunft« – diese pointierte Formulierung stammt von einem zustimmenden Leser, meinem Dialogpartner Paul Lorenzen, und gibt präzise die Absicht dieser Untersuchung an: Im Verlauf der Neuzeit ist mehr und mehr ein erschreckendes Dilemma hervorgetreten, das Mißverhältnis von triumphaler geistig-technischer Weltbemächtigung einerseits, menschlichem Versagen, schweren Katastrophen, unabsehbaren Notlagen andererseits. Daraufhin erhebt sich die Frage nach einem überzeugender gelingenden menschlichen Leben, dem auch die ungewöhnlichen neuen Mittel der Weltbemächtigung, statt sich blindlings 6
fortzusteigern, sinnvoller als bisher dienstbar gemapht werden sollten. Diese Frage nach unserer Zukunft umfaßt aber die Frage nach Möglichkeiten, die Zukunft vernünftig zu bedenken, kurz: die Frage nach futurischer Vernunft (im Rahmen von praktischer Vernunft), und beide Fragen verlieren nicht dadurch an Dringlichkeit, daß »Futurologie« heute modisch in aller Munde ist, im Gegenteil. Doch wir sind nicht die ersten, die solche Vernunft suchen. Vielmehr haben wir eine Erbschaft von Anweisungen kritisch zu bewältigen, die sagen, wie ein wohlgelingendes menschlichliches Leben aussehen sollte und wie es herbeizuführen sei. Utopie und Eschatologie gehören zur noch nicht hinlänglich verarbeiteten Erbschaft dieser Anweisungen, desgleichen eine rationale Geschichtsteleologie, die in Vergangenheit und Gegenwart Vorzeichen zu erkennen glaubt: Die Menschheit, schon zur selbständigen Vernunft befreit, sei auf gebahntem Wege und müsse nur rüstig voranschreiten, um demnächst am Ziel zu sein. Es gilt nun, kritisch zu untersuchen und zu unterscheiden, wieweit diese futurische Vernunft der bisherigen Neuzeit vernünftig und wieweit sie unvernünftig war und ist. Nur die Zerstörung der »Anmaßungen der Vernunft«, sagt Kant, vermag die noch unverspielten wahren Möglichkeiten der Vernunft freizulegen. Befreiung der Vernunft zu ihren Möglichkeiten ist die Grundabsicht des neuzeitlichen Denkens von seinem Ursprung her. Dieses Denken emanzipiert sich von der autoritären christlichen Tradition des Mittelalters, die sich darstellt in der »Schule« (Scholastik) und in den »Büchern« (autoritären Texten). Ist aber diese Emanzipation als »Säkularisierung« angemessen zu verstehen? Wird ihre Radikalität so vielleicht unterschätzt? Mit dieser Frage befaßt sich die zweite Abhandlung über »Profani7
sierung und Säkularisierung«. Sie rückt nachträglich eine schon im ersten Aufsatz erörterte Frage – ob wirklich die neuzeitliche Geschichtsteleologie durch Säkularisierung aus der christlichen Geschichtstheologie hervorgegangen sei – in einen größeren Zusammenhang. Auch die beiden anderen Untersuchungen befassen sich kritisch mit der Wegräumung von Hindernissen, nun von Fehlinterpretationen des Ursprungs der neuzeitlichen Vernunft und der Neuzeit selbst. Die erste dieser Fehlinterpretationen geht auf Descartes zurück, also auf einen Forscher und Denker, der zwar zu den Gründern gehört, der Mit- und Nachwelt jedoch eingeredet hat, er allein sei der entscheidende Bahnbrecher – eine Fehldeutung seiner selbst mit der schwerwiegenden Folge eines Fehlansatzes der neuen Philosophie. Der Ursprung des neuen Denkens, das ist nicht allein die Philosophie des Descartes. Der Ursprung der Neuzeit, das ist noch nicht die Reformation. Diese hat die sakrale Lebensordnung des Mittelalters zerschlagen, jedoch keinen Neubau begründet. Das hat erst die »nova scientia« getan. Neuzeit heißt so viel wie: die neue Physik und ihre Folgen. Davon handelt die letzte Abhandlung, die zugleich, nun im Hinblick auf das Wort »Zeitalter«, die Kritik der Geschichtsteleologie wieder aufgreift und noch einmal erkennen läßt, daß und wie »das futurische Denken der Neuzeit« schon im »Ursprung der Neuzeit« angelegt ist. Die hier zusammengefaßten, sich vielfach überschneidenden Untersuchungen machen von Mitteln Gebrauch, die neuerdings durch Logik und Sprachkritik bereitgestellt wurden. Daher erfolgen, zur Orientierung des Lesers, zuweilen Hinweise auf die von Paul Lorenzen und mir im BI veröffentlichte Logische Propädeutik (LP). Ich weiß, daß es Leser geben wird, die einwenden: mit »Logistik« könne man das geschichtliche Leben nicht verstehen, und 8
die Verwendung logischer Zeichen, um gar den Unterschied des Heiligen vom Profanen anzugeben (vgl. unten S. 53), sei vom Teufel. Logische Klärung unseres Redens hat mit »Logistik« nichts zu tun. Die Dinge sind aber zu ernst, als daß wir noch darauf verzichten könnten, so klar und so einfach zu reden wie überhaupt möglich. Der Versuch, die Wörter genau zu nehmen, ist für jeden Versuch, die Sachen klar zu sehen, unerläßlich. Erlangen, im Januar 969
Wilhelm Kamlah
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I. KRITIK DER FUTURISCHEN VERNUNFT UND DER SÄKULARISIERUNGSTHEORIEN
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UTOPIE, ESCHATOLOGIE, GESCHICHTSTELEOLOGIE In Deutschland ist es üblich geworden, jegliches menschliche Hinausdenken und Hinausträumen über die bedrängte Gegenwart unter den Terminus »Utopie« zu stellen und die christliche Eschatologie dann als einen Spezialfall von Utopie zu verstehen. Seit dem ersten Weltkrieg haben deutsche Philosophen, Soziologen, Psychologen ein »utopisches Bewußtsein« überall wiedergefunden, wo jemals Menschen gelebt haben und leben, und Ernst Bloch, der schon 98 den »Geist der Utopie« beschwor, hat dann auch das faszinierende, farbenprächtige Bilderbuch der Hoffnungen bedrängter Menschen als der Erscheinungsformen des Utopischen geschrieben (»Das Prinzip Hoffnung«, auch »das utopische Prinzip« genannt, Vorwort S. 6). »Erscheinungsformen des Utopischen« – ein bildungssprachlicher Ausdruck, den heute jedermann versteht, der aber nur so lange verständlich ist, wie man darauf verzichtet, ihn sprachkritisch zu analysieren. Denn was mag das sein: »das Utopische«? Was sind »Erscheinungsformen« von etwas? Wir reden so, indem wir einen seit Platon in Jahrtausenden ausgebildeten und wild verwucherten Jargon weiterbenutzen, den wir doch endlich abtun und durch eine geklärte neue Sprache ersetzen sollten. Gemeint ist dies: Man soll die Utopie nicht als eine antiquierte, uns nichts mehr angehende Literaturgattung der antiquarischen Historie überlassen, sondern sehen: der bedürftige und leidende Mensch hat zu allen Zeiten und an allen Orten, seit er Mensch ist, d. h. seit er spricht, mittels der Sprache und der Phantasie
Vgl. K. Mannheim, Art. »Utopia« in der Encycl. of the Social Sciences (935), deutsche Übersetzung in: A. Neusüß, Utopie, Begriff und Phänomen des Utopischen (968, mit umfassender Bibliographie), S. 3ff, gefolgt von Kap. I: Erscheinungsformen des Utopischen. 11
seine bedrängte Gegenwart überschritten, sich ein besseres Dasein erdacht und erträumt, und auch die Utopien bezeugen das. Deshalb kann man das Wort »Utopie« dazu benutzen, dieses dem Menschen stets eigene Ausblicken zu benennen. Gewiß, das kann man. Man kann diesen der Historie entnommenen Prädikator in einen anthropologischen Prädikator umwandeln (und hernach erklären, der »Begriff Utopie« werde ansonsten ungebührlich »verengt«). Doch zu fragen bleibt, ob es nicht voreilig war, so zu verfahren. Trägt es zur Klärung unseres Redens bei, wenn dann, zum beliebigen Beispiel, Augustins eschatologische Lehre von der sich nach und nach versammelnden »Bürgerschaft Gottes« (De civitate Dei) neben antiken und humanistischen Texten als »Utopie« erscheint (Bloch: die »zweite berühmteste Utopie der Antike«, S. 554)? Karl M a n n h e i m , der nächst Bloch zu den Vätern des »utopischen Bewußtseins« gehört und erstmalig »Ideologie und Utopie« einander gegenüberstellte, forderte, die Wissenschaften vom Menschen sollten »konstruktive Begriffe« definieren und sich nicht gar zu sehr von der bloß empirischen Geschichtswissenschaft gängeln lassen. In der Tat (so sollte man heute sagen): Alle Wissenschaften vom Menschen, auch die historischen, bedürfen einer anthropologischen Terminologie, die in vorläufigem Entwurf schon ausgebildet sein muß, bevor die besondere historische oder philologische oder soziologische Forschung einsetzt. In einer solchen Anthropologie muß vom bedürftigen, vom leidenden Menschen, der auf ein besseres Dasein ausblickt, die Rede sein, und dieser bedürftige und ausblickende Mensch kommt sowohl in den Utopien als auch in der Eschatologie als auch in den futurischen Geschichtsdeutungen zu Wort, das sei im vorhinein zugestanden und festgehalten. Doch die Frage bleibt: Sind nicht trotz alledem »Utopie« und »Eschatologie« wohl umrissene Gestalten unserer geschichtli12
chen Überlieferung, die wir klar unterscheiden sollten? Und weiter: Eignen sich Termini der empirischen Geschichtswissenschaft überhaupt dazu, in den Vorbau der Anthropologie einzugehen? Liegt hier nicht eine methodische Verwechslung vor, die Mannheims richtiger Intention zuwiderläuft? Hat man in unserem Jahrhundert nicht gar zu leichtfertig und voreilig Termini empirischer Wissenschaften vom Menschen – nicht allein historische, sondern z. B. auch physiologische – zu anthropologischen Grundbegriffen erklärt? Freilich, einer bloß antiquarischen Historie darf die Utopie nicht überlassen bleiben, so wenig wie die Eschatologie. Wir erfahren zwar nicht, wie Wilhelm D i l t h e y meinte, allein aus der Geschichte, »was der Mensch ist«. Aber wir erfahren es a u c h aus der Geschichte – was der Mensch i s t , nicht nur, was er einmal war. Was der Mensch ist, was wir selber sind, was wir in Zukunft sein können, müssen Anthropologie und Geschichtswissenschaft, in methodisch geordnetem Zusammenspiel miteinander und mit anderen Wissenschaften, erfragen, geleitet nicht von einem bloß theoretischen, sondern von einem zugleich praktischen Interesse eben des bedürftigen Menschen, der niemals ein göttlich unbeteiligter Zuschauer seiner selbst und seiner Geschichte sein kann. Zur methodischen Ordnung dieses Zusammenspiels aber haben auch Logik und Sprachkritik das ihrige beizutragen.
. Die Utopie Zunächst das Nötigste zum Terminus »Utopie«: Da der ursprünglich gelehrte Ausdruck »Utopie« von der Bildungssprache seit dem 9. Jahrhundert in die Umgangssprache übergegangen ist – für »Eschatologie« gilt das nicht –, haben 13
wir den Terminus, also den wissenschaftlichen, explizit normierten Prädikator, zu unterscheiden von gleichlautenden G e b r a u c h s p r ä d i k a t o r e n (LP II, 3), in diesem Falle also von den umgangssprachlichen Ausdrücken »Utopie« und »utopisch«. Umgangssprachlich sagen wir z. B.: »dieser Plan ist doch eine Utopie« und meinen damit: »diesen Plan solltest du aufgeben, weil er sich nicht verwirklichen läßt«. Oder wir sagen: »diese Erwartung ist doch gänzlich utopisch«, d. h. sie wird sich nicht erfüllen. Ein utopischer Plan taugt nichts, eine utopische Erwartung lenkt ab vom Nötigen und Möglichen, woraufhin wir auch sagen können: Der Gebrauchsprädikator »utopisch« wird in der Regel pejorativ verwendet. Auch im folgenden werde ich nicht ganz darauf verzichten, gelegentlich den Ausdruck zu gebrauchen: »utopisch im pejorativen Sinne«. Der Gebrauchsprädikator »utopisch« steht in einem leicht aufzuklärenden Verhältnis zum wissenschaftlichen T e r m i n u s »Utopie« 2, auf den es nunmehr ankommen soll. Indessen, haben wir die« Normierung von Termini überhaupt nötig? Kein Physiker würde auf den Gedanken verfallen, er könne wohl bestimmte Termini entbehren. In den sogenannten »Geisteswissenschaften« und zumal in der Geschichtswissenschaft dagegen ist die Neigung noch sehr verbreitet zu sagen: Es kommt uns doch auf die Sachen an und nicht auf die Wörter, auf die res und nicht auf die verba. Gerade wenn wir der wechselhaften Vielfalt des geschichtlichen Lebens gerecht werden wollen, dürfen wir uns nicht an »starre Begriffe« halten. Doch wie soll man von irgendwelchen res anders reden als so, daß man 2
Zur Geschichte der Verwendung des Wortes »Utopie« vgl. R. Falke, Utopie – logische Konstruktion und chimère, ein Begriffswandel, in: Germanischromanische Monatsschrift N. F. 6 (956), S. 76ff. (dieser Aufsatz könnte noch weit aufschlußreicher sein, wenn er in einer logisch geklärten Sprache geschrieben wäre). 14
verba gebraucht? Der Historiker kann und soll zunächst von der Umgangssprache und von ihren elastischen Ausdrücken weitgehend Gebrauch machen. Er kommt weit besser und weit länger mit der Umgangssprache aus als der Physiker oder der Jurist. Jedoch kann auch er der normierten Termini nicht auf die Dauer entraten. Zur Normierung von Termini stehen uns zwei Verfahren zur Verfügung: . das klassische Verfahren der Definition, 2. die Angabe von Beispielen unter zusätzlicher Angabe von Prädikatorenregeln (LP III). Für den Terminus »Utopie« empfiehlt sich das zweite Verfahren – das übrigens im Aufbau der Logik das erste ist – und zwar schon allein deshalb, weil wir Utopien in unserer Geschichte vorfinden, d. h. weil uns die Geschichte reichlich Beispiele von Texten anbietet, die bisher im wissenschaftlichen Sprachgebrauch »Utopien« genannt wurden, und es ist immer zweckmäßig, einen wissenschaftlichen Sprachgebrauch so zu vereinbaren, daß man von einer bisher bewährten Terminologie nur aus guten Gründen abweicht. Historische Beispiele von Utopien finden wir vor seit der ersten, klassischen Utopie des T h o m a s M o r u s (55/6) und seit ihr, genauer: seit dem 7. Jahrhundert, in großer Zahl. Z. B. allein in Frankreich sind im 8. Jahrhundert etwa 40 Utopien veröffentlicht worden3. Thomas Morus gehört dem Humanismus an, die »utopischen Sozialisten« schreiben im 9. Jahrhundert, und wir können sagen: Die Utopie ist in gewisser Weise eine neuzeitliche, dagegen keineswegs eine mittelalterliche Unternehmung menschlichen Denkens, Redens und Schreibens. Was ist nun den neuzeitlichen Utopien in der Weise gemeinsam, daß wir der Angabe von Beispielen angemessene Prädika3
Th. Nipperdey, Die Funktion der Utopie im politischen Denken der Neuzeit, in: Arch. für Kulturgesch. 44 (962), S. 366. R. Falke, Versuch einer Bibliographie der Utopien, in: Roman. Jb. 6 (953/54),S.92ff. 15
toren-regeln hinzufügen können? Halten wir uns zunächst an die Utopie des Thomas Morus4. Ihr Titel lautet bekanntlich: De optimo rei publicae statu deque nova insula Utopia. Hier tritt das Wort »Utopia« nicht als Prädikator, sondern als Eigenname auf, als Name einer neuerdings entdeckten Insel. Jedoch in einer durchaus vertretbaren Weise ist aus diesem Eigennamen »Utopia« späterhin der Prädikator »Utopie« geworden. Denn man versteht unter einer »Utopie« nunmehr einen literarischen Text, der »de optimo rei publicae statu« handelt, und zwar so, daß die Verwirklichung der besten Verfassung des Gemeinwesens fingiert wird, z. B. durch den Bericht eines Reisenden. In Wahrheit ist diese beste Verfassung bisher nirgendwo verwirklicht, vor allem nicht im Lande des jeweiligen Autors, und daher erlaubt sich Morus den ernst gemeinten Scherz, die fingierte Verwirklichung in das Land »Nirgendwo« zu verlegen. Morus läßt seinen Weltreisenden Raphael Hythlodaeus »de moribus et institutis Utopiensium« berichten, von den Sitten und Einrichtungen der Utopier, wofür wir sagen können, in Anknüpfung an das Wort »instituta«: Es wird berichtet von den politischen, wirtschaftlichen, sozialen, rechtlichen, religiösen, wissenschaftlichen I n s t i t u t i o n e n dieser glücklichen Insel (der Prädikator »Institution« soll jetzt also beides umgreifen, sowohl die »instituta« als auch die »mores«). Der mehr oder 4
Wer diese Utopie kennenlernen will, muß sie in extenso lesen (deutsche Übersetzung in: Der utopische Staat: Morus, Campanella, Bacon, hg. von K. J. Heinisch, Rowohlts Klassiker der Literatur und der Wissenschaft). Einen farbigen Bericht über die »Sozialutopien« von Morus bis ins 20. Jahrhundert gibt E. Bloch, Das Prinzip Hoffnung S. 598ff. Auch der historische Überblick von Freyer ist noch immer gut lesbar (H. Freyer, Die politische Insel, 936). Zum Einlesen geeignet ferner: Reise nach« Utopia, Französische Utopien aus drei Jahrhunderten, hg. von W. Krauss (964). Weitere Quellen- und Literaturangaben in der Bibliographie von A. Neusüß. 16
weniger spielerische Entwurf dieser Institutionen aber ist geleitet von der K r i t i k an den Institutionen und Mißständen des damaligen England, und entsprechend verhalten sich Kritik und Entwurf a u c h i n d e n s p ä t e r e n U t o p i e n zueinander. Vorgefundenen, kritikbedürftigen Institutionen werden nicht nur b e s s e r e Institutionen gegenübergestellt, sondern die denkbar besten Institutionen werden ausgemalt und d a m i t der optimus status rei publicae. Im Blick auf die neuzeitlichen Utopien können wir daher die exemplarische Einführung des Prädikators »Utopie« durch Prädikatorenregeln ergänzen, die sich folgendermaßen bündeln lassen: Eine Utopie ist die literarische Fiktion optimaler, ein glückliches Leben ermöglichender Instutitionen eines Gemeinwesens, die faktisch bestehenden Mißständen kritisch gegenübergestellt werden. Ich erinnere noch einmal daran, daß diese Formulierung keine frei entworfene und keine erschöpfende Definition ist, sondern lediglich die Zusammenfassung einiger Prädikatorenregeln, zu der die Kenntnis historischer Beispiele unerläßlich hinzugehört. Wir können aber nach dieser Sprachregelung nunmehr angesichts weiterer literarischer Texte entscheiden, ob wir ihnen den Prädikator »Utopie« zusprechen wollen oder nicht, ohne daß wir bei diesem »Wollen« noch willkürlich verfahren. Z. B. können wir von P l a t o n s »Politeia« jetzt sagen, begründeter Weise sagen: Dieser Text ist per regulas eine Utopie. Zwar werden optimale oder, gleichbedeutend und Platonisch gesprochen, i d e a l e Institutionen einer Polis hier nicht durch den Bericht eines Reisenden fingiert, sondern im Gespräch des Sokrates mit einigen Freunden nach und nach fiktiv aufgebaut. Aber unsere terminologische Vereinbarung ist ja weit genug, einen solchen Fall zuzulassen, und nur so werden wir der Intention des Huma17
nisten Morus gerecht, der zwar auch durch hellenistische Reiseberichte über glückliche Inseln angeregt wurde 5, ausdrücklich aber nur auf Platon hinweist, ähnlich wie B a c o n mit seiner »Nova Atlantis« an die von Platon fingierte Insel »Atlantis« anknüpft. Diese Humanisten verstehen sich als Erneuerer der antiken Literatur und Philosophie. Sie schreiben ihre Utopien z u g l e i c h mit philosophischem und mit literarischem Anspruch, und sie übernehmen dabei, als Handlungsschema (LP III, 6), die r a t i o n a l e K o n s t r u k t i o n e i n e s v o l l k o m m e n e n S y s t e m s v o n I n s t i t u t i o n e n . Auch die gern gewählte literarische Form des Dialogs verrät die beabsichtigte Anknüpfung an Platon. Daß ferner ideale Institutionen phantastisch-spielerisch und doch mit ernster Absicht entworfen werden, ist vielen dieser Utopien und auch den utopischen Dialogen des Platon und des Morus gemeinsam. Faßt man die humanistische Utopie in dieser Weise auf, so befindet man sich auch historisch in nächster Nähe ihres Anliegens, was ich an folgendem Beispiel erläutern möchte: Thomas Morus kritisiert das Strafrecht seiner Zeit. Diebe werden gehängt, diese Strafe ist zu hart und nicht wirksamer, als eine gerechte Strafe wäre. Und sie hindert nicht, daß die Zahl der Diebe zunimmt, weil die Bauern von den Grundherrn, die ihre Schafzucht vergrößern wollen, enteignet und von Haus und Hof vertrieben werden. Die Institution des Eigentums an Grund und Boden wird dadurch nicht besser, sondern schlechter, was auf den Gedanken führt, ob es nicht am besten wäre, das Privateigentum ganz aufzuheben und zur Institution des 5
Man hat sich daran gewöhnt, auch diese Texte (Euhemeros, Jambulos) »Utopien« zu nennen, obwohl die Institutionen darin eine geringe Rolle spielen. Vgl. A. Doren, Wunschräume und Wunschzeiten, in: Vorträge der Bibliothek Warburg 924-25 (927), S. 66f. E. Rohde, Der griechisohe Roman und seine Vorläufer (94), S. 236ff. E. Bloch, a. a. 0. S. 566ff. 18
Gemeinbesitzes überzugehen, wie sie sich in Platons Politeia und in Utopia findet. Das Bild idealer Institutionen soll also die Richtung angeben, in der das Bessere vom Schlechteren unterschieden werden kann. Wörtlich läßt Morus den Raphael Hythlodaeus zur Rechtfertigung dieses Verfahrens sagen (ed. E. Surtz, J. H. Hexter, S. 00,9ff.): »Wenn ich aber von dem spräche, was Plato in seiner Politeia fingiert, oder von dem, was die Utopier in ihrem Gemeinwesen tun, so könnte dies als befremdlich (aliena) erscheinen, obwohl es gewiß besser ist (meliora) (als das uns Gewohnte), sofern es hier (bei uns) Privateigentum einzelner gibt, während dort alles Gemeinbesitz ist« (»dort«, d. h. sowohl in Platons Politeia wie in Utopia). Einige Zeilen weiter heißt es dann: »Müßte man freilich alles als ungewohnt und absurd abtun, was die Verkehrtheit der menschlichen Sitten als abwegig erscheinen läßt, dann müßten wir vor den Christen das meiste verheimlichen, was Christus gelehrt hat … und was doch von den heutigen Sitten noch weit mehr abweicht als meine Rede …«. Den klassischen Autoren spielerisch fingierter Gesamtutopien lag der Gedanke fern, zur revolutionären Verwirklichung ihrer Phantasiegebilde aufzurufen. Platon erhofft die Wende zum Besseren von einem »göttlichen Geschick«, was nicht ausschließt, daß er in Syrakus an Verwirklichung gedacht hat. Morus läßt die Frage nach Verwirklichung ausdrücklich offen. Utopien als A k t i o n s p r o g r a m m e entstanden erst, als man sich seit dem 8. Jahrhundert mehr und mehr dessen bewußt wurde, daß der Mensch die politischen, sozialen, dann auch die wirtschaftlichen Institutionen, in denen er sich vorfindet, nicht einfach hinnehmen muß als sein Schicksal, sondern daß er sie verändern kann. (Da Karl Mannheim unter »Utopien« immer 19
nur geschichtlich wirksame, »seinssprengende Vorstellungen« verstanden hat, wären nach seiner Terminologie – deren Unzweckmäßigkeit sich damit verraten dürfte – die klassischen Utopien überhaupt nicht Utopien gewesen.) Die klassischen Utopien werden also durch den Vorwurf, daß sie sich nicht verwirklichen lassen und daher »utopisch« im umgangssprachlichen Sinne seien, nicht getroffen. Die Utopisten blicken aus auf den denkbar besten Zustand eines Gemeinwesens, indem sie jedenfalls »bessere« von »schlechteren« Institutionen unterscheiden. Sie sind also weit davon entfernt, in der Weise der modernen Staats- und Sozialwissenschaften »rein empirisch« zu forschen und von der wissenschaftlichen Vernunft zu verlangen, sie müsse »wertfrei« verfahren. Vielmehr bewahren und erneuern sie die Tradition der antiken Ethik und Politik, die von jeher nach dem Guten, nach dem Besseren und insbesondere nach der besten politischen Ordnung gefragt hatte. Einig sind sich fast alle antiken und humanistischen Denker in der Verurteilung der Tyrannis, d. h. in der Kritik einer Herrschaft von Menschen über Menschen, deren Sinn im Genuß der Macht als solcher besteht. Vereinzelte griechische Sophisten hatten die Tyrannis verteidigt, und ausgerechnet ein humanistischer Zeitgenosse des Thomas Morus, nämlich M a c c h i a v e l l i , läßt in seinem »Principe« die Unterscheidung zwischen König und Tyrann stillschweigend fallen, indem er nur noch fragt: Wie erwirbt und wie behauptet man die Macht?6 Der Szientismus der modernen wertfreien Staats- und Sozialwissenschaft hat dazu geführt, diesen Ansatz festzuhalten und unter Absehung von wechselnden Zielen der Politik den Staat als pures Herrschaftsgebilde zu verstehen» demgemäß auch politische Geschichte zu schreiben. So imaginär 6
W. Hennis, Politik und praktische Philosophie (963), S. 56ff. 20 20
und zuweilen lächerlich die utopischen Entwürfe jener anderen Humanisten im Umkreis und in der Nachfolge des Erasmus und des Thomas Morus also sein mögen, dies eine haben sie dem Macchiavelli und den meisten modernen Staatstheorien voraus, daß sie unbeirrt versuchen, das Bessere vom Schlechteren zu unterscheiden, das Gegenwärtige zu kritisieren, wohldurchdachte bessere Institutionen zu konstruieren. In welcher Weise aber sind diese Entwürfe wohldurchdacht und wohlbegründet? Hat man nicht immer wieder den Eindruck, daß ihre Autoren sich zwar um Begründungen bemühen, daß sie aber de facto empfehlen, was sie ohne Angabe allgemein einleuchtender Gründe für gut und richtig halten? Platon fingiert, offenkundig seiner Vorliebe für Sparta folgend, eine elitäre Gemeinschaft von »Wächtern«, in der die Familie nicht vorkommt. Dieser Zerstörung der Familie setzt Thomas Morus eine Sozialkonstruktion entgegen, deren beherrschendes Bauelement gerade die Familie ist, so daß man von »Patriarchalismus« bei Morus sprechen konnte. Die Aufhebung des Privateigentums ist beiden Utopien gemeinsam, aber bei Morus ausgedehnt auf das gesamte Gemeinwesen, bei Platon eingeschränkt auf die Führungselite. Dem einen scheint dieses, dem anderen jenes besser zu gefallen, jedoch die Frage: nach welchen allgemein gültigen Maßstäben wird denn das Bessere vom Schlechteren unterschieden, auf welche Weise wird einsichtig begründet, bleibt unbefriedigend beantwortet. Nicht daß es der antiken und der humanistischen Staats- und Gesellschaftslehre an Maßstäben gänzlich fehle: Man spricht ja vom Frieden, von der Gerechtigkeit, vom Gemeinwohl als obersten Zwecken aller Institutionen. Indessen, eine wirklich zureichende politische Philosophie haben weder die Antike noch die Neuzeit zustandegebracht, und inzwischen ist, wie gesagt, diese wichtige Diskussion aus den einschlägigen Wissenschaften weitgehend 21
zugunsten einer wertfreien, bloß noch empirischen Forschung verdrängt worden. Nun ist auf ein Weiteres hinzuweisen, das den Utopien von Thomas Morus bis ins 9. Jahrhundert gemeinsam ist. Morus’ Frage nach besseren Institutionen orientiert sich an der Grundfrage, was für die Menschen in ihrem Miteinanderleben das beste sei, und zwar in einem wichtigen, von der antiken Ethik überkommenen Doppelsinn: Den Menschen soll es besser gehen, und sie selbst sollen besser werden. In der Sprache des 8. Jahrhunderts ausgedrückt: Es wird zugleich nach dem Glück und nach der Tugend gefragt. Morus entwirft Institutionen, die dem Laster der superbia gar keine Chance mehr geben sollen. Die Aufhebung des Privateigentums soll auch dem Neid, der Habsucht, dem Geiz den Boden entziehen und zugleich dazu beitragen, daß nicht nur wenige sondern alle Bürger des Gemeinwesens glücklich und zufrieden miteinander leben können. Zweifellos ist es wahr, daß es Institutionen gibt und gegeben hat, die das Glück und die Tugend hindern, und andere, die beides fördern. Ein schlechter Strafvollzug z. B. macht die Betroffenen sowohl unglücklich als auch für eine spätere Resozialisierung ungeeignet, oder: die Geborgenheit in der Familie ist besser für das Kleinkind, als es Platons familienlose Staatserziehung wäre, oder: die Institutionen der industriellen Wirtschaft haben sich auf die darin eingespannten Menschen zum Guten und zum Schlechten vielfältig ausgewirkt. Den Maßstab des Guten im doppelten Sinne des Wohlergehens und des Wohlverhaltens der Personen an die Institutionen anzulegen, ist bei jeder Kritik von Institutionen und bei jeder Begründung neuer Vorschläge geboten. Indessen darf man nicht erwarten, es könne durch Institutionen allein dafür gesorgt werden, daß alle Menschen gut und glücklich werden. Eine solche Erwartung – sie haftet dem 22
institutionellen Perfektionismus der Utopien seit Morus meist mehr oder weniger an – wäre utopisch im pejorativen Sinne7. Dasselbe gilt für die umgekehrte Erwartung, man könne durch Aufklärung und Erziehung einen »neuen Menschen« schaffen, der in neuen und besseren Institutionen glücklich leben wird oder gar so vorzüglich sein wird, daß es der Institutionen nicht mehr bedarf, daß zumal der Staat mit seinen herrschaftlichen Institutionen überflüssig wird. Diese Erwartung z. B. der im 8. Jahrhundert aufkommenden Freimaurerlogen ist gleichfalls utopisch im pejorativen Sinne. Hier ist die Lehre K a n t s vorzuziehen, der zwar Aufklärung forderte und den kategorischen 7
Der institutionelle Perfektionismus der meisten Utopien schließt die Annahme ein, den betroffenen Bürgern sei die Vollkommenheit ihrer Gesetze, Sitten und Einrichtungen bekannt, so daß ihnen der Gedanke an O p p o s i t i o n fern liegt (sie leben in »concordia«, sagt Morus am Ende seines Berichtes). In diesem Sinne gibt es k e i n e K o n f l i k t e in den utopischen Staaten – darauf hat R. Dahrendorf mit Recht hingewiesen (Pfade aus Utopia, 967, S. 242ff.). Wichtig ist gleichfalls, daß in den utopischen Gesellschaften »der Wandel fehlt« – da die Institutionen die bestmöglichen sind, gibt es an ihnen nichts mehr zu verändern. Dahrendorf übertreibt jedoch beträchtlich, wenn er den »Unterschied zwischen Utopia und einem Friedhof« lediglich darin sieht, daß »in Utopia wenigstens gelegentlich etwas geschieht« (a. a. O. S. 245). Z. B. in Morus’ Utopia läuft das Miteinanderleben der Bürger in Arbeit, Gottesdienst und Spiel nicht nur gleichförmig ab, sondern es wird von mannigfachen Kriegen, Eroberungen, Unterwerfungen berichtet, es gibt Verbrechen, wissenschaftliche Meinung«Verschiedenheiten, und der Besuch des Berichterstatters selbst hat soeben bewirkt, daß die Utopier mehr und mehr zum christlichen Glauben übergehen (dem entspricht eine seit 760 Jahren betriebene Geschichtsschreibung). Eine andere Frage ist, ob die Monotonie und Uniformität des Lebens der Utopier einem heutigen Besucher ihrer Insel als beglückend und nicht vielmehr als bedrückend, ja als unerträglich erscheinen würde. Wir haben Erfahrungen mit der Uniformität des Lebens in totalitären Staaten gemacht, die den Utopisten noch fremd waren, und es ist üblich geworden, sie, besonders Platon, von diesen Erfahrungen her zu kritisieren, eine Kritik, die dem Anliegen der Utopien kaum gerecht wird. 23
Imperativ als ein allgemein verbindliches m o r a l i s c h e s G e b o t formulierte, sich aber nicht der Erwartung hingab, dieses Gebot werde eines Tages von jedermann befolgt werden, und der seine i n s t i t u t i o n e l l e n Vorschläge auf den Menschen einrichtete, der auch in Zukunft aus mehr oder weniger »krummem Holz« gemacht sein wird8. Übrigens ist es ein Gedanke der christlichen E s c h a t o l o g i e , daß es in einer von Gott neu geschaffenen Welt einen neuen Menschen geben wird, dessen brüderliche Liebe rechtliche Institutionen entbehrlich machen wird – man wird hier daran erinnert, daß sich die christliche Theologie in der Neuzeit auf mannigfache Weise säkularisiert. Doch bevor von Eschatologie zu reden ist, soll die Erörterung der Utopie abgeschlossen und abgerundet werden. Da diese Erörterung begriffliche Klärung zur Absicht hat, mußte die reiche und sehr bunte Geschichte der Utopien zu kurz kommen (und wer nicht wenigstens einige Utopien aus eigener Lektüre kennt, wird nicht einmal die hier versuchte exemplarische Einführung des Terminus »Utopie« auf ihre Angemessenheit hin kontrollieren können). Die Geschichte der Utopie hat Querverbindungen nach vielen Seiten aufzuweisen: hinüber zur Geschichte der politischen Theorie (Standardtitel: de re publica), hinüber zum Reise- und Abenteuerroman, zeitweilig hinüber zur Geschichte der Fürstenspiegel, seit Bacon auch hinüber zur Geschichte der wissenschaftlich-technischen Vision (Science Fiction) usf. Zuweilen herrscht die Neigung zur juristischen Konstruktion vor oder gar zur Konstruktion eines perfekten institutionellen Mechanismus, zuweilen die idyllische Ausmalung friedlich-zufriedenen Zusammenlebens, zuweilen überwuchert von schweifender Lust am Fabulieren. Erstaunlich ist aber die Kontinuität, 8
I. Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, 6. Satz (A397). 24
mit der sich seit Platon ein Grundgedanke durchgehalten hat (genauer: ein Handlungsschema), zunächst ins hellenistische Fabulieren abgewandelt und scheinbar aufgelöst, dennoch entschieden wieder aufgegriffen im Humanismus und unermüdlich variiert in der Aufklärung. Und dieser Grundgedanke der »klassischen Utopie« ist eben dieser: die rationale Konstruktion optimaler, ein glückliches Leben ermöglichender I n s t i t u t i o n e n eines Gemeinwesens, bestehenden Mißständen als kritischer Spiegel vorgehalten. Seit Platon wird dieses Gemeinwesen als b e g r e n z t gedacht, die kosmopolitische Ausweitung bleibt ganz und gar Ausnahme. Daher gibt es fast immer auch optimale militärische Organisationen, und obwohl die Insellage geschätzt wird, die sowohl Sicherheit und Frieden als auch entlegene Unbekanntheit gewährleistet, bleiben doch Kriege – selbstverständlich edel geführte und erfolgreiche – nicht aus. Die wirtschaftliche Grundordnung der klassischen Utopie ist agrarisch. Der auf dem Boden der modernen industriellen Wirtschaft geläufig gewordene Gedanke, daß sich »alles immerfort ändert«, läßt die Utopie als Entwurf einer für alle Zukunft gelungenen Lebensordnung als naiv erscheinen und hat schließlich bewirkt, daß sie ausgestorben ist, von der düsteren »Gegenutopie« abgesehen. Gleichwohl ist die gegenwärtige Aktualisierung des »utopischen Denkens« nicht allein von Verwechslungen und von einem Mangel an sprachkritischer Reflexion bestimmt, sondern wohl verständlich, und dies nicht allein deshalb, weil gerade die modernen Institutionen stets der Veränderung, der Kritik, der Verbesserung bedürfen, sondern vor allem deshalb, weil es so etwas wie m o r a l i s c h p o l i t i s c h e L e i t i d e e n gibt und geben muß, allen voran die Idee einer globalen Rechtsund Friedensordnung, partielle Ideen freilich – sofern sie nicht »alles« menschliche Leben betreffen –, jedoch Entwürfe 25
einer »bestmöglichen« Ordnung, die es in unserer bisherigen Geschichte nirgendwo und nirgendwann gegeben hat und deren Bild dennoch unser Planen und Handeln energischer und wirksamer als bisher bestimmen sollte (die bloß appellierende Forderung genügt hier freilich nicht, sie muß durch praktische Philosophie begründet werden). Eine Welt, in der Gerechtigkeit und Frieden herrschen, wäre nicht einfachhin eine »glückliche« Welt, sofern Glück und Unglück der Menschen nicht allein von institutionellen Ordnungen abhängen. Und sie könnte nur bestehen, wenn auch Vernunft und Humanität herrschen, d. h. die politische Führung – ohne die es menschliches Zusammenleben nicht geben kann – müßte nicht allein den Sachkundigsten, sondern auch den »Weisesten« anvertraut sein. Eine solche »Sophokratie« war Platons Leitidee, und die in seiner »Politeia« entworfenen Institutionen sind demgemäß vor allem Bildungsinstitutionen. Auch dieser Grundgedanke – daß die »Weisen« herrschen sollen – hat sich in den späteren Utopien mehr oder weniger durchgehalten, jedoch in einer Mangelhaftigkeit, die insbesondere die Schwäche dieser Entwürfe ausmacht. Oft sind diese Weisen zugleich Priester, ehrwürdig und edel bis dorthinaus, und die Humanisten haben sich keineswegs geweigert, das überlieferte Christentum als den Quell aller Weisheit gelten zu lassen. So kommt es zu einem wunderlichen Gemisch von Gelehrtentum und Priestertum, Tempel und Kirche, wie wir es noch aus Mozarts »Zauberflöte« kennen, das nur bezeugt, wie Platons Anliegen im Verlaufe der weiteren Utopiengeschichte heruntergekommen, zu einer gänzlich ungeklärten Sentimentalität geworden ist. Seit dem 9. Jahrhundert wollte man dem abhelfen, allen sentimental fabulierenden Utopismus durch den Geist strenger Wissenschaftlichkeit ersetzen – aber die moderne Wissenschaft26
lichkeit kann die Leitidee der Sophokratie auch nicht erfüllen. Die Wiedergründung einer praktischen Vernunft – mit Kant zu reden –, die den Entwurf von Institutionen leiten und künftige Politiker beseelen könnte, steht noch aus. Platons Anliegen ist in dieser Hinsicht so aktuell und so unerfüllt wie zu Platons Zeit selbst.
2. Die Eschatologie Wieder ist zunächst zu fragen: Was heißt »Eschatologie«? Doch diesmal ist es unmöglich, auf überlieferte Texte als Beispiele von »Eschatologien« hinzuweisen, und zwar keineswegs, weil es dergleichen Texte nicht gäbe, sondern weil sie sich nicht an eine geprägte Literaturgattung gebunden haben – abgesehen von den sogenannten »Apokalypsen«, die in zahlreichen Beispielen des späten Judentums und des frühen Christentums begegnen. Doch die »Apokalypse« ist ein Spezialfall eschatologischer Texte und enthebt uns nicht der Aufgabe, den Terminus »Eschatologie« durch ein anderes Verfahren zu bestimmen als dasjenige, mit dem wir den Terminus »Utopie« normieren konnten. Die Eschatologie hat historisch einen ganz anderen Ort als die Utopie. Die Utopie hat ihren geschichtlichen Ort in der Tradition des p h i l o s o p h i s c h e n D e n k e n s , die von den G r i e c h e n herkommt. Die Eschatologie hat ihren Ort in der Tradition des c h r i s t l i c h e n G l a u b e n s , die von der Bibel und von den J u d e n herkommt. Die Endung »-logie« ist irreführend, indem sie an das griechische Wort »logos« und an Wortbildungen wie »Geologie«, »Philologie« erinnert, an die Namen von Wissenschaften also. Wollen wir dieser Irreführung sicher entgehen, dann müssen wir als erstes sagen: Jetzt haben wir es nicht mit dem vernünftigen Denken 27
zu tun, sondern mit der gläubigen Hoffnung, d. h. mit dem christlichen Glauben selbst, sofern er als Glaube Vertrauen und Hoffnung ist. In die Irre geführt werden wir durch die Endung »-logie«, weil es ja auch »Theologie« gibt, weil uns »Eschatologie« als eine Disziplin dieser Theologie vertraut ist, nämlich als die »Lehre« von den ἔσχατα, den »letzten Dingen«. Seit dem 2. Jahrhundert nach Christus bedient sich die christliche Kirche der sprachlichen Mittel des griechischen Denkens, und noch heute tritt die Theologie im Rahmen der Universität als Wissenschaft auf. Hoffnung aber ist etwas anderes als Wissenschaft, und die jüdisch-christliche Hoffnung hat sich denn auch anfangs der sprachlichen Mittel nicht des Logos, sondern des Mythos bedient. Insofern allerdings sind die Apokalypsen mit ihren farbigen mythischen Bildern sogar sehr signifikante Beispiele eschatologischer Rede. Was wir suchen müssen und zu finden hoffen dürfen, sind also nicht geprägte Texte als Beispiele von »Eschatologien«, wohl aber Beispiele »eschatologischer Rede«, in denen Hoffnung nicht argumentierend dargelegt, sondern appellierend bekundet wird. Unsere christliche Tradition stellt uns für solche appellierende Bekundung einen Gebrauchsausdruck zur Verfügung, den wir jetzt aufgreifen können: Das Wort »Verkündigung«. In eschatologischer Verkündigung spricht sich nicht allein Hoffnung aus, sondern wird zur Hoffnung aufgefordert, exemplarisch etwa in der Rede des Engels, der in der Nacht den Hirten von Bethlehem erscheint: »Ich verkündige euch große Freude«, von jetzt an dürft ihr hoffen, denn heute ist der σωτήρ geboren, der Retter, der aller Not und Armut ein Ende machen wird. Die Verkündigung dieses Endes, dieses Eschaton, das ist Eschatologie. Was haben wir terminologisch bisher erreicht? Wir haben uns klargemacht, daß der Ausdruck »Eschatologie« irreführend ist, und haben ihn ersetzt durch den Ausdruck »eschatologi28
sche Rede«. Ferner haben wir ein erstes Beispiel solcher Rede angegeben und sogleich die Prädikatorenregel hinzugefügt: Eschatologische Rede ist Verkündigung. Der Prädikator »Verkündung« ist dreistellig: Jemand verkündigt jemandem etwas. Z. B. verkündigt eine Reklamesendung den Fernsehern, daß sie durch Touropa herrliche Urlaubstage erleben werden. Das Besondere an der christlichen Verkündigung ist aber dies, daß die eine, die dritte dieser drei Stellen nicht beliebig besetzt werden kann, sondern ein für alle Mal durch dasselbe besetzt ist, durch genau einen Gegenstand, der daher durch eine K e n n z e i c h n u n g (LP III, 8) angegeben werden kann: »das Ende aller Not«, besser aber durch einen Satz, der mit »daß« beginnt und gleichfalls eine Kennzeichnung enthält, der ferner eine Konjunktion von zwei Aussagen ist: Es wird verkündigt, daß »der Retter« in die Welt gekommen ist und daß er aller Not ein Ende machen wird. Jetzt greifen wir drei andere Ausdrücke der traditionellen christlichen Sprache auf: die Wörter »Heil« (lateinisch salus, griechisch σωτηρία), davon abgeleitet »Heiland« (lateinisch salvator, griechisch σωτήρ) und ferner das in der neueren Theologie bevorzugte Wort »Heilsereignis«. (»Der Heiland« ist gleichbedeutend mit »der Retter«.) Die christliche Verkündigung versteht sich selbst bis zum heutigen Tage als Heilsbotschaft, als εύαγγέλιον, und sie verkündigt das endliche Kommen der Herrschaft Gottes, ein noch ausstehendes, ein künftiges Heilsereignis also, zugleich aber das Gekommensein Christi, des salvator mundi, ein schon eingetretenes Heilsereignis also. Das verkündigte Ereignis der Errettung von aller Not gliedert sich auf in mindestens diese zwei Ereignisse, ein vergangenes und ein zukünftiges, darüber hinaus aber in eine Abfolge mehrerer Ereignisse, die im zweiten Artikel des Glaubensbekenntnisses dann durch Jahrhunderte aufgezählt und in der Abfolge des 29
Kirchenjahres liturgisch gefeiert werden: Christi Ankunft und Geburt, sein Tod am Kreuz, seine Auferstehung, seine Auffahrt zum Himmel, seine Wiederkunft am »dies novissimus«, am Jüngsten Tage. Das Kommen des Heilands wird bereits den Hirten von Bethlehem verkündigt, aber das Ende aller Dinge, das Ende der Geschichte steht noch aus. Die uns seit unseren Kindertagen so vertraute Weihnachtsgeschichte von Lukas 2 wird von der Forschung heute als eine Legende angesehen, die von der christlichen Gemeinde älteren Berichten von Jesu Lehre, Leben und Sterben hinzugefügt wurde, und es liegt ja auf der Hand, daß diese zusätzliche mythische Erzählung erst aufkommen konnte, nachdem die K e r n v e r k ü n d i g u n g , wie ich einmal sagen möchte, aufgekommen war, ein Vorgang, den wir ganz im Groben etwa so rekonstruieren können: Die Anhänger Jesu müssen ihre Niedergeschlagenheit, ihre Enttäuschung durch die Hinrichtung Jesu alsbald überwunden haben, indem ihnen aufging, indem sie von diesem Augenblick an verkündigten: Jesus ist der leidende Gottesknecht, von dem der Prophet Jesaja gesprochen hat, er ist trotz seines Leidens und Sterbens am Kreuz der im Alten Testament verheißene Messias, der Christus Gottes, der in Wahrheit lebt, der wiederkommen und das von ihm selbst schon verkündigte Anbrechen der Herrschaft Gottes selbst verwirklichen wird. Diese Kernverkündigung setzt also die mythischen Erzählungen des Alten Testaments als bekannt und anerkannt voraus. Sie setzt ferner die im Alten Testament niedergelegte prophetische Verkündigung als bekannt und anerkannt voraus. Die neue Christusverkündigung entsteht, indem geglaubt und gesagt wird, daß die alte, die prophetische Verkündigung sich bereits zu erfüllen begonnen hat. Die enthusiastische Freude dieser Entdeckung ist zugleich die freudige Hoffnung, daß nun auch 30
die Enderfüllung sowohl der alten wie der neuen Verkündigung nicht ausbleiben wird. Ich wiederhole und verdeutliche: Eschatologie, besser: eschatologische Rede bringt diese Hoffnung als Verkündigung zur Sprache. In gewisser Weise sind wir jetzt ganz davon abgekommen, das Wort »Eschatologie« überhaupt noch als Prädikator zu verstehen. Wir verstehen es nämlich nicht mehr als allgemein verwendbaren Terminus der R e l i g i o n s w i s s e n s c h a f t , sofern wir die Kennzeichnung gebildet haben: »die christliche Eschatologie«. Indessen hat diese Eschatologie, diese eine Eschatologie, im Judentum ihre Vorgeschichte und im Christentum ihre reiche und weittragende Nachgeschichte, so daß in diesem b e g r e n z t e n Bereich der Terminus »eschatologische Rede« dann auch als Prädikator gebraucht werden kann. Die Geschichte der Eschatologie nimmt ihren Anfang um 540 vor Christus, als der Prophet Deutero-Jesaja den Juden in der Verbannung die rettende Wende ankündigt. 520 ist bei Haggai zum ersten Mal von einem künftigen messianischen Herrscher die Rede. Seit dem 2. Jahrhundert vor Christus bildet sich im Judentum die Erwartung aus, daß die Toten auferstehen werden, daß ein Endgericht stattfinden wird, daß Gott einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen wird, daß Leiden, Unrecht und Tod ein Ende haben werden im ewigen Frieden. Jesus selbst und seine Anhänger haben diese Erwartungen geteilt, und das Neue der c h r i s t l i c h e n Eschatologie ist genau dies, daß sich die Heilsverkündigung nun aufspaltet in die Botschaft von dem, was sich in Christus schon erfüllt hat, und die Ankündigung dessen, was sich durch Christus noch erfüllen wird. Die eschatologischen Heilsverkündigungen seit Deutero-Jesaja sind jeweils entstanden in b e s o n d e r e n N o t l a g e n , z. B. in der Verbannung des jüdischen Volkes durch die Babylonier oder in der Verfolgung der Christusgläubigen durch 31
den römischen Staat. Daß diese Verkündigung aber t r a d i e r t werden, daß sie auch ohne besondere Notsituationen in der christlichen P r e d i g t bis zum heutigen Tage immer wieder aktualisiert werden konnte, erklärt sich aus der Notlage, in der sich der zu Tod und Leiden verurteilte Mensch stets befindet, aus der condition humaine, wie französische Denker diese Grundsituation des Menschen genannt haben. Auch die besonderen nationalen Verzweiflungen und Hoffnungen des jüdischen Volkes verlieren sich in der Entgrenzung schon der jüdischen, zumal aber der christlichen Verkündigung, die sich nun an alle Völker richtet, an Juden und Griechen, wie Paulus sich gern ausdrückt. Überall in der Welt versteht der zum Leiden und Sterben verurteilte Mensch, wenn ihm gesagt wird: »So, wie es jetzt mit dir steht, wird es nicht immer bleiben. Du darfst darauf hoffen, daß Gott alle Tränen abwischen wird, daß Krieg und Ungerechtigkeit, Hunger und Krankheit, Leiden und Tod ein Ende haben werden.« Freilich ist der Jüngste Tag nicht allein der Anfang des ewigen Heils, sondern auch der Tag des G e r i c h t s . Im Alten wie im Neuen Testament wird Gott als rettender und gnädiger Gott, zugleich und zuvor aber als gebietender und richtender Gott vorstanden. Das Reich Gottes wird nicht als ein Schlaraffenland verheißen, in dem sich beliebige naive Wunschträume erfüllen. Wohl fehlt es in der jüdischen und christlichen Apokalyptik nicht an naiver Ausmalung der Pracht und Herrlichkeit des himmlischen Jerusalem. Jedoch die Predigt der Propheten und insbesondere Jesu selbst verbindet die Verkündigung des Kommens Gottes stets mit dem Ruf zur Buße, d. h. mit der Aufforderung an die Hörer, ihre Schuld und Ohnmacht einzugestehen. Die endliche Errettung von Leiden und Tod wird daher mythisch als Ve r g e b u n g verstanden. Gott als der Herrscher, Gesetzgeber und Richter hätte allen Grund zum Zorn, so lesen 32
wir in den ersten Kapiteln des Römerbriefes. Doch denen, die ihre Schuld und Ohnmacht eingestehen, vergibt er und gewährt ihnen, die den Tod verdient hätten, das ewige Leben. Da in diesem Zusammenhang das Heilsereignis in Christi Tod als Sühnetod gesehen wird, da ferner der Glaube des Hörers an Gott als Schöpfer, Herrscher, Gesetzgeber, Richter v o r a u s g e s e t z t wird, kommt an dieser Stelle besonders deutlich zutage, daß die eschatologische Verkündigung einerseits selbst mythisch ist, daß sie andererseits die Anerkennung mythischer Überlieferungen der jüdischen Religion voraussetzt – wodurch die heutige Theologie dem modernen Menschen gegenüber in begreifliche Schwierigkeiten gerät. Seit Rudolf B u l t m a n n hat daher eine »entmythisierende« Interpretation mehr und mehr an Boden gewonnen, deren hermeneutische Anweisung lautet: Man soll und kann die »eigentliche Intention« der christlichen Verkündigung dadurch zur Geltung bringen, daß man die reiche mythische Bildersprache, in die sie sich, der damaligen Zeit gemäß, »verkleidet« hat, abstreift (da »Mythologie« die Rede oder die Wissenschaft von den Mythen ist, sollte man nicht von »Entmythologisierung«, sondern von »Entmythisierung« sprechen). Als »existentialer« Gehalt der eschatologischen Verkündigung ergibt sich dann etwa das Folgende: Wer die naive oder die selbstsichere oder die verzweifelte E i g e n m ä c h t i g k e i t (Selbstbefangenheit) aufgibt, in der wir gewöhnlich leben, wer Tod und Leiden ohne Aufbegehren annimmt, der hat den Tod schon überwunden und ist in ein neues Leben eingetreten, in dem er fähig ist, die Bedürftigkeit des Mitmenschen zu erkennen und demgemäß zu handeln – eine philosophische Einsicht, ja die philosophische Grundeinsicht, die theologisch-christlich als »Glaube« nur noch dadurch verstanden wird, daß man h i n z u f ü g t : diese Einsicht kann nur gewonnen werden im »Hören« auf »das Wort«, d. h. eben: in der gläubigen Annahme der »Ver33
kündigung«, die mit dem Auftreten Jesu »in die Welt gekommen ist«. Mag man also auf diese Weise das Gekommensein Christi als »Heilsereignis« (wenngleich, verglichen mit dem Neuen Testament, in beträchtlicher Umdeutung) festhalten, so verhält es sich doch anders mit dem noch ausstehenden Heilsereignis der Wiederkunft Christi, des Endes »dieser Weltzeit« (»dieses Äon«) durch ein zukünftiges Handeln Gottes: dieses nicht nur den Glaubenden, sondern die ganze Welt und Menschheit betreffende Ereignis fällt der Entmythisierung zum Opfer. Und das gleiche gilt für das »ewige Leben« des einzelnen über den Tod hinaus. Bultmann sagt, nicht nur anders als Paulus, sondern auch anders als Johannes: »Das einzig Gewisse der menschlichen Zukunft ist, daß jedem Menschen der Tod bevorsteht. … Alle Bilder von einer Herrlichkeit nach dem Tode können nur Wunschbilder der Phantasie sein.« 9 Daß die philosophische Grundeinsicht in gewisser Weise im Neuen Testament »enthalten« ist, wird man sicherlich sagen dürfen. Zu fragen bleibt, ob sie nicht auch in der Sokratischen Philosophie oder auch anderswo zu finden oder doch angedeutet ist. Daß aber die »eigentliche Intention« der eschatologischen Verkündigung durch solche Interpretation zur Geltung komme (gar »unverkürzt« zur Geltung komme), ist eine gewagte Behauptung. Denn, so wird man doch sagen müssen: Die dem Christentum so eigentümliche enthusiastische H o f f n u n g ist an die m y t h i s c h e Sprache, in der sie zuerst und dann durch die Jahrhunderte ausgedrückt wurde, gebunden und wird durch entmythisierende Auslegung ausgelöscht. Freilich sind »alle Bilder von einer Herrlichkeit nach dem Tode Wunschbilder der Phantasie«, nämlich der fingierenden mythischen Phantasie. Freilich fordert die christliche Verkün9
G. Bornkamm, R. Bultmann, F. K. Schumann, Die christliche Hoffnung und das Problem der Entmythologisierung (954), S. 32. 34
digung die Preisgabe alles selbstbefangenen Begehrens, alles eigensinnigen Wünschens. Jedoch nicht diese Forderung steht der Eschatologie der Hoffnung im Wege. Denn Jesus »verheißt denen Lohn, die gehorsam sind nicht um des Lohnes willen«, so hat Bultmann selbst früher das christliche Verhältnis von Forderung und »Verheißung« ausgedrückt0. In Wahrheit ist es die neuzeitliche Aufklärung, was der mythischen Eschatologie im Wege steht, allein sie, nicht auch eine radikale Theologie des Gehorsams (was ja auch Luther schon bemerkt haben würde). Wenn Theologen heute den entmythisierten Glauben als den eigentlichen und ursprünglichen christlichen Glauben darstellen, so täuschen sie sich selbst und ihre Hörer und Leser darüber hinweg, daß sie diesen Glauben nicht durch Interpretation unverändert bewahrt, sondern durch eine rationale, kritische Interpretation verändert haben – mit gutem Recht, wie mir scheint – und daß diese Veränderung einschneidender ist als alle Veränderungen, durch die hindurch die christliche Verkündigung schon immer bewahrt und überliefert wurde. Und diese »Verkürzung« des Christentums um seine Eschatologie ist um so bemerkenswerter, als die Eschatologie von protestantischen Theologen vor und nach der Jahrhundertwende (Johannes Weiß, Albert Schweitzer) als dem Christentum besonders eigentümlich gerade erst wieder entdeckt worden war (woraufhin die Theologen verbal auch ausnahmslos noch eschatologisch reden). Der Hinweis auf diese kritische Interpretation soll hier keineswegs besagen, es gelte, zum »unverkürzten Evangelium« zurückzukehren. Wohl aber sollte eine »existential« interpretierende Theologie sich dessen bewußt sein, daß sie den Boden vernünftiger Einsicht betreten hat, einer Einsicht, deren Nähe 0
R. Bultmann, Jesus (zuerst 926 erschienen, letzte Auflage 967 – Siebenstern-Taschenbuch 7 –, S. 57). 35
und Ferne zum und vom überlieferten Christentum dann noch genauer zu bestimmen ist. Vergleichen wir nunmehr E s c h a t o l o g i e und U t o p i e , so dürften wir nicht mehr in die Versuchung kommen, das eine mit dem anderen zu verwechseln. Vielmehr gilt es, in folgender Weise zu unterscheiden : . Die Utopie ist eine Unternehmung der philosophischen V e r n u n f t . Die eschatologische Rede dagegen ist eine Unternehmung des christlichen G l a u b e n s . 2. Der Utopist versucht, wenn auch meist unbefriedigend, seine Entwürfe vernünftig zu b e g r ü n d e n , indem er von der Kritik an Mißständen ausgeht. Der Prophet und der Apostel hingegen begründen nicht, sondern verstehen sich als bevollmächtigte Sprecher Gottes. Sie appellieren an den Menschen in seiner Not, der immer zu Erwartungen bereit ist, und bedienen sich der Sprache und der Bilder des Mythos. 3. Der Utopist kritisiert mangelhafte I n s t i t u t i o n e n und stellt ihnen bessere, ja optimale Institutionen gegenüber. Die eschatologische Hoffnung dagegen überläßt die gegenwärtige Welt mit all ihren Mängeln dem Untergang und erwartet eine neue bessere Welt, in der es der Institutionen nicht mehr bedürfen wird (was ja insbesondere hinsichtlich der »Naherwartung« Jesu und der Urgemeinde wohl begreiflich ist). 4. Die klassischen Utopien fordern zwar nicht zu revolutionärem H a n d e l n auf, beschreiben aber Institutionen, die von Menschen ersonnen und, wenngleich fiktiv, auch von Men
Bultmann selbst hat sich unglücklich ausgedrückt, wenn er statt von der »Einsicht« vom »menschlichen Selbstverständnis« sprach, mit dem es die existentiale Interpretation zu tun habe, und wenn er gar erklärte, der Mensch solle sich für dieses Selbst Verständnis »entscheiden«. Vgl. H. Kößler, Entmythologisierung und vernünftiges Denken, in: Tutzinger Texte 3 (968). 36
schen verwirklicht werden. Die Eschatologie dagegen erwartet das kommende Heil allein vom H a n d e l n G o t t e s . Der eschatologische Verzicht auf das Ausdenken neuer, besserer I n s t i t u t i o n e n und auf die Revolution als die Verwirklichung einer besseren Welt durch menschliches Handeln ist so häufig mißverstanden worden, daß es hierzu noch einiger klärender Bemerkungen bedarf. Dieser Verzicht bedeutet nämlich nicht, daß Eschatologie und Revolution überhaupt nichts miteinander zu tun hätten. Erstens ist der Verzicht auf revolutionäres Handeln in der Geschichte des Christentums nicht immer durchgehalten worden, sofern es c h i l i a s t i s c h e R e v o l u t i o n e n gegeben hat, und zweitens bedeutete die Eschatologie selbst schon in ihrem Ursprung eine i n n e r r e l i g i ö s e Revolution. Zum ersten: Der Ausdruck »Chiliasmus« leitet sich bekanntlich von dem griechischen Ausdruck »χίλια ἔτη« (tausend Jahre) her. Im 20. Kapitel der Johannes-Apokalypse ist die Rede von einem tausendjährigen Reich, das dem Ende aller Dinge noch vorausgehen wird. Fast alle Versuche, aus der Haltung des geduldigen Wartens auf den Jüngsten Tag auszubrechen und eine bessere Welt der Gerechtigkeit und des Friedens schon vorher, durch menschliche Aktion, zu verwirklichen, haben sich auf dieses Kapitel der Apokalypse berufen. Bekannte Beispiele für chiliastische Bewegungen sind etwa: die Taboriten in Böhmen, Thomas Müntzer und die Wiedertäufer in Deutschland, Cromwells »Parlament der Heiligen« in England usw. Von C a m p a n e l l a hat man gesagt, daß sein »Sonnenstaat« nicht allein eine Utopie in der Nachfolge des Thomas Morus sei, daß man sein revolutionäres Denken und Handeln vielmehr auch aus der Tradition des Chiliasmus begreifen müsse2. Im 7. und 8. 2 A. Doren, a. a. O. S. 88f. 37
Jahrhundert entsteht in Deutschland eine reiche, vielfach vom Pietismus inspirierte Literatur, deren Thema trotz mannigfacher Variationen das gleiche bleibt: die Erwartung einer endzeitlichen, aber noch irdischen Gemeinschaft der Heiligen, die verbunden ist durch brüderliche Liebe, frei von Ungerechtigkeit, Eigennutz, Privateigentum, gesegnet durch unsagbaren Wohlstand, umgeben von üppiger Schönheit und Fruchtbarkeit der Natur3. Da zuweilen auch ideale Institutionen ausgemalt werden, darf man sagen: Hier kommen Wunschträume literarisch zur Sprache, in denen sich Chiliasmus und Utopie verbinden4. Oft sind die Autoren chiliastischer Texte weit davon entfernt, ihre Wunschbilder revolutionär verwirklichen zu wollen. Andererseits hat es chiliastische Revolutionen gegeben, z. B. die des Thomas Müntzer, die sich n i c h t ausdrücklich auf Apk. 20, sondern 3 4
A. Doren, a. a. O. S. 86f.. Das gilt auch für die Weissagung, die sich in der Mitte von Grimmelshausens Simplicissimus (669) findet (3. Buch, 3.-6. Kapitel): Ein messianischer Held wird kommen, der die Bösen straft und die Frommen erhöht, ihnen ein mehr als elysisches seliges Leben gibt und ewigen Frieden unter allen Völkern stiftet. Nicht allein werden Institutionen der Herrschaft und Unterdrückung aufgehoben, so daß die Fürsten »leben müssen wie andere gemeine Leut«, sondern es wird auch eine neue Institution gegründet, nämlich ein Parlament, in dem die Städte durch je zwei »von den klügsten und gelehrtesten Männern« vertreten sind (ganz ähnlich wie in Morus’ Utopia). Bemerkenswert ist dieser Text freilich insbesondere als ein Zeugnis des chiliastischen Nationalismus, der seit dem späten Mittelalter aus dem Chiliasmus hervorgeht: Grimmeishausens Messias ist ein »Teutscher Held«, der das Deutsche zur Weltsprache erheben und den Deutschen »wie vor diesem den Römern die Beherrschung über die ganze Welt zukommen lassen« wird. »Vor allen Dingen« aber wird er durch ein Konzil »alle Christliche Religionen in der ganzen Welt miteinander vereinigen« und so das Elend der Glaubenskriege beenden – nicht menschlicher, sondern wunderbarer göttlicher Aktion wird diese erlösende Zukunft zugetraut, und auch dies nur unter skeptischer Zurücknahme, da der Weissagende ein Narr ist, der sich als Jupiter ausgibt. Literaturangaben in der Ausgabe von R. Tarot (967), S. LVI ff. 38
auf andere biblische Texte beriefen. Das hindert uns aber nicht, den Terminus »chiliastische Revolution« so zu verwenden, wie es soeben hier geschehen ist. Zum zweiten: Gänzlich verschieden von der in die Welt ausgreifenden chiliastischen Revolution ist die i n n e r r e l i g i ö s e Revolution mancher Propheten des Alten Testaments und dann Jesu und des Paulus. Jesus protestiert dagegen, daß der Jude sein Verhältnis zu Gott durch gewissenhafte Befolgung des MosesGesetzes ins reine bringen will, und Paulus wiederholt diesen Protest, indem er hinzufügt, daß die Bereinigung der menschlichen Beziehung zu Gott nicht durch menschliches Handeln, sondern allein durch Gottes Vergebung in Christus geschieht. Mit erstaunlicher Präzision wird die eschatologische Verkündigung dann durch L u t h e r erneuert. Im Verlauf von anderthalb Jahrtausenden hatte sich die christliche Kirche selbst zu einem mächtigen Gebäude kompliziert gegliederter Institutionen ausgebildet, die durch das Sakrament als legitimiert galten. Der innerreligiöse revolutionäre Protest Jesu und des Paulus wirkt fast bescheiden, verglichen mit der enormen innerkirchlichen Revolution Luthers, die sich richtet: gegen das Papsttum, gegen das Mönchtum, gegen den Zölibat, gegen die hierarchisch-sakramentale Ordnung der mittelalterlichen Kirche überhaupt. Vielleicht wird man sagen dürfen, daß niemals vorher oder nachher in unserer Geschichte ein einzelner Mensch, auf sich allein gestellt, zunächst so zögernd, dann aber so rücksichtslos und so erfolgreich ein riesiges Gebäude von Institutionen zerstört hat wie der Bettelmönch Martin Luther. Aber auch Luther erwartete die Aufrichtung der Herrschaft Gottes eschatologisch. Das utopische Denken seines Zeitgenossen Thomas Morus lag ihm gänzlich fern, und keineswegs dehnte er seine innerkirchliche Revolution auf den Bereich der politischen und sozialen Ordnungen aus, erklärte vielmehr, wiederum Paulus folgend, 39
chiliastische Aktionen wie die des Thomas Müntzer für unevangelisch, für das eigenmächtige Eingreifen in ein Handeln, das Gott allein sich selbst vorbehalten hat. Darf man nun sagen, wie es ja oft geschehen ist, Luther habe die aufständischen Bauern im Stich gelassen? Gute Gründe zur Kritik an bestehenden politischen und sozialen Institutionen gab es wahrhaftig nicht allein im England des Morus, sondern auch im Deutschland Luthers. Der damals sich ausbildende Dynastiestaat, zu dessen weiterer Festigung Luthers Theologie zweifellos erheblich beigetragen hat, dürfte eine äußerst fragwürdige Staatsform gewesen sein. Die Lage der Bauern war vielerorts himmelschreiend. Gleichwohl irrte Thomas Müntzer, wenn er glaubte, m i t d e m E v a n g e l i u m i n d e r H a n d gegen die Unterdrückung nicht allein prophetisch protestieren, sondern auch rebellieren zu können, und irrt noch heute jeder, der die notwendigen guten Gründe zu politischer und sozialer Neuordnung dem Neuen Testament glaubt entnehmen zu können. Was auch immer von der bisherigen theologischen Interpretation der neutestamentlichen Verkündigung zu halten ist, sie läuft auch im günstigsten Fall allein auf Existenzwahrheit und Individualethik (im formelhaft angegebenen Sinne) hinaus – und das ist wahrlich nicht wenig! Zur Neuordnung unserer politischen, sozialen, wirtschaftlichen Institutionen hingegen bedürfen wir nach wie vor der Philosophie, d. h. wir bedürfen der Anknüpfung an die Tradition nicht allein des biblischen, sondern auch des griechischen Denkens. Das bedeutet freilich eine Modifikation auch der christlichen Grundeinsicht. Wenn wir Menschen selbst für die Bedingungen unseres Lebens, für bessere Institutionen, für unsere Zukunft zu sorgen haben, dann können wir menschliche Eigenmächtigkeit nicht mehr in genau der gleichen Weise wie Paulus oder Luther verstehen, dann haben wir nicht mehr u n t e r s c h e i d u n g s 40
l o s jedes Leiden als auferlegtes »Kreuz« hinzunehmen, dann muß es auf dem Boden der Grundeinsicht eine Neugründung selbständigen menschlichen Handelns geben. Anders ausgedrückt: Die Reformation kann nicht durch eine »zweite Reformation« gradlinig fortgesetzt werden, denn ihr »sola fide« (»sola gratia«) ist zwar gut neutestamentlich, aber unzureichend. Seit Reformation und Aufklärung leben und denken wir in der unseligen A l t e r n a t i v e von sola gratia und »Prometheischer« Selbstsicherheit, geraten innerhalb dieser Alternative immer nur von einem Extrem ins andere – heute wird wieder einmal Prometheus bevorzugt – und verfehlen so die wahre vernünftige Neugründung menschlicher Autonomie. Anders ausgedrückt: Die rationale Interpretation der »urchristlichen« Verkündigung, durch die erst das »Christentum« als geschichtlich dauernde Religion entstanden ist5, bedarf der Erneuerung und Ergänzung.
3. Futurische Geschichtsdeutungen Mit der Unterscheidung von Utopie und Eschatologie ist noch nicht alles auf dem Felde dieser Thematik Erforderliche getan. Denn von beiden zu unterscheiden sind fernerhin die »futurischen Geschichtsdeutungen«. Sie sind von beiden zunächst wieder historisch zu unterscheiden mit Hilfe einer geklärten Terminologie. 5
Dies ist die Hauptthese meines Buches »Christentum und Geschichtlichkeit« (95). Vgl. dazu Ph. Vielhauer, Urchristentum und Christentum in der Sicht Wilhelm Kamlahs, in: Aufsätze zum Neuen Testament, Theol. Bücherei 3 (965). Da ich nicht weiß, ob ich zu der nötigen sprachkritischen Redaktion dieses Buches in einer dritten Auflage noch kommen werde, erlaube ich mir die Empfehlung an den Leser, die besonders kritikbedürftige Einleitung beiseite zu lassen. 41
Der Prädikator »futurische Geschichtsdeutung« kann exemplarisch eingeführt werden an Hand von historischen Beispielen, unter denen folgende zwei vor allem wichtig sind: . die christliche Geschichtstheologie, 2. die Geschichtsphilosophie der Aufklärung. An beiden Beispielen ist abzulesen: Geschichte wird nicht nur erforscht und erzählt, sondern darüber hinaus »gedeutet« im Ausblick auf eine erwartete Z u k u n f t (»futurisch gedeutet«), die – zumeist – als das Ziel (Telos) der Geschichte (des Weltlaufs) verstanden wird. Im christlichen Falle handelt es sich um die Zukunft des von Gott bewirkten ewigen Heils. Im Falle der Aufklärung handelt es sich um die profane Zukunft einer Menschheit, die durch eigenes Handeln eine »bessere Welt« herbeiführt. In beiden Fällen werden Aussagen über vergangenes Geschehen, aber auch Aussagen über zukünftiges Geschehen gemacht: p r o g n o s t i s c h e Aussagen. Im christlichen Falle werden diese Aussagen begründet durch Rekurs auf die Offenbarung, des näheren durch Auslegung biblischer Texte. Im Falle der Aufklärung werden sie begründet durch Deutung der Vergangenheit und der gegenwärtigen geschichtlichen Situation. In beiden Fällen wird in der Vergangenheit eine Bewegung festgestellt, deren Duktus sich r a t i o n a l angeben läßt, wobei man gern metaphorisch redet, z. B.: Bewegung auf kontinuierlich steigender Linie, auf stufenweise steigender Linie, Wiederkehr von Aufstieg und Abstieg bei durchgängigem Aufstieg im ganzen, Bewegung in »dialektischem« Dreischritt und so fort. Es wird vorausgesagt, diese Bewegung werde sich in gleicher Art, dem gleichen »Gesetz« folgend, in Zukunft fortsetzen. »Rational« ist die Deutung, i n d e m sie solche »Gesetze« angibt, d. h. indem sie g e n e r e l l e Aussagen über die Geschichte macht: Was für einen Abschnitt des geschichtlichen Ablaufs 42
gilt, das gilt auch für die früheren und späteren. Es ist also von sich w i e d e r h o l e n d e n Vorgängen die Rede (genauer: von wiederholten Aktualisierungen von Ablaufsschemata), auch wenn von durchgängigem Aufstieg gesprochen wird, d. h. die »zyklische« Geschichtsdeutung ist von der »linearen« nicht so extrem verschieden, wie man oft lesen kann – in der Aufklärung herrscht geradezu der Kompromiß zwischen beiden vor 6: Der Aufstieg der Menschheit durch fortschreitende Aufklärung erfolgt nicht geradlinig, sondern durch Rückschläge immer wieder unterbrochen (Wiederkehr von Aufstieg und Abstieg bei durchgängigem Aufstieg im ganzen). Entschließt man sich dazu, diese Gemeinsamkeiten in Prädikatorenregeln zu fassen, so gelangt man über Beispiele plus Regeln zu dem Terminus »futurische Geschichtsdeutung«. Gegenbeispiele: Man könnte darauf verfallen, als frühes Beispiel futurischer Geschichtsdeutung H e s i o d s mythische Spekulation über die Abfolge von Zeitaltern anzusehen (das goldene, das silberne, das eherne, das eiserne, Erg. 06ff.). Doch diese Spekulation deutet nicht eine durch Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung bereits bekannte Geschichte. Ferner gibt sie kein rational konstruiertes Bewegungsgesetz der Geschichte an (geht vielmehr auf altorientalische Mythen zurück). Auch die eschatologischen Verkündigungen Jesu und des Paulus sind keine Beispiele, sondern Gegenbeispiele für »futurische Geschichtsdeutung«. Denn diese Verkündigungen setzen zwar die Geschichte Israels als bekannt voraus. Doch die Deutung der »Verheißungen« des Alten Testaments auf ihre »Erfüllung« hin darf nicht mit rationaler Geschichtsdeutung verwechselt werden. 6
Vgl. H. R. Jauß, Zum geschichtlichen Ursprung der Fortschrittsidee, in: Die Philosophie und die Frage nach dem Fortschritt, Verhandlungen des Siebten Deutschen Kongresses für Philosophie 962 (gedr. 964), S. 5 ff. 43
Es gehen aber mancherlei B i l d e r aus der älteren mythischen Sprache in die spätere rationale Geschichtsdeutung ein: das »goldene Zeitalter«, das vielleicht mehrfach wiederkehrt; das Bild von Wachstum, Reife, Verfall eines Lebewesens; die Abfolge der Lebensalter eines Menschen; die in mythischen Bildern dargestellte Folge mehrerer Weltreiche usw. Unter »Geschichtsphilosophie« kann man auch »Theorie der Geschichtswissenschaft« verstehen (wie man ähnlich die »Theorie der Naturwissenschaft« zuweilen »Naturphilosophie« nennt). Doch in der historischen Kennzeichnung »die Geschichtsphilosophie der Aufklärung« tritt das Wort »Geschichtsphilosophie« in der Weise auf, daß es durch den synonymen Ausdruck »futurische philosophische Deutung des geschichtlichen Geschehens selbst« ersetzt werden kann. Diese Geschichtsphilosophie ist keine Metatheorie, d. h. sie hat nicht die Geschichtswissenschaft zum Gegenstand, sondern dieselbe Geschichte, die auch der Gegenstand der Geschichtswissenschaft ist. Im 9. Jahrhundert, seit und nach H e g e l , wird die Philosophie als »Spekulation« suspekt. Allein noch »positive Wissenschaft« gilt. Jedoch die futurische Geschichtsdeutung wird noch fortgesetzt, nunmehr als »wissenschaftlich« deklariert. Die Geschichtsphilosophie der Aufklärung ist also nur das erste Beispiel der neuzeitlichen futurischen Geschichtsdeutung. Im 20. Jahrhundert treten futurische Geschichtsdeutungen auf, die auf Untergang ausblicken (geschichtliche Bewegung auf fallender Linie). Von ihnen soll hier nicht die Rede sein, sondern lediglich von den »optimistischen« Deutungen älteren Ursprungs, die auf eine künftige »bessere Welt« ausblicken und die vor allem dem Zeitalter der Aufklärung eigentümlich sind. Es wäre künstlich, die skeptischen Geschichtsdeutungen des 20. Jahrhunderts per regulas von der futurischen Geschichtsdeutung auszuschließen. Sie stellen einen schwächer ausgebil44
deten Spezialfall dar, neben dem anderen, hier zur Erörterung anstehenden Spezialfall, den man unterscheidend » t e l e o l o g i s c h e Geschichtsdeutung« nennen kann. Im folgenden wird mit dem Ausdruck »futurische Geschichtsdeutung« immer diese historisch dominierende Species gemeint. Als Beispiele zur exemplarischen Einführung des Terminus »futurische Geschichtsdeutung« wurden bisher »die christliche Geschichtstheologie« und »die neuzeitliche Geschichtsphilosophie« angegeben – diese historischen Kennzeichnungen fassen aber beide bereits viele einzelne Geschichtsdeutungen zusammen, so daß noch Beispiele für die Prädikatoren »christliche Geschichtstheologie« und »neuzeitliche Geschichtsphilosophie« angegeben werden müssen (d. h. für die in den beiden Kennzeichnungen auftretenden Prädikatoren). Das soll jetzt geschehen, in einem historischen Überblick, der – eben zugunsten e x e m p l a r i s c h e r Erläuterung – auf Vollständigkeit von vornherein verzichtet. Ein Verständnis der Menschheitsgeschichte derart, daß diese Geschichte einem vorausgewußten guten Ende entgegengeht, kannte die griechische Antike nicht (obwohl sie den »Fortschrittsgedanken« hervorgebracht hat)7. Solchermaßen 7
Ein wenig anders verhält es sich mit der römischen Antike, sofern bei den römischen Historikern die Roma aeterna mit Selbstverständlichkeit als das Ziel der Geschichte gilt, so aber, daß die Geschichte weitergeht in eine unbestimmte und daher auch bedrohliche Zukunft. Vgl. F. Vittinghoff, Zum geschichtlichen Selbstverständnis der Spätantike, H. Z. 98 (964), S. 529 ff. Vittinghoff widerlegt hier übrigens die heute so verbreitete Ansicht, »die Antike habe Geschichte nur als in sich zurücklaufende Kreisprozesse mit rhythmischer Wiederholung des Gleichen« verstanden (S. 57). – Gegenläufig zum zyklischen Denken, das aus dem altorientalischen Mythos herkommt, entsteht schon bei den Griechen ein »Fortschrittsgedanke«, der vorwiegend an der technischen Erfindung orientiert ist, sich bei Sophisten wie Gorgias und Protagoras und bei Historikern wie Herodot zuerst findet, bei den Sophisten aber auch auf Ethik und Politik übergreift, 45
futurische Geschichtsdeutung entsteht erst im Judentum und im Christentum. Und zwar geht aus der urchristlichen E s c h a t o l o g i e futurische »Geschichtstheologie« hervor. Solange die Christusgläubigen das Hereinbrechen der Gottesherrschaft, ähnlich wie Jesus selbst, als unmittelbar bevorstehend erwarten, deuten sie interpretierend die »Verheißungen« Gottes an die Erzväter und die Propheten, ohne aber eine Geschichte nach Christus zu bedenken und zu erwarten. Das wird erst anders durch die P a r u s i e v e r z ö g e r u n g , durch das Ausbleiben der Wiederkunft des Christus. Das lukanische Geschichtswerk knüpft an eine nicht mehr nur verkündigende, sondern zugleich historische Darstellung des Lebens und Wirkens Jesu die »Apostelgeschichte«, eine Darstellung von Geschichte nach Christus also. Ferner geht aus der Betroffenheit der Gläubigen durch die eschatologische Verkündigung mehr und mehr distanziertes Nachdenken der »Christianer«, als der Vertreter einer neuen Religion, über den Weltlauf hervor, der ja als begrenzt durch Schöpfung und Gericht schon längst faßlich vor Augen steht, doch nun als Vorgeschichte und fortgehende Geschichte der christlichen »Kirche« verstanden wird. Dieses Nachdenken bedient sich anfangs der Mittel des jüdisch-christlichen Mythos, macht sich aber seit dem 2. Jahrhundert die rationalen Denkmittel der hellenistischen Philosophie zu eigen – es beginnt die Geschichte eines theologischen geschichtlichen Selbst unter dem Gesichtspunkt der zunehmenden Ordnung. Doch der antike Fortschrittsgedanke ist nicht futurisch, stellt keine alles menschliche Leben umfassende glückliche Zukunft in Aussicht (man spricht daher meist von der antiken »Kulturentstehungstheorie«). Ob es gleichwohl Zusammenhänge mit der futurischen Geschichtsdeutung der neuzeitlichen Aufklärung gibt, möge hier dahingestellt bleiben. Vgl. S. Lauffer, Der antike Fortschrittsgedanke, in: Actes du XIème Congrès international de philosophie Vol. XII (953), S. 37ff. 46
Verständnisses des »Christentums« als fortdauernder Religion, in dem sich überkommener Mythos und rationale Reflexion eigentümlich durchdringen. Was Gott von Anfang an mit der Menschheit vorhatte und wie er diesen seinen Plan schrittweise verwirklicht, das beansprucht Geschichtstheologie nun zu erkennen, und sie verteidigt damit gegen den gnostischen Dualismus von Finsternis und Licht den einheitlichen Zusammenhang von Schöpfung und Erlösung. Gott handelt an der Menschheit wie ein Erzieher – der von Lessing wieder aufgegriffene Überblick über »die Erziehung des Menschengeschlechts« zunächst durch das Gesetz, alsdann durch die Gnade (ante legem, sub lege, sub gratia) bietet sich als Grundentwurf an, schon bei T h e o p h i l u s v o n A n t i o c h i a , wieder beim jungen A u g u s t i n 8, und erzeugt die erste Variante des christlichen Fortschrittsgedankens: m o r a l i s c h e r Fortschritt bis hin zur Vollkommenheit der Erlösten (auch hier also wird der antike Begriff der Vollkommenheit übernommen). Die vieldiskutierte Frage bleibt durch die christlichen Jahrhunderte: Bewirkt allein Gott das Aufrücken der Menschen auf den Stufen der Vervollkommnung? Oder tragen die Menschen selbst etwas bei zu diesem Fortschritt? Der alte Augustin beantwortet die zweite Frage mit »nein«. Demgemäß verwandelt sich seine Lehre vom moralischen Fortschritt der 8
Eine gründlichere Darstellung der hier nur angedeuteten Vorgänge habe ich gegeben in »Christentum und Geschichtlichkeit«, S. 64ff. (die Ausbildung eines geschichtlichen Selbstverständnisses des »Christentums« als einer neuen Religion unter anderen Religionen); S. ff. (der Beginn der Geschichtstheologie); S. 3 ff. (Geschichtstheologie beim frühen und beim späten Augustin). – Ob man als ersten Zeugen christlicher Geschichtstheologie Theophilus von Antiochia oder erst Irenaeus von Lyon anzusehen habe, ist umstritten. Vgl. A. Funkenstein, Heilsplan und natürliche Entwicklung, Gegenwartsbestimmung im Geschichtsdenken des Mittelalters (965), S. 4ff., S. 9ff., S. 38 Anm. 7. 47
Menschheit unter Gottes pädagogischer Anleitung in die Lehre von der souveränen Erwählung, durch die Gott aus der Masse der Verdammten nach und nach seine Bürgerschaft, die »civitas Dei«, versammelt. Augustin hat auch, dem Donatisten Tychonius folgend, den Chiliasmus entmachtet, und zwar durch allegorische Deutung des Tausendjährigen Reichs der Johannes-Apokalypse auf die Zeit von Christus bis zum Ende, also auf das Zeitalter der Kirche. Das wird für das Mittelalter autoritäre Auslegung9, so daß schon jeder unrevolutionäre exegetische Chiliasmus wie der des Joachim von Fiore, vollends aber revolutionärer Chiliasmus gegen die offizielle Lehre der Kirche verstößt und leicht zur Sache der Ketzer und Laien wird. Die schon erwähnte Annäherung des Chiliasmus an die Utopie (oben S. 33) stößt also lange auf die Sperre der Orthodoxie. Erst im Zeitalter der Aufklärung wird das anders, und jetzt wird die futurische Geschichtstheologie selber durch futurische Geschichts-philosophie abgelöst. Denn seit dem Beginn der Neuzeit, seit dem enthusiastischen Aufbruch der Fortschrittserwartungen einer neuen Wissenschaft und Technik, entsteht ein neues Geschichtsverständnis, das sich seit dem 8. Jahrhundert als »Philosophie der Geschichte« ausspricht. Jetzt sieht man nicht mehr allein auf den moralischen Fortschritt der Menschheit unter göttlicher Anleitung. Jetzt bewegt sich der Fortschritt, ein andersartiger Fortschritt, auf eigenen Füßen, er wird »autonom«. Die neue wissenschaftliche Vernunft breitet sich aus als eine Aufklärung, die nun zugleich technisch-wissenschaftliche Weltbemächtigung und moralischer Fortschritt ist 9
W. Kamlah, Apokalypse und Geschichtstheologie, Die mittelalterliche Auslegung der Apokalypse vor Joachim von Fiore (935, neu gedruckt 965). 48
oder doch als solcher gefordert und erwartet wird. Bei Tu r g o t z. B. lesen wir 20: »Reiche erheben sich und stürzen; Gesetze, Regierungsformen lösen einander ab; Künste und Wissenschaften werden nach und nach entdeckt und vervollkommnen sich (!); einmal verzögert, dann wieder beschleunigt in ihrem Fortschritt (!) gehen sie von einer Klimazone in eine andere über. Das Interesse, der Ehrgeiz, der eitle Ruhm verändern in jedem Augenblick die Weltbühne, überschwemmen die Erde mit Blut. Und inmitten dieser Zerstörungen mildern sich die Sitten, wird der menschliche Geist aufgeklärt, nähern sich die vereinzelten Nationen einander. Endlich vereinigen der Handel und die Politik alle Teile des Globus, und die ganze Masse des Menschengeschlechts, wechselnd zwischen Ruhe und Bewegung, Gütern und Übeln, schreitet beständig, wenn auch langsam, größerer Vollkommenheit entgegen.« Im 20. Jahrhundert haben wir uns daran gewöhnt, den »Fortschritt« als unbezweifelbaren auf die Wissenschaften und die Technik beschränkt zu sehen, in dieser Beschränkung aber für unbegrenzt zu halten. Zumal der technische Fortschritt ist so vehement geworden, daß es als naiv erscheint, »Fortschritt« und »Vollkommenheit« noch zusammenzudenken, sie so zusammenzudenken, wie sowohl die christliche als auch die aufgeklärte Geschichtsdeutung das taten, indem sie beide den Vollkommenheitsbegriff der antiken Philosophie bewahrten. Für Platonisches Denken kann es etwas »Besseres« als das »Gute selbst« (die Idee des Guten) nicht geben. Alle Verbesserung im Bereich des Werdens und Vergehens kann immer nur Annäherung an das Vollkommene sein, so wie man beim Zeichnen eines Kreises Fortschritte machen kann, mit denen man doch auch 20
Tableau philosophique des progrès successifs de l’esprit humain (750), in: Oeuvres de Turgot, hg. von Gustave Schelle, Bd. (93), S. 25f. 49
im günstigsten Fall den idealen Kreis nicht erreicht. Seit Aristoteles wird dieses Modell einer Bewegung auf Vollkommenheit hin durch das Bild des Lebewesens ergänzt, das sich aus dem Samen zur Reife entwickelt. Eine aufsteigende geschichtliche Bewegung der Menschheit auf ein vollkommenes Leben hin wird dann erst in der christlichen Geschichtstheologie gedacht, der aber keineswegs, wie den antiken Kulturentstehungstheorien von den Sophisten bis Lukrez, technische Erfindungen und Verbesserungen vor Augen stehen (vgl. Anm. 7), sondern das Fortschreiten der Menschheit in Richtung auf vollkommene Tugend, vollkommene Erkenntnis, vollkommenes Glück. Diese dreieinheitliche »Vollendung« steht aber auch den Geschichtsdeutern der Aufklärung vor Augen: Durch die fortschreitende Ausbreitung der Erkenntnis (d. h. nunmehr: der Künste und Wissenschaften) werden Tugend und Glück auf den Weg der Vollendung gebracht – die Menschheit »geht g r ö ß e r e r Vollkommenheit entgegen«, sagt Turgot gleichsam mit platonischer Behutsamkeit. Während der eschatologische Gott Vollkommenheit schlicht verwirklicht, begnügt sich der geschichtlich voranschreitende und vorausdenkende Mensch mit dieser Annäherungshoffnung, übersetzt aber gerade so Geschichtstheologie in Geschichtsphilosophie. Ist damit die Formel gefunden, die den geschichtlichen Übergang von der christlichen zur profanen futurischen Geschichtsdeutung darstellt oder gar erklärt? Anders ausgedrückt: Besteht die von Wilhelm D i l t h e y aufgestellte und von Karl L ö w i t h ins Detail entfaltete These zu Recht 2, nach der ein Fall von »Säkularisierung« vorliegt, wenn sich das durch Gott erwirkte künftige Reich des ewigen Friedens in ein irdisches, von den aufgeklärten Menschen selbst erwirktes Reich verwandelt? 2
Vgl. unten Anm. 5 zu dem Aufsatz »Profanisierung und Säkularisierung«. 50
Es kommt darauf an, wie man einen solchen Satz zu verstehen hat: »Im Zeitalter der Aufklärung geht die Geschichtstheologie in Geschichtsphilosophie über.« Zweifellos, zuvor gab es das eine, dann entstand das andere, und beides ist futurische Geschichtsdeutung. Zu fragen bleibt: »eines geht in das andere über« – ist das eine bloße Metapher dafür, daß die futurische Theologie e r s e t z t wird durch futurische Philosophie? Oder findet hier wirklich »Säkularisierung« statt, d. h.: bleibt ein ursprünglich christlicher Gedanke i n d e r V e r w a n d l u n g e r h a l t e n ? (Vgl. dazu unten S. 63). Es gibt einige oft zitierte Zeugnisse dafür, daß manche der neuen Geschichtsdenker zumindest gesehen haben, daß ihr Geschichtsverständnis dem christlichen in gewisser Weise ähnelt. Z. B. sagt Kant in seiner Abhandlung »Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht« von 784 (8. Satz): »Man sieht: die Philosophie könne auch ihren Chiliasmus haben; aber einen solchen, zu dessen Herbeiführung ihre Idee, obgleich nur sehr von weitem, selbst beförderlich werden kann, der also nichts weniger als schwärmerisch ist.« Bekannt ist auch jene überschwengliche Äußerung des jungen Engels aus seiner Schelling-Kritik von 842, in der er von dem neuen Gral spricht, »um dessen Thron sich die Völker jauchzend versammeln und der alle, die sich ihm hingeben, zu Königen macht … Das ist unser Beruf, daß wir dieses Grals Tempeleisen werden, für ihn das Schwert um die Lenden gürten und unser Leben fröhlich einsetzen in den letzten, heiligen Krieg, dem das tausendjährige Reich der Freiheit folgen wird« 22. Aber solche Anspielungen der neuen Geschichtsdenker erhärten noch nicht hinreichend, daß die ungleiche Gleichheit des zweifachen futurischen Geschichtsdenkens auf Säkularisierung beruht. 22
Schelling und die Offenbarung, in: Marx/Engels, Gesamtausgabe, Erste Abt., Bd. 2, S. 226f. 51
Vorschnell soll man hier nicht urteilen. Versäumen soll man jedenfalls nicht, auf dasjenige zu achten, was g e g e n die Säkularisierungsthese spricht. Der neuzeitliche Fortschrittsenthusiasmus ist keineswegs durch Säkularisierung christlicher Hoffnung e n t s t a n d e n , sondern hat sich originaliter entzündet auf dem Boden der neuen Wissenschaft selbst. Dafür zeugt schon allein der locus classicus in Descartes’ Discours (VI, 2). Descartes spricht hier von seiner Physik, stellt diese »praktische«, die technische und medizinische Anwendung ausdrücklich pflegende Wissenschaft in Gegensatz zur aristotelisch-scholastischen, bloß »spekulativen Philosophie«, und rühmt überschwenglich die zukunftsträchtigen, das »Gemeinwohl aller Menschen« befördernden Möglichkeiten der beginnenden wissenschaftlich-technischen »Naturbeherrschung«: »Sobald ich mir einige allgemeine Grundbegriffe in der Physik verschafft hatte, diese bei verschiedenen Einzelproblemen zu erproben begann und dabei bemerkte, wohin sie führen können und wieweit sie sich von den Prinzipien unterscheiden, derer man sich bisher bedient hat, so glaubte ich, sie nicht verbergen zu dürfen, ohne sehr gegen das Gesetz zu verstoßen, das uns verpflichtet, so viel an uns liegt, das allgemeine Beste aller Menschen zu befördern. Denn sie haben mir gezeigt, daß es möglich ist, zu Kenntnissen zu gelangen, die von großem Nutzen für das Leben sind, und statt jener spekulativen Philosophie, die in den Schulen gelehrt wird, eine praktische zu finden, die uns die Kraft und Wirkungsweise des Feuers, des Wassers, der Luft, der Sterne, der Himmelskörper und aller anderen Körper, die uns umgeben, ebenso genau kennen lehrt, wie wir die verschiedenen Techniken unserer Handwerker kennen, so daß wir sie auf ebendieselbe Weise zu allen Zwecken, für die sie geeignet sind, verwenden und uns so zu Herren und Besitzern der Natur machen könnten (maitres et possesseurs de la nature).«23 52
Der Jesuitenzögling Descartes war sehr bewandert in der Theologie seiner Zeit. Nichts hätte ihn gehindert, seine von der neuen Wissenschaft inspirierten Hoffnungen auf eine glücklichere Zukunft der Menschheit in Zusammenhang mit der christlichen Eschatologie zu bringen, wenn er einen solchen Zusammenhang gesehen hätte. Aber er sah ihn nicht, und auch sein Zeitgenosse Francis B a c o n , der schon vor ihm und mit weit geringerer Kenntnis der neuen Wissenschaft vom Wissen Macht über die Natur erwartete, sah ihn gleichfalls nicht. Er sah aber, anders als Descartes, einen Zusammenhang mit der Utopie und äußerte seine Erwartungen in deren literarischer Form. Wenn Löwith also sagt: »Nur der jüdisch-christliche Futurismus konnte die Zukunft als den Horizont alles modernen Strebens und Denkens eröffnen« (S. 06), so ist ihm zu erwidern: dieses »Nur« ist unberechtigt. Die neue Wissenschaft bildet sich aus als Mechanik und Astronomie, und demgemäß bezieht sich Descartes’ Metaphysik auf die Physik, nicht auf die Geschichte. Nicht die Gründer des neuzeitlichen Denkens, sondern erst ihre Nachfolger kehren, über die Naturwissenschaft hinausgehend, in den Horizont der Geschichte zurück, deutlich etwa Vo l t a i r e , der den Ausdruck »philosophie de l’histoire« als erster verwendet. Aber seine »Geschichtsphilosophie« ist keineswegs eine futurische philosophische Deutung der Geschichte anstelle der religiösen. Vielmehr, wenn Voltaire fordert, man solle die Geschichte »en philosophe« erforschen und darstellen, so meint er: An die Stelle des naiven Aberglaubens der christlichen Geschichtstheologie, die er durch B o s s u e t repräsentiert findet, soll eine aufgeklärte k r i t i s c h e Geschichtsschreibung treten. Voltaire ist Historiker, nicht 23
Ich folge hier der Übersetzung von L. Gäbe in der »Philosophischen Bibliothek«. 53
Geschichtsphilosoph. Seine Verwendung des A u s d r u c k s »philosophie de l’histoire« darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß er die christliche Geschichtstheologie durch seine radikale Kritik b e s e i t i g t , daß er sie keineswegs in eine philosophische futurische Geschichtsdeutung umwandelt. Es ist zu verwundern, daß Löwith diesen Übergang von der Geschichtstheologie zur ausdrücklich profanen Geschichtsschreibung auch als Säkularisierung auszugeben versucht. Voltaire verhöhnt eine Geschichtsdeutung, die dem kleinen Volk der Juden die Mitte des Weltgeschehens einräumt und die ein Endziel zu kennen vorgibt. Für ihn »gipfelt« – so sagt Löwith selbst mit Recht (S. 02) – die Geschichte, sofern sie nicht nur ein ungeordnetes Chaos von Aufgängen und Niederbrüchen ist, in seiner eigenen aufgeklärten G e g e n w a r t , und auch die Aufklärung ist nicht stetig fortgeschritten, sondern durch Verdunklungen und Zusammenbrüche hindurchgegangen24. In der Geschichte der futurischen Geschichtsdeutung hat dieser hochwirksame Anführer der Aufklärung also vor allem als Kritiker und Überwinder seinen Platz. Doch wie verhält es sich mit jenen, die in der französischen Aufklärung seine Nachfolger waren wie T u r g o t und C o n dorcet? Zweifellos, sie deuten die Geschichte wiederum futurisch, sind aufgeklärte Geschichtsphilosophen in diesem besonderen Sinne. Aber die seit Descartes wirksame originale und schon bei Descartes selbst enthusiastische Zukunftserwartung war doch wahrhaftig, nachdem man in den Horizont der Geschichte zurückgekehrt war, in der Lage, sich nunmehr aus eigener Kraft und ohne Derivation von der christlichen Überlieferung als 24
Im einzelnen ist Löwiths Referat über Voltaire ausgezeichnet. Vgl. auch W. Weischedel, Voltaire und das Problem der Geschichte, in: Z. f. ph. Forschg. 2 (947), S. 48 ff. 54
futurische Geschichtsdeutung auszusprechen, und durch den Mund dieser Denker tut sie das. An jener Stelle des Discours spricht Descartes nicht von »Fortschritt«, aber das Wort drängt sich auf, und im 8. Jahrhundert wird es den Geschichtsdenkern geläufig. Als exemplarischer Zeuge dafür kann C o n d o r c e t zitiert werden. Am Ende seines »Entwurfs einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes« (794)25 läßt er den Philosophen ausblicken auf »ein Elysium, das seine Vernunft zu erschaffen vermocht hat und das seine Liebe zur Menschheit mit den reinsten Freuden verklärt« (S. 398). Condorcet hat – ähnlich Turgot – »das Bild eines Menschengeschlechts« vor Augen, »das mit festem und sicherem Schritt auf der Straße der Wahrheit, der Tugend und des Glücks einher schreitet«. Die Vorurteile und Irrtümer, die Verbrechen und Ungerechtigkeiten, von denen die Erde noch immer besudelt wird, Habsucht, Furcht und Neid wird es nicht mehr geben. Vor allem aber und immer wieder: »Freiheit« wird an die Stelle der »Sklaverei« getreten sein. Und dasselbe gesagt mit der damals und seither so gern gebrauchten Metapher: die Menschheit wird »von allen Ketten befreit« sein. Die pathetische Überschwenglichkeit dieser Hoffnung, reinster Ausdruck der hohen Aufklärung, hat mit dem enthusiastischen Chiliasmus des Christentums mancherlei gemeinsam. Das wiederhergestellte Paradies scheint in humanistischer Bildungssprache als »Elysium« wiederzukehren, und man wird nicht ausschließen dürfen, daß diese Denker der Aufklärung und Wortführer der Revolution gleichsam wetteifernd die ihnen wohlbekannte Christliche Hoffnung vor Augen hatten, daß ihre profane Heilserwartung, bis zu Marx und Lenin, die durch die 25
Ich zitiere nach der Ausgabe von W. Alff (963). 55
Profanisierung erloschene christliche Erwartung auch in den Herzen ihrer Anhänger k o m p e n s i e r t hat. Das ist jedoch nicht »Säkularisierung«. Es handelt sich nicht darum, daß sich ein christlicher Gedanke in der Profanisierung erhalten hätte oder, wie bei L e s s i n g und H e g e l , ausdrücklich konserviert worden wäre. Denn in der Tat, die aufgeklärte philosophische Geschichtsdeutung in Deutschland bietet ein anderes Bild. Hier ist der Radikalismus der Franzosen von vornherein durch L e i b n i z abgewehrt worden, der in jeder Weise zu versöhnen und zu vermitteln trachtet, auch zwischen der neuen Wissenschaft und der überkommenen Philosophie und Theologie. In seiner getreuen Nachfolge aber steht L e s s i n g 2 6 mit seiner Lehre von der »Erziehung des Menschengeschlechts«, das er zuversichtlich auf der »Bahn zu seiner Vollkommenheit« voranschreiten sieht (§ 93). Daß und wie Hegels Geschichtsphilosophie die christliche Theologie in sich »aufhebt«, ist zu bekannt, als daß es hier erörtert werden müßte. Dagegen mag noch einmal an Kant erinnert werden. In der gleichen Schrift, in der vom »Chiliasmus der Philosophie« die Rede ist, erwartet Kant von der Zukunft eine »allgemein das Recht verwaltende bürgerliche Gesellschaft« nicht nur im Rahmen der einzelnen Staaten, sondern darüber hinaus als »Völkerbund«, als »weltbürgerlichen Zustand der öffentlichen Staatssicherheit« (also eine globale Rechts- und Friedensordnung). Der »Antagonismus« der eigensüchtigen menschlichen Interessen, diese »ungesellige Geselligkeit« der menschlichen »Natur«, treibt von selbst, im Sinne eines »geheimen Mechanismus«, vom »gesetzlosen Zustand der Wilden« über eine zunächst widerwillig ertragene, dann aber 26
Vgl. B. Meyer, Lessing als Leibnizinterpret (Erlanger Diss. 967). 46 56
moralisch anerkannte gesetzliche Friedensordnung im kleinen zum »weltbürgerlichen Zustand« im großen. Und obwohl nun diese »mechanistische« Theorie keines theologischen Rückhalts zu bedürfen scheint, zeigt sich die theologische Herkunft des Vertrauens auf ein gutes Ende der Geschichte darin, daß Kant erbauliche Wendungen nicht verschmäht, daß er von der »Natur« spricht oder »besser« von der »Vorsehung«, daß er im endgerichteten Ablauf der Geschichte einen den einzelnen Menschen unbekannten »Naturplan«, eine »Naturabsicht« walten sieht. Seine Geschichtsphilosophie gerät ihm zu einer Theodizee über Leibniz hinaus, zu einer »tröstenden Aussicht in die Zukunft …, in welcher die Menschengattung in weiter Ferne vorgestellt wird, wie sie sich endlich doch zu dem Zustande emporarbeitet, in welchem alle Keime, die die Natur in sie legte, völlig können entwickelt und ihre Bestimmung hier auf Erden kann erfüllt werden. Eine solche Rechtfertigung der Natur – oder besser der Vorsehung – ist kein unwichtiger Bewegungsgrund, einen besonderen Gesichtspunkt der Weltbetrachtung zu wählen. Denn was hilft’s, die Herrlichkeit und Weisheit der Schöpfung im vernunftlosen Naturreiche zu preisen und der Betrachtung zu empfehlen, wenn der Teil des großen Schauplatzes der obersten Weisheit, der von allem diesem den Zweck enthält – die Geschichte des menschlichen Geschlechts –, ein unaufhörlicher Einwurf dagegen bleiben soll, dessen Anblick uns nötigt, unsere Augen von ihm mit Unwillen wegzuwenden, und, indem wir verzweifeln, jemals darin eine vollendete vernünftige Absicht anzutreffen, uns dahin bringt, sie nur in einer anderen Welt zu hoffen?« (Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, 9. Satz). Hier steht also die vernünftige Hoffnung auf den irdischen, von den Menschen selbst »erarbeiteten« Weltfrieden noch neben der traditionellen eschatologischen Hoffnung auf eine »andere Welt«. 57
Erst bei M a r x und E n g e l s verschwinden nicht allein alle c h r i s t l i c h e n Erinnerungen und Anlehnungen, sondern im Übergang »des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft« – über den Engels seinen bekannten Bericht geschrieben hat, in dem er sich der Aufnahme des Anliegens der Utopie wohl bewußt ist – wird auch die p h i l o s o p h i s c h e Geschichtsdeutung Kant’schen und Hegel’schen Stils durch eine nachdrücklich »wissenschaftliche« ersetzt. Die futurische Erwartung bleibt erhalten, doch wird sie fast nur noch verschwiegen genährt durch die kritische Analyse der gegenwärtigen geschichtlichen Situation im Zusammenhang von Wirtschafts- und Sozialgeschichte. P r o g n o s t i s c h ist auch die Geschichtsphilosophie Kants. Jedoch ist sie nicht p r o g r a m m a t i s c h , sie fordert nicht zum revolutionären Handeln auf. Der Fortschritt macht sich hier, trotz verwirrender Rückschläge und Umwege, in Verwirklichung der »Naturabsicht« von selbst (wieder: Aufstieg und Abstieg bei durchgängigem Aufstieg). Freilich ist Aufklärung vonnöten »und mit ihr auch ein gewisser Herzensanteil, den der aufgeklärte Mensch am Guten, das er vollkommen begreift, zu nehmen nicht vermeiden kann« (8. Satz). Zumal durch die vernünftige Entdeckung des geheimen in der Geschichte waltenden Plans kann der »für unsere Nachkommen erfreuliche Zeitpunkt s c h n e l l e r herbeigeführt« werden – mehr aber nicht, diese Schrift von 784 ist vorrevolutionär und in ihrer Zukunftserwartung übrigens nüchterner und bescheidener als andere Geschichtsdeutungen vorher und nachher. Unter den sowohl prognostischen als auch programmatischen Geschichtsdeutungen ist die marxistische wieder die bekannteste und geschichtlich folgenreichste. Geschichtliche Analyse, Prognose und Aktionsprogramm gehen ineinander über, wenn Engels sagt (am Ende seines Aufsatzes über »die 58
Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft«): »Das Proletariat ergreift die öffentliche Gewalt und verwandelt kraft dieser Gewalt die den Händen der Bourgeoisie entgleitenden gesellschaftlichen Produktionsmittel in öffentliches Eigentum. Durch diesen Akt befreit es die Produktionsmittel von ihrer bisherigen Kapitaleigenschaft und gibt ihrem gesellschaftlichen Charakter volle Freiheit, sich durchzusetzen. Eine gesellschaftliche Produktion nach vorherbestimmtem Plan wird nunmehr möglich. Die Entwicklung der Produktion macht die fernere Existenz verschiedener Gesellschaftsklassen zu einem Anachronismus. In dem Maß wie die Anarchie der gesellschaftlichen Produktion schwindet, schläft auch die politische Autorität des Staats ein. Die Menschen, endlich Herren ihrer eigenen Art der Vergesellschaftung, werden damit zugleich Herren der Natur, Herren ihrer selbst – frei. Diese weltbefreiende Tat durchzuführen, ist der geschichtliche Beruf des modernen Proletariats.« In beiden Fällen aber, bei Kant wie im Marxismus, wird, marxistisch gesprochen, eine »Tendenz« aufgewiesen, die in der Geschichte herrscht und zu deren »schnellerer« Verwirklichung der Mensch nachhelfen soll und kann, bei Kant ein wenig, nur durch Aufklärung, im Marxismus gewaltig und gewaltsam, durch Aufklärung plus Revolution. Der Unterschied zwischen »philosophischer« und »wissenschaftlicher« futurischer Geschichtsdeutung ist also, was die hier anstehenden Fragen betrifft, nicht so erheblich, wie auf Wissenschaftlichkeit pochende Marxisten zu erklären pflegen. Beiden gemeinsam ist eben die Prognose, d. h. in beiden Fällen verbinden sich Aussagen über die bisher erkennbare Bewegung der Geschichte mit Aussagen über die Zukunft, ja mit Aussagen über einen endzeitlichen, wenngleich innerweltlichen Heilszustand der Menschheit27. 59
Somit hat sich herausgestellt: Die Säkularisierungsthese von Dilthey und Löwith läßt sich als g e n e r e l l e r Satz nicht halten. Es ist nicht wahr, daß »die« profane neuzeitliche Geschichtsphilosophie durch Säkularisierung aus der christlichen Geschichtstheologie hervorgegangen sei. Die These läßt sich nur halten als p a r t i k u l a r e r Satz: Einige Geschichtsphilosophien der Neuzeit – man findet sie in Deutschland, kaum in Frankreich – sind in der Tat durch Säkularisierung aus der christlichen Geschichtsdeutung hervorgegangen (vgl. auch unten S. 63). Säkularisierungsvorgänge können sich von selbst ergeben (vgl. unten S. 68), sie können aber auch beabsichtigt sein, und dies gilt für die deutsche Geschichtsphilosophie von Lessing und Hegel, von der man ja sogar sagen mag, daß sie in gewisser Weise Theologie geblieben ist und bleiben wollte. Ist es nun noch zweckmäßig, angesichts dieses etwas komplizierten Untersuchungsergebnisses, von »futurischer Geschichtsdeutung« zu sprechen, d. h. sowohl der christlichen Geschichtstheologie als auch der profanen Geschichtsphilosophie denselben Prädikator zuzusprechen, was doch leicht zur Bildung der historischen Kennzeichnung »die futurische Geschichtsdeutung (des Abendlandes)« verleitet – dann hätte man ein »einheitliches Phänomen« in zwei Varianten, die durch historische Abwandlung eine aus der anderen hervorgegangen sind, und die Kritik an der Säkularisierungsthese verlöre sich in einen Streit um Worte. Wer sich dieser Verleitung und Versuchung nicht gewach27
Die heutzutage mehr und mehr entwickelten, auf statistischen Erhebungen beruhenden Prognosen, unentbehrliche Voraussagen für die nächsten Jahre und Jahrzehnte, die Planung ermöglichen, sind selbstverständlich von den Prognosen der futurischen Geschichtsdeutung durchaus verschieden. Vgl. G. Picht, Was fordert die Zukunft von uns?, aber auch H. Lübbe, Ernst und Unernst der Zukunftsforschung, in: Merkur 23 (969), S. ff. und S. 25 ff. 60
sen glaubt, der sollte in der Tat auf den Ausdruck »futurische Geschichtsdeutung« verzichten. Jedenfalls ist es unerlaubt, die Kennzeichnung »die futurische Geschichtsdeutung des Abendlandes« zu bilden. Erlaubt ist nur, sowohl der Geschichtstheologie wie auch der späteren Geschichtsphilosophie den Prädikator »futurische Geschichtsdeutung« zuzusprechen, und ferner, historisch im einzelnen nachzusehen, wie nun, in Abwandlung und Widerspruch, eines auf das andere gefolgt ist. Wie behutsam man hier vorgehen muß, sei an einem analogen Fall erläutert: Der Kommunismus und der Nationalsozialismus haben mancherlei gemeinsam, und beiden Gegenständen hat man, wohl zu Recht, den Prädikator »totalitär« zugesprochen (ob zu Recht, hängt von der Bestimmung dieses Prädikators ab). Man darf aber schwerlich von hier aus weitergehen und von »dem Totalitarismus« sprechen, als habe man nun nicht mehr zwei Gegenstände mit einer gemeinsamen Eigenschaft, sondern einen Gegenstand in zwei »Ausprägungen« oder in zwei »Erscheinungsformen« – oder wie immer man dann zu sagen pflegt – vor Augen. Der gute Historiker wird immer Gemeinsamkeiten aufdecken und durch Prädikatoren angeben, mit der Bildung historischer Kennzeichnungen jedoch zurückhaltend sein. Am Ende unterscheiden wir also die Utopie von der Eschatologie, ferner die christliche Geschichtstheologie von der profanen futurischen Geschichtsdeutung der Neuzeit. In allen vier Fällen meldet sich der bedürftige Mensch zu Wort, der an seiner mangelhaften Gegenwart leidet und über sie hinausdenkt. Aber nicht in jedem dieser Fälle tut er das »utopisch« (im strengen Sinne), sondern jedesmal anders. Man kann nur klar unterscheiden, wenn man auch auf das Verbindende und Gemeinsame achtet. Z. B. haben die Utopie und die Geschichtsphilosophie der Aufklärung den Ausblick auf Vollkommenheit als eine vom Menschen selbst zu erwirkende 61
gemeinsam. Jedoch im Falle der Utopie wird das vollkommene gemeinsame Leben nur fingiert, im Falle der Geschichtsphilosophie dagegen prognostisch in der Zukunft gesehen oder gar programmatisch als Handlungsziel proklamiert. Im Falle der Utopie herrscht die Ausmalung vielfältiger Institutionen vor, auf die es den Geschichtsphilosophen meist nicht ankommt, aber Verbindungen von Utopie und Geschichtsphilosophie sind möglich. Der Chiliasmus wiederum kann die Utopie mit christlicher Geschichtsdeutung verbinden, und noch andere Überschneidungen sind vorgekommen und vom Historiker zu verzeichnen. Die Utopie trägt die Spuren ihrer antiken Herkunft gerade in ihrer Geschichtsfremdheit an der Stirn. Sie ist nicht zuletzt deshalb ausgestorben, weil dem neuzeitlichen Denken die Orientierung in der Dimension der Geschichte zur Selbstverständlichkeit wurde. Und zu dieser Neuorientierung hat zweierlei beigetragen: zum einen das Nachwirken der Eschatologie und der Geschichtstheologie, zum anderen das Aufkommen der originalen Hoffnung auf die Leistungsfähigkeit von Vernunft, Wissenschaft, Technik. Aber auch diese neue Hoffnung übernahm zunächst humanistisch den Ausblick auf »Vollkommenheit«. Sehr bezeichnend schon der ursprüngliche Titel von Descartes’ Discours: »Le projet d’une science universelle qui puisse élever notre nature à son plus haut degré de perfection …« 28. Und noch Kant spricht (in dem angeführten Zitat) von dem Endzustand der Menschheit, in dem »alle K e i m e , die die N a t u r in sie legte, völlig (vollkommen) können entwickelt … werden«. Der festgehaltene t e l e o l o g i s c h e Ausblick auf Vollkommenheit und der nachwirkende e s c h a t o l o g i s c h e Ausblick auf ewiges Heil haben dem Menschen der Neuzeit diese 28
Brief aus Leyden, März 636, an Mersenne. 62
schwere Erbschaft auferlegt: daß er es nicht lassen kann, auf das E n d g ü l t i g e auszublicken, als hoffender Christ oder als revolutionärer Marxist. Auf zum letzten Gefecht! Alle Tränen, auch die letzte, wird Gott abwischen. Oder aber alles schlägt um in endgültigen Untergang. Utopie, Eschatologie, Geschichtstheologie, neuzeitliche futurische Geschichtsdeutung haben also nicht allein dies gemeinsam, daß sie Zeugnisse des bedürftigen und leidenden Menschen sind, der stets, sofern er nur Mensch ist, über seine bedrängte Gegenwart hinausdenkt. Sie haben darüber hinaus dies g e s c h i c h t l i c h B e s o n d e r e gemeinsam, daß sie auf ein endgültiges Heil ausblicken. Daß es darauf ankommen könnte, moralischen und politischen Leitideen auch dann zu folgen, wenn ihre institutionelle Verwirklichung das Leiden mindern, doch nicht aus der Welt schaffen würde; daß es darauf ankommen könnte, solchen Leitideen auch dann zu folgen, wenn man nicht sagen kann, die Geschichte habe sich schon immer auf ihre Verwirklichung zubewegt; daß es ferner darauf ankommen könnte, ein gelingendes Leben immer wieder zu gewinnen und vor der stets andringenden Barbarei zu retten, auch wenn es keinen Endsieg geben wird in diesem Kampf, weder einen göttlichen noch einen menschlichen, dies einzusehen, scheint unsere Kräfte zu übersteigen. Es übersteigt unsere Kräfte aber nur so lange, wie wir von der Gewohnheit nicht loskommen, den Ausblick auf ein gutes Ende der Geschichte für eine unabdingbare Lebensbedingung zu halten. Es hat sich geschichtlich erwiesen, daß dieser Ausblick Trost bietet – wie Kant in Übereinstimmung mit der christlichen Überlieferung sagt –, ja, daß er nicht allein das geduldige Ertragen, sondern auch das zuversichtliche Handeln mit Kräften versieht. Solche praktische Bewährung begründet aber nichts, wenn sie sich auf Illusionen stützt. Sie war als Bewährung auch 63
stets zweideutig, da immer auch moralische Selbstgerechtigkeit und Fanatismus entbunden und gekräftigt wurden und noch heute werden. Die Philosophen der Antike versteiften sich auf diese Lebensbedingung nicht und haben insofern ein Beispiel gegeben. Doch sofern sie statt auf Zukunft auf das ewig Seiende ausblickten, kann auch ihr Beispiel heute nicht mehr unmittelbar hilfreich sein. Der Mensch der Neuzeit muß wieder einmal neu beginnen, nach so viel Erfolgen der geistigen und technischen Weltbemächtigung den Weg für sein Lebenkönnen erst noch suchen, »ἰδία ϰαἰ δημοσία«, wie die Griechen gern sagten (»privat und öffentlich«).29
29
Nachtrag zu S. 29: »Mythos« und »Mythologie«. Im Griechischen ist ursprünglich »mythos« überliefertes gültiges »Wort«, genauer: Mythen sind verbürgte Erzählungen von Göttern, Heroen, Urzeit, Unterwelt. Als überliefert geprägte sind sie Redeschemata (LP II, 2 und III, 6), die Bestand haben, indem sie immer wieder aktuell erzählt und eben dadurch überliefert werden. (Die Unterscheidung von Schema und Aktualisierung macht klar, daß »Erzählungen erzählen« kein bloß tautologischer Ausdruck ist.) Demgemäß heißt ursprünglich derjenige, der »Mythen erzählt«, »mythologos«, und das Mythenerzählen heißt »mythologia«. (»mythos« und »mythologia« unterscheiden sich damals also ähnlich wie heute musikalisches Werk und musikalische Reproduktion.) Vgl. K. Kerenyi, Umgang mit Göttlichem (96), S. 30 ff. Die heutige kritische I n t e r p r e t a t i o n mythischer Texte nun bezieht sich auf diese Texte, d. h. auf die M y t h e n s e l b s t , deren Prägung zu Schemata von der mündlichen Überlieferung in den geschriebenen Text übergegangen ist, nicht aber auf das einstige »Mythensagen« als je aktuelle vergangene Handlung. Auch daraus ergibt sich der Vorschlag, man solle statt von »Entmythologisierung« von »Entmythisierung« sprechen. Dieser Vorschlag ist also nicht notwendig mit dem weiteren Vorschlag verbunden, h e u t e das Wort »Mythologie« so zu verwenden, wie es z. B. Hermann Usener verwendet hat, nämlich im Sinne von »Wissenschaft von den Mythen«. 64
PROFANISIERUNG UND SÄKULARISIERUNG Daß die Wörter »profan« und »säkular« der Lautgestalt nach verschieden sind, bietet die Chance, sie als Termini zu unterscheiden. Im folgenden wird vorgeschlagen, diese Chance nicht länger ungenutzt zu lassen. Denn es gibt innerhalb des globalen geschichtlichen Vorgangs der »Profanisierung« unserer Welt b e s o n d e r e »Säkularisierungs«-Vorgänge, d. h. es gilt, einen U n t e r s c h i e d z u s e h e n , der keineswegs nur historisch bedeutsam ist und der in der bisherigen Diskussion noch kaum Beachtung gefunden hat. 2
. Profanisierung Der Prädikator »profan« dient in unseren europäischen Sprachen der Unterscheidung z. B. profaner Bauten von Sakralbauten (Tempeln, Kirchen), profaner von »heiligen« Stätten, Zeiten, Handlungen, Personen, Geräten, Schriften usf. Ein Telefonbuch etwa ist als profaner Gegenstand verschieden von der »Heiligen Schrift«. Ein Familienausflug im Auto ist als profane Handlung verschieden von einer kultischen Handlung wie der »heiligen Messe«. Solche Aussagen beschreiben zunächst e m p i r i s c h den umgangssprachlichen und zugleich bildungssprachlichen Sprachgebrauch. Da dieser auf das Lateinische zurückgeht, so daß »profan« im Deutschen Fremdwort ist, hat er den Vorteil, in Europa interlingual zu sein. 2
Vgl. den umsichtigen Bericht von H. Lübbe, Säkularisierung, Geschichte eines ideenpolitischen Begriffs (965). In Lübbes Bericht ist noch nicht berücksichtigt: H. Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit (966), S. 9ff. 65
Doch über solche empirische Beschreibung hinaus soll hier n o r m a t i v vorgeschlagen werden, diesen Sprachgebrauch beizubehalten. Es wurden einige Beispiele angegeben, dazu die Prädikatorenregel: x ε profan => x ε’ heilig, mit der die andere Regel äquivalent ist: x ε heilig => x ε’ profan. D. h. wir fassen diese beiden Prädikatoren nunmehr als T e r m i n i auf und zwar als konträre (LP III, ). Als Termini welcher Wissenschaft? Keineswegs allein der Theologie, sondern darüber hinaus der allgemeinen Religionswissenschaft. In dieser Wissenschaft haben sich diese Termini bereits bewährt 3. (Hier kann davon abgesehen werden, welche religionswissenschaftlichen Unterscheidungen i n n e r h a l b des Bereichs des Heiligen etwa vonnöten sind). Die Forderung, unserer traditionellen Bildungs- und Wissenschaftssprache zu mißtrauen (LP Einleitung), schließt nicht aus, im Einzelfall ihre Termini, nach kritischer Prüfung, wieder aufzugreifen. »Profanisierung« nun ist zunächst zu unterscheiden von » P r o f a n i e r u n g « (lateinisch: profanatio, englisch und französisch: profanation). Wer ein Heiligtum »entweiht«, der »profaniert« es – in einer Umwelt, in der durch solches »Sakrileg« die Grenze zwischen dem sacrum (sanctum) einerseits und dem profanum andererseits nicht verrückt wird. Beispiele: Soldaten benutzen eine Kirche als Pferdestall. Ein »Frevler« benutzt einen 3
Zur Etymologie und Geschichte der Wörter »heilig« und »profan«: G. Lanczkowski, in: RGG 3. Aufl. III, Sp. 46ff. Hier ferner wichtig die Feststellung: »In der modernen Religionswissenschaft hat sich der Gegensatz zwischen Heilig und Profan immer mehr als grundlegend herausgestellt, und das Heilige ist damit in seinem heutigen religionswissenschaftlichen Verständnis zum Kriterium des Religiösen schlechthin geworden«. 66
Meßkelch bei einer Sauferei – in einer religiösen Umwelt, in der solche Handlungen verurteilt werden. Prädikatorenregeln: x ε Profanierung => x ε menschliche Handlung x ε Profanierung <=> x ε Entweihung. Der Terminus » P r o f a n i s i e r u n g « dagegen – so wird hier weiterhin und nun nicht mehr in Anlehnung an den bestehenden Sprachgebrauch vorgeschlagen – soll eine V e r ä n d e r u n g folgender Art bezeichnen (zunächst nicht eine Handlung, sondern eine geschichtliche Veränderung): Was vordem als heilig g a l t , gilt jetzt als profan. Beispiele: Die »Heilige Schrift« gilt heute als eine historisch-philologisch zu erforschende Sammlung sehr verschiedenartiger Schriften durchaus menschlicher Autoren. Ein Altar wird nur noch mit kunsthistorischem Interesse betrachtet. Die Gestirne, die einst als göttlich oder als besonders vollkommene Schöpfungswerke Gottes galten, gelten heute als denselben physikalischen Gesetzen unterliegend wie die Erde. Für denselben geschichtlichen Vorgang hat Max W e b e r gelegentlich den Ausdruck »Entzauberung« verwendet, so daß sich die Regeln ergeben: x ε Profanisierung => x ε geschichtliche Veränderung x ε Profanisierung <=> x ε Entzauberung im Sinne Max Webers. Exemplarische Einführung von Prädikatoren soll tunlich nicht allein durch Beispiele, sondern auch durch Gegenbeispiele erfolgen. Im Sinne dieser Anweisung dürfte der unterscheidende Vergleich der modernen Profanisierung mit der reformatorischen »Weltent-heiligung« von Nutzen sein: Eine katholische Landschaft ist noch heute reich an Kapellen, Kruzifixen am Wegrand. Die katholische Kirche kennt noch immer heilige Handlungen, Personen, Institutionen. Der Protestantismus hingegen wirkt »nüchterner«, weil in seinem Bereich das »Sa67
krament« zurückgedrängt wurde durch das »Wort«. L u t h e r hat, im Zuge seines Protestes gegen kirchliche und mönchische »Werkheiligkeit«, die sakral-hierarchische Ordnung des Mittelalters angegriffen. Von der »Obrigkeit« z. B. forderte er, sie solle »weltlich« sein, während im Mittelalter das Herrschertum als sakrale Institution verstanden wurde. Diese Handlung Luthers soll – in Anlehnung an den bestehenden Sprachgebrauch – durch die K e n n z e i c h n u n g »Luthers Weltentheiligung« angegeben werden. Luthers Weltentheiligung ist von der modernen Profanisierung der Welt gänzlich verschieden. Sie erfolgte nicht durch und nicht zugunsten von Wissenschaft und Technik, sondern als »Absage an jegliche Sakramentalisierung« der Welt durch den »klerikalen Menschen« 4 zugunsten eines neuen Verständnisses des christlichen »Glaubens« selbst. An einer Förderung der Wissenschaften – von der humanistischen Sprachwissenschaft als Hilfswissenschaft der Theologie abgesehen – war Luther gänzlich uninteressiert, und wenn er von der »natürlichen Vernunft« sagte, daß die weltlichen Dinge durch sie zu ordnen seien, so meinte er damit lediglich die p l a n e n d e K l u g h e i t , mit der man regiert, wirtschaftet, Häuser baut. Noch einmal: Seine Weltentheiligung unternahm er gegen den Anspruch bevorzugter menschlicher Heiligkeit zugunsten der alleinigen Heiligkeit eines überweltlichen Gottes – die aber der modernen Profanisierung auch zum Opfer gefallen ist, indem die Menschen aufhörten, an diesen Gott zu g l a u b e n . Was den christlichen Glauben und sein beständiges Zurückweichen in der modernen Welt betrifft, so dürften alle christlichen Konfessionen von der E n t c h r i s t l i c h u n g der Welt in gleicher Weise betroffen sein. 4
W. Link, Das Ringen Luthers um die Freiheit der Theologie von der Philosophie (955), S. 359. 68
»Profanisierung« ist ein Terminus, ein normierter Prädikator. Wie der Ausdruck »die reformatorische Weltentheiligung«, so ist ferner auch der Ausdruck »die Profanisierung der modernen Welt« eine historische Kennzeichnung. Das gleiche gilt für den Ausdruck »die Entchristlichung der modernen Welt«. Dieser so gekennzeichnete Vorgang ist der uns Europäer vor allem angehende Teilvorgang der globalen Profanisierung der Welt. Oder, auf die Prädikatoren gesehen: »Entchristlichung« ist der für uns Europäer bedeutsamste Spezialfall von »Profanisierung«. Und der Terminus »Profanisierung« gehört nun nicht mehr allein der Religionswissenschaft an, sondern zugleich mehreren anderen Wissenschaften, auch der Philosophie. Die Beispiele, an denen der Prädikator »Profanisierung« zunächst erläutert wurde, müssen also ergänzt werden. Denn die Profanisierung der modernen Welt hat die Menschen nicht allein in ihrem – ehedem kultischen – Ve r h a l t e n , sondern ebensosehr in ihrem – ehedem gläubigen – R e d e n u n d D e n k e n ergriffen. Diese Menschen leben heute, indem die Ausnahmen seltener werden, ohne Religion, ohne Kultus, ohne Glauben. Sie leben »in der Profanität«. Doch damit die terminologischen Unterscheidungen sich nicht schon wieder verwischen, indem wir jetzt, vieles zusammenfassend, zu großzügig reden, gilt es nunmehr zu verdeutlichen: Das Prädikatorenpaar »heilig – profan« reicht als Hintergrund des Terminus »Profanisierung« nicht aus. Offenbar ist es zweckmäßig, diesen Terminus nicht allein anzuwenden, wenn vordem als heilig Geltendes nunmehr als profan gilt, sondern auch dann, wenn z. B. kultisches menschliches Verhalten durch »profanes« Verhalten abgelöst wird. Kultisches Verhalten bezieht sich auf Heiliges, gilt aber in der Regel nicht selbst als heilig. Dagegen wollen wir dem Ausflug im Auto, also einer menschlichen Handlung, den Prädikator »profan« zusprechen und den 69
Anwendungsbereich des Terminus »profanisieren« demgemäß erweitern. Kultische Verehrung von Heiligem ist ein Spezialfall von »religio«, von ehrfürchtigem Verhalten gegenüber Gott oder Göttern, in die Sprache der Religionswissenschaft übertragen: ein Spezialfall von »religiösem« Verhalten neben z. B. »Glauben« an ehrwürdige Überlieferungen, insbesondere an Mythen, d. h. an Erzählungen von Göttern, von göttlichen Handlungen, die häufig durch kultische Handlungen regelmäßig vergegenwärtigt werden, aber auch durch wiederholtes aktuelles Sprechen von Texten, die gegebenenfalls, wie im Judentum und Christentum, als »heilige Schriften« kodifiziert werden. Dieses ganze Gewebe von Kultus, Mythos, von religiösen Handlungs-, Verhaltens-, Redenormen und -gewohnheiten wird durch die »Profanisierung« zerstört und aufgelöst. Die Zerstörung der Mythen, das Erlöschen ihrer gültigen Ehrwürdigkeit und Glaubwürdigkeit, die »Entmythisierung« also, auch sie ist ein Spezialfall, »eine Seite«, wie man zu sagen pflegt, der Profanisierung. »Der moderne Mensch lebt in der Profanität«, dieser Satz ist sachverhaltsgleich mit dem Satz »der moderne Mensch lebt ohne Religion« (beides sind selbstverständlich generelle Sätze, für die in symbolischer Schreibweise der Allquantor zu verwenden wäre). Zur Rechtfertigung der Verwendung des Wortes »profan« für die Darstellung dieses generellen Sachverhalts gilt es aber, noch folgendes nachzutragen: In der heutigen Religionswissenschaft gilt das »Heilige« als »Kriterium des Religiösen schlechthin« (vgl. Anm. 3), d. h. man verwendet eine Prädikatorenregel, dergemäß religiöses Verhalten immer ein Verhalten in bezug auf Heiliges ist. Erkennt man diese Regel an, dann ergibt sich: Wo keinerlei Heiliges mehr von Profanem abgegrenzt wird, wo somit die Unterscheidung »heilig – profan« nicht mehr aktuell angewendet wird, da findet keinerlei religiöses Verhalten mehr statt (kein Kult, kein Gebet, kein Glaube …), da herrscht Religi70
onslosigkeit – damit ist die Synonymität der Termini »moderne Profanität« und »moderne Areligiosität« gerechtfertigt. Nun glauben doch aber noch viele Menschen an Christus, lesen andächtig in der »Heiligen Schrift«, besuchen regelmäßig die »heilige Messe«, verehren vielleicht den »Heiligen Vater« in Rom, zweifeln nicht an der Heiligkeit überlieferter christlicher Normen und Institutionen. Ist damit der generelle Satz über die Religionslosigkeit »des modernen Menschen« nicht widerlegt? In gewisser Weise ja, in anderer Weise nein. Gewiß sind viele moderne Menschen auch heute noch gläubige Christen – insofern ist der Satz widerlegt. Er gilt jedoch insofern, als die fortschreitende Modernität der modernen Welt gerade mit der fortschreitenden Entchristlichung dieser Welt einhergeht, mit der weiterhin andauernden Profanisierung also. Wir leben in der Profanität, d. h., so ist das eingangs Gesagte nun zu präzisieren: Die Unterscheidung »heilig – profan« ist nicht mehr aktuell religiös, sondern nur noch religionswissenschaftlich anwendbar, im Blick auf religiöse Restbezirke heute, christliche und außerchristliche, zumal aber im Rückblick auf unsere eigene Vergangenheit, die christliche und die vorchristliche. Aber auch auf Vergangenes ist die Unterscheidung nichtmehr aktuell religiös anwendbar, d. h. der moderne Mensch hält die vergangene aktuelle Ausgrenzung und Verehrung von Heiligem für ein Verhalten, das von Selbsttäuschungen bestimmt ist. »In Wahrheit« war der »Sohn Gottes« ein Mensch wie jeder andere, »in Wahrheit« sind Mythen durch fingierende menschliche Rede entstanden, »in Wahrheit« hat nur die fromme Scheu naiver Menschen bewirkt, daß sie einen »heiligen Quell« oder dergleichen zu kennen vermeinten. Diese profanisierende Einschätzung vergangener Religiosität kann durchaus mit der Ansicht verbunden sein, religiöses Verhalten, Reden und Den71
ken sei der modernen Profanität an wahrer anthropologischer Einsicht in gewisser Weise überlegen. Auch wer auf der Suche nach überlegener Wahrheit z. B. ehedem heilige Texte ent-mythisierend interpretiert, unterscheidet doch in keiner Weise mehr aktuell-religiös Heiliges von Profanem. Jedoch wozu dann überhaupt die Rede von der modernen »Profanität«? Wo nichts Heiliges mehr ist, da ist ja per regulas auch nichts Profanes mehr. In der Tat, von der modernen »Profanität« zu reden, ist nur sinnvoll im Hinblick auf die noch fortgehende, d. h. auf die noch nicht abgeschlossene P r o f a n i s i e r u n g .
2. Kritik der Säkularisierungstheologie Nun wird diese geschichtliche Veränderung unserer Welt, über deren Tragweite es keinerlei Streit geben dürfte, in der Geschichtswissenschaft, in der Sozialwissenschaft, in der Theologie, in der Philosophie erst seit einigen Generationen als solche beachtet, und man hat sie vorerst unter den Terminus »Säkularisierung« gestellt: So gelegentlich Ernst T r o e l t s c h , auch Max W e b e r drückt sich zuweilen so aus, während er zugleich, wie schon erwähnt, den Ausdruck »Entzauberung« verwendet, vor allem aber Wilhelm D i l t h e y , der von der Geschichtsphilosophie der Aufklärung sagt – unter Verweis auf Turgot und Comte, auf Lessing, Herder, Kant und Hegel –, sie habe die von Augustin herkommende und zuletzt von Bossuet formulierte Theologie der Geschichte säkularisiert (die von Löwith dann aufgegriffene These)5. Wie war man zu dieser Wortwahl gekommen? 5
W. Dilthey, Gesammelte Schriften I, S. 99ff. Vgl. ferner II, S. 9, S. 422. Leider fehlt Dilthey in Lübbes sonst so umsichtigem Bericht, und auch Löwith erwähnt ihn erstaunlicherweise nicht. 72
Man kannte aus der Geschichte die »Säkularisation« (»Säkularisierung« im ursprünglichen Sinne), d. h. die Aneignung von »geistlichen« Eigentums- und Herrschaftsrechten durch die »weltliche« politische Gewalt, »erstmals durch Karl Martell vollzogen, der mit dem eingezogenen Besitz seine Vasallen dotierte« – prägnanter als der Große Duden kann man es nicht in Erinnerung bringen –, in größerem Maßstab und aus anderen Motiven während der Reformation praktiziert, durch den Reichsdeputationshauptschluß von 803, wieder unter Mitwirkung neuer Motive, für ganz Deutschland gründlich zum Abschluß gebracht. Von diesem der Geschichtswissenschaft wohl bekannten Vorgang ausgehend sprach man dann von »Säkularisierung« im ü b e r t r a g e n e n Sinne (»Säkularisierung« im ursprünglichen Sinne soll im folgenden nur noch »Säkularisation« heißen). Zunächst hat man, in England seit der Mitte des 9. Jahrhunderts, seit den achtziger Jahren auch in Deutschland, »Säkularisierung« g e f o r d e r t . Man hat protestiert z. B. gegen die staatlich gestützte Bevormundung des Schulwesens durch die Kirchen (Gründung der Londoner »Secular Society« 846, der »Deutschen Gesellschaft für Ethische Kultur« 892). Das Wort wurde Parole der Emanzipation, des Kulturkampfs, des Freidenkertums. Alsdann erst ging es, als k o g n i t i v e r P r ä d i k a t o r , in die Sprache der Wissenschaften ein (wobei Hermann Lübbe rechtzugeben ist, wenn er darauf insistiert, daß auch in den Wissenschaften nicht »wertfrei« von Säkularisierung gesprochen wird und gesprochen werden kann, sofern es stets um die Frage geht, ob wir die Entchristlichung der Welt, deren Zeugen wir noch immer sind, mit Genugtuung oder mit Besorgnis zu konstatieren haben). In der gegenwärtigen Diskussion insbesondere aktuell ist nun noch immer die Interpretation, der die »Säkularisierung« nach 73
dem Zweiten Weltkrieg durch Friedrich G o g a r t e n unterworfen wurde. Nach ihm ist die Säkularisierung eine Folge des Christentums selbst 6: Die ehedem von Göttern und Heiligtümern reich bevölkerte Welt wurde entmythisiert und entzaubert durch die Verkündigung des einen, außer- und überweltlichen Gottes der Bibel, der die Welt dem Menschen »freigegeben hat« zur Beherrschung durch vernünftige Wissenschaft und Technik. Während frühere Theologengenerationen durch die vordringende »Verweltlichung« und ihre »Zersetzungserscheinungen« beunruhigt wurden, scheint sich nun herauszustellen: Der christliche Glaube selbst bewirkt, ja erfordert und legitimiert geradezu diese »Säkularisierung«. Gerade indem man »Gott Gott sein läßt« und »die Welt Welt sein läßt«, erfüllt sich erst das Christentum. »Der Mensch zwischen Gott und Welt« – ein Buchtitel von Gogarten – gehorcht als »der Sohn dem Vater« und beherrscht, durch den Vater ermächtigt, die Welt (womit auch die Gottessohnschaft Jesu eine modernen Ohren zumutbare Deutung erhält). Gogartens wohlbegreifliches Anliegen ist es, dem Problem der Säkularisierung theologisch eine positive Wendung zu geben (»aus der Not eine Tugend zu machen«, wäre zu grob gesagt): Der Christ soll die moderne Weltlichkeit der Welt nicht schelten, nicht fürchten, nicht apologetisch bewältigen, sondern sie rundum anerkennen, ja an ihr in der »Freiheit des Glaubens« verantwortlieh mitwirken und dadurch ihrer »Entartung zum Säkularismus« entgegenwirken. Doch diese t h e o l o g i s c h e Forderung – die hier als solche nicht zur Diskussion steht – bedient sich irriger h i s t o r i s c h e r Thesen, die bei dem Dogmatiker Gogarten explizit wenig hervortreten, seither aber 6
Vgl. dazu meine kritischen Bemerkungen in: Evang. Theol. 4 (954), S. 7 ff. – F. Gogarten, Verhängnis und Hoffnung der Neuzeit (953, 2. Aufl. 958). 74
in der protestantischen Theologie wie Selbstverständlichkeiten in Umlauf gekommen sind, mitgetragen von der »befreienden« Wirkung des theologischen Appells, und zu denen nun einiges zu sagen ist. Die Wurzeln der neuzeitlichen Wissenschaft und Technik und damit der modernen Profanität liegen freilich zu einem Teil in der Bibel und ihrer Lehre von dem einen Gott, der die Welt geschaffen und alle anderen Götter entmächtigt, zu »Götzen« erniedrigt hat. Zu einem anderen und gewichtigeren Teil aber liegen sie in der W i s s e n s c h a f t d e r A n t i k e , die durch die christliche Kirche für lange Jahrhunderte zugleich aufbewahrt und entmündigt war, sich seit dem 6. Jahrhundert jedoch von der kirchlichen Autorität befreite und zu einer neuen, nunmehr unaufhaltsamen Bewegung aufbrach (vgl. die beiden folgenden Abhandlungen). Während theologische Aussagen nicht nur im Mittelalter und bei Luther, sondern noch heute dadurch gerechtfertigt werden, daß man sie durch Interpretation auf die »Heilige Schrift« zurückführt– wenn nicht gar auf noch andere kirchliche Autoritäten, z. B. auf das Dogma –, haben die Griechen die Vernunft in die Welt gebracht und damit nicht allein den k o g n i t i v e n g e n e r e l l e n S a t z 7, sondern zugleich die Forderung an alle Wissenschaft und Philosophie, ihre Sätze zu begründen ohne den Hinweis auf traditionell Geltendes, allein durch Mittel, die j e d e r m a n n und jedermann s e l b s t ä n d i g anzuwenden vermag – z. B. durch logisches Schließen oder durch Beobachtung oder durch Einsicht hinsichtlich des Unterschieds von »gut« und »schlecht«. Diese Forderung bewirkte schon damals »Auf klärung«, d. h. ein profanisierendes R e d e n u n d D e n k e n als Kritik der überlieferten Religion 7
Vgl. LP V: Die logischen Partikeln und der generelle Satz. 75
und ihrer Mythen. Denn mythische Berichte von Göttern und Helden der Vorzeit bestehen aus singularen Sätzen, die nicht vernünftig begründet, sondern nur gläubig angenommen und von Generation zu Generation überliefert werden können. Und auch die neuzeitliche Aufklärung des 7. und 8. Jahrhunderts, die an ihre antike Vorgängerin radikalisierend wiederanknüpft, ist ein Werk nicht des G l a u b e n s , sondern der selbständigen und k r i t i s c h e n V e r n u n f t (nicht der harmlosen »Vernunft«, der Luther die »weltlichen« Angelegenheiten überlassen wollte). Freilich sind, wie bekannt genug, die neuzeitliche Aufklärung, ihre Entzauberung der Welt, ihre Kritik des Mythos (jetzt auch des christlichen) weitaus r a d i k a l e r ausgefallen als die antike Aufklärung, und dieser Unterschied, lediglich er, ist in gewisser Weise eine Folge des Christentums selbst, was folgendermaßen zu verstehen ist: Die explosive Kraft der neuzeitlichen Wissenschaft geht von ihrer neuen Physik, genauer: Mechanik aus, und diese entsteht, wie Carl Friedrich von W e i z s ä c k e r mit Recht zu sagen liebt, aus einer »Ehe von Mathematik und Handwerk« (genauer: aus der Verbindung einer reinen Kinematik mit Experiment und Technik). Nun war aber in der Antike die Mathematik, obwohl schon kräftig ausgebildet, seit A r i s t o t e l e s ohne Zugang zur Physik und schon seit P l a t o n einer religiösen Metaphysik verbunden, die ihrer Verbindung zwar nicht mit der Astronomie, wohl aber mit Handwerk und Technik im Wege stand 8. Diese Metaphysik verstand die Welt als gestuften Aufbau des Seienden von der Niedrigkeit des den Sinnen und Händen Greifbaren hinauf zu der Erhabenheit des 8
Vgl. des Näheren E. J. Dijksterhuis, Die Mechanisierung des Weltbildes (956), S. 57ff. J. Mittelstraß, Neuzeit und Aufklärung, Studien zur Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft und Philosophie (noch ungedruckt). 76
Göttlichen. A r c h i m e d e s fügte der euklidischen Geometrie eine rein mathematische (nicht-empirische) Statik hinzu und fand, nach Plutarch, »die Konstruktion von Instrumenten und im allgemeinen jede Tätigkeit, die wegen ihres praktischen Nutzens ausgeübt wird, niedrig und unwürdig« 9. Noch für den Humanisten K o p e r n i k u s galten Kreis und Kugel im platonischen Sinne als »vollkommene« geometrische Gebilde, und noch Kepler hat sich nur widerstrebend zu der Erkenntnis durchgerungen, Gottes Himmel könne weniger vollkommene Bewegungen als die gleichförmige Kreisbewegung zulassen. Diese Skrupel waren den italienischen Ingenieuren fremd, die – südlich der Alpen, im katholischen Raum! – etwa seit L e o n a r d o neue technische Aufgaben zu lösen hatten, wie sie durch Schiffsbau, Artillerie, Festungsbau gestellt wurden. Sie knüpften sehr ungeniert an Archimedes an, und G a l i l e i konnte ihre Werkstatterfahrungen zur neuen Wissenschaft der Mechanik ausbauen, obwohl er ein nicht weniger frommer christlicher Platoniker als Kepler war. Die Mathematik vom Himmel auf die Erde herabzuholen, galt nicht mehr als anstößig, weil in der Tat der christliche Gottes- und Schöpfungsglaube die antike Barriere zwischen Mathematik und Technik beseitigt und damit deren »Ehe« ermöglicht hatte: Nichts ist so niedrig in dieser Welt, daß es nicht von Gott geschaffen sei, und nichts so erhaben, auch die Gestirne nicht, daß es nicht gleichfalls Gottes Schöpfung sei. In d i e s e r Weise, durch diese Einebnung der Rangunterschiede des »Seienden« und zugleich durch die andächtige Aufmerksamkeit für Gottes Schöpfung, hat das Christentum – nicht erst der Protestantismus! – an der Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft mitgewirkt, d. h. 9
Plutarch, Vita Marcelli XVII, 4 (zit. nach J. Mittelstraß, a. a. O. Ms. S. 238). 77
es hat die Wiedererstehung vernünftiger Wissenschaft zwar einerseits behindert – man denke an den Galilei-Prozeß oder an M e l a n c h t h o n s Widerspruch gegen Kopernikus –, andererseits aber auch gefördert. Die These von der »Säkularisierung« der neuzeitlichen Welt durch das Christentum stellt somit eine Vergröberung dar, indem sie eine mitwirkende Teilursache zur Hauptursache macht und damit die Herkunft aller europäischen Wissenschaft aus der vorchristlichen Antike verdeckt. Nun haben gewiß nicht alle Theologen, die statt von »Profanisierung« von »Säkularisierung« sprechen, Gogartens These unterschrieben. Jedoch haben sie sich alle, wie ja bisher allgemein üblich, den terminologischen Vorteil der Unterscheidung von »Profanisierung« und »Säkularisierung« entgehen lassen. Wie läßt sich dieser Vorteil wahrnehmen?
3. Säkularisierung (im strengen Sinne) Ein Patient liegt im Krankenhaus und ist auf den Pfleger »Herrn Wagner« angewiesen. Ferner aber wird er von »Schwester Veronika« betreut. Die besondere weibliche Fürsorglichkeit akzentuiert sich für ihn spürbar dadurch, daß die Krankenpflegerinnen »Schwestern« heißen und mit ihren Vornamen benannt werden, auch dann noch, wenn diese Frauen nicht mehr, wie früher stets und heute noch zuweilen, »Ordensschwestern« sind, kirchlichen Orden angehören. Hier ist eine christliche S p r e c h w e i s e , verbunden mit V e r h a l t e n s w e i s e n , zwar in die Profanität ü b e r g e g a n g e n , zugleich aber e r h a l t e n geblieben. Wir wollen sagen: Sie wurde »säkularisiert«. Weit bedeutsamer ist die analoge »Säkularisierung« des christlichen Wortes »Bruder«. Die Briefe des Neuen Testaments 78
richten sich an die »Brüder in Christus«. Die Liebe, zu der sie beharrlich mahnen, wird »brüderliche Liebe« genannt. In der vielfältigsten Verwendung gehen die Wörter »Bruder« (frater), »brüderlich«. »Bruderschaft« durch die Geschichte des christlichen Redens, von dort aber hinüber in die profane Sprache. »Alle Menschen werden Brüder«, so bringt S c h i l l e r in seinem Hymnus »An die Freude« eine säkularisierte enthusiastische Hoffnung zur Sprache, die damals nicht nur Beethoven als den Komponisten dieses Textes ergriffen hat. Neben »Freiheit« und »Gleichheit« steht die »Brüderlichkeit« als Parole über der französischen Revolution. Diese Parolen drücken, sich gegenseitig interpretierend, F o r d e r u n g und H o f f n u n g aus, und insbesondere die Vision einer k ü n f t i g e n b r ü d e r l i c h e n V e r b u n d e n h e i t a l l e r M e n s c h e n , die als revolutionäre Glaubensmacht bis in unsere Tage immer wieder aufgebrochen ist, hat ohne Zweifel als »christliches Erbe« zu gelten. Sie ist wohl das eindrucksvollste und geschichtsmächtigste Beispiel dafür, daß eine extrem profan gewordene Macht des Glaubens, des Denkens und des Handelns aus dem Christentum, in diesem Falle aus der christlichen Eschatologie, zumal auch aus chiliastischen Zukunftsvisionen hervorgegangen ist. »Brüderlichkeit« hat es in der vorchristlichen antiken Philosophie nicht gegeben, nicht als Zukunftsentwurf und nicht einmal als moralisches Gebot. Platon spricht zuweilen von »φιλία«, von Freundschaft, »freundlicher Verbundenheit« 0. Die Stoiker haben die freundliche Aufgeschlossenheit für jeden Mitmenschen, »φιλίανθρωπία« gefordert. Aber kein antiker Ethiker hat jemals gesagt, man solle in jedem Mitmenschen den »Bruder« sehen. Erst die christlichen »Kinder Gottes«, die zu »unserem Vater« beteten, wußten einander als Brüder und Schwestern verbunden und übergaben die bis heute 0
Gorg. 568a, Soph. 242e. 79
nicht erloschene Intensität des Wortes »Bruder« der neuzeitlichen, profanen Welt. Ein weiteres Beispiel, das der exemplarischen Einführung des Terminus »Säkularisierung« im hier nun vorgeschlagenen strengen Sinne dienen kann: das mehr oder weniger rigorose Verbot der Ehescheidung im geltenden Recht sowohl wie in der gesellschaftlich geltenden Moral. »Was Gott zusammengefügt hat, das soll der Mensch nicht scheiden«, diese Forderung wirkt auch noch in einer profanen Gesellschaft, die an die göttliche Zusammenfügung der Ehen keineswegs noch glaubt. Und Ähnliches gilt für die Einschließung der Geschlechtlichkeit allein in die Ehe, von der . Kor. 7 die Rede ist, die aber säkularisiert auch noch den Hotelier betrifft, der es sich nicht leisten kann – des Kuppeleiparagraphen wegen –, Doppelzimmer an unverheiratete Paare zu vermieten. Oder der »Selbstmord«: Daß derjenige, der freiwillig aus dem Leben geht, ein »Mörder« sei, diese christliche Unterordnung des freiwilligen Sterbens unter das 5. Gebot hat sich sogar in unserer Umgangssprache niedergeschlagen – eben in dem Wort »Selbstmord« –, und dem entspricht die pauschale Mißbilligung dieser Handlung, die ja hier und da sogar in das Strafrecht eingegangen ist. Die Reihe der Beispiele ließe sich verlängern, etwa durch die Beibehaltung kirchlicher Feiertage in der profanisierten Welt, durch die fortgeltende Rangordnung der Fakultäten, durch den Übergang christlicher Gemeindeordnungen in den politischen Bereich (zumal im Calvinismus), durch Nachwirkungen der reformatorischen »Freiheit eines Christenmenschen« im modernen Liberalismus usf. Doch die angeführten Beispiele genügen schon, um sehen zu lassen: Es ist nicht überflüssig, an
Vgl. auch H. Zeltner, Christliche Eschatologie und menschliche Zukunftserwartung, in: Humanitas-Christianitas (968), S. 349. 80
Hand dieser und ähnlicher Exempel außer von »Profanisierung« von »Säkularisierung« zu sprechen. Unsere abendländische Welt war einst in allen Lebensbereichen vom Christentum gleichsam ganz und gar durchtränkt. Die moderne profane Welt, in der wir nunmehr leben, ist insofern aus der ehedem christlichen Welt »hervorgegangen«, durch eine geschichtliche Veränderung, die man auch, mit Lübbe (S. 90) und anderen, die »E m a n z i p a t i o n der modernen Kultur aus ihrer christlichen Herkunft und Bindung« nennen kann. Nennt man diesen Profanisierungsvorgang aber »Säkularisierung«, so begibt man sich der Möglichkeit, jene besonderen Vorgänge unter einen geeigneten Prädikator zu stellen und zu sagen: Während die Heiligkeit von Gegenständen (Texten, Bauten, Handlungen …), die religiöse Ausrichtung von Weisen des Verhaltens, des Redens und Denkens durch die »Profanisierung« ausgelöscht wird, bleibt bei der »säkularisierenden« Umwandlung von dem ehedem Christlichen etwas erhalten, z. B. die Rigorosität der Verurteilung von Scheidung oder freiwilligem Tod, z. B. die Wörter »Bruder« und »Schwester«. Übrigens gibt es den bemerkenswerten Sonderfall, daß sich Säkularisierung zur uneingeschränkten Profanisierung radikalisiert. Z. B. die neuzeitliche Naturwissenschaft knüpft nicht allein humanistisch an die antike Wissenschaft wieder an, sondern bewahrt zugleich die christliche Schöpfungslehre. Andächtige Betrachtung der wunderbaren Schöpfungswerke des »göttlichen Baumeisters« ist die erklärte Absicht all jener christlichen Platoniker (Kopernikus, Kepler, Galilei, Leibniz u. a.), denen die Gründung der mathematischen Naturwissenschaft zu danken ist, und noch K a n t schreibt 756 über die »Betrachtung und Bewunderung« der Natur: »Der Mensch, welchem die Haushaltung des Erdbodens anvertraut ist, besitzt Fähigkeit, er besitzt auch Lust sie kennenzulernen und preiset den Schöpfer durch seine Einsichten«2. Aber dieser Impuls hat sich hernach verloren 81
und ist der modernen, durchaus profanen Forschung fremd geworden (was nicht ausschließt, daß er bei einzelnen Forschern, sozusagen privat, noch oder wieder eine Rolle spielt). Anfangs also Säkularisierung christlicher Schöpfungsfrömmigkeit zur neuzeitlichen Naturwissenschaft, hernach Auslöschung des christlichen Erbes, Profanisierung schlechthin. Dieser Fall gibt einen Fingerzeig auf die angemessene Beziehung beider Termini zu einander: Wir können die »Säkularisierung« als einen Spezialfall von »Profanisierung« auffassen und die sich so ergebenden Prädikatorenregeln, in der traditionell üblichen Weise, mittels eines Prädikatorenstammbaums darstellen: Profanisierung
radikale Profanisierung
Säkularisierung
Der geschichtliche Vorgang der (neuzeitlichen) Profanisierung unserer Welt setzt ein, seit die neue Wissenschaft auf den Plan tritt, gewiß nicht früher. Er braucht seine Zeit, seine Jahrhunderte, und ist auch heute noch nicht beendet. Gleichsam als »Einschlüsse« umschließt er Vorgänge der Säkularisierung. »Säkularisation« ist ein zweistelliger Prädikator: Ein weltlicher Herrscher säkularisiert geistliches Gut. Wer aber säkularisiert was, wenn »Säkularisierung« stattfindet? Eine bestimmte Person als »Subjekt« läßt sich hier nicht angeben. Über das »Objekt« aber läßt sich sagen: Das säkularisierte Verhalten, Handeln, Reden, Denken wird bestimmt durch Sprachelemente (Wörter und Wendungen), zugleich durch 2
Kant, Geschichte und Naturbeschreibung der merkwürdigsten Vorfälle des Erdbebens, welches an dem Ende des 755sten Jahres einen großen Theil der Erde erschüttert hat. Akademie-Ausgabe I, S. 43. 82
geltende Lehren und moralische Normen, und diese sind es, die »erhalten« bleiben. Traditionell bildungssprachlich würde man sagen: »Säkularisierung« im übertragenen Sinne findet statt, wo nicht »materielle«, sondern »geistig-sittliche« Güter in der Umwandlung erhalten bleiben, ä h n l i c h wie bei der Säkularisation eines Klosters – aus dem eine protestantische Klosterschule wird – die Gebäude und vielleicht der Grundbesitz erhalten bleiben – aber diese Ähnlichkeit wird von der »Säkularisierung« her im Rückblick konstruiert, so daß sich kein Gegenargument gegen den hier vertretenen terminologischen Vorschlag dadurch ergibt, daß man z. B. auf die Säkularisation eines ehedem fürstbischöflichen Waldes hinweist, an dem beim besten Willen nichts »ehedem Christliches« zu erkennen ist, das erhalten blieb. Das Objekt des Säkularisierungsvorgangs also (das »Säkularisat«, wenn man so will) läßt sich jeweils angeben. Es mag z. B. eine t r a d i e r t e N o r m oder eine t r a d i e r t e L e h r e sein, die jeweils menschliches Verhalten bestimmen, woraufhin methodisch für die einschlägige historische Forschung zu fordern ist: Das Säkularisierungsobjekt muß deutlich aufgewiesen werden. Oft – vielleicht immer – sind dabei Sprachelemente im Spiel, die gleichfalls in der säkularisierenden Umwandlung erhalten bleiben und die man »Leitwörter« nennen könnte (in Anlehnung an Termini wie »Leitmotiv« oder »Leitfossil«). Verzichtet man auf die Unterscheidung von Profanisierung und Säkularisierung, dann liegt es freilich nahe, mit Gogarten der I l l u s i o n zu erliegen, die moderne Profanisierung der Welt sei nicht gar so unchristlich, ja sie entspreche, von der Entartung zum »Säkularismus« abgesehen, der recht verstandenen ursprünglichen Intention der christlichen Verkündigung selbst. Führt man die Unterscheidung dagegen ein, dann ergibt sich: Keineswegs ist die moderne Profanität im ganzen das 83
Ergebnis eines Säkularisierungsprozesses, sondern es gilt nun, im einzelnen nachzusehen, wo in der Tat Säkularisierungen stattgefunden haben. Es führt zu gar nichts, bei beliebiger Gelegenheit geistreich zu bemerken, irgend etwas sei säkularisiertes Christentum, z. B. die Existenzphilosophie des 20. Jahrhunderts sei säkularisierte Theologie. Dagegen wäre etwa weiterhin zu untersuchen, ob die christliche Lehre vom genus humanum, dessen Glieder als Geschöpfe Gottes gleichrangig sind, in der Aufklärung seit dem 7. Jahrhundert säkularisiert wurde zur Lehre von der Menschheit und der gleichen »Würde« aller einzelnen Menschen. Es wäre zu fragen, ob die Kantische Ethik mit ihrer kategorischen Verurteilung des antiken Eudämonismus einerseits, mit ihren Postulaten »Gott, Freiheit, Unsterblichkeit« andererseits als säkularisierte protestantische Ethik verstanden werden kann. Man müßte ohne Übereilung nachsehen, ob wirklich ein Fall von Säkularisierung vorliegt, wenn der Prädikator »unendlich«, der theologisch Gott zugesprochen wurde, seit der Naturphilosophie der Renaissance auch dem Universum zugesprochen wird … und dergleichen mehr. (Die DiltheyLöwithsche Säkularisierungsthese ist in der vorausgehenden Abhandlung geprüft worden.) Von Haus aus ist die Unterscheidung der Prädikatoren »geistlich« und »weltlich«, spiritualis und saecularis (oder temporales) i n n e r c h r i s t l i c h . Das Mittelalter wurde durch den erbitterten Streit um die Führung des geistlichen und des weltlichen Schwertes bewegt, aber beide Schwerter galten als von Christus verliehen. Oder wenn Luther von »weltlicher Obrigkeit« sprach, so hatte er zwar nicht mehr eine sakramental geheiligte, doch noch immer eine in Gottes Schöpfung gegründete, nicht etwa eine radikal profane Institution vor Augen. Und wer heute sagt, die moderne Welt sei durch »Säkularisierung« aus der mittelalterlich-christlichen Welt hervorgegangen, der suggeriert sich 84
selbst und seinen Gesprächspartnern so etwas wie eine letzte christliche E i n b e h a l t u n g dieser modernen Welt. Wer dagegen die moderne Entchristlichung der Welt illusionslos als Profanisierung sieht und alsdann besondere Säkularisierungsprozesse beachtet, der leistet sich nicht eine bloß akademische Vergnügung subtiler historischer Differenzierung, sofern nun in jedem einzelnen Fall von Säkularisierung (besser: in den wichtigen Fällen) kritisch zu prüfen ist: Wie ist die hier vorliegende Bewahrung von christlichem Erbgut zu b e u r t e i l e n ? Ist sie durch vernünftige Gründe zu rechtfertigen oder ist sie zu verwerfen? Wie steht es z. B. mit der »Brüderlichkeit«, mit dem »Selbstmord« usw. Denn die bloße »Bewahrung von christlichem Erbe« kann in der Profanität zur Argumentation nicht mehr dienen. Der Terminus »Säkularisierung« (im strengen Sinne) dient also zunächst zur Bildung historisch-empirischer Aussagen. Dann aber hat die kritische Beurteilung zu erfolgen, für die der Säkularisierungssachverhalt (daß etwas ehedem Christliches in der Umwandlung dennoch bewahrt wurde) noch gar nichts bedeutet, d. h. noch keinerlei Vorgriff auf ein positives oder negatives Urteil. Es ist ein Irrtum des »abendländischen« Konservativismus, jedes christliche Erbe sei eo ipso bewahrenswert. Und es ist ein Irrtum dogmatischer Religionsfeindlichkeit, ein aus dem Christentum überkommener Gedanke sei eo ipso verwerflich. In vielen Fällen von Säkularisierung wird es sich darum handeln, daß Lehren oder Normen sich gleichsam von selbst erhalten haben. Z. B. die Führer der französischen Revolution hatten gewiß nicht die ausdrückliche Absicht, mit ihrer Forderung der Brüderlichkeit ein Erbstück christlicher Moral und Eschatologie zu bewahren. Oder die Beibehaltung kirchlicher Feiertage in einer gänzlich profanisierten Welt hat sich ergeben, 85
wie es auch sonst in der menschlichen Geschichte zugeht: Es wird gleichsam blindlings dieses zerstört, jenes erhalten. Andererseits gehörte der ausdrückliche Wille zur Bewahrung von Tradition von jeher zum Christentum selbst, und schon seit dem 2. Jahrhundert nach Christus setzte eine »entmythisierende« Theologie ein, die kritisch nur dasjenige bewahren wollte, was sich im Lichte der Vernunft aufrechterhalten ließ, so daß es zu einer jahrhundertelangen, sehr bewegten Geschichte von Kompromissen zwischen Vernunft und Offenbarung kam. In der neuzeitlichen Aufklärung setzte sich die Forderung durch, die Anerkennung von Offenbarung und Tradition aus dem Bereich der Wissenschaften zu verbannen, oder auch, sie ganz und gar zu verweigern zugunsten schlechthinniger Selbständigkeit der Vernunft. Aber auch noch heute versucht eine entmythisierende Theologie, durch kritische Interpretation des Neuen Testaments dasjenige zu bewahren, was dem Lichte der modernen wissenschaftlichen Vernunft standhält, mit den Mitteln dieser Vernunft, wie sie sich heute darstellt, freilich in der Tat nicht zu gewinnen ist. Das Problem der Säkularisierung läuft also am Ende nicht auf bloße Aufräumungsarbeiten angesichts einer Trümmermasse hinaus, sondern auf die alte Frage, welche Bedeutung religiöse Überlieferung für selbständige Vernunft noch haben kann oder haben muß – eine Frage, die sich in anderer Weise auch schon Platon gestellt hat. Was die P r ä d i k a t o r e n r e g e l n für »Profanisierung« und »Säkularisierung« betrifft, so ist nun noch etwas nachzutragen. Anfangs wurde die »Profanierung« als menschliche Handlung der »Profanisierung« als geschichtlicher Veränderung gegenübergestellt, und in der Tat bleibt festzuhalten: Vergleicht man das Mittelalter mit der Gegenwart, dann bemerkt man diese groß angelegte und anonyme geschichtliche Veränderung, die noch weiterzugehen scheint und längst auch auf außerchristli86
che Bereiche des Globus übergegriffen hat, wo zugleich andere Religionen erlöschen. Weder für diese Profanisierung im großen noch für die Säkularisierungen im einzelnen lassen sich bestimmte Personen als handelnde Subjekte namhaft machen. Indessen hat der unterscheidende Vergleich zwischen L u t h e r einerseits und der A u f k l ä r u n g andererseits inzwischen gezeigt, daß hier ein anonymer Vorgang, der sich als geschichtliches Schicksal übermächtig zu vollziehen scheint, nicht von selbst wie ein Naturvorgang in Gang gekommen ist, sondern daß auch hier menschliches Handeln am Anfang steht. Was zunächst wieder die reformatorische »Weltentheiligung« betrifft: Sie hat sich als geschichtliche Veränderung ausgewirkt, so daß man heute katholische von evangelischen Landschaften schon vom Wagen aus unterscheiden kann. Aber begonnen hat sie als Handlung des Redens und Denkens, ja als Handlung genau einor namhaften Person: als Luthers Widerspruch gegen dasjenige, was die anderen damals sagten und dachten. Und was die Aufklärung als »profanisierendes Reden und Denken« betrifft: Auch sie breitet sich heute wie von selber aus, wo immer die technische Weltbemächtigung die Verehrung des Heiligen zurückdrängt, wo sich die technisch hantierenden Menschen die Religion wie von selber abgewöhnen, ohne daß es dazu noch aufwendiger atheistischer Propaganda bedürfte. Aber begonnen hat schon die antike Aufklärung nicht als schicksalhafter Vorgang, sondern als sprachliche Handlung von Menschen. Daß z. B. die Gestirne nicht Götter, sondern »glühende Steine« seien, wurde zuerst von einzelnen Denkern b e h a u p t e t , und solche »Profanisierung« als Handlung wurde von »den anderen« als frevelhafte »Profanierung« empfunden und verurteilt (vgl. Platon, Apol. 26 d). Erst recht die neuzeitliche Aufklärung wurde von kritischen Denkern inauguriert und vorangetrieben, deren Namen wir ja aus der Philosophiegeschichte der letzten 87
Jahrhunderte, zumal des 8. Jahrhunderts, kennen. Übrigens hat der Terminus »Aufklärung« (im üblichen Sinne von: Kritik an der überlieferten Religion und ihren Mythen) eine engere Bedeutung als das Wort »Aufklärung«, wenn es in der historischen Kennzeichnung »die neuzeitliche Aufklärung« auftritt. Denn zu dieser Aufklärung gehörten Denker wie Leibniz und Lessing, deren Philosophieren sich ja nicht in Religionskritik erschöpfte, indem sie sich der überlieferten Religion gegenüber kritisch und konservativ zugleich verhielten. Wo vernünftige Wissenschaft und Philosophie am Werke sind, wo – mit Kant zu reden – Aufklärung stattfindet als der »Hervorgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit«, da findet stets auch Aufklärung im engeren Sinne statt, auch dann, wenn sie nicht als selbstsichere Besserwisserei betrieben wird, wenn die Vernunft nicht allein Illusionen der alten Unmündigkeit, sondern auch Illusionen einer neuen aufgeklärten Selbstsicherheit kritisiert. Kritische Vernunft wird vor allem immer selbstkritisch sein, dabei den Dialog mit der Vergangenheit nicht außer acht lassen. Das Ausmaß der Mündigkeit aber, die nun aus einst ehrwürdigen Bindungen »hervorgegangen« ist und in der wir selbst zu bestehen haben, wird verkannt, wenn man das Ausmaß der Profanisierung nicht wahrhaben, durch Beibehaltung christlichen Sprachguts verdecken will. Die zu weit bemessene Anwendung des Wortes »Säkularisierung« ist nämlich selbst ein Fall von Säkularisierung, gehört jedoch zu denjenigen Fällen, die sich nicht rechtfertigen lassen.
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II. DIE NEUE PHYSIK UND DAS SELBSTVERTRAUEN DER NEUZEIT
DER AUFBRUCH DER NEUEN WISSENSCHAFT Descartes’ Descartes-Legende Öffentlich bekannte, »prominente« Personen sind der Versuchung ausgesetzt, selbst das Bild, das »Image« zu bestimmen, das Mit-und Nachwelt von ihnen haben sollen, und bedienen sich dazu gern autobiographischer Aufzeichnungen. Ein besonders erfolgreicher Autobiograph dieser Art war Descartes. Die von ihm selbst geschaffene Descartes-Legende findet sich mehr oder weniger deutlich noch heute in allen DescartesDarstellungen. Descartes hat niemanden anders als sich selbst als den epochalen Gründer der neuen, zukunftsträchtigen Wissenschaft dargestellt und das Andenken anderer, die ebensoviel oder mehr als er zu dieser Gründung beigetragen haben, durch Schweigen und falsche Angaben zu verdunkeln versucht. Und nicht nur seine Zeitgenossen, sondern ebenso die folgenden Generationen, zumal auch Hegel, haben ihm dieses täuschende Image abgenommen. Wer recht verstehen will, wie das neuzeitliche Denken aus einer von vielen geleisteten Neugründung der Physik hervorgegangen ist, muß sich von dieser Täuschung befreien. Dazu bedarf es der Aufmerksamkeit für die Details. Descartes’ Discours von 637, den man mit gewissem Recht als das Gründungsdokument der neuzeitlichen P h i l o s o p h i e anzusehen pflegt, ist bekanntlich in Motivierung und Aufbau
Dieser Aufsatz erschien bereits unter dem Titel »Der Anfang der Vernunft bei Descartes – autobiographisch und historisch« im Archiv f. Gesch. d. Philosophie 43 (96), S. 70ff. Die zahlreichen Zitate aus französischen Texten des 6. und 7. Jahrhunderts habe ich diesmal übersetzt, das übrige ein wenig redigiert. 90
alles andere als »clare et distincte« ausgefallen. Der Autor hatte zuvor einen klaren Plan von Forschung und Veröffentlichung verfolgt, jedoch der Galilei-Prozeß hatte ihm dieses Konzept verdorben, und der Discours trägt alle Zeichen einer nach vier Jahren noch immer unbewältigten Verlegenheit. 628 war der Zweiunddreißigjährige in das holländische Exil gegangen, um fundamental von vorn zu beginnen, mit »metaphysischen« Meditationen. Im unmittelbaren sachlichen und zeitlichen Anschluß daran war er zu »physikalischen« Untersuchungen übergegangen, und aus diesem Gebiet sollte die erste Veröffentlichung als ein Probestück für das Publikum hervorgehen (Brief an Mersenne vom 5. 4. 630). Der Abschluß des Manuskriptes, dessen Titel Le Monde den umfassenden Anspruch verrät, ging zeitlich parallel mit den Nachrichten zunächst vom Erscheinen der astronomischen Dialoge des Galilei, zuletzt von Galileis Verurteilung in Rom. Damit scheitert diese erste, durch lange Jahre vorbereitete, angekündigte, erwartete, hin und her beredete Publikation, ein schwerer Schlag für den Verfasser, dessen Konfliktscheu jedoch fast noch größer ist als sein Geltungsbedürfnis, so daß die Enttäuschung durchsetzt wird von dem Gefühl, gerade noch davongekommen zu sein. Die langatmigen Erörterungen im VI. Teil des Discours enthüllen dieses noch immer verklemmte Geltungsbedürfnis. Aber die alte Absicht, eine Probe der Physik zu veröffentlichen, wird nun doch verwirklicht, freilich unter schmerzhaften inhaltlichen Beschränkungen (die sich schon allein durch die Tilgung der kopernikanischen Konzeption ergeben), und die fragmentarischen Probestücke erscheinen teils als jene drei Essays, die dem Discours folgen, teils in diesen selbst aufgenommen (V. Teil), ja nun ergänzt durch eine vom Verleger gewünschte Probe aus der Metaphysik (IV. Teil). Die geradlinige Darbietung sachlicher Erörterungen ist aber gebrochen durch krummlinige Darlegungen über das 91
Warum-nicht und Warum-doch der Veröffentlichung. Der Autor fühlt sich noch immer von hochgespannten Erwartungen, dahinter nun aber auch von Beargwöhnungen umgeben, spricht rechtfertigend von sich selbst, und dieses egozentrische Von-sich-selbst-reden nimmt in den ersten Teilen des Discours autobiographische Züge an. Die Unsicherheit, die ihn gegen Ende so weitschweifig werden läßt, betrifft die Veröffentlichung als die erste, mit der er endlich vor das Publikum tritt, und die Autobiographie zu Beginn betrifft die Vorgeschichte, damit aber die Geschichte seines selbständigen philosophischen Anfangs, den Aufbruch seiner Vernunft. Jeder Philosoph erfährt den Aufbruch seines selbständigen Denkens und könnte ihn autobiographisch beschreiben. Das Besondere an Descartes ist, daß sein ihm eigener Anfang hineingehört in den geschichtlichen Aufbruch der neuzeitlichen Wissenschaft, die sich um 600 freimacht von der Tradition der »Schule«. Der Discours verrät, wie anspruchsvoll der Verfasser selbst diese Koinzidenz versteht. Wir haben aber neben dem Discours andere Quellen, die erkennen lassen, wie Descartes in Wahrheit begonnen hat, wie das Verhältnis seines besonderen und des allgemeinen geschichtlichen Aufbruchs der Vernunft »eigentlich gewesen ist«, und es dürfte sich lohnen, beides einmal in pointierter Kürze nebeneinander zu stellen 2. Der Discours stellt die Frage nach dem »Weg« des Denkens, somit nach der »Methode«. Descartes’ autobiographische Mitteilungen haben offenkundig die Absicht, den Autor selbst als denn exemplarischen Denker hinzustellen, obwohl gerade dies unter Bescheidenheitsbekundungen verdeckt wird. Denn Descartes sagt folgendes: Von einem Buch über die Methode 2
Grundlegend nach wie vor die Biographie von Charles Adam (Adam-Tannery XII). Charmant geschrieben: P. Frederix, Monsieur René Descartes en son temps (959). 92
des richtigen Vernunftgebrauchs wird man Regeln mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit erwarten (etwa so, wie er die Fragment und Manuskript gebliebenen »Regulae ad directionem ingenii« formuliert hatte). Dieser Anspruch würde sich im Titel ausdrücken durch das Wort »traité«. Nun aber nenne ich dieses mein Buch nicht »traité«, sondern »nur« »discours«, indem ich meine Methode nicht »lehre«, sondern nur »davon sprechen« will. Diese zunächst dunkle briefliche Äußerung an Mersenne fordert die Frage heraus, was denn bei einem solchen Gegenstande »davon sprechen« bedeuten kann, wenn es nicht »lehren« bedeuten soll. Im Discours selbst antwortet Descartes: »So ist es nicht meine Absicht, hier die Methode zu lehren, die jedermann befolgen muß, um seine Vernunft richtig zu lenken, sondern lediglich zu zeigen, wie ich versucht habe, die meinige zu lenken« (I, 5). Und nun folgt eine Bescheidenheitsbekundung: »Wer sich damit befaßt, Vorschriften zu erteilen, muß sich für klüger halten als jene, denen er sie erteilt; und wenn er auch nur im geringsten versagt, ist er zu tadeln. Ich hingegen möchte diese Schrift dem Leser nur als eine Geschichte oder, wenn er lieber will, als eine Fabel vorsetzen; er wird darin einige nachahmenswerte Beispiele finden und vielleicht auch einige, die er mit Recht nicht befolgen würde. Und so hoffe ich, daß diese Schrift einigen nützen, niemandem schaden wird und daß alle meine Offenheit zu schätzen wissen« (,5). Daß »Geschichten« erzählt werden, damit man daraus »exempla« entnimmt, gehört zur geläufigen Auffassung der Historie seit Antike und Mittelalter. Auch die »Biblische Geschichte« wurde jahrhundertelang so verstanden. Und was die Bescheidenheitsbekundung angeht, so folgt Descartes damit Montaigne, bei dem er gelesen hatte: »Wie Plinius sagt, ist jeder für sich selbst ein vorzügliches Forschungsgebiet, wenn er sich nur genau zu beobachten vermag. Dies hier ist nicht meine Lehre, sondern mein Studium. Es ist 93
auch nicht eine Belehrung für andere, sondern für mich. Gleichwohl möge man es mir nicht verargen, wenn ich sie mitteile. Was mir nützlich ist, kann ja vielleicht auch einem anderen nützlich sein. Im übrigen verderbe ich nichts, verwende nur das meinige, und wenn ich den Narren spiele, so geht das auf meine Kosten und kümmert sonst niemanden« (Ess. II, 6). Wenn Descartes also die Geschichte seiner eigenen Vernunft erzählt, so wird er »nachahmenswerte Beispiele« und »vielleicht« auch andere vorbringen, denen man besser nicht folgen soll – aber die rhetorische Bescheidenheit dieses »vielleicht« ist so deutlich, daß in Wahrheit übrigbleibt: Descartes will seinen eigenen Weg als »Exempel«, sich selbst als den exemplarischen Wegbereiter darstellen. Er weiß übrigens sehr genau, daß er damit der Erwartung seiner Pariser Freunde entspricht, die Guez de B a l z a c schon im Jahre 628 folgendermaßen ausgedrückt hatte: »Übrigens vergessen Sie bitte nicht die Geschichte Ihres Geistes, auf die alle unsere Freunde warten und die Sie mir in Anwesenheit von Pater Klitophon versprochen haben, der auf französisch Monsieur de Gersan heißt. Es wird ein Vergnügen sein, von Ihren Abenteuern in der mittleren und der obersten Luftregion zu lesen, Ihre Heldentaten im Kampf gegen die Riesen der Schule (Scholastik) zu bewundern sowie den Weg zu betrachten, dem Sie gefolgt sind, und die Fortschritte, die Sie in der Erkenntnis der Wahrheit gemacht haben.« 3 Eine allgemeingültige Regel kann man dadurch vorführen, daß man Beispiele ihrer Anwendung zeigt. In diesem Sinne sind auch die dem Discours folgenden drei Essays »Beispiele« der Anwendung von Descartes’ Methode, desgleichen die in den einführenden Discours selbst aufgenommenen metaphysischen und naturwissenschaftlichen Erörterungen. Descartes sagt in 3
Zit. nach E. Gilson, R. D., Discours de la Methode, texte et commen-taire (947), S. 98. 94
jenem Brief an Mersenne, die Methode bestehe mehr in Praxis als in Theorie, »und ich nenne die folgenden Abhandlungen ›Versuche mit dieser Methode‹ (Essais de cette méthode), denn ich behaupte, daß das, was sie enthalten, ohne diese Methode nicht hätte gefunden werden können und daß man durch diese Versuche erkennen kann, was sie taugt. Wie ich denn auch in die erste Abhandlung je ein Stück aus der Metaphysik, der Physik und der Medizin eingefügt habe, um zu zeigen, daß sich die Methode auf alle Arten von Gegenständen erstreckt« (März 637). Descartes zeigt also exempla der Anwendung seiner Methode einmal, indem er wissenschaftliche Untersuchungen als »Versuche« dieser Anwendung vorführt, und zum andern, indem er den »Weg« autobiographisch darstellt, den er selbst gegangen ist. Nicht allein die Bescheidenheit ist Rhetorik, sondern auch die Behauptung, daß er »nicht lehre«. Denn die Regel verliert nichts an Allgemeingültigkeit, wenn sie auf dem Umwege über Anwendungsbeispiele »gelehrt« wird. Ja, Descartes versteht seinen eigenen Weg nicht allein als exemplarisch, als vorbildlich, sondern er sieht in sich selbst, ebenso offenkundig, denjenigen Denker, der den entscheidenden neuen Anfang macht, den exemplarischen Wegbereiter in diesem genauen Sinne also. Die anderen sollen seine Schrift lesen und von ihm lernen, sein Beispiel nachahmen, während er von niemandem gelernt, den Anfang ganz allein selbst gefunden, den Weg geöffnet hat. Wie sieht nun dieser Anfang aus? Descartes ist »von Kindheit an« in den traditionellen Wissenschaften der »Schule« aufs beste unterrichtet worden. Im I. Teil geht er diesen traditionellen Bildungsgang durch, mit einer Anerkennung für jede der durchlaufenen Disziplinen, die stets durch ein »aber« gedämpft wird. Der Leser muß den Eindruck gewinnen, daß Descartes schon in der Schule (also in La Flèche) zwar begierig gelernt hat, aber auch allenthalben schon die Schwächen dieser Schulwis95
senschaften kritisch gespürt hat. So heißt es gleich zu Anfang: »Seit meiner Kindheit wurden mir die Wissenschaften (lettres) gründlich beigebracht, und da man mir einredete, man könne durch sie eine klare und gesicherte Erkenntnis von allem, was für das Leben nützlich ist, erlangen, legte ich einen großen Lerneifer an den Tag. Sobald ich aber diesen ganzen Studiengang vollendet hatte, nach dessen Abschluß man gewöhnlich in die Reihen der Gelehrten aufgenommen wird, änderte ich meine Ansicht völlig. Denn ich fand mich nun von so viel Zweifeln und Irrtümern verwirrt, daß mein Bemühen zu lernen mir nur soweit genützt zu haben schien, als ich mir meiner Unwissenheit mehr und mehr bewußt geworden war« (I, 6). Insbesondere hinsichtlich der »Philosophie« wird dem erstaunlichen Jüngling klar, »daß die Philosophie die Möglichkeit gibt, mit dem Anschein der Wahrheit über alles zu reden und weniger Gebildeten zu imponieren« (I, 7), und zwei Seiten weiter heißt es: »Über die Philosophie will ich nur dies sagen: Nachdem die hervorragendsten Geister seit Jahrhunderten sich mit ihr befaßt haben und es gleichwohl in ihr noch keinen Gegenstand gibt, der nicht umstritten und daher zweifelhaft wäre, nahm ich mir nicht heraus zu hoffen, ich würde mich darin besser zurechtfinden als die anderen. Und wenn ich mir vergegenwärtigte, wieviel verschiedene Meinungen über denselben Gegenstand es geben kann, die alle von Gelehrten vertreten werden, während doch nie mehr als eine wahr sein kann, hielt ich alles, was nur wahrscheinlich war, für so gut wie falsch« (I, 2). Der Begriff der »Wahrscheinlichkeit« ist ein Leitbegriff des Cartesischen Denkens. In der zweiten Regel (628 formuliert) wird die Beschränkung auf »gewisse und unzweifelhafte Erkenntnis« gefordert. Das Wahrscheinliche soll man als bloß Wahrscheinliches beiseite lassen. Später radikalisiert Descartes diese Anweisung zum methodischen Zweifel: Das bloß Wahr96
scheinliche und somit Zweifelhafte soll man für falsch halten (während man es auf dem Gebiete der Moral – im Sinne des Probabilismus – umgekehrt oft für gewiß nehmen muß). Dieser Forderung will er nach seiner Autobiographie bereits entsprochen haben, als er seine Ausbildung vollendete. Was also tut der exemplarische Philosoph? Er durchschaut die Hinfälligkeit alles dessen, was er aus bloßer Tradition gelernt hat (in der »Schule« und aus den »Büchern«). Von da an geht er schlechthin selbständig, ohne die Abhängigkeit von Autoritäten, den Weg von Vernunft und Erfahrung. Das war die Antithese, wie sie um 600 von allen Anhängern der neuen Wissenschaft gedacht wurde und wie sie in einigen Generationen von Renaissance und Humanismus sich schon vorgeformt hatte. Gebräuchlich war als Antithese zu den »Büchern« die Allegorie des »großen Buches der Natur« für die neue empirische Forschung. Und in Descartes’ Leben soll sich eben diese Antithese so ereignet haben: »Sobald ich alt genug war, mich von der Unterwerfung unter meine Lehrer zu befreien, gab ich das Studium der Wissenschaften ganz auf. Ich entschloß mich, nach keiner anderen Wissenschaft zu suchen als derjenigen, die sich in mir selbst oder in dem großen Buch der Welt würde finden lassen, und verbrachte den Rest meiner Jugend damit zu reisen, Höfe und Heere kennenzulernen, mit Menschen verschiedenen Charakters und Standes zu verkehren, mancherlei Erfahrungen zu sammeln …« (I, 4). Auf das Studium der Welt folgt die Einkehr der Vernunft in sich selbst: »Nachdem ich aber einige Jahre damit verbracht hatte, so im Buch der Welt zu studieren und mich um den Erwerb von Erfahrungen zu bemühen, beschloß ich eines Tages, auch in mir selbst zu forschen und alle meine geistigen Kräfte auf die Wahl des Weges zu verwenden, dem ich folgen sollte« (I, «5). Hier endet der erste Teil, und der zweite beginnt mit der Angabe von Ort und Zeit der Einkehr: 97
das geheizte Zimmer im deutschen Winterquartier nach der Krönung des Kaisers. Die Forschung konnte klären, daß Descartes nach der Frankfurter Krönung Ferdinands II. in einem Ort an der Donau jenes Refugium gefunden hat, und zwar im Oktober 69. Daß Descartes’ eigene Angaben an dieser Stelle weniger bestimmt sind, hat nichts zu bedeuten, denn hier will er ein bestimmtes Ereignis markieren. Dagegen geht die Unbestimmtheit der vorausgegangenen Angaben aus der Stilisierung ins Exemplarische hervor. Wann soll denn jene Beendigung seines Studienganges stattgefunden haben? Descartes hat La Flèche 62 als Sechzehnjähriger verlassen (oder 64 als Achtzehnjähriger). Er hütet sich, dem Leser einzureden, schon damals habe er die Zweifelhaftigkeit der alten Wissenschaft durchschaut und sich auf das Studium seiner selbst und der Welt zurückgezogen, aber er gibt auch keinen anderen deutlichen Zeitpunkt an. Seine Kavaliersreise hat er 68 angetreten, ein Jahr vor jener Einkehr ins deutsche Winterquartier. Da sich aber die Jahre 62 (64) bis 68 nicht philosophisch stilisieren ließen, bleibt der »Rest seiner Jugend«, in dem er Höfe und Heere gesehen hat, gleichfalls unbestimmt. In Wahrheit muß Descartes die Schule in La Flèche auf eine ganz und gar normale Weise absolviert haben, ohne jene Kritik, die das Erwachen geistiger Selbständigkeit doch schon voraussetzt. Es folgen Jahre der juristischen Ausbildung, noch in der Spur der Familientradition, weiterhin Jahre standesgemäßen Müßiggangs in Paris, dann der Aufbruch zur Kavaliersreise 68. Bis dahin ist an diesem Leben schlechterdings nichts Ungewöhnliches, und Descartes hätte auch weiter das durchschnittliche Leben eines jungen Edelmannes geführt, wäre nicht ein Ereignis eingetreten, das nun im Discours überhaupt nicht erwähnt wird, obwohl es allein entscheidend war: Als Gasthörer besucht 98
Descartes die Kurse der holländischen Militärakademie in Breda und begegnet im November 68 Isaac B e e c k m a n . Während der stilisierte Philosoph von selbst daraufkommt, daß sich in der Tradition »noch kein Satz findet, über den man nicht streitet und der infolgedessen nicht zweifelhaft wäre«, während er dann in sich selbst einkehrt, das Gebäude der überlieferten Wissenschaft niederreißt und mit Hilfe einer von ihm selbst entwickelten Methode die Fundamente der neuen, nicht mehr bezweifelbaren Wissenschaft legt, hat die Initialzündung von Descartes’ Denken in Wahrheit Bedingungen nötig gehabt, die in der Stilisierung eliminiert worden sind: wiederum eine T r a d i t i o n , wenn auch eine andere als die scholastische, und die Begegnung mit einem anderen Forscher. Ohne diese Initialzündung wäre dieser René Descartes wahrscheinlich historisch so uninteressant geblieben wie etwa sein Bruder Pierre, der sich vom Vater eine Ratsstelle im Parlament von Rennes kaufen ließ. Man kann auch für G a l i l e i angeben, wann, wo und wie er den Anschluß an dieselbe Tradition der neuen Wissenschaft gefunden hat: Er nahm am Pagenunterricht des Florentiner Hofes teil, lernte bei Ostilio Ricci Fortifikationslehre und alle jene anderen technisch-mathematischen »artes mechanicae«, die sich im Italien der Renaissance, auf dem Boden einer veränderten Wirtschaft, Politik, Kriegstechnik ausgebildet hatten und die ich abkürzend die L e o n a r d o - T r a d i t i o n nennen will. Während die antike Mathematik durch den Platonismus ihre Einstellung auf »ewige Wahrheiten« unverlierbar empfangen und den Kontakt mit der banausischen Technik stets gemieden hatte, entsteht die neuzeitliche mathematische Naturwissenschaft gerade durch die Stiftung dieses Kontaktes, und es kam um 600 nur noch darauf an, die Mathematik aus der Dienstbarkeit der Werkstätten wieder zu befreien, sie bei 99
festgehaltener technischer Orientierung wieder als Wissenschaft zu konstituieren und gegen die aristotelisch – scholastische Tradition durchzusetzen. Da die alte Tradition ihren Rückhalt an den Universitäten hat, sind die Träger der Leonardo-Tradition institutionell meist ohne Rückhalt, bastelnde, diskutierende, korrespondierende Privatleute, eine Verschwörung gleichsam, deren Netz von Jahrzehnt zu Jahrzehnt an Dichte gewinnt. Wie M e r s e n n e in Paris, so gehört auch B e e c k m a n dieser Verschwörung an. An der neuen Wissenschaft ist wichtig die M e t h o d e , insbesondere die methodisch durchgeklärte Verbindung von mathematischer Theorie und technischer Empirie. Die mathematische Vernunft und die experimentelle Erfahrung allein führen zur Erkenntnis, nicht mehr die Interpretation autoritärer Texte der kirchlichen und antiken Tradition. Allgemein legt man das alte, »durch viele Baumeister nach und nach errichtete Gebäude« nieder und ersetzt es durch ein neues, indem man aufmerksam die Methode bedenkt. Allgemein verachtet man die alte bloß »spekulative« Gelehrsamkeit und erwartet man Nutzen und Wohlfahrt von der praktischen Bemeisterung der Natur (VI, 2). Eben dieser Situation entspricht Descartes’ Darstellung des philosophischen Anfangs – aber sie entspricht ihr nicht genau. Denn was im Zusammenwirken vieler geschieht und durch Generationen sich ausbildet, zieht Descartes zu dem einmaligen Ereignis im Leben des einmaligen Denkers zusammen. Daß nicht mehr Autoritäten maßgebend sind, übertreibt er dahin, daß der exemplarische Philosoph in überhaupt keine Tradition eintritt. Daß die Bücher und Lehrer der »Schule« nichts mehr bedeuten, überspitzt er so, daß die selbständige Vernunft überhaupt von keinem anderen lernt, sondern nur aus sich selbst (den eingeborenen Ideen) und dem »Buche der Welt«. Ja, das eigentliche Initium schreibt er der Vernunft allein 100
zu, die sich auf sich selbst zurückzieht, wozu der Geist, da an den Leib gebunden, dann noch Stube und Ofen braucht. Erst nachdem der Bahnbrecher von den richtigen »Prinzipien« aus den Anfang gemacht hat, mögen ihm andere zu Hilfe kommen, da seine Hände und sein Vermögen für die nötigen Experimente vielleicht nicht ausreichen (VI. Teil). In Wahrheit hat Descartes im süddeutschen Winterquartier nur wiederaufgenommen und weitergedacht, was er ein Jahr zuvor begonnen hatte, damals angeregt, ja »erweckt« durch die Begegnung mit Beeckman. Nach den kurzen Monaten des beglückenden Umgangs mit dem älteren holländischen Freund hatte er ihm geschrieben (am 23. 4. 69, dem Vorabend seiner eigenen Abreise aus Breda): »Si alicubi immorer, ut me facturum spero, statim tibi polliceor me Mechanicas vel Geometriam digerendam suscepturum, teque ut studiorum meorum promotorem et primum authorom amplectar. Tu enim revera solus es, qui desidiosum excitasti, iam e memoria pene elapsam eruditionem revocasti, et a seriis occupationibus aberrans ingenium ad meliora reduxisti. Quod si quid igitur ex me forte non contemnendum exeat, poteris iure tuo totum illud reposcere; et ipse ad te mittere non omittam, turn ut fruaris, tum ut corrigas.« 4 Die überschwengliche Aufrichtigkeit dieses Briefes ist historisch bei weitem wahrer als jene steifen und prätentiösen Tiraden des Discours. Der Zweiundzwanzigjährige blickt zurück auf die Jahre des ziellosen »Müßiggangs«, aus dem ihn der Freund erweckt hat, indem erst er den Herumtreiber zu ernsthaften Tätigkeiten führte. Ja sogar die Mathematik war fast ausgelöscht aus seinem Gedächtnis, auch an dieser Stelle der prononcierten Begabung hatte es doch keine Kontinuität geistiger Existenz seit der Schule gegeben. 4
Adam-Tannery X, S. 62f. 101
Der Autor des Discours hat nicht wahr gemacht, was der dankbare Freund 7 Jahre zuvor versprochen hatte. Nirgends hat Descartes in seinen Schriften den »promotor« und »primus autor« seiner Studien erwähnt. Ja, er hat sich nicht darauf beschränkt, den wahren Anfang seiner geistigen Existenz zu verschweigen und durch einen anderen zu ersetzen, der besser in sein Konzept paßte, sondern er hat sich in den 30er Jahren auf das häßlichste mit Beeckman zerstritten und jene Briefe zurückgefordert, die hätten verraten können – und zu guter Letzt verraten haben –, »wie es eigentlich gewesen ist«. Jetzt entsprach der Stilisierung des philosophischen Selbstportraits nun auch der angeschwollene Geltungsanspruch. Descartes fühlt sich als der Primus des Kreises um Mersenne, auf den alle erwartungsvoll blicken, der die Philosophie vormacht, ohne seinerseits jemandem etwas zu verdanken. Man wird sagen dürfen: Er hat den wahren Anfang seiner geistigen Selbständigkeit v e r d r ä n g t und durch jenes markierte Ereignis ersetzt, mit dem er bedeutungsvoll den II. Teil des Discours anheben läßt. Descartes will nicht eigentlich eine Autobiographie schreiben, sondern lediglich den Weg darstellen, den seine Vernunft in kleinen Schritten bisher gegangen ist, und insofern hat er keinerlei Anlaß, von beliebigen Begegnungen mit anderen Menschen zu berichten, die sonst so oft den Reichtum einer Lebensbeschreibung ausmachen. Immerhin mag man hier anmerken, daß er nicht allein diejenige Begegnung ausradiert hat, durch die seine Vernunft erst erwachte, sondern auch keinen anderen erwähnt, mit dem er je zusammengearbeitet, diskutiert hätte. Wenn man den Discours aus der Hand legt und nach den Briefen greift, dann erst sieht man, wie auch dieses geistige Leben faktisch im fortwährenden G e s p r ä c h geführt worden ist und wie der experimentierende Descartes auch technisch kundiger Mitarbeiter bedurfte. In der Selbstdarstellung erscheint diese Vernunft 102
monologisch, obwohl ihr Träger Platoniker ist und sich des Platonischen Dialogs als einer Literaturform gelegentlich erinnert. Das Miteinanderreden und Aufeinanderhören als der »Weg« des Philosophierens selbst ist vergessen. Sokrates unter den Menschen in der Stadt, Descartes in der Einsamkeit des geheizten Zimmers, solche antithetischen Bilder sagen zu wenig, sofern der Denkende und der Schreibende, auch wenn er Platon heißt, die Einsamkeit nicht entbehren kann. Aber bei Descartes ist aus der Erweckung der selbständigen Erinnerung an die Ideen im Gespräch das Selbstgespräch der Vernunft geworden, die ihre eingeborenen Ideen immer bei sich hat. Freilich stellt auch er neben die Vernunft die Erfahrung und neben die Zurückgezogen-heit das Reisen, das dem Nachdenken den Stoff von Erfahrungen einsammeln soll (II, 2 Schluß). Aber das ist doch wieder nur eine Stilisierung, die der Kavaliersreise einen würdigen Platz in der Selbstdarstellung der Vernunft geben soll. Nirgends im Text etwa der Meditationen finden sich tatsächliche Erfahrungen ausgewertet, die der reisende Descartes gemacht hätte. Descartes hatte Beeckman versprochen, von nun an weiterzuarbeiten, auf der großen Reise durch das kriegerische Deutschland bei Gelegenheit anzuhalten und die Ausarbeitung seiner Mechanik oder seiner Geometrie in Angriff zu nehmen. Das Winterquartier bot eine erste Gelegenheit solchen Anhaltens und wurde intensiv genutzt. Descartes muß damals ehrlich an den Freund zurückgedacht haben, der 0. November 69 war der Jahrestag seiner ersten Begegnung mit Beeckman, und nicht zufällig versetzt ihn dieser Tag in jenen Erregungszustand, in dem ihm die Entdeckung der »mirabilis scientiae fundamenta« gelingt. Es folgt die Nacht mit den drei »von oben gesandten« Träumen, die eine ganze Literatur der Deutung in Bewegung gesetzt haben, am anderen Tag die Bitte an Gott, ihn weiter zu erleuchten und auf dem Wege zur Wahrheit zu führen. 103
Descartes hat bekanntlich im Discours nicht allein unterschlagen, daß jene erste Einkehr seiner Vernunft in sich selbst die Feier eines Jahrestages war, Erinnerung an das wahre Initium seiner Forschung, sondern er hat auch alle Spuren jener visionären Erleuchtung »von oben« getilgt. Zum christlichen Verständnis der Vernunft gehörte seit dem Platoniker Augustin die Lehre von der Illumination durch Gott, und bis zum heutigen Tage ist die Bitte um Erleuchtung christliches Gemeingut geblieben. Descartes’ Vernunft aber soll ihren Anfang, wie keinem Menschen, so auch keinem Gott zu danken haben. Zweifellos war es die Erinnerung an die Intensität des wirklichen Erlebnisses, die ihn veranlaßt hat, das Ereignis im Discours zu verwenden und zu markieren. Da er aber in aller Trockenheit nur von methodischen Überlegungen berichtet, die er über den Unterschied von rational geplanten und durch die Jahrhunderte planlos zusammengekommenen (Denk-)Gebäuden angestellt habe, kann der Leser die Bedeutung des Ereignisses als eines Anfangs und Aufbruchs kaum noch verstehen. Freilich darf man hier nicht übers Ziel hinausschießen. Descartes’ ausgearbeitetes Verständnis der Vernunft hat zwar später, spätestens 628, den Gedanken an eine aktuelle Erleuchtung durch Gott im Vollzuge einer Erkenntnis nicht mehr zugelassen. Eine wahre Erkenntnis soll vielmehr in sich selbst einleuchtend sein, hell und unterscheidend, »clara et distincta«. Sie kann das aber nur sein, wenn und weil in ihr das »lumen naturale« sich betätigt, die Vernunft als vom Schöpfer verliehenes natürliches Licht. Helle und einleuchtende Erkenntnis kann sich nicht selbst verbürgen, sondern ist auf göttliche Verbürgung angewiesen. Zwar wird die je aktuelle übernatürliche Erleuchtung unmöglich und damit die Erzählung von jener visionären Nacht, jedoch die natürliche Erleuchtung durch das lumen naturale ist die nachwirkende Erleuchtung durch Gott als den Schöpfer, der 104
jedem Menschen die genau gleiche Vernunft als den Inbegriff angeborener Einsichten mitgegeben hat. Diese theologische Sicherung der vernünftigen Erkenntnis, die sich darstellt als der Nachweis, daß der Schöpfergott kein Betrüger ist, macht das Hauptanliegen der Meditationen aus. Von der Darstellung des November 69 an wird der Abstand zwischen Autobiographie und Historie geringer, d. h.: Von hier an gewinnt der Discours an Quellenwert. In extremer Stilisierung müßte ja der Aufbruch der selbständigen Vernunft nur einer sein, die Wende überhaupt von der alten Abhängigkeit zur Selbständigkeit. Descartes erzählt aber wahrheitsgemäß, daß er zunächst nur mit Methodik und Mathematik befaßt war, dagegen noch nicht sogleich begann, auch »die Grundlagen einer Philosophie zu suchen, die gewisser wäre als die gewöhnliche« (III, 3). Der Aufenthalt im Winterquartier war in Wahrheit ein beiläufiges Haltmachen, wie Descartes es dem Freund versprochen hatte. Es folgen noch zwei Jahre der Reisen im Gefolge der katholischen Truppen, dann ein ausgiebiger Aufenthalt in Paris, der den Anschluß an die dortigen Verschwörer der neuen Wissenschaft bringt, die Formulierung der R e g u l a e – und nun erst der a u s d r ü c k l i c h e E n t s c h l u ß zur Einkehr in der Abgeschiedenheit einer holländischen Kleinstadt. Descartes’ mathematische Studien sind von vornherein auf Methodik einerseits und Universalität andererseits ausgerichtet. Die »Regeln« betreffen eine »sapientia universalis« überhaupt, aber unter dem Schreiben erweist sich diese bloß methodische Grundlegung als unzureichend, sie wird abgebrochen und in der bewußten Zurückgezogenheit 628/29 durch die metaphysische Fundamentierung überboten. Als diese Arbeit schon vollbracht ist, schreibt Descartes an Mersenne (5. April 630): »Sollten Sie sich darüber wundern, daß ich während meines 105
Pariser Aufenthaltes einige neue Abhandlungen begonnen, jedoch nicht weitergeführt habe, so mögen Sie hier den Grund erfahren: Während ich daran arbeitete, erwarb ich einige neue Kenntnisse, über die ich am Anfang noch nicht verfügte. Da ich sie berücksichtigen wollte, sah ich mich gezwungen, einen neuen Plan zu entwerfen, der etwas umfangreicher ausfiel als der erste – wenn jemand, der mit dem Bau seines Wohnhauses begonnen hat, unverhofft zu Reichtum und damit in eine veränderte Lage käme, so daß sein begonnener Bau nun für ihn zu klein wäre, dann würde man ihn doch auch nicht tadeln, begönne er einen neuen, seiner Vermögenslage angemesseneren Bau.« Die historische Wahrheit ist also diese: Beginn bei der Mathematik (im damaligen weiten Sinne, also einschließlich Mechanik, Optik, Akustik), dabei sogleich Tendenz auf Verallgemeinerung, methodische Reflexionen von Anfang an, dann erst der Entschluß, noch einmal von vorn anzufangen und nun bei den letztmöglichen Fundamenten: Metaphysik, neun Monate vorbereiteter, nicht mehr zufälliger Zurückgezogenheit in Franeker, unmittelbarer Übergang zur Physik, Plan der ersten Veröffentlichung, die scheitert usf. So wohlverständlich biographisch solche Erweiterungen des Gesichtskreises, Vertiefungen des Ansatzes sind, die zu beständiger Fortarbeit, aber auch zu Unterbrechung und Neubeginn führen, so wenig paßte dergleichen in die exemplarische Darstellung, und die Folge ist: Obwohl Descartes nun wahrheitsgetreu erzählt, daß der Anfang der selbständigen Vernunft nicht alles auf einmal hervorbringt, daß er statt dessen wieder unterwegs ist, erst nach weiteren neun Jahren sich an die Metaphysik begibt–, so kommen in der Stilisierung nun doch nur schwach motivierte Aufschübe und Verzögerungen heraus (etwa III, 9-0). Die allen Irrtümer werden immer noch weiter abgebaut, der Neubeginn wird vertagt, obwohl die grundlegenden Einsichten schon gewonnen sind. 106
Die bedeutsamste Differenz zwischen Autobiographie und Historie ist also diese: Historisch wird Descartes’ selbständige Forschung und Reflexion durch den Anschluß an die Tradition der neuen Forschung In Gang gesetzt, der sich im Dialog mit einem Gefährten vollzieht. Autobiographisch setzt sich diese Vernunft aus sich selbst in Bewegung. Sie bedarf dabei freilich der fortwirkenden Erleuchtung durch Gott als den Schöpfer, den Spender angeborener Einsichten. Um so tiefer muß sich der Denker, noch wie ein christlicher Eremit, in die Einsamkeit zurückziehen. Das noch gewahrte Gottesverhältnis trägt dazu bei, das Verhältnis zu den Mitforschern erst recht zurückzudrängen. Descartes hat also sich selbst und seine Leser über den wahren Anfang seiner Vernunft getäuscht, und es ist nicht zu verwundern, daß diese Selbsttäuschung sich auch in den Meditationen niedergeschlagen hat. Diese stellen die Selbstbefreiung der Vernunft von den alten Irrtümern und den Neubau ihrer gesicherten Erkenntnis noch einmal in einer Zusammenraffung dar, im exemplarischen Modell einer gesammelten Besinnung von wenigen Tagen. »Semel in vita«, einmal im Leben muß alles von Jugend an Erlernte als falsch verworfen und fundamental, »a primis fundamentis« von vorn begonnen werden. Was aus dem Untergang im methodischen Zweifel als erstes Unbezweifelbares auftaucht, ist das nackte ego existo. Es weitet sich zum Umkreis aller »cogitationes«, aller Inhalte des »Bewußtseins«. Unter ihnen wird die angeborene Idee von Gott entdeckt, und von ihr aus wird in zweifachem Beweis das Sein Gottes als des Garanten der klaren und deutlichen Einsicht gesichert. Nun erst folgt, von der gleichfalls angeborenen Idee der materiellen Dinge aus, der Nachweis von deren Existenz. Die Vernunft geht also in ihrer fundamentalen Selbstbesinnung von sich selbst aus und findet erst auf dem Wege über Gott die physikalische Realität. 107
In Wahrheit ist Descartes von einem neuen Verständnis der physikalischen Realität ausgegangen. Seit er 68 in die Tradition der neuen Wissenschaft eintritt, bricht er mit der Tradition der thomistisch-aristotelischen Physik und bildet sofort seine eigene Deutung der Materie als bloßer res extensa aus. Seine Tagebuchaufzeichnungen berichten glaubwürdig, daß er schon in jenen ersten Jahren die »fundamenta« der »wunderbaren Wissenschaft« gefunden hat, d. h. er hat sich eine metaphysische Grundkonzeption der Materie geschaffen, lange bevor er an seine neue metaphysische Gesamtkonzeption dachte, hat aber an dieser frühen Metaphysik der Physik immer festgehalten. In den Meditationen geht er nur scheinbar von der res cogitans aus, in Wahrheit paßt er deren Verständnis dem schon vorgegebenen Verständnis der res extensa an, das denn auch von Anfang an unmißverständlich durchscheint, z. B. schon in I, 7f., wo zuerst von der »natura corporea«, der »extensio«, von Gestalt, Quantität usw. die Rede ist und ferner von Physik und Mathematik. Die Anpassung der res cogitans geschieht in der Weise, daß sie in ihrem Kerne als pura intellectio gesehen wird, als purer Verstand, der die Außenwelt als pure res extensa versteht. Auch die Sicherheit, mit der Descartes gar nicht skeptisch, sondern von vornherein nur methodisch zweifelt, rührt schon von vornherein von der Sicherheit der neuen Wissenschaft her, deren »Faktum« er in Wahrheit schon ähnlich voraussetzt wie später Kant, ja wie alle neuzeitliche Philosophie, die es seit Galilei mit der Frage zu tun hat, was angesichts der neuen Naturwissenschaft aus der Philosophie noch werden kann. Um 600 beginnt die Neuzeit, indem die neuzeitliche Wissenschaft entsteht. Seither gibt es eine wissenschaftlich fundierte Technik und eine technisch-experimentell kontrollierte Wissenschaft, mit allen noch andauernden Folgen dieser Neuerung. Von jetzt an ist wissenschaftliche Erkenntnis der Art, daß der 108
selbständige Einzelne sie so nachvollziehen kann, als habe er sie selbst gefunden, und darüber hinaus Selbstgefundenes »beitragen« kann. Aber de facto hat niemand alles bisher Gefundene selbst gefunden, jeder hat nur einen »Beitrag« geleistet, und das gilt auch für Kepler und Galilei, deren Beiträge bedeutender waren als die aller anderen. Daß prinzipiell jedermann den ganzen Weg der Wissenschaft finden, bereiten und zu Ende gehen »könnte«, bedeutet nicht, daß irgendeiner das faktisch »konnte« – aber es verleitet zu dieser Stilisierung, die Descartes unternimmt, obendrein verleitet durch seine Ansicht von der notwendigen metaphysischen Grundlegung der neuen Wissenschaft, die er bei anderen vermißt. 5 Die Selbstüberschätzung des Descartes stellt einen Sonderfall dar, der so nur in den Gründerjahren der neuen Wissenschaft auftreten konnte Bemerkenswert daran sind gleichwohl nicht allein die biographisch-historischen Fakten, die uns nicht mehr erlauben, mit Hegel in Descartes den gründenden »Heros« zu bewundern. Vor allem bemerkenswert daran ist vielmehr dies: Die Selbständigkeit der neuen, erfolgsicheren 5
Seit diese Abhandlung 96 zuerst erschien, hat Jürgen Mittelstraß sein (noch ungedrucktes) Buch »Aufklärung und Neuzeit, Studien zur Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft und Philosophie« geschrieben und darin weitere Zeugnisse vorgelegt, die das hier Gesagte erhärten und ergänzen (vgl. insbesondere § 8.3, Anm. 29). Als Descartes Beeckman 68 kennenlernte, hatte dieser längst »die neuzeitliche, anti-aristotelische Wendung, nur noch bei Geschwindigkeitsänderungen nach Ursachen zu fragen«, vollzogen. »Hier konnte Descartes nur lernen«. Beeckman stand jahrzehntelang in Verbindung mit den besten Vertretern der neuen physikalischen Forschung, ja er war in diesem Kreise »die zentrale Figur«. Bei Mittelstraß selbst bitte ich nachzulesen, was er ferner in § 9.4 über Descartes’ kleinliche Kritik an Galilei sagt, über die Begegnung mit Beeckman und über Descartes’ weitere Versuche, »Abhängigkeiten auf recht unsympathische Weise zu verschleiern«. Abschließend erwähnt Mittelstraß Descartes’ »schnöde Behandlung Keplers und Fermats«, die sich ebenfalls aus der Absicht erklärt, vor der Mit- und Nachwelt als der große und einmalige Entdecker dazustehen. 109
Wissenschaft, zu Recht befreit von der Bevormundung durch autoritäre Traditionen, verhilft nicht allein zu wohlbegründetem Selbstvertrauen, sondern verleitet auch, vom ersten Augenblick an, zu Selbstüberschätzung, zu illusionärer Selbstsicherheit. Bei Descartes ist diese Selbstsicherheit noch ein kurioser, individueller Sonderfall. Späterhin wird sie, zumal in der Gestalt des Szientismus, fast zum Normalfall. Daß Descartes’ anspruchsvolle Selbstsicherheit mit egozentrischer Selbstbefangenheit zusammenzugehen scheint, ist hier nicht mehr wichtig, wohl aber dies: Descartes versteht sich selbst und damit die Vernunft m o n o l o g i s c h , in Anknüpfung an eine christliche Tradition. Schon bei dem Platoniker Augustin ist ja aus dem sokratischen Dialog das einsame Gespräch der Seele mit Gott und mit der eigenen Vernunft geworden (die »Soliloquien«, die »Konfessionen«), das sich bei Descartes weiter einkapselt zum puren Selbstgespräch des »Bewußtseins«. Bewußtsein und Selbstbewußtsein werden für die folgenden Jahrhunderte als Grundbegriffe des menschlichen Selbstverständnisses festgelegt, und damit wird der Sprache ihr Ort in der Fundamentalphilosophie bis in unser Jahrhundert verweigert (vgl. LP Einleitung § 2). Descartes hat nicht nur autobiographisch die Wahrheit verdunkelt, als er das Gespräch mit dem Gefährten verleugnete, er hat auch philosophisch die Wahrheit verfehlt, als er Sprache und Dialog aus der Philosophie verbannte. Damit wurde nicht allein die Logik zu einer Jahrhunderte währenden Verkümmerung verurteilt, nicht allein die Sprachtheorie als fundamentale Aufgabe der Philosophie verkannt, damit wurde auch verdeckt, daß wir Menschen im M i t e i n a n d e r r e d e n aufeinander a n g e w i e s e n sind, nicht allein als handelnde, sondern auch als philosophierende, die miteinander redend einander hören, einander und auch andere, die vor uns waren. 110
Man sieht, welche Rolle hier der historische Zufall gespielt hat, Descartes’ Bindung an Traditionen, von denen er sich unabhängig wähnte (er hat ja auch, wie schon Arnauld bemerkte, Augustin als Gesprächspartner verleugnet, 4. Einwände zu den Meditationen). Die neue Physik erforderte zwar mancherlei Kritik an der aristotelisch-scholastischen Philosophie, auch die Zerstörung des überlieferten Stufenbaus des Seienden. Im übrigen aber erzwang sie keinerlei philosophische Folgerungen, ließ mancherlei Möglichkeiten neuen Philosophierens offen, unter denen als erste die Cartesische ergriffen und in ihren Grundzügen erstaunlich lange festgehalten wurde: das leib- und sprachlose isolierte »Bewußtsein« gegenüber einer mechanistisch gedeuteten »Außenwelt«, der »Geist« gegenüber der »Natur«, als ihr »maître et possesseur«, auf dem Wege zu einer unerhörten Zukunft und, was ihn selbst betrifft, »à son plus haut degré de perfection« (vgl. oben Seite 43 und S. 50/5).
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VOM TELEOLOGISCHEN SELBSTVERSTÄNDNIS ZUM HISTORISCHEN VERSTÄNDNIS DER NEUZEIT ALS ZEITALTER 1 . Zeitalter und Zeitabschnitte Man pflegt zu sagen: Wir leben »im Zeitalter der permanenten Veränderung«. In diesem Satz wird eine Kennzeichnung verwendet, die den Prädikator »Zeitalter« enthält. Sind wir berechtigt, so zu reden, oder reden wir so nur aus bildungssprachlicher Gewohnheit ? Wenn die Kennzeichnung »das Zeitalter der permanenten Veränderung« einen vernünftigen Sinn haben soll, dann muß sie eine Unterscheidung ausdrücken, die Abhebung dieses unseres Zeitalters von einem oder von mehreren anderen Zeitaltern, vergangenen Zeitaltern. In der Tat, so ist der Ausdruck gemeint: Vergangene Zeitalter, die Antike etwa, waren nicht durch permanente Veränderung, sondern durch vergleichsweise ruhigen Bestand von unserer Zeit verschieden. Jeder, der Bildungssprache spricht, jeder Gebildete weiß, daß eine agrarische Lebens- und Gesellschaftsordnung nicht allein in der Antike, sondern auch im Mittelalter und noch bis rund 800 diese vergangene Beständigkeit von »Alteuropa« verbürgte 2. Benötigen wir aber das Wort »Zeitalter«, um von dieser so eingreifenden Veränderung zu sprechen? Können wir nicht einfach sagen: Seit etwa anderthalb Jahrhunderten hat sich diese permanente Veränderung aller Dinge in den Industrieländern
Diese Untersuchung stellt eine Neubearbeitung meines Aufsatzes über »Zeitalter überhaupt, Neuzeit und Frühneuzeit« dar, der in der Zeitschrift Saeculum, Bd. 8 (057), erschienen ist. 112
in Gang gesetzt, die es vordem nicht gab und in industriefernen Ländern auch im 9. Jahrhundert noch nicht gab? Es zeigt sich: Ohne Z e i t a n g a b e n kommen wir nicht aus. Wir sagen: »Die Lebenswelt der Menschen in den Industrieländern wird ›seit anderthalb Jahrhunderten‹ mehr und mehr in diese Unruhe hineingerissen«, und daraufhin sagen wir ferner: »wir leben ›in einer Zeit‹ der permanenten Veränderung«. Wenn wir diesen Satz dann durch den sachverhaltsgleichen Satz ersetzen: »wir leben ›im Zeitalter‹ der permanenten Veränderung«, so machen wir zwar Gebrauch von einem überlieferten Wort unserer Bildungssprache, reden aber, unter Zusatz der angegebenen Interpretation, unanfechtbar. Doch der Ton scheint sich ein wenig zu verschieben und zu verstärken, wenn wir den Prädikator »Zeit permanenter Veränderung« durch die Kennzeichnung ersetzen: »das Zeitalter der permanenten Veränderung«. Man vergleiche folgenden Austausch von Formulierungen: Jemand sagt, dies sei »eine angsterfüllte Stunde«, oder er sagt, dies sei »die Stunde der Angst«. Die zweite Formulierung eignet sich, anders als die erste, als Film- oder Romantitel. Sie erweist sich als apokalyptischer Rede verwandt: die Stunde der Anfechtung, die Zeit der letzten Bedrängnis (wenn der Antichrist kommt). In der Tat: Sagt man von »einer Zeit des x«, sie sei »das Zeitalter des x«, so begibt man sich auf eine andere Stilebene, die uns vertraut und gewohnt ist aus unserer christlichen Überlieferung. Kennzeichnungen wie »das Zeitalter des x« verwiesen einst auf Gegenstände, die als diese s c h o n b e k a n n t waren. Wir 2
Daher ist eine Einteilung der europäischen Geschichte, die einen »Einschnitt« auf ca. 800 legt, mit dem im folgenden Gesagten verträglich. Vgl. E. Walder, Zur Geschichte und Problematik des Epochenbegriffs »Neuzeit« und zum Problem der Periodisierung der europäischen Geschichte, in: Festgabe Hans von Greyerz (967), S. lff. 113
leben »im Zeitalter des x«, das hieß: in diesem dir, dem Angeredeten, ja schon bekannten Zeitalter. In der christlichen Geschichtstheologie waren Zeitalter immer schon bekannt, indem eben die Geschichtstheologie eine Tradition des Redens von Zeitaltern hatte und aufrechterhielt. Jeder Christ, zumindest jeder gebildete Christ, jeder doctus oder Theologe, kannte aus Tradition z. B. »das Zeitalter der Gnade« (oder »der Kirche«), das mit dem Erscheinen des Erlösers angebrochen ist und das die Propheten des alten Bundes vorausgesagt haben. Auch der antike Mythos tradierte bereits die Rede von Zeitaltern, z. B. vom goldenen Zeitalter, der aetas aurea. Daraufhin konnten Humanisten die Wiederkehr »des goldenen Zeitalters« voraussagen oder gar in der eigenen Zeit »das goldene Zeitalter« wiedererkennen. Die neuzeitliche futurische Geschichtsdeutung schließlich sprach gleichfalls von Zeitaltern der Menschheitsgeschichte und vermochte dann jeweils anzugeben, in welchem dieser Zeitalter »wir« uns »jetzt« befinden. Z. B. der Condorcetschüler Auguste C o m t e unterscheidet drei Stadien der menschlichen Entwicklung: das theologische, das metaphysische, das wissenschaftliche. »Wir« gehören »jetzt« dem wissenschaftlichen als dem letzten Zeitalter an. In allen diesen Fällen dient also die Rede von Zeitaltern dem Verständnis der eigenen Lage, wofür wir zu sagen pflegen: dem »geschichtlichen Selbstverständnis«, das zumeist zugleich futurisches Selbstverständnis ist. Denn in den meisten Fällen wird ein teleologischer Aufstieg angenommen derart, daß »wir selbst« uns im letzten, der Vollendung zustrebenden Zeitalter befinden. Um anzugeben, daß von »Zeitaltern« in diesem einst gebräuchlichen anspruchsvollen Sinne die Rede sein soll, werde 114
ich im folgenden den Ausdruck »Zeitalter im (traditionellen) teleologischen Sinne« verwenden. Sowohl der vor- und außerchristliche als auch der jüdischchristliche Mythos sprechen aus einer n a i v e n D i s t a n z von »Altern« des Menschengeschlechtes, in Analogie zu den Lebensaltern des Menschen. Aber auch die christliche und die neuzeitliche profane Geschichtsteleologie überblicken in ähnlicher Distanz die Geschichte der Menschheit (vermeinen, sie zu überblicken). In solcher Weise mittels Kennzeichnungen Zeitalter, als die aus theologischer oder philosophischer Tradition schon bekannten, wiederzuerkennen, wird der auf empirische Forschung bedachte Historiker mit Recht sich weigern. Er wird sich davon Rechenschaft gehen, wie die Rede von aetates aus theologischer Universalgeschiechte in die profane Geschichtsschreibung übergegangen ist. Diese Reflexion ist aber nichts anderes als die Besinnung darauf, daß und in welcher Weise das Wort »Zeitalter« unserer überkommenen Bildungssprache angehört, daß es nur noch verwendbar ist im Sinne jener abschwächenden, entmythisierenden Interpretation: z. B. »das Zeitalter der permanenten Veränderung« darf nur heißen: »diese unsere geschichtliche Zeit, die durch permanente Veränderung vor vergangenen Zeiten ausgezeichnet ist«. Wie ein Gott die einander folgenden Alter der Menschheit im Ausblick auf das Telos zu überschauen, ist kein Mensch in der Lage. Doch auch ein Gott könnte nicht Zeitalter der Weltgeschichte so voneinander unterscheiden, wie wir, mit Hilfe von Prädikatoren, vorfindliehe Gegenstände von anderen Gegenständen unterscheiden. Reden wir von Lebewesen, z. B. von »Bäumen«, dann ziehen wir gleichsam eine Abgrenzung nur nach, die schon von »Natur« vorgegeben ist. Reden wir von Geräten, z. B. von einem »Fagott«, dann folgen wir einer Abgren115
zung, die wir selbst hergestellt haben. Zeitalter dagegen gehören sicherlich nicht zu den Gegenständen, deren Unterscheidung sich uns aufdrängt, sondern zu den anderen Gegenständen, deren Unterscheidung wir ganz und gar selbst zu verantworten haben (vgl. LP, S. 49ff). Die einfachste, vom Menschen leicht zu leistende Abgrenzung von so etwas wie Zeitaltern wäre wieder die bloße Abgrenzung von Zeitabschnitten. Wir treiben seit fernster Vorzeit Chronologie, besser: Chronometrie. Wir messen Jahre, Monate, Tage mit Hilfe der regelmäßigen Umläufe der Gestirne. Solche Zeiteinheiten werden durch Zufügung von Zahlen zu ungleichen Zeitabschnitten zusammengefaßt: Der Regen dauerte 5 Tage, dieser Krieg dauerte 7 Jahre. Ferner werden seit alters mittels historischer Eigennamen (z. B. Namen der römischen Konsuln) oder historischer Kennzeichnungen (die Gründung Roms, Christi Geburt) Zeitpunkte angegeben, die Datierung erlauben und damit die Abgrenzung h i s t o r i s c h e r Z e i t a b s c h n i t t e : die Zeit der Römerherrschaft im Mittelmeerraum (30 v. Christus bis 476 n. Christus), die Zeit der Kaiserherrschaft Napoleons (804-85). Ohne solche Einteilung der historischen Zeit ist keine Geschichtsschreibung möglich, und diese vom Historiker gesetzten Abgrenzungen sind nicht schlechthin »willkürlich«, indem sie sich an historische Ereignisse zu halten pflegen. Sie ergeben aber keine »Zeitalter« im einstigen anspruchsvollen Sinne, keine teleologischen Zeitalter. »Zeitalter« von »bloßen Zeitabschnitten« zu unterscheiden, ist gleichwohl in der Geschichtswissenschaft nach wie vor üblich und auch ohne Schwierigkeiten folgendermaßen möglich: Der Musikhistoriker spricht z. B. vom »Generalbaß-Zeitalter«. Dabei denkt er keineswegs an eine relevante Einteilung der Universalgeschichte– die es nicht geben kann – und nicht einmal der 116
europäischen Gesamtgeschichte. Sondern im räumlich und thematisch begrenzten Blick lediglich auf die europäische Musikgeschichte stellt er fest, daß sich der Generalbaß als Element der musikalischen Komposition und der Musizierpraxis zu einer bestimmten Zeit zur Vorherrschaft durchsetzt, diese Vorherrschaft eine Zeitlang behauptet und dann wieder einbüßt. Alltägliche Zeitangaben wie »jetzt«, »in dieser Saison«, »im Vorfrühling« haben keine präzise Begrenzung (vgl. LP III, 9, S. 3), und auch der Musikhistoriker ist berechtigt, vom »Generalbaßzeitalter« zu sprechen, ohne verpflichtet zu sein, dessen zeitliche Begrenzung präzise anzugeben. Ähnlich wird, in jeweils thematisch bestimmter historischer Sicht, vom »Zeitalter Goethes«, vom »Zeitalter der Aufklärung«, vom »RenaissanceZeitalter«, vom »Perikleischen Zeitalter« gesprochen, eine durchaus profanisierte Redeweise, in der von teleologischer Zeitalterunterscheidung nichts mehr geblieben ist. Im folgenden werde ich diesen, in der Geschichtswissenschaft eingebürgerten und gut zu rechtfertigenden Gebrauch des Wortes »Zeitalter« dadurch angeben, daß ich von »Zeitaltern im profan-historischen Sinne« oder kurz von »historischen Zeitaltern« spreche. Ich sehe davon ab, ob es noch andere Verwendungen des Wortes »Zeitalter« oder synonymer oder ungefähr synonymer Wörter gibt oder gegeben hat. Ohne das zu bestreiten, achte ich lediglich auf die soeben präzisierte Unterscheidung, weil nur sie von Wichtigkeit ist, wenn die Frage gestellt wird, wie es sich mit der »Neuzeit« als Zeitalter verhält.
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2. Neuzeit und Mittelalter, teleologisch und historisch als Zeitalter verstanden Wenn wir nun von der Neuzeit als Zeitalter sprechen wollen, haben wir ferner zwei Ursprungsfragen zu unterscheiden: . die Frage danach, wie das R e d e n von der »Neuzeit« aufgekommen ist, 2. die Frage nach dem Ursprung » d e r N e u z e i t s e l b s t « , was nichts anderes heißen kann als: die Frage danach, wie heute, in kritischer Geschichtswissenschaft und kritischer Reflexion auf unsere eigene geschichtliche Lage, von der Neuzeit zu reden ist. Da noch heute von der Neuzeit die Rede ist, da insbesondere noch heute der von der Kennzeichnung »die neue Zeit« abgeleitete Prädikator »neuzeitlich« gebraucht wird, ist die Frage danach, wie das Reden von der Neuzeit aufgekommen ist, so zu verstehen: Wann und wie hat das seither niemals abgebrochene, noch heute geläufige Reden von der Neuzeit begonnen? Es hat zaghaft und nicht teleologisch begonnen, als H u m a n i s t e n (z. B. Bentus Rhenanus, Vadian) eine neue Zeit heraufkommen sahen, eine Zeit, in der die vorbildlichen, insbesondere literarischen Leistungen der »Alten« wiederentdeckt und erneuert werden. Damit ergab sich die Sicht auf die unmittelbar vergangene, zu überwindende Zeit als das »medium aevum« (oder die »media aetas«), das »mittlere Alter« (ein Verlegenheitsausdruck). Bekanntlich waren es protestantische Theologen und Humanisten des späten 7. Jahrhunderts, vor allem Christoph C e l l a r i u s , die das Reden von einer neuen Zeit zuerst in eine schulmäßig verwendbare Gliederung der Universalgeschichte überführten 3. Die Historiographie der frühen Humanisten war territorialgeschichtlich, kaum also weltgeschichtlich interessiert. Aber seit Melanchthon hatte eine protestantische, wieder 118
theologisch orientierte Universalhistorie an den Universitäten Eingang gefunden, der nun dies in den Sinn kommen mußte: die humanistische Sicht auf die barbarische Zeit des Bildungs- und Kunstverfalls mit der reformatorischen Sicht auf die Zeit des Glaubensverfalls zu verbinden. Die alte Geschichtsgliederung nach den vier Weltreichen wird erst jetzt abgelöst durch eine neue Gliederung, deren Datum 57 noch heilsgeschichtlich verstanden wird, die aber zugleich auf dem Wege der Profanisierung ist. Denn daß etwa der Untergang der Antike in der Völkerwanderung mit dem Ende der alten Kirche (die man noch als rechtgläubig gelten ließ) zeitlich zusammenfällt, ist ja schon so etwas wie eine profanhistorische Einsicht, nicht mehr wie die älteren heilsgeschichtlichen Einsichten auf die Interpretation biblischer Texte zu stützen. Die nova aetas dieser Historiker artikuliert sich also aus Motiven humanistischen und reformatorischen Denkens : Das Alter der »Erneuerung« im zweifachen Sinne ist gemeint. Von der epochemachenden Nova scientia des 7. Jahrhunderts freilich ist noch an dessen Ende bei Cellarius mit keinem Wort die Rede. Erst die Geschichtsdenker der Aufklärung deuten die »neue Zeit« im Sinne des selbstbewußten Fortschritts um, der von der neuen Wissenschaft getragen und von keiner Tradition mehr bevormundet wird. Es entsteht die Rede von der »Neuzeit« als eines um sich selbst wissenden, seiner selbst bewußten Zeitalters, das sich fortsetzt in der »modernen Zeit« (dem entspricht die Verwendung von Ausdrücken wie temps modernes und modern times bei unseren westlichen Nachbarn). Die Gebildeten entfalten in und seit der Aufklärung ein neues, nun radikal profanes GeschichtsVerständnis, das aber teleologisch (futurisch) ist wie das vorangegangene christliche 3
A. Klempt, Die Säkularisierung der universalhistorischen Auffassung, Zum Wandel des Geschichtsdenkens im 6. und 7. Jahrhundert (960), S. 78. 119
und christlich-humanistische Geschichts Verständnis, aus dem es zwar nicht hinsichtlich seiner Zukunftserwartung durch Säkularisierung (im strengen Sinne) hervorgegangen ist (vgl. oben S. 49), wohl aber hinsichtlich seines teleologischen Gebrauchs des Wortes »Zeitalter«, d. h. hinsichtlich seines Verständnisses der Zeitalterfolge Antike – Mittelalter – Neuzeit. Und dieses teleologische Geschichtsverständnis pflanzt sich als vulgäres Fortschrittsbewußtsein bis in unsere Tage fort, nunmehr kenntlich an der umgangssprachlichen Synonymität von »neuzeitlich« und »modern« – z. B. ein Hotel im Bayerischen Wald versichert in seiner Werbung, es sei mit »allem neuzeitlichen Komfort« versehen. Die Ausbildung des Redens von der »Neuzeit« hat sich also in d r e i S t u f e n vollzogen. Auf der ersten Stufe sprechen Humanisten von der Überwindung des barbarischen »mittleren Alters« durch Erneuerung der klassischen litterae. Auf der zweiten Stufe führen protestantische Humanisten, im Blick auf die litterae und insbesondere auf die Reformation als e p o c h a l e W e n d e , die Unterscheidung von Antike, Mittelalter, Neuzeit in die Universalgeschichte und in die historischen Lehrbücher ein. Auf der dritten Stufe wird die »Neuzeit« neu verstanden als das Zeitalter der Wissenschaften und des Fortschritts. In den Lehr- und Schulbüchern jedoch bleibt die protestantischhumanistische Datierung erhalten, nach der die Neuzeit um 500 beginnt. Man gewöhnt sich daher daran, den Ursprung der neuen wissenschaftlichen Weltbemächtigung um gut 00 Jahre zurückzudatieren und spricht im Blick auf Gutenberg und Kolumbus vom »Zeitalter der Erfindungen und Entdeckungen«.4 4
Neben der Entdeckung Amerikas hat man auch der Eroberung Konstantinopels epochale Bedeutung zugesprochen. Dagegen richtig H. Spangenberg, Die Perioden der Weltgeschichte, in: HZ 27 (922), S. 3: »Das Jahr 453 verdient weder durch den Fall der letzten Hochburg antiken Lebens 120
Das Wort »Zeitalter« dient also zunächst einem neuen teleologischen, doch profanen Selbstverständnis der neuen Zeit. Alsbald aber und nun schon seit langem hat die profane moderne Geschichtswissenschaft versucht, den teleologischen Gebrauch des Wortes gleichsam herabzustimmen, das Wort »Zeitalter« also im profanhistorischen Sinne zu verwenden (vgl. »Generalbaßzeitalter«). Damit erhob sich die Frage, ob sich auch die überkommene Gliederung der europäischen Geschichte dieser Umdeutung fügt. Man kann nicht gerade sagen, daß die Historiker die Frage nach der Möglichkeit solcher Umdeutung mit Präzision gestellt hätten. Bei allgemein mangelnder Sprachkritik hat man insbesondere den Unterschied zwischen dem ideologischen und dem profan-historischen Verständnis des Wortes »Zeitalter« kaum irgendwo präzisiert. Berücksichtigt man diesen Unterschied, so ergibt sich das folgende: Man kann sinnvoll profan-historisch vom Mittelalter als Zeitalter sprechen, ohne die Daten seines Anfangs und seines Endes auf das Jahr festzulegen, und für die Neuzeit als historisches Zeitalter gilt dasselbe. Mittelalter und Neuzeit können als historische Zeitalter verstanden werden, die, metaphorisch gesprochen, »ineinander übergehen« oder »einander überlagern«. Hermann H e i m p e l setzt sich nachdrücklich dafür ein, »daß es Zeitalter gibt« – er wird nicht meinen: Zeitalter als vorfindliche Gegenstände wie Bäume oder Fagotte –, »daß diese Zeitalter geschichtliche Individuen sind, daß Zeitalter Gegenstände historischer Problemstellung sein können, daß das noch durch die endgültige Festsetzung der Türkenherrschaft in Europa als weltgeschichtliches Epochenjahr zu gelten. Die Entdeckung Amerikas (492), deren Bedeutung sich den Zeitgenossen völlig entzog, übte ihre große politische Wirkung erst im 8. Jahrhundert aus.« 121
herkömmlicherweise sogenannte Mittelalter ein wirkliches Zeitalter ist, das von der Völkerwanderung bis zur Glaubensspaltung reicht«. 5 Als unterscheidende Kennzeichen des Mittelalters als Zeitalter gibt er an: Germanentum als Adelsherrschaft, Antike als Nachwirkung, Christentum als Kirche, Handgreiflichkeit in Macht und Symbol 6. Das wird man so verstehen dürfen: Die germanischen Völker, geführt durch ihren Adel, treten das Erbe der Antike an, das Erbe einer christlichen Antike mit Papsttum und Kaisertum. Die Aufgabe, Christi Herrschaft auf Erden in vorläufiger Stellvertretung zu verwirklichen, einigt die Menschen jahrhundertelang mit einer von niemand angezweifelten Selbstverständlichkeit. Vielerlei Gegensätze wie die von Offenbarung und Vernunft, von universaler Einheit und nationaler Vielheit, von Kaisertum und Papsttum, von Fürstentum und Kaisertum, von Bürgertum und Fürstentum und so fort, werden immer wieder von der einigenden Macht dieser Aufgabe übergriffen. Durch hierarchische Ordnung und sakramentale Weihung ist alles menschliche Leben auf ein und dieselbe Mitte bezogen. Offenbar kann man also das Mittelalter als historisches Zeitalter verstehen, indem man das teleologische Geschichtsverständnis des Mittelalters selbst mit (!) heranzieht als eine das Mittelalter beherrschende und zusammenhaltende Macht. Freilich, als Zeitalter ausgegrenzt wird das Mittelalter erst seit dem Humanismus, und auch in der Geschichtsteleologie der Neuzeit tritt es als das überwundene Zeitalter auf (zeitweilig freilich auch, in der Romantik, als das verlorene Zeitalter). Die Neuzeit versteht sich selbst teleologisch, »das Mittelalter selbst« dagegen kommt in der Geschichtsteleologie, die für das Mittelalter kennzeichnend ist, nicht vor, wohl aber das Zeitalter 5 6
H. Heimpel, Der Mensch in seiner Gegenwart (954), S. 0. A. a. O. Anm. 7, S. 50f. und 57f. 122
der Gnade zwischen Christus und dem Ende, dem die docti als die Sprecher der herrschenden Geschichtsteleologie sich zugehörig wissen. Man kann sich auch damit begnügen zu sagen: Historisch gesehen zeichnet sich das Mittelalter als Zeitalter dadurch ab, daß die neu in die Geschichte eingetretenen germanischen Völker sich selbst, alles, was sie tun und was ihnen widerfährt, und alle ihre Institutionen »christlich« verstehen, daß sie aus dem christlichen Mythos leben, dessen riesige Bilderwelt weiter ausmalen (dies auch im wörtlichen Sinne), indem sie die in der Spätantike begonnene rationale Interpretation dieses Mythos erst nach geraumer Zeit wiederaufnehmen und dann freilich kräftig vorantreiben. Die Ablösung des Mittelalters durch die Neuzeit erfolgt nun, weiterhin profan-historisch gesehen, nicht dadurch, daß gewisse Leute von der »neuen Zeit« zu reden beginnen, sondern dadurch, daß der christliche Mythos als herrschende geistige Macht abgelöst wird durch die neue Physik. Anerkennung der Herrschaft Christi in allen Lebensbereichen, das ist Mittelalter. Autonome mythosfremde Wissenschaft und ihre Folgen, das ist die Neuzeit, the modern times.
3. Ursprung und Versagen der Neuzeit und ihrer Vernunft Die protestantischen Geschichtstheologen des 7. Jahrhunderts sprachen in der Weise von ihrer eigenen Zeit als der »aetas nova«, daß sie das »medium aevum« u n m i t t e l b a r durch den Anbruch der neuen Zeit überwunden und abgelöst sahen. Und die Geschichtsdenker der Aufklärung hatten noch dieselbe epochale Wende im Sinn, mußten also die Entstehung der neuen Zeit der Weltbemächtigung auf Kolumbus zurückdatieren. 123
Geht man aber vom teleologischen zum historischen Verständnis von Mittelalter und Neuzeit als Zeitaltern über, dann besteht nicht der geringste Grund, an einer datierbaren Epoche zwischen beiden Zeitaltern festzuhalten. Dann ist es nur gedankenlose Gewohnheit, wenn man weiterhin – wie auch Heimpel – meint, das Ende des Mittelalters sei eo ipso der Anfang der Neuzeit. Heimpel verwendet auf das Festhalten an dieser Gewohnheit eine erstaunliche Mühe. Er protestiert ausdrücklich gegen vielerlei Verlegungen der Epoche 500 in der Geschichtswissenschaft der letzten Jahrzehnte, indem er die epochale Bedeutung der Reformation hervorhebt. Daß die einheitliche christliche Welt des Mittelalters zerbricht, das geschieht »nach glanzvoller Darstellung der kirchlichnationalen Welt auf den Konzilien des frühen 5. Jahrhunderts seit etwa 520, nicht vorher und nicht nachher und durch nichts andeeres als durch die deutsche, alsbald nach Westeuropa übertragene und dort veränderte Reformation«. 7 Was ist dazu zu sagen? Zweifellos hat die Reformation die Einheit des Mittelalters gesprengt und damit seine Beendigung entschieden. Aber sie hat damit nicht die Neuzeit begründet. Es ist doch auch dies bekannt genug: Luther wollte überhaupt nicht gründen, sondern – ähnlich den Humanisten – erneuern, wiederherstellen, nämlich – anders als die Humanisten – den zuvor verfälschten und verdorbenen urchristlichen Glauben erneuern, das reine Evangelium von der Gnade Gottes wieder hören lassen 8. Nicht einmal um die Gründung einer neuen Kirche ging es ihm, geschweige denn um die Begründung einer neuen, besseren Zeit der Freiheit oder gar des »Individuums«, wie man so oft 7 8
A. a. O. S. 58. Vgl. hierzu W. P. Fuchs, Die weltgeschichtliche Bedeutung der Re formation, in: Geschichte in Wiss. u. Unterricht 5 (954), S. 705ff. 124
gesagt hat. Was die Zukunft angeht, so erwartete er den »lieben jüngsten Tag«. Das eschatologische Denken des Christentums hat sich immer wieder zur unmittelbaren Enderwartung aktualisiert, und dies auch in der Reformation (nicht allein in den Schwärmer- und Täuferbewegungen der gleichen Zeit). Die faktischen geschichtlichen Folgen der Reformation decken sich freilich nicht mit dem, was sie wollte. Aber zu diesen Folgen gehört zunächst die Stärkung des Fürstenstaates (nicht als »weltlicher«, sondern als bischöflicher Obrigkeit), keineswegs also die neuzeitliche »Überzeugungsfreiheit des Individuums«. Die reine Lehre verhärtet sich zur Orthodoxie und bedient sich dabei aufs neue des »weltlichen Arms« einerseits, der Denkmittel scholastischer Tradition andererseits. Fürstenmacht und Rechtgläubigkeit verbinden sich aber auch in der Gegenreformation zu einer Härte des Gewissenszwangs, die das Mittelalter so nicht gekannt hatte, und die Folge ist »das Zeitalter der Religionskriege«, der Glaubens Verfolgungen und Hexenprozesse. Diese Schwierigkeiten haben nachdenkliche Geister längst beunruhigt – wie könnte es anders sein! Aber Ernst T r o e l t s c h hat sie nicht eben glücklich zu beheben versucht, wenn er im Zeitabschnitt der Glaubenskriege verlängertes Spätmittelalter sah 9. Insbesondere hat er Karl H o l l den Widerspruch leicht gemacht, wenn er Luther selbst ins Mittelalterliche abzudrängen 9
Was Heimpel bezweifelt, trotz zahlreicher Aussagen Troeltschs wie etwa dieser (Ges. Sehr. IV, S. 24f.): »So ist es nicht verwunderlich, daß die beiden Protestantismen ähnlich oder mehr noch als die Gegenreformation eine Nachblüte des Mittelalters bedeuten inmitten einer gänzlich veränderten Welt, die den bereits gebildeten Trieben und Knospen einer weltlichen Kultur den Saft entzieht. Noch einmal erhob sich Ernst und Strenge, Seelentrost und Gläubigkeit, Geschlossenheit und Überweltlichkeit des Mittelalters in ihrer Größe und brachten in furchtbaren Kämpfen das Opfer ihrer Glaubenstreue. Die Reformation war gelungen, sie war aber eine Reformation des bürgerlichen Spätmittelalters.« 125
versuchte. Und doch bleibt das Pathos des Kulturprotestantismus töricht, mit dem Harnack erklärte, die Hammerschläge an der Tür der Wittenberger Schloßkirche hätten die Neuzeit eröffnet 0. Wie das Fortdauern des Protestantismus in die Neuzeit hinein angemessen verstanden werden muß, ist heute noch wenig geklärt. In der protestantischen Orthodoxie nach Luther jedenfalls ist Luthers eigene Botschaft von der Rechtfertigung allein aus dem Glauben zunächst ähnlich in lehrmäßiger und moralischer Gesetzlichkeit untergegangen, wie das schon der Botschaft des Paulus widerfahren war, die Luther wiederentdeckte. Erst durch moderne Denker ist Luther seinerseits eigentlich wiederentdeckt worden, was auf die Frage führt, ob nicht der Boden des neuzeitlichen Denkens der Wiederentdeckung Luthers schließlich günstiger war als der Boden der scholastischen Rationalität, die sich nach Luther im Protestantismus wieder ausbreitete und doch wohl ausbreiten mußte, solange andere Mittel rationaler Systematik nicht zur Verfügung standen. Der in diesem Zusammenhang viel berufene »Individualismus« des modernen Denkens ist einerseits durchaus nicht dasselbe wie Luthers Botschaft von der »Freiheit eines Christenmenschen«, hat aber andererseits so etwas wie eine Wahlverwandtschaft damit, die seit der Aufklärung jene »Amalgamierungen« von protestantischer Gewissensfreiheit und vernünftig gegründeter Freiheit ermöglichte, auf die Troeltsch immer wieder hingewiesen hat. Nachdem die Neuzeit wirklich gegründet war, hat der Protestantismus (etwa seit Leibniz) auf die Ausbildung ihres Geistes eingewirkt, indem er zugleich seinerseits der Wirkung dieses Geistes offener preisgegeben war als der fortdauernde Katholizismus, und so konnte es im 9. Jahrhundert zu jenem liberal-protestantischen Geschichtsbild kommen, das der Re0
Die Reformation, in: Intern. Monatsschr. f. Wiss., Kunst und Technik (97), Sp. 327. 126
formation die Begründung der neuzeitlichen »Autonomie des Individuums« zuschreiben wollte. Neben Troeltsch hat Wilhelm D i l t h e y nachdrücklich daran erinnert, daß wir nicht in unserer »modernen Welt« leben würden, hätte nicht erst die Aufklärung den Zwangsgewalten von Absolutismus und Orthodoxie beider Konfessionen das Ende bereitet. Einer zweiten Beendigung und Überwindung bedurfte es also hier, in der nun wirklich die Neuzeit geschichtlich dauerhaft gegründet wurde, und diese zweite Überwindung ist von der Naturwissenschaft ausgegangen, die im 6. und 7. Jahrhundert entsteht und durch Namen wie Kepler, Galilei, Huygens, Newton repräsentiert wird. Die zukunftsschwere Bedeutung des Ursprungs der neuen Physik hat anfangs gewiß noch niemand erkannt. Gleichwohl wird der Ursprung der neuen Zeit schon um 600 erstaunlich empfunden, am deutlichsten von D e s c a r t e s , aber auch von Bacon, der besonders emphatisch von der neuen Wissenschaft spricht, obwohl er deren Pointe noch kaum verstanden hat . Jedoch, auf das Zeitalter im großen gesehen, bleibt dieser Ursprung zunächst im Unscheinbaren. G a l i l e i bricht vor einem Tribunal des Glaubenszwangs zusammen, D e s c a r t e s fürchtet das gleiche Schicksal, Hugo G r o t i u s wird eingekerkert, und erst Generationen später wird der Ruf nach »Toleranz« zu einer geistig-politischen Macht, setzt sich der neue Geist in einer aristokratisch-intellektuellen Führungsschicht allmählich durch, bis, wieder ein Jahrhundert später, die großen Durchbrüche im Politischen und im Wirtschaftlichen sich ereignen. Das neue Zeitalter entsteht gleichsam verborgen im Schoß der
Leibniz durchschaut das Neue weit besser, wenn er von den »realen und nützlichen Erfindungen« spricht, »deren unser Saeculum nicht wenig gehabt«, und seinem Landesherrn die umwälzenden Folgen für Industrie und Wirtschaft auszumalen versucht (Grundriß eines Bedenkens … §20ff.). 127
beharrenden Vergangenheit – und dennoch vorbereitet und in mancherlei Hinsicht sogar vorweggenommen in Renaissance und Humanismus. Es gilt also, noch im einzelnen nachzusehen, wo solche Vorwegnahme und Vorbereitung wirklich stattfindet und wo sie durch unzulässige Modernisierung nur vorgetäuscht worden ist. Daß der selbständige Mensch sein Wissen nicht mehr den »Büchern« ablernen, sondern allein noch auf Vernunft und Erfahrung gründen soll, hat lange vor Descartes schon L e o n a r d o gesagt, und nicht er allein. Jedoch das Z u s a m m e n w i r k e n von mathematischer Vernunft und technisch-experimenteller Erfahrung, das seit Galilei die Physik bestimmt, gelingt erst spät. Es bereitet sich weniger in scholastischer oder humanistischer Gelehrsamkeit vor als in den Werkstätten der Geschützgießer und Schiffbauer, denen die neuen politischen Mächte Aufgaben stellen. Hier zuerst wird Mathematik ungeniert auf technische Probleme angewendet. In der humanistischen Wissenschaft indessen gehen zunächst Erfahrung und Vernunft noch getrennte Wege: Man will nun in selbständiger empirischer Forschung nicht mehr Autoritäten, sondernden eigenen Augen trauen. Es kommt zu so bahnbrechenden Leistungen wie der Anatomie des Andreas V e s a l i u s (543) oder der Mineralogie des Georg B a u e r . Aber diese sammelnde und beschreibende Naturwissenschaft bleibt noch dem aristotelisch-scholastischen Naturverständnis verhaftet. Neben ihrem »Empirismus« steht der mathematische »Rationalismus« einer neuen Astronomie. Doch auch K o p e r n i k u s geht noch nicht eigentlich neue Wege, sofern ihm noch jede dynamische Fragestellung abgeht. Seine Astronomie ist durchaus noch als Erneuerung der antiken Astronomie zu verstehen (mit ihrer bloß kinematischen Fragestellung) und ohne den metaphysischen Hintergrund 128
des Renaissance-Platonismus nicht zu verstehen2. Die »kopernikanische Wende« ist keine epochale Zeitenwende. Dem entspricht, daß auch die Zeitgenossen durch Kopernikus noch kaum alarmiert wurden, daß erst die theologischen Gegner des Galilei das Revolutionäre an der neuen Astronomie empfinden und Galilei zum Widerruf zwingen. Auch die bildende Kunst der- Renaissance zeigt das neue »naturalistische« Hinsehen der eigenen Augen, und die Entdeckung der Zentralperspektive im 5. Jahrhundert kann als Analogon zum Rationalismus der Astronomie aufgefaßt werden. Ja, hier dient die perspektivisches eine Zeitlang extrem ausgekostete Sehweise unmittelbar dem genauen Hinsehen auf die Dinge selbst, was nach einer Vorwegnahme jener Einigung von Vernunft und Erfahrung aussehen könnte, die der Generation des Galilei in der Physik gelingt. Jedoch darstellende Geometrie ist wiederum noch keine Dynamik. Die Dinge im Kaum bewegen sich im Bilde des Malers nicht. Das umstürzend Neue in der Empirie ist noch nicht die bloße Beobachtung und Beschreibung, sondern erst das Ausprobieren im technischen Handeln. Davon kennt die bildende Kunst ein Analogon nicht. Sie will der vorgegebenen Schönheit der von Gott geschaffenen Natur’ hinsehend und hingebend gerecht werden. Das erfolgreiche und alsbald vom mathematischen Vorentwurf geleitete technische Handeln hingegen läßt M a c h t über die Natur erfahren, so daß auch das längst Gesagte wieder gesagt werden muß: Erst die fortschreitende Bemächtigung der Welt durch Wissenschaft und Technik etabliert dauerhaft ein neues historisches Zeitalter. Erstaunlich bleibt, daß ein Mann wie B a c o n diesen Wil2
Für diesen ganzen Zusammenhang wichtig: E. J. Dijksterhuis, Die Mechanisierung des Weltbildes (956). J. Mittelstraß, Neuzeit und Aufklärung, Studien zur Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft und Philosophie (noch ungedruckt). 129
len zur Macht im Wissen schon aussprechen konnte, als er das methodisch Wichtige an der neuen Wissenschaft noch gar nicht erkannt hatte. Erstaunlich bleiben auch die kühnen Entwürfe einer fortschrittlichen technischen Phantasie in den Skizzen des L e o n a r d o 3. Bedeutsam bleibt ferner das herrscherliche Selbstgefühl jener Renaissancetyrannen, denen M a c c h i a v e l l i die politische Theorie geliefert hat. Hier geschieht eine Vorwegnahme der eigentlichen Neuzeit zumal insofern, als ein neuer Wille zur Macht in Politik und Technik und Wirtschaft (des »Frühkapitalismus«) dem faktischen Gelingen der Weltbemächtigung um Jahrhunderte vorauseilt. Erst in der eigentlichen Neuzeit aber wird das Selbstbewußtsein der Macht des selbständigen Menschen aus dem realen Fortschreiten seiner Weltbemächtigung gespeist. Ferner darf nun wieder, ähnlich wie hinsichtlich des Mittelalters, das teleologische geschichtliche Selbst Verständnis der Neuzeit mit (!) herangezogen werden, wenn gesagt werden soll, was die Eigentümlichkeit der Neuzeit als eines historischen Zeitalters ausmacht. Das enthusiastische Selbstbewußtsein einer neuen Zeit kennt man auch schon in der Renaissance. Nach V a s a r i hat Michelangelo die Antike sogar übertroffen. Aber dieses Selbstbewußtsein stützt sich auf Vergangenheit, unterwirft das Fortschrittsdenken noch dem Denken der zyklischen Wiederkehr und hat ja auch das Faktum des neuartigen Fortschritts noch nicht unter den Füßen 4. Darum ist es weit labiler als dasjenige 3
4
Vor den früher üblichen enthusiastischen Übertreibungen in der Ein schätzung des Leonardo warnt Dijksterhuis mit Recht (a. a. O. Anm. 30, S. 282ff.). Vgl. auch B. Gille, Les ingenieurs de la Renaissance (964, auch in deutscher Übersetzung 968). Zum Unterschied der humanistischen Hochgestimmtheit vom neuzeit lichen Wissenschafts- und Fortschrittsglauben vgl. H. Kößler, Der Humanismus und die Neuzeit, in: Die Erlanger Universität 9 (956), Nr. 6 und 7. 130
des 8. Jahrhunderts, anfälliger für den Zusammenbruch in der Skepsis. Michelangelo selbst tritt in ein skeptisch-resignierendes Alter ein, und Vasari, der in der ersten Auflage seiner Künstlerviten (550) stolz von der Höhe der eigenen Zeit geschrieben hatte, dämpft diese Töne zwei Jahrzehnte später in der neuen Auflage beträchtlich 5. Erst in der Geschichtsteleologie des 8. Jahrhunderts entfaltet sich das Selbstvertrauen der neuen Zeit als explizite futurische Geschichtsdeutung. In der Romantik wird es skeptisch zurückgenommen, erneuert sich aber immer wieder bis in unsere Tage. Der Neuzeit als historischem Zeitalter ist also dieses ausdrückliche oder doch latente teleologische Selbstverständnis ähnlich eigentümlich wie das heilsgeschichtliche Selbstverständnis dem Mittelalter. Für die Antike gilt dergleichen nicht. Will man auch sie als historisches Zeitalter gelten lassen, so kann man sich auf ihr Selbstverständnis nicht berufen. Worauf aber sonst? Auch im Geschichts Verständnis der neuen Zeit kam die Antike niemals als um sich selbst wissendes Zeitalter vor, wohl aber als das vorbildliche »klassische Altertum«. Diese ihre Auszeichnung steht und fällt also mit dem Humanismus, man könnte heute auch sagen: mit dem humanistischen Gymnasium. Hatte der historische Zeitabschnitt, der etwa von Homer bis zur Völkerwanderung reicht, in sich selbst so etwas wie eine »geistige Mitte«? Wird er durch die Dominanz von irgend etwas anderem zum historischen Zeitalter erhöhen? Diese Frage mag hier offenbleiben. Es könnte wohl sein, daß unser gewohntes Reden von »der Antike« und von »der Spätantike« in Wahrheit nur historische Zeitabschnitte angibt. Heute bedarf es der kritischen D e s t r u k t i o n , der definitiven »Entmythisierung« des traditionellen teleologischen 5
J. Schlosser, Die Kunstliteratur (924), S. 277 ff. 131
Zeitalterdenkens, des christlichen so gut wie des neuzeitlichen. Es hätte keinen vernünftigen Sinn, wenn auch wir uns noch als »Bürger der Neuzeit« verstehen wollten, als seien wir schon kraft der Geschichte oder kraft der modernen Physik unterwegs in eine bessere Zukunft. Andererseits ist das Verständnis von Mittelalter und Neuzeit als h i s t o r i s c h e r Zeitalter nicht das Geschäft einer unbeteiligten, abseits stehenden Wissenschaft, sondern das Geschäft einer geschichtlichen Selbstbesinnung, in der wir unsere eigene Vergangenheit zu verstehen versuchen, um unsere gegenwärtige geschichtliche Situation zu verstehen. Weil wir diese Situation praktisch zu bestehen und zu bewältigen haben, müssen wir wissen, wie wir in sie hineingeraten sind. Zur Abwehr vielleicht naheliegender Mißverständnisse sei noch das folgende hinzugefügt : Die Auszeichnung und Abgrenzung historischer Zeitalter bedarf, wie mehrfach gesagt und an Beispielen erläutert wurde, einer räumlich und thematisch bestimmten Sicht, was bedeutet: Erstens hat man die altgriechische oder die europäische oder die chinesische Geschichte in Betracht zu ziehen (obgleich die Neuzeit als europäisches Zeitalter auch dadurch ausgezeichnet ist, daß die Erde mehr und mehr nicht bloß geschichtstheologisch, wie einst, sondern faktisch zum geschlossenen Schauplatz der Menschheitsgeschichte wird). Zweitens hat man sich an die Wirtschaft oder an die Politik oder an die Musik oder an die Philosophie oder … als Gegenstandsbereiche zu halten. Will man nun Mittelalter und Neuzeit als historische Zeitalter verstehen, so ergibt sich neben der räumlichen Beziehung auf Europa, besser: zunächst auf Europa, die thematische Beziehung auf Religion und Wissenschaft – eine befremdliche Sache für diejenigen, die darauf hinzuweisen pflegen, daß der sogenannte »Primat« der Geschichte der Wirtschafts- und Sozialgeschichte zukommt, und ebenso für 132
diejenigen, die daran festhalten, dieser »Primat« komme der politischen Geschichte zu. Dieser Streit um einen prinzipiell gültigen Primat der Geschichte ist gänzlich hinfällig. Fragt man danach, von welchen Lebensbereichen die stärkste Wirkung auf andere oder auf alle anderen Lebensbereiche ausgegangen ist, so wird man für verschiedene historische Zeitabschnitte zu verschiedenen Ergebnissen kommen. Außerdem und trotzdem kann man stets thematisierende Gesichtspunkte frei wählen, d. h. entscheiden, ob man Wirtschaftsgeschichte oder Literaturgeschichte oder … erforschen will, und wird dann stets zu verschiedenen Zeitalterauszeichnungen gelangen. Betreibt man z. B. Wirtschafts- und Sozialgeschichte, dann wird man um ca. 800 weit »einschneidendere« Veränderungen antreffen als etwa um ca. 600. Betreibt man Geschichte der politischen Institutionen, dann wird man sehen, daß sich der europäische Dynastiestaat seit dem hohen Mittelalter ausbildet und als zentralistischer Flächenund Machtstaat seine Kulmination im 7. und 8. Jahrhundert erreicht, im »Zeitalter des Absolutismus«, wie man sagt, so daß also im Rahmen dieser Thematisierung weder das Jahr 500 noch das Jahr 600 von »einschneidender« Bedeutung sind (was nicht ausschließt, daß quergreifende Zusammenhänge z. B. der politischen mit der Kirchengeschichte, mit der Baugeschichte, mit der Wirtschaftsgeschichte und andere derartige Zusammenhänge stets festzustellen sind). Indessen sind die Wirkungen, die dereinst vom Christentum, späterhin von der neuen Physik auf andere Lebensbereiche ausgegangen sind, so unübersehbar, daß es für unsere geschichtliche Selbstbesinnung unerläßlich bleiben wird, Mittelalter und Neuzeit zu unterscheiden, also eine dementsprechend thematisierte Geschichtsforschung zu betreiben. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat ein katholischer Philosoph, 133
Romano G u a r d i n i , vom »Ende der Neuzeit« gesprochen6. Es waren die Jahre einer christlichen Restauration, der die katastrophal gescheiterte Hybris Hitlers zustatten kam. Versteht man aber die Neuzeit als das Zeitalter der dominierenden Naturwissenschaft und naturwissenschaftlich fundierten Technik, dann kann nicht vom Ende, wohl aber vom Versagen der Neuzeit und insbesondere, was hier vor allem interessiert, vom Versagen der neuzeitlichen Vernunft die Rede sein. Die seit 600 sich ausbildende neue Naturwissenschaft hatte von Anfang an emphatische Erwartungen auf eine bessere Zukunft entbunden (z. B. bei Descartes, vgl. oben S. 43), die sich im 8. Jahrhundert um so leichter zu einer universalen futurischen Geschichtsphilosophie formieren konnten, als man durch Antike, Scholastik, Humanismus an einen weitgreifenden Naturbegriff gewöhnt war, der sowohl die physikalisch erforschbare Natur als auch die »menschliche Natur« umfaßte – neben der Ausbildung der Physik vollzog sich die Emanzipation des »Naturrechts«, der »natürlichen Religion«, die Errichtung eines »natürlichen Systems« der Musik und so fort 7. Dieses angeblich aufgeklärte, in Wahrheit aber ungeklärte Verständnis von »Natur« stützte das zuversichtliche Vertrauen auf die bessernde Macht der vernünftigen Wissenschaft, das in Denkern wie Condorcet kulminiert. Im 9. Jahrhundert setzte sich eine Restriktion des Naturbegriffs mehr und mehr durch, gleichlaufend mit einem sich klärenden Selbstverständnis der »exakten« Wissenschaften. Aus dem vergleichsweise unschuldigen Selbstvertrauen der 6 7
R. Guardini, Das Ende der Neuzeit (950). -Vgl. dazu die Kritik von Gerhard Krüger, Unsere geschichtliche Zukunft (953), S. 53ff. W. Dilthey, Das natürliche System der Geisteswissenschaften im 7. Jahrhundert, in: Gesammelte Schriften II. W. Kamiah, Die Profani-sierung der Musik, in: Musica (947), S. 30ff. 134
Aufklärung wurde die Selbstsicherheit des Szientismus, der die »Wertfreiheit«, die der Physik eigentümlich und dort notwendig ist, als eine notwendige Eigenschaft aller Wissenschaft proklamierte und die Unfähigkeit solcher Wissenschaft, die praktischen Fragen des menschlichen Lebens und Zusammenlebens zu beantworten, bagatellisierte. Die komplizierte Geschichte dieses an der Physik als Vorbild orientierten Szientismus, der sich einerseits zu sich selbst bekennt und die »Lebensfragen« dem privaten Belieben glaubt überlassen zu können, der andererseits für ergänzungsbedürftig durch Glauben oder Weltanschauung, durch »Geisteswissenschaften« oder Existenzerhellung erachtet wird, soll hier nicht erörtert werden. Es mag der Hinweis auf ein Versagen genügen, das ja heute vielfältig festgestellt und analysiert wird. Die exakten Wissenschaften schreiten nicht allein weiter fort, ihre technischen Resultate sind nicht allein unentbehrlich geworden (indem sie zugleich unvorhergesehene katastrophale Wirkungen gezeitigt haben), ihre methodische Disziplin bleibt auch exemplarisch für jedes vernünftige Reden und Denken. Die Preisgabe des überschwenglichen Wissenschaftsvertrauens der Aufklärung und der Wissenschaftsgläubigkeit des Szientismus darf nicht in Wissenschaftsfeindlichkeit umschlagen. Gleichwohl hat die Vernunft der Neuzeit versagt, indem sie sich selbst mißverstanden hat, und hat ihr Versprechen, eine bessere Zukunft heraufzuführen, nur sehr partiell gehalten. Ja, der bisher einzige Versuch, einen auf Wissenschaft gegründeten Neubau des menschlichen Zusammenlebens im ganzen zu vollbringen, hat in der östlichen Welt ein autoritäres Zwangs- und Herrschaftssystem heraufgeführt, das die schwer errungene Mündigkeit der Vernunft wieder ähnlich behindert wie der Glaubenszwang der nachreformatorischen Kirchen (hier sind die Illusionen des teleologischen Denkens im Spiel). In der 135
westlichen Welt aber herrscht eine Freiheit, deren Wohltätigkeit einerseits nicht leichtfertig ironisiert werden sollte und die doch andererseits schwerste Mängel nicht verdecken kann. Karl L ö w i t h hat das Versagen der Neuzeit skeptisch als »das Verhängnis des Fortschritts« dargestellt 8. Wenn aber die Vernunft ihre eigene neuzeitliche Geschichte kritisch rekonstruiert, so entdeckt sie Fehler und Irrwege, die vielleicht, historisch gesehen, schwer vermeidbar waren, jedoch skeptische Resignation nicht rechtfertigen. Die von voreilig fehlgegangener Vernunft beherrschte Neuzeit hat versagt, nicht die Vernunft überhaupt. Und daß die Mittel der Vernunft, ihre Einsichten praktisch durchzusetzen, schon von Platon mit Sorge für gering gehalten wurden, kann so lange keinerlei Resignation rechtfertigen, als eine Neugründung der theoretischen, vollends aber der praktischen Vernunft gerade erst beginnt. Eine programmatische, futurisch-pathetische Schlußformel soll hier vermieden werden. An dergleichen fehlt es heute nicht. Daß eine A u f g a b e gestellt ist, daß diese Aufgabe zunächst die Vernunft selbst betrifft und daß sie unabhängig davon ist, wie skeptisch oder wie enthusiastisch wir unsere Zukunftsaussichten beurteilen, nur dies soll hier noch einmal gesagt werden.
8
K. Löwith, Das Verhängnis des Fortschritts, in: Die Philosophie und die Frage nach dem Fortschritt, Verhandlungen des Siebten Deutschen Kongresses für Philosophie 962.
Ende E-Book: Wilhelm Kamlah - Utopie, Eschatillogie, Geschichtsteleologie