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Annette Geiger
Urbild und fotografischer Blick Diderot, Chardin und die Vorgeschichte der Fotografie in der Malerei des 18. Jahrhunderts
Wilhelm Fink Verlag
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Gedruckt mit fr(:undJich(:r Um(:rstünung d(:r Johanna und Frin Buch-Gedächmissriftung
Umschlagabbildung: J. B. S. Chardin, Dam~ hl'im Tutrinkm, 1735, 80 x 101 cm, Glasgow, Hunmian Mus(:um and Art Gall(:ry
PVA 2004. 1309
Bibliografische Information d(:r Deutschw Bibliorh(:k Di(: D(:ucsch(: Bibliorh(:k verzeichnet diese Publikation in d(:r D(:utsch(:n Nationalbibliografie; detaillierte bibliograEisch(: Dat(:n sind im Interner über hrrp:/ldnb.ddb.dc abrufbar.
Alle R(:(.hte, auch die des auszugsw(:is(:n Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergab(: und der Übersenung, vorbehalr(:n. Dies betrifft auch di(: V(:rvielfältigung und Übertragung dnzelner T(:X(abschnine, Zeichnung(:J\ od(:r Bilder durch all(: V(:mhr(:n wi(: Sp(:i* cherung und Obc:rrragung auf Papi(:r, Transpareß((:, Film(:, Bänd(:r, Planen und ander(: Maii(:n, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestanen.
ISBN 3·7705·3974·5 e 2004 Wilhe1m Fink V(:rlag, München Herstellung: Fetdinand Schäningh GmbH, Paderborn
Bllycrlsche StaalsblbHtllhck München
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INHALT
Einleicung 1. Diderots Kunsttheorie im Kontext
7 11
\.\. Das Bild als Bühne Das Paradox über den Schauspieler Das Paradox über den Autor
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1.2. Das neue Bild der Alten Über die Wahrnehmbarkeit der Welr Der Ort des inneren Auges Der Stempel der Zeit und das Genie des Primiriven
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1.3. Diderot zwischen Wort und Bild Wenn die Malerei doch nichr wäre wie die Poesie... Die Zeiclichkeir des Augenblicks "Ur pictura musica" - Auf der Suche nach dem Code der Kunsr
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2. Chardins Stillleben und die Grenzen der Beschreibungskunsr
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2.1. Das Sehen sehen Diderots stumme Eloge auf Chardin Stoische Still1eben Chardins Weg wr reinen Sichtbarkeir
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2.2. "L'ceil recref' - Diderots Auge auf Chardin Das Paradox über die Details Von der Ekphrasis zum "effet de reel"
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3. Die Aufklärung des Sehens
3.1. Der Höhlenausgang als Umkehrung der Sehnarur Wiedersehenlernen als erste Operation der Moderne: Diderots Traum von Fragonards Höhle
111
111
Die Verdoppelung der Na[ur Das fooene Sehen: Rahmensenung und Lichcaufnahme 3.2. Focografische Malerei und malerische Fo[ografie Der focografische Blick in der Malerei Die Focografie auf dem Weg zur Kuns[
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3.3. Der komingeme Blick
181
Li cera[u rverzeichn is
197
EINLEITUNG
..Die: Tate wurden im zweiten Jahrtausend v. ehr. erfunden, um die: Bilder zu cn[* magisic:rc:n. wenn sich auch ihre: Erfinder d~n nicht ~[~n sein rnögt:n; die: Fotografie: wurdc. als erstes technisches Bild, im 19. Jahrhundert erfunden. um die: T are wieder m.agisch zu ladc:n, wenn sich :lUch ihre Erfinder dessen nicht bewusst gewesen
sein mögen. Die: Erfindung der Fotografie ist ein ebenso enrscheidendes historisches Ereignis, wie es die Erfindung der Schrift war. Mit der Schrift beginne die: Geschichte
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Sinn, und zwar als Kampf gegen Idolatrie. Mit der Fotografie
'Nachgesc:hichtc', und
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als Kampf gegen Tatolatric:."
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Nach Viltm Flusser erfand man die rcchnischen Bilder um die Krise der Tex« zu überwinden. Dem Bild ist offenbar eine gewisse Macht oder Magie eigen,
die dem Text fehlt. Diese: spezifische Leistung des Bildes von den Texten abzwondem und in einer neuen Art von Bildern zugänglich zu machen, gelang tatsächlich erSt in der Moderne. Aber warum sollte diese Bildauffassung, wie Flusser nahelegt, erst mit der Erfindung einer neuen Technik entstanden sein? Musste erst ein neuer Apparat vorliegen, damit man sich der Magie der Bilder gewahr wurde? Die Geschichte der gemalten Bilder zeigt, dass wir schon viel früher, nämlich um die Mitte des 18. Jahrhunderts, Bilder finden können, die eine fotografische Qualität aufweisen. Der technische Durchbruch der
Fotografie erfolgte erst 1839. aber die Idee des fotogrodischen Effekts war bereits eine Erfindung der Malerei. Die Fotografie hat letztlich zwei Vorgeschichten, eine technische und eine ideelle. Die Resulute ihrer technischen Vorgeschichte würde ich dabei nicht unbedingt als "fotografisch" bezeichnen: Selbst wenn schon AristoteIes die Funktionsweise der Camera obscura beschrieb und wir seit Lconardo wissen, dass Künstler sie bei ihrer Arbeit auch einsetzten, selbst wenn die lange Geschichte der technischen Fortschritte über die Erfindung der Latema magica, des Guckbstens, der Camera lucida u. a. 2 davon :z.cugt, wie man die Technik zu verbessern wusste, ähneln die dabei erzeugten Bilder der Fotografie noch nicht. Ihnen lagen andere Auffassungen von lUusion zugrunde. Die ersten Bilder. die fUr un~r heutiges Auge der Fotografie visuell (und eben nicht der HersteUungstcchnik nach) nahekommen. finden wir in der Malerei der zweiten Hälfte des 18. JahrhundertS - und zwar ohne dass sich die Künstler technischer
I
Vilem Flusse:r: Für eine Philosophie der Fotografie. Göningen: European Photography. 1997.
8. Auflage, S. 16. J
Siehe dazu Wolfgang Baier (Hrsg.): Qudlendustdlungen zur Geschichte der Fotografie. Halle: FOlokinoverlag. 1964. Insbesondere S. 6-20.
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EINLEITUNG
Hilfsminel bediene hänen. Die Malerei ahnee mit ihren ureigennen Mitteln und Verfahren voraus. was die Fotografie später technisch vollziehen wird. Aus dieser überlegung ergeben sich zwei Fragen: Zum einen gih es. in ahinorischer Perspektive zu uneersuchen. was ein focografisches Bild eigendich auszeichnet. Was in das Fomgrafische überhaupt? Mein Ansatz sei dabei so gefasst. dass der fotografische Effekt nicht nur in der Fotografie selbst erscheine. sondern sich auch als Eigenschaft anderer. z. B. gemalter Bilder erweisen kann. Ich verstehe den Begriff somit keineswegs technikgebunden. weshalb ich im Folgenden auch von einem fotografischen Blick oder Effekt sprechen werde. Zum andern sei auch die historische Dimension erörtert: Aus welchem epistemologischen Koneext heraus konmen solche Bilder erstmals um die Mine des 18. Jahrhunderrs emstehen? Welcher Wandel oder gar Umbruch musste in der Ästhetik vollrogen werden. um diese neue Bildauffassung einzuleiten? Die vorliegende Studie versteht sich somit als Beitrag zu einer Philosophie der Fotografie und zu einer Mediengeschichte des Bildes. Methodisch gesehen erweist sich das Vorgehen zunächst als problematisch: Wir müssen uns mit Diskursen beschäftigen. die das Vokabular der Fomgrafie noch nicht kennen konnten. Aber gerade diese Texte vermögen uns heute noch zu helfen, den Sinn jener Bilder zu verstehen und somit nachzuvollziehen aus welchen Intentionen und Erwartungen heraus man die Fotografie erfand. Im Hinblick auf das hauptsächlich theoretische Interesse möchte ich dabei keine vollständige Übersicht zu den fotografischen Tendenzen in der Malerei geben. sondern vielmehr versuchen. anhand ausgewählter Beispiele die relevanten Topoi des focografischen Diskurses zu bestimmen. Ein besonders fruchtbares Zusammentreffen von Kunstbeschreibung und fotografischer Malerei finden wir in der Begegnung zwischen Denis Diderol
(I713-1784) und Jean-BaptiSte-Simeon Chardin (I 699-1 779). Didero[ erkannte in den Stillleben Chardins den Ausdruck einer neuen Bildauffassung. Tatsächlich lag Chardins Arbeitsweise ein bisher ungekanmer Umgang mit der Wahrnehmung zugrunde. die den Betrachter entsprechend überraschte. Diderot beschrieb seine Bilder als ..wahrer" und .. natürlicher", der enielte Realismus-Effekt übertreffe die bisherige Trompe I'reil-Technik bei weitem. Um diesen bei Diderot ebenfalls neu gefassten Wahrheits- bzw. Naturbegriff zu erläutern. müssen wir auf seine Platonlektüre zurückgreifen. die. selbst wenn sie bisher nur wenig Beachtung gdi..mden hat. eine unerlässliche Grundlage für seine Kunsttheorie bildet. Man muss Plaron letztlich nicht so bilderfeindlich interpretieren. wie er vielerorts gelesen wird. Diderot machte sich seinen Ansatz zu Nutze. um wahre von falschen bzw. gute von schlechten Bildern zu unterscheiden. In Abgrenzung zu der kontroversen Rezeptionsgeschichte (1.. B. durch Neuplatoniker und Antiplatoniker in der Frühen Neuzeit) las der Aufklärer den
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antiken Philosophen ausgesprochen wörtlich und pragmatisch: Er sah bei Platon kein Bilderverbot formuliert. sondern vielmehr eine Anleitung, wie man zu legitimen Bildern finden könne. Dem Atheisten und Materialisten Diderot ist dabei gewiss kein mynisches oder gnostisches Transzendenzbedürfnis nachzusagen, er bez.og sich vielmehr auf Placon, um gerade die Unmöglichkeit aufwu:igen, dass die Ideen oder Urbilder in der Welt sichtbar werden. Gleichu:itig befl.irwonete er jedoch, dass die Künstler nach Verfahren suchen, sich dem Urbild zu nähern, zumindest so, dass den Bildern nicht mehr der Vorwurf gemacht werden kann, nur falsche Kopien der Idee zu sein. Diderot verschärfte somit den Gegensatz von Intelligiblem und Visiblem nur, um im Bereich des Sichtbaren eine neue Aufwertung zu erzielen: Die Magie der Bilder hat für ihn nun nichts Trügerisches mehr, sondern bietet im Gegenteil die Chance sich über das Wahre 1.U verständigen. Mit dieser Betonung der kommunikativen Funktion von Archetypen fand Diderot einen Weg, mit Platon 1.U argumentieren ohne dabei seine aufklärerischen Prinzipien an eine "abergläubische" Metaphysik zu verraten. Der fotografische Blick, den ich als Ergebnis einer regelrechten Aufklärung des Sehens darstellen möchte, sollte eben jene Probleme lösen, die Platon für das Bild gestellt hane. Dabei stehen weniger die Inhalte als vielmehr die Abbildungsverfahren im Mittelpunkt der Obe:rlegungen; Begriffe wie Natur, Wahrheit, Echtheit und Authentizität erweisen sich nun als Ergebnis einer medialen Strategie. Der Künstler kann sich - so die durchaus revolutionäre Entdeckung dieser Zeit - als beobachtendes bzw. sehendes Wesen verhalten wie ein Aufnahm~pparat, der teilnahmslos registriert, was seine Augen wahrnehmen. Von dieser neuen Haltung gegenüber den abzubildenden Gegenständen oder Su:nerien war es nur noch ein Schritt bis zur Erfindung einer emsprechenden Technik. Diese voll7.0g jedoch nur, was der Betrachter schon am eigenen Körper, d. h. durch den neuen Umgang mit seinen Augen erfahren hatte. Diese Strategie der vorurteilsfreien Beobachtung versucht Diderot auf alle Kunstgattungen anzuwenden, sie lässt sich sogar bis in seine Auffassung von Religion und Wissenschaft verfolgen. Ich möchte im Folgenden zunächst in Diderors Ästhetik einführen und dabei vor allem die Unterschiede zu seinen Vorgängern aufzeigen. In diesem ersten Teil werde ich mich noch nicht mit den fo[Ografischen Bildern selbst beschäftigen, sondern zunächst nach den theoretischen Prämissen in der Ästhetik des 18. Jahrhunderts fragen. Als besonders relevant erweisen sich dabei Diderors Schauspiel theorie. seine Haltung gegenüber der Antike und seine Ansätze zu einer Medientheorie. Der zweite Teil wendet sich daraufhin der Begegnung von Diderot und Chardin zu, um den fotografischen Effekt auch an konkreten Bildbeispielen zu beschreiben. Meine These von der Herausarbeitung eines spezifischen
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Wahrheitseffekts ermöglicht es in di~m Zusammenhang, für die bisher ungekläne Entwicklung von Chardins Werkphasen ein neucs Erklärungsmodell anzubieten. Das drine Kapitel fühn die von Diderot erwähnten Topoi schließ· lieh ideengeschichtlich auf Platon zurück und zeigt die starke Verwu.rzclung di~r Vorstellungen auch in anderen Wisscnssystemen der Zeit, wie zum Beispiel der Medizin, den Naturwissenschaften und der Erkenntnistheorie.
Abschlidknd verfolge icb in einem kurun Überblick das Fortleben der Topoi bei anderen Künstlern des 18. Jahrhundens, in den frühen Jahren der Fotografie und in ihrer Relevanz bis heure.
1. DIDERoTS KUNSlTHEORJE IM KONTEXT
Diderot formulierte seine Kunsnheoric nicht mehr, wie die meisten seiner Vorgänger. in einer überschaubaren Anzahl von Abhandlungen oder Trak[au~n. Sein Denken en[Wickeite sich standessen in einer Vielzahl von Essays, Briefen, Dialogen und Salonbeschreibungen. SelbSt seinen späten Syntheseversuch, die Ptmlts dltathits tur 14 ptimurt, Ja sculpturt tt Ia poesie (1781). bezeichnete er noch als verstreute Gedanken. Diderot verzichtete bewusst auf
die Ausformulierung eines theoretischen Sysccms. das man als Kunsdehre oder Regelwerk häne I~n können. Sein Schreiben über Kunst versWld er vielmehr als Experimentieren mit der eigenen Empfindungs. und Vorstellungskraft. die er, SU~ts in der direku~n Ausdnandersc:cz.ung mit Werken der bildenden Kunst,
der Literatur, der Musik und des Theaters, als Maßstab für ihre jeweilige Wirkung anführte. Aufgrund dieser Nähe zum Gegenstand, seiner eingehenden Betrachtung und Beschreibung sowie der überprüfung seiner Wirkung auf den Becrachter bezeichnet man Diderot zu Recht als den ersten Kunsdcritiker im modernen Sinne. I Aber was überprüfe man eigenclich. wenn man Bilder auf ihre Wirkung hin befragt? Diderot begnügte sich nicht mehr, wie in der Wirkungsästhetik der ersten Jahrhunderthälfte üblich, jeden beliebigen Reiz eines Kunstwerks als gelungene Stimulation gunuheißen. Die einzige Wirkung. die ihn inter~ierte, war die d« Glaubhaftigkeit. Ein Bild soll« ihn als wahrscheinliche bzw. realistische Darstellung überzeugen. Nur welche Realität liegt Bildern eigentlich zugrunde? Und wie kann von dieser Realität auch noch behauptet werden. dass sie wahr sei?
1. 1. Das Bild als Bühne Das Problem der wahren Darbietung interessierte Diderot nicht nur als Frage nach der Mimesis in der Malerei, wir können seine Awführungen vielmehr als interdisziplinäre Medientheorie verstehen, die sich quer durch die Gattungen der Kunst mit dem allgemeinen Phänomen der Repr.tsenution auseinandersent. Einen geeigneten Einstieg zu unserer Thematik finden wir zum Bc:ispiel , Ich bttiC'hC' mich im FolgC'ndC'n aufAllxrt DresdnC'r. DiC' EntStehung dC'r Kunstkritik. (I915) MilnchC'n: BrucknC'r, 1968, Andre FontainC': Les docrrinC'S d'art C'n Francc. PdntrC'S, amatC'urs, critiquC'S dC' Poussin ~ DidC'rot. (1903) GC'nf. SlatkinC' RC'prinu, 1989 sowiC' Liondlo VenlUri: GC'SChichtC'dC'r Kunstkritik. (1964) München: Piper, 1972.
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1. DIDEROTS KUNSlTHEORIE 1M KONTEXT
in Didecms Nachdenken ülxr das Theater, das ihn sein Leben lang beschäftig. {c. S(~:ine erste Abhandlung zu Wahrnehmung und Ästhetik, der TaubItummmbrüf (unrt !Ur in sou,ds (f mutts) von 1751, beginnt mit }ktr.lchcungen über das Schauspiel und auch seine bc:rühmte Spätschrift Paradoxe Jur k comtdim (1773-78) handelt vom Effekt det Bühne. Nicht nur Didero( wusste um die Krise dieser Kunse: Seit Beginn des 18. Jahrhunderts wurde an dem überkommenen Theaterkanon, der seit Moliere keine wesentlichen Neuerungen mehr erlebt haue, Kritik geübt. Stau leerer Formeln und gekünstelter Anitüden verlangte man nun nach echter Rührung. Das steife Verharren der Schauspieler. ihre deklamatorische Sprechweise und das Rezitieren in tragischen Seuh.trn oder emphatischen Gefühlsausbrüchen ließ jegliche Lebensnähe missen. 2 Die schlechte ßeleuchrung und das lärmende Publikum, das es vonog, sich sdbst in Szene zu setzen, hanen die Darsteller gezwungen, sich an den äußersten Bühnenrand w stellen, um gehört und gesehen zu werden. Erst zu Diderots Zeiten suchten die ersten Schawpieler nach neuen Strategien der Natürlichkeit.] Das Theater interessierte Diderot jedoch nicht nur im Hinblick auf eine Schauspidreform, sondern auch als Modell Hir die anderen Künste: Ob in der Malerei, der literarischen Erzählung oder auf der Bühne, sters verfolgt der Rezipient ein für ihn gerahmtes und inszeniertes "Schauspiel", in dem er die auftretenden Protagonisten auf ihre Glaubwürdigkeit hin beurteilt. Gemälde oder Bühnenausschnine kon&ontieren den Betrachter mü sichtbaren Bildern, Literatur und Mwik appellieren eher an innere Welten - in aUen Fällen werden Vorstellungen geweckt, die erfülh ocler ennäwcht werden können. Diderot behauptet somit nicht die Überlegenheit des Theaters gegenüber den anderen Künsten, er sucht vielmehr in seiner Ästhetik eine alle Gattungen übergreifende Theorie des Abbildens und Darsteliens w formulieren. Als grundlegende Frage leitet ihn dabei eine noch zu definierende Vorstellung von Wahrheit.
Das Paradox über den Schauspieler Wie kann man nun die Glaubwürdigkeit eines Schawpiders überprüfen? Diderot empfiehlt z. B. den Galeriebesuch, denn eine schawpielerische Leistung zeichne sich nicht durch den aufgesagten Text aw, sondern durch das visuell Wahrnehmbare. Die Protagonisten eines Gemäldes sind zwar durch das MediZur Situation des französischen Thea[~rs und Did~rou Ra.eption si~h~ Yvon Belaval: L'ES{httiqu~ sa.ns paradox~ de Did~rol. Paris: Gallimard, 1950. } Did~rot bewund~rr~ vor allem d~n ~nglisch~n Schauspid~r David Garrick, d~n ~r zwisch~n 1763 und 1765 m~hrmals (raf. 2
1. I. DAS
BilD
ALS
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um zum Schweigen verurteilt, aber in ihren Gesten und Haltungen sprechen sie dennoch zum Betrachter. Wie Diderot im Taubstummmbriif ausführt, ist das Studium von Gemälden daher eine gute Schule, um die Stumme Sprache des Darstellens zu erlernen: ..[...) celui qui se promene
Als er das zeitgenössische Theater diesem Test unterzog, hielt es den Anforderungen, die ein BetrachtCI an die Malerei stellen würde, bei weitem nicht stand. Um seine Beobachtung zu schärfen, stellte sich Diderot während der Aufführungen taub: ,Je fr~ucnuis jadis bcaucoup les specudes, el je sanis par ca:ur la plupart de nos bonnes pieces. Les jours que je me proposais un examen des mouvements et du geste, j'allais aux uoisieme loges: cu plus j'etais eloigne des aCleurs, mie::ux j'etais place. Aussito[ que la toile euil Icvtt, [...) je menais mes doigts dans mes orcilles, (...) Ah! Monsieur, qu'il y a pc:u de comtdiens en etat de soutenir une pareille epreuve, el que les delails dans lesquds je:: pourrais emrer seraiem humili;mts pour 1a plupan: d'enne eux. Mais j'aime mieux vous puler de la nouvdJe surpri.sc oU ron ne m;mquait pas de tombt:r amour de moi, lorsqu'on me voya.it ripandre des larmes clans les rndroits pathetiques, e:t 10UjoUrs les oreilles bouchics: (IV, 21)
Die Qualität einer Darstdlung bemisst Diderot also allein danach, was sie auch ohne den entsprechenden T exmintergrund erbringt. Seine Kritik an der T extlastigkeit der Kunst wird Diderot auch gegenüber der Malerei immer wieder zum Ausdruck bringen. Ob auf dem Bild oder auf der Bühne - Diderot will keine Haltungen, sondern echte Handlungen sehen: ..Toure attitude est fausse et petite; taute action es[ belle et vraie." (Essais sur Ia p~infUr~ (1765), IV,
471) Diesen unrealen Aspekt der Wirkungsästhetik finden wir allerdings nicht em bei Diderot. Die Suche nach einem ..jeu natureI" beschäftigte schon die
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Ich zitiere im Folge::nden alle:: Texte DiderolS aus der von Laurcnt Versini her:l.usgegebenen Gesamtausg:abe. Es werden erwähnt: B;md I: Philosophie, Paris: Robt:n Laffonl, 1994 und Band IV: Esmer:ique· Tharre, Paris: Robt:n Laffont, 1996. Abkürzend nenne ich jeweils in der Klammer zunächst den Band und ansch1ießend die entsprechende Sc:ilem.ahJ.
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I. DIDEROTS KUNSlTHEORJE IM KONTEXT
Ästhetik der ersten Jahrhundenhälfte. Die wohl einflussreichste Abhandlung zu dieser Frage verfasste der Ab~ Jean-Baptiste Du 80s mit seinen Rtjkxiom critiques S'ur Ja potsie et sur Ia ptinturt (l719}. 5 Skizzieren wir diesen Ansatz kurz, um zu sehen wie sich Diderot davon absetze. Nach Du Bos kommt der Mensch, wenn er sich mit dem Schönen beschäftigt, einem natürlichen Bedürfnis nach. Die Freude an der Nachahmung, die sich wie ein Reflex automatisch einstelle. bewahre ihn vor der Langcweile.6 Kunst vermag als eine Art ästhetische Hygiene das Gemüt des Rezipienten ausgleichend zu regulieren, Du 80s bezieht sich dabei explizit auf AristoteIes' Kamarsislehre: Die Identifikation mit tragischen Sachverhalten errege Mit· gefühl beim Betrachter und reinige damit den Gefühlshaushalt. lmitationen haben dabei den Vorteil, dass sie uns nicht wirklich in Gefahr bringen: "Nos pleurs finirom avec la representation". Du Bos' Wirkungsästhecik des "plaire, remuer, toucher" gibt in diesem Rahmen dem Visuellen den Vorzug vor dem T <xc, gerade auch im Hinblick auf das Modell des Theaters. Über das Studium von Tanz und Pantomime sucht er im Sinne einer "langage universeI des gestes" den Körper als Ausdrucksträger zu begreifen, dessen Sprache für alle unmittelbar verständlich sei. Nach Du Bos macht der Körper präsent, wovon er spricht, der Schauspieler braucht daher die Worte nicht. 7 Du Bos geht es dabei nicht nur um einen Wechsel vom Verstand zum Gefühl, er verallgemeinert seine Forderung vielmehr zu einer Zeichentheorie, die natürliche von künstlichen Gesten unterscheider. 8 Nur die performative
Du Sos' Schrift haue unmindbar Erfolg und erschien in sic:bwm Auf1.age.n, so dass auch DiderOl sich noch mil ihr auseinandersencn mUSSIe. Vor DiderolS Auftreten als Kunstkritiker bestand eine Art Arbe:itsleilung zwischen der ange.w2ndten Kunnlehre, die gemeinhin von der Akademie formuliert und kontrollierl wurde, und den philosophischen Theorien des Schönen, die meisl von Kirchenmiinnern wie z. B. den Abbts Du 80s und Sam:ux. dem alviniSlischen PaSleur Crousaz oder den Jesuiten Phe Andrt und Phe Buffier Slammen. Mil Ausnahme des Phe Andrt. dem Diderot wichtige Anregungen verdankl, senle er sich mil seinen Vorgängern ausgesprochen kritisch ausdnander. Siehe dazu Baldine Sa.int-Girons: E.sth6:iques du XVIlle siede. Lc: modele fran~is. Paris: Philippc Sers. 1990, S. 12 und S. 66 ff. , Es gibt !Uch Du 80s eine ..ntecssitt d'erre occupt pour finir J'ennui· und angesichts w gc:lungencr Nachahmungen eine wtmotion nalurelle qui s'aeite en now machinalemem . Siehe dazu Jc.an-Baptiste Du 80s; Rc:Aaions critiques sur 101 poesie ct sur la pc.inrure. (1719) Gcnf. Slaoone Rc:prinlS, 1967. S. ;.12. 1 Siehe dazu Ulrike Siephan: GefUhlsschauspic:ler und Versrandesschauspider. Ein thc..2Iertheoretisches Problem des 18. JahrhundcrlS. In: Empfindung und RifUxion. Ei" Probkm tU! 18. Jahrhunt/nlS. hg. von Hans Körner. Conslanze Peres, Rdnhard Sleiner, Ludwig Tavernier. Hildesheim et 011.: Olms, 1986, S. 99·116. • So Du 80s: .Or les geslCS signific:au& sont d e dcw: cspCces. lcs uns sont des gestes narulels, ct les aUlfcs sont dcs gCStCS anificiels. lcs gestes narurels som CICUlI: donion accompagne S
I. I. DAS BIW AlS BOHNE
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Kraft des natürlichen Zeichens vermag seiner Ansicht nach die babylonische Sprachverwirrung zwischen den Künstlern und dem Publikum zu beenden. Mit Du 80s begann die grundlegende Kritik am Prinzip der Allegorie und der Emblematik, an die auch Diderot anknüpfen wird. Die frühe Wirkungsäsilietik muss vor allem als Gegenreaktion zum akademischen Regdkanon eines Charles Le Brun verstanden werden. Von seiner strengen Kategorisierung der Gefühlsregungen suchte man sich durch das neue Leitbild der Natürlichkeit zu befreien.' Für den Kunstkritiker bedeutete Du Bos' Theorie jedoch den Verlust aller bisher gültigen Kriterien. Du Bos sprach dem Verstand kurzerhand die Vorherrschaft ab. um allein dem Gefühl das Richten über die Kunst zu überlassen. Folglich erfuhr das Laienurteil eine bisher ungekannte Aufwenung. Denn wer versteht mehr von der Wirkung eines Kunstwerks als derjenige, für den es gemacht ist? Die schwierige Frage des guten Geschmacks löste Du Bos letztlich für die Kunst wie für ein gutes Mahl: "Raisonne-r-on pour savoir si le ragoCi( est bon ou s'il est mauvais, er s'avisa-r-on jamais, apres avoir pose des prineipes geometriques rur la saveur, et defini les qualit6 de chaque ingredient qui entre dan.s la composirion de ce meu, de discUler Ja proponion gard& dans Jeur melange. pour d&:ider si le ragoür esr bon? On n'en bit rien. 11 esr en nous un sens Fait pour connaitre si Je cuisinier a optte sui~r les UgIes de son an. On goüre le ragour. et meme sam savoir ses r~es, on connait s'il esr bon. 1I en est de meme en quclque manihe des ouvngd d'esprir et des rableaux faiu pour nous plaifC" en nous rouchant. ".0
So naiv diese Argumentation scheinen mag. Du Bos hielt seine These durchaus für wissenschaftlich belegbar: Seiner Ansicht nach verfügen wir über einen sechsten Sinn. der uns. ganz ohne Regeln und Kompass. wie ein Instinkt bei der Kunsthetrachtung leitet. ll
naturellemenr son discours et donr on .se sen en parlant. Ce geste qui, pour user d'une expression poetique, parle aux yeux, donne bien plus de force au discours. 11 anime a la fois, et Ja personne meme qui parle, et ce:Ue qui ttoure." ibid., S. 239. Er definien den Unterschied wie folgt: ..On wr que la logique divise tous les signes en deux genres qui sonr les signes natureis et les signes d'instirurion. La fumee, dit-c:lle, est Je signe naturel du feu. mais la couronne n'esr qu'un si~ d'institurion, un embl~mc de Ja Royauu~." ibid., S. 242. , Zu u Stun siehe Jennifer Monragu: The Expressions of the Passions. The Origin and In.ßuencc of Charles u Brun's Conft!:rena SUl I'aprc:ssion gtrJt!:raIe er paniculi~re. New Havc:n, l..ondon: Ya.le University Press, 1994. Zur Siruation im 18. Jahrhunden siehe Thomas Kirchner. L'aprc:ssion des passions. Ausdruck als DarsreUungsproblem in der lTanzösische:n Kunse und Kunsnheorie des 17. und 18. Jahrhundern. (8e:r1iner Schriften zur Kunsr, Bd. I) Mainz: v. Zabc:rn, 1991. 10 ibid., S. 341.
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1. OIDEROTS KUNSTTHEORlE IM KO!'ITEXT
Für die Kunstkritik erwies sich der Ansan jedoch als wenig produhiv. Die durch Du Sos' Theorie eingeleitete: Blütezeit der Amateure Emd erst mit dem aufkommenden Klassizismus ihr Ende. Die ersten Vertreter der klassizistischen Wende hanen es in den vierziger Jahren jedoch schwer, gegen die Verherrlichung des Laienurteils amukämpfen. Als La Font de Saint Yenne zum Beispiel die Reform der Hisrorienmalerei im Sinne einer "expression du grand beau" und einer .. path~tique qui Erappe" forderte 12 , beschuldigten ihn seine Gegner von der Akademie, dem Ruf der französischen Kunst zu schaden. Er gah letzclich als Gefahr für den Kunstexporr. Die Künscler sahen die Erfüllung ihrer Aufgabe darin, dem Geschmack und den Bedürfnissen des Publikums SO weit als möglich nachzukommen, während die neuen Kritiker eben diese Halcung als Ursache für die VerRachung und den Niedergang der Kunst denunzierten. Nichrsdcscouoez h:me die Akademie den immer lauter werdenden Einwänden auch nachgeben müssen: Um weitere Blamagen abzuwenden, ließ man den Salon 1749 ausfallen. Es war also keine Selbstverständlichkeit mehr, dass die Künstler der Akademie bei öffentlichen Ausstellungen nur Lob zu erwarten hatten. Dass sie dennoch auf den Bund mit dem Publikum hofften, um sich gegen das neue Selbstbewusstsein der unliebsamen Kritiker zu verteidigen, zeigt das Frontispiz der vierten Außage von Du Bos' Re.fkxions aus dem Jahr 1755 (Abb. 1)." Die stumme MaI"ei blick, den Betrachter flehend an, nach Hilfe suchend vor den besserwisserischen Kunstrichtern hinter ihrem Rücken. Angeführt von der ausgemergelten Missgunst, die mit dem uigefinger auf die FehJer verweist, stimmen die fette OpuJem., der blökende Esel der Dummheit und der Bildungspedant mit den Büchern unter dem Arm in den Chor der Missgunst ein. Diderol trat wahrlich kein leichtes Erbe an, als er in den fünniger Jahren beschloss, über Kunst zu schreiben. Zwar stimmte er mit Du Bos in der Ableh·
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So Du 80s: ~I1
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est en nous un sens destine pour juger du merite de ces ouvrages qui consiSle en I'imit:uion des objeu tOuChanlS clans la nature. {...] C'est un sixieme sens qui esr en nous sam quc IlOUS voyons ses organes." ibid.• S. 341 f. Die Idee: eines scdmcn Sinns wurde vor allem von dem Schonen Franeis HUfcheson erfolgrOch fongeflihn. Seine Inqui'1 inlD rlN OritimJ ofOur lullS of&aulJ and Virnu (I nS) wurde 1749 ins Französische Übersetzl und zu Didcrots Zeiren breit rezipim. Nach La Fonl de Saint Ycnne ~r1ien sich die Kunst des Rokoko in Frivolil21 und Gcf.i.lligkeil. Die überladene Aussr.lUung mit ihren vielen Spiegeln sei schuld am Verfall der Kunst, so wie auch die Pastclhec:hnik das Farbempfinden verdorben habe. Siehe dazu H~lene Zmij.ewska: La Critique des Sa.lons en Francc: avam Diderot. In: Gautu dn &aux~Arrs. Bd. 76, Juli/August 1970, S. 1-144. Siehe dazu Saim-Girons, ibid.• S. 19.
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1. 1. DAS BILD ALS BOHNE
Abb. I. Frontispiz /IOn Du BOJ' &fkxionJ (4. Auflagt, 1755), Stich von PÜ~ Tntt nach dntr Ztichnung IIOn Fran(oiJ Bouchtr.
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I. DIDEROTS KUNSTTHEORIE 1M KoNTEXT
nung da allegorischen Prinzips überein, aber von der Auffassung des Schön· heitssinns als einer re8exanigen Reaktion distanzierte er sich deudich. 14 Diderot erkannte vielmehr, welches Potential der Beruf des Kritikers tatsächlich in sich barg: Es galt weder einem vorformulierten Regdkanon zu gehorchen, noch das Schöne als den kleinsten gemeinsamen Nenner aller wirksamen Reize und Stimuli zu definieren. Ob plumpe Erotik, nberflächliche Tändelei oder falsche Antikomanie - der Geschmack der Masse am niederen Augenkitzel war Diderot zuwider. Erst in der Abgrenzung vom Berechenbaren und NiveUierenden lag fUr ihn die Herawforderung der Kunstkritik. Das technische Können eines Künstlers zu beurteilen ist ein Leichtes, aber nur wenige haben nach Diderot auch die Fähigkeit, den rieferen Sinn von Bildern und somit die Glaubwürdig· keit von Kunst zu überprüfen. Diderot war also nicht an einer Wirkung um der Wirkung Willen gelegen, er suchte nur nach einem einzigen Effekt, dem des Wahren. Gegenüber der GefUhlsbetontheit eines Du Bos mag Diderot auf den ersten Blick als trockener Moralist gelten. Dass dem nicht so war. können wir im Folgenden an seiner paradoxen Realismw-Konzeption und an seinem äußerst freizügigen Moralbegriff zeigen. Diderot konnte bei dem Beispiel der Bühne bleiben, um nachzuweisen, dass die Forderung nach einem im obigen Sinne .. natürlichen" Schawpid auch Widersprüche in sich birgt. Sein Anliegen bestand allerdings nicht darin, diese: aufz.ulösen, er schätzte das Paradox als konsritutiven Bestandteil seines Denkern. Im Paradox~ Jur Je comldim stellt Diderot die grundsätzliche Frage, wie sich die Natur bzw. die Realität in einer nachahmenden Darstellung repräsentieren lässt. Der Schawpieler erfindet seine natürlichen Handlungen schließlich nicht frei, er ahmt vielmehr eine Vorstellung davon nach, was in einer bestimmten Situation als natürliche Reaktion gdten würde. An welchen Vorbildern soll sich der Schauspieler jedoch orientieren, wenn ihm die alten Handbücher der Stereotypen vorenthalten werden? Diderot malt sich zunächst aus, wie es aussähe, wenn der Schauspieler tatsächlich empHinde, was er darzustellen sucht. das heißt wenn er tatsächlich ein Stück Wirklichkeit auf die Bühne brächte. ..Une femme malheureuse, et vmment malheureuse. pleure et ne touche point: LI y 2 pis, c'est qu'un [mt I~r qui la dt:figure vow ~[ rire; c'est qu'un ac:cc:nt qui lui est propre dissone a vom oreille et: vow blesse. [...1 Prencz, chacun de ces 2Cleun, ~[es vuier 12 sdne c:bns Ia tue comme 2U thatre, et: monuez-moi V05 personnagc:s suc:cessivement, isol6" deux a deux, tmi! a trau; abandonna·lc:s a leun propres mouvemenu; qu'iLs
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Se.ine Ablehnung von Du Sos' und Hutchesons Konztpr eines sechsten Sinns formuLien er insbesondere in seinem Enzyldopädieanikd &au (l7S2), der später 2uch als Traiu du &ilU (I n2) erschien.
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soient maitres ahsolus de leurs actions, et vous verrez I'etrange cacophonie qui en r6ultera. Pour obvier ~ ce defaut, les failes·vous repeter ensemble? Adieu leur sensibilite naturelle, et tam mieux." (IV, 1387 f.)
Diderot kenne demnach keine sichtbare Natur, deren Abbildung in einem Kunstwerk lohnen würde. Das reale Geschehen setze sich aus individuellen, situationsbedingten Einz.elflillen zusammen, die jeglicher Schönheit enebehren. Die Natur als willkürlich entstandene "natura naturata" wäre in der Kunst nicht rezipierbar. Es gelte vielmehr, die innewohnende Idee der "natura naturans" herauszufiltern. Erst die Kunst, das heißt die gezielte Selektion, mache die Natur zur Natur. Das Paradox der Natürlichkeit besteht also darin, dass sie kalkuliert sein muss, um natürlich zu wirken. Sponeaneität und Authentizität entstehen nach Diderot erSt durch kaltblütige Strategie, wie eine Maschine, das heißt ohne sein persönliches Erleben, müsse der Schauspieler die natürlichen Anzeichen reproduzieren können. Statt subjektiver Gefllhlsausbrüche verlangt er ein hohes Maß an Selbstbeherrschung. Erst wenn der Schauspieler nicht selbst gerührt sei, vermag er das Publikum zu rühren. Der kontrollierende Kopf ("tete de fer") wird in der Epoche des Sentiments mehr gebraucht denn je. Wie kann der Schauspieler nun vermeiden, dass seine notwendig künstlichen Gesten dabei demonstrativ und gekünstelt wirken? Diderot antwortet wiederum mit einem Paradox: Das Auslösen von wahrer Rührung gelingt nur, wenn man es nicht darauf anlegt Wirkung zu erzielen. ls Der Protagonist soll nach Diderot auf der Bühne oder im Bild so handeln, als sei er allein in einer vom Publikum hermetisch abgeschlossenen Welt. Der neue Pakt zwischen Autor und Rezipiene begründet sich auf einer imaginären "vierten Wand", die zwischen Bühne und Zuschauerraum planiert, nur von der einen Seite her durchsichtig ist. Der Schauspieler spielt, als ob man ihn dabei nicht beobachten würde. Mit diesem Aspekt seines Paradoxe sur k Comldien gibt Diderot erste Empfehlungen für die schauspielerische Umsetzung. Es bleibt jedoch die schwierigere Frage, wie der Schauspieler zu den Vorbildern finden kann, die es nachzuahmen gilt. Wie kann er aus der akzidentiell gewordenen Realität die wahre Natur herauslesen? Nach Diderot muss er sich zwar einerseits an die äußeren Symptome halten, aber diese haben wiederum einem Idealmodell zu entsprechen: "Celui donc qui conna!t le mieuxet qui rend Je plus parfaitement cessignes
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Michael Fricd hat diesen Topos ausführlich behandelt in seiner Studie: Absorption and Theauicalil}'. Painting and Ikholder in the Age of DidetQt. Ikrkeley et a1.: Universiry of California Press, 1980. Ich werde in Teil II noch ausführlicher auf die Thematik des Buches eingehen.
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exterieurs d'apres le modele idealle mieux conifu est le plus grand comedien." (IV, 1412). T ron seiner vehementen Kritik am Kanon-Prinzip der alten Kunsdehren scheut Diderot sich nicht von einem Ideal zu sprechen. Was soll dieses Idealmodell nun von den herkömmlichen Stereotypen, Emblemen oder Allegorien unterscheiden? Diderot zeigt sich illusionslos: Ohne Vorbilder könne es keine Kunst geben. Die ReaJität stehe als Maßstab für die Kunst aus genannten Gründen nicht zur Verfügung und so bleiben erneut nur Vorstellungen und Modelle, die wiederum bestimmten Idealen folgen. Nichtsdestotrotz gibt es für Diderot gewichtige Unterschiede im Umgang mit diesen Modellen. Wie wir im Folgenden sehen werden, sucht er keineswegs nur nach einer Veränderung im Bereich der Inhalte, zum Beispiel dahingehend, dass man die alten Allegorien durch neue Themen ersetzen müsse, er beharrt ganz im Gegenteil weiterhin auf der Vorbildhaftigkeit der Antike. Nach Neuerungen verlangt er vielmehr im Bereich der Verfahren, mit denen der Künstler seine Modelle zu beobachten hat. Das Paradox über den Schauspieler können wir im Hinblick auf diese Frage nach den Beobachtungstechniken nun wiederum auf die anderen Gattungen übertragen und zu einem generellen Paradox über den Autor ausweiten.
Das Paradox über den Autor Kommen wir, um die imerdisziplinäre Anwendbarkeit von Diderots Theorie der wahrhaften Darstellung unter Beweis zu stellen, zu einem Beispiel aus der Malerei. Wie gesehen betrachtet Diderot Gemälde gerne als Ausschnitte einer Theaterbühne bzw. als Momentaufnahmen einer Theaterhandlung. Auch hier Stellt sich das Problem, dass die handlungsrelevanten Inhalte nicht durch abkürzende Stereotypen oder Attribute zeichenhaft und somit lebensfern überminelt werden soHen. Wie kann der Künstler ohne Rückgriffe auf starre Bedeutungssysteme zu dem jeweiligen Idealmodell finden und es emsprechend umsenen? Nach Diderot muss der Autor bei der Beobachtung seines Motivs ebenso vorgehen wie der Schauspieler im Umgang mit seiner Rolle. Betrachten wir anhand einer seiner Kritiken wie Diderot sich den Weg des Künstlers zu einem geeigneten Motiv vorstellt. Im Salon von 1767 bespricht Diderot den Triomphe de Ia ]ustiu von LouisJacques Durameau, der das Gemälde als Auftragsarbeit für das Gericht von Rouen geschaffen hatte (Abb. 2).16 Auf einem Wagen, der von zwei weißen, die 16
Siehe dazu Mare Sandoz: Louis·Jacqucs Durameau (1733-1796). Paris: Ediran-Quanc Chemins. 1980, S. 80 und 127.
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Abb. 2. Loui!-jacqu~J Duram~au: U triomph~ tk Ia justiu./767. Roum, Palais tk Justic~, Grantk Chambr~ tk Ia Courd'AJsis~.
Reinheit symbolisierenden Einhörnern gezogen wird, hält die siegreiche Justitia Einzug und krönt die Unschuld, die sich ihr zu Füßen wirft. Es begleiten sie hinrer dem Wagen die Vorsicht, die Eintracht, die Stärke, die Barmherzigkeit und die Wachsamkeit. Der einfahrende Triumphzug überrollt demonstrativ die Grausamkeit, die Missgunst, erkenntlich an Wolf und Schlange, und schleudert die durch ihre Maske gekennzeichnete Betrügerei zu Boden, die daraufhin die Fahne der Rebellion fallen lässt. Diderot lobt zunächst die lebhafte Anordnung und die gekonnre Ausführung, kommt aber bezüglich des Bildprinzips doch zu einem negativen Urteil: ..Mais ce qui me d~platl SUrlOut, C'esl ce mcl:mge d'hommes, de femmes, de dieux, de deesses, de loup, de mOUlon, de serpenIs, de Hcoenes, I" parce qu'en gencral cda esl froid Cl de peu d'imcrel; 2" parce que cda est toujours obscur et souvem inimdlt:gible; 3" la ressource d'une lele pauvre e{ sicrile; on f2il de I'allegorie lam qu'on veut; rien n'est si f2cile a imaginer; 4° parcc qu'on ne sait que louer ou reprendrc dans des eucs dom il n 'y a aucun modele rigoureux subsiSlant en natute." (IV, 764 f.)
Das Identifizieren solcher Attribute lasse den Betrachter unberührt, die Figuren seien nur leere Hüllen, die der Brisanz des Themas nicht gerecht werden. So
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klagt Diderot: ..0 mon ami, la bdle occasion que cet aniste a manquee, de montrer I'cxtravagante barbarie de la question!" (IV, 766) Nicht den Triumph der Justiz hätte Duramcau darstellen sollen, sondern das ethische Problem, dass Menschen es wagen, über Menschen zu richten. Der Aufklärer sah im GerichtSWesen ~iner Zeit allem voran eine Obrigkeit, die im Interesse der Machthaber urteilt und eben auch irrt. 17 Diderot zeigt mit seinem Gegenvorschlag. dass er das moralische Hinterfragen eines Themas erwartet: Der Autor dürfe sich nicht so sicher sein, dass man Gut und Böse eindeutig unterscheiden kann. Der Künstler hätte in einem Gerichtssaal eher die Gefahr des Ausbleibens von Gerechtigkeit darstellen sollen als ihren sicheren Sieg. Diderot schlägt daher vor: ~Esl.-ce
que ce sujel de l'lnnocence imploram le secours de la Juslice n'~u.it pas usa be.au, assez simple, pour fournir a une scene inl~ressame et path~lique? Je donnerais tour ce fauas pour le seul incidenl du tableau d'un peimre aneien, ou.l'on voyait la Calomnie, les yeux hagards, s'avan/?m, une torche vdeme a la main, el lmnanl par tes eheveux I'Innocence sous la figure d'un jeune enwn eplort, qui portail ses regards el ses mains vers Je eid.· (IV, 765)
Es darf als sicher gelten, dass Diderot die Beschreibung Lukians kannte, in der Apclles' Darstellung dieser Verleurndungsszcne geschildert wird. Diderot schlägt also keineswegs ein Motiv vor, das der Realität des 18. Jahrhunderts näher wäre. Inwiefern ist seine Methode auf die Alten zurückzugreifen der Tradition und Konvention nun weniger verhaftet? Es fallt schwer, Diderots Vorschlag noch als Kritik an der Allegorie zu lesen. Nichtsdestotron enthält sein Ansan eine Neuerung, die eine andere Form des Bcobachtens und des Moralbewusstseins impliziert: Unter einer moralischen Darstellung versteht er nicht mehr die Beschreibung idealer Zustände (z. B. den Sieg der Justiz), sondern die Einnahme einer bestimmten Haltung gegenüber dem zu beschreibenden Gegenstand. Erst wenn sich der Autor aus dem Beschriebenen wertend heraushält, kann er die Natur seines Gegenstandes erkennen (z. B. die Natur der Gerechrigkeit). Die Haltung des Heraushaltens wird damit zur eigentlichen ..Moral". Mit Diderors Moralbegriff verhält es sich letztlich wie mit seiner Thcaterthcorie: Der Autor darf sich mit ~inen persönlichen Vorurteilen ebensowenig in sein Motiv einbringen wie der Schauspieler mit seinen Gefühlen in eine Darstellung. Die Moral zeigt sich nach Diderot also nicht mehr in den
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Diderm spieh in seinem Texl auf den Junwrnum um den Prorestam Jean Cabs an, der 1762 Air den Mord an seinem konvenienen Sohn hingerichtet wurde, obwohl dieser Sdbsunord begangen haue. Nur der Hartnäckigkeit Volu.ires war es zu verdvtken, dass Calas 1765 posthum rehabilitien wurde.
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Inhalten bzw. in der Bildaussage, er definiert sie allein als Verfahrensweise einer Beschreibung: Eine Beobachtung ist Rir Diderot moralisch, wenn sie ohne präskriptive Diskurse auskommen kann. Diese paradoxaJe Rolle des Autors. der beobachten soll ohne als Beobachter sichtbar zu werden, wird vor allem in Diderots Literaturtheorie deutlich. so zum Bcispiel in dcr Eloge sur Richardson (J 761), seincm Nachruf auf dcn cnglisehcn Romancier. Der Roman galt damals aufgrund seiner ~ncimema.l rührenden und frivolen Themen als eine niedere. wenn nicht sogar siuengefahrdende Gaetung der Literatur. Dideroc wider~t1.ee sich diesem Kanon und sprach Richardsons Werken gar eine moralische Wirkung zu. 1. Tatsächlich wusste Richardson die Regellosigkeit des niederen Genres zu nutzen, um mit neuen Beobachtungstcchniken zu experimentieren. Er verfasstc Pameln (J 740), Clnrissa (1747148) und Sir Charles Grandison (J 753154) jeweils als Briefromane. Dieses neue literarische Genre erlebee in ganz Europa von 1740-1780 eine Blütezeie, also parallel zu Diderots Schaffen. Auch in Frankreich lagen Richardsons Romane bereits im Jahrzehnt nach ihrem Erscheinen in der übersetzung des Abbe Pr~ost vor. Mit Montesquieus Utt1'( pmanes (J 721), Masviaux' La vie tU Marionne (J 731-41) sowic RousseausJulie DU In nouve/k Hlloüe (J 761) und Lados' Les liaisons clnngmuses (J 782) brach tC die französische Literatur jedoch auch eine eigene Tradition hervor. Die Eigenheiten des Briefromans decken sich letztlich mie Diderots Forderungen über den Autor: Der eigentliche Verf2sser zieht sich auf die Position des Herausgebers zurück." Er täusche vor, die den Roman konstituierenden Briefe nicht geschrieben zu haben und gibt den ProtagoniSten die Feder in die Hand. Seine Rolle sei nur die des ersten Lesers. der alles so vorfand wie er es nun weitergibt. (So behauptee Marivaux z. B. die Briefe der Marianne beim Umbau eines Hauses im Wandschrank entdecke zu haben, und Laclos inszeniert ein listiges Verwirrspiel, indem er erse einen Herausgeber sprechen lässt, der die Authentizität des Romans nicht garantieren will und dann einem Redakteur das WOrt gibt, der wiederum beteuert, die vorgefundenen Briefe nur sortiert zu haben.) 11
So Didr:rOl; ..Par un rom:m. on a r:ntr:ndu jusqu'a er: jou.r un tmu d'evenr:mr:nts chimeriques d: frivoles. dom la locrurr: nah dangirrosr: pour Ir: golh r:( pour les mcturs. Jr: voudrais bir:n qu'on rrouvit un autrr: nom pou.r les ouvragr:s dr: Richardson. qui elevr:nr I'esprir. qui (ouchr:m a I'imr:. qui respirr:nl panoul I'amour du bien. d: qu'on appdlr: aussi des
",=_" OV.155) " Zur Throrir: des BridTomans sir:hr: Hans Rudolf Picatd; Dir: lUusion dr:r Wirklichlu:j( im Brir:froman des 18. Jahrhun
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Der Autor, so der Effekt dieser Erzähhechnik, etabliere im obigen Sinne eine ..vierte Wand", mit dem Zweck seine Helden von dem Publikum so abzuschirmen, dass sie einander ungezwungen und scheinbar unbeobachtet schreiben können. Der Leser dringt in eine Privatsphäre ein, die ihm sonst nicht zugänglieh wäre. Er erlebt den distanzlosen Zugang in eine andere Welt. Der Autor kann di~ Berichte jedoch an keiner Stelle deuten oder kommentieren, da er im Erzählten nicht vorkommt. Wir finden somit eine Strategie der Dokumem3tion und der nemralcn Aufnahme vor, wie sie nicht fotografischer ~in könnte: Der Amor bestimmt nur den Rahmen und den ttidichen Ausschnin und zieht sich ansonsten zurück - allerdings bleibt dieses literarische Verfahren der Authemizitäcsgewinnung stets nur eine Simulation. Dass auch Diderot diese Technik für ihren WahrheitsdFekt schänte, zeigen bereits seine Salonkritiken, die er als Briefe an den keineswegs fiktiven Friedrich Melchior Grimm, seinen Literamragencen und Verleger. adressierte. Der Leser erhält Einblick in Diderots Kunsttheorie, indem er seinen Dialog mit Grimm verfolgt (der als real existierende Person jedoch nicht antwortet). Es bleibt hinzuzufügen, dass Diderots große Vorbilder in der Philosophie (s. u.• 1. 2.) nicht anders arbeiteten: Sokrates wollte sich als Autor überhaupt nicht festlegen lassen und unterließ das Schreiben ganz, so wie auch Platon vornehm· lich Dialoge verfasste, die seine fiktiven Gespräche des von ihm konstruierten Sokrates dokumentieren. Auch Richardsons Briefromane können durch djescn erzählerischen Kunstgriff als gelungene Um~nung von Diderots a-moralischer Moralvorstellung gelesen werden. Anstatt die Welt in Gut und Böse aufzuteilen und nur die Tugenden zur Nachahmung zu empfehlen. berichten die Briefe vom Gelingen und Misslingen von Karrieren und Lebenswegen aus den uncerschiedlichsten Milieus. Richardson slcizziert seine Figuren als typische Vertreter ihres Standes und des entsprechenden Verhaltenscodex, z. B. um dabei die weibliche Empfindsamkeit der bürgerlichen Welt und die männliche Libertinage der adeligen Kreise aufeinander prallen zu lassen. In den Briefen der Pamela zeichnet er das handjungsarme Psychogramm einer jungen Frau, die sich in ihrer Keuschheit und Tugend bedroht sieht, aber am Ende doch mit der Ehe belohnt wird. Entgegen dieser noch erbaulichen Qualität verfährt er mit seiner Clarissa nicht mehr so versöhnlich. Obgleich sittlich bemüht, erliegt sie den Etwartungen, Zwängen und Imrigen ihrer Umwelt. Wie auch Rousseaus Julie verliert sie ihre Unschuld und kann gerade damit den Leser moralisch eniehen: Er lernt sie nicht einfach abzuurteilen, aostatt bestehende Vorurteile zu reproduzieren, beginnt er Verhaltensweisen in ihrer Bedingtheit zu verstehen. Indem der Leser dabei die frivolen Verfüh· rungsspiele, die Jagd und das Gejagrwerden, bis hin zum offenen Geschlechter· kampf, voyeuri5[isch verfolgt und eben auch auskostet, verhält er sich seinerseits
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zutiefst unmoralisch - wie kann er die jeweiligen Opfer noch verurteilen, wenn er sich doch als passiver Li~rtin auf diese Romane einlässt? Die einfühJende Seelenkunde als Ursprung der modernen Psychologie bestimmt somit diese Plädoyers rur eine neue Moral. Richardson erzählt von typischen Schicksalen seiner uit, ohne die Protagonisten je zu ~urteilen. Diderot war Fasziniert von der Lebensnähe dieser Sittengemälde. Sie rühren ihn, weil der Autor sich gegenüber dem Beschriebenen stets teilnahmslos verhielt. HineingC'ZOgen in den Alltag der jeweiligen Helden erlebt der Leser die Welt durch die Augen des Beteiligten - und nicht durch die vorweggenommene Wertung des Autors. So schreibt Diderot in seiner E/ogt: ,,$ouvem j'ai dit en liS:lnl: 'Je donnen.is volontiers ma vie poUt ressembler ~ celle-ei; j':limerais mieux etre mon que d'eue celui-Ia.' Si je s:lis, m:llgrt les imüets qui ~uvent troubler mon jugement, distribuer mon mtpris ou mon estime selon l:l juste mesure de l'imp:lni:aJitt. C'esl a Richudson que je le dois." (IV, 157)
Die Ausblendung des Enählers aus dem Enählten überträgt sich auf den leser, der seinerseits beginnt, die vorherrschenden Moralvorstellungen ~iseite zu lassen. So ist nach Diderot letzclich auch nicht mehr entscheidbar, wer gut oder böse, schön oder hässlich ist. 20 Moral findet nach Diderots paradoxaler Bestimmung nur statt, wenn die Beteiligten aufhören an die Moral zu denken. Diderots Kunsuuffassung setzt folglich ~i Autor und Rezipient eine "me d6intcress~ (...] ouverte a la veritc" (lV, 156) voraus. Schauspielern, Schriftstellern oder Künstlern komme die Aufgabe zu, die Betrachter vom vorschnellen Uneilen abzuhalten, damit sie die Charaktere und Handlungsverläufe in ihrer Eigengesetzlichkeit begreifen können. Der Autor erzieht seinen Rezipien[en nicht mehr durch das Fällen von Um:i1en, sondern lehrt ihn, selbst zu beobachten und zu verstehen. Erst indem sich die Autoren aus dem Geschehen zurückz.iehen, verhalten sie sich .. moralisch". Diderots Moralbegriff definiert sich somit nicht nach inhaltlichen Kriterien, sondern allein nach der An der Wiedergabe und der damit verbundenen Erzeugung von Plausibilität. über die Rolle des Autors fasst er daher zusammen:
• [Xt von Didaoc verfasste Enzyklopädie-Anikd.1.AUkur häll dxnfalls die: gmc:rdle: Rcbtivitit von schön und hässlich fest: .Ce: qui est necessaire: n'esl e:n soi ni bon ni mauvais, ni bc:au ni l:lid; ce monde: n'e:SI donc ni bon ni m:lunis. ni bc:au ni laid cn lui-mcmc; ce qui n'esc pas e:nuereme:nc connu, ne: pcut etre: dit ni bon ni m:luvais, ni bc:au ni l:lid. Or on ne: conn:&it ni I'univc:rs c:ntie:r. ni son but; on ne: pcut donc rie:n prononcer ni sur sa pc:rfcaion ni sur son im~rfect.ion.·
(lV,tZ?)
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I. DIDEROTS KUNSTI1-IEORIE IM KONTEXT "Lc !"Öle d'un auteur eS[ un röle asstt vain; e'C$1 edui d'un homme qui ~ eroi[ en etal de donner des I~ns au publie. Elle 101e du eri[ique? 11 est bien plus vain encore; e'esl cdui d'un homme qui se eroil en etat de donne.r des I~ru a edui qui sc eroil e.n etal d'en donner au publie." (lh '" pohir JraJMtiq," (1758), IV, 1344)
Was für die Künscler gelten soU, Icgr er sich auch selber auf, von der erzieherischen Kunstkritik nimmt Didecot eindeutig Abstand. Die Bewertung von Kunst muss von der subjektiv gefälligen Sicht entkoppelt und einem teilnahmslosen Standpunkt übenragen werden. Ob Schauspieler. bildender Künsder, Literat oder Kunstkritiker, der Autor übernimmt lediglich die neutrale Rolle einer Kamera bzw. einer Maschine, die aufnimmt, was ihre Rezeptoren wahrnehmen. Indem wir nun Diderocs paradoxalen Realismusbegriff und seinen nach traditionel1em Verständnis a·moralischen Moralbegriff erläutert haben, stellt sich weiterhin die Frage, wie diese Beobachtungsrechniken bei der Auffindung des Idealmodells helfen können. Denn wie in seinem Gegenvorschlag zu Durameaus Motiv deudich wurde. hielt sich Diderot durchaus an Vorbilder und Modelle, die er als ideal erachtete. Kommen wir daher noch einmal auf seinen Vorschlag zurück. man solle sich an den Alten orientieren.
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2. DAS NEUE BILD DER ALTEN
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1. 2. Das neue Bild der Alten Die Halcung gegenü~r der Antike erweist sich in jeder Ästhetik des 18. Jahrhunderts als ein entscheidendes Kriterium. Die Höhepunkte der .Quer
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Siehe dazu Christian Michel: l.es pC'intures d'Herculanum er: la Querelle des Anciens et des Modernes (1740-1760). In: Bulkrin tk SDritrl tk I'HiJUJi/V tk I'Art Frlln(IlU, April 1984, S. 106-117. Ich bttiehe mich im Folgmden aufJean SttnttC Essais sur DiderOi C'I I'Anriquit~. Oxford: aarendon, 1957. Siehe Sanecs K2pitd .L:: sin~ anriquaire·, ibid.• S. 79-96. Dieses Argument steht :mch im Zentrum seiner Ixrühmren Debatte mit d~ Bildhauer Etienne-Mauri« Falconner, der sich erst von der Vorbildfunktion der Alten überz.eu~n las.scn wollte, wenn man ihre überlegenheit an einer vorliegenden Skulptur hätte nachwe:ise:n können. Obwohl weder er noch Diderot je ein Original gesehen hanen, diskutienen sie ausführlich über diese Frage.
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I. DIDERoTS KUNSTTHEORIE IM KONl"'F.xT
Für Diderot lag der Vorbildcharakter der Alten nicht in ihrem technischen Können. sondern allein in einem bestimmten Umgang mit ihren Sujets: Sie hänen es noch verstanden. so seine These, zu dem Idealmodell zu finden, das einer jeden Abbildung wgrunde liegen muss. Erneut geht es ihm also nicht um die Inhalte. sondern um eine gewisse An der Beobachtung. Um diesen Zusammenhang zu erläutern. können wir uns auf Diderots Platonrezeption beziehen. die. selbst wenn sie in der Literatur oft negativ beurteilt wird 2s • eine wichtige Grundlage zu seinem Kunsrverständnis bildet. In der imellektuellen Bibliographie eines Aufklärers mag diese Lektüre zunächst verwundern. Tatsächlich finden wir in Diderots Texten nur wenige direkte Bezüge auf den antiken Philosophen. der sich jedoch in vielfacher Hinsicht als präsenr erweist. In Diderots Werk zeichnen sich generell zwei Arten der Lektüre ab: Zum einen bespricht er einzelne Abhandlungen von Vorgängern oder Zeitgenossen. mit denen er sich in der Regel. strikt dem jeweiligen Text folgend. kritisch auseinandersetzt. Seine positiven Vorbilder erwähnt er hingegen meist nur indirekt und oft auch ohne Quellenangabe. So müssen wir auch im Fall seiner Plaronrezeption eher einer Vorstdlungswelt nachspüren als die Korrektheit der Lektüre zu überprüfen. Als auffällig erweist sich bereits die persönliche Identifikation: Diderot bestimmte zunächst die Figur des Sokrates zu seinem Vorbild, sowie später auch Seneca. 26 Der Auslöser dürfte wohl in Diderots eigener Inhaftierung gelegen haben. Drei Monate verbrachte er nach der Veröffentlichung seiner ersten philosophischen Schrift, der UttTt tur ks avtugki (1749) wegen Atheismusverdacht im Gef3.ngnis von Vincennes. Er nutzte die Zeit. um Schlüsseltexte von Platon. die bisher nur in lateinischer Übersetzung vorlagen, aus dem Griechischen ins Französische zu übersetzen. Ob er Platons Apologit deI Soleraul gar aus dem Gedächtnis übersetzte. bleibt umsrrinen. 27 Der Tod des Sokrates. den dieser nach seiner Verurteilung durch die Einnahme von Gift selbst herbeiführen musste. war im repressiven Klima des Ancien Regime ein beliebtes Motiv - Diderot wäre damit eigentlich kaum aufgefallen. Wie weit er Didc:rolS P!alonre:u:plion wird in der Forschung bisher nur als seine konservalive &i1e angesehen. Hans Körner sprich I z. B. von einer "traditionell chrisdich-ncoplalonischen Ontologie". Siehe Hans Körner: Auf der Suche nach der "wahren Einhc.i(". GanzheilSVorsiellungen in der französischen Malem und Kun51lileratur vom minieren 17. bis zum 19. Jahrhundc:n. Mün· chc:n: Fink. 1988, S. 75. Auch Wolfgang Drost emp6ndn DiderolS Orientierung als unttitgemäß: "Son plalonisme I'emp&:he dc sonir davanlagc de son Cpoque." Siehe Wolfgang DrOSf: Lc rc:gard int~ricur. Du modele ideal cha Didc:rot. In: u "t4rJ n /njn. Ditinor tririql« J'An. hg. von Michel Dclon und Wolfg:mg Drost. He.idc:lberg: Winter. 1989, S. 69-90, S. 74 . .. Siehe Sanc:cs Kapitel "u Socrale im:aginair~", ibid., S. 1-22. r1 Siehe Yersini, I, XXXII. 1$
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seine Sokrates-Verehrung jedoch geuieben haben muss, z.eigen die lästernden Bemerkungen seiner engsten Freunde, er würde immer "den Sokrates spielen", so wie Voltaire ihn auch abHülig "Socrate-Dideroc" oder "Frhe Platon" nanme.2.I Zwar berief sich auch Voltaire immer wieder auf Sokrates, um im Namen der Philosophie gegen Kirche und Staat zu protestieren, aber Diderot personalisierte ~inen Sokrates darüber hinaus zu einer privaten Lehre der stoischen Enthaltung, die ihm auch Zurückhalrung in der Politik gebot.7' Wenn wir nun einen Einfluss dieser Lektüren in Diderots Ästhetik behaupten wollen, müssen wir wiederum ein Paradox in Kauf nehmen: Wie konnte es Diderot gelingen, Platon gegen Platon zu verwenden? Er musste schließlich tron dessen Verdikt gegen die Nachahmung nun zu Gunsten der Kunst argumentieren. Ausgehend von den beiden Begriffen der Imitation und der Imagination, zu denen seit Placons Angriffen auf die Mimesis eine jede Bildtheorie Stellung nehmen muss, können wir im Folgenden zeigen, wie Diderot sich diesen Brückenschlag vorstellt. Die Definition der Imitation stellt sich jeweils als die Frage, inwiefern man das Ideal in der sichtbaren Welt finden bzw. daraus ableiten kann. Die Definition der Imagination hat, gewissermaßen komplementär zur ersteren, den Stellenwert der unsichtbaren Vorbilder oder IdealmodeUe fesnulegen. JO Die Theorie des einen ist somit eng mit der des anderen verknüpft, so dass sich die Konzeption des Ideals aus dem Verhälmis beider ergibt. Beginnen wir mit Diderors Auffassung der Imitation, indem wir wiederum festhalten, wie er sich in seinem Ansan von seinen Vorgängern unterscheidet und abgrenzt.
Über die Wahrnehmbarkeir der Welt Neben Du Bos und der durch ihn etablierten Wirkungsästhetik fand Dideroc seinen zweiten großen Konkurrenten in dem Abb~ Charles Batteux und dessen Theorie der Imitation. Seine Abhandlung Lts Btaux-Arts rlduits a un mimt principt war schon 1746, im Jahr ihres Erscheinens, ein literarisches Ereignis. Diderot richtete daraufhin seinen Taubstummenbrief als kritische AntwOrt an Barteux und arbeitete seine Einwände im Salon von 1767 noch weiter aus Siehe Jean Fabrc:: Lumic.res C:l Romantisme: Energie c:r nostalgie dc: RollSSC:lu a MickinviCL Paris: K1incksi«k. 1963. Darin insbesondere das KapiTel: .. Dan: definitions du philosophc:: Voha.irc: c:r Didc:rol-. ibid.• S. 1-8. n Siehe: Raymond TrollSSC:lu: Socr.ue dö"aJll Volta.ire. Didero( c:r Rousseau. La conscic:ncc: en fau du mythe:. Paris; Minard, 1967, S. 50 Fr. )8 Zur allgt:mc:inc:n Entwicldung dieser Begriffe: im 18. Jahrhunde:n siehe: Pc:rer-Eckhard( Knabe:: SchlüsselbegriffC' des kUßSnhc:orc:rischC'n DC'nkc:ns in FranluC'ich von dC'r Spät:k.l.assik bis zum EndC' der Aufklärung. Diissc:ldorf. Sch~n, 1972. S. 320 ff. 21
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- nicht von ungefahr wurde gerade in diesem Salon auch seine Anlehnung an Placon deutlicher. Worin bestand nun der Gegensan zwischen den heiden Positionen? Bacceux' Theorie können wir als Versuch verstehen. zwischen der franzö.sischen Klassik des 17. JahrhundertS und der sensualiS[ischen Wirkungsäschetik des 18. JahrhundertS zu vermiueln. JI Er suchte die Erkenntnisse der neuen Wahrnehmungstheorie mit der aristotelischen Mimesisle.hre in Einklang zu bringen. Encsprechend dem uitsatz der Sensualisten. dass nur in den Gedanken sein kann. was zuvor in den Sinnen war. könne auch der Künstler nur wiedergeben. was er vorher in der Natur gesehen habe. Der Mensch vermag sich überhaupt nichcs auszudenken. er reproduziere vielmehr die Vorbilder entsprechend seiner Erfahrung. so Batteux: "Lc g~nie qui trava.ille pour plaire ne doir done ni ne peur sonir des bornes de la nature mcme. Sa fonetion consiste non a imaginer ce qui ne peut etre, mais a nouver ce qui est. Invemer dans les am n'est poim donner I'eue a I'objet, e'esr reconnaitre OU il esc. et comme iJ esr. [...) 1I faut, (... ), que I'industrieux imitaleur air IOUjOUrs les yeux anllleh~ sur dIe (die NllIturl, qu'ill:l comemple sans CC$$C. Pourquoi? Cesr quelle rcnferme IOUS !es plans des ouvragcs regulien: et les dessins de tDW les ornements qui pcuvent now pla.ire. Lcs ans ne ereent point leurs r~es: dIes sont independanres de Inu caprice. et invariablemenr ttactts dans I'exemple de 1:1 narure:.ll
Batteux begreife die sichtbare Welt als ein zur Findung bestimmtes Inventar. Der Kosmos lege seine Ordnungsprinzipien in der materiellen Weh dar, so dass der Künstler diese nur zu erkennen. auszuwählen und geschickt zusammenzufügen halo Das allen gemeinsame und damit "eine Prinzip" der Künne besteht nach Baueux in der Darstellung der "belle nature". d. h. der Künstler greife in der Nachahmung korrigierend ein für den Fall, dass die Natur (hier als nnarura naturata") die in ihr angelegten Prinzipien (der "natura naturans") nicht voll oder fehlerhaft ausgebildet halo Um seinen Optimismus über die Wahrnehmbarkeit dieser "belle nature" zu rechtfertigen, berufe sich Barceux auf die Legende von Zeuxis' Bildnis der Helena. Dem antiken Künstler war es gelungen, das Bildnis der schönnen aller Frauen zu konstruieren, indem er sie aus ausgewählten Merkmalen und Körperteilen der Schönsten seiner Stade zusammensetzte. Encsprechend
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Siehe dazu Ludwig T avc:mier. L'imitation de 1:1 BdJe Nuure. Zum Verständnis des KünsrJers in der Nachahmungnhcorie von Charles Battew:. In: Empfindllnt lind &flexion. Ein Problnn
Je /8.jJn-hunJ=. ;b;d., S. 49·99. ),l
Ich baiebe mich im Folgenden auf Charles Sattem:: Les Beaw: Am r&luirs i un m~mc: principe (l746), insbesondere Teil I, Kapitd 2 und 5. Als QueUenrate wiedergegeben in Sa.inl Girons, ibid.• S. 87·91. Hier S. 89 (
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dem aris{Oteiischen Emelechie-Gedanken geht Baneux davon aus, dass das einheitsstiftende Prinzip den wahrnehmbaren Dingen innewohne und sich dort langsam entfaltet. Die Idee bleibt nicht wie bei Platon unsichtbar, sondern verwirklicht sich in der Mannigfaltigkeit det Welt. Gerade diese alte Frage nach dem Transzendieren der Idee wird Diderot und Batteux unversöhnlich voneinander trennen. Baneux musste seinen Optimismus bezüglich der Erkennbarkeit des Ideals jedoch auch einschränken. Selbst wenn er die empirische Beobachtung für ausreichend hält, um die Regeln der schönen Natur zu finden, weist er den Künstler auch in seine Schranken: Er sei als zweiter Schöpfer der Natur Gott keineswegs ebenbürtig. Den Preis der "vanitas" werde die Kunst immer zahlen müssen, jede Nachahmung bleibe doch nur Spiel und Schein: ~Qu·csr.tt qu~
la ~inrure? Une imitation des objers visibles. ElI~ n'a ri~n d~ t&1, ti~n d~ vrai, rout est fantöm~ chez dl~, ~t S
Gott hat die Welt so geschaffen, dass sie ihre Prinzipien offenlegt, aber dem Menschen mangelt es nach Batteux an Perfektion, dies in der Malerei vollständig nachzubilden. Diderot steht nun beidem, Batteux' Imitationsbegriff und dessen Relativierung als Illusion äußerst skeptisch gegenüber. Er beruft sich ebenfalls auf die sensualistische Erkenmnistheorie, um Batteux nachzuweisen, dass der Gedanke des "einen Prinzips" im Widerspruch dazu steht. Wenn nur in das Wissen gelange, was vorher durch die Sinne ging, wie könne man dann behaupten, dass ein Künstler die "belle nature" aufzudecken oder zusammenzuserzc:n weiß, obwohl sie nirgends in dieser Form zu sehen ist? "C'CS( un vi~ux conr~, mon ami [g~m~int: Grimm]. qu~ peut fotm~t c~n~ s(atu~, vrai~ ou imaginair~ qu~ les Anci~ns apjX:Ia.i~nr la tegl~ ~t que j'appell~ I~ model~ id6l.1 ou 1a lign~ vrai~, ils a.i~nr parcouru la nature. empruntant d' dl~, clans un~ infinite d'individus, les bellcs panies dont i1s composer~nr un (Out. Comm~nt est-tt qu'i1s aura.i~nr reconnu la bcaure d~ ces panics? (...] Avancer un par~il paradox~. n'es(-c~ pas pretendr~ qu~ ces arUS(CS ava.i~nr la conna.issa.nc~ la plus profond~ de la bcamt:, t:rai~nt r~monres i son vrai modH~ ideal, i la lign~ d~ foi avant que d'avoit Fair un~ seul~ bcll~ chose? Je vous dedare donc que une march~ est impossibl~, absurd~." (SPion J767, IV, 526 f.)
Diderots Haltung erweist sich als ungleich pessimistischer in Bezug auf das Sichtbarwerden der Idee. Die radikale Anwendung der sensualistischen Theorie zwingt ihn, die Idee in den Bereich der reinen Spekulation zu verweisen " ibid.• S. 90.
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und ihr Sichtbarwerden in der Natur auszuschließen - und damit hält er sich an Platon und nicht mehr, wie Batteux, an AristoteIes: "Je demande pardon a Aristote; mais c'est une critique vicieuse que de deduire des regles exclusives des ouvrages les plus parfaits, comme si les moyens de plaire n'etaient pas infinis." (Pms!<s dirach!<s (1781), IV, 1014) Natur und Geschichte bieten nach Diderot eine unendliche Vielfalt an Vorbildern, so dass niemand sich anmaßen könne, daraus eine Regel abzuleiten. Platon habe aus jenem Grund nie definien, was das Schöne sei: "Platon [...] nous offre dans ses ouvrages, achaque ligne, des exemples du beau, nous montre tres bien ce que ce n'est point, mais nous ne dit rien de ce que c'est." (Trait! sur k &au (1772), IV, 96) Das Schöne entziehe sich jeder Form von Anschaulichkeit, denn sonst würde es ebenso viele Ausprägungsformen hervorbringen, wie es wahrnehmende Menschen gibt.3-t Diderot versteht die Natur als ein unendliches Chaos, dessen Erforschung uns nur begrenze möglich ist, da Ursprung, Sinn und Ordnung desselben uns verborgen bleiben müssen. 35 Durch diese radikale Entkoppelung von sichtbarer Natur und Ideal modell entwickelt Diderot in seiner Ästhetik absichtlich einen für die Kunstpraxis unbrauchbaren Begriff des Schönen: Das wahre Schöne bleibt auf ewig unsichtbar. 36 Jeder Künstler, der behauptet, er könne darüber hinwegsehen und das allgemeine Prinzip schauen, mache dem Betrachter etwas vor, er stelle - ganz im Sinne Platons - nur Kopien von der Kopie her. Sich dialogisch an einen imaginären Künstler wendend schreibt Diderot:
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Jede Nachahmung ergibt nach Diderot nur das Porträt desjenigen, der etwas nachzuahmen suche: ..Si vous avicz choisi pour modele la plus belle femme que vous connussicz, el qut: vous eussicz rendu ave<: le plus grand scmpule 10US les charmc.'l d e son visage, croiriez-vous avoir repr~nte la beaute? Si vous me repondcz qu'oui, le dernier de vos elevcs vous dementira, et vous dira que vous avcz fail un portrait." (Salon /767, IV, 522) Siehe Diderots D~ l'intnprltl1tion tk Ja natur~ (1754) . Die diesbezüglich ausschlaggebende Theorie der "rapports", die Diderot vor allem in seinem EnzykJopädie-Artikel &au (1752) bzw. dem Tra;tl [ur k &au (772) ausführt, bestimmt das Schöne als eine Saehe des Intellekts. Nicht das visuell Wahrnehmbare, sondern eine abnrakte Vorstellung löse das Schönhcitsempfinden aus. Diderot sieht daher Parallelen von Gefidlen und Verst2Jld, die "rappens" seien vergleichbar mit Operationen des Denkc:ns. Er spricht daher von der "idtt de TapporlS" als einer ..operalion de I'emendemem". Indem er den Begriff des Schönen von dem jeweils auslösenden Objekt abkoppelt und ihn gleichzeitig auf eine Stufe s[c1h mi[ dem Verstand, ist sc:ine ..abstrakte Relationsschönheit" (Knabe, ibid., S. 76) nicht mehr auf eine biologistische Definition des Cemhls (im Sinne des sechstens Sinns) angewiesen. Siehe dazu Xenia Baumeister: Zum Verständnis des Artikels "Beau". In: Ditbror und dj~ Auftliirung, hg. von Herben Die<:kmann. (Wolfenbünler Forschung Bd. 10) München: Kraus, 1980, S. 87·97.
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"Mais VQUS m'en imposez, vous vous en imposez a vous-meme, et vous en savez plus que vous ne dites. Vous avez ~mi la difference de la cho~ generale ct de la cho~ indi~ viduellc jusques dans les moindres panies, puisque vous n'o~riez pas m'assurer depuis un momem OU VQUS priu~:s le pinceau jusqu'a ce jour de vous ctre assujeni a I'imitation rigoureuse d'un cheveu. Vous y avez ajoure, vous en avez supprime; sans quoi vous n'cussiez pas filit une image premiere, une copie de la verife, mais un portlOlit ou une copie de copie, 'Ie [antöme er non la chose'; el vous n'auriez ere qu'au troisicme IOlng, puisque entre la verife et votre ouvrage, il y aurait eu la verile ou le prototype, son famöme subsistam qui vous ~rt de modCle, et la copie que vous fa..itcs de cene ombre mal ferminte, de ce fanföme. VOfre ligne n'eut pas ete la veritable ligne, la ligne de bcaute, la ligne ideale, mais une ligne quelconque alterte, deformee. portlOlitique, individuelle;" (&>10" 1161, IV, >22)
Während das Prinzip der Imitation bei Batteux fast zum Selbstzweck der Kunst avancieren konme, lehnt es Diderot aus philosophischen Gründen ab. Seine Suche gilt nicht mehr einer Ausgleichsformel, die Imitation und Idee miteinander versöhnen könnte. Er nimmt das platonische Verdikt sehr viel ernSter. Das Ideal ist jedem sichtbaren Modell - und so auch den antiken Überresten der Antikomanen - strikt entgegengesetzt. Diderot entscheidet sich innerhalb des Gegensatzes von visibler und intelligibler Welt also zunächst für das Un· sichtbare in der Kunst. Von der Fotografie scheinen wir uns an dieser Stelle um ein Maximum entfernt zu haben. Aber gerade diese Wende gegen die direkte Wahrnehmbarkeit der Welt wird sich als unabdingbare Voraussetzung für die Erfindung der neuen Technik erweisen. Fahren wir zunächst fort mit dem Begriff der Imagination, der mit Diderots Abkehr vom sichtbaren Modell entsprechend an Gewicht gewinnt.
Der Ort des inneren Auges Als dem Prinzip der visuellen Erfahrbarkeit entgegengesetzt, lässt sich seit der Antike eine zweite Tradition ausmachen, die für die Kunst ein geistiges Sehen beansprucht. Sie fand zum Beispiel über die berühmte Stelle in Ciceros Orator Eingang in die Rhetorik und Ästhetik. Der Bezug zu Platon wird an dieser Stelle explizit hergestellt: "Auch hat jeder Künstler, als er die Gestalt dcs uus oder der Athene bildete, nicht irgendein Modell betrachtet, von dem er dann die Ähnlichkeit herleitere; ihm schwebte vielmehr im Geiste ein Bild aulkrgewöhnlicher Schönheit vor, das er anschaute und auf das er nach diesem Vorbild seine Künstlerhand lenkte. Es gibt also in den Formen und Figuren dc.r bildenden Kunst etwas Außerordemliches, Vollkommenes, an dessen Gedankengebilde sich bei der Nachahmung jene Züge orientieren, die sonst an sich nicht vor Augen kommen; cbenso ~hen wir auch im Geiste ein Bild der vollkommenen
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1. DIDEROTS KUNSTfHEORIE IM KONTEXT
Beredsamkeit, dessen Abbild wir mit un~ren Ohren au&unehmen lr.achrcn. Diese Ur· bilder der Dinge bezeichnel Platon als ,Ideen' [...]. Er lehn, jene Ideen cntslchen nichr, sondern bestehen immerfon und gehören dem Bereich der geistigen Einsieht zu. ~J7
Wie dieses Erfassen mit dem Geiste zu verstehen sei, galt es seit jeher durch das umstrittene Verhältnis von Mimesis und Phantasie zu bestimmen. Seit dem 16. Jahrhundert stellte die Kunsrmeorie zu diesem Zweck die Begriffe der Imagination und der "phantasia" gegenüber. l8 Das Begriffspaar lässt sich, je nach Theorieansan, innerhalb der folgenden Kategorien verorten: Die Aufnahme von Bildern aus der Außenwelt, die sich in den Sehapparar gewissermaßen "eindrücken", geschieht durch die Imagination, die daher Einbildungskraft genannt wird. Für die Abspeicherung dieser Bilder im Gedächtnis sorgt anschließend die "memoria". Diese beiden Vorgänge bilden einen ersten Pol, der noch vom optischen Apparat des körperlichen Auges abhängt. Den anderen Pol bilden die "phantasia" und das rationale Urteilsvermögen, erstere fungiert als die Kraft, die die aufgenommenen Eindrücke weiterverarbeitet und leeztere entscheidet, ob die Produkte der Phantasie schließlich als l.ulässig an1.unehmen oder ab1.ulehnen sind. Auf dieser Seite findet das Sehen mit dem Geiste start, es wird folglich dem inneren Auge der Seele l.ugeschrieben. Die Phantasie galt dabei l.unächst als eine negative und irreführende Kraft, die durch den Verstand kontrolliert werden muss, im Verlauf des 16. Jahrhunderts erfuhr die Seelenkraft jedoch eine entscheidende Aufv..ertung. 39 Man schrieb ihr nun die Fähigkeit l.U Ähnlichkeiten l.wischen den Dingen wahnunehmen, ohne den Gesetzen der Nachahmung gehorchen zu müssen. Sie allein vermag, Formen frei zusammen1.usenen und weiter zu verändern, bis sie sich verselbständigen l.U Metaphern, Allegorien, Grotesken und anderen Verzerrungen, Zerlegungen und Verknüpfungen - eine für die Kunst unverzichtbare Vorstellungs- und Erfindungsgabe. Als ungebändigte und unreflektierte Bildungskraft bedurfte die Phantasie aber nach wie vor des Korrektivs der Ur-
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Cicero: Or:uor, 2,9. kh beziehe mich im Folgenden auf den Vortrag von Wolfgang Proß: Die Srellung der Phantasie in der Architektonik der Seele. Zur Rezcplion der arisrotelischen Seelenschriften zwischen 1500 und 1600. Manuskripr zum Kolloquium "Phantasia und Literarur und Kunsnhcorie in der Frühen Neuzeit", Universitiit Bern 8.-10.5.1996. Siehe außerdem Martin Kemp: From Mimesis tO Fantasia: The Quattrocento Vocabulary of Crea.tion, Inspiration and Genius in the Visual Ans. In: Via/or. M~di~val and Rmaissanu Srudüs, Bd. 8.1977, S. 347-405. Sowie Roben Klein: La forme et I'intelligible: J:.crits sur la Renaissance e[ ]'an moderne. Paris: Gallimard, 1970. Siehe dazu Das CApriccio als Kunstpn'nzip, Katalog hg. von Ekkehard Mai. Mailand: KHM, Slcira, 1996.
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teilskraft. Das Subjektive und Genialische durft:e keinesfalls zum Selbsnweck werden, die ästhetische Theorie suchte vielmehr zwischen Phantasie und Urteilskraft zu vermitteln - jeweils mehr zu Gunsten des einen oder des anderen. Bis in das 18. Jahrhunderc hinein blieb diese Auseinandersenung eine zentrale Herausforderung für die Ästhetik, bei Diderot wird sich der Akzent jedoch verschieben. Als entscheidend erweist sich nun die Unterscheidung von Phantasie und Imagination bzw. die von innerem Auge der Seele und optischem Auge. Die Imagination, so können wir den Unterschied nochmals zusammenfassen, hält sich an die sichtbaren Vorlagen und "scannt" sie getreu ein. Die Phantasie hingegen greift: als eine Art ..Bildbearbeitungsprogramm" ein, das über die vorliegende Materie frei verfügt. In der französischen Ästhetik finden wir die Phantasie auch oft: unter dem Begriff des "enthousiasme", so zum Beispiel bei Batteux, der sich für eine starke Phantasie ausspricht, Ihre kombinatorische Kraft könne das Genie leiten zur "belle nature" zu finden: nll y a donc des momentS heureux pour le genie, lorsque I'ame enflammec comme d'un feu divin sc repr6cme toure la nalUre er repand sur touS les objetS cc[ esprit de vie qui les anime, ces traitS touchantS qui nous reduisent ou nous ravisscm. utte situation de I'ime sc: nomme emhousiasme, terme que toU[ le mode entend assez e[ que presque personne ne definit. [...] La divinite qui inspire les aureurs excdlents quand ils composc:n[ esl semblable a edle qui anime les heros dans les combats [... )."40
Da es bei Batteux aber die sinnliche Wahrnehmung ist, die den Künstler zu seinem Idealmodellleitet, können wir in seiner Vermittlung von sensualistischer Theorie und dem Primat des Ideals bereits eine Wende erkennen: Der Enthusiasmus arbeitet nun mit dem äußeren Auge. Die Bilder der Phantasie beruhen nach Batteux doch immer auf dem, was wir optisch wahrnehmen können und so bleiben sie auch immer Simulakra. Diderot wendet sich nun keineswegs gegen diese Profanisierung des Enthusiasmus. Wie immer man ihn auch definiert, er bleibt für Diderot eine der Subjektivität und Willkür des Autors ausgelieferte Kraft, die die Tendenz hat sich zu verselbständigen oder gar im Wahnsinn zu enden. Er beurteilt die Phantasie daher wieder negativ: "L'enlhousiasme esl un mouvemem violem de I'ime par Icqud nous sommcs transpones au milieu dcs objets que nous avons.1l. represemer; a10rs nous voyons une sane enrihe sc: passc:r dans norre imagination, eomme si dIe etair hors de nous: die y esl en effel, car fant que dure cette illusion, touS les crres presents sont aneanlis, er nos id6=:s som reaJisecs .11. Icur place: ce ne som que nos id6=:s que nous apcrccvons, cepc:ndanl nos mains touchem des corps, nos yeux voicm dcs ctres animes, nos oreilles cmendcm des voix. Si cel eral
ibid., S. 90.
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n'est pas de la folie, il en esr bien voisin. Voila la raison pour laquelle il faur un tres grand ft S(:ns pour balaneer I'enthousiasme. (Enzyk.lopädie*Artikd EckctiJm~, I, 316 f.)
Diderot ist jedoch nicht daran gelegen, den Enthusiasmus wieder durch die Ratio kontrollieren zu lassen. Er fragt sich vielmehr, wozu man ein solches Feuer überhaupt braucht, wenn es gilt, die Welt so zurückhaltend aufzunehmen wie ein Richardson? 5tatt der selbstbewussten, willkürlichen Phantasie bevorzugt Diderot die demütige und passive Haltung der Imagination. Denn sie ist die einzige Kraft, die auf den Rückhalt des Verstandes verzichten kann: Indem sie bei Diderot weniger als erfinderische, sondern vielmehr erinnernde - als "faculte de se rappeIer des images" - definiert ist, entfällt die Kontrolle durch die Ratio. Als eigendicher Antrieb der Kunst erweist sich nun eine Kraft, die nichts eigenes herstellt, sondern sich an die Vorlage hält. Nur um welche Art von Vorlage soll es sich handeln? Diderot konzentriert sich in diesem Zusammenhang auf das besondere Verhältnis von Imagination und Gedächtnis: Er weist der Imagination nicht das rationale Gedächtnis zu, sondern eine dezidiert anti*intellektuelle Form des Erinnerns. Sie assoziiere Dinge, Körper bzw. Bilder und eben nicht Bedeutungen, Worte oder Zeichen. So schreibt er in den Eltmmts de Physio!bgi~ (1778): ftFaculte de sc peindre [es objers absems, eomme s'ils etaiem pr6enrs, d'emprunter des objers S(:nsibles des images qui servent de comparaison, d':macher a un mot abmait un corps, voila I'idec que j'ai de I'imagin:.nion. La memoire [gemein!: das rationale Gedächmis] est des signes, [,imaginarion des objets. La memoire n'est que des mors presque sans images: musiciens qui resle musicien apres la pctte de la memoire des nOles. l'imagination ressuscire dans I'homme les voix, les sons, tous les accidems de la nature, les images qui deviennenl 2uranl d'ocasions de s'egarer. [... 1 L'imaginarion est ['image de l'enf2nee que rour :Itlire sans regle. Elle esl I'ttil imericur, el la mesure des imaginations esl relative a la mesure de la vue. les aveugles ont de I'imaginarion, paree que le viee n'esr pas dans la retine. ~ (I, 1292)
Indem die Imagination mehr leistet als das rationale Identifizieren und Wiedererkennen, kann Diderot sie von ihrer Bindung an das optische Sehbild befreien: Die Imagination sieht nun mit dem inneren Auge. Dieses höhere Organ steht nicht mehr der willkürlichen Phantasie oder dem selbstherrlichen Verstand zu, es wird zum Sehorgan eines passiven und naiven Blicks. Der Autor entwirft nicht mehr, er nimmt auf, er lässt die Bilder auf sich zukommen, die sich ihm "einbilden". Das passive Finden - und nicht mehr das aktive Erfinden - steht nach Diderot am Anfang des künstlerischen Schaffensprozesses. Mit dieser Umkehrung der ehemaligen Rollenverteilung reagierte Diderot auf die durch den Sensualismus veränderte Ausgangslage. Er wusste, dass das äußere Auge für die Herstellung von kollektivem Gemeinsinn nicht mehr zur
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Verfügung stand: Die Möglichkeiten des Gefallens hatten sich als unendlich erwiesen, kein Künstler oder Kritiker konnte noch behaupten, die Regeln des Schönen im Bereich des Sichtbaren nachzuweisen. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts stand nicht mehr der Widerstreit von Ratio und Phantasie bzw. von Regelanwendung und Regelbruch im Vordergrund, sondern das Problem der kollektiven UntersteIlbarkeit erwies sich als das eigentliche Risiko der Kommunikation. Indem der Gemeinsinn seinen Plan nicht mehr im Bereich des optisch Wahrnehmbaren fand, konnte er, so Diderots Schlussfolgerung, nur noch im Reich der Ideen erwartet werden. Die Imagination war als eine im platonischen Sinn ..erinnernde" Kraft- gefragt: Sie hat die Funktion, Urbilder aufzudecken, die - durchaus im Sinne des kollektiven Archteyps - tief in unse~ rer Seele wuneln, selbst wenn sie oft verschütcet sind.-41 Alle bisher genannten Kriterien von Diderots Ästhetik - die Schauspieltheorie, der Moralbegriff, die Kritik an der Imitation, die Abwertung des Enthusiasmus und seine Definition der Imagination als eine die Ideen erinnernde Kraft - können wir mit platonischem Ideengut in Verbindung bringen. Ein Text, der 311 diese Aspekte anspricht, ist zum Beispiel Platons Dialog Ion. Selbst wenn sich nicht belegen lässt, dass Didecot ihn kannte, scheinen mir zahlreiche Parallelen gegeben. Platons Frühschrift zeigt deutlich, dass nicht die gänzliche Ablehnung der Kunst, sondern die Unterscheidung von rechtmäßiger und trügerischer Nachahmung das eigentliche Anliegen des Philosophen bildete. Platon unterscheidet zwei Formen des Enthusiasmus, die wiederum Didecors Differenzierung von Phantasie und Imagination entsprechen. Der Rhapsode Ion macht sich der subjektiven und selbstherrlichen Einmischung schuldig, er legt nach Platon nur aus, was er bei dem Dichter zu lesen vermeinte und stellt somit nicht die Idee des Dichters, sondern seine eigene Version dem Publikum vor. Wie in dem berühmten Beispiel über die Idee des Tisches und seine Kopien durch den Handwerker und den Künstler-41, argumentiert Platon
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Wie Annic Ekcq vcrmUlet, geht Oiderots Imaginarionsbcgriff auf Par.acelsus zurück: ..Le röle de I'imagination n'est donc pas sculemcnc dc susciter des images: en I'opposanc justcment 11. la fantaisie, Par.acel.se dem 11. distinguer de celte facuhe sans puissance dont les images 'Rorrenc dans none esprit sans lien profond, ni entre eux, ni entre eux et nous mcmes', pur jeu de la pensee sans fondemenc dans la nature, la veritable 'procluction magique' d'une image." Annic Bccq: Genese de l'esrhetique fran~a.is moderne. Oe 1a raison dassique 11. I'imagination creanice. 1680-1815. Pisa: Pacini. 1984, S. 136. Zur Par.acclsus~Lcktürevon Diderot siehe auch Yersini, I, 208. Auf den Begriff des Archetyps und .seine Bedeutung im 18. Jahrhundert komme ich in Teil 111 zurück. Siehe Platon: Der Staat, 596 ff. (10. Buch) und weiterführend Hermann Koller: Die Mimesis in der Antike. Nachahmung, Darstellung, Ausdruck. Ikrn: Francke, 1954. Sowie CUOler Cebauer, Christoph Wulf: Mimesis. Kultur, Kunst, Gesellschaft. Hamburg: Rowohh, 1992.
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auch hier, dass die Kette der Vermittlungen von der Idee zum Dichter, zum Rhapsoden und schließlich zum Zuhörer eine unüberbrückbare Entfernung vom Urbild bedingt. Ion, der das Paradox über den Schauspieler offensichtlich nicht beherrscht, identifiziert sich zudem mit den von ihm dargestellten Rollen und Gegenständen. So erklärt er über seine Methode: ~ Wenn
ich nämlich el:WaS Rührendes vortrage, füllen sich mir die Augen mit Tränen. wenn aber el:WaS Schreckliches oder Furchtbares. dann sträuben sich mir die Haare vor Schrecken und das Herz bebl. ,,~,
In seiner Hybris meint Ion alles nachahmen zu können, wovon die Dichter sprechen. Er zeigt aber letztlich nur ein subjektives Porträt und nicht die Idee der Sache. Dieser falsch verstandenen Nachahmungswllt hält Placon den wahren Enthusiasmus entgegen, der sich dadurch auszeichnet, dass der Künstler nicht um ihn weiß. So erklärt Sokrates über den wahren Dichter: "Verstünden sie {die Dichter] nämlich Kraft eines Fachwissens in einem schön zu reden, so müsste dies auch in allem anderen der Fall .sein. Deshalb aber raubt der Gon ihnen den Versrand und benuttt sie als seine Diener. sie und die Orakelkünder und die Seher, die göttlichen, damit wir, die wir zuhören, wissen, dass nicht sie es sind, die so wertvolle Dinge sagen, denen doch der Verstand nichT mehr innewohnt. sondern der GOIt selbst es ist, der spricht, dutch sie hindurch aber seine Sürnme zu uns dringt.""
Daher gilt auch für den Rhapsoden: ~[ ...I wenn du aber kein Fachkenner bist, sondern Kraft einer göttlichen Gabe und
be-
sessen von Horner. ohne zu wissen, vieles Schöne über den Dichter sagst, so wie ich von dir behauptet habe, tuS! du kein Unrechl."o
Platon unterscheidet also den falschen Rhetor, der die äußerlichen Anzeichen nachahmt, um bestimmte Effekte zu erzielen, von dem wahren Rhetor, der ohne sein Zutun wiedergibt, was ihm die göttliche Inspiration eingibt. Das unrerscheidende Kriterium ist somit die Aktivität bzw. Passivität des Autors im Momenr der Inspiration. Die Idee des göttlichen Ursprungs wird bei einem Atheisten wie Diderot nun durch die Kraft der menschlichen Urbilder ersetzt. Wenn sein Schauspieler bei der Rezeption dieser Bilder wie eine Maschine agiert, so ist auch er ohne berechnenden Verstand und Eigeninteresse am Werk. Mit Platon vermag Diderot das Paradox der Kreativität als die Tatsache fassen, dass der Künstler im Moment des genialen Einfalls so sehr bei seinen Urbildern Platon; Ion, 535 c. .. ibid., 534 c-d. u ibid.• 542 a. 43
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ist, dass es sich für ihn anfühlt als käme die Inspiration von außen (z. B. von GOtt). Er ist vollständig bei sich, hat sich aber nicht mehr unter Kontrolle. Auch in anderen Texten Platons finden wir Hinweise auf die Wichtigkeit der Imagination als eine nicht kalkulierende Kraft. Neben dem göttlich motivierten Enthusiasmus nennt Platon gerne auch den Eros als Inspiration der Kunst. Er lobt seinen Rausch als Moment der Selbstaufgabe, allerdings nur, wenn er nicht zum Selbstzweck verkommt. Der Eros agiert nämlich ohne jedes Interesse an den üblichen Gegensätzen des Schönen und des Hässlichen oder der Weisheit und der Torheit. So berichtete Sokrates im Gasmzah/, dass ihn seine Lehrerin Diotima in Bezug auf Eros folgendes gelehrt hat: ,,[...] glaubst du, was nicht schön ist, das sei notwendig hässlich? - Ja, gewiss. - Oder auch, was nicht weise, das töricht? Oder hast du nicht bemerkt, dass etwas ist in der Mine zwischen Weishe:it und Torhe:it~ - Was ist es denn? Das Richtig-VO['$tdle:n, ohne: doch Gründe: dafür ge:ben zu können, sagte sie, weißt du nicht, dass das we:de:r Erkennen ist, denn wie könnte eine grundlose Sache: Erke:nntnis sein - noch Torheit, denn was zum Wirkliche:n nimmt, wie: kann das Torheit sein? Ein solches also ist das Richtig-Vorstellen mitte:n zwischen Erkenntnis und T orhe:i(."~
Der Eros ist mit keinem berechenbaren System gleichzusetzen, er führt uns zu kollektiven Urbildern, die man erst einmal "richtig vorstellen" muss. Auch in Plarons Phaidros bleibt der durch den Eros inspirierte Künstler passiv, indem er nie wissen darf, was er eigentlich liebt. Er kann sich das Geliebte also auch nicht selbst ausgedacht haben: ..Nun lie:bt e:r und we:iß nicht was. Wedl:r weiß er, was ihm geschah, noch findet e:r cin Wort daftir, sonde:rn er gleicht e:ine:m, dem ein anderer eine Augenentzündung übertrug und dl:r die Ursache nicht zu ne:nne:n weiß, denn dass ('r wie in einem Spi('gd im liebenden sich selber erblickt, bleibt ihm verborgen. "47
Allerorts wird Zurückhaltung gefordert: Der Autor darf sich nicht selbst darstellen, nichts hinzu erfinden und sich nicht seiner Phantasie überlassen. Er hat sich einzig und allein auf die Urbilder zu konzentrieren, die schon vor seiner Geburt in der Seele eingelagert wurden. Denn nach Plaron hane die Seele kurz; vor ihrem Abstieg zur Erde auf einem SeeienRug alle Ideen der Welt schauen dürfen. Allerdings kommt die Erinnerung an diese Ideen nicht jedem in demselben Maße zu: ..Denn [...] hat jc:de menschliche Seele: zwar ihre:r Natur nach das Se:ie:nde: geschaut, weil sie sonst nicht in e:in solches Geschöpf l:ingegangen wäre:, doch fallt es nicht alle:n
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Platon; Das Gastmahl, 201 d. Platon: Phaidros, 2SS b.
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I. DIDEROTS KUN51THEORIE IM KOl'ITt:xT
leich[, sich aus den irdischen Erscheinungen an das Seiende zu erinnern, sei es, dass sie es damals zu kun gesehen haben, sei es, dass sie beim Sturz auf diesen Ort hier ein Missgeschick beuaf, so dass sie das Heilige vergalkn, das sie einstmals geschaUl. Wahrlich, wenige sind übrig, denen ein zulängliches Gedächtnis innewohnr.""
Dieser hermetische Zug in Platons Denken fordert geradezu den Beruf des Kritikers: Wenn es um die Beurreilung von Bildern geht, darum also, ob ein Künstler sie sich richtig vorgesrellt hat, kann die Überprüfung nicht jedem beliebigen Laien überlassen werden. Nur der Initiierte verfügt über das notwendige Gespür, wahre und faJsche Bilder zu unterscheiden. Dieser elitäre Zug ist auch in Diderots Ansatz unverkennbar: Er wusste, dass es zur Definition von "Geschmack" gehört, dass nicht jeder ihn haben kann. 49 Der Kririker kann daher in seinem Urteil auch keine Rechenschaft mehr schuldig sein (dahingehend, dass er seine Bewertung an dem sichtbaren Bild festmachen müsste), sein Sehen beruht aJlein auf dem inneren Auge! Ein Kritiker, der nur vorgegebene Theorien und Regeln anwendet, würde sich wieder aJs interpretierender Autor zu erkennen geben. Diderot hingegen möchte sich weder in seinem Schreiben über Kunst, noch in seiner Literatur oder Philosophie auf ein verbindliches System festlegen. So warnt er z. B. den Leser bereits im Vorwort zu seiner Frühschrift La Promenade du sCtptique (I747): "Les pretendus connaisseurs en fait de style chercheronr vainemenr a me dechiffrer. [... J trop de degouts accompagnenr la condition d'auteur, pour que dans la suite je me fasse une habitude d'ecrire." (1,71) Der verbindliche Charakter des Schreibens musste Diderot widerstreben, da er im Widerspruch steht zu seiner assoziativen Methode, für aJle Bilder offen zu bleiben, die sich ihm ohne sein Zutun einbilden. Platons Verdikt gegen die faJsche Nachahmung bezieht er somit auch auf seine eigene Rolle aJs Autor. Die Praxis des Richtig-Vorstellens, so können wir zusammenfassen, harren die Alten nach Diderot voraus, sie bildete die Grundlage ihrer Kunst und war Garant für ihren Erfolg. Folglich kann auch nur dieses Verfahren - und nicht die InhaJte oder Formen der Antike - noch Vorbildfunktion für die Gegenwan haben. q 49
ibid., 249 c. Roland Monier konsnuien hinsichtlich dieser Auffassung von ..Geschmack" einen interessanren Zusammenhang zur zeitgenössischen Herme[ik und Libertinage, die er gerade in Oiderou Fall in der sroischen Tradition verwurnlt siehl: ..L'esOlerisme est inherenr 111 I'essence meme de la penstt libenine el il en consritue presque la pierre de touche; le libeninage ball( le fait d'une elite qui se cmit su~rieure au 'vulgaire', il ne peut se diffuser sous jX'ine de se detruire. [...1 Faur-il voir dans cene consrame volonte de detachement, dans cer esOterisme hautain, I'effet de la tradition amique, e[ tout paniculieremem sro"icienne?" Roland Monier: Claret6 e[ ombres du siede des Lumieres. ~rudes sut le XVllle siede lineraire. Genf: Oroz, 1969, S. 62.
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1.2. DAS NEUE BILD DER ALTEN
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Der Stempel der Zeit und das Genie des Primitiven Wie ging der Künstler der Antike nun im Konkreten vor? Und wie kann seine Methode in die Kunst des 18. Jahrhunderts übertragen werden? Diderot amwonet wiederum mit einern Paradox: Die Alten bleiben darin - und nur darin - Vorbilder, dass sie keine Vorbilder kannren. Ihr Glück habe darin bestanden, dass sie nichts nachzuahmen hatten. Anstarr Modelle sklavisch zu kopieren, seien sie vielmehr ausschließend vorgegangen, indem sie nach und nach das Subjektive bzw. Porträthafte aus ihrer Sicht verdrängten. Nach Diderot haben sie das Ideal gerade durch die Enrfernung von der sichtbaren Realität herausgeschält; ~[ ...]
par un long et penible raronnement, par une notion sourde, $«rhe, d'analogie acquise par une infinit~ d'observ:nions succssives, dont 101 memoire s'~{ei", et dont I'effet reste, 101 r~forme S'esl ~rendue [...] efh.~nt sans relkhe et ave.: une circons~tion ~lOnna",e les alteration el difformit6 de 101 Nature viciec:, ou dans son origine, ou par les necessites de sa condition, s'eloignant sans cesse du portrait, dc: Ja f:au.sse ligne, pour s'~lever au vrai mod~le ideal de la beaut~ ... n (Saum 1767, IV, 525)
Diderot verlangt also nicht weniger, als dass man sich in die Situation zurückversetze, kein Vorbild zu haben. Dies hat freilich zur Folge, dass jede Epoche sich von der vorigen lösen muss, um den Prozess der Generierung eines Ideals wieder aufs Neue zu unternehmen. Darin liegt jedoch keinen Widerspruch zu der Tatsache, dass es nur ein einziges Urbild geben kann. Denn das Urbild muss seiner Definition nach unsichtbar bleiben, so dass die erscheinenden Bilder, so sehr sie auch der Bemühung entspringen dem Ideal zu entsprechen, letztlich immer nur Porträts ihrer Epoche darstellen. Bei Diderot wird dieser Mangel der Kunst, nie an die Idee heranzureichen, zur eigentlichen Herausforderung für den Künstler: Er kann immer wieder neue Verfahren erfinden, sich dem intelligiblen Urbild zumindest graduell zu nähern. In Diderots Schriften über das Schöne finden wir diese Differenzierung insbesondere in den Begriffen des "beau absolu" und des "beau relatjf' formulien: Das absolur Schöne als überzeitliches und unveränderliches Ideal existien nur als Vorstellung und erscheint demnach nie. während die sichtba~ ce Schönheit sich als relativ zu einer Epoche manifestiert, so Die erscheinende Form trägt demnach unweigerlich den Stempel ihrer Entstehungszeit.
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Diese Unterscheidung in absolule und relative Schönheit harte Diderot vermutlich dem Essni lur k Btau (1741) des P~re Andr~ entlehnt (bei Andre: "beau essemiel- bzw...idee innec:" und ~beau natureI" bzw. "idee f:acrice"), dessen Platon~ und AuguSlinus-Re:u:ption ihn maßgeblich . .. lnspmc:rte.
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I. DIDEROTS KUNSTrHEORJE IM KONTEXT
Diderot plädiert nun dafür, diesen Porcrätcharakter des Kunsrschaffens nicht nur offenzulegen, sondern ihn auch gezielt zu verstärken: Es sei eine Kunst für sich, die relevantesten und prägnantesten Themen, Topoi und Typen der eigenen Zeit aufzuspüren. Gerade die Epochenbedingrheit unterscheidet diese neue Typen (z. B. bei Schriftstellern wie Richardson) von den klassischen Charakteren eines Moliere oder La BruyereY Diderot liegt nicht mehr daran, eine fest umrissene Typologie aufrechtzuerhalten, vielmehr stand die lebensweltliche Aktualisierung der Charaktere anhand realer Sitten- und Sozialstrukturen im Vordergrund. Daneben schätzte Diderot natürlich auch die "zeitlosen" Typen der antiken Mythologie oder der christlichen Legenden, die ihre Darstellungswürdigkeit zu keiner Zeit verlieren werden. Sie gelte es jedoch nicht entsprechend dem Formenkanon der Alten zu kopieren, sondern nach einem der Gegenwarc angemessenen Verfahren darzustel1en. Dieser Ansatz ermöglichte Diderot ein neues Verhältnis zur Geschichte: Der nunmehr relativierte Schönheitsbegriff erlaubte es ihm, sich auch gegenüber anderen Epochen offen zu zeigen - so zum Beispiel im Hinblick auf das Mittelalter. Lange vor Chateaubriand erkannte er bereits das ästhetische "genie du christianisrne".52 Indem jede Epoche den Werken ihren eigenen Stempel aufdrückt, kann nun auch die spezifisch moderne Kategorie des Neuen bzw. des Originals zu einem Kriterium der Kunst avancieren. 53 Die Geschichte hat als Lehrrneisterin ausgedient, der Künstler befindet sich immer wieder von neuern in der Situation, das "erste Bild" malen zu müssen. Als weitere Konsequenz dieser Haltung lässt sich bei Diderot eine deutliche Aufweichung der Gattungshierarchie feststellen. Er spricht sich zwar nach wie vor gegen die Vermischung der Genres aus 54 , hält aber die abstufende Rangfolge der einzelnen Gattungen nicht mehr für gerechtfertigt: ,,11 me semble que la division de la pcinmre en peimure de genre et pcimure d'histOire est senste, mais je voudrais qu'on eut un pc'u plus consuh~ la namre des choscs dans ce(~ te division. [... ] T~niers, Wouwerman, Greuu, Chardin, Loutherbourg, Vernet meOle som des pcintres de genre. Cepcndant je protcste que Le Plr~ qui d Jair !d krfurt a sa
" Siehe duu Pierre Mesnard: Lc cas de Diderot. ~tude de caract~rologie lincraire. Paris: Presses Universitaires de Francc, 1952. SI Siehe Seznccs Kapitel .. Lc g~nie du paganisme", ibid., S. 97-117. Sl Siehe dazu Roland Manier: L'originalitc - une nouvdle categorie esth~tique au siede des Lumihes. Genf: Droz, 1982. Sol Der Genremaler Jcan-Baptiste Greuzc hane sich z. B. um den Titel des Mpeintre d'histoire" beworben, um in der Hierarchie der Gartungen aunusleigen. Sein lkwerbungsstück L 'm!p~rrur SIWn r~prochr a Caracall4, Ion fils, d'afJOir fJOulu l'asliJJsin~r fiel jedoch bei den Kritikern, darumer auch Diderol, gnadenlos durch, so dass der Gedemütigte sich fortan aus dem Salon zurückzog. Gteuu hane zw:tr ein anlikes Thema bearbeitet. brachte es abet eher als bü.rgerli~
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I. 2. DAS NEUE BILD DER ALTEN
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ftmilk, Ir Fils illgraJ er u! Fian(ailk! de Greuzc [... 1sonr aur:mr pour moi des tableaux d'hismire que u! &pu Sacr~mmJs du Poussin, La Familk Darius de Lc Drun, ou la Su· Vln,,~ de Vanloo. [... 1 II fallair appeler pcinrres de genre les imitateufS de la nature brute
er morte; pcinrres d'histoire, les imitateurs de la nature sensible et vivante; et la querclle etait finie. n (Essais sur Ja pdntur~, IV. 506)
In ihrer Kunstwürdigkeit sind sich nun alle Gattungen gleich; selbst wenn sich die jeweiligen Objekte unterscheiden, so kennt Diderot keine leichteren bzw. schwierigeren Themen mehr. Den tief greifendsten Einschnitt, den Diderots Differenzierung eines zeitlosen "beau absolu" und eines zeitspeziflschen "beau reiatiP' nach sich zog, finden wir schließlich in der Abwertung des Rhetorischen. Das Kriterium des Neuen, das noch nicht als avantgardistisches "der Zeit voraus sein" verstanden wurde, sondern nur als ein "der Zeit entsprechen", musste letztlich zur Aufhebung der alten Gegensätze von "schön" und "hässlich" bzw. von "gekonnt" und "misslungen" führen: Wenn Künstler jeweils etwas Neues hervorbringen sollen, so können die Ergebnisse schwerlich schon vollendete Perfektion erlangen. Das Befolgen und Weiterverfeinern von rhetorischen Traditionen stellt daher keine angemessenen Vorgehensweise mehr dar. Um sich von den falschen Kunstkennern abzugrenzen, die vorgeben, sie könnten anhand von ausgeklügelten Konzepten und raffinierten Programmen nachweisen, was gute Kunst sei, führt Diderot den Topos des Primitiven ein. Da alle willentlichen BedeutungsauAadungen und Verschlüsselungen das Eingreifen des Autors verraten, folgen er, dass die passiv gewonnenen Formen immer etwas Einfaches, Unbehauenes und Primitives an sich haben müssen. Die sichtbare Natur erweist sich als unendlich komplex, das nur in der Vorstellung exisitierende Urbild hingegen als äußerst schlicht: ~Il y a un modele primitif qui "'est point en Nature, et qui n'est vaguement, confuse-
ment dans I'enrendement de l'artiste. 11 y a enne 1'2:tre de Nature le plus parfait et ce modele primirif et vague une latitude sur laquelle les artistcs se dispersem." (Salon 1767. IV,BI7)
In den PmSÜJ dltachüJ erklärt Diderot den naiven Blick daher zur Voraussetzung für jede Kunst, die sich um Wahrheit bemüht:
den Kritikern, darunler auch Dideror, gnadenlos durch, so dass der Gedemütigte sich fortan aus dem Salon zurückzog. Gccuzc hatte zwar ein antikes Thema bearbeitet, brachte es aber eher als bürgerliches Ruhrstück auf die Buhne, denn als die Tragödie eines Vatermordes. Er vermischte somit in unzulässiger Weise ein hohes und ein niedriges Gencc. was auch Diderot nicht gutheißen konnte. Siehe dazu Danic1 Arasse: L'echtt du CaracalJa. Greuzc et I'eriquetle du regard. In; DUUroJ tt Grrou. AcUJ du Col!oqur tU Ckrmonr·Ftrrand, hg. vom Ccnue de Rttherches Revolutionnnaires et Romantiques. Clermonr-Ferrand: Adosa, 1986, S. 107-
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1. DIDEROTS KUNSTfHEORIE IM KONTEXT ~ToU[
Clt qui est vl'2i n'esl pas naif, mais 10U[ u qui est nalf est vrai, maiJ d'unlt v~rit( piquantlt, originallt l:t rare. (...) Itt a10111~ naif SC:1'2 essc:ntid :lII1Ou(~ produaion des bc:aux. ans; (...) Iit naifsc:ra 10UI voisin du sublimIt; Iit naifsc: rl:trouvltl'2 dans IOUt u qui SC:1'2 trts bc:au; dans unlt anitudlt, dans un mouvltmltnl, dans unlt drapc:rilt, dans une apression. Cest la chose, mais la ch~ purlt, sam la moindrlt a1tmtion. L'art n'r est plus."
(1V,1051) Di~
abschlie&nde B~m~rkung, dass die Kunst dann nicht ~inmaJ m~hr nach Kunst ausseh~. zi~1t d~utlich g~gen di~ Strategi~n d~r allegorisch~n od~r rh~(Qrisch~n Raffiness~, d~n~n ~r - auch um des G~fühls will~n)5 - das G~ni~ des Primitiven entgegenhält. Der inspirierte Künstl~r, d~r auf dj~ Urbild~r hört, v~rli~rt nach Diderot notwendig~rweise di~ Kontroll~ über seine t~chnisch~ Meisterschaft, er folgt seinem Pinsel, ohne ber~chnen zu können, welchen Eff~kt er produzieren wird: "Cdui qui a le sc:ntiment vif dlt la coul~ur, a tes yltw: atlachb sur la loile; sa bouche esl Itnlrouvenc, il halhlt; sa pallttllt (St I'imaglt du chaos. Cest dans Clt chaos qu'il trompe: son pincou, Itt illtn lirlt I'cr:uvre de la crbtion. [...] L'aniSI~ qui prend de la couleur sur sa palette, ne sait pas toujoUI1 U qu'dle produil'2 sur son table2u. [... 1L'aniste ulonne, manie, remanie, lOurmeme sa couleur." (Essais sur Ja ~inlUr~, IV, 473 f.)
Das wahre G~nie legt es nach Diderot nicht darauf an, bestimmten Erwartungen gerecht zu werden, es muss diese um der Originalität wilJen auch zu enttäU5Ch~n wissen. Durch d~n neuen Hang zum Direkten und Ung~planten, zum Einfachen und Naiven läuft der Künsd~r aJl~rdjngs auch G~fahr verkannt zu werden. In dieser Abkehr von der Tradition erkennt Diderot bereits das historisch~ Prinzip d~r b~ginnend~n Mod~rn~: "Minerve, d'ag~ en age, jett~ sa Rute; er iI est roujours un Marsyas qui la ramasse. 11 premier de Ce nom fut ecarche." (Pm"" dirne),,,,, IV, 1015) Es ist das simple Blasrohr des Fauns, das den Künsder Großes schaffen lässt, und nicht die Kithara Apolls. die der Gon mir kunstvollen Griffr~chnik~n vor- und rückwärts zu spielen wusste. Für das Flötenspiel gibt es keine ausgef~i1ten Techniken, man kann nur g~rad~wegs in das Instrument hinein blas~n.
U
In den Ewlis sur 14 /"inlUu vermerkt DiderOI deutlich, dass rhelorische oder gar sophistische Ve.rfahren nichl gcc:ignet sind w:rnre Gcfiih1e hervorzurufen: ..Mais que siginifiem 10W ces principcs, si le goUt esl une ch~ decapricc, Cl s'il n'r a aueune rq;Ie eterndle, immuable, du beau? I...) d'OU viennent done ces ~mocions d8ieicu· ses qui s'e1hltnt si subitemem, si involomairltmem, si mmultcusemem, au fond de nos irnes, qui les dilatent ou qui les sc:rrcnt, Cl qui forccnt de nos yau.: les pleurs de la joie, de la douleur, de l'admil'2tion, seit :lIIl'aspcct de qudque grand ph61om~ne physique, seit au f(cit de quclque grand trait mora.l? Apagc Sophista: tu ne pc:rsuaderas jamais :lII mon caur qu'il a Ion de fttmir, :lII mes enrrailles, qu'dies om Ion de s'~mouvoir.~ (IV, 513)
1. 2. DAS NEUE BilD DER ALTEN
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Während dir: ahr: Paragonr:-Tradition dir: tr:chnischr:n Höchstlr:istungr:n der r:inzelnr:n Künstr: untr:rr:inandr:r wetceifern ließ, verlässt der moderne Künstler nun das Reich der akademischen Regeln. Mit diesen Überlegungen haben wir nun vor allem die neue Rolle des Aurors beschrieben. Auf der Suche nach dem primitiven Urbild muss er sich an Beschreibungs- bzw. Abbildungsverfahren halten, die seinen subjektiven EinAuss weitestgehend zurückdrängen. Er zieht sich hinter das Verfahren zurück und verhäh sich damit wie eine neutrale Beobachtungsvorrichtung - der Vergleich mit der Kamera liegt auf der Hand. Selbst wenn Diderot sich im Zeitalter der Aufklärung nicht mehr auf die Konstruktion einer göttlichen Inspiration einlassen konnte und wollte, sind die Parallelen zu Platons Kritik an der Nachahmung in seinem Paradox über den Autor deutlich. Das Fotografische, dem wir uns nun langsam annähern, definiert sich aber auch über Kriterien. die dem Bild als solchem eigen sind - Merkmale also, die wir insbesondere im Vergleich zu anderen Medien, z. B. Texten, beschreiben können.
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1. DIDEROTS KUNSTIHEORJE IM KONTEXT
I. 3. Diderot zwischen Wort und Bild Einer der wohl grundlegendsten Umerschiede zwischen einem gemalten und einem fotografienen Bild liegt in der an die Emstehungsart gekoppelten Zeitlichkeit des Bildes. Die Fotografie hält je nach Belichtungszeit nur einen kurzen Augenblick des Geschehens fest, wir sprechen daher von einer Momentaufnahme. Ein Gemälde hingegen wird langsam angefertigt, es kann somit auch andere Konzeptionen von Zeit beinhalten. Für unseren heutigen Blick ist es beispielsweise selbstverständlich, dass eine Person in ein und demselben Bild nicht mehrmals abgebildet ist, auch Gemälde soUen Dinge, die nacheinander passieren, nicht nebeneinander bzw. gleichzeitig darstellen. Wie die Kunstgeschichte zeigt, war dem nicht immer so. Der eigentliche Srrukturwandel zur uitlichkeit der Momentaufnahme, so meine These, erfolgte erst im 18. Jahrhunden im Zuge der Ausdifferenzierung von BiJd und Text. Zuvor bildete die rhetorische Tradition des "Ur pictura poesis" eine unter den einzelnen Medien verminelnde Klammer. Zwischen Texten und Bildern sollte in Bezug auf ihre Narrationstechniken kein prinzipieller Unterschied gemacht werden. Erst Diderot und Lessing unternahmen es, die beiden Medien hinsichtlich ihrer spezifischen Leistung zu untersuchen und einen entsprechenden Einsatz. in der Kunst zu fordern. Betrachten wir wnächst diesen Wandel des Bild-Text-Verhälmisses um anschJießend zu fragen, wie Diderot auf dieser Basis eine erste Theorie über die Eigengesenlichkeit der Medien formuliene.
Wenn die Malerei doch nicht wäre wie die Poesie... Seit der Antike hane sich um die Formel des .. Ut pictura poesis" eine reiche Tradition an T rakraten und Lehrgedichten entfaltet, die nicht wechselhafter härte sein können. u In seiner ursprünglichen Form geht der Leitspruch auf Simonides zurück, der die Malerei als stumme Poesie und die Poesie als sprechende Malerei, das heißt als einander gleichwertig und umereinander austauschbar definien hane. Überliefen ist die Formel aber vor allem durch Horn: Seiner Auslegung nach soUte das Bild Modellcharakrer für die Poesie besitzen. Die Interpretation seit der Frühen euuit, die auch in der französischen Klassik des 17. Jahrhunderts ihre Gültigkeit behielt, kehrte die Interpretation aufgnmd einer falschen übersenung jedoch um: Die Malerei habe sich die Poesie wm Vorbild w nehmen. )6
Si~he dazu R~nssclaer W.
York; Nonon, 1967.
Lee: UI pi~lUra poesis: Th~ Hum:mis[ic Theory of Painling. New
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I. 3.
DIOEROT ZWISCHEN WORT UNO
BilD
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Die Nobilitierung der Malerei wurde letztlich mit einer bilderfeindlichen Definidon erkauft: Erst wenn sie dasselbe zu leinen vermag wie ein Text, gehöre sie in den Kreis der hohen Künste, erst durch die Verbindung von Bild und Text entstehe das wahrhaft Geistreiche. $0 prägte zum Beispiel der Jesuit Louis Richeome die richtungsweisende Formel: .. La peinture muette sera pour vos yeux; le narre, pour vos oreilles et I'exposition de ('un et de ('autre servira a vos esprit."51 Die geistige Idee als Produkt des Intellekts galt als der malerischen Ausführung überlegen. Bilder und Texte sollten gleichermaßen das Übersenen dieser Gedanken in die Anschauung leisten, so dass zwischen den beiden Medien auch kein prinzipieller Unterschied bestand. Erst mit der Wende zur Wirkungsästhetik nahm man im frühen 18. Jahrhundert von dieser Auslegung Abstand. "Ut pictura rneatrum" mag die unausgesprochene Formel von Du Bos geheißen haben: Unter dem Primat der Rührung glaubte man nun an die Wirkkraft der bildlichen Darstellung, die dem reinen Text überlegen schien. Letztlich suchte man durch die Verbindung der verschiedensten Medien im Gesamtkunstwerk den Effekt aller zu nunen und zu steigern. Die Anschaulichkeit schauspielerischer Performanz - z. B. im ..tableau vivant", einer zum Bild geronnenen Theatersune - trin an Stelle einer abstrakten Kunst des Verweisens. Du Bos gab der Malerei dabei explizit den Vorrang vor der Poesie. 58 Der Wettkampf der Medien war damit jedoch nicht beendet, im Sinne der alten Paragone-Tradition diskutierte man auch weiterhin über die Vor- und Nachteile der einzelnen Medien, nicht aber über ihre tatsächliche Verschiedenheit. Mit der Wende zum Klassizismus wurde im Gegenzug erneut die Forderung laut, die Historienmaler mögen die antiken Texte möglichst buchsrabengetreu umsetzen, womit man auch das Kriterium der narrativen Vollständigkeit verband: $0 empfahl der Comte de Caylus den Künstlern nach den jeweiligen Höhepunkten einer Geschichte zu suchen und diese in einer einzigen Abbildung zusammenzufassen. 59 Im Gegensatz zur Momentaufnahme soll der Künstler
~7 Louis Richtomc; T ableaux S2cres d~ figures mystiqu~ du [ra augUSte sacr~mcnt CI sacrifice
de l'Eucharistie. (1601) Hier zitim nach Louis Marin: Sublime Pomsin. Paris: Seuil. 1995. )I
S. 16. So Du 80S;
nEn conrinuam de comparer la poesie dr:tmatique ave<: la peinrure, nous uouvons encore quc la peimure a I'avantage de pouvoir meme sous nos yeux ceux des incidenl$ de l'aClion qu'dle tralle qui SOnt les plus propres ~ faire une gr:tnde impression sur nous. Elle peut nous faire Brutus et Cassius plongeam le poignard dans le coeur de C6ar, et le pr~[[e enfon~nt le couteau clans le sein d'lphigenie." ibid., S. 105. s, Siehe Comte de Caylus: Tabkaux lira tU nl/iatU ~I tU I'Odplt d'Homm n tk l'En!itk tU Virgik (1757). Zu weileren Umsenungs-Vorschlägen von antiken Texten bei La Font de Saint Yenne, Bernanrd Upi~. Michd-Fran~ois Dandr~-Bardon u. a. siehe Peter Johann~
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1, DIDEROTS KUNm'HEORlE IM KONTEXT
in einer einzigen Darsrellung die ganze Geschichre enählen, indem er zum Beispiel aUe relevamen Artribure, Gesten und Hinweise in diesem Ausschnin unterbringe. Lessing kritisierte diese Auffassung in seinem Laokoon (I766) und srellte dieser Sammlung von Momemen das Konzept des "fruchrbaren Augenblicks" gegenüber: Der Künstler habe den "prägnamesten Augenblick zu wählen, aus welchem das Vorhergehende und Folgende am begreiHichsten wird"60, An die· ser Formulierung wird bereits deudich, dass für Lessing trotz allem noch die Erzählung im Vordergrund stand, Wenn er sich gegen die "Schilderungssucht" und "AJlegoristerei" aussprach, dann nur weil ihm anschaulichere Darstellungsformen die Narration zu erleichrern schienen, Seine Semiorik suchte letzdich, wie er es selbsr formulierte, nach einem möglichst "bequemen Yerhälrnis zum Bezeichneten",61 Die Malerei wird erneur als Mine! zum Zweck aufgefasst, vom Primat des Textes wollte auch Lessing nichr ablassen,62 Diderot, der Lessings Laokoon nichr kannte, formulierte in der Lagrenee·Besprechung im Salon von 1767 eine weit radikalere Absage an den "Ut picrura poesis"-T OpOS,6J In aller Deudichkeit widerspricht er dem Comte de Caylus und allen, die es für ein legirimes Verfahren der Themengewinnung halren, die Dichtung der AJren rexrgerreu in Bilder umzusetzen: ~Ce sont des demandes ou folles ou ridicules ou incompatibles avec la beau re du tech-
nique, Cda sc=rail passable, ecrit, detestable, peint. EI c'est que mes confretes ne sentellt
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62
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Schnttmann: Geschichte als Vorbild. Die Modelle der französischen HiSlOrienmaJerei 17471789. Berlin: Akademie Verlag. 1994. Insbesondere S. 35 ff. Gonhold Ephraim Lcssing: laokoon oder über die Grenun der Malerei und Poesie. (1766) SlUllgan: Reclam, 1998, S. 115. ibid., S. 114. Siehe daw Karlheinz Stierle: D:tS bequeme Verhältnis. Lt:ssings Laokoon und die Entdeckung des ästhetischen Mediums. In: Das Lnoltoon·Proj~ltt, hg. von Gunter Gebauer. Srungan: Menler, 1984, S. 23-58. So schreibl Vwe Steiner über Lcssings Poesie-Begriff: "Dichtung verfügt nicht bloß über die Auszeichnung der 'Geistigkeit ihrer Bilder' [... 1. Mehr noch: sie vermag Dinge zu schildern, die der bildenden KunSI versagt bleiben: unmalerische, gar hässliche SujetS {wie der im Schmerz aufgerisscne Mund des laokoon} sind dieser verboten. Zu gmer um wird sogar der scheinbar einzige Vorz.ug der Malerei, die Verfügung über n:uürliche Zeichen, .auf das Komo der Poesie umgebuchr: einer Teleologie der Transparenz folgend, verwandelt sie ihr anfangs arbitrires Material in sckundär n.atüriiche. d. h. dem Bezeichneren ähnliche Zeichen." Uwe C. Steiner: Artikel nLessing". In: ÄJth~tiJr und Kunsfphilosophi~ von d~r Antiltt bis zur Gq,mwan, hg. von Julian Nida.Rümelin und Monika Benler. Stungan: Kröner, 1998, S, 489·494. Hier S. 491. Siehe dazu Hubertus Kohle: VI pietura pocsis non erit - Denis DiderotS Kunslbcgriff. Hildesheim u. a,: Olms, 1989.
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I. 3.
DIDEROT ZWISCHEN WORT UND Ba.D
pas. IIs om dans la [h~ 'Ur picruta poesis ~ril'; ~t ils plus vrai qu' 'ur picrura poesis non ~rjt,.n (IV, 573)
n~
se
doul~m
49 pas qu'il est encore:
Die Passage lässt sich leicht missverstehen als gänzliche Verneinung eines Bezugs von Bild und Text. Daran war Diderot jedoch nicht gelegen, er rühmt sich gleich im nächsten Abschnitt, der einzige Literat zu sein, der Bilder so zu emwerfen und zu beschreiben vermag, dass der Künstler sie direkt umsenen könne, er d'autres m'onl assure, ~t les aniS(es n~ flane:nr poimles liuera[~urs, qu~ j'erais presqu~ l~ seul d'~ntr~ a:ux
Lagr~ntt, Gr~uu:
Er untersagt also keineswegs, dass sich Bilder an Texten oriemieren, im GegenteiJ, auch Diderot empfahl schließlich die Lektüre der Alten. Allerdings nur im obigen Sinne: Die Literatur vermag dem Künstler zu helfen, sich das unsichtbare Bild bzw. den archetypischen Moment klarer vorzustellen. Damit sei jedoch, wie Didecot in den Pemlts dltachlts vermerkt, noch kein Pinsdstrich getan. nQudqu~ vrai qu~
soil Horntre dans un~ d~ ses descriptions, qudqu~ circonS(ancie qu~ soil Ovid~ dans un~ d~ ses Mcramorphoses, ni I'un ni I'autte: ne fournil a I'aniste un seul coup de: pinceau, un~ scule: lint~, mEm~ lorsqu'il sp&ifi~ la coul~ur. [...] U poh~ command~ au peintr~, mais I'ordr~ qu'il donn~ n~ peut cue Ol:ecute qu~ par 1'000pCri~na:, l'clude: d~ longues annees ~I I~ geni~. u poCr~ a dir: 'Quos ego! Sed moros praesla[ comn pon~re: flucrw'6oi j ~r voila son labl~au fair. Resr~ 11. fair~ a:lui d~ Rubens. (IV, 1057 f.)
Diderots Feststellung war für die damalige Zeit revolutionär, selbst wenn sie nur einen für uns selbstverständlichen Zusammenhang analysiert: Ein Text beschreibt einen Vorgang oder eine Handlung grundsärz.lich anders als ein Bild, weil er eine andere Art von Information enthält. Literarische Vorlagen führen niemals all jene Einzelheiten auf, die man benötigt, um ein Bild zu malen. Gleichzeitig ist das Bild hinsichtlich seiner Zeitlichkeit begrenzt, da es keine fonlaufende Beschreibung leisten kann. Wie kam nun Didecot zu der spezifischen Bildzeit der Momentaufnahme?
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Si~h~ V~rgil; A~n~is, 1. Gesang, 135. Neplun bedrohr di~ Wind~ nHa, ~uch soll! Aber bessc=r,
ich z.ähm~ das Toben d~r W~Il~n. Did~rol hane: dj~ Szen~ lang~ für nichl darst~llbar gehalr~n, es sähe: allzu läche:r1ich aus, ~inen N~ptun zu zeig~n, de:r scin~n Kopf aus d~m Wasser slteckl um d~n Wind~n zu droh~n. EU[ späl ~nrde:c.kl~ Did~rol in d~r Drcsdn~r Ge:mäldegal~ri~ Rubens' Umse:nung. Ein~n solch~n Mom~m fesnuhalr~n gelingt scin~r Meinung nach nur de:m G~nj~ um~r w~itestgeh~nd~r AbsrraJnion vom Texr. 6
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1. DIDEROTS KUNSTTHEORIE IM KONTEXT
Die Zeitlichkeit des Augenblicks Fa.ss~n
wir z.unächst die Problematik der älteren Zcitauffassung kun z.usammen. Das folgende Beispiel mag uns deutlich machen, warum die Momemaufnahme bis in das 18. Jahrhundert hinein noch nicht als sinnvoll anerkanm werden konnte:. Der Künstler befand sich grundsätzlich in dem folgenden Dilemma: Er war einerseits an die aristotelische I1hre über die Einheit von
Handlung. On und Zeit gebunden. um seine Darstellung als glaubhaft und wahrscheinlich erscheinen zu lassen. Andererseits zwingt ihn das Medium der Malerei, die jeweiligen Handlungsabläufe in einem einzigen, momenthanen Bildausschnirt untenubringen. Der Maler beweist daher sein Können, indem er den gewählten Ausschnitt entsprechend anzureichern weiß: Er kann zum Beispiel über das Dekorum nicht nur zur Erkennbarkeit des Themas beitragen, sondern über die verschiedensten Details, Attribute, Blicke, Gesten etc. die ent· sprechende Vor- und Nachgeschichte in den gezeigten Ausschnirt einbinden, so dass die zeitlichen Grenzen des Mediums gedehnt werden, der Augenblick wird gestreckt und verlängert. Das Prinzip der Peripetie, das nach AristoteIes den .Umschlag der Handlung in ihr Gegenreil [...] mit Wahrscheinlichkeir und Norwendigkeit"'S bezeichnet. wurde in der Malerei so aufgefasst. dass man die wichtigsten Höhepunkte der Geschichte in einem Bild vollSCändig erfassen sollte - allerdings, ohne damit das gleichzeitig Mögliche in Frage zu stellen." Der Künstler versuchte also, sehr viel mehr an relevanter Information untenubringen als in einer realen Szene je gegeben wäre. Der unerreichbare Wunsch, die literarische Vorlage vol1ständig zu übersetzen. leitete lange Zeit das Bildverständnis. Wie sehr die Seh· und Lesegewohnheiten der älteren Tradition dabei die Momentaufnahme im fotografischen Sinne ausschlossen, macht die Auseinandersetzung von Philippe de Champaigne und Charles Le Bmn während der Akademiekonferenz vom 7. Januar 1668 deutlich. Man stritt über Nicolas Poussins ElibLr ~l Rlb~cca von 1648 (Abb. 3).'7 Die dargestellte Passage des Alten Testaments enählt, wie der Knecht Elieser, der von Abraham ausgesandt ., Si~h~ AriSlOtdes: Poetik, 1452 a-b. " Si~h~ dazu Jacques ThuiUi~r. T~mps et: tableau: La thiori~ des 'pt:ripCties' dans Ia pt:inturt fran~ise du XVlI~ sikk In: Stil lind Obtr/iifmml in tkr KIlNt dn AbmJL,ndn. hg. von H~rbcn von Ein~. (Akten des 21. Internationalen Kongresses füt KUßscgeschichtt Bd. ) Ikrlin: Mann. 1967, S. 191 -206. Q Di~ Mitglieder d~r königlichen Akad~mi~ der Schön~n Künst~ vers:ammdttn sich .seit 1667 jeden Ittzr~n Samstag des Monau, um Votttige zu ttmralw F~n du MaI~r~i anzuhör~n. Besproch~n wurd~n di~ M~ist~lWCrk~ d~r königlich~n Sammlung, dic eincr d~r Akad~mic· Proressor~n im Turnus vontdh~. Andre Hübj~n prO(okollitn~ di~ j~ciligcn Red~n. Für
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I. 3. OIDEROT ZWISCHEN WORT UND BILD
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Abb. 3. Nicolm P,,,min: E/ilzn d Rlb«cll. /648. / /8 x /97 mJ. Pilris. Mus« du LAuvrr .
war, um Isaak eine Braut zu finden, zu Gon betete, die Geeignete möge sich ihm dadurch zu erkennen geben, dass sie am Brunnen vor der Stadt, wo die Frauen zum Wasserschöpfen kommen, nicht nur ihm, sondern auch seinen Kamelen Wasser anbietet. Seine Bine wurde erhört, Rebekka kam zu dem Brunnen und antwortete auf seine Frage nach Wasser: ..Trinke! Auch deine Kamele will ich tränken. "'I Elieser beschenkte sie daraufhin mit Goldschmuck, wurde in das Haus ihres Vaters eingeladen und konnte don die Verhandlung
über die Ehe abschließen. Den Höhepunkt der Geschichte bildet das Angebot Rebekkas, auch den Kamelen Wasser zu geben. Die Tiere und der Brunnen sind somit wesentliche Bestandteile der Geschichte. Nun lag Champaigne aber das Gemälde Poussins vor, auf dem eben jene Kamele fehlen. Er bemängelte daher, Poussin sei der Heiligen Schrift nicht treu gefolgt, was einem Vergehen an der Wahrheit gleichkäme. Als Grund für die Auslassung vermutete Champaigne, Poussin habe wohl nur angenehme Gegenstände wiedergeben wollen. Er fügte aber sogleich an, diese Ausrede sei "frivol", denn die Hässlichkeit der Kamele häne den Glanz (,,~clat") der schönen Figuren doch steigern können. Seine
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Anschuldigung entflammte ein lebhaftes Wongefec.ht mit Lc Brun: Auf die Kritik an ~inem grolkn Vorbild Poussin konterte er, niemand könne annehmen. Poussin habe: die Bibel nicht genau gel~n. Lc Seun vermutete vielmehr, Poussin habe aus ästhedschen Gründen nicht alle im T 0"[ crwähncen Elemente abbilden können. Es sei unmöglich. die erwähnte Anzahl von zehn Kamelen catsächlich danwtcUen, er habe sich daher auf die sinnvollen Motive und Details beschränkt, um den Ikuachter nicht unnötig abzulenken. Mit Rücksicht auf seine Theorie der Modi69 , habe er zudem vorgaogen, alles wegzulassen. was unschön, banal und obc:rßächlich gewirkt härte. Seide, Champaigne und Lc Brun, vermuteten letztlich ästhetische Erwägungen für Poussins Entscheidung. der eine befUrwonete sie und der andere nicht. Der heutige Betrachter würde wohl kaum mehr mit dieser Haltung an das Bild herantreten. Vergleicht man die Version ohne Kamele mit den anderen Darstellungen dieses Themas, die Poussin 1629 und 1664 jeweils mit den Kamelen malte70, so versteht man rasch, dass Poussin in der Version von 1648 schlichrweg einen anderen Moment der Geschichte dargestellt hat. 71 In dieser Szene spricht Eliescr bereits zu Rebekka, er hat den Goldschmuck in der Hand und scheint ihr das Heiratsangebot zu unterbreiten, denn sie anewortet mit erstaunter Geste als wolle sie fragen ..Warum gerade ich?". Ihr Angebot, die Tiere ebenfalls zu versorgen. sowie Eliescrs Akt des T rinkens waren zu diesem Zeitpunkt btreits vergangen und SO sind die Kamele für diesen Handlungsabschnirt tatsächlich nicht mehr von Belang. Poussin hat in seiner extremen Detailtreue bereits fotografischer gedacht als im 17. Jahrhundert zulässig - zumindest wenn man das gänzliche Unverständnis der Rezipienten betrachtet. Erwollte die Kamele offenbar aus dem Bildausschnin verbannen, um die Aufmerksamkeit auf die Interaktion zwischen den bei den Hauptdarstellern zu lenken. Er bevorzugte daher eine Großaufnahme, die die Tiere in einen nun nicht mehr sichtbaren Randbereich drängte bzw. sie aus dem Bild fallen ließ. Die selektive Senung von Ausschninen als Merkmal für eine temporale Fragmentarisierung machte im System der klassizistischen BiIdrhetorik noch keinen Sinn. Der Rezipient war gewohnt, Bilder als summierende Zusammenfassung einer Geschichte zu lesen und nicht als Momentaufnahme. Während " Zu Poussins Throri~ d~r Modi als ~in~ d~n Iktracht~r affi2.i~r~nd~ rhClorisch~ Technik si~h~ Kin Briefan Chant~lou vom 24. Nov~mber 1647. Nicolas Poussin: Lettres Cl propos sur I'an, hg. von Anthony Blum. Paris: H~rmann. 1964. 5.184 f. ,. Es liegc'n insgesamt drei Versionen mit Kunden vor: Nicolas Poussin: EJiIur n R~b~'Ull. 1661-64. 96.5 x 138 cm. Ca.mbridg~. Firzwilliam Museum; Nicolas Poussin: Elilur n RrlNwI. 1629,93 x 117 cm. Privatsammlung; noch bekanm; o. 0., 59 x 72 cm. l...t: Ma.ns. Mwtt dc Tes..st. Si~hc: dnu [hniel Arassc:: l...t: dWtil. Pour und histoirc: rapproch« dc: la primur~. (1992) Paris, Flammarion: 1996,5.53-59.
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einer Konferenz im Jahr 1767 hane Lc Brun bei der Besprechung von Poussins Ln Manne (I639) bereits be[Om. dass der Maler den Mangel seines Mediums, nur Augenblicke darstellen zu können, durch das Einbringen weiterer Informationen kompensieren müsse: "Mais 1(: P(:intr(: n'ayam qu'un instant dans lequd i1 doit pr(:ndr(: la chosc= qu'il v(:ut 6gur(:r, pour r(:pres(:nt(:r c(: qui s'est passt dans tt mom(:mla.11 est qudqu(: fois necasair(: qu'i1 joign(: (:ns(:mbl(: boucoup d'incid(:nts qui ayant prCddc, a6n de fair(: compr(:ndr(: 1(: suj(:[ qu'il exposc=, sam quoi ttux qui verr:.U(:n[ son ouvrag(: n(: soiem pas mi(:ux instruits, qu(: si c(:[ Hisrorien au li(:u d(: raconler touII(: suj(:t d(: son histoir(: sc: contentait d'(:n dire sc:ul(:m(:nt la 6n."7J
Auch Poussin selbst hatte sich nach der Fertigstellung seiner Mannalese gerühmt, er habe die gesamte Handlung in nur einem Bild begreiHich machen können. womit er die vollständige Kompatibilität von Bild und Text gezeigt habe. ohne das Moment der Wahrscheinlichkeit zu verletzen. Er forderte seinen Sammler Chantelou daher auf "Lisez 1e tableau".7J Lesen und Sehen lagen in der älteren Kunstrezeption also noch nicht als ausdifferenzierte Wahrnehmungsprozesse vor. Wenn sich die Kunst des Barock mit dem Problem der Momentaufnahme auseinandersetzte, so nur hinsichtlich ihres Scheiterns. Nur das Nichtfesthaltenkönnen bestimmter Momente. Metamorphosen oder Wunder bildete damals einen wichtigen Topos. Der Künstler zeigt - gewissermaßen als Metamalerei über die Konditionen seines Mediums -, dass er den flüchtigen Augenblick ebensowenig fixieren kann, wie Apoll seiner Daphne oder Pan der Syrinx habhaft werden kann. Der eigendiche Kippmomenr verweigert sich der Darstellung im Bild und stößt an die Grenzen der Malerei. Man mag nun argumentieren, dass in anderen Gattungen wie der Genreszene oder der Landschaftsmalerei durchaus spezifische Momente festgehalten wurden (z. B. bestimmte Tätigkeiten oder Tageszeiten). Besonders den Niederländern des 17. Jahrhunderts schreibt man in diesen beiden Genres zu Recht eine quasi-fotografische Qualität zu. Wie Svetlana Alpers in The Art 0/ Descri11 Si(:he "Conftr(:nc(: sur les Isratlitn rtuuill4nt 14 mamlt dam k dtlm de Nicolas Poussin" (Ge
Confcrenc(: de l'Acadcmie royal(: de lXinrur(: pendant I'anntt 1667). Hi(:r 7.iri(:t[ nach Marin, ibid., S. 18. n Si(:h(: Poussins Brief vom 28. April 1639 in: Nicolas Poussin, ibid., S. 36. W(:iterführend si(:h(: Louis Marins Kapird "Lir(: un tabl(:au (:n 1639 d'apres un(: le((r(: d(: Poussin" in Marin. ibid.• S. 11-34. Sowi(: die Rezeptionsgeschichte über die Zeitlichkeit dieses Cemäld(:S zusamm(:nfassend Francis H. Dowlc=y: Tboughts on Poussin, Tim(:, and Narrative: Tbe Israeliu garhering Manna in rh(: D(:S(:rt. In: Simiolus (Nuhn-lands qU4ntrly for th~ hislOry ofan) No. 4, Bd. 25,1997, S. 329·348. Siehe allg(:m(:in(:r Martina Doblx:: Qu(:rdl(: des Anciens, des Mod(:tn(:S (:t des Postmod(:rnes. Münch(:n: Fink, 1999. Inslxsond(:re S. 124.172.
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hing (1983) nachgewiesen hat, entwickelten die Holländer erstmals - wie auch in unserem Fall im Zusammenspiel mit den neuesten wissenschaftlichen Theorien über das Sehen sowie entSprechenden Apparaten wie dem Mikroskop. der Camera obscura, dem Fernrohr ete. - einen rein beschreibenden Modus der Darstellung. der sich von den älteren erzählenden bzw. allegorischen Prinzipien deutlich absetztJ4 Es darf als Bestätigung von Alpers' These gelten. dass gerade diese Art der bedeutungsarmen. schlichten Malerei in Frankreich seit Beginn des 18. Jahrhunderts bei Künsdern und Käufern außerordenclich "eo vogue" war. Unrer den zahllosen Nachahmern der neuen Beobachtungskunst befand sich nich, zufallig auch der junge Chardin (s. u., 2. 1.). Jedoch wird sich diese Strategie im 18. Jahrhundert auch weiterenrwickeln und gerade hinsichtlich der Zeitlichkeit von Bildern nun erst im suengeren Sinne fotografisch werden. Die gewählten Bildausschnitte der Niederländer erweisen sich häufig noch als von dem Prinzip des Sammc:lns geprägt; Die weirwinkligen Aufnahmen von Landschaften oder Interieurs entstanden oft als Zusammenführung mehrerer Camera-obscura-Ausschnitte. So schreibt Mariet Westermann zu Jan Vermeers Amicht von Deifi (1661): "Moderne BeIrachier haben Vermeers Gemälde vor allem wegen der präzisen Wiedergabe der Häuser, des Lichtes und der Atmosphäre bewundert. Dennoch hai der Künstler nichl einen bestimnllen Augenblick oder einen singulären Blickwinkel wiedergegeben: Er hat die Gebäude und ihre Spiegelungen im Wasser so veriinden, dass ein harmonischer Gesamteindruck von DeUt entstehl."7)
So wie sie zu Paulus Potters Jungen Bulkn (1647) festhält: "Pouer konfrontierl den Belfachter mit einem lebensgroßen, in allen Delails äußersr nalurgeueu wiedergegebenen Stier und scheint auf den ersten Blick damit das POrlräl eines individuellen Tieres gcsc:haffen zu haben; moderne anatomische Analysen zeiglen jedoch, dass es sich bei dem Stier um eine Synthese: von Detailstudien mehrerer Tiere unterschiedlichen Alters handdt."76
Aus einer Vielzahl ineinander verschachtelter Rahmen wurden zwar sichtbare Ansichten, aber eben keine tatsächlich gesehenen Bilder konstruiert. Nicht von ungefähr hat man daher das Gefühl, eher einer zeitlosen Ansicht als einer Süchtigen Situation beizuwohnen. Zusammenfassend für das Problem der Bildzeit sei Christine Buci-Glucks-
74 Siehe Svedana Alpers: The Art of Dcsc:ribing. DUlch Art in the Sevenl~mh Cenrury. Chicago: Universiry oE Chicago Press, 1983. 1) Mariet Westermann: Von Rembrandl zu Vermeer. Niederländische Kunsl des 17. Jahrhunderts. Köln: Dumani, 1996, S. 8. 16 ibid., S. 108 (
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manns Studie zur visuellen Kultur des Barock erwähnt: In La joHt du voir. Dt I'tsthüiqut baroque (1986) hält sie fest, dass sich die Momentaufnahme als gesehener Wahrnehmungsausschnitt für die geforderte rhetorische Außadung schlichtweg nicht eignete. Die Kritik am Sehen wurde zu dieser Zeit noch aus einem rhetorischen und nicht aus einem platOnischen Zweifel am Bild formuliert: ~En cda, la philosophie du coup d'lXiI et de.ses inuamanees visuds (...1 ne se suffit ja-
mais. Lc Voir se fair Regard, au sens erymologique du tetme, prendre sous garde... L'acte du rcgard ne s'epuise pas sur place: il comporte un elan perseverant, une reprise obstinee (...]. Par cette energetique scopique, le Voir esr une operation, un aete ou s'engendrenl la mulriplicite des points de vue, le partage du visible, I'invention d'une esth6:ique dans une rh6:orique qui en mettera en scene el en conn61era les effets pour mieux convaincre et seduire. Rherorique glorieuse et noire en meme temps, OU la forme alternarivement en manque ou en exc6i, de toute facron promise a une variation infinie. ne renvoie plus a un Eidos, une dial&:tique ct un savoir de type plaronicien. Le baroque est un antiplatonisme. ~n
Die frühesten Plädoyers für die Erneuerung des Zeitbegriffs in der Malerei fallen erst in das 18. Jahrhundert. Der Wandel wurde wiederum eingeleitet durch das wirkungsästhetische Leitbild des Theaters: Mit der Forderung nach einer natürlichen, das heißt allegorie- und attributfreien Gestik und Mimik entfallen auch in der Malerei die herkömmlichen Methoden der Narration bzw. der Dehnung des Augenblicks im obigen Sinne. Die Einheit von Handlung, Ort und Zeit verschärft sich deutlich. Im Interesse von Authentizität und Lebensnähe musste sich letztlich die Momentaufnahme als neues Zeitkonzept durchsetzen. Auch Diderot reagierte in diesem Sinne, zwar hielt er Poussin nach wie vor für einen großen Maler, aber seine Verstöße gegen den Augenblickscharakter des Bildes wollte er nicht mehr tolerieren: ..Le Poussin a monne dans un meme tableau, sur le dev2nt, Jupiter secluit par Callisto, el dans le fond, la nymphe seduite, trainee par Junon. C'est une faUle indigne d'un anisle aussi sage. Le peinne n'a qu'un instant, et iI ne lui est pas plus permis d'cmbrasserdeux inslams que deux aetions. 11 y a seulement qudques circonstances ou il n'est ni conne la verite ni conne I'interet de rappelet I'instam qui n'est plus ou d'annoncer I'instant qui va suivre. (... J Chaque action a phuieurs insrantSi mais je I'ai dir et je le rephe, I'anisle n'en a qu'un dont la durtt esl cdle d'un COUp d'lXil ... (&sni surIß P~intur~. IV. 496 ff.)
Eine andere Zeitlichkeit wäre mit Diderots Theorie über den passiven Autor auch nicht vereinbar. Durch zeitliche Vor~ und Rückgriffe würde der Künstler
n ChriSline Buci-Glucksmann: La folie du voir. De I'esthetique baroque. Paris: Galilee, 1986.
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1.01DEROTS KUNSlTHEORlE IM KOf'(ffXT
seine Funkdon als neutraler Aufnahmeapparat aufge~n und sich wieder als eingreifender Smuege ~merkbar machen. Betrachten wir die Konsequenu:n von DiderotS neuem Zeirkonu:pt an einem Beispiel: Eine Figur, die den Kritiker stark beschäftigte war Medea.lI Angesichts der Darstellung von Med.eas Tat hou vor allem der Maler eine grundlegende EntsCheidung l.U treffen: Der Dichrer kann beschreiben, dass und wie Medea ihre Kinder umbringt, der Maler hingegen sollte das "Wie" nicht in aller Deutlichkeit vorführen, direkt vor unsc:ren Augen wäre der T athergang allzu abscheulich. Schon Horaz verlangte in seiner An potrica. dass Medea ihre }Gnder nicht vor dem Publikum töten dürfe, eine Regel an die auch Diderot sich hielt. 79 Der erSte Hofmaler des Königs, Carle Vanloo, hatte im Salon von 1759 eine Darstellung der Medea ausgestellt. Seine Mademoistlle CIßiron tn Mtdü enthält zudem das Porerät einer damals berühmten Schauspielerin (Abb. 4). Medea wird als eine Art Zauberin in kriegerischer Pose dargestellt, triumphierend über das Ergebnis ihrer Tat blickt sie nach weiterer Rache dürstend zu Jason hinab. Diese Drohgebärde findet Diderot so überflüssig wie das gesamte Spektakel: "L'imbecile Uasan) tire son ~pCe contre une magicienne qui s'envole dans les airs, qui est hors de sa portee et qui laissc ases pieds ses enfancs (:gorges." (Salon 1759. IV, 194) Der hier angedeutete Machrkampf der Geschlechter entspricht keineswegs Diderocs moralischem Interesse an dem Mythos. Er wollte weder das Familiendcama noch die Lc:ichen der Kinder oder Jasons Reahion auf dem Bild sc:hen. Ganz im Gegensan l.Um oben erläuterten Modell der "Sammlung" von Höhepunkten, wünscht sich Diderot ein auf das Wesentliche reduzienes und entleertes Bild. "11 f:tHail lev~r au cid des br1l5 deses~r6i, :tvoir la lel~ r~nv~rsCe ~n :rrrih~; [es cheveux heriss6; un~ bouche: ouve:rt~ qui poussät de: longs cris; des y~ux ~gar6i; e:t puis un~ pelile:
11
1't
Der Mord ~in~r Mumr an d~n ~igen~n Kind~rn ~nthält ~in Maß an Gnusamk~il und Fanalismus. das DiderOI als Fnge: nach der Wille:nsfre:iheit inl~ressi~rt~; Di~ Determinierth~il des m~nschlich~n H:tndclns - ob d~r M~nsch fr~i sei in sein~n EnlSCh~idung~n und damil Ri.r si~ v~rantwonlieh, od~r sich als Opfer von ~timml~n "muchindl~n Abläur~" erweist, di~ durch Umwdl und Gesdlschaft konditioni~" w~rd~n - beschäftigte das Denk~n des 18. Jahrhunderu in vidliacher Hinsichi, Sttn~n d~r Gew:lh wattn Did~rot in diesem Zwamm~nhang durchaw willkomm~n, jedoch mir dn Einschr:mkung, da.s.t si~ nichl um ihn:r sellm willen gezeigt ....-crdcn; ..$oytt te:rrible, j'y consew; mais qu~ Ia Inreur qu~ 'I()W m'inspirez soill~mper« par qudqu~ grand~ id6= morak." (Pmslts dttiUhks, IV, 1019) Di~ "expression ounCc", die wirkungsisthetisch Schreck~n und Enuta.en auslÖS01 soll, schün nur dj~ &w;uiowlwi und ruhn nichl zu
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Abb. 4. Ca& Vanloo: Mammoisrlk Clairon m Mldk /759. 230 x 328 ml.PondtJm,
Galm'~
Schloß Sanßoun .
M6:lec, courlC: r:l.idc:, c:ngoncCe, 5urchargec d't:wffes; UO(: Mt:dec de coulissc:; pas une gouue de sang qui lOmbe: de la poil\lc de.son poignard ou qui coule 5ur ses bras; point de d60rdre; poilll de tcrreur." (IV, 194)
Wie Jean Seznec nachweist, kannte Diderot die Plinius-Beschreibung über die Medea des Timomachos, der sie ohne Beigaben juSt im Moment vor ihrer Tat dargescellt hatte80 - auch hier begeistere sich der Kritiker wiederum für das Vorstellungsvermögen der Alten. Plinius beschreibt eine Medea, die. versunken in die Qual der eigenen Entscheidung, einen inneren Kampf mit sich führt. Auf die Vorgeschichte und auf das nachfolgende Blutbad verzichtete der Künstler somit gänzlich. Die Geschichte wird nicht in ihrem Verlauf erzählt, sondern auf einen sublimen Moment reduziere und abstrahiere. Diese fragmentarische Momentaufnahme hätte man auch mit einer Kamera fesdta.lten können.
10
Siehe: San«, ibid., S. 71.
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Durch die Verdrängung des Autors, der sich in den inszenierten Ungleichzeitigkeiten bemerkbar gemacht häue. erfolgt eine Neugewichtung des TextBild-Verhälmisses: Diderots Bild zielt nicht mehr auf die Kompatibilität mit der literarischen Enählung, sondern auf die visuelle Dokumentation eines einzigen Augenblicks. Das Bildfragment wird zwar weiterhin einem Höhepunkt der Enählung entnommen. aber das Verfahren. den Moment zur Abbildung zu bringen. ist nun ein anderes. Mit der besonderen Behandlung der Zeit ist eine weitere Voraussetzung für den fotografischen Effekt in der Malerei genannt - was zeichnet die Spezifik dieser neuen Bildauffassung nun weiterhin aus?
"Ut pictuta musica" - Auf der Suche nach dem Code der Kunst Diderot hatte sich schon vor seinem Debüt als Kunstkritiker eingehend mit der Frage des Bildes beschäftigt. Von seinen frühen Schriften zielen insbesondere der Brief üb" dit Blindm (I749) und der Taubstummmbrief(I751) auf eine mögliche Differenzierung von Text und Bild bzw. von Wissen und Sehen. Als Beitrag zum Sensualismus behandelt Diderot in beiden Essays die spezifische Leistung der menschlichen Sinnesorgane. Die Briefe verfolgen jedoch recht unterschiedliche Problemstellungen: Die Ltttrt sur lts 4vtugks fragt nach der Rolle der Sinne für das Zustandekommen unseres Wissens. Diderot analysiert. inwiefern die sinnlichen Erfahrungen in unserem Wissen noch differenziert vorliegen und kommt zu dem Ergebnis, dass die einzelnen Wahrnehmungen durch die Abstraktionsleistung unseres Denkens zusammenfallen. Die Informationen werden in einem Konglomerat verwoben, das nicht mehr unterschei~ den lässt, woher wir unser Wissen letztlich bewgen haben. Unser Vorwissen und unsere Vorstellung ergänzen die sinnlichen Erfahrungen jeweils: Ein Blinder kann über dreidimensionale Raumverhältnisse sprechen. obwohl er sie nie gesehen hat. Er hat sich das Wissen darüber ertastet - er kann also den Raum "wissen", ohne ihn je zu sehen. Dieses reine Wissen absuahiert somit von den ästhetischen Qualitäten und allem, was sich in der Welt sonst noch manifestiert. In der Ltmt mr /es sourds tt muttJ interessiert sich Diderot nun gerade für den Bereich des Sinnlichen und seine erste Erfassung durch die Wahrnehmung und die Sprache - erst hier kommen also die Fragen der Ästhetik ins Spiel. In diesem Zusammenhang diskutierte man im 18. Jahrhundert vielerorts über den Ursprung der Sprache und ihre Verbindung zur Wahrnehmung der Außenwelc. 81 Diderot stellt diese Frage nun in den Rahmen einer generellen 1I
Didero[ nanme seinen Brief daher mit vollem Titel: Uttrtllur kllourdJ tt muttl, a I'wagt dt uu:< qui tnttntUnt tt qui parknt, DU l'on traiu dr l'originr dtl inlJtl'liom, dt l'harmonu du Ityk,
1. 3. DIDEROT ZWISCHEN WORT UND BILD
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Untersuchung der einzelnen Sinnesleistungen und der Codiertheit der Wahrnehmung: ..Mon idee serait donc de decompo~r pour ainsi dire on homme, et de considerer ce qu'iJ tient de chacun des ~ns qu'iI possede." (IV, 15) Auf die Frage des Bildes gelangt er dabei erst auf Umwegen. Er entwickelte ~ine Argumentation zonächsc als Sueicschrift gegen Batteux' ultra sur 10 phrau ftllnfllis~ compllrit IlIJU Ia phrau latin~ (1747). 12 Die Diskussion über die Vor- und Nachteile der modernen und der alten Sprachen muss im 18. Jahrhundert als rhe[Orischer Gemeinplatz angesehen werden. Batteux hatte am Beispiel der grammatikalischen Inversion behaupten wollen, die Sprache der Alten sei näher am "ordre natureI" als das moderne Französisch. Ohne DiderofS Auseinandersetzung mit Batteux im einzelnen nachzeichnen zu wollen, können wir festhalten, dass er einerseits die Unsinnigkeit dieser Frage zu denunzieren suchte, aber andererseits den Topos der primitiven Ursprache keineswegs aufgeben woHte. Unter "Sprache" versteht Diderot im Folgenden drei verschiedene Arten des Bedeutens, die er wiederum so abstrakt fasst, dass sie auf alle Medien wie Bilder, Texte und sogar auf die Musik übertragbar sind: Er differenziert eine logisch linear vorgehende Sprache, die auf geregelte Konventionen zurückgeht, eine emblematisch verschachtelte poetische Sprache, die bildhafte Vorstellungen, Symbole, Hieroglyphen u. a. miteinander verquickt und eine primitive Sprache, die jeweils nur von einem Sinnesorgan wahrgenommen wird. Er versucht daraufhin nachzuweisen, dass bei allen drei Modellen verschiedene Arten des Wissens erzeugt bzw. vorausgesetzt werden, womit er Batteux' These des alle Künste vereinenden .. meme principc" wirkungsvoll widerlegt. Betrachten wir zunächst seine Abgrenzung von rationaler Sprache und Poesie. Die poetische Sprache soll im Gegensatz zur zweckorientierten Sprache des Wissens und der Wissenschaft nicht buchstäblich zu entschlüsseln ~in, wie gerade die Dichtung der Alten zeige: ~Quelque genie qu'on all. on ne dit pas mieux qu'Homere quand il dil bien. Emen-
dons-Ie du moins avant quc de lenler d'cmichir sur lui. Mais il est tdlcmcnt charge de ces hleroglyphes po6:iqucs (...1 que ce n'csl pas a 101 dixitme lcaure qu'on pcul sc flmer d'avoir 10UI vu.~ OV, 40)
Die Poesie der Alten hält Diderot deshalb für kunstvoller als die meisten Werke seiner Zeitgenossen, weil sie sich von der rationalen Sprache noch klarer unterscheidet. Sie hätten nie versucht, ihre Poesie rhetorisch so raffiniert
I.l
dM Jubl;mr tk lituation, tk '1fU/qun IIlN1ntata tk IA IanKfU {ranflliH JU, IA ,lupan da IAnfUD IInnt1lnn ~r mtNkrnn ~t pa' l'omu;on. tk lCepmJ;on paniNlli"~ IIUX IuIlUX-lIrts. Siehe dazu Vc:rslni, IV. 5 f[
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J.
DIDEROTS KUNSlTIiEORIE IM KONTEXT
anzureichern. bis sie nur noch der Gelehrte verstehe. Für die Kunse gehe es, so seine wiederum paradoxale Forderung. Undndeutigkei( mit überzeugender Einfachheit zu puren. Um die poetische Sprache als Medium zu beschreiben, zieht Dideror das Modell der Hieroglyphe heran. Im Gegensatz. zum linuren Prozess des Lesens und Verstehc:ns bezeichnet sie die Formen des uneigentlichen Ikdeurens. Die Poesie erzeugt nach DidecOl ein multimediales Gemisch von Vorstellungsbildem und Sinneseindrücken, sie bilder somit eine SchninsreUe im Bcreich der Imagination. ,,11 passe alon dans le discours du pobc un esprit qui co mcut CI vivifie toutes les syllabes. Qu'est~ce quc cel esprit? ren a.i qudqucfois $enti la pr6t:nu; mais tour ce que ren sais, C'esl quc c'est lui qui fair quc les choses sam dites CI rcpresemes fOUl a 1a fcis; que dans le meme remps que I'entendement les saisit,l'ame en esl emue, ['imagination les VOil, el I'oreille les entend; el que le discours n'est plus S(:ulernent un enchainernent de termes energiques qui expoS(:nt la pe:nsec avec force et nobltSS(:, mais que c'est encore un tissu d'hieroglyphes enlasses la uns sur [es aU(ta qui la pe:ignent. Je pourrais dire en ce S(:n$ quc (OUle poesie est emblernalique." (lV, 34)
Die Hieroglyphe schafft innerhalb des poetischen Bedeutens komplexe Gesanueindrücke, sie erweist sich nach Diderot als das Medium, das die Ausdifferenzierung von Bild und Text noch nicht kennt. 1J Poesie sollte hier also nicht nur als Dichtung verstanden werden, sie könme auch die Poesie eines Bildes meinen. Nichtsdestotrotz bleibt dje hieroglyphische Kommunilcuion eine auf Vorwissen angewiesene Form des Bedeutens. Die heiden bisher sk.iz.z.ienen Modelle von DiderotS dreistu6ger Semiotik basieren noch auf Konnotationsystemen. die im ersten Fall die Ratio und im zweiten Fall die lmagination ansprechen. Erst das dritte Modell beschäftigt sich mit den verschiedenen Medien als rein materielle Bedeutungsträger (Bilder, Wörter. Töne). die es wahnunehmen gilt. Gegenüber dem poetischen "roret de symboles" mutet djese Sprache der Sinne ausgesprochen primitiv an. Ihre Direktheit und Unminelbarkeit soll in Diderots System garantieren, dass der Mensch nicht nur in einer Welt des Zeichens, des Scheins und der Simulation leben muss. Die Monade ist nun nicht mehr fensterlos: Mittels ihrer primitiven Codierung vermögen uns die Sinne als Rezeptoren eine Schnittstelle zur Außenwelt zu verschaffen.
" Wie ChouiUet nachweist, bonte Didc:rot William Warbunon$ Hieroglyphenmeorie in der französischen Obl::rstnung als EsJAi JMr In Hiboflyphn Jn Egptinu (1744). Siehe duu Jacqua Chouillet: La formation des idks esthetiqucs de Diderot. Paris: Colin. 1973, S. 225
ff.
1. 3. DIDEROT ZWISCHEN WORT UND BilD
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Diderot umersucht im Folgenden. wie unsere Sinne wahrnehmen, broor es zur Hinzunahme von Ertahrungswissen bzw. von Bedeutung kommt. Während der Briifüb" die Blim:kn deutlich macht, dass zwischen der real existierenden Umwelt und unserer Vorstellung von ihr kein direkter bzw. analoger Baug besteht, sondern unsere Idee der Wirklichkeit an der Sprache. d. h. am Prinzip der arbiträren Vermitteltheit gebrochen ist, sucht Diderot im Bri~f über di, Taubstummen die Wahrnehmungsorgane des Menschen so zu isolieren, dass er sie als naiv aufnehmende Zulieferer beschreiben kann. Das Konzert der Sinne, das unseren Begriff von Realität immer schon verschmolzen hat, gilt es nun wieder aufzulösen. Daher rührt auch sein Imeresse am Taubstummen, der eben nur sehen kann. 84 Ein Taubscummer müsse, so seine These, selbst die rudimentärste Gestensprache als Sinnquelle imerprecieren, da er die anderen Sprachen nicht versteht. Indem sein Verstehen sich auf nur einen Sinn richte, muss alles, was ihm dieser Sinn übermittelt, schon als ..sprachlich", ..zeichenhaft.., kurzum "sinnstiftend", erscheinen. Der Taubstumme sieht um sich herum lauter bewegte Gemälde bzw. stumme Theaterszenen. Um zu erläutern wie er das naive Sehen versteht, unternimmt Diderot in selbigem Taubstummmbriif, seinem Gehörlosen zum Trotz, einen Exkurs in die Musiktheorie. Die Musik galt bis in das 18. Jahrhundert hinein als nicht sprach- bzw. rhetorikfahig und somit als eine niedere Kunstform, die gar als .. Parasit der Sprache" bezeichnet wurde, da sie nur Stimmungen zu erzeugen vermag. aber keine Diskurse. In der ..Querelle des bouffons" , an der sich auch Diderot beteiligte, wurde erstmals die Gleichberechtigung der Musik eingefordert. Es standen sich die Anhänger Giovanni-Battista Pergolesis, dessen La S~rva padrona 1752 einen Skandal an der königlichen Musikakademie auslöste, als BefUrworter des neuen italienischen "bel cantO" und die Anhänger der rigiden französische Harmonielehre, vertreten durch Jean-Philippe Rameau, gegenüber. Diderot wie auch Rousseau nahmen Partei für dje Neuerer (selbst wenn sie zuvor Rameau noch gegen Lully verteidigt ha((en).8s Um den Kunststatus der Musik zu behaupten, berief man sich nun nicht mehr auf die akademischen Regeln, sondern sente vielmehr bei den spezifischen Urklängen an, d. h. man suchte ihrer ..natürlichen Gestik" zuzuhören. Als ..cri de la nature:" seien auch Töne in der Lage die Namr zu imitieren. 14
U
Didcrot gesteht dabd. nie: cine:n WlSKnschaftle:r zum Proble:m des Taubsrumme:n bd"ragr zu haben. Er bq;nilgte: sich fur sein G«Ianke:napcrime:nt mil cirwn konsuuie:rte:n ..mu("( de: conve:ntion", also jc:mande:m, de:r aus rre:ie:n Slüeke:n beschlossc:n hat. nicht zu höre:n und zu spra:hen. Sie:he Versini, IV, 6. Sie:he: ausführlich Beauice: Durand-&ndrail: La Mwique: de: Dide:rot. Essai sur I'hieroglyphe musical. Paris: Kirne. 1994. Sowie: Duurot, In Ixaux-arts ~t Ja musiqur (AclC$ du colloque: ime:rnalional d'Aix-e:n-Provcnce:, dece:mbrc 1984), hg. von der Unive:rsitäl de:r Prove:ncc:. 1986.
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1. DIDEROTS KUNSTfHEORIE IM KONTEXT
Durch ihre Harmonien und Melodien werde auch die Mwik ein autonomer Ausdrucksträger. Diderot wertet die Mwik somit als ..Sprache" auf-allerdings vor einem erweiterten Sprachbegriff, der bei den natürlichen Einheiten oder Codes ansettt und keiner festgelegten Alphabete bedarf. Vor diesem Hintergrund kann er schließlich auch Mwik und Malerei vergleichen: Beiden sei gemeinsam, dass sie zunächst nur den einen Sinn des Auges bzw. des Gehörs beanspruchen und auch ohne die Hinzunahme von Wissen bestimmte Stimmungen und Eindrücke zu eruugen wissen. Diderots bevorzugtes Beispiel für diese primitive Form der Sinnbildung finden wir in dem eigenartigen Instrument des "clavecin oculaire", das der Jesuitenpater Castel 1725 erfand. Eine An Farborgel soll ermöglichen, Töne auch visuell umzuscnen. Das Instrument zielt auf das Sehen und auf das Gehör, indem es bei beiden die natürliche, d. h. nicht durch Konventionen geregelte Wahrnehmung anspricht. 16 Auch Diderot zeigt sich von dem Projekt begeistert, das er allerdings nie gesehen bzw. gehört hat. Er stellt sich die Farborgel als ein Instrument der reinen Emotionseruugung vor: "Vous connaissez au moins de reputation une machine singulihe sur laquelle l'invemeur se proposail d'6:a.:uter des sonales de couleurs. J'imaginai que, s'i1 y avait un cue au monde qui dQt pre:ndre qudque plaisir a de la musique oculaire el qui put en juger sans preve:nlion, c'mir un sourd el muet de naissance. 1...1 Mon sourd s'imagina que ce genie invemeur etaüsourd et muet aussi; que son davecin lui seTV2it a converser avec les auues hommes; que chaque nuance avail SUI le clavier la vaJeur d'une des lenres de l'aJphabet, et: qu'a I'aide des IOuches et: de: I'agjlite des doigu, il combinait ces lemes, en formail des mOlS, des phrases enfin un discours en coule:urs. I...] 11 cnll que la musique mit une: ~on particulihe de communique:r la ~nstt, et: que les insuume:nu, les vidles, les violons, les rrompe:nes ttaie:m eml"C' nos mains d'autres organes de la parole:. [...]l.orsque • Casld kündigte sein Instrument schon in de:r Nove:mbC'rausgabC' des M~,ltu, von 1725 an, Proble:me: bC'i de:r UmSt:t2.ung liclkn ihn die: Recherchen je:doch mehrmals umerbrechen. Obwohl er St:in Projekt lange als "belle chimhe" bcu:ichnet hane, gab er nichl auf, bis im Frühjahr 1751 ein erster Protoryp bespidt werden konnte. Er glaubte an die Kraft sinnlicher Synästhesien, die er in einer "theorie mathematique du plaisir" untersuch ren wollie. Sieche: dazu Julie: C. Hayes: &que:nce and Simuhane:iry in Dide:rOl's Promnuuk Vmur and lJrons tb clawrin. In: Eit.hurnrh-Crntury Studin, No. 3, 8<1. 29, 1996, S. 291·305. Sowie: Anne:-Marie: Chouille:t: Lr Clav«in ocuIail"C' du pere Casld. In: DixhuiN'nn~ Ji~ck. No. 8, 1976, S. 141·166. Als Bc:schl"C'ibung eincs Augc.nttugc.n zilie:n Chouillet de:n folgenden Bericht;
..Lr Clavc:cin oculaire a la forme d'un bufftt. I... ) 11 est plad ~~ndiculaire:m(;nlSUI la partie: anlerie:ure: d'un Clav«in ordinaire: qui lui sen de: basc:. Lr fond dans un espaa de: trou: pieds quarres. conlient cinq anu et tan[ de: tampes. u. panie: qui cs! e:n face des sptttateurs, preseme: soixanie: morceaux de: g1aa ou de: ve:rre colon~:s. Chacun de: ces ve:rrcs a un ron de couleur ana.logue repondant au son, qui e:nlrc:ra dans l'ore:illc a I'instanl que: la tumihe: color& vie:ndnlo frappeer les ye:ux; car la meme: touche: qui prochlit Ie: son, fera elincder la coule:ur lumineuSt:." ibid., S. 157
1. 3. DIDEROT ZWISCHEN WORT UND BILD
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CC' sourd ~
rappell(: I':au(:ntion qu(: now donnons 21:a mwiqu(:, et 2 CC'w: qui joU~l d'uo inslrum(:nt; les signes d(: joies ou d(: trisu:s5(: qui 5(: lXign(:ß( sur nos visages et d:ans nos gt:stes, qw.nd now sommes frappes d'un(: be:U(: harmoni(:." (IV, 19 f.)
In seinem EnzykJopädie-Anikei zum "clavecin oculaire" führt Diderot die Analogie von Malerei und Musik schließlich auf ihren gemeinsamen Ursprung im Primitiven zurück: ..Les regles d(: l:a musiqu(: :auricul:air(: ont toutes pour fond(:m(:ß( l:a produetion naturdl(: primiriv(: d(: I':accord p:arfair par un corps $Onor(: qudconqu(:: $Oit C(: corps: Ul ; il donn(: les $Ons Ul, sol, mi, :auxquds correspond(:nt 1(: bl(:u, 1(: roug(:, 1(: j:aun(:, qu(: plwi(:urs 2ftistes et physici(:ns r~l"(k:nl comm(: uois couJeurs primitives. (...) Qu'est.-a qu(: jou(:r? C'est, pour 1(: d:avron ordin:air(:. sonn(:r et 5(: wr(:, ou p:araiu(: et disp:araitrt: 2 I'or(:ilk Qu(: 5(:ra.-a qu(: jou(:r pour 1(: cl:avccin ocuLa.ird Sc: montrc:r et 5(: t(:nir c:ach~, ou p:araiUC' et disp:araiUC' a l'a:iL.- (IV. 118) (:1
Erst die Reduktionsmöglichkeit auf einfache Ur-Formen macht die beiden Medien miteinander vergleichbar. Während die älteren Abhandlungen über eventuelle "Parallelen" zwischen Alten und Modernen oder zwischen den einzelnen Künsten immer an der höchstmöglichen Leistung einer Gattung interessiert waren, erübrigt sich dieser Paragone bei Diderot, denn seine vergleichende Medientheorie sucht die Analogie in den primitiven Codierungen. Die Fähigkeit eines Blinden, auch über Räume oder Farben sprechen zu können, obwohl er diese Phänomene nie gesehen hat, sind für Diderot Belege für die Konstcuienheit unserer Sprache: Sie referiert nicht die tatsächlichen Sinneswahrnehmungen, sondern Vorstellungen davon. Der Taubstumme hingegen verfügt erst gar nicht über die Sprache, und SO kann er cüe ästhetische Ursprache tatSächlich isoliert als solche erfahren. In der Entdeckung dieser elementaren Grundformen liegt wiederum eine wichtige Voraussetzung Air die Fotografie: Erst wenn auch das primitive. noch nicht mit Bedeutung aufgeladene Element als konstitutiver Teil der Kunst anerkannt wird, wenn also allem, was wahrnehmbar ist, auch ohne entSprechendem "Inhalt" ästhetischer Sinn zugesprochen werden kann, öffnet sich die Kunsttheorie für die Idee des maschinellen Registrierens. Denn der Apparat fragt nicht, ob die für ihn wahrnehmbare Form Sinn ergibt oder nicht, er nimmt sie einfach auf. Zusammenfassend können wir zwei Hauptinreressen in Diderors Ästhetik ausmachen: Zum einen leitet ihn die Suche nach dem Urbild eines Themas. Das Idcalmodell ist ein komplexer Arche[)'P, dem wohl die poetisch-hieroglyphische Dimension des Bedeutens enrspricht. Es werden weitgefächerte, symbolische Erinnerungsräume angesprochen, die kein sichtbares Bild in ihrer Gesamtheit fassen könnte. das erscheinende Bild erweist sich vielmehr als von den Interessen der eigenen Zeit geprägt. Es trägt den Stempel seiner Epoche.
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1. DIDEROTS KUNSlTHEORIE IM KONTEXT
so wie es auch innerhalb des Archetyps immer nur einen Ausschnin bzw. eine Momentaufnahme aufzeigen kann. Oder um dies an einem der genannten Ikispide zu verdeutlichen: Die Meda. des Timomachos, die Diderot als Vorbild zitiert, wurde ihm allein durch die Literatur (in diesem Fall Plinius) vermittelt, sie bleibt somit unsichtbar; nichtsdestotrotz hat er ein bestimmtes Bild im Kopf, an dem er die Umsetzungen der Künstler misst. Selbst wenn sein inneres Bild nie zum Vorschein kommt, vertraut er ihm als einem Urbild, dem sich die Künstler anzunähern
hab
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2.
CHARDINS STILLLEBEN UND DIE GRENZEN DER BESCHREIBUNGSKUNST
Unter den Künstlern, die DiderotS Vorstellungen und Kriterien entsprachen, möchte ich im Folgenden jean-Baptiste-Simeon Chardin herausgreifen, denn sein Werk lässt sich als konsequente Ausarbeitung des fotografischen Effekts lesen - eine Entwicklung, die von Diderot und anderen Zeitgenossen wahrgenommen und entsprechend kommentiert wurde. Dabei gilt es zum einen zu untersuchen, was diese Bilder von anderen abhebt und ihre quasi-fotografische Qualität ausmacht, sowie wir zum anderen fragen können, wie Diderot in seinen Beschreibungen darauf reagiert. Unter den Favoriten Diderots wären neben Chardin auch noch der Genremaler jean-Baptisre Greu7.e (I 725- I805) und der Landschafrsmaler Claudejoseph Vernet (1714.1789) zu nennen. Der Kritiker haue gewissermaßen für jede der niederen Gattungen einen bevorzugten Repräsentanten bestimmt, an dem er die jeweiligen Konkurrenten misst. Unter den Historienmalern gab es hingegen keinen, den er so bedingungslos loben konnte wie die Maler dieser Trias. Betrachten wir kurz die von Diderot geschätzten Charakteristika im Werk von Greuz.e und Vernet, denn auch diese Aspekte könnte man bereits als forografisch bezeichnen, allerdings nicht in derselben Eindeutigkeit wie bei Chardin. Greuze kann wohl als der Künstler angesehen werden, der Diderots Forderung, die Typen und Themen der eigenen Epoche herauszuarbeiten, am erfolgreichS[en umgesent hat. Seine Genreszenen erweisen sich als Sittengemälde, die ihrer Struktur nach ganz Richardsons Briefromanen entsprechen. Distanzlos führt er den Betrachter in intime persönliche oder familiäre Situationen, die jeweils den gesellschaftlichen Brennpunktthemen seiner Zeit entsprechen. Neben dem von Greuze immer wieder dargestellten Sujet der bedrohten bzw. verlorenen Unschuld junger Frauen, finden wir vor allem die Gefahrdung des Generationenvertrags innerhalb der Familie thematisiert: Motive wie Ln pitii jiliak. L~ fiiJ illgrat, L~ fiiJ ptmi bis hinzu Ln more d'un p~r~ dillarure, abandon! par ses mfants etc. können als Folgen des demographischen Aufschwungs und des Rückgangs der Sterblichkeit gewertet werden, der die Solidarität innerhalb der Familie des 18. jahrhunderts auf einen bisher ungekannten Prüfstand stell· re. I R~is
Michel schreibl diesbezüglich: ..Greuze est le peinue lemoin de la nouvelle demographie. 1I y a longtemps que [es his~ IOriens om mis en eviden« le decollage demographique du XVllle siede fTan~s. U phenomene heuristique esl d'ailleurs moins une revolution strueturelle qu'une mutation quamilarive: la croissance due au recul de la monalile [...]. C'est entre 1750 el 1770 que
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2. CHARDINS STIU.EBF.N
UND DIE GRENZEN DER BF.SCHREI8UNGSKUNST
Diderot schätzte diese aktuellen Bezüge und lobr Greuus feine Beobachrungsgabe, die sich ganz an der neuen Empfindsamkeir oriencierteJ, ansrau die nunmehr als einf'ahig und erzieherisch plart erscheinende Moral der niederländischen Vorläufer zu übernehmen. Wie differenziere Diderot ~inen im obigen Sinne: a-moralischen Moralbegriff dabei anwe:ndete:, z.c:igt vor allem seine Ime:rpre:racion von Gre:uus La jron~ fi/k qui pkur~ son ojs~au mon im Salon von 1765 (Abb. 5): Er versteht sogleich, dass dieses Mädchen nicht um das verstorbene Vögelchen trauert sondern um seine verlorene Unschuld. Ganz in Richardsons Manier malt er sich aus, wie es zu dem folgenschweren Ereignis kommen konnte und musste. Aber Didecot geht noch einen Schritt weiter, indem er sich auch selbst emorionaJ einbezieht: Nachdem er zunächst eine eher väterliche Sorge um das Mädchen vorgespielt harte, gesteht er zum Abschluss, dass er selbst gerne der Libenin gewesen wäre, der sich an der Ponrärierten verging: ,,11 ne me deplairait pas trop d'etre la cause de sa peine." (N, 383) Diderot führt dem Leser damit vor, dass weder er noch sonst ein Berrachter dieses Bildes (wie auch der voyeuristische Leser im Briefroman), das Recht habe das Verhalten der Protagonislin zu verurteilen. Greuzes dokumemarische Strategie AlJtagssz.enen aufzunehmen, die jeder kennt bzw. nachvollz.iehen kann, eignet sich somit hervorragend die paradoxale Moral erlehbar zu machen, die Diderot von Genreszcnen in der Malerei oder im Roman einfordert. Im Salon von 1769 musste Didecot jedoch feststellen, dass auch Greuz.c der Hybris erliege:n konnte. Er harte sich an der Akademie als Historienmaler beworben und war schroff zurückgewiesen worden - z.u Recht wie Diderot meint, er hätte dem Genre treu bleiben sollen, das er beherrscht. J
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J
ce progra sensible aneinl son apogte: il y a une co'incidence naturdie de 1:1 cruc demogr.1phique. dc la redttouverte de 101 familie, Cl dc 101 peinture mor.1le." R~gis Michd: DiderOi CI I:l modcrnir~. In: Ditkror ~11'art Je &urJJer 4 David. Ln Sf,lom /759/78/, Kualog hg. von der R~union des Mu~es nuionaux. Paris: RMN, 1984, S. 110-121. HierS.112f. Dies lässt sich 'Z. B. in Diderou Kritik 'Zu Greuz.es L 'ammJit tk villllge im Salon 1761 gUI n:lchvoll'Zichen. Diderol lobt, dass in dieser Su:ne, die eine Familie bei dem Abschluss des Heir.llsvertr.1gs Rir die älleste T achter u:igt, jede Figur eine Rir ihr jeweiliges Allel, Geschiechi und Rolle typische emotionale RaInion u:igt: ,,11 y a douu figuresj ch:lcune est a sa pl:lce. Cl f.Ut ce qu'dle doir." (IV, 232) So schreibt Diderot 'Zu Greuzes L'nn/J"t"Ur Sivhe "prorlK a uracal1o, sen fi/;, d'al.lOir voulu
liusassintr. ..[...] c'est qu'il y a c:bru le tOUI aucun principe de ran. le fond du t:2.blClu rouche au rideau du lit de Sb~re.le rideau touche aux figures, {oUt cela n'a nulle profondeur, nulle magie; il scmble que raniSte ail er~, comme par un sortil~e. de 101 panie du talem qu'on ne saumt perdre; Chardin m'a dil vingt Fois que c'ttait un ph~nom~ne inaplicable pour lui. Point de couleur, nulles v~rit6 de det:2.iI, rien de f.ait: (IV, 867 f.) Siehe :lUch 1.2., Fußnote 54.
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2. CHARDINS
SllLl.f.BEN
UND DIE GRENZEN DE.R BESCHREIBUNGSKUNSl"
Abb. 5. J~4n·Baplisu GmlU; LA jNm~ filk qui pkuu IOn OiU4U mon. J765. 52 x 45.6 an. &Jinbu'fh. NarioTUlJ G4/krin ofScolltInd
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2.
CHARDINS STILLEBEN UND DIE GRENZEN DER BESCHREIBUNGSKUNST
Außerdem bleibt anzumerken, dass Greuze nicht ausschließlich mit dem Prinzip der lebensnahen Aktualit.ät gearbeitet hat. sondern immer wieder auch zur allegorischen Tradition zurückkehrte. Vielleicht wollre er seine humanistische Gelehrsamkeit unter Beweis stellen, wenn er in L~s reufi cassis (1756), L, miroir brot (1763) und La cruch, cass" (1773) jeweils ein Mädchen mit dem zerbrochenen Gegenstand darstellte, denn diese Motive waren seit dem 16. Jahrhundert als DeAorationssymbol bekannr. 4 Diderot kannte die beiden ersten Gemälde aus den entsprechenden Salons 5, hat sie jedoch mit keinem Wort in seinen Besprechungen erwähnt: Die von ihm gesuchte dokumentarische Strategie lässt sich mit dem allegorischen Prinzip schlichtweg nicht verbinden. In dieser Hinsicht hatte es Vernet leichter, da seine Landschaften nicht an eine Geschichte gebunden sind. Diderot lobte stetS die Oberzeugungskraft und Wahrheit seiner Gemälde. Keiner wisse die Lichrverhälrnisse, Atmosphären und Stimmungen der Natur so realistisch wiederzugeben wie er. Sogar die jeweiligen Tageszeiten seien nachvollziehbar wiedergegeben. Nach Diderot war Vernet darin sogar seinem Vorgänger Lorrain überlegen, denn dieser habe seine idealisierten und zeitlosen Landschaften noch aus der Phantasie komponiert, während Vernet sich an die exakte Topographie einer vorliegenden Ansicht zu halten wisse - Lorrain sei noch ein Historienmaler, Vernet dagegen ein echter Paysagist. 6 Trotz des dezidiert beschreibenden Modus von Verners Landschaften betont Diderot in seinen Kritiken immer wieder auch die narrative Qualität dieser Bilder. Er hält sich an das rhetorische Genre der Ekphrasis und verlebendigt das Gesehene zu einer Handlung. So schreibt er im Salon von 1763: ~S'iIIVt:rnel) SUSCilt:
unt: [empt:tt:, vous emendtt siffier les vt:ntS, t:l mugir les AOIs; vous les voycz s'elt:vt:r conue les rocht:rs t:1 les blanchir dt: leur ecumt:. Lcs matdolS crienl. Les Aancs du M,timt:n1 s't:nuouvt:n1. Les uns se precipilenl dans les eaux. Les aUHt:S moribonds som bendus sur le rivage." (IV, 270)
4
S 6
Siehe dazu z. B. Hans Körnt:r: Das Mädchen mit dem zerbrochenen Krug und sein Be[rachler. Zum Problem der Allegorie im Werk des Jean-Baptiste Greu'U. In: Empfindung und &fkxion. Ein Prob/rm tk! 18. jahrlJUntkm, ibid., S. 239-272. Siehe Vt:rsini, IV, 383. So schrt:ibt Diderot zu Vernt:ls Vut' du pon tk La Rochtlk im Salon von 1763 (Abb. 22): "Mais, m.:: diriez-vous, vous prefba donc Lt: Lort3in ~ V.::rner; [... J Mais considercz que les grandes composilions dt: V.::rn'::l n.:: sam point d'un.:: imagination libr.::. C'est un local qu'il faUl r.::ndr.:: td qu'il est, Cl r.::marquez qu.:: dans ces morc.::aux memes, V.::rn.::[ monu.:: bi.::n une autre tete, un amr.:: lal.::nt qu.:: Lt: Lort3in, par la muhitud.:: incroyable d'actions, d'obj.::ts.::t d.:: scenes particuliern. L'un es[ un paysagisl'::; I'aune un pt:imr.:: d'hiSlOir.::. (lV, 271 f.) U
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2. 1. DAS SEHEN SEHEN
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Auch zu anderen Landschaften Vernets fertigt er keine Bildbeschreibung im eigendichen Sinne an, sondern unternimmt zum Beispiel über mehrere Seiten hinweg einen imaginären Spaziergang in der Natur, um abschließend festzustellen, dass er sich nur vor einem von Vernets Bildern befand.? Er löst somit das vorliegende Gemälde in einer Narration auf. Auf diese nach wie vor rhetorische Beschreibungstechnik (auf die wir am Ende des Kapitels 2. 2. ausführlicher zurückkommen werden) musste Diderot erst angesichts von Chardins Stil1eben verzichten: Die Motive dieses Genres lassen keine Erzählung mehr zu, vor allem nicht, wenn sie ohne allegorischen oder emblematischen Subtext wiedergegeben werden wie bei Chardin. Didecot muss in seinen Kritiken schlicht und einfach bei dem bleiben, was der Künstler ihm zu sehen gibt. Text und Bild, so meine These, stehen in diesem Fall in einem neuen Verhältnis zueinander: Didecot sucht nun den Stil seines Schreibens dem Gesehenen anzupassen, indem er beginnt "fotografisch" zu schreiben. Er leitet damit das Ende der rhetorischen Tradition der Ekphrasis ein.
2. 1. Das Sehen sehen Chardin malte ein halbes Jahrhundert lang ausschließlich Stillleben und Genreszenen. Aus den einfachen Verhältnissen des Pariser Handwerkermilieus stammend und ohne Italienerfahrung, fehlte ihm die humanistische Bildung, um sich auch in den angeseheneren Gattungen hervorzutun. NichtSdestotrotz genoss er großes Ansehen umer Künsdern wie Kritikern und erfreute sich außerordentlicher Beliebtheit von Seiten des Publikums. Wofür schätzte man nun das Werk dieses Künstlers? Chardin war gewiss kein Revolutionär, sein Stil und seine Motive entsprechen beim erSten Hinsehen ganz dem Kanon der Zeit. Dennoch ist seine Malerei unverwechselbar und einzigartig: Sie verfügt, wie die Betrachter immer wieder anmerkten, über eine gewisse Qualität, die das Auge sofort anspricht, sich aber der Sprache entzieht. Über die ikonographische Einordnung lässt sich der neue Effekt jedoch nicht fassen: Chardins Malerei wirkt eher konservativ, gerade wenn man nach den Vorläufern fragt - seine Zitate aus dem Repertoire der Niederländer sind
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Siehe z. B. die Vernel-Kritik aus dem Salon von 1767: Diderot beginnt seinen Artikel mil der Behauplung, nun nicht über Vernci zu schreiben, sondern von einem LandausRug zu berichten: "J'avais ecrit le nom de cet artiste au haut de ma p~e. Cl j'aJlais vous emrelenir de ses ouvragc=s, lorsque je suis pani pour une C2.I1lpagne voisine de la mer el renommmee par la beaute de ses silC=S." (IV, 594)
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2. CHARDINS STILLEBEN UND DIE GRENZEN DER BESCHREIBUNGSKUNST
nicht zu übersehen. 8 Die Übernahmen sind dabei so deutlich und direkt, dass man Chardin sogar ein Desimeresse an der Entwicklung eigener Motive unter~ stellen könme. Gleichzeitig bestechen seine Kompositionen jedoch durch ihre außerordentliche Modernität, sein Stil wird später so umerschiedliche Künstler wie Edouard Manet, Paul Cezanne, Georges Braque, Maurice Denis u. a. beeindrucken und zu entscheidenden Neuerungen anregen. Chardin wollte die Aufmerksamkeit des Betrachters offenbar mehr auf die Form als auf den Inhalt lenken. Indem seine Motive so wenig wie möglich überraschen und uns dennoch visuell faszinieren, gelingt Chardin eine stille Revolution, die sich jenseits des Objektbereichs vollzieht. Selbst wenn er in sei~ ner Zeit nie als Neuerer gefeiert wurde, hat er doch mit einer bisher ungekannten Auffassung des AbbiIdens gearbeitet. Ein Zeitgenosse, der diese mediale Neuerung mit all ihren Konsequenzen verstand, war Dideror.
Diderots stumme Eloge auf Chatdin Diderots Chardin-Besprechungen unterscheiden sich sowohl sprachlich als auch inhaltlich von seinen anderen Salon-Kritiken. Andernorts urteilt er rasch und ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen, so dass der heutige Leser seine Direktheit und Härte gar als unsensibel empfinden mag. 9 Nur über Chardin äußert sich der sonst so kritische Philosoph während der gesamten Salon-Berichterstattung voller Lob und Begeisterung - eine Ehre, die sonst keinem anderen Künstler zukam, zumindest nicht in dieser ungebrochenen Kominuitäl. Andererseits unterlässt der Kritiker sein eigentliches Geschäft, sobald er von Chardin spricht: Sein fast schon maßloses Lob kippt letztlich in Sprachlosigkeit. Der Ausdruck von Begeisterung dürfte jedem Kritiker schwerer fallen als der Verriss - das Gelingen weiß man im Gegensatz. zum Misslingen meist nichr
• Siehe dazu Angelika Breitmoser: Tl"2dirion als Problem in der Stilllebenmalerei J. B. Simeon Chardins. (Schrinen aus dem InuirU( für Kunsrgeschichte det Universit2t München, Bd. 13) München: Tuduv, 1987. Sowie SU$anne Kronbichler-Sbcha: Die Kunst Jean Simeon Chardins im Spiegel der Zeit. In: Wim~r Jahrbuch ftr Kumtgmhichu, Bd. 33, 1980, S. 137-161. , Eingreifende Korrekturen sind bei Diderot noch die Regel, bis hin zu beißendem Spon und beleidigenden Angriffen aufden Künstler. Als Beispiel für einen Verriss sei eine Stelle aus dem Salon von 1759 hel"2usgcgriffen: ..Bachelier a fait une gl"2nde er mauvaise Resurrection, a la manictl~: de peindre du comte de Caylus. M. Bachclier. mon ami, croyez-moi, revencz a vos IUlipes. 11 n'ya ni couleur, ni composition, ni expression, ni dessin dans vone tableau. Ce Christ est tOut disloque. [...] Oe la maniere dont vous avcz ouven le rombcau, c'est vraimem un mil"2c1e qu'il en soit sani;" (IV, 197 f.)
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2, I. DAS SEHEN SEHEN
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am konkreten Detail festzumachen. Die Chardin-Besprechungen sind daher nicht nur außerordenclich kurz gehalten, sie beschreiben eigentlich niches, Diderot z.ähh nur auf, was er sieht. Zunächst erwähnt er, welche Gemälde von Chardin im Salon zu sehen sind. 10 Die dargestellten Motive werden kurz benannt, aber nicht erläutert. Es erfolgt keine Analyse des Gesehenen, weder der Art des Gegenstandes, noch der Komposition, noch der Darstellungstechnik. Die Urteilsbegründung entfallt, Diderot lobt und sagt uns nicht warum. So schreibt er im Salon von 1765: "Chardin est si vrai, si vrai, si harmonieux, que quoiqu'on ne voie sur sa loile que la nature inanimec, des vases, des jattes, des bouleilles, du pain, du vin, de I'cau, des raisins, des fruils des pätes, il ~ soutient et peur~tre vous enl~e a deux des plus beaux Verners [.,.] C'est, mon ami, comme dans I'univers OU la pr6cncc d'un homme, d'un chcval, d'un animal ne deuuit point l'effet d'un bout de roche, d'un arbre, d'un ruisseau; le ruis~au, l'arbre.le bout de roche interessent moins sa.ns doute que I'homme.la femme. le chcval, I'animal, mais i1s soßt egalemeßt vrais,n (IV, 346)
Dieser Eindruck von Echtheit und Wahrheit, den wir im Folgenden eingehender zu untersuchen haben, scheint Diderot so zu vereinnahmen, dass er nicht mehr beschreiben will, wi~ die Dinge sind, sondern nur dass sie sind. Er beschreibt das Gesehene mit einer Nüchternheit, die ihn offenbar auch selbst überrascht. Er fühlt sich durch diese Bilder aufgefordert, eine stoischere Haltung gegenüber dem Geschäft des Philosophierens anzunehmen: "Or vous savcz quc le temps ou nous nous mettons a ce qu'on appelle d'apres l'usage la recherche de la verite, la philosophie, est preci~menr cclui ou nos rempes grisonnenr et OU nous aurions mauvaise gclcc a ecrire une lenre galante, A propos, mon ami, dc ces chcveux gris, j'en ai vu ce marin ma (Eu~ 10ut argenrtt, et je me suis ecrie comme Sophocle lorsque Socrate lui demandait comment allaient les amours: A domino agresti ct furioso profugi; j'ec:happe:au m2itrc S2UV2gc el furicux,n
(Saum /765, IV, 346)
Im Rahmen dieser selbseverordneten Abstinenz von der Galanterie der Sprache gih es dennoch Worte zu finden. Diderot wird nun darüber nachsinnen, wie gerade diese Bilder ihn dazu bringen, nicht von ihnen sprechen zu können, Er erlebt das Paradox einer stummen Darstellung, die sich dennoch als eloquent erweist: "Vaus voila done, grand magieien, avec vos compositions muettes! Qu'e1les parlent eloquement a I'mi"e!" (Salon /763, IV, 345)
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Wobei die Aufzählungen hliufig unvollstlindig bleiben und :auch nicht :auszuschließen ist, dass Diderot Bilder hinzunimmt, die er andernorts gesehen h:at.
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2. CHARDINS STILLEBEN UND DIE GRENZEN DER BESCHREIBUNGSKUNST
Das Gemälde spricht offenbar nur zu einem Benachter, der seine Augen einzusenen weiß, dem Künstler zum Beispiel. Aber auch dieser kann die spezifisch visuelle Präsenz nicht beschreiben: "On m'a dir que Greuze, montam au Salon, er apc:rcevam le morceau de Chardin [... J, le rc:garda er passa en poussam un profond soupir. Cer eloge esr plus COUrt, er vaut mieux que le mien." (Salon 1763, IV, 265)
Diderot weiß sich also in bester Gesellschaft, wenn er sich nicht ohne Humor dem Schicksal fügt, bei Chardin an die Grenzen der Beschreibbarkeit zu stoßen: "Qu'eSl-ce que cene perdrix? Ne le yoyez·yOUS pas? C'esr une perdrix. EI edle-la? Cen es[ une encore. Voila, mon ami, six leures er huiu peimres d'expedi6:. E[ diles apres cda que je ne suis pas homme de parole!" (SO/o" 1769, IV, 844)
Versuchen wir aller Unaussprechbarkeit zum Tron nachzuvollziehen, was Diderot an Chardins Werk so faszinierte. Selbst wenn Diderot und Charilin in der Literatur allerorts miteinander in Verbindung gebracht werden, liegt bisher keine genauere Untersuchung dazu vor, welche Gemälde Chardins Diderot wann und wie kommentierte. Nur die Studie Michael Frieds, die Diderot zu Recht als den wichtigsren Theoretiker des Topos der Absorption bzw. der anti-theanalischen Haltung beschreibt, beschäftigt sich eingehender mit diesem Thema. 1I Nach Fried können vor allem Chardins Genreszenen mit ihren "Nichthandlungen" als "echte", d. h. anti-theatralische Handlungen überzeugen: Die Protagonisten werden beim Schlafen, Lesen, Beten, Hausarbeiten oder auch beim Nichtstun beobachtet, ihren Beschäftigungen kann wahrlich kein Ereigniswert zukommen. Selbsrversunken bzw. "absorbiert" verfolgen sie ihre Tätigkeiten, so dass der Betrachter zu der Überzeugung gelangen muss, nicht einer gesrellren Szene, sondern der Realität selbst beizuwohnen. Michael Fried bringr somit in erster Linie die Genreszenen Chardins mit Diderots Pa· radox über den Schauspieler in Verbindung. Dies scheint mir als übergreifender Zusammenhang keineswegs falsch, aber wir müssen doch berücksichtigen, dass Diderot sein Paradoxe ftlr le com!dien erst 1768 veröffentlichte, während Chardin seine Genreszenen bereits zwischen 1737 und 1753 malte. Diderot hingegen begann ersr 1759 seine ersten S3.lonkritiken zu schreiben. Betrachret man genauer, welche Gemälde Chardins er darin erwähne, so wird deutlich, dass er sich nur mit dem Spärwerk des Künstlers beschäftigte. Chardin wandte sich im Lauf der fünfziger Jahre endgültig 11
Siehe Michael Fried: Absorplion and ThealricaJilY. Paiming and Beholder in the Age of Diderot. Berkdeyel 31.: UniversilY ofCalifornia Press, 1980.
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Abb. 6. J~an·BaptiJte Simlon Chardin: LA pOU1VOyewt. /738. 46 x 37 cm. &rlin, Schlou Charlottmburg.
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2. CHARDINS STILLEBEN UND DIE GRENZEN DER BESCHREIBUNGSKUNST
von der Genresz.ene ab, um sich wieder ausschließlich dem Stillleben zu widmen. Tarsächlich beziehen sich aUe direkten Aussagen, die uns von Diderot zu Chardin vorliegen, auf seine Stillleben und nicht auf die Genreszenen. Chardin stellte zwar auch in den Salons nach 1759 noch hin und wieder Genresz.enen oder andere Werke aus den frühen Phasen aus, Diderot geht jedoch auf di~ älteren Arbeiten nicht weiter ein. Seine einzige Bemerkung zu einer Genresz.ene - der im Salon von 1769 ausgestellten PourooJnIJ~ (Abb. 6) - Mit darüber hinaus negativ aus: Die Figur sei "un peu colossale de proponion et manicrce d'attitude" (N, 844). Selb$[ wenn wir diese Randbemerkung nicht überbewerten sollten, muss dennoch betont werden, dass sich Diderot an keiner Stelle explizit über die anti-theatralischen Qualitäten von Chardins "Schauspielern" äußert. Seine Faszination für Chardins Malerei scheint andere Ursachen zu haben. Frieds Ansatz erweist sich für unseren Fall als zu begrenzt: Er fasst die Idee des Schauspielers so wörtlich, dass seine Theorie an die Darstellung der menschlichen Figur gebunden bleibt. Begreift: man das Prinzip der Absorption hingegen als ein mediales Abbildungsverfahren, so zeigt sich, dass in Diderocs Theorie auch Gläser, Krüge. Wildbret, Früchte und Blumen das Paradox des Schauspielers zu beherrschen haben. Der Künstler hat auch diese Gegenstände so desinteressiert darzustellen als lägen sie hinter der "vierten Wand" zwischen Bühne und Publikum. Was bedeutet dies nun rur die malerische Umsetzung? Abgesehen von Diderocs Salons kann sich unsere Untersuchung nur auf wenige Quellen stürzen. Chardin selbst hat überhaupt keine schrifclichen Zeugnisse hinterlassen und so bleibt auch ungewiss. ob er Diderocs Besprechungen überhaupt kannte. Sicher i$[ nur, dass die heiden sich privat kannten und einen regen Austausch pflegren. 12 Der Dürftigkeit der Quellen zum Trotz möchte ich dennoch behaupten, dass wir in diesem Zusammentreffen von Malerei und Literatur einen Idealfall der wechselseitigen Erhellung antreffen - unter der Prämisse, dass wir Diderors Text als ebenso srumm wie Chardins Bilder begreifen. Es gilt, die parallelen Bestrebungen von Text und Bild zu erkennen und nach mediaJen ÄquivaJenzen zu suchen, anstatt, wie bisher üblich, eine gegenseitige Illustration oder ErkJärung zu erwanen, die nur unbefriedigend ausfallen kann. I) Diderot verstand aJs einer der ersten, dass Chardins Stillleben keinen allegorischen Subtext mehr enthalten. den er narrativ hätte umsetzen U
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Gita May v~rmuret, dass ~her d~r jüng~r~ Did~rot von Chardin bttinßusst war als umgekdm. Did~rots Ik:ßaion~n zur F:ubc im Eu4i tuT kt pdntu" gdten L B. als von Chardin inspiri~n. Sieh~ dazu Gita May; Chardin vu par Did~rol et par Prowl. In: Publimtions o[l1N Modnn i.tlnf'Ulg~ ASSOCUllion o[Amnica, No. I. Bd. 72. 1957. S. 403-418. In der Literarur u:igt~ man sich bisher von dem nüchtem~n Stil des sonsr so doqu~nr~n Kriti· kers enrtiiuscht. Nach Pi~rre Rosenberg sind Did~rots Chardin-Bespremungw ·d'un~ l«ture assa l"utidietlS(:, tanr ils SORt (••• ) repecitifs dans I~ vocabulaire qu'iJs uriJ&nr pour qualifi~r et: admirer les tableaux d~ Chardin." ChaTJin (1699-1779). Katalog hg. von Pierre Ro~nberg.
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können. Er Joh, dass sich diese Werke gegen eine Beschreibung durch Wone sträuben und machte eben dies zum Thema. Gerade Diderot war das inhärente Paradox eines jeden "parler peinrure" eine willkommene Herausforderung.'~ Bevor wir uns Chardins Werk und Diderors Beschreibungen eingehender zuwenden, seien zuvor einige wichtige Aspekte über die gattungsspezifische Eigengesenlichkeit des Stilllebens erwähnt.
Stoische Stillleben Um zu verstehen warum sich der fotografische Blick gerade im Stillleben herausbildete, können wir zum einen den kunstpolitischen Rahmen und zum anderen die dem Genre eigene Medialität heranziehen. Chardins Entscheidung, die menschliche Figur aus seiner Malerei wieder herauszunehmen und sich in seinem SpälWerk nur noch mit dem Stillleben zu beschäftigen, stellt einen klaren Affront gegen die durch den Klassizismus bekräftigte Hierarchie der Gattungen dar. Seit den vierziger Jahren arbeitete die damalige Kunstkritik an der Wiederbelebung der Antike, in der Hoffnung eine neue Blüte der Historienmalerei herbeizuschreiben. Denn nur der Historienmaler sei de:r Maler der Seele, so La Font de Saint Yenne, alle übrigen malen lediglich für die Augen. 'S Als anerkannter Meister der Genresze.ne wäre es nur konsequent gewesen, wenn sich Chardin auch im POrträt oder in der höchsten aller Gattungen versucht häne (wie z. B. Greuze, s.o.). Aber Chardin verzichtete auf einen solchen Aufstieg, was sich in finanzieller Hinsicht merklich auswirkte. Die Preise wurden damals nicht nach Angebot und Nachfrage erminelt, sondern richteten
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Paris: RMN, 1979, S. 79. Auch Michad Baxandall häme sich mehr erwartet: ~as zeitgenössische Kri(iker über Chardin schreiben, ist manchmal von Intere5S(:, aber nichl fur dicse An von Fr:tgen. Besonders enll2uschend iSI das im Falle Diderots. ~ Mich.ad Bax.and.all: Ursachen der Bilder. (Panerns of Ißlemion, 1985) Berlin: Reimer, 1990,S. 131. Rcnl DemoN hilt Diderol in Ikz.ug auf seine Ch.ardin-8esprechung sogar für ..inc:apable d'en assurer une transcription verbale·, man finde.pa! d'originaliu~. au reste, chale cri(ique, quant aux termesqu'il appLique ~ Chudin." Rem' Demoris: Chardin. La chairet I'ob}et. Puls: Adam Biro, 1991, S. 155. Zur Theorie der Bildbeschreibung siehe Qslur Bätsehmann: Bild-Diskurs. Die Schwierigkeit des Parler Peinrure. Bem: 8endi, 19n. Siehe dazu Marianne Robnd-Michd: Die Scde und die Augen - Die Ausführung und die Idtt. Chardin und die Ganungr:n der Maler~. In: J. O"mJin (1699·1779) - Wt'rk, Ht'rkllnjr, Wirkunl' Katalog hg. von der S(aadichen Kunsthalle Karlsruhc. Osdildern-Ruir; Hatje unn, 1999, S. 13-22.
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sich nach dem abgebildeten Gegenstand. 16 Selbst wenn sich die Sammler um Chardins Gemälde rissen, wollten sie trotzdem nicht mehr bezahlen als für die Gattung des Stilllebens üblich. Mit der Wiederaufnahme dieses Genres in der Spätphase stufte sich Chardin also freiwillig zurück. Aber gerade dies wusste Diderot an ihm zu schämn: ...Connaissez-vous en linera.rure un style propre a tout~ Le genre de Chardin est le plus faeile, mais aucun ~intre ViV2nt, pas mcme Vcrnet, n'est aussi parf.Ut d.ans 1e sien.... (Sau,. /765. IV. 349)
Auch Diderot unterwanderte die Gattungshierarchie auf sehr subtile Weise: Er riet den Künstlern keineswegs. sich aufgrund der außerordentlichen Herausforderung nur in der Historienmalerei zu üben. Im Gegenteil, je geringer der Anspruch, desto höher sei die Aussicht auf ein gelungenes Werk. Ein hervorragender Stilllebenmaler war dem Kritiker lentlieh lieber ab ein schlechter Historienmaler. Sein Aufruf zur Bescheidenheit stellt für das Stillleben ein anderes Genie in Aussicht - das der Technik und der Wahrheit: ...11 faUt, mon ami [gemeint: Grimm). que je vous communique une idtt qui me vient er qui ~ut-C:tre ne me reviendrail pas dans un autre moment, c'est que cette ~inrure qu'on appelle de genre dcvnil cue edle des Yieillards ou de eeux qui sont n6 Yieux; die ne demande que I'etude Cl de Ja patience, nulle verve, peu de ~nie, guhe de pobie. beaucoup de lechnique Cl de virite, Cl puis e'est tOUI.... (Salon /765. IV. 3461
Das Stillleben bringt als Gattung also nicht nur eine eigene ikonographische Tradition mit, es trägt als Medium bereits eine Aussage in sich: Nicht für die Idee oder "invemio" erlangt es Beachtung und Anerkennung. sondern für die WahrheitsdTekte, die es allein seiner Technik verdankt. Die Form selbsl erweist sich hier als ßcdeutungsträger. Wie schon der Name der Gattung verrät, impliziert das Stillleben stets eine paradoxale Form des Abbildens: Ob "Stillleben" oder "Nature morte" - der Begriff drückt. in welcher Sprache auch immer, ein widersinniges Verhältnis aus. Erst Stille bewirke Leben, man bringe die Natur nur zum Leben, wenn man sie "stillhält" oder gar "tötet"Y I.
Siehe dnu Anloine Schnapper: Biern CI revcnus de Chardin. In: Chardin (1699·1779), ibid.,
5.55-59. So Schnapper über die Situation Ch:udins:
..[...1i! n'avait pas enliht:men( (on de sc plaindrc dc ses ga.ins: a niveau de (alent com·
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parablc, la nature mone enrichissa.il bcaucoup moins que la peimurc d'histoirt: ou que le ponrait.... ibid., S. 58. Zur Begriffi:. und Thcoricgeschichle des Srilllebens siehe Ebcrhard König. Christine Schön (Hrsg.): S[iUlebc:n. (Geschichte du klassischen Bildg:mungen in QuellcnlOlten und Kom· ment:uen, Bd. 5) Berlin: Reimu, 1996.
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Wie sehr dieses "Leben" bzw. die Wahrheit des Stilllebens zu überzeugen vermag, drücken bereiu die antiken Ursprungsmythen der Gattung aus. Die Geringschänung der abgebildeten Objekte brachte den Künstler immer schon in ein Dilemma um die Anerkennung seiner KunsL So ~richtet Plinius von dem berühmten Maler Protogenes. der als Ikiwerk auf einem seiner Gemälde ein Rebhuhn dargeste.llt hatte. Dieses Rebhuhn rief bei den Betrachtern weit mehr Bewunderung hervor als der eigentliche Bildgegenstand. Der Künstler fühlte sich in seinem Können verkannt und übermalte schließlich die niedere Dekoration - ein Eingriff, den Kunsttheoretiker wie Franciscus Junius. Samuel van Hoogstraten u. a. bis in das 18. Jahrhundert hinein gutheißen werden. Der Künstler musste die Konkurrenz der schlichten Faktizität fürchten, da diese offenbar mehr Überzeugungskraft besaß als die von ihm ersonnene Kompositionen. Warum ist diese Kraft nun allein an das niedere Genre gebunden? Das Rebhuhn mag uns in diesem Zusammenhang als Wappentier des Stilllebens dienen, nicht nur, weil Diderot es zur Veranschaulichung des Beschreibungsparadox aufführt (s. o. "Qu'est-ce que cette perdrix? Ne le voyez-vous pas? C'est une perdrix. Et celle-la? C'en est une encore." Salon 1769, IV, 844), sondern weil e~n jener Vogel seit der Antike mit einem Mythos verbunden ist, der das Paradox dieser Gattung bestens zu erzählen weiß. Perdrix, der dem Tier seinen Namen gab, war der Gehilfe des Dädalus.· 9 Zum Verdruss des Meisters galt sein Helfer als geschickter als er. Wie Protogenes sein Rebhuhn suchte auch der eifersüchtige Dädalus seinen Konkurrenten zu eliminieren und stürzte ihn von einem Felsen. Der Knecht wurde daraufhin von Minerva in einen Vogel verwandelt, der jedoch nicht Riegen kann - das Rebhuhn. Der Ingenieur wird mit seinem Sohn daraufhin immer gewagtere HöhenRüge unternehmen und bei dem unvermeidlichen Absturz umso häreer aufschlagen. Dem Rebhuhn blieb diese Lehre erspart, Perdrix denkt noch an den einstigen Sturz und fürchtet fortan die Höhe. Weil er in Bodennähe blieb, lebte er letztlich länger.2
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König. Schön. ibid.• S. 69. Ovid: MnamorphOK-n. VIII, 235 ff. Di($ moralisic:rc.nd~ L::ktürc. Ovids war a.Is humanistisch~r Topos K-it d~m 16. Jahrhund~" bdunnl. Si~h~ z. 8. Bea( Wyss: Piet~r Bru~d - Landschaft mit Ibrussrurz.. Frankfurt 2. M.: Fischer, 1990.
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2. CHARDINS SnLlEBEN UND DIE GRENZEN DER BESCHREIBUNGSKUNST
Dem Stillleben sind von vornherein die Flügel gestutzt. Gerade diese Zu· rückhaltung ermöglicht dem Bild jedoch, das Auge des Betrachters mehr zu fesseln als andere Kunnganungen. In diesem Sinne denunzien es die Hybris der höheren Gattungen. Für unseren Zusammenhang ist lentlich ausschlaggebend, dass ein Künstler seine stoische Nichteinmischung am besten an solchen "toten" Gegenständen demonstrieren kann. Sie befinden sich bereits in ihrer natürlichen, weil endgültigen Haltung. Der Künstler muss sie nicht inszenieren und nicht einmal einen Augenblick auswählen, in dem er sie festhalten will - so auch Diderot: ,,11 est vrai que ces ob~ts ne changenl point sousles yew: de I'aniste. leiS illes 2 VUS un jour, leis illes retrouve le lendem2in. 11 n'en est pu 2insi de 12 n2ture 2nim«i 12 conSfance n'esl 1'2ltribul que de 12 pierre... (Salon /765, IV, 348)
Die übeneugende Abbildung des Seins kann im Stillleben gelingen, weil sie auf Kosten der Lebendigkeit geht. Das Stillleben bedarf der Regungslosigkeit seiner Gegenstände, damit die Aufnahme gelingt - ganz wie in der Fotografie. Erst wenn die Dimension der Zeit ausgeschaltet wird, der Autor also nicht durch das Festhalten eines subjektiv gesehenen Augenblicks in die imeressengeleitete Interpretation verfällt, vermag er die Dinge an sich zu fassen. Diese gattungs- bzw. medienbedingle Grundvoraussenung des Stilllebens könnte auch Chardin dazu bewogen haben, sich in seiner Spätph~ wieder auf dieses Genre zu spezialisieren.
Chardins Weg zur reinen Sichtbarkeit Um die EnrwickJung des fotografischen Effekts in Chardins Arbeitsweise nachzuvollziehen, seien die einzelnen Werkphasen kurz vorgestellt. Die einschneidenden Wendemarken in Chardins CEuvre sind leicht auszumachen: Er begann seine Laufbahn mit Stillleben, gab diese Ende der dreißiger Jahre auf, um sich ausschließlich der Genresz.ene zuzuwenden und brach zu Beginn der fUnfziger Jahre erneut mit dieser Strategie. um zum StilUeben zurückzukehren. In hohem Alter wandte er sich schließlich - wie es heißt wegen einem Augenleiden, das ihm die Ölfarbe verbot - der Pastelltechnik zu. Auch Dideror wird sich zu dieser Zeit, d. h. Anfang der siebziger Jahre. als Kritiker zurückziehen. Dem jungen Chardin war es 1728 gelungen. obwohl er nie die Zeichenklassen der Akademie besucht hatte, mit Ln RAj~ (Abb. 7) und L~ Buffit als ..peimre dans le talem des animaux et des fruits" in die königliche Akademje aufgenommen zu werden. ll Die ersten Stillleben dieser Phase zeigen Ensembles
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Abb. 7. jra".&ptuU Simltm Charm,,: rair. /728. 114.5 x 146 cm. Paris, Musu du UUIIrL.
mit Früchten, Porzellan, GlasAaschen, Zinnkrügen sowie erlegtem Wild in den .. re[Our de chasse" - kurzum: das traditionelle Repenoire der Ganung. Chardin verzichtete auch damals schon auf übenriebene Exotik oder Extravaganz. Was die frühen von den späten Stillleben jedoch grundlegend unterscheidet, sind die hier noch aufgefühnen Zitate aus der Vanitassymbolik (Austern, geschälte Zitronen etc.) sowie die Darstellungen von lebenden Tieren. Neben Papageien sehen wir Katzen oder Hunde, die das labile Gleichgewicht der Arrangements bedrohen. Chardin arbeitete schon in dieser Zeit mit dem für ihn typischen pastosen Farbaunrag und einer aus dem Braun heraw entwickelten Farbpaleue. von der er das Orange. Rot oder Grün der Früchte oder das Rosa des rohen Fleisches kontrastreich absetzt. Sein Frühwerk umfasst außerdem einige Supraporten, die er als erste Aufrragsarbeiten angenommen hatte, sie umfassen die Attributs des ans. du peintTe. de I'architccte. des scicnces. 11
Zu Chardins Anfingc'n siehe Pietre Rosenlx:rg; Chardin - die AnFmgc' eines Autodidakten. In;/. S. CharJi" (J699-1779) - Wn'K. Hn'lrunft. Wirlru"l. ibid.• S. 23·30.
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Abb. 8. jta,,·&pJislt Simlon Chardin: Natu" mom au ca", tk maNk. J730. 40.5 x 32,5 f11I. PariJ. MUJIt du Loulm.
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In den dreißiger Jahren bildet sich mit den Küchensüll1eben der zweite Schwerpunkt der Frühphase heraus. Wir sehen Lebensmittel im Rohzustand, Küchengeräte, Tonkrüge, kupferne Pfannen und Kessel (Abb. 8). Chardin reduziert seine Farbpalette noch radikaler und überrascht den Betrachter mit sehr kleinen Formaten, die seinen rauhen Farbaufrrag noch deutlicher zum Vorschein bringen. Innerhalb der vorherrschenden Brauntonigkeit akzentuiert er einzelne Flächen, die er mit einer dünnen Schicht weißer Farbe überzieht, oder indem er durch weiße Tupfen, die sogenannten "touches", LichtreAexe andeutet. Trotz der monotonen Farbigkeit faszinieren seine Gemälde durch ihr verhaltenes Schimmern. Im Hinblick auf die Motive und ihre Anordnung bleibt Chardin seiner selbsrverordneten Schlichtheit treu, er variiert ein und dieselben Themen jeweils nur geringfügig. Der Maltechnik nach entwickelte sich der fotografische Effekt bereits in der Frühphase, er sticht jedoch aufgrund der traditionellen Motive noch nicht so deutlich ins Auge wie in den späten Stillleben. Wann genau Chardin seine erste menschliche Figur malte, ist heute nicht mehr fest'ZusteUen. 22 Einen klaren Bruch weist nur sein Ausstellungsverhalten auf: In den Salons von 1737-1748 war Chardin nur noch mit Genreszenen vertreten. Die Strategie lohnte sich, denn Chardin gelang mit diesen Gemälden der Durchbruch beim Publikum. Die Motive dieser Phase zeigen zum einen Frauen bei alltäglichen Hausarbeiten wie Wasserholen, Wäschewaschen, Rübenputzen, Räumen oder Säubern und zum andern Kinder, die in ihr Spiel mit Seifenblasen, Kreiseln, Karren, Würfeln oder Bällen versunken sind oder unter Anleitung eines Erwachsenen das Lesen, Schreiben, Beten, Ankleiden o. ä. lernen (Abb. 9). In den späten Genreszenen stellt Chardin schließlich auch die Dame des Hauses in müßigen Momenten dar (Abb. 10). In dieser zweiten Werkphase nehmen die allegorischen oder emblematischen Anribure deutlich ab. Zwar referieren Würfel oder Seifenblasen noch die traditionelle Symbolik, aber in Chardins Genreszenen erscheinen diese Objekte tatsächlich nur noch als banale Alltagsgegenstände. Die dargestellten Momente fesseln den Betrachter, weil sie wie aus dem Leben gegriffen scheinen. Da die Frage nach den holländischen Vorläufern bzw. nach Chardins Fortsetzung und Veränderung der ikonographischen Tradition keine nennenswerten Ergebnisse gebracht hatte 23 , tendierte die Chardin~Rezeption dazu, die II
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Es handelt sich wahrscheinlich um Unt[mimt occupü acachtttr unt kttrt (ca. 1733). Chardin hatte seine Werke in der Regel nicht datiert. Wir wi.ssc.n daher meist nur, wann er sie zum ersten Mal ausgestelh haL Tron einer nicht enden wollenden Liste möglicher Vorbilder (in der Literatur werden Pieter Boel, Jan Fyt, WllJem Kalr, Frans van Mieris. Caspar Netscher, Pieter de Hooch, Nicolas Maes. Gerrit Dou, Ger:ud Terborch, Gabrid Meuu, Pieter van Boude, Godfried Scha.lcken, Jan Steen u. a. genanm. deren Motive durch die Zirkulation von Stichen in Paris hinlänglich
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2. CHARDINS SnLLEBEN UND DIE GRENZEN DER BESCHREIBUNGSKUNST
Abb. 9. }tan-Baptillt Simlon Chllrdin: La goUW"Ulnu. 1738, 46,5 x 37,5 cm. OrtilWIl, Gllkrit Nltionllk du CIlmuill.
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DAS SEHEN SEHEN
Abb. /0. }tan-Bapti.1U Simlon Cha,din: Unt damt qui p,md du thl. 1735. 80 x 101 (711. GLugow, Huntman MuJtum anti Art Galkry.
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CHARDINS ST1U.EBEN UND DIE GRENZEN DER BESCHREIBUNGSKUNST
Genreszenen vor allem mit dem sozialen Kontext des 18. Jahrhunderts in Verbindung zu bringen. Nach Pierre Rosenberg liefert Chardin mit seinen Gen~ reszenen "Ia plus parfaite image de la bourgeoisie laborieuse et honn~te de san temps"H und Germain Bazin bezeichnete ihn sogar als Maler des "Tiers Etat"2~. Man sieht in Chardin vor allem einen "Realisten" seiner Zeit. Chardin konzipierte seinen "Realismus" dabei in einer anderen Weise als z. B. Greuze: Während leuterer vor allem lebensnahe Themen wählte und damit noch weitgehend narrativ blieb, bemühte sich Chardin um eine Momenthaftigkeit, die keine erzählerische Intention mehr verfolgt. Die dargestellten Szenen erscheinen als zuHillig gewählte Fragmente des Alltags und nicht als Höhe- oder Wendepunkte einer Handlung. Jeder Moment ist uns hinlänglich bekannt, aber doch auch fremd, da wir ihn in seiner Bedeutungslosigkeit nie bemerkt hätten. So schreibt Andreas Gruschka zu Chardins Kinderbildern: "Chardin ~rühlt in jed~r d~t pädagogisch im~tessam~n Szen~n ~in~ Geschicht~ und V~t schw~igt si~ zugl~ich. And~rs als ~rühlende Maler vermeidet er Attribute und Charakterisierungen, die die Enählung so pointieren, dass der Betrachter weiß, was im gezeigten Augenblick geschieht. Um einen solchen entscheidenden Augenblick muss es auch bei Chardin gehen, aber er lässt sich nicht SO ohne w~it~res ausmachen;"l6
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bekannt waren), konnte keiner der Versuche, Cha.rdins diffusen Zitaten nachzuspüren, zu einer bedeutsamen Schlussfolgerung führen. Es gilt somit nicht 'Zu besrreiten, dass Chardin aufdie Niederländer zurückgriff. sondern nur fesnuhahen, dass er d:lmit nicht unbedingt eine inhaltliche Tl'2dilion fortsente. Angelika Breitmoser vermutet d:lher, dass sich Chardin der Nied~rländer nur bediente, um dem Betrachter durch gefällige Motive entgegenzukommen: "Im 18. Jahrhundert schon gar sind di~ Dinge einfach Stilmind geworden, die die Bildkomposition vereinf:lchen, ja, nach denen d:ls Auge gel'2dezu sucht, um sich sofort im Bild zurechtfinden zu können. Orientierungshdfer, Richrungsweiser, Versuebungen innerhalb der Komposition, die dem Bild auch erw:lS Venrames, Bekanntes geben." ibid., S. 87 Nach Susanne Kronbichler-Skacha waren zudem die Voraussenungen fur eine allegorische oder emblem:llische Lektüre 'Zu dieser Zeit nicht mehr gegeben: "Inwiefern die verschlüsselte Symbolik der niederländischen Malerei des 17. Jahrhundens, die Chardin von diesen Vorbildern in seine Genreszenen aufnahm, auch tatSächlich vom Bürgertum des 18. Jahrhundens verstanden werden konnte, ist nicht zu entscheiden; aus den Texten der Stiche wird ersichtlich, dass man den Syrnbolgehalt eindeUlig nur im Thern:l des Kartenhauses, der Seifenbl:lSen und im L'mfam IlU lomon als Vanit:lS erkannte." ibid., S. 146. ibid. (1979), S. 37. Siehe dazu Germain Bazin: Chardin, Peintre du Tiers Etat. In: L 'CEil· Rnm~ dan mmsuak, No. 289, März 1979, S. 28-35. Sowie ausführlicher Ella Snocp-Reitsma: Chardin and the Bourgeois Ide
234. Andre:lS Gruschka: Eine BJickschule. Chardins Beobachtung pädagogischer Ptaxis. In: j. S. Chnrdill (1699- J779) - Wuk, Hukunft. WIrkung, ibid., S. 67-75. Hier: S. 67. Sowie dcrs.:
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Abb. / J. J~an-BaptiJu Simion Chardin: Pani" Je pruna aw::c un w::rr~ d'tau d dnni pkin. tkux uris~s, un noyau d trois amarukr vt:rtn. 0. D., 38 x 47 Nn. Rmna, Musü MS B~aU)( Ans.
Diese Ambivalenz des gewählten Augenblicks verhindere, dass man eine enieherische Aussage in das Geschehen hineinlesen könme. Ganz nach Diderots Definition von Moral erweist sich die Beobachtungshaltung des Autors als teilnahmslos und damit als tolerant bzw. "moralisch". Allein das Aufnahmever· fahren (als fragmentarische Momentaufnahme) nicht die inhaltliche Aussage macht den Unterschied. Wenn Chardin sich Ende der vierziger Jahre wieder von der Genreszene abwandte, um nach fünfZehn Jahren erstmals wieder ein Sdllleben zu malen, so verließ er den eingeschlagenen Weg keineswegs. Im Gegenteil, er radikalisiere vielmehr die sich andeutenden fotografischen Tendenzen. Selbst wenn er in der Öffentlichkeit auch weiterhin noch ältere Genreszenen ausstellte, konzentrierte sich sein Schaffen nun wieder allein auf die Nature morte - es entstehen jene Stillleben, die Didetot von 1759 an sehen und besprechen wird. Bestimmte Unbestimmtheit. Pädagogische Lektionen bei Chardin. Wenlar: Büchse der Pandora. 1999.
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Abb. 12. J~an-Bapti!U 5imton Chardin: Panü"k plehn tt rai!in btanc tt noir awc rafraichi.IJoir ~t wrr~ api~d. 0. D. 38 x 47 on. Rmn~J, Mwir d~J &aux Am.
B~üglich
der dargestellten Gegenstände sind zunächst nur wenige Umer· schiede zu den Stillleben der Frühphase zu erkennen. Chardin verzichtet jedoch zunehmend auf Objekte, die noch in einem ikonographischen Zusammenhang gelesen werden könnten. Er verlässt die Welt der Dienstboten und ihrer rauen Hausarbeir und begibt sich nun in den Alltag der Esszimmer und Salons, die seine Käufer als ihre tatsächliche Umgebung erkennen können. Die Kupferkes· sei, Waschzuher und Tonkrüge werden abgelöst von dem hellem KorbgeAecht von Obsrkörben, weißem Porzellan und milchigem Glas. 21 Start rohem Fleisch und Fisch finden wir eher Obst, Brot und Gebäck, starr Lauch und Zwiebeln
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Chardin gab dabei das zu seiner Zeit verwendete Geschirr pmise und fur den Betrachter idemifizierbar wieder. Siehe dazu Marie-Laure de Rochebrune: Apropos de qudques objcts de ceramique el dc verre dans la peinrurc dc Chardin. In: Chardin (J6!J9-/779J, Katalog hg. von Piwe Rosenberg. Paris: RMN, 1999. S. 37-52.
2. I. DAS SEHEN SEHEN
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Abb. / 3. J~an~BapriJu Simlon Chardin: La brioch~. /763, 47 x 56 an. Paris, Mwlt du LOUIJ".
zieren nun Blumen die Arrangements (Abb. 11-15). Der Betrachter wird zum Zugreifen geradezu eingeladen. So bemerkte auch Diderot: ..C'est toujours la natur~ ~t la verit~; vous pr~ndriez. les bout~illes par I~ goulot, si vous avjez soif; les peches et les raisins &~iI1~m I'appetit ~t appell~m la main."
(Sa"'. /759, IV, 197)
Mit den späten 5tilUeben geht aber auch ein Wandel der Abbildungsstrategie einher. Der Wahrheits- bzw. Natürlichkeitseffekt wird nun durch andere Techniken erzeuge als in der Frühphase. So bemerkt Pierre Rosenberg: "D~ux r~marques
s'imposem: ri~n n~ perm~t d~ confondr~ un~ narur~ mort~ d~ cene period~ avec un~ d~ celles peimes ~ntr~ 1725 ~t 1735. Qu'on comparc un des lapins mons d~ C(: mom~m avec un d~ ceux ex&utes un quart d~ siecl~ plus tard. Dans les pr~mieres cruvres, Chardin s'imeresse au r~ndu precis, verist~ du poil d'animal, des gris ct des blancs d~ son pelag~; I~ lapin occupe un~ larg~ surfatt du (abl~au. Ici, au contrair~, ce som l~ r~ndu des masscs des volumes qui preoccupe I'artisr~; ~n outr~,I~ composition
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2. CHARDINS STILLEBEN UND DIE GRENZEN DER BESCHREIBUNGSKUNST
Abb. 14. flan-Baptiste Simlon Chardin: U pani" tU fraisa tU bois.
0. D.• 38 x 46 an. Paris, PrilJaIJllmmlung. esl cl'une parfaire rigueur, cl'une simpJicile lOute c1assique Cl n'a plus ce ct)le clallsant. 'mouvam', inSlable des premiCrcs or::uvres (... J. "21
Es geht Chardin weiterhin um Formen des Verismus bzw. Realismus, aber er entwickelt nun andere Methoden diese zu erzeugen. Der fotografische Effekt, so meine These, tritt nun noch klarer hervor. Chardin reduziert die Motive noch stärker, indem er die Szenen nun ohne erkennbaren Raumzusammenhang wiedergibt. Ein diffuses, fast schon nebliges Licht verleiht den Gegenständen einen matten Glanz. Chardin sent nur noch wenige Akzente und verzichtet weitgehend auf die weißen "touches" der LichtreRexe. Die Plastizität der Gegenstände wird insgesamt zurückgenommen, so dass sich der Eindruck von Flachheit einstellt. Darüber hinaus arbeitet Chardin an der größtmöglichen Vereinfachung der Kompositionen. Er spielt nicht mehr mit dem waghaJsigen Gleichgewicht von hergerichteten Ensembles, sondern präsentiert Anordnungen von höchster Einfachheit und Schlichtheit. Die Objekte werden auf stere21 Rosenberg (1979), ibid., S. 296.
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2. I. DAS SEHEN SEHEN
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Abb. 15. ftan-Bapruu Simlon Chardin: u boeal d'olivts. /760. 7/ x 98 C'm. Paru, Musü du LOUlITt.
ometrische Grundformen reduziert und nach einem Musu~r arrangiert. das er nur geringfügig variiere: Die zentralen Gegenstände befinden sich häufig in der Bildmitte oder markieren mit einer ihrer Seiten die Mittellinie des Bildes. Alle anderen Objekte finden sich locker um diese Achse gestreut:. Die Größe der Gegenstände nimmt zum Rand hin ab. so dass sich primitive Dreieckskonstellationen ergeben. Die Objekte befinden sich auf einem Steinsims, den Chardin stur immer wieder auf derselben Höhe ansetzt. Dieses hier nur grob zusammengefasste Muster9 verfolgt Chardin mit einer Harmäckigkeit und einer frappierenden Entwicklungslosigkeit. die es eigentlich unverständlich werden lassen. wie das Salonpublikum und Kritiker wie Diderot ein ganzes Jahrzehnt lang nach nichts anderem verlangen konnten. Wozu Chardins Versessenheit? Und vor allem: wofür all dieses Lob? Die Chardin-Rezeption hat die Rückkehr des Künstlers zum Stillleben bisher nicht deuten können. Mancher führte die neue "Eintönigkeit" in Chardins Z9
Zu ausführlichen Bildbeschrcibungen auch einz.elncr Stillleben siehe Holger Broeker: Zur Bildkonz.eption der Stillleben Jean Simton Chardins. Ein Beitrag zur Geschich(c der Gattung. Münster: Lit. 1993.
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2. CHARDINS STILLEREN UND DIE GRENZEN DER BESCHREIBUNGSKUNST
Spärwerk sogar auf Ideenmangelzurück.3
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So meim 7.. B. Wilhdm Pinder: ..Vierzig Jahre liegen hinter ihm - ein WachStum vom Detail zum Stillleben, vom SliIIleben 7.um Genre, vom Genre 7.um interieur; und an diesem einen Punkte ist jedes Stadium des Weges sichtbar. in den vienigJahren, die folgten, war kein neuer mehnu bahnen." Wilhelm Pinder: Jan Bapliste Sim&m Chardin. in: Gaammau Aufiiitu aus tim Jahrm 1907-1935, hg. von Leo Bruhns. Leip7.ig: Seemann, 1938, S. 21-28. Hier 5.28. Vor allem aus der anglo-amerikanischen Kunstgeschichte kamen die entSCheidenden Impulse. Chardin auch mediengeschichtlich 7.U untersuchen. Siehe dazu Colin B. Bailey: Nouvdles aniludes anglo-saxonnes. In: Rosenberg (1999), ibid., s. 77-95. Bailey analysiert in seinem Beitrag die Chardin-R=plion von Michad Fried, Norman Bryson, Thomas Crow und Michad Baxandall. Ich ziliere im Folgenden aus der deulschen Oherserwng: Ursachen der Bilder. Berlin: Reimer, 1990. Baxandall möchte u:igen, wie man "in krilischer Absichl die Bez.iehungen zwischen dem visuellen Interesse von Bildern und [...1dem systematischen Denken - Wissenschaft und Philosophie - jener Kuhur, der heide enlSlammen" (ibid., S. 123) ergründen kann.
2. 1. DAS SEHEN
SEHEN
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Dureh diese Summierung von Seheindrücken sei es Chardin lenclieh gelungen, den Wissensstand seiner Zeit auch in der Kunst w reflektieren: Das Sein der Dinge bleibe für das Sehen unerreichbar. der Blick vermag nur die Ober· Räche zu erhaschen, nicht aber das Wesen und die Substanz: "Ich möchte also behauplen. dass wir es hier mil einer An. Lockescher Version der Geschichte von ApoikJ una Dilphn~ z.u tun haben, mit einer ememen Insz.enierung der Verblüffung angesichts der Flüchtigkeit und gänzlichen Unc.rgrcifbarkeit der Frau [...]. Lockesehe Bilder $leUen im Gewand einer Sinnesempfindung die Wahrnehmung von SubSlanz oder komplae Idttn über Substanz dar, nicht die Substanz selbst. ")4
Die von Baxandall angeführten Prinzipien (die Summierung von Augenblicken, die Verschachtelung von verschiedenen Blickwinkeln etc.) hatten wir in den obigen Ausführungen noch als charakteristisch für die visuelle Kultur des Barock ausgewiesen. Indem Baxandall seine Studie einzig auf die naturwissenschaftlichen Traktate über das Sehen bezieht, vergissr er zu fragen, ob der damalige Betrachter auch so gesehen und empfunden hatte. Gerade Dideror themarisierr keineswegs die AuRösung der Objekte in multiple Ansichten und Seheindrücke, sein mehrmals wiederkehrender Awruf zu Chardin lauter ganz lapidar: "Cesr la 'UbSWle< meme des objers!" (Saum /763.lV, 265) ehanun, Kunst hat sich sehr wohl mir dem Sehen befasst, aber wie wir an den Reakrionen der Zeitgenossen nun belegen werden. ging es ihm nicht um eine Ideenkunst über das Sehen, sondern um eine Kunst des erlebten Sehens. Wie Dideror in seiner srummen Eloge auf Chardin, fallr es auch uns schwer, den gewissen Effekt in Chardins Bildern in Worte zu fassen. Wie können wir überhaupt belegen. dass sich Chardin in den spären StiUleben um die Awarbeitung eines visuellen Phänomens bemühte? Da uns keine Selbsraussagen des Künstlers vorliegen. sei nochmals auf die Fakren seines Werdegangs zurückgegriffen. Chardins Karriere zeugt von einem ausgeprägten Konkurrenz· bewusstsein. Da sich ein Stilllebenmaler kaum durch die Morive von seinen Mitstreitern unterscheiden kann, arbeitete Chardin, so meine These, vor allem an seiner visuellen Srraregie. Zu Beginn seiner Laufbahn erfreure sich insbesondere das Stillleben ,,3 la manihe Aamande" großer Beliebrheit, auch Chardin folgte dieser Mode. Seine Technik überuugte so sehr, dass er von den Zeitgenossen gar als "Teniers fran~is" oder "Rembrandt &an~s" gefeierr wurde. Wie Charles-Nicolas Cochins in seinem Essai sur!a tJi~ tk Chardin (1780) berichtet. gelang dem jungen Chardin die Aufnahme in die Pariser Kunstwdt mit einem bemerke.nswerten Coup.
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ibid., S. 152. ibid., S. 157.
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2.
CHARDINS STiLLEBEN UND DIE GRENZEN DER BESCHREIBUNGSKUNST
Der eigentliche Meister des nordischen Stils war in den zwanziger Jahren der Maler Nicolas de Largilliere. Als er Chardin einen ersten Atelierbesuch abstattete, inszenierte der noch unbekanme Aspirant das folgende Verwirrspiel: "M. de Largilliere I...] vinr cnez lui. 11 s'arrCla 11. regarder ces tableaux avanl que d'enner dans la cnambre OU elait M. Chardin. En y emram, illui dil: 'Vous avez 111. de lrCs bons lableaux. 11 som süremem de quelque bon pe:inne flamand. [...] Voyons maimenam vos ouvrages. - Monsieur, vous venez de les voir, dil M. Chardin. - Quai? ce som ces lableaux que... - Oui, Monsieur. - Oh! mon ami, dir M. Largilliere en l'embrassanr, prtsentez-vous hardimem. "JS
Zu Beginn seiner Laufbahn musste Chardin sich noch an den Maßstäben anderer messen lassen. Er ahmte dabei den jeweiligen Effekt so treffend und überzeugend nach, dass er gar mit seinen Vorbildern verwechselt wurde. Das Verhältnis kehrte sich in der Spätphase um, nun war Chardins eigenes Werk tonangebend. Nach dem Tod seiner direkten Konkurrenten Nicolas de LargilJiere, Jean-Baptiste Oudry und A1exandre-Fran~ois Desportes kopierte die jüngere Generation nun von Chardin: Nicolas-Henry Jeurat de Berry, Roland Delaporte, Anne Vallayer-Coster und Nicolas Desportes versuchten seinen Stil nachzuahmen. Diderot fiel es jedoch nicht schwer, sich zu dem Meister zu bekennen. Die Nachahmer blieben in seinen Augen stets ..Opfer" Chardins. Über Nicolas Desportes bemerkt Diderot zwar, dass der Laie den Unterschied zwischen einem Nachahmer und Chardin wohl kaum wahrnehmen würde (,,[ ...) je gage qu'i1 n'y a pas cinquante en etat de distinguer ces tableaux de ceux de Chardin." Salon 1765, IV, 363), für seinen Blick blieb der Unterschied jedoch unüberwindbar: ..11 est plus aise de passer du POnt Notre-Dame36 a Roland Delaporte que de Roland Delaporte a Chardin." (Salon 1765, IV, 376) Es handelt sich also um einen Unterschied, den nicht jeder sofort sieht, vor allem nicht, wenn er nur auf die abgebildeten Gegenstände achtet (s. u., Abb. i6-17)Y Diderot hingegen erkennt Chardins visuelle "Handschrift" auf den ersten Blick: ..11 ne faut aChardin qu'une poire, une grappe de raisin pour signer son nom." (Salon 1769, IV, 844) Chardins Rückkehr zum Stillleben dürfen wir daher keinesfalls als Stillstand werten, sondern als ausgeklügeltes Spiel um die Vorherrschaft und Meister-
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Nicholas Cochin: Essai sur l.a vie de Chardin. Als Quellenrext in Marianne Roland-Michel: Chardin. Paris: Hazan, 1994, S. 268. Auf der Norre-Dame Brücke srellten damals die Studenten und Nachwuchskünsder ihre ersten Werke aus. Zum Verhälrnis von Delaporte und Chardin siehe Gerda Kircher: Chardins Doppe:lgänger Roland Delaporte. In: Ciuro,,~, Bel. 20, 1928, S. 95-101.
2. I. DAS SEHEN SEHEN
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schah. Er musst~ nun ~in~n Vorsprung gegenüber d~n Jüng~ren sichern. An Spielraum mangelte es Chardin diesbezüglich nicht: Er befand sich zu B~inn der fUnfz.iger Jahre in dn~r finanziell und institutionell abgesicherten Position. 38 Er ging also kein Risiko ~in, wenn er sich von der äußern erfolgreichen G~nreszenen abwandte. Befreit von den anfanglichen Sachzwängen, konnte Chardin sich nun aussuchen, mit welchen Themen und in welcher Gattung er seine Kunst weiter entwickeln würd~. Dass Chardin erst zu diesem Zeitpunkt begann, sich voll und ganz auf di~ Ausarbeitung seiner visuellen ..Magie" zu konzentrieren, belege auch seine veränderte Einstellung gegenüber d~r Kopie. Chardin hatte den hohen B~kanntheitsgrad seiner G~nreszenen nur erreichen können, weil er sich der n~uesten Reproduktionstechniken bedj~nte und bei den Nachstichen durch entsprechend hohe Auflagen die größtmögliche V~rbreitung seiner Motive zu erreichen wusste. Diese Taktik erlaubte es ihm in der Frühphase, als er seine Ölgemälde aus finanziellen Gründen oft rasch an Sammler verkauften musste, in der breiteren Öffentlichkeit präsent zu bleiben. Es schadete ihm kaum, wenn ihm gelegentlich nur noch wenige Werke für die Präsentation im Salon übrig blieben. (Oudry stellte im Salon von 1751 z. B. achtzehn Werke aus, gegenüber nur einem Chardin. 39) In den Stichen ging die Qualität des visuellen Effekts freilich verloren. Chardin scheint bei den Genreszenen offenbar noch keinen gesteigerten Wert auf dessen Erhalt gelege zu haben. Für die Verbreitung seiner Motive reichte ihm die Kopie einzelner Figuren bzw. Bildausschnitte. Erst in der Späephase konnte Chardin, nunmehr ohne Geldsorgen, auf diese An von Werbung verzichten und das Salonpublikum mie Originalen belohnen. In den s~chziger Jahr~n wird er jeweils mit mindestens sieben Stillleben im Salon vertreten sein. Von dies~n neueren Arbeiten untersagt~ Chardin j~gliche Reproduktion durch andere, er kopierte sich nun ausschließlich selbn und zwar in Öl. Von einigen Stillleben existieren bis zu fünf fase deckungsgleiche Versionen.~o Wie ungewöhnlich es war, dass ein Meister die Vervielflihigung selbst in die Hand nahm, belegt die Erwähnung seiner als extrem geltenden .M
Chardin war 1743 zum akademischen R:n und 1755 zum Schaameister der Akademie gewählt worden. Der König hatte ihm seit 1752 eine lebenslan~ Pension zuge;sichen und ihm 1757 eine Wohnung im Louvre zur Verfügung gestdh. Seine Rente wird sich 1763 noch erhöhen. da er von nun an als Hingemcister (,.upissier) die Salonausstdlungen arrangieren wird. Siehe dazu Dorit Hempdmann: Maitre-Peintre. Consdller, Tr60rier, Tapissier - Chardin und die Akademie. In:). S. Cha,.din (1699-1779) - Wn:t. Hn:tunft, Wirb"". ibid.• S.
31-39. " Tatsächlich konnle Chardin, zum Lcidwesc:n des Publikums, häufig nicht mehr als drei bis vier Werke je Salon ui~n. $0 entsland wohl auch das eigendich nich( haltbare Gerücht, Chardin male sehr langsam. Siehe dazu Roland.Michel (1994), ibid., S. GO. * Siehe Didn-ot ~t !im dr &uch~,. a David. La SaLon! 1759-1781, ibid., S. 149.
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2. CHARDINS SnLLEBEN
UND DIE GRENZEN DER BESCHREJBUNGSKUNST
Haltung im Enzyklopädie-Anikel Copj~ Chardin war offenbar der einzige Künsder seiner Zeit, der behauptete, niemand könn~ s~in~ Werke so kopi~ren. dass ~r d~n Uß[~rschi~d nicht b~m~rk~.·' Auf di~ Motiv~ kam es ihm in der Spätphas~ also nicht m~hr an, di~ G~g~nständ~ s~in~r spät~n Still1~ben konnt~n unspekra.ku1är~r kaum sein. woraus sich schli~ßcn läßt. dass Chardin dem B~uachter nun erwas and~res zu seh~n gab: das S~h~n selbst.
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Wie der Artikel Q,pj~ in der Enzyldopädie berichlet, habe Chardin immer nur seinen eigenen Augen vertraUI und nie den Kennern oder Experten; "M. Chardin prttendaü que, quelle que Ail la copie qu'on fera..iI d'un de ~ U1bleaux, il ne s'y mtprendrail jamais, er que une copie rerait ou plw belle (ce qui serait difficile), ou moins belle que I'originale. On lui objecta des amoriles, iI n'en point ebmM ; (...1ajouwu qu'i! n'y avail point d'absurdiles, [... 1, dans lesqueUes on ne Rn prkipilc, lorsqu'on sacrifierail ~ lumihes a des noms t:t a des passages." Enzyklop2idie-Aritkd, die nichl in der Versini-Ausgabe als von Diderol selbst geschriebene Tale aufgd\ihn sind, zitiere ich im Folgenden entSprechend
nu
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2.2. "L'CEIL RECRtr." - DIDEROTS AUGE AUF CHARDIN
2. 2. "L'ceil recree" - Diderots Auge auf Chardin Selbst wenn Dideroc sich von Chardins Scillleben zum Schweigen verurceilt sah, suchte er dennoch nach Wonen, die visuelle Faszinacion zu beschreiben, die diese Bilder auf ihn ausübten. Sein Kommemar vermag auch uns die Herangehensweise zu erleichtern: Wir brauchen nicht auf unsere eigenen Eindrücke zurückzugreifen, die immer schon von der Kenmnis der Focografie beeinflusst sind. Diderots Beschreibungen erlauben uns, mit den Augen desjenigen zu sehen, der die neue Technik noch nicht kanme, aber doch schon einer ähnlichen Wirkung umerlag. Wir erhahen in seinen Ausführungen eine Erklärung über die Funkcionsweise dieser Bilder. ohne dass der Effekt allein der Mechanik des Apparates zugeschrieben wird, so dass wir nachvollziehen können, welche epistemologischen Herausforderungen damit verbunden waren.
Das Paradox über die Details Wie bereits ausgeführt, überprüft Dideroc beim Betrachten von Kunstwerken, ob sie mit den Bildern seiner Imaginacion übereinsümmen. Man könme meinen, dass diese Herangehensweise sich im Fall des Scilllebens als überflüssig erweise. Rebhühner, Brote, Pfirsiche und Pflaumen scheinen nicht erst um ihre Glaubhaftigkeit kämpfen zu müssen. Nicht so rur Dideroc: Er weiß. dass seine Theorie gerade hier auf die Probe gestellt wird. Nur wenn er begründen kann, warum die abgebildeten Gegenstände eines Chardin besser funkcionieren als die in anderen Scillleben, wird er die Verallgemeinerbarkeit seiner Ästhetik behaupten können. Diderot muss den Leser zunächst daran gewöhnen. dass er im Fall von Chardins Stillleben die Qualität des Bildes nicht an den üblichen Kriterien festmachen kann: ..C'eS[ (Oll[ le tableau. Dispersez sculement all[our de la corbeille quclques grains de raisin separes, un ma~ron, une poire et deux ou trois pommes d'api. On conviendra que des grains de raisins sepaIis, un ma~ron, des pommes d'api isolees ne sont favorables ni de formes ni de couleurs; ~pendam qu'on voie le t2bleau de Chardin," (Salon 1765,
IV. 348)
Aller Einfachheit zum Trotz betOnt er: "Ce Chardin est un homme d'esprit;
il emend la theorie de son aer." (Salon 1759, IV, 197) Dennoch bleibt seine Begründung recht hilflos, er bemerkt lapidar: "On emend rien
(Salon 1763, IV, 265) oder "une magie de faire
a cette magie."
a desesperer"
(Salon 1767,
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2. CHARDINS STILLEßEN UND DIE GRENZ.EN DER BESCHREIBUNCSKUNST
IV, 593). Dass ein Aufklärer wie Dideror freiwillig von "Magie" spricht, mag verwundern. Tatsächlich benötigte er einige Salons, um die geeigneten Metaphern für seine Beschreibung zu finden. In den ersten beiden Salonkritiken von 1759 und 1761, in denen Chardin auch noch Jagd-Stillleben und einige ältere Genres:zenen gez.eigt hatte'u, begnügte sich Diderot mit der Erwähnung des Effekts, ganz so als habe er noch keine Erklärung dafür gefunden. Im Salon von 1763 wird Chardin nur noch neuere Früchtestillleben ausstellen, was Diderot auch sogleich bemerkt: ,,11 y a au Salon plusieurs petits tableaux de Chardin; ils representent presque raus des fruits avec les accessoires d'un repas."43 (IV, 264) Angesichts dieser Bilder spricht Diderot immer wieder von "Wahrheit", Chardin wisse die Natur an sich abzubilden: "une imitation tres fidele de la nature", "une extreme verite" und "C'est la nature meme. Les objets SOnt hors de la toile et d'une vecite a tramper les yeux." (IV, 264) usw. Er versucht daraufhin, durch die Beobachtung seiner Wahrnehmung nachzuvollziehen, wie das Sehen diesen Effekt registriert. Das zentrale Leitmotiv, das er stetig wiederholt, finden wir in der schlichten, aber bedeutungs reichen Formel, Chardin gebe dem Betrachter die Augen zurück: •
,.,Pour regarder les t:l.bleaux des amres, il semble que j'aie besoin de me fait(' des yeux; pout voirceux de Chardin, je n'ai qu'~ garder les yeux que la nature m'a donna, e[ bien rn'en servir." (IV, 264)
Eine seltsame Formulierung - sie unterstellt gewissermaßen, dass unsere Augen nicht immer gleich sehen, d. h., dass ein:zelne Bilder unsere Augen auf verschiedene Weisen beanspruchen und dass man seine Augen je nach Kunstwerk sogar umstellen müsse. Und damit nicht genug: In der Kunst werde gemeinhin ein "künstliches" Auge verlangt, eine Art Brille, die man sich erst aufsetzen müsse. Nur bei Chardin sei dies nicht von Nöten, die Augen könnten dort, und nur dort, ihrer Natur nach eingesetzt werden. So heißt Diderot im Salon von 1765 die Stillleben Chardins mit dem Ausruf willkommen: 44 "Vous venez. atemps, Chardin, POUf recreer mes yeux que votre confrere Challe avait mortellemenr affiig6." (IV, 345) Im Salon von 1767 Zum Salon von 1759 berichtel Didero[ folgendes gesehen zu haben: "Il y a de Chardin un &rour tU (hllJ.S~, des Püm tk gibi~r, un jnm~ ItelJ~ qui dmj,,~ lIU par In dor, une Filk qui fair tU 10 tapissaü, deux petils [ableaux d~ Fruits." (IV, 197) Und zum Salon von 1761: On a de Chardin un BI"Minl, des Allim~aux, des Va",,~aux, quelques aurres morceaux'" (IV, 218) ~j Mir Sicherheit läss[ sich rekonmuieren, dass die folgenden Slillleben zu sehen waren: u Bocal U
d'oljv~ +l
RaiJim ~t grmantUs, La
Brio(h~.
Ausgestellt waren laUi DiderOl: ~II a peim L~s Artributs da seimus, us Attributs da ans, ceux de la Musiqu~, des Raf
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2. 2. .,L'CEIL RECRtE" -
DIDEROTS AUGE AUF CHARDIN
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präzisiert er da.raufhin, dass diese Wiederhersrellung des Auges gewissermaßen instinktiv erfolge: "Eloignez-vous, rapprochez-vous, mcme illusion, point de confusion, poinr de symmetrie non plus, poinr de papillorage; I'~il est wujours rccrCi, para qu'il y a alme et repos. On s'arrcre devant un Chardin comme d'instincr, comme un voyageur fatiguc de sa roure va s'assc:oir, sans presque s'en apercevoir, dans I'endroir qui lui offre un siege de verdure, du silence, des eaux, de I'ombre er du frais." (IV, 593)
Der erzeugte Effekt sei also nicht nur für den Kenner zu sehen, Chardin wisse mit seiner Strategie jeden Betrachter für sich einzunehmen: "Quoi qu'il en soit, ses compositions appellenr indistinctemenr l'ignorant er le connaisseur." (IV, 593) Chardin bringe den Betrachter dazu, die Gemachtheit des Bildes zu vergessen und ihm schlicht und einfach zu glauben. Dabei reichen ihm dje primitivsten Mittel: "Les biscuits som jaunes, le bocaJ est ven, la servierte blanche, le vin rouge, et ce ja une, ce vert, ce blanc, ce rouge mis en opposition recreent !'reil par !'accord I< plus parfait [...)." (Salon 1765. IV. 348) Die Metapher vom wiedererschaffenen Auge zieht sich kontinuierlich durch die Chardin-Kritiken. Diderot betont immer wieder, eine Malerei vorzufinden, • der man die Malerei nicht mehr ansieht: ,,[... II'~il recrCi reste sarisfait er rranquille. Quand on a regardc longremps ce morceau, les autres paraissenr froids, dccoupts, plars, erus et d6accord6. Chardin est entre la narure er I'art; il relegue les auues imitations au troisieme rang. 1I n'y arien en lui qui seme la palwe." (Salon 1769, IV, 843)
Chardin sene sein Abbildungsverfahren so ein, dass man es gar nicht erst bemerkt und dies lasse seine Bilder so "wahr" erscheinen. Der Autor hat sich zurückgezogen: Chardins Stillleben sind keine Nachahmungen von Menschenhand, sondern wie von der Natur selbst geschaffen. Wir sehen sie, als ob kein Modus der Repräsentation dazwischen geschaltet worden sei. Bevor wir über Seitenblicke in andete Disziplinen und über den Rückgriff auf Platon versuchen werden. Diderors mysteriöse Metapher von der Wiedergeburt des Auges zu entziffern, wollen wir zunächst festhalten, durch welche Techniken es Chardjn gelang, diesen Selbstfindungsprozess des Sehens in Gang zu senen. Ober Chardins Arbeitsweise ist allerdings kaum etwas bekannt, nicht einmal Diderot wusste mehr darüber: "Je ne sais ce qui cn est; raichuummn. des Eruin, des Animeaux. 11 n'y a presque point achoisir, ils $Onr tous de la mcme perfcction. ~ (IV, 346) LaUt Rosenberg lassen sieh sicher idenrifiz.ieren; Corbeilk de rauim awc trou pommes dapi. une poire er deux masupim. Pani" de pnmes, avec noix, grtJseiiJes et C"ues, Omitrd mon pendu par
iIl patte awc patl. lcuelk et bocal d'olives. Bl'lyerlsche Staatsbibliothek München
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2.
CHAROINS STillEREN UND DIE GRENZEN DER BESCHREIBUNGSKUNST
ce qu'il ade s6r, c'est que je n'ai jamais connu personne qui I'ait vu travailler." (Salon 1765, IV, 593) Ihm und vielen anderen Kritikern blieb somit nur die eingehende Betrachtung der Gemälde. Als auffaJligstes Merkmal erweist sich der unsaubere Farbauftrag, den Dide· rot als rau, unregelmäßig, abgehackt ("un faire rude et heurtee" IV, 218) und gar als unfertig (,,11 y a longremps que ce peimre ne finit plus rien." IV, 218) beschreibt. Der Abbe Raynal folgert seinerseits, Chardins Bilder bestünden aus illusionistisch zusammengewebten Farbpartikeln:4~ "Sa manihe de peindre est singulihe. Il place ses couleurs I'une apres I'aum: sans presque les m~ler; de sone que son ouvl"2ge ressemble un peu ~ la mosaique de pieas de rappon, comme la tapisserie faite ~ I'aiguille qu'on appelle point carre."~
Diese farbigen Kärnungen galt es jedoch nicht aus nächster Nähe zu betrachten, Diderot wies den Betrachter an, einen gewissen Abstand einzuhalten, damit der visuelle Effekt sich emfalten könneY Schon damals beschrieben die Betrachter Chardins Abbildungsverfahren eher als eine An: Drucktechnik denn als Malerei. )aques Lacombe vermerkt zum Beispiel:
a
"On peut comparer aue Icchnique la manihe noire de 1a gravure, compos&, comme on sait, de pctiu grains qu'on use et qu'on polit plus ou moins, suivant les ombres et les c1airs."'"
Dass Chardins Malweise schon als quasi-mechanischer Abdruck interpretiert wurde, zeigen insbesondere auch die Bemerkungen, Chardin bilde alles mit ab, was sein Auge wahrnimmc Chardin häh sich streng an seinen Seheindruck und gibt auch a11 jenes wieder, was der wissende bzw. tastende Blick immer schon wegdenken würde. Ein untrügliches Anzeichen dafür ist die strenge Gleichbehandlung von harter Materie und immateriellen Elementen wie Licht und Lutt.. Der Kritiker )acques Lacombe bemerkt in diesem Zusammenhang einen gewissen Dampf auf Chardins Bildern:
4~ Wie Gila May und Pierre Roscnberg nahclegen, kann man in Chardin bereits einen Vorläufer
der impressionistischen oder poinriJljnischen Techniken sehen, wir sollten dabei aber nicht vergessen, dass nicht die Auflösung des Gegenstandes, sondern die visuelle Wahrhaftigkeit das Ziel von Chardins Strategie bildeie. Er setzte diese Technik also nur ein, um sie vergessen zu machen. Siehe dazu May, ibid., S. 403 ff. und Rosenberg (1979), ibid., S. 296. 016 Abbt Guiliaume-Thomas-Fl"2nc;ois Raynal: Correspondence lineraire (1750). Hier zitien nach Roscnberg (1979), ibid.• S. 81. 47 So Diderot: ,,11 a de commun avcc la manihe heunee que de pres on ne sair t t que c'est, et qu'~ mesurc qu'on s'eloigne I'objel sc cree el finit par ctre cclui de la nature [...]." (Salon J765, IV, 349) '" Jacques Lacombe: Le salon en vers el en prose ou jugemem des ouvl"2ges expos6 au Louvre en 1753. Hierzitiert nach Roland·Michel (1994), ibid., S. 117.
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2. 2 ... L'ruL RECRU" - DIDEROTS AUGE AUF CHAROIN
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,.l.a 10uch~ ~t les t~intes d~ ces differentes morceaw: sont des plw singulihcs. C'est un
mvail qui n~ produit tout son dret qu'a un~ ttrtain~ distaD«; d~ pres I~ tableau n'offrc qu'un~ sone de vapnlr qui semble envdopper tow les objas."'"
Und auch Diderot meint Nebd und Schaum zu sehen: ..On n'entend nen a ettte magie. Ce som des couches q>aisses de couleur, appliquh$les unes sur les aU(lCS, et dont I'effet [ranspire dt dcs.sow ~n dc:ssw. D'auues fois on dirait que c'est: un~ vapeur qu'on a soum~ sur la loile; ailleurs. une «ume I~re qu'on y a
;<11<." (54.,. 1763, IV, 26))
Während Chardin sich in den ersten beiden Werkphasen noch mit der gegenständlichen Darstellung von nebligen oder immateridlen Aggregat:zuständen beschäftigt, indem er zum Beispid Seifenblasen, Waschküchen oder dampfende Teetassen abbildet, verzichtet er in der Spätphase auf solche Motive. Er überzieht nun das ganze: Bild mit einem gewissen Dunst. Dieser atmosphärische Eingriffbecon[, dass es sich um ein gesehenes Bild handdt, Chardins Auge nimmt auf, was es zu sehen gibt ohne dabei eingreifend zu selektieren. Dieser für Chardin charakteristische Nebel vermag auch zu erklären, warum Diderot zwischen ihm und seinen Nachahmern so streng unterscheidet. Vergleichen wir
3. AuAog<. S. 84.
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2. CHARDINS STILlEBEN UND DIE GRENZEN DER BESCHREIBUNGSKUNST
Abb. 16. Rola"J Dtlaporu: Lt pani" d'truft. 1788, 38 x 46 (m. Parn, MUJIt du Louvrt.
Selbst wenn der Verzicht auf Bildtiefe dem Stillleben generell eigen ist, spitzt Chardin diesen a-perspekrivischen Ansatz noch 1.0: Die Zentralperspektive als geometrische Konstruktion ist schließlich kein gesehenes Phänomen, sondern ein apriorisch gewusstes System, das den Autor im Bild wieder sichtbar werden lässt. Im Gegensatz zu Chardins passivem Sehen funktioniert die Perspektive als ein konventionell geregeltes System, das schon vorliegt, bevor das Bild entsteht. ~I SO weist Delaportes Stillleben noch eine Vielzahl von Raumdaten auf: Die Fugen der Mauer wirken wie ein Koordinatenkreu2 im Hintergrund und die Krümmung der Wand deutet die Tiefe des Gesimses an, auf dem die Gegenstände ausgebreitet sind. Chardin hingegen reduziert seine Architektur auf eine simple Horizontale, um das Liegen der Objekte anzudeuten.
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Huben Damisch beschreibt daher die Perspdnive als ein quasi-sprachliches System, das einer vorher feSlgdegten ..Grammatik" folgt. Siehe Huben Damisch: L'origine de 101 perspeetive. Paris: Flammarion, 1987.
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n 2.2. nL'CEIL RECRU. - DIDEROTS AUGE AUF CHARD1N
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Abb. J1. }tan-Baptislt-Simion Chardin: u gobtut d'argtnt. 0. D., 33x41 an. Pa";;, Musitdu Louurt.
Ein weaeres Kriterium, die beiden Abbildungsverfahren zu umerscheiden, bildet die Wiedergabe des Lichts. Der schlicht registrierenden Lichtauffassung Chardins steht bei Delaporte eine Auffassung des Lichts als Beleuchtung gegenüber. Letzterer rekonstruiere die Verteilung von Licht und Scharten auf seinen Gegenständen entsprechend seinem Wissen um die gerichtete Lichtquelle. Er ergänz.[ die Erfahrungswerte um die physikalischen Kenntnisse, so dass er saubere Grenzen zwischen HeU und Dunkel ziehen kann. Chardins Objekte verschwimmen hingegen im Dunst, statt einem differenzierten Clair-Obscur finden wir nur einen diffusen Glanz vor. Auch Diderot bemerkt die Gleichstellung der einzelnen Partien: "On eherehe des obscurs et des c1airs, et il faut bien qu'il y en ait, mais ils ne frappene dans aucun endroitj les objets se separent sans appret. n (Salon J769, IV, 842) Chardin verLiehtet auf die künscliche Beleuchtung und schaltet das gerichtete Licht, den ngroßen Agenten" der Malerei, nun endgülrig aus. Diderot fasst das neue Abbildungsverfahren somit als einen Effekt auf, der auf Effekte verLichtet:
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2. CHARDINS STILLEREN UND DIE GRENZEN DER BESCHREIBUNGSKUNST
nCdui qui ~Ieint la lumiere s'impose la n6c:cssil~ de donner du corps ~ I'alr me:me, er d'apprendre 11. mon (Eil 11. mesurer I'espace vide par des objers inrerpos6 er gradudJement afhiblis. Quel homme, s'il sait se passer du grand agent, el produire 5anS $On secour un grand effet!" (Essais sur Ja pt/nturt, IV, 481)
Chardin, so können wir zusammenfassen, zeigt durch das Mitabbilden des Funktionslosen, des diffusen Lichts und der Zwischenräume, dass er nicht an seinem körpereigenen Sehapparat manipuliert, sondern die Dinge so aufnimmt, wie er sie sieht. Das Ursprungserlebnis zu seiner Malweise hatte Chardin schon in jungen Jahren. Cochin erwähnt in seinem Essai sur la vie de Chardin eine Anekdote, die der Künstler wohl des öfteren erzählte, da auch Diderot sie in dem Salon von 1767 einbringt. Der kurze Bericht fasst die Medienrevolution des Abbildungsverfahrens pointiert zusammen: Chardin hat im Atelier von Pierre ]acques Casez, seinem ersten Lehrer, zunächst gelernt Gegenstände auch ohne ein dreidimenisonales Modell täuschend echt wiederzugeben. Casez war davon ausgegangen, dass nur der Künstler, dem es an Genie fehle, die Gegenstände aus dem Kopf zu malen, auf ein Modell zurückgreifen müsse. Chardin studierte daher auf den Gemälden anderer die Kunst der Illusion, um ihre Technik entsprechend zu kopieren. Dies entsprach in der Tat der gängigen Ausbildungsmethode, ob in der Akademie oder andernorts. 52 Erst sein zweiter Lehrer, Noel Nicolas Coypel, legte ihm erstmals einen Gegenstand zur Abbildung vor, die Begegnung mit dem realen Objekt erwies sich als Schock: Chardin musste alles vergessen, was er bisher gelernt harre. Erst jetzt konnte er zu seiner Methode finden, nur den tatsächlich gesehenen und nicht den gewussten Gegenstand abzubilden. So berichtete er Cochin: .. Voil~, [... l, un objel qu'il c:.51 quesrion de rendre. Pour n'em occu~ que de le rendre vrai, il faUl que j'oublie lOut ce que j'ai vu, el meffie jusqu'~ la maniere dont ces objelS Ont l!:lt (raires par d'autres. 11 faUl que je Jes pose ~ une [elle disrance que je n'en voie plus Jes details. Je dois m'occuper SU"OUI d'en bien imi[er el avec la plus grande vtrilt les masses generales, ces rons de la couleur, le rondeur, les effets de la lumiere el des ombres."S)
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Chardin harte sich in einem Gespräch mil Dideror schon früher zu diesem Problem geäußert. Er bar den Kritiker um Versrilndnis ßir die jungen Künstler, deren Ausbildung das Sehen lange vernachlässigt: "On nOU5 met (... ) 11. rage de sept 11. huir ansle pone-cnlyon ~ la maln. Nous commem;ons 11. dessiner d'apres I'exemple des yeux, des bauches, des nez. des oreilles, ensuite des pieds el des ma.ins. Nous avons eu longtempsle dos courhe sur le ponefeuille, lorsqu'on nous place devanr I'Hercule ou le Torse (... ). Apres avoir s&ne des journees el passe des nuits 11. Ja lampe devanr la nature immobile el inanimee, on nous pr6ente la nature vivame, et [out 11. coup le trava.il de toulesles annees precedenles sembJe se reduire 11. rien; on ne ftJ( pas plw emprunte la premihe fois qu'on prit le crayon." (Salon /765. IV. 292)
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2.2. "L'<ElL RECRtt" - DIDEROTS AUGE AUF CHARDIN
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Uns mag es als selbsrverständlich erscheinen, dass ein Künstler die Distanz zum Modell nach seinem Belieben festlegt. Aber Chardins Absicht, die Details seines Gegenstandes durch eine entsprechende Entfernung übergehen zu wollen, schockierte die damaligen Kritiker, wie zum Beispiel Pierre-Jean Mariette: .,Faule d'etre assa fond dans le dessin el de pouvoir &ire ses emdes et ses preparouions sur le papier, M. Chardin est oblige d'avoir oominuellement sous les yeux I'objet qu'il se propose d'imiter, depuis la premihe ebauche jusqu'~ ce qu'il ait donne les derniers coups de pinceau [... I."~
Chardin brach offenbar mit einem Tabu: Gemeinhin nutzte der Künstler sein Modell, um auch die kleinsten Details daran festzuhalten, denn deren Erwähnung im Bild sol1te den Eindruck von Echtheit erzeugen. Seine Arbeitsweise kehrte diesen Ansatz hingegen um: Er brauchte das Modell wie kein anderer - aber nicht etwa, weil er ein schlechtes Gedächtnis hatte oder seine Darstellung aufgrund zeichnerischer Mängel nicht hätte beenden können. Er sah auf sein Modell, um es als gesehenes Bild zu sehen. Er wollte es vor Augen haben, um die Details der Szenerie eben nicht wiederzugeben. Dieses Paradox über die Details können wir mit Hilfe der Unterscheidung von Wissen und Sehen verorten: Der wissende Blick auf das Objekt zeigt die Details als Eigentümlichkeiten und Besonderheiten der Dinge, sie stehen daher im Zentrum der Darstellung. Der sehende Blick hingegen "sieht" die jeweilige Situation als Bild, wobei das naive Auge all jene Details übergeht, die das Denken aufgrund von Erfahrungswerten kennen müsste. Wie sehr Chardin mir dieser Technik auf den permanenten Anblick seines Modells angewiesen war, belegt die folgende Anekdote Diderors im Salon von 1769: .,Chardin est un si rigoureux imitareur de nature, un juge si s6rhe de lui-meme, que j'ai vu de lui un ubleau de Gibier qu'il n'a jamais achcve, parce que dc petitSlapins d'apres Icsquels il travaillait etam venus a se pourrir, il d6sespera d'aneindre avcc d'autres a I'harmonie dom il avait I'idec. Tous cc:ux qu'on lui appom etaiem ou uop bruns ou trOP c1airs." (Salon /769, IV, 884)
Chardin gibt also einen Wahmehmungseindruck wieder, der auf präzise Angaben über die Oberfläche verzichtet. Geht man hingegen an ein von Oudry, Desportes oder Delaporte gemaltes Tierfell näher heran, kann man deutlich den Willen des Künstlers erkennen, dort so viele einzelne Haare abzubilden, wie auf dem ausgewählten Leinwandausschnirr Platz finden. Wie auf einer
Cochin zitiert nach Roland-Michel (1994), ibid., S. 267. ~ Pierre-Jean Mariene: Abecedario (1749). Hier zitiert nach Rosenbcrg (1979), ibid., S. 81.
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2. CHAROINS STlu.EBEN UND DIE GRENZEN DER BESCHREJBUNGSKUNST
Landkarte werden dort Repräsenramen nellvertretend für all die anderen Haare eingetragen. Auch diese Art von Entsprechung kann als der Wirklichkeit »ähnlich" gewertet werden. Aber es handelt sich um ein gänzlich anderes Verfahren als bei Chardin. Chardin bemüht sich in seiner Kunst den reinen Seheindruck wiederzugeben, indem er sein sehendes Auge von dem Wissen über das Gesehene isoliert und nur das festhält, was ihm das Organ übermittelt. Er bilder nur ab, was sein unvoreingenommenes und damit vorurteilsfreies Auge sieht. Indem er all sein Wissen über den Gegenstand unrerdrückt, verhält er sich wie ein neutraler Aufnahmeapparat. Er entdeckt damit erstmals die Autonomie des Auges, dessen Leistung durch kein anderes Organ und auch nicht durch das Vorwissen des Verstandes ersetzt werden kann. In diesem Blick entsteht eine Fotografie vor der Fotografie, noch ohne den enrsprechenden Apparat konzentriert sie sich allein auf eine bestimmte Sehleisrung des Auges. Diese Gleichsetzung des Auges mit einem kameraähnlichen Aufnahmegerät muss dabei nicht als nachträgliche Interpretation unsererseits gelten, sie galt seit dem 17. Jahrhundert als wissenschaftlich bewiesen.~~ Die Beschreibung des Auges als ein mechanischer Apparat zur Lichtregistrierung findet man daher auch vielerorts in der Enzyklopädie. Voltaire erläutert zum Beispiel in dem Enzyklopädieartikel Sm!, dass das menschliche Auge eine Linse enrhält, das wie ein Objektiv bzw. wie eine Brille funktioniert. ..Nous devons consider~r qu~ nos y~ux n~ sam qu~ des [un~nes narurdles, qu~ I~urs humeurs fonll~ mcm~ ~ff~( qu~ les v~rres d~ lun~ttes, ~I que selon la siruation qu'ils g2rd~m ~mr'~ux [...] nous voyons les choses diff~remment."
Wie bewusst man das Auge mit der Camera obscura, der einzigen damals bekannten "Kamera'" verglich, zeigt auch der Artikel (Eil: ~[ ...l
en un mOt, tout [~corps d~ r~il esl un~ espee~ de [orgn~n'~ qui transmet n~tt~m~nt les images jusqu'a son fond. Mais pour se form~r un~ idee d~ la Struetur~ de I'~i[, ~t du mteanism~ d~ la vision, on peut employer I'ex~mpl~ de Ja chambr~ obscur~ dont I'ail esr une espec~."
Nachdem wir nun anhand der genannten Kriterien das Fotografische an Chardins Malerei beschrieben haben, können wir abschließend fragen, wie Diderots Bildbeschreibungen als Texte auf diese neue Bildform reagieren.
S~ Sieh~
dazu
Auflag~.
H~rben:
Schober: Das
Seh~n.
2 Bd., Lc=ipzig: Fachbuchverlag, 1970, 4.
erw~i(~n:~
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2. 2. "L'CEll RECRt~" - DIDEROTS AUGE AUF CHARDIN
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Von der Ekphrasis zum "elfer de reel" Wir hatten eingangs behauptet, zwischen Chardins Abbildungsverfahren und Diderocs Beschreibungsverfahren bestehe eine Paral1ele. Didero[ passe seine Beschreibung dem Gesehenen an, die Sprache werde gewissermaßen dem Sehen umergeordnec. Ta[sächlich lässc sich der Bruch, den Chardin gegenüber der älteren Scilllebemradicion vollzieh[, mir jenem Bruch vergleichen, den Diderocs neuer Beschreibungsmodus mi[ der rhewrischen Ganung der Ekphrasis aufweise. Die Ekphrasis reiche als literarisches Genre, das Personen, Oree, Bauwerke und Kunsewerke würdigend beschreibe, zurück bis in die Ancike. S6 Der Grundgedanke der rhecorischen Ekphrasis basieree auf der wechselseicigen überse[zbarkei[ von Tex[ und Bild. An der Vergleichbarkei[ beider Medien hegte man keinen Zweifel, selbs[ wenn sie durchaus mi[einander konkurrieren konnten und solhenY Die Aufgabe des Auwrs bescand darin, den Inhal[ des Gemäldes in jene narracive Verlaufsform zu bringen, die Bilder per Definicion nicht dar· stellen können. Das beschriebene Szenario ergänze und kompensien somit die
Mängel des Bildes. Auch bei Didero[ finden sich noch zahlreiche in diesem Sinne ekphrascisch angeleg[e Beschreibungen (z. B. zu Verne[s Landschaf[en s.o., 2. 1.). Die Einflüsse dieser rhetorischen Tradi[ion auf DideroLS Schreiben hat Louis Marin in seinem Aufsan L~ tkscripuur famaisisu ausführlich umersuche. 58 Sie ziehen sich durch die gesarme Kunsdaicik, so dass wir kein konkretes Damm angeben können, zu dem sich ein Bruch ereignet härte. Didero[ spiel[ vielmehr mi[ den Beschreibungsparadigmen, die er je nach vorgefundenem Sujet wechsele. In der ekphrascischen Beschreibung läss[ der Redner das Bild himer seiner Handlung verschwinden. Er erläu[en nicht, wie das Bild angeleg[ in, sondern was darauf passiere. Die Ekphrasis such[ durch Bilder Affek[e auszulösen und nu[Z[ daher die größere Unminelbarkei{ des Bildes gegenüber der sachlichen
S6
'7
)I
Ich baiehe mich im Folgenden auf Gonfried Böhm, Helmut pforenhauer (Hrsg.): Beschreibungskunst - Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart. München: Fink, 1995. $0 Böhm: "Das Stumme Bild und die blinde Rede hanen im jeweils anderen Medium ihre Ergänzung. Die Fn.ge des Tn.nsfers vom einen ins andere schien dahet unproblematisch. Der n Name der Ekphrasis stand rur diese Gleichung von Bild und WOrt. Gottfticd Böhm: Bildbeschreibung. Ober die Grenzen von Bild und $pn.che. In: Böhm, PfOlenhauer. ibid., $. 2-40. Hier S. 9. Louis Marin: Lc descripteur fanraisiste. In: Ders.: Des pouvoirs de I'image. Paris: Lc Seuil, 1993, S. 72·\ 0 I.
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2. CHARDINS STlUEBEN UND DIE GRENZEN DER BESCHREIBUNGSKUNST
Beschreibung. Die eigentliche Beschaffenheit des Kunstwerks interessiert dabei nichc Der Autor appelliert allein an die Imaginationskraft des Lesers. sich eine lebendige Geschichte auszumalen. In diesem Sinne ist es nicht einmal von Bedeutung, ob der Beschreibung überhaupt ein Bild zugrundelag. Der Autor kann ebensogut ein Bild seiner Phantasie beschreiben.'9 Selbst wenn Diderot immer wieder auf dieses Schema zurückgreift, folgt er vielerores auch einem anderen Beschreibungsmodus: Er praktiziere die Wie· dergabe des Gesehenen durch ein sprachliches Abschildern im fotografischen Sinne. So emhäJt auch die bei Marin als ekphrastische Beschreibung erwähme Kritik zu Francisco·Giuseppe Casanovas March~ d'Ann!~ (Salon J765) zahlreiche Merkmale von "fotografischer" Sprache: Diderot beginnt seine Säne immer wieder mit einem "Man sieht.. ," ("On voit au sommet des roches.. .", ,.A droit du spectateur, imaginez une masse de grandes roches de hauteurs inegales...", "Passons aux details..." usw., IV, 368), so wie er die Besprechung mit der lapidaren Bemerkung beendet ,,11 [das GemäJde] est de 11 pieds de long
sur 7 de haur." (IV, 369). Er mahnt den Leser durch solche Einbrüche der Objektivität immer wieder, sich das gemalte Bild vorzusteHen (und nicht nur die dargestellte Handlung). Geradezu pedamisch und detailversessen bemüht er sich alles zu erwähnen, was das Bild ausmacht, womit er wiederum an die Grenzen des Sagbaren stößc 60 Während die Ekphrase absichtlich mit der Vermischung von Fiktivem und Gesehenem arbeitet, um das Geschehen möglichst reich und anschaulich auszumalen, liefert Diderot eine An Polizei protokoll, das den Tathergang seines Sehens nüchtern und emotionslos rekonstruiere. Er zieht sich als Amor wiederum himcr sein Sehen zurück. Um die beiden Paradigmen der rhetorischen Ekphrasis und der "fotografischen" Beschreibung als Modelle voneinander abzugrenzen, können wir Roland Banhes Aufsatz L '4ftt dt ritt (1968) heranziehen. Barthes beschreibt darin den historischen Umbruch zur Moderne, indem er das ältere Beschreibungsmodell des "reeit" von der modernen "description" umerscheidec 61 Der "recit" erweist sich nach Barehes als durch den Diskurs des Autors geregelt: s, Bis heute bleibl ungeklän, ob die Bilder, die Philosrrat in einet det berühmtesten Ekph~n
ISO
61
der Antike beschrieb, latsächlich exisrien haben. Siehe daz.u 0([0 Schänberger: Die 'Bilder' Philosrrats. In: Böhm, Pfotenh:mer, ibid., 5.157-76. So kommemien Didero[ sein Unterfangen angesichts von Chardins Gemälden nicht ohne Ironie: "Je m'anluse iei 2 C2user ave<: vous d'aUlanr plus volonriers que je ne vous dirai de Chardin qu'un seul mot, e[ le voici: Choisissa son sile, disposez sur ce site les objets comme je vous les indique, er soya sur que vous aura vu ses tableaux." (Salon 1765, IV, 346) Siehe Roland Banhes: L'effe[ de red. In: (Euurn comp/lUJ, hg. von Eric Many. Paris: L:: Seuil, 1994, ßd. 2, $. 479-484. Hier S. 482.
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2.2. "L'CEII. RECRU." - DJOEROTS AUGE AUf CHARD1N
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"La snuctur(: g~n~ral(: du r6:it, [...] apparait comm(: (:SS(:ß(idl(:Ol(:nr prtdicitivr, (:n sch~ matisanr a I'c:xnemc, (:r sans r(:nir comptc des nombr(:ux detours, r(:[ards, revir(:m(:nrs (:r deap[ions qu(: 1(: r6:ir impoS(: insritutiondl(:m(:m a ce sch~ma, on j>(:ut dir(: qu(:, a chaqu(: articulation du syntagm(: narl"atif, quclqu'un dit au heros (ou au 1(:C[(:ur, j>(:'U import(:): si vous agissa d(: rdl(: manier(:, si vous choisissa tdl(: pani(: d(: l'a1r(:rnariv(: voici ce qu(: vous alla obt(:nir [... J."("l
Die Ekphrasis. die Barthes als Prototyp für den "recit" aufführt. sorgt mit der Figur der Hypotyposis für das Anschaulichwerden der Vorstellungen, die sich zwar im Rahmen des Wahrscheinlichen, aber nicht des Wahren bewegen müssen. 63 Dem stellt Barmes die gänzlich andere Struktur der "description" gegenüber: "Tour auu(: (:Sr la descriplion: dl(: n'a aucun(: marqu(: predicicv(:; 'analogiqu(:', sa Struc· tur(: al pur(:m(:m sommatoirc cr n(: comicm pas ce tt2j(:t dc choix (:t d'alt(:rnativ(:$ qui donnc a la nart2rion 1(: dasin d'un vasr(: disparching, pourvu d'un(: I(:mporalit~ r~f~rcn. ridl(: (a non S(:ul(:rn(:nt discursiv(:). [...) La d(:SCriplion apparah ainsi commc un(: SOrt(: d(: 'propr(:' da langag(:$ diu sup!:rieurs, dans la mesure, appar(:mm(:D[ paradoxal(:, Oll dl(: n'ar jUSrih&: par aucune finalit~ d'action ou d(: communication."'"
Barthes betont in diesem Zusammenhang. dass das moderne Beschreibungsverfahren in Literatur und Geschichtsschreibung gleichzeitig mit der Epoche der Fotografie (die er freilich erst für das 19. Jahrhundert ansetzt) entstand: Beschreiben dieme nun nicht mehr dem würdigenden Gedenken, sondern allein dem Sehen bzw. Wiedersichtbarmachen.6~ Es ging nur noch um die ,,'representation' pure et simple du 'reeI', la relation nue de 'ce qui est' (ou a ete)".66 Eine Strategie, die sich nach Barmes als Motor der Moderne erweisen wird: ,,11 se produit un effet de red, fondement de ce vraisemblable inavoue qui forme
62 6)
64 61
66
ibid., S. 480. So Banhes: "[...\ il n'y 2 2ucun gene a placer des lions ou des olivi(:[S d2ns un P2YS nordiqu(:; S(:ul(: compte 12 conrrainte du gcnr(: descriprif; le vt2iscmblablc n'est pas ici refer(:ntid, mais ouv(:[((:m(:nt discursif: ce sont la regIes g~n~riques du discours qui font 1210i." ibid., S. 481. ibid., S. 483. So Barthes: ,,[ ...] il esl logiqu(: que Ic rhlisme lin~raire ait ~I~, a qudqua d~a:nnies pres. contcmporain du regn(: de I'hislOire 'objenive'. a quoi il bur 2jomer le dbodopj>(:'rnent 2CfUd da ttthniques, da cruvres er des institutions fond~ sur le besoin incessam d'authenriher le 'red': 1a photographi(: (remoin brut d(: 'ce qui 2 et~ Ia'), 1(: r~ponage, 1(:$ aposüions d'objets 2nciens (...]. le lOurism(: da monuments et da H(:ux historiques." ibid., S. 480. ibid., S. 483.
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2. CHARDINS SnLl.EBEN UND DIE GRENZEN DER BESCHREIBUNGSKUNST
I'esthetique de toutes les c:ruvres courantes de la modernite."67 Die bei Barthes genannten Aspekte dieses Paradigmenwechsels können wir auch schon für das 18. Jahrhundert nachweisen. Diderots Methode den Realitätseffekt zu erzeugen, entspricht letztlich der Chardins: Er erwähnt nicht nur, was er deuten kann, sondern bildet auch das mit ab, was keine Funktion für die Handlung hat (z. B. die Größe des Bildes). Die Dinge werden registriert und aufgenommen, bevor sie einen Sinn ergeben können. Die Beschreibung selektiert nicht, indem sie nur das Sinnvolle abbildet, sondern füllt die Zwischenräume mit den scheinbar überflüssigen Details, die dort zu sehen sind. Auch Barthes bezeichnet die "notation reeUe" als "parcellaire" und "interstitielle". Wie Barthes fortfährt, bricht in dieser ungesteuerten Strategie des "effet de reel" die linguistische Einteilung des Zeichens in Signifikat und Signifikant in sich zusammen, die "description" führe zu einem direkten Zusammenswß von Referent und Zeichen. Ohne Inrerpretationsverluste erlebe der Leser "la pure rencontre d'un objet et de son expression": ~[ ...lle
'detail concrer' est CQnsrirue par la collusion direae d'un referent er d'un signjfl~ anr; le signiht esr cxpulse du signe. er, avec lui. bien entendu, la possibilite de developper une forme du siginife. c'esr~a~dire. en hit, la strucmre namuive e1le~mcme... ~61
Der Realismus in der Darstellung oder Beschreibung, so können wir mit Barthes schlussfolgern, sucht nach Methoden, die Arbitrarität des Zeichens zu umgehen. 69 Nichtsdestotrotz bleibt zu betonen, dass die tatsächliche Abbildung der Realität auch mit diesem Verfahren nie erreicht werden kann - es bleibt bei einem "Effekt" des Realen! Diderot findet auf diesem Weg einen Modus der Beschreibung, der nicht von der Sprache bzw. der Narration her denkt, sondern von spe'lifisch visuellen Kriterien. Er unterwirft seine Sprache den Mechanismen des Sehens und vollzieht somit als Betrachter, was Chardin malend gelang. Die Ausdifferenzierung von Bild und Text, die Diderot einforderte und praktizierte, bedeutet somit nicht, dass sich die beiden Medien voneinander emfernen müssen oder gar unversöhnlich gegenüber stehen. Wie wir gesehen haben, können Bilder texruell bzw. narrativ angelegt sein (wie in dem Bildverständnis Le Bruns u. a.), so wie andererseits auch Texte visuelle Strategien verfolgen können (wie bei Diderot). Mit dem Paradox über die Details, der neuen Behandlung des Lichts, dem Mitabbilden der Luft und der immateriellen Zwischenräume, dem pointillistischen Farbauftrag und dem Verzicht auf die Perspektive haben wir bei 67
ibid.• S. 484.
ibid.• S. 484. " Wir werden auf diesen Zusammenhang im Kapitel 3. 3. noch ausführlicher zurückkommen. 61
2.2. "L'<EIl. RECRtt" - DIDEROTS AUGE AUF CHARDIN
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Chardin ~in Abbi1dungsv~rfahr~n k~nnengel~rnt. das tatsächlich ges~h~ne Bild~r (anstatr gewusste G~g~nstandsdaten) aufnimmt und auch ohne Apparat den Prinzipi~n d~r Fotografi~ ~r~its nah~kommt. Mit Did~ro[$ Kunstkritik und Chardins Stilll~~n sind damit zwei Ikispiele des fotografischen Blicks beschri~})(n. der~n Hintergrund ich nun aus ein~m grölkr~n Kontext heraus erk1är~n möcht~. um d~n Brückenschlag von Platons Bildtheori~ zur Epist~mo logie des 18. Jahrhunderts vornehmen zu können.
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3.
DIE AUFKlÄRUNG DES SEHENS
Den spezifischen Zusammenhang von Aufnahmeverfahren und Wahrheitseffekt haben wir bei Diderot in textuelIen und bei Chardin in visuellen Strategien nachgewiesen. so dass nun zu beancworten bleibt, aus welchem Erkenntnisinteresse heraus man sich im 18. Jahrhundert so sehr für das Wahre und Authemische imeressierte. Ich möchte daher noch einmal bei Diderots Metapher von der Wiedergeburt des Auges ansenen. Sie weist aufschlussreiche Parallelen zu den damals neusten medizinischen Erkenntnissen über die Funktionen des Auges auf und lässt sich zudem mit einer bestimmten Lektüre des Höhlengleichnisses in Beziehung senen, die ich Diderot im Folgenden unterstellen möchte. Der Topos vom Wiedersehenlernen verweist im 18. Jahrhundert auf einen epistemologischen Zusammenhang, der weit über den Rahmen der Kunstbetrachrung hinausreicht. indem er auch das anthropologische und naturwissenschaftliche Denken der Zeit berühn:.
3. 1. Der Höhlenausgang als Umkehrung der Sehnarur Der Topos des "cx:i1 recret" führt uns zu der Frage, was die Wissenschaft zu dieser Zeit überhaupt über den Sehvorgang wusste. Wenn das Auge, wie oben gesehen, einer Kamera gleichen sol1, wie arbeitete dieses Instrument bzw. Organ dann eigentlich? Darauf eine AnCWOrt zu finden, erwies sich als umso dringlicher, da sich die möglichen Sehweisen 7.U vervielfliltigen begannen: In der Gegenüberstellung von Chardins und Delaportes Stillleben hatten wir bereits zwei Blicke unterschieden, die gleichermaßen wiedergeben was man sehen kann. Von Delaportes tastendem bzw. wissendem Blick harren wir den flach bzw. primitiv sehenden Blick Chardins abgegrenzt - aber welche Sehform entspricht nun der eigentlichen Natur unseres Auges? Und wenn es solch ein natürliches Sehen überhaupt gibt, wie und wann verfügen wir darüber?
Wiedersehenlernen als erste Operation der Moderne Die Neubewertung des Sehens erfolgte in der Aufklärung - wie ihr Name bereits andeutet - im Rahmen einer Verherrlichung des Lichts. des Beleuchtens, Erleuchtens und mündigen Wahrnehmens. Doch selbst wenn das Auge zum König aller Sinne erhoben wurde, geschah dies im Zuge der Entdeckung seiner
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3. DIE AUFKLARUNG DES SEl-IENS
Schwächen. Man hatte dem Sehen zuvor sehr viel mehr Intelligenz zugeschrieben: Das Sehbild allein sollte z. B. alle räumlichen Informationen über unsere Umwelt enthalten, was impliziere, dass bereits ein Säugling in der Lage sein müsste, bei seinem ersten Augenaufschlag dreidimensionale Gegenstände zu erkennen. Diese nie bewiesene, aber allgemein akz.eptieree Annahme wurde vor allem seit William Molyneux stark in Zweifel gezogen. In Übereinstimmung mit John Locke argumemiefte er in seinen Dioptries (1692), dass der Mensch erst aufgrund von Erfahrung und Erziehung lerne, seine Umweh sinnvoll wahrzunehmen. 1 Molyneux vermutete als erster, dass dabei der Tastsinn und nicht das Auge die wesentlichen Erfahrungen mache und den Erkennrnisprozess anstoße. Für Didecot war diese Annahme, wie in der LeffTe sur Les avrogLes gesehen (s. I. 3.), bereits eine unumstößliche Tatsache. Den eigentlichen Beweis für Molyneux' These hatte die Medizin aber erst im Lauf des 18. Jahrhundert erbringen können. Dem britischen Arzt WiI1iam Cheselden gelang es 1727, mit einer Star-Operation, einem von Geburt an blinden Jungen das Augenlicht zurückzugeben. Das Ereignis erregte die Gemüter in ganz Europa 2: Der Junge, der in den Jahren seiner Blindheit durch Ertasten gelernt hane, sich in seiner räumlichen Umwelt zurechtzufinden, war bei seinem ersten Augenaufschlag keineswegs in der Lage, die Weh in ihrer Dreidimensionalität zu erkennen. Cheselden beschrieb seine Beobachtungen in den Philosophical Tramactions wie folgt:3
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j
Siehe dazu Michel J. Morgan: Molyneux's Quescion: Vision, Touch and the Philosophy of Perception. Cambridge: Cambridge Universiry Press, J977. Voltaire, Diderot, La Mettrie, Euler, Mendelssohn, Herder, Nicolai und andere gingen auf die spektakuläre Nachrichr ein. Siehe Joachim Gessinger: Auge und Ohr. Smdien zur Erforschung der Sprache am Menschen. 1700~ 1850. !krlin, Ncw York: Oe Gruyter, 1994, S. 19 fT. und 38 ff. Die Enzyklopädisren !rugen diesem Ereignis u. a. in dem Artikel Sms Rechnung, der den folgenden !kricht von Vorraire enrhälr: ~[ ... I Lc jeune homme, d'environ 14 ans, villa lumiere pour la premiere fois. Son 0 perience confirma raut ce que Locke er Bcrkeley avaient si bien prtvu. 11 ne disringua de longremps ni gr.mdeurs, ni distances, ni siruarions, ni meme figures. Un objer d'un pouce mis devam I'cril, el qui lui cachair une maison, lui paraissait aussi grand quc la maison. Taut ce qu'il voyait.lui scmblait d'abord elfe sur ses yeux, Cl les roucher comme les objers du tact tOuchent Ja pe
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3. l. DER HOHLENAUSGANG ALS UMKEHRUNG DER SEHNATUR
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"When he first s:aw, he w:as so rar from m:ak.ing :any Judgmems about Distances, rh:a[ he thought all Objecu whalever louch'd his Eyes, (:as he express'd it) as wh:at he feh, did his Skin; and thought no Objects so :agreeable as those which were smoolh and regular, tho' he could form no Judgment of rheir Sh:ape, or guess what ir was in :any Ob;«t rhat was ple:asing tO hirn: He knew not rhe Shape of any Thing, nor any one Thing from :anorher, however different in Shape, or Magnitude; [... 1 He was vety much surpriz'd, that those Things which he had lik'd besr, did not appe:ar most agreeable tO his Eyes, expecring those Persons would :appear most hautiful that he lov'd mosr, and such Things tO be mOSt agreeable tO his sight thar were so to his Taste. We Ihought he soon knew whar Pictures represented, which were show'd to hirn, but we found afterw:ards we wen: mistaken; for :about rwo Months :after he W2$ couch'd, he discovered at once, they represemed solid Bodies; when ro that Time he consider'd them only 2$ Part-colour'd Planes, cr Surfaces diversified wirh Va.riety of Paint, hut even then he was not less surpriz'd, expecting the Pictures would feellike Things rhey represented, and was amaz'd when he found those P:arts, which by their Light and Shadow :appear'd now round and uneven, feh only Aat like the resr; and ask'd which W2$ the Iying Sense, Feeling, or Seeing? Iking shown his Farher's Picture in a Locket at his Mother's Watch, and told what it was, he acknowledged a Likeness, bur was v:asrly surpriz'd; asking how it could be, Ihat a large Face could be express'd in SO little Room I... J. AI first, he could hear but very linie Sight, and rhe Things he saw, he rhoughr extremdy large; but upon secing Things larger, those first secn he concc:iv'd less, never being able to imagine any Lines beyond the Bounds he saw; the Room he was in he said, he knew to be Part of the House, yer he could not conceive rhat rhe whole House could look bigger. "4
Der Junge scheine den Zugewinn des neuen Sinnesorgans eher als Trauma. denn als Bereicherung erfahren zu haben. Er konnte lange Zeit nicht sehen, was seine Hände auf dem Weg des Tastens schon längst wussten. Größenverhältnisse, Distanzen und die Geometrie von Körpern und Figuren waren ihm als gedachte vertraut, aber als gesehene unverständlich. Der Junge wusste sehr wohl um die Räumlichkeit der Dinge. aber sein ungeübtes Auge hane eine Welt erblickt, die als eine einzige plane Ebene erscheint. Er sah Oberflächen, aber keine Körper. er sah Umrisse, aber keine Plastizität. So verwechselte er auch seine realen Umgebung und die zweidimensionalen Abbildung davon: Er konnee das gesehene Bild nicht von der gesehenen Realität unterscheiden. Sein vom Wissen abgeschnittenes Auge sah letzdich alles als ..Bild". Cheseldens Operation lieferte also den Beweis, dass das auf die reine Sehfunktion reduzierte Auge zunächst keinerlei Wissen besitzt. Für die 4
William Cheselden: An Account of some Observations made by a young Gemleman, who was born blind, or 1051 his sight so arly, th:at he had no Remembrance of ever h:aving secn, and was couch'd berween 13 and 14 Years of Age. In: PhiltJ$ophical TransaetionI oftht Royal Soci~ty, Bd. 34. 1729, S. 447-450. Hier zitiert n:ach dem Reprint des Auszuges in Michael Ba.xandall: Shadows :and Enlightenmenr. New Haven, Lcmdon: Yale University Press, 1995,
S.23.
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3. DIE AUFWRUNG DES SEHENS
räumliche Wahrnehmung unserer Umwelt benötigen wir Erfahrungswerte. die das Auge allein nicht erbringen kann. Seine natürliche Leistung besteht nur in einer gänzlich primitiven An des "Flachsehens". S Der wisst:nschaftliche Fortschritt enuhrome das Auge also jwt zu Ikginn jener Epoche. die es zu ihrem Symbol par exceUence erheben wird. Denn selbsr wenn sich das Organ als ..dümmer" erwies als angenommen, so garantiert es doch dne Qualität. derer man sich vorher nicht sicher war. Erst jetzt besaß man die Sicherheit, dass wir über eine wahre Schnittsrelle zur Außenwelt ver-
fügen. Das Auge liefert - gerade weil es niehes weiß - vorurteilsfn:ie Bilder des Gesehenen. Erst unser Gehirn mit seinen vermeintlichen Erfahrungswerten trübt den Blick, indem es Urteile Mit. die nicht auf das tatsächlich Gesehene, sondern auf das Vorgewussce zurück gehen. Wenn wir also zu einer objektiven Wdtsicht nicht mehr f'ahig sind, so liegt dies an unserem Denken und nicht an unseren Sinnen, denn die Sinnesorgane an sich arbeiten ohne das Subjekt. Die eigentliche Schwäche des Auges, seine Naivität und seine Unwissenheit, weisen dem Organ lendich eine neue Rolle zu: Das Auge eröffnet neue Wege der Wahrheirsgewinnung, da es einen Zugang zur Außenwdt darstellt. der gewissermaßen ohne uns geschieht. Denn über seine Sinne hat der Mensch keine Kontrolle, er muss alles sehen, hören, riechen und schmecken, was auf ihn zukommt; die Sinne an sich vermögen uns nicht zu belügen. Die Situation von Cheseldens Jungen bei seinem ersten Augenaufschlag ist dem zivilisierten Menschen jedoch nicht mehr zugänglich, der jungfräuliche Blick ist uns immer schon genommen, wenn wir in der Lage wären ihn zu reflektieren. Aber gerade diese Unzugänglichkeit macht ihn so reizvoll - insbesondere für die Kunst! Kann es nicht Wege und Methoden geben, diesen Blick wiederzugewinnen? Wenn das Auge eine ganz andere Welt sieht, als jene die wir uns denkend vorstellen, mag der Reiz weniger darin liegen, das nachzuahmen, was ein jeder sich einbilden kann, sondern das wiedenugeben. was die Vorurteile noch nicht verschmuczt haben bzw. was noch ganz unge6hen in unsere Sinne dringt. Es liegt auf der Hand, dass die Entdeckung eines neuen Sehens auch eine neue Art von Bildern nach sich ziehen muss. Dieses unschuldige Sehen tur das Bewusstsein wieder zu erlangen - so utOpisch und unerreichbar der Gedanke freilich bleiben muss - mag man als den Traum der beginnenden Moderne ansehen. Gerade die Kunst wird die Ausdif· ferenzierung von Wissen und Sehen zum Programm erheben. Den Weg zum zivilisienen Sehen. den Cheseldens Patient noch vor sich hane, sucht der moS
Die eigentliche Beweiskraft von Chesddens Expc:rimem ist aus hwtiger Sicht allerdings wenig übc~nd: Chesddcn opc:ricne den Jungen zunkhst nur auf einem Auge. $0 dass riiumlichcs Sehen schon aus rein physiologischen Gründen nicht möglich war. Siehe dazu Gessinger. ibid.• S. 32.
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3.
1.
DER HOHLfNAUSGANG ALS UMKEHRUNC DER SEHNATUR
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derne Künstler geradewegs zurückzugehen, um die ursprüngliche Sehfunktion des Auges erneut zu isolieren. Diderors Topos von der Wiedererschaffung oder der Wiedergeburt des Auges spielt, so meine These, auf eben jenes Moment der Umkehr an: Chudin gibt wieder, was ~in Auge ohne ihn sah, Diderot kann ~ine StiUleben betrachten, ohne dass ihn der Künstler durch ~inen Blick bevormundet hätte. Dieses Wiedererweckungsmotiv weist nun eine deutliche Parallele mit dem Höhlenausgang in Platons berühmtem Gleichnis auf.
Diderots Traum von Fragonards Höhle Den Kontext von Diderors Platonrezeption hatten wir bereits beuachtet (s. 1. 2.), er sei nun an einem konkreten Beispiel vertieft. Dem Folgenden möchte ich jedoch die Einschränkung vorausschicken, dass es mir allein um die mögliche Lektüre einer Lektüre geht. Wir versuchen nur Diderors Platonbild nachzuspüren und erÖrtern somit nicht, was Platon ~lbSt mit dem Höhlengleichnis bezweckte, so dass wir auch nicht fragen brauchen, ob Diderot seine Philosophie richtig oder falsch verstand. Konkret möchte ich mir dabei erlauben, das Höhlengleichnis, das Platon um die Metapher des Sehens krei~n lässt, einmal nicht nur im übertragenen Sinne als Erkenntnistheorie zu lesen, sondern das verwendete Bild wörtlich zu nehmen: Die beschriebenen medizinischen Entdeckungen des 18. JahrhundertS hanen gewissermaßen eine Verdoppelung des Auges zur Folge, das Allcagssehen wurde von einem wahren Sehen unterschieden - ganz wie in Platons Gleichnis suchte man über die Sinne und einen entsprechenden Prozess des Wiedersehenlernens nach einem Ausgang aus der Höhle. Betrachten wir zunächst die Stelle in Diderors Salonkritiken, die am ausführlichsten auf Platon eingeht. In der Fragonard-Besprechung zum Salon von 1765 verarbeitet Diderot vor dem Hintergrund des Höhlengleichnisses das Herzstück von Platons Bildtheorie. Fragonard hane mit seinem Akademiestück grand-pritrt CorhUJ St samjit pour sauvtr Gzl/irhol (Abb. 18) außerordentlichen Zuspruch von Kritik und Publikum erhalten. Auch DiderOt konnte nicht umhin, das Gemälde zu loben, er hane keine grundsätzliche Kritik an Komposition und Ausführung zu üben. Dennoch störte ihn etwas an dem Bild, etwas das er nicht offen formulieren konnte bzw. nicht in der Kürze fassen wollte, da es den Kern seiner Kunscauffassung berührt: Letztlich musste er das Bild als eine lüge entlarven. Diderors Besprechung führt den Leser zunächst in ein Labyrinth. Er gibt vor, sich dialogisch an seinen Freund und Herausgeber F. M. Grimm wen-
u
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3. DIE AUFKURUNG DES SEHENS
Abb. /8. J~iln.HDnori Frilto1UlrJ: u trllna-pritrY Comw" umfi, pou, Jiluwr GtUirhol. /761.309 x -100 mr. ParU. Mus/t du UIl/JIY.
dend, das Bild überhaupt nicht gesehen zu haben. Es Sti angeblich schon ab-gehängt gewesen, als er im Salon eintraf. AJs Entschuldigung berichtet er von einem mysteriösen Traum: ..Mais poue remplir cel 2nicle Fr.tgon:ud, je vais VQUS faire p:m d'um:: vision a$$tt errange dom je fus tourmenu! l:lo nuit qui suivil un jours dom j'avais passe I:l m:lIlinee a Voit des ubleaux (:1 la soir&: life qudques Dia/oglm d~ PUlton," (IV. 423)
a
Es folgt ein Verwinspiel von RahmenhandJungen und Realirätsgraden, das Diderot aus der Perspektive des Traums entwickelt. Er erzählt wechselweise als involviertes Subjekt und als außenstehender Beobachter eines "Films". den er nicht versteht - entsprechend der Situation des Träumenden, der das Geträumte nicht zu d~ut~n w~iß. Er habe g~träumt, so b~richt~( ~r Grimm, ~r sei ~in G~fang~n~r in Platons Höhle. 6 Er saß in Ken~n vor einer Wand, auf di~ die Geschich['~ von Kor~, Diderot beschreibt die Sehsitlliuion des Höhlen~hners in aUer AwA:ihrlichkcit. Er häh sich wbd neu an PI:uons AwRihrungcn im StiUlr. So schildert Sokmes die Situation der
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3. I. DER HÖHI.ENAUSGANG ALS UMKEHRUNG DER SEHNAl1.JR
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sus und Kallirhoe projiziere wurde. 7 Diderot löst Fragonards Bild zunächst ekphrastisch in eine Theaterhandlung auf und lässt die einzelnen Szenen des Mythos vor seinem inneren Auge ablaufen. Seine Erzählung gipfelt schließlich in dem Gemälde, das er als abschließenden Handlungshöhepunkt beschreibt: ,.A l'instant le glOlnd·pretre [Koresus] rire le couteau sacre, il Ihe le bras; je crois qu'il en va frapper la victime, qu'il va I'enfoncer dans le sein de celle qui I'a dedaigne et que le Ciel lui a livree; poinl du tout, il s'en frappe lui-meme. Un cri genera.! perce et de· chire I'air. [... ) La surpri~ er I'dfroi sont peinu sur les visages des spe<:tateurs eloign6 d'e1le; mais rien n'egale la constern:uion er la douleur du vieillard aux cheveux gris, ses cheveux se sont dress6 sur son front, je crois le voir encore, la lumihe du brasier ardent I'edair.mt, el ses bras elendus au-dessus de raure!: je vois ses yeux, je vois sa beuche, je le vois s'elancer, j'entends ses cris, i1s me reveillenr, la toile se replie et l.a caverne disparait. ~ (IV, 429 f.)
Das Ende des Traums vollzieht sich als eine Art Filmriss: Um Koresus' Freitod nicht in seiner Grausamkeit beschreiben zu müssen, hört Diderot nur noch den allgemeinen Aufschrei, sieht das Entsetzen auf den Gesichtern der Beteiligten - und erwacht aus seinem Traum. Grimm bestätigt daraufhin dem
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Höhle wie folgt: ..Stelle dir die Menschen vor in einem unterirdischen, höhlenarrigen Raum, der gegen das Licht zu einen weiten Ausgang hat über die ganze Höhlenbreite; in dieser Höhle leben sie von Kindheit, gefesselt an Schenkeln und Nacken, so dass sie don bleiben müssen und nur gegen vorwärts schauen; aus weiter Ferne leuchtel von oben her hinter ihrem Rücken das Licht eines Feuers, zwischen di~m Licht und den Gefesselten fühn ein Weg in der Höhle; ihm ent.lang stelle dir eine niedrige Wand vor, ähnlich wie bei den Gauklern ein Verschlag vor den Zuschauern errichtet ist, über dem sie ihre Künsre zeigen. [... 1 An dieser Wand, [... J, tragen Menschen mannigfache Geräte vorbei, die über die Mauer hinausragen, da7.u auch Statuen aus Holz und Stein von Menschen und anderen Lebewesen, kurt, alles mögliche, alles künstlich hergestellt, wobei die Vorbei· tlOlgenden teils sprechen, leils schweigen." ibid., 514 a·S 15 a. Der alle Varianten überdauernde Kern des aufPausanias zurückgehenden Mythos erti.hh von einer kalcdonischen Stadt, die von dem Fluch einer dionysischen Orgie heimgesucht wurde. Nach dem Willen der Göuer durfte sich ihr niemand enniehen. Der Dionysos-Priesrer Kore· sus verfiel jedoch nicht der allgemeinen Raserei, da er sich in K.al.lirhoc: verliebt hane, die sich ihrerseits weigerte ihn anwhÖren. Bcide waren durch ihre Form der Liebe bzw. Nichdiebe ungehorsam gegenüber den Göttern. Je mehr sich Kallirhoc: weigerte, Koresus' Verführungskünsten Achtung zu schenken, desto mehr ließen die Göuer die Sradt in Raserei versinken. Schließlich wies ein Orakel den Weg zur Erlösung: Die störrische Kallirhoc selbst oder ein anderer müsse sich an ihrer Srelle opfern um den Alptraum w beenden. Da sich zunächst niemand fand, wurde die nunmehr der Realitit entronnene, gänzlich abw~nde Kallirhoe zum Opferahar gebracht. Kurt bevor das Urteil an ihr vollsueckr werden konnte, betritt Koresus die Szene und verhindert ihren Tod durch den seinen. Zum ikonographischen Hintergrund von Fragonar
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3. DIE AUFKL\RUNG DES SE.HENS
sich weiterhin naiv stellenden Dideror. dass die Schlusssune seiner Vision sich exakt mit dem Gemälde Fragonards decke. Über diesen Vergleich des Gemäldes mit einem Schattenbild in Placons Höhle formuliert Dideror eine subtile Kritik an Fragonards Bild. Wiederum wird deutlich, was die alte von der neuen Kunstkritik unterscheidet: Dideror sah sich nicht mehr in der Tradition des Connaisseurs, er verstand sich vielmehr als Bildtheoretiker, der die T echnik- und Kanonfragen zugunsten einer Kunstphilosophie uncerlässt. Das Gemälde war nach den Regeln der Kunst durchaus gelungen. Nichrsdesroccon missfiel ihm Fragonards Inszenierung. die sich der Maschinerie des Theaters mit alt ihren Effekten bediente und der Wahrheit damit geflihrlich wurde. Dem DarsteUungsverfahren nach war das Bild nicht mehr als ein Schauen bzw. eine Lüge, die dem Betrachter etwas vorgaukelt. So legt Diderot seinem Gesprächspartner Grimm die folgende Erklärung in den Mund: "Dans la c.averne, vous n'avez vu que les simulacres des erres, et Fragonard sur sa roile ne vous en aUr:Ur montre non plus que les simulacres. Cesr un ~au reve que vous avez faü, C'esl un ~au reve qu'il a ~inl. Quand on ~rd son rableau de vue pour un momeßl, on craint roujours que sa roile ne se replie comme la vörre, er que ces fanu'}mes ißleressams el sublimes ne se soient evanouis comme ceux de 1a nuit. Si vous aviez vu son tableau, vous auriez ere frap~ de la meme magie de lumiere er de la maniere dom les tenebres se fondaiem ave<: elle, du lugubre que ce melange porrair dans rous les points de sa composition;" (IV, 429)
Selbst wenn Diderot anerkennt, dass Fragonards Gemälde durchaus funktioniert und ein ganzes Szenario zu verlebendigen weiß, so gelingt diese Wirkung doch nur auf der Grundlage von Täuschung und Illusion. Fragonard versteht es den Betrachter zu affizieren, versäumt es aber, dem Bild durch das Abbildungsverfahren auch Glaubhaftigkeit zu verschaffen: ..Mais outre la crainte qu'au premier signe de croix rous ces ~aux simulacres oe disparussenr, il ya des juges d'un goul severe qui leur a deplu. Quoi qu'ils en disenr, croyez que vous avez fail un beau reve er Fragonard un beau tableau. 11 a roule la magie, route I'imelligence et route 1a machine piltorcsque. La partie ideaJe esl sublime dans cer aniSle aqui il ne manque qu'une couleur plus vraie er une ~rfection rcchnique que le temps et I'experience ~uvent lui donner." (IV, 431)
Fragonard macht sich in Didecots Augen schuldig, den Mythos doch nur dem Effekt geopfert zu haben. Er bleibt ein Gaukler, der den Betrachter in einer Höhle zurückhalten muss, um seine Geschichten zu erzählen. Wir wollen hier nun nicht fragen, wie Fragonard sein Bild hätte verbessern können. Es sei vielmehr hervorgehoben, dass Diderot bei der Beurteilung von Bildern nicht nur darauf achtet, dass ein Thema seinem Archecyp angemessen umgesetzt
3. 1. DER HOBLENAUSGANG Al5 UMKEHRUNG DER SEHNAnJR
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wird, sondern den Wahrheicsgrad des Bildes auch daran bemisst, ob das zugrundeliegende Abbildungsverfahren ihn zu überuugen vermag. Wie konnte sich Diderot nun in seiner Suche, wahre von f.Uschen Bildern zu unterscheiden auch weiterhin auf Platon beziehen, ohne dabei seine aufklärerischen Prinzipien an eine "abergläubische" Metaphysik zu verraten?
Platons Bildet Mit Platons Höhlengleichnis lässt sich nicht nur an bestimmten Abbildungsverfahren Kritik üben, man muss den T oct nur weiterlesen - was Didecot getan haben dürfte - um auch auf Lösungsansärze fUr das Problem der Glaubhaftigkeit zu stoßen. Wie gehabt wollen wir uns dabei erlauben, Platons Gleichnis einmal buchstäblich als Theorie über das Sehen und nicht nur metaphorisch als Erkenntnistheorie zu lesen, selbst wenn beides in dem fUr das 18. jahrhundert skizziercen Topos wieder zusammenfallen wird. Versuchen wir also den antiken Philosophen einmal so zu lesen, dass er zu Diderocs Ästhetik und dem epistemologischen Kontext seiner Epoche passt. Plamn beschreibt, wie einer der Gefangenen aus der Höhle befreit und an das Tageslicht geführt wird, um das Sehen der wahren Welt zu lernen. Diese SchlüsselsteIle über den Lernprozas des ehemaligen Höhlenhäftlings verfährt, so meine These. nach demselben Muster bzw. unter Nennung derselben Topoi wie Cheseldens Bericht - nur eben in umgekehrter Reihenfolge. Cheseldens junge sah bei der späten Geburt seines Augenlichts zunächst primitive, allein aus zweidimensionalen Flächen zusammengesetzte Bilder, er musste Schritt für Schritt lernen, mit Hilfe seines ertasteten Vorwissens darin räumliche Zusammenhänge zu erkennen. Das Erkennen der Schatten als Eruuger von Plastizität oder die Konstruktion von Räumlichkeit durch perspektivische Verkünungen stellen für ihn das Ziel seiner Entwicklung dar. Das Erkennen einer gemalten Illusion in der Kunst übertrifft dabei noch das Erkennen von realer Räumlichkeit, da es eine noch höhere Abstraktionsleistung erfordert. Der an das Höhlenspekrakel gewöhnte Mensch bei Platon wird hingegen gleich in eine Bilderwelt hineingeboren, die er als räumliche zu interpretieren weiß. Er beginm sein Höhlenleben also mit jenem Wissen, das Cheseldens PatieD[ noch erlernen muss. Er findet auf der Leinwand der Höhle niches anderes vor als eben jene durch Schattenspiele und andere U1usionsteehniken eruugten Bilder, die der junge erst noch zu begreifen sucht. Die Karriere des Höhlenbewohners beginnt somit auf dem Gipfel des wissenden Sehens: Er hat durch Erfahrung gelernt, die eigentlich zweidimensionalen Bildet auf der Höhlenwand
3.
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DIE AUFKJ.J.RUNG DES SEHENS
als eine dreidimensionale Realität zu lesen. Das Auge des Häftlings befindet sich, verglichen mit dem jungfräulichen Blick von Cheseldens Patient, am anderen Ende der Skala als jenes Auge, das alle Kennmisse bereits gesammelt hat, die dem Jungen noch fehlen. Die Erziehung des Höhlenmenschen verläuft bei Plaron daher genau in umgekehrter Richcung und führt zurück zu jenem primitiven Blick. den Cheseldens Patient von Narur aus besaß. Der nunmehr befreite Häftling muss, um der Wahrheit näher zu kommen, wieder zu dem einfachen, unmittelbaren Sehen zurückfinden, das auf das Prinzip der Repräsentation (z. B. von Räumlichkeit) gänzlich verzichtet. Plaron beschreibt die Stufen seines Lernens wie folgt: "Er bl"2ucht Gewöhnung, denke ich, wenn er die Oberwelt betrachten sollte, zuerst würde er am leichtes[en die Schanen erkennen, dann die Spiegelbilder der Menschen und der anderen Dinge im Wasset, später sie selbs(; hieraufkönn[e er die Dinge am Himmel und diesen selbst leich[er bei Nacht beuachren, aufblickend zum Licht der S(erne und des Mondes - a.ls bei Tag die Sonne und ihre Lich[. I...] Zulen[ aber könnte er die Sonne, nicht ihr Abbild im Wasser oder auf einem fremden Körpet, sondern sie selbst für sich an ihrem Plan anblicken und ihr Wesen erkennen.~·
Mit dem AUSlritt aus der Höhle ist der Mensch nach Platon zunächst nur in der Lage das zu erkennen, was er schon kennt, d. h. die Schatten und Spiegelbilder. Danach sieht er die Körper selbst, er erkennt nun die dreidimensionalen Gebilde seiner realen Umwelt. In einem nächsten Schrin wendet er sich dem zu, was er nicht mehr greifen und tasten kann - z. B. dem Himmel, einer rein zweidimensionalen Erscheinung, über dessen Räumlichkeit das Auge nichts wissen kann. Er blickt in eine Weh, die sich perspektivisch nicht erfassen lässl. Wenn man so will, sieht er nun flache Bilder, aber eben keine Repräsentalion oder Illusion davon, sondern die Sache selbst. Zunächst vermag er den Nachthimmel zu betrachten, an dem er noch die Sterne von dem dunklen Grund umerscheiden kann. Die binäre Differenz von Hell und Dunkel ist die letzte, schon sehr vereinfachte Stufe, vor dem eigentlichen Ziel des Sehens: dem Erkennen des reinen Lichts am Tageshimmel. Das Sehen der Sonne steht gewissermaßen für das eindimensionale, monochrome bzw. nicht mehr farbige, sondern nur noch Licht seiende Absolute. Es ist offensichtlich, dass in dieser letzten Stufe das Sehen aufgehoben wird, denn wenn nichts mehr zu unterscheiden ist, kann man auch nicht mehr von Wahrnehmung sprechen. Platons Lehrgang des wahren Sehens bzw. des Erkennens des Wahren gipfelt in dem Paradox, dass das Ziel dieser Schulung für das Auge selbst unerreichbar bleibt, es erblindet im Moment des Erreichens. Für dieses Moment der Aufhebung des Sehens im Göttlichen oder Absoluten dürfte sich Diderot als überzeugter I
ibid., 516 a-b.
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3. I. DER HOHLENAUSGANG ALS UMKEHRUNG DER SEHNATUR
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Marerialist nicht mehr interessiert haben. Nichtsdestotron bietet Plarons Bildtheorie aufgrund ihrer Parallele zur neusten Sehtheorie des 18. Jahrhunderts auch für einen atheisrischen Aufklärer mögliche Anknüpfungspunkre. In Plarons Schriften lässt sich an keiner Srelle ein generelles Bilderverbot finden, er formulien nur Einwände gegen jene Formen des Abbildens, die im Sinne der Höhle mit Schauen und Illusionen arbeiten. Nur sie verdammt er als trivial und sinengeP.i.hrdend. Andernorts lobt er die bildende und darstellende Kunst ob ihrer göttlichen Inspirierrheit als legitimen Weg zur Erkennmis. Die Klärung seiner Haltung gegenüber dem Bild gestalter sich umso schwieriger, als dass Platon - wie auch Diderot - keinen einheitlichen Bildbegriff verwendet.' Dennoch können wir feststellen, dass seine Erkenntnistheorie ganz wesentlich vom Bild bzw. von der Anschauung her denkt. Die vielzirierte Passage im Sitbenlen Briif führr zum Beispiel das Abbild innerhalb der Hierarchie der Repräsentationsmodi als der Erkenntnis am nächsren auf. So Platon: "Für jedes Ding gibt es dr~i~rl~i, wodurch sich notw~ndigerweise sein~ Erkenntnis vollzie:ht, dazu kommt als vie:rtes die: Erke:nntnis selbst, als fünftes muss man das selber an* seru:n, was e:ben Objekt d~r Erk~nnmis und des wahrhaft &ienden ist, nämlich ~rstens der Name, zw~itens die Definition, drittens das Abbild, viertens die Erkennmis."lo
Auch das dem Höhlengleichnis vorangestellte Liniengleichnis enthält ein für unseren Zwammenhang aufschlussreiches Beispiel. Die Logik der Geometrie vermag durch bildliche Anschauung deurlich zu machen, was Placon unter wahren Bildern versteht. So erläuten Sokrates: "Du weißt ja wohl, die l...e::ute. die sich mit Geometrie, Rechn~n und ähnlichem beschäftigen, bedienen sich dabei gewisser Voraussenungen, wie der Geraden und Ungerad~n, der Figuren. der drei Arten der Winkel und V~l'Wllndtes mehr; diese Vorausscnungen machen sie so, als ob sie darüber genau im KJaren wären, und halt~n es nicht für nötig. sich und anderen darüber Ra:h~nschaft zu geben, da sie ja jedem klar seien; von da geh~n sie aus und erreichen in weite~ Fortschritt folg~richtig ihr Zid don. wo sie es sich für ihre Untersuchung gesteckr haben." "Das verstehe ich sehr gut." "Nun weiter. Sie behelfen sich mit sichtbaren Figuren und untersuch~n sie, denken aber dabei nichr an die Figuren, sondern an di~ Urbilder, denen sie gleichen; so untersuchen sie das Viereck an sich und seine Diagonale, aber nicht di~ gezeichnete, und ähnlich bei allem anderen; die Gebild~, die sie formen und zeichnen, von denen es wiroer Schatl~n und Abbilder im Wasser gibt, di~
, Siehe dazu Maria Kardaun: Der Mimesisbegriff in der griechischen Antike. NeubetrachlUngen eines umstritlc=n~n Begriffs als Ansan zu einer neuen Interpretation der plaronischen Kunstauffassung. AmsrC'rdam: North Holland, 1993. Hier insbesondere S. 66 fE 10 Piaton: Der siebcnt~ Brief, 342 a.
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3.
DIE AUFKI.J.RUNG DES SEHENS
gebrauchen sie nur als Abbilder und suchen die Urbilder an sich zu erkennen, die man nur durch das reine Denken erkennt."ll
Die Geomeerie arbeieee also nicht mit Bildern, die sie in der Namr beobachtet und nachahmt; sie beschäftigt sich keineswegs damie, alle in der Namr vorliegenden Kreisformen zu vergleichen und daraus - gewissermaßen als kleinstem gemeinsamen Nenner - eine wie auch immer gewonnene Normfigur "Kreis" zu gewinnen. Wie in Diderots Absage an Baeeeux' Vorstellung, der Künstler müsse sich nur die sichebare Namr halten, um das Ideal zu finden (s. I. 2.), weiß auch der Mamemaciker um die absoluee Form eines Kreises, ohne diesen jemals sichtbar vorgefunden zu haben. Er kann ihn daher in dieser Vollkommenheit auch nicht zeichnen. An den Darsrellungen der Geomeerie sind jeweils nur die Urbilder wahr und niche die Abbilder. So nehme man z. B. die Definition eines Punkres oder einer Tangence: Zwei Linien sollen sich in einem Punke schneiden oder berühren. Keine noch so genaue Zeichnung könnce dies im Bild so umserzen, dass der Punkt, wie seine Definicion verlangt, keine Ausdehnung hä[(e. Dennoch ise die Definieion eines Punkces nicht anders möglich als durch dieses Bild. Wir führen kein arbiträres Zeichen ein, sondern halten uns an die Analogie und Performanz des Ideogramms, das allein mit seinem Bild die zugrundeliegende Idee auszudrücken vermag. Das Ideogramm veranschaulicht eine Wahrheie bzw. Idee, die zwar im Bild niche empirisch beobachrbar vorliege, die aber ohne ihr Erscheinen als Bild weder wahrnehmbar noch denkbar wäre. Die Geomerrie, so das ihr innewohnende Paradox, entspringe der Anschauung und dem Denken in Bildern, ihrem Ziel nach ise sie aber doch wieder ikonoklaseisch. Placons Philosophie des Bildes bzw. seine in Bildern denkende Philosophie beschreibr Raffael Ferber daher als von einer "ami~empirischen Revolurion" geprägr. 12 Die Bilder werden nichr dadurch wahr, dass sie eine sichrbare Realirär ereffend wiedergeben, sondern weil sie einem dahinrer liegenden Urbild encsprechen. Dabei in es müßig zu fragen was zuerse vorlag, die Vorseellung des Kreises als erinnenes Urbild (wie in Placons Anamnese) oder die Beobachmng von Kreisformen in der Natur, die uns zur gedanklichen Absrrakrion des vollkom~ menen Kreises anregt (so die Theorie der Sensualisren). Das Urbild können wir uns jeweils nur sehend vorstellen, wobei der Sehende dabei so blind sein kann wie der Seher Tireisias in der Antike oder der blinde Marhemariker Nicholas Saunderson im 18. ]ahrhunden, der die Geomerrie vorzüglich beherrschee, obII
12
ibid., 510 c-<. Siehe R.afhd Fer~r: Platos Idee:: des Guten. Sankt Augustin: Richan. 1989.2. elWeirene Auflage, $. 94 ff.
3. 1. DER HOHUN.... USGANG ALS
UMKEHRUNG DER SEHN.....ruR
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wohl er ihre Formen nie hat sehen können (er sieht gewiSStrma&n ..hapdsch" und somit auch sinnlich) - letzterer war daher nicht zuP.iJlig ein zentraler Protagonist in Diderots Briqüb" die B/irukn. Kurzum: Platons Sehen erfordert keineswegs den Einsatz unStrer Allragsaugen. sondern beruht auf einer Vorstellung von der Wahmehmbarkeit der Idee. Das Ur-Auge sieht sinnlich, ist aber nur denkend erfahrbar. Um diese vorgcsteUten Bilder, die man durch Sprache oder andere Definitionen nicht ausdrücken könnte, dennoch sichtbar zu machen und sie damit in die Kommunikation einzuführen, kann man Platons Begriff der Teilhabe. der .. memexis", heranziehen. Selbst wenn das Urbild, der Archetyp oder die Idee nie vollständig erscheinen wird, können die jeweiligen Abbilder doch eine gewisse Teilhabe gewähren und damit die Verständigung über die Idee ermöglichen. 13 Gerade das Beispiel der Geometrie vermag deutlich zu machen, dass wir inmitten unserer Schattenwelt doch auch richtig denken können - und wie die Lektüre der Aufklärung letztlich anfügte: Dies gelingt auch ohne einen Gott bzw. die entsprechende Mecaphysiid Diese pragmatische Platonrezcpdon können wir noch weiterführen: Wenn im Bereich des Sichtbaren immer nur Annäherungen an die Idee möglich sind. bedarf es der Hilfe von Techniken und Verfahren. In der Geometrie benutzen wir Lineale, Zirkd und andere Zeichenhilfen. um möglichst wenig subjektive Beigaben in unsere Zeichnung zu bringen. Nichts anderes fordert Diderots Ästhetik: Der Künstler oder Darsteller muss Techniken finden, sich aus Stiner Darstellung zurückzuziehen. Ob im Theater, der Malerei oder in der Geometrie, für den Autor gilt: Je mehr er in seiner Repl"äStncation auf technische Hilfen zurückgreift, um seine subjekdven EinAüsse zurückzudrängen, desto wahrer wird das entstehende Bild. Und um schließlich auch wieder den Bogen zur Fotografie zu schlagen: Wie die Zeichenhilfen in der Geometrie, so soll der Fotoapparat dem menschlichen Auge nachhelfen wieder unbefangen und vorurteilsfrei zu sehen. In diesem Sinne können wir die im 18. Jahrhundert spürbare Sehnsucht nach dem fotografischen Bild durchaus als Fortsetzung der platonischen BildLheorie betrachten. Auch die Fotografie berücksichtigt das and-empirische Paradox des wahren Bildes, da sie mit einem anderen Auge sehen soll, als dem für uns im Alltag zugänglichen.
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So baonl Fcrber. dass das Sinnlichc 1>0 Pbton nur z.um Teil abgewertet wird, eh es als "Ober. Rächc cincr Ticfc· auch Anerkennung findet: "Dic T:iuschung "crwtüt nicht nur aufdie Wahrheit. sondern dic Wahrheit lebt auch in dcr Täuschung fon. Kun: Die Pha..inomcna m:hen nicht nur im Schattcn. sondern auch im lichtc der Ideen. Plal05 Himmd ist auch auf Erden," ibid.• S. 55.
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DIE AUFKlÄRUNG DES SEHENS
Die zunächst sinnlich-körperlichen Sehapparate und spätcr auch tc:chni· sehen bzw. elektronischen Medien haben die Funktion. anschauliche Bilder der Welt zu liefern, ohne die wir keinen kommunikativen Zugang zu den Ideen härten. Dennoch ist Vorsicht geboten ob ihrer doppelten Sehnatur: Je nach· dem wc:lches Auge zum Zuge kommt. liefert es uns Schatten und IlIwionen oder ehen wahre Bilder. Stau den eigenen Beobachtungen blind zu glauben und eim:m naiven Positivismus zu verfallen. heißt es immer zu hinterfragen mit welchem Auge man gerade sieht. Nur die T eilnahmslosigkeir des Ur-Auges, das nicht schon beurteilend denkt. sobald es sieht, vermag Formen der Objektivität zu garantieren. In der AufkJärung suchte man also, durch die Domesrizierung der Sinne und die Entwicklung entsprechender Sehtechniken praktikable Verfahren der Beobachtung zu gewinnen, die ihre Legitimität wiederum in der platonischen Logik der Teilhabe begründen. Platons Ansatz, so können wir mit Ferber zusammenfassen, zieht durch die Verdoppelung der Weh in eine sichtbare materielle und eine unsichtbare ideelle einen "ontologischen Komparativ"lof nach sich. Es gibt mit dem unveränderlichen Urbild ein seiendes Sein und mit der beobachtbaren Natur ein gewordenes bzw. stetig werdendes und veränderliches Sein. Eine Vorstellung, die sich auch in den Bildtheorien unserer Tage noch finden lässt: So spricht zum Beispiel Gernot Böhme von Bildern als einem "Riss im Sein", sie produzieren eine ontologische Differenz, da sie über die Unterscheidung von intelligiblem UrbiJd und visiblem Abbild nicht nur Inhalt und Form trennen, sondern über ihren Wahrheirsanspruch auch in vollständige Idee und unzureichende Reali· sierung zerfallen. 15 Bleiben wir jedoch im 18. Jahrhundert um zu fragen, wie sich Platons logik aus der damaligen Sicht anwenden ließ. Geht man von einer wönlichen Lektüre des Höhlengleichnisses aus, so kann man es auch ganz ohne metaphy. sische Rückgriffe auslegen: Eine tatsächliche Verdoppelung der Natur hatte die damalige Medizin durch die Entdeckung der zwei Naturen des Sehens auf einem rein rationalen und empirischen Weg nachgewiesen. Die Wissenschaft gab, allein auf das Diesseits bezogen, Aufschluss über die Beschaffenheit eines lernenden und damit veränderlichen Alltagsauges und eines konstanten, aber unerreichbaren Ur-Auges: Das Alltagsauge des Menschen sieht aufgrund der abgespeicherten Erfahrungswerte die Dinge in einer Air ihn sinnvollen räumlichen Anordnung, obwohl ~ine Augen dies überhaupt nicht so sehen können, da die eigentliche Funktion dieses Organs nur eine Rache Weitsicht ermöglicht. Diese ursprüngliche Namr des Auges hat der Mensch allerdings immer schon verloren, wenn er sich ihrer bewusst werden kann, denn die EnrwickJung 14
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Siehe FerNT. ibid.• S. 39 K. Gernol Böhme: Theorie des Bildes. München; Fink, 1999. S. 7 ff.
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seiner Sinne folgt der werdenden Natur, die von der seienden wegführe Die Automatismen der Biologie führen den Menschen :tunächst in die Höhle hinein, aus der er sich erst durch die Reßaion der eigentlichen Sinnesleistung seiner Augen - gewissermaßen als Leistung der Kultur in Abgren:tung :tur Natur - wieder befreien kann. Gegenüber den neuplamnischen Traditionen hat sich der Akzent in dieser Platonrezeption deutlich verschoben: Nun steht nicht mehr die Frage im Vordergrund, wie man das Unsichtbare tron allem sichtbar machen kann, sondern wie sich im Bereich des Sichtbaren möglichst wahre Bilder erzeugen lassen. Das Neue an diesem Platonismus liegt somit in dem expli:titen Baug auf das reale Sehen: Die Sinne, die in der Philosophie der Sensualisten maßgeblich am Zustandekommen der Ideen beteiligt sind, erweisen sich als Zulieferer von Erkenntnis, so dass sich die Frage nach dem richtigen und falschen Sehen wnächst für das äußere Auge stellen muss. Der ersehnte Höhlenausgang kann nur über die ein:tige Schnittstelle erfolgen, die wir zur Außenwelt haben: Die Sinne selbst. Dem Auge galt dabei aufgrund seiner doppelten Natur die besondere Aufmerksamkeit - nirgends sonSt ließ sich der Unterschied von vorurteilsbehafteter und legitimer Wahrnehmung klarer belegen. Erkenntnis ist nun tacsächlich (und nicht mehr nur metaphorisch wie bei Platon) an bestimmte Verfahren des Sehens gebunden. Den Topos über die Verdoppelung der Natur finden wir jedoch nicht nur im direkten Umkreis des Höhlengleichnisses bzw. der damaligen Sehtheorie. Das anti-empirische Paradox, dass man sich im Anschaulichen doch wieder auf Bilder beziehen muss, dje man gar nicht als solche beobachten kann, bzw., dass nur das Auge authentisch und wahr sehen kann, das wir schon Ia.nge verloren haben, lässt sich auch in anderen Zweigen der Wissenschaft des 18. Jahrhunderts nachweisen. Betrachten wir kurz einige Beispiele, um anschließend w fragen, wie dieser Diskurs auch in Diderots Anthropologie Gestalt a.nnehmen konnte.
Die Verdoppelung der Natur Ein für Diderot wichtiger Vermittler der oben skizzierten Platon-Rezeption war sicherlich John Locke. Dass Diderot sich eingehend mit dem Begründer des Sensualismus beschäftigt harte, lässt der Enzyklopädie-Artikel schließen, den er über ihn verfasste. Locke als Platoniker zu beuichnen mag sonderbar erscheinen, denn er gilt allem voran als Gegner a11 jener Theorien, die dem Menschen eingeborene Ideen :tuschreiben. 16 Was der leibnizsc.hen 16
Gerade für Diderol war locke daher ein wichligeres Vorbild als zum Ik:lspid Shaftesbury
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DIE AUFKl..ARUNG DES SEHENS
Monadenlehre noch selbstverständlich war, musste der Aufklärer kategorisch ablehnen: Wenn die Wahrheiten schon mit der Geburt vorlägen, bräuchte man sich um die Ausbildung und Erziehung des Verstandes nicht mehr zu bemühen. Es würde vielmehr ausreichen, das zu übernehmen, was die vorangehenden Generationen schon als wahr erkannt harren. Um den Menschen aus dieser Unmündigkeit zu befreien, öffnete Locke die Monade und schrieb unseren Sinnen die Fähigkeit zu, die Dinge tatsächlich wahrzunehmen. 17 (Selbst wenn wir dabei stecs nur die Einzeldinge sehen und nicht die Dinge an sich.) Auch Locke bezieht sich in diesem Zusammenhang auf das anti-empirische Paradox der Geometrie: MZweifdlos wird man ohne weiteres zugeben, dass unser Wissen von den muhem;nischen Wahrheiten niche nur ein gesichenes, sondern auch eine reales und nicht nur die inhahslosc Einbildung von eitlen und nichtssagenden Hirngespinsten darstdlr. Trondem werden wir bei einer Betrachtung (esmeIlen, dass es nur ein Wissen von unseren eigenen Ideen ist. Der Mamematiker betrachtet die Regelmäßigkeit und die Eigenschaften eines Rechtecks oder Kreises so, wie sie als Ideen in seinem eigenen Geiste vorhanden sind. Denn es ist möglich, dass er keine der beiden erwähnten Figuren im Leben je mathematisch, das heißt genau richtig existierend, angetroffen hat. Dennoch sind seine Kenntnisse [...] wahr und gewiss, weil reale Dinge für alle Sänc jener Art nur insoweit betrachtet werden und durch sie nur insoweit bez.cichnet werden sollten, wie sie wirklich den Urbildern im Geist des Mathematikers entsprechen."ll
Er folgert somit: "Damit unser Wissen ein reales werde, müssen die Ideen ihren Urbildern [eng!. "archetypes"] entsprechen."l9 Diese Archetypen sind jedoch nicht von aUeine im Menschen angesiedelt, sondern kommen ihm erst durch die Sinne zu. Erst die Betrachtung der realen Einzeldinge bringt uns dazu, den Archetyp davon bilden zu können. 2o Trotz Täuschung und Illusion verhelfen uns die Kopien auf den richtigen Weg. Der Sensualismus lockescher Denkart mündet also keineswegs im blinden Positjvismus einer rein empirischen Wissenschaft, das neue Vertrauen in die Sinne gründet sich vielmehr in dem festen Glauben, dass es den Sinnen gelingen kann, uns zu der Idee zu führen. Wir kommen nicht mit fertigen Ideen auf die Welt, sondern nur mü den sinnlichen oder andere Sensualisren wie Berkelcy, die an der Theorie der eingeborenen Idet=n festhid· ren. 17 Siehe John Locke: Versuch über den menschlichen Verstand. (An Essay concerning Human Understanding, 1689) Hamburg: Meiner, 1988. Hier insbesondere S. 218 ff. 11 ibid., S. 220 f. ibid., S. 221. :ro Gerade die Diskussion um die Idet=nlehre erhob den Begriff des Archeryps im 18. Jahrhunden zu einem zentralen Modell. Zusammenfassend siehe den Anikel .,Archeryp~ in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. 1971, Bd. I, S. 497·500.
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Kapazitäten, um zu ihnen zu finden. Erst wenn wir gur und richtig denken, entsprechen unsere Erkenntnisse als teilhabende Abbilder den Archetypen. 2I Einen weiteren Vertreter des aufgeklärten Platonismus finden wir in Isaac Newton, dem Begründer der Experimentalphysik und der klassischen Mechanik. 22 In Frankreich wurde Newton vor allem durch Voltaires tlJmms d~ L:z. philosophi~ tk NtUfOn (t 738) rezipiert und entsprechend populär. Newton, der bei den ..Cambridger Platonikern" studiert hatte23, revolutionierte die Mechanik, weil er sie nicht mehr mechanizistisch verstand: So wie bei Locke nicht mehr eingeborene Ideen den Menschen ausmachen sollten, so läuft die Welt nach Newton auch nicht wie ein Räderwerk von alleine ab. GOtt sei kein Schöpfer, der sich aus seinem Werk nach der Erschaffung zurückziehe, um es dem Lauf der Dinge zu überlassen, den er dafur vorgesehen hat. Newton behauptete vielmehr, dass der erste Beweger der Welt bzw. die erste Ursache aller Dinge keinen mechanischen Ursprung haben kann. Entsprechend konzipierte er in seiner revolutionären Theorie der Gravitation diese als eine Kraft, die als irreduzibles Grundprinzip immer und überall am Wirken sei. Sie habe keine Ursache, keinen Anfang und kein Ende, die Wissenschaft könne daher auch nicht erklären, woher sie komme. Folglich kann es auch keinen ersten Beweger mehr geben, der von dem Uhrwerk verschieden wäre und dieses Uhrwerk ex nihilo geschaffen und zum Laufen gebracht hätte. Newton erbringt in diesem Zusammenhang einen ganz anderen Gottesbeweis: Um den Gravitationskollaps zu verhindern, der bei einem steten Weiterwirken der Kraft auftreten würde, müssen die Anziehungskräfte im Gleichgewicht gehalten werden. Es bedarf nach Newton daher eines Gottes, der in der Welt präsent bleibt und das Spiel der Kräfte aktiv ausbalanciert. 2•
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Bei Locke ist selbSt die Idee Gones nur über die Sinne zu erfahren: ..Gon hat uns zwar keine angeborenen Ideen von sich selbst mitgegeben. er hat unserem Geis[ keine ursprünglichen Schriftzeichen eingeprägt, aus denen wir sein Dasein ablesen könnten; dennoch aber hat er sich nicht unbeu:ugr gelassen, indem er uns nämlich die Fiihigkei[en verlieh, die unsere geistige Ausrüstung bilden. Wir besirun Sinne, Wahrnehmung und Vernunft (... ) Gon hat uns reichlich mit den Mitteln versehen. die es uns ermöglichen, ihn zu emdccken und zu erkennen." ibid.• S. 295. leh beziehe mich im Folgenden auf Horst-Heino Borz.enkowski, Renate Wahsner: Newton und Volnire. Berlin: Akademie Verlag, 1980. Siehe dazu Alexandre Korre: Von der geschlossenen Weh zum unendlichen Universum. (From [he Closed World [0 [he Infinite Universc, 1957> Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1969. HierS. 147 f. So schrc.ib[ Newton in seinem Hauptwerk Philosophia Naturalis Principia MalhfflUll;ca (1686), "Der höchste Gon in ein unendliches, ewiges und durchaus vollkommenes Wesen; ein Wesen aber, wie vollkommen es auch sei, wenn es keine Herrschaft ausübt, würde nicht Gort sein. (... ) Er ist weder die Dauer noch der Raum, aber wähn fon und is( gegenwär-
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Die Wissenschaft müsse sich in ihren Messungen daher begnügen, die Unendlichkeit der Erscheinungsformen fesnustellen, denn das dahinter liegende urbildhafte Prinzip der Gravitation könne sie empirisch nicht erfassen, da es in dem beobachtbaren Sein nicht abgeschlossen existiert. Auch Newton verdoppelte also dje Welt in eine sichtbare Realität und ihre intelligible Idee oder Ursache, die wissenschaftlich nicht zu erklären ist. Die Beobachtung der Welt hat demnach nicht das Ziel, dort die Dinge selbst zu erkennen. Die Sinne als unsere Öffnung zur Außenwelt haben nur die Funktion, uns durch die unvollkommene Annäherung bzw. Teilhabe an die Wahrheit heranzuführen, die wir nur denkend vollenden können. n Newton gab uns dafür ein simples, aber folgenschweres Beispiel: Er forderte als erster Wissenschaftler (was vor ihm schon viele ahnten, aber noch nicht zu behaupten wagten), dass das Weltall unendlich sein müsse - es ist offensichtlich, dass er dies nie hat messen können. Und schlimmer noch: Das menschliche Vorstellungsvermögen kann sich die Unendlichkeit des Raumes nicht einmal vorstellen. Aber Newton wusste aufgrund seiner empirischen Beobachtungen, dass sich dieses a-priorische Postulat als unumgänglich erweist. 26
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tig; er währt SleLS fort und ise überall gegenwärtig, er existiert SteLS und überall, er macht den Raum und die Dauer aus. (...] Ebenso ist Gou überall und bcständigein und derselbe Gon. Er ist überall gegenwärtig, und zwar niche nur virtuell, sondern auch subslanzieil; denn man kann nicht wirken, wenn man nicht ist. Alles wird in ihm bewegr und iSI in ihm enthalten, aber ohne wechselseitige Einwirkung; denn GOtt erleidet nichts durch die Bewegung der Kör~r I...]." Zitien nach Borzeszkowski, Wahsner, ibid.. 129 f. Dazu schreibt Newton in seinen Opticlu (1704): "isl nicht das Sensorium [... ) jener Ort, an dem sich die sensitive Substanz befindet und 1.0 dem die wahrnehmbaren Eigenarten der Dinge durch die Nerven und das Gehirn geleitet werden, damit sie hier, indem sie dieser Substanz unmittelbar gegenwärtig sind, wahrgenommen werden? Und wcnn diese Dinge auf die rechte Art benachtce wcrden, zeigt sich dann nicht aus den Erscheinungen. dass es ein unkörpcrliches, intelligentes und allgegenwärtiges Wesen gibt, das im unendlichen Raum, als wäre er in seinem Sensorium, die Dinge in ihrem Innersten durchschaut und sie direkt wahrnimmt und sie völlig begreift, weil sie unmittelbar in ihm gegenwärtig sind, während nur Abbildungen dieser Dinge durch die Sinnesorgane zu unserem kleinen Sensorium geleitet werden, die dort durch das, was in uns wahrnimmt und denkt, gesehen und betrachtet werden. Und obwohl nichr jeder wabre Schrirt, der in dieser Philosophie getan wird, uns unmirrclbar zur Kenmnis der ersten Ursache fuhrt, so bringt er uns ihr doch näher, und aus diesem Grunde muss er sehr hoch gewertet werden. Zitiert nach Bonenkowski, Wahsner, ibid., S. 146. Zur Göchichec der UnendlichkeitsVorsrdlung in der Wissenschaft siehe Alexandre Karrt, ibid. Zu Newlons Entdeckung schreibt Koyrt: ,,[...] Der Umerschied zwischen dem Unendlichen und dem Endlichen ist kein Unter~ schied zwischen 'mehr' und 'weniger'; er ist kein quantitativer, sondern ein qualitativer Unterschied, und obwohl er von Mathematikern untersucht wird, ist er ein metaphyM
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Auch hier liegt wieder das obige Paradox zugrunde: Die platonische Wende in der Wissenschaft ermöglichte es mit Phänomenen umzugehen, die man als solche nicht beobachten kann, aber denkend doch annehmen muss. Damit wir sie aber richtig denken, müssen wir von sinnlichen Beobachtungen ausgehen und nicht von unserem vorurteilsbehafteten Vorwissen. 27 Das zentrale Problem der platonischen Bildtheorie, dass Empirie-Kritik und die Norwendigkeit der empirischen Beobachtung ineinander greifen müssen, wird hier zum neuen Paradigma für Erkenntnis und Wissenschaft erhoben. An diese hier nur kurz skizzierten Modelle knüpfte auch Diderot in seiner Naturphilosophie und Anthropologie an. Betrachten wir seinen Ansatz daher eingehender um zu klären, wie sich sein Denken vom metaphysischen Idea~ lismus älterer Platonlektüren abgrenzt. Anders gefragt: Wie konnte Diderot einen diesseits gewandten Materialismus vertreten, ohne seinen aufklärerischen Optimismus hinsichtlich eines möglichen Höhlenausgangs zu verraten? In seinem Menschenbild bekennt er sich klar zu Locke, indem auch er die auf Platon zurückgehende Vorstellung von den eingeborenen Ideen strikt zurückweist. So schrieb er bereits 1752 in seiner Suiu tk l'Apologie tk M. l'Abbt de Prades: "L'homme factice er imaginaire. c'esr celui a qui I'on accorde des notions amerieurs a I'usage de ses sens. Ce fut la chimhe de Platon, de Saint Augustin et de Descartes." (I, 524) Nach Diderot ist der Mensch in seinem ursprünglichen Zustand nicht mehr als eine "tabula rasa", in diesem Urzustand umerscheidet er sich daher auch noch nicht vom Tier. So fahrt Diderot fort: ..I...] jc ~nsc tres sinchcmcnl [...] quc l'hommc n'apportc en naissant ni connaissances, ni reflexion, ni idees. Je suis sGr qu'il reslerait comme une bete brme, un automate, une machine en mouvement, si 1'unge de ses ~ns materids nc mcttait cn excrcicc les f.tcuhes de son ime. C'est le sentimcnt de Locke; C'CSI cdui de I'exptrience el de la verite. [... ) Nous passons de la notion positive du fini a la no[ion negalive de I'infini, que sans les ~nsations nous n'aurions ni la connaissancc de Dieu, ni cclle du bien el du mal moral; en un mot, qu'il n'r a aucun principc, soh de sptculation, soit de pratique, inne." (1, 524)
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sischer. Gerade diese Umerscheidung bewahrt uns, sofern et völlig begriffen wird, vor dem Irnum einer pantheistischen Verwechslung des Schöpfergoltcs mit der gcschaf~ fenen Welt, und eben dieser Unterschied verschafft uns eine sichere Grundlage zum Studium der nahezu unendlichen Vielfali der geschaffenen Dinge." ibid., S. 184. ~r Wissenschaftshistoriker Bechler fasst den pluoni.schen Paradigmenwcchscl in Bezug auf Newton wie folgt zusammen: ..Platonism is indccd empirial in üs method in (he scn~ that it depends on the phe~ nomena tO SCt up ilS problems of research and [he mOSI general scheme of the ob~rvcd realm. But it is not and annO[ bc empirial in the ~nsc of limiting il$ allowcd entitics [0 tho~ found in the obscrvcd world." Zev Bcchler: Newton's Physics and [he Conceptual Ctrucmre of rne Scientific Revolution. Dordrccht: K1uwcr Aademic. 1991, S. S08.
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Der zu Inhaftierung und Ünsur führende Atheismusverdacht gegen Dideror und die Enzyklopädisten zeigt. dass Gedanken dieser An nicht ungd'ahrlich waren, denn sie steUen die angeborene Überlegenheit des Menschen als vollendetes GcschöpfGoncs radikal in Frage. Didecor ließ sich jedoch nicht beirren und zog die Konsequenttn in einer nunmehr vom materialisüschen Monismus geprägten Nacurphilosophie. 2' Die Natur, so die zentrale These. organisiere sich von selbst; auf sich gesrellt und ohne jeden Gon vermag sie sich durch die diversen Prozesse der Umwe!tanpassung. des Auswenens, Erfahrens und urnens aus sich heraus zu ordnen. AJles Seiende wird in dem einen Prinzip der Materie verankere und bedarf keines transzendentalen Prinzips mehr. Diesen frühen Materialismus der Aufklärung sollte man jedoch nicht mit seinen Nachfolgern im 19. Jahrhundert verwechseln. Im Anschluss an Spinoza, der erstmals auch Gott als Substanz beschrieb29 , vertraten Diderot und viele seiner Mitstreiter wie Maupenuis. Holbach und Buffon vielmehr eine hylo· zoistische Auffassung der Materie. JO Diese auf die ionische Naturphilosophie zurückgehende Vorstellung lehrt, dass die Substanz aller Dinge aus einem belebten Urstoff hervorging. Nicht die Verabsolulierung der Materie stand somit im Vordergrund dieses Monismus. sondern die Annahme eines vitalen Prinzips. das auf die Gesa.rmhdt des Vorhandenen baogen wird: Wenn auch nicht in gleichmäßiger Verteilung, SO befindet sich doch eine Art von Geist oder "Bewußtsein" in jedem noch so kleinen Atom. Das Prinzip der Allgegenwärligkeit von Leben kann durchaus als Parallele zu Newtons überall vorhandener Durchdringung durch die Schwerkraft aufgefasst werden. Jedoch ist das geistige oder vitale Prinzip natürlich nicht allerorts in demselben Maße vorhanden. Selbst wenn Diderot davon ausgeht. dass jedes Molekül dem Prinzip nach empfindungsfähig ist ("la pierre sem"), so verfügt die einfache Materie natürlich nur über ein Minimum, während sich erst bei Tieren und vor allem beim Menschen so ecwas wie "rnrelligenz" herausbildet. Während Leibniz allein die Monade, d. h. die nicht-materielle Seele des Lebewesens als real ansah und die harte Materie zu einer Einbildung eben jener Monade degradierte. und auch Descartes die Außenwelt noch als Phantasie des Subjekts beschrieb, so hanen sich die Verhältnisse nun umgekehrt: Das geistige Prinzip kann keine Gabe GOttes mehr sein. sondern muss ebenfalls aus • !lI
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Siehe ausführlich Man W. Wanofsky. Didc:rOl and the Dc:vdopmc:nt of Matuialistic Monism. In: DitJmJr SruJin. No. 2, 1952. S. 279-329. Zur Spinoza-Rcz.cpcion im 18. Jahrhundc:n sie:he: Paul VernihC': Spinoza e:lla pensee fran~isc: a~ßl la Revolution. Pans: PUF. 1954. Sic:he dazu Mich~le Duche:t: Anthropologie: e:t Hisloire: au siede: des Lumi~res. Buffon. Voll2ire:. Roussc:au. Hdvbius. Dide:rm. Paris: Maspc:ro. 1971.
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der Materie heraus erklärt werden. Indem die einfachen Substanzen wie auch die komplexen Lebewesen auf ein und denselben vitalen Urstoff zurückgehen. bleibt nur die rad.ika.le Schlussfolgerung. dass der Mensch kein Wunder der Schöpfung mehr ist. sondern schlichtweg das Ergebnis einer Evolution. ll In DiderotS biologisch-dynamisch und nicht mehr mechanisch bzw. deterministisch denkendem Materialismus spielt die Unendlichkeit der Entwicklungsmöglichkeiten eine zentrale Rolle. In deutlicher Abgrenzung zur mechanizistischen Weitsicht. die von prinzipieU vorhersehbaren Kausalitäten ausgeht (wie z. B. La Mettrie in seinem L'Homm~ machin~). fordert Diderot in seinen P~müI sur l'int~rprltation d~ Ia natur~ (I753) eine Naturbeobachmng, die davon ablässt. nach vorschnellen Ordnungsmustern zu suchen, und die es sogar in Kauf zu nehmen wagt, dass die sich selbst schöpfende Welt ihre Kreationen auch wieder verwirft; "11 sembl(: qu(: la narur(: se soir plu avarie:r 1(: m€m(: mecanism(: d'un(: infinirl! de: mani~ res diH'l!r(:ntes. ElI(: n'ahandonn(: un g(:nre: de: production qu'aprb: (:n avoir mu!tiplil! Ic::s individus sous (Cutes les &ces possibles: (I, 565)
Da der Kosmos sich durch Auslese und Anpassung stetig verändert, vermag er an keiner Stelle seine Ordnungsprinzipien darzubringen. so dass auch nicht mehr auf die Existenz eines göttlichen Prinzips geschlossen werden kann. Diderot hält daher lapidar fest: ..L'univers se tait. W (I, 395) Er kennt im Anschluss an Newton und Buffon (und viele frühere Vorläufer) nur eine wgrande
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Sie:he duu die Einleitung von Laure:nt Versini, I, 3--12. Für Versini stehl vor aJlem die Spinou-R(:Uprion im Hime:rgrund dieses ne:u(:n De:nke:ns: .Sans en d&ider pour I'instanl, on nor(:ra Ja rbl!Jation du contaet cene fois assure avc<: Spinou. Du sunout av«: la vulgal(: du spinol.isme: rd que: les disdples abusif (:t adve:rsaircs le dl!finissaient, (:ng(:ndram ce que Pau! Verniere a appell! 1e n6rspinol.isme:, 10UI aussi caricarural qu(: 1(: n6>-le:ibnil.ianisme: de: Wolff ridiculisl! par Voltair(: dans Cmditk, ou que: le nb>-platonisme: de Dide:rol, qui sera. un macl!riaJisme:. t...]Diderot d&:ouvr(: avc:c l!m(:rve:ille:me:m un(: mari~r(: cr6uric(:, (:ffe:rv(:SCe:me:, bouillonnanle:, qui ~ur figur(:r Ie: princi~ de tour, er concilie:r Ie: dl!rerminisme: e:r bolutionnisme:: c'csr Ie: nro-spinOl.ism(:. (... ) Did(:ror fur e:nf(:rm~ au donjon d(: Vinc(:nncs lout aUf2ßt pour C(: coßt(: liccnciöJX que: pour le manifesr(: couragcux (:t imprude:nt du marl!rialisme: bio1ogique: qu'CSt lA uttr~ l~r In IlWUf,1n (I749). (...} La bcautl! ordonn~ du monde, a laqudle I'avcugle est ißS(:nsiblt. n'cst plus la praJvc CO$mol~que de: I'ajsrence: dt DiaJ, le dtism(: csr ruinl! er r(:mplad par un atJ,6sme: marmalisr(: pour Ic:qud I'homm(: s'i
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3. DIE AUFKI.ARUNG DES SEHENS
chaine des eucs". die wir in der Vielfalt ihrer Ausprägungsformen in keiner einheiclichen Nomenklatura fassen könnten. So warnt er in seinen E/lmtnts d, phJ'iowgi, (I778·1780) davor, di< Evolut;on allzu rasch als g<S
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chainc~
In Bezug auf die empirische Erfassbarkeit der Welt härte Dideror somit nicht pessimistischer sein können. Im Schlusswort der tltmtnts beruft er sich wiederum auf Platon um w betonen, wie wenig Aussichten für uns bestehen, die Höhle der Täuschungen und Illusionen je zu verlassen: -Qu·aper~ois·je?
des formes, et quoi encore? des formes; j'ignore 1a cho~. Nous nous promenons enlt'(: des ombres, ombres nous-rnt:me poUI les amres, Cl pour nous. Si je ~rde I'uc-en-
Nichtsdestotrotz: musste den Aufklärern auch daran liegen, versöhnlichere Auswege aufzuzeigen. Im Zentrum ihrer Kricik standen schließlich jene, die sich vor diesem scheinbar aussichtslosen Himergrund wieder einen Gott herbeiwünschten, der Ordnung in das Chaos brächte. Diderors Naturphilosophie, so pessimiSlisch sie auf den erSten Blick wirken mag. sollte daher im Gegenwg auch ein positives Bild vermitteln: Allem voran beschäftigt sie sich schließlich mit der Enrwickelbarkeit unserer Ideen, start in einer starren Prädestinationslehre zu verharren. Selbst wenn auf das Durchschimmern göttlicher Wahrheit nun definitiv venichtet werden muss, schließt dies keineswegs aus, dass sich die menschliche Intelligenz neue Formen der Wahrheirsfindung nichr auch selbst enrwickeln kann. Auch wenn Dideror nur noch eine Welt kennt, so gibl es innerhalb dieser Welr doch gewichtige qualitative Unterschiede. Zu dieser eher oprimiscischen Einschänung von Diderors Monismus kommt auch Marx Warrofsky: .His origjnaJ coRlribudon is me devdopmeRl of Oll philosophie monism which places man and a11 nature on the solid ground of Oll material universe. Our knowledge, our abi. Iity 10 ~ wim Ihis univelK sciencific:ally is assured by me very uniry of our consciousncss or reason wim the materUI world, by me mat our consciowness has iu very $Ourc.e in me qualitative devdopment of maner. This new r~iz..ation of the m.aterialiry of consciowncss. and me power of mought to dfea change in me material world. is an importaru up«t of me Af;t. of Enlightment.-.ll
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3. 1. DER HOHLENAUSGANG ALS UMKEHRUNG DER SEHNATUR
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Das große Projekt der Aufklärung zielt daher auf die Nobilitierung der Sinne: Erst wenn wir uns darüber bewusst werden, dass unsere vermeintlichen Sinneswahrnehmungen durch die Illusionen des Denkens zu Täuschungen werden, können wir dann gehen. zu ihren eigentlichen Leistungen zurückzugehen. Anders als Rousseau, der mit seiner Idee vom guten Wilden von einem paradiesischen Naturzustand träumte33 • konzipiert Diderot den Menschen als prinzipiell seiner Biologie ausgeliefert, der er sich erst reflektierend widersetzen muss. Darin liegt seine Chance und seine Aufgabe, die ihm schließlich auch zu der Würde verhelfen kann, sich vom Tier zu unterscheiden. So hält Diderot im Enzyklopädie-Artikel Animal fest: ..C'es[ parc~ qu'ils [di~ Ti~r~l n~ ~uv~m joindre ensembl~ aucun~ id~ qu'iJs n~ pe:nsent ni n~ parl~nt, c'est par la mem~ nison qu'ils n'inventent et ne pe:rfecionnem rien. S'ils etaien[ dou6: de la puissance de rtßb::hir, meme au plus ~[i[ degre, il seraiem capables de quelque esjXce de progres. (I, 254) M
Nicht mehr die angeborenen Ideen oder das gottgegebene Gursein der Schöpfung begründen unsere Überlegenheit. wir müssen sie uns vielmehr erst erarbeiten. Dass diese moralische Pflicht zur Emanzipation von den naturgegebenen Bedingungen vornehmlich vom persönlichen Engagement jedes einzelnen abhängt, finden wir auch schon in Platons Theaitetos formuliert: "Das wahrzunehmen, was an Eindrücken durch den Körper l.ur Seele gdangl, das komm[ M~nschcn und auch Tieren von Natur aus l.U, kaum sind sie geboren. Zu den Schlüssen daraus auf das Wesen und den Nunen gelangen hingegen nur mit Mühe, nach langer Zeir und durch mannigfaltige Anstrengung und Ausbildung jene, die überhaupt dazu gdangen."}4
Die zunächst sinnlose Biomasse "Mensch" kommt also erst nach der Geburt ihrer zweiten Natur, oder mit Platon: nach dem Höhlenaustritt, zu ihrem Geist. Die Kultivierung setzt ein, wenn die angeborenen Reflexe der Sinne hinsichtlich ihrer eigentlichen Kapazitäten reflektiert werden. Die Herausforderung zu dem ursprünglichen, primitiven und flachen Sehbild zurückzufinden, muss nun zur Aufgabe der Kunst werden, da uns die Biologie, d. h. jene Natur, die uns von selbst zukommt, diesen Rückweg versperrt. Im Vordergrund dieses Kulcivierungsprojekts steht für Diderot, wie gesehen, die Frage nach dem Gemeinsinn kollektiv unterstell barer Archetypen: Wie kann eine Gesellschaft das Richtig-Vorstellen der Mythen und Urbilder
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ibid., S. 327. Siehe dazu Jcan Fabre, ibid., insbesondere das Kapitel: nDeux freres ennemis: Diderot er Jea.nJacques", S. 19*)6. Plawn; Theaileros, 186 b-c.
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3.
DIE AUFKLÄRUNG DES SEHENS
so selbstverständlich und sicher beherrschen wie die VorS[ellung von Kreisen, Dreiecken und anderen Formen in der Geometrie? Man muss sich, so seine pragmatische Anewore, an ebenso neutrale und subjektlose Verfahren halten wie in der Mathematik. Nur der fotografische Blick des Ur-Auges kann uns über die beschriebenen Aufnahmetechniken zu wahren Bildern verhelfen. Die Fotografie erweist sich also als das Medium für die Herstellung von Gemein~ sinn in der Anschauung. So wie die Technik dem Menschen von nun an die Möglichkeit gibt, auf den göttlichen Ursprung der Ideen zu verzichten, so erweisen sich auch die Archerypen als dementsprechend "hausgemacht". Sie sind nach Diderot keine vorgeburclich eingelagereen Urbilder mehr, deren Ewigkeit durch einen Gon garantiert wäre, sondern erweisen sich vielmehr als historisch bedingt: Gerade weil sie vom Menschen selbst erfunden werden, tragen sie den Stempel ihrer Zeit (s. 1.2.). Ihren Ursprung und ihre Prägung finden sie erst in der zwischenmenschlichen Kommunikation. Nun liegt allerdings der Verdacht nahe, dass der Mensch, indem er seine Ideen selbst erfindet, doch nur in einer Höhle verharrt, anstarr einen echten Zugang zur Wahrheit zu haben. Hans Blumenberg hat in seiner Rezeptionsgeschichte über die verschiedenen Höhlenausgänge der Philosophiegeschichte auch Diderot dahingehend interpretiere, dass er nur versuche Licht in die Höhle zu bringen, anstatt an einen echten Höhlenausgang zu glauben: "Dit: Höhlt: iSI bei Diderol weniger eine Sphärt: der Gefangenschaft, t:tsl red\( keine dt:r Geborgt:nht:il, sondt:rn t:int: dt:r Vt:rborgt:nht:il der WirkJichkt:il vor dt:m Mt:nscht:n und d~ Menschen vor sich selbsl; eint: Realiläl, aus der herauszutreten jeden Sinn verloren hänt:. In sit: Licht hint:inzubringen, hinter ihrt: Erscht:inungcn zu seht:n, dit: Ft:inhdlt:n sichtbar zu machen, Slellt den einzig denkbaren FOrlschrin in der Erfassung des Wirklicht:n dar.~H
Tatsächlich bleibt es eine Frage der Auslegung: Für Leibniz war die Tatsache, dass ein Blinder sich Farben vorstellen kann, der Beweis dafür, dass unsere Monaden geschlossen sind. Er hielt sich an Platon, indem er den Höhlenausgang für unmöglich erkläree. Für den platonischen Sensualisten Diderot hingegen zeigt das Beispiel der Geometrie (die auch von dem "haptisch" sehenden Blinden verstanden wird), dass unsere Erkenntnisse erst durch die Sinne zu uns finden, um daraufhin zu einer Idee modelliere zu werden. Unsere Vorstel~ lungen können somit, wenn wir die Sinne richtig einsetzen, durchaus der real existierenden Außenwelt entsprechen. Im Gegensatz zu Blumenberg würde ich Diderots Haltung als optimistischer interpretieren: In dem Ziel der Aufklärung, auch ohne Metaphysik einen Höh.n Hans Blumenbcrg: Höhlt:nausgänge. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1989. S. 522 f.
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3. I. DER HOHLENAUSGANG ALS UMKEHRUNG DER SEHNAllJR
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lenausgang zu finden, lag schließlich die einzige Chance dauerhaft die Idee eines göttlichen Prinzips abzuwehren. Man bedenke, dass Leibniz und Descarres die Abgeschlossenheit der Monade gerade dafür nunten, ihre Gottesbeweise zu führen: Ohne Gott wäre das reine Höhlenleben tatsächlich sinnlos. Die AufkJärer hingegen senten die mögliche Kultivierung und Mündigkeit der Sinne als sinnstiftendes Versprechen gegen die drohende Willkür der Natur (die man z. B. im Erdbeben von Lissabon so schmerzlich erfahren musste oder auch in Diderots obiger Einsicht, dass die Natur eigentlich nur wahllos vor sich hin experimentiere). Der aufgeklärte Atheist las in der Naturgeschichte den Beweis, dass eine Entwicklung zum Guten möglich ist - wie sonst hätte sich der Mensch je vom Tier abheben können? Der Beginn des modernen historischen Denkens, der sich im 18. Jahrhundert für die Kultur- und Naturgeschichte gleichermaßen vollzog, erweist sich als notwendige Voraussenung für das neue Vertrauen in eine sich selbst organisierende Materie, die auch intelligentes Leben hervorzubringen vermag. Die Sinne (und später auch die Medien) - als privilegierte Schnittstelle zwischen Biologie und Intel1igenz - genießen in dieser atheistischen Heilsgeschichte höchstes Ansehen als jene erziehbaren Hoffnungsträger, die uns die Teilhabe an der Außenwelt ermöglichen werden. J6 Sich mit diesem optimistischen Weltbild trotz allem noch in stoischer Zurückhaltung über das Erreichte und Erreichbare zu üben, erachtete Diderot als seine moralische Pflicht. J6
An dieser Stelle sei ein kurzer Ausblick zum Fonleben dieser Topoi im deUlschen Idealismus angefÜgt: Die Forderung, das Ding an sich habe stets unsichrbar zu bleiben, steht natürlich auch bei Kam im Mittelpunkt. Vom Denken der Sensualisten und Materialisten distanziene er sich jedoch deutlich. In der Einleitung zu seiner Kritik det reinen Vernunft uneilr er ihren Ansarz aJs Fehlschlag ab: ~I n neueren Zeiten schien es zwar einmal, aJs sollte a.llen diesen Streitigkeiten durch eine gewisse: Physiologie des menschlichen Verstandes (von dem berühmten Locke) eine Ende gemacht [... ) werden; es fand sich aber, dass obgleich die Gebu" jener vorgegebenen Königin [gemeint: die Metaphysik). auS dem Pöbel der gemeinen Erfahrung abgeleitet wurde und dadurch ihre Anmaßung mit Recht hätte verdächtigt werden müssen, dennoch, weil diese Genealogie ihr in der Tat filschlich angedichtet war, sie ihre Ansprüche noch immer behauptete, wodurch a.lles wiederum in den veralteten wurmstichigen Dogmatismen und daraus in die Geringschärzung ver6e1, daraus man die Wissenschaft hätte ziehen wollen." (A X) Kams eigenes Projekt suchte hingegen: "Die vollkommene Einheit dieser An Erkenntnisse: [d. h. der reinen Vernunft], und zwar aus lauter reinen Begriffen, ohne dass irgend etwas von Erhhrung, oder auch nur besondere Anschauung [...] auf sie einigen Einfluss haben kann I...]" (A XX). Die berühmte Slelle besagt daher auch nicht, dass die Begriffe ohne die Anschauungen blind seien, sondern umgekehrt: "Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind. Daher in es
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3. DIE AUFKlARUNC DES SEHENS
Die Kunst, so sein Fazü, kann sich als sinnstiftende Verdoppelung der Natur und damit sogar als Höhlenausgang erweisen, wenn sie die doppelte Natur des Sehens entsprechend berücksichtigt und dem Betrachter seine wahren Augen zurückgibt. Um Fehlgriffe in den Beobachtungsprozessen zu vermeiden, galt es nun Methoden zu entwickeln, die das Auge in seiner Umkehr gegen die biologische Natur leiten und unterstützen. Wenden wir uns daher wieder den Sehtechniken des 18. Jahrhunderts zu, um zu zeigen mit welchen Medien und Verfahren man das primitive Ur-Auge zu unterstützen bzw. hervofZuholen suchte.
Das fixierte Sehen: Rahmensetzung und Lichtaufnahme Bemühen wir uns um eine weitere wörtliche Lektüre: Der Prozess des Wiedersehenlernens von Platons Höhlenhäftling endete, wie gesehen, mit dem Erkennen der Sterne 3m Nachthimmel und schließlich mit der Aufhebung des Sehens im Anblick der Sonne. Vor allem die Vorstufe, die zweidimensionale Darstellung des Himmels und seiner natürlichen Sterne, wurde in der Malerei des 18. Jahrhunderts auff'aJlig oft wiedergegeben. Selbst wenn wir nicht sicher behaupten können, dass Diderot auf die erwähnte SteHe anspielt, scheint es doch kein Zufall zu sein, dass auch er im Salon von 1763 dje Künstler zu diesem Thema herausforderte: ,J~ defi~ I~
plus hardi d'~ntr~ ~ux (um~r den Künstlern] d~ suspendre I~ soleil ~l la lun~ au milj~u de sa composition, sans offusqu~r ces d~ux astrcs ou d~ vapeurs ou d~ nuagcs; j~ l~ defi~ d~ choisir san cid tel qu'i1 CSt en namre, parscme d'elOilcs brilliamcs comm~ dans la nuilla plus scrajn~. ~ (IV, 259)
Der Blick in den Himmels als Archetyp eim:r primitiven Zweidimensionalität, die in Wirklichkeit keine ist, aber vom Auge als solche interpretiert wird, fand im 18. Jahrhundert nicht nur in der MaJerei anschauliche Umsetzungen. Eine fast buchstäblich umgesetzte Vision stammt von dem Architekten Etienne Boullee, der 1784 mit seinem Newton-Kenotaph eine solche Himmelsschau
~bcn
so notwendig. scin~ B~griff~ sinnlich zu mach~n (d. i. ihn~n d~n G~g~nstand in der Anschauung beizufüg~n), als, scin~ Anschauung~n sich verständlich zu machen (d. i. sie unter Bcgriffzu bring~n)." (A 52) Di~ von Kam g~sucht~ Anschauung ist dabei eine rein a-priorisch~ bzw. auf ~inen bekannten Gcg~nsland bezogene, di~ k~in~rl~i Empiri~ bedarf. Es ist off~nsichdich, dass das Sehen in di~r Philosophie kein~n RolI~ mchr spidt, mit welchem Auge man auch imm~r schen m'ß.
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3. 1. DER HOHLENAUSGANG ALS UMKEHRUNG DER SEHNATUR
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Abb. /9. Erienn~ Boul/k Coup~ du clnotaph~ tU N~ton (prisentl tU jour allu ~ffit tU nuit a[,intbi~ur). /784, 66 x 40 cm. Paris. Bibliothlqu~ nationak.
erlebbar machen wollte (Abb. 19).31 Boullee ging in diesem gigantischen Leergrab seinem Traum nach, die Architektur als Spiegel des Kosmos zu präsentieren: Sein nie realisierter Kugelbau symbolisiert von außen gesehen die Gestalt der Erde und zeigt von innen das göttliche System des Kosmos wie Newton es definiert hatte.)a Dem Entwurf nach wird der Besucher durch unterirdische Korridore zum Boden einer riesigen Kugel geführt, die ihm einen Raum ohne Räumlichkeit eröffnet. Seine vollrunde Form überfordert das Auge schlichtweg, auch dem tastenden Sehen wird das dreidimensionale Vermessen unmöglich gemacht. In seinem Traktat Archittcrure - Essai sur f'art, das Boullee während der französischen Revolution verfasste, beschreibt er die angestrebte Wirkung seines Monumentalbaus nicht nur als erlebbare Aufhebung des Raumes, der
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Jt
Ob sich Boull& da~i auf Diderots Anregung bezog. bon nicht mit Sicherheit nachgewie* .sen werden. Die Annahme liegt jedoch nahe. da es noch eine weitere Par:allele gab: Didero{ hatte im Salon von 1767 dazu aufgefordert. dem Tod von Turenne in einem Kunstwerk zu gedenken. Und tatsächlich war Boullees zweiter Kenoraph eben jenem Turenne gewidmel. Außerdem iSI bekannt. dass Boullee die Ause:inandersenung von DiderOl und Falconnet mirverfolgre, so dass er zum engeren Umkreis des Philosophen gerechnet werden bon. Siehe d:u.u Philippe Madec: Etienne-Louis Boullee. Basel et al.: Birkhäuser, 1989. S. 132. Siehe d:u.u Adolf Max Vogt: Boullees Newton Denkmal. Basel et al.: Birkhäuser, 1969.
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3. DIE AUFK1.ARUNG DES SEHENS
Abb. 20. Elim,u &ullk CoufK du clnotaplN tk Nrwron (prhmtl tk nuil 4tJ« t/ftt tk jour 4 /'intlritur). /784, 66 x 40 an. Paris. Bib[iu/lNqUL nAhoNJk.
Eindruck von Unnahbarkeit und Immaterialität vermitcle darüber hinaus den scheinbaren Verlwt der eigenen Schwerkraft:: ..Hier sind die einzigartigen Vorteile diesa Form: wohin man auch immer blickt (wie: in der Natur), man gewahrl nur eine: fortlaufende: Olx:rftächc: - ohne: Anf.mg. ohne Ende: -. und je: mchr man sich in ihr tKwegt, desto größer wird sie. Diese Form I... J bewirkl durch ihre: Krümmung, dass der Betrachter sich dem. W3S cr ansicht, nicht nähern bnn. I... J Frei und abgesondert yon allen können seine Blicke sich nur der Unendlichkeit des Himmels zuwenden. (... ) Die VetlC~i1ung der Gestirne ist die glc:iche wie in der Natur. Diese Gestirne entstehen durch kleine Öffnungen, die man in die Aulknschale der Wölbung uichterformig einfUhn. (... J Dieses Monumem auf solche An zu beleuchlen wäre so vollkommen nat'ürlich, dass die daraus enutehende Wirkung der Gcstirne nicht herrlicher sein könmc. (...1 Wie man sieht, gehen die Wirkungen dieser großen Dar· stdlung aus der Natur hervor. Es war ausgeschlossen, mit den herkömmlichen Mittdn der Kunst donhin zu gelangen. Auch in der Malerei wäre cs unmöglich, das Azur eincs klaren, wolkenlosen Nachthimmc:1s darzustellen {...]. Um die Richtigkeit von Ton und Wirkung zu erreichen, zu denen dieses Monumem flihig ist, musste man den Zauber der Kunst vc:rwenden, mit der Natur sc:lbn malen, d. h. sie in ein Kunstwerk umzusct7.C.n, und ich kann behaupten, dass mir diese. Entdeckung gebühn.·"
" Etienne Boullk AIchitc.ktur - Abhandlung über die Kunst (Architecrurc: - Essai sur I'art, o. 0.), hg. von Bell Wyss. Zürich: Artemis, 1987, S.132-134.
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Abb. 21. Et;mnr BoulJlc u tnnpk tU '" ra;wn. 1783/94. -t8x91 mI. Fwmu. UJlWm.
In Boullces ModeU kehn sich das herkömmliche Prinzip der Repräscmation um: Planeten und Sterne werden nicht mit Hilfe von Farbe und Zeichnung dargesteUt, ihr Abbild wird vielmehr durch das enc:ugr, was wir auch sonst von ihnen sehen: ihr Licht. Die Natur zeichnet selbst ihr Bild. Der Künstler braucht nicht imerpreuerend eingreifen, er braucht kein künstliches Licht auf seine Gegenstände werfen. die Sterne repräsentieren sich selbst und von selbst. Eine weitere Enrwurfszcichnung Boullees sieht auch eine T ageslicht-Version desselben Projekts vor: Nicht der nächtliche Himmel, sondern Platons höchste Stufe des Blicks in das reine Sonnenlicht scheint sich hier zu verwirklichen (Abb. 20). Es geht wohl kaum darum, die Kugel bei geeigneter Beleuchtung als architektonische Form sichtbar zu machen; das gleißende Licht des Feuerballs im Zentrum der Kugel soll das Auge vielmehr überwältigen bis hin zur beinahen Erblindung. Schließlich finden wir in BoulIees Entwurf zu einem Tempel der Vernunft (l793/94) im unr«en Bereich der Kugel sogar einen Höhlen.usgang dargesrellt (Abb. 21)." In heiden Fällen darf der PI.mn-Bezug BoulJees, nebsr seiner Rczc:ption von freimaurerischem Gedankengut und bekennender Ägyptomanie, als sicher gelten."l Selbst wenn wir nicht wissen, ob tatsächlich das Höhlengleichnis im Hintergrund dieser Entwürfe stand, ist die Symbolik überdeutlich. -lO
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Sidlc: dazu Klaw Lankhc:it: Der Tc:mpd de:r Ve:rnunft. unvc:röffe:ndichte: Zc:ichnungc:n von 8oullec: aw de:n Uffizie:n. Basd et aJ.: Birkhäusc:.r. 1968. Siehe: insbesonde:re: Vogt, ibid.• S. 292 ff.
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3. DIE AUFK1...ARUNG DES SEHENS
Boullees Ziel. im Hinblick auf Plarons Forderung nach wahren Bildern mh dem traditionellen Rcpräscncationsprinl.ip zu brechen. fand in diesen Projck. (cn eine imdlekrudl gelungene. jedoch unr~isierbare Umseezung. Es bleibt anzumerken, dass der sich hier manifestierende überschwängliche Idealismus der Revolucionsz.eit mit Diderors stoischer Zurückha1cung und seiner um das Paradox kreisenden Philosophie wieder bricht, der ungcbremstc Optimismus scheint sich dahingehend zu vcrsdbständigen. dass man Plarons Himmelreich der Ideen nun doch wieder auf die Erde zu holen suche. Wie kann cin Künstler noch auf die platonische Bildtheorie reagieren. wenn cr sich nicht wie Boullee vom Konzept des Bildes trennen will, um das neue Repräscnrationsvcrfahren in einem multimedialen Gesamtkunsrwerk aufgehen zu lassen? Die neuen Methoden setzen im Wesendichen bei zwei Kriterien an, die wiederum auf das emscehende Medium der Fotografie hinweisen: Zum einen verändert sich der Status des Rahmens, indem man das Bild zu einem Fragment werden ließ, und zum anderen werden Techniken und Verfahren enrwickelt, Bilder durch Licht zu fixieren. Beginnen wir mit der Problematik des Rahmens. Auch seine neue Funktion wurde .sthender Weise emdeckt. Die alle zwei Jahre statdindende PariStr Salonausstellung war nicht nur ein wichtiger Ort der Kunsrrezcprion, sie prägte durch ihre Sehlxdingungen auch einen Blick auf die Kunst, der den Reiz optischer Hilfsmittel für sich emdeckte. Im Salon wurden die eingelieferten Werke auf engstem Raum, Rahmen an Rahmen, von der Augenhöhe bis umer die Decke wandRlllend gehängt. Selbst die Fenner wurden verdeckt und als Ausstellungsfläche genutzt. Obgleich man aus Gründen der Erkennbarkeit die großen Formate nach oben hängte und die kleineren nach umen, war die Sichtbarkeit nur unzureichend gewährleiscet.
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Auch in Diderots Salonkritiken finden wir Bemerkungen darüber, dass manche Ge.mälde .schlichtweg nicht zu .sehen waren. So 1.. B. im Salon von 1759: ..On loue un MQrryr~ eb Sttim Andrlde Deshays. Je n'en saurats que dire, il est plad uop haut pour mes yeWl." (Sttlo" / 759, IV, 199) Oder im Salon von 1761: "Je ne sais ce que c'est le SDim &KINde Millet, ni moi ni personne. On a cach~ le RrfH'l tk JA V'Jnt~ clans une. endroit oppost au jour, OU iI esl impossible. de I'ape.rcevoir [... J." (SDkm /761, IV, 219) So DiderQ( im Salon von 1767: RCe n'est pa5 un tableau, quoi qu'en dise le livret, c'est une mauvaise l!bauche. Cela est si gris, si blaf.u-d, qu'on a peine.}: discerner les figures, et que ma lorgneue de Passement [Name des Erfinders] qui colore les objets, a manqul! son effet sur ce tableau." (IV. 762 f.)
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Abb. 22. jeuph Vnnl't: VUl' du port tk Uz RfKlNlk. 1763, 165 x 263 mr. PIlrU. Musü tk 111 Mllrin~.
Durch den Einsatz dieser Röhren und Glmr veränderte sich natürlich der Blick auf das Bild: Vergessen war das störende Nebeneinander der Hängung und auch der Rahmen dürfte häufig weggeschnitten worden sein, so dass sich eine bisher ungekannte Unmittelbarkeit ergab, die der Betrachter als direktes Eintauchen in das Bild empfunden haben muss. Zu Chardins Stillleben vermerkte Diderot z.um Beispiel, die Objekte kämen ihm regelrecht entgegen ("Les objets som hors de la toUe..." IV, 246) und in Vernets Hafenansicht von La Rochdie sah er sich dank seiner Sehhilfe wie hineinversent (Abb. 22):4)
'" So erläu((~rt der Katalog Ditkrot ~t /im tk Beueh" a David. Ln Sawm 1759-1781: ..Outre la lorgnene de lharre, la gnmde loupe erait un inslrument frequemment uliliK par les visifeurs. [...] 11 s'agil d'une loupe de grande dim(:osion, n'arant donc qu'une puissancc r&luile; s:a longue focale fail que la mise au point se nouve a une disuncc rdafivement ~Ioignee. En regardant un tableau a I'aide d'une feUe loupe, avcc les deux ytux, on obfienl un grossissemenf de I'ensemble, alors qu'une petite loupe ne permener.U1 que I'examen des details avec un seul cr.il.· DWrot l't l'art tk &uclm J DllvitJ.. Ln SIlIon; 1759-1781, ibid., S. 92. Siehe weituführe.nd KulturrNhichu dn FanTfJhn, Katalog hg. von Joachim Ri(:nin.. Tübingen, 1985. Sowie Cerwin Zohlen: Fernrohrblick. In: Di~ niirrJichm Kiin;U', hg. von Tilmann Buddensieg und Henning Rogge. fkrlin: Quadtiga, 1981, S. 300-306. t) Siehe auch lan J. Lochhead: Tbe Spect2for ~d fhe Landsape in me An Crificlsm ofDiderol and his Conlcmporaries. Ann Atbor: UM1, 1982.
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3. DIE AUFKURUNG DES SEHENS
..Rr:gardez J~ Port tk ltt R«lNlk avec unr- lun~n~ qui r-mb~ I~ champ du abteau et qui adue: Ja bordurr-, et oublianl tOUI i coup. qu~ vow aaminez un morceau de: pc:inlUr~, vow &:ri~rez, commr- si vow niez plad au haut d'une: montagn~, spc:aa(('Ur dr- la nalUrrmeme:: 'Oh! Ie: bc:au poinl de: vue:!'" (Sizkm 1763, IV, 271)
Der durch die Röhren und Gläser eingeleitete Wegfall des Rahmens und das durch die Vergrößerung suggerieree Verschmelzen von Auge und Bild umernützt den von Diderot gesuchten Rea1itätseffekt, Er fand durch das Fernrohr auch in Verm:ts Vedute jene Wirkung von "verite", die er für Chardins Stillleben beschrieben hatte. Diderots Vernet-Besprechungen zum Salon von 1765 enthalten ebenfalls Hinweise auf sein Experimemieren mit dem Sehen. Er r2t dem Leser. sich auch in der freien Natur Bilder "auszuschneiden" - und nicht zufällig interessiert ihn der Blick in das Himmelsgewölbe am meisten. Der Betrachter soll den Himmel dabei nicht als wohlgeordnete Gesamtansicht vorfinden, sondern den ästhetischen Wert der fragmentarischen Momentaufnahme genießen. Er könne den Effekt bereits erzielen. indem er einfach durch die "Röhre" der hohlen Hand
blickt: "AHn i la campagne:. lOurnn 'lOS rr-gards v~rs la voüt~ des ci~ux, ob~rvn bj~n les phl!nom~nes d~ I'instant, e:[ vous jur~rn qu'on a coupl! un morc~au d~ la grande (oil~ luminr-use qu~ l~ sol~il tt:lair~, pour l~ uansponr-r sur Ir- cheval~1 dr- I'anislr-; ou f~rmc:z vour- main, r-[ faites--e:n un IUbc qui nr- vow lai.sse apc:rcevoir qu'un espatt !imi[e dr- Ja grand~ toil~, ~I vow jur~rtt qu~ c'es[ un ableau d~ Vr-mr-[, qu'on a pris sur son cheval~1 et [f'aßspone
Der Einsatz optischer Medien bei der }ktr.Jchtung der Natur erfreute sich im 18. Jahrhundere nicht erst seit Diderot großer Beliebtheit. Gerade Landschaftsimpressionen erzeugte sich der Spaziergänger durch Techniken des Bilderfangs: Mit einem "Spiegel Claudes", in England auch "Lorrain glass" genannt. holte man sich malerische Aussichten in einen Rahmen.% AJlerdings erhält man mit dieser Technik immer nur die Ansicht jener Natur, der man gerade den Rücken zukehrt: Der Spiegel Hingt immer nur den Schatten der Landschaft ein! Diderors Blick durch die hohle Hand - eine weit primitivere Sehhilfe verzichtet bewusst auf die Spiegelung, er erzeugt den Effe:kt im dire:kten Ge'46
wt;SeS
Jurgis Baluusaitis (';rläu[C:n den Effekl Spiegels wi~ fol~; "Es handelt~ sich dalKi um ~in~n konkaven, graugnöOl~n Spi~l, wi~ man ihn im Handd erwcrlKn konnte, der das Spi~lbild fesmäh und seine: Züg~ W(:ich~r machl. Di~ Landschaft ~rschi~n darin wi~ in ~in~r Cam~ra obscura odr-r ~in(';r kalOpuisch~n Grone und erweckte den Eindruck eines Werkes von Lorr:Un." Jurgis Baluusailis: D~r Spir-gd. Emdeckung~n, Täuschung~n, PhaOlasi~n. Gi~tkn: Anabas, 1994,S. 131.
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genüber mir dem Gesehenen allein durch die Wahl des Ausschnin$ und die verstärkte Unmittelbarkeit zum Auge. Mit dieser neuen Geradlinigkeit endete letztlich die alte Tradition, den Spiegel zur Effektsteigerung. Verzerrung oder zur Überprüfung der Perspektive einzusetzen, er wird nun durch die schlichte Sehröhre und später durch das Objektiv der Kamera ersetzt. Während der Spiegel noch ordnend, zusammenfassend oder optisch anreichernd eingriff, liefert Diderots Blick in den Himmel nur noch zufällig ausgeschnittene Wolkenbilder. Dieses unmittelbare Abbilden des Himmels verdrängt die Perspektive aus dem Bild und deutet Formen einer betont flachen und fast schon abstrakten Malerei an. Die Wahl des Ausschnitts und die Verteilung der Bildgegenstände sollten wir nun nicht mehr als piuoresk angelegte Komposition verstehen 47 , sondern vielmehr als eine sich durch bestimmte Abbildungsverfahren ergebende Konstellation. Der Unterschied zwischen den beiden Gescaltungsprinzipien zeigt sich zum einen an der Behandlung der Zwischenräume innerhalb des Bildes, die nun nicht mehr harmonisch aufeinander abgestimmt werden, sowie zum anderen an dem Fragmentcharakter des Rahmens. Im Fall der Landschaft interessiert dann nicht mehr die ausgewogen oder reizvoll gestaltete Anordnung. sondern zum Beispiel der Blick in eine weitgehend leere Gegend. Die Öl-Studie von George Stubbs erfahrt der Betrachter z.um Beispiel durch den starken Anschnitt des Hauses im Vordergrund als ungewöhnlich realistischen Betrachterstandpunkt mit begrenztem Sehfeld bzw. Blickwinkel (Abb. 23).48 Ob durch die Röhre oder durch eine andere technische Vorrichtung begren7.t, der Rahmen rückt aufgrund seiner Zufalligkeit und Kontingenz nun überhaupt erst in das Bewusstsein der Kunstbetrachtung. 49 Das Fragment verrät als Setzung zwar auch den Willen des Künstlers, die Grenze an einer bestimmten Stelle zu ziehen, aber der Eingriff erzeugt durch seine scheinbare
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Das Wönerbuch Trlvoux von 1771 definiert unter dem Sdchwort ~pittoresque"; ..Qui esr de I'imaginarion d'un lXinue. Qui est le propre de la lXinture. (... ) Se dit de la disposition des ohjers, de I'aspttt des sitcs, de I'attitude des figures que le lXimre croitle plus favorable a l'expression." Hier zilien nach Versini, I, 1374. .. In der SlUhbs-Monographie der Tare-Gallery vermerkt der K:ualogtext zu dieser Olskizze: "Each paiming powerfully suggesrs that SlUbbs first carefully selttted his viewpoim, then imensdy scrUlinizcd his subjccr: and ttanscribe
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3.
Abb. 23.
DIE AUFKLARUNG DES SEHENS
G~org~
Srubbs: N~wmarJtrl H~ath with Rubbing-Dow" Houu. Ca. J765.30,2 x 4/, 9 Cffl. London, 11m Galkry.
Beliebigkeit dennoch den Eindruck, der Aucor habe sich aus der Aufnahme herausgehalten. Das augenblicklich Authentische hat nun deutlich Vorrang vor dem konventionell geregelten Schönen. Wie sehr Wahrheirserzeugung und Abbildungstechnik zusammenhängen zeigt auch das zweite Kriterium der neuen Bildauffassung - die Fixierung des Lichts. Schon am Beispiel Boullees wurde deutlich. dass der Rückgriff auf die Lichrspuren das traditionelle Repräsenr3tionsprinzip sinnvoll abzulösen vermag: Wenn man die Natur selbst malen lässt, kann man das Problem der Aucorenschaft geschickr umgehen. Auf der Suche nach Techniken, die das Lich{ zur Formfindung und .fixierung einsetzen, erwiesen sich wiederum die primi{iven Verfahren als besonders effektiv. Be{rachren wir den Umerschied kurz. am Beispiel des Porträts - einer Kunsrgarrung, die wie kaum eine andere die Frage nach der wahren Wiedergabe S{e1le Das Abbild soU dem Modell nichr nur oprisch ähneln, sondern stets auch das Wesen der Person ausdrücken. Den Paradigmenwechsel der Abbildungsrechniken können wir, grob schemarisierend, anhand der zwei folgenden Modelle bestimmen. Die Vorgehensweisen von Abraham Bosse und Johann Caspar Lavarer, die ein ganzes Jahrhundert {renor, haben dasselbe Ziel, verraten aber zwei ganz uorerschiedliche Auffassungen
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3. 1.
DER HOHLENAUSGANG AlS UMKEHRUNG DER SEHNATUR
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über die Methode des ..wahren" PorträtS (Abb. 24-25). Beide IIIusuacionen haben lehrcharakter und befinden sich im Zusammenhang mit den Traktaten der Autoren. Der Stecher Abraham Bosse widmete sich neben dem eigenen graphischen Werk in seinen theoretischen Arbeiten insbesondere der Perspektive. Zusammen mit dem Mathematiker Girard Desargues arbeitete er ein wissenschaftliches Regelwerk aus, das in der Kunst exakt befolgt werden sollte. so Seine Gebrauchsanweisungen in Text und Bild waren aufgrund ihrer guten Anwendbarkeit auch außerordentlich erfolgreich. Nach Bosse trägt keine andere Technik so zur Nobilitierung der Malerei bei wie die Kunst der Perspektive, die er als ..l'ime de la portraiture et peinrure" bezeichnet. Innerhalb seiner Techniken sind Wissenschaft und Wahrheit des Bildes also noch aufs engste verwoben: Für ihn gibt es eine Methode der Überprüfung, mit der man enrsprechend dem Richtig und Falsch der Anwendung auch das Wahr und Unwahr des Ergebnisses bescimmen kann. Wie die Abbildung deutlich macht, sieht der Maler durch ein Gitter auf sein Modell. Die gesehenen Daten überträgt er in dasselbe Raster auf seinem Bild. Er projiziert seine vorher gewusste WeitSicht auf das Bild und unterwirft das Gesehene dieser Grammatik. Denn das Raster ist seinem Sehen nicht eigen, sondern dem mathematischen Wahrheitssystem entlehnt. Die seit der Renaissance übliche Auffassung des Bildes als Fenster wird hier nicht nur metaphorisch, sondern nach wie vor als technische Anweisung verstanden. Unserer heutigen Auffassung nach würde Bosses "Malen nach Kästchen" die Kunst ad absurdum führen: Letztlich wäre nur der gute Mathematiker auch ein guter Künstler. Kurzum: In Bosses System sieht man hin, um sein Wissen über die Dinge 7.U bestätigen, das mathematische Wissen greift als Vorurteil dem Sehen voraus, man sieht noch nicht um des Sehens Willen. Um aus diesem Dilemma von Kunst und Wissenschaft auszubrechen, hielten sich im 18. Jahrhundert die ersten Künstler an eine ebenso simple wie revolutionäre Entdeckung: Man kann die Grammatik der Perspektive durch die Wahrheit des Lichts ersetzen. Der schweizer Theologe Johann Caspar Lavater, der seine Platonlektüren offen thematisierte, empfiehlt in seinen Physiognomischm Fragmmtm (I 775) eine ganz andere Methode, um zu dem wahren Porträt einer Person zu finden.~1 Wie die Abbildung zeigt, projiziert der Zeichner kein Gitter mehr auf
50 Siehe dazu Abrah2m Bosse: Le pe:intre converty 2UX precises ef universelles regles de son 2rt (1667), hg. von Roger-Arm2nd Weigert. P2riS: Herm:ann, 1964. Sowie Abraham BOlJt, grawur 6- lfavanr, hg. von Sophie Join-umben und Jean-Pierre M2nCe2U. Tours: Ccntn.': Dtp2rtement:al de Document2tion PCd2gogique d·lndre~t-Loire. 1995. SI Siehe Joh2nn Casp2t UV2ter: Physiognomische Fr2gmente 2.Or Bef'orderung der Menschen-
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3. DIE AUFKLARUNG DES SEHENS
Abb. 24. Abraham DOMe: U" dmin4r~r ftisanr au carreau it ponrait d'un Jtignt'Ur. Enchimm in: Divena manitm tk tUJJiner er tU peindre (J66?).
das Modell um sein Sehen diesem Raster unterzuordnen, er benutzt vielmehr die Leinwand rur eine Lichtaufnahme, die ohne sein Zucun zustande kommt. Er nimmt nur als ,,Abdruck" auf, was ihm als Schatten von der anderen Seite auf die Bildfläche geworfen wird und vermeidet damit, dass sein Sehen und seine Hand interpretierend eingreifen müssen. S2 Mit Hilfe der Perspektive konnte Bosse freilich ein viel detailliertes Bild anfertigen als Lavater, der nur einem Umriss vorzuweisen hat. Dennoch hält Lavater sein Verfahren für wahrheitsgetreuer als das Können seiner Vorgänger. Er bekennt sich dabei bewusst zur Primitivität des Verfahrens: ~Das
Schartenbild von einem Menschen, oder einem menschlichen Gesichte, ist das schwächste. das leerste, aber "Zugleich, wenn das Licht in gehöriger Entfernung gestan~ denj wenn das Gesichr auf eine reine Fläche gefallen - mit dieser Fläche parallel genug
)2
kenntnis und Menschenliebe (1775), hg. von Christoph Siegrist. Stuttgan: Reclam, 1984. S. 154 f[ Allgemeiner siehe Sabine Herrmann: Die natürliche Ursprache in der Kunst um 1800: Praxis und Theorie der Physiognomik bei Füssli und Lavater. Frankfun a. M.: Fischer, 1994. In Lavarers Wonen: .,Aus bloßen Schattenrissen hab' ich mehr physiognomische Kenntnisse gesammeh, als aus allen übrigen Ponritnj durch sie mein physiognomisches Gefühl mehr geschärft, als selber durch's Anschauen der immer sich wandelnden Natur." ibid., S. 154.
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3. l.
DER HOHLENAUSGANG AlS UMKEHRUNG DER SE.HNATUR
147
- --.
/ Abb.
25. Jolumn Caspar ufJIlur: 0. T.
Ernhirnm in: PhyJiopomiKlu Frllgmmu zur &ftrtkrung da Mrnschrnkmntnu und MnlJchmli~b~(1775), g~n
- das wahrstc= und gc=uC=UStc= Bild, das man von c=inc=m Menschen gc=bc=n kann; das schwächstc=; dc=nn es ist nichtS Posilives; es iSI nur wu Nc=g2lives, - nur dic= Gränzlinic= des halbc=n C(:Sichrs; - das gc=t!C=UStc=, wt:il es c=in unmindbarc=r Abdruck dc=r Natur ist, wic= kc=inc=r. auch dc=r geschickl(:Ste Zcichnc=r, c=inc=n nach dc=r Nalur von fr~r Hand zu machc=n im Standc= ist.-)J
Nur wenn der Künstler Sklave der Natur ist und eben nicht freier Herr seiner Kunst, encstehen nach Lavater wahre Bilder. Der Schattenriss - im obigen Sinn als Rückweg vom erfahrenen zum naiven Sehen aufgefAsst - löst die Verqui· ckung von Wissen und Sehen wieder auf, um durch die Umerdrückung der Perspektive zur Zweidimensionalität zurückzufinden.
)J ibid.• S. 152.
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148
3. DIE AUFKl..ÄRUNG DES SEHENS
Diese primitive Lichtaufnahme habe ihn mehr über die Natur der Dinge gelehrt als seine eigener Blick, der nur das momentane Scheinen der Oberflächen abtastet, anstatt sich auf das unwandelbare Abbild der Umrisslinie zu konzentrieren. Dabei weiß auch Lavater um die Begrenztheit seiner Methode, die an das eigentliche (hier allerdings wieder göttlich verstandene) Urbild nicht heranreichen kann: ,.Wenn ein Schattenriss, nach dem allgemeinen Gefühl und Unheil aller Menschen, für oder wider einen Charakter entscheiden kann - was wird das volle lebendige Andin. was die ganze physiognomische und pantomimische Menschheit entscheiden? - wenn ein Schatten Stimme der Wahrheit, WOrt Gones ist, wie witd's das beseehe, von Gones Licht erf'ulhe, lebende Urbild seyn."So'
Selbst wenn bei Lavater wieder eine stark metaphysische Platonlektüre mirschwingt, zeigr sich in diesem Beispiel auch eine pragmatische Seire: Die Umrisslinie isr eine mit dem äußeren Auge gesehen Form, die keinerlei Rückhalt aus dem Imelligiblen braucht. Auch Lavarers Traum, die Lichtaufnahme von Umrissen auf die volle Figur auszuweiren, war so uropisch nicht - die Forografie ließ ihn schließlich in Erfüllung gehen. Die Erfindung der Fotografie, so unser Ergebnis, kann auf die Sehnsucht zurückgeführt werden, der Urbilder durch registrierende start entwerfende Verfahren habhaft zu werden. Der mediale Umbruch, der sich zwischen den aufgezeigten Techniken des AbbiIdens abzeichnet, bedeutet das Ende des projizierenden Auges. Es Strahlt nicht mehr aus (entsprechend der antiken Sehstrahlen-Theorie, die bis in die Frühe Neuzeit gültig blieb), sondern geht auf Empfang. Die Höhle im eigenen Körper, jene Camera obscura des Auges, ist nun der Apparat, der zwischen uns und die Welt geschalret ist. Die großen Projekteure des Barock ließen noch kein Lichr von außen in ihr Denken einströmen. Leibniz dachte seine Monade als fensterlos und auch Descartes "cogito" besagt nichts anderes, als dass man erst etwas weiß und dann die Welt zu existieren beginnr - ein Vorgang, der ohne das denkende Subjekt ratsächIich nicht vorstellbar ist. Eben diesen Gedankengang kehrt die Moderne um: "Wahr" und "existent" soll nun sein, was auch ohne den Verstand eines Autors zur Erscheinung kommt und ohne seinen Einfluss festgehalren werden kann. Kurzum: Die Fotografie wird als eine Art Prothese für unser Sehen erfunden, sie gibt uns jenes Ur-Auge wieder zurück, das wir durch die Zwänge unserer Biologie verloren haben. Sie hält nicht die sichtbare Welr fest, wie wir sie gewöhnlich wahrnehmen, sondern ahmr vielmehr das Sehen selbsr nach - eben jenes Sehen, das die ursprüngliche Natur unseres Auges ausmacht.
Sol
ibid.• S. 154.
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3. I. DER HOHI.ENAUSGANG ALS UMKEHRUNG DER SEHNATUR
149
Diese Nobilitierung der Sinne bedarf in der Aufklärung keiner metaphysischen Begründung mehr. sie betrifft zunächst das diesseitige. äußere Auge und wird erst in einem zweiten Schritt auf das innere Auge der Imagination bewgen. Damit müssen Platonimus und Materialismus vor dem Hintergrund einer wörtlichen Lektüre des Hählengleichnisses auch keinen Widerspruch mehr bilden.
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3. DIE AUFKlJ..RUNG DES SUIENS
3. 2. Fotografische Malerei und malerische Fotografie Wie werden die bisher skizzierten Topoi nun in Malerei und Fotografie fonbestehen? Betrachten wir zunächst weitere Beispiele. indem wir den Kreis um Diderot und Chardin verlassen. um nach der Weitcrenewicklung des fotografischen Blicks auch bei anderen europäischen Künstlern des 18. und beginnenden 19. )ahrhundercs zu fragen. In der folgenden Übersicht können freilich nicht alle Künsder aufgefUhrt werden, die sich vor 1839 mit Kriterien der Authentiz.ität auseinander setzten. Die anschließende Auswahl soll vielmehr deutlich machen, wie heterogen die stark individuell geprägten Arbeitsweisen ausfielen. Ich möchte daher eher phänomenologisch vorgehen. um zu zeigen unter welchen Aspekten sich das Fotografische überhaupt manifestieren konme. Dabei lasse ich jedoch außer Acht, ob in den dokumemarischen Strategien auch noch andere Kriterien, wie z. B. die Überhöhung der Natur oder die Erhabenheit einer Ruine mitschwingen. So wie sich parallel zu der neuen Bildauffassung auch das allegorische Prinzip noch lange halten konnte, so wird auch der traditionelle Ansan des Pittoresken)) in der formalen Komposition immer wieder herangezogen - aber eben in zunehmendem Kontrast zu den fotografischen Tendenzen, die sich immer deutlicher abzeichnen. Als auffällig erweist sich hier auch die Tatsache. dass der fotografische Effekt zunächst nur in Skizzen, Studien oder eben niederen Genres erprobt wurde. Die meisten Künstler arbeiteten darüber hinaw zweigleisig: Neben ihren Experimemen mit neuen Abbildungsverfahren folgten sie in ihrem ..offiziellen" Werk, dem Geschmack der Auftraggeber entSprechend. nach wie vor der herkömmlichen Bildauffassung. In einem zweiten Schrin sei schließlich nach den Anf'angen der Fotogra.fie gefragt: Wie veränderte sie den Blick der Künstler? T acsächlich hinterließ die technische Erfindung nicht sofort ihre Spuren. In steter Auseinandersenung mit dem jeweils anderen Medium bezogen Malerei und Fotografie ihre neuen Positionen erSt langsam, insbesondere als es galt, den KunstStatus der Fotografie anzuerkennen. Betrachten wir jedoch zunächst die weitere Entwicklung des fO[Qgrafischen Blicks in der Malerei.
)S
Ich V(:fS(eM den Ikgriff des Pittoresken im Fol~nden als die dem fotografischen Blick emgegengesettte Str:l.legie. da der Autor sich in diesem Verf.ahren durch seine Eingriffe sichtbar macht. S. 3. 1., Fußnote 47.
3. 2. FOTOGRAFISCHE
MA1.EREI
UND MALERISCHE FOTOGRAFIE
151
Der forografische Blick in der Malerei Als Initiator einer neuen Landschaftsauftassung, auf di~ sich auch di~ nachfolg~nd~n G~n~ration~n stark bc:z.i~h~n w~rd~n, sei zunächst V~rn~t g~nannt. Er mag in unser~n Aug~n noch nicht awgesproch~n fotografisch g~malt haben, aber s~in~n Zcitg~no~n fiel ~r als ungewöhnlich realistisch auf. La Font d~ Saint-Y~nn~ nannt~ ihn .. phisici~n habil~. scrutat~ur d~ la natur~" und auch Did~rot ~rhob ihn zum wichtigsten Vertreter der neuen Naturbeobachtung {s. 0., 2. 1.). Vern~t kommt vor all~m das Verdienst zu, di~ .. PI~in air"-Studie, die er seinem großen Vorbild Lorrain nachempfand, wieder ~ingeführt und verbr~it~t zu haben. S6 Vernet haue 1753 den Auftrag erhalten als königlich~r ..peintre de marine" die wichtigSten Hafenanlagen Frankreichs zu malen. In diesem Projekt kam er zwar auch den Propagandaabsichcen seiner Auftraggeber entgegen, was ab~r Did~rot und andere Betracht~r an dies~n G~mälden - wi~ z. B. d~m bereits erwähnten Port ek 10 Rochclk (Abb. 22) - so fuszinierte. war die Art und Weis<. wi~ V~rn~t auf di~ topographisch~ Geg~benheit~n acht~t~, di~ Archit~ktur~n wirklichk~itsg~treu wiedergab und damit einen hohen Realitärscha.rakter erzeugte. Die zahlreichen Einzelszenen, die sich so vorzüglich für den Fernrohrblick eignen, belegen einen hohen dokumentarischen Wert: Es handelt sich nicht um klassische Staffagefiguren, das geschäftige Treiben im Hafen beschreibt vielmehr einen existierenden Arbeitsallug. Der schweifende Blick find~t in den einzelnen Sz.enen voneinander unabhängig agierende, ..absorbierte" Handlungen. Vernet selbst beschreibt in sein~m Brief üb~r die Landschaftsmalerei, den er wahrscheinlich an sein~n Schüler Pierre-Henri de Valenciennes richtet~, dass ~r bei seinem Verfahren vor allem auf die Lichrverhältnisse, die strenge Beobachtung der Luftperspektive und der Lokalfarben acht~. Letztlich setzt er seine Wahrnehmung wie eine Kamera ein, die ganz in Chardins Sinne nur hinsieht, um die Detajls zu übergehen: ..Eine Wiese scheint z.unäclUl vom einen Ende zum anduen dasselbe Grün zu haben. ebenso eine Reihe von Bäumen der gleichen GattUng; wenn aber das Auge rasch von den nahen zu den fernen Gcgc.nständen wcchsdt. wird man leicht die Verschiedenheit der Töne oder der Farben bemerlttn. (...) Je weitu man von einem Objekt entfernt ist.
)6
Claude Lorrain hane in Skizze und Zeichnung eine dem Gemälde ebenbürtige Kunst erkannt, er nuttte sie nicht mehr nur als vorbereitende Studien. sondern arbeitete sie sorgsam zu voUwe:nigcn Kompositionen aus. Zu den Einflüssen Lorrains aufVernet und andere siehe CJAutk ro Corot, TIN Drot/opmmt ofunJJol~ PilinNng in Frilnu. Katalog hg. von Alan Win[errnute. NcwYork: Colnaghi. 1990.
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3.
DIE AUFKl..ÄRVNC DES SEHENS
deslO mehr Dunst befindel sich zwischen dem Auge und diesem Objekl. Daher kommt es, dass man davon weniger die Einzelheiten erkennt und die Farbe des Gegenstandes abgeschwächr erscheint. Diese Wirkung zeigt sich insbesondere in den Schanen der Körper, die gemäß ihrer Entfernung von unserem Auge sich nur mehr als unbestimmte Massen vorstellen, in denen der allgemeine Ton der Luft sich bemerkbar machen muss. (...], eben deshalb muss man oh mit raschem Auge die Gegenslände überfliegen, die Eueh die Nalur anbielel, und niemals diese so verlockende allgemeine Harmonie aus dem Blick verlieren, zu der man aber nur durch den Vergleich der Töne gelangt, welche die Gegenstände, aus denen sieh Euer Bild zusammenfügt, im Verhältnis zu ihrer Disranz annehmen.")]
Die Miteinbeziehung der Luft und des Zwischenraums als abzubildende Gegenstände emspricht der Umstellung des Auges auf das Regisuieren des Wahrnehmbaren. Vernets Bemerkungen sprechen aber auch von der Schwierigkeit, überhaupt fesnuhalren, was das Auge sieht. Die Kontrolliostanz des Verstandes reduziere jeden Wahrnehmungseindruck augenblicklich auf (wieder)erkennbare Gegenstände. Nur das rasche Überfliegen bringt nach Verner auch jene Sehbilder zum Bewusstsein, die der Verstand noch nicht hat aussortieren können. Vernets Schüler Pierre-Henri de Valenciennes (1750-1819) wird die Forderungen seines Lehrers noch radikaler umsetzen. Selbst wenn das Hauptwerk des späteren Akademieprofessors keineswegs als progressiv bezeichnet werden kann - er begründete z. B. die neoklassizistische Schule der "paysage historique" - so experimentierte Valenciennes in den achniger Jahren in zahlreichen Olskizzen mit dem Festha!ten von Gesehenem, entsprechend der "Plein air"-Technik, die Vernet ihm vermittelr harre (Abb. 26).~8 Die Unterordnung der Perspektive und die Herausarbeitung des tatsächlichen Seheindrucks stand auch in seinem Theoriewerk im Mirrelpunkt: In seinen E/lmmts de ptrspectivt prntiqut (1779) empfiehlt er eine "perspective sentimentale" als "juste imitation de la nature" und betont, dass sie nicht nach berechenbaren Regeln konstruierr werden kann. sondern allein aus dem visuellen Empfinden resulcierr: "Comme ces formes mouvames changem a chaque instant, s'~largjssem, se resserrem, se dec.hirem, se separem ou se mclenl avec d'aultes, il esl impossible de les meltre en Perspective suivam les regles ordinaires: mais eomme il existe une Perspecüve qui leur est propre, qui est edle de semiment, iI faUl que I'Aniste etudie bien leurs formes et lcurs mouvemenu. "
S]
)I
Hier ziliert nach der Qudlendokumentation von Oskar Bätschmann in ders.: Entfcrnung der Namr: Landschaftsmalerei 1750-1920. Köln: Dumom, 1989, S. 286 f. Siehc dazu Philip Conis~: Pre~Romantic plein-air paiming. In: Art History, Bd. 2, 1979, S. 413-428. Sowie zu Valenciennes: Simone Schuhu: Pierre~Henri de Valenciennes und S(;ine Schule. "Paysage hislOrique" und der Wandel in der Naturauffassung am Anfang des 19.]ahrhundens. Frankfurt a. M. u. a.: Peler Lang, 1996.
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3. 2.
FOTOGRAFISCHE MALEREI UND MALERISCHE FOTOGRAFIE
153
Abb. 26. Pi~rrt Hmri de Vauncimnn: Etude tk .ia au QuirifUJL O. D.• 25 x 38 cm. Paris. Musü du Louvrt.
~Nous
appdons Pe::rspective:: sendme::nrale:: cdle:: qui ne:: peut avoir d'autre r~e:: que le sentiment acquis par une longue habitude de Ja Perspective pratique et raisonn&:. [...1 On ne saurait appeler Anisle celui qui. pour optter, aurair toujours besoin de la regle Cl du compas: ce serail plutöl un Geomhre qu'un Peintre."»
Valenciennes lehnt hier die akademischen Regeln ab, er fasst seine Arbeitsweise aber dennoch nicht als individuell oder willkürlich auf. Das Festhalten des eigenen Wahrnehmungseindrucks gilt ihm im Gegenteil als Strategie, die Objektivität des Sehens herausz.uarbeiten. Im letzten Drittel seines Traktats beschäftigt er sich daher mit verallgemeinerbaren Methoden, die das Festhalten des Flüchtigen ermöglichen: Seiner Erfahrung nach darf das Anfertigen einer "Plein air"-Studie z. B. nicht länger als z.wei Stunden dauern, bei Sonnenaufund -untergängen sogar nur eine halbe Stunde. Angesichts dieses Bemühens um Momemhaftigkeit und Dokumentation bezeichnete auch Werner Busch die Olskizze als die "wichtigste Vorstufe der Fotografie".6O de pcrspecrive pralique a I'usage des anistes (suivis des r~flexions et conseils a un ~Ieve sur la peimure, e{ particulihemem sur le ge::nre du pa)'$3ge) (1779/1800). Genf: Slatkine Reprints, 1973, S. 219 und 227. Werne::r Busch: Die autonome OJskiu.e in der Landschaftsmalerei. Der wahr- und für wahr genommene Ausschnitt aus Zeit und Raum. In: Pantheon, Bd. 41, 1983, S. 126-133.
» Pierre·Henri de Valenciennes:
60
EI~menlS
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3. DIE AUFKl...ARUNG DES SEHENS
Abb.27. Thommjontl: Window in Nap/n. J782, 12, J x 15.8 cm. Prjuatbairz.
AuffaJlend ähnliche Motive und Ausschnitte wie bei Valencienn~ finden wir im Werk des englischen Künstlers Thomas Jones (1742-1803). Es ist zwar nicht sicher, ob sie sich je begegneten. aber beide trafen kurz himereinander in Rom ein Oones 1776, Valenciennes 1777). Dort hatten bereits ihre Lehrer in Verbindung gestanden: Jones hane bei Richard Wilson gelernt, der wiederum von Verncr in Lorrains Zeichenkunst und die .,Plein air"-Studie eingewiesen worden war. Jones, der sein ..offizielles" Werk ebenfalls dem akademisch-klassizistischen Kanon anpasste:. malte schon in den frühen siebziger Jahren (also vor seinem Rom-Aufenthalr und auch vor Valenciennes) Landschaftssrudien von größter Schlichtheit: Keine Kulisse, kein Repoussoir und kein anderes Staffagee1emen( des "Theaters" der Ideal-Landschaft verfuhren den Blick, der auf eine äußerst nüchterne Szenerie gelenkt wird. Lawrence Gowing bezeichnet Jones' Strategie daher treffend als "reacting against the sublime".61 Jones ließ sich 1780 in Neapel nieder und schuf dort eine Serie von Olskizzen, die die Feosterausblicke seiner mehrmals wechselnden Wohnungen do61
Siehe dazu Lawrena: Gowing: The Originaliry ofThomas Jones. London: Thames and Hudson, 1985.
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3. 2. FOTOGRAFISCHE MA1.EREI UND MAlERISCHE FOTOGRAFIE
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Abb. 28. Thomas ]onn; Buildings in Napin. 1782, 14 x 21,5 cm. CardifJ, National Muswm ofWaul.
kumentieren. 62 Wie lässe er nun erkennen, dass es sich um die Fixierung einer unminelbaren Seherfahmng handele? Vor allem die Belanglosigkeie der Mocive seiche ins Auge: Schmucklose Häuserkuben, kahle Wände und mono[Qne Dä~ eher erhebe Jones zum zencralen Bildgegenscand (Abb. 27~28). Der Putz der Gemäuer in von Zeie~, Winerungs- und Wasserspuren gezeichnee. Der Amor zeige somie deudich seinen Willen alles abzubilden, was er siehe, er regiscrien akribisch alle Deeails, nichr um des Effekts willen, sondern weil er sie sehend so vorfinder. Der Eindruck einer willkürlichen Aufnahme wird jedoch koncrascien mir der hochkonseruierten Anordnung der Linien und Farbflächen, bei denen rarsächlich nichrs dem Zufall überlassen bleibe: Die Wäschesrücke auf dem Balkon (Abb. 27) wiederholen die Farben (Grün, Weiß, Blau), die das Bild in seinen drei klar voneinander abgegrenzren Flächen ausmachen. lones' komposirorischer Eingriff erweise sich jedoch niche als pinoresk im herkömmlichen Sinne, er umersereiche vielmehr den Fragmenecharakeer des Bildes. Die Ordnung ergibr sich nunmehr als abscraktes GefUge. Der Ausschniet erschließt keinen Landschaftsverlauf mehr, der sich am Horiwm verliert, es entseehe viel61
Ich baiehe mich im Folgenden aufWerner Bu.sch: Das sentimentalische Bild. Die Krise der Kunst im 18. Jahrhundert und die Geburt der Moderne. München: Beck, 1993. S. 350 ff.
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3. DIE AUFKl.i.RUNG DES SEHENS
mehr der Eindruck von extremer VerRachung: Die plastischen Gegenstandsdaten werden aufgelöst in ein kontinuierliches Nebeneinander bzw. in eine Staffelung von FarbRächen. Die zentralen Bildachsen befinden sich dabei in einem klaren Ordnungsverhältnis zueinander (siehe z. B. den durch die Haus~ wand entstehenden goldenen Schnitt in Abb. 28). "Der Zufall", so Werner Busch, "entpuppt sich als formale Norwendigkeit".63 lones spielt also mit der Spannung von Form und Nichtform, von erkennbarem Objekt und AuRösung in die Abstraktion. Dennoch hält er sich stets an das optisch Mögliche: Der Trick des Fensterausblicks lässt (wie durch Didecots Röhre) den Vordergrund verschwinden, so dass sich, zusammengenommen mit der teilweise versperrten Aussicht, keine Motive mehr ergeben, an denen ein perspektivischer Verlauf abzutragen wäre. Letztlich manipuliert lones den Bildausschnitt wie ein Fotograf: Auch er kann den Rahmen seiner Optik so weit verschieben, dass bestimmte Linien einen goldenen Schnitt oder andere Ordnungen und Symmetrien markieren. Wenn man - auf zugegeben eher suggestive Weise - ein modernes Pendant aus dem Bereich der Fotografie heranziehen möchte, könnte man an die New Yorker Fensterausblicke des amerikanischen Fotografen Alfred Stieglitz (18641946) denken (Abb. 29). die mit demselben Gestalrungsprinzip spielen. Auch hier stehen die Risse im Putz der Wolkenkratzer als registrierte "Zufallsdaten" in lebhaftem Kontrast zu dem Liniengitter der aufgenommenen Architektur. Der Wahrheitseffekt bleibt durchaw erhalten, wenn die ordnenden Eingriffe in einem Spannungsverhälrnis mit den willkürlichen Details gehalten werden. Neben dem Thema des Fensterausblicks finden wir auch entsprechende Tendenzen in der Veduten- oder Ruinenmalerei: Selbst wenn die Künstler dieses Genres wie z. B. Canalcrro (1721-1780) und Huben Roberr (1733-1808) vom Gesamtcharakter ihres Werkes eher der Tradition der Phantasie und des Capriccio zuzurechnen sindG04 , weisen einige Arbeiten auch fotografische Herangehensweisen auf. Canaletto setzte in seiner Malerei die Camera obscura auf eine für den Betrachter besonders sichtbare Weise ein (selbst wenn dabei viele Veduten als Zusammensetzungen von mehreren Aufnahmen entstanden). In seiner Dresdner Zeit dokumentierte er zum Beispiel die Baufreudigkeit Augusts II. in pracht~ vollen Panoramaansichten, die durch ihre höchst realistischen Lichtverhältnisse bereits fotografisch erscheinen. 65 Dabei interessierten ihn nicht nur die 6J
64
6~
ibid., S. 358. Siehe dazu die Aufsätze von Michad Kiene: Das Archi(ekrurcapriccio in Bild und Archi(ekrurtheorie; und von Werner Busch: Die Wahrheit des Capriccio - die Lüge der Vedute. Beide in: Das Capriccio ab Kunsrprinzip, ibid., S. 82·93 und S. 94-101. Siehe dazu Bana,do &/lbtto, gm. Canaktto, hg. von Angelo Wallher. Dresden: Verlag der Kunst, J986.
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3. 2.
Abb. 29.
FOTc.x;RAFlSCHE MALEREI UND MALERISCHE FOTOGRAFIE
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Alfr~d Stüglitz:
From my Wimicw at an Ammcan Plnu (Southwesr). J932, G~lntin~ lilur print. National Galkry ofArt (Alfr~dSti~glitz Colkcrion), WQJhington.
vorteilhaften Ansichten der Stadt: Seine Darstellung der Dresdner Kreuzkirehe zeigt das unter preußischem Beschuss 1760 zerstörte Bauwerk im Stadium der schwierigen Abbrucharbeiten (Abb. 30). Das Skelett des Turmes und die Berge aus Schutt widersprechen jedem Schönheitsideal - ob romantisch-erhabener Verklärung oder pastoralem Ruinenkult. Das Trümmerbild verweist nicht auf die Spuren einer großen Vergangenheit. sondern bezeugt mit äußerster Nüchternheit einen Akt mutwilliger Zerstörung aus der Gegenwart. Stiche und Gemälde zu großen Bauprojekten wie auch zu Zerstörungen durch Abriss oder Brand finden wir im 18. Jahrhundert häufiger, die Kunst nimmt nun Anteil an den Strukturveränderungen der Stadt, die sie mit zunehmend neutralem Auge dokumentiert. Auch der Ruinenmaler und "Peimte d'architecture" Huben Robert, ein Freund Vernets und Diderots, bezeugte solche lokalhistorischen Ereignisse. DenAbbruch der Hiiuur aufda Norre Dame Brücke (Abb. 31) und den Abbruch der Häuser aufdem Pom au Change führte er jeweils als Pendant in mehreren
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3. DIE AUFKlARUNG DES SEHENS
Abb. 30. &rnardo &/Iotto, gm. Canaktto: Dit Ruinm tkr KrtuzJtircht in Dustkn. 1756. 80 x 110 an. Dust/m. Gnniiltkgaltrit.
Abb. 31. Hubm Robm; Abbruch tkr Häuurauftkr Notrt Damt BrücJu. 1787. 81 x 154 an. &rlsruht. Staatlicht KUlUthalk.
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3. 2. FOTOGRAFISCHE MAuREI UND MALERISCHE FOTOGRAFIE
Abb. 32. Garl hrdimlnd Su/z.nu: Dü Ruinm da
Hamburg~r Branda.
159
1842.
Versionen aus. 66 Die ehemals überbaucen Brücken hatten lange als Ladenstraßen gedient und wurden nun für den anschwellenden Verkehr und auch aus Repräsencationszwecken vergrößert. Selbst wenn in den Ruinen und Architekturvisionen, die das Hauptwerk des Malers ausmachen, vor allem Piranesis Phancasien weiterwirkten, bricht Robere in diesen Ansichten mit dem Konzept des Capriccio und hält sich strikt an die topographischen Gegebenheiten. Die Malerei sent ihre Mittel nun ein, um durch repräsentative Momentaufnahmen vergängliche Obergangssiruacionen als solche darz.wtel1en. Der Ereignischarakter löst nun die Beständigkeit und Zeitlosigkeit ab, die die Stadtansichten des 17. Jahrhunderts noch charakterisierten. Nicht von ungefahr hielt sich auch die junge Fotografie an solche Motive - so zum Beispiel in dem ä1resten erhaltenen Reportagebild, das earl Ferdinand Srelzner (1805-1894), einer der bedeutendsten frühen Daguerreorypisten, als Dokumentation des gtoßen Hamburger Btandes 1842 vom Dach der Bö"e aufnahm (Abb. 32). Der überhöhte Standpunkt des Fotografen ist hier noch deutlich an das Auge der Malerei angelehnt. 66
Siehe dazu Hubm Robm (J733-1808J und dü Brückm von Paris, Katalog hg. von Diermar Lüdke. Karlsruhe: Staadiche Kunsthalle, 1991.
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3.
DIE AUFK!.J..RUNG DES SEHENS
Um einen weiteren Maler aus dem Kreis der direkt oder indirekt von Vernet angeregten Künstler zu nennen, sei noch der schweizer Landschaftsmaler Caspar Wolf (1735-1783) erwähnt. Seiner Ausbildung und dem Frühwerk nach war Wolf zunächst dem süddeutschen Rokoko verhaftet. Nachdem Altarbilder und Dekorationsmalerei zunächst seine wichtigsten Aufträge bildeten, wendete er sich im Zuge eines Paris-Aufenthalts ab 1770 immer scärker der Landschaft 20. 67 Zurück in der Schweiz encstanden auf seinen Wanderreisen zahlreiche 01skizzen, die ereignislose, leere, aber getreu wiedergegebene Gebirgslandschanen zeigen. Er schloss sich schließlich dem Projekt des Alpenforschers und Verlegers Abraham Wagner an, der sich vorgenommen hatte, ein Kompendium der alpinen Schweiz in Bild und Text zu erstellen. Wolfs Funktion als Maler bestand in der wissenschaftlichen Dokumentation, die nun ein Höchstmaß an Objektivität erreichen sollte. Die Forscher benötigten über drei Jahre, um die Vor- und Hochalpen geologisch, botanisch und zoologisch zu beschreiben, sowie die Architektur, Sitten und Gebräuche der schweizer Bergwelt fesnuhalten. Wolfs Skizzen und die anschließend ausgearbeiteten Ölgemälde (alle im standardisierten Format von ca. 54 x 82 cm) zeigen Gletscher, Weiden, Pässe, Schluchten, Wasserfalle, Höhlen, Seen etc. als monumentale Ur-Landschaften, die den Einfluss des Menschen noch nicht kennen. Trotz des wissenschaftlichen Anspruches auf Dokumentation überwiegt hier deutlich das Interesse an archetypischen Urszenen der Bergwelt. Gerade Wolfs Werk zeigt, dass sich die dokumentarisch exakte Arbeitsweise mit einer idealistischen Überhöhung der Motive keineswegs widersprechen muss. 68 Der Verleger Wagner gab 1777 das gesammelte Bildmaterial als Merkwürdige Prospekte aus tUn Schweizer-Gebürgen mit von Wolf kolorierten Stichen 61
61
Siehe dazu Willi Raeber: Caspar Wolf 1735-1783. Sein Leben und Werk. Aarau el al.: Sauerländer, 1979. Raeber beschreibt Wolfs ArbeitsWeise wie folgt: n Weil Wolf primär von der Anschauung ausgeht, sind seine Landschaften nicht - wie bei den Romantikern - das Echo menschlicher Existenz, sondern das Ergebnis eines originalen Erlebnisses, in dem die Natur sowohl mit dem Imellekt als mit dem Auge aufgenommen wird. [... 1 Dabei vergisst Wolf das überlieferte Schema mil den obligalen Vordergrundskulissen und Repoussoir zur Erzeugung der Bildtiefe vollkommen. In sc:.iner neugewonnenen Sicht ist die Bildkomposition dem Motiv inhärenr und ergibt sich automatisch bei der Wahl des Standpunktes zu dessen Wiedergabe. [...] Besonders aufschlussreich für die intensive Beobachtung Wolfs sind die auf diesen Naturstudien angebrachlen Bleisrifmori:z.en, welche nichl nur die topographische Siruarion erläutern, sondern auch Angaben über die Tageszeit, die im Motiv herrschende Himmelsrichtung usw. vetmineln. Wolf verwendet auch ein eigenrümliches System von Zahlen und verschiedenen Zeichen, die bezwecken, seinem optischen Gedächtnis gewisse Delails, Farben und Lichmuancen in Erinnerung zu rufen, wenn er die Studien zu Bildern ver~ arbeiteI." ibid., S. 64.
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3.2. FOTOGRAFISCHE MALEREI UND MALERISCHE FOTOGRAFIE
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Abb. 33. Caspor Wolf Dü Bochalp ob~rha/b Gri"tk/wald. ca. 1774, 54 x 82. &m/, Privarlxsiez.
heraus. Für die französische Ausgabe wollte er die Qualität der Abbildungen noch verbessern, die VUtS rnnarquabks dts Montagnts d~ la misst avec !ntr description erschienen 1785 mit Abbildungen in einer Art Vierfarbendruck im Aquatinrverfahren. auf das ihn wohl wiederum Vernet hingewiesen hatte (Abb. 33).6? Die Aquatinta. eine im 18. Jahrhundert sehr beliebte Technik, verfahrt wie eine Radierung. sie zeichnet sich aber durch den unregelmäßig körnigen Grund ihrer Flächen aus. Die Zeichnung wird auf ihre Umrisse reduziert und die FreiRächen mit säurefesten Staubkörnern bedeckt, die durch Hitze fixiert werden. 1m Säurebad dringt die Flüssigkeit nur in die Zwischenräume der resistenten Staubpartikel. Die Körnigkeit der Flächen ersetzt Linien und Schraffuren. worin wir wiederum eine zufallsgesteuerte Technik erkennen können: Ob in Chardins Farbpartikeln oder in der Aquatinta - überall wird ., Zu dem Druckverfahren erläurert Raeber: MOas von dem FrankfurterJ. C. Lc:blon erfundene, von J. Gauthier-Dagory vervollkommnete und von Jean-Fran~is Janinet zu höchster Vollendung enrwickehe Farbaquatintverfahren beruht lemen Endes auf der Newtonschen Theorie, dass alle Farben sich auf die Grundf.uben Blau, Gelb, Ror und ihre Mischungen zurückführen lassen. Indem Janinet drei verschieden eingef.irbte Platten über eine vierre druckte, welche Umrisse und Schatten schwarz wiedergab, erhielt er die feinen Farbeffekte, die seine Blätter auszeichnen. ~ ibid., S. 80.
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3. DIE AUFKL\RUNG DES SEHENS
das Bemühen sichtbar. den Einfluss der eigenen Hand zumchunehmen. Das Körnungsverfahren stellt allerdings nicht die einzige Möglichkeit dar, den Duktus des Künstlers verschwinden zu lassen. Er kann sich auch an das Gegenteil halten und mit glaceen. undifferenzierten Farbfeldern arbeiten, die weder Licht noch Schauen. sondern nur die Präsenz der reinen Farbe ausdrücken. Im 18. Jahrhundert erfreute sich insbesondere die Pastellmalerei außerordentlicher Bdiebmeic 70 Die pulvrigen Pigmente erzeugen strahlende Farben, denn beinahe frei von Bindemineln hat das Pastell kaum lichtbrechende Wirkung. Wie wir einem uirgenössischen Traktat entnehmen können, galt die Technik daher als äulkrsr dienlich für dje Erzeugung von Narurtreue: "Aucun autre n'approche autanc de la nature. Aucun autre ne produit des tons si vrais. Gest de la chair, c'ese Flore, c'ese I'Aurore. "7. Die im Rokoko zunächst hoch geschäCZte pudrig, samtige Qualität des PasteU kam jedoch mie der klassizistischen Wende als leicht erlernbare Laienkunsc in Verruf. Den Genfer Künscler Jean-Etienne Lioeard (I702-1789) hiele dies jedoch niche davon ab, auch weiterhin mie der Pastell technik zu experimentieren. Der gelernte Porträtist und Miniacurise fand gerade in den niederen Genres und Techniken zu dem fUr ihn charakteristischen fowgrafischen BUck. 72 Ersee Berühmtheit erlangee er nach seinem langjährigen Aufenthale in Konsraminopel als .. Peintre eurc", da er wie kein anderer die Sinen und Gebräuche des exoeischen Landes wiederzugeben wussee. Sein POrträt einer jungen Frau in
10 11
11
Siehe dazu Gencvieve Monnie.r: Ins Paslell. Genf: Skira. 1984. Siehe M. P. R. de Trait~ de la PeinlUte au Pastel. (1788) S. 13. als Nachdruck in Monnief. ibd.• S. 110-116. Ich beziehe mich im Folgenden auf Fran~ois Fosca: 1...:l vie, les voyagcs er les l%UVtes de ]ean. Etienne LiOlard. Paris: Bibliotheque des Ans, 1956. Sowie Dmim tk Liota,d, Kalalog hg. von Anne de Herde Genf: Music d'a" er d'hisroire. Paris: RMN, 1992. Fosca beschreibt die Qualilät Lioluds gegenüber den bciden anderen Meislern des Paslells, Quenlin La Tour und ]ean-Baptisle Perronncau wie folgt: .Si mainlenam on compare LiOlard ~ Perronncau, on conSlale que le Francrais I'emporte sur le Gencvois par la richessc de ses Moyens, par la varil!:ll!: dcs ses conlrastcs ooloro. (... ] Mais LiolUd, lui, CSt plus v~ridique. (... ) IIs [La Tour und Pcrronncaul som plus habiles, plus fr~mi~l5, savenl micUI f.Urc jouer lcs conlra5les dc IOns I...). Mais on a le scnlimenl qu'une bonne pan de lcut ralem CSI de la pratique, de I'acquis. qu'ils posenl teile ou rdle muche parcc quc, par cxpbicncc, ils ont apptis que cda kait d'un hcurcux effet. üOlard me. scmbJe plus compler sur Ja narure, sc her davanlage chaque fois ~ ct qu'c1le lui apporu. I...) Devam ccrtains portraits de Perronncau, on l!:prouve Je senliment que MUS n'avons pas dennlies ycux Je personnage Ici qu'il ttail reellemeni. mais un cue haif, qui est plus une crntion de I'arciste qu'il n'esl le modele. Liorard. lui. n'oublie jamais qu'il a un mod~le. Cl qu'i1 doit I~ retractr aussi hd~lement que possible. Incapable de Iyrisme, il ne s'b02de pas: ibid., S. 147 f.
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3.2. FOTOGRAFISCHE MALEREI UND MALERISCHE FOTOGRAFIE
163
türkischem Kostüm, wahrscheinlich die Comtesse de Covenuy (Abb. 34), zeigt die fast schattenlos gegebene Figur ohne erkennbare Narration beim Nichts· tun, der nüchtern gehaltene leere Hintergrund nimmt dabei den Großteil des Bildes ein. Diese eigenartigen LeerRächen wird Liotard als sein Markenzeichen beibehalten. Auch die Ornamentik der Stoffe trägt hier als schlichtes Nebenei· nander von FarbRächen zum Unterlaufen des Räumlichen bzw. Gegenständlichen bei. Den Eindruck einer realistischen Momentaufnahme vermittelt auch Liotards Beik Chocoiati~re (Abb. 35). Der eigenwillige Bildausschnitt unterwandert sowohl das Porträt als auch die Genreszene (für ein Porträt sehen wir zu wenig vom Gesicht, für eine Genreszene fehlt der narrative Kontext), zu aller Verwirrung platziert Liotard mit den Gegenständen auf dem Tablett noch eine Stilllebensituation in das Zentrum der Aufmerksamkeit. Seine Vorliebe für die Vermischung von Genres und außergewöhnliche Rahmensetzungen wird auch deutlich in dem Fensterausblick aus seinem Arbeitszimmer Paysage aux envirom de Gen~ve (Abb. 36): Die Landschaft, die er entgegen jeder Konvention auch in Pastell malte, wird in ihrer exakten Topographie wieder· gegeben. 73 Der radikale Abschnitt von Fenster und Balkonbrüstung lassen den Ausschnitt noch gewagter erscheinen als die Ausblicke von Thomas lones: Das Liniengefüge des Bildes, das zwischen Gegenständlichkeit und Abstraktion oszilliert, verhöhnt alle traditionellen Regeln der pittoresken Komposition. In seinem Spätwerk experimentierte Liotard, der im übrigen wiederholt seine Bewunderung für Chardin ausgedrückt hatte7\ zudem mit in Pastell gehaltenen Stillleben. Liotard wagte dabei noch radikalere Anti-Kompositionen als sein französischer Kollege. Die Arrangements zeugen von einer Primitivität, die den Betrachter dazu bringen mag. das Können des Meisters in Frage zu stellen. Dieser Gefahr, für einen Laien oder AnHinger gehalten zu werden, kam der Maler entgegen, indem er gUt sichtbar im Bild seinen Namen und sein hohes Alter vermerkte. Als aufschlussreich erweisen sich auch Liotards theoretische Begründungen. Im Namen von Rousseaus Naturauffassung grenzte er sich dezidiert von der Dekadenz des Rokoko ab. So formulierte er in einem offen bewundernden Brief an Rousseau, den er für ein Porträt zu gewinnen suchte, wiederum den " So Fosca: nOn y aperc;oir, par dessus un mur, un jardin planre de vigne. Au-ddll.le bastion SainrAntoine, avec les puits d'aeration et une guerire. Plus loin, la route de Malagnou part droir vers la Savoie, er au.dessus de 1a campagne on voit s'elever les monragnes farnilihes, le Mole, le Perir-Saleve, la cime neigeu.se du Mont·Blanc. Au premier plan, gauche. apparait Liorard lui.meme. de profil. coifTe de son bonneI." ibid.• S. 90. "4 Liotard malte z. B. das Poru2r .seines Sohnes, indem er eines von Chardins Kinderbildern weilestgehend kopierte {Siehe Fils du pdnrr~, Sammlung Lucien Naville. Genf. ohne Datum}.
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3. DIE AUFKLÄRUNG DES SEHENS
Abo. 34. J~,zn-Etimnr LiolArJ: Portrait J'unr jnmr fmmu m ctntumr tu" ;wisr!Ur un divan, dir portrait prhuml b Lz comlnK tk Cown"J. (A, /750. PIlSUU. 23.5 x 19 cm. Gm! MUlIr dim rt d'hisrq;"_
3.2. FOTOGRAfiSCHE
MA1.E:REJ
UND MAlEJUSCHE FOTOGRAfiE
Abb. 35. J~,m~Etimnr LilltllrJ: !.A &/k ChIIcIILztim. CA. J745. PiJSt~1J, 82.5 X 52.5 mI. DmJm. Gmu1kktllkri~.
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3.
DIE AUFKlJ.RUNG DES SEHENS
Abb. 36. J~an-Etimn~ Liotard: Paysag~ aux mvirofIJ Je Gmrot (VUt du cabintt tk travail Je LiotArd). O. D., 45 x 58 cm, Amsltrdam, RJjlumustum.
Topos von der zwejcen Nacur. Nur durch Reflexion vermag sich der Mensch von seinem Allragsauge zu befreien, um eine noch ursprünglichere Unvoreingenommenheic wiederzuerlangen: .. Monsi~ul, le plus grand d~ mes plaisirs es( d~ ch~lchel 11 penser pur~m~n(, nalUrdl~ m~nt, ~t sans aucun prtjugt. Nous n'avons au d~us des he(es qu~ la seul~ facuht dc now communiquer nos penstes par le la.ngag~j C'esl La source de loutes nos connaissances, bannes ou mauvaises, SUI tour I~ res(~, j~ cherche ~ penser comme les animaux qui n'onl ni habitudes ni prtjuges. (... ) J'ai II vous faire voir des t:lbleaux d'un nouveau genre de peinture. "7)
Die Reihe der Künstler, die sich zu dieser Zeic um neue Techniken der Authentizicät bemühten, ließe sich freilich noch fortsetzen. So individuell die Arbeitsweisen auch waren, sie gehen - wie die aufgeführten Beispiele zeigen - immer wieder auf dieselben Topoi zurück. Ich möchce mich daher nun der Weiter-
1)
Brief vom 2. September 1765, 2.i(iert nach FoSC2., ibid., S. 97.
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3.2. FOTOGRAFISCHE MALEREI UND MALERISCHE FOTOGRAFIE
167
entwicklung dieser Bildauffassung zuwenden: Wie verhielten sich Malerei und Fowgraiie zueinander als das neue Medium tatsächlich erfunden war?
Die Fotografie auf dem Weg zur Kunst Man kann die Erfindung der Fotograiie natürlich nicht als das Ergebnis einer lückenlosen Erfolgsgeschichte darstellen, die in Diderots Ästhetik ihren Ursprung fände und sich mit dem ersten Fotoapparat verwirklicht hätte. Die Beziehung von Malerei und Fotografie erweist sich als weitaus komplexer: Trotz der offenkundigen Konkurrenz und den Drohungen, den jeweils anderen überflüssig werden zu lassen bzw. ihm den Kunstwert abzusprechen, kamen beide Medien nicht umhin, sich am anderen zu orientieren. Zu Beginn der gemeinsamen Geschichte finden wir auf Seiten der Fotografie noch keine ausgewiesenen Künstler, sondern eher Erfinder und Ingenieure, die - im Verhälmis zu den obigen Maßstäben - einem sehr konservativen Bildverständnis folgten. Der Anlass, den neuen Apparat zu erfinden, war für die Pioniere der Fotografie vornehmlich pragmatischer Natur: Von William Henry Fox Talbot weiß man, dass er aus Unzufriedenheit mit den eigenen Zeichnungen nach einer neuen Technik suchte. Er hatte 1833 beim Zeichnen am Corner See die klassischen Zeichenhilfen als untauglich verworfen, da sie sein mangelndes T alem, die Natureindrücke wiederzugeben, nicht wett machen konnten. Er experimentierte daher mit lichtempfindlichem Papier, auf dem er die Umrisse von Pflanzen und Blättern als Licht-Abdrücke fixieren konnte. Sein Ziel bestand jedoch weniger darin, das Wesen der Dinge herauszuschälen, ihn interessierte allein die höhere Genauigkeit der Detailwiedergabe. Auch die anderen Gründungsväter hatten vor allem nach einer Aufz.eichnungsmethode gesucht, die ihnen zu präziseren Abbildungen verhelfen sollte." Dabei zählte nicht der paradoxale, weil ami-empirische, aber doch sinnlich gefasste Wahrheitsbegriff eines Platon, sondern wieder das Ideal der "richtigen" Zeichnung nach dem Leitbild der positivistischen Empirie. Louis-JacquesMande Daguerre beschrieb z. B. die Leistung seiner Erfindung als "wissenden" Detailrealismus: ~)eder
wird mit Hilfe des Daguerreotyps die Ansicht seines Schlosses oder Landhauses anfenigen können: Es werden Sammlungen jeder Art emsrehen, die um SO kOSlbarer sein werden, als sie hinsichdich der genauen und vollsrändigen Derailwiedergabe von
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Siehe dazu Wil&ied Wiegand: Frühzeit der Photographie (1826-1890). Ikrlin u. a.: Koch, 1980.
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3.
DIE AUFKLJ.RUNG DES SEHENS
de:r Kunn nicht übc:mofTe:n WC'rde:n könne:n und durch das Licht nicht wc:ile:r ve:rändttt wt::rde:n. "Tl
In einem Brief Alexander von Humboldts an C. G. Grus, der seinerseiu dem sächsischen König Friedrich Augusc 11 über die Erfindung Daguerr~ berichten sollte, lobte auch Humboldt die"Wahrheit, die kein Kupferstich erreicht" und erwähnt von seinem Zusammentreffen mit Daguerre, dass dieser auf seinen Fotografien sogar Dinge abzubilden wisse, die das blofk Auge nicht erkennen
kann: ..Ich sah (auf eine:r Fotografie:. die: Dague:rre: ihm zeigte:) dne: inne:rc: Ansicht des Louvre: mit de:n zahllosen ßasrdie:fs. -11 y avai[ de: 1.1 paiUe: (qui) venair de passer sur Ie: quai. En voyez vous dans le [ableau? - Non. Er gab mir e:ine Lupe:. und es uige:n sich Ie:uch[e:nde: 5Hohhalme: an a11e:n feoslern."71
In dieser Bildauffassung steht eher ein quantitatives, denn ein qualitatives Moment im Vordergrund. Die Details sollen als solche erscheinen und nicht, wie noch bei Chardin, im Sehen aufgehen. Die Fotografie soll hier "mehr" von der Realität konservieren als das menschliche Auge und die menschliche Hand je hätten aufnehmen können. Exaktheit, Genauigkeit, Vollständigkeit und Objektivierbarkeit - also Kriterien der positivistischen Wissenschaft - werden der intelligiblen Wahrheit vorgezogen. Daguerre spielt nicht mehr mit dem wahren Sehen des Ur-Auges, er verweist auf eine Optik, die mit dem Mikroskop vergleichbar wäre - die Technik soll hier vor aUem das menschliche Alltagsauge überueffen. Dass sich diese Einschätzung der Fotografie im 19. ]ahrhundeH zunächst durchsetzte, zeigt auch ihr Einsatz in der Malerei: Wir wissen von Künstlern wie Delacroix, Ingres, Courbet, Manet u. 3., dass sie nach fotOgrafin L. J. M. D:l.guwe:: Das D:l.gue:rrcoIYp. (1839) Hie:r zide:n n;lch D;t> WahrlNit tkr Photogra. phit>. Klassucht> BtkmnmuJe zu t'inLr 1uum Kumt, hg. von Wilfricd Wieg:md. Frankfun a. M.: Fische:r, 1981, S. 17. 71 Hie:r zilien n2ch Dir WahrhLit tk, PhotographiL. Klassurht> Bt>kmntnUst> zu t>;n« nrom Kunst, ibid.• S. 20. Auch in T2.lbots PmdlofNtlturt> lesen wir solche Ansprüche:: "One: 2dvantagc of [he discove:ry of the: Pholognphy Art will be. lhat i( will enahle: us to inuoduct imo our pieture 2 muhirude: of minute: de:l1lils which 2dd tO (he: umh 2nd rea.liry of the: rc:presc:nr21ion. hut which no anis[ weuld rake the (rouble (0 copy faithfully from nature.· ..This magni6a the: object [WO or thr« oma, and often disdoses a mulorude: of minute: dc:a.ils, which wc:re previowly unobserved and unswpeaed. Ir frequcndy h:l.ppens, morrovc:r - and this is one: of the: charmes of pbo(ography - mat the: operator himsclf discovc:rs on aaminaüon. perh:l.p5 long afte:rwards, (h:l.t he: has ckpiaed many things he had no norion of 2t 2ny [ime:." William He:nry Fox Talbor: The: Pe:ncil ofN:l.ture:. (1844/46) RLprim: New Yorle Da C:tpo, 1969, ohne &irenangabc:n.
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3.2. FOTOGRAFISCHE MALEREI VND MALERISCHE FOTOGRAFIE
169
sehen Vorlagen arbeiteten. Jedoch sollte dies meise nur die Kosten für das teure Modellstehen ersparen und dem encstehenden Gemälde letzclich nicht anzusehen sein. Der Künscler drückt die "Überlegenheit" seines Ideals bzw. seiner Wahrheit nach wie vor durch das Vernachlässigen der Details aus. 7? Die Malerei war sich ihrer Miuel somit sicher, ganz im Gegensatz zur frühen Focografie: Becrachtet man die Abbildungen aus dem ersten Jahrzehnt nach ihrer Erfindung, so findet man in erster Linie aus der älteren Kunstgeschichte enmommene Themen, Ausschniue und Kompositionen. Tatsächlich "malte" die Focografie zunächse traditioneller als die Malerei ihrer Zeit: Um den Kunstwert ihrer Technik unter Beweis zu stellen, ahmten die Fotografen erst einmal die erprobten bzw. anerkannten Bildschemata nach. Bezeichnenderweise stand dabei nicht die "focografische" Malerei des 18. Jahrhunderts Pate, sondern ältere Vorläufer. So verglich WilLiam Henry Fox Talbot seine berühmte Aufnahme The open door, die er in The pencil o[Nature (1844-46) veröffenclichte, nicht
ohne Stolz mit der holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts (Abb. 37). T .tsächlich könnte er bei der Plazierung des Besens an Pieter Oe Hooch gedacht haben. Gerade bei den Niederländern gebe es nach Talbot genügend Belege dafür, dass alltägliche und vertraute Gegenstände kunstwürdige Themen seien - eine Argumentation, die erkennen lässt, dass die Focografie damals noch gegen ganz andere Vorurteile zu kämpfen hatte: Als geisclose, kalte Technik war es ihr noch nicht vergönnt, die "inventio" der Malerei zu beanspruchen. Ein Apparat, so die Gegner, könne auf Knopfdruck keine "idea" hervorbringen. Im Verhältnis zum Geist der Kunst bringe die Fotografie nur buchseabengetreue Kopien hervor, sie verhalte sich gegenüber der Malerei wie ein Wörterbuch zur Poesie. 80 Auf dem Weg zu einer autonomen Kunst wird sich die Fotografie im Verlauf des 19. Jahrhunderts auch weiterhin an der Malerei orientieren, nun aber zunehmend an jenen Topoi, die wir schon als charakteristisch für den focogra· fischen Blick des 18. Jahrhunderts beschrieben hanen. Der erste Schrin - bei dem man wiederum an den Unterschied "wissendem" und "sehendem" Blick denken mag - bestand in der Absage an das gescochen scharfe Bild. Bei einer Diskussion in der "Phocographic Sociecy of London" plädierten die Focografen William John Newton, John Leighton und R. W. Buss 1853 erstmals offen
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Dies ändem: sich erst mit der nachfolgenden Künstlergeneration, die auch selbst fotografierte (wie:tum Beispiel Edgar Degas, Felix Vallolton, Pierre Bonnard, Edouard Vuillard erc.) - die durch die Kamera veränderte Wahrnehmung und Momenthaftigkeil ist ihren Werken nun deutlich anzusehen. Siehe ausführlich Erika Billeter (Hrsg.): Malerei und Photographie im Dialog. Von 1840 bis heute. Zürich: Bendi, 1977. So argumentierte z. B. CharIes Blanc, der Herausgeber der Gazerte des Beaux Aru. Siehe dazu Wolfgang Kemp: Theorie der Fotografie. München: Schirmer/Mosel, 1980, Bd. I, S. 121.
3.
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DIE AUFKV.RUNG DES SEHENS
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Abb.37. William Hmry Fox Ta/boI: Tlu 0pm dOOT. Enchimm in: The pmcil o[Nature (J 8-(4·46).
für den Verzicht auf Fokussierung. 81 Die Kunst, so die Vortragenden, müsse sich von der nüchtern und kalt analysierenden Wissenschaft grundlegend unterscheiden, sie beruhe immer auf einer Abstraktion von der Natur und dürfe daher von den Einzelhei[(~n absehen. Der bekanmesre Vcnrctcr der "out of foeus"-Fotografie. Perer Henry Emerson (1856-1936), knüpfte an dieses neue Paradigma an und neUe in seinem vielzicierten Buch Naturalisric Pholography (1889) wiederum den Bezug zur Wahrnehmung her. Wenn die Focografie ihrem Ziel nahekommen soll, das Sehen (und eben nicht die sichtbare Weid nachzuahmen, müsse sie gezielt mit Unschärfen arbeiten: ~ Wie
wir oben sagten, muss der Hauptgegensl:lnd des Bildes genügend scharf erscheinen, genauso scharf wie das Auge ihn sieht und nicht schärfer, aber alles andere, alle anderen Ebenen des Bildes müssen herabgemilden werden, so dass das fertige Bild dem Auge einen Eindruck gibt, der demjenigen, den die Naturszene vermim:lt, so nah wie möglich kommt. {... ] Nichts in der Natur hat einen harten Umriss, sondern jeder
1I
Zum Hintergrund und entsprechenden QudJc:n siehe: Fotografie in künstlerischer Hinsicht betrachte!. Diskussion in der 'Photographic Society ofLondon'. (1853) In: Kemp, ibid., S. 88·94.
3.2. FOTOGRAFlSOlE MALEREI UND MALERISCHE FOTOGRAFIE
171
Gq;~nnand
wird vor d~r Farlx: ~ines and~r~n g~h~n, und S(:in~ UmriSS(: gd\~n sanft in di~n and~rcn über, oft so subtil, dass man nur schw~r di~ Obergäng~ ~rkennt. In di~r Mischung aus Entsehied~n~m und Un~nuchied~n~m, aus Fest~m und Unfesl~m liegt d~r ß2llzc Reiz und das G~h~imnis d~r Natur begründet. Es ist di~ Qualität, di~ d~r Künsd~r zu ~rr~ich~n sucht und di~ d~r normal~ FOlogr.afin d~r Rcgd mit Eif~r zu v~rmeid~n mchlet." u
Emersen erhebt die Fotografie zur Kunst, indem er sie als eine Kunst des Sehens präsentiere - eben jenes "reinen" Sehens, das nur unwissende, naive Bilder liefere. In diesem Zusammenhang solhen wir auch auf Baudelaire verweisen, der gemeinhin als Gegner der Fotografie eingestuft wird. Betrachtet man seine Schriften näher, ergibt sich jedoch ein weitaus differenzierteres Bild, das ebenfalls um das Problem der Schärfe kreist. In seiner Salonkritik von 1859. Lt public mockrne tt Ia photographie, zeigt sich Baudelaire nur über jenes Publikum entrüstet, das in der Fotografie nach wissenschaftlicher Genauigkeit suche. Er wenene somit gegen einen bestimmten Gebrauch des Mediums, nicht aber gegen das Medium selbst. Wie sehr auch er von der Möglichkeit fasziniere war, durch die Fotografie "wahre" Bilder zu erhalten, zeigt sein Wunsch ein Porerät seiner Mutter w besitzen - aber unscharf müsse es ~in! So schrieb er
ihr 1865: J~
voudrais bi~n avoir ton ponra.it. C'est un~ id& qui s'est ~mpar& d~ moi. 11 y a un acell~nt pholographe au Havrc. Mais je crains bien que ccla ne soil pas possible main· tenant.1I l2udra.ir qu~ j~ fussc prtKnt. Tu n~ t'y connais pas. Et tOUS les photogr.aphes, mime acell~nts, ont des manies ridicules; ils pr~nnenl pour un~ bonn~ image ou IOUles les v~rrues, mutes les rides, 10US les dtf:aUlS, lOutes les uiviaJilCs du visag~ SOn! r~ndw rrts visibles. rrts QJlIg~r6; plus I'imag~ esl dure, plus ils som cont~ms. D~ plus, j~ voudr.ais qu~ 1~ vi.u~ ~at au moinsla dimension d'un ou deux pouces. 11 n'ya guhe qu'll Paris qu'on .uch~ fajr~ ce qu~ j~ dCsir~, c'est·ll-dir~ un ponr.ait c:xaCl~, mais ayam l~ Rou d'un dessin. Enfin. nous y pen~rons, n'esl ce pas~""
Vor diesem Hintergrund war nun auch den Künstlern ein neuer Blick auf die Fotografie möglich. Die Präraffaeliten, deren verträumte Visionen nach Motiven des Mittelalters oder der Frührenaissance kaum auf den Einsatz von moderner Technik schließen lassen, arbeiteten ganz ungenjert nach den Effekten jener neuen Kunstfotografie, die sich im Anschluss an das Unschärfeparadigma
Peter H~nry Emerson; Di~ GesetU: d~r opliscllen Wahrndlmung und die Kuns(J~gdn. di~ steh daraus ableit~n lassen. (1889) In: K~mp, ibid., S. 167. u Bri~f an Mme Aupic.k, Briissd, 23. Dttt:mber, 1865. Zilien nach LA PholDfTllphinn Frll1K~. TaUf n Omrrowrm. Un~ ilnthofoti~. 1816-1871, hg. von Andrt Rouilltt. Paris; Macula,
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1989. S. 329.
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3. DIE AUFK1.ARUNG DES SEHENS
um den Begriff des Pikrorialismus sammeltc. Sc4 Die Focografc:n Oscar
GUSt3VC:
Rcjlander und ]uJia Margarcr Cameron. der Schriftsteller Uwis Caroll, die Maler Dame Gabrid und William Michael Roscru u. a. sahen keinen Widerspruch mehr zwischen Kunst und Technik, solange man sie nur demselben Bildprogramrn unterordne:. So geht Dame: Gabrid Roscrus B~ata B~lllTix (1864-70) recht eindeutig auf eine: Fotografie von Julia Margarcr Cameron mit dem Titel CaIJ, I fOllow. I fOllow - kt mt dit zutück." Wie sehr Rosettis Idealfiguren von real existierenden Personen angeregt waren, zc:igr auch seine: Arbeit
mit dem Modell Jane Morris. Er ließ sie jeweils von dem Fotograf John R Parsons nach seiner Anleitung fowgrafieren, um von den Abzügen nochmals idealisierende Gemälde anzufercigen. Michael Bartram schreibt daher: "In his drawings and paintings Roseeei eicher banished or myulOlogized the disturbing qualicy in these images. R~v~ri~ (t868) and Th~ Roul~af(1870) are boeh exer~ cises in preetificaeion of phoeographs."86 Die Malerei steigert nun den Effekt der Fotografie, indem sie vor allem die Unschärfe des neuen Blicks nune. Ob die Fotografie nur geisclose Kopien der sichtbaren Wele liefert oder als Kunse an die Urbilder heranzureichen vermag, emscheidee allein die Are und Weise, wie die Kamera eingesetzt wird - entweder die bis auf Pla[Qn zurückgehenden Topoi um das "wahre" Bild werden in dem Abbildungsverfahren berücksichtige, oder es entstehen Bilder, die anderen Inter~n, z. B. denen des empirischen Vermessens folgen. Die Technik allein ise also noch keine Garamie dafür, dass ein Kunstwerk entsteht. Das sehende Sehen der Kunst (ob in der FO[Qgrafie oder der Malerei) unterscheidee sich von dem wissenden Blick nach wie vor durch ihre Arbeit an Idee und Archecyp - nur die Methoden, sich dieser Idee anzunähern haben sich seit der Mine das 18. Jahrhunderts dahingehend gewandeIe, dass sie zunehmend "foeografisch" geworden sind. Es brauchee also einige Zeit bis die Fotografie als eigenseändige Kunst zu sich finden konnte, ihr "Rückstand" in den erseen Jahrzehnten wird vor allem deudich. wenn man exemplarisch einige Gemälde dagegen hält, die jusf vor
.. Ich bezi~h~ mich hic:r auf Michael Banram: Thc: Prc:.RaphaelilC: Camc:ra. Aspects ofVictorian Pholography. London: Wdde:nfc:ld/Nicolson, 1985. Zum Ikgriff des Piktorialismus sie:he: auch Anne: Hammond: Naturalismus und Symbolismus. Die: pikloriaJisli.sche: FOlografie:. In: Michel Frizor (Hrsg.): Nc:ue: Geschichte: der Fotografie:. Köln: Köne:mann. 1998. S. 292·
309. as Dazu Banram: ..Thc: blurral background and g10w around rne: had in [his idc:a.l.ized portrait of Ihc: anist's dead wifc:. Elisabc:th SiddaJ. havc: b«n anributed to Ihe: inßuc:n« of Camcron's pholography. Thc image was published by the: AUlol)'pC Company at the: time: Rosm:i was woIking on &Iltll &arrix. 11 may hav~ imprascd hirn sincc: il has a plascicity rare: in h~r imaginalive: work (... )." ibid.• S. 132. 16 ibid.• S. 135.
3. 2. FOTOGRAFISCHE MALEREI UND MAllRlSCHE FOTOGRAFIE
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der Erfindung des neuen Mediums entstanden. Die nach unserer heurigen Auffitssung der Fotografie eigenen Bildqualitäten lagen hier schon sehr viel deutlicher vor - das Fotografische wurde somit in der Malerei und nicht in der Fotografie erfunden. Bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts lassen sich zahlreiche Beispiele finden, in denen die genannten Topoi des fotografischen Blicks eine Zuspitzung bzw. Radikalisierung erfahren: Die Fragmentarisierung der Ausschnitte, der anti-narrative Charakter der Motive und ihre anti-kompositorische Darstellung nehmen sichtbar zu. n Zwar bleiben diese Tendenzen auch weiterhin oft auf Skizzen und Studien beschränkt, aber diese nehmen an Format zu und sind in den Werken der Maler nun von größerer Bedeutung. John Consrable (I776-1837) malte um 1821 eine Studie von einem Baumstamm, die ihre Sehenswürdigkeit wohl kaum aus dem abgebildeten Ausschnitt, sondern allein aus der Art der Darstellung bezieht (Abb. 38). Die unerhörte Nahaufnahme zerstört den eigentlichen Bildgegenstand. Das gänzliche Fehlen allegorischer oder romantischer Momente macht es unmöglich, interpretierend über diesen Baumstamm zu sprechen, allein die schlichte Materialität der Rinde steht im Zentrum des Bildes. Der fotografische Effekt der abgebildeten T atur lässt zweifelsohne darauf schließen, dass es dem Künstler um das Festhalten seines Seheindrucks ging. Ein halbes Jahrhundert später wird der FotografEadweard Muybridge in seinen Baumstudien eben jene antinarrativen Ausschnitte erneut verwenden (Abb. 39) - man mag darin nur einen Zufall sehen, aber es scheint doch, als ob der fotografische Blick als Medium und als Mentalität zu solchen Aufnahmen tendiert. Das Prinzip von radikalem Ausschnitt und übertriebener Großaufnahme findet sich auch bei anderen Künstlern, wie zum Beispiel bei dem Berliner Maler Adolf Henning (1808-1900). Seine Olstudie vom Chor der Zisterzienserkirche Altenberg von 1833 zeigt kaum etwas von dem Bau selbst, er konfrontiert den Betrachter mit dem schmucklosen Gemäuer einer uninteressanten Rückansicht (Abb. 40). Die fast schon chaotisch herausragenden Regenrinnen vermeiden zudem als Zeichen einer wenig romantischen Funktionalität, dass der Betrachter noch nach einer pittoresken Ruine sucht. Neben der Strategie, mit der Nahaufnahme eines Motivs den Rahmen des Bildes zu sprengen, erweist sich auch das Gegenteil als fruchtbar rur den neuen Blick: Der Norweger Johann ChriStian OahJ (I 788-1857) malte z. B. um 1830 zwei Kopenhagener lGrchrurmspirzcn vor einem Abendhimmel, die Ansicht schneidet die Türme so hart ab, dass man sich fragen darf, was er eigentlich ~ Di~ hi~r 2ufgdUhn~n Iklspid~ sowi~ ~i(~r~
sind komm~nti~n in H~inn'ch SJJUNlrz.: An anti Plxllography. Formmnm anti InJlumm. hg. VQn Willi:un E. P:uker. Chic:ago. London: Univ~rsiry of Chic:ago Press. 1985. Sowi~ Bifo" PhotogrAphy. PAintint Anti tlN Inwnrion of PhotogrAphy. Katalog hg. von Pet~r GaJassi. N~ Yorlc Museum ofMod~m An. 1981.
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3. DIE AUFWRUNC DES 5EHENS
Abb. 38. lohn Constabk: Elm Tru. Ca. /82/. London. Vutornr anti A/bm Musntm.
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3. 2. FOTOGRAfiSCHE MALEREI UND MALERlSCI-IE FOTOGRAfIE
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Abb. 39. Eadwtard MUJbridg~: Stutly oftrm. Cl. /869, 7.6 x 7,6 cm. Londcn. Bancroft Library.
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3.
DIE AUFKlÄRUNG DES SEHENS
Abb. 40. Ado/fHmlling: Chor tkr Zuurz"mmJrirch~Altmb~rg. 1833,35,8 x 26 cm. Brrlin, SlllJllliehe S.h/(jJJ~r lind GiirUll.
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3. 2. FOTOGRAFISCHE MALEREI UND MALERISCHE FOTOGRAFIE
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Abb. 4 J. johalln Christian Daht: KopmhagnuT Kir(htürm~ vor Abmdh;mm~l. 0. D.• JJ,5 x J5.4 cm. Hamburg. KumthaJk.
abbilden wollte (Abb. 41). Es ist fast nur Himmel zu sehen und kaum etwas von den Kirchen. In dieser Momentaufnahme reduzieren sich die Gegenstandsdaten auf ein gerade noch erkennbares Minimum, das atmosphärische Stimmungsbild gewinnt daher um so mehr. Das kJeinformatige Bild entstand im übrigen in Dahls Dresdner Zeit, als er mit seinem Mentor Caspar David Friedrich (den wir hier ebenfalls als Meister des Fragmems nennen könmen) das Haus teilte. Nicht nur in der experimentellen Skizze finden wir fO[ografische Merkmale dieser An. Valenciennes Schüler Jean Baptiste Camille Corot (17961875) erhielt um 1833 von Philibert Paulin Henry, dem Besirz.er einer Textilmanufaktur, den Auftrag sein Wohnhaus und das Werkgelände zu malen (Abb. 42). Ohne jede Beschönigung oder gar Werbung stellt Corot einen unbedeutenden Augenblick im Arbeirsalltag dar. Der Betrachter taucht in einen konkreten Ort ein, der von einem realen Standpunkt aufgezeichnet wurde. Nichts scheint willentlich angeordnet: Der lichtüberßutete, aber karge Plan bleibt leer, keine Hügel zieren den Horizont und auch der Himmel bleibt wolkenfrei. Nur einige Arbeiter und eine Spinnerin befinden sich wie zufällig auf dem Gelände verstreut. Corot
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3. DIE AUFKlARUNG DES SEHENS
Abb. 42. J~an Baptisu Otmj/k c"rot: Soissons. "",UDn tl1uzbitlltitm n fabriqUL tk M. Ht7Iry. Ca. 1833. 80 x 98 rm, PhitamlphiA. MUHUm 0/Art.
verzichtet dalxi weitgehend auf Details, er reduziert die Figuren auf einfache Schemata. so wie man sie aus der Entfernung auch wahrnehmen würde. Aller Medienkonkurrenz und dem technischen Fortschrin zum Tron behalten bestimmte Topoi offensichtlich ihre Kontinuität. Ob in der Fotografie oder in der Malerei - Plawns aher Traum vom Blick in den Himmel blieb zum Beispiel auch weiterhin eine ästhetische Herausforderung. an welches Abbildungsverfahren auch immer. DiderotS Vorschlag, sich durch die hohle Hand ein Stück des Himmels auszuschneiden und ihn somit zum alleinigen Bildgegensrand werden zu lassen, finden wir auch zu Beginn des 19. Jahrhunderts immer wieder realisiert (Abb. 43-44): Constable drängte in seinen zahlreichen Wolkensmdien dic Landschaft immer weiter in den Hintergrund, so dass er die Grenzen zur Abstraktion bereits streifte. Eadweard Muybridge und andere ließen sich als erstc Fotografen von diesem Motiv faszinieren, und auch Alfred Stieglitz emd«ktc es in seinem Spärwerk aufs Neue. Er verfolgte über neun Jahre, von 1923 bis
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3. 2. FOTOGRAFISCHE MALEREI UND MALERISCHE FOTOGRAFIE
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Abb. 43. John Comtabk: Study ofCkJudJ and T,us. /82/. 24,3 x 3Ocm. London, Royal Acaaemy ofAns.
1931, Wolkenaufnahmen. die er Equiva/mtJ nanme. 88 Den Traditionalisten der pikrorialistischen Schule, die noch dem Gegenständlichen verhaftet waren. gingen diese Studien offenbar zu weit, aber Stieglitz wusste. dass sich gerade in der Abbildung des Himmels ein Augenblick des Sehens greifen lässt, der die
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Zu diesen FotOgrafien schreibt Rosalind Krauss: ..Es handelt sich um Arbeiten, die am radikalsten und nacktesten auf einem Ausschnei. dc:n beruhen, auf dc:m Effekt des, so könnte man sagen, Herausstanz.cn des Bildes aus dem kominuierlichen Gefüge eines umfusenden Himmels. [...) Nicht nur, dass der Himmel endlos ist und dass die Photographien nur einen begrenzten Teil davon zeigen. Der Himmel ist in einem wesentlichen Sinne auch nicht komponiert. Die Photographi. en vermitteln nicht SO sehr ein Gefühl von gefundener oder zut'a1liger Komposition, also des Glücks eines zut'a1ligen Arrangements; viel eher stellt sich ein Gefühl für den Wider· stand des Objekts gegenüber dem inneren Arrangemem ein. Es wird eine Irrelevanz der Komposition postuliert {...]." Rosalind Krauss: Das Photographische. Eine Theorie der Abnände. (Lc Phorographiquc:. Pour une theorie des &::ans. Paris, 1990) München: Fink, 1998, S. 134 f.
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3. DIE AUFKLARUNG DES SEHENS
Abb. 44. A~J Stülün; Equ;lIIlknr. 1930, G~wtin 1i/"," pn'nr. 9.2 x J 1,8 (711.
Wahrnehmung und die Repräsentation der Eindrücke selbst thematisiert. So berichtet er über die Rez.eption seiner Arbeiten: ~Only som~
'pictorial phOlogl';1phers' whc:n (hey came
tO
the exhibition Sttmed
the c10ud picturcs. My pholOgraphs look like pholographs - :lnd in ,heil eres (hey therefore can't be aft. (...1 My aim is increasingty ro make my phmographs look as much likc phOlOgr:tphs ,hat unless one has cycs aod sees, Ihey won't be.sttn (... 1...., IOlally blind
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Stieglin unterscheidet - ganz wie Dideror angesichts von Chardins Stillleben - in ein Alltagsauge. mit dem jeder unreflektiert sehen kann, und ein ..wahres" Auge, das uns erst durch ooummtc Bilder oder Aufnahmen gegeben bzw. zurückgegeben wird. Wieder treffen wir auf den Topos der doppelten Natur: Erst wenn sich das Auge aus der placonischen Höhle seiner ReRexe befreit, könne es sich öffnen für die zweite Natur in der Kunst. "
A1rr~
Scicglitt: How I am~ ro phorogn.ph c1ouds. (1923) Hi~r ziric.n nach Naman lyons (Hrsg.); Phorograph~rs on Phorography. Engl~ Cli#fs; Prc.nriu-HaJl, 1966. S. 112.
3. 3.
DER KONTINGENTE BUCK
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3. 3. Der kontingente Blick Wie entwickelte sich nun die Frage nach der Wahrheit von Bildern in unserem Jahrhundert weiter? Wahrheits- und Absolutheitsanspruche zeigen sich in den Avantgarden der ersten Jahrhunderthälfte allerorts, wenngleich sie in einem Maße ausgereizt und gesteigert wurden, das es zweifelhaft werden lässt, ob den Autoren das Paradox über die Unerreichbarkeit des Urbilds überhaupt noch bewusst war. Es darf daher nicht verwundern, dass in der Nachkriegszeit bzw. mit der beginnenden Postmoderne, also nachdem man das Aufgehen solcher Ansprüche in totalitären Systemen hat miterleben müssen, die Frage nach der Wahrheit offen in Verruf geriet - vor allem in der Theorie. Gerade am Beispiel der Fotografie wird deutlich, wie sehr sich Philosophie und Kunsttheorie nun weigerten, auf diesen impliziten Diskurs des Bildes überhaupt noch einzugehen. Mit dem SiegeS7.ug der semiotischen Theorien war an jene Qualitäten, die Diderot mit "magie" oder "verite" beschrieb, nicht mehr zu denken. Im Kontext der Ideologiekritik empfand man das Gelingen von visueller Oberz.eugungskraft nicht mehr als ein seltenes Gut, sondern als eine Strategie, die unsere Freiheit zu beschneiden vermag. Susan Sontag schrieb in ihren Taten über die Macht der visuellen Medien insbesondere der Fotografie die Fähigkeit zu, unsere Auffassung von der Wirklichkeit zu kontrollieren und durch entsprechende Normen zu maßregeln: ~ While
a painting or a prosc description an ncver ~ Olher man a narrowly scleaivc interpretation. a photograph an ~ trcated as a n2frowly sclcccivc tr.lOsparcncy. (... ) Therc is an aggression implicit in cvcry ~ of mc camcra. "'"
Die Verhältnisse haben sich geradezu umgekehrt: Während Diderot es noch euphorisch begrüßte, wenn ihn ein Bild in der Masse der missglückten Abbildungsversuche als ..wahr" üben.eugte, wird eben jene Qualität im Zeitalter der Massenmedien als eine Einschränkung denunziert, die uns in die Unmündigkeit zurücktreibe. Die einst gefeierte Kraft der Bilder war der Medientheorie als unkontrollierbare Macht unheimlich geworden. Wie Mary Warner Marien aus heutiger Sicht festhält, erklärt sich dieses Theorieproblem der frühen Postmoderne vor allem aus ihrer äußerst pessimistischen Vision über die Simulations- und Serialitäts-Effekte der als übermächtig empfundenen Medien: ~( ...)
in mc 1970s and the 1980s, the unique trum value assigncd lO me photographie copy or f.taimlle was rcvcrscd. Thc vicw rn.:u pholographs rcplicatcd an authentie mo"" Susan Sonag: On Photography. (1973) Ncw York.: Farrar/StrauslGirow:. 1978,6. Auflage,
S.6-7.
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3.
DIE AUFKlARUNG DES SEHENS
ment of human o::pcri~ncc txame swpcct. The notion of me simulacn., proposed by cntics such as Jean Baudrillud, inuoduced t:he ida. mat ndm~r me photograph not mau media such as 61m and television was m~ ~ of a prior-uiscing real.il)'. (... ) The concqu ofthe simulacn. undermined m~ pillars of photogn.phic originaliry: m~ connec· tion of sight and insight and me conapt of neutral vision. This inßuential poSlmod~rn position turned on a aucial diffuencc betwttn m~ o::pcrirncc of photogn.phy in its c:uJy dec:ades and me o::peri~ncc of photography in m~ en. of mass media, mal is, from me late nin~tttnm «ntury tO the presem. Simulation assumes m~ condition of mau media, with me media's unceasing reproduetion ofimagcs mat do not describc: o::tunal rca.lil)' .so much as mey refer tO om~r picrures. In me early years of photogr.lphy, how. ('Ver, the multiple was not understood as synonymow wim the copy. The copy referred to rne making of a single likeness, nOt numerow r(:productions. "'I
Im Begriff des Index suchte die Medientheorie schließlich einen Kompromiss: Man modellierte eine Definirion für das forografische Bild, die der Moriviertheit dieses uichens zwar Rechnung trägt, es aber durch die rein physikaJische Ursache-Wirkung-Beziehung wieder auf einen empirisch belegbaren und somit kontcollierbaren Vorgang reduziert. Der Terminus hatte ursprünglich mit Charles Sanders Peira Eingang in die Semiotik gefunden. Allerdings sollten wir zwischen seiner Definition, auf die wir noch zurückkommen werden. und ihrer Rezeption seit den siebziger Jahren deutlich unterscheiden. Rosalind Krauss definierte zum Beispiel den Index als eine Spur, die dem Ding ähnlich sehen kann, aber nicht muss. 92 So sieht Rauch als Index für Feuer dem Feuer keineswegs ähnlich. Das Kriterium der Ähnlichkeit, so Krauss, habe Peirce vor allem dem Ikon zugeschrieben. Ihrer Ansicht nach liegt dem Ikon jedoch nur eine subjekriv abstrahierte Ähnlichkeit zugrunde. so wie z. B. in der Beziehung einer realen Landschaft zu der über sie angefertigten Landkarte." 91
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Mary Warner Marien: Phot'ogn.phy and its Critics. A Cullural Hinory 1839-1900. umbridge, New Vork et al.: Cambridge Univmity Press, 1997, S. 41 f. So Krauss: "Indem der Index Ref~renz verminels der Spur einfühn, lässt er einen Typus von Zdchen entslehen, die dem Ding, das von ihnen r~ptäsentien wird. ähnlich sehen kllnn. Obwohl in gewissen Klassen von Indexen ein Zustand der Ähnlichkeit emhahen ist. 2.. 8. bei einem Schlagschatten, bc:i Fußabdrücken oder bei kreisrunden Ringen, die kahe Gläser auf einem Tisch hinterlassen. spielt bei :anderen Typen des Indexes, medizinischen Symptomen zum Ikispid Ähnlichkeit übc:rhaupt k~ine Rolle." ibid., S. 79. Die an dieser Stdle wieder aufgegriffene Theori~ übc:r du Indaikalische in der Kunst fonnulien~ Rosalind MUSS erstmals in: NOIes on me Indo:: Sev~nties An in America. In: Onobn-, No. 3, 19n, S. 68-81. So f.ihn sie an obiger Stelle fon: "In der Konstruktion seiner T axinomie von Zcich~n - in der die hauptsächlichen Kategorien das Symbol, der Inda und das lkon sind - wein Peit« d~m Zc:ichenryp des lkons die Verbindung rom Referenten verminds visueller Ähnlichkeit zu. Phorogn.phien ähndn natürlich ihren Rdert:nten (den Objekten, die si~ repr2sentiert:n). Man haI
3. 3. DER KONTINGENTE BUCK
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Die Ähnlichkeit des lkon sei somit weitgehend arbiträr im Verhälmis zum Refe~men - ganz im Gegensatz zum Index: .. Bei Fotografien ist die visuelle Ähnlichkeit jedoch physisch erzwungen und es ist diese formbildende Dimension, die sie indexikalisch werden lässt."904 Für Kcauss ist es allein diese indexikalische Dimension, die den Ec.hmeitscharakter des Bildes garantiert und nicht, wie gemeinhin üblich, die ikonische, die sie als subjektiv bzw. selektiv abwertet. Die Frage nach einem Höhlenausgang auch im Mimetischen bzw. Ähnlichen emf'ällt in dieser Bildmeorie somit, da nur die empirische nachweisbare Beziehung zählt. In ihrer historischen Analyse verweist Krauss schließlich auf Marcel Duchamp, dessen einßussreiche Readymades die Tendenz. eingeleitet hätten, in der Kunst des 20. Jahrhundetts
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3.
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DIE AUFKlÄRUNG DES SEHENS
sans la hamise d'ene piege par I'analogie mimecique, debarasse de I'angoisse de I'illusionisme. "97 Dubois bestätigt auch das Geschichtsmodell von Rosalind Krauss, demzufolge das dunkle Zeitalter der Mimesis. der Analogie und der Ähnlichkeit nun endgültig hinter uns liege:
a cer egard de la nation peircienne s'inscrit en fait dans un projer global dom une des lignes de fond tiem dans I'idee d'un passage de la anegorie de ['icöne aedle ~L'urilisation
de I'inde:x, passage envisage non S(:uJement comme marque historique de la modernite, mais aussi, plus generalemem. comme un deplacement mrorique, OU une esmerique (c1assique) de la mimesis. de I'analogie et de la ressemblence (l'ordre de la meraphore) cederait le pas a une esmetique de Ja trace, du contact, de la contingui're referentidIe (I'ordre de la metonymie).""
Nur warum schenken wir, wenn ein solcher Siegeszug des indexikalischen Zeichens tatsächlich scangefunden hätte, den Bildern auch heute noch einen sehr viel naiveren Glauben als den über die physikalischen Ursachen? Oder anders gefragt: Was nüCZt eine solche Theorie, wenn sich unser Mediengebrauch offenbar nicht daran halten mag? Man muss nicht erst auf den jüngst ausgerufenen "picrorial turn"99 warten, um auf alternative Theoriemodelle zu sroßen. Roland Barthes fand zum Beispiel über seinen willenclich subjektiven Ansacz der Bildbenachrung zu jenen archaischen Momenten, die durch das forografische Bild bedient werden. Vor allem in La chambr~ clAire (1979) zeigt er, dass die in der Zeichentheorie dominierende Frage nach der Referentialität von Signifikat und Signifikant sich in der Fotografie als überRüssig erweist, da das fotografische Bild seinen Referenten gewissermaßen in sich trägt: "On dirait que la Photographie emporte toujours son referent avec elle, rous deux frappes de la meme immobilite amoureuse ou funebre, au sein meme du monde en mouvement. IIs sont coll6 I'un a !'autre."loo Philippe Dubois: L'acte photographique. Paris, Brüssel: Nathan/Labor, 1983, S. 41. 9S ibid., S. 113. " Der amerikanische: Literaturwissenschafder W. J. T. Mitchell wertete: unter diesem Begriff die primitive, magische Kraft des Bildes wieder auf, die als unwürdiges Analogiedenke:n so lange abgdehm wurde:. Er war sich dabei durchaus bewusst, dass er lendich aufkonS(:rvarive Ansärzc zurückgreifen muss: ~'What do picrures want?' I'm weil aware mal [his is abizarre, perhaps even objcctionable qucstion. J'm aware that it involves a subjcctivizing ofimages, a dubious pc:rsoni6ation of inanimate: objccr.s, [hat it RittS with a regressive, supc:rstitious attirude [Oward images, one that if taken S(:riously would rerurn us to praetices Iike [Otemism, fetishism, idolatry, and animism. These praeticcs [hat most modern, enlightened people rega.rd wirh suspicion as primitive or childish in their traditional forms [... J. and as pamological symptoms in their modern manifeslarions [...1." W. J. T. MitcheII: What do picturcs really want~ In: Ocrobtr, No. 77. 1996, S. 71~82. 91
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Der Betrachter verliere dadurch das Interesse und die Distanz, noch zwischen Wahrheit und Realität zu unterscheiden: ..Suivant un ordre par:.l.doxaJ, puisque d'ordinaire on s'assure des choscs avanl de les d&:larer 'vraies', sous I'effel d'une cxperiencc nouvelle, edle de I'imensitt, j'avais induit de la virile de I'image, la rtali[e de son origine; j'avais confondu virite et rtalire dans une • . Unlque . [.... I "101 cmouon
Die Fowgrafie hat nach Barthes zwar auch eine dokumentarische Funktion, die der Wissenschaftler für seine Beschreibungen nutzen kann, aber sie arbeite noch ohne die Trennung von Subjekt und Objekt und beze:uge daher mehr als das bloße Gewesensein, nämlich eine Art von Sosein bzw. Wahrsein: "Elle accomplit la confusion inoure de la realite (..Cela a ete") et de la verite ("C'est rya.!"); elle devient a la fois constative et exclamative;"lo2 Auch Barthes fallen letztlich nur paradoxale Bilder ein, um die Überzeugungskraft der Fotografie zu beschreiben. Das festgehaltene Licht wirke trotz seiner immateriellen Natur wie eine Aeischlich-materielle Verbindung von
Auge und Bild: ..Une sone de lien ombilicaJ rdie le corps de la chosc= phorographiee a mon rcgard: la Iumihe, quoique impalpable, est bien ici un milieu charncl, une peau que je panage avcc cclui qui ~ ere pholOgraphiCIOJ
Das Abbildungsverfahren der ungesteuerten Lichtaufnahme garantiert, dass sich die Abbilder ohne den Umweg über das willkürliche Zeichen direkt in das Auge des Betrachters einbrennen - so wie das Antlitz Christi in das Schweißtuch der heiligen Veronika. Die: Fotografie erweist sich in diesem Sinne als der legitime Erbe der "vera icon", Einen treffenderen Vergleich als den einer quasikörperlichen Ve:rbindung von Gegenstand, Abbild und Betrachter mag man dabei kaum finden - ganz gleich, ob man dabei an Platons Höhlenausgang denkt, der ein wahres Sehen ohne die verfalschende Brechung der arbiträren Repräsentation anstrebt, oder ob man auf das Projekt der Aufklärung ve:rweist, die Schnittstelle zur Außenwelt über die zweite Natur des Auges zu suchen - die Metaphern bleiben stets anrropomorph. Gegenüber Rosalind Krauss' ideologischer Verweigerung der ikonischen Kraft verhält sich Barthes' Ansatz jedoch so betont subjektiv, dass die indexikalische Dimension des technischen Verfahrens kaum mehr Beachtung finden
kann. 100 Roland Banhes: La chambre daire. Notes sur la photographie. In: O~vm (omplrres, ibid., Bd. 3, Hier S. 1112. 101 ibid., S. 1163 f. 101 ibid., S. 1188. 10J ibid., S. 1166.
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3. DIE AUFKlJ..RUNG DES SEHENS
Um zu belegen. dass in der Fowgrafie heide Ebenen eigendich untrennbar und unauAösbar ineinandergreifen 1004 , können wir uns direkt auf den Begründer des dreisrufigen Modells von lkon. Index und Symbol beziehen. Als ein Haupcverrreter der pragmatischen Common-sense-Philosophie ging auch CharIes Sanders Peirce vom dem grundsätzlich amropomorphen Charakter unserer Zeichensysteme aus. lOS Neben der klassischen Zeichenrelation mit klarer, weil arbiträrer Bedeutungszuweisung behandelt Peirce das Ikon und den Index als motivierte bzw. "entartete Formen" des Zeichens {wobei das lkon bei Peirce als motivierter gilt als der Index}.l06 Das Symbol wird neben Ikon und Index noch als willkürlicher konnotierr beschrieben, da es auf kulturellen Konventionen beruht. die auch anders hänen ausfallen können. 107 Peirce liegt somit daran, die Grade der Motiviertheit von Bildern bzw. Zeichen entsprechend dem Kriterium der Arbitrarität zu unterscheiden. Wir können daran anknüpfen und fragen, welche Art von .. Höhlenausgang" die ..Entartung" des jeweiligen Zeichens anbietet: Wie kann es sich durch seine Motiviertheit als wahre Schnittstelle zur Außenwelt erweisen? Wie die Beispiele bei Peirce zeigen, kommen Index und Ikon in der Praxis nur selten in Reinform vor. Gerade die Fotografie erweist sich als das Medium, in dem beide gleichzeitig auftreten: So iSI ein Foro ein Index, weil die physiluJische Wirkung des Lichts beim Belichten eine exislentielle eins-zu-eins-Korrespondenz zwischen den Teilen des Fotos und den
1~ Zum Verhä.lmis von Ikon und Index in der Fotografie siehe auch Beat Wyss: Das indexikali-
sehe Bild. In: Fotognchichu (8dträg~ zur G~chichu und A;thuiJr tUr Fotografi~). Bd. 20, No.
76, 2000, S. 3·11. Siehe die Einleitung von Helmut Pape zu CharIes Sanders Peirce: Phänomen und l.lJgiJr d~r hichrn, hg. von Helmut Pape. Frankfun a. M.: Suhrkamp, 1983. Hier insbesondere S. 8 ff. 106 So schreibt Peirce in seinen Nnun EumrnJrn (In: ders.: Narurordnung und hichrnprozns. Schrifun üb~r !innioJiJr und NtlJurphilosophir, hg. und iiberserzt von Helmut rape. Frankfun a. M.: Suhrkamp. 1991.): ~Bei Zeichen gibl es zwei verschiedene enu.nele Formen. Aber obwohl ich ihnen diesen pejorativen Namen gebe, sind sie von größlem Nunen und dienen Zwecken, denen echle Zeichen nicht dienen können. Die entanetere der beiden Formen (so wie ich es sehe) ist das Ikon." Hier zitien nach der Quellensammlung: hichm üb" hichm. Tau zur &mioJiJr von Char/n Santkn P~irct bis Umbmo &0 und Jacqun Dl'rridtJ, hg. von Dieter Mersch. München: De. Taschenbuch Verlag, 1998. S. 41. 107 So Peirce: ..Ein Symbol ist ein Zeichen, dessen zeichenkonSlitutive Beschaffenheit ausschließlich in der TalSache besieht, dass es so interpretiert werden wird. [...] Was [...] den 12glichen Gebr.auch betrifft, ist der einzige Grund dafür. dass das WOrt die Idee zu vermitteln in der Lage ist. der, dass sich der Sprecher gewiss ist, dass es so interpretiert werden wird." Phänomen und Logik der Zeichen, ibid., S. 65 f. lOS
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T ~i1~n des Obj~kl$ h~rttcllt. und genau dies in es. was an Fotografien oft am m~ist~n geschänt wird. Doch darülKr hinaus lid~rt ein Fom ein Ikon des Obj~ktS. ind~m genau di~ Relation d~r Teil~ es zu ein~m Bild des Objdcu macht."··
Für d~n Fall d~r Focografie unt~rscheidet P~ircc somit di~ physikalische Ursach~ und di~ Ähnlichkeit ~rzcug~nde relationale Entsprtthung d~r T ~i1~. B~uacht~n wir sein~ Ddinition~n von Index und Ikon nun im Einzelnen. Zum Index hält Peirce fest: _Ein Inda: ist ein Zeichen, dessen z.eichenkoßStitutive Beschaffenheit in einer Zweiheit oder einer a:istenricllen Relation zu seinem Objekt liegt:. Ein Inda: erfordert desh:a.lb. dass sein Objekt und er selbst individuelle Existenz besinen müssen. Er witd zu einem Zeichen aufgrund des Zuf.Uls. dass er so aufgefasst wird, ein Umstand. der die Eigenschaft. die ihn erst zu einem Zeichen macht. nicht berührt. Ein Ausruf wie .Hd', ,Sag bloß!' oder ein .H:a.llo!' ist ein Index. Ein deutender Finger ist ein Inda:. Ein Krankheitssymptom ist ein Inda:. Das indizierte Objekt muss tatsächlich vorhanden sein: dies macht den Unterschied zwischen einem Inda: und einem Ikon aus. "I"
Im G~g~nsan zur Definition von Rosalind Krauss ist d~r Index nach Peirce nicht zwingend an eine physikalische Ursache-WirkunG-Beziehung gebunden. Er fasst d~n Begriff so w~it, dass er auch zu dem sprachlich~n Zeichen passt. T ron d~r Mocivi~nh~it des Aufz.eigens bleibt dem Index eine gewisse Zufallskomponente eigen: Er wird zu einem Zeichen, weil der Rezipi~nt ihn durch sein~ Erhhrung und s~in Vorwiss~n als Zeich~n zu les~n weiß. Auch in der Fotografie gilt es e:bs Verfahren zu kennen, bevor man die Abzüge als Lichtaufnahmen zu int~rpr~tieren weiß. Di~ von Rosalind Krauss als Ikon aufgeRlhne Landkarte wäre nach Peirce letztlich ein Index: Anders als im Ikon und im Symbol existiert d~r Ref~rent tatsächlich und wird aufgrund bestimm{~r Konvention~n ~ntsprechend darg~ stellt. Die fundamentale Zweiheit von Landschaft und Landkarte bedingt, dass die Karte nur als ein sicheres ..Symptom" für die Landschaft- anges~hen wird und ihr daher nicht wirklich ähnlich sieht. Das Lesen beruht hi~r auf Interpretationsprozessen, di~ nicht auf dem Sehen od~r der Anschauung beruhen, sond~rn auf vorg~wussten indexikalischen Entsprechungen. D~r durch den Index gcl~ist~te Höhlenausgang, so können wir Peirce ~rgän zen, b~ruh{ I~ndich auf d~m Prinzip d~r Empiri~: In d~r sichtbar~n Wdt wurd~n Anttichen beobachtet, di~ sich auch nach wiederholt~r Beobachrung als wahr und damit existent erwiesen haben. Auf die sich~re Abfolg~ von Ursach~ und Wirkung ist im indcxika1isch~n Zeichen somit V~rlass. 110 Phänome:n und Logik de:r Zeichen, ibid.• S. 65. telI Phänome:n und Logik de:r Zeichen, ibid.• 65. 11' Wie: Ge:orges Didi.Huberman konsequent folgen, muss daher auch das Schweißtuch der heiligen Veronika. mit dem die Tradition der "vera icon" eigentlich lKgtünde:t wurde. nach
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s.
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3. DIE AUFKLÄRUNG DES SEHENS
Dieser Beleg. dass der Referent existiert, reicht aber nicht aw um gleichzeitig zu ~ei~n. dass wir ihn SO sehen, wie er tatsächlich aussiehe. Es bedarf daher einer weiteren Dimension, die dem uichen erlaubt, dem Referenten ähnlicher zu sehen als ein Index. Bei Peirce wird dieser Aspekt in der Definition des Ikom b
Der Begriff des Ikons mag durch seine assoziative Nähe zur Ikone zunächst an das religiöse Ku\tbild denken lassen, das ebenfalls auf unsichtbare Referenten wie z. B. Götter oder Heilige verweist. Aber Peirce belegt seine Definition keineswegs mit einem Beispiel aus der Metaphysik, sondern - ganz wie Platon, Locke u. a. - durch den Rückgriff auf die Logik der Geometrie. Das lkon ist als Erstheit im Sinne des anti-empirischen Paradox zu verstehen, es konstituiert seine R~e1 bereitS in der ersten Anschauung und muss nicht erst hinsichtlich seiner verifizierenden Wiederholbarkeit beobachtet werden. Die Anschauung kann dabei rein gedanklich bzw. unsichtbar bleiben, auch wenn das zugrunde li~ende Bild trott allem nur visuell zu e~n ist. Unter Peirces "Erstheit" können wir somit die Tatsache verstehen, dass das "reine Ikon" als Idee bereits exiS[ien. bevor es als Zeichen materialisien wird, denn das Sichtbarwerden wäre im Verhälcnis zum Urbild bereitS ein an Konventionen gebundener Vorgang (oder mit Platon formuliert: ein Vorgang, Peircc: als ein Index definien werden. Das Abbild zeigt nämlich keinerlei Ähnlichkeit zu dem Referenre:n, der im Tuch sichtbare Fleck h:u weniger die Aufgabe: zu zeigen, wie Chrisrus aussah, als vidmehr seine Existenz zu bewe:isen: ..I...] iE rhere: is no figur:uion ir is bc:cause comaet has raken placc:. The noniconic. nonmimetic narutt of rhis nain guanntec:s iu indexical value:. I might add rhar me word aumenticity is cornmon ro rhe vocabulary used by Pdrce (0 describe: me index and 10 me cultural discoursc: of theologians conceming rdies (me: stain iudE is likc: a micrO-5dSton - and no less importun rot mal - in mc: gren authemic::uing process focused on me shroud ofTurin, a procc:ss mar nc:ver e:nds). Th(' absence: oE figuration mC:rdOte: sc::rvc:s as proof oE aiste:na. Cont:llet h:llving occurred, figur.uion would :IIppear hJse." Georges Didi-Hube:rm:lln: Th(' Indo: of m(' Absem Wound. (Monograph on a Stain). In: OcUJbtT, No. 29, 1984, S. 63-81. HiC=:t ziti('n nach: OcrtlbtT. TIN Fint !J«iUk, 1976-1986. hg. von Ann('ftc: Michdson, Ros:aJind Krauss. Douglas Crimp. Joan Cop;ee. Carnbridgc, London: M1T Press. 1987. S. 39-57. Hit':r S. 44. III Phinomt':n und Logik dc:r Zeich('n. ibid.• S. 64.
3. 3.
DER KONTINGENTE BUCK
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uns in die Höhle zurücktreibt}. Das lkon ist in seiner Erstheit nicht an vorgewussten oder arbiträren Vereinbarungen gebrochen. die Einsicht in das Ideogramm muss nicht erlernt werden. sie erfolgt vielmehr in der Anschauung selbst. An anderer Stelle betont Peirce zudem den zweckfreien Charakter des Ikons. Das ilichen ist gewissermaßen aus sich heraus motiviert, so dass es ohne einen Autor oder dessen Intencionen zustande kommt. es ist was es zu ba.eichnen sucht: "Ein reines Ikon ist von jedem Zweck unabhängig. Es dient ausschließlich und einfach dadurch als Zeichen, dass es die Qualidit auf..veist, die es zu bezeichnen dient. Die Beziehung zu seinem Objekt iS( eine entanete Ikziehung. Sie behauptet nichtS. Ein Ikon kann nur Fragment eines vollständigeren Zeichens sein. I... J Man dürfte bemerken, dass das Ikon im Hinblick aufdie Bezeichnung höchst vollkommen ist, bringt es doch seinen Interpreten Auge in Auge mit der bezeichneten Eigenschaft. [... ) Aber es benennt nichts. Es bietet keine Gewähr, dass so ein Objekt, wie es von ihm dargestelh wird, wirklich cxistiert."lLl
Auch bei Peirce stoßen wir auf ein Paradox: Das Ikon ist zum einen stets nur Fragment, weil es als ilichen (wie in der geometrischen ilichnung) nie vollständig bzw. seinem Sinn entsprechend sichtbar werden kann. Aber zum anderen ist es als gedanklicher Höhlenausgang auch vollkommen, weil es als Ideogramm die Gesamtheit des Gemeinten zu ueffen vermag. So wie der Rezipient bei Barthes durch eine Nabelschnur mit dem Bild verbunden war, erflihrt er es bd Peirce ".Auge in Auge". Kurzum: Die empirische Dimension des Index erfordert ein distanziert beobachtendes Erfahrungswissen, während das Ikon als anti-empirisches Urbild eben jene distanzierte Beobachtung wieder zu unterbinden weiß. Oder um auf unsere (ganz im Peirceschen Sinne: antropomorphe) Unterscheidung von der doppelten Natur des Auges zurückzukommen: Der Index arbeitet in seinen Beobachtung mit dem wissenden Alltagsauge. er kann daher einzelne Kausalitäten als gesichert nachweisen. Er bezeugt, mit Buthes ausgedrückt. vor allem das faktische Auftreten eines Symptoms: ..Cela a ete". Das Ikon hingegen spricht über das Sosein als einem ausdrücklichen Wahrscin: ..C'est l?!" Hinter diesem discanzlosen bzw. verinnerlichten Bild steckt der unschuldig interpretierende Blick des Ur-Auges, das ohne Vorwissen arbeiter. Das Ikon beruht also zunächsr auf einer Einbildung. die erst der Index als Beobachtungstcchnik an die ~mpirisch vorhandene Wirklichkeit zu koppeln vermag. Die Fotografie, die sich als gleichermaßen ikonisch wie indexikalisch erweist. belegt nicht nur die Kontingenz der Verfahren, sie nutzt diese vielmehr, um die Chancen auf einen Höhlenausgang zu erhöhen. 11l
Neue Elemente, ibid., S. 41.
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3.
OIE AUFKL\RUNG DES SEHENS
Emgegen aller Versuche der Theorie, die Focografie auf den Index bzw. das wissende Sehen zu reduzieren. hat dieses Medium den Traum des wahren Sehens nie aufgegeht:n. Gerade die Vorgeschichte seit dem 18. Jahrhundert zeigt, wie sehr ihre Ursprünge auch auf die ikonische Funktion zurückgehen, denn die Möglichkeit der indexikaJischen Lichtaufnahme war zu dieser Zeit noch nicht bekannt. Man mag nun argumentieren. dass die Frage nach der Authemiz.ität des fotografischen Bildes im Zeitalter der computergeneriercen und -simulierten Bilder endgültig ihre Berechtigung verloren hat. Doch der Bezug auf die heucige Situation macht letzdich nur eines deuclich: Es ist nie darum gegangen, wieviel der Künsder oder Aucor potemiell von sich in das Bild hätte einbringen können - dem Maler standen seit jeher alle Möglichkeiten offen zu täuschen und zu manipulieren. aber er hat davon nicht immer Gebrauch gemacht, sondern sich eben auch für die Arbeit am ..Wahren" imeressiert. Welches Verfahren man auch wählt, die Spannung von Dokumentation und Inszenierung, von Natürlichkeit und Künsdichkeit besteht letztlich immer. Auch die ..Neuen Medien" ändern daran nichts Grundsätzliches, so dass wir auch in der Kunsc der Postmoderne immer wieder auf die Topoi des focografischen Blicks stoßen. JeffWall begann zum Beispiel in den späten siebziger Jahren scheinbar unbedeutende, aber doch eigentümlich inszenierte Szenen zu focografieren (Abb. 45). Emgegen dem Eindruck von rneatralischer GesteUtheit, der sich in der Betrachtung unweigerlich einscellt, betont Wall jedoch. dass in seinen Arbeiten auch die dokumemarische Funktion, d. h. die Reportage als Abdruck eines möglichen Moments der Wirklichkeit. eine zentrale Rolle spielt: ..Dieses S(indi~ Spid zwischen journalistischem und dichterischem Schre.ibt:n. das im Grund die Geschichte der modernen Lyrik seit Bauddaire awmacht, ist Rir mich ein grundlegendes Modell daRir, wie die Fotografie funktionien. [...] Desh:alb :akzeptiere ich nicht, dem Foto subjektive Qualit2ten anzudichten, nur weil sich das fotografische M:aterial m:anipulieren lässt."lll
Mit Hilfe von Leuchtkästen, vor denen seine Aufnahmen buchstäblich zu Lichtbildern werden, verstärkt sich der Realismus-Effekt zu einer fast halluzinatorischen Qualität der Präsenz.••" Selbst wenn es Zufall sein mag, dass m ,Judd plw Falvin plw ein Fo[O." JeffWali im Gesprich mit Heinz-Norben Jodu. In: KunslfOrum inlanlllUmil4 Bd. 44, 1999. S. 230-245. Hier S. 240. 114 Das Lichtbild steht n:ach W:all gleichzeitig Air die M:a(erialitit und di~ EnuruI.tC'rialisitnmg des Bildes_ Auch in seiner Vorstellung vC'rdoppdt sich somit die Welt in der Kunst: ..ln :a painting. for e:x:a.mple, (he SOUIQ or me site of thC' im:a~ is palpa.bly in front of you_ Vou crn aetually touch the pl:acc where rne im.a~ comes from. where it is. But in :a luminesa:nt piaure me sourcc of me image is hidden :and the thing is :a dmt:aterialiud or semi-dem:aterialized projection. The sitC' from which mC' image origin:ates is alWllYS
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3. 3.
DER KONTINGENTE BUCK
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Abb. 45. lei/WalL: Imomnia. /994. /72 x 223.5 an. Hamburg. Kumtha/k.
sich auch ]efT Wall, wie einst Diderot, auf Sokrates bezieht, zeichnet sich das Weiterlehen des Topos der Autorenlosigkeit deutlich ab: Wall betont, seine Motive nicht zu planen, sondern sie zu finden. tU Auch er verweist dabei auf den materiell gesicherten Wahrheitswert von Bildern, der dem arbiträren Zeichen entgeht. 116 Dennoch wäre es wohl vermessen, seine Fotografie als e1sewnere. (...] Rimbaud said: 'Exisrence is e1sewhere', and Malevich once wrote, 'Only rhar which cannot be lOuched can be sacred'. T 0 Me. rhis aperience of rwo places, (Wo worlds. in one momenl is a cenua.l form o[(he aperience of modernity." )effWail im Gespriich mit EIs Buent!. In: )effWa.I.l: Transpuencies. New York: Riuoli,
1987, S. 99. Siehe Wall/Barems, ibid., S. 98. 116 So Wall; ..h is the meaning of rhe rypology of piClures which makes rhese signi6carions possible and objecrive. This typology is a marerial means, it's a material part of (he proccss of making picrures, nOl jusr an ubi(rary imeilecruaJization." Wa.lI/Barcnrs, ibid., S. 98.
1lS
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3. DIE AUFK1.ARUNG DES SEHENS
I
Abb.46. Wolfgang Til/mans: Stil/lift Talbot Road. 1991.
"natürlich" zu bezeichnen. WaU treibt das Paradox über den Autor noch eine Stufe weiter, er paradoxien es gewissermaßen durch eine weitere Umkehr: "The spontaneous is the most beautiful thing that can appear in a picture, but nothing in an appears less spontaneously than that. "117 Spontaneität, der wohl überzeugendste Beweis für den Rückzug des Autors, wirkt ihrerseits ..gestellt", sobald sie allzu offensichtlich von einem Künstler beabsichtigt wird. Wall unterdrückt daher in seinen Fotografien alles, was nach einer spontanen Aufnahme aussehen könnre. Er stellt die fowgra1leadäquaten Momente künstlich zusammen, indem er hinter das zurückgeht, was die leistung dieses Mediums ausmacht. Nichtsdestotrotz bedingt das Medium der Und andernortS führt er aus: "Die Fotografie ist, weil sie nach Naturgeserzen arbeitet, mit ihren viden, dem Vemehen sich enrziehenden Eigenschaften nicht konventionell. Darum is[ die Theorie der Focografie gegenüber dem, was sie reAektieren will. zu umer- oder unemwickdt. Literaturgestalten wie Somag oder Banhes versuchen, so eine Art literarisches Konstrukt um das Phantasma der Fotografie herum zu errichten. Literatur ist eine Art ParalleimodeU zu dem, was ich gerne tun möchte, beginnend mit modernen Klassikern wie Bauddaire. der mein größtes Vorbild für ein modernes poetisches Schreiben ist." Wall/Jocks, ibid.•
S. 243 f. 111
WallJBarenrs, ibid., S. 100.
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DER KONTINGENTE BUCK
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Abb. 47. Wo/fgang Ti/J/'Nlns: Jochm '1 Plau. 1997.
Fotografie, dass seine Bilder immer Ausschnitte einer vorhandenen Realität bleiben. Seine Eingriffe manipulieren das Bild nur so, dass es noch fotografischer erscheint. Wie akcudl die klassische Gattung des Sülllebens auch noch für die z.eitgenössische Fotografie sein kann, zeigen z. B. die Arbeiten von Wolfgang TiI1mans (Abb. 46-47). Es ist offensichtlich, dass er in diesen Fotografien mit den Traditionen der Malerei spielt: Das Gesims eines Chardin finden wir nun in einem Tischfurnier oder Fensterbrett, sowie auch die schlichte Anordnung der Früchte und der scheinbar zufällig angehäuften Gegenstände an die Stillleben des 18. Jahrhunderts erinnern. Tillmans verstärkt dabei das Spannungsmoment zwischen willkürlichem Vorfinden und inszeniertem Arrangement durch die Übersenung der Gegenstände in unsere Allragswelt: Er paart die klassischen Zitate zu einem vollen Aschenbecher, Hochglanzmagazinen oder einem Kaffeefilter nebst Plastikverpackung. Die Erzeugung eines Rachen bzw. a-perspektivischen Bildes, die Chardin gelang, indem er z. B. seinen Erdbeerkorb streng frontal und nicht mehr in leichter Aufsicht abbildete (Abb. 14), forciert TiI1mans noch um einen weiteren Schritt: Er fotografiert seinen Früchteteller sogar von oben (Abb. 47) und lässt damit die faktische Plastizität der Gegenstände wirksam mit dem Rachen Modus der Nahaufnahme streiten.
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3.
DIE AUFKl.J.RUNG DES SEHENS
Auch Tillmans problematisiert in seinen Inszenierungen die Frage nach der Authentizität, er spielt mit den Erwartungen seiner Betrachter, indem er sie gleichuitig bestätigt und mit Überraschungsmomenten durchsetzt. Die Fotografie wird, wie bei JeffWall, als manipulierendes Medium vorgeführt, das aber stets auch Momente des Wahren durchschimmern lässt. So äußerte sich auch Tillmans: "Obwohl ich weiß, dass die Kamera lügt, halte ich doch fest an der Idee von einer fotografischen Wahrheit."I18 Wie könnte man nun den gemeinsamen Ansatz der hier vorgestellten Bildtheorien zusammenfassen? Wie immer sich die Medien auch entwickelten, es scheint eine Grundeigenschaft des Bildes zu sein, den Betrachter durch das jeweilige Verfahren von seiner Echtheit und Rechtmäßigkeit überzeugen 1.0 wollen - in dieser Hinsicht leistet das Bild stets mehr als ein konventionel1 definiertes Zeichen. Ganz gleich ob es um den Beweis des Gewesenseins eines sichtbaren Phänomens geht oder um die Behauptung des Soseins eines eventuell sogar unsichtbaren Phänomens, ein Bild sucht seinen Anspruch auf das Richtig-Vorstellen mit eben jener Wahrheit zu begründen, die Platon für die Logik der Geometrie beansprucht hatte. Die Erfindung der Fotografie mag man dabei als die pragmatische Antwort werten, bei der Aufnahme von gesehenen Bildern ebenso neutrale und subjektlose Verfahren 1.0 verwenden wie in einer technikgestü(Zten geometrischen Zeichnung. Die Voraussetzung für die Entstehung des fotografischen Blicks waren erst im 18. Jahrhundert mit der Entdeckung der doppelten Natur des Auges gegeben: Es galt Sehprothesen zu entwickeln, die jene ursprüngliche Funktion des Auges wieder zugänglich machen, die wir durch unser selektierendes Erfahrungswissen immer schon verloren haben. Auch die modernen Abbildungstechniken sind somit nicht mehr als geläuterte Weiterentwicklungen der körpereigenen Sehapparate. Die Kultur unserer Medien, so die optimistische Vision der Aufklärung, werde die Sinneswahrnehmungen dahingehend ergänzen und verbessern, dass sie uns einen echten Höhlenausgang zur Außenwelt verschaffen können. Selbst wenn es nie möglich sein wird tatsächlich zu überprüfen, ob unsere Monaden nun offen oder geschlossen sind, suchte man die fundamentale Kontingenzerfahrung des Sehens zu nutzen: Wir sitzen nicht nur in einer Höhle, sondern sind frei zwischen unterschiedlichen Höhlen zu wählen, die im einen Fall mehr, im anderen weniger Sonnenlicht eindringen lassen. Es liegt somit allein an uns, durch die weitere Erziehung unseres Sehens schließlich doch das T ageslicht zu erblicken. In diesem Fortschrittsdenken stellt die Fotografie natürlich eine besondere Errungenschaft dar: Über die Interaktion von Index und Ikon 111
Zilien nach Hanno RaUlenberg: Perfeklionist des Hingeschludenen. In: Die Zeil, No. 47. 26. Okwber 2000, S. 47.
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3. 3. DER KONTINGENTE BUCK
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vermag sie gleich zwei Höhlenausgänge miteinander zu verbinden. Aufgrund jener Ansprüche bleibt diese Bildthcorie für die Wisscnschah jedoch cin Problcm: lhr käme es natürlich entgegen, wenn man das Bild, wie so häufig geschehen, auf einen lnda: reduzieren könnte. denn dessen Beweiskraft ist auch empirisch nachvollziehbar. Nur entfallen dann jene Qualitäten, die unseren Mediengebrauch nach wie vor entscheidend bestimmen. Will man diese Aspekte [fOtz allem miteinbeziehen, kommt man nicht umhin, sich wie Diderot, angesichts von Chardins Stil1lebcn, an die Grenzen der Beschreibbarkeit heranzuwagen.
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