JORGE LUIS BORGES
Universalgeschichte der
Niedertracht
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Historia universal de la ...
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JORGE LUIS BORGES
Universalgeschichte der
Niedertracht
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Historia universal de la infamia ———————————————————————————————————
JORGE LUIS
BORGES Universalgeschichte der Niedertracht
Erzählungen
Aus dem Spanischen von Karl August Horst, Wolfgang A. Luchting Die Übersetzungen von Karl August Horst wurden von Gisbert Haefs bearbeitet 2
Die Erzählungen des Bandes »Universalgeschichte der Niedertracht« einschließlich des Schlußabschnittes »Etcetera« wurden entnommen: Jorge Luis Borges, Gesammelte Werke, Erzählungen I, 1935-1944; © 1981 Carl Hanser Verlag München Wien. Nach der Übersetzung von Karl August Horst bearbeitet von Gisbert Haefs. Originalausgabe: »Historia universal de la infamia« (1935) in: Jorge Luis Borges, Obras Completas, Emecé Editores, Buenos Aires 1974 Die beiden Texte »Von der Strenge der Wissenschaft« und »Der edelmütige Feind«, die zu »Etcetera« gehören, wurden entnommen: Jorge Luis Borges, Gesammelte Werke, Borges und ich; © 1982 Carl Hanser Verlag München Wien. Nach der Übersetzung von Karl August Horst bearbeitet von Gisbert Haefs. Originalausgabe: »El hacedor« (1960) in: Jorge Luis Borges, Obras Completas, Emecé Editores, Buenos Aires 1974
Scan und Titelgestaltung von c0y0te
—————————————————————————————— Dieses e-Buch ist eine Privatkopie und nicht zum Verkauf bestimmt. ——————————————————————————————
Auszug aus: Jorge Luis Borges: Ausgewählte Werke in 4 Bänden ISBN 3-353-00230-8 ISBN 3-353-00231-6 Volk und Welt, Berlin 1987 für die Deutsche Demokratische Republik mit Genehmigung des Carl Hanser Verlag München Wien 3
Universalgeschichte der Niedertracht I inscribe this book to S. D.: English, innumerable and an Angel. Also: I offer her that kernel of myself that I have saved, somehow – the central heart that deals not in words, traffics not with dreams and is untouched by time, by joy, by adversities.
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Der gräßliche Erlöser Lazarus Morell Die entlegene Ursache Im Jahre 1517 bewies der Padre Bartolomé de las Casas großes Erbarmen mit den Indios, die sich in den Marterhöllen der Goldgruben auf den Antillen abquälten; er schlug dem Kaiser Karl V. vor, Neger einzuführen, die sich in den Marterhöllen der Goldgruben auf den Antillen abquälen sollten. Dieser wunderlichen Nuance eines Menschenfreundes verdanken wir eine Unmenge von Tatsachen: die Blues von Handy, den Erfolg, den in Paris der uruguayische Maler und Doktor Don Pedro Figari errang, die schöne wildwüchsige Prosa des gleichfalls uruguayischen Don Vicente Rossi, die mythologische Größe Abraham Lincolns, die fünfhunderttausend Toten im Sezessionskrieg, die dreitausenddreihundert Millionen, die an Militärpensionen ausgezahlt wurden, das Denkmal des Phantasiehelden Falucho, die Aufnahme des Verbs lynchen in die dreizehnte Ausgabe des Wörterbuches der Akademie, den stürmischen Film Halleluja, den von Soller vorgetragenen Bajonettangriff an der Spitze seiner Pardos y Morenos im Cerrito, die Anmut eines gewissen Fräulein Soundso, den Neger, den Martin Fierro ermordete, die klägliche Rumba El Manisero, den verhafteten und eingelochten Napoleonismus des Toussaint Louverture, Kreuz und Schlange auf Haiti, das Blut der von der Machete des papaloi geschlachteten Ziegen, die Habanera, Mutter des Tango, den Candombé. Außerdem: die schuldhafte und großartige Existenz des gräßlichen Erlösers Lazarus Morell.
Der Ort Der Vater der Wasser, der Mississippi, der längste Fluß der Welt, bot diesem unvergleichlichen Schurken den würdigen Schauplatz. (Álvarez de Pineda entdeckte ihn; sein erster Erforscher war der Capitán Hernando de Soto, ehemals Conquistador von Peru, der in die monatelange Haft des Inka Atahualpa Abwechslung brachte, indem er ihn das Schachspiel lehrte. Er starb, und sie gaben ihm als Grab seine Fluten.) 5
Der Mississippi ist ein breitbrüstiger Fluß; er ist ein grenzenloser und dunkler Bruder des Paraná, des Uruguay, des Amazonas und des Orinoko. Er ist ein Fluß mit mulattenfarbenen Wassern; mehr als vierhundert Millionen Tonnen Schlamm, die von ihm abgeladen werden, beleidigen jährlich den Golf von Mexiko. So viel ehrwürdiger und uralter Unrat hat mit der Zeit ein Delta geschaffen, wo auf den Schwemmresten eines ständig in Auflösung begriffenen Kontinents die gigantischen Sumpfzypressen wachsen und wo Labyrinthe von Lehm, toten Fischen und Schilfdickichten die Grenzen und den Frieden seines stinkenden Reichs immer weiter ausdehnen. An seinem Oberlauf, in der Höhe von Arkansas und Ohio, breiten sich ebenfalls flache Ländereien aus. Sie sind von einem gelbfarbenen Stamm schmächtiger Menschen bewohnt, die zum Fieber neigen und die ihre gierigen Blicke auf Steine und Eisen heften, weil es bei ihnen nichts anderes gibt als Sand, Holz und Wasser.
Die Menschen Zu Beginn des 19. Jahrhunderts (die Zeit, mit der wir es zu tun haben) wurden die ausgedehnten Baumwollpflanzungen, die sich an seinen Ufern erstreckten, von Negern bebaut, die von Sonnenaufgang bis -untergang schufteten. Sie schliefen in Hütten aus Holz auf der nackten Erde. Mit Ausnahme der Verhältnisse zwischen Mutter und Sohn waren die verwandtschaftlichen Beziehungen rein äußerlich und verworren. Namen hatten sie zwar, aber auf Zunamen konnten sie verzichten. Sie konnten nicht lesen. Mit ihrer weichen Falsettstimme sangen sie ein Englisch mit schleppenden Vokalen. Sie arbeiteten in Reihen, gebückt unter der Peitsche des Aufsehers. Sie flüchteten, und vollbärtige Männer sprangen auf schöne Pferde und hetzten sie mit starken Bluthunden. Einem Bodensatz animalischer Hoffnungen und afrikanischer Ängste hatten sie die Worte der Schrift hinzugefügt: folglich war ihr Glaube der an Christus. Sie sangen tief aus der Kehle und zu Haufen geschart »Go down, Moses«. Der Mississippi wurde ihnen zum großartigen Abbild des schmutzigen Jordan. Die Eigentümer dieser werktätigen Erde und dieser Ne6
gerhaufen waren untätige und gierige Herren mit stattlicher Mähne; sie wohnten in geräumigen Häusern, die auf den Fluß hinaussahen; jedes Haus hatte einen pseudogriechischen Portikus aus hellem Fichtenholz. Ein guter Sklave kostete sie an die tausend Dollar und hielt nicht lange durch. Einige begingen die Undankbarkeit, krank zu werden und zu sterben. Aus diesen unsicheren Kantonisten galt es in kürzester Zeit möglichst viel herauszuholen. Deshalb hielt man sie auf den Feldern vom ersten bis zum letzten Sonnenstrahl; deshalb zog man aus den Gütern eine jährliche Ernte von Baumwolle oder Tabak oder Zuckerrohr. Die Erde, müde und zerrüttet von dieser ungeduldigen Art der Bestellung, war binnen weniger Jahre vollkommen erschöpft; die verwilderte und verschlammte Wüste drang in die Pflanzungen ein. In den verlassenen Hütten, in den Vorstädten, im dichten Röhricht und in den elenden Schlammlöchern hausten die poor whites, das weiße Pack. Sie waren Fischer, umherziehende Jäger oder Viehdiebe. Von den Negern pflegten sie Brocken gestohlener Nahrung zu erbetteln; in der Erniedrigung bewahrten sie jedoch einen letzten Stolz, den Stolz auf ihr reines Blut, das ohne einen Makel, ohne eine Beimischung war. Lazarus Morell war einer von ihnen.
Der Mann Die Daguerreotypien von Morell, wie sie die amerikanischen Zeitschriften zu veröffentlichen pflegen, sind nicht authentisch. Daß es von einem so denkwürdigen und berüchtigten Mann keine echten Abbilder gibt, kann kein Zufall sein. Die Annahme ist wahrscheinlich, daß sich Morell der geschwärzten Platte verweigerte; hauptsächlich, um keine überflüssigen Spuren zu hinterlassen, nebenbei, um sein Geheimnis zu nähren ... Dennoch wissen wir, daß er als junger Mann nicht gerade anmutig war und daß seine übermäßig eng zusammenstehenden Augen und die strichschmalen Lippen nicht für ihn einnahmen. Die Jahre verliehen ihm dann jene eigene Herrscherwürde, wie sie die ergrauten Halunken und die vom Glück begünstigten und straffreien Verbrecher an sich haben. Er war ein alteingesessener Kavalier aus dem Süden, trotz seiner elenden Kindheit und seines schänd7
lichen Lebens. Er war nicht unbewandert in der Heiligen Schrift und predigte mit seltener Überzeugungskraft. »Ich habe Lazarus Morell auf der Kanzel erlebt«, vermerkt der Eigentümer eines Spielsalons in Baton Rouge, Louisiana, »ich habe seine erbaulichen Worte gehört, und ich habe Tränen in seine Augen treten sehen. Ich wußte, daß er vor Gott ein Ehebrecher, ein Negerdieb und ein Mörder war, und dennoch haben meine Augen geweint.« Ein weiteres treffendes Zeugnis für diese heiligen Ergießungen liefert uns Morell selber: »Ich schlug die Bibel aufs Geratewohl auf, stieß beim Apostel Paulus auf eine passende Stelle und predigte darüber eine Stunde und zwanzig Minuten. Crenshaw und die Kameraden ließen die Zeit auch nicht ungenutzt, denn sie stahlen sämtliche Pferde der Zuhörerschaft. Wir verkauften sie im Staat Arkansas, außer einem sehr feurigen Rotschimmel, den ich mir für meinen persönlichen Gebrauch vorbehielt. Crenshaw gefiel er auch, aber ich führte ihm vor Augen, daß er für ihn nicht tauge.«
Die Methode Die Pferde, die in einem Staat geraubt und in einem anderen verkauft wurden, stellten in der Verbrecherlaufbahn Morells kaum eine Abschweifung dar; doch bildete sich hier schon die Methode heraus, die ihm heute seinen wohlverdienten Platz in einer Universalgeschichte der Niedertracht sichert. Diese Methode steht einzig da, nicht nur wegen der Umstände sui generis, die sie bestimmten, sondern auch wegen der erforderlichen Verworfenheit, wegen des fatalen Ausnutzens von Hoffnungen, wegen der schrittweisen Durchführung, die der gräßlichen Entwicklung eines Alptraumes gleicht. AI Capone und Bugs Moran arbeiten mit ansehnlichen Kapitalien und mit dienstbaren Maschinengewehren in einer großen Stadt, aber ihr Geschäft ist gewöhnlich. Sie streiten sich um ein Monopol: das ist alles ... An Zahl waren es schließlich tausend Männer, über die Morell gebot, Männer, die alle den Schwur geleistet hatten. Zweihundert bildeten den Hohen Rat: dieser gab die Befehle aus, die die übrigen achthundert auszuführen hatten. Das Risiko fiel auf die unteren Grade. Wenn sie rebellierten, wurden sie dem 8
Gericht übergeben oder in die reißende Strömung mächtiger Flüsse geschleudert, mit einem zuverlässigen Stein an den Füßen. Häufig waren es Mulatten. Ihre ruchlose Aufgabe war folgende: Sie durchkämmten – geziert mit der Eintagspracht von Ringen, die Respekt einflößen sollten – die ausgedehnten Pflanzungen des Südens. Sie wählten einen unglücklichen Neger und boten ihm die Freiheit. Sie sagten ihm, er solle seinem Patron weglaufen und sich von ihnen ein zweites Mal verkaufen lassen, auf einem entfernten Gut. Sie wollten ihm dann einen Anteil an seinem Verkaufspreis geben und ihm zu einem weiteren Ausbruch verhelfen. Daraufhin würden sie ihn in einen freien Staat bringen. Geld und Freiheit, klingende Silberdollars samt der Freiheit: welche größere Versuchung konnten sie ihm bereiten? Der Sklave unternahm das Wagnis der ersten Flucht. Der naturgegebene Weg war der Fluß. Ein Kanu, der Kielraum eines Dampfers, ein Nachen, ein großes Floß, wie ein ganzer Himmel, mit einem Hüttchen auf dem Vorderdeck oder mit hohen Segeltuchwänden; auf den Ort kam es nicht an, sondern allein darauf, daß man sich unterwegs wußte, sicher auf dem unermüdlichen Fluß ... Sie verkauften ihn auf einer anderen Pflanzung. Er floh ein zweites Mal, ins Röhricht oder in die Steinschluchten. Dann redeten ihm seine schrecklichen Wohltäter (denen er schon zu mißtrauen begann) etwas von Unkosten vor und erklärten, sie müßten ihn ein zweites Mal verkaufen. Nach seiner Rückkehr würden sie ihm die Anteile aus beiden Verkäufen und die Freiheit geben. Der Mann ließ sich verkaufen, arbeitete eine Zeitlang und trotzte bei einer letzten Flucht der Gefahr der Bluthunde und der Peitschenhiebe. Er kam in Blut und Schweiß wieder, verzweifelt und schlafbedürftig.
Die Freiheit am Ende Man muß die juristische Seite dieser Vorgänge bedenken. Der Neger wurde von den Häschern Morells nicht verkauft, bis sein ursprünglicher Herr seine Flucht angezeigt und dem Finder eine Belohnung ausgesetzt hatte. Jedermann konnte ihn jetzt festnehmen, so daß Weiterverkauf nur ein Vertrauensbruch, kein Diebstahl war. Bei den Zivilgerichten vorstellig zu werden hieß 9
sich eine unnütze Ausgabe aufladen, da für Schäden nie Ersatz geleistet wurde. All das war so beruhigend wie möglich; jedoch nicht für alle Zeiten. Der Neger konnte den Mund auftun; der Neger, aus schierer Dankbarkeit oder Verzagtheit, war imstande, den Mund aufzutun. Ein paar Kruken Whisky in dem Bordell von Cairo, Illinois, wo dieser Sohn einer Hündin, der als Sklave zur Welt gekommen war, die schweren Silberstücke, die ihm zu geben sie keinen Anlaß hatten, vergeuden würde, und schon würde er das Geheimnis ausschwitzen. In diesen Jahren agitierte im Norden eine Partei für die Abschaffung der Sklaverei, ein Haufen gefährlicher Narren, die das Eigentum leugneten, die Befreiung der Neger predigten und sie zur Flucht anstachelten. Morell wollte sich nicht mit diesen Anarchisten verwechseln lassen. Er war kein Yankee, er war ein weißer Mann aus dem Süden, Sohn und Enkel von Weißen, und er wartete auf den Tag, da er sich von den Geschäften zurückziehen und ein Herr sein und seine meilenweiten Baumwollfelder und seine Reihen gebückter Sklaven besitzen würde. Bei seiner Erfahrung hätte er für überflüssige Risiken nichts übrig. Der Flüchtling hoffte auf die Freiheit. Daraufhin übermittelten Lazarus Morells schattenhafte Mulatten einander eine Losung, die über einen Wink nicht hinausgehen durfte, und erlösten ihn vom Sehen, Hören, Tasten, von Tag, Niedertracht, Zeit, seinen Wohltätern, dem Erbarmen, der Luft, den Hunden, dem Weltall, der Hoffnung, dem Schweiß und seinem eigenen Ich. Eine Kugel, ein tief angesetzter Messerstich oder ein Schlag, und die Schildkröten und die Barben des Mississippi empfingen die letzte Nachricht.
Die Katastrophe Solange vertrauenswürdige Männer der Sache dienten, mußte der Handel blühen. Zu Beginn des Jahres 1834 hatte Morell bereits an die siebzig Neger »emanzipiert«, und weitere schickten sich an, diesen glücklichen Vorgängern zu folgen. Das Operationsgebiet war größer geworden, und neue Mitverbündete mußten zugelassen werden. Unter denen, die den Schwur leiste10
ten, war ein junger Bursche, Virgil Stewart aus Arkansas, der bald durch seine Grausamkeit hervorstach. Dieser Bursche war der Neffe eines Grundherrn, der viele Sklaven eingebüßt hatte. Im August 1834 brach er seinen Schwur und zeigte Morell und die anderen an. Morells Haus in New Orleans wurde von der Gerichtsbehörde umstellt. Durch Unachtsamkeit oder Bestechung konnte Morell entkommen. Drei Tage vergingen. Morell hielt sich während dieser Zeit in einem alten Haus, mit Innenhöfen voller Schlingpflanzen und Statuen, in der Rue de Toulouse versteckt. Vermutlich nahm er wenig zu sich und schlich barfuß durch die großen dunklen Gemächer, nachdenklich Zigarren rauchend. Durch einen Sklaven des Hauses ließ er zwei Briefe bestellen, einen in die Stadt Natchez, den anderen nach Red River. Am vierten Tag betraten drei Männer das Haus und besprachen sich mit ihm bis zum Hellwerden. Am fünften Tag stand Morell bei Einbruch der Abenddämmerung auf, verlangte nach einem Rasiermesser und schabte sich sorgfältig den Bart. Er kleidete sich an und ging aus. Langsam und gelassen durchschlenderte er die Vorstädte im Norden. Erst als er auf freiem Feld war und die flachen Ufer des Mississippi abwanderte, schritt er rascher aus. Sein Plan war von trunkener Verwegenheit. Er wollte aus den letzten Menschen, die ihm jetzt noch Achtung schuldig waren, Nutzen ziehen: aus den versklavten Negern des Südens. Diese hatten ihre Brüder flüchten und nie zurückkommen sehen. Folglich mußten sie sie in Freiheit glauben. Morell plante einen Gesamtaufstand der Neger, die Einnahme und Plünderung von New Orleans und die Besetzung seines Territoriums. Morell, durch Verrat gestürzt und fast zerschmettert, sann auf eine kontinentale Entgegnung: eine Entgegnung, die das Verbrecherische bis zur Erlösung und zur geschichtlichen Tat emporsteigern sollte. In dieser Absicht begab er sich nach Natchez, wo sein Einfluß am größten war. Ich folge seinem Bericht von dieser Reise: »Ich ging vier Tage, ehe ich zu einem Pferd kam. Am fünften machte ich halt an einem dünnen Flußlauf, um mich voll Wasser zu trinken und Rast zu halten. Ich saß auf einem Stück Holz und schaute auf den Weg zurück, den ich in den letzten Stunden 11
gegangen war. Da sah ich einen Reiter daherkommen auf einem dunklen Pferd von gutem Schlag. Sobald ich das Pferd sah, beschloß ich, es ihm fortzunehmen. Ich trat ihm entgegen, zielte auf ihn mit einer schönen Repetierpistole und gab ihm den Befehl, abzusitzen. Er folgte dem Befehl, ich nahm die Zügel in die Linke, deutete auf den dünnen Flußlauf und befahl ihm, vorauszugehen. Er ging an die zweihundert Schritte und blieb dann stehen. Ich befahl ihm, sich auszuziehen. Er sagte zu mir: ›Da Ihr entschlossen seid, mich zu töten, laßt mich beten, bevor ich sterbe.‹ Ich antwortete ihm, ich hätte keine Zeit, mir seine Gebete anzuhören. Er fiel auf die Knie, und ich jagte ihm eine Kugel ins Genick. Ich trennte ihm mit einem Schnitt den Bauch auf, riß die Eingeweide heraus und versenkte ihn in dem Flüßchen. Dann durchsuchte ich die Taschen seiner Kleider und fand vierhundert Dollar, außerdem siebenunddreißig Cents und eine Menge Papiere, mit denen ich mich nicht weiter aufhielt. Seine Stiefel waren neu und glänzend, sie saßen mir gut. Meine eigenen, die schon sehr abgenutzt waren, versenkte ich im Flußlauf. So kam ich zu einem Pferd, das ich nötig hatte, um in Natchez einzureiten.«
Die Unterbrechung Morell, Negerhaufen anführend, die davon träumten, ihn an den Galgen zu bringen – Morell, von Negerheeren gehenkt, die er anzuführen träumte – leider muß ich bekennen, daß sich die Geschichte des Mississippi diese prächtigen Gelegenheiten entgehen ließ. Im Widerspruch zu jeder poetischen Gerechtigkeit (oder dichterischen Symmetrie) wurde nicht einmal der Fluß, der seine Verbrechen sah, sein Grab. Am 2.Januar 1835 starb Lazarus Morell an einer Lungenentzündung im Krankenhaus von Natchez, wo er unter dem Namen Silas Buckley um Aufnahme gebeten hatte. Ein Kamerad im Gemeinschaftssaal erkannte ihn. Am Zweiten und am Vierten wollten sich die Sklaven auf gewissen Plantagen erheben, doch wurden sie niedergeworfen, ohne größeres Blutvergießen.
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Der unwahrscheinliche Hochstapler Tom Castro Diesen Namen gebe ich ihm, weil er unter diesem Namen in Straßen und Häusern von Talcahuano, von Santiago de Chile und von Valparaiso um das Jahr 1850 bekannt war und es sich gehört, daß er ihn wiederum annimmt, heute, da er zurückkehrt – sei es auch nur in Gestalt eines reinen Phantasiegebildes und eines Lesezeitvertreibs am Samstagnachmittag. * Das Geburtenregister von Wapping nennt ihn Arthur Orton und verzeichnet ihn unter dem 7.Juni 1834. Wir wissen, daß er der Sohn eines Fleischers war, daß er in seiner Kindheit mit dem schäbigen Elend der Armeleuteviertel von London bekannt wurde und daß er den Lockruf des Meeres vernahm. Der Fall ist nicht ungewöhnlich. Run away to sea, auf die See Reißaus nehmen, heißt nach englischer Überlieferung soviel wie die väterliche Autorität abschütteln und die heldische Laufbahn einschlagen. Die Geographie rät dazu, aber auch die Heilige Schrift (Psalmen, 107): »Die mit Schiffen auf dem Meer fuhren und trieben ihren Handel in großen Wassern; die des Herrn Werke erfahren haben und seine Wunder im Meer.« Orton entfloh seiner kläglichen Vorstadt aus rußigem Backsteinrot und stach an Bord eines Schiffes in See; mit der üblichen Enttäuschung heftete er seinen Blick auf das Kreuz des Südens und desertierte im Hafen von Valparaiso. Er war ein Mensch von ruhiger Blödheit. Wenn es mit rechten Dingen zugegangen wäre, hätte ihn der Hungertod ereilt (ja ereilen müssen), aber seine verworrene Zutunlichkeit, sein ewiges Lächeln und seine unendliche Sanftmut gewannen ihm die Gunst einer gewissen Familie Castro, deren Namen er annahm. Von dieser südamerikanischen Episode hat sich keine Spur erhalten, aber seine Dankbarkeit wankte nicht, denn im Jahr 1861 sehen wir ihn in Australien wieder auftauchen, und zwar noch immer unter dem Namen Tom Castro. In Sydney lernte er einen gewissen Bogle kennen, einen Negerdiener. Bogle hatte, ohne gerade schön zu sein, jenes gewichtige und monumentale Diese Metapher mag den Leser daran erinnern, daß diese ruchlosen Biographien zuerst in der Samstagsbeilage eines Abendblatts erschienen. *
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Auftreten, jene massive, an technische Geräte erinnernde Standfestigkeit, wie sie der männliche Neger annimmt, wenn er in die Jahre kommt und Fleisch und Autorität ansetzt. Er hatte eine weitere Veranlagung, die bestimmte ethnographische Handbücher seiner Rasse abgesprochen haben: den genialen Einfall. Den Beweis dafür werden wir später sehen. Er war ein zahmer und gesitteter Mann, dessen ursprünglich afrikanische Triebnatur eine reichliche, ja überreichliche Dosis calvinistischer Frömmigkeit arg herabgedämpft hatte. Abgesehen von den Heimsuchungen des Gottes (die wir später schildern werden), war er vollkommen normal, ohne daß bei ihm sonst etwas aus der Ordnung fiel als eine schamhafte, aber überwältigende Furcht, die ihn vor Straßenkreuzungen stocken ließ, von Osten, von Westen, von Süden und Norden das gewalttätige Fahrzeug fürchtend, das seinem Leben ein Ende setzen würde. Orton erblickte ihn eines Abends an einer windschiefen Straßenecke in Sydney, wie er sich Mut machte, den imaginären Tod zu umgehen. Nachdem er ihn lange Zeit betrachtet hatte, bot er ihm den Arm, und beide überquerten tief erstaunt die harmlose Straße. Von diesem Augenblick eines bereits verstrichenen Spätnachmittags an kam es zur Begründung einer Schirmherrschaft, die der lebensunsichere und kolossale Neger über den dicken Tolpatsch aus Wapping ausübte. Im September 1865 lasen beide in einer Tageszeitung einen verzweifelten Aufruf.
Der über alles geliebte Tote In den späten Apriltagen des Jahres 1854 (während Orton die überschwengliche Gastfreundschaft Chiles, die weitherzig ist wie seine Patios, herausforderte) sank auf den Wassern des Atlantik der Dampfer Mermaid, von Rio de Janeiro kommend, mit Kurs auf Liverpool. Unter denen, die umkamen, befand sich Roger Charles Tichborne, ein englischer, in Frankreich aufgewachsener Offizier, Majoratserbe einer der ersten katholischen Familien Englands. So unglaublich die Tatsache erscheinen mag, aber der Tod dieses französisch angehauchten Jünglings, der sein Englisch mit dem elegantesten Pariser Akzent sprach und jenes unvergleichliche Neidgefühl erweckte, wie es nur französische Intelligenz, Anmut und Pedanterie hervorzurufen vermögen, 14
wurde im Schicksal Ortons, der ihn nie mit Augen gesehen hatte, zu einem Ereignis von weittragender Bedeutung. Lady Tichborne, Rogers von Grauen versteinerte Mutter, weigerte sich, an den Tod ihres Sohnes zu glauben, und erließ in den meistverbreiteten Blättern verzweifelte Aufrufe. Einer dieser Aufrufe fiel in die sammetweichen grabdunklen Hände des Negers Bogle, der einen genialen Plan ausheckte.
Die Vorzüge der Ungleichheit Tichborne war ein schlanker junger Lord von sehniger Gestalt, mit scharfgeschnittenen Zügen, bräunlicher Gesichtsfarbe, schwarzem, glattem Haar, lebhaften Augen und einer geradezu belästigend gestochenen Ausdrucksweise; Orton war ein aufgeschwemmter Fettsack, schmerbäuchig, mit Gesichtszügen von grenzenloser Verschwommenheit, einer leicht speckigen Gesichtshaut, geringeltem kastanienbraunem Haar, schläfrigen Augen und einer abwesenden oder wirren Konversation. Bogle hatte den Einfall, es sei Ortons Pflicht, das erste nach Europa auslaufende Schiff zu besteigen und Lady Tichbornes Hoffnung zu stillen, indem er sich als ihr Sohn ausgab. Der Plan war irrsinnig fein ausgedacht. Ich wähle ein naheliegendes Beispiel. Wenn im Jahr 1914 ein Hochstapler darauf verfallen wäre, sich als der deutsche Kaiser auszugeben, wäre das erste, was er sich zugelegt hätte, der aufgezwirbelte Schnurrbart, der gelähmte Arm, die Herrschermiene, der graue Umhang, die erlauchte, mit Orden gespickte Brust und der hohe Helm gewesen. Bogle war scharfsinniger: er hätte einen bartlosen Kaiser ohne militärische Auszeichnungen und Ehrenadler und mit einem linken Arm von unzweifelhaft heiler Beschaffenheit zur Schau gestellt. Führen wir den Vergleich nicht weiter aus; wir wissen jedenfalls, daß er einen schwabbeligen Tichborne mit dem liebenswürdigen Lächeln eines Schwachkopfs, kastanienbraunem Haar und einer unverbesserlichen Unkenntnis der französischen Sprache vorführte. Bogle wußte, daß ein vollkommenes Faksimile des heißersehnten Roger Charles Tichborne unmöglich zu beschaffen war. Er wußte auch, daß alle erreichbaren Ähnlichkeiten gewisse unvermeidliche Unterschiede nur um so stärker hervorheben würden. So verzichtete er denn auf jede Ähnlichkeit. Er ahnte voraus, daß die 15
ungeheure Albernheit des Ansinnens ein überzeugender Beweis dafür sein würde, daß es sich nicht um einen Betrug handelte, bei dem man nie auf derart flagrante Art die einfachsten Überzeugungsmerkmale außer acht gelassen hätte. Auch darf nicht die allmächtige Kollaboration der Zeit übersehen werden; vierzehn Jahre, in der südlichen Hemisphäre und auf gut Glück verbracht, können einen Menschen verändern. Ein weiteres grundlegendes Motiv: die wiederkehrenden unsinnigen Aufrufe von Lady Tichborne bewiesen, daß sie voll überzeugt war, Roger Charles sei nicht gestorben, daß sie willens war, ihn wiederzuerkennen.
Die Begegnung Tom Castro, immer zuvorkommend, schrieb an Lady Tichborne. Um seine Identität zu erhärten, berief er sich auf das einschlägige Erkennungsmal – zwei Leberflecke in der Gegend der linken Brustwarze – sowie auf jenes zwar betrübliche, aber doch so denkwürdige Erlebnis aus seiner Kindheit, als ihn ein Bienenschwarm überfallen hatte. Die Mitteilung war knapp und sah Tom Castro und Bogle insofern ähnlich, als sie sich über Bedenklichkeiten der Rechtschreibung hinwegsetzte. In der stattlichen Öde eines Pariser Hotels las die Dame den Brief und las ihn immer wieder unter seligen Tränen; binnen weniger Tage fand sie auch die Erinnerungen, um die ihr Sohn sie bat. Am 16. Januar 1867 meldete sich Roger Charles Tichborne in ebendem Hotel an. Ihm voran schritt sein respektvoller Diener, Ebenezer Bogle. Es war ein sonnendurchfluteter Wintertag; die altersmüden Augen Lady Tichbornes waren tränenverschleiert. Der Neger öffnete die Fenster weit. Das Licht diente als Maske: die Mutter erkannte den verlorenen Sohn wieder und schloß ihn in die Arme. Jetzt, da sie ihn in Fleisch und Blut wieder hatte, bedurfte sie nicht mehr des Tagebuchs und der Briefe, die er ihr aus Brasilien geschickt hatte: bloße vergötterte Reflexe, die ihre Einsamkeit in vierzehn düsteren Jahren genährt hatten. Sie gab sie ihm voll Stolz zurück: kein einziger Brief fehlte. Bogle lächelte mit feiner Zurückhaltung; hielt er doch jetzt in Händen, was dem friedfertigen Gespenst Roger Charles' als 16
verbriefter Nachweis dienen konnte.
Ad majorem Dei gloriam Dieses glückselige Wiedererkennen – das einer Tradition der klassischen Tragödie gerecht zu werden scheint – sollte diese Geschichte krönen, indem es drei Glückseligkeiten verbürgte oder zumindest wahrscheinlich machte: die der leiblichen Mutter, die des apokryphen und duldsamen Sohnes, die des Anstifters, dessen Lohn die providentielle Verklärung seiner Kunstfertigkeit darstellte. Das Schicksal (so nennen wir das unendliche, nie aufhörende Zusammenwirken von Tausenden und Abertausenden ineinander verhäkelter Ursachen) hatte es anders beschlossen. Lady Tichborne starb im Jahr 1870; ihre Verwandten erhoben Anklage gegen Arthur Orton wegen Erbschleicherei. Zwar arm an Tränen und Einsamkeit, aber nicht an Begehrlichkeit, glaubten sie keinen Augenblick an den fetten und fast analphabetischen Verlorenen Sohn, der aus Australien so ungelegen wieder aufgetaucht war. Orton rechnete auf die Unterstützung der zahllosen Gläubiger, die beschlossen hatten, er sei Tichborne, um durch ihn zu ihrem Geld zu kommen. Ebenso rechnete er auf die Freundschaft des Rechtsanwalts der Familie, Edward Hopkins, sowie auf die des Antiquars Francis J. Baigent. Doch war das immer noch nicht ausreichend. Bogle war der Meinung, daß, um die Partie zu gewinnen, die Gunst einer starken Strömung im Volk unumgänglich nötig sei. Er verlangte nach seinem Zylinder und dem zukömmlichen Regenschirm und begab sich, nach einer rettenden Idee fahndend, auf die ehrbaren Straßen von London. Es ging auf den Abend zu; Bogle wanderte umher, bis ein honiggelber Mond sich im rechteckigen Wasser der öffentlichen Brunnen verdoppelte. Der Gott suchte ihn heim. Bogle winkte eine Droschke heran und ließ sich zur Wohnung des Antiquars Baigent fahren. Dieser schickte an die Times einen langen Brief, in dem er versicherte, der angebliche Tichborne sei ein unverschämter Betrüger. Den Brief unterzeichnete Pater Goudron von der Societas Jesu. Weitere gleichfalls papistische Denunzierungen folgten. Die Wirkung war durchschlagend. Die guten Leute verhehlten sich nicht länger, daß Sir Roger Charles die Zielscheibe eines abscheulichen Komplotts der Jesuiten war. 17
Der Wagen Hundertundneunzig Tage dauerte der Prozeß. An die hundert Zeugen versicherten an Eides Statt, daß der Angeklagte Tichborne sei – unter ihnen vier Waffenkameraden des sechsten Dragonerregiments. Seine Anhänger wiederholten unaufhörlich, er sei kein Betrüger, denn wäre er einer, hätte er gewiß nicht versäumt, die Jugendbildnisse seines Modells zu retuschieren. Überdies hatte Lady Tichborne ihn wiedererkannt, und es ist sonnenklar, daß eine Mutter sich nicht täuscht. Alles ging soweit gut – oder mehr oder weniger gut –, bis eine frühere Geliebte Ortons vor den Schranken erschien, um auszusagen. Bogle brachte dieses perfide Manöver des Familienanhangs nicht aus der Fassung. Er verlangte nach Zylinder und Regenschirm und begab sich, um eine dritte Erleuchtung flehend, auf die ehrbaren Straßen von London. Kurz bevor er Primrose Hill erreichte, holte ihn der schreckliche Wagen ein, der ihn aus der Tiefe der Jahre verfolgte. Bogle sah ihn kommen, stieß einen Schrei aus, fand jedoch keine Rettung. Er wurde mit Wucht gegen die Steine geschleudert. Die schlenkernden Hufe des Kleppers spalteten ihm den Schädel.
Das Gespenst Tom Castro war das Gespenst Tichbornes, ein armes Gespenst jedoch, das von Bogles Genie behaust war. Als man ihm sagte, dieser sei tot, fiel er in sich zusammen. Er fuhr fort zu lügen, aber mit nur geringer Begeisterung und mit unsinnigen Widersprüchen. Das Ende war leicht vorauszusehen. Am 27. Februar 1874 wurde Arthur Orton (alias Tom Castro) zu vierzehn Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Im Gefängnis machte er sich beliebt; er konnte eben nicht anders. Seine musterhafte Aufführung trug ihm einen Straferlaß von vier Jahren ein. Als ihn diese letzte gastliche Stätte – das Gefängnis – im Stich ließ, durchzog er die Dörfer und Landstädte des Vereinigten Königreichs und hielt kleine Vorträge, in denen er entweder seine Unschuld beteuerte oder seine Schuld bekannte. Seine Bescheidenheit und sein Verlangen, es allen recht zu machen, 18
waren so eingewurzelt, daß er an vielen Abenden mit der Verteidigung anfing und mit dem Geständnis aufhörte, wie es der Neigung des Publikums jeweils entsprach. Am 2. April 1898 starb er.
Die Witwe Tsching, Seeräuberin Das Wort Korsarin läuft Gefahr, eine etwas unbehagliche Erinnerung zu wecken: die Erinnerung nämlich an eine schon verblaßte Operette, mit ihren Aufzügen unverkennbarer Dienstmädchen, die sich als choreographische Piratinnen auf ausgesprochen pappenen Meeren tummelten. Gleichwohl hat es Korsarinnen gegeben: Frauen, die sich im Matrosenhandwerk auskannten, die viehische Besatzungen zu regieren und hochbordige Schiffe zu jagen und zu plündern verstanden. Eine von ihnen war Mary Read, die einmal erklärte, daß der Piratenberuf nicht für jedermann tauge und daß man, um ihn würdig auszuüben, ein beherzter Mann sein müsse wie sie. In den rauhen Anfängen ihrer Laufbahn, als sie noch nicht Kapitän war, wurde einer ihrer Liebhaber von einem Raufbold an Bord beschimpft. Mary forderte ihn zum Duell und schlug sich mit ihm zweihändig, wie es auf den Inseln des Karibischen Meeres seit alters her der Brauch ist: die eindringliche, unsichere Reiterpistole in der Linken, den treuen Säbel in der Rechten. Die Pistole versagte, aber der Degen hielt sich wacker ... Um das Jahr 1720 machte ein spanischer Galgen der riskanten Laufbahn Mary Reads ein Ende, und zwar in Santiago de la Vega (Jamaica). Eine andere Piratin dieser Meere war Anne Bonney, eine prachtvolle Irin mit hohen Brüsten und unbändigem Haar, die mehr als einmal beim Entern von Schiffen ihre Haut zu Markte trug. Sie war eine Waffengefährtin von Mary Read und am Ende ihre Galgengefährtin. Ihr Liebhaber, der Kapitän John Rackam, hatte bei dieser Verrichtung ebenfalls seinen Hals in der Schlinge. Anne bedachte ihn verächtlich mit der bitterbösen Variante jener 19
Anschuldigung, die Aixa gegen Boabdil erhob: »Wenn du dich geschlagen hättest wie ein Mann, würden sie dich nicht henken wie einen Hund.« Mehr Glück und längeres Leben hatte eine Piratin, die in den Gewässern Asiens operierte, vom Gelben Meer bis zu den Flüssen an der Grenze von Annam. Ich spreche von der kriegerischen Witwe Tsching.
Die Lehrjahre Um das Jahr 1797 gründeten die Aktionäre der zahlreichen Piratengeschwader dieses Meeres ein Konsortium und ernannten zum Admiral einen gewissen Tsching, einen redlichen und bewährten Mann. Dieser verfuhr bei der Plünderung der Küsten derart streng und mustergültig, daß die entsetzten Bewohner mit Geschenken und Tränen kaiserliche Hilfe erflehten. Ihr klägliches Bittgesuch blieb nicht ungehört: sie erhielten Befehl, ihre Dörfer in Brand zu stecken, ihr Fischerhandwerk zu vergessen, landeinwärts zu ziehen und eine unbekannte Wissenschaft mit Namen Ackerbau zu erlernen. So taten sie, und die geprellten Eindringlinge fanden nur noch verödete Küsten. Sie mußten sich infolgedessen auf Schiffsüberfälle umstellen: ein Raubgeschäft, das noch schädigender war als das vorhergehende, da es den Handel ernstlich beeinträchtigte. Die kaiserliche Regierung handelte unverzüglich: sie wies die ehemaligen Fischer an, Pflug und Joch aufzugeben und Ruder und Netze wieder instand zu setzen. Die Fischer empörten sich, worauf sich die Behörden zu einer anderen Verfahrensweise entschlossen: sie ernannten den Admiral Tsching zum Kaiserlichen Hofstallmeister. Dieser wollte die Bestechung annehmen. Die Aktionäre erfuhren es noch rechtzeitig, und ihre tugendhafte Entrüstung fand Ausdruck in einem Teller giftiger, in Reis gekochter Raupen. Der Leckerbissen wurde ihm zum Verhängnis; der ehemalige Admiral und jetzige Kaiserliche Hof Stallmeister übergab seine Seele den Gottheiten des Meeres. Die Witwe, aus der dieser doppelte Verrat einen anderen Menschen gemacht hatte, versammelte die Piraten, erklärte ihnen den verwickelten Fall und beschwor sie, die trügerische Milde des Kaisers und den undankbaren Dienst an 20
Aktionären, die zur Giftmischerei neigten, abzuschütteln. Sie schlug ihnen vor, auf eigene Rechnung zu kapern und einen neuen Admiral zu wählen. Die Wahl fiel auf sie. Sie war eine sehnige Frau mit schläfrigen Augen und schadhaftem Lächeln. Das schwarzgefärbte und geölte Haar hatte mehr Glanz als die Augen. Ihren ruhigen Befehlen folgend, schnellten die Schiffe der Gefahr und der hohen See entgegen.
Das Kommando Dreizehn Jahre methodischen Abenteurerlebens folgten. Aus sechs Geschwadern bestand die Flotte, und jedes hatte eine andersfarbige Flagge: es gab das rote, das gelbe, das grüne, das schwarze, das braune Geschwader und das mit dem Schlangenzeichen, das das Schiff der Kapitänin führte. Die Anführer nannten sich: Vogel und Stein, Zuchtrute des Morgenwassers, Mannschaftsjuwel, Welle mit vielen Fischen und Hohe Sonne. Das Reglement, das die Witwe Tsching eigenhändig verfaßte, ist von unbeugsamer Strenge, und sein gerader und lakonischer Stil ist bar jener hinfälligen rhetorischen Blüten, die dem chinesischen Amtsstil eine geradezu lächerliche Hoheit verleihen, wofür wir hier ein paar beunruhigende Beispiele anführen werden: Alle von Bord feindlicher Schiffe übernommenen Güter sollen in ein Lager geschafft und dort registriert werden. Der fünfte Teil dessen, was jeder einzelne Pirat beibringt, wird ihm daraufhin überlassen werden; der Rest soll im Lager verbleiben. Die Verletzung dieser Anordnung ist der Tod. Dem Piraten, der ohne ausdrückliche Erlaubnis seinen Posten verläßt, sollen zur Strafe die Ohren öffentlich durchbohrt werden. Der Rückfall in dieses Vergehen ist der Tod. Der Verkehr mit den in den Dörfern geraubten Frauen ist an Deck verboten; er soll sich auf den Kielraum beschränken, jedoch nie ohne Erlaubnis, des Steuermanns. Die Verletzung dieser Anordnung ist der Tod.
Berichten Gefangener zufolge bestand die Kost der Piraten in der Hauptsache aus Zwieback, dicken gemästeten Ratten und gekochtem Reis; an Kampftagen pflegten sie Pulver in ihren Alkohol zu mischen. Karten und falsche Würfel, das Glas und das rechteckige Spielbrett des Fan Tan, die Visionen verheißende 21
Opiumpfeife und das Lämpchen waren ihr Zeitvertreib. Zwei Degen, die gleichzeitig geführt wurden, waren ihre bevorzugten Waffen. Bevor sie ein Schiff enterten, rieben sie sich die Backenknochen und den Körper mit einem Absud von Knoblauch ein: zuverlässiger Talisman gegen die Kränkungen der Feuermäuler. Die Mannschaft fuhr mit ihren Frauen; der Kapitän jedoch mit seinem Harem, der fünf oder sechs Häupter zählte und bei Siegen aufgefrischt zu werden pflegte.
Es spricht Kia-King, der junge Kaiser Um die Mitte des Jahres 1809 wurde ein kaiserliches Edikt erlassen, von dem ich den ersten und den letzten Teil wiedergebe. Viele übten Kritik an seinem Stil: Männer, unselig schadenstiftend, Männer, die das Brot mit Füßen treten, Männer, die nicht auf das Geschrei der Steuereinnehmer und der Waisen hören, Männer, in deren Unterkleidern der Phönix und der Drache abgebildet sind, Männer, die die Wahrheit der gedruckten Bücher leugnen, Männer, die in fließenden Tränen den Nordstern spiegeln lassen, suchen das Glück unserer Flüsse heim und das alte Vertrauen in unsere Meere. Auf halbwracken und fährlichen Barken trotzen sie Tag und Nacht dem Sturm. Nicht in wohlwollender Absicht tun sie dies: auch sind sie nicht und waren nie die echten Freunde des Schiffers. Weit davon entfernt, ihm ihren Beistand zu leihen, greifen sie ihn vielmehr mit grimmigster Wucht an und überantworten ihn dem Ruin, der Verstümmelung oder dem Tod. Sie verletzen damit die natürlichen Gesetze des Weltalb, so daß die Flüsse über die Ufer treten, das Küstenland ertrinkt, die Kinder sich gegen ihre Eltern kehren und die Urgesetze von Feuchte und Dürre verstört sind ... ... Darum beauftrage ich dich mit der Züchtigung, Admiral Kwo-lang. Sei eingedenk, daß die Milde ein kaiserliches Attribut ist und daß es Anmaßung seitens eines Untertanen wäre, nach ihr zu trachten. Sei grausam, sei gerecht, sei gehorsam, sei siegreich.
Der beiläufige Hinweis auf die halbwracken Barken war natürlich falsch. Bezweckt war, den Mut der Expedition Kwolangs zu heben. Neunzig Tage später maßen sich die Streitkräfte der Witwe Tsching mit denen des Reiches der Mitte. Fast tausend Schiffe kämpften von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Ein gemischter Chor von Glocken', Trommeln, Kanonenschüssen, Flüchen, Gongs und Prophezeiungen begleitete das Gefecht. Die Streitmacht des Reichs wurde zersprengt. Weder die untersagte 22
Gnade noch die empfohlene Grausamkeit fanden Gelegenheit, zum Zuge zu kommen. Kwo-lang vollzog einen Ritus, den unsere geschlagenen Generäle zu unterlassen belieben: den Selbstmord.
Die angstverstörten Ufer Dann segelten die sechshundert Kriegsdschunken und die vierzigtausend siegreichen Piraten der hochfahrenden Witwe die Mündung des Sikiang hinauf, wobei sie backbords und steuerbords eine Vielzahl von Bränden, schrecklichen Feiern und Waisen schufen. Es wurden ganze Dörfer dem Boden gleichgemacht. In einem einzigen überstieg die Zahl der Gefangenen tausend. Einhundertundzwanzig Frauen, die den wirren Schutz der nahen Schilfdickichte und Reisfelder aufgesucht hatten, verriet das nicht zu beschwichtigende Weinen eines Kindes; sie wurden später in Macao verkauft. Wenn auch aus der Ferne, kamen die jammervollen Tränen und die Trauer dieser Ausplünderung Kia-King, dem Sohn des Himmels, zu Ohren. Es gibt Geschichtsschreiber, die behaupten, daß sie ihn weniger schmerzten als die Niederlage seiner Strafexpedition. Fest steht, daß er eine zweite ausrüstete, starrend von Standarten, Matrosen, Soldaten, Kriegsgerät, Vorräten, Wahrsagern und Astrologen. Das Kommando fiel diesmal Ting-Kwei zu. Diese schwerfällige Masse von Schiffen wälzte sich das Delta des Sikiang hinauf und sperrte dem Piratengeschwader die Durchfahrt. Die Witwe rüstete sich zur Schlacht. Sie wußte, daß es ein schwerer, bitterschwerer, fast verzweifelter Kampf sein würde. Nächte und Monde des Plünderns und der Muße hatten ihre Männer erschlaffen lassen. Es kam nie zur Schlacht. Gelassen stieg die Sonne empor, gelassen senkte sie sich wieder über dem schauernden Röhricht. Die Männer und die Waffen hielten Wache. Die Mittage waren übermächtig, die Ruhestunden endlos.
Der Drache und die Füchsin Doch stiegen allabendlich träge Schwärme luftig schwebender Drachen von den Schiffen des kaiserlichen Geschwaders auf und sanken anmutig auf das Wasser und auf die feindlichen Decks 23
herab. Es waren hauchdünne Gebilde aus Papier und Rohr, Kometen ähnlich, und ihre versilberte oder rote Oberfläche wies immer die gleichen Schriftzeichen auf. Die Witwe untersuchte besorgt diese regelmäßig auftauchenden Meteore und las auf ihnen die langwierige und verworrene Fabel von einem Drachen, der allezeit eine Füchsin beschirmt hatte, trotz ihrer großen Undankbarkeit und ihrer beständigen Freveltaten. Der Mond am Himmel wurde schmal, und die Gebilde aus Papier und Rohr zogen jeden Abend mit der gleichen Geschichte auf, die sich kaum merklich abwandelte. Die Witwe wurde betrübt und nachdenklich. Als der Mond voll war, am Himmel und in dem rötlichen Wasser, schien die Geschichte ihrem Ende zuzugehen. Niemand vermochte vorauszusagen, ob eine schrankenlose Vergebung oder eine schrankenlose Strafe auf die Füchsin niedergehen würde; aber das unvermeidliche Ende nahte. Die Witwe begriff. Sie warf ihre beiden Degen in den Fluß, kniete sich in ein Boot und gab Befehl, sie zu dem Schiff des kaiserlichen Kommandanten zu bringen. Es war die Dämmerstunde des Abends: der Himmel war voller Drachen, diesmal von gelber Farbe. Die Witwe murmelte einen Satz: »Die Füchsin sucht die Schwinge des Drachen«, sagte sie, als sie an Bord stieg.
Die Apotheose Die Chronisten berichten, daß die Füchsin Verzeihung erlangte und daß sie ihr zähes Alter dem Opiumschmuggel widmete. Sie hörte auf, Die Witwe zu sein; sie legte sich einen Namen bei, der übersetzt lautet: Leuchtglanz der wahrhaftigen Unterweisung. Von jenem Tag an (heißt es bei einem Geschichtsschrei ber) kamen die Barken wieder zu ihrem Frieden. Die vier Meere und die zahllosen Flüsse waren wieder sichere und glückhafte Wege. Die Bauern konnten die Schwerter verkaufen und Ochsen dafür einhandeln, um ihre Äcker zu bestellen. Sie brachten Opfer dar, sprachen huldigende Gebete auf den Gipfeln der Berge und hatten am Tag singend ihre Lust hinter Wandschirmen.
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Der Schandtatenmakler Monk Eastman Die aus diesem Amerika Scharf umrissen von blaßblauen Wänden oder einem hohen Himmel tanzen zwei Compadritos, eingegossen in schwarzes Tuch, auf Weiberschuhen einen äußerst ernsten Tanz, den Tanz der gleichen Messer, bis von einem Ohr die Nelke abspringt, weil das Messer in einen Menschen gefahren ist, der mit seinem waagerechten Tod den Tanz ohne Musik beschließt. Entsagungsvoll stülpt sich der andere den Sombrero auf und verbringt seine alten Tage damit, von diesem so sauberen Zweikampf zu erzählen. Dies ist die eingehende und umfassende Geschichte unserer Schurken. Die Geschichte der streitbaren Männer von New York ist schwindelerregender und gröber.
Die aus dem anderen Die Geschichte der Banden von New York (ans Licht gebracht von Herbert Ashbury im Jahre 1928 in einem prächtig ausgestatteten Band von 400 Seiten Oktav) ist verworren und grausam wie barbarische Kosmogonien und hat viel von deren gigantischer Geistlosigkeit; unterirdische Gewölbe ehemaliger Bierbrauereien, geeignet als Mietskasernen für Neger, ein rachitisches New York von drei Stockwerken Höhe, Räuberbanden wie diet Swamp Angels (Sumpfengel), die zwischen Kloakenlabyrinthen marodierten; Räuberbanden wie die Daybreak Boys (Tagesanbruch-Jungs), die frühreife Mörder von zehn und elf Jahren aufnahmen; einzelgängerische und tolldreiste Riesenkerle wie die Plug Uglies (Fiese Rowdies), die das unwahrscheinliche Gelächter des Nächsten mit der steifen, mit Wolle ausgestopften Melone und dem vom Wind der Vorstadt geblähten, weitfaltigen Hemd hervorriefen, aber in der rechten Hand einen Knüppel und die gründliche Pistole hatten; Räuberbanden wie die Dead Rabbits (Tote Kaninchen), die unter einem gepfählten Kaninchen als Feldzeichen die Schlacht aufnahmen; Männer wie Johnny Dolan, der Dandy, der berühmt war durch die eingeölte Tolle auf seiner Stirn, durch die Spazierstöcke mit 25
Affenkopf und die sinnreiche Vorrichtung aus Kupfer, die er über den Daumen zu ziehen pflegte, um die Augen des Gegners auszuquetschen; Männer wie Kid Burns, der imstande war, mit einem einzigen Biß eine lebende Ratte zu köpfen; Männer wie Blind Danny Lyons, ein blonder Junge mit riesigen toten Augen, Zuhälter dreier Huren, die stolz für ihn auf den Strich gingen; Reihen von Häusern mit roter Laterne, so das Haus jener sieben Schwestern aus New England, die, was am Weihnachtsabend einkam, für mildtätige Zwecke spendeten; Kampfplätze für ausgehungerte Ratten und Hunde; chinesische Spielhöllen; Weiber wie die rühmlich bekannte Witwe Red Norah, Geliebte und Trophäe aller Männer, die der Bande der Gophers vorstand; Weiber wie Lizzie the Dove, die Trauerkleider anzog, als Danny Lyons hingerichtet wurde, und der Gentle Maggie, die ihr die alte Leidenschaft für den toten blinden Mann streitig machte, die Gurgel durchschnitt; Aufstände, wie der einer wildbewegten Woche des Jahres 1863, wobei sie hundert Gebäude in Brand steckten und sich um ein Haar der Stadt bemächtigt hätten; Straßenkämpfe, bei denen der einzelne wie in einem Meer unterging, weil sie ihn zu Tode trampelten; Diebe und Pferdevergifter wie Yoske Nigger – aus alldem webt sich diese chaotische Geschichte zusammen. Ihr berühmtester Held ist Edward Delaney, alias William Delaney, alias Joseph Marvin, alias Joseph Morris, alias Monk Eastman, Anführer von zwölfhundert Männern.
Der Held Diese Stufenleiter fingierter Namen (verwirrend wie ein Spiel mit Masken, bei dem man nie weiß, welche welche ist) unterschlägt seinen eigentlichen Namen – wenn wir so weit gehen, so etwas für menschenmöglich zu halten. Fest steht, daß im standesamtlichen Register von Williamsburg, Brooklyn, der Name Edward Ostermann lautet, der später zu Eastman amerikanisiert wurde. Befremdlich ist die Tatsache, daß dieser unheilstiftende Bösewicht hebräischer Abkunft war. Er war der Sohn eines jener Gastwirte, die an ihrem Lokal das Zeichen für koscher anbringen und wo Männer mit Rabbinerbärten das ausgeblutete, dreimal gereinigte Fleisch nach ritueller Vorschrift 26
abgestochener Kälber ohne Gefährdung zu sich nehmen können. Im Alter von neunzehn Jahren, gegen 1892, eröffnete er mit Hilfe seines Vaters eine Vogelhandlung. Die Lebensweise der Tiere aufzuspüren, ihre kleinen Beschlüsse und ihre unerforschliche Unschuld zu beobachten war eine Leidenschaft, die ihm bis ans Ende blieb. In späteren Glanzepochen, als er verächtlich die Sandblattzigarren der schmierigen Sachems vom Tammany zurückwies oder die besten Bordelle in einem Automobil, das wie der natürliche Sohn einer Gondel aussah, abgraste, machte er ein zweites, aber falsches Geschäft auf, das hundert edle Katzen und mehr als vierhundert Tauben beherbergte – die jedoch nicht käuflich waren. Er liebte jedes Tier und pflegte zu Fuß ihr Gehege zu durchwandern, auf dem Arm eine beglückte Katze, mit andern, die ihm eifersüchtig nachstrichen. Er war ein zerrütteter und riesenhafter Mann. Der Nacken war gedrungen wie bei einem Stier, die Brust unbezwinglich, die Arme streitbar und lang, das Nasenbein gebrochen, das Gesicht, obwohl von Narben gezeichnet, nicht so bedeutend wie der Körper, die Beine gekrümmt wie die eines Reiters oder Seemanns. Auf ein Hemd konnte er ebenso leicht verzichten wie auf einen Rock, nicht jedoch auf ein schmieriges Hütchen, das auf seinem zyklopischen Schädel thronte. Die Menschen pflegen sein Andenken. Im äußeren Auftreten ist der konventionelle Filmgangster eine Kopie von ihm, nicht von dem grobschlächtigen und aufgeschwemmten Capone. Von Wolheim wird gesagt, sie hätten ihn für Hollywood engagiert, weil seine körperliche Erscheinung unmittelbar auf die des unvergessenen Monk Eastman anspielte ... Dieser pflegte seinen Räuberdistrikt mit einer blaugefiederten Taube auf der Schulter zu durchstreifen, genau so wie ein Stier, dem ein Fink auf dem Rücken sitzt. Um das Jahr 1894 gab es in der Stadt New York eine Überfülle öffentlicher Tanzsalons. Eastman war beauftragt, in einem von ihnen für Ordnung zu sorgen. Die Legende berichtet, daß der Impresario ihn nicht annehmen wollte und daß Monk seine Tauglichkeit unter Beweis stellte, indem er mit Getöse das Riesenpaar, das den Posten bisher versehen hatte, zu Boden schmetterte. So hielt er die Stellung bis 1899, gefürchtet und allein. 27
Für jeden Krakeeler, den er zum Schweigen brachte, schnitzte er mit dem Messer eine Kerbe in den derben Knüppel. Eines Abends fesselte eine spiegelnde Glatze, die sich über ein Glas Bier neigte, seine Aufmerksamkeit, und mit einem Hieb fällte er den Träger. »Mir fehlte eine Marke an fünfzig!« rief er hinterher aus.
Die Herrschaft Von 1899 an war Eastman nicht nur berühmt. Er war der erkorene Häuptling einer wichtigen Zone und bezog stattliche Einkünfte von den Häusern mit roter Laterne, den Spielhöllen, den Straßendirnen und den Räubern dieses unsauberen Lehnsgebiets. Die Komitees holten seinen Rat ein, wenn größere Raubzüge zu organisieren waren, aber auch Einzelverbrecher wandten sich an ihn. Dies waren seine Honorare: 15 Dollar ein abgerissenes Ohr, 19 ein gebrochenes Bein, 25 ein Beinschuß, 25 ein Messerstich, 100 das komplette Geschäft. Manchmal führte Eastman, um nicht aus der Übung zu kommen, einen Auftrag persönlich durch. Eine Grenzfrage (heikel und mißliebig wie jene anderen, die das internationale Recht auf die lange Bank schiebt) brachte ihn in Gegensatz zu Paul Kelly, dem berühmten Hauptmann einer anderen Bande. Mit Kugelwechseln und Spähtruppgefechten hatte man eine Grenze festgelegt, Eastman überschritt sie eines Morgens und wurde von fünf Männern angegriffen. Mit seinen Affenarmen und mit dem Knüppel brachte er drei zur Strecke, aber sie jagten ihm zwei Kugeln in den Unterleib und ließen ihn für tot liegen. Eastman drückte die Wunde mit Daumen und Zeigefinger zusammen und taumelte wie ein Betrunkener zum nächsten Hospital. Das Leben, das hohe Fieber und der Tod machten ihn sich mehrere Wochen lang streitig, aber seine Lippen erniedrigten sich nicht dazu, irgendeinen anzugeben. Als er wieder draußen war, herrschte offener Krieg und blühte in ständigen Gefechten bis zum 19. August 1903.
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Die Schlacht von Rivington An die hundert Helden, die sich kaum von den Photographien, die in den Handbüchern verbleichen, unterschieden, an die hundert von Tabak- und Alkoholdunst durchdrungene Helden, an die hundert Helden in Strohhüten mit farbigem Band, an die hundert Helden, mehr oder weniger an Geschlechtskrankheiten, Zahnfäule, Erkrankungen der Atemwege oder der Nieren leidend, an die hundert Helden, so unbedeutend oder strahlend wie die von Troja oder Junín, lieferten diese geschwärzte Waffentat im Schatten der Pfeilerbogen des Elevated. Ursache war der Tribut, den Kellys Pistolenmänner dem Impresario einer Spielhölle, einem Kumpan Monk Eastmans, abverlangten. Einer der Pistolenmänner wurde getötet, und die anschließende Schießerei wuchs sich zu einer Schlacht ungezählter Revolver aus. Aus der Deckung der hohen Pfeiler schossen Männer mit rasiertem Kinn stillschweigend; sie bildeten das Zentrum eines aufgewühlten Horizonts von Mietdroschken, befrachtet mit kampfdurstigen Reserven und Colt-Artillerie in den Fäusten. Was empfanden die Hauptpersonen dieser Schlacht? Erstens (glaube ich) standen sie unter dem brutalen Eindruck, daß der irrsinnige Lärm von hundert Revolvern sie im nächsten Augenblick zunichte machen würde; zweitens (glaube ich) unter dem Eindruck der nicht minder irrigen Sicherheit, daß, wenn die erste Salve sie nicht niederstreckte, sie unverwundbar seien. Soviel ist sicher, daß sie mit Inbrunst kämpften hinter dem Schanzwerk aus Eisen und Nacht. Zweimal mischte sich die Polizei ein, und zweimal schlugen sie sie zurück. Im ersten Morgengrauen erlosch der Kampf, als sei er anstößig oder gespenstisch. Unter den hohen Bogen aus Eisengerüsten blieben sieben Schwerverwundete liegen, vier Leichen und eine tote Taube.
Knistern im Gebälk Die Gemeindepolitiker, denen Monk Eastman zu Diensten war, leugneten vor der Öffentlichkeit stets ab, daß derartige Banden existierten, oder erklärten, es handle sich um bloße Freizeitvereine. 29
Die indiskrete Schlacht von Rivington alarmierte sie. Sie beorderten die beiden Häuptlinge zu sich, um ihnen die Notwendigkeit eines Waffenstillstandes nahezulegen. Kelly (der sehr wohl wußte, daß die Politiker mehr als alle Colts der Welt geeignet waren, die Polizeiaktion versanden zu lassen) sagte auf der Stelle ja. Eastman (mit der Überheblichkeit seines gewaltigen rohen Körpers) dürstete nach mehr Detonationen und Gefechten. Er stellte sich bockig, weigerte sich, und man mußte ihm mit Gefängnis drohen. Schließlich hielten die beiden berühmten Verbrecher in einer Bar eine Konferenz ab, jeder mit einer Sandblattzigarre im Mund, die Rechte am Revolver und umringt vom Schwarm wachsamer Pistolenschützen. Sie kamen zu einer amerikanischen Entscheidung: den Ausgang des Streits einem Box-Match zu überlassen. Kelly war ein außerordentlich gewandter Boxer. Das Duell fand in einem Schuppen statt und war haarsträubend. Hundertundvierzig Zuschauer nahmen daran teil, darunter Kerle mit verknautschter Mütze und Weiber mit verwegen aufgetürmter Frisur. Es währte zwei Stunden, und beide waren am Schluß völlig ausgepumpt. In der Woche darauf knatterten wieder die Schießereien. Monk wurde verhaftet – zum x-ten Male –, seine Schirmherren sagten sich erleichtert von ihm los; der Richter prophezeite ihm in aller Ehrlichkeit zehn Jahre Gefängnis.
Eastman gegen Deutschland Als der noch immer verblüffte Monk aus Sing-Sing entlassen wurde, hatten sich die zwölfhundert Räuber seines Kommandos in alle Winde zerstreut. Er konnte sie nicht wieder zusammenkriegen und beschied sich damit, auf eigene Rechnung zu operieren. Am 8. September 1917 verursachte er auf offener Straße einen Tumult. Am 9. beschloß er, an einem anderen Tumult teilzunehmen, und schrieb sich bei einem Infanterieregiment ein. Wir kennen ein paar Einzelheiten seines Feldzugs. Wir wissen, daß er die Festnahme von Gefangenen leidenschaftlich mißbilligte und daß er einmal (mit dem nackten Gewehrkolben) diese beklagenswerte Praktik unterband. Wir wissen, daß es ihm glückte, aus dem Lazarett auszubrechen und in den Schützen30
graben zurückzukehren. Wir wissen, daß er sich in den Kämpfen bei Montfaucon auszeichnete. Wir wissen, daß er später die Ansicht äußerte, gewisse Tänzchen in der Bowery seien wilder als der ganze europäische Krieg.
Das mysteriöse logische Ende Am 25. Dezember 1920 kam der Körper Monk Eastmans in einer der Straßen der New-Yorker City zum Vorschein. Er hatte fünf Kugeln abbekommen. In glücklicher Unkenntnis des Todes umstrich ihn einigermaßen verdutzt eine Katze gewöhnlichster Sorte.
Der uneigennützige Mörder Bill Harrigan Das Bild der Landflächen Arizonas vor jedem anderen Bild: das Bild der Landflächen Arizonas und Neu-Mexikos, Landflächen mit einem berühmten Untergrund von Gold und Silber, schwindelerregende und luftige Landflächen, Landflächen der monumentalen Hochebene und der zarten Farben, Landflächen mit dem weißen Schimmer von Gebein, das die Vögel abgeschält haben. Auf diesen Landflächen ein anderes Bild, das Bild von Billy the Kid: der Reiter, verwachsen mit seinem Pferd, der junge Bursche mit den harten Pistolenschüssen, die die Wüste betäuben, der Entsender unsichtbarer Kugeln, die auf Distanz töten wie ein Zauber Die von Metallen geäderte Wüste, brach und gleißend. Der fast knabenhafte Jüngling, der, als er mit einundzwanzig Jahren starb, der irdischen Gerechtigkeit einundzwanzig Menschenleben schuldig war – »Mexikaner nicht eingerechnet«. 31
Der Larvenzustand Um das Jahr 1859 wurde der Mann, der zu Schrecken und Ruhm Billy the Kid werden sollte, im Souterrain einer NewYorker Mietskaserne geboren. Es heißt, daß der erschöpfte Schoß einer Irin ihn gebar, doch wuchs er unter Negern auf. In diesem Durcheinander von Negerschweiß und Kraushaar genoß er das Vorrecht, das Sommersprossen und ein rötlicher Schopf verleihen; Er tat sich etwas darauf zugute, daß er weiß war; im übrigen war er ausgemergelt, ungebärdig und niederträchtig. Mit zwölf Jahren war er in der Bande der Swamp Angels (Sumpfengel) tätig, Gottheiten, die zwischen den Kloaken ihr Wesen trieben. In Nächten, wenn der Nebel brandig roch, tauchten sie aus diesem stinkenden Labyrinth auf, folgten dem Kurs irgendeines deutschen Matrosen, legten ihn mit einem Schlag auf den Kopf um, zogen ihn bis auf die Unterwäsche aus und verfügten sich daraufhin wieder zu dem anderen Unrat. Ihr Anführer war ein ergrauter Neger, Gas Houser Jonas, der auch als Vergifter von Pferden einen Namen hatte. Zuweilen kippte aus der Dachluke eines buckligen Hauses dicht am Wasser eine Frau über dem Kopf eines Passanten einen Aschenkasten aus. Der Mann zappelte und rang nach Luft. Sogleich umschwärmten ihn die Sumpfengel, zerrten ihn in eine Kellermündung und raubten ihn aus. So stand es um die Lehrjahre Bill Harrigans, des künftigen Billy the Kid. Er verschmähte nicht die Darbietungen der Bühne; es machte ihm Spaß (wohl ohne die leiseste Vorahnung, daß es Symbole und Lettern seines Schicksals waren), den Melodramen von Cowboys beizuwohnen.
Go West! Wenn die überfüllten Theater der Bowery (deren Besucher bei der geringsten Unpünktlichkeit des Vorhangziehers »Hoch mit dem Lappen!« brüllten) von diesen Reiter- und Pistolenstücken wimmelten, so ist die Ursache dafür ganz einfach die, daß Amerika damals dem Zug nach dem Westen erlag. Jenseits der Sonnenuntergänge war das Gold von Nevada und Kalifornien, 32
war die Axt, die die Zedern fällte, war das gewaltige babylonische Haupt des Bison, der Sombrero und das vielzahlige Lager von Brigham Young, waren die Feierbräuche und der Zorn des Roten Mannes, die klare Luft der Wüsten, die spröde Grassteppe, die Erde in ihrer Urgestalt, deren Nähe unser Herz höher schlagen läßt wie die Nähe des Meeres. Der Westen rief. Ein anhaltendes taktmäßiges Geräusch erfüllte jene Jahre: es waren die Schritte von Tausenden amerikanischer Männer, die den Westen in Besitz nahmen. In diesem voranrückenden Zug befand sich um das Jahr 1872 auch der immer geschmeidige Bill Harrigan, der aus einer rechteckigen Zelle Reißaus genommen hatte.
Vernichtung eines Mexikaners Die Geschichte (die in ihrem Fortschreiten ähnlich wie gewisse Filmregisseure mit zusammenhanglosen Bildern arbeitet) versetzt uns jetzt in eine verrufene Schenke, die in der allgewaltigen Wüste verloren wie auf hoher See liegt. Die Zeit: eine unpäßliche Nacht des Jahres 1873; der genaue Ort: der Llano Estacado (NeuMexiko). Die Erde ist fast übernatürlich glatt, der Himmel jedoch, mit abgestuften Wolkenschichten, mit Sturm- und Mondfetzen, ist voll bröckelnder Brunnen und Gebirgsmassen. Am Boden liegt der Schädel einer Kuh; Gebell und Augenfunkeln von Kojoten im Finstern, edle Pferde und das verlängerte Licht der Schänke. Drinnen, mit den Ellenbogen auf die einzige Theke gestützt, trinken müde und stämmige Männer einen aufrührerischen Alkohol und prahlen mit großen Silbermünzen, die mit einem Adler und einer Schlange geprägt sind. Ein Betrunkener singt unbekümmert. Einige sprechen ein Idiom mit vielen S-Lauten; es muß Spanisch sein, da man die Männer, die es sprechen, verachtet. Bill Harrigan, die rötliche Ratte aus der Mietskaserne, ist unter den Trinkenden. Er hat ein paar Glas Branntwein geschluckt und denkt daran, sich ein weiteres geben zu lassen, vielleicht weil er keinen Cent mehr in der Tasche hat. Er ist ganz erschlagen vom Anblick der Männer dieser Wüste. Er sieht sie in ihrer Furchtbarkeit, ihrem Ungestüm, ihrem Glück, er sieht sie abscheulich geschickt im Umgang mit störrischem Viehzeug und hohen Pferden. Plötzlich tritt lautlose Stille ein, von der nur das sinnlose 33
Gegröle des Betrunkenen nichts weiß. Ein mehr als stattlicher Mexikaner mit dem Gesicht einer alten Indiofrau ist hereingekommen. Er protzt mit einem ausladenden Sombrero und zwei Pistolen an seinen Seiten. In hartem Englisch wünscht er allen Gringos, Söhnen von Hündinnen, die da trinken, einen guten Abend. Keiner nimmt die Herausforderung an. Bill fragt, wer das sei, und man flüstert ihm ängstlich zu, der Dago – der Diego – sei Belisario Villagrán aus Chihuahua. Gleich darauf erfolgt eine Detonation. Aus der Deckung hinter der Sperrkette hochgewachsener Männer hat Bill auf den Eindringling gefeuert. Das Glas fällt aus Villagráns Faust; dann fällt der ganze Mann. Der braucht keine weitere Kugel. Ohne den prächtigen Toten eines Blickes zu würdigen, nimmt Bill den Schwatz von vorher wieder auf: »Is that so?« näselt er, »na, ich bin Bill Harrigan aus New York.« Der Betrunkene singt nach wie vor, sinnlos. Der abschließende Höhepunkt ist leicht zu erraten. Bill nimmt Händedrücken und Schmeichelworte entgegen, Hurrarufe und Whiskies. Einer bemerkt, daß sein Revolver noch kein Zeichen hat, und schlägt ihm vor, er solle eines hineinritzen, um den Tod Villagráns zu vermerken. Billy the Kid nimmt zwar das Schnappmesser des Betreffenden entgegen, aber er sagt: »Es lohnt sich nicht, Mexikaner zu notieren.« Das genügt wohl noch nicht. In dieser Nacht breitet Bill seine Decke neben der Leiche aus und schläft bis zum Morgengrauen – aus Angabe.
Tote, jawohl! Diese glückliche Detonation (im Alter von vierzehn Jahren) war die Geburtsstunde von Billy the Kid, dem Helden, und die Sterbestunde des verstohlenen Bill Harrigan. Das Bürschchen aus der Kloake und der Kopfschlägerei stieg zu einem Mann von der Grenze auf. Er wurde ein Reiter; er lernte gerade zu Pferde sitzen, nach der Art von Wyoming und Texas, nicht mit zurückgelehntem Oberkörper, nach der Art von Oregon und Kalifornien. Nie glich er voll und ganz seiner Legende, doch kam er ihr näher. Etwas von dem New-Yorker Strolch lebte in dem Cowboy fort; er übertrug auf die Mexikaner den Haß, den ihm vordem die Neger eingeflößt hatten; aber die letzten Worte, die er sprach, waren 34
Worte (Schimpfworte) auf spanisch. Er erlernte die schweifende Kunst der Herdentreiber; er erlernte die andere, schwierigere Kunst, Männern zu befehlen. Beide Künste verhalfen ihm dazu, daß ein guter Viehräuber aus ihm wurde. Zuweilen rissen ihn die Gitarren und Bordelle Mexikos hin. Mit der gräßlichen Klarsicht der Schlaflosigkeit veranstaltete er volkreiche Orgien, die vier Tage und Nächte währten. Zum Schluß beglich er angeekelt die Rechnung mit Pistolenschüssen. Solange ihm der Abzughahn treu blieb, war er der meistgefürchtete (und vielleicht der größte Niemand und einsamste) Mann dieser Grenze. Garrett, sein Freund, der Sheriff, der ihn später tötete, sagte einmal zu ihm: »Ich habe sehr gut treffen gelernt beim Abschießen von Büffeln.« – »Ich noch besser beim Abschießen Von Menschen«, entgegnete Billy sanftmütig. Die Einzelumstände sind unwiederbringlich dahin, aber wir wissen, daß er einundzwanzig Tote auf dem Gewissen hatte – »Mexikaner nicht eingerechnet«. Sieben lebensgefährliche Jahre hindurch betrieb er diesen Luxus: den Mut. Am Abend des 25. Juli 1880 ritt Billy im Galopp auf seinem Falben durch die Haupt- oder einzige Straße von Fort Sumner. Die Hitze drückte, und man hatte die Lampen noch nicht angezündet. Der Kommissar Garrett, in einem Schaukelstuhl in einem Hausflur sitzend, zog den Revolver und jagte ihm eine Kugel in den Bauch. Der Falbe lief weiter, der Reiter stürzte auf die ungepflasterte Straße. Garrett verpaßte ihm eine zweite Kugel. Das Volk (wohlwissend, daß der Verwundete Billy the Kid war) verbarrikadierte die Fenster. Der Todeskampf war lang und lästerlich. Als die Sonne schon hoch stand, wagten sie sich heran und entwaffneten ihn; der Mann war tot. Sie bemerkten an ihm jenes verfallene Aussehen, das die Verstorbenen haben. Sie rasierten ihn, steckten ihn in fertiges Zeug und stellten ihn zu Abscheu und Spott im Schaufenster des besten Ladens aus. Männer zu Pferde oder im Tilbury strömten meilenweit aus der Umgebung herbei. Am dritten Tag mußten sie ihn schminken. Am vierten Tag bestatteten sie ihn unter Jubel.
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Der unhöfliche Zeremonienmeister Kotsuké no Suké Der Schändliche in dieser Geschichte ist der unhöfliche Zeremonienmeister Kotsuké no Suké, ein unseliger Hofbeamter, der Erniedrigung und Tod des Herrn des Turms von Ako bewirkte und sich nicht wie ein Ritter das Leben nehmen wollte, als die gebührende Rache ihn bedrohte. Er ist ein Mann, dem alle Männer dankbar sein müssen, weil er kostbare Bekundungen der Treue hervorrief und die schwarze, notwendige Ursache eines unsterblichen Unterfangens wurde. An die hundert Romane, Monographien, Dissertationen und Opern gedenken des Vorfalls – zu schweigen von dem Überschwang an Porzellan, gemasertem Lapislazuli und Lack. Ja, selbst das willfährige Zelluloid dient ihm, insofern als die Lehrhafte Geschichte von den Vierzig und Sieben Hauptleuten – so ist sie benannt – der am häufigsten behandelte Stoff der japanischen Filmproduktion ist. Der eingehende Ruhm, den diese flammende Anteilnahme bezeugt, ist mehr als nur vertretbar: er ist für jeden unmittelbar als gerecht kenntlich. Ich folge dem Bericht von A. B. Mitford, der die ständigen Abschweifungen, die durch Lokalkolorierung bewirkt werden, außer acht läßt und sich lieber an den Fortgang der glorreichen Episode hält. Dieses löbliche Fehlen von »Orientalismus« läßt vermuten, daß es sich um eine direkte Übersetzung aus dem Japanischen handelt.
Die aufgegangene Schleife Im entschwundenen Frühling des Jahres 1702 mußte der erlauchte Herr des Turms von Ako einen kaiserlichen Gesandten bei sich aufnehmen und ehrenvoll bewirten. Zweitausenddreihundert Jahre höfischer Gepflogenheiten (einige davon mythischen Datums) hatten das Empfangszeremoniell beängstigend kompliziert. Der Gesandte repräsentierte den Kaiser, jedoch nach Art einer Anspielung oder eines Symbols: eine Nuance, die weder 36
zu überladen noch abzuschwächen schicklich war. Um Irrtümern vorzubeugen, die gar leicht verhängnisvoll werden konnten, reiste ihm ein Beamter des Hofs von Yedo in der Eigenschaft eines Zeremonienmeisters voraus. Weitab von der Bequemlichkeit des Hoflebens und zu einem hinterwäldlerischen Landaufenthalt verurteilt, der ihm wie eine Verbannung erscheinen mußte, erteilte Kira Kotsuké no Suké mürrisch seine Anweisungen. Zuweilen ging sein belehrender Ton bis zur Unverschämtheit. Sein Schüler, der Herr des Turms, gab sich Mühe, diese Faxen nicht zu beachten. Er wußte nichts auf sie zu erwidern, und die Zucht verbot ihm jede Heftigkeit. Eines Morgens jedoch löste sich am Schuh des Meisters die Schleife, und dieser forderte ihn auf, sie wieder zu schlingen. Der Ritter tat es mit Demut, jedoch voll unterdrückter Empörung. Der unhöfliche Zeremonienmeister sagte ihm, er sei wahrscheinlich unverbesserlich; nur ein Bauerntölpel sei imstande, einen derart plumpen Knoten hinzupfuschen. Der Herr des Turms zog das Schwert und versetzte ihm einen Hieb. Der andere floh, die Stirn kaum gezeichnet von einem dünnen Blutfaden ... Nach Tagen erließ das Kriegstribunal seinen Spruch gegen den Verletzer und verurteilte ihn zum Selbstmord. Im mittleren Burghof des Turms von Ako errichtete man ein Sitzgerüst aus rotem Filz, und darauf zeigte sich der Verurteilte öffentlich, und man reichte ihm ein goldenes, juwelengeschmücktes Messer, und er bekannte seine Schuld und entkleidete sich bis zum Gürtel und öffnete sich den Bauch mit den zwei rituellen Schnitten und starb wie ein Samurai, und die Zuschauer, die am weitesten entfernt standen, sahen kein Blut, weil der Filz rot war. Ein ergrauter Mann enthauptete ihn mit dem Schwert: der Rat Kura-nosuké, sein Onkel.
Der Heuchler der Schande Der Turm des Takumi no Kami wurde konfisziert, seine Hauptleute zersprengt, seine Familie zugrunde gerichtet und mit Schimpf bedeckt, sein Name der Schande preisgegeben. Ein Gerücht will wissen, daß in derselben Nacht, als sich der Herr tötete, siebenundvierzig seiner Hauptleute auf dem Gipfel eines 37
Berges berieten und bis in alle Einzelheiten planten, was ein Jahr später zur Ausführung kam. Soviel steht fest, daß sie sich gebührend Zeit lassen mußten und daß eine ihrer Beratungen nicht auf dem unzugänglichen Gipfel eines Berges, sondern in einer Kapelle in einem Wald, einem schlichten Pavillon aus ungestrichenem Holz, stattfand, ohne anderen Schmuck als den rechteckigen Kasten, der einen Spiegel birgt. Sie begehrten Rache, aber die Rache mußte ihnen unerreichbar scheinen. Kira Kotsuké no Suké, der verhaßte Zeremonienmeister, hatte sein Haus befestigt, und ein Schwarm von Bogenschützen und Schwertfechtern bewachte seine Sänfte. Er verließ sich auf unbestechliche Spione, gewissenhaft und verschwiegen. Keiner wurde von ihnen so überwacht wie der mutmaßliche Anführer der Rächer: Kuranosuké, der Rat. Dieser kam zufällig dahinter und gründete auf diese Wachsamkeit seinen Racheplan. Er verzog nach Kyoto, einer Stadt, die von keiner im ganzen Reich in der Farbe der Herbste übertroffen wird. Er trieb sich in den Freudenhäusern, den Spielhöllen und den Schänken herum. Trotz seiner weißen Haare rieb er sich vertraulich an Huren und an Dichtern und an noch schlimmerem Gelichter. Einmal stießen sie ihn aus einer Schänke, und als es Tag wurde, lag er auf der Schwelle, das Haupt in einer Lache von Erbrochenem. Ein Mann aus Satsuma erkannte ihn und sprach zu ihm mit Trauer und Zorn: Ist dieser etwa nicht jener Rat von Asano Takumi no Kami, der ihm sterben half und der, statt seinen Herrn zu rächen, sich der Lust und der Schande hingibt? O du, unwürdig des Namens Samurai! Er trat ihm mit dem Fuß in das schlafende Gesicht und spie darauf. Als die Spitzel ihm diese Tatenlosigkeit hinterbrachten, empfand Kotsuké no Suké große Erleichterung. Es blieb nicht dabei. Der Rat stieß seine Frau und den jüngsten seiner Söhne von sich und kaufte sich eine Geliebte im Freudenhaus, eine Tat, die so schändlich war, daß der Feind in seinem Herzen darüber frohlockte und in seiner ängstlichen Vorsicht nachließ. Und zwar entschloß er sich, die Hälfte seiner Wächter zu verabschieden. In einer der grimmig kalten Nächte des Jahres 1703 trafen sich die siebenundvierzig Hauptleute auf Verabredung in einem 38
verwilderten Garten in der Nähe von Yedo, nahe bei einer Brücke und der Spielkartenfabrik. Sie erschienen mit den Fahnen ihres Herrn. Bevor sie zum Sturm antraten, ließen sie die Nachbarn wissen, daß es sich nicht um einen Überfall handle, sondern um ein militärisches Unternehmen von strikter Gerechtigkeit.
Die Narbe Zwei Trupps stürmten den Palast von Kira Kotsuké no Suké. Der Rat befehligte den ersten, der gegen das Eingangsportal vorging; den zweiten führte sein ältester Sohn, der vor der Vollendung seines siebzehnten Lebensjahres stand und der in dieser Nacht starb. Die Geschichte kennt die einzelnen Augenblicke dieses so genau durchdachten Alptraums: das riskant pendelnde Absteigen an Strickleitern, den Trommelwirbel des Angriffs, die überstürzte Hast der Verteidiger, die auf dem Dach postierten Bogenschützen, die schnurgerade Bahn der Pfeile in die lebenswichtigen Organe des Menschen, das vom Blut geschändete Porzellan, den glühenden Tod, der hernach eiskalt ist, die Schamlosigkeiten und Wirren des Sterbens. Neun Hauptleute fielen; die Verteidiger standen an Tapferkeit nicht zurück und wollten sich nicht ergeben. Kurz nach Mitternacht hörte jeder Widerstand auf. Kira Kotsuké no Suké, die schimpfliche Ursache dieser Treuetat, kam nicht zum Vorschein. Sie suchten nach ihm in allen Winkeln des aufgestörten Palastes und verzweifelten schon daran, ihn aufzufinden, als der Rat bemerkte, daß die Decken seines Lagers noch warm waren. Sie begaben, sich aufs neue ans Suchen und entdeckten ein schmales Fenster, das hinter einem Bronzespiegel verborgen war. Von unten, aus einem finsteren kleinen Hof, sah ein weißgekleideter Mann zu ihnen auf. Ein schwankender Degen war in seiner Rechten. Als sie hinunterstiegen, ergab sich der Mann kampflos. Über seine Stirn lief eine Narbe: die alte Zeichnung des Stahls von Takumi no Kami. Da warfen die blutbedeckten Hauptleute sich dem Abscheulichen zu Füßen und sagten ihm, sie seien die Dienstmannen des Herrn des Turms, an dessen Verderben und dessen Ende er 39
die Schuld trage, und baten ihn, er solle sich umbringen, wie es einem Samurai gezieme. Vergebens schlugen sie diese ehrenvolle Lösung seiner knechtischen Seele vor. Er war ein Mann, bei dem die Ehre keinen Zutritt hatte; am frühen Morgen mußten sie ihm die Kehle durchschneiden.
Das Zeugnis Nach der Befriedigung ihrer Rache (jedoch ohne Zorn und ohne Erregung und ohne Mitleid) begeben sich die Hauptleute zu dem Tempel, der die sterblichen Überreste ihres Herrn birgt. In einer Schüssel führen sie das unwahrscheinliche Haupt des Kira Kotsuké no Suké mit sich und nehmen sich seiner abwechselnd an. Sie durchqueren die Felder und die Provinzen im ehrlichen Licht des Tages. Die Menschen segnen sie und vergießen Tränen. Der Fürst von Sendai will sie gastlich aufnehmen, doch geben sie ihm zur Antwort, daß schon seit nahezu zwei Jahren ihr Herr ihrer harre. Sie erreichen die dunkle Grabstätte und bringen als Gabe das Haupt des Feindes. Der Oberste Gerichtshof fällt sein Urteil. Es enthält das, was sie erwarten: man gesteht ihnen das Vorrecht zu, Selbstmord zu begehen. Alle verüben die Tat, einige mit inbrünstiger Seelenruhe, und finden ihre Ruhestätte an der Seite ihres Herrn. Männer und Knaben kommen, um am Grab dieser so treuen Männer Gebete zu verrichten.
Der Mann aus Satsuma Unter den Pilgern, die herbeiströmen, ist ein staubbedeckter und erschöpfter Bursche, der von weit her gekommen sein muß. Er wirft sich vor dem Grabmal Oishi Kuranosukés, des Rats, nieder und sagt mit lauter Stimme: Ich sah dich auf der Türschwelle eines Freudenhauses in Kyoto hingestreckt liegen und dachte nicht, daß du die Rache für deinen Herrn bei dir erwogest, und hielt dich für einen ehrlosen Söldner und spie dir ins Gesicht. Ich bin gekommen, um dir Genugtuung anzubieten. Nachdem er so gesprochen hatte, vollzog er Harakiri. 40
Den Prior bewegte seine Tapferkeit schmerzlich, und er ließ ihn an der Stelle bestatten, wo die Hauptleute ruhen. So endet die Geschichte von den siebenundvierzig treuen Mannen – abgesehen davon, daß sie kein Ende hat, weil die anderen Menschen, wir, die wir vielleicht nicht treu sind, aber nie ganz die Hoffnung aufgeben, es zu sein, ihnen fernerhin mit Worten Ehre erweisen werden.
Der maskierte Färber Hakim von Merv Wenn ich nicht irre, sind es vier originale Quellen, die uns über Al Moqanna, den Verhüllten Propheten (oder genauer, den Maskierten) von Khwaresm, unterrichten: a) die Exzerpte aus der Geschichte der Kalifen, aufbewahrt von Baladhuri, b) das Handbuch des Riesen oder Buch der Deutung und Überprüfung des amtlichen Geschichtsschreibers der Abbasiden Ibn abi Tair Tarfur, c) der arabische Codex, betitelt Die Austilgung der Rose, in welchem die abscheulichen Ketzereien der Dunklen Rose oder Verborgenen Rose widerlegt werden, d) einige Münzen ohne Bildprägung, die von dem Ingenieur Andrusow bei Dammarbeiten für die Transkaspische Eisenbahn ausgegraben wurden. Diese Münzen wurden im Münzkabinett von Teheran deponiert und weisen persische Distichen auf, die gewisse Stellen der Austilgung zusammenfassen oder richtigstellen. Die ursprüngliche Rose ist verlorengegangen, insofern die im Jahr 1899 gefundene und im Morgenländischen Archiv einigermaßen leichtfertig veröffentlichte Handschrift von Horn und dann von Sir Percy Sykes als apokryph erklärt wurde. Der Ruf des Propheten im Abendland gründet sich auf ein 41
geschwätziges Gedicht von Moore, das mit den unklaren Sehnsuchtsgefühlen und Seufzern eines irischen Verschwörers befrachtet ist.
Der Scharlachpurpur Im hundertundzwanzigsten Jahr der Hedschra und im Jahr 736 des Kreuzes wurde der Mann Hakim, dem die Menschen jener Zeit und jenes Raums in der Folge den Beinamen der Verhüllte geben sollten, in Turkestan geboren. Seine Heimat war die uralte Stadt Merv, deren Gärten, Weinberge und Grasfluren traurig auf die Wüste hinsehen. Der Mittag ist weiß und blendend, wenn ihn nicht Staubwolken verfinstern, die den Menschen den Atem nehmen und die schwarzen Weinstöcke mit einer weißlichen Kruste überziehen. Hakim wuchs in dieser erschöpften Stadt auf. Wir wissen, daß ein Bruder seines Vaters ihn im Färberhandwerk unterwies: Kunst von Gottlosen, Fälschern und Wankelmütigen, die später die ersten Bannflüche seiner erstaunlichen Laufbahn inspirierte. »Mein Antlitz ist von Gold«, erklärt er an einer berühmten Stelle der Austilgung, »aber ich habe den Purpur gemahlen und habe in der zweiten Nacht die ungekämmte Wolle eingetaucht und habe in der dritten Nacht die zubereitete Wolle getränkt, und die Kaiser der Inseln begehren noch heute dieses blutfarbene Tuch. So sündigte ich in meinen jungen Jahren und verkehrte die echten Farben der Geschöpfe. Der Engel sagte mir, daß die Widder nicht die Farbe der Tiger haben. Der Satan aber sprach zu mir, es sei der Wille des Allmächtigen, daß sie sie hätten, und bediente sich meiner Geschicklichkeit und meines Purpurs. Heute weiß ich, daß der Engel sowohl wie der Satan an der Wahrheit vorbeigingen und daß jegliche Farbe verabscheuenswert ist.« Im Jahr 146 der Hedschra verschwand Hakim aus seiner Heimat. Die Färbekessel und die Laugenbecken fand man zerstört, ebenso einen Säbel aus Schiras und einen bronzenen Spiegel.
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Der Stier Gegen Ende des Shaban-Mondes im Jahr 158 war die Luft über der Wüste sehr klar, und die Menschen hielten gen Westen Ausschau nach dem Mond des Ramadan, der Kasteiung und Fasten heraufführt. Es waren Sklaven, Bettler, Roßtäuscher, Kameldiebe und Metzger. Mit feierlicher Würde am Boden sitzend, warteten sie am Tor einer Karawanserei an der Straße von Merv auf das Zeichen. Sie sahen gegen Sonnenuntergang, und die Farbe des Sonnenuntergangs war die des Sandes. Aus der Tiefe der schwindelerregenden Wüste (deren Sonne Fieber und deren Mond Krämpfe bewirken) sahen sie drei Gestalten herannahen, die ihnen riesengroß vorkamen. Es waren drei menschliche Gestalten, aber die in der Mitte hatte einen Stierkopf. Als sie näher kamen, sahen sie, daß der mittlere eine Maske trug und daß die beiden anderen blind waren. Einer (wie in den Märchen aus Tausendundeiner Nacht) forschte nach dem Grund dieser wundersamen Erscheinung. »Diese da sind blind«, erklärte der Mann in der Maske, »weil sie mein Antlitz geschaut haben.«
Der Leopard Der Chronist der Abbasiden berichtet, daß der Mann aus der Wüste (dessen Stimme einzigartig sanft war oder ihnen im Gegensatz zur Roheit seiner Maske so erschien) ihnen sagte, sie erwarteten das Zeichen für einen Monat der Buße, er jedoch predige ihnen ein besseres Zeichen: das eines ganzen büßenden Lebens und eines schmählichen Todes. Er sagte ihnen, er sei Hakim, Sohn des Osman, und es sei im Jahr 146 nach der Flucht nach Medina ein Mann in sein Haus gedrungen und habe ihm nach Reinigung und Gebet mit einem Reitersäbel das Haupt vom Rumpf getrennt und es bis zum Himmel emporgetragen. Ruhend auf der rechten Hand des Mannes (der der Engel Gabriel gewesen sei) habe sein Haupt vor des Herrn Angesicht geweilt, der ihm aufgetragen habe, zu weissagen, und der Worte von so hohem Alter in ihn eingesenkt habe, daß ihre Wiedergabe die Münder versengen würde, und er habe einen Glorienschein über ihn 43
ausgegossen, den sterbliche Augen nicht zu ertragen vermöchten. So rechtfertigte sich die Maske. Wenn alle Menschen der Erde sich erst zu dem neuen Gesetz bekennten, dann würde ihnen das Antlitz enthüllt, und sie könnten es ohne Gefährdung anbeten – wie es schon jetzt die Engel anbeteten. Nachdem er seinen Auftrag verkündet hatte, rief Hakim zu einem heiligen Krieg – einem dschihad – auf und zum Martyrium, das ihn gebührend kröne. Die Sklaven, Bettler, Roßtäuscher, Kameldiebe und Metzger verweigerten ihm ihren Glauben. Eine Stimme schrie »Hexer« und eine andere »Schwindler«. Einer führte einen Leoparden mit sich – vielleicht ein Exemplar jener geschmeidigen und blutlüsternen Art, wie die persischen Jäger sie abrichten. Sicher ist, daß er aus seinem Käfig ausbrach. Mit Ausnahme des maskierten Propheten und seiner beiden Akolyten wandte sich die Menge in wirrem Gedränge zur Flucht. Als sie zurückkamen, hatte er das Raubtier geblendet. Im Angesicht der lichthellen todesstarren Augen beteten die Menschen Hakim an und bestätigten seine übernatürliche Kraft.
Der Verhüllte Prophet Der amtliche Geschichtsschreiber der Abbasiden berichtet ohne sonderliche Begeisterung von den Fortschritten Hakims des Verhüllten in Khwaresm. Diese Provinz – in leidenschaftlicher Gärung wegen des Mißgeschicks und der Kreuzigung ihres bedeutendsten Anführers – warf sich mit verzweifelter Inbrunst der Lehre vom Strahlenden Antlitz in die Arme und opferte für sie Gut und Blut. (Hakim hatte da schon sein rohes Maskenhaupt abgelegt und es durch einen vierfachen Schleier aus weißer Seide, der mit kostbaren Steinen bestickt war, ersetzt. Die Emblemfarbe der Banu Abbas war Schwarz: Hakim erwählte die Farbe Weiß – als ihren äußersten Widerpart – für den Schleier der Bewahrung, die Banner und die Turbane.) Der Feldzug ließ sich zunächst gut an. Zwar sind im Buch der Deutung die Fahnen des Kalifen allerorten siegreich, da aber das häufigste Ergebnis dieser Siege die Absetzung von Generalen und die Preisgabe unerstürmbarer 44
Festungen ist, weiß der kundige Leser, woran er sich zu halten hat. Am Ende des Monats Rejeb des Jahres 161 öffnete die berühmte Stadt Nishapur dem Maskierten ihre metallenen Tore; zu Anfang des Jahres 162 die Stadt Astarabad. Die militärische Betätigung Hakims beschränkte sich (wie die eines anderen glücklicheren Propheten) auf mit Tenorstimme vorgetragene Bittgebete, die sich jedoch vom Rücken eines rötlichen Kamels inmitten der Schlacht zur Gottheit aufschwangen. Rund um ihn zischten die Pfeile, ohne daß sie ihm je eine Wunde beibrachten. Er schien die Gefahr zu suchen; als eines Nachts ein paar verfemte Aussätzige um seinen Palast lungerten, befahl er ihnen, vor ihm zu erscheinen, küßte sie und überreichte ihnen Silber und Gold. Die Mühen der Regierungsgeschäfte übertrug er auf sechs oder sieben Jünger. Er selber befleißigte sich der Meditation und des Friedens: ein Harem von 114 blinden Frauen trachtete die natürlichen Bedürfnisse seines göttlichen Leibes zu stillen.
Die abscheulichen Spiegel Solange ihre Worte nicht den orthodoxen Glauben entkräften, toleriert der Islam das Auftauchen vertrauter Freunde Gottes, mögen sie auch noch so unbedacht oder bedrohlich sein. Vielleicht hätte der Prophet die Vergünstigungen dieser großzügigen Nichtachtung nicht verschmäht, jedoch seine Parteigänger, seine Siege und der öffentliche Zorn des Kalifen – es war Mohammed AI Mahdi – zwangen ihn zur Ketzerei. Dieser Abfall wurde ihm zum Verderben, veranlaßte ihn aber, noch vorher die Artikel einer persönlichen Religion festzusetzen, wenn auch mit offenkundigen Einschlägen gnostischer Vorgeschichtslehren. Am Anfang der Kosmogonie des Hakim steht ein geisterhafter Gott. Diese Gottheit ist auf majestätische Art ursprungslos und gleicherweise ohne Namen noch Antlitz. Es ist ein unwandelbarer Gott, dessen Bild jedoch neun Schatten warf, die, indem sie sich zum Handeln hinabließen, einen ersten Himmel ausstatteten und verwalteten. Aus dieser ersten demiurgischen Corona ging eine zweite hervor, auch sie mit Engeln, Mächten und Thronen 45
ausgestattet, und diese gründeten einen anderen, tieferstehenden Himmel, der das symmetrische Doppel des ursprünglichen war. Dieses zweite Konklave erblickte sein Abbild in einem dritten und dieses wieder in einem noch tiefer stehenden, und so fort bis 999. Der Herr des untersten Himmels ist der, welcher uns regiert – als Schatten eines Schattens anderer Schatten –, und der Bruchteil seiner Göttlichkeit grenzt an Null. Die Erde, die wir bewohnen, ist eine Fehlleistung, eine unfähige Parodie. Die Spiegel und die Vaterschaft sind abscheulich, weil sie sie vervielfältigen und bekräftigen. Der Ekel ist die grundsätzliche Tugend. Zwei Lebensregeln (zwischen denen der Prophet die Wahl offenließ) können uns zu ihr hinführen: die Enthaltsamkeit und die Zügellosigkeit, das Leben im Fleisch oder seine Abtötung. Paradies und Hölle waren bei Hakim nicht weniger beklemmend. »Jenen, die das Wort leugnen, die den juwelengeschmückten Schleier und das Antlitz leugnen« (so lautet eine Verwünschung der Verborgenen Rose, die sich erhalten hat), »verheiße ich eine wunderherrliche Hölle, denn jede einzelne von ihnen wird über 999 Feuerreiche herrschen, und in jedem Reich werden 999 Feuerberge sein und auf jedem Berg 999 Feuertürme und in jedem Turm 999 Feuergelasse und in jedem Gelaß 999 Feuerbetten, und in jedem dieser Betten wird er liegen, und 999 Feuergeister (die sein Antlitz und seine Stimme haben werden) sollen ihn martern auf immerdar.« An einer anderen Stelle bekräftigt er: »Hier im Leben schmachtet ihr nur in einem Leib, im Tode und in der Vergeltung aber in unzähligen.« Über das Paradies äußert er sich weniger handgreiflich. »Immer ist es dort Nacht, und steinerne Tröge sind da, und die Glückseligkeit dieses Paradieses ist die eigenartige Glückseligkeit des Abschieds, des Verzichts und jener, die wissen, daß sie schlafen.«
Das Antlitz Im Jahr 163 der Flucht und im fünften des Strahlenden Antlitzes wurde Hakim in Sanam vom Heer des Kalifen eingeschlossen. An Vorräten und Märtyrern war kein Mangel, und man war der ungesäumten Hilfe einer Rotte von Lichtengeln gewärtig. 46
So standen die Dinge, als ein furchtbares Gerücht die Festung durchlief. Es wurde erzählt, eine Ehebrecherin des Harems hätte, als sie von den Eunuchen erdrosselt wurde, geschrien, an der rechten Hand des Propheten fehle der Ringfinger und die anderen seien ohne Nägel. Das Gerücht verbreitete sich unter den Gläubigen. Im grellen Sonnenlicht, auf einer erhöhten Terrasse, bat Hakim die ihm vertraute Gottheit um einen Sieg oder um ein Zeichen. Mit eingezogenem Kopf, diensteifrig – als liefen sie wider Regenschwaden an – rissen zwei Hauptleute ihm den juwelenbestickten Schleier herunter. Ein Schauder war das erste. Das verheißene Antlitz des Apostels, das Antlitz, das in den Himmeln gewesen war, es war in der Tat weiß, aber von dem eigentümlichen Weiß der Fleckenlepra. Es war so aufgeschwollen oder unglaubhaft, daß es ihnen wie eine Maske vorkam. Es hatte keine Brauen; das Unterlid des rechten Auges hing auf die altersschlaffe Wange herab; ein schweres Gehänge von Tuberkeln zerfraß die Lippen; die unmenschliche abgeplattete Nase war die eines Löwen. Die Stimme Hakims versuchte einen letzten Betrug: »Eure abscheuerregende Sünde hindert euch, meinen Glanz zu sehen«, begann er zu sprechen. Sie jedoch hörten nicht auf ihn und durchbohrten ihn mit Lanzen. Für Angélica Ocampo
Mann von Esquina Rosada Ausgerechnet ich soll Ihnen etwas über den toten Francisco Real erzählen. Ich habe ihn gekannt, obwohl er nicht von hier war; er war eine große Nummer im Norden, so in der Gegend der Lagune von Guadalupe und Bateria. Ich habe mit ihm nicht menr als dreimal zu tun gehabt, und die drei Male alle in derselben Nacht, aber das war eine Nacht, die ich nicht vergesse, weil da die Lujanera, einfach so, in meine Hütte schlafen kam, und in der 47
Nacht ist Rosendo Juárez für immer aus dem Viertel am Bach verschwunden. Natürlich fehlt Ihnen die Erfahrung, deshalb können Sie mit dem Namen nichts anfangen, aber in Villa Santa Rita war Rosendo Juárez, der Schläger, einer der härtesten Burschen. Er war einer der Leute von Don Nicolas Paredes, so wie Paredes einer aus der Truppe von Morel war, und er war berühmt dafür, daß er gut mit dem Messer umgehen konnte. Er kriegte es fertig, tipptopp geschniegelt zum Puff zu reiten, auf einem Rappen mit silbernem Zaumzeug. Die Männer und die Hunde hatten Respekt vor ihm und die Frauen auch. Alle wußten, daß er zwei Männer erledigt hatte. Er hatte auf seiner dicken Mähne immer einen von diesen weichen hohen Hüten mit feiner Krempe. Er war ein Glückspilz, wie man so sagt. Wir Jungs von Villa machten ihm alles nach, sogar, wie er spuckte. Eine Nacht hat uns dann aber gezeigt, was für ein Kerl Rosendo wirklich war. Klingt wie ein Märchen, aber die Geschichte dieser einmaligen Nacht fing damit an, daß eine laute Kutsche mit knallbunten Rädern, vollgepfropft mit Männern, diese harten Lehmgassen runtergeschlingert kam, zwischen den Ziegelbrennereien und den leeren Grundstücken; zwei Mann in Schwarz, mit Gitarren, daß einem die Ohren sausten, und auf dem Bock einer, der den Hunden eins mit der Peitsche überzog, wenn sie dem Pferd an die Beine gingen. Einer im Poncho saß ganz still in der Mitte; das war der berühmte Corralero, der Schlächter, und der war zum Kämpfen und zum Töten gekommen. Die Nacht war richtig angenehm kühl. Zwei von den Männern hockten auf dem umgeklappten Kutschdach, als wenn diese tote Ecke eine Promenade wäre. In der Nacht sind noch viele andere Dinge passiert, aber von diesem Anfang haben wir erst später erfahren. Wir Jungs waren alle schon ziemlich früh in Julias Salon; das war ein Schuppen aus Zinkblech, zwischen der Straße nach Gauna und dem Maldonado. Das Lokal konnte man schon von weitem sehen und hören, wegen der roten Laterne und dem Krach. Die Julia war ein bißchen dunkelhäutig; trotzdem gab sie sich Mühe, daß immer alles in Ordnung war; es gab immer Musiker, genug zu trinken und Mädchen, die lange tanzen konnten. Aber gegen die Lujanera, die Frau von Rosendo, kam keine an. Sie ist tot, und manchmal denke ich jahrelang nicht mehr an sie, aber damals hätten Sie sie sehen 48
sollen, was die für Augen hatte. Sie sehen und nicht schlafen können war eins. Der Schnaps, die Musik, die Weiber, ein paar herablassende Schimpfworte von Rosendo und ein Klaps, den er mir auf den Buckel gab und den ich als freundschaftlich genommen habe: also – ich war richtig glücklich. Ich hatte eine Tänzerin erwischt, die sich so bewegte, als ob sie meine Gedanken erraten könnte. Der Tango hat mit uns gemacht, was er wollte, uns herumgetrieben und auseinandergebracht und dann wieder zusammen. Alle Männer waren voll dabei, wie im Traum, da kommt mir plötzlich die Musik irgendwie lauter vor. Das war, weil jetzt die beiden im Wagen, mit den Gitarren, immer näher kamen und weil deren Musik sich mit unserer mischte. Dann hat sich der Wind gedreht, der die Musik hergeweht hatte, und ich habe wieder auf meinen Körper aufgepaßt und auf den meiner Partnerin und auf die Tanzfiguren. Eine ganze Weile später war etwas an der Tür zu hören, laut und irgendwie mit Macht, ein Schlag und eine Stimme. Allgemeines Schweigen, dann ein heftiger Stoß gegen die Tür, und der Mann war drin. Der Mann war wie die Stimme. Für uns war er noch nicht Francisco Real, aber wohl ein langer, stämmiger Typ, ganz in Schwarz, mit einem braunroten Tuch über einer Schulter. Ich erinnere mich an das Gesicht, es war irgendwie indianisch und eckig. Als die Tür aufsprang, kriegte ich einen mit dem Türflügel ab. Ich war so überrascht, daß ich mich auf den Kerl gestürzt und ihm die Linke in die Visage gesetzt habe, und dabei will ich mit der Rechten schon das Messer aus der Jacke holen, hier unter der linken Achsel. War aber schnell zu Ende mit mir. Um geradezustehen, streckt der Mann einfach die Arme aus und wischt mich weg, wie man einfach irgendwas aus dem Weg schiebt. Hat mich hinter sich auf dem Boden gelassen, und ich immer noch mit der Hand in der Jacke, am nutzlosen Messer. Er ist einfach so weitergegangen. Immer weiter, und immer größer als jeder von denen, die er wegschubst, als wenn er sie gar nicht sieht. Die ersten, Schlappschwänze mit großen Augen, haben ihm ängstlich den Weg frei gemacht, das ging auf wie ein Fächer. Aber das hat nicht lange gedauert. Im nächsten Haufen war schon der Engländer, der auf ihn gewartet hat, und bevor der Fremde 49
ihm die Hand auf die Schulter legen kann, hat er ihm schon eins mit einem Knüppel übergezogen, den er in der Hand hatte. Als die anderen das sehen, haben sie sich alle auf ihn gestürzt. Das Lokal war ganz schön tief, und sie sind über ihn hergefallen wie über den Heiland, mit Faustschlägen von oben bis unten und Pfiffen und Spucksalven. Erst sind sie mit den Fäusten rangegangen, und dann, als sie gesehen haben, daß er sich nicht wehrt, gab's Ohrfeigen mit der offenen Hand und Gewedel mit Halstuchfransen, um sich über ihn lustig zu machen. Und dabei haben sie ihn für Rosendo reserviert, der die ganze Zeit mit dem Rücken an der Wand am Ende stand, ohne sich zu rühren und still. Er hat hastig seine Zigarette geraucht, als hätte er schon gewußt, was wir anderen erst später kapiert haben. Den Corralero haben sie bis zu ihm hingeschoben, aufrecht und blutig, mit diesem ganzen spottenden Geschmeiß hinter ihm. Ausgepfiffen, ausgelacht, angespuckt, und er hat erst angefangen zu reden, als er genau vor Rosendo war. Dann hat er ihn angesehen, sich mit dem Unterarm das Gesicht abgewischt und ungefähr das gesagt: »Ich bin Francisco Real, ich komme aus dem Norden. Ich bin Francisco Real, und die Leute nennen mich den Corralero. Ich habe mich von diesen Jammerlappen anfassen lassen, weil ich einen Mann suche. Ein paar Bolawerfer behaupten, daß es hier in diesen traurigen Lehmgruben einen gibt, der mit dem Messer umgehen kann und ein harter Bursche ist, und den nennen sie den Schläger. Ich möchte ihn treffen, damit er einem Niemand wie mir zeigt, was ein berühmter Mann mit Mut ist.« Das hat er gesagt und dabei Rosendo nicht aus den Augen gelassen. Plötzlich blinkt ihm ein Messer in der rechten Hand; das muß er im Ärmel gehabt haben. Die, die eben noch gedrängelt haben, machen jetzt Platz, und wir alle stehen da und starren die beiden an. Sie hätten eine Stecknadel fallen hören können. Sogar der blinde Mulatte mit der Geige hatte seine Wulstlippen in die Richtung gedreht. In dem Moment höre ich, wie sich hinten was bewegt, und sehe im Türrahmen sechs oder sieben Männer stehen, wohl Anhang vom Corralero. Der älteste, so ein Ledergesicht mit grauem Schnäuzer, sah aus wie ein Bauer, ist ein paar Schritte reingekommen, kriegte Glupschaugen bei so viel Weibern und Licht 50
und nahm dann respektvoll den Hut ab. Die anderen sind stehengeblieben, um aufzupassen, daß das Spiel sauber bleibt, und notfalls mitzumischen. Was war die ganze Zeit mit Rosendo los, daß er dieses Großmaul nicht mit ein paar Tritten fertiggemacht hat? Er war immer noch still und hatte die Augen am Boden. Ich weiß nicht, ob er die Zigarette ausgespuckt hat oder ob sie ihm aus dem Gesicht gefallen ist. Endlich hat er ein paar Worte gesagt, aber so leise, daß wir am anderen Ende des Lokals nichts verstehen konnten. Francisco Real hat ihn noch mal herausgefordert, und er hat sich wieder geweigert. Da fing der Jüngste von den Fremden an zu pfeifen. Die Lujanera hat ihn angesehen, als wenn sie ihn ermorden wollte; dann schiebt sie sich mit zurückgeworfener Mähne durch die Frauen und das Fuhrmannsvolk, hin zu ihrem Mann, legt ihm die Hand auf die Brust, zieht sein Messer raus und gibt es ihm. Dabei sagt sie: »Rosendo, ich glaube, du wirst es brauchen.« Oben unter dem Dach gab es so ein langes Fenster, das zum Fluß ging. Rosendo hat das Messer genommen und hin und her gedreht, als wenn er es noch nie gesehen hätte. Plötzlich lehnt er sich zurück und schleudert das Messer raus durch das Fenster in den Maldonado. Mir war irgendwie kalt. »Wenn ich dich nicht in Stücke schneide, dann nur, weil du mich ankotzt«, sagt der Corralero und holt aus, um ihm eine zu kleben. Genau in dem Moment schnappt sich die Lujanera den Corralero, wirft ihm die Arme um den Hals, sieht ihn mit ihren schönen Augen an und sagt wütend: »Laß den da, der uns weisgemacht hat, daß er ein Mann ist.« Francisco Real brauchte einen Augenblick, um dahinterzukommen, dann hat er sie umarmt, als wenn er sie nie wieder loslassen wollte, und den Musikanten zugerufen, sie sollten ihm Tangos und Milongas spielen, und uns anderen, daß wir tanzen sollten. Die Milonga ging wie ein Feuer von einer Ecke zur anderen. Real tanzte ziemlich steif, ohne sich viel Mühe zu geben, er hatte sie ja schon hingekriegt. Sie sind zur Tür gekommen, und er hat gerufen »Platz da, die Herren, sie schläft ja schon«, und weg waren sie, Wange an Wange, als wenn der Tango eine Sturzflut wäre und sie weggespült hätte. 51
Ich muß wohl schamrot geworden sein. Ich habe ein paar Runden mit irgendeiner Frau getanzt und sie dann stehenlassen, wegen der Hitze und der Enge, habe ich ihr gesagt. Dann habe ich mich an der Wand entlang nach draußen verzogen. Schöne Nacht, bloß für wen? An der Straßenecke war die Kutsche, mit den beiden Gitarren aufrecht auf dem Sitz wie zwei Leute. Überkam mich ganz schön bitter, daß sie sie so sorglos rumstehen ließen, als wenn wir nicht mal imstande wären, Klimperkästen zu klauen. Ich habe versucht, mir einzureden, daß wir keine Nullen wären. Dann habe ich die Nelke hinter meinem Ohr genommen, zerdrückt, in eine Pfütze geschmissen und sie eine Weile angestarrt, um an nichts anderes mehr zu denken. Ich wäre gern mitten im nächsten Tag gewesen, ich wollte raus aus dieser Nacht. Dann kriegte ich einen Stoß von einem Ellbogen, fast eine Erlösung. Das war Rosendo, allein, der sich dünnmachte. »Immer stehst du im Weg, Trottel«, knurrte er mich an, vielleicht, um sich Luft zu machen, oder geistesabwesend. Er verdrückte sich in die Dunkelheit am Maldonado; ich habe ihn nie wiedergesehen. Da stand ich und starrte auf all das, was ich mein ganzes Leben lang gesehen hatte – Himmel bis zum Überdruß, der Fluß einsam und verloren, ein dösendes Pferd, die Lehmgasse, die Ziegelbrennereien –, und dachte, daß ich nichts war als noch so ein Vorstadtgewächs, aufgewachsen zwischen anderem Unkraut und Dreck. Was sollte aus diesem Unrat entstehen, wenn nicht Leute wie wir, schlappe Großschnauzen, Maulhelden, die sich nicht wehren? Dann dachte ich, nein, je mieser die Umgebung, um so härter muß man werden. Dreck! Die Milonga tobte noch immer, in den Häusern war ein Getuschel, und der Wind brachte einen Duft von Geißblatt. Die Nacht war schön und klar. So viele Sterne waren am Himmel, einer über dem anderen, daß einem vom Hinsehen schwindlig werden konnte. Ich wollte mir einreden, daß die Geschichte mich nichts anging, aber ich wurde nicht mit Rosendos Feigheit und dem unerträglichen Mut des Fremden fertig. Der große Kerl hatte sogar eine Frau für diese Nacht aufgerissen. Für diese und für viele, dachte ich, vielleicht für alle, denn die Lujanera war schon was. Weiß Gott, wo sie steckten. Weit konnten sie nicht sein. Wahrscheinlich trieben sie 52
es schon in irgendeinem Graben. Als ich zurückkam, war die Tanzerei immer noch im Gange. Ich drückte mich so unauffällig wie möglich durch das Gedränge und merkte, daß einige von unseren Leuten sich verzogen hatten und daß die Leute aus dem Norden mit den übrigen Tango tanzten. Rempeleien oder Zusammenstöße gab es nicht, aber alle paßten auf und benahmen sich steif. Die Musik war schläfrig; die Frauen, die mit denen aus dem Norden tanzten, sagten kein Wort. Ich erwartete etwas, aber nicht das, was geschah. Draußen hörten wir eine Frau weinen und dann die Stimme, die wir schon kannten, aber ruhig, fast zu ruhig, als wenn sie schon keinem mehr gehörte, und die Stimme sagte: »Geh rein, Schatz« – dann neues Schluchzen. Und dann wieder die Stimme, schon fast verzweifelt: »Mach die Tür auf, sag ich, mach auf, du miese Schlunze. Mach auf, Hündin!« Da geht die wacklige Tür auf, und die Lujanera kommt rein, allein. Wie auf Befehl, als wenn sie von jemand geschoben würde. »Die schickt eine arme Seele«, sagte der Engländer. »Ein toter Mann, mein Freund«, sagte da der Corralero. Sein Gesicht sah aus wie bei einem Betrunkenen. Er kam rein und machte, wie vorher, ein paar Schritte in dem Gang, den wir freigaben – groß, ohne zu sehen –, und dann fiel er plötzlich um wie ein Baumstamm. Einer von seinen Leuten hat ihn auf den Rücken gelegt und ihm den Poncho als Kissen untergeschoben. Dabei hat er sich mit Blut besudelt. Dann haben wir gesehen, daß der Mann eine tiefe Wunde in der Brust hatte; das gab eine Blutpfütze um ihn herum, und seine hellrote Halsbinde wurde schwarz von Blut. Vorher hatte ich die Binde nicht gesehen, weil das große Tuch sie verdeckt hatte. Eine der Frauen hat, als Erste Hilfe, Schnaps und ein paar halbverbrannte Tuchfetzen geholt. Der Mann konnte nichts mehr erklären. Die Lujanera hat ihn nur wie verloren angestarrt, mit hängenden Armen. Alle hatten die eine Frage im Gesicht, und schließlich hat sie eine Antwort rausgebracht. Nachdem sie mit dem Corralero rausgegangen war, wären sie zu einem kleinen Feld gegangen, und da platzt ein Unbekannter dazwischen und fordert ihn wie verrückt zum Kampf auf und setzt ihm diesen Messerstich, und sie weiß nicht, 53
wer es war, aber Rosendo war es nicht. Wer sollte ihr das glauben? Der Mann lag vor unseren Füßen und starb. Ich dachte bei mir: dem hat die Hand nicht gezittert, der ihn erledigt hat. Aber trotz allem war der Mann zäh. Als er das zweitemal geklopft hatte, war Julia gerade dabeigewesen, Mate zu kochen, und der Mate ging einmal rum und war wieder bei mir gelandet, bevor der Mann starb. »Bedeckt mein Gesicht«, hat er leise gesagt, als er nicht mehr konnte. Ihm war nur der Stolz geblieben, und er wollte nicht, daß wir neugierig zusehen, wie sich sein Gesicht im Todeskampf verzerrt. Irgendwer hat ihm diesen hohen schwarzen Hut aufs Gesicht gesetzt. Unter dem Hut ist er gestorben, ohne einen Ton. Erst als die Brust aufgehört hatte, zu steigen und zu fallen, haben sie den Mut aufgebracht, ihn aufzudecken. Er sah so müde aus wie alle Toten; in seiner Zeit war er einer der mutigsten Kerle von Batería bis zum Süden gewesen; als ich begriff, daß er tot war und nicht mehr reden konnte, habe ich aufgehört, ihn zu hassen. »Zum Sterben braucht man nur lebendig zu sein«, hat eine aus dem Haufen gesagt, und eine andere, nachdenklich: »So überheblich ist der Mensch, und am Ende doch nur Tummelplatz für Fliegen.« Dann fingen die Nordleute an, leise miteinander zu reden. Zwei haben es dann laut wiederholt: »Den hat die Frau umgebracht.« Einer hat ihr ins Gesicht geschrien, ob sie es war, und alle haben um sie herumgestanden. Da habe ich vergessen, daß ich vorsichtig sein muß, und bin wie ein Blitz dazwischen. Aus Leichtsinn ziehe ich fast das Messer. Ich spüre, daß mich viele ansehen, um nicht zu sagen: alle. Um ihnen das Maul zu stopfen, sage ich: »Seht euch die Hände von der Frau an. Wo soll sie die Kraft oder die Courage für 'nen Messerstich hernehmen?« Dann habe ich, als wäre ich beinahe enttäuscht, hinzugefügt: »Wer hätte das gedacht, daß der Tote da, der angeblich in seiner Gegend so 'n toller Kerl gewesen ist, so häßlich endet, und dann auch noch in so 'nem toten Nest wie dem hier, wo nichts passiert, wenn nicht gerade einer von auswärts kommt, um uns zu zeigen, was Sache ist, und am Ende wird er für seine Mühe nur angespuckt?« 54
Keinem hat das Fell nach Hieben gejuckt. In dem Moment wurde draußen in. der Einsamkeit der Lärm von Reitern laut. Das war die Polizei. Der eine mehr, der andere weniger, jedenfalls hatten alle Gründe, sich nicht um diese Gesellschaft zu reißen, deshalb wurde beschlossen, daß es das beste wäre, den Toten in den Bach zu werfen. Sie werden sich noch an das lange Fenster erinnern, durch das das Messer geflogen ist. Da ging dann auch der Mann in Schwarz durch. Sie haben ihn mit vielen aufgehoben, und was er an Kleingeld und sonstigem Kram hatte, darum haben ihn diese vielen Hände erleichtert, und einer hat ihm einen Finger abgehackt, um den Ring abzustauben. Nutznießer, mein Herr, und sehr mutig einem armen wehrlosen Leichnam gegenüber, den ein anderer geschafft hatte, der mehr Manns war als sie. Ein guter Schwung, und das reißende und geduldige Wasser hat ihn mitgenommen. Kann sein, daß sie ihm, damit er nicht auftaucht, die Eingeweide rausgerissen haben; ich weiß es nicht, ich hatte keine Lust, hinzusehen. Der mit dem grauen Schnäuzer hat mich die ganze Zeit beobachtet. Die Lujanera hat den Trubel genutzt, um abzuhauen. Als die Gesetzeshüter reinkamen, um sich umzusehen, war der Tanz wieder im Gange. Der Blinde mit der Geige konnte ein paar Habaneras spielen, wie man sie heute nicht mehr hört. Draußen wollte es schon hell werden. Ein paar Pfosten auf einem Hügel sahen einsam und verlassen aus, weil man so früh die feinen Drähte nicht erkennen konnte. Ich bin ruhig die drei Blocks zu meiner Hütte gegangen. Im Fenster brannte eine Kerze, die dann plötzlich ausging. Als mir klar wurde, was das hieß, habe ich mich natürlich beeilt. Und dann, Borges, habe ich noch einmal das kurze, scharfe Messer herausgezogen, das ich immer hier, in der Weste, unter der linken Achsel getragen habe, und ich habe es noch einmal langsam untersucht, und es war wie neu, unschuldig, und nicht die kleinste Spur von Blut war daran. Für Enrique Amorim
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Etcetera Für Néstor Ibarra
Ein Theologe im Tod Die Engel haben mir mitgeteilt, daß Melanchthon, als er verschied, in der anderen Welt ein Haus zugeteilt bekam, welches dem, das er auf Erden innegehabt, täuschend ähnlich war. (Nahezu allen, die erst jüngst in der Ewigkeit eingetroffen sind, widerfährt das gleiche, und darum glauben sie, sie seien nicht gestorben.) Die häuslichen Geräte waren gleich: der Tisch, das Schreibpult mit seinen Fächern, die Bibliothek. Als nun Melanchthon in dieser Behausung erwachte, nahm er seine literarischen Obliegenheiten wieder auf, als sei er kein Leichnam, und schrieb einige Tage lang über die Rechtfertigung durch den Glauben. Wie es seine Gewohnheit war, sagte er nicht ein Wort über die Liebe. Die Engel bemerkten diese Weglassung und schickten Personen zu ihm, die ihn hierüber befragen sollten. Melanchthon sagte ihnen: »Ich habe unwiderleglich bewiesen, daß die Seele der Liebe entraten kann und daß, um in den Himmel einzugehen, der Glaube genügt.« Diese Worte sprach er hochmütig und wußte nicht, daß er schon tot war und sein Ort nicht der Himmel. Als die Engel diese Rede vernahmen, wichen sie von ihm. Kaum waren ein paar Wochen vergangen, da fingen die Einrichtungsgegenstände an, bis zur Geisterhaftigkeit unsichtbar zu werden, ausgenommen der Schreibsessel, der Tisch, die Blätter Papiers und das Tintenfaß. Außerdem wurden die Wände des Gemachs kalkfleckig und der Boden wie gelber Firnis. Sogar die Wäsche, die er trug, war viel gewöhnlicher. Desungeachtet fuhr er mit Schreiben fort, aber da er auf der Leugnung der Liebe beharrte, verbrachten sie ihn in eine unterirdische Werkstatt, wo es andere Theologen gleich ihm gab. Hier saß er einige Tage gefangen und begann an seiner These zu zweifeln, worauf sie ihm die Rückkehr gestatteten. Seine Leibwäsche war aus ungegerbtem 56
Leder, aber er versuchte sich einzubilden, daß das Frühere eine bloße Wahnvorspiegelung gewesen sei, und fuhr fort, den Glauben zu verherrlichen und die Liebe zu verleumden. Eines Abends fühlte er sich kalt. Da ging er durch das Haus und stellte fest, daß die übrigen Gemächer nicht mehr denen seiner Behausung auf Erden entsprachen. Eines war angefüllt mit unbekannten Geräten, ein anderes war so klein geworden, daß man unmöglich hineingehen konnte, wieder ein anderes hatte sich nicht verändert, aber seine Fenster und Türen gingen auf große Dünen hinaus. Das letzte Zimmer war voll von Personen, die ihn vergötterten und immer wieder zu ihm sagten, kein Theologe sei ihm an Weisheit gleich. Diese Vergötterung behagte ihm, aber da eine dieser Personen kein Gesicht hatte und andere tot zu sein schienen, verabscheute und beargwöhnte er sie schließlich. Da entschloß er sich, einen Lobpreis auf die Liebe zu schreiben, aber die heute geschriebenen Seiten erschienen am nächsten Morgen ausgelöscht. Und zwar geschah dies, weil er sie ohne Überzeugung schuf. Er empfing zahlreiche Besuche von jüngstverstorbenen Leuten, aber er empfand Scham, daß er sich ihnen in seiner derart schmutzigen Behausung vorstellen mußte. Um sie glauben zu machen, er sei im Himmel, verabredete er sich mit einem Hexenmeister von denen aus dem letzten Zimmer, und dieser täuschte sie mit allerlei Blendwerk von Glanz und Heiterkeit. Kaum jedoch zogen die Besucher sich zurück, so erschienen wieder die Armseligkeit und der Kalk, manchmal auch ein bißchen früher. Die letzten Nachrichten von Melanchthon besagen, daß der Magier und einer der Männer ohne Gesicht ihn in die Dünen hinausführten und daß er heute eine Art Knecht der Dämonen ist. Aus dem Buch Arcana Coelestia von Emanuel Swedenborg
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Die Kammer der Standbilder In den frühesten Tagen gab es im Reich der Andalusier eine Stadt, in der seine Könige residierten und die mit Namen Lebtit oder Ceuta hieß oder Jaén. Es gab in dieser Stadt eine starke Festung, deren zweiflügeliges Tor nicht zum Eintreten bestimmt war, auch nicht zum Hinausgehen, sondern verschlossen gehalten werden sollte. Jedesmal wenn ein König verschied und ein anderer König seinen hocherhabenen Thron erbte, fügte dieser mit eigenen Händen dem Tor ein neues Schloß hinzu, bis es im ganzen vierundzwanzig Schlösser waren, eines für jeden König. Da geschah es, daß ein übelgesinnter Mann, der nicht dem Königshause angehörte, die Macht an sich riß und, anstatt ein neues Schloß hinzuzufügen, verlangte, daß die vierundzwanzig vorhergehenden aufgeschlossen werden sollten, um zu sehen, was diese Festung barg. Der Wesir und die Emire flehten ihn an, er möge nicht solches tun, und versteckten vor ihm den eisernen Schlüsselbund und sagten ihm, ein neues Schloß hinzuzufügen sei leichter, als vierundzwanzig aufzubrechen; er jedoch antwortete mit wundersamer Arglist: »Ich will untersuchen, was diese Festung birgt.« Da boten sie ihm so viele Reichtümer, wie sie irgend zusammenbringen konnten, an Herden, an christlichen Götzenbildern, an Silber und Gold; er jedoch wollte von seinem Vorhaben nicht ablassen und öffnete das Tor mit seiner rechten Hand (die auf ewig brennen wird). Drinnen waren die Araber abgebildet, in Metall und in Holz, auf ihren schnellen Kamelen und Rossen, mit Turbanen, die über den Rücken hinabwallten, und mit Krummsäbeln, die im Leibgurt hingen, und der geraden Lanze in der Rechten. Alle diese Figuren waren plastisch und warfen Schatten auf den Boden, und ein Blinder hätte sie mit dem bloßen Tastsinn erkennen können, und die Vorderhufe der Rosse berührten nicht den Boden und fielen doch nicht, als ständen sie aufgebäumt da. Großes Entsetzen erweckten in dem König diese herrlichen Figuren und mehr noch die tadellose Ordnung und die lautlose Stille, die an ihnen auffiel, weil alle nach einer Seite, und zwar gen Sonnenuntergang, blickten, aber weder eine Stimme noch eine Trompete zu hören waren. Dies befand sich im ersten Gemach der Festung. Im zweiten war der Tisch Solimans, des 58
Sohnes Davids – möge beiden das ewige Heil beschieden sein! –, geschnitten aus einem einzigen Smaragd, dessen Farbe bekanntlich grün ist und dessen verborgene Eigenschaften unbeschreiblich und verbürgt sind, denn er beschwichtigt die Stürme, bewahrt die Keuschheit seines Trägers, verscheucht die Dysenterie und die bösen Geister, entscheidet vorteilhaft einen Rechtshandel und ist bei den Geburten von großem Beistand. Im dritten fanden sie zwei Bücher; das eine war schwarz und lehrte die Kräfte der Metalle, der Talismane und der Tage und ebenso die Zubereitung von Giften und Gegengiften; das andere war weiß, und was es lehrte, war nicht zu entziffern, obwohl die Schrift deutlich war. Im vierten stießen sie auf eine Weltkarte, auf der die Reiche, die Städte, die Meere, die Festungen und die Fährlichkeiten eingezeichnet waren, all dies mit seinem wahrhaften Namen und seiner genauen Gestalt. Im fünften fanden sie einen kreisförmigen Spiegel, ein Werk Solimans, des Sohnes Davids – werde beiden die Vergebung zuteil! –, von sehr hohem Wert, denn er war aus verschiedenerlei Metallen gefertigt, und wer in seine Rundung blickte, sah die Geister seiner Väter und seiner Söhne, von dem Erstgeborenen Adam an bis zu jenen, die den Schall der Posaune hören werden. Das sechste war voll eines Elixiers, von dem ein Quentchen genügte, um dreitausend Unzen Silber in dreitausend Unzen Gold zu verwandeln. Das siebente dünkte sie leer, aber es war so groß, daß der gewandteste Bogenschütze einen Pfeil von der Tür aus hätte abschießen können, ohne daß es ihm gelungen wäre, die Rückwand zu treffen. In die Abschlußwand eingemeißelt sahen sie eine furchtbare Inschrift. Der Mann las und verstand sie und sprach folgendermaßen: »Wenn eine Hand das Tor dieser Festung öffnet, werden sich Krieger aus Fleisch und Blut, die den metallenen Kriegern der Eingangshalle gleichen, des Reiches bemächtigen.« Diese Dinge ereigneten sich im Jahr neunundachtzig der Hedschra. Bevor es zu Ende ging, bemächtigte sich Tarik dieser Festung, schlug diesen König in die Flucht, verkaufte seine Weiber und seine Söhne und verwüstete seine Ländereien. So überschwemmten die Araber das Reich Andalusien mit seinen Feigengärten und bewässerten Fluren, auf denen man keinen 59
Durst leidet. Was die Schätze angeht, so wird gesagt, daß Tarik, der Sohn des Zaid, sie dem Kalifen, seinem Herrn, übergab, der sie in einer Pyramide aufbewahrte. Aus dem Buch von Tausendundeiner Macht, 272. Nacht
Geschichte von den zweien, die träumten Der arabische Geschichtsschreiber El Ixaquí berichtet folgenden Vorfall: »Von glaubwürdigen Menschen wird erzählt (aber Allah allein ist allwissend und allmächtig und erbarmungsvoll und schläft nicht), daß es in El Cairo einen mit Reichtümern gesegneten Mann gab, der aber so großmütig und so freigebig war, daß er sie alle einbüßte, außer dem Haus seines Vaters, und daß er sich genötigt sah zu arbeiten, um sein Brot zu verdienen. Er arbeitete so hart, daß ihn eines Abends unter einem Feigenbaum in seinem Garten der Schlaf übermannte, und im Traum erblickte er einen vermummten Mann, der ein Goldstück aus seinem Munde zog und zu ihm sprach: ›Dein Glück ist in Persien, in Isfahan, geh dorthin und suche es.‹ Am folgenden Morgen machte er sich auf und unternahm die weite Reise und trotzte den Gefahren der Wüsten, der Schiffe, der Seeräuber, der Götzendiener, der Flüsse, der wilden Tiere und der Menschen. Zuletzt erreichte er Isfahan, jedoch im Bereich der Stadt überraschte ihn die Nacht, und er streckte sich zum Schlaf im Hof einer Moschee aus. Dicht bei der Moschee war ein Haus, und nach dem Ratschluß Gottes des Allmächtigen durchquerte eine Räuberbande die Moschee und begab sich in das Haus, und die Leute, die darinnen schliefen, wachten bei dem Getöse der Räuber auf und riefen um Hilfe. Auch die Nachbarn schrien, bis der Hauptmann der Nachtwächter dieses Distrikts mit seinen Leuten herbeieilte und die Räuber über die Dachterrasse flüchteten. Der Hauptmann ließ die Moschee durchsuchen, und in ihr stießen sie auf den Mann aus El Cairo und versetzten ihm mit Bambusstöcken so hageldichte Schläge, 60
daß er mehr tot als lebendig war. Zwei Tage später kam er im Gefängnis zur Besinnung. Der Hauptmann ließ ihn holen und sprach zu ihm: ›Wer bist du, und was ist deine Heimat?‹ Der andere erklärte: ›Ich bin aus der berühmten Stadt El Cairo, und mein Name ist Mohammed El Magrebi.‹ Der Hauptmann fragte ihn: ›Was führte dich nach Persien?‹ Der andere entschloß sich, die Wahrheit zu sagen, und sprach zu ihm: ›Ein Mann hieß mich im Traum nach Isfahan gehen, denn hier sei mein Glück. Nun bin ich in Isfahan und sehe ein, daß dieses Glück, das er mir verhieß, die Prügel gewesen sein müssen, die ihr mir so freigebig gespendet habt.‹ Als er diese Worte hörte, lachte der Hauptmann so, daß er seine Weisheitszähne entblößte; am Ende sagte er: ›Törichter und leichtgläubiger Mann, schon dreimal habe ich von einem Haus in der Stadt El Cairo geträumt, hinter dem ein Garten ist und in dem Garten eine Sonnenuhr und hinter der Sonnenuhr ein Feigenbaum und hinter dem Feigenbaum ein Brunnen und unter dem Brunnen ein Schatz. Ich habe dieser Lüge nie den geringsten Glauben geschenkt, du jedoch, mißgeborener Sohn einer Mauleselin und eines Dämonen, bist von Stadt zu Stadt geirrt, einzig im Vertrauen auf deinen Traum. Laß dich in Isfahan nicht wieder blicken. Nimm diese Geldstücke und scher dich fort.‹ Der Mann nahm die Geldstücke und kehrte in sein Vaterland zurück. Unter dem Brunnen in seinem Garten (es war der Garten im Traum des Hauptmanns) grub er den Schatz aus. So schenkte ihm Gott Segen und belohnte und erhöhte ihn. Gott ist der Edelmütige, der Verborgene.« Aus dem Buch von Tausendundeiner Nacht, 351. Nacht
Der übergangene Hexenmeister Es war einmal in Santiago ein Dechant, der war begierig, die Kunst der Magie zu erlernen. Er hörte sagen, daß keiner sich besser auf sie verstünde als Don Illán von Toledo, und machte sich auf nach Toledo, um ihn aufzusuchen. Gleich am Tage seiner Ankunft lenkte er seine Schritte zum 61
Hause Don Illáns und fand ihn lesend in einer abseits gelegenen Behausung. Dieser empfing ihn liebenswürdig und sagte ihm, er möge ihm erst nach Beendigung des Mittagsmahls den Anlaß seines Besuches bekanntgeben. Er wies ihm ein sehr kühles Gemach an und sagte ihm, er freue sich herzlich über sein Kommen. Nach dem Essen trug ihm der Dechant die Ursache seines Besuches vor und bat ihn, er möge ihn die Wissenschaft der Magie lehren. Don Illán sagte ihm, er habe sich gedacht, daß er Dechant sei, ein Mann in guter Stellung und mit guten Zukunftsaussichten, und er befürchte sehr, alsbald von ihm vergessen zu werden. Der Dechant versprach und versicherte ihm, daß er diese seine Gunst nie vergessen und ihm stets zu Diensten sein werde. Nachdem die Sache hiermit geregelt war, erklärte Don Illán, daß sich die magischen Künste nur an einem abgeschiedenen Ort erlernen ließen, und indem er ihn bei der Hand nahm, führte er ihn in ein Nebengemach, in dem sich am Boden ein großer eiserner Ring befand. Vorher sagte er zu der Dienstmagd, sie solle für den Abend Rebhühner zubereiten, aber nicht eher zum Braten an den Spieß stecken, bis es ihr befohlen würde. Sie hoben den Ring mit vereinten Kräften auf und stiegen eine wohlgefügte Steintreppe hinunter, bis es dem Dechanten schien, sie wären so tief hinabgestiegen, daß sich das Bett des Tajo zu ihren Häuptern befand. Am Fuß der Treppe war eine Zelle und dann eine Bibliothek und dann eine Art Kabinett mit magischen Gerätschaften. Sie sahen die Bücher durch und waren hiermit gerade beschäftigt, als zwei Männer eintraten mit einem Brief für den Dechanten, geschrieben von dem Bischof, seinem Oheim, in dem er ihn wissen ließ, er sei sehr krank, und wenn er ihn noch lebend antreffen wolle, dürfe er nicht säumen. Dem Dechanten war diese Mitteilung sehr zuwider, einmal, weil es ihm um seinen Oheim leid tat, aber auch, weil er seine Studien unterbrechen mußte. Er entschloß sich, einen Entschuldigungsbrief zu schreiben, und schickte ihn dem Bischof. Drei Tage vergingen, da kamen einige Männer in Trauer mit weiteren Briefen für den Dechanten, in denen zu lesen stand, daß der Bischof verschieden sei, daß sie dabei seien, den Nachfolger zu wählen, und daß sie hofften, die Wahl möge durch Gottes Gnade auf ihn fallen. Sie sagten auch, er solle sich nicht die Mühe 62
machen zu kommen, da es sich viel besser schicke, wenn sie ihn in seiner Abwesenheit wählten. Zehn Tage vergingen, da kamen zwei sehr wohlgekleidete Schildknappen, die sich ihm zu Füßen warfen und seine Hände küßten und ihm als ihrem Bischof huldigten. Als Don Illán dies geschehen sah, trat er mit großer Freude auf den neuen Prälaten zu und sagte ihm, er danke dem Herrn, daß so gute Nachrichten in seinem Haus einträfen. Dann bat er ihn für einen seiner Söhne um das freie Dekanat. Der Bischof tat ihm kund, er habe das Dekanat seinem eigenen Bruder vorbehalten, doch sei er entschlossen, ihm eine Gunst zu erweisen, und sie wollten sich gemeinsam nach Santiago aufmachen. Zu dritt reisten sie nach Santiago, wo sie ehrenvoll empfangen wurden. Sechs Monate vergingen, da erschienen vor dem Bischof Abgesandte des Papstes, die ihm den erzbischöflichen Stuhl von Tolosa anboten und die Ernennung eines Nachfolgers in seine Hände legten. Als Don Illán dies erfuhr, erinnerte er ihn an sein früheres Versprechen und erbat diesen Titel für seinen Sohn. Der Erzbischof tat ihm kund, er habe das Bistum seinem eigenen Onkel, dem Bruder seines Vaters, vorbehalten, doch sei er entschlossen, ihm eine Gunst zu erweisen, und sie wollten sich gemeinsam nach Tolosa aufmachen. Don Illán hatte keine Wahl, als in diesen Vorschlag einzuwilligen. Zu dritt reisten sie nach Tolosa, wo sie mit Ehrenbezeigungen und Messen empfangen wurden. Zwei Jahre vergingen, da erschien vor dem Erzbischof ein Legat des Papstes, der ihm den Kardinalshut anbot und die Ernennung des Nachfolgers in seine Hände legte. Als Don Illán dies erfuhr, erinnerte er ihn an sein früheres Versprechen und erbat diesen Titel für seinen Sohn. Der Kardinal tat ihm kund, daß er den erzbischöflichen Stuhl seinem eigenen Oheim, dem Bruder seiner Mutter; vorbehalten habe, doch er sei entschlossen, ihm eine Gunst zu erweisen, und sie wollten sich gemeinsam nach Rom aufmachen. Don Illán konnte nicht umhin einzuwilligen. Zu dritt reisten sie nach Rom, wo sie mit Ehrenbezeigungen, Messen und Prozessionen empfangen wurden. Vier Jahre später starb der Papst, und unser Kardinal wurde von allen übrigen für den päpstlichen Stuhl erkoren. Als Don Illán dies erfuhr, küßte er 63
die Füße Seiner Heiligkeit, erinnerte ihn an sein früheres Versprechen und erbat das Kardinalsamt für seinen Sohn. Der Papst drohte ihm mit Gefängnis und sagte, er wisse wohl, daß er nichts weiter sei als ein Hexenmeister und daß er in Toledo magische Künste gelehrt habe. Der beklagenswerte Don Illán sagte, er wolle nach Spanien zurückgehen, und bat ihn um Wegzehrung. Der Papst fand sich nicht dazu bereit. Da sagte Don Illán (dessen Gesicht sich auf wundersame Weise verjüngt hatte) mit einer Stimme ohne Schwanken: »So werde ich die Rebhühner essen müssen, die ich auf heute abend bestellt habe.« Die Dienstmagd erschien, und Don Illán sagte ihr, sie solle sie braten. Bei diesen Worten fand sich der Papst in der unterirdischen Zelle in Toledo wieder, nichts Besseres als Dechant von Santiago, und so beschämt über seine Undankbarkeit, daß er nicht Worte fand, sich zu entschuldigen. Don Illán sagte, es sei an dieser Probe genug, verweigerte ihm seinen Anteil an den Rebhühnern und begleitete ihn bis auf die Straße, wo er ihm glückliche Reise wünschte und ihn mit großer Höflichkeit verabschiedete. Aus dem Libro de Patronio des Infanten Don Juan Manuel, der es aus einem arabischen Buch bezog: Die Vierzig Morgen und die Vierzig Nächte
Der Tintenspiegel Die Geschichte weiß, daß der grausamste der Gouverneure des Sudan Yakub der Leidende war, der sein Land an die Ruchlosigkeit der ägyptischen Steuereintreiber auslieferte und in einem Gemach des Palastes starb, am vierzehnten Tag des Barmajat-Mondes im Jahr 1842. Etliche wollten wissen, daß der Zauberer Abderrahman El Masmudi (dessen Name übersetzt etwa lautet: Der Diener des Barmherzigen) ihn mit einem Dolch oder mit Gift beseitigt habe, doch ist ein natürlicher Tod wahrscheinlicher – schon darum, weil sie ihn den Leidenden nannten. Gleichwohl unterhielt sich der Hauptmann Richard Francis Burton mit diesem Zauberer im Jahr 1853 und erzählt, was er ihm 64
berichtete, wie folgt: »Es ist wahr, daß ich in der festen Burg Yakubs des Leidenden als Gefangener schmachtete, auf Grund der Verschwörung, die mein Bruder Ibrahim anzettelte, mit dem faulen und eitlen Beistand der Negerhäuptlinge von Kordofan, die ihn denunzierten. Mein Bruder kam durch das Schwert um, auf dem Blutfell der Gerechtigkeit, ich jedoch warf mich vor die verhaßten Füße des Leidenden und sagte ihm, ich sei ein Zauberer und wenn er mir das Leben schenkte, wollte ich ihm Formen und Erscheinungen zeigen, noch wunderbarer als die des Fanusi Jiyal (Laterna magica). Der Unterdrücker verlangte von mir auf der Stelle einen Beweis. Ich bat um eine Rohrfeder, eine Schere, einen großen Bogen venezianischen Papiers, ein Horn Tinte, ein Holzkohlebecken, ein paar Körner Koriandersamen und eine Unze Weihrauch. Ich zerschnitt das Blatt in sechs Streifen, schrieb Talismane und Beschwörungen auf die fünf ersten und auf den letzten die folgenden Worte, die in dem glorreichen Koran stehen: ›Wir haben deinen Schleier gelüftet, und der Anblick deiner Augen ist durchdringend.‹ Dann zeichnete ich ein magisches Quadrat in Yakubs rechte Hand und bat ihn, er solle sie hohl machen, und goß einen Kreis Tinte mitten hinein. Ich fragte ihn, ob er sein Spiegelbild in dem Kreis deutlich wahrnehmen könne, und er antwortete mit Ja. Ich sagte ihm, er solle die Augen nicht aufheben. Ich zündete den Weihrauch und den Koriandersamen an und verbrannte die Beschwörungen in dem Holzkohlenbecken. Ich bat ihn, er solle die Gestalt nennen, die er zu erblicken wünsche. Er bedachte sich und sagte zu mir: ein wildes Pferd, das schönste, welches auf den Wiesen, die den Rand der Wüste säumen, zur Weide geht. Er sah hin und erblickte die grüne und stille Flur und danach ein Pferd, das näher kam, flink wie ein Leopard, mit einem weißen Stern auf der Stirne. Er bat mich um eine Herde Pferde, so vollkommen wie das erste, und sah am Horizont eine breite Staubwolke und dann die Herde. Da wußte ich, daß mein Leben in Sicherheit war. Das Tageslicht kam eben herauf, als zwei Soldaten in meinen Kerker traten und mich in das Gemach des Leidenden führten, wo schon der Weihrauch, das Holzkohlenbecken und die Tinte meiner harrten. So forderte er von mir und zeigte ich ihm alle 65
Erscheinungen der Welt. Dieser tote Mann, den ich verabscheue, hielt in seiner Hand, was die toten Menschen irgend erblickt haben und die Lebendigen sehen: die Städte, Himmelsstriche und Reiche, in die sich die Erde teilt, die in ihrem Kern verborgenen Schätze, die Schiffe, die übers Meer fahren, die Geräte des Kriegs, der Musik und der Chirurgie, die liebreizenden Frauen, die Fixsterne und die Planeten, die Farben, deren sich die Ungläubigen beim Malen ihrer abscheulichen Bilder bedienen, die Minerale und die Pflanzen, samt den Geheimnissen und Kräften, die sie bergen, die Engel aus Silber, deren Speise Lobpreis und Verherrlichung des Herren ist, die Austeilung der Preise in den Schulen, die Standbilder von Vögeln und Königen, die im Herzen der Pyramiden sind, der Schatten, den der Stier, auf welchem die Erde ruht, wirft, und der Fisch, der unter dem Stier ist, die Wüsten Gottes des Barmherzigen. Er sah Dinge, die nicht zu schildern sind, wie die mit Gas erleuchteten Straßen und den Wal, der stirbt, wenn er den Schrei des Menschen vernimmt. Einmal befahl er mir, ich solle ihm die Stadt zeigen, die sich Europa nennt. Ich zeigte ihm ihre Hauptstraße, und ich glaube, es war in diesem reißenden Strom von Menschen, die alle in Schwarz gingen und viele mit Brillen, daß er zum erstenmal den Maskierten erblickte. Diese Gestalt, zuweilen in sudanesischer Tracht, zuweilen in Uniform, jedoch stets mit einem Tuch vorm Gesicht, drang von da ab in die Visionen ein. Sie fehlte nie, und wir mutmaßten nicht, wer sie war. Auch waren die Erscheinungen des Tintenspiegels, die zuerst momentan und bewegungslos gewesen waren, jetzt verschlungener: sie gehorchten ohne Verzug meinen Weisungen, und der Tyrann folgte ihnen mit klarem Verstand. Allerdings waren wir beide am Ende jedesmal erschöpft. Der grausige Charakter der Szenen war eine weitere Quelle der Ermüdung. Es waren immer nur Züchtigungen, Würgestricke, Verstümmelungen, Ergötzungen des Henkers und des Grausamen. So erreichten wir schließlich den Morgen des vierzehnten Tages des Barmajat-Mondes. Der Tintenkreis war in die Hand gezeichnet worden, der Weihrauch in das Holzkohlenbecken gestreut, die Beschwörungen verbrannt. Nur wir beide waren zugegen. Der Leidende sagte mir, ich solle ihm eine unwiderrufliche und gerechte Bestrafung zeigen, weil sein Herz an diesem 66
Tage einen Todesfall zu sehen begehrte. Ich zeigte ihm die Soldaten mit den Trommeln, das ausgebreitete Kalbsfell, die Leute, die sich an dem Schauspiel weideten, den Henker mit dem Richtschwert. Er wunderte sich, als er ihn erblickte, und sagte zu mir: ›Es ist Abu Kir, der deinen Bruder Ibrahim hingerichtet hat, der deinem Schicksal ein Ende setzen wird, sobald mir die Wissenschaft beschieden ist, diese Figuren ohne deinen Beistand zu beschwören.‹ Er verlangte von mir, sie sollten den Verurteilten herbeischaffen. Als sie ihn brachten, wechselte er die Farbe, denn es war der unerklärliche Mann mit dem weißen Tuch. Er befahl mir, sie sollten ihm, ehe sie ihn töteten, die Maske abnehmen. Ich warf mich ihm zu Füßen und sagte: ›O König der Zeit und Grundstoff und Inbegriff des Jahrhunderts, diese Gestalt ist nicht wie die übrigen, weil wir seinen Namen nicht kennen noch den seiner Väter und auch nicht den der Stadt, die seine Heimat ist, so daß ich mich nicht getraue, an die Gestalt zu rühren, um nicht eine Schuld auf mich zu laden, für die ich Rechenschaft werde ablegen müssen.‹ Der Leidende brach in Lachen aus und schwor am Ende, er wolle gern die Schuld auf sich nehmen, wenn es da eine Schuld gäbe. Er beschwor es bei seinem Schwert und bei dem Koran. Da befahl ich, sie sollten den Verurteilten entkleiden und sollten ihn auf das Kalbsfell werfen und ihm die Maske herunterreißen. Diese Dinge geschahen. Die entsetzten Augen Yakubs vermochten endlich dieses Gesicht zu schauen – das sein eigenes war. Er verhüllte sich aus Furcht und Wahnsinn. Ich drückte ihm die zitternde Rechte mit meiner Rechten, die fest war, nieder und befahl ihm, er solle dem Begängnis seines Todes weiter zusehen. Er war besessen von dem Spiegel: er versuchte nicht einmal die Augen aufzuheben oder die Tinte auszugießen. Als das Schwert in der Vision auf das schuldige Haupt niederfuhr, stöhnte er mit einer Stimme auf, die bei mir kein Mitleid fand, und rollte zu Boden, tot. Ruhm sei bei Jenem, der nicht stirbt und in seiner Hand die zwei Schlüssel der unbegrenzten Vergebung und der unendlichen Strafe hält.« Aus dem Buch The Lake Regions of Equatorial Africa von R. F. Burton
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Ein Doppelgänger Mohammeds Da es sich so verhält, daß in der Vorstellung der Moslems die Ideen Mohammeds und die Religion unauflöslich verschmolzen sind, hat der Herr befohlen, daß ihnen im Himmel stets ein Geist vorschweben soll, der die Rolle Mohammeds spielt. Dieser Abgeordnete ist nicht immer derselbe. Ein Stadtbürger aus Sachsen, den zu seinen Lebzeiten die Algerier gefangengenommen hatten und der zum Islam übergetreten war, hatte einmal diesen Posten inne. Da er ein Christ gewesen war, sprach er zu ihnen von Jesus und sagte ihnen, er sei nicht der Sohn Josefs gewesen, sondern der Sohn Gottes; es war ratsam, ihn abzulösen. Wo sich dieser stellvertretende Mohammed befindet, ist durch eine Fackel bezeichnet, die nur den Moslems sichtbar ist. Der echte Mohammed, der Verfasser des Koran, ist seinen Glaubensjüngern nicht sichtbar. Man hat mir gesagt, daß er ihnen im Anfang vorschwebte, daß er sich aber die Herrschaft über sie anmaßte und in den Süden verbannt wurde. Eine Gemeinde von Moslems wurde von den Dämonen angestiftet, Mohammed als Gott anzuerkennen. Um den Aufruhr zu beschwichtigen, wurde Mohammed aus der Hölle heraufgebracht und zur Schau gestellt. Bei dieser Gelegenheit sah ich ihn. Er glich den körperhaften Geistern, die keine innere Wahrnehmung besitzen, und sein Gesicht war sehr dunkel. Er vermochte die Worte auszusprechen: »Ich bin euer Mohammed« und versank unmittelbar darauf. Aus: Vera Christiana Religio (1771), von Emanuel Swedenborg
Der edelmütige Feind Magnus Barfod unternahm im Jahre 1102 die Gesamteroberung der Königreiche Irlands; es heißt, daß er am Vorabend seines Todes diese Grußbotschaft von Muirchertach, König in Dublin, empfangen habe:
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Mögen in deinen Heeren das Gold und der Sturm kämpfen, Magnus Barfod. Möge morgen, auf den Feldern meines Reichs, deine Schlacht glücklich sein. Mögen deine Königshände schrecklich das Wertgewirk weben. Mögen dem roten Schwan zur Speise werden jene, die sich deinem Schwert widersetzen. Mögen dich mit Ruhm sättigen deine vielen Götter, mögen sie dich mit Blut sättigen. Mögest du siegreich sein in der Morgenröte, o König, der du Irland betrittst. Möge von deinen vielen Tagen keiner so strahlen wie der morgige Tag. Denn dieser Tag wird der letzte sein. Ich schwöre es dir, König Magnus. Denn ehe sein Licht erlischt, werde ich dich besiegen und dich auslöschen, Magnus Barfod. Aus dem Anhang zur Heimskringla (1893), von H. Gering
Von der Strenge der Wissenschaft ... In jenem Reich erlangte die Kunst der Kartographie eine solche Vollkommenheit, daß die Karte einer einzigen Provinz den Raum einer Stadt einnahm und die Karte des Reichs den einer Provinz. Mit der Zeit befriedigten diese maßlosen Karten nicht länger, und die Kollegs der Kartographen erstellten eine Karte des Reichs, die die Größe des Reichs besaß und sich mit ihm in jedem Punkt deckte. Die nachfolgenden Geschlechter, die dem Studium der Kartographie nicht mehr so ergeben waren, waren der Ansicht, diese ausgedehnte Karte sei unnütz, und überließen sie, nicht ohne Verstoß gegen die Pietät, den Unbilden der Sonne und der Winter. In den Wüsten des Westens überdauern zerstückelte 69
Ruinen der Karte, behaust von Tieren und von Bettlern; im ganzen Land gibt es keine anderen Überreste der geographischen Lehrwissenschaften. Suárez Miranda: Viajes de varones prudentes, IV. Buch, Kapitel XLV, Lérida, 1658
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