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Buch »Wenn überhaupt keine Winde wehen, hat sogar der Wetterhahn auf dem Kirchturm Charakter.« Wie kaum ein anderer Schriftsteller unseres Jahrhunderts be herrscht der Pole Stanisław Jerzy Lec die Kunst, mit wenigen Worten eine vernichtende Wahrheit zu formulieren. In Aphoris men, Fabeln und Epigrammen übt er ätzende Kritik am Beste henden: an Borniertheit, Selbstzufriedenheit, geistiger Regle mentierung und vor allem am charakterlosen Opportunismus, der sich bedenkenlos in jede geistige, gesellschaftliche und poli tische Konstellation fügt. Doch nicht jedes Wort aus Lecs Feder ist beißend. Dieser große Sprachkünstler der abendländischen Literatur setzte seine Ge danken und Bedenken ebenso in humorvolle, melancholische und nachdenkliche Gedichte um.
Autor Der polnische Satiriker und Lyriker Stanisław Jerzy Lec wurde 1909 in Lemberg geboren und studierte von 1928 bis 1933 Jura. Im Zweiten Weltkrieg kämpfte er auf der Seite der kommunisti schen Partisanen. In den Jahren 1946 bis 1949 war er polnischer Kulturattache in Wien. Nach seiner Entlassung lebte er einige Jahre in Israel, bevor er nach Warschau zurückkehrte, wo er 1966 starb. Bekannt wurde er besonders durch seine Aphorismen, die in zahlreichen polnischen Zeitungen veröffentlicht wurden.
Das große
STANISŁAW
JERZY LEC
BUCH
Aphorismen, Epigramme, Gedichte
und Prosa
Herausgegeben und
aus dem Polnischen von
Karl Dedecius
Vorwort von Umberto Eco
GOLDMANN VERLAG
Der vorliegende Band erschien ursprünglich unter dem Titel »Das große Buch der unfrisierten Gedanken«.
Gescannt von c0y0te.
Nicht seitenkonkordant.
Der Goldmann Verlag
ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe Bertelsmann
Made in Germany • 1/90 • 1. Auflage
Genehmigte Taschenbuchausgabe
© 1971 by Carl Hanser Verlag München Wien
© des Vorworts by Umberto Eco
Umschlaggestaltung: Design Team München
Umschlagfoto: R. Erben, München
Satz: Fotosatz Uhl + Massopust, Aalen
Druck: Elsnerdruck, Berlin
Verlagsnummer: 9568
UK • Herstellung: Heidrun Nawrot
ISBN 3-442-09568-9
Umberto Eco
SESAM ÖFFNE DICH –
ICH MÖCHTE HINAUS!
Zwei mitteleuropäische Juden, die sich mit Aphorismen ei nen Wettkampf liefern, bringen den Schiedsrichter in Verle genheit. Auch weil es nicht darum geht, Wettkämpfe auszu tragen. Aber da man nun einmal Stellung beziehen muß, würde ich mich, wenn ich auf die oft zitierte einsame Insel fahren müßte und nur ein einziges Buch zum Lesen und Wiederlesen mitnehmen dürfte und die Wahl hätte zwi schen Karl Kraus und Stanisław Lec, für Lec entscheiden. Nach außen hin brillanter und paradoxer als Kraus, geht Lec in Wirklichkeit mehr in die Tiefe. Er präsentiert sich als Sittenkritiker, doch im Grunde kritisiert er die schwer zu rechtfertigende Tatsache, daß Seiendes ist und Nicht viel mehr nichts. Lec, der einer Familie adliger galizisch-wienerischer Ju den aus Lemberg entstammt, die den Baronstitel trugen, hat seine Kindheit im österreichisch-ungarischen Reich verlebt, wurde von der Gestapo verfolgt, war im Widerstand, emi grierte für ein paar Jahre nach Israel, kehrte dann wieder nach Polen zurück und pflegte dort die Impertinenz als Fulltimebeschäftigung. Er hat noch anderes geschrieben, aber die Unfrisierten Gedanken haben seinen Ruhm be gründet. Es ist nämlich ein Buch, von dem jeder zivilisierte, nachdenkliche Mensch jeden Abend drei oder vier Zeilen lesen sollte, bevor er einschläft (wenn er es dann noch kann). 5
In die 1965 erschienene italienische Erstausgabe waren vorwiegend »Dissidentengedanken« aufgenommen wor den, die sich auf die Situation im sozialistischen Polen be zogen, wo sie zwischen 1957 und 1959 publiziert wurden, in der Ära Gomulka, das heißt, während des Tauwetters. Da mals war es als provokatorischer Akt erschienen, den aktu ellen politischen Aspekt von Lecs Unternehmung hervor zuheben. Doch Marchesani, der Herausgeber der (italieni schen) Neuausgabe von 1984, hat recht, wenn er daran er innert, daß Lecs Satire, die in großen Tiefen wurzelt, nicht nur in der vis ironica der mitteleuropäischen Kultur, son dern in der talmudischen Weisheit, ja vielleicht sogar in noch älteren Traditionen, eine philosophische, metaphysi sche Satire ist, die nicht ein einzelnes politisches System at tackiert, sondern (man verzeihe den etwas abgedroschenen Ausdruck) die ganze conditio humana. »Er hatte ein reines Gewissen. Es war nie benutzt wor den.« Auf welche Epoche, auf welches Land trifft dieser Gedanke zu? Auf alle. Schon an dieser Stelle, beim ersten Gedanken, falle ich meinem Autor zum Opfer. In der Tat macht man bei der Lektüre dieses Buches folgende Erfah rung: Man beginnt ein, zwei Gedanken zu lesen, dann kann man nicht mehr an sich halten, man sucht einen Freund, einen Gefährten, ein Opfer, und man liest ihm alle anderen vor. Gewöhnlich wehrt sich das Opfer nicht, es genießt sei ne Lage. Lecs Unfrisierte Gedanken sind also ein Buch, das man mit lauter Stimme rezensiert (und empfiehlt). Ich könnte endlos Sätze zitieren, über den Daumen gepeilt, ent hält das Buch tausendfünfhundert Gedanken. Natürlich sind nicht alle von derselben Qualität, manche sind länger als andere, und man versteht sie nicht auf Anhieb. Ein Zei chen dafür, daß Lec kein einfacher Aphoristiker ist, seine 6
Gedanken nicht vorfabriziert und zu sofortigem Gebrauch bestimmt sind. Manche, viele, müssen überdacht werden. Im allgemeinen lassen sie sich nicht so leicht frisieren. Aus einer Rezension in L’Espresso vom 20. Mai 1984 Übertragung ins Deutsche: Elise Dinkelmann
7
Ich werde ständig gefragt:
»Schreiben Sie auch größere Sachen?«
»Nein«, antworte ich, »nur große.«
9
5 nachgelassene Notizen 1966
10
Eines Tages Eines Tages saß ich im Cafe. Ein seltsames Gefühl be
drückte mich. Sicherlich kennen Sie es alle. Ein Gefühl, das man nicht lokalisieren, nicht präzisieren kann, des
sen wegen man bereit wäre, ganze Wörterbücher zu durchstöbern: nur um auf seine Spur zu kommen.
Etwas fehlte mir.
Da trat plötzlich jemand an mich heran und fragte: »Verzeihung, haben Sie nicht zufällig Lec gesehen?« Da merkte ich, daß ich in diesem Café überhaupt nicht vorhanden war.
Mir fehlte meine Identität.
11
Traumverbot Es war im Staate X. Ich nahm ein Hotel, legte mich mü de zur Ruhe, schlief ein. Ich weiß nicht, wie lange ich geschlafen hatte, als mich plötzlich ein heftiges Klopfen an meiner Tür weckte. Es war der Hausmeister: aufge bracht und streng. »Ich bitte Sie« – rief er, schrie er fast – »bei uns wird tief geschlafen, nicht geträumt!«
12
Alt und neu Unlängst hatte man am Alten Markt, an einer seiner malerischen Ecken, das Fragment einer alten Gosse kunstgerecht rekonstruiert. Ein historischer Film sollte gedreht werden. Nachts ging ich dort, zufällig, vorbei und sah die Be scherung. In der künstlichen historischen Gasse lag ein echter moderner Mensch.
13
Verdienste Man hatte mir einen Taubstummen gezeigt, der einen riesengroßen Tapferkeitsorden trug. »Wofür?« fragte ich. Als eines Tages, grundlos, die große Glocke Alarm ge schlagen hatte – antwortete mir der Nachbar des Glöckners lächelnd –, sei er als einziger ruhig und ge faßt geblieben. Womit er seinen Mitbürgern für alle Zeit zum Vorbild geworden war.
14
Trost Wenn die Medizin den degenerierenden Menschenkör per gerettet haben wird, wenn die Politiker die uns be ängstigenden Massenvernichtungsmittel wie alt ge wordenes Spielzeug über Bord geworfen haben wer den, wenn es den Poeten gelungen sein wird, verloren gegangene Empfindungen wiederzufinden, wenn die Psychoanalytiker uns von den Komplexen befreit haben werden und die Urbanisten uns aus den gigantischen Katakomben der City hinausgeführt haben werden etc., etc., etc., werden wir vielleicht plötzlich wieder nackt und ohne Scham und so unschuldig sein, daß wir nur ab und zu zu einem Stein greifen werden, um mit ihm einen zweiten Glückspilz, wie wir einer sind, zu erschlagen.
15
10 kleine Mythen 1965
17
Die Welt wandelt sich Es war einmal ein Kaiser, der besuchte eine seiner ent fernten Provinzen. Er wollte die neu erbauten Siedlun gen besichtigen. Der Gouverneur, dem der Trick des Fürsten Potemkin aus der Geschichte bekannt war, ließ längs der Straße, die sein Kaiser fahren sollte, eilig At trappen aufbauen. Alles war falsch wie damals im 18. Jahrhundert – nur eins war nicht geplant und also echt: Die Aufschriften an den Wänden. Nieder! Nieder! Nie der! So konnte man es auf den mit Putz überworfenen Pappkulissen lesen. Als man den Betrug entdeckt hatte, wurde der Gouver neur auch des vorgetäuschten Volkszorns wegen schuldig gesprochen.
19
Von einem Hund Er gehörte den Herrschaften M. Ein alter, zottiger Pu del. Die Haare fielen ihm bereits aus, die rostige Haut kam immer mehr zum Vorschein. Kinder, sogar Er wachsene machten sich über ihn, dieses komische und tolpatschige Knäuel, lustig. Die Herrschaften M. mein ten jedoch, er sei ein »Schlaumeier«. Ich traf sie in einer Hotelhalle. In den Speiseraum durf ten Hunde nicht hinein, also lag »Schlaumeier« drau ßen, an ein Tischbein gebunden, und schlummerte. Die Kette hatte sich so gestrafft, daß »Schlaumeier« darauf sein Köpfchen stützen und fest einschlafen konnte. Und da begriff ich, daß er seinen Beinamen zu Recht be kommen hatte. Er nutzte seine Kette unter den gegebe nen Umständen auf die bestmögliche Art.
20
Von der unterschätzten Laryngologie Am Hofe des Königs Minus räusperte sich einmal ein Höfling (vielsagend). Der Zeremonienmeister sah ihn an (vielsagend). »Mein Hals« – entschuldigte sich heiser der Höfling. Der Hofmeister zog eine Dragéeschachtel aus der Ta sche. »Gegen Heiserkeit, das hilft.« Der Höfling nahm eine Pille vorsichtig zwischen die Finger, schluckte, räusperte sich; zum letzten Mal in seinem Leben. Die im Saal Versammelten hielten den Atem in. Sie schauderten vor Angst, sich womöglich auch räuspern zu müssen; noch hatte nämlich der Zeremonienmeister sein Döschen mit den Dragées nicht zugeklappt.
21
Von Blindgängern Mitten im Krieg pflügte ein Bauer sein Feld. Ein feindli cher Flieger flog gerade über das Tal. Er ließ, wie das die feindlichen Flieger so tun, eine Bombe fallen. Ich mag keine Greuelgeschichten, und ich hätte diesen Vorfall niemals erwähnt, wenn er nicht ein unerwarte tes Happy-End hätte. Obwohl die Bombe den harten Schädel des Bauern traf, detonierte sie nicht. Sie grub sich unkrepiert tief in den Acker ein. Neben dem kre pierten Bauern.
22
Von besorgniserregenden Geschenken In einem exklusiven Restaurant im Ausland (wo alle Gaumen auch noch so exotischer Gäste verwöhnt wer den können) fiel mir ein Herr auf, für den gerade ein paar Geierleberchen flambiert wurden. Nach einigen Besuchen in diesem Etablissement kam mir eine Erleuchtung. Ich verneigte mich im Vorübergehen vor dem Gast und flüsterte ihm vertraulich zu: »Meine Hochachtung, Herr Professor Prometheus.« Er machte große, herrlich vize göttliche Augen. Das nächste Mal überreichte mir der Garçon ein Päck chen mit einem Souvenir von ihm. Ich eilte nach Hause, um es dort zu öffnen. Ein kleines, goldenes Feuerzeug kam zum Vorschein, ausgezeichnet intakt. Ein Wört chen war darin eingraviert: Pssst! Seitdem quält mich die Ungewißheit: Ob es nicht etwa irgendwem gestohlen wurde?
23
Von unlauteren Methoden In Nizza habe ich in einer Hafenhalle einen Käfig mit einem aus Indien eingeführten Tiger gesehen. Der Schrei der Bestie, der das Mittelmeerpanorama zer riß, lockte mich herbei. Ich stellte fest, daß die Wut das Tier immer dann packte, wenn der Fänger dem Käfig näher kam. Angeblich soll er das wilde Tier im Dschungel durch eine List eingefangen haben. Er hatte sich als Beauftragter des Zirkus »Ciniselli« ausgegeben, der in der ganzen Tierwelt berühmt war; in Wirklich keit aber arbeitete er, wie es sich bald herausstellen soll te, für den elenden Zirkus »Oklahoma.« Ohweia! Wie das einmal enden soll! Schon heute fährt der betrogene Tiger aus dem Gitter seiner gestreiften Haut!
24
Von erfüllten Träumen Ich schlenderte durch den herbstlich gelbroten Schloß park, den meine neureichen Bekannten erstanden hat ten, als plötzlich ein Frosch vor meinen Füßen auf sprang. Nichts Besonderes natürlich. Ich hätte ihm kei ne größere Aufmerksamkeit geschenkt, außer dieser, das Wesen nicht totzutreten; beileibe nicht aus Mitleid, eher aus Ekel. Aber da war noch ein zarter Klang dabei; anders als der von einer angerührten Blume; um so we niger, da es im Herbst diesem Schloßpark sowieso kei ne Glockenblumen gab. Vor meine Füße war eine win zige Krone aus purem Gold gerollt. Ich sah mich um im Gras. Unweit saß der Frosch und starrte mich mit entsetzten Augen an. Sie waren angsterfüllt und wie hypnotisiert. Ich bückte mich nach der Miniaturkrone, trat ein paar Schritte näher, erwies meine Reverenz, sagte galant: »Prinzessin« und setzte das Insignium auf den Frosch kopf. Frosch schloß seine Augen, und als er sie wieder öffne te, hatten sie einen sanften, leicht melancholischen Aus druck. Er sagte: »Ich spare mir jede Einleitung, Sie scheinen ein Intellektueller zu sein, also werden Sie mich und das Märchen wahrscheinlich kennen. Ich be sitze die Macht, Wünsche zu erfüllen: Nun dürfen Sie sich etwas wünschen.« Ich äußerte meinen Wunsch. 25
»Ich möchte, daß die Menschen der ganzen Welt sofort wüßten, was ich denke; damit ich mir das Pochen an die Türen der Redaktionen und Verlage erspare.« »Gut.« Der Frosch machte einen Sprung und war verschwun den. Im selben Augenblick verspürte ich eine gewaltige Bewegung im Kopf. Meine Gedanken fielen mir plötz lich freier und deutlicher ein. Freudig erregt schlenderte ich weiter in den Park. Als ich nach einer Viertelstunde zum Schloß zurückkam, stellte sich ein Gendarm aus dem unweit gelegenen Gouvernementsstädtchen mir in den Weg. Er schlug sehr dienstbeflissen mit der Hand an seine Fellmütze, blinzelte sehr dienstbeflissen mit einem Auge und zeig te mir die Richtung, in der ich unverzüglich zu gehen hätte. Nicht nur er wußte, worum es ging, auch ich wußte es genau. Und er wußte, daß ich wußte, daß er wußte, daß ich wußte … Aber lassen wir das; schließlich wurde ich nicht von Ihnen zu Protokoll vernommen.
26
Das Modell Ich protestiere! Warum dürfen nur Maler und Bildhau er lebende Modelle für ihre Akte beanspruchen? Gilt denn ein Dichter weniger? Ich beschreibe einen Akt. Nach einem Modell, das vor mir steht, nackt, wie eine frisch geschälte Nuß. Papier ist da, Bleistift ist da, Augen sind da. Nur – mir fehlen die Worte!
27
Musterexemplar Ich weiß nicht, ob ich es schon erzählt habe, daß ich seit einiger Zeit, wenn ich erregt bin, Selbstgespräche führe. Wahrscheinlich bin ich nicht der erste und nicht der letzte, der so etwas tut. Vor allem nicht unter Satirikern. »Zeigt mir das Musterexemplar von einem Menschen!« rief ich eines Tages unter anderem. So meinte wenig stens ein Engel, der plötzlich vor mir stand und Ant wort gab: »Komm mit mir« – sagte er – »ich will dir dieses Muster von einem Menschen zeigen.« Er führte mich in die Ödnis, wo in einer Einsiedelei mit Vollpension, Wäsche usw. jenes Muster lebte. »Ich bin das Muster von einem Menschen« – sagte die ses, als ich ihm vorgestellt wurde, und es fügte mit ei ner bescheidenen Ehrlichkeit, die ich natürlich erwartet habe, hinzu – »das man zur Serienproduktion nicht zu gelassen hatte.«
28
Lob der Wirklichkeit In Purpur, die Krone auf dem Haupt, mit Apfel und Zepter in der Hand, schritt Er die Stufen der Treppe hinab. Am Fuße der Treppe jubelte die unübersehbare Menge, in Erwartung Seiner Majestät. Da trat Er unvor sichtigerweise auf einen Zipfel des Hermelins und fühl te, daß sogleich … wer weiß, wie viele Stufen hinab … stürzen würde … In diesem Augenblick erwachte Er und merkte, daß ihm nur ein Bein aus dem Bett gefallen war und sich in den Zipfel der Decke verwickelt hatte. Er setzte sich, beide Füße fest auf dem Boden, besser: auf dem Bettvorleger seines Staatssekretärs, und atmete auf. So hart ist eigentlich die Wirklichkeit nicht, wie man sie träumt.
29
805 Aphorismen 1957-1966
31
Gedanken
Es bedarf vieler Gedanken, um einen festzuhalten.
Feile an deinem Gedanken; vielleicht ist das eine Art zu überleben.
Auch zur Bewachung von Gedanken verwendet man Eunuchen.
Man muß die Anzahl der Gedanken derart ver vielfachen, daß die Anzahl der Wächter für sie nicht ausreicht.
Ein genialer Gedanke kommt auch ohne Worte aus.
Verschiedene Gedanken schwirren mir im Kopf herum. Manche verlassen ihn sogar.
Gedanken hüpfen wie Flöhe von einem Menschen auf den andern. Aber sie beißen nicht alle. 33
Gedanken wechseln die Köpfe und nehmen deren Form an.
Fordern wir einen achtstündigen Gedankentag!
Unsere Taten sind dabei, unsere Gedanken einzuholen. Wehe, wenn sie sie überholen.
Auch die Ansprüche der Satire wachsen: sie möchte immer raffiniertere Verbrechen verspotten.
Neuheit: Tarnmaulkorb.
Will das Salz süß sein und der Zucker salzig, sträubt sich unser Geschmack. Mit welchem Recht eigentlich?
Nächte sind meist zu dunkel, um gesehen zu werden.
Gipfel von Schablone: Vorbild bleiben. 34
Wer seine Rolle im Leben begriffen hat, sucht sich bei zeiten ein Double.
Du sollst nicht töten klingt im Dekalog wie eine Mah nung, dabei ist es eine Entdeckung.
Sie beobachten mich durch ein Vergrößerungsglas: um mich kleinzukriegen.
Das Leben zwingt den Menschen zu allerlei freiwilligen Handlungen.
Der Ton kehrt nie zur Saite zurück.
Bedenke, bevor du denkst.
Wer vor Begeisterung stirbt, hüte sich vor der Aufer stehung.
Die Wirklichkeit kann man ändern, eine Fiktion muß man aufs neue ersinnen. 35
Weisheit sollte im Überfluß zu haben sein; wer fragt schon danach?
Bauen wir provisorische Sätze. Denn wenn ein Erd beben kommt …
Wer den weitesten Horizont hat, hat meist die schlech teste Aussicht.
Freiheit kann man nicht simulieren.
Am Wachstum hindert den Menschen oft das eigene Dach überm Kopf.
Was ein Dichter über den anderen zu sagen hat, kann man auch sagen, ohne einer von beiden zu sein.
Einsamkeit, wie bist du übervölkert!
Sein Gewissen war rein. Er benutzte es nie. 36
Der Leichnam wurde seinem Mörder gegenübergestellt: aber er erkannte ihn nicht.
Traurig, daß sich die Menschen stets in demselben Lied, an derselben Stelle, mit demselben falschen Ton – ver pfeifen.
Es gibt Volkstragödien, die keine Pause kennen.
Kollektiver Irrtum ist leichter zu tragen.
Unlängst bekam ich eine Leserzuschrift: »Um Ihre ›Un frisierten Gedanken‹ zu verstehen, muß man belesen sein.« Ich telegrafierte sofort zurück: »Und ob, und ob!«
Alles sollte man dem Menschen opfern. Nur nicht den Menschen.
Auch leere, versiegelte Briefumschläge enthalten ein Geheimnis. 37
Ich kannte Feuerwehrleute, die über ihrem Bett nicht den heiligen Florian, sondern Prometheus hängen hat ten.
Manche Menschen entbehren der Gabe, die Wahrheit zu sehen. Aber welche Ehrlichkeit atmet dafür ihre Lü ge!
38
Wahrheit
Der Mensch sucht die Wahrheit, um sie noch tiefer zu vergraben.
Es gibt keine Wahrheit – sagt diese manchmal selbst. Aus Vorsicht.
Die Wahrheit liegt meist in der Mitte (und ohne Ge denkstein).
Sei kein Snob. Lüge nie, wo die Wahrheit besser bezahlt wird.
Je mehr wir uns der Wahrheit nähern, desto mehr ent fernen wir uns von der Wirklichkeit.
Die Wahrheit siegt zuweilen, wenn sie aufhört zu sein. 39
Ich kann mir das Weltende vor dem Sieg der Wahrheit nicht vorstellen.
Schwer, sich selbst die Wahrheit zu sagen, wenn man sie kennt.
Warum lügt, wer die Wahrheit nicht kennt?
Sei Realist: sprich nicht die Wahrheit.
Sesam öffne dich – ich möchte hinaus!
Ich reiche Ihnen bittere Pillen in süßem Zuckerguß. Die Pillen sind unschädlich, das Gift steckt in der Süße.
Politik: Derby trojanischer Pferde.
Auch an Gedankenwegen lauern Räuber. Natürlich, sie halten sich ebenfalls für Intellektuelle. 40
Manchmal hat man das Gefühl, in uns wohne ein amt lich zugeteilter Jemand.
So mancher Bumerang kommt nicht zurück. Er wählt die Freiheit.
Kinder suchen immer nach dem Geheimnis jenseits des Spiegels. Nur wir Erwachsene begnügen uns mit unse rer flachen Vordergründigkeit.
Zwerge müssen sich tief verneigen.
Man sollte über ihn in lauter Superlativen schreiben – allerdings negativ.
Er streute auf sein Haupt Asche — seiner Opfer.
Es ist keine Kunst zu sagen: »Ich bin!« Man muß sein.
Roboter, triumphiert nicht zu früh. Der nächste Fort schritt könnte auch euch befreien. 41
Wenn ich im Jenseits meine Mörder wiedersehen soll, dann will ich schon lieber in dieser Welt mit ihnen le ben.
Gibt es denn Worte genug, um alle Mäuler damit zu stopfen?
Manchmal muß man verstummen, um erhört zu wer den. Alles ist bereits entdeckt, nur in der Gegend der Banali tät gibt es noch Neuland.
Jeder Zuschauer bringt seine eigene Akustik ins Theater mit.
Gerade Haltung kann unter Umständen nur ein Sym ptom der Lähmung sein.
Achillesfersen verstecken sich gern in Tyrannenstiefeln.
Der Leierkasten zermahlt jede Melodie. 42
Sprich weise, der Feind hört mit.
Was Chaos ist? Es ist jene Ordnung, die bei der Erschaf fung der Welt zerstört wurde.
Ich weiß, woher die Legende vom Reichtum der Juden kommt: sie bezahlen alles.
Geistig selbstgenügsam sind nur die Genies und die Idioten.
Wer führt Statistik darüber, wieviel Unfälle durch Warnschilder und Wegweiser passieren?
Ein Judaskuß vermag den Dichtermund für immer zu schließen.
Wahre Freundschaftsknoten lassen sich von beiden Sei ten lösen.
Lernt Sprachen. Auch die nicht vorhandenen. 43
Unsere kühnsten Träume erfüllen sich bereits, nun ist es Zeit für die weniger kühnen.
In der Zukunft werden die Menschen ihr Mäntelchen nach den interplanetarischen Winden hängen müssen.
44
Harem
»Mit Eunuchen kann man sich lange unterhalten« – erzählte eine Haremsdame.
Sage mir, mit wem du schläfst, und ich sage dir, von wem du träumst.
Wir standen uns so nah, daß es zwischen uns keinen Platz mehr gab für Gefühle.
Was nutzen einem Eunuchen standesamtliche Trauun gen?
Der Kampf der Geschlechter kennt nur konventionelle Waffen.
Wenn zwei Einsamkeit suchen, droht der Welt Über völkerung. 45
Wir sahen uns in die Augen, und ich sah nur mich, und sie sah nur sich.
Die Ehe ist eine Institution. Reichen die Mitarbeiter auch aus?
Da sprach der Eunuch: »Was soll ich mit einem Weibe, ich brauche einen ganzen Harem.«
Anders duftet das Heu den Pferden und anders den Verliebten.
Analphabeten müssen diktieren.
Unter allen menschlichen Entdeckungen sollte die Ent deckung der Fehler die wichtigste sein.
Wozu Illusionen, wenn sie sich erfüllen lassen?
Je reicher die Phantasie, die ein Mensch hat, um so ge ringer sein Selbstgefühl. 46
Vermeidet Blutvergießen. Ein Held honoris causa täte es meinetwegen auch.
Säge nicht am Ast, auf dem du sitzt, es sei denn, man wollte dich daran hängen.
Spuren vieler Verbrechen führen in die Zukunft.
Was hat euer Gesicht so entstellt? Die allzu großen Worte.
Man kann das »Lied der Freiheit« nicht auf dem In strument der Gewalt spielen.
Ach, sähen wir doch das Leben und nicht die Situatio nen!
Schade, daß Kain und Abel keine siamesischen Zwillin ge waren.
Espen zittern unter jedem Regime. Aber zum Kuckuck! Sie grünen auch unter jedem. 47
Menschen haben Spätzündung: sie begreifen alles erst in der nächsten Generation.
Ohne die Kenntnis der fremden Sprache wirst du nie mals das Schweigen des Ausländers verstehen können.
Aus der Problematik des Rechts: bis zu wie vielen Toten darf man sich irren?
Das Gewicht eines Problems wird brutto notiert. Wir sind darin inbegriffen.
Als die Veilchen zu duften begannen, sagte der Kot: »Na und? Sie bedienen sich des billigen Kontrasts!«
Schwimmer gegen den Strom dürfen nicht erwarten, daß dieser seine Richtung ändert.
Ideale sind nichts für Idealisten.
Wer hört, wie das Gras wächst? Die Mäher. 48
Um an die Quelle zu kommen, muß man gegen den Strom schwimmen.
Wann kam das Ziel selbst zum Ziel?
Die Art der Beleuchtung einer Sache ändert nichts an ihrem Wesen.
So manche trügen gern die phrygische Mütze, wäre sie nur eine Tarnkappe.
Auf den Geschmack des Kritikers X. kann man sich ver lassen. Er ist zuverlässig schlecht.
Die Fetten leben kürzer. Aber sie essen länger.
Es gibt Robinsone, die Schiffbruch erlitten, als sie ihr Eiland verließen und an dem bevölkerten Festland strandeten.
Umgang mit Zwergen krümmt das Rückgrat. 49
Die Summe der Winkel, nach denen ich mich sehne, ist gewiß größer als 360 Grad.
Ein Adler mit dem Blick eines Falken, mit dem Gefieder eines Kolibri, der Stimme einer Nachtigall und dem Fleisch eines Kapauns – das wäre was!
50
Begabung
Seht euch vor literarischen Blindgängern vor. Sie sind noch nach Jahren gefährlich.
Künstler, die den jeweiligen Herrscher nicht als Heroen porträtieren, sind keine Realisten.
Der Augenblick der Erkenntnis seiner Unbegabung war ein Geistesblitz.
Guter Rat für Schriftsteller: Im bestimmten Augenblick zu schreiben aufhören. Sogar, bevor man angefangen hat.
Oft befruchtet der Gedanke eines Autors seinen Kritiker zu Fehlgeburten.
Der Dichter fischt im Strom, der ihn durchfließt. 51
Das Heu in den Köpfen mancher Poeten bekommt Pe gasus offensichtlich gar nicht schlecht.
Dichter sind wie Kinder: wenn sie am Schreibtisch sit zen, reichen sie mit den Füßen nicht einmal bis zum Boden.
Wie viele Nachtigallen muß eine Bestie fressen, um selbst zu singen?
Sogar sein Schweigen enthielt Sprachfehler.
Seid wachsam! Ein mißachteter Analphabet könnte den Punkt über das i setzen.
Ich glaube an das Ende des organischen Lebens auf Er den – aber nicht an das des organisierten.
Man muß oft Nein sagen, um sich selbst zu bestätigen.
Und vielleicht erfinden wir rasch eine andere Zeitrech nung, um nicht im XX. Jahrhundert zu sein? 52
Ohnmächtige Wut wirkt Wunder.
Auf der Straße der Tugend lauern Gefahren. (Das Ver kehrsamt tut so, als gäbe es keinen Gegenverkehr.)
Ich bin schön, ich bin stark, ich bin weise, ich bin gut. Und ich habe das alles selbst entdeckt!
Ein getöteter Krebs errötet. Was für ein nach ahmungswürdiges Feingefühl des Opfers.
Die Sadisten und die Masochisten sollten miteinander Selbstbedienungsgeschäfte, Trusts und Staaten bilden.
Panem et circenses! Immer weißeres Brot und immer blutigere Spiele.
Nenne die Dinge nicht beim Vornamen, wenn du ihren Nachnamen nicht kennst. 53
Wenn jemand nachweisen könnte, er sei Nachkomme des Spartakus, dann wäre er heute kein Funktionär der Linken, sondern Zierde der römischen Aristokratie.
Was nutzt es dem Hasen, daß er stets offene Augen hat?
Ich kann mich auf die bloße Nennung des Namens He rostrates nicht empören, solange ich die Architektur des Tempels der Artemis in Ephesus nicht kenne.
Das bessere Morgen enthält noch keine Versicherung gegen das noch bessere Übermorgen. In manchen Staaten herrscht eine solche Öffentlichkeit des öffentlichen Lebens, daß sogar die Geheime Polizei öffentlich und überall bekannt ist.
Auch wenn Bürger zittern, gibt es Risse in den Grund mauern des Staates.
Wer an das Gewissen appelliert, erkennt es nicht als die erste Instanz an. 54
Gib acht, daß du nicht zufällig unter das Glücksrad ei nes anderen gerätst.
Geistige Provinz – der Versuch, jenseits des Hirns zu denken.
Nun bist du mit dem Kopf durch die Wand. Und was wirst du in der Nachbarzelle tun?
Auf das menschliche Gedächtnis ist kein Verlaß. Leider auch nicht auf die Vergeßlichkeit.
Manchmal muß man die Zeit zwischen der Ver gangenheit und der Zukunft in einer gramma tikalischen Ersatzzeit durchstehen.
Vielleicht werden wir irgendwann unsere Seelen volkswirtschaftlich verwerten können?
Merke: auf dieser Erde gravitiert alles nach unten. 55
Ich bin Optimist. Ich glaube an den erlösenden Einfluß des Pessimismus.
Zwei Parallelen begegnen sich in der Unendlichkeit – und sie glauben daran.
Wehe, wenn ein Ding, an die falsche Adresse gerichtet, die richtige erreicht.
Auch Sümpfe geben sich manchmal den Anschein der Tiefe.
Wirf den Stein als erster! Sonst bist du für sie ein Epi gone.
56
Henker
Perfide Henker lockern ihren Opfern die Schlinge.
Henker treten meist in Masken der Gerechtigkeit auf.
»Kopf hoch«, sagte der Henker und warf ihm die Schlinge um den Hals.
»Aus einem Kreuz könnte ich zwei Galgen machen« –
sagte geringschätzig der Fachmann.
Im Hause des Gehenkten spricht man nicht vom Gal
gen. Und im Hause des Henkers?
Woher den Mut nehmen? Die Mutigen geben ihn nicht
her.
Denkt daran, daß auch der Unglaube irgendwessen hei
ligstes Gefühl sein könnte. Verspottet ihn nicht.
57
Seltsam. Die »Philosophie der Verzweiflung« fürchtet am meisten die Optimisten.
Bakterien? Kleinigkeit!
Seit der Erfindung des Menschen vervollkommnet man ihn lediglich mit Prothesen.
Wie stickig! So öffnet doch die Fenster, mögen die da draußen es auch zu spüren bekommen.
Legenden werden oft von denen zerstört, die ihren Rohstoff brauchen.
Und vielleicht hat die herrliche Höhlenmalerei seiner zeit in den Untergrund flüchten müssen?
Wenn Kannibalen den Geschmack des Wissens kosten wollen, schneiden sie den Gelehrten die Zungen ab.
Sind die Schuldlosen moralisch berechtigt, an der Tei lung der Beute teilzunehmen? 58
Am leichtesten verirrt man sich in einem Wald, wenn er gefällt ist.
Ein Sodomit erregte sich beim Betrachten eines Schul buches der Zoologie. Soll man das Buch deshalb als ei ne pornographische Publikation verwerfen?
Sie steinigten ihn mit einem Denkmal.
Auch zum Zögern muß man sich entschließen.
Hätte man so viele Zuhörer wie Lauscher!
Je tiefer zu fällst, desto weniger tut es weh.
Wenn geschrien wird: »Es lebe der Fortschritt! « – frage stets: »Fortschritt? Wessen?«
Winde wehen sehr durchsichtig. 59
Puritaner sollten zwei Feigenblätter vor den Augen tra gen.
Sogar unsere Schicksalsbahnen sind verstaatlicht!
Gebt euch niemals der Verzweiflung hin – sie hält ihr
Versprechen kaum.
Manch eines Bäume wachsen manchmal so, daß ihre
Früchte den Nachbarn auf die Köpfe fallen.
Jedes Regiment wird schließlich zum »ancien régime«.
Wie stürmisch ist das Meer der Gleichgültigkeit!
Gefängnisse sind als Kinderstube problematisch.
Ex Oriente lux, ex occidente luxus!
Wer auf dem Gipfel sitzt, besitzt eine Ausrede: Weiter
geht’s nicht.
60
Man drücke einem Barbaren ein Messer, eine Pistole oder eine Kanone in die Hand, aber um Gottes willen keine Feder! Er macht auch euch zu Barbaren!
Gewissen werden meist von den eigenen Bissen wund.
Auch die Ausmaße des Alls werden ein militärisches Geheimnis sein.
Vor der Wirklichkeit kann man seine Augen verschlie ßen, aber nicht vor der Erinnerung.
Ich sah einmal einen Titanen seine Socken stopfen. Das war seine erste titanische Anstrengung.
Niemals vergibt die Welt jenen, die nichts verschuldet haben.
Wir beobachten eine interessante Erscheinung: Ge stammel als Verständigungsmittel zwischen den Men schen. 61
Gedankenlosigkeit tötet. Andere.
62
Wirklichkeit
Die besten Einfälle werden uns von der Wirklichkeit gestohlen.
Alle unsere unterschiedlichen Fiktionen ergeben zu sammen die gemeinsame Wirklichkeit.
Imitieren wir den Schein durch die Wirklichkeit.
Gäbe es die Wirklichkeit nicht, könnte sie niemand fest stellen.
In Wirklichkeit sieht alles anders aus, als es wirklich ist.
Es gibt keinen Boden. Es gibt nur Hindernisse der Tiefe.
Wer leicht vergißt, besteht sein Lebensexamen besser. 63
Schatten sind begabter: sie tun das gleiche mühelos.
Der Mensch ist die Dornenkrone der Schöpfung.
Er trug seine Fahne hoch – um sie nicht sehen zu müs sen.
Auch an den Kreuzwegen der Geschichte versucht die Polizei den Verkehr zu regeln.
Die Verfassung eines Staates sollte so sein, daß sie die Verfassung des Bürgers nicht ruiniert.
Das Maß der Ungerechtigkeit befindet sich immer in den richtigen Händen.
Er fällt vor jeder Macht – wie die Katze – auf alle vier Beine.
Wehe den Diktatoren, die glauben, sie seien keine. 64
Tabus muß man vernichten, ohne sie zu berühren.
Für die Schuld der Väter werden oft erst die Söhne aus gezeichnet.
Manche warten auf »rotes Licht«, um nicht auf die an dere Seite zu müssen.
Ich weiß nicht, ob ein Fisch noch stumm wäre, wenn er so viele Geheimnisse hätte wie wir.
Die Geschichte lehrt, wie man sie fälscht.
Zeitkrankheit: die Überfunktion der politischen Drüse.
Stelle beizeiten fest, bei wessen Anblick der Hund mit dem Schwanze wedelt.
Wie viele gibt es, die, um den eigenen Nabel nicht aus dem Auge zu verlieren, bereit sind, ihre Rücken zu krümmen! 65
Tabus, obwohl schreckend.
unantastbar,
vermehren
sich
er
Ich glaube an die Wiederfleischwerdung der Ideologie.
Um die Moral zu heben, muß man die Ansprüche sen ken.
Wie werden Seufzer in fremde Sprachen übersetzt?
Zwei Kräfte gewinnen in der Welt des Intellekts an Macht: Präzision und Gestammel. Aufgabe: die Geburt einer Hybride – des präzisen Gestammels – unterbin den.
Sogar ein Glasauge sieht seine eigene Blindheit.
Einige leben mit einer so erstaunlichen Routine, daß es schwerfällt, zu glauben, sie lebten zum ersten Male.
Die Unkenntnis des Gesetzes befreit nicht von der Ver antwortung. Aber die Kenntnis oft. 66
Nur wer gesunden Menschenverstand hat, wird ver rückt.
Tiefe kann man durch Färbung vortäuschen.
Unsinn und Sinnlosigkeit sind dem Sinn nach verschie den.
Merkt euch: einen Stand hat immer nur der Jäger, nie mals das Wild.
Dressierte Papageien wiederholen gar nichts.
Am Anfang bestimmter Lieder stand statt des Violin schlüssels – ein Paragraph.
Abwesende haben zwar niemals recht, sie bleiben dafür oft am Leben.
Wir haben es gern, wenn unsere innere Stimme uns von außen erreicht. 67
Jede Klasse hat ihr Spießbürgertum.
68
Literatur
Literatur der Tatsachen? Manche Tatsachen möchten es verhindern. Im eigenen Interesse.
Der Literatur wird häufig vorgeworfen, sie mache den Gefangenen die Flucht aus der Wirklichkeit leicht.
Ein interessanter Fall von Selbstzeugung: ein Schrift steller gebiert Eigenschaftswörter vor der Geburt der Eigenschaften.
»Ich bin ein Dichter von morgen«, hatte er gesagt. »Sprechen wir darüber übermorgen«, habe ich geant wortet.
Wenn ein Wort Fleisch wird, hört es auf, Literatur zu sein.
Nachdem »letzten Schrei« der Literatur erwarte ich ge wöhnlich ihren letzten Atemzug. 69
Ein mutiger Schriftsteller. Setzte den Punkt nach einem nicht geschriebenen Satz.
Romanschriftsteller: einer, der aus Feigheit seine Ge danken in fremden Köpfen versteckt.
Ein beschlagener Pegasus hat keinen leichten Flug.
Poeten sind Papageien, die Ungesagtes wiederholen.
Die Ignoranz bleibt nicht hinter der Wissenschaft zu rück. Sie wächst genauso atemberaubend wie diese.
Den Mangel an Talent gleicht er mit dem Mangel an Charakter aus.
Ein Dialog mit einem Halbintelligenten gleicht einem Monolog eines Viertelintelligenten.
Das fruchtbare Leben eines Eunuchen beginnt nach der Kastration. 70
Geht der Gerechtigkeit aus dem Weg. Sie ist blind!
Auch Leichtigkeit hat ihr Eigengewicht.
Manchmal hat man das dumme Gefühl, auf der Bühne herumzustehen und nicht einmal Statist zu sein.
Wenn doch das Ohr reden könnte!
Fortschritt in der Geometrie: Die Generallinie setzt sich nicht aus einer Unzahl von Gesichtspunkten zusam men.
Menschliche Gradlinigkeit ist nicht immer der kürzeste Weg zum Ziel.
Wenn wir die Wüsten bevölkern, verschwinden die Oa sen.
Kollidiert ein Mythos mit einem anderen – gibt es ein sehr reales Ereignis. 71
Manchmal verbirgt sich etwas hinter etwas, vor dem wir uns verbergen.
Wer hat den Menschen von seiner Existenz zu verstän digen?
Das Gesicht des Feindes entsetzt mich, weil ich sehe, wie sehr es meinem eigenen ähnelt. Die Plagiatoren schlafen ruhig. Frau Muse gibt selten preis, wer der erste war.
Ich hatte immer Angst vor ungeladenen Gewehren. Man schlug mit ihnen die Schädel ein.
Ob Fische, die durch die Maschen des Netzes hindurch fallen, an Minderwertigkeitskomplexen leiden?
Auch die Überflüssigen werden ständig gebraucht.
Nicht jedem gelingt das Tanzen nach der Zu kunftsmusik. 72
Gegen wen ich denke? Gegen diejenigen, die es mir ver bieten.
Auch die Schweine grunzen manchmal verächtlich ih ren Hirten an: »Du Schweinehirt!«
Ein Nashorn braucht in die Rubrik »Besondere Kenn zeichen« nicht einzutragen: ein Horn auf der Nase.
Schließlich wird der Mensch weder durch Deduktion noch durch Induktion untersucht, sondern durch Ob duktion.
Was helfen Atteste der Unzurechnungsfähigkeit? Idio ten erkennen sie nicht an.
Je kleiner die Bürger, desto größer das Imperium.
Es gibt Stücke, die so schwach sind, daß sie nicht aus eigner Kraft vom Spielplan herunter können. 73
Auf einem Giraffenhals beginnt sogar der Floh an seine
Unsterblichkeit zu glauben.
Zahnlose haben größere Zungenfreiheit.
Werde mit dir nicht zu vertraulich!
74
Kunst
Die Kunst fordert vom Künstler kein Talent, sondern Werke.
Es gibt Künste, die befruchtet werden, ausschließlich im Prokrustesbett.
Die Kunst schreitet voran – und ihr hinterher die Wäch ter.
Nur der, der mit der Kunst intim ist, weiß, welchen Ab stand man ihr schuldet.
Wenn die Menschheit Glück hat, reinigt sich das Verbrechen zur Kunst.
Die Kunst war seine Passion. Er verfolgte sie. 75
Menschen, die mit der Kunst nichts gemeinsam haben – sollten mit ihr nichts gemeinsam haben. Klar?
Ein Weg zur Perfektion der Kunst: durch Elimination. (Doch nicht der Künstler!)
Die Kunst lebt nicht von Sessionen, sondern von Obses sionen.
Für mich gib es in der Kunst keinen Ismus, außer dem Heroismus.
Größenwahnsinn: Kinderkrankheit der Zwerge.
Unter Stockschlägen regt sich die Muse sogar in einer hohlen Trommel.
Kluge Gedanken kommen aus dem Kopf wie Pallas Athene, schöne Gedanken aus dem Schaum wie Aphrodite.
Es gibt Parodien von Dingen, die es nicht gibt. 76
Vieles mußte nur deshalb unterbleiben, weil man es nicht zu benennen wußte.
Hinter jeder Ecke lauern ein paar Richtungen.
Wenn Zwerge wachsen wollen, brauchen sie fremde Knochen.
Vielleicht sind wir nur irgendwessen Erinnerung?
Was unvorstellbar ist, kann immerhin käuflich sein.
Manche mögen das Pathos so sehr, daß ihnen der Text gleichgültig ist.
Die Zeit schreitet voran. Und du, Mensch?
In gefährlichen Zeiten verbirg dich nicht in dir; dort findet man dich am leichtesten. 77
Wenn überhaupt keine Winde wehen, hat sogar der Wetterhahn auf dem Kirchturm Charakter.
Der Mensch hat noch einen Vorzug vor der Maschine – er ist imstande, sich selbst zu verkaufen.
Uns deformieren die Formeln.
Am schwersten erklettert man Gipfel, die zehn Zenti meter hoch sind.
Wer Scheuklappen trägt, sollte wissen, daß dazu auch noch Zaum und Peitsche gehören.
Ein Pferd ohne Reiter ist immer ein Pferd. Ein Reiter ohne Pferd nur ein Mensch.
Den Lorbeerkranz annehmen bedeutet das Format sei nes Kopfes verraten.
Obwohl ihre Wege auseinandergingen, gingen sie wei ter zusammen: als Gefangener und Wächter. 78
Bei Hofe genießt der Narr Sonderrechte. Außerhalb des Hofes ist er der Dumme.
Das schwächste Glied einer Kette ist ihr stärkstes. An ihm reißt die Kette.
Wer ein gutes Gedächtnis hat, kann gewisse Dinge leichter vergessen.
Menschen summiert man am leichtesten, indem man ihnen die Menschlichkeit nimmt.
Ich wäre gespannt, ob irgendein Tier, das uns sieht, dächte: Ecce homo!
Klassenkampf im Einzelmenschen. Vor allem nach ei nem sozialen Aufstieg.
Nicht jede Salve verkündet eine Revolution.
Wie wenig bleibt vom Waldzauber in der Pilzsuppe üb rig! 79
Die Intrigen der Stücke von Z. finden hinter den Kulis sen statt.
Vielleicht hat Gott selber mich zum Atheisten erwählt?
80
Glaube Blinder Glaube hat einen bösen Blick.
Was wird aus einem Teufel, der aufhört, an Gott zu glauben?
Die einen möchten das begreifen, woran sie glauben, und die anderen das glauben, was sie begreifen.
Die Abdrücke vom Finger Gottes sind nicht immer identisch.
Die Gläubigen glauben an die Auferstehung, die Athei sten an ein »Comeback«.
Wir nähern uns immer mehr der Entdeckung Gottes durch die Wissenschaft. Ich bange um sein Schicksal.
Schafft euch keine Götter nach eurem Vorbild! 81
Der Zeitgeist erschreckt sogar die Atheisten.
Das Jenseits wird von Gesetzen regiert, die das Dies seits erlassen hat.
Wende dich stets an fremde Götter. Sie hören dich au ßer der Reihe an.
Kürzen wir das Metermaß. Seien wir größer!
Man kann seinen Glauben wechseln, ohne seinen Gott zu wechseln.
Denkt daran: wenn der Teufel jemanden treten will, dann tut er es nicht mit seinem Pferdehuf, sondern mit seinem Menschenfuß.
Unvergängliche Werte unterliegen keinen schwankungen. Sie werden nicht notiert.
Kurs
Witze von Irren, von ihnen selbst erzählt, haben beun ruhigend nüchterne Pointen. 82
Wo alle einstimmig singen, ist der Text ohne Bedeu
tung.
»Du sollst nicht töten« war leider von rechts nach links
geschrieben: auf das Herz zielend.
»Es wird nie so heiß gegessen, wie gekocht wird« – trö
steten die Gegessenen die Gekochten.
Im Kampf der Ideen fallen Menschen.
Wie widerlich: ein mit Honig beschmierter Knebel.
Schon dich. Du bist Eigentum des Staates.
Manchmal ist die Schuld eine Folge der Sühne.
Physikalisches Gesetz: Steigt das Wasser höher, ge winnt das Leben an Gewicht.
Modernes Wahrsagen: aus Tatsachen. 83
Wundert euch nicht, daß jemand, der übel riecht, es gern hat, wenn man ihn beweihräuchert.
Auch Hellseherei ist Schwarzseherei.
»Kaffeehausintellektueller« ist kein eindeutiges Epithe ton. Man muß hinzufügen, um welches Kaffeehaus es sich handelt.
Man kann auch ein Virtuose des falschen Spiels sein.
Es kommt vor, daß der Fähnrich in eine andere Rich tung flattert als die Fahne.
Zuweilen darf ein Philosoph auf seinem Sterbelager sa gen: »Zum Glück hat man mich nicht verstanden!«
Man unterscheidet zwei Arten von Teufeln: degradierte Engel und beförderte Menschen.
In der Hölle ist der Teufel eine positive Gestalt. 84
Der Teufel schläft nicht. Mit irgendwem.
Auch das Böse will nur unser Bestes!
Es gibt tiefgläubige Menschen – denen nur die Religion
fehlt.
Sagt jemand: »Es gibt keine Heiligen!«, sind sogar die
Atheisten beleidigt.
Ich lese die Lebensläufe der Heiligen gern von hinten, im Glauben, es könnte vielleicht einer mit der Zeit wie der ein Mensch werden.
Ob aus dem Auge der Vorsehung irgendwann eine menschliche Träne floß?
Oh, wenn doch ein Gott sagte: »Glaubt mir!« und nicht »Glaubt an mich!«
Ob ich gläubig bin? Das weiß nur Gott allein. 85
Theater
Die Farce der Wirklichkeit reicht auf der Bühne meist nur zu einer Tragödie.
Die Aufführung zeigt, was Regie aus einer Idee alles machen kann.
Shakespeare war vielleicht nicht Shakespeare. X. ist es ganz bestimmt nicht.
Kunststück: Wenn auf der Bühne viele Personen Stoff genug darüber zu reden haben, daß der Autor nichts zu sagen hat.
Vieles vom eisernen Repertoire der Bühnen gehört zum alten Eisen. Der Naturalismus auf manchen Bühnen ist enorm. So gar die Fußlappen sind im Zuschauerraum zu riechen. Nur den dargestellten Menschen fehlt Natur. 87
»Warum«, fragte ich einen Kritiker, »haben Sie das Stück das epochemachende Ereignis von umwälzender Bedeutung genannt? « – »Was für ein Stück?« fragte er zurück.
Vorsicht! Wenn Zuschauer gähnen, fletschen sie die Zähne.
Grundsatz: Ein Schauspieler, der stottert, darf keinen Stotterer spielen.
Die Gegenwartsstücke werden mit jeder Aufführung älter.
Das Drama unserer Zeit bringt (wie sich das gehört) sei nen Schöpfern Tantiemen.
In manchen Ländern ist die Verbannung die alleremp findlichste Strafe, in anderen sollten die menschen freundlichsten Bürger darum kämpfen.
Wer fragt die These und die Antithese, ob sie eine Syn these werden wollen? 88
Hört auf, geistige Dürre fruchtbar zu machen.
Was hinkt – geht.
Meine Herren, wie komme ich nach Kleckersdorf, wo
alle Wege nach Rom führen?
Salto morale ist viel gefährlicher als der Salto mortale.
Wenn Gerüchte alt werden, werden sie Mythos.
Welt ohne Psychopathen? Sie wäre anomal.
Bald wird unser Dunkel hell sein: Moder leuchtet.
Vielleicht kommt eine Kunst, die ohne Worte, sogar
ohne Gesten, allein mit Blicken die Erlebnisse eines
Volkes begreiflich macht?
Ich mag nicht Philosophen, die das Haar auf fremden
Köpfen spalten. Noch dazu mit einem Beil.
89
Nenne das Ding beim Namen, aber auch beim Pseudo nym.
Es gibt einen fruchtbaren Wüstensand, in dem Strau ßenköpfe bestens gedeihen.
Die Entdeckung Amerikas ist nicht das Verdienst der Amerikaner. Schande!
Ein wahrer Märtyrer ist der, dem man sogar diesen Ti tel verweigert.
Fluche nicht in einer Sprache, die der Verfluchte nicht versteht. Das ist Sadismus.
Alle Götter waren unsterblich.
Kunststück, die Zunge zu zeigen, wenn man nicht gleichzeitig zeigt, was man auf ihrer Spitze hat.
Es ist gar nicht so einfach, im eigenen Analphabet zu lesen. 90
Wißt ihr, wo die Hoffnung immer zu finden ist? In der Garderobe der Hölle, unter der Aufschrift: Lasciate ogni speranza.
Den Blick in die Welt kann man mit einer Zeitung ver sperren.
Selbst die Ewigkeit war früher von längerer Dauer.
Manche sehen mit dem rechten und mit dem linken Auge genau dasselbe. Und glauben, dies sei Objektivi tät.
Auch das Vieh denkt. Im Menschen.
Liebet eure Feinde, vielleicht schadet das ihrem Ruf.
Wie viel weniger Menschenblut wäre vergossen wor
den, wenn wir uns nicht so früh vom Affen zum Men
schen fortentwickelt hätten.
Geh mit der Zeit, aber komme von Zeit zu Zeit zurück.
91
Kain ist schlauer geworden. Er hinterläßt sein Zeichen auf der Stirn Abels.
O glückliche Zeiten, da man nur dann vor die Mauer ging, wenn man pinkeln wollte!
92
Fragen
Wie verhält man sich, wenn der Polizeihund mit dem Schwanze wedelt?
Kennst du das Kennwort zu deinem eigenen Innern?
Warum fallen wir vom Mond — immer auf dieselbe
Erde?
Wieviel Zeremonien hat der Unglaube?
Ich stelle ausweichende Fragen, um den ausweichen
den Antworten zuvorzukommen.
Die Welt zu bevölkern ist leicht. Sie zu entvölkern ist
leicht. Also, was ist schwer?
Womöglich sollte es so sein, daß Bethlehem in der Ge
gend von Sodom und Gomorrha liegt?
93
Ja = nein. Der Unterschied liegt in der Frage.
Man provoziere den Intellekt, nicht die Intellektuellen.
Dummheit befreit nicht vom Denken.
Auch Parteilose sind nicht parteilos. Sie sind für die Ge rechtigkeit.
Der Zeitpunkt des Sonnenaufgangs hängt von der geo graphischen Lage ab.
In Ländern, in denen die Bürger in Gefängnissen nicht sicher sind, sind sie es in der Freiheit auch nicht.
Wenn ein Volk keine Stimme hat, merkt man es sogar beim Singen der Nationalhymne.
Ach, wäre die höchste Staatswürde doch die menschli che! 94
Keiner ist so dumm, daß er sich nicht hin und wieder dumm stellte.
»Er hat ein Vogelhirn« – hieß es von einem Adler.
Woher weiß der Wind, in welche Richtung er wehen soll?
Positive Helden müssen nicht erst erschaffen werden; es genügt, sie zu nominieren.
Man warnte mich vor X.: »Ein gesellschaftsordnungs widriger Mensch!« Ich lernte ihn kennen: ein sehr menschlicher Mensch.
Wegweiser können eine Straße in ein Labyrinth ver wandeln.
In der Geschichte zählen selbst die unvollendeten Ta ten.
Fahre nicht aus der Haut, wenn du kein Rückgrat hast. 95
Ein Verurteilter ist niemals seinem Galgen gewachsen.
Sieh dir zuerst den Stock des Dirigenten an, bevor du anfängst, im Chor zu singen.
Viele, die ihrer Zeit vorausgeeilt waren, mußten auf sie in sehr unbequemen Unterkünften warten.
Wer eine Tragödie überlebt hat, ist nicht ihr Held gewe sen.
Alle Menschen sind gleich. Nach entsprechender Prä paration.
Ob wenigstens diejenigen, die uns die Ideale genom men haben, jetzt selbst welche haben?
Auch die Antisemiten erkennt man an ihren Nasen. Den witternden.
Wenn schon Schilder, dann lieber »Eintritt verboten!« als »Kein Ausweg!« 96
Die Folgen der Unterdrückung hängen vom Material ab. Die einen macht sie kleiner, die anderen größer.
Die Technik ist auf dem Wege, eine solche Perfektion zu erreichen, daß der Mensch bald ohne sich selbst aus kommt.
Phantasie und Lüge sind zweierlei.
Alles liegt in Menschenhand. Und deshalb sollte man sie oft waschen.
Hütet euch vor Themen, von denen ihr nicht loskommt.
Der Mensch lebt nicht von Brot und Wasser allein.
Glaubt ihr nicht, daß mich mein scharfer Blick bis aufs Blut verwundet?
Und vielleicht ist der Glaube an eine nichtvorhandene Gottheit der allerhöchste? 97
Nicht jeder, der zuviel weiß, weiß dies.
98
Mensch
Die meisten Menschen sind Mörder: sie töten einen Menschen. In sich selbst.
Ob die Bezeichnung »Das ist ein denkender Mensch« ein Kompliment für die Menschheit ist?
Reihenfolge, Reihenfolge! Lange bevor man daran dachte, den Menschen künstlich zu erzeugen, konnte man ihn künstlich beseitigen.
Der Mensch spielt in seinem Leben nur eine kleine Epi sode.
Mensch und Mensch finden selten zueinander, aber Berg und Berg immer.
Der Mensch wächst mit dem Preis, den er zahlt. 99
Sprich nicht schlecht vom Menschen. Er sitzt in dir und belauscht dich.
Früher standen sich die Menschen näher. Es blieb ihnen nichts anderes übrig. Die Schußwaffen trugen nicht weit.
Ist ein Mensch, der in seinem Innern etwas Wertvolles findet, verpflichtet, es auf dem nächsten Polizeirevier abzugeben?
Ich hätte den Menschen niemals erschaffen. Weil ich ihn liebe.
Wunden vernarben, aber die Narben wachsen zusam men mit uns.
Es wäre mir lieber, David hätte Goliath mit der Harfe erschlagen.
Einen Leierkasten kann man rückwärts drehen, die Me lodie nicht. 100
Allgemeinmenschliche Werte sind die, die es nicht lohnt, über die Grenze zu schmuggeln.
Nicht der Abgrund trennt, sondern der NiveauUnterschied.
Der Schatten des Verdachts ist auf ihn gefallen. Und nun verbirgt er sich in diesem Schatten.
Rufe nicht nachts um Hilfe. Du könntest die Nachbarn wecken.
Laß dich nicht mit Idioten ein, wenn du kein Psychiater bist. Sie sind zu dumm, um einem Nichtfachmann seine Konsultation zu honorieren.
Mißtraut den Märchen. Sie waren wahr.
Einst war die schmutzige Pfütze weißer Schnee: ich ma che hochachtungsvoll einen Bogen um sie.
Scheiterhaufen erleuchten nicht die Finsternis. 101
Paßt auf, nicht nur ein Druckfehler kann Rationalismus in Nationalismus verwandeln.
Ist ein Hund, der an die Hütte gebunden ist, ihr auch verbunden?
Der Gedanke ist unsterblich, vorausgesetzt, daß er stets neu geboren wird.
Wir zahlen mit dem Leben oder mit dem Tod. Die Wäh rung bleibt die gleiche.
Wer kein Gewissen hat, muß es mit dem Mangel des selben kompensieren.
Die Welt ist gar nicht verrückt: nur ungeeignet für normale und sehr wohl geeignet für normalisierte Men schen.
Zum Denken benötigt man ein Hirn, vom Menschen ganz zu schweigen. 102
Nicht jede Siegespalme trägt Kokosnüsse.
Arme Erde, alle unsere Schatten fallen auf sie.
Zwei schwarze Charaktere: aber wie unterschiedliche Farben!
Die meisten Denkmäler sind hohl.
Ein Heldendenkmal ist eine vortreffliche Sonnenuhr. Man sieht es ihm an, welche Stunde geschlagen hat.
Auf dem Maskenball der Begriffe gefällt sich der Slogan als Definition.
Es ist schwer erkennbar, wer freiwillig mit dem Strom schwimmt.
Ich bin voller Zuversicht. Die Menschheit brach die Ge setze der Moral; warum sollte es ihr mit denen der Phy sik nicht auch gelingen. 103
Die Welt ist schön! Und das ist eigentlich traurig.
Philosophen! Hütet euch, den Stein der Weisen zu fin den. Man wird ihn euch an den Hals hängen.
Wer Bomben mit Zeitzündern legt, sollte dabei die Zeitunterschiede bedenken.
Fiktionen enden fiktiv.
104
Worte
Am Anfang war das Wort – am Ende die Phrase.
Mehr sagen von der Zeit die Wörter aus, die man nicht gebraucht, als die, die man mißbraucht.
Worte seien überflüssig? Und wo brächte man unter, was zwischen den Worten steht?
Es gibt so große Worte, die so leer sind, daß man darin ganze Völker gefangenhalten kann.
Die im Lande gesparten Worte erlauben uns deren Massenausfuhr ins Ausland.
Ihr werdet sie an ihren Worten erkennen, die sie ver schweigen wollten.
Nicht jedes Werk schafft einen Autor. 105
Wem Worte fehlen, bekommt sie portofrei vom Staat geliefert.
Es gibt unübersetzbare Autoren. Diese dürfen im Aus land getrost propagiert werden.
Mißtrauisch betrachtet der Dichter seine Sätze: Welcher von ihnen würde seinen Grabstein schmücken?
Es gibt eine ideale Welt der Lüge, wo alles wahr ist.
Nicht geschehene Taten lösen oft einen katastrophalen Mangel an Folgen aus.
Die weißen Flecke sind von den Landkarten ver schwunden. Sie siedelten in die Geschichtsbücher über.
Auch die Stimme des Gewissens macht einen Stimm bruch mit.
Nach dem Krieg findet jeder Soldat den Marschallstab im Tornister. 106
Eine Eigenschaft geistiger Träger, die am meisten ins Auge fällt, ist ihre unverwüstliche Aktivität.
Ich kenne Zebras, die freiwillig hinter Gittern sitzen, um wie weiße Pferde auszusehen.
Hat ein des Rechnens unkundiger Mensch, wenn er ein vierblättriges Kleeblatt gefunden hat, kein Recht, glück lich zu sein?
Wir haben es verlernt, Grabmäler von Denkmälern zu unterscheiden.
Vaterlandsliebe kennt keine (fremden) Grenzen.
Streichle die Bestie nicht gegen den Strich. Wer weiß, ob sie es nicht gern hat.
Die Dummheit überschreitet keine Grenzen. Überall, wo sie hintritt, ist ihr Territorium.
Charaktere sind unzerbrechlich – aber dehnbar. 107
Er war ein As. Allerdings in einer sehr schmutzigen Hand.
Eine gefälschte Banknote, die alle für echt halten, muß schließlich an einem Komplex scheitern: niemand be wundert die Meisterschaft der Fälschung!
Nicht alle Abels können sich einen eigenen Kain leisten. Manche müssen mit einem kollektiven vorliebnehmen.
Etwas ist faul im Staate Dänemark! Oh, wie riesengroß ist Dänemark.
Barfuß zu gehen schickt sich nur für die, die Schuhe be sitzen.
Sie blasen so laut ins Füllhorn – es muß wohl leer sein.
»Und sie rollt doch!« Gut, aber wohin?
Er machte sich flach und breit – damit man ihn oben besser sah. 108
Der Mensch hat zwei Profile. Eins links und eins rechts. Ja, und noch zwei andere innen.
Auch uns nennt man im Westen den Osten und im Osten den Westen.
Die Übervölkerung hat dazu geführt, daß nun einem Menschen mehrere wohnen.
Gebt Gott, was des Gottes, dem Kaiser, was des Kaisers. Und den Menschen?
Ich hätte viele Dinge begriffen, hätte man sie mir nicht erklärt.
Nichts fällt einem von selbst zu: Sogar eine Dummheit muß man erst machen.
Wie entsteht Pessimismus? Wenn zwei Optimisten auf einanderprallen.
Wegweiser stehen auf der Stelle. 109
Seinem Mund entfliehen die edelsten Worte. Wundert euch das?
110
Feind
Wenn dein Feind einen falschen Schritt tut—gib Acht!
Ihr tanzt nach derselben Melodie.
Könnte man doch erst nach dem Tode seiner Feinde
geboren werden!
Man kann in die Stellung des Feindes überlaufen, ohne seine eigene aufzugeben.
Ein wahrer Feind verläßt dich nie.
Auf dem Grabe des Feindes duften die Blumen berau
schend.
Feinde werden einander ähnlich. Wehe den Originalen!
Gib acht: stellt der Ruhm dich ins Rampenlicht, sind deine Feinde im Vorteil – sie bleiben im Dunkel. 111
Wie sollte ich kein Optimist sein. Meine Feinde erwie sen sich – bis jetzt – als genau die Schweine, die ich in ihnen vermutet habe.
Haben zwei Feinde einen gemeinsamen Gegner, so steigert das nur noch ihren gegenseitigen Haß. Ein jeder von ihnen möchte alleiniger Sieger über seinen Feind sein.
Viele meiner Freunde sind meine Feinde geworden, viele Feinde fanden meine Freundschaft, nur die Gleichgültigen sind mir treu geblieben.
Erzählt nicht von euren Träumen. Vielleicht kommen die Freudianer an die Macht!
Wahres Pathos spricht, ohne zu reden.
Auch Masochisten bekennen bei der Folter alles. Aus Dankbarkeit.
Leichter werden einem Volke seine Irrtümer verziehen als dem einzelnen seine Rechte. 112
Wer sich von der Politik fernhält, hat täglich einen mühsamen Weg zu ihr.
Wie viele großartige Tragödien wurden durch einen einzigen Applaus zur Farce!
Das Paragraphenzeichen allein sieht aus wie ein Fol terwerkzeug.
Weckt bitte keine Assoziationen, wenn ihr sie nicht auch einschläfern könnt.
Die Moral fallt: auf immer bequemere Pfühle.
Geistesgegenwart erfordert nicht immer Geist.
Man bedenke, daß in demselben Feuer, das Prometheus den Göttern gestohlen hatte, Giordano Bruno verbrannt wurde.
Der Preis, den man für die Freiheit zahlen muß, sinkt, wenn die Nachfrage steigt. 113
Unser Unwissen erobert immer weitere Welten.
Er verkaufte sich nach beiden Seiten: »des Gleichge
wichts wegen«.
Auch Unfruchtbarkeiten pflegen trächtig zu sin.
Hoffentlich unterläuft dem Irrtum ein Fehler. Dann
kommt alles von selbst in Ordnung.
Ein falscher Schritt, und du bist am Ziel anderer.
Die Aufzucht der Genies sollte man nicht unbedingt
mit Kretins beginnen.
Ein Hahn besingt sogar den Morgen, an dem er in den
Suppentopf wandert.
Wer Echo findet, wiederholt sich.
Aus Sümpfen sollte man keine Konsequenzen ziehen.
114
Die Helden der alten Mythen waren fast nackt, die Helden der neuen sind völlig nackt.
Schont die Sockel, wenn ihr die Denkmäler stürzt. Sie können noch gebraucht werden.
Schlaflosigkeit – Krankheit einer Epoche, in der man den Menschen befiehlt, vor vielen Tatsachen die Augen zu schließen.
Das Leben wird immer kürzer. Auch das derer, die es verkürzen.
Der Chauvinismus ist so flach, daß er überall Unter schlupf findet.
Falsche Propheten erfüllen ihre Prophezeiungen selbst. Wo das Lachen verboten ist, ist gewöhnlich auch das Weinen nicht gestattet.
Wie viele Sintfluten gab es ohne einen Noah! 115
Wir schreiben das Jahr 1957. Der erste Gorilla in der Unfreiheit wurde geboren. Eine gewaltige Errungen schaft der Wissenschaft. Jetzt werden wir nachrechnen können, seit wieviel Jahren der Mensch existiert.
116
Kannibalen
Ich prophezeie den Untergang des Kannibalismus. Der Mensch ekelt den Menschen.
Hat ein Kannibale das Recht, im Namen dessen zu sprechen, den er gefressen hat1?
Auch Menschenfresser sind bereit, einen Menschen aus dem Rachen des Hais zu retten.
Laßt nicht verhungern, wen ihr fressen wollt!
Wenn ein Menschenfresser mit Messer und Gabel ißt – ist das Fortschritt?
Trotzdem macht die Menschheit Fortschritte. Men schenfresser werden immer humaner bestraft.
Rechtfertigung der Kannibalen: »Menschen sind Vieh.« 117
Kannibalen bevorzugen Menschen ohne Rückgrat.
Gibt es unter Kannibalen Vegetarier?
Ein Menschenfresser verachtet den Menschen kaum.
Mir träumte eine Herde von Leithammeln. Sie trieben,
jeder mit einem anders gestimmten Glöckchen. Und
hinter ihnen kein einziges Schaf.
Autodidakten sollten sich treu bleiben und nicht die
anderen belehren wollen.
Der Selbsterhaltungstrieb ist manchmal Antrieb für den Selbstmord.
Auch im Rahmen des Weltbilds nisten Wanzen.
Ein narzistischer Sodomit: liebt seinen inneren Schwei
nehund.
Der Mensch atmet freier, wenn er das Maul hält.
118
Wer erfindet ein Analphabet für die Verständigung mit Analphabeten?
Ich kannte einen Sonderling, der ein so falsches Gehör besaß, daß er – wenn er es mit einer Theorie untermau ert hätte — gewiß eine umwälzende Rolle in der Ge schichte der Musik gespielt hätte.
Der optimistische und stolze Satz »Alles ist möglich« entsetzt mich.
Die Tat holt den Gedanken ein. Wehe, wenn sie ihn überholt.
Hört ihr das Gestammel? Das sind die Chöre der Mit laute nach der Extermination der Selbstlaute.
Sein Gedanke war pure Lust. Er befruchtete nieman den.
Die Masse schreit mit einem einzigen großen Maul – und ißt mit vielen winzigen kleinen. 119
Die Welt kann nicht mit lauter Sokratessen bevölkert sein. Der Schierling würde nicht für alle reichen.
Die Uhr schlägt. Alle.
Düstere Fenster sind oft ein klarer Beweis.
Man könnte eine verschärfte Strafe des lebens länglichen Gefängnisses erfinden – verschärft durch künstliche Verlängerung des Lebens.
Auch auf einem Thron werden Hosen versessen.
Meist ist der Ausgang dort, wo der Eingang war.
Beweis für den gestiegenen Lebensstandard: wer wür de heute schon sein Erstgeborenenrecht für ein Linsen gericht verkaufen.
Der Mensch erfand seine Werkzeuge allmählich. Er selbst aber ist Werkzeug des Menschen seit der Urzeit. 120
Die Leges verändern den Logos.
Was für Schmeichler, diese Satiriker: Verspotten Tu genden des Volkes, die dieses nicht besitzt.
Frage den Herrgott nicht nach dem Weg in den Him mel. Er wird dir den schwierigsten zeigen.
Wahre Auserwählte haben keine Wahl.
Ein Gedankenloch läßt sich schlecht mit der Wirklich keit zustopfen.
Zuweilen hinterläßt löschliche Spuren.
ein
dummer
Schuh
unaus
Auch Gesäße tragen Masken. Aus verständlichen Gründen.
Man sieht’s: die Kräfteverhältnisse werden nicht von Ästheten geschaffen. 121
Ein unsterblicher Schriftsteller stirbt in seinen Epigo nen.
122
Liebe
Können Sie sich eine Frau vorstellen, die ihren Liebha ber 1001 Nächte lang Märchen erzählen ließe?
Generationsunterschied: wir hatten miteinander ge träumt, sie — schlafen miteinander.
Wer soll im Kampf der Geschlechter unparteiischer Richter sein? Ein Zwitter?
Alle Versuche, die Liebe wiederzubeleben, sind um sonst. Im besten Falle zeugt man einen Menschen.
Um wieviel schöner wäre die Welt, gäbe es nicht so viele schöne Frauen darin.
Stünde bei uns die Kunst der Konversation höher, hät ten wir keinen so hohen Bevölkerungszuwachs. Von einer Dame: Bestseller! 123
In der Liebe richtet sich die Aussagekraft der Blumen nach ihrem jeweiligen Ladenpreis.
Sind nackte Frauen intelligent?
Frauen sind sadistisch – sie quälen uns mit den Leiden, die wir ihnen zufügen.
Und was sagst du dazu, Physik? Menschliche Reibun gen erzeugen … Kälte.
Alle großen Tragödien haben ein Happy-End, aber wer hielte sie bis zum Ende aus!
Götter erben voneinander die Eigenschaften und die Gläubigen.
Auch Engel haben ihre Teufel, und Teufel ihre Engel.
Eine Tatsache bleibt immer nackt, auch wenn sie nach der letzten Mode gekleidet wäre. 124
Es geschah einmal, daß der Esel Balaama mit Men schenstimme zu sprechen anfing. Könnten die Akteure nicht seinem Beispiel folgen?
Das Opfer ist stets am Verbrechen beteiligt. Sogar negativ.
Man erkennt am Rückgrat, welcher Epoche ein Mensch angehört.
Auch geistige Kastraten machen sich mit schriller Stimme bemerkbar.
Einen Doppelgänger haben, an ihm Selbstmord ver üben und unter seinem Namen weiterleben – was für Möglichkeiten der Schizophrenie!
Es genügt nicht, zur Sache zu reden, man muß zu den Menschen reden.
Wiederauferstehen können nur Leichen. Lebende haben es schwerer. 125
Die Armen im Geiste können sich nur einen billigen Optimismus leisten. Er kostet zwar auch viel, aber nicht sie, sondern die anderen.
Wo ein grausames Recht regiert, sehnt sich das Volk nach der Rechtlosigkeit.
Grabinschrift: »Das Leben endet, leider nicht seine Fol gen.«
Die Gegner in der ersten Frontlinie stehen sich am nächsten.
Manchmal schaukeln die Glocken den Glöckner.
Geh nicht ausgetretene Pfade – du wirst ausrutschen.
Marionetten lassen sich leicht in Gehenkte verwandeln. Die Stricke sind schon da.
Gewöhnlich ist die Arrièregarde der alten Avantgarde die Avantgarde der neuen Arrièregarde. 126
Wisse, du bist ein austauschbares Teilchen des Alls.
Zuweilen wedeln Hunde mit den Ketten.
Er erinnert an eine Laus auf der Glatze. Ringsherum eitel Glanz – und in der Mitte: nichts als eine Laus.
Wir haben aus roten Kopfkissenbezügen Fahnen ge macht, während andere aus Fahnen Bettbezüge mach ten.
Sind Verbrechen, die die Rechtsprechung nicht vorge sehen hat, illegal?
Wer barfuß geht, geht nicht auf Rosen.
Wenn alles stimmen soll, muß etwas nicht stimmen.
Welch ein Wohlstand muß in einem Staat herrschen, in dem es möglich ist, die Hälfte der Bevölkerung im Poli zeidienst und die andere Hälfte auf Staatskosten im Ge fängnis zu halten. 127
In der Natur geht nichts verloren – mit Ausnahme der Hoffnungen, die sich erfüllt haben.
Wie übt man das Gedächtnis, um vergessen zu lernen?
128
Sklaven
Es gab Zeiten, da man die Sklaven legal kaufen mußte.
Es ist schlimm, wenn ein einziger Herr eine große Men ge Sklaven besitzt. Und ich denke, daß es nicht besser ist, wenn ein Sklave viele Herren hat.
Die Freiheit der Sklaven mißt man an der Länge ihrer Kette.
Traum der Sklaven: ein Markt, auf dem man sich seinen Herrn selbst kaufen dürfte.
Wie viele Jahre Gefängnis entfallen auf die tau sendneunhundertsiebenundfünfzig Jahre nach Chri stus!
Wiegenlieder für das Kollektiv: Märsche oder laute und lustige Weisen. 129
Verteidigung des Mörders: »Wie kann ein Mensch für unmenschliche Taten bestraft werden?«
Als sie ihn ernst zu nehmen begannen – war er verlo ren.
Die metaphysische Tragik des Seins verpflichtet nicht in der täglichen Praxis.
Manchmal führt ein Rechenfehler zur richtigen Lösung.
Es gibt Don Quichottes, die Wind säen, um mit Mühlen kämpfen zu können.
Er hatte eine so hohe Vorstellung von seiner Person, daß er sich manchmal wie ein Zwerg vorkam.
Schrecklich sind die Schwächen der Gewalt.
»Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit!« Aber wie gelan gen wir zu den Tätigkeitswörtern? 130
Ach, wäre es doch möglich, eine Zeitrechnung anno homini zu erleben!
Allmählich verliert das Verbrechen seine Romantik. Es wird zur Klassik des Alltags.
Wo sind die Fundstellen der Weisheit? Gewöhnlich dort, wo diese begraben liegt.
Aus der Erfahrung eines Jägers: die Großen trifft man schwerer als die Kleinen.
Es könnte schlimmer sein. Dein Feind könnte sich als dein Freund entpuppen.
Ich kenne Folgen, die sich jedes Jahr eine neue Ursache erfinden.
Ich bin für die Reprivatisierung des Innenlebens.
Sicherlich hat sich auch im Paradies alles zum Besseren gewandelt. 131
Verbrechen: Muse der Prediger und der Moralisten.
Nehmt euch die griechischen Akteure zum Vorbild. Tragt Masken, schont das eigene Gesicht.
Winde verwittern auch.
Im Rachen des Löwen zu stecken, das ist gar nichts, aber mit ihm den Geschmack zu teilen, das ist schreck lich.
Ich sah einen Menschen, der aus einem leeren Gefäß in ein zweites goß. Ich fragte ihn, weshalb er dies tue. »Ich bin eine modernisierte Wasseruhr.«
Man muß brutal sein, um sein Feingefühl durchzuset zen.
Brot öffnet jeden Mund.
Auch fremdes Analphabetentum macht das Schreiben schwer. 132
Immer schon hatten die Narren am Sockel des Throns gesessen. Deshalb sahen sie auch als erste, wenn er zu wackeln anfing.
Selbst der allerflachste Mensch hat leider drei Dimen sionen.
Nicht jedem Ei entschlüpft sogleich ein Kolumbus.
Legenden leben fort, dank dem schlechten Gedächtnis der Geschlechter.
Das Leben betrügt uns alle. Auch geborene Schurken landen ganz oben.
Ich lache ihnen ins Gesicht? Wohin denn sonst?
Die Träne läßt sich leichter verbergen, wenn man die Welt mit zugekniffenen Augen betrachtet.
Ich flicke dem Menschen am Zeug, um seine Nacktheit zu bedecken. 133
Lachen erzeugt Gelächter, und erst dieses ein Lächeln.
Manche Narrenschellen schellen falsch.
134
Satire
Das Tragische der Epoche gibt ihr Lachen wieder.
Niemals wird die Satire ihr Examen bestehen. In der
Jury sitzen ihre Objekte.
Gewisse Witze mit Bart sind ewig jung; sie tragen ihn
nur zur Tarnung.
Wer als erster den Witz begriffen hat, hat Zeit genug, so
zu tun, als hätte er ihn nicht verstanden.
Ein feiger Satiriker erzeugt nur einen Witz – sich.
Achtung, Satiriker! Auch im Hohlspiegel wetzen die
Hyänen ihre Zähne.
Selbstmord des Satirikers: mit der abgestumpften Spit ze seiner Satire. 135
Satiriker, pfeift auf Worte. Laßt Zahlen sprechen!
Jeder Satiriker träumt mit Leidenschaft von der Ver gänglichkeit seiner Werke.
Verzweiflung des Humoristen: wenn er nicht lächerli cher sein kann als das Pathos des anderen.
Er versteckte sich hinter der Zunge, die er der Öffent lichkeit zeigte.
Sie nannten ihn doppelgesichtig. Dabei zeigte ihnen nur den Hintern.
Er lachte nur im Geiste – und wenn, dann in dem des Gesetzes.
Manche Hintergründe dulden keinen Vordergrund.
Lernt aus der Erfahrung der Ornithologen: Wenn Schriftsteller ihre Flügel entfalten sollen, müssen sie die Freiheit besitzen, sich ihrer Federn zu bedienen. 136
Versuche, etwas zu sagen, ohne dich auf die Tradition, auf Sprichwörter und Idiome zu berufen, ohne – und sei es nur die landläufigste – Literatur zu zitieren. Wie schwer es doch ist, einfältig zu sein!
Ob der Affe im Augenblick, als er auf den Hinterbeinen Männchen zu machen lernte, menschlicher wurde?
Auch Einsteins Zeit richtete sich nach der Stadtuhr.
Unglaublich, daß die Ganzheit nicht ihre Einzelheiten kennt.
Ich sah fliegende Käfige. Es waren Adler darin.
Surrealismus, der Wirklichkeit wird, muß wohl aufhö ren einer zu sein, oder?
Heult! Ihr werdet euch um einige Millionen Jahre jün ger fühlen.
Vor allem, ihr Gradlinigen, gebt acht in den Kurven. 137
Man darf sich nicht wiederholen? Psst! Hoffentlich hat es das Glück nicht gehört.
Die wenigsten Verbrechen kommen in Gefängnissen vor. Unter Gefangenen.
Die Geschichte eines Gedankens ist in ihm selbst ent halten.
Bin ich berechtigt, mich für den Autor von Gedanken zu halten, die mich ungebeten heimsuchen?
Ich singe im Chor – doch nur Solopartien.
Ich traf einen so unbelesenen Mann, daß er die Zitate aus Klassikern selbst erfinden mußte.
Ich wollte der Welt nur ein einziges Wort sagen. Da ich es nicht konnte, wurde ich Schriftsteller.
Ob die Produktion von Gedanken dem natürlichen Zuwachs folgt? 138
Man hat mir meine Saite gekürzt. Nun tönt sie höher.
Ich hege Gedanken, die ich sogar mir selbst nicht offen bare. Ihr kennt sie alle.
Ich soll so schreiben, daß jeder Wachtmeister es ver steht? Nein! Ich beanspruche zumindest einen Haupt wachtmeister!
Wahre Weisheit verläßt den Kopf nie.
Traurig, wenn sich die Wirbelsäule erst am Kreuz auf
richtet.
Ein Volltreffer: keinen Menschen treffen.
Die Engstirnigkeit wird immer breiter.
Unter Blinden wird auch der Einäugige blind.
Auch zahme Hyänen leben vom Aas.
139
Heldentum
Jeder Held des Tages fürchtet die Dämmerstunde.
Hütet euch vor jenen, die für sich das jus primae noctis Bartholomensis beanspruchen.
Man kann auf St. Helena sterben, ohne Napoleon gewe sen zu sein.
Der Troglodyt war kein Troglodyt. Er stand auf der Höhe seiner Zivilisation.
Vieles lernte ich in Träumen, die Menschen reden dort zwanglos. Es genügt, sich einer Illusion hinzugeben, um reale Konsequenzen zu verspüren.
Auch wer Elefanten jagt, schießt zuweilen eine Mücke. 141
Die Zeit bescherte uns viele Genies. Hoffen wir, es sind ein paar Begabte darunter.
»Ich fühle, mir wachsen Flügel!« – sagte die Maus. Na und, Frau Fledermaus?
Wenn politische Fabeln von Tieren handeln, ist die Zeit sicherlich animalisch.
Er hatte das Selbstgefühl eines Gespenstes, das noch nie jemandem erschienen war.
Man kann seinen Mund vor Begeisterung öffnen, um ihn dann vor Langeweile zu schließen.
Vergiß nie, daß die Hinterteile meinen, sie seien Front ansichten.
Der Kapitän verläßt das Schiff zuletzt. Deshalb schlafen die Admiräle während des Sturms so seelenruhig.
Gefesselte Hände können keinen Beifall klatschen. 142
Es ist widerlich, in einem schmutzigen Fluß wider den Strom zu schwimmen.
Ob das Beharren auf eigenen Fehlern die Treue zu sich selber ist?
Zuweilen werde ich von Augenblicken philosophischer Nachdenklichkeit heimgesucht. Ich bleibe auf der Weichselbrücke stehn, spucke von Zeit zu Zeit ins Was ser und denke dabei: Panta rhei.
Die Langeweile sollte man nicht mit Polizeieinheiten zerstreuen.
Es hängt von der geographischen Lage ab, wann es dämmert.
Berühmt müßte man sein, um sich ein Inkognito erlau ben zu können.
Ach, so manches Atlantis gibt’s in den politischen At lanten! 143
Wann werden Steine, die man gegen Menschen ge schleudert, schreien? Der Schlüssel zu einer Situation steckt oft in der Tür des Nachbarn. Armer Mensch. Du sagst: »Nach mir die Sintflut« – und ziehst nur an der Wasserspülung. Ich hatte einen gespenstischen Traum: den Staat, wo unlängst das Analphabetentum beseitigt wurde, über wucherte Bürokratie. Es bedarf großer Geduld, um sie zu lernen. Wehe, wenn der Kopf des Beklatschten zwischen die Hände der Klatschenden gerät. Immer wird es Eskimos geben, die den Eingeborenen von Belgisch Kongo Verhaltensmaßregeln für die Zeit der großen Hitze geben werden.
Kopf hoch, wenn das Wasser bis an den Mund reicht. 144
Hamlet
Wie viele Hamlets sagen »Sein oder nicht sein« im Na
men anderer!
Marionetten träumen umsonst vom Monolog des Prin
zen Hamlet.
In jedem Lande klingt die Frage Hamlets anders.
Auf den Seitenpfaden des Denkens huscht an dir gele
gentlich der entsetzte Sinn vorbei.
Nicht sein, sondern denken, denken, denken.
Ist das Denken eine gesellschaftliche Funktion oder eine
des Hirns?
Niemand möchte im Kuchen die Hefe schmecken, ob wohl sein Teig gerade dank der Hefe wuchs. 145
Wer in der Hölle Litzen trug – trägt auch im Himmel Achselstücke.
Habe ich daneben getroffen? Dann stimmt es: es war mein Ziel.
Ich würde lachen, wenn sie mit der Vernichtung der Welt bis zum Weltende nicht fertig würden.
Die erste Vorbedingung für die Unsterblichkeit ist das Sterben.
Ob der Tod der Dialektik unterliegt?
Narr bei einem Leichenschmaus zu sein — ist eine tiefe menschliche Berufung.
Seien wir diskret. Fragen wir die Toten nicht danach, ob sie gelebt haben.
Den höchsten Sinn für Humor haben die Toten – für sie ist alles lächerlich. 146
Schade, daß man ins Paradies mit einem Leichenwagen fährt!
Der Sargdeckel ist auf der Seite des Verbrauchers schmucklos.
Daß er starb, ist noch kein Beweis dafür, daß er gelebt hat.
Tote wechseln mühelos die politische Ansicht.
Wenn wenigstens von unten alles erhaben aussähe!
Auch wer durch den Styx schwimmt, hat Angst vor dem Ertrinken.
Er war treu wie ein Hund: wie einen Hund haben sie ihn erschlagen.
Selbst wenn der Mund sich schließt, bleibt die Frage offen. 147
Satiriker sterben mit zwinkerndem Auge,
Ende der Todesanzeige: Er ist nicht tot. Er hat seine Le bensweise geändert.
Wer gibt den Satirikern eigentlich das Recht zu wet tern? Das herrschende Unrecht.
Graben wir tiefer. Womöglich entdecken wir die Spur einer großen Kultur, die vorhanden war, bevor der Mensch erschaffen wurde.
Gottlob ist auch der Mechanismus der Diktatur kein Perpetuum mobile.
Janus hatte zwei Gesichter. Światowid, der Gott der Slawen, vier. Und es gab Götzen, die noch mehr Ge sichter hatten. Was besagt, wie kompliziert die Lage der jeweiligen göttlichen Gesellschaftsordnung war.
Siegesfrüchte? Birnen am Weidenholz.
148
Nullen
Groß ist die Gewalt der Null-und-Nichtigkeit, nichts kann ihr etwas anhaben.
Ich stimme mit der Mathematik nicht überein. Ich mei ne, daß die Summe von Nullen eine gefährliche Zahl ist.
Ihr Kapital festigt sich. Sie werden von Nullen umwu chert.
Aus einer Reihe von Nullen macht man leicht eine Kette.
Alle Fesseln der Welt bilden eine Kette.
Orpheus steigt in den Untergrund – nicht nur, um Eu ridike zu finden. 149
Er hatte seinen Wohnsitz von Sodom nach Gomorra verlegt.
Man sollte den Buchstaben des Gesetzes in das Alpha bet aufnehmen.
Nur wenige sahen es dem 19. Jahrhundert an, daß ihm das 20. folgen würde.
Tradition: Erbadel des Plagiats.
Der Mensch leidet an einer fatalen Spätzündung: er be greift alles erst in der nächsten Generation.
Gestammel? Aber wie neu!
Wenn Köpfe rollen, lasse deinen nicht hängen.
Wird eine neue Idee geboren, dann möchte der Ge burtshelfer Vater und Mutter zugleich sein, manchmal sogar auch noch das Neugeborene. 150
Ich würde niemals einen Selbstmord begehen. Ich ver traue auf den Menschen: irgendwann findet jeder sei nen hilfsbereiten Mörder.
Das Hängen am Leben ist ein Beweis mehr für unseren Konservatismus.
Träume sind frei. Man darf davon träumen, daß der Teufel die verwirklichten Träume hole.
Eigene Ohnmacht ist ebenso gefährlich wie fremde Macht.
So manchen Trinkspruch muß man bis zur Neige schlucken.
Auch Peitschen schlagen Wurzeln, wenn sie auf frucht baren Boden fallen.
Du fragst mich, schöne Frau, wie lange ich über meinen Gedanken gebrütet habe? Sechstausend Jahre, Göttli che, sechstausend Jahre. 151
Menschen mögen, stellte ich fest, Gedanken, die nicht zum Denken zwingen.
Man hatte mir aus der Provinz den Vorschlag gemacht, für kleineres Honorar billigere Gedanken zu schreiben.
Ein paar Gedanken wird man mit ins Grab nehmen müssen. Auf alle Fälle.
»Gedanken sind zollfrei?« Sofern sie die Grenzen nicht überschreiten.
Fürchte die witzlosen Narren!
Dinge, die schon an sich lächerlich sind, können nicht Gegenstand der Satire sein.
Auch das Happy-End ist nur ein Ende.
Sprichwörter widersprechen sich. Und das ist eben Volksweisheit. 152
Man sollte immer von hinten anfangen.
153
64 Epigramme 1959-1966
155
ZWEIZEILER NUR ZWEI ZEILEN FÜR UNSRE ZEIT? JA, LEIDER. (DIE GEFÄNGNISWÄNDE SIND AUCH NICHT BREITER.)
Hypothesen Folgendes ist sehr typisch für unsere
Hypothesen:
Bevor ihnen Beine wachsen,
tragen sie schon Prothesen.
Realismus Das wären erst tolle Theaterperücken,
auf denen das Haar sich sträubt –
vor den Stücken!
Schicksal Wie perfid doch das Schicksal, das er hatte; als Lautsprecher – einer einzigen Platte. 157
Schematische Dramaturgie Der Schwarze steht rechts,
der Weiße steht links
und mitten dazwischen die gähnende Sphinx.
Vom Glück Das Unglück sieht man meist paarweise gehen. (Das sind dann die allerglücklichsten Ehen.)
Berufsgeheimnis Der Teufel verrät es nie, bei wem er die Hörner lieh.
Entwicklungsprobleme Oft will sich der Trieb nicht zur Rose entfachen:
Er hat nämlich Angst (vor den eigenen
Stacheln).
158
Ideologischer Rentner Mut, Wille, Ideen – das alles war einmal.
Jetzt trägt ihn
der Zinsfuß vom Marxschen »Kapital«.
Relativität Was nur die Menschheit an diesem Dante fand:
In Sachen der Hölle war er ein Dilettant.
Schönheit Manche Tempel verdienen
Beachtung erst als Ruinen.
Beim Metzger Hier in dem Schlachterhimmelreich sind Stier und Ochse endlich gleich. 159
Leichter Leichter wechselt man eine Front als den gewohnten Horizont.
Von alten Bräuchen Ein schöner Brauch wurde leider Legende: zu leben bis an sein Lebensende.
Von Hymnen Die Hymne gefiele ihm, sänge man sie intim.
Von den Sehenden Blinde Hühner finden immer was zu fressen.
Sehende – marschieren oft in Suppenkessel.
160
Al fine Zu jedem da capo al fine gehört eine andere Miene.
Wer… Und wer, armer Posten, denkste, bewacht deine eignen Ängste?
Diskrepanz So mancher Dreckspatz hat sein Haus direkt am Bad.
Von Sätzen In den kleinen Sätzen kreist (mitunter auch) ein großer Geist. 161
Akt Ein Akt von dir war mir lieber und mehr als drei oder vier von Papa Molière.
Relativität Hell ist das ärmste Gefunkel, funkt es im Dunkel.
Vielweiberei Wie die Hormone, so der Mormone.
Beispiel von oben Sogar der heilige Himmel
kennt den Persönlichkeitsfimmel.
162
Courtoisie Vergessen Sie nicht die Courtoisie: das eine Mal die, das andre Mal die.
Prima vista Auch das gibt es unbedingt: ein Mißling, der gut gelingt.
Kunst Es sind Löcher nur?
Doch von Henry Moore.
Von zwei Leichen Der eine fiel wie Hektor, der andre lebt als Direktor. 163
Parodist Nach außen mußte er Flug parodieren, zu Hause kroch er auf allen vieren.
Das ist die Frage Soll ich ihn treffen? Soll ich es nicht?
Wie schlägt man Fressen ohne Gesicht!?
Immer dabei Zwei sind immer dabei:
die Angst und die Heuchelei.
SOS Auch solche Schreie gibt es, ich wette: »Rette mich vor dem Retter, rette!« 164
Geschichte Lügen mit glücklichen Umständen ergeben Legenden.
Vom Heuchler Aus seinem Gesicht sprechen zwei Kollegen: der eine dafür, der andre dagegen.
Nicht alle Nicht alle, die Grundsteine legen, ahnen, wer oben mal hissen wird – wessen Fahnen.
Sicherheit Am sichersten ist man ganz unten, rief er.
Man fällt nicht mehr tiefer.
165
Von einem Dichter Er besitze einen sechsten Sinn?
Dafür sind die fünf andren dahin.
Plagiate Ich hocke in Bibliotheken viele stille Stunden und lese meine Verse – bevor ich sie erfunden.
Statistisches Jahrbuch Was blieb zurück von den Liebesmahlen?
Bevölkerungszuwachs in trockenen Zahlen.
Geschlechtswechsel Metamorphose wahrlich zum Erbarmen:
Jeanne d’Arc verwandelt in einen —
Jean d’Armen.
166
Erinnerung Ich hatte einst einen lieben Kollegen.
Nun lebt er nicht mehr. Er ist Würdenträger.
Proportionen Henker und Opfer sind beide nur ungleiche Zeiger der gleichen Uhr.
Humanitas Ich sah, wie zwei Ochsen im Felde stritten, und dachte gerührt: wie menschliche Sitten!
Ganz Das ganze Ausmaß der Natur: vom Creator zur Kreatur. 167
Ausnahme In der Natur komme nichts um?
Vielleicht – bis auf das Menschentum.
C’est la vie Als er seinem Freund den Tod gegeben, seufzte er traurig: »So ist das Leben.«
Erstaunlich Gerade »Kurzschlüsse« besitzen sehr oft den Reiz von Geistesblitzen.
Für Satiriker Ein Körnchen Gold aus dem Weisheitstiegel:
Schreibe Satiren nur vor dem Spiegel.
168
Rangordnung Auch Dummköpfe im Idiotenheer sind dumm primär oder sekundär.
Konferenz Erst wird es mit Weile dick aufgeplustert, dann wird es in Eile zusammengeschustert.
Von der Zärtlichkeit Auch Marionetten ist es ein Trost, wenn man sie kost.
Den Epigrammdieben Vermacht ihnen doch im Testament alles, was tot oder remittent. 169
Schade Wenn ich im Obstgarten nur spaziere, seh ich ihn gleich als Konfitüre.
Von der Verantwortung Nicht einmal der größte Lawinenstein sieht seine kleine Verantwortung ein.
Dekadenz Was es doch für scheußliche Perversionen gibt, zum Beispiel, wenn ein Opfer seinen Moloch liebt.
Fazit Kein Problem verschwindet aus der Welt dadurch, daß man es verschlossen hält. 170
KLEINIGKEIT
EIN EPIGRAMM ZU SCHREIBEN,
SAGTE EIN GEWITZTER,
DAZU GEHÖRT NICHT VIEL.
ER SETZTE SICH HIN, HUSTETE, SCHWITZTE
UND SCHRIEB – EIN TRAUERSPIEL.
Vom Wert der Wörter Wo man den wirklichen Wert
einzelner Wörter erfährt?
Bei der sympathischen Dame
am Postschalter »Telegramme«.
Archäologie Man führte einen Prinzipienstreit um Jungfräulichkeit in jüngster Zeit. Ich sah, wen der Stoff so bewogen: Es waren zwei Archäologen. 171
Gerechtigkeit Sonderbar intakt ist die Waage der Gerechtigkeit. Die Wahrheit wiegt darauf nackt schwerer als im Kleid.
Soll und Haben So läßt man uns beide hasten, ohne daß wir uns erreichen: Ich trage das Kreuz der Lasten und du – das Parteiabzeichen.
Preisfrage Ich hätte, um alle Welt,
noch gern die Frage gestellt:
Was dieser Tragödie Held
von seinem Autor wohl hält?
172
Wie? Durch welches Wunder, wie kam er in die Anthologie? Durch das natürlichste eben, er hat sie herausgegeben.
Credo Woran ich glaube? Erlaube! Natürlich an die Fakten. (Doch nur an die nackten.)
173
17 Xenien
1961-1964
175
Unter den Haufen von Steinen Unter den Haufen von Steinen, dem Rest meiner frühen Adressen, liegt auch zu Staub zertreten mein altes steinernes Herz.
Wo die Hyänen Wo die Hyänen das Lachen regieren, ist dieses am Aas gemästet, sein Echo trägt tief und tönt wie dumpfes Gestöhn.
Uns amüsiert Uns amüsiert die Groteske der Straftat, das Raffinement des Verbrechens; er, dieser Alltag von heute, vertieft den versiegenden Quell des Humors.
177
Man bedenke Wie arm an Humor
waren die Alten.
Niemand kam auf den Einfall,
Atlas zu kitzeln. Ihm wäre
die Welt von den Schultern gefallen.
Geh auf den Flohmarkt Geh auf den Flohmarkt der Geschichte; du kaufst dort für geringe Groschen Gesten, für die man noch gestern mit Blut und mit Leben zahlte.
Seltsame Schnecken Seltsame Schnecken sind wir! Wir tragen das Haus in uns selbst und finden doch schwer zurück in unsere Innenräume.
178
Wahrscheinlich Wahrscheinlich sind wir die Erben des Urvolkes von Atlantis; daher das ständige Heimweh nach dem abhandenen Festland.
Trist Trist ist das Los der Poeten,
die starben, bevor sie geboren.
Ehren wir ihr Gedenken
mit einer Strophe des Schweigens.
Schwarz auf weiß Etienne de Silhouette wollte das Menschenprofil schwarz auf weiß belegen. Schöner schneiden heraus die Silhouette des Menschen aus schwarzen Hintergründen Gewitter mit ihren Blitzen.
179
Vielleicht Vielleicht war es höchste Zeit
für einen neuen Prometheus,
der diesmal das Feuer den Menschen
zu stehlen käme? Jawohl:
Laßt sie doch kalt sich morden.
Zu kurz Zu kurz ist die Hand des Todes, den Menschenmund zu schließen. Durch ihre Knochenfinger pfeift er auf ihn – zum Protest.
Troja ruht längst in Museen Troja ruht längst in Museen und läßt die Schwerter nicht rosten; noch immer muß ich mich fragen: sie schützen, oder sie stürmen?
180
Mehr Licht »Mehr Licht!« – hatte Goethe gesagt, doch uns betraf das nicht mehr. Es war der erste Befehl des Ministers im ewigen Dunkel.
Ich melde Ich melde, daß ich zur Neige den Kelch mit Galle getrunken. Was aber, wenn ich nach mehr und immer mehr verlange?
Bin ich Bin ich kein guter Mensch? Ich preß in geballten Fäusten aus einem blutigen Drama diese paar Tropfen Lachen, in denen sich Morgensterne spiegeln, damit man merke, ob es schon dämmert.
181
Den einen Den einen sind Adlerschwingen, den andern Engelsflügel gewachsen; man kann sie schießen das ganze Jahr. Es schickt sich nicht für sie, daß sie nach Schonzeit wie Enten verlangen.
Und die ihn früher verfolgten Und die ihn früher verfolgten, rühmten sich später damit nicht ohne Grund: sie wären seinen Spuren gefolgt.
182
17 Gedichte
1933-1964
183
Ich reifte Ich reifte spät, der Schnee lag hoch in mir, auf eigenem Eise, die Früchte wie am Tag der ersten Verwunderung. 1964
185
Längst Längst ist das Halbdunkel meines Waldes gefällt; neue Bäume aus alten Wurzeln, dichter Schattenregen. Nicht mein Dunkel, nicht meine Vögel, nicht mein Wild scheut; ich geh mit ausgestreckten Händen durch schmale Stollen des Tags, und nur manchmal stolpert mein Fuß wie zufällig über die alte Wurzel der Kindheit. 1964
186
Du spiegelst dich Du spiegelst dich in der Träne, im Staunen, im geschlossenen Lid, bleibst an der Wimper, im Silberblick und Entsetzen hängen; so vielmal du existierst, so vielmal mußt du sterben. 1961
187
Seit 1389 Seit 1389 ist die alte Synagoge zu Prag nicht erneuert. Ihre Wände waren seit damals mit dem Blut der Juden befleckt. Frisches Judenblut erneuert im Morgengrauen die Wände der Synagoge. 1961
188
Was hält der Wachtposten Was hält der Wachtposten vom Wachtposten:
der erste Wachtposten vom zweiten,
der zweite vom dritten,
der dritte vom vierten,
was denkt der erste Wachtposten vom sechsten,
was denkt der sechste
vom ersten –
die Schnittpunkte dieser Gedanken
bilden das Netz,
in das Menschen
verstrickt sind.
1961
189
Der Tod Der Tod ist kein fleischloser Schädel, er hat eine rote Zunge, die er uns zeigt und versteckt und wieder zeigt und versteckt, wie jenes vom Wasser betriebene Spielzeug im Garten des Bischofs von Salzburg. Schrecklich ist dieser Barock des Todes! 1961
190
Ach, noch einmal Ach, noch einmal diese Flügel anlegen, mit denen man sich damals emporschwingen konnte von der Erde; vielleicht könnte man jetzt mit ihnen zu ihr zurückkehren, ohne zu zerschellen am eigenen Schatten, der vor uns auf der Erde ankommt. 1961
191
Wenn ein Dichter Wenn ein Dichter
an Gittern rüttelt,
sage nicht:
Wie anders
klingen
Harfen!
1961
192
Die Welt am anderen Ende
vergeß ich nie.
Wohin ich geh, mich auch wende,
suche ich sie.
Das Lachen lockte dort heller
und jeder Blick;
so eile ich immer schneller
dorthin zurück.
Ich geh durch die Jahreszeiten
in Zuversicht,
daß sie dort an Eichen, Weiden
warten auf mich.
Ich muß meinen Weg vollenden.
Erlischt mein Keim –
dann sei es in Mutterhänden,
es sei daheim.
Jerusalem / Tel Aviv 1950-1952
193
Antrag Ich sagte es einmal schon:
Ich glaube immer noch an die griechischen,
römischen Götter,
bete die Götter Ägyptens an,
ich würde noch heut meine nächsten Bekannten
dem menschenfressenden Gott der Azteken
opfern.
Der viergesichtige Światowid und Perun
leben für mich noch immer.
Mein Wald ist voller Elfen,
mein Wasser voll Nixen und Nymphen.
Jeder Baum hat Stimme,
jeder Grashalm Namen.
Ich glaube, daß meinen Bekannten Kalikst
(den Namen muß ich verschweigen)
täglich der Geist der Dummheit heimsucht.
Ich glaube an Zauber und Wunder,
an die unirdische Macht der Poesie,
ich glaube daran, daß die Frau des Dichters X.
fürwahr eine Muse ist.
Aber ich glaube nicht, glaube nicht,
glaube nicht
an die Systeme der Religionen von heute,
die eine mechanische Hierarchie sind,
in deren Zentrale oder Filialen in der Provinz
von acht bis eins und von drei bis sechs amtiert wird,
beziehungsweise in abgeänderten Stunden,
194
je nach dem örtlichen Brauch.
Im Namen der heilen Vernunft
und der Mystik des Alls
fordere ich das Recht auf den Unglauben.
Amen.
1950
195
Mein Tod Ich bin unsterblich.
Nichts kann mich töten,
weder Hunger noch Frost, noch Krieg.
Nichts tut mir etwas an,
weder Pest noch Feuer, noch Wasser.
Stürzende Bäume zerbrechen wie Halme
an meinem brüchigen Kahn.
Autos zerquetschen ihre blechernen Flügel,
wenn sie mich streifen.
Die Löwen beißen sich die Zähne aus.
Von Wölfen, Füchsen und kleinerem Wild
sag ich kein Wort, es wäre vergeudete Zeit.
Berstende Berge erreichen meine Füße
nur noch als Staub.
Das Wasser umwedelt mich wie ein zahmer
Hund.
Sogar der Mensch, das Überprodukt der
Schöpfung,
wirft gegen mich seine Bleikugeln,
ohne zu treffen.
Aber im Winkel des Hirns
trage ich meine Achillesferse,
die tödlich verwundbar ist,
vom kleinsten Hauch einer Phrase.
1950
196
In Salzburg Ein Blutsturz von Rosen am Schloß Mirabell,
die denkmalschluckende Flora durchpulst den Park.
Hier strahlt ein jedes Insekt so viel Sonne aus,
daß es die Winternacht damit erhellen könnte.
Als schlüge die Zeit nicht,
die auf mich einschlägt.
Als gäb’s nur den Jonny vom Staate Utah,
der Hufeisen gegen das Ziel wirft
und ab und zu im Munde den Kaugummi
wendet,
während sein Herz sich entkrampft vor Freude.
Und weil das Camp der Juden,
der Exilierten von Zeit und Raum,
nicht weit ist, kniet hier den Rosen zu Füßen
ein kleines Mädchen,
mit Augen wie Psalme,
und spricht zu der Rose polnisch,
am Schloß Mirabell,
vielleicht zum letzten Male.
Rose, Rose, Rose, kleine Psalmistin, polnisch. 1950
197
Wiener Kaprice Durch Irrtum Jahrzehnte zu spät geboren, fasse ich mich im letzten Moment zusammen, um nicht auf die Straße zu laufen, paradeuniformiert als Rittmeister der k. und k. Kavallerie … Zurück! Durch Irrtum in diese neue Demokratie verschlagen, stehle ich mich durch die Straßen mit Namen von Erzstatthaltern an stillosen Häusern vorbei, den »Aufschwung zum …« nicht zu hemmen. Hier schreibe der Referent der Klio das angebrachte Ziel der Geschichte hinzu, das ich jetzt durchkreuzen könnte, eilend zum … (bitte Ergänzung). Ich aber wollte jetzt nur die Fahrbahn schräg überqueren, um der Geschichte den Gehsteig auf der gebotenen Seite offen zu lassen … doch jemand schrie auf mich zu: Zurück! Vom Strom der Passanten erfaßt 198
marschiere ich zum… O Gott,
die Menge wird mich auf ihre
robusten Schultern heben
und so an die Spitze des großen
Zuges der Zeiten zum –
tragen, und ich, ich wollte
ja nur auf die andere Seite,
ein Sträußchen Veilchen, wie immer,
der reizenden Lola zu kaufen;
damit sie aus ihnen zwischen
den Tasten ihres Klavieres
Tropfen Musik mir presse;
von denen die im Salon
im Dunkel Sitzenden meinen
werden, es seien Tränen
des Rittmeisters (k. und k.)
der Kavallerie …
Zurück!
1948
199
Im Café am Ring Hier ist die Ernte des Lebens,
das hülsenlose Fruchtfleisch,
frisch, oder faul, oder unreif.
Die Welt sprengt mir ins Auge
rot, gelb, grün,
ich höre Stimmen, zwischen den Zähnen zu
Mehl
von verschiedener Feinheit gemahlen,
und spüre Geschmack im Zucken der Zunge,
Geruch in den Falten der Nüstern,
in den Fingern schwirren Mücken voll meines
Bluts.
Ich versuch soziologische Schlüsse zu ziehen
aus der Gesellschaft um mich,
die ich entkleide nackt.
Unempfindlich für die Funktion meines Hirns
schlägt sie hier Farben, duftet und stinkt
und prallt mit Stimmen auf Stimmen.
Da sitzen zwei Homoerotiker
im balzakischen Alter.
Vor ihren Säuglingsblicken
wären die Blicke von Mönchen und Nonnen —
Laster.
Ein Jüngling nahm seine Brille herunter,
putzt sie sorgfältig mit einem Tuch
und taucht seine schamlos entblößten Augen
in den Nebel der Aussicht
200
und rezitiert
seiner hochgeschürzten Ziege
den Marmor von Hofmannsthal,
aus dem Gedächtnis.
Ein Buckliger prüft eine Briefmarke aus
San Marino
gegen das Licht.
Mein Freund, der Volkswirt,
hat sie im Herbarium alle,
ich aber sehe sie täglich lebendig,
ich – Goldgräber – suche die Hände mir blutig
beim Waschen des Sandes.
Man müßte sie ordnen
soziologisch
im Chaos meiner Erkenntnis.
Doch mir schlägt das Herz zu schnell.
Kommt, laßt uns waschen den Sand,
einige Körnchen besitze ich schon.
Kennt ihr lebendiges Gold?
Wer wollte die Prägung wagen?
Herr Ober, zahlen!
Wien, 1947
201
In den kleinen Städtchen Wie morsche Stümpfe auf Wiesen
glimmen die kleinen Städtchen
mit Nestern der kalten Feuer.
Bienenstöcke der Wehmut. Wo Juden
Trauer auf Lidern tragen
in Häuser, die schräg sind wie Gräber.
Der Kater leckt Sonnentropfen
von Fensterscheiben. Dann flieht er,
trunken vom Licht, in den Wald. So ist's dort.
Und jedes Haus
stützt den Himmel
mit sieben Armen aus Licht.
Die restlichen Hände leuchten
mit schmerzlicher Apathie.
Pferde an Häuser gebunden.
Ein Peitschenknall taucht das Städtchen
in grünen Sturmwind der Wiesen.
Doch das ist Täuschung.
Ziegen mit Jungrabbi-Bärten
verwischen Messias’ Spuren,
die magersten Josephskühe
brüllen Stundengebete
dumpf auf dem Friedhof des Lebens –
dem Markt.
Gewitter des dunklen Geschehens
202
erschüttern die über dem Fetzen Welt
gespannte brüchige Plane der Nacht.
Meteore schlagen tückisch
In Patriarchenschädel,
und danach betten sich staunend
die Leichen lang zu Alleen,
Aus Gräbern keimt wieder Gras.
1938
203
Morgen Ich weiß, daß ich mich einmal erneuern werde,
hineingewachsen ins Bewußtsein wie in Erde,
und daß mein Kopf dann neue Lyrik knospen wird
wie Blätter.
Mein Blut wird neue Lieder schmettern,
und meines Herzens saftige Kirsche
wird Freude sprengen,
die heute noch als Kern in ihr schlummert.
Nur das schmerzliche Lächeln, lauernd
im Winkel des Mundes
wie in einer Bucht der Trauer,
unversiegt,
wird mir bleiben,
ich werde es tragen,
das Mal vom heutigen Tage,
wie eine tiefe Wunde
vom Krieg.
15.1.1937
204
Bekanntschaft er stand vor dem zaun sein blick klebte gierig wie eine klette am blau-roten anschlag fest es war in den morgenstunden er blieb dort an einem buchstabenbuckel hängen als hätte er endlich ein stilles bequemes ruhebänkchen gefunden mein unverfrorener blick folgte hin zum plakat dem seinen ich konnte zwar nichts begreifen nur das daß die farben brennen und daß sich das blau mit dem rot sehr tragisch violett vereint der neben mir kaute worte, ich sah es, um nicht zu flennen ich fühlte nur die Verzweiflung im sinn jener worte wimmern und wie ein seltsamer tanz die ruhe der zeilen entstellte und daß ich dann etwas sagte mit sehr veränderter stimme und daß sich zu uns die freundschaft sogleich als dritte gesellte 1933 205
Karl Dedecius • Letztes Geleit
207
Nicht verknöchern, aber nicht er schlaffen, auf dem Posten sein und nicht auf der Stelle treten, biegsam, aber unbeugsam bleiben, Löwe oder Adler, aber dennoch kein Vieh sein, nicht einseitig werden, aber keine zwei Gesichter haben – was für eine Aufgabe! St. J. Lec
Als ich Ende der fünfziger Jahre die polnische Presse zu lesen begann, fielen mir in den Zeitschriften hier und da verstreute Aphorismen auf, die sich »unfrisierte Ge danken« nannten. Ich war fasziniert von der Präzision ihrer Formulierung, der Trefflichkeit der Beobachtung und der Definitionen, von der Poesie ihrer Bilder. Ich begann sie zu sammeln und nach ihrem Erfinder zu fahnden. Er meldete sich aus Warschau, beantwortete meine polnisch geschriebenen Briefe auf deutsch, erwies sich als überzeugter Sozialist und titulierte mich, den frem den Briefpartner, unbeirrbar monarchistisch: »Wohlge borener Herr«. Am Anfang glaubte ich, es sei eine Spit ze des Satirikers, aber dann ging mir auf, daß es weh mütiger Ernst war, Reminiszenz an eine verschüttete Welt, deren Abglanz dieser freundlich militante Dichter immer noch mit sich herumtrug. Ich sammelte also sei ne Aphorismen, übersetzte sie und wählte aus. 209
Als ich im November 1959 eine Einladung der Polni schen Akademie der Wissenschaften erhielt und zum ersten Mal seit dem Krieg nach Polen fuhr, war ich in Warschau Gast bei Lec. Er wohnte in einer seltsam bür gerlichen Dreizimmerwohnung, Nr. 5 im Hause Nr. 15, am Markt der Neustadt, zusammen mit seiner stillen, im Außenministerium beschäftigten Frau, der Schwie germutter und den zwei Söhnen. Wir tranken einen Muskateller vom heiligen Berg Sinai, die letzte Flasche, wie Lec sagte, die er aus Israel mitgebracht hatte, waren zunächst etwas scheu und versuchten, einander ken nenzulernen. Lec war leicht korpulent, stattlich, das ru hige, großflächige Gesicht trug Gelassenheit und Freundlichkeit, die stark gebogene Nase ließ nicht an einen Raubvogel, sondern an einen Spaßvogel denken, und die hellblauen Augen strahlten Scharfsicht und Güte aus. Es war ein gastfreundlicher Abend und ein gutes Gespräch. Später gingen wir spazieren, den schö nen Winkelweg von dem architektonisch so reizvollen Markt der Neustadt über den Markt der Altstadt bis zur Sigismundsäule und weiter noch die Krakauer Vor stadt und die Neue Welt hinunter bis zur Heiligkreuz straße. Mit Lec zu gehen war eigentlich kein Spaziergang. Es war ein majestätisches Abschreiten einer von ihm ange tretenen Ehrenkompanie von Palast-, Kirchen- und Häuserfronten, über die er alte und neue Legenden, Tragisches und Amüsantes zu erzählen wußte. Ich habe Lec später nie anders auf der Straße gehen sehen: leicht, 210
fast tänzerisch und so langsam, daß man glaubte, er sei Chronos persönlich und verfüge beliebig über die Zeit. Gegen die Hast der vorüberflutenden Großstadtmenge war er immun. Er mußte ständig stehenbleiben, um seine ganze Energie auf einen Gedanken, eine Geste oder einen Gruß zu konzentrieren. Nachdem mir Lec unterwegs mehrere — seine — Kaffeehäuser gezeigt hatte, führte er mich in das Café »Neue Welt«, um mir in einer Fensterecke mit dem Blick auf die Straßenkreu zung allerlei Geschichten zu erzählen. Er wußte eine Unmenge, und die meisten waren intelligent, interes sant, geistreich pointiert und liebenswürdig. Lecs ge nealogisches Gedächtnis war erstaunlich. Er konnte stundenlang über Wiener, Lemberger, Warschauer, Ber liner und Frankfurter Aristokraten- und Bürgerhäuser memorieren, Stammbäume wachsen lassen, Ketten von Daten aufsagen, Klatsch kolportieren, Anekdoten druckreif formulieren. Dabei sang er die Sätze in jener galizisch melodiösen Sprechweise, in der österreichi sche, polnische und ukrainische Töne mitschwingen. Am liebsten und lebhaftesten erzählte er von Wien und von Kaiser Franz Joseph, für dessen persönlichen Untertan er sich immer noch hielt. Sein Sentiment wur de von der Geschichte der habsburgischen Monarchie angezogen, während seine Gedanken der Gegenwart gehörten. Am Kaffeehaustisch erfuhr ich einiges aus seinem Leben. Lec wurde in Lemberg geboren. – Wenn es nichts zu lachen gibt, kommen Satiriker auf die Welt. – Meine Fein 211
de verbreiten das Gerücht, ich sei ein unverbesserlicher Indi vidualist, ein Feind jeglicher Gemeinschaft. Das ist nicht wahr. Ich habe schon als kleiner Junge an meinem Matro senmützchen ein Band mit der goldenen Aufschrift getragen: »Viribus unitis!« Es war die beliebte Maxime von Franz Jo seph I. Auf ein Plakat »Lernt schwimmen« schrieb der Schüler Lec: Wozu? Panta rhei! Der Hang zum Parodisti schen war ihm angeboren. Der Vater, Benno Letz de Tusch, war Bankdirektor, besaß Güter in Podolien und in der Bukowina und pendelte zwischen Lemberg und Wien, wo der Großvater väterlicherseits als Arzt gelebt hat und der Urgroßvater mütterlicherseits, H. Weißglas, Kaiserlicher Rat und Großgrundbesitzer gewesen war. Die Mutter hieß Adele und war eine geborene de Safrin. Die Familie von den Saphadim abstammen, die in ihrer heiligen Stadt nördlich des Sees Genezareth eine be rühmte Rabbinerschule besaßen und über die Diaspora in Spanien als Vertriebene nach Holland, dann an den Rhein und weiter in den slawischen Osten gekommen waren, in dessen Städten sie nicht selten zu der geisti gen Oberschicht des Judentums gehörten. In Wien wurde einer seiner Vorfahren am Hof der Habsburger geadelt. Nach dem Zerfall der k.u.k. Monarchie zerfie len auch die Latifundien der Barone Letz de Tusch. Lec war sechs Jahre alt, als er den Vater verlor. Als er zehn Jahre alt war, ging der Krieg zu Ende, und die Familie zog nach Lemberg um. Hier besuchte er zuerst die evangelische Oberschule, wo er Deutsch lernte, da nach das berühmte Karmeling-Gymnasium. 1927 stu 212
dierte Lec ein Jahr Polonistik, danach ging er an die ju ristische Fakultät. 1933 entließ ihn die Universität mit dem akademischen Grad eines Magister iuris. Sein Freund, Jan Śpiewak, überliefert einige Erinne rungen an jene Zeit. Er berichtet, daß Lecs Wohnung in der Slowacki-Straße 6, in der Nähe der Post, mit kostba ren Möbeln und Teppichen geschmückt und voll von Resten einstigen Wohlstands war. Aber der Student Lec ließ sich ungern an den Besitz seiner Eltern erinnern; der Umgang mit den Tagelöhnern, mit der Dorfarmut Podoliens hatte ihn zum Sozialisten gemacht, und zwar zu einem Sozialisten sui generis: Ich bin nicht der Mei nung, daß jemand, der eine Seele besitzt, eo ipsi schon zur besitzenden Klasse gehört. 1929 debütierte Lec als Schriftsteller im Krakauer IKC, im Illustrierten Tageskurier, mit dem Gedicht »Frühling«. In jener Zeit trug er noch, der Mode ent sprechend, einen dicken Spazierstock und ein Monokel – wie sein Onkel, der k. u. k. Rittmeister war, oder wie der damals populäre Wortführer der polnischen Futuri sten, Bruno Jasieński – und paffte wie viele seinesglei chen eine Pfeife. Aber diese Periode dauerte nicht lan ge. Die sich zuspitzenden sozialen Konflikte in dem Völkerkessel Lemberg brachten Lec mit den Linken zu sammen und verpflichteten seine Poesie der Politik. Er nahm Kontakt zu der revolutionären ukrainischen Wo chenzeitschrift »Wikna« auf, war Mitarbeiter von Dans »Nowa Kronika« und schließlich 1931 Mitbegründer der »Tryby«. Memoiren berichten von stürmischen Le 213
seabenden mit Lec im gelben Saal des Technologischen Instituts. Seiner politischen Aktivität wegen mußte Lec Lem berg verlassen. Er ging 1934 nach Warschau, wo er rasch als Lyriker und Satiriker bekannt wurde und Zu gang zu den führenden Blättern bekam. Er war in den »Nadeln« (Szpilki) und den »Signalen« (Sygnaly) zu leIsen, im Organ der linken Künstler »Lewar« und im »Linken Gleis« (Lewy Tor), im »Skamander« und im »Schwarz auf Weiß« (Czarno na Bialym) vertreten. 1936 gründete er zusammen mit Leon Pasternak das literari sche Kabarett »Theater der Knirpse« (Teatr Pętaków), das gleich nach den ersten Aufführungen von der Zen sur geschlossen wurde; im gleichen Jahr nahm er am Kongreß der Kulturschaffenden teil und mußte dann als Mitarbeiter der »Volkszeitung« (Dziennik Popular ny) die Hauptstadt verlassen und in Rumänien Zu flucht suchen. In Czortków versuchte er, in einer An waltspraxis Fuß zu fassen, ging aber bald wieder nach Warschau zurück, heiratete, bezog mit seiner Frau eine bescheidene Wohnung in Untermiete und lebte als Lite rat und – immer noch – sozialistischer Untertan einer imaginären Monarchie mit Kaiser Franz Joseph I. an der Spitze. Zum Mittagstisch lief er sehr häufig in den ent fernten Stadtteil Leszno, um dort in der »Cyganeria« billig (für 50 Groschen) zu essen und damit etwas Geld für den Kaffee zu sparen, den man abends in der »Mala Ziemiańska« am Stammtisch von Gińczanka, Gombro wicz und Pasternak – manchmal kam Tuwim noch hin 214
zu – trinken wollte. Lec wohnte damals in der Grzy bowska-Straße, unweit der Kirche. Nach Ausbruch des Krieges war Lec wieder in Lem berg. Beim Einmarsch der deutschen Truppen 1941 wurde er verhaftet und ins Konzentrationslager Tarno pol gebracht. Zweimal entging er glücklich einer Er schießung, das zweite Mal kurz vor der Auflösung des Lagers, 1943, als er sich zusammen mit einer Gruppe von Gefangenen deutsche Uniformen verschaffen konnte. In Warschau angekommen, mittellos, am Ende seiner Kräfte und von Erpressern bedroht, war er dem Selbstmord nahe. Aber dann fand er Kontakt zur Wi derstandsbewegung und faßte neuen Lebensmut. Er redigierte die konspirative Zeitung »Soldat im Kampf« (Zołnierz w boju), das Organ der Volksgarde (GL), dann der Volksarmee (AL), war Schriftleiter des »Freien Volkes« (Wolny lud), wechselte ständig seinen Wohn sitz und nahm schließlich an den Partisanenkämpfen im Lubliner Land im ersten Bataillon der AL teil, wofür er zum Major der Reserve befördert und später (im Ja nuar 1966) mit dem Offizierskreuz vom Orden der Wiedergeburt Polens ausgezeichnet wurde. 1945 war Lec bei der Neugründung der satirischen Zeitschrift »Nadeln« (Szpilki) dabei, er war Mitarbeiter der »Schmiede« (Kuźnica), des »Schaffens« (Twórczość), der »Wiedergeburt« (Odrodzenie). 1946 schickte ihn die Republik Polen als Pres seattaché nach Wien. Als er 1950 diesen Posten aufge ben sollte, verbannte er sich freiwillig und ging nach 215
Israel. Aber 1952 hielt er die Belastungen dieser neuen Umwelt nicht länger aus und kehrte, vor Heimweh krank, zurück an die Weichsel. Hier lebten er und sein Sohn zunächst zurückgezogen bei dem Freund Jan Śpiewak, bis Lec in Pruszków eine eigene Wohnung nahm und zum zweiten Male (mit Krystyna Świe tańska) eine Familie gründete. Geschrieben hatte er in dieser Zeit wenig, hauptsäch lich übersetzt, vor allem Brecht (Mutter Courage, Ge dichte und Erzählungen), außerdem Verse von Lessing, Goethe, Heine, Tucholsky, Trakl. Mit dem Polnischen Oktober begann seine Karriere als Aphoristiker. In kurzer Zeit waren die »unfrisierten Gedanken« zu geflügelten Worten geworden, Lec stan den wieder nahezu alle Redaktionen der Hauptstadt offen. Er sublimierte sein bitteres Schicksal und die skeptische Nachdenklichkeit in winzigen Sätzen. Fassen wir uns kurz. Die Welt ist übervölkert von Wörtern. Philo sophische Denkweise, nachsichtige Trauer und mutige Konsequenz machten aus seinen dünnen Werken eine bedeutende Bibliothek. Lec hatte seine Form gefunden. Er prägte die kürzeste und treffendste Nomenklatur unserer Zeit, aus Poesie und Logik, aus Trotz und Nachsicht. Er gab seine jahrtausendealte Erfahrung der Allgemeinheit preis und machte die Ironie zum Prüf stein dieser Erfahrung. Er notierte seine Gedanken in Kaffeehäusern, Straßenbahnen, Parkanlagen, ja sogar im Klub der Literaten und wurde zum »letzten europäischen Philosoph-Peripathetiker« (K. T. Toeplitz). 216
Bei unserer ersten Begegnung, im Café »Neue Welt« (Nowy Świat), schenkte er mir alle seine Bücher und trug in eins davon in deutscher Sprache die Widmung ein: In Warschau in »Nowy Świat«, aber Gott sei Dank noch in der alten Welt. Lec, dieser wandelnde Anachronismus, wurde zum Salz der Warschauer Kultur. Es war wahrscheinlich mehr als eine melancholische Pose, daß das bunte Bild nis Kaiser Franz Josephs bis zuletzt die Wand über sei nem Arbeitstisch zierte, daß er die Manschettenknöpfe aus Münzen mit dem Bildnis des backenbärtigen Mo narchen, die wir in Frankfurt für ihn aufgetrieben hat ten, bis zuletzt mit feierlicher Freude und ostentativem Stolz getragen hat. Aus Jugoslawien zurückgekehrt, wurde er gefragt, ob er auch in Sarajewo gewesen sei. Ich? antwortete er ent rüstet. In einer Stadt, in der mein Kronprinz ermordet wur de? Agram aber war für ihn unsere Stadt und Krleža un ser Dichter. Am liebsten fuhr Lec nach Wien, in die Stadt seiner glücklichen Kindheit. Als er diese Reise einmal mit Roman Karst unternahm und beide dann in Wien ge landet waren, fragte ihn Roman Karst: »Ist es dir eigent lich aufgefallen, Staszek, daß du die ganze Zeit nur von dir gesprochen hast?« Und Lec antwortete darauf mit entwaffnendem Charme: Ja, hättest du denn ein besseres Thema gewußt? Er erzählte gern von seinen Erfolgen, von den Zeit schriften aus dem Ausland und von den prominenten 217
Rezensionen. Das Echo, das seine Stimme fand, schien ihn für alles zu entschädigen. Wer ihn näher kannte, wußte, daß seine äußere Eitelkeit nur da war, um die innere Bescheidenheit und Bedürfnislosigkeit zu kom pensieren. Er sprach von sich und dachte an die andern. An seine Frau, an seine Schwiegermutter (Babcia, die er sehr gern hatte), an seine Söhne, an seine Freunde und an seine Stadt. Kaum am Frankfurter Bahnhof aus dem Zug gestiegen, hatte er schon Heimweh nach der Fami lie und nach den Warschauer Cafés. 1965 zwang ihn eine Krankheit, am Stock zu gehen. Er war zusammengefallen, sein einst so tadellos sitzender, maßgeschneiderter Anzug schlotterte, sein Gesicht war durchsichtig geworden. Bei einer Operation entdeckten die Ärzte, daß er un heilbar krank war und daß sein Ende bevorstand. Die Freunde wußten es und suchten vor ihm ihre Hilflosig keit zu verbergen. Lec selber wußte es auch und suchte seinerseits die Freunde zu schonen und sie mit Lustig keiten zu täuschen. Ich sah ihn zum letzten Mal im No vember 1965. Er erfuhr von meiner Ankunft, verließ das außerhalb von Warschau gelegene Sanatorium und kam mir am Stock entgegen. Wer weiß, was Kolumbus alles entdeckt hätte, wäre ihm nicht Amerika im Wege ge standen. Polen bereitete sich auf die 1000-Jahr-Feier der Staatsgründung vor. Straßen und Geschäfte wurden mit Transparenten mit dem Bildnis des Königs Mieszko des Ersten geschmückt. Lec melancholisch: Erster müßte man sein. Ich bin der Letzte. 218
Im Frühjahr legte man ihm seine neueste Epigramm sammlung zur Korrektur vor. Er hatte keine Kraft mehr, daran zu arbeiten, er winkte ab: Ich habe Wichtige res zu tun. Ich bin mit dem Sterben beschäftigt. Er hatte seit langem keine Briefe mehr geschrieben, und so erfuhr ich erst auf Umwegen von seinem be denklichen Zustand. Am 10. Mai flog ich mit guten Bot schaften und etwas Hoffnung nach Warschau. Im Flug zeug der polnischen LOT wurden Zeitungen verteilt. Ich bekam die »Zycie Warszawy«, blätterte oberfläch lich darin und las die lakonische Notiz: Die Beisetzung des Satirikers Stanisław Jerzy Lec findet morgen, am Mittwoch, dem 11. Mai, auf dem ehemaligen Militär friedhof statt. Stanisław Jerzy Lec war nach langer Krankheit am 7. Mai 1966 gestorben. Sein Schicksal nahm das lateinische Vorurteil Nomen est omen beim Wort und ließ es sich an ihm erfüllen. Letz bedeutet hebräisch Satiriker. Die mittelhochdeut sche Letze – Grenzbefestigung, Schutzwall – verleiht ihm politisches Gewicht. Auf deutsch heißt letzen eben so erquicken wie bedrücken, seine Gedanken kreisen um letzte Dinge. Und schließlich und zuletzt bedeutet Letzt das Abschiedsmahl, die Totenfeier. Auf dem Kommunalfriedhof, dem ehemaligen Mili tärfriedhof im Stadtteil Powazki, hatten sich am Mitt wochmorgen bei schwülem, windstillem Maiwetter die Warschauer Literaten nahezu ausnahmslos versammelt, um ihrem Kollegen und Freund die letzte Ehre zu er weisen. Der Vorstand des Schriftstellerverbandes, 219
Jarosław Iwaszkiewicz und Artur Adam Międzyrzecki, hielten die Ehrenwache, eine Ehrenkompanie trat im Parademarsch an, präsentierte das Gewehr und feuerte Salutschüsse ab. Schade, daß man ins Paradies mit einem Leichenwagen fährt. Ein Staatsbegräbnis für einen Satiriker! Ein General und drei Schriftstellerkollegen verabschiedeten den Dichter mit bewegten Worten. Einer der jüngsten Lyri ker, Zbigniew Jerzyha, trug mit verweinten Augen die Auszeichnung des Toten hinter dem Sarg, der Trauer marsch von Chopin, von scharrenden Schritten und lei sen Geräuschen gedämpft, verfing sich im Laub der Bäume. Mai 1966
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