Christian Günther
under the black rainbow Roman
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Christian Günther
under the black rainbow Roman
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christian günther
under the black rainbow ein roman entstanden im jahr 2000-2002
the rainbow has turned to black darkness has fallen in paradise
1. Vorabversion
Leseprobe: Kapitel 1-10 Copyright © 2002 Christian Günther Diese Leseprobe darf weiterverteilt werden, alle Rechte verbleiben hierbei beim Autor.
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Das Meer, eine tote Masse. Verseucht und verschmutzt, unfruchtbar, unbewohnbar, leblos. Todeszone am Rand der Landmasse. Ufer ohne Horizont, getötet. Brandungsrauschen. Durchsetzt von Maschinentakt und Dieselgeruch. Filter suchen, was noch zu gebrauchen ist. Abfallsortierung, unnatürliches Lebenszeichen in einer toxischen Zone.
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Here I am in Necropolis Run my fingers down my spine `Neath my feet a thousand ruins Coming here in my own time
- Madder Mortem, „Necropol Lit“
Die Gezeiten verschoben sich ständig und ließen den Strandläufern immer weniger Zeit, um Ihre Arbeit zu erledigen. Die Mondphasen waren noch immer die gleichen wie seit ewigen Zeiten, und trotzdem verloren Ebbe und Flut ihre Beständigkeit. Vorzeichen einer sterbenden Welt oder das Ergebnis massiver Eingriffe in das Gefüge der Natur? Das Phänomen war umstritten, seine Ursachen unerforscht. Es gab nicht sehr viele Menschen, die direkt von den Auswirkungen betroffen waren, doch die Strandläufer gehörten mit Sicherheit dazu. Es war sehr früh, so gegen fünf Uhr morgens, als Milo sich auf seine Arbeit vorbereiten mußte. Er wälzte sich aus seinem Schlafsack und kroch unter den wasserdichten Planen hervor, die er darumgewickelt hatte. Das beständige Geräusch von tröpfelndem, milchigem Wasser nahm er gar nicht wahr, als er seine Sachen zusammensuchte. Der Rohbau, in dem er wohnte, befand sich in einem erbärmlichen Zustand, doch man wurde genügsam, wenn man an diesem Abschnitt der zerbröckelnden Küste lebte. Das Gebäude bestand nur aus einem Skelett rohen Betons, gestützt durch Stahlstreben und ergänzt mit alten Baugerüsten und Planen anstelle von Glas. Milos Zimmer besaß sogar mehrere Glasscheiben, besonders bei Sturm war dies sehr angenehm. Führte aber auch meist dazu, daß sich viele seiner Mitbewohner hier bei ihm versammelten, wenn in den anderen Räumen der Wind über den Boden fegte und die Plastikfolien in den Fen6
steröffnungen zerfetzte. Blind vor Schmutz starrten die Fensterscheiben in die Dunkelheit und reflektierten die nackte Glühbirne, die die Wände von Milos Zimmer in gelblich-weisser Helligkeit erstrahlen ließ. Schimmel- und Wasserflecken zeichneten in diesem Licht mit ihren Rändern übertrieben exakte Linien auf den Beton, so daß die Wände wie riesige Landkarten wirkten. Eines der Fenster wischte Milo regelmäßig sauber, es war das Fenster, welches auf die See hinausblickte. Das Gebäude war ursprünglich etwa einen Kilometer von der Küste entfernt im Inland errichtet worden, doch inzwischen war die Küste soweit zurückgedrängt worden, daß bei Flut schon einige Male die unteren Stockwerke unter Wasser gestanden hatten. Allzu lange konnte er hier nicht mehr bleiben, höchstens noch ein Jahr. Dann würden die Fluten der Nordsee das Fundament komplett freigespült haben und das alte Betonskelett würde irgendwann unvermittelt einstürzen. Milo wollte schon weit weg sein, wenn das passierte. Er sah aus dem Fenster, auf dem nur einige Dreckschlieren seine Sicht behinderten. Wegen der reflektierenden Lampe konnte er nicht viel erkennen, doch er sah, daß sich das Meer schon fast vollständig zurückgezogen hatte. Er musste sich beeilen, wenn er seine Arbeit schaffen wollte. Unten am Strand, der aus einer schlammigen Ansammlung von Seetang und Rasenplatten bestand, waren bereits einige der anderen Strandläufer dabei, ihre Filter aufzuspannen und sich auf den Weg in Richtung Wattenmeer zu machen. Wattenmeer war eigentlich die falsche Bezeichnung, schließlich gab es hier noch vor 20 Jahren viele grüne Weiden und große Flächen waren mit Windkraftanlagen übersät gewesen. Diese riesigen Windräder ragten auch jetzt noch über dem Wasser und dem zertrümmerten Land auf, verrostet und verloren in der Weite der Ebene. Oft trug der Wind das unheimliche Krächzen von Metall auf Metall herüber, die Schreie der ertrinkenden Rotoren. Der Schutzanzug war schwer und dick, die verschiedenen Schichten aus Kohlefasern, Luftfiltern und Kunstfasern brachten Milo schon nach kürzester Zeit zum Schwitzen. Eine seltsame Stille lag über dem Strand, die Dämmerung schritt zügig voran. Der Horizont färbte sich schon in ein milchiges orange, verschwommen hinter dichten Schwaden von schwerem Nebel. 7
Eisiger Wind zerrte an Milos Haaren und warf klirrende Kälte in sein Gesicht, während der Rest seines Körpers vor Hitze zu kochen schien. Er schob sich die Filtermaske vors Gesicht und begann damit, seine Filtergestänge auf den Rücken zu hieven. Die meisten der anderen waren schon aufgebrochen, und ihre eigenartigen Silhouetten zeichneten sich gegen den Horizont ab. Die Filtergestänge ragten über die Köpfe der Strandläufer auf. Die meisten sahen aus wie gefallene Engel, die durch die Trümmer einer apokalyptischen Wüste stapften. Milos Gestänge drückte sich schmerzhaft in seine Schultern, er musste sich unbedingt eine neue Polsterung besorgen. Das blanke Eisen schnitt ins Fleisch und drohte sogar, seinen Schutzanzug zu beschädigen. Durch das verkratzte Plexiglasvisier seiner Schutzbrille versuchte er, seine Route auszumachen. Jeder der Strandläufer hatte seine eigene Route, sie hatten sich den Strand in ein durchdachtes System aus Sektoren aufgeteilt. Jeder durfte in seinem Sektor Filteranlagen aufstellen soviel er wollte, und auch alle Fundstücke darin gehörten dem Sektorenbesitzer. Die Karte des so aufgeteilten Strandes existierte nur digital, und Milo rief sie nun auf seinem HeadUp-Display auf. So konnte er verhindern, versehentlich in den benachbarten Sektoren zu ernten, was ihm nichts als eine Menge Ärger bringen würde. Einige hatten ihre Sektoren sogar mit Tretminen und Stolperfallen ausgerüstet. Die brachten einen zwar nicht um, aber einen Schutzanzug konnten sie schon aufreißen, so daß man sich mindestens eine üble Vergiftung einhandelte, wenn nicht sogar ein paar verätzte Hautpartien. Natürlich kam es regelmäßig vor, daß es Streit um Sektorengrenzen und Fundstücke gab, aber Milo versuchte möglichst, sich da rauszuhalten. Meistens endeten diese Streit mit üblen Prügeleien oder Messerstechereien. Das große Problem bei der virtuellen Navigation mit der Sektorenkarte war nur, daß jede Flut die Landschaft verändert zurückließ, so daß man sich kaum darauf verlassen konnte, sich anhand von Landschaftsmerkmalen zurechtzufinden. Schlick und Unrat wurden täglich neu durchmischt, so daß es wenige Stellen gab, die beständig waren. Ein paar Häuserruinen gab es, die aus dem Sand aufragten, und eben die alten Windräder. Milo stapfte voran durch stinkende Berge von Schlick und Müll. Seine schweren Stiefel bahnten sich schmatzend einen Weg durch die unwirkliche Landschaft, sein Blickfeld überlagert von dem computergenerierten Raster, das ihm helfen sollte, seine Filterstationen zu finden. 8
Die Strandläufer installierten ihre Folien an schweren Gestellen, die fest im Boden verankert waren. Selbstgeschweißte Gestänge, meist rund oder rechteckig, ragten so aus der Erde und erwarteten jede Flut, um ihr die wertvollen Teile zu entreißen. Es gab viele verschiedene Sorten von Filtern, jeder der Sammler hatte seine eigene Strategie, um eine möglichst ertragreiche Ernte zu erlangen. Schwermetalle und Kunststoffe waren am einfachsten zu finden, die Brühe des Meeres war voll davon. Andere Chemikalien und Salze oder Mineralien waren schwerer aus dem Wasser zu filtern, brachten aber meist auch mehr ein. Besonderes Glück hatte man, wenn sich ein altes Fabrikgelände im eigenen Sektor befand. dann würden regelmäßig die Altlasten aus der Ruine hochgespült, und man konnte oft gar nicht genug Filter auftreiben, um die Ernte einzufahren. Etwa alle fünfzig Meter mußte Milo stehenbleiben, um zu verschnaufen. Die Filtermaske vor seinen Atemwegen erschwerte ihm die Sauerstoffversorgung sehr, er wünschte oft, er könnte sich eine Druckflaschen-Ausrüstung leisten, doch dazu müßte er einen Glücksfang machen. Und eigentlich war er kein Glücksjäger. Einige der Strandläufer wurden so genannt, da diese sich darauf spezialisiert hatten, gegen einen kleinen Tauschhandel in den unzugänglichen Bereichen der Abschnitte von Anderen nach Strandgut zu suchen. Ein sehr riskantes Unterfangen, doch wenn man lange genug durchhielt, konnte man damit ganz beträchtliche Gewinne erzielen. Milo atmete schwer. Seine Atemwege waren schon schwer mitgenommen, oft lag er nächtelang mit Hustenanfällen wach. Doch der Gedanke, irgendwann genug Geld und Tauschware zusammen zu haben, um von hier abzuhauen, trieb ihn vorwärts. Er wusste nicht genau, wohin er dann gehen sollte, aber wahrscheinlich würde es ihn in die Stadt verschlagen, wie die meisten derer, die gegangen waren. Zu seiner Rechten war sie zu sehen, ein hell leuchtender Schimmer aus nebligen Lichtern. Das Skelett der zerfallenden Klimakuppel ragte wie ein Netz über den Gebäuden auf, illuminiert von den zahllosen Lichtern der Stadt. Klar, der Weg führte durch die Elendsviertel, durch die Gegenden, in denen die Armen und die Hungernden lebten. Und auch die Straßen bargen Gefahren, Gangs und Plünderer kannten meist wenig Rücksicht, gerade wenn man allein unterwegs war. Doch das war es ihm wert. Zwar war er hier, in der Gemeinschaft der Strandläufer, relativ sicher, doch wie sollte es weitergehen? Sie konnten 9
nicht ewig hier ausharren und Tag für Tag in den trüben Weiten der toxischen Küste umherstreifen, ständig umgeben von Gift und Tod. Da musste es noch andere Möglichkeiten geben. Die Sonne schob sich jetzt hinter den Nebeln am Himmel empor. Träge und bemüht, höher zu gelangen als der mit ihr konkurrierende Lichtball der Stadt. Flach fielen die gefilterten Lichtstrahlen über die bizarre Landschaft des Strandes, scharf hoben sich die Konturen vereinzelter Gebäudeteile und dünner Windräder gegen den milchigen Himmel ab. Milo erreichte seine dritte Filteranlage, die er am Fuß eines der Windräder plaziert hatte. Mit gekonnten Bewegungen, die er schon hunderte Male zuvor ausgeführt hatte, riß er die Filterfolien von dem Gestänge ab und verstaute sie in seinem Sammelbehälter an der Hüfte. Sogleich zog er eine der breiten Folien von dem Gestänge auf seinem Rücken ab. Die Fiberglasstäbe am Rand des Geflechts hielten den Filter in seiner Form, und Milo stülpte ihn über die Eisenstangen am Boden. Er verschnaufte kurz und überprüfte noch einmal sein GPS, als ihm eine ungewöhnliche Peilung auffiel. Etwas metallenes, ungefähr 100m von ihm entfernt, direkt an der Grenze zum nächsten Sektor. Der andere Sektor gehörte Ayala, einem der erfolgreicheren unter den Strandläufern. Er hatte früh Erfolg gehabt, doch ihn hatte etwas gepackt, was sie hier „Goldfieber“ nannten. Egal, wie viele Gewinne er noch erzielte, er würde niemals aufhören und weitersammeln, bis er hier eines Tages mit zerfressener Lunge oder einer schweren Blutvergiftung im Dreck verrecken würde. In Ayalas Sektor lag ein altes Werftgelände, das vor fünfzehn Jahren geschlossen wurde, als die Küste begonnen hatte, wegzubrechen. Milo hatte einige Filter an der angrenzenden Seite seines Sektors aufgestellt, und oft wurden Teile der Schwermetalle aus der Werft zu ihm herübergespült. Das lohnte sich, auch wenn Ayala natürlich den Hauptanteil der Schwermetalle aberntete. Der Spanier hatte fast alle seine Filter über der Fabrik plaziert und würde Milo wahrscheinlich sehen, wenn er zu der seltsamen Peilung hinübersteigen würde. Aber was solls, wahrscheinlich lag das Strandgut noch in Milos Sektor, also war es sein gutes Recht, nachzusehen, was dort lag. Er hatte eine Peilung von Metall, wahrscheinlich zusammen mit elektronischen Bau10
teilen. Das klang sehr interessant. Milo kletterte über die Schlickberge hinweg, immer darauf bedacht, bloß nicht auszurutschen. Als er noch zwanzig Meter von dem Ort der Peilung entfernt war, sah Milo Ayala. Er war über ein ziemlich großes Gerät gebeugt und machte sich daran offenbar mit einem kleinen Schweißbrenner zu schaffen. Milo checkte kurz noch einmal seine Sektorenkarte und war sich jetzt sicher, daß der Spanier sich in seinem Sektor befand. „Hey, Ayala, was machst du da? Das ist mein Fund. Verschwinde aus meinem Sektor!“ schrie er zu ihm hinüber, wobei das meiste von seiner Maske verschluckt wurde. Doch der Spanier hatte ihn offenbar gehört und sah erschrocken auf. Er trug einen ziemlich hochwertigen Schutzanzug, wahrscheinlich von EcoTexä. Über seinen Schultern ragte ein Gestell auf, das komplett aus Karbonfiber hergestellt war. Daran hingen Rundfilter mit etwa eineinhalb Metern Durchmesser. „Verschwinde, oder du wirst es bereuen.“ rief der Spanier zurück „Das hier ist mein Sektor!“ Seine Stimme klang durch die Schutzmaske wie das von Rauschen überlagerte Murmeln eines schlecht eingestellten Radiosenders. „Check mal deine Sektorenkarte, du bist auf meinem Gebiet.“ antwortete Milo entschieden. Er war sich vollkommen sicher, daß er Recht hatte. „ Und wenn es so wäre?“ Ayala richtete sich jetzt auf und trat vor das seltsame Gerät im Schlamm. Wahrscheinlich eine abgestürzte Drohne. Milo war kurz verunsichert durch die drohende Haltung Ayalas. Der Spanier hatte noch immer den kleinen Schweißbrenner in der Hand, aus dem eine winzige, starre blaue Flamme strahlte. Auch Ayala schien irgendwie nervös. Hatte er schon etwas interessantes an der Drohne gefunden? „Glaub mir, es wäre besser für dich, von hier zu verschwinden. Und vergiß einfach, was Du gesehen hast, klar?“ Ayala ging noch einen Schritt auf Milo zu, sie standen jetzt nur noch wenige Meter voneinander entfernt. „Kannst du vergessen. Das hier ist mein Gebiet, und was hier liegt gehört mir. So einen Fund werde ich mir von Dir bestimmt nicht einfach klauen lassen. Wenn du mich anscheißen willst, überlegs dir besser noch mal.“ Milo 11
wurde jetzt langsam richtig wütend. Kommt dieser Typ in seinen Sektor und reißt auch noch das Maul auf. Drohend hob der Spanier den Schweißbrenner. Das Gerät wirkte winzig und irgendwie lächerlich, doch Milo wußte, daß es reichte, um ein Loch in seinen Schutzanzug zu brennen. Wollte der Irre sich jetzt tatsächlich hier draußen mit ihm anlegen? Milo spürte, wie ihm Schweiß aus den Poren drang und ein Rinnsal am Rückgrat hinablief. Trotzdem schritt er entschlossen auf den Spanier zu. „Verpiß Dich!“ Er schrie jetzt. Ayala wirkte kurz verunsichert, schwang dann aber den Schweißbrenner vor sich und versuchte, Milo zu erwischen. Der Typ wollte es wirklich wissen! Milo wich mit Mühe einen Schritt zurück, dabei geriet er jedoch in Rücklage und beinahe riß ihn das Gewicht seiner Filter zu Boden. Er strauchelte und hielt sich an einem aufragenden, verbogenen Stahlträger fest. Als er das Gleichgewicht wiedergefunden hatte, öffnete er eiligst die Schultergurte, sodass seine Filter klappernd zu Boden fielen. Der Spanier hatte sich nicht so schnell von seiner Last befreit, wodurch Milo jetzt im Vorteil war. Er drang auf ihn ein und versuchte dabei, sich Ayalas schweißbrennerschwenkende Hand vom Leib zu halten. Keuchend rangen die zwei Männer miteinander. Milo schaffte es, den Spanier aus dem Gleichgewicht zu bringen. Er fiel hintenüber und klatschte mit seinen Filtern in den Schlamm. Diese sogen sich sofort mit dem nassen Dreck des Bodens voll, weshalb sie ein vielfaches an Gewicht gewannen. Wie ein nasser Käfer lag Ayala auf dem Rücken. Bei dem Gerangel war Milos Atemmaske halb von seinem Gesicht gerutscht, welche er nun sofort wieder in Position brachte. Diesen Moment der Unaufmerksamkeit nutzte Ayala und schleuderte seinen Brenner mit offener Flamme gegen Milos Brust. Der Schutzanzug war gegen viele chemische Einflüsse resistent, doch Feuer nahm er gierig an. Der kurze Aufprall erzeugte ein daumengroßes Loch auf der Außenhülle, das sich schnell durch die verschiedenen Schichten weiterfraß. Milo schrie auf und versuchte, das Glühen zu löschen. Wieder mußte er seine Aufmerksamkeit kurz von Ayala abwenden, der sich sogleich von seinem Filtergestell befreite und aufsprang. Von seinem Gürtel zog er seine Signalpistole und richtete sie auf Milo. Dieser blickte erschrocken auf. Das Loch in seinem Anzug verursachte ein Warnsignal auf der Innenseite seines Visiers, welches jetzt das Bild von dem Mann mit der 12
Leuchtpistole überlagerte. „Ich habe doch gesagt, Mann, es wäre besser für dich zu verschwinden. Du solltest besser...“ Ayala brach den Satz ab und blickte an seinem linken Bein hinab. Milos Blick folgte dem des Spaniers, und er sah einen langen Riß, der sich entlang des Beins von Ayala bis fast zur Hüfte zog. Das Material sah aus wie verschmort, und Teile des Hosenbeins schwammen in einer ölig glänzenden Pfütze unter ihm. Er war in eine Pfütze ganz üblen Chemieabfalls geraten, den die Flut zurückgelassen hatte. Mit einer seltsamen Zeitverzögerung, die mit seinem langsamen Verstehen der Situation einherging, begann der Spanier zu schreien. Verzweifelt ließ er die Waffe fallen und fingerte an seinem Bein rum. Man konnte schon die blasse Haut darunter sehen, die nun die gelbe Färbung einer üblen Vergiftung annahm. Auch Milo brauchte einen Moment, bis er die Situation begriff und stürzte sich auf die Pistole. Doch Ayala war ein Überlebenskünstler mit erstaunlichen Reflexen. Sofort löste sich seine rechte Hand vom schmerzenden Bein und schnellte auf die Pistole zu. Er hob sie aus dem Schlamm und richtete sie auf Milo. Einen kurzen Augenblick lang herrschte eine unfaßbare Stille, und Milo konnte den schmerzverzerrten Blick des Spaniers hinter dessen Gesichtsschutz erblicken. Dann fiel der Schuß. Milo erwachte mit einem brennenden Schmerz im rechten Arm. Er brauchte einen Moment, bis er begriff, wo er war. Er wußte nicht, wieviel Zeit vergangen war, doch dann brach innerhalb von Sekundenbruchteilen die Erinnerung über ihn herein. Er atmete stinkende, brackige Luft. Und er atmete sie direkt, ungefiltert. Neben ihm lag seine Maske im Dreck, die Atemfilter unbrauchbar. Sein Gesicht brannte in der stechenden Luft. In einiger Entfernung hörte er Geräusche und begriff erst jetzt, daß er nur für wenige Sekunden bewußtlos gewesen war. Er erhob sich aus dem Schlamm und sah die Leuchtpistole vor sich liegen. In zwanzig Metern Entfernung strauchelte die schemenhafte Figur Ayalas durch den Nebel, bemüht, darin zu verschwinden. Milo wurde bewußt, daß dieser ihn hier liegengelassen hatte. 13
Zum Verrecken. Er musste ihm die Maske abgerissen haben. Und wenn Milo zurück ans Land kommen wollte, ohne daß sich vorher seine Lunge auflöste, hatte er nur eine Chance. Er hob die Waffe vom Boden auf und folgte Ayala. Dieser kam nicht besonders schnell voran. Milo versuchte, möglichst flach und wenig zu atmen, doch trotz dieser Anstrengung brannte in seiner Brust ein schmerzhaftes Feuerwerk ab. Er hatte sich jetzt bis auf fünfzehn Meter an den Spanier herangekämpft. Mit unruhiger Hand hob er die Leuchtpistole, lud sie durch und schoß. Eine Rakete raste mit einem rot-grünen Schweif auf den Spanier zu und traf ihn knapp unterhalb der Schulter. Die explodierende Rakete verbrannte Arm und Rücken. Ayala stürzte schreiend zu Boden. Sofort war Milo bei ihm, um sich die Atemmaske des anderen zu nehmen. Ayala war schon tot, als Milo den ersten Blick durch das blaugetönte Visier warf. Unmengen von verwirrenden Gedanken und Gefühlen stürzten auf Milo ein. Er hatte einen Mann getötet. Dieser hatte ihm keine große Wahl gelassen, und eigentlich hätte er Milo gern tot gesehen. Trotzdem machte es ihm zu schaffen. Es war nicht das erstemal, dass er jemanden sterben sah, doch bislang hatte er sich selbst noch nie dafür verantworten müssen. Er hatte schon mal beobachtet, wie sie einen Strandläufer an Land geschleift hatten, dem die Atemfilter versagt hatten. Das war bitter gewesen, aber ein Unfall. Aber das hier? Der Spanier lag im Dreck, der Kunststoff seines teuren Anzugs eine völlig nutzlose Schutzhülle für seinen toten Körper. Doch jetzt hatte Milo ein noch viel dringenderes Problem, das ihn von seinen Seelenqualen ablenkte. Notdürftig bemühte er sich, seinen verbrannten Anzug wieder abzudichten und mit dem ungewohnten GPS-System zurechtzukommen. Und dann war da ja noch der seltsame Fund. Eine Drohne, japanische Bauart. Keine Konzernabzeichen drauf. Milo suchte nach den Datenspeichern, viel mehr konnte er so schnell nicht ausbauen. Die Datenspeicher waren klein genug, um sie in seinem Sammelbehälter zu transportieren. 14
Doch jetzt musste er sich wirklich beeilen. Er bemerkte, daß sich die Pfützen von Meerwasser schon sehr stark vergrößert hatten und kleinere Seen bildeten. Das war sehr tückisch, weil sich unter der Oberfläche endlos viele gefährliche Untiefen, Substanzen oder scharfe Kanten verbergen konnten. Er musste schnell sein, wenn er noch rechtzeitig die Küste erreichen wollte. Sein Arm bereitete ihm große Schmerzen, trotzdem war er froh, daß ihn die Leuchtpistole nicht voll getroffen hatte. Die Verbrennungen würden wieder heilen, und hoffentlich kam er ohne schlimme Vergiftungen bis zum Ufer. Milo beeilte sich, doch das Wasser stieg verflucht schnell. Zweimal nahm er einen Umweg, da seine vertrauten Wege in diesem GPS nicht gespeichert waren. Während des Rückwegs dachte er darüber nach, was er nun tun würde. Zurück zu den Strandläufern könnte er kaum. Ayala war sehr angesehen bei den meisten, er war einer der erfahrensten gewesen. Früher oder später hätte es ihn wegen seines Goldfiebers wahrscheinlich sowieso erwischt. Aber kaum jemand würde ihm glauben, wenn er erzählte, was da draußen passiert war. Er wusste selbst nicht, welcher Teufel den Spanier da geritten hatte. Es war zwar ein interessanter Fund, okay, eine abgestürzte Drohne fand man nicht alle Tage. Aber deshalb jemanden umbringen? Seltsam. Er würde verschwinden müssen, und zwar schnell. Mit Mühe schleppte sich Milo in Richtung Ufer. Er konnte schon die Konturen der Hochhausruinen an der momentanen Küste erkennen. Doch irgend etwas stimmte nicht. Lautes Rufen drang zu ihm herüber. Der Lärm von Rotorblättern. Er sah zwei Hubschrauber. Vorsichtig ging er weiter. Es fiel ihm schwer zu schleichen, da er unter großen Schmerzen seinen Arm an den Körper preßte. Als er näher kam, konnte er Polizeitruppen erkennen, die sich mit den anderen Strandläufern auseinandersetzten. Wahrscheinlich waren die meisten der Läufer schon zurück, Milo hatte durch all die Ereignisse da draußen und seinen beschwerlichen Rückweg ziemlich viel Zeit verloren. Das Wasser stand ihm an vielen Stellen schon bis zu den Knien, und die Orientierung wurde immer schwieriger. Aber was wollten die Polizeitruppen da? Er sah zwei Amphibienfahr15
zeuge, Mannschaftstransporter. Milo vergrößerte den Zoom. Die Leute wurden in die Wagen gebracht. Einer nach dem anderen. Was war da los? Verdammt, irgendwas stimmte da doch nicht. Jetzt musste er wirklich verschwinden. Womöglich ging es um die Drohne, die er gefunden hatte. Dann wäre mit den Speicherchips sicher eine Menge Geld zu machen. Er mußte nur heil und unbemerkt hier wegkommen. Milo bewegte sich nun parallel zur Küste weiter, um zum nächsten Strandläufer-Stützpunkt zu gelangen. Oder um zwischen zwei Stützpunkten hindurchzuschlüpfen, ins Inland zu kommen. Als er außer Sichtweite seiner eigenen Läufer-Basis war, ging er in Richtung Ufer. Er hatte schon mehrere fremde Sektoren durchquert, ohne überhaupt daran zu denken, sich um Tretminen oder Stolperfallen zu kümmern. Glück gehabt. Er erklomm den hier sehr steilen Strand, ein unterspültes Stück Deich. Hinter dem Deich erstreckte sich braun und sumpfig die Tiefebene. Ein Land, das dem Untergang geweiht war und deshalb fast völlig verlassen dalag. Milo kletterte über den zerbröckelnden Deich und ging weiter landeinwärts. Immerhin war die Luft hier besser als draußen im Watt. Hinter sich konnte er fast schon Brandungsgeräusche erahnen, das Meer würde sehr bald zurückgekehrt sein. In einiger Entfernung lag ein altes Gebäude, es war das erste einer kleineren Siedlung. Ein eckiger Kasten aus Beton, die Front zur Küste hin komplett mit Balkonen überzogen. Milo marschierte darauf zu. Es war wohl einmal ein Hotel gewesen, das inzwischen ziemlich verlassen dalag, wie der ganze Ort, zu dem es gehörte. Natürlich mußte er vor Gangs und Plünderern auf der Hut sein, aber im Augenblick war ihm alles egal und er brauchte nur einen Unterschlupf, um sich ein wenig zu erholen. Er betrat die leere Hotelhalle durch den Rahmen der großen Eingangstür, deren Glasfüllung in tausenden kleinen Splittern über die Halle verteilt war. An die Wände waren Gangsymbole gesprüht worden, die Milo nichts sagten. Allem Anschein nach war das Gebäude jedoch zur Zeit unbewohnt. 16
Sich direkt in der Halle niederzulassen, war ihm trotzdem zu unsicher, und er schleppte sich die Treppe hoch. Die Atmosphäre in den Gängen war eigenartig. Milo stellte sich vor, wie es wohl mal gewesen war, als hier noch Menschen hingefahren waren, um Urlaub zu machen. Jetzt waren die Wände feucht, die Tapeten fleckig und von Ratten angenagt. Schimmel wucherte, und überall standen kleine Pfützen, in denen sich Regenwasser sammelte. Auf den Hotelfluren waren viele Anzeichen von hemmungslosem Vandalismus zu sehen, offenbar hatte diese Gang hier längere Zeit verbracht und die gesamte Einrichtung systematisch zu Kleinholz verarbeitet. Milo fand ein Zimmer, in dem mehrere Matratzen auf dem Fußboden ausgebreitet waren. Die Glasfront zum Balkon war hier noch intakt, weshalb das Innere des Raums auch noch recht trocken war. Der Zustand der Essensreste, die hier in einer Ecke lagen, sagte ihm, daß hier schon länger niemand mehr gewesen war. Er versuchte vorsichtig, sich die verbrannten Hautstellen zu verbinden, bevor er einfach hintenüberfiel und sofort tief und traumlos schlief. Der prasselnde Regen an der Scheibe des Hotelzimmers weckte Milo. Es war schon später Nachmittag, und sein verletzter Arm sandte einen regelmäßig pulsierenden Schmerz durch seinen Körper. Er war völlig verschwitzt und dreckig, sein T-Shirt und die Hose des Schutzanzugs klebten an seinem Körper. Milo rappelte sich auf und schob die Balkontür beiseite. Er stellte sich auf den steinernen Vorbau, mitten in den Regen. Wahrscheinlich nicht ganz ungefährlich, was da runterkam, aber er spürte eine seltsame Gleichgültigkeit gegenüber dem Leben, die er nicht abzuschütteln vermochte. Zumindest erfrischte ihn der Regenschauer ein wenig, und der leicht metallene Geruch, den das Wasser mit sich trug, war kaum wahrzunehmen. Nachdem er sich im Zimmer wieder abgetrocknet hatte, machte sich Milo auf die Suche nach etwas Eßbarem. Es ärgerte ihn, daß er fast alle seine Besitztümer hatte zurücklassen müssen, aber es hatte natürlich keine Möglichkeit gegeben, unbemerkt in sein Quartier zu gelangen. Sonst säße er jetzt auch in einem der Bullen-Transporter und würde zu einem sinnlosen Verhör in irgendeinen feuchten Keller gebracht. Wäre ja nicht das erste Mal. Wahrscheinlich plünderten jetzt gerade die Bullen sein Versteck und machten sich über seine Biervorräte und seine Zigaretten her. 17
Genau wie auf den Gängen sammelte sich eine Menge Dreck auch im Restaurant und in der ehemaligen Hotelbar. Die verrottende Dekoration aus billigem Lamettaschmuck und bunten Lampen wirkte bizarr unter der dicken Schicht von schwarzem Staub. Es war wohl gerade Sylvester gewesen, als man dieses Hotel verlassen hatte. Billige Pappziffern, goldfarben, verrieten auch das Jahr: „2037“. Das war wirklich schon eine Weile her. Die Scheiben, die auf die Terrasse im Innenhof führten, waren zersplittert, der Kunstrasen lag schwarz verschmort da. Hier hatte die Gang offenbar gewütet. Gartenmöbel lagen zerschlagen herum, mit den Sonnenschirmen hatte man ein großes Feuer entfacht, von dem jetzt nur noch ein Haufen Asche übrig war. Milo suchte sich den Weg zur Küche, wo er sich zumindest noch einige Vorräte zu finden erhoffte. Er hatte Glück, die Ganger hatten wohl ihre eigene Verpflegung dabei gehabt und sich auf das Plündern der Alkoholreserven beschränkt. Beim Durchwühlen der Vorratskammern suchte ihn wieder einmal ein heftiger Hustenanfall heim, nachdem er am Nachmittag relativ gut geschlafen hatte. Wahrscheinlich hatte die Erschöpfung ihm dabei gute Dienste geleistet. Fäden von Blut waren in dem Schleim zu erkennen, den er auf den Boden kotzte. Das war neu, an die braunen Schlieren von Teerablagerungen hatte er sich schon gewöhnt, aber Blut kam nur ganz selten. Er fühlte sich fiebrig, und sein Körper war schon wieder vollkommen naßgeschwitzt. Verflucht, hoffentlich hatte er sich bei dem Kampf im Watt nicht doch irgendwas eingefangen. Milo sammelte ein paar Päckchen mit Nährstoffriegeln und Instant-Suppen und griff sich einen Sixpack Pepsi, bevor er sich wieder auf den Weg in sein Zimmer machte. Unterwegs fiel ihm das Terminal an der Rezeption ins Auge, und er mußte wieder an die Chips aus der Drohne denken. Vielleicht konnte er hier einen der Rechner zum Laufen kriegen und checken, was sich auf den Chips für Daten befanden. Das würde sein nächstes Ziel sein, gleich nachdem er seinen schmerzenden Magen versorgt hatte. Er löste zwei der Instantsuppen in kaltem Regenwasser und spülte sie mit 18
zwei Dosen Cola herunter. Dann nahm er sich eine dritte Dose, wühlte die Chips aus seiner Sammelbox und machte sich auf den Weg zur Rezeption. Er brauchte fast eine Stunde, bis er den Rechner mit Hilfe der Energiepacks seiner eigenen Ausrüstungsteile und des GPS-Systems von Ayala zum Laufen bekam. Als er das GPS in die Hand nahm und von der Atemmaske löste, überlief ihn ein Schauer. Er hatte diesen Mann getötet. Noch hatte er keine Zeit gehabt, darüber nachzudenken, aber vielleicht war das auch besser so. Scheiße, er konnte sich einfach nicht vernünftig konzentrieren. Immer wieder sah er Ayala in seinem beschissenen teuren Schutzanzug, wie die Leuchtrakete in ihn hineinraste und explodierte. Milo ging zur Hotelbar und wühlte sich durch das Regal, auf der Suche nach etwas, das die Gang übersehen hatte. Er fand eine lauwarme Flasche Wodka, schraubte sie auf, nahm einen tiefen Schluck und ging zurück zum Terminal. Das Zeug schmeckte zwar widerlich, aber irgendwie half es ihm, sich zu konzentrieren. Er starrte wieder auf das Display des Terminals. Aus seiner Sammeldose am Gürtel holte er die Chips hervor und schob sie in den passenden Slot. Der Rezeptionscomputer schluckte die Speichermodule. Milo starrte weiter. Text. Daten. Alles auf japanisch, verflucht. Milo konnte nur die Diagramme erkennen, den Rest zu entziffern, würde für ihn ewig dauern. Bedienungsanleitungen und Landkarten, das war eigentlich alles, wofür sein japanisch reichte. Milo kniff die Augen zusammen. Das helle Weiß des Monitors war die einzige Lichtquelle in dem riesigen Foyer. Draußen brach die Dämmerung herein, der Regen prasselte unaufhörlich weiter und schwemmte große Pfützen über den Boden der Vorhalle. Eine Karte. Die norddeutsche Tiefebene. Was waren das für Sektoren? Es waren keine Strandläufer-Daten. Industrie-Ansiedlungen waren eingezeichnet. Ablagerungen. Restmüll. 19
Verseuchungsgrade. Vor einem Monat. Letzte Woche. Gestern. Verdammt, die Werte stiegen an. Und in was für einer Geschwindigkeit. Ein großer Sprung im Verseuchungsgrad. Vor zehn Tagen schon, und niemand hatte sie informiert. Warnsignale. Japanische Schriftzeichen in rot. Fettdruck. Das Datum von gestern. Ein Diagramm, auf dem zahllose Höchstgrenzen massiv überschritten wurden. Milo wurde übel. Er mußte schon wieder Husten. Mehr Blut diesmal. Die Hotelhalle wankte, verschwamm kurz. Er spülte sich den Mund mit Pepsi aus und spie den braunen Drink auf die Blutpfütze am Boden. Sein Magen verkrampfte sich, seine Schweißausbrüche nahmen zu. Er schleppte sich vor den Tresen und sackte zu Boden, lehnte sich mit dem Rücken an die Empfangstheke. Sein Blickfeld umfaßte die ehemals eindrucksvolle Eingangsfront des Hotels. Er blickte zwischen geborstenen Aluminiumrahmen ohne Scheiben darin hinaus auf den Vorplatz. Kaum noch Rasen, nur blanke Erde, aufgewühlt von den Motorrädern der Gang. Stille trat ein, nur das regelmäßige Prasseln des Regens. In der Ferne konnte er ein helles Leuchten in der Dunkelheit ausmachen. Die Stadt. So gern wollte er dorthin, sein Glück versuchen. Doch jetzt saß er hier und kotzte Blut. Er würde es wohl nicht schaffen. Die Schmerzen wurden immer stärker.
Der Hubschrauber flog tief, seine Suchscheinwerfer tanzten über den Vorplatz, bevor er herumschwenkte und genau in die Hotelhalle leuchtete. Eine Gestalt trat in den Lichtkegel. Ein Soldat, das Sturmgewehr locker in der Armbeuge, den Lauf zu Boden gerichtet. Das mechanische Rauschen von Com-Einheiten, jetzt ganz nahe bei Milo. Er sah auf und wurde von dem gleißenden Licht der Suchscheinwerfer geblendet. Davor sah er die Konturen des Soldaten, ein schwarzer Scherenschnitt. „Da ist er“ murmelte dieser in sein Com. „Muß der letzte sein, dann müssen wir hier verschwinden.“ Er näherte sich Milo, bevor seine Silhouette verschwamm und sich mit den silbernen Blitzen mischte, die jetzt vor Milos Augen tanzten, ehe er starb.
Draußen näherte sich der Lärm von Rotoren, gefolgt von dem Rohren eines Militärfahrzeug. Wahrscheinlich ein Jeep. 20
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X-Static. X. X. X. Static. Darunter ein Eingang. Erleuchtet in pulsierend gelb. rot. gelb. rot. schwarz. Buchstabenmuster. Verzerrt. Gespiegelt in schwarzem Glas. Weiter in den dunklen Gang. Schwarzrote Muster. Mehrstufig, gerastert, grob, reflexlos zerfasert animierte Tapete aus Licht und. Nichts. Weiße Glut am Ende. Pulsierend Neon erglänzendes Zucken, Neongewitter. Körper, schwarz, weiß, braun, im Licht und Schweiß und Nebel und Scheinwerfer und Hitze und Licht und Schattenwildnis. Streß wird zu Freude. Anspannung zerfällt und erwächst. Endorphin mischt Adrenalin. Heraus. Flucht. Minuten oder Stunden. Zeit. Zeit, verloren. Durch den Gang, die rotpulsierenden Muster, kein Gesicht bleibt in der Erinnerung. Hinaus auf die Straße. Blinkend zuckendes Licht gelb über grauem Beton. 22
Von Euphorie bleibt das Warnlicht der Straßenkehrmaschinen, automatisch immer wiederkehrend. Spült den Dreck der letzten Tage aus den Straßen. Hoffnungslos, aber nie aufgebend. Keine Hölle und kein Himmel, keine Vision der Apokalypse und kein Trip auf Synth. Nur ein Nachtclub, unten in den Straßen des Neon. Am Puls der Stadt. Freigelegt, aufgeschnitten, langsam verflachender Puls, quälend langsames Versiegen. Der Schnitt läuft quer, nicht längs.
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No such thing as tomorrow All we want Two three go!
- Anthrax, „Got the Time“
Selbst zu fahren, war einfach das Beste. Klar, oben in der Menge zu stehen, an der Bar mit den Mädchen in knappen Nylonkleidern ein paar Bier zu kippen und einfach die Atmosphäre des Domes zu genießen, war auch nicht schlecht. Doch für Jed war es viel geiler, sich selbst in die Höllengrube zu begeben. Auf seinem Skateboard, das mit einem alten Honda-Motor aufgemotzt war, raste er dann im Schein der Halogenstrahler durch die Betongrube und maß sein Können mit den anderen Fahrern. Die Stimmung, die in der Halle herrschte, war das beste, was die ganze Stadt zu bieten hatte. Es war immer voll, der Geruch verschiedenster Zigaretten und Parfums mischte sich mit Schweiß und Abgasen zum typischen Duft eines großen, verbotenen Vergnügens. Und wenn zwei Skater sich in die Grube stürzten, nur mit einem Board und einem Krallenhandschuh mit messerscharfen Klingen daran ausgerüstet, dann war die Menge kaum noch zu halten. Jed liebte das Gefühl. Im weißglühenden Flutlicht, das von dem Stahlgerüst über der Grube strahlte, fühlte er sich lebendig. Die ganze beschissene Welt da draußen reduzierte sich auf die Grube, auf ihn und den anderen Fahrer im Kampf um den Sieg. Sie fuhren nicht, um sich zu töten. Mit einigen der anderen Skater war er sogar befreundet, doch der Kampf mußte immer spektakulär wirken. Sie 24
studierten nichts vorher ein, weil die geschulten Augen der Zuschauer am Rand des Lochs solche Tricks sofort durchschauen würden. Jed liebte diesen Ort. Doch heute war alles schiefgelaufen. Jetzt lag er am Boden der Grube und hatte Schmerzen. Sein Blut lief über den grauen Beton, während irgendwo hinter ihm der Honda-Motor seines Boards surrte und im Leerlauf auf ihn wartete. Leerlauf. So fühlte sich auch sein Körper an. Bloß nicht bewegen. Die Wunde im Bauch war tief, und er wollte seine Organe nicht in der Grube verstreut liegen sehen. Es war ein harter Kampf gewesen und die Menge hatte es geliebt. Doch am Ende hatte keiner gewonnen. Der Koreaner, gegen den er gefahren war, war neu in der Liga. Er war aber angeblich vorher schon gefahren, in einer anderen Grube, irgendwo in Holland. Rotterdam oder so was. Verdammt schnell, der Bursche. Doch jetzt lag er nur zehn Schritt von Jed entfernt, sein rechter Oberschenkel bis zur Hüfte aufgeschlitzt. Das Neonlicht entblößte dem Auge in klinischer Genauigkeit alle Details der triefenden Verletzung. Jed fragte sich, ob sie ihn je wieder hinkriegen würden, wie er gewesen war, ob er je wieder so schnell fahren könnte. Daß er wieder fahren würde, stand für Jed außer Frage. Jeder kehrte zurück. Das war etwas, was ihn und den Koreaner irgendwie verband. Sie beide hatten dieses Schicksal, vom Fieber der Grube gepackt zu sein. Sie würden immer wiederkommen. Nicht wegen des Geldes. Nur wegen der Erregung. Irgendwie kam es Jed so vor , als sei der Koreaner in diesem Augenblick der einzige, der ihn wirklich verstehen könnte. Auch jetzt, wo Teile seiner Hose und Rinnsale seines Blutes an Jeds Klingen klebten, fühlte er sich ihm fast brüderlich verbunden. Jeds Blickfeld begann sich zu drehen und verschwamm, als ob er eine Überdosis irgendeines südamerikanischen Krauts eingeworfen hätte. Das letzte, was er sah, waren zwei Typen mit einer Trage, die sich an den Abstieg in die Grube machten. Sie holten den Koreaner zuerst, da sie Jed für tot hielten. 25
Als Deke im Fond des klapprigen alten Mercedes-Transporters lag, fragte er seinen Begleiter, ob der andere aus der Grube es überleben würde. Seine Stimme klang lallend und sein Hals war ausgetrocknet wie der Aral-See, doch er schaffte es, die Worte zu formen. Um ihn herum standen Unmengen von medizinischen Geräten. Blinkende Lichter und zuckende grüne Linien. Die Gehäuse waren mit Unmengen von Klebeband in ihren ratternden Regalen fixiert. Die Sanis hatten ihn mit Tranquilizern vollgepumpt, so daß er sein verletztes Bein und auch den Rest seines Körpers kaum spürte. Irgendwie beunruhigte ihn das, und auch das unrasierte, aknenarbige Gesicht seines Pflegers flößte ihm nicht gerade Vertrauen ein. Daß es ihn so schnell erwischen würde, hätte er nicht gedacht, doch die anderen Jungs hier fuhren einen verflucht harten Stil. Härter als in den anderen Arenen, die er kannte. Trotzdem brannte er schon jetzt darauf, einen neuen Kampf gegen den blonden Typen von heute abend zu fahren. Immerhin hatte er sich einen Namen zu machen, hier in seiner neuen Area. Der Pfleger macht ein gelangweiltes Gesicht und betrachtete unablässig einen der Monitore mit den zuckenden, grünen Linien, so fasziniert, als sei er gerade in das allerneueste Videospiel vertieft. Doch er schien die Frage gehört zu haben und antwortete, ohne seine Augen vom Bildschirm abzuwenden. Jed würde es überleben. Und wenn schon, dachte Deke bei sich. Als Fahrer würde er wahrscheinlich nichts mehr wert sein. Abblätternde, weißgetünchte Wände. Eine Decke aus Styroporplatten, die von grau angelaufenen Aluleisten gehalten wurden. Das war das erste, was Jed sah, als er wieder zu sich kam. Er hörte das unregelmäßige Surren einer defekten Klimaanlage, die sich bemühte, mit Hilfe eines unter der Decke rotierenden Kunststoffventilators die Luft des Raums zu kühlen. Trotzdem spürte Jed, daß die dünnen Laken, die seinen nackten Körper bedeckten, schweißgetränkt waren. Doch das, was in seiner Wunde brannte, war kein Schweiß, sondern das vertraute Gefühl von Infektionshemmern. Sie hatten ihn also schon wieder zusammengeflickt. Jed versuchte vorsichtig, die weiße Leinendecke zu heben, um sich dessen zu vergewissern, und er behielt recht. 26
Die Lasernaht war sauber, und er hoffte, daß der Doc auch darunter anständige Arbeit geleistet hatte. Er spürte immerhin keine Schmerzen, doch das Brummen seines Schädels verriet ihm, daß dies wohl an den Beruhigungsmitteln lag, die mit Patches seinen rechten Unterarm bedeckten. Er versuchte, den Kopf zu heben, stellte jedoch fest, daß das keine gute Idee war. Immerhin erblickte er so kurz die Milchglaswand, die sich gegenüber von seinem Bett befand. Dahinter konnte er schemenhafte Gestalten erkennen. Doch noch bevor er Zeit hatte, sich darüber weitere Gedanken zu machen, hörte er, wie sich Schritte seinem Zimmer näherten. Als er seinen Kopf drehte, sah er drei Ärzte den Raum betreten, alle mehr oder weniger in weiße Schutzkleidung gehüllt. Zwei von ihnen näherten sich seinem Bett, während der Dritte an der Tür stehenblieb und sich eine Zigarette anzündete, um die Klimaanlage noch mehr zu quälen. Einer der Ärzte bediente eines der Geräte, die über Schläuche mit Jed verbunden waren. Er hörte den regelmäßigen Ton, der die ganze Zeit schon durch den Raum hallte und den er erst jetzt bewußt wahrnahm, in einen schnelleren Rhythmus wechseln. Sein Herzschlag beschleunigte sich synchron, und vor seinen Augen erschienen weiße, flimmernde Lichtpunkte. Er versuchte, etwas zu sagen, doch seine Kehle versagte ihm den Dienst. Die Lichtpunkte verschwammen, wurden zu großen, weißen Flecken, Wolken, die dann von einer wirbelnden Schwärze verschluckt wurden. Was zur... Der regelmäßige Ton wurde wieder langsamer, doch Jed hörte nichts mehr davon. Die Betäubungsmittel in die Matratze zu stopfen, war einfach gewesen. Den Trick hatte er schon in bestimmt tausend Vids gesehen. Irgendetwas war hier faul, und er wollte sich diesen seltsamen Docs nicht völlig ausliefern. Natürlich waren seine Schmerzen deshalb sehr stark, und mehr als einmal war er versucht, die Kapseln wieder aus dem Schaumstoff hervorzupulen und sich damit zuzudröhnen. Doch er hatte es geschafft, zu widerstehen. Jetzt, wo die ganze Etage wie ausgestorben dalag, wälzte er sich 27
aus den Laken und kam mühsam auf die Beine, wobei er sich am Bett festhalten musste, bis der erste Schwindel vorüber war. Er versuchte behutsam, mit dem verletzten Bein aufzutreten. Ein stechender Schmerz, doch nicht so schlimm wie die lange Wunde an seinem Bein ihn fürchten ließ. Der andere Skater hatte ihn nur oberflächlich erwischt, Muskel und Sehnen waren glücklicherweise unverletzt geblieben. Seine Klamotten lagen über einen Plastikstuhl verstreut. Als er seinen Pullover überstreifte, zuckte er zusammen. Der Stoff blieb an einem Gegenstand hängen, der aus seinem Nacken ragte. Erst jetzt bemerkte er auch das feine Kabel, welche an seinem Rücken herunterbaumelte. Entsetzt griff er sich an den Hals. Dort ragte ein seltsames, kleines Plastikgehäuse hervor, nur wenige Millimeter über der Haut. Die Wunde drumherum war mit sterilen Pflastern abgeklebt, ein Quadrat, ungefähr die Größe einer Zigarettenschachtel. Was zur Hölle hatten ihm die Wichser da eingepflanzt? Er sah sich nach den Apparaten um, die neben seinem Bett gestanden hatten. Das sah alles wie der normale Kram aus, der im Krankenhaus halt so rumstand. Ein Haufen Tech, ok, aber Deke musste einsehen, dass er nicht genug Ahnung davon hatte, um zu erkennen, wozu der ganze Kram gut war. Am liebsten hätte er den Stuhl genommen und die ganze Scheiße kurz und klein geschlagen, aber das hätte ihn nicht im geringsten weitergebracht. Es wäre schlauer, hier zu verschwinden. Sein Krallenhandschuh war ihm abgenommen worden, er lag jetzt, noch ungereinigt, auf dem Stuhl, die vier stählernen Klingen benetzt mit feinen Blutspitzern. Er nahm die Klaue und legte sie an. Die vier gebogenen Klingen ragten fast 10 Zentimeter über seine Fingerkuppen hinaus, während seine Hand von einem dichten Stahl-/Karbon-Netz geschützt wurde. Er schlich sich auf den Gang, nachdem er seine Turnschuhe übergestreift hatte, und sah sich um. Ein schmaler, langer Gang, Teppichboden. Scheinbar war dies hier eine ganz gewöhnliche, ehemalige Büroetage. Das einzige, was hier draußen an eine Arztpraxis erinnerte, war der komische Geruch von Desinfektionsmitteln, der in der Luft hing. Etwa zwanzig Meter von ihm entfernt schien Licht durch ein Fenster, das zu einem Büro gehörte, welches nahe dem Ende des Ganges lag. Wahrscheinlich so ne Art Vorzimmer. Schwaches Licht, wie von einer kleinen Schreibtischlampe. Deke schlich den Gang entlang und lauschte. Nichts, nur das leise, regelmäßige Piepen einer Herz-Lungen-Maschine. Hier musste noch jemand liegen. 28
Deke hatte keinen Bock auf Heldentaten, aber wenn es der Typ aus der Arena war, wenn sie ihn auch hierhergebracht hatten, dann musste er ihm helfen, scheiße ja, er musste ihn hier rausbringen. Vorsichtig spähte er durch die Scheibe des beleuchteten Büros. Niemand da. Ein Schreibtisch, ein laufender Vid-Player. Eine Toilettenspülung war zu hören, dann Schritte. Deke begriff und verbarg sich hinter der Tür zu dem kleinen Büroraum. Er schwitze jetzt, war nervös. Schwer einzuschätzen, was für Typen das hier waren, wo sie sich auf der Skrupellosigkeitsskala bewegten. Deke presste sich mit dem Rücken an die Wand und wartete. Die Schritte näherten sich. Schwere Stiefel. Er erhob vorsichtig seine klauenbewehrte Hand. Der Typ schien ihn nicht zu bemerken. Ein Wachmann. Scheiße, das hätte er sich denken können. Er hatte gehofft, einen Arzt zu treffen. Als Deke einen Moment lang grübelte, wandte sich der Wachmann um und wollte seinen Vid-Player auf einen anderen Kanal stellen. Dabei ließ er die Fernbedienung fallen und beugte sich tief hinab, um sie wieder aufzuheben. Besser konnte er seinen Nacken Deke nicht darbieten, offenbar völlig ignorant ob der Gefahr, in der er schwebte. Die Klauen sausten hinab. Ein beißender Gestank von Unrat und Müll umgab Jed, als er abermals erwachte. Er lag auf rauhem Asphalt. Einen Augenblick lang dachte er, er sei zurück in der Arena. Doch dann bemerkte er das schwache Licht und die Pfützen um sich herum. Ein seltsames Kribbeln fraß sich durch seinen Körper, und die Schmerzen waren wieder stärker. Sein Kopf fühlte sich erstaunlich klar an, und seine Sinne erschienen ihm schärfer als je zuvor. Als er sich mühsam aufrichtete, fiel neben ihm ein Bündel zu Boden. Seine Klamotten. „Los, zieh das über!“ sagte eine Stimme hinter ihm. Erschrocken wandte er sich um. Da stand der Koreaner, nur schwer zu erkennen unter der defekten, flackernden Neonreklame, neben der er stand. „Was...“ begann Jed. „Fuck it. Mach hin. Wir müssen hier verschwinden. Die Säcke wollten dir irgend so nen Scheiß Chip einpflanzen. Mich haben sie auch drangehabt. Komm schon!“ unterbrach ihn der Koreaner rauh. 29
Er friemelte nervös ein zerknülltes Päckchen Zigaretten aus der Tasche und zündete sich eine an. Jed bemerkte erst jetzt, daß er selbst völlig nackt war, rappelte sich auf und befolgte die Anweisung des Koreaners. Für Fragen schien jetzt nicht der Moment zu sein, warum auch immer. Als er fertig war, legte der Koreaner ihm die Hand auf den Rücken, sah die Gasse, in der sie standen, in beiden Richtungen hinunter und sagte „Los jetzt. Hier lang.“ Okay. Jed verstand überhaupt nichts, aber er folgte seinem Begleiter, der sich ständig nervös umsah. Als der Koreaner, nach zwei Stunden Flucht kreuz und quer durch die Zone, endlich beschloß, daß sie in Sicherheit waren, sank Jed erleichtert in die ausgebleichten Polster der Straßenbar, die sie als sicheren Ort auserkoren hatten. Er war dem anderen die meiste Zeit blind gefolgt, da es so schien, als wisse er, was er tut. Offenbar hatte er sich da jedoch getäuscht, Deke war neu in der Zone und war eigentlich mehr ziellos umhergeirrt und dann in eine Bar geflüchtet, als der Regen sich in eine gelbliche, stinkende Brühe zu verwandeln begonnen hatte. Doch Jed hatte auch geschafft, aus den kryptischen Sätzen seines Begleiters herauszulesen, was eigentlich passiert war. „Tut das Ding weh?“ fragte Jed ihn, nachdem er den Nacken des Koreaners begutachtet hatte. „Ich meine, spürst du irgendwelche Impulse oder so? Abgesehen von der Wunde.“ „Nee, die haben die Stelle örtlich betäubt. Schätze, die sind nicht ganz fertig geworden. Jetzt hab ich nen Scheiß halbinstallierten Prog-Chip im Nacken, und hab keine Ahnung, was der drauf hat. Muss wen finden, der mir das Ding raushebeln kann.“ Deke rieb sich immer wieder die Stelle im Nacken. Das kleine, schwarze Plastikquadrat war vollkommen ohne Beschriftung. Nicht einmal Ports waren daran zu sehen. Auch Jed griff sich in den Nacken, aus irgendeinem Grund juckte es ihn dort plötzlich. „Ne Idee, was das für Arschlöcher waren?“ „Hm. Dachte erst, das wären Organhändler oder so ein Scheiß. Aber ich glaube, es ist alles noch da.“ Deke rieb sich den Bauch. Jed dachte mit einem unguten Gefühl an die Lasernaht auf seinem eigenen Bauch. Hoffentlich. 30
„Die haben eher noch was dazugebaut.“ Beide mussten lachen. Trotz ihrer Lage. „Sag mal...“ setzte Jed nach einer Weile des Schweigens an. „Ja?“ „Wieso hast du mich eigentlich da rausgeholt? Ich meine, du hättest doch viel einfacher ohne mich verschwinden können.“ „Code of Honor.“ war die Antwort des Asiaten. „Was?“ „Ja, Mann. Drüben in Holland, also vor der Überschwemmung, in Rotterdam. Da hatten wir auch eine Liga. Grubensurfen, aber auf nem ziemlich großen Fabrikgelände. War echt hart. Aber wir hatten Teams da, weißt du? Sind fünf gegen fünf gefahren und so. Naja, da haben wir halt so ne Art Ehrenkodex aufgestellt. Eigentlich mehr so zusammengeklaut aus Mangas, japanischen Gameshows usw. Aber wir haben ihn befolgt, wir haben danach gelebt, Mann. Tja, und irgendwie bin ich diesen Kodex wohl nicht losgeworden.“ Deke grinste ihn an. Seltsamer Kodex, dachte Jed. Aber immerhin hatte er ihm den Hals gerettet. Auch wenn er das Konzept des Koreaners nicht verstand. Der Typ war wirklich ziemlich durchgeknallt. Aber jetzt war er ihm was schuldig. „Außerdem,“ ergänzte Deke, „brauche ich jemanden, der sich hier ein bisschen auskennt. Um den Scheiß hier loszuwerden.“ Schief grinsend deutete er auf seinen Nacken. „Ehrensache!“ erwiderte Jed in bellendem, pseudomilitärischem Ton. Beide lachten wieder. Klar mussten sie erst mal jemanden finden, der ihnen helfen konnte. Jed selbst wollte auch gern mal checken lassen, ob unter der Lasernaht auf seinem Bauch alles seine Richtigkeit hatte. Doch eines, das wußte Jed genauso sicher, wie er jetzt in einer abgewrackten Bar saß, mit einem verknitterten Pappbecher voll Kaffee in der Hand: Sie würden wieder fahren. Irgendwann. Er erinnerte sich an den Augenblick zurück, als er in der Arena gelegen hatte und dieses seltsame, brüderliche Gefühl dem Koreaner gegenüber empfunden hatte. Es war immer noch da. 31
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Gleißendes Neon reflektiert in einer Pfütze brennenden Öls. Asphaltschluchten lodernd im Flammenmeer. Wo die Sonne sich abgewandt hat von den dunklen Tiefen der Stadt zerfließen Ihre Strahlen zu kunstlichtbeschienenem Kampf.
Hinter den Straßensonnen leuchtet weiß die kalte Luna. In ihrer gleißenden Korona getrübt vom grauen Star sieht sie frohes Leben das niemals meines war. Geschöpfe Gottes, mich umringend erdrücken meinen Mut. Nie gewollt hab ich dies Leben Und so trinkt gefrorner Boden gierig nun mein Blut.
Elektronische Träume weisen mit netzhautverbrennender Kraft Irrlichtern gleich den Weg durch die Leere. - Alexandre Deschamps, „Inurban“, 2029
Die Straße voll von Wundern, mir leuchtet Staunen unterm Lid. Doch auf meinem grauen Pfade zum Sehen die Kraft ist mir versiegt. Spüren kann ich nur die Kälte die auch das Licht nicht lindern mag. Nie werd ich sein wie ihr nicht eine Träne gab man mir. - Russisches Gedicht, ca. 2048 aus der Sammlung „Replikatur: Mensch, Texte zur Menschwerdung der Maschinen“
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On and on the rain will fall Like tears from a star On and on the rain will say How fragile we are
- Sting, „Fragile“
Es regnete ohne Pause, seit die Klimakuppeln über der Stadt nicht mehr richtig funktionierten. Das war nun schon seit über einem Jahr so, aber man gewöhnte sich daran, genau so, wie man sich daran gewöhnt hatte, unter Tageslicht nur noch eine endlose Masse düsterer Grauschattierungen zu verstehen. Wolken gab es keine, denn Wolken ziehen vorüber und irgendwann erscheint jenseits von ihnen wieder ein heller Schimmer, Licht, das die Straßen durchflutet und wiederbelebt, wie das Blut, das in ein Körperteil zurückdringt, welches eingeschlafen war. Doch so war es nicht. Nicht hier. Das Kribbeln, das man verspürt, wenn das Blut in die weiter vom Herzen entfernten Adern zurückströmt, so etwas gab es hier nicht. Der Himmel war immer gleichförmig, und es war schon ein guter Tag, wenn man die geborsten aufragenden Stahlstreben hoch über der Stadt erblicken konnte, die den Himmel wie ein Gitter überzogen. Wie ein Regenbogen schienen sie den Boden entgegenzustreben und mußten ihn irgendwo berühren, doch wie bei einem Regenbogen kam man eigenartigerweise niemals dort an, wo sie sich mit dem Boden trafen. Es war schon seltsam, daß dieses Stahlgerüst, welches einstmals errichtet worden war, um die Stadt zu schützen vor den zerstörerischen Einflüssen der Umwelt, noch immer ein Symbol war für Hoffnung, und wenn es auch nur die Hoffnung auf einen klaren, smogarmen Tag war. Wenn der Wind stark genug blies, trieb er die dicken Nebel hinaus auf die Bucht, wo sie schwer niedersanken auf das blaßgraue Wasser und dort verharrten, bis weitere Schwaden kamen, um sich mit ihnen zu vereinen. Sie schienen dort zu lauern, sich zu sammeln, um die Stadt einzunehmen, 34
sie schienen zu warten, bis sie zahlreich genug waren, um einen Ansturm zu wagen. Doch solch ein Sturm war gar nicht nötig, weil die Stadt sich selbst in Nebel hüllte, die zahllosen Schlote, Lüftungsschächte und Druckausgleichsrohre füllten die Luft mit ihrem dichten Qualm, so daß sich das Wetter nie zu ändern schien. Selbst dem beständigen Zyklus von Tag und Nacht, von Licht und Dunkelheit, war hier die Kraft genommen. Bei Tag strahlte keine Sonne, und bei Nacht erhellten die zahllosen, verschiedenartigsten Lichter das Betonlabyrinth so sehr, daß die völlige Dunkelheit nur in den tiefsten, verlassensten Häuserschluchten zu Hause war. Doch so düster, so unerträglich auch diese Umgebung wirkte, so unwichtig schien es eigentlich auch. Denn hier, in der Zone, lebte offiziell sowieso seit Jahren niemand mehr. Inoffiziell sah das natürlich ganz anders aus, die Zone erstreckte sich inzwischen über eine weit größere Fläche als die Satdt selber, und genaue Grenzen hatte sie schon lange nicht mehr. Zu Anfang hatte man noch versucht, die Ordnung zu bewahren, doch inzwischen war die Zone ein riesiger Gürtel um die Stadt herum, ein Armutsviertel, das die wohlhabenderen Bereiche des Stadtgebiets in seinem Würgegriff hatte. Nicht alles wurde „Die Zone“ genannt, diese Bezeichnung bezog sich eigentlich nur auf die Gegend, die südlich des Flusses lag, von den großen Hafenanlagen an bis weit hinunter ins flache Land. Die Gebiete des Hafens, die noch nicht überschwemmt waren, dienten inzwischen schon längst als Wohngebiet, sämtliche Speicher, Lagerhäuser und Bürokomplexe waren inzwischen zu armseligen Wohnstätten umfunktioniert worden. Viele der Menschen, die auf dieser Seite der Bucht lebten, verband ein Traum, den sie in sich trugen und der ihnen die Kraft gab, in dieser Welt aus Beton, Kälte, Hunger und Elend zu leben. Es war ein Wunsch, der beständig neue Menschen hierher trieb. Sie kamen von überall her, aus dem Umland, wo es noch schwerer war, sich ein lohnendes Leben aufzubauen. Immer häufiger werdende Überschwemmungen, eine zerfasernde, vom aufgebrachten Meer zerstörte Küstenlinie trug Regenfälle, Unwetter und Verwüstungen bis weit ins Landesinnere. Es war keine gute Zeit, um draußen auf dem Land zu leben. Doch die Menschen versuchten wie immer alles ihnen mögliche, um soviel zu retten, wie irgendwie möglich war. Sie errichteten über den größten Städten riesige Dächer aus Stahl und Glas, sogenannte geodätische Kuppeln, um 35
zumindest die Ballungsräume mit reiner Luft und einem erträglichen Klima zu versorgen. Zunächst schien die Rechnung aufzugehen, doch mit der Zeit versuchten natürlich immer mehr Menschen, Platz in den Städten unter den Kuppeln zu finden, zumal das Klima außerhalb immer unangenehmer und die Natur immer wilder und unberechenbarer wurde. Doch auch in den Städten wurde das Leben immer weniger erträglich. Die riesige Masse von Menschen, die innerhalb der Kuppeln Platz finden mußte, sorgte dafür, daß die Städte zu düsteren Orten voller Abfall, Verbrechen und Schmutz wurden. Doch wer sollte dies außerhalb der Kuppeln wissen? Man glaubte noch immer an den Traum, in den Kuppeln zu leben. Auch wenn längst viele Städte unter den großen Problemen zusammenbrachen, die Kuppeln deaktiviert werden mußten und schon lange nicht mehr den Segen brachten, der eigentlich ihr Zweck war, der Traum lebte weiter. Der Traum, den unbeleuchteten Landstraßen zu folgen bis zu den Kuppeln, die in der dunklen Nacht und im Zwielicht des verregneten Tages ihr gelbliches Schimmern weit hoch in den Himmel warfen wie ein Leuchtturm in trüber See. Der Traum lebte. Und der Weg zum Traum führte immer durch Orte wie die Zone. Immer waren die überdachten Städte umgeben von den weitläufigen Resten der Außenbezirke, Ruinen von Hochhäusern, Industriegebiete mit weitläufigen Fabrikanlagen und Vororte mit ehemals schmucken Einfamilienhäusern. Nun war alles voll mit Menschen, mit Zelten, Hütten und improvisierten Behausungen, zwischen denen bizarr die Zeugen des alten Wohlstands dieser Gegenden herausragten. Viele der Menschen, die es bis hierher geschafft hatten, begannen, je länger sie hier lebten, ihren Traum zu vergessen und aus den Augen zu verlieren, sie begannen aufzugeben und sich mit dem Leben hier zu arrangieren. Doch einige wenige behielten ihren Traum fest im Blick, sie wollten das erfüllt sehen, was sie sich als Ziel gesetzt hatten. Sie wollten weiter kämpfen für das, was sich vor ihrem inneren Auge als paradiesisch darstellte, sie wollten ihre verklärte Vision von einem besseren Leben um nichts in der Welt aufgeben. Sie wollten weiter. Raus aus dem Dunst der Zone, rein in das Neon der Stadt. 36
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Oh, little figures that toil under weather and sun Your backbreaking labor is earning you nothing but hopes undone Here nothing is sacred; what pride there is left will not hold The price of your failure is shown In the trinkets that weigh you down
- Madder Mortem, „Omnivore“
Chills Innereien hatten sich zu einem schmerzhaften Klumpen verdickt, und sein Herz schlug schnell und hart, als er sich der Kaimauer näherte. Hinter sich hörte er vom Nebel gedämpft das Treiben auf den Straßen der Zone, kleine Händler priesen heiser ihre lächerlichen Waren an, und ein lebhafter Klangteppich aus Scheppern, Klirren, Rattern und Stimmengewirr waberte herüber. Verdammt laut für einen aufgegebenen, unbewohnten Stadtteil, dachte Chill bei sich. Ein Geruch von verbranntem Müll lag in der Luft, ein Stück weiter die Kaimauer herunter lag ein Haufen schwelenden Unrats. Chill war dieser Geruch mehr als vertraut, er erinnerte ihn oft an frühere Zeiten. Aufgewachsen war er in der Randzone von Berlin, nicht weit vom ehemaligen Potsdam entfernt. Dort gab es jede Menge alter Fabrikgelände und Industriebrachen, auf denen Unmengen von Flüchtlingen lebten. Die meisten Menschen hatten die Innenstadt aufgrund der anhaltenden Unruhen dort verlassen müssen. Zu wenig Frischwasser und Nahrungsmittel hatten damals schwere Krawalle im Inneren der Stadt verursacht, viele der schikken Firmenzentralen waren gestürmt und niedergebrannt worden. Bis die Feuer außer Kontrolle gerieten. Noch Tage später konnte man den schweren Geruch der Dämpfe von verbranntem Kunststoff riechen, der zu den 37
Brachen herüberzog. Seine Eltern waren da schon einige Monate weg gewesen. Sie waren einfach eines Tages zur Arbeit gegangen, und nie wieder heimgekommen. Sie hatten in dem großen Recycling-Kraftwerk unten am Grunewald gearbeitet. Die Feuerzungen der Explosionen und die Rauchschwaden der Feuer, die an jenem Nachmittag das Werk erschüttert hatten, konnte er bis zu dem Einkaufszentrum am Potsdamer Platz sehen, wo er mit seinen Freunden damals rumhing. Ja, und dann war einfach niemand mehr wiedergekommen, der sich um ihn kümmerte. Er war zu den Brachen weitergezogen, weil er einfach nicht gewusst hatte, wohin er gehen sollte. Dort waren viele, die etwas ähnliches erlebt hatten, und es gab ein seltsames Zusammengehörigkeitsgefühl an jenem Ort. Obwohl es hart war, dort zu leben. Die Menschen waren bereit gewesen, sich um Essen und Getränke zu prügeln. Wenn es sein musste und eine besonders üble Zeit angebrochen war, konnte man sogar dafür getötet werden, wenn jemand entdeckte, dass man ein paar Brotscheiben unter der Jacke verbarg. Als es zu hart wurde in der Berliner Randzone, hatte er einfach seine spärlichen Habseligkeiten gepackt und war weitergezogen, mit den Flüchtlingstrecks die ehemalige Autobahn A1 entlang, nach Hamburg. Dort landete er zwar auch wieder in einer finsteren Randzone, doch sein Schicksal schien sich wieder zum Besseren zu wenden. Er lernte bessere Leute kennen, als er in Berlin gekannt hatte, und schaffte es sogar, sich ein paar Euros zusammenverdienen. So stand er nun hier, in seinen fleckigen schwarzen Jeans, seiner abgewetzten Bomberjacke und drei Pullovern übereinander. Seine Haare waren kurzgeschnitten und unter einer grauen Baseballkappe verborgen. Darunter konnte man sein frühzeitig gealtertes Gesicht erkennen, die Reisen über die verseuchten Ebenen und die Luft in den Randzonen hatten die Haut angegriffen und zerfurcht. Dass er erst 16 war, wusste kaum jemand. Wie meistens lagen die Nebel schwer über der Bucht, so daß er die Lichter der Stadt am anderen Ufer nur sehr schemenhaft und verschwommen erkennen konnte. Er war schon oft hier gewesen, doch heute war es anders. Heute sollte es das letzte Mal sein, daß er hierher kam. Er hatte Geld in der Tasche, echtes Geld, mit dem er sich eine Überfahrt leisten konnte, raus 38
aus diesem Ghetto voller Furcht, Armut, Kälte und Niedergeschlagenheit. Er war immer sehr vorsichtig gewesen, wenn er darüber nachgedacht hatte, was wohl wäre, wenn er hier heraus könnte, um in der Stadt sein Glück zu versuchen. Nun war es soweit, und er konnte eine gewisse Erregung nicht mehr verbergen. Er war nervös und ertappte sich dabei, wie er eine Zigarette an der Glut der letzten anzündete. So eine Verschwendung, so etwas hatte er vorher nie gemacht, dachte er bei sich. Jetzt bloß nicht übermütig werden. Noch bist du hier nicht raus. Er stand etwas unschlüssig am Rand des Anlegestegs vor der letzten Häuserreihe, so als habe er Angst, den Schutz der Mauern zu verlassen. Zu seiner Rechten konnte er das schnurgerade Betonufer entlang sehen. Die rostigen Stelzen mehrerer Verladekräne ragten dort auf. Alles von ihnen, was nicht im Beton eingelassen war, war schon lange abmontiert und verwertet worden, und die Stelzen würden wahrscheinlich auch nicht mehr allzu lange dort stehen, ob sie nun wegrosteten oder ob sich jemand die Mühe machte, sie aus dem Beton zu reißen, machte da eigentlich keinen Unterschied. Gebraucht wurden sie hier ohnehin nicht mehr. Wenn er den Kopf nach links wandte, sah er eine kleine, improvisierte Bar. Am Eingang einer alten Lagerhalle hatte jemand mit Holz und Planen eine Hütte zusammengezimmert. Um das Dach aus milchig-durchsichtigem Wellplastik herum war eine Kette mit bunten Lichtern gespannt, von denen sogar fünf noch intakt waren. Der Boden war mit grünem Kunstrasen ausgelegt, die Theke hatte jemand aus einem alten Partykeller herausgerissen und hier in den kleinen Schuppen platziert. Sie war mit Holzimitat aus Plastik vertäfelt und verfügte über einen protzigen, kupferverzierten Zapfzahn mit einem riesigen „Warsteiner“-Emblem. Die wenigen bunten Glühbirnen warfen nur spärliches Licht auf die Gesichter der Gestalten, die um die Theke herum auf Plastikstühlen und alten Fässern saßen. Hier legte auch das Boot an, das ihn in die Freiheit bringen sollte. Jede Woche kam es. Normalerweise herrschte immer ein ziemlicher Aufruhr, wenn es im Schutze der Nacht diesen Hafen anlief, doch heute war es verhältnismäßig ruhig. Nur wenige zerlumpt wirkende Gestalten hatten sich versammelt, um die Ankunft abzuwarten und zu sehen, was die Halsabschneider diesmal mitbrachten. Auch wenn die Gestalten, die dort standen und in der Bar saßen, ziemlich zerlumpt aussahen, so handelte es sich bei einigen von ihnen tatsächlich um 39
die einflußreichsten Leute hier im Ghetto. Viele hatten sich mit dem Leben hier arrangiert, und es mit einer gehörigen Portion Mut, Glück und Rücksichtslosigkeit zu einem bescheidenen Reichtum gebracht. Gleichzeitig hatten sie sich eine Art Ansehen in der Gemeinde erworben, sie waren die Anführer, die sich in jeder Gesellschaftsform fanden und von den Anderen als solche akzeptiert wurden. Scheinbar ging es nicht ohne. Chill näherte sich der Bar langsam und trat in den Schein der bunten Lampen. Die Energie, die von den Gestalten ausging, die hier saßen, verblüffte ihn. Sie diskutierten eifrig und überlegten sich Verhandlungstaktiken, um die Händler vom Schiff zu übervorteilen. Diese Leute hatten sich wirklich mit ihrem Leben hier in der Zone abgefunden und machten das Beste daraus. Insgeheim bewunderte Chill das, und ihm wurde einen Moment lang unwohl dabei, daß er einfach so aufgeben wollte und abhaute. Doch halt, wer hatte hier die Zukunft, wer verschaffte sich hier eine Perspektive und brachte den Mut auf, ein neues Leben zu beginnen? Sein Entschluß stand fest, und er wartete sehnlichst auf das Schiff, das in den nächsten Stunden hier anlegen würde. „He, Träumer!“ rief eine rauhe Stimme in seine Richtung. Er brauchte einen Moment, um zu verstehen, daß er gemeint war und wandte sich um. Er kannte die Stimme, und als er sich umsah, erblickte er Josef. Der alte Mann saß zurückgelehnt in einem alten Plastikstuhl, der einstmals dazu bestimmt war, auf dem Rasen in einem blühenden Garten zu stehen und seinen Besitzer die Wärme der Sonne genießen zu lassen. Josef hatte einen kurzen, grauen Haarkranz und trug über seinem linken Auge ein kompliziertes, mechanisches Uhrmacherwerkzeug, das ein winziges Mikroskop enthielt, wie Chill wußte. Verdammt wertvoll, aber niemand hier wäre je auf die Idee gekommen, es dem alten Josef wegzunehmen. Auch dies war eines der seltsamen, ungeschriebenen Gesetze, die das Ghetto geprägt hatte. Er trug einen langen, zerfledderten und endlos oft geflickten Mantel, verschmutzt mit Gips- und Farbresten. Oft hatte Chill dem alten Mann bei der Arbeit zugesehen. Er fertigte kleine Figuren aus Gips und bemalte sie. Das war eine gute Tauschware, denn er beherrschte sein Handwerk wirklich gut. Ob man nun eine Heiligenfigur wollte oder Captain America, ein Weltraummonster oder eine nachgebildete Porzellankatze, er machte alles. Seine größte Liebe galt jedoch dem Kunstwerk, das er in seiner Woh40
nung hütete wie einen Schatz und dem er auch seinen Namen zu verdanken hatte. Er besaß eine riesige Weihnachtskrippe, die er in dem geplünderten Kaufhaus, in dem er wohnte, gefunden hatte. Das Haus war schon komplett leergeräumt gewesen, doch für die Weihnachtsdekoration hatte sich niemand interessiert. Er hatte sie wieder aufgestellt und baute scheinbar in jeder freien Minute an ihr herum. Inzwischen war nicht mehr viel von der ursprünglichen Krippe zu erkennen, es sah mehr aus wie in einem überfüllten Fußballstadion, aber der alte Mann liebte die Krippe mehr als alles andere. „Komm her, Kleiner.“ sagte Josef und winkte ihn heran. „Du willst es also wirklich tun?“ fragte er und deutete auf Chills Rucksack. Chill trat näher an ihn heran. „Ja, ich hau ab. So wie du mir geraten hast.“ sagte Chill. „Du willst es also durchziehen? Meinen Glückwunsch. Wenn ich noch so alt wär wie du, dann könnte ich es wahrscheinlich auch kaum erwarten, hier rauszukommen. Dann wär ich dabei.“ Josef hob die eine sichtbare Augenbraue und sah ihn an. „Was glaubst Du, wann wird der ganze Scheiß hier über uns zusammenbrechen? Lange wird das Ganze hier nicht mehr gutgehen, glaub mir. Sei froh, wenn du drüben bist. Dann kannst du dir den Laden hier mal von der anderen Seite der Bucht aus anschauen.“ „Naja…“ Chill hatte immer Schwierigkeiten damit, zu verstehen, was der Alte ihm mit seinen seltsamen Worten sagen wollte. Fast hätte er Josef gefragt, ob er nicht Lust hätte, mitzukommen, aber ihm fiel gerade noch rechtzeitig auf, wie naiv das geklungen hätte. Chill hasste es, wenn ihm solche naiven Gedankengänge durch den Kopf schossen, aber das würde sich schon noch legen, beruhigte er sich selbst. „Hast Du auf mich gewartet?“ „Ja.“ Josef ließ seinen Blick über das schwarze Wasser schweifen und sah ihn dann wieder an. „Ich möchte, daß du drüben etwas für mich erledigst.“ „Klar, kein Problem. Worum geht‘s denn?“ „Nichts Großes, eigentlich. Ist mir aber unheimlich wichtig. Einfache Kuriersache. Nur was abgeben.“ „Ok, krieg ich wohl hin.“ 41
„Hm.“ Der Alte starrte schon wieder auf das Wasser. Er wechselte plötzlich das Thema, als sei das alte längst erledigt. Oft tat er das, so daß man meinen konnte, er sei schon etwas verwirrt. „Als ich so alt war wie du, bin ich auch abgehauen. Vor meinem Vater, der ein echtes Arschloch war. Hab ich selten dran zurückgedacht, aber immerhin hatte ich einen.“ Er sah Chill an. „Weißt du, ich hab auch schon bessere Zeiten gesehen. Das hier ist ja wirklich kein Zustand, das macht doch keiner freiwillig.“ Er sah in die Runde. „Haben doch alle Dreck am Stecken.“ Chill wusste eigentlich gar nicht viel über Josefs Leben. Er hatte ihn immer nur als den Alten gekannt, der im Kaufhaus wohnte und ein bisschen schräg war. Er hatte keine Ahnung, was Josef früher gemacht hatte, und weshalb er hier gelandet war. Und eigentlich war Josef auch noch gar nicht so wahnsinnig alt, erst so um die 50. „Und die Atomflüchtlinge? Oder die Polen?“ fragte Chill. Josef nickte. „Jaja, okay. Die natürlich nicht. Nicht alle. Ist ja auch egal.“ Sie beide schwiegen eine Weile. Dann nahm Josef seine Bierdose in die Hand und setzte wieder seinen über die Bucht schweifenden Blick auf. „Wahrscheinlich hast du keine Lust, dir das Geschwätz eines verbitterten alten Mannes anzuhören, der in diesem Dreckloch hier gestrandet ist.“ „Nein, ich...“ wollte Chill ihn unterbrechen. „Ach, klar, ich sehs dir doch an. Du bist so jung. Du würdest es hier nicht mehr lange machen. Hau ab, solange du noch kannst. Auch wenn du da drüben keinen Tag überleben solltest, wirst du zumindest wissen, daß du es versucht hast. Du hast Mut Junge, und das ist verdammt selten. Setz dich und warte auf das Schiff, und dann verschwinde hier, solange du noch kannst. Wenn du hier bleibst, fängst Du irgendwann an, auf Chip oder was auch immer abzufahren. Und dannbist du echt gefickt. Vielleicht bleibt dir das drüben erspart. Trotzdem -“, Josef setzte einen bedeutungsschwangeren Blick auf ,“erwarte dir nicht zu viel davon, auf die andere Seite zu gelangen. Mußt schließlich erst mal Fuß fassen. Vielleicht kannst du die beiden fragen, bei denen du das Paket ablieferst. Ob di enen Job haben, nen Platz zum pennen, was auch immer.“ „Klar, mach ich.“ Chill wußte nicht recht, was er antworten sollte, und setzte sich neben Josef. Das folgende Schweigen war ihm unangenehm, und er fühlte sich jetzt 42
irgendwie schlecht. Er hatte das Gefühl, den Alten im Stich zu lassen, obwohl er wußte, daß das Unsinn war. Josef brauchte ihn nicht, er war hier sicher wie sonst nirgendwo. Die Leute respektierten und mochten ihn, und das war etwas, was nur die wenigsten Leute hier in der Zone erleben durften. Gerade, als das Schweigen richtig unangenehm wurde, hörte er das Stampfen von Dieselmotoren vom Wasser herüberwehen, und auch die Händler verharrten und starrten in den Nebel. Josef stand auf und ging hinter den Bretterverschlag, um kurz darauf mit einem Gegenstand zurückzukehren. Es war ein kleines Paket, eigentlich nur eine alte, zerfledderte Zeitung, in die etwas eingeschlagen war. Er drückte Chill das seltsame Päckchen in die Hand und sah ihm in die Augen. „Ok, das ist mein Paket. Wo es hin soll, hab ich draufgeschrieben. Sind zwei alte Freunde von mir. Wohnen gleich am Ufer, in der alten Speicherstadt. Du findest das schon. Und das hier,“ er griff in die Tasche seines Kittels und zog ein Paket hervor, das fast genauso aussah wie das andere, „das hier ist für dich. Wahrscheinlich hältst Du mich jetzt für einen sentimentalen Spinner, aber das macht nichts, das bin ich ja auch. Es wird dir Glück bringen.“ Er legte ihm die Hand auf die Schulter und drückte sie kurz. Für Josefs Verhältnisse war dies ein Höchstmaß an freundschaftlicher Zärtlichkeit und Chill lief unwillkürlich ein Schauer über den Rücken. Das feuchte Zeitungspapier, mit dem die Pakete eingewickelt waren, roch komisch. Als seien früher schon modernde Fische darin eingewickelt gewesen. „Machs gut, du wirst mir fehlen. Paß auf dich auf. Und wenn du da drüben deine erste Bar eröffnest oder was auch immer - ich hoffe, ich werde eingeladen!“ sagte er mit einem Grinsen. Chill schluckte und spürte , wie trocken Mund und Kehle waren. „Klar, versteht sich, Mann. Machs gut.“ brachte er hervor. Josef lächelte, dann wandte er sich um und ging, um kurz darauf zwischen den Lagerhallen zu verschwinden. Chill sah wieder zum Wasser hinaus und sah jetzt langsam ein schwaches, gelbliches Licht im Nebel auftauchen, während synchron dazu das stampfende Geräusch der Dieselmotoren immer lauter wurde. Die Händler gingen langsam zur Kaimauer hinüber, und auch Chill bewegte sich dorthin. Jetzt war es wirklich Zeit, zu verschwinden, dachte er. Er ließ die beiden 43
Päckchen im Inneren seiner alten Bomberjacke verschwinden und trat aus dem bunten Lichtschein der Laternen heraus auf den Anleger.
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As the dark blackended walls close in on me Dementia strikes, there`s no turning back
- Anathema, „Memento Mori“
Die metallene Bank war hart, und die kalte Luft ließ die Haut im Gesicht eiskalt frieren. Doch Kälte war ihm nicht fremd von seiner Zeit im Ghetto, an Land. Chill saß still an der Reling des Kutters und spürte das regelmäßige Schlagen der Kolben des Motors unter Deck. Alles an Bord vibrierte leicht. Es roch nach Öl, nach Diesel und nach Moder. An Bord zu gelangen, war leicht gewesen. Die Männer waren längst nicht so gefährliche Typen, wie er sie sich vorgestellt hatte. Sie hatten ohne viel Aufhebens sein Geld genommen und ihm gesagt, er solle sich einen Platz suchen und nicht im Weg stehen. Ab diesem Moment beachteten Sie ihn nicht weiter, und nachdem sie die Kartons und Plastikkisten mit ihren Waren an die Leute am Festland verscherbelt hatten, hatten sie die dicken Taue gelöst, die das leicht schwankende Schiff an der Mole hielten, und der Diesel hatte das Schiff schnaufend wieder auf Fahrt gebracht. Das flaue Gefühl in Chills Magen war stärker geworden, jetzt, da er den Eindruck hatte, daß es kein Zurück mehr geben würde. Von hier draußen sah die Gegend, in der er sein Leben bisher verbracht hatte, gar nicht so übel aus. Die Nacht war gut darin, in Dunkelheit zu verbergen, was am Tage abstoßend wirkte. Die Umrisse der Häuser ragten dunkel auf, und die Lichter, die überall zwischen ihnen erstrahlten, schienen hell und ließen die Kulisse wie ein gewöhnliches Stadtpanorama erscheinen. Wer es nicht besser wußte, konnte dahinter gepflegte Wohnungen vermuten, mit schönen Möbeln und gefüllten Kühlschränken und glücklichen Familien darin Doch der Tag würde schnell wieder kommen, und dann würden nur noch die Nebel zu verbergen versuchen, wie sich die verzweifelten Gestalten zwischen den Häuserruinen um Essenreste prügelten. Wahrscheinlich würde es ihnen sogar gelingen, alles zu verbergen. Wie 44
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meistens. Chill bemühte sich, die seltsame Wehmut aus seinen Gedanken zu vertreiben und sog die kalte Nachtluft tief in seine Lungen. Er versuchte, sich auf das Schiff zu konzentrieren. Es war ein alter, kleiner Kutter, der wohl früher einmal zum Fischen benutzt worden war. Das Metall seines Rumpfes und der Aufbauten war schon endlos viele Male mit dicken Farbschichten überzogen worden, um das Metall vor der Witterung zu schützen. An vielen Stellen blätterte die Farbe jedoch wieder ab und war nachgebessert worden, ein scheinbar endloser Kampf, den letztendlich doch nur der Rost gewinnen konnte. Auf dem Deck befanden sich ein paar eigenartige Apparaturen mit langen, ausfahrbaren Armen aus Aluminium, an denen längliche Papierfilter befestigt waren. Sie konnten seitlich ausgefahren werden und dienten zum Filtern des Wassers während der Fahrt. Diese Technik war weit verbreitet, und viele versuchten so, brauchbare chemische Grundstoffe aus der verseuchten Brühe zu ziehen, die sie dann auf dem Schwarzmarkt verkaufen konnten. Die moderne, zynische Zunft der Fischer, sozusagen. Wirklich reine Substanzen konnte man so sicherlich nicht erzielen, doch mit Hilfe der aufwendigen Filterapparaturen, die sich am Heck neben der schmalen Kajüte befanden, ließ sich die Reinheit der gefundenen Stoffe verbessern, so daß man sie immer an irgendeinen zwielichtigen Straßendoc verhökern konnte. Chill dachte unwillkürlich an die Medikamente, die solche Gestalten daraus fabrizierten, und versuchte, sich zu merken, daß er so etwas besser nicht kaufen sollte. Obwohl - wahrscheinlich würde ihm erst mal nichts anderes übrigbleiben, bis er zu Geld gekommen war. Sofern er Medikamente brauchte. Drogen-User war er nicht, und seine russischen Zigaretten waren eigentlich ganz ok. Er sah über die Reling nach unten und erblickte die braun-graue Suppe, die träge in der Bucht herumschwappte. Durch die dumpfe, orangefarbene Positionsbeleuchtung des Schiffes wurden die Wellen erleuchtet, was sie jedoch nur noch ungesunder erscheinen ließ. Plötzlich kam ihm der Gedanke, was wäre, wenn die Typen ihn einfach mitten in der Bucht über Bord werfen würden, einfach nur so aus Spaß. Sein Geld hatten sie ja schon, und viel mehr war bei ihm ja nicht zu holen. Er hoffte, daß man ihm das ansah, und blickte skeptisch zu den Männern herüber. Zwei von ihnen standen an der Kajüte, wobei einer der beiden 46
die Steuereinheit im Blick hatte und ab und an eine Taste drückte, um den Kurs zu korrigieren. Es waren eigentlich relativ unspektakuläre Gestalten, nicht die verwegenen Typen, die er sich immer ausgemalt hatte, wenn er sich vorstellte, wie seine Flucht wohl verlaufen würde. Er hatte diese Nacht schon tausendmal in Gedanken durchgespielt, doch so harmlos hatten die Schieber nie gewirkt. Sie sahen sehr sachlich aus, in ihrem dunkelblauen Regenzeug mit Ölschlieren darauf. Ihre Gesichter steckten hinter weißen Atemmasken, um sie vor der Luft über dem verseuchten Wasser zu schützen. Aus dem selben Grund trugen sie auch Arbeitshandschuhe und hatten wasserfeste, schwarze Stiefel an den Füßen. Ein weiterer saß am Heck neben den Filtriermaschinen, er hatte seine Atemmaske vom Gesicht vor den Hals geschoben und kaute auf dem zerfledderten Stummel einer dicken Zigarre herum. Er bediente die Konsole vor sich, und Chill hörte ein leises elektrisches Surren. Die Aluminiumstreben an den Seiten des Schiffes wurden ausgefahren. Es waren Teleskopstangen, und während sie nach außen klappten, fuhren sie sich aus, und die frischen weißen Papierfilter falteten sich auseinander wie weiße Schwingen. Chill mußte an eine der Figuren aus Josefs Krippe denken, einen weißen Engel, der über dem Dach des Stalls hing und eine aufgeschlagene Bibel in den Händen hielt. Er hatte auch seine Flügel ausgebreitet und verkündete das Wort Gottes. Damit hatte Jed eigentlich noch nie was anfangen können, für ihn war entscheidender, wie er selbst überleben konnte und welche Fähigkeiten er selbst hatte. Er kannte Leute, die bis heute ihren Glauben nicht verloren hatten, und alles, was ihnen an Schlechtem und an Gutem passierte, als Gottes Werk und Gottes Geschenk ansahen. Sicherlich war dies eine Art, das Leben erträglich und irgendwie scheinbar verständlich zu machen, ihm ein Muster aufzudrücken, genau wie die Kuppeln mit ihrem Stahlgerüst ein Muster auf den Himmel zeichneten. Einmal hatte er eine Gruppe von Russen gesehen, die so streng gläubig waren, dass sie meinten, wenn sie nichts zu essen hätten, würde ihnen ihr Gott schon helfen. Aber nachdem die ersten beiden elendig vor Hunger verreckt waren, haben die anderen endlich eingesehen, dass es doch schlauer wäre, die Hilfe der Nachbarn anzunehmen. Vielleicht war ja doch was dran an dem Zeug, dachte Chill, als er jetzt so dasaß, auf diesem Kutter, über den Wellen, der langsam dahinglitt und seine weißen Schwingen auf dem Wasser ausbreitete. Doch spätestens in 47
dem Moment, als die weißen Filter sich in das Wasser senkten und sich mit der braunen Brühe vollsogen, war der Zauber verflogen. Er blickte auf und sah, daß es sicherlich noch eine halbe Stunde dauern würde, bis sie die Stadt erreichten. Die Lichter waren kaum zu sehen, doch das letzte, was ihn jetzt noch von seinem Ziel trennte, waren die dicken, dunklen Nebelschwaden, durch die das Schiff auf seinem illegalen Kurs hindurchglitt.
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10 Auf seinem schmutzigen Engel reitend, durchpflügte Chill die Wellen. Er hatte sich nie zuvor so gefühlt wie jetzt. Die meiste Zeit hatte er bisher damit verbracht, sich darum zu kümmern, wo er als nächstes etwas zu essen herbekommt oder wo er in der nächsten Nacht schlafen kann. Als er Josef kennen gelernt hatte, da war es ihm etwas besser ergangen als vorher. Er hatte bei ihm im Kaufhaus wohnen können und ein paar Besorgungen für ihn gemacht. So gab es wenigstens einen anständigen Schlafplatz und regelmäßiges Essen. Aber auf Dauer hatte Chill es dort nicht aushalten können, und auch Josef hatte ihm geraten, es doch einmal hier drüben zu versuchen. Ja, geradezu gedrängt hatte er ihn, doch endlich wegzugehen und in die Stadt weiterzuziehen. Er hatte ihm sogar Geld angeboten. Als hätte er ihn loswerden wollen. Doch, so hatte Josef immer wieder versichert, so war es nicht, er wollte nur, dass Chill aus der Zone herauskommt. Das war etwas, was Chill nicht kannte, das jemand sich um ihn kümmerte. Nicht das schlechteste Gefühl. Und es erschien ihm gut, was er tat. All die Probleme von drüben schienen jetzt weit weg. Er saß hier und genoß einfach das Gefühl, etwas völlig neues zu tun, etwas, das er nie zuvor erlebt hatte. Er wußte nicht, was ihn erwartete, was ihm zustoßen, wen er treffen würde. Ein neues Leben begann, doch es machte ihm keine Angst. Er drehte sich um und versuchte zurückzublicken auf den Beton, der ihn sein bisheriges Leben umgeben hatte, doch er sah nur Wasser und die Bucht, sein Sichtfeld verlor sich dahinter im Nebel. Er war schon zu weit weg. Sicher, er könnte wahrscheinlich immer wieder zurückkehren, wenn er das wollte, doch würde es wirklich so weit kommen? Er hoffte nicht, denn er wollte nach vorn sehen und sich seine Hoffnungen bewahren. Chill hatte viel Angst gehabt in den letzten Tagen, doch jetzt spürte er sie nicht mehr. Er war wie berauscht, seit er so problemlos an Bord des Schiffes gelangt war und ihm deshalb der Anfang seines Weges so leicht vorgekommen war. Es konnte jetzt nicht mehr lange dauern. Die Küste kam immer näher, und er konnte schon einzelne Lichtquellen in dem gleißenden Meer aus Farben und Formen ausmachen. Ab und zu hörte er Geräusche, die aus 49
der Stadt herüberwehten, und über ihm kreuzte mehrmals ein Hubschrauber, dessen Suchscheinwerfer scheinbar ziellos über die Wellen tanzten. Überhaupt sah er jetzt, da er zum Himmel blickte, daß dort zahlreiche Ospreys und Rotormaschinen unterwegs waren und mit ihren Positionslichtern Bahnen über den Himmel zogen. Chill fragte sich, was er eigentlich über die Stadt wußte. Nun ja, nicht viel. Sicher war eigentlich nur, daß er so ziemlich alles, was er wußte, von Josef gehört hatte. Der alte Mann hatte ihm oft stundenlang berichtet, wie es dort zuging, so daß er nun tatsächlich das Gefühl hatte, in eine Welt zu reisen, die er kannte. Er hoffte, daß die Erzählungen von Josef nicht bloß das Geschwätz eines alten Mannes waren, dessen Sicht der Realität doch ziemlich verklärt und veraltet sein mochte. Josef war schließlich schon lange nicht mehr dort drüben gewesen. Oder vielleicht doch? Womöglich musste Chill auch einfach mal sein Zeitempfinden neu justieren, für ihn war ein halbes Jahr schon eine Ewigkeit. Und viel länger war er eigentlich auch nicht in der Zone gewesen. Eigentlich konnte kaum einer von seinen bisherigen Freunden und Bekannten, außer Josef, viel über die Stadt unter der Kuppel erzählen. Die meisten hatten immer schon auf der anderen Seite der Bucht gelebt, oder sie waren vom Land gekommen, um in die Stadt weiterzureisen und dann in der Zone hängengeblieben. Die meisten blieben dort hängen, weil sie kein Geld mehr hatten oder weil ihnen ihr letztes Geld geklaut wurde, weil sie krank waren oder einfach, weil sie keinen Platz auf einem der illegalen Transportboote bekamen, die des nachts über die Bucht kreuzten. Inzwischen wurde es in der Zone immer enger, das Elend und die Armut, aber auch die Aggressivität der Leute wuchs immer mehr, je enger der Platz zwischen den Häusern wurde. Plötzlich fühlte er sich wie ein großer Entdecker, ein Mann, der Grenzen überschritt und neues Land entdeckte, genau wie Kolumbus, Armstrong oder Johansson. Ob es nun Amerika, der Mond oder die Venus war, oder nur die andere Seite der Bucht, schien ihm völlig nebensächlich, die Hauptsache war, daß er es tat. Daß er jetzt hier saß, der Wind ihm durchs Gesicht fuhr, er Diesel und moderndes Wasser riechen konnte und die Lichter der Stadt immer näher kamen. In diesem Hochgefühl fiel ihm wieder das Paket ein, welches Josef ihm 50
beim Abschied gegeben hatte. Er hatte es in seiner Aufregung in dem Moment vergessen, als er es in seiner Jacke verstaut hatte, doch jetzt spürte er wieder, wie es sich ihm in die Brust presste. Er sah sich noch einmal vorsichtig nach den Fischern um, doch die waren damit beschäftigt, ihre Filter einzuholen und die Ausbeute zu sichten, so daß er ungestört war. Er zog die zwei Pakete aus seiner Jacke und verstaute das eine, welches er abliefern sollte, in seinem Rucksack. Dann nahm er sich das andere vor. Er wickelte vorsichtig die Zeitung auseinander. Der Form nach vermutete er, daß ihm Josef eine Figur gemacht hatte, als Andenken. Aber irgendwie war das Päckchen dafür zu leicht. Als erstes schimmerte ihm rotes, zerkratztes Plastik entgegen. Darauf folgte silberfarbener Kunststoff, und als er die Zeitung ganz auseinandergewickelt hatte, hielt er tatsächlich eine Figur in der Hand, doch keine, die Josef selbst gemacht hatte. Es war ein Spielzeug. Ein Kampfroboter, mit einer roten Körperpanzerung und einem roten Helm sowie silbernen Gliedmaßen. Japanisch wahrscheinlich. Wollte der Alte ihn verarschen? Was um alles in der Welt sollte er mit dem Ding? Es verscherbeln? Vielleicht war es wertvoll, es gab ja Sammler für jeden Scheiß. Drüben im Ghetto kannte er jemanden, der leere Bierflaschen sammelte, und einen anderen, der ganz verrückt war nach Käfern und Insekten aller Art, die er sammelte, trocknete und auf Nadeln spießte. Er hatte das wohl mal in irgendnem alten Film gesehen und wollte dem Helden des Films nacheifern. Aber woher sollte Josef die aktuellen Preise für japanische Spielzeugroboter kennen? Nein, das konnte es nicht sein. Und als er nachdachte, fiel es ihm ein. Die Krippe. Als Josef die alte Weihnachtskrippe in dem Kaufhaus aus dem Keller ausgegraben und wieder aufgestellt hatte, da war dieser Roboter die erste Figur gewesen, die er besessen hatte. Auch im Kaufhaus gefunden, hatte er erzählt. Sie stand immer auf dem Dach der Krippe postiert, wie ein Wachposten. Ganz nahe bei dem Engel, der aus der Bibel las. Natürlich. 51
Diese Figur mußte ihm eine Menge bedeutet haben. Vorsichtig wickelte er den Roboter wieder ein und verstaute ihn in seinem Rucksack. Er sah sich wieder nach den anderen Leuten auf Deck um. Irgendwie war ihm der Gedanke peinlich, daß ihn diese harten Burschen hier sitzen sähen und entdeckten, daß er Spielzeug dabei hatte. Sie wußten ja nichts von der Bedeutung dieser Figur und würden denken, er sei ein Kind. Einfach nur ein dummes Kind, das von zu Hause ausreißt. Doch sie beachteten ihn nicht, wie er dort saß und sein Gesicht hoffnungsvoll in den aufkommenden Regen streckte und das Gefühl genoß, daß er dem alten Josef wohl eine ganze Menge bedeuten mußte, wenn der ihm ein so wertvolles Geschenk machte. Er war stolz.
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