Dragon - Söhne von Atlantis Heft Nr. 43
Ubali, der Paladin
von Hugh Walker
Seit der Stunde, da das Tor zwischen Dr...
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Dragon - Söhne von Atlantis Heft Nr. 43
Ubali, der Paladin
von Hugh Walker
Seit der Stunde, da das Tor zwischen Dragons und Danilas Welt für immer verschlossen wurde, sind der Atlanter und sein Gefährte Ubali zu Gefangenen einer wilden bizarren Umgebung geworden. Um sich behaupten zu können, müssen sie um ihr Leben kämpfen – und zwar jeder für sich, denn sie sind getrennt worden. Während Ubali, gegenwärtig zum Dasein in der Gestalt eines Panthers verurteilt, zusammen mit Thamai, seiner ebenholzfarbenen Geliebten, sich durch den Dschungel kämpft, hat Dragon, seit er Träger des einen Auges Vestas wurde, ein schweres Erbe übernommen – eine Mission, die ihn schließlich in das »Land des Nebels« führte. Und dort gelang ihm, was noch kein Sterblicher vor ihm jemals fertigbrachte: Der Atlanter kämpfte sich durch zu Aerulas Gipfelreich und versicherte sich der Unterstützung des Luftgeists. Anschließend will Dragon den Versuch unternehmen, mit Aerula-thane, der treuen Wanderwolke, die Insel des Namenlosen zu erreichen und Vesta, den einstigen Herrn der Elemente, zu befreien, auf daß dieser das drohende Chaos abwende, das Akkeron, der andere Träger von Vestas Auge, zu entfesseln beginnt. Dragon hat nicht mehr viel Zeit für seine Aufgabe, denn Akkeron hat neben Tyde, den Wassergeist, nun auch Skortsch, den Geist des Feuers, in seine Gewalt gebracht. Akkerons nächstes Ziel und das seiner wilden Horden wird das Reich Vitus sein. Und dorthin will auch Ubali. Zusammen mit Thamai geht er den Pfad der Prüfungen. Wenn er sich als würdig erweist und die Prüfungen besteht, wird er UBALI, DER PALADIN …
Die Hauptpersonen des Romans:
Ubali - Ein Mann in verschiedenen Körpern.
Thamai - Ubalis Geliebte.
Vitu - Der Lebensgeist inszeniert ein Maskenspiel.
Karuam - Ein Mann, der den Weg zu Vitu weist.
Baril - Ein Toter lebt – und tötet.
Waramau - Eine Gefangene wird frei.
1. Den ganzen Abend, während wir um die großen Lagerfeuer am Seeufer saßen und unsere Auferstehung feierten, ließ ich meinen Körper nicht aus den Augen. Es fiel nicht weiter auf. Die Umsitzenden deuteten meine Aufmerksamkeit als Zuneigung. Er wich mir aus. Immer wenn ich mich zu nähern versuchte, verstand er es, mir auszuweichen. Es war ein Katz-und-Maus-Spiel. Er schien meine Neugier zu fürchten. Das erfüllte mich mit neuer Unruhe. Gleichzeitig versuchte ich natürlich, möglichst wenig Aufsehen zu erregen. Karuam hatte noch nicht bemerkt, daß etwas nicht stimmte. Die zweite Frage, die mich ständig beschäftigte, war: Wo war Thamai? Ganz offensichtlich nicht in meinem Körper, sonst würde sie mir nicht ausweichen. Sie mußte ebenso interessiert sein, herauszufinden, wo ich mich befand, wie mich ihr Verbleib bewegte. Den ganzen Abend wartete und forschte ich vergeblich. Es war ein ungewöhnliches Gefühl, als Mann einen weiblichen Körper zu besitzen – noch dazu einen, in den man verliebt war. Meist antwortete ich gar nicht, wenn Karuam sich zu mir neigte und mich mit Thamai ansprach. Erst wenn er mich anstieß und lächelnd bemerkte, daß ich wohl sehr davon angetan sei, daß Ubali seinen menschlichen Körper wieder hatte, fand ich mich errötend in meine ungewohnte Rolle.
Ich mußte noch viel lernen, hatte Vitu gesagt. Und es sah ganz so aus, als ob es nicht einfach sein würde. Es war auch verdammt unangenehm, seinen eigenen Körper vor sich sitzen zu sehen und nicht zu wissen, wer sich in ihm eingenistet hatte. Ich mußte es herausbekommen, und zwar bald. Der See lag ruhig und glatt. Die Feuer spiegelten sich in seiner schwarzen Oberfläche. Er sah friedlich aus. Niemand sah ihm an, daß er eine ganze Stadt verschlungen hatte. Die Bewohner, denen Vitu ein neues Leben gewährt hatte, schmiedeten bereits Pläne. Am Morgen wollten sie mit dem Bau einer neuen Stadt beginnen; einer besseren Stadt mit einem neuen Tempel zu Vitus Ehren. Es gab keinen, der nicht froh gewesen wäre, daß die Gewaltherrschaft Barils, des Priesters der Lebensgeister, ein Ende gefunden hatte. Nun, da sie frei waren, erkannten sie erst, wie sehr sie ihm und seinen grauenhaften Mächten bereits verfallen gewesen waren. Karuam aber drängte darauf, aufzubrechen. Er hatte Orn zu seinem Stellvertreter ernannt, zum Obersten Priester des neuen Teguar. Er selbst wollte mit uns zu Vitus innerem Reich pilgern, das weit im Osten lag. Dort wollte er den Lebensgeist bitten, ihn von der magischen Macht seines Blutes zu befreien. Er war ein halbes Jahrtausend oder mehr Vitus Priester gewesen, aber nun wollte er frei sein von der Qual und der Verantwortung, die ihm aufgebürdet worden waren. Er schrieb es seinem Versagen zu, daß Baril solche Macht in Teguar erringen und solche Greueltaten wider alles Leben verüben konnte. Er glaubte, den Weg zu Vitus Domäne zu wissen, und war somit ein wertvoller Begleiter für uns. Vitu schien es seinen Pilgern nicht leicht zu machen. Der Weg war voll von Gefahren und Aufgaben. Und die Götter dieser Welt waren nicht ohne Humor. Nicht daß ich mit meinem Schicksal haderte. Thamais wundervoller Körper war ein Geschenk, wie man es auch betrachten mochte, obwohl meine Männlichkeit es vorgezogen hätte, ihm auf diese Weise nicht innezuwohnen. Ich vermied es, zu sehr darüber nachzudenken. Mich beunruhigte
auch viel zu sehr, daß Thamai sich nicht zu erkennen gab. Andererseits hatte auch ich bisher alles unterlassen, was Aufmerksamkeit auf mich gelenkt hätte. Wie sollte sie wissen, daß ich mich in ihrem Körper befand? Vielleicht ahnte sie es? Das war nur eine Vermutung. Aber in welchem Körper sollte sie sein, wenn nicht in meinem? Warum wich sie mir dann aus? Vielleicht erklärte sich alles, wenn wir morgen früh aufbrachen, um den unterbrochenen Weg zu Vitus Reich fortzusetzen. Noch stand nicht fest, wer mitkommen würde. Karuam auf jeden Fall, und ich; mein Körper sicherlich … Plötzlich kam mir das weiße Mädchen in den Sinn, das mich zu Thamai geführt hatte. Wo war sie? Sie war nicht aus dem See gekommen. Hatte ihr Vitu kein neues Leben gewährt? Und wer war sie? Vielleicht gar kein Mensch. Vielleicht irgendein Wesen dieser Welt. Ich hatte noch so wenig von Danilas Welt gesehen. * Es wurde eine unruhige, fast schlaflose Nacht, und ich dankte den Göttern, als endlich der Morgen anbrach. Wir machten uns bereits früh auf den Weg. Karuam, ich in Thamais Körper, mein Körper. Da sonst niemand mitkam, zog ich den hoffnungsvollen Schluß, daß nur Thamai in meinem Körper sein könne, und daß sie wohl Gründe habe, das Geheimnis zu hüten. Das verbesserte meine Laune einigermaßen. Aber es fiel mir verdammt schwer, mich daran zu gewöhnen, daß ich nun ein Weib war. Das begann schon bei den einfachen Dingen. Wenn der Priester mich als Thamai anredete, oder wenn manchmal Ubali, ich meine damit meinen Körper, mich begehrlich musterte. Das löste einige Gefühle in mir aus, die mir bis dahin fremd waren. Ich benahm mich wohl auch nicht sehr mädchenhaft, denn meine beiden
Begleiter beobachteten mich oft von der Seite, wenn sie glaubten, ich sähe es nicht. Aber ich lebte. Und ich genoß eine einzigartige Erfahrung. Nein, ich grollte Vitu nicht. Ich fragte mich, ob Karuam etwas von dem Körpertausch ahnte. Wenn ja, verbarg er seine Neugier gut. Er zog mich während langer Stunden in Gespräche über den Lebensgeist und meine (Thamais) Erfahrungen als Priesterin. Es war gut, daß ich von Thamai viel erfahren hatte. Ich konnte ihm also viel berichten, erzählte ihm auch vom Kampf des Stammes der Vitu-thaimoa gegen die Luftpiraten, und welche Rolle Ubali dabei gespielt hatte. Er lauschte interessiert, suchte schließlich Vergleiche mit den Geschehnissen in Teguar und fragte sich, warum Vitu ihm und seinem Volk diese Jahrhunderte der Prüfung auferlegt hatte – eine Frage, auf die ich ihm auch keinen Hinweis geben konnte. Ich fragte mich meinerseits, warum er sich nicht schon ein paar Jahrhunderte früher auf die Suche nach seinem Gott gemacht hatte, wenn er den Weg kannte, wie er sagte! Aber nach und nach fügte ich mich darein, daß ich für die anderen nur Thamai war, und ich gewöhnte mich auch daran, meinen, früheren Körper mit Ubali anzureden. Aber ich war sehr auf Abstand bedacht. Ich liebte Thamai, und ich betrachtete ihren Körper als eine Leihgabe. Ich war nicht sicher, ob sie es mir verzeihen würde, wenn ich mich in ihm hingab. Der Gedanke, mit meinem eigenen Körper zusammenzusein, entbehrte jedoch eines gewissen Reizes nicht. Möglicherweise gehörte das jedoch nicht zu den Dingen, die Vitu mich auf diesem Wege lehren wollte. Mit jeder Stunde wurde ich sicherer und unbefangener. Ich begann mein neues Leben zu genießen. Ich hatte meine Heimat Shi but verlassen, um frei zu sein von Pflicht, von Verantwortung, von allem was den Horizont eines Mannes einengte. Ich hatte gelernt, daß alles seinen Preis hatte, daß die wirkliche Freiheit nur Einsamkeit war. Und weil ich die Einsamkeit floh, war ich Legionär gewesen in König Mabuts Armee, hatte zur See gefochten, war als
Sklave mit Odaliks Stamm gezogen und war an der Seite eines Königs geritten. Und nun hatte ich es zu einer Priesterin gebracht. Ich hatte manchen Seebären sein Garn spinnen hören – und belächelt. Ich hatte manchen fahrenden Sänger von Wundern berichten hören, die mich atemlos lauschen ließen. Aber was war das alles gegen meine Wirklichkeit! * Unser Weg führte uns in westliche Richtung. Am ersten Tag kamen wir rasch voran. Der Dschungel war nicht sehr dicht. Wir folgten dem Tal, durch das sich nun ebenfalls die abfließenden Wasser des Sees einen Weg suchten. Am Vorabend mußten die Fluten stark gewesen sein, denn wir hatten leichten Weg durch das Gebiet, wo sich das Wasser durch das Unterholz freie Bahn geschaffen hatte. Ein kleines Rinnsal war alles, was uns nun mit leisem Plätschern begleitete. »Ob es seine magische Wirkung wohl noch hat?« fragte Ubali, oder besser, sein Körper. »Schon möglich«, erwiderte Karuam. »Wenn Vitu in dem Wasser ist.« »Vitu?« erwiderte Ubali, und es klang mir fast ein wenig leidenschaftlich. »In dieser kärglichen Lache?« »Ohne Vitu wäre es nur Wasser«, erklärte der Priester. »Wir wollen sehen, ob es nur Wasser ist«, meinte Ubali. Bevor wir ihn daran hindern konnten, zog er seinen Dolch und schnitt in seinen Arm. Mir lag ein Fluch auf der Zunge, aber der hätte sich nur schwerlich für Thamai geziemt. So knirschte ich nur mit den Zähnen. Ich war wütend! Es war, als spürte ich den Schmerz! Als schnitte er in mein Fleisch (was er eigentlich auch tat!). Ich dachte, wenn es Thamai war, was wollte sie damit beweisen? Daß sie aus Fleisch und Blut war? Ich kam mir selbst manchmal
gespenstisch vor, daß ich mich heimlich kniff, um den Schmerz und mit ihm die Wirklichkeit zu fühlen. Denn es gab Augenblicke, da fühlte ich mich nur als Beobachter in dem Körper – so als wären die Augen Fenster, und ich sähe hinaus, ohne der zu sein, der die Schritte lenkte. »Das ist Frevel, Ubali«, sagte der Priester, und es währte einen Augenblick, bevor mir klar wurde, daß er nicht mich meinte. Ubali kümmerte sich nicht um ihn. Er kletterte zum Wasser hinab und tauchte den Arm hinein. Dann kam er wieder hoch, ein wenig blaß, wie mir schien, obwohl man das bei der dunklen Haut schwer erkennen konnte. Er hielt den Arm hoch. »Der Zauber ist da. Es heilt!« Der Priester nickte. »Vitu begleitet uns«, sagte er. Am Nachmittag begann ich eine unvermutete Müdigkeit zu fühlen, obwohl ich den Eindruck hatte, daß der Marsch nicht sehr anstrengend gewesen war. Aber mir wurde bald klar, daß Thamais Körper längst nicht so kraftvoll war wie meiner. Ich beschloß, das im Gedächtnis zu behalten, damit ich nicht in einem entscheidenden Augenblick meine Kräfte überschätzte. Wir lagerten zur Nacht auf einer Lichtung auf halber Höhe zwischen Talgrund und Kamm. Wir waren wenig Tieren begegnet, aber das Wasser mochte sie anlocken, deshalb beschlossen wir, abwechselnd zu wachen und das Feuer die ganze Nacht zu unterhalten. Wir aßen von unseren Vorräten. Ubali riet uns, sparsam damit umzugehen. Er meinte auch, wir sollten am Morgen jagen, bevor wir unseren Weg fortsetzten. Auf unsere Fragen, antwortete er nur ausweichend. Er schien etwas zu wissen, aber dieses Wissen aus irgendeinem Grund nicht mit uns teilen zu wollen. Das sah gar nicht nach Thamai aus. Das ganze Gebaren an diesem Tag hatte nicht nach Thamai ausgesehen. Ein Gefühl warnte mich vor diesem Ubali. Wenigstens meine Instinkte hatte ich mit herübergerettet. Oder die des Mädchens waren ebenso scharf. Ich begann ihn nicht mehr aus den Augen zu lassen. Es war
lebenswichtig, daß ich herausfand, wer er war. Nicht minder wichtig war mir aber, zu erfahren, wo sich Thamai befand. Ob ich mich dem Priester anvertrauen sollte? Ein Wagnis. Aber er würde es vielleicht verstehen, und er wäre ein guter Verbündeter. Aber es war dennoch ein Wagnis. Denn er mußte meinem Wort glauben. Es gab nichts, womit ich ihm die Wahrheit beweisen konnte. Wenn der andere das Gegenteil behauptete, stand Aussage gegen Aussage. Und seine war weniger glaubhaft, denn er hatte ja den richtigen Körper. Nein, ich konnte vorerst nichts tun, als abzuwarten. Der andere mußte sich verraten. Ich hatte die erste Wache, und das gab mir Zeit zum Grübeln. Die Frage, auf die ich immer wieder zurückkam, schien keine vernünftige Antwort zu haben. Wenn Thamai sich in einem anderen Körper befand, warum war sie dann nicht mit uns gekommen? Es gab ein paar wenig befriedigende Möglichkeiten, es zu erklären: Es gehörte zu Vitus Plan, daß sie sich nicht zu erkennen gab. Oder sie befand sich im Körper des Priesters. Aber das schien mir die unwahrscheinlichste Möglichkeit. Ich glaubte nicht, daß Vitu sie nicht wiedererweckt hatte. Selbst den Schergen Barils hatte der Lebensgeist ein neues Leben gewährt. Nur einer, der sich gegen Vitu gestellt hatte, war nicht wieder erwacht. Baril, der selbsternannte Priester der vielen Lebensgötter, der versucht hatte, selbst ein Gott zu sein. Es erinnerte mich an Ukandar, den Priester von Thamais Stamm. Auch er hatte die Gesetze Vitus mißachtet und die Kräfte des Lebensgeistes mißbraucht. Auch ihm war kein neues Leben gewährt worden. Baril war tot, daran zweifelte ich nicht. Ukandar war nur ein kleiner Schurke gewesen, Baril ein Teufel in Menschengestalt. Wieviel mehr mußte der Lebensgeist ihn verdammen. Es war sehr still während der Stunden meiner Wache. Nur ein einziges Mal hörte ich ein Tier schreien, und es klang einsam und verängstigt. Es erfüllte mich mit Schauder. Ich schrieb es Thamais Körper zu, dem die Empfindungen eines Mädchens zu tief in den
Knochen saßen, als daß er sie hätte verleugnen können. Nicht daß ich Thamai für feige oder ängstlich hielt. Nein, sie hatte oft genug bewiesen, daß sie tapfer war. Aber für eine Frau mußten Gefühle stärker sein, das Herz weniger umgeben von Muskeln und Rauhbeinigkeit und Gewalt. Wie sollte ein Mann erröten außer vor Grimm? Und doch war es mir geschehen unter den Blicken der beiden Männer. Aber das war wohl mehr meinen eigenen Gefühlen zuzuschreiben, die sich nicht zurechtfanden. Die Scham war mehr die der verlorenen Männlichkeit, denn die Blicke des Priesters waren nicht begehrlich, und jene meines einstigen Körpers wußte ich nicht zu deuten. Eines war mir klar – der andere mußte so unsicher wie ich sein. Während ich grübelte, kam mir auch etwas in den Sinn, das mir zuvor nicht aufgefallen war. Er hatte sich oft umgewandt, so als fürchte er einen Verfolger, oder erwarte jemanden. Aber wen? Mich, kam es mir in den Sinn. Mich mußte er fürchten. Denn so wie ich zuerst angenommen hatte, Thamai befände sich in meinem Körper, und sie wären nur ausgetauscht worden, so mußte auch er annehmen, daß ich ihm in seinem Körper folgen würde. Er konnte ja nicht wissen, daß ich hier in Gestalt Thamais neben ihm saß. Aber Barils Körper war nicht aus dem See gekommen. Ich war der erste gewesen, der das Ufer erreicht hatte. Ich hätte ihn sehen müssen. Jedem wäre er aufgefallen. Viele wären wohl erpicht darauf gewesen, ihm etwas von dem heimzuzahlen, was er ihnen angetan hatte, und wenn nur mit den Fäusten … Wenn Thamai nun die erste gewesen war, lang genug vor mir, daß sie im Wald verschwunden war, als ich kam. Es wäre möglich. Auch sie mochte sich überlegt haben, daß es unmöglich sein würde, zu beweisen, daß sie Thamai war, und nicht Baril – in Barils Gestalt. Der logische Weg wäre gewesen, zu fliehen … O Thamai …! Sie saß vielleicht irgendwo da draußen allein in dieser Dunkelheit
und quälte sich mit ähnlichen Gedanken. Sie würde vielleicht denken, daß Baril in ihrem Körper sei. Auch kein angenehmer Gedanke. Ich wußte, wie gut sie mit ihrem Blasrohr umgehen konnte. Aber sie würde nicht töten. Sie würde Vitus Willen akzeptieren. Sie war eine gute Dienerin ihres Gottes. Und ich? Ich hatte früh gelernt, mich niemals mit einem Schicksal abzufinden. Aber ich hatte auch Geduld gelernt. Und ich war neugierig. Zudem fühlte ich mich diesem Vitu, ob er nun ein Gott war oder ein Dämon, verpflichtet. Er hatte mir neues Leben gegeben – nicht nur einmal. Und waren wir nicht ohnehin den Launen der Götter ein williger Stoff, den sie formen konnten, ob es uns gefiel oder nicht? Hier war ein Gott, der etwas Kostbares gab! Er sollte mehr haben als nur einen Altar. Er schien einen starken Arm zu brauchen, und ich war ihm dieser Arm. Wenn ich auch noch nicht verstand, wohin mich das alles führen würde – und wenn mein Arm auch im Augenblick nicht so stark war, wie ich ihn gern gehabt hätte! * Ubali, der andere, drängte am Morgen zur Jagd. Karuam hielt ihm entgegen, daß die Vorräte noch gut zwei Tage reichen würden, und daß jagbares Wild uns wohl früher oder später auf unserem Weg begegnen würde, ohne daß wir einen ausgedehnten Jagdzug zu machen brauchten. Aber Ubali ließ sich nicht beirren. Ich erinnerte mich an die Stille während der Wachzeit. Es schien hier kaum Tiere zu geben. Und er wußte wohl warum. Er kannte sich hier aus. Er war vielleicht einer von Barils Schergen – einer von denen, die sich ihm freiwillig verschworen hatten. »Warst du schon einmal hier, Ubali?« fragte ich unbefangen. »Du scheinst etwas über dieses Gebiet zu wissen. Warum sagst du es uns
nicht?« Er sah mich zögernd an. Einen Augenblick schwankte er, aber dann hatte er nicht eine so offene Falle erwartet. Er hielt mich für Thamai, ohne Zweifel. Und er schien nicht zu wissen, daß Ubali aus einer anderen Welt stammt, und noch nie zuvor hier war. Er biß an. »Ich, ich weiß etwas. Ich bin mir ganz sicher. Habt ihr es noch nicht bemerkt? Seit wir aufbrachen, ist es stärker geworden …« »Was?« fragte ich und bemühte mich, mir meine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Er hatte doch nicht angebissen. »Riecht ihr es nicht? Der Duft von wilden Pflanzen.« Es waren tausend Gerüche im Dschungel, ein Gemisch, betäubend genug. Aber nun, da er es sagte …- Deshalb also gab es kaum Tiere hier. »Es sind vielleicht die Vorboten eines wilden Dschungels«, fuhr er fort. »Das würde bedeuten, daß wir in weitem Umkreis kein Wild finden werden, wenn wir näher herankommen, denn die wilden Blumen benutzen Bewegliche, um sich fortzupflanzen. Sie füllen sie mit ihrem Samen und dem Verlangen, irgendwo eine fruchtbare Erde zu finden, wo ihnen Wurzeln wachsen und Blätter.« Ich nickte. Der Priester sagte: »Ich weiß, Ubali. Wir haben ein totes Land vor uns, aber es ist noch weit. Ich habe es im Traum gesehen. Wir müssen nach Süden bis zum Meer. Dort werden wir ein Floß bauen und das wilde Land umfahren …« »Du stellst dir das einfach vor, Karuam«, erwiderte er. »Jeder Schritt bedeutet jetzt Gefahr. Jeder Busch mag sich vor uns auf tun und uns mit seinen Ästen umschlingen. Dann kommt jede Hilfe zu spät. Wir sind hier nicht mehr die Jäger, sondern das Wild. Wir sollten umkehren, so lange uns noch Zeit dazu bleibt. Siehst du das nicht ein, Karuam? Und du, Thamai?« »Wir sind nicht ganz so hilflos, Ubali«, entgegnete ich. »Da ist immer noch das Blut, das uns zu retten vermag, oder hast du das vergessen?« Ruckartig wandte er sich dem Priester zu. »Sein Blut, natürlich!
Wie konnte ich es vergessen! Das magische Blut …« »Nicht nur sein Blut«, unterbrach ich ihn. »Auch unseres. Es ist seltsam, daß du dich nicht mehr erinnerst.« Ich war nun ganz sicher, daß er nicht Thamai war. Wer immer er war, er schien die Eigenarten der wilden Pflanzen gut zu kennen, aber er wußte offenbar nicht, daß Blut, wenn man es trank, die Samen abtötete, und das Opfer von den Giften freimachte. »Aber ja, ich erinnere mich doch«, erwiderte er hastig. Er schien gleichzeitig sehr nachdenklich. Er überlegte wohl, wie das mit dem Blut gemeint war. Ich hüllte mich in Schweigen. Ich wollte keinen Verdacht in ihm wecken. Ich wollte ihn nur ein wenig ins Schwitzen bringen. Der Priester tat ein übriges dazu, denn er sagte verwundert: »Ihr scheint mir auf einmal sehr ängstlich, mein Freund aus einer anderen Welt. Woran liegt das? Sicherlich nicht nur an diesen Pflanzen. Aber ich will nicht in Euch dringen. Spürt Ihr nicht, daß Vitu mit uns ist? Ich weiß, es wird sich alles zum Besten wenden.« Aber das schien den anderen gar nicht zu beruhigen.
2. Wir jagten mit wenig Erfolg. Der Wald war wie ausgestorben. Ubali drängte uns immer wieder zum Umkehren. Aber Karuam und ich ließen uns nicht beirren. Wir jagten schließlich einen Bären, aber als wir uns an das Zerlegen des Fleisches machten, erlebten wir eine unerfreuliche Überraschung. Es war grünlich unter dem Fell, das Blut eine blasse Flüssigkeit, die weniger an Blut als an Pflanzensäfte erinnerte. Wie mich damals, mußte auch ihn eine dieser großen Blumen mit ihren Samenpfeilen beschossen haben. Auch er war wohl auf dem Weg zu einem schönen Stück Erde gewesen, in das er seine Wurzeln graben konnte – getrieben vom Traum einer Blume. Es war schwer festzustellen, wie lange er bereits unterwegs war. Vielleicht Stunden, vielleicht einen Tag. Er war in östlicher Richtung unterwegs gewesen. Wenn wir weiter nach Westen zogen, mußten wir mit ziemlicher Sicherheit in das Gebiet der wilden Pflanzen gelangen. Deshalb stimmte ich dem Priester zu, der vorschlug, den Weg nach Süden fortzusetzen. Das taten wir dann auch trotz Ubalis Proteste. Daß ich mich so auf die Seite des Priesters schlug, verwunderte diesen. Immer häufiger bedachte er uns mit verwunderten Blicken. Wir hatten nur noch sehr wenig mit dem Paar gemeinsam, das nach Teguar gekommen war. Wir kamen rasch voran. Ich hatte manchmal das Gefühl, daß wir beobachtet wurden und fragte mich, ob es von verborgenen wilden Pflanzen herrühren mochte. Der Dschungel war nicht ungewöhnlich, nur seltsam leer, wenn man von den Insekten absah. Es gab auch kleinere Vögel, aber sie wirkten stumm und eingeschüchtert. Wir erreichten einen schmalen, reißenden Strom. Mit leisem Grauen starrten wir in die klaren Fluten, in denen sich Scharen von prächtigen Fischen kraftvoll und nicht immer erfolgreich bemühten, gegen die Strömung zu schwimmen. Sie waren grün und
aufgeschwollen. Deutlich genug war zu erkennen, welche Kraft sie gegen die Strömung trieb. Vor unseren Augen schnellte einer der Fische aus dem Wasser. Er zappelte ein paarmal und schnappte nach Luft. Dabei scharrte er sich regelrecht in die Erde, und noch während das geschah, spreizten sich seine Flossen zu Wurzeln, die gierig nach dem Boden griffen und sich festwanden. Augenblicke später hatte der Fisch nichts mehr mit einem Fisch gemeinsam. Allein das Maul und die Augen erinnerten noch daran. »Sie dringen immer weiter vor«, murmelte Ubali. »Seit Jahren.« »Woher weißt du das?« fragte ich sarkastisch. Nun hatte er sich verraten! Karuam sah ihn erstaunt an. Ein Mann, der aus einer anderen Welt kam, konnte nicht gut wissen, was seit Jahren auf dieser geschah. »Oder warst du schon einmal hier, bevor du zum Stamm der Thaimoa kamst?« fuhr ich fort. Der Priester verstand natürlich nicht, was das alles zu bedeuten hatte, aber er würde es später verstehen, wenn ich mich ihm anvertraute. Vielleicht schon heute nacht, nun da alles glaubwürdiger klingen würde. Gemeinsam würden wir herausfinden, wer in Ubalis Körper steckte. »Ja«, erwiderte Ubali gedehnt und musterte mich durchdringend. Dämmerte ihm, daß ich über ihn Bescheid wußte? Es war ihm anzumerken, daß er den Fehler verfluchte. Aber nun, da es schon einmal geschehen war, schien es seine Zunge sichtlich zu lösen. »Zwei Tagesmärsche im Südwesten ist ein Dorf. Ein kleiner Stamm lebt dort. Und da er von der Jagd lebt, spürt er als erster Veränderungen wie diese.« Dabei deutete er auf die Fischpflanze. »Ihr Priester sagte mir, in den letzten fünf Dutzend Jahren sei der Stamm immer auf Wanderschaft gewesen, weil das Wild nach Osten abwanderte und die Zahl der wilden Pflanzen immer größer wurde. Sie morden alles und vermehren sich wie die Pest. Man müßte sie vernichten. Die Wälder in Brand stecken. Niemand weiß, was sie soweit in den Osten treibt …« »Ich habe lange gelebt«, warf der Priester ein, »viele Generationen. Ich habe viele Veränderungen miterlebt. Wir waren einst ein reiches
Volk. Es gab Eisen, Gold und Silber, das wir aus der Erde gruben. Wir trieben Handel damit. Was uns vertrieb, waren die Piraten, die immer tiefer ins Landesinnere kamen. Sie nahmen uns unsere Gruben. Wir kämpften, aber der Krieg war nicht unser Handwerk – damals nicht. Mit ihren Gefangenen beuteten sie die Gruben aus und schafften die Erze mit ihren Schiffen fort. Die Gruben müssen längst leer sein. Es ist etwas Wahres an den alten Legenden. Es heißt, daß Eisen vor Dämonen schützt und daß es der Träger des Gleichgewichtes ist. Es heißt, daß es Orte gibt, wo das Wasser aufwärts fließt und das Feuer kalt brennt, wo niemand atmen kann, weil keine Luft zum Atmen da ist, und wo alles Leben grausig anzusehen ist.« »Das mag sein, Priester«, erwiderte Ubali. »Aber nur weil dort kein Eisen zu finden ist? Nein, an Eisen ist nichts Magisches. Es vermag nichts Großes – außer zu töten, in Form des Schwertes, eines Dolches oder einer Pfeilspitze …« Der Priester zuckte die Schultern. »Ich sprach nur von den alten Legenden. Fest steht, so lange wir hier in Frieden lebten, gab es keine wilden Pflanzen. Aber nun ist diese Erde frei für sie.« »Ja, sie werden über alles wuchern, wenn wir sie nicht aufhalten«, stieß Ubali hervor. »Wir werden ihre Sklaven sein, wenn wir sie nicht zu unseren machen!« »Sie sind auch Vitus Geschöpfe«, sagte der Priester. »Wir sind alle Vitus Geschöpfe«, wandte ich ein. »Und wir bekriegen einander. Oft gilt es zu töten, um zu überleben …« »Überleben?« meinte Ubali verächtlich. »Überleben genügt nicht. Man muß herrschen, oder man wird beherrscht. Und jedes Mittel ist recht, jeder Tod, der Nutzen und Erkenntnis bringt, zu recht gegeben!« »Und das Leben?« fuhr der Priester auf. »Willst du es nur benutzen?« »Ganz recht, Ich will es nur benutzen.« Der Priester schüttelte den Kopf. »So verstehe ich nicht, warum Vitu dir neue Leben gewährt, wenn du sie so mißachtest. Vielleicht
aber gerade deshalb – daß du lernst, das Leben zu achten.« »Achten?« Ubali lachte. »Das Leben ist nichts. Ein Spiel für Götter. Aber die Sterblichen wissen nicht mehr damit zu tun, als es zu leben.« Der Priester starrte ihn an. Auch mir blieb die Sprache weg. Welcher Größenwahnsinnige hatte sich in meinem Körper eingenistet? Mochten die Götter wissen, was er vor hatte! Und es gefiel mir gar nicht, daß er meinen Körper dazu benutzen würde. * Er verspottete die Menschen, weil sie aus ihren Ängsten heraus dazu neigten, ihr Leben zu einem Tempel für Götter zu machen, die sie selbst schufen. Er schien überhaupt nicht an Götter zu glauben. Auch nicht an Vitu. Ich fragte mich, wie er wohl über sein Leben dachte, sein augenblickliches in meinem Körper! Vielleicht hielt er es für natürlich, wiedergeboren zu werden – keine Gunst eines Gottes, sondern etwas, das einfach geschah, mit tausend anderen kleinen Wundern. Zauberei? Er dankte keinen Göttern. Es war geschehen, und er würde das neue Leben benutzen, so wie er sein altes genutzt haben mochte. Mir graute ein wenig vor ihm. Wie kalt mußte sein Herz sein! Karuam suchte in meinem Gesicht nach Antworten. Doch da waren keine. Es erwies sich als sehr schwierig, mit Karuam allein zu sprechen, ohne daß Ubali Verdacht geschöpft hätte. Ich mußte mich gedulden. Die ganze Zeit über beschäftigte mich das Schicksal Thamais. Es kostete mich große Geduld und großes Vertrauen in Vitu, den vorgenommenen Weg weiterzugehen und nicht alles abzubrechen und nach ihr zu suchen. Ich ließ Ubali nicht aus den Augen, und ich merkte auch, daß der Priester immer nachdenklicher wurde. Diese Nachdenklichkeit war es, die uns beinah das Leben kostete. Wir waren mit Ubali übereingekommen, daß er uns zu jenem Dorf
im Südwesten führte. Von dort aus mochten wir unsere Reise besser gerüstet antreten und vielleicht einen Weg erfahren, der um die wilden Pflanzen herumführte. Der Dschungel war während der letzten Stunde immer dichter geworden, so daß wir bald mit unseren Messern einen Weg durch das Unterholz hacken mußten. Diese vollkommene Abwesenheit von Leben trug wohl dazu bei, daß wir uns noch sorgloser voranarbeiteten. Plötzlich standen wir auf einer kleinen Lichtung, die fast ganz von einem Tümpel eingenommen wurde. Seine Oberfläche glänzte dunkel und einladend und weckte augenblicklich ein heftiges Durstgefühl. Wir gingen bis ans Ufer. Die Oberfläche kräuselte sich. Aus den Augenwinkeln bemerkte ich, während ich den Wasserbeutel vom Gürtel nahm, daß Ubali zurückwich, als hätte er etwas Grauenvolles entdeckt. Sein seltsames Benehmen erinnerte mich an ein Erlebnis, als ich auf dem Rücken der Wanderwolke Waramau über einem Dschungel weiter im Osten flog. Da sah ich einen See. Und als wir hinabsanken, um uns an seinem Wasser zu laben, öffnete sich seine Oberfläche und griff mit scharfen Zähnen und schlingenden Ästen nach uns. Der ganze See war ein einziger Rachen. Und dieser Teich in den Wäldern … Mit einem warnenden Aufschrei riß ich Karuam zurück, als er sich bücken wollte. Wir stolperten zum Rand der Lichtung, aber wir erreichten ihn nicht mehr. Mit einem seufzenden Geräusch öffnete sich der Tümpel hinter uns, und mit einem Mal war es unmöglich, einen weiteren Schritt zu tun. Kraftlos sanken wir zu Boden und starrten hilflos auf die gewaltige Blüte, die sich aus dem Teich hervorhob. Ihr mächtiger Kelch neigte sich uns zu. Wir blickten tief in das Innere, ein weißes, tiefes Mysterium, in dem der Geist sich verlor. Dunkle Stiele ragten aus der Weiße. Sie waren hohl und zeigten genau auf uns. Schaudernd erkannte ich, welches Schicksal uns bevorstand – eines, das ich bereits einmal erlebt hatte.
Ich vermochte den Blick nicht abzuwenden. Der Kelch erzitterte. Die rohrähnlichen Öffnungen spien Samengeschosse aus. Sie schwirrten auf uns zu wie große, schillernde Fliegen. Aber bevor sie uns erreichten, sprang plötzlich eine Gestalt dazwischen und fing die schwirrenden Samen mit ihrem Körper auf. Einen Augenblick war sie umhüllt von einem schillernden Nebel. Dumpf hörten wir sie schreien. Wir sahen, wie sie sich krümmte und wild um sich schlug, dann verschwand der Nebel. Ihr Körper glänzte grünlich. Sie sank zu Boden und lag still. Der Blütenkelch senkte sich auf den Boden zurück. Die Blätter schlossen sich darüber, fächerten einen Augenblick wie unter einem Windstoß. Dann war die Oberfläche wieder glatt und spiegelnd. Unglaublich echt lag wieder der Tümpel vor uns. Ich richtete mich auf. Überrascht bemerkte ich, daß der Bann von uns genommen war. Wir konnten uns wieder bewegen. Bleich starrten wir auf die reglose Gestalt nahe am Ufer. »Wir müssen ihm helfen«, drängte Karuam. »Er hat versucht, uns zu retten.« »Es ist gefährlich, so nah an den Rand zu gehen«, warnte Ubali. »Wenn sie ihren Samen verspritzt haben, sind sie hungrig. Sie ernähren sich von Fleisch.« Er schien eine Menge zu wissen. »Ihm geschieht auch nichts«, meinte der Priester und deutete auf die reglose Gestalt. »Und das hat seinen Grund«, erklärte Ubali. »Er ist jetzt wie die Fische, die wir gesehen haben. Er wird laufen, so weit ihn die Beine tragen, und dann wird er sich in die Erde graben …« »Er wird eine Blume?« rief der Priester entsetzt. »Er ist bereits kein Mensch mehr«, stimmte Ubali zu. »Er ist noch lange genug Mensch, daß wir ihm helfen können, wenn wir uns beeilen«, erklärte ich bestimmt. »Wie weit ist es noch bis zum Dorf?« »Mehr als einen Tag«, antwortete Ubali unsicher. »Das wird reichen. Wir nehmen ihn mit.«
Ich eilte hinter dem Priester her, ohne mich weiter um Ubali zu kümmern. Karuam drehte die Gestalt herum und stieß einen überraschten Ruf aus. »Baril!« Ungläubig starrte ich auf das verhaßte Gesicht. Ja, es war das des Priesters der vielen Götter! Ich hatte nicht erwartet, daß Vitu ihm ein neues Leben gewähren würde. Aber hier lag er, und was noch erstaunlicher war, es sah aus, als hätte er sich für uns geopfert! Ich sah, wie Karuam die Fäuste ballte. Mühsam formte er die Worte: »Ihn willst du auch mitnehmen?« Ich verstand, was er fühlte. Ich spürte den Haß selbst, wenn ich daran dachte, was er Thamai angetan hatte. Wie der Priester, zögerte auch ich. Es fiel ungeheuer schwer, diesem Teufel zu helfen. Vielleicht war es das Schicksal, das der Lebensgeist für ihn ausersehen hatte, dachte ich grimmig. Es war ein verlockender Gedanke. Ubali sah unsere Bestürzung und kam vorsichtig heran, wobei er mißtrauische Blicke auf den Tümpel warf. Doch das Wasser bewegte sich nicht. Dann erkannte auch er, wer vor uns lag. Mehr als überrascht beugte er sich hinab. »Baril!« rief er und rüttelte den Leblosen. In diesem Augenblick wurde der Tümpel lebendig, als hätte er nur darauf gewartet, uns alle zusammen in seiner Reichweite zu haben. Die Oberfläche öffnete sich. Scharfe Blätter schlugen nach uns wie Klingen. Sie trafen Ubali am Bein. Blut schoß hervor. Mit einem Aufschrei stürzte er außer Reichweite und zerrte Baril mit sich. Karuam war weniger glücklich. Zwar verfehlten ihn die Blätter, doch war er plötzlich von dünnen Stielen umschlungen, die ihn trotz seiner verzweifelten Gegenwehr ins Innere des Dickichts zu zerren drohten. Ich riß mein Messer aus dem Gürtel und sprang ihm zu Hilfe. Zwei oder drei Schlingarme gelang es mir abzuschneiden, bevor ich selbst in ihre Fänge geriet. Ich konnte mich nicht mehr um den Priester kümmern. Ich hatte alle Hände voll zu tun, mich meiner
eigenen Haut zu wehren. Wir rangen verzweifelt. Ich sah, daß Karuam freikam und zurücktaumelte. Noch während er um das Gleichgewicht kämpfte, griffen weitere Arme nach seinen Füßen. Etwas schnürte sich um meinen Hals und schlang sich würgend herum. Mir wurde schwarz vor den Augen. Wütend warf ich mich herum und versuchte mit heftigen Rucken loszukommen, aber die dünnen Äste schnitten tief in mein Fleisch. Ich hatte auch nicht genügend Kraft. Ich war in Thamais Körper. Das war nun eine schmerzliche Erfahrung. »Ubali!« rief ich verzweifelt. Aber der andere rührte sich nicht. Er stand da und sah zu, wie die Pflanzen uns langsam, Schritt für Schritt, in das dichte Gewirr ihrer inneren Äste hineinzerrten. Karuam schrie auf, als die Blätter mit ihren Spitzen nach ihm hackten. »Ubali!« brüllte ich erneut. Es war kein Hohn oder Spott in seinen Augen. Er beobachtete unseren Untergang – fasziniert. Ich verlor den Boden unter den Füßen. Ich fiel, und während ich fiel, lockerten sich die Schlingen. Ich wälzte mich herum wie eine Rasende. Und ich war plötzlich frei! Mit dem Dolch um mich hackend, sprang ich zwischen den erbost hochschnellenden Stielen durch. Zwei weitere knickten unter den Hieben meiner Klinge, dann stand ich keuchend außerhalb der Reichweite. Unwillkürlich schrie ich auf. Karuam war unter den grünen Ästen kaum zu sehen. Aber er wehrte sich noch. Und ich empfand bei diesem Anblick seine Furcht vor diesem grauenvollen Tod fast körperlich mit. Ohne zu denken, stürzte ich vor und säbelte mit meinem Dolch in das Gewirr der Äste. Ich bekam Karuams Beine zu fassen und riß daran mit aller Kraft. Aber es half nichts. Eher hätte ich ihn
entzweireißen können. Auch begann ich wieder in die Schlingen zu geraten. »Ubali!« rief ich wieder. »Hilf mir doch. Willst du ihn sterben lassen …?« Ich starrte ihn an. »Er bedeutet mir nichts«, erwiderte Ubali. »Aber du …« Er kam auf mich zu. »Du bist die rechte Begleitung für den langen Weg, den ich vor mir habe – für die langen Nächte.« Er versuchte, mich von Karuam loszureißen. »Du verfluchter Narr!« entfuhr es mir. »Denk an sein Blut! Sein kostbares Blut!« Er schien bei diesen Worten zu erschrecken. Er gab keine Antwort, aber er zog sein Schwert und hieb auf die Schlingpflanzen ein. Ich zerrte erneut an Karuams Beinen, und diesmal kam ich frei, während Ubali wie ein schwarzer Teufel zwischen den wütend peitschenden Stielen herumtanzte und das Schwert singen ließ. In diesen Augenblicken bewunderte ich meinen Körper, die Geschmeidigkeit, mit der er sich bewegte; obwohl seine Bewegungen nicht immer sehr zielbewußt waren. Wer immer ihm innewohnte, er war kein echter Krieger. Einmal erhielt er einen Hieb wie mit einer gewaltigen Peitsche, der mich zusammenzucken ließ und ihn schreiend auf die Erde sandte. Rasch sprang ich hinzu, faßte ihn an den Haaren und zerrte ihn hoch. Wir erreichten den Rand der Lichtung. Die Blätter und Stiele waren zu kurz, um uns noch zu erreichen, aber es blieb keine Zeit zum Ausruhen. Der Blättertümpel öffnete sich in der Mitte. Die Blüte begann sich hochzurecken. »Rasch!« brüllte ich. »Sie will uns wieder in ihren Bann bekommen.« Wir stolperten zwischen den Büschen und Bäumen hindurch und schleiften den noch immer leblosen Baril mit uns. Hinter uns begann ein Brechen und Knirschen und Knacken, als ob eine Herde von Einhörnern hinter uns her gewesen wäre.
»Verfolgt sie uns?« keuchte Karuam matt. »Nein«, erwiderte Ubali. »Aber sie wütet. Sie wird alles in ihrer Umgebung kurz und klein hacken. Gelegentlich gehen sie dabei auch selbst ein. Aber sie hat ja für ihre Nachkommenschaft gesorgt.« Er deutete auf Barils Gestalt. »Wir werden ihr einen Strich durch die Rechnung machen«, erklärte ich. »Wir rasten hier. Der Priester blutet an den Füßen. Nützen wir die Gelegenheit, so lange es noch frisch fließt, um damit unsere Wunden zu pflegen. Einverstanden, Karuam?« »Ja, natürlich.« Er ließ sich zurücksinken. »Kannst du auch Baril helfen …?« »Jetzt noch nicht«, erwiderte ich finster. »Es ist Vitus Wille, daß er lebt …« »Woher willst du das wissen?« knurrte ich. Er schrie spitz auf. Entsetzt sah ich, wie Ubali sich mit dem Messer an den Wunden des Priesters zu schaffen machte. »Was tust du da?« fuhr ich ihn an. »Seine Wunden schließen sich bereits. Ich brauche mehr Blut.« Sein Messer ruckte tief in den blutverkrusteten Unterschenkel des Priesters. Karuam schrie erneut. Ich stürzte mich auf Ubali. »So lange ich hier bin, wirst du nicht …« Er fing mich auf. »Was werde ich nicht …? Aaahh, du Wildkatze!« Ich hatte ihm die Knie in den Magen gerammt, daß er nach hinten kippte und nach Luft japste. Aber ich wußte, wenn er wieder aufstand, würde es Schwierigkeiten geben. Gegen seine Kräfte würde ich nicht ankommen – außer ich stieß ihm überraschend die Klinge ins Herz. Nicht daß ich seinen Tod bedauert hätte, denn es hatte sich deutlich gezeigt, daß er ein gefühlloser Teufel war, dem nur das eigene Leben galt, und der dem Tod gern bei der Arbeit zusah, aber es widerstrebte mir, meinen ureigensten Körper zu verletzen. Es wäre mir, als hätte ich sie mir in den eigenen Leib gestoßen. Er kam wütend auf die Beine. »Laß ihn, Thamai«, krächzte Karuam. »Er braucht mein Blut …«
»So mag er warten, bis du seine Wunden damit versorgst. Er wird nicht verbluten bis dahin. So schwer ist er nicht verletzt«, entgegnete ich heftig. »Er hat nur Angst«, sagte der Priester schwach. »Das sehe ich«, erwiderte ich bissig. »Angst?« fauchte Ubali. »Ich werde euch zeigen, wer Angst …!« Barils Stöhnen unterbrach ihn. Er fuhr herum und wandte sich dem Stöhnenden zu, kniete neben ihm nieder und versuchte ihn zu wecken. Wir beobachteten es verblüfft. Irgend etwas verband ihn mit Baril. Vielleicht war er sein enger Vertrauter gewesen. Baril kam zu sich. Er schlug die Augen auf. Sein Blick fiel auf Ubali. Er hob mühsam die Arme und schlang sie um seinen Hals. »Ubali«, krächzte er mit einer Zärtlichkeit, die mir den Magen umdrehte. Während Ubali sich erschrocken freimachte, und Karuam verständnislos von einem zum anderen starrte, wurde mir klar, daß wir nicht Baril vor uns hatten, sondern daß auch in seinem Körper jemand anderer steckte. Wenn es nicht so ernst gewesen wäre, hätte ich gelacht. So erfüllte mich der Augenblick nur mit Grimm. Welche Schlüsse Ubali zog, war seiner Miene nicht zu entnehmen. Er sprang auf und blickte wütend auf die Gestalt zu seinen Füßen. Er setzte zum Sprechen an, ballte aber schließlich nur stumm die Fäuste. Barils Gesicht zeigte Erschrecken, das sich noch vertiefte, als es sich uns zuwandte und mich erblickte. Er schien sich zu besinnen, blickte hastig an sich herab, dann verzweifelt von Ubali zu mir und wieder zurück. In diesem Augenblick des Erschreckens sah ich einen Funken in den Augen, ein Stück Seele, das mir so vertraut war. Ich wußte, wer sich in Barils Körper befand. Nur mühsam vermochte ich einen verräterischen Aufschrei zu unterdrücken. Für mich bestand kein Zweifel mehr. Ich hatte Thamai vor mir! Und
Ubali? Wer war er? Die logische Folgerung war Baril. Das erklärte auch seine Besorgtheit um seinen einstigen Körper. Sein ganzes Verhalten sprach dafür. Er stand noch immer wütend vor Barils Körper. Ich verstand seine Wut. Sie wurde aus der Verbundenheit mit dem alten Körper geboren. Auch mich hatte es mit großem Unbehagen erfüllt, meinen Körper von einem Fremden bewohnt zu finden. Das verspürte nun auch er. Sicher hatte er auch erkannt, daß eine Frau seinen Körper besaß. Die Frage war: Hatte er die richtigen Schlüsse gezogen? Wußte er, daß es Thamai war? Ihre zärtliche Umarmung mußte es ihm verraten haben, wenn er nicht blind war. Für Karuam, der er selbst geblieben war und nichts vom Tausch der Körper wußte, war die Verwirrung am größten. Aber keiner von uns war vorerst bereit, den Vorhang zu lüften. Während Karuam Ubali-Barils Wunden mit seinem Blut behandelte, ließ ich mich neben Baril-Thamai nieder. Er sah mich prüfend an. »Wie fühlst du dich?« fragte ich. Er nickte langsam. »Merkwürdig … schwer. Mein Körper ist so voll, als wäre ich schwanger …« Er brach hastig ab bei diesen Worten. Es war nicht das, was ein Mann sagen würde. Ich grinste, unterdrückte es aber rasch. »Sonst nicht? Keinen Drang, einen Flecken Erde zu suchen …?« Er zögerte. »Nein … aber ich hatte einen Traum … Ich würde irgendwo wachsen … irgendwo …« Ich nichte. »Wir haben noch Zeit. Wenn Ubali recht hat, werden wir am Morgen ein Dorf erreichen. Mit einigem Glück werden wir etwas Jagdbares finden. Wenn du Blut getrunken hast, wirst du frei sein.« Er sah mich groß an. »Dann bist du …?« Rasch preßte ich ihm die Hand auf den Mund und schüttelte warnend den Kopf. Ich ließ ihn los und warf einen hastigen Blick zu
Karuam und Ubali-Baril. Sie waren mit den Wunden beschäftigt. Ich nickte. »Ich bin Ubali«, flüsterte ich. Baril-Thamai griff aufatmend nach meiner Hand. Ich entzog sie ihr. »Wir wollen Baril im unklaren lassen«, flüsterte ich. »Ist er Baril?« »Ja.« »Ich bin froh, daß du …« Sie sprach nicht zu Ende, aber ich verstand sie auch so. Sie war uns allein gefolgt, und hatte nicht gewagt, sich zu zeigen, denn wir mußten sie für Baril halten. Und Baril zu sein nach all den Geschehnissen, war lebensgefährlich. Sie war froh, daß sie mich gefunden hatte, und daß ich sie erkannt hatte. Und ich erst … * Nach einer kurzen Rast zogen wir weiter nach Südosten. Baril/Thamai hielt sich in meiner Nähe, aber wir hatten kaum Gelegenheit, miteinander zu sprechen, denn auch Ubali/Baril ließ uns nicht aus den Augen. Karuam, der Priester, beobachtete uns nachdenklich. Wir kamen rasch voran. Wilden Blumen begegneten wir keinen mehr, und nach und nach wurde der Dschungel lebendiger. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit erreichten wir offene Savanne und sahen eine Antilopenherde vor uns. Alle Müdigkeit war bei diesem Anblick verflogen. Ich nahm das Blasrohr und die Pfeile und reichte sie Thamai. Ich hätte doch nichts damit getroffen. Auch wenn alles damit verraten war, wichtiger war es nun, daß wir frisches Fleisch und Blut bekamen. Thamai nahm sie, und ich hoffte, daß sie in Barils Körper ebenso gut damit umzugehen wußte. »Wir treiben sie ihm vor das Rohr«, sagte Ubali/Baril.
Er nickte. Die Aussicht auf einen Braten schob alle anderen Dinge in den Hintergrund. Wir umrundeten die Herde in weitem Boden und hatten Glück mit dem Wind. Sie witterten uns erst, als wir bereits jenseits der Herde waren und stürmten in die gewünschte Richtung. Ein Teil der Herde scherte aus, schwenkte aber wieder zurück. Sie fegten beinah über Karuam und Thamai hinweg, und es gab einen Augenblick lang ein wildes Durcheinander. Dann waren sie verschwunden. Ich bangte um Thamai, aber gleich darauf tauchten die beiden Gestalten im Steppengras auf und winkten uns zu. Als wir sie erreichten, machte Thamai sich bereits an dem toten Tier zu schaffen, schnitt ihm die Adern am Hals auf und trank das rauchende Blut in gierigen Zügen. Ubali wollte dazwischenfahren, aber ich verwehrte es ihm. »Er braucht es«, sagte ich. »Es tötet die Blume in ihm.« »Was weißt du davon, Hexe?« fuhr er mich an. »Du sprichst mit einer Priesterin Vitus, Ubali. Sie eine Hexe zu nennen, bedeutet, den Lebensgeist zu verhöhnen.« Karuam sah ihn entgeistert an. »Du hast dich verändert, mein Freund. Wenn ich nicht wüßte, daß du auch anders bist …« »Genug des Gestammels, Priester!« unterbrach ihn Ubali heftig und schob mich zur Seite. Ich fiel zu Boden und schlug schmerzhaft auf. Wütend fuhr ich hoch und riß den Dolch aus dem Gürtel. Zum zweitenmal geschah es, daß ich meine Kräfte bei weitem überschätzte. Er faßte meine Arme und drückte meine Gelenke mit solcher Gewalt zusammen, daß ich mit einem Aufschrei den Dolch fallen ließ. Vergeblich versuchte ich freizukommen. Meine Hände waren ohne Gefühl. Ich vermeinte die Knochen knirschen zu hören, während mich mein eigenes Gesicht mit einem höhnischen Grinsen anstarrte. »Laß das Mädchen los!« befahl der Priester scharf. »Was willst du damit beweisen? Deinen Mut …?« »Mädchen?« wiederholte Ubali lachend. »Sieht sie nicht niedlich
aus, die Kleine?« Er drehte mich schmerzhaft herum. »Du scheinst der einzige zu sein, der noch immer nicht weiß, daß hier eine ganze Menge nicht stimmt. Die ist so wenig Mädchen, wie ich Ubali bin …!« Karuam starrte ihn an. In seinem Blick war ein Schimmer von Begreifen. Ubali schüttelte mich, daß ich nur mit Mühe einen Schmerzensschrei unterdrücken konnte. »Sag ihm, wer du bist. Und mich interessiert es auch. Ich bin verdammt neugierig. Vorwärts!« Aber Karuam interessierte sich plötzlich mehr für ihn als für mich. Mit geballten Fäusten ging er auf ihn zu. »Wer bist …?« Eine andere Stimme unterbrach ihn – die Baril/Thamais. »Laß ihn los, Baril!« Ubali/Baril fuhr herum. Auch Karuam. Ich sah, daß Thamai ein Blasrohr an den Lippen hatte. Baril/Ubali handelte sofort. Er versuchte, mich als Deckung an sich zu reißen, aber ich wehrte mich wieder. Thamai zögerte nicht. Der Pfeil traf Ubali an der Schulter. Er gab mich frei, um ihn aus dem Fleisch zu reißen. Aber noch während der ihn in Händen hielt, begann das Gift zu wirken. Er schwankte und kippte vornüber. Karuam und ich fingen ihn. Als wir ihn auf den Rücken drehten, waren seine Augen bereits glasig und von der Leere des Todes. Karuam starrte uns entsetzt an. »Er ist tot …« »Sonst hätte er uns getötet«, erwiderte Thamai ruhig. »Sein Herz ist kalt wie das eines Fisches.« Sie kam auf mich zu und in meine tauben Arme. »Ist dir nichts geschehen, mein Liebster?« »Nein, Thamai«, erwiderte ich aufatmend. Dann mußte ich grinsen über das Gesicht des Priesters. »Wäre es nicht an der Zeit …«, begann er. Wir nickten. »Es ist Vitus Spiel«, sagte ich, »und in einem Augenblick wie diesem finde ich fast selbst Gefallen daran.« »Vitus Spiel?« wiederholte der Priester verständnislos. »Ich bin Ubali«, erklärte ich ihm. »Hier in Barils Gestalt ist Thamai.
Und er, das hast du sicher bereits erraten, ist Baril. Es ist ein Fest der Masken. Unsere Verkleidung ist vollkommen.« »Aber wozu?« fragte Karuam. »Ich zweifle nicht an euren Worten, meine Freunde. Es gab viele Augenblicke, da hätte ich euch hinter euren Masken erkennen müssen. Aber wißt ihr, warum euch das geschehen ist?« Ich zuckte die Schultern. »Ich glaube, wir sollen etwas lernen.« »Ubali soll etwas lernen, Nur Ubali«, sagte Thamai bestimmt. »Woraus schließt du das?« fragte ich erstaunt. »Ich bin ganz sicher«, erklärte sie bestimmt. »Aber wie kannst du …?« Karuam unterbrach mich. »Sie ist Vitus Priesterin, hast du das vergessen?« »Nein«, erwiderte ich zögernd. »Was weißt du, Thamai?« Sie schüttelte traurig den Kopf, und immer mehr schien es mir, daß Barils kaltes Gesicht Wärme aus ihrer Seele gewann. »Ich weiß gar nichts, Liebster. Ich glaube nur, daß der Lebensgeist große Pläne mit dir hat, und daß du noch nicht bereit dafür bist.« »Und es sieht nicht danach aus, als hätte ich dabei etwas mitzureden«, stellte ich fest – nicht ganz frei von Ärger. »Nur wenige sind die Auserwählten der Geister«, murmelte der Priester ehrfürchtig. »Du bist es auch«, entgegnete ich, »und an dir sehe ich, daß es ein Fluch sein kann …« Der Priester schüttelte den Kopf. »Nein, ich hasse die Kraft meines Blutes nicht. Sie hat viel Freude und viel Schmerz bereitet. Ich fürchte es zu verlieren. Dennoch werde ich Vitu darum bitten. Denn ich bin müde. Ich habe nicht mehr die Kraft, die dieses Vermächtnis erfordert. Verstehst du es, Ubali? Eines Tages wirst auch du meinen Weg gehen, weil du müde bist von dem kleinen Stück Ewigkeit, das du gekostet hast. Aber wie ich, wirst du keinen Augenblick bereuen. Es öffnet Herz und Geist, den Göttern zu dienen.« Seine Worte stimmten mich nachdenklich. Es mochte stimmen, was er sagte. Zudem hatte es auch Vorteile. Solange die Götter mich
brauchten, hielten sie auch ihre Hand über mich. Ich wäre längst tot ohne Vitus Geschenke. Hatte ich nicht immer dem Leben dienen wollen – allein oder an Dragons Seite? Und nun war es der Gott des Lebens selbst, dem ich dienen sollte. Mir wäre wohler gewesen, wenn ich gewußt hätte, was er von mir erwartete. * »Was soll mit ihm geschehen?« fragte Karuam unsicher und deutete auf die leblose Gestalt. »Du kannst ihn wiederbeleben, nicht wahr?« »Ja«, erwiderte er, »aber willst du das wirklich? Er ist ein Scheusal. Ein Teufel, der ein Leben nicht achtet und uns vielleicht im Schlaf erschlägt, wenn wir nicht mehr in seine Pläne passen …« »Ich weiß«, unterbrach ich ihn. »Aber ich habe zwei gute Gründe, ihn am Leben zu erhalten. Zum einen soll Vitu selbst über ihn richten. Er wäre nicht in dieses Maskenspiel verwickelt, wenn Vitu nicht Pläne mit ihm hätte. Ich töte nicht, wenn ich nicht dazu gezwungen werde …« »Das mag leicht sein«, bemerkte der Priester. »Warten wir es ab. Und zum zweiten besitzt er meinen Körper, den ich nur sehr ungern in dieser Welt zurücklassen würde. Nicht daß mir der nicht gefällt«, sagte ich und lächelte Thamai zu, »aber in meiner Unwissenheit würde ich ihn vielleicht zerstören. Zudem ist er etwas, das ich lieber … ah … von eurer Warte aus betrachten würde …« Ich errötete wieder, was den beiden nicht verborgen blieb. »Also, worauf wartet ihr?« sagte ich barsch. »Schon gut, Ubali« erwiderte der Priester lächelnd. »Ich sehe, daß es nicht leicht für dich ist. Das ist es auch für Thamai nicht. Die Wege der Götter sind nicht immer überschaubar für uns Sterbliche. Die Toten wissen vielleicht mehr. Aber sie sind stumm. Die Sprache
ist ein Werkzeug der Lebenden.« Er nickte zu sich, wie um sich von diesem Gedanken selbst zu überzeugen. »Es ist gut, daß sie nicht antworten können«, fuhr er nach einem Augenblick fort. »Wir hätten zu viele Fragen an sie. Wir würden unser Leben mit Fragen vergeuden, statt es zu leben …« »Und wir vergeuden es jetzt mit Worten«, unterbrach ich ihn. »Es wird gleich dunkel sein, und hier ist nicht der rechte Ort zum Lagern. Außerdem knurrt mir der Magen. Vorwärts, faß an, Priester.« Ich deutete nach Süden. »Wir brauchen einen besseren Lagerplatz.« Erschreckend, wie schwer mein Körper war! Wir trugen ihn eine gute Stunde mit vielen Pausen, während Thamai das erlegte Wild trug. Für die schmächtige Gestalt Barils war auch das eine große Last. Schließlich fanden wir einen von Büschen eingesäumten Platz. Er war nicht ideal, aber wenigstens das Feuer würde nicht über die halbe Prärie sichtbar sein. Einer von uns würde ohnehin wachen. Während Thamai sich um das Wild kümmerte, bauten wir eine Feuerstelle. Kurz darauf briet das Fleisch und verbreitete einen Duft, daß uns das Wasser im Mund zusammenlief. Als wir uns gestärkt hatten, kam Baril an die Reihe. Einen Augenblick hoffte ich, er hätte mit dem Tod meinen Körper verlassen müssen. Aber ich wußte, daß es eine falsche Hoffnung war. Denn ich befand mich ja noch immer in Thamais Körper. Der Gedanke, mein Körper könnte leer und verlassen irgendwo verfaulen, war beängstigend. »Wie können wir uns vor ihm schützen?« fragte Karuam, während er seinen Dolch bereit hielt. »Indem wir ihn im Augen behalten«, meinte ich. Er schüttelte den Kopf. »Das ist zu wenig. Er ist bärenstark.« »Ja. Bei allen Göttern, das weiß ich«, stimmte ich zu. »Das hier«, warf Thamai ein, »wird uns genügend schützen.« Sie hielt mir einen der Giftpfeile entgegen, den ich vorsichtig nahm und in meinen Gürtel steckte. »Der Priester braucht keinen«, fuhr sie
fort. »Wenn einer von uns in Gefahr ist, kann der andere helfen. Ein kleiner Kratzer genügt bereits für eine Lähmung der Gliedmaßen. Das Gift wirkt sehr schnell.« Der Priester nickte. Er ritzte seinen Arm auf, biß die Zähne zusammen und schnitt tief hinein. Ein Schwall von Blut spritzte heraus und ergoß sich über den Toten. Während Karuam seinen blutenden Arm über den Toten hielt, verteilte er die rote Flüssigkeit über den Körper. Als er mit den Füßen fertig war, war es im Gesicht bereits schwarz und verkrustet. Zweimal hörte seine Wunde auf zu fließen, und er mußte sie erweitern. Er war sehr blaß, als er schließlich fertig war. Und sehr erschöpft. »Es wird einige Stunden dauern, bis das neue Leben erwacht. Wir sollten die Zeit zum Schlafen nützen«, murmelte er schwach. »Tu das ruhig, Priester. Ich werde deine Wache übernehmen.« * Karuam erholte sich rasch von seiner Schwäche. Sein magisches Blut brachte nicht nur anderen Heilung, sondern auch ihm selbst. Die Menge, die verlorengegangen war, ergänzte sich in der gleichen Zeit, die Baril brauchte, um von den Toten aufzuerstehen. Kurz vor Mitternacht begannen die Veränderungen. Ich bemerkte, daß Baril sich regte. Ein Zucken ging durch seinen Körper. Ich nahm ein brennendes Holzstück aus dem Feuer und ging damit zu ihm. Im Licht bemerkte ich, daß sein Leib von etwas Schwarzem bedeckt war, das aussah wie … Ein Fell! Seine Glieder zuckten, streckten sich, verformten sich. Eine Verwandlung fand vor meinen Augen statt, und sie ging immer schneller vor sich. Sie war fast abgeschlossen, bevor ich begriff, was geschah. Mein einstiger Körper verwandelte sich in einen Panther. Während ich zusah und mich fragte, ob es ihn zu einem gefährlicheren Gegner
machte, kamen auch Karuam und Thamai, von den Geräuschen herbeigelockt. Ich sah, daß Thamai das Blasrohr bereithielt. »Ah, das wird ihn lehren, daß nicht nur Menschen, sondern auch Tiere voll Empfindung sind«, meinte der Priester befriedigt. »Glaubst du?« fragte ich. »Diese Erkenntnis wird ihn nicht ändern. Er hat sich auch um menschliche Gefühle nie gekümmert. Ihn interessiert nicht das Leben, sondern der Tod. Das Sterben. Er spielt gern mit dem Leben. Die unterirdischen Kammern in Teguar beweisen es. Seine Gedanken sind voll schrecklicher Vorstellungen, die er gern verwirklichen möchte. Mögen die Götter es verhindern, daß ihm je genügend Macht in die Hände fällt. Teguar ist ein warnendes Beispiel.« Mit einem Grollen versuchte sich Baril aufzurichten. Er war noch nicht ganz bei Sinnen, aber er wurde mit jedem Augenblick wacher. Wir wichen ein wenig zurück. Ich suchte den vergifteten Pfeil aus dem Gürtel und heilt ihn bereit. Der schwarze Panther kam auf die Beine. Er stand schwankend, die großen Augen halb geschlossen und funkelnd im Feuerschein. Er brüllte und schüttelte sein mächtiges Haupt, als ihm klarwurde, in welcher Lage er sich befand. Er hob den Schädel und starrte uns an. Er brüllte erneut und duckte sich zum Sprung. Thamai preßte das Blasrohr an die Lippen. »Diesmal gibt es kein Erwachen mehr für dich!« sagte ich drohend. Einen Augenblick lang hockte er zum Sprung bereit. Dann entspannte er sich. »Gut«, stellte ich fest. »Ich sehe, du hast deinen Verstand behalten. Vitu war sehr gütig zu dir. Wir hoffen, daß du es zu schätzen weißt.« Er grollte. Es klang wütend. Ich lächelte. »Und ein paar Dinge solltest du bedenken, Baril«, fuhr ich fort. »Du kannst immer nur einen von uns töten. Für einen zweiten hast du keine Zeit. Das hier …« Ich hielt den Pfeil hoch. »Das hier ist immer griffbereit. Ein
kleiner Kratzer genügt, und es ist aus mit dir. Aber selbst wenn es dir gelingt, uns alle zu erledigen, hast du nichts gewonnen, – als den Rest deines Lebens in diesem Pantherkörper. Genügt dir das?« Der Panther grollte in hilfloser Wut. »Vitu selbst mag über dein Leben entscheiden«, sagte Karuam. »Dein Glück ist«, warf ich ein, »daß ich an meiner alten Haut hänge und sie wiederhaben will. Auch Thamai ist nicht recht zufrieden. Vielleicht weil zuviel Blut an deinen Händen klebt? Wir werden gut auf dich achtgeben. Tot oder lebendig werden wir dich in Vitus Reich bringen. Wenn du klug bist, machst du unseren Weg nicht beschwerlicher als er ist.« Damit begaben wir uns an das Feuer zurück und überließen ihn seinen wütenden Gedanken und seiner völlig neuen Lage. Der Priester erbot sich, die nächste Wache zu übernehmen, wofür ich ihm dankbar war. Als ich am Morgen erwachte, sah ich, daß Thamai wachte. Der Priester schlief. Der Panther ruhte in der Nähe des Feuers. Er schlief nicht. Seine halbgeschlossenen Augen beobachteten uns. Es sah aus, als ob keine erfreulichen Gedanken hinter der schwarzen Stirn ausgebrütet würden. Ich ahnte, daß wir auf der Hut sein mußten. Wir aßen die Reste des gebratenen Wildes. Der Panther verweigerte das angebotene Fleisch. Vielleicht aus Grimm, vielleicht aber auch, weil er auf frische Beute aus war. Mir war es in dieser Gestalt ähnlich ergangen. »Führ uns zu dem Dorf, von dem du gesprochen hast«, befahl ich Baril. Ich wertete sein Grollen als Zustimmung. Wir brachen auf und zogen weiter in südöstlicher Richtung. Die Steppe wurde nach und nach wieder dichter mit Büschen und Bäumen bewachsen. Es war klar, daß sie langsam in Wald überging. Bevor die Sonne den Mittagsstand erreichte, begegneten wir erneut einer Herde Antilopen, aber einer mit größeren Hörnern, wie ich sie noch nie gesehen hatte. Wir kamen zu einem beträchtlichen Vorrat an Fleisch. Auch der
Panther riß seine Beute. Wir machten nur kurze Rast. Bis zum späten Nachmittag marschierten wir ohne Unterbrechung. Aber wir gelangten an kein Dorf, und ich dachte bereits, daß Baril uns zum Narren hielt. Bei Anbruch der Dunkelheit befanden wir uns wieder im dichter und dichter werdenden Wald. Vereinzelte Lichtungen lockten als Lagerplätze, aber nun war es Baril, der uns vorantrieb. Trotz der Müdigkeit blieben meine Sinne wach genug, daß mir ein bedrohlicher Umstand auffiel: Die Nacht war seltsam still – so still wie im Dschungel der wilden Pflanzen. Waren sie auch bis hierher vorgedrungen? Ich machte die anderen auf diesen Umstand aufmerksam. Mit erhöhter Vorsicht setzten wir unseren Weg fort. Daß Baril uns so ungeduldig vorantrieb, konnte nur bedeuten, daß es bis zum Dorf nicht mehr weit war. Unbehelligt erreichten wir eine Lichtung. Mit einem fauchenden Knurren hielt Baril an. Dunkle Palisadenwände hoben sich schwarz und drohend vor uns in den Himmel. Dahinter war die gleiche Finsternis und Stille wie davor. Schliefen sie alle? Das schien ungewöhnlich, denn es war noch nicht einmal Mitternacht. War das Land hier so friedlich, daß sie keine Wachen aufzustellen brauchten? Baril eilte uns voran. Wir folgten ihm den Palisadenzaun entlang. Überrascht hielten wir an. Das große Tor stand offen! Wir näherten uns vorsichtig. War das eine Falle? Die Stille wirkte bedrohlich. Ungläubig starrten wir ins Innere, auf den im Sternenlicht schwach schimmernden Platz und die Hütten. Das Dorf war leer. Wir schritten langsam ins Innere. Mein Rücken kribbelte in Erwartung eines Hagels von Pfeilen. Aber nichts geschah. Wir gelangten an einige Feuerstellen. Die Asche war kalt, die
Feuer seit Tagen erloschen. »Hier ist niemand mehr«, stellte ich fest. »Sie haben ihr Dorf verlassen.« »Und wir tun gut daran, herauszufinden, warum!« ergänzte Thamai. »Da magst du recht haben«, stimmte ich zu. »Und ich glaube, ich weiß die Antwort bereits. Wilde Blumen sind in ihr Gebiet eingedrungen. Wir haben seit Stunden keine Tierlaute mehr im Dschungel gehört.« »Willst du damit sagen, die Blumen hätten ein ganzes Dorf vertrieben?« fragte der Priester. »Vielleicht nicht die Blumen selbst, aber der Hunger«, erklärte ich. »Die Tiere meiden den Platz und ohne Tiere können auch die Menschen nicht leben. Wir machen ein Feuer und sehen uns um«, bestimmte ich. »Das war ein blühendes, fruchtbares Land bis hinab zur Küste«, murmelte der Priester. »Wie eine Plage löschen die Blumen alles aus.« Wir machten ein großes Feuer mitten auf dem Dorfplatz und suchten mit Fackeln die Hütten ab. Fast alle waren leer. Eine schien eine Schmiede gewesen zu sein. Wir fanden einige mit viel Geschick angefertigte Messer und Lanzenspitzen, auch zwei doppelschneidige Äxte, die wir an uns nahmen. Sie waren uns beim Bau des Floßes nützlich, mit dem der Priester nach Westen wollte. Karuams Aufschrei ließ uns alle zu einer Hütte eilen, die nahe am Eingang des Dorfes stand. Karuam leuchtete ins Innere und deutete mit weißem Gesicht auf die große Blume, die in der Mitte aus dem gestampften Boden wuchs. Ich nickte. »Wie ich es mir dachte.« »Sie sind schön«, murmelte Thamai. »So wunderschön.« »Ja«, flüsterte der Priester. Sie war in der Tat überwältigend. Schmale Blätter wie Schwertklingen öffneten sich sternförmig. Der lange Stiel ging über in einen Kelch roter Blütenblätter von der Größe eines menschlichen
Kopfes. Thamai schrie auf, als sich die Schwertblätter ganz geöffnet hatten. Auch wir wichen entsetzt zurück. Der Stiel war einst ein menschlicher Körper gewesen! Er war verdünnt und verzerrt, aber noch deutlich zu erkennen. Es erinnerte mich an den Anblick Thamais in der unterirdischen Kammer, nur daß hier die Verwandlung beinah abgeschlossen schien. Die Blüte neigte sich uns zu, wie um uns zu begrüßen. Vielleicht war es nur Einbildung, vielleicht nur eine zufällige Anordnung der Blütenblätter – aber im Schein der Fackel blickte uns aus der Blüte das Gesicht einer Frau entgegen. Wir wußten alle nur zu gut, daß es keine Täuschung war. Eine Frau war hier zu einer Blume geworden. Und nicht freiwillig, wie die schmerzlichen Züge kündeten. Thamai sah das Los, das ihr selbst beschieden gewesen war. Sie schauderte. »Können wir ihr nicht helfen?« flüsterte sie. »Ich fürchte, dazu ist es zu spät«, sagte ich. »Das Blut würde vielleicht reichen, wenn wir alle das Opfer bringen, aber sie hat keinen Mund mehr, um es zu trinken. Sie ist schon zu sehr Blume.« »Aber sie leidet. Können wir gar nichts tun?« »Wir könnten sie erlösen … damit …« Ich deutete auf die Fackel. »Aber sind nicht auch diese Blumen Vitus Geschöpfe?« Ich schüttelte den Kopf. »Es ist ihre Art, sich zu vermehren. Sie brauchen Bewegliche dazu.« »Da ist nur eines zu bedenken«, sagte der Priester. »Sie sind die Eindringlinge, die Eroberer. Wenn ihnen dieses Land erst gehört, wird nichts sonst hier leben. Nur sie. Und ich liebe dieses Land. Es kann nicht Vitus Wille sein, daß wir dies geschehen lassen.« Mit zusammengebissenen Zähnen schleuderte er die Fackel mitten in die dichten Blätter. Sie loderten prasselnd auf. Das Gesicht der Frau verzerrte sich in Agonie. Es welkte von einem Augenblick zum anderen. Die Blätter peitschten um sich. Wir sprangen außer Reichweite.
Ein schriller, wimmernder Laut erfüllte die Luft. Dann sank das Gewächs zusammen. Die Flammen sprangen auf das Hüttendach über und leckten an den Wänden. Als wir ins Freie rannten, brannte die Hütte bereits lichterloh. Ein Luftzug trieb die Flammen und einen Regen von Funken über die anderen Hütten. Da und dort züngelten neue Feuer hoch. »Wir müssen hinaus!« rief ich. »In wenigen Augenblicken steht das ganze Dorf in Flammen!« Aber auch außerhalb waren wir noch nicht in Sicherheit. Der Wind trieb das Feuer über die Palisaden hinweg in das dichte Laubwerk der großen Bäume jenseits der Lichtung. »Der Wald wird brennen«, keuchte der Priester. »Wir sind verloren!« »Nicht, wenn wir uns beeilen!« rief ich. »Der Wind weht nach Nordwesten. Er ist ziemlich kräftig und wird das Feuer mit sich nehmen. Aber wir müssen fort von hier, bevor die Hitze unerträglich wird!« Sie war bereits nahe an der Grenze des Erträglichen. Während wir ins Freie liefen, stürzten die Palisaden zusammen. Die Flammen schlugen donnernd hoch, und ein Gluthauch fegte über uns hinweg, der uns die Luft nahm. Gebückt rannten wir über die Lichtung, begleitet von Funken und fliegenden Holzteilen, die überall neue Feuer entzündeten. Als wir den Waldrand erreichten, stand er bereits halb in Flammen. Der Panther scheute davor zurück, aber ich trieb die anderen vorwärts. »Das ist unsere einzige Rettung!« rief ich, kaum verständlich in dem Wüten des Feuers. Wenn sie mich auch vielleicht nicht verstanden, die Gluthitze trieb sie vorwärts. Wir tauchten durch den lodernden Vorhang und standen in einem glühenden Dämmerlicht. Bäume fielen hinter uns. Ganze Teile des Waldes flammten auf. Nach Atem ringend, liefen wir durch das hinderliche Dickicht. Nach einer Weile, als wir erschöpft innehielten, erkannten wir aufatmend, daß das Feuer hinter uns zurückgeblieben war.
»Du hast recht. Der Wind treibt es nach Westen!« rief der Priester erleichtert. Wir betrachteten die Feuerwand, die den Wald in flackerndes dämonisches Licht tauchte. »Wie weit wird es sich ausbreiten?« fragte Thamai zitternd. »Das hängt davon ab, was es zu fressen findet. Wenn der Wind umschlägt und es zurücktreibt über das verkohlte Land, dann wird es von selbst erlöschen. Sonst vermögen es vielleicht breite Schluchten oder Flüsse oder Regen aufzuhalten …« »Wenn es die Richtung beibehält, liegt der Dschungel der wilden Pflanzen in seinem Weg. So wird es wenigstens reinigend wirken. Vielleicht wird dann dieses Land wieder frei sein …« »Wir müssen weiter«, drängte ich. »Wenn der Wind in den nächsten Stunden umschlägt und in unsere Richtung weht, sind wir verloren.« »Wohin jetzt?« fragte Thamai. Ich blickte Karuam fragend an. »Ans Meer«, sagte er. »Wir müssen ans Meer.« Er starrte nach oben, doch das Laubdach des Dschungels versperrte ihm den Blick. »Sobald ich die Sterne sehen kann, weiß ich den Weg. Wir müssen an den großen Strom, auf dem die Piraten so weit ins Land dringen konnten, und auf dem sie die Metalle ans Meer brachten. Ich kenne den Strom. Wir nennen ihn den Sereneja, den fließenden See. Wenn wir ihn erst erreicht haben, ist der Weg zum Meer nicht mehr beschwerlich.« Die ganze Nacht verfolgte uns der Brandgeruch und der rote Feuerschein. Karuam hielt sich in südwestlicher Richtung. Völlig erschöpft erreichten wir am Morgen das Ufer eines Baches. Karuam nickte zufrieden. »Wir sind auf dem rechten Weg.« »Gut.« Wir sanken ins Gras. »Wir werden hier Rast machen«, beschloß ich. »Wenigstens ein paar Stunden.« Es war noch immer sehr still in den Wäldern, aber es mochte das Feuer sein, das die Tiere vertrieben hatte. Wir aßen von unseren Vorräten. Dann fielen wir müde ins Gras. Nur der Panther war
ruhelos. Trotz der Erschöpfung fand keiner von uns viel Schlaf. Der Gedanke an das Feuer verfolgte uns in die Träume. Wir vermochten den Wind nicht festzustellen und wußten nicht, in welche Richtung der Brand wanderte. Er mußte bereits gewaltig sein in seiner Ausdehnung. Mit Thamai in den Armen schlief ich schließlich ein.
3. Als ich erwachte, hatte ich das Gefühl, daß nur ein Augenblick vergangen war, aber ich fühlte mich dennoch erfrischt. Was hatte mich geweckt? Thamai und der Priester lagen nicht weit von mir. Baril, der Panther, war verschwunden. Der Wald war still, aber die Luft roch gut. Kein Brandgeruch. Das einzige Geräusch war das Murmeln des Baches. Ich erhob mich und begab mich ans Ufer. Das Wasser war nicht tief, aber grünlich trüb an der Oberfläche. Die Strömung war sehr gering. Am anderen Ufer, kaum drei Lanzenlängen entfernt, glitt eine armdicke Schlange ins Wasser. Ich begrub den Gedanken an ein erfrischendes Bad. Aber die Anwesenheit der Schlange sagte mir auch, daß keine wilden Pflanzen in der Nähe waren. Es war fast Mittag. Die Sonne stand hoch am Himmel. Bei Licht besehen, schien mir unser Lagerplatz gefährlich. Allerlei Tiere mochten zum Trinken ans Wasser kommen. Keiner von uns hatte gewacht. Der Gedanke erfüllte mich nachträglich mit Unbehagen. Die Anwesenheit des Panthers hatte wahrscheinlich andere Tiere davon abgehalten, uns zu nahe zu kommen. Ich wußte nicht, wie lange er schon fort war. Ich weckte Karuam und Thamai und warnte sie davor, ins Wasser zu gehen. Es war wohl diese unbewußte Gefahr gewesen, die mich geweckt hatte. Wir hatten wie Köder herumgelegen. »Wo ist Baril?« fragte Thamai. »Ich weiß es nicht.« »Ob er uns verlassen hat?« Ich zuckte die Schultern. »Wir können ihn nicht festbinden. Aber ich bin sicher, daß er wiederkommt. Er weiß, daß er nur von Karuam ein Leben in menschlicher Gestalt erhalten kann. Und er
wird nichts sehnlicher wünschen. Bleibt am Wasser, aber seid wachsam. Ich werde versuchen, nach dem Feuer Ausschau zu halten.« Es war eine mühsame Sache, einen dieser hohen Bäume zu erklimmen. Ich gewöhnte mich aber immer mehr an Thamais schlanke Gestalt, und ich überschätzte auch die Kräfte nicht mehr. Das schwierigste Stück war die mächtige Krone selbst – und in dem dünnen, schwankenden Geäst eine Stelle zu finden, von der aus ich wenigstens ein Stück des Waldes überblicken konnte. Ich war auch nicht der einzige, der dort herumkletterte. Ein halbes Dutzend kleiner Affen beobachtete mich lebhaft und bedachte meine Bemühungen mit Kreischen. Besonders wenn ich auf heftig schwankenden Ästen stand, regte sie das auf. Schließlich fand ich doch eine Stelle, die mir einen beachtlichen Überblick bot. Weit im Nordwesten war schwarzer Rauch am Horizont. Von hier aus war nicht zu erkennen, ob das Feuer noch brannte. Abgesehen von dem Rauch konnte ich nicht viel mehr erkennen als das wogende Dach des Waldes. In der Richtung des Baches senkte sich das Land und löste sich auf in Hügel und Täler. Vorerst waren wir sicher – vor dem Feuer wenigstens. Begleitet von schrillem Gekreische kletterte ich wieder nach unten. Die Tiere schienen mich offenbar in ihr Herz geschlossen zu haben, und waren nun nicht so einfach bereit, auf meine Gesellschaft zu verzichten. Unten angelangt, berichtete ich den beiden, was ich gesehen hatte. Baril war noch immer nicht zurück. Ich nahm an, daß er nur einen kleinen Jagdzug unternommen hatte. Er würde unserer Spur leicht folgen können. Deshalb drängte ich zum Aufbruch. Nach einer Weile im Dschungel kam ich mir immer eingeschlossen vor. Ich sehnte mich nach der offenen Savanne. Wir folgten den ganzen Nachmittag dem Bach. Das war nicht immer leicht, aber der sicherste Weg zum großen Strom. Mehrmals sah ich einen schwarzen Schatten hinter uns. Baril folgte uns in
einiger Entfernung. Das Land schien frei von der Geißel der wilden Pflanzen. Die Geräusche des Dschungels waren wir gewohnt. Wir hatten keine Mühe, mit dem Dolch Beute zu machen. Ich riet Thamai, mit den Giftpfeilen sparsam umzugehen. Sie waren unsere wirksamste Waffe, und wir wußten nicht, welche Gefahren uns noch bevorstanden. »Ich habe einen guten Vorrat«, erklärte sie. »Die ihr Ziel treffen, kann ich erneut verwenden. Manche sogar dreimal. Das Gift ist dann nicht mehr so stark, aber immer noch lähmend.« Dann war kein Mangel. Ich hatte noch nie gesehen, daß sie ihr Ziel verfehlte. Bei Anbruch der Dunkelheit lagerten wir erneut. Der Bach war bereits zu einem kleinen Fluß geworden, einen Lanzenwurf breit und übermannstief. Auch seine Strömung hatte zugenommen. Wir beschlossen, bereits am Morgen ein kleines Floß zu bauen und das Wasser die Arbeit tun zu lassen. Weniger erfreulich war der Anblick der großen Echsen, die immer häufiger an den Ufern lagen. An ihrem Panzer waren auch Thamais Pfeile ohne Wirkung. Zum Glück waren sie nicht angriffslustig. Im Gegenteil, sie ergriffen die Flucht bei unserer Annäherung. Im Wasser würde das wohl anders sein. Als wir am Feuer saßen, kam auch Baril heran. Er tat, als gäbe es uns nicht. Er legte sich nieder und starrte blinzelnd in die Glut. Er hatte wohl aus unseren Gesprächen gehört, daß wir vorhatten, unseren Weg auf das Wasser zu verlegen, und wollte die Abfahrt nicht versäumen. Wir hatten noch immer Schlaf nachzuholen, so wurde ich erst wach, als Karuam mich schüttelte. Er deutete auf den mondhellen Fluß. Er zitterte. »Was ist das?« Das Wasser spiegelte ein wenig, darum sah ich es nicht gleich. Aber dann entdeckte ich die weiße Gestalt, die über der Oberfläche schwebte. Sie hatte ein langes, weißes Gewand, unter dem keine
Füße zu sehen waren. Aber es gab keinen Zweifel, daß sie über dem Wasser schwebte. Auch ihre Haut war vollkommen weiß, selbst die langen Strähnen ihres Haares. Das weiße Mädchen! »Sie ist es«, entfuhr es mir. »Wer?« fragte der Priester. »Das weiß ich nicht. Sie war Barils Gefangene. Ich befreite sie, und sie führte mich zu Thamai. Thamai!« rief ich flüsternd und rüttelte sie. Auch Thamai war sicher. »Ja, es ist das Mädchen.« Ich erhob mich langsam und trat ans Ufer. Ich streckte ihr die Hände entgegen. »Komm zu uns«, rief ich. »Hab keine Furcht. Ich erkenne dich wieder …« Ich hielt inne, weil plötzlich seltsame Gedanken in meinem Kopf waren, die ich nicht verstehen konnte. Die Gestalt winkte. Dann schwebte sie zum anderen Ufer und verschwand zwischen den Bäumen. »Eine seltsame Erscheinung«, flüsterte der Priester. »Ist sie wirklich?« Ich nickte. Dann deutete ich auf den Panther, der ebenfalls ans Ufer gekommen war, um die Gestalt zu beobachten. »Er weiß sicher, wer oder was sie ist.« »Wir werden es auch herausfinden«, sagte Thamai. »Das Mädchen will etwas von uns. Sie wird wiederkommen. Es scheint mir, daß sie dich kennt …« »Du meinst von früher …?« Ich schüttelte den Kopf. »Ich kann mich nicht besinnen …« »Sie sah vielleicht anders aus, bevor Baril das aus ihr machte«, meinte Thamai. Ich lag noch lange wach und grübelte. Ich starrte über den Fluß, aber er blieb leer. Dann wurde mir klar, daß diese Erscheinung nicht mir gegolten haben konnte. Nicht Ubali, so wie mich das Mädchen kannte, denn Ubalis Gestalt befand sich nicht bei uns. Das Winken mußte Thamai gegolten haben. Als ich endlich einschlief, träumte ich von der weißen Gestalt, und
mir war, als wüßte ich ganz bestimmt, wer das Mädchen war. Sie war mir so vertraut. Aber der zündende Gedanke blieb aus. * Am Morgen fällten wir einige Stämme und bauten ein schmales Floß, auf dem wir gerade Platz hatten. Es sah nicht vertrauenerweckend aus, aber die schweren Stämme lagen gut im Wasser. Mit langen Stangen bewaffnet, stießen wir uns vom Ufer ab und trieben bald im Fluß. Baril stand verkrampft in der Floßmitte. Es war ihm anzusehen, daß er sich gar nicht wohl fühlte. Was ihn hauptsächlich davon abhielt, an Land zu schwimmen, waren die Echsen, die von beiden Ufern auf uns zutrieben. Unsere Stangen entmutigten sie jedoch bald. Die Strömung nahm uns rasch mit sich. »Kennst du diesen Fluß?« fragte ich Karuam. Er schüttelte den Kopf. »Wir müssen vorsichtig sein. Weiter im Süden fällt das Land steiler ab. Dort mag es Fälle geben.« »Ich denke, wir werden sie rechtzeitig hören. Auch die Strömung wird es uns anzeigen.« Wir hatten Glück. Bis auf eine wilde Fahrt durch eine enge, schäumende Schlucht gab es keine Hindernisse. Am Nachmittag erreichten wir die breite Mündung in den Sereneja. Wir legten an und verbrachten drei Tage damit, unser Floß zu vergrößern und unsere Vorräte aufzufüllen. Das Floß bekam auch eine Hütte an Deck. Es würde für viele Tage unser Aufenthaltsort sein. Wir setzten einen Mast und richteten eine Feuerstelle aus Steinen ein. Während der Fahrt wollten wir ein kleines Segel aus den Tierhäuten anfertigen, um dem Meer nicht ganz hilflos ausgesetzt zu sein. Der Sereneja war gewaltig. Zu Recht trug er den Namen Fließender See. Das jenseitige Ufer war ein schmaler Strich von Bäumen – der Horizont.
Als wir endlich abstießen und in seine Mitte hinaustrieben, begleiteten uns Schwärme weißer Vögel. Es war ein ruhiges Dahintreiben, nur begleitet vom mächtigen Rauschen des Stroms an den Ufern. Es würde keine Unterbrechungen geben. Der Priester kannte den Strom, wenn seine Erinnerungen auch Jahrhunderte zurücklagen. In drei Tagen würden wir das Meer erreicht haben.
4. Seit Tagen trieben wir die Küste des Südmeers entlang. Hunger, Durst, Erschöpfung und die glühende Sonne. An Land: Dschungel, bizarre Bäume, die mit langen Ästen in das Meerwasser peitschten und nach Fischen schlangen; Blumen, deren Anblick die Sinne verwirrte und nur den einen Wunsch weckte, an Land zu gehen und sie zu berühren; riesige Halme, die im Wind sangen wie lockende menschliche Stimmen. Ein wilder Dschungel, der hungerte und mit teuflischen Lockungen einer Beute habhaft zu werden versuchte. Anfangs drohte uns der Wind auf diese Küste zuzutreiben. Wir refften das Segel und steuerten unser Floß mit den Stangen. Die Götter sandten uns eine Strömung, die uns an der Küste entlangtrieb. Der Dschungel nahm kein Ende. Schließlich drohte uns die Strömung ins offene Meer hinauszutreiben. Wir kämpften erfolgreich mit dem Segel dagegen an, obwohl das Floß dem Wind sehr träge gehorchte. Es gab Stellen, da war selbst das Wasser von der Wildheit befallen, die dem Dschungel innewohnte. Nur mit Mühe entkamen wir einem gefährlichen Strudel. Seit geraumer Weile folgten uns auch Haie mit großer Beharrlichkeit. Unsere Lage war verzweifelt. Das einzige, das uns aufrechthielt, war die Tatsache, daß wir trotz allem nach Westen trieben – immer weiter nach Westen. Am zehnten Tag geschah das Wunder. Der Dschungel hörte auf. Buschwerk ging langsam in offene Savanne über. Bald waren nur noch am Horizont Wälder zu sehen. Wir ließen uns an Land treiben und stolperten völlig erschöpft über den Sand auf das niedrige gelbe Gras zu. Es war gut, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben, Erde und den Geruch von ganz gewöhnlichen Pflanzen.
Mehrere Stunden lagen wir erschöpft am Strand. Als wir erwachten, kam Baril von einem Streifzug zurück – ohne Beute, und seinem Zustand nach zu schließen, hatte er auch kein Wasser gefunden … Wir waren wohl noch zu nahe am wilden Dschungel, um Wild zu finden. Das beste wäre gewesen, auf das Floß zurückzukehren und weiter nach Westen zu treiben, bis das Land fruchtbarer wurde. Aber wir erlebten eine böse Überraschung. Die Wellen hatten das Floß vom Strand gespült. Es trieb irgendwo draußen am Meer. Wir waren auf unsere müden Beine angewiesen, und ich drängte zum sofortigen Aufbruch. Wir mußten die letzten Kräfte nutzen, die noch in uns waren. Wenn wir nicht bald Wasser und Eßbares fanden, waren wir am Ende. Ohne viel Hoffnung machten wir uns landeinwärts auf den Weg. Es war wie auf dem Floß – nur daß nicht der Boden unter uns, sondern wir auf ihm schwankten. Der dunkle Waldstrich am Horizont tanzte ebenso vor unseren Augen. Wir waren bereits zu blind vor Erschöpfung, um mehr als die Endlosigkeit der Savanne um uns wahrzunehmen. Irgendwann hörte auch das auf. * Was mich weckte, waren Wassertropfen, die in mein Gesicht fielen. Ich schlug die Augen auf und vermochte Traum und Wirklichkeit nicht zu unterscheiden. Ich hatte vom Regen geträumt. Die Erinnerung war noch deutlich in mir. Das köstliche Gefühl, in einem Platzregen zu stehen und Haut und Kehle schwellen zu fühlen in der kühlen Nässe. Aber es regnete nicht! Es mußte Abend sein. Im dämmrigen Licht sah ich eine weiße Gestalt vor mir stehen.
Das weiße Mädchen! Sie beugte sich zu mir herab. Und wieder überkamen mich unverständliche Gedanken. Sie hielt mir etwas an die Lippen – eine Schale. Wasser! Ich trank, und der ganze Platzregen des Traumes verblaßte vor dieser Wirklichkeit! Ich spürte, wie meine Lebensgeister zurückkehrten, wie ein großer Teil dieser lähmenden Mattigkeit von mir abfiel. Danach versuchte ich, auf die Beine zu kommen, was ich überraschend schnell schaffte. Ich sah mich um und merkte entsetzt, daß ich allein war. »Wo sind die anderen?« fragte ich das Mädchen. Dann erinnerte ich mich, daß sie nie gesprochen hatte. Vielleicht war sie keiner Sprache mächtig. Aber sie verstand mich. Sie winkte. Ich sollte ihr folgen. Der Hunger machte sich stark bemerkbar. Mein Magen knurrte. Es klang fast wie Barils Grollen. Wo waren die anderen nur? Es sah so aus, als wäre ich einfach im Gehen umgefallen vor Erschöpfung. Noch ein wenig stolpernd, aber innerlich erfrischt, folgte ich dem Mädchen. Schon nach wenigen Schritten sah ich Barils Körper, Thamai, liegen. Der Priester lag nicht weit von ihr. Von dem Panther keine Spur. Karuam und Thamai waren noch nicht aufgewacht. »Wasser?« fragte ich das Mädchen. Sie schüttelte traurig den weißen Kopf. Dann deutete sie mir wiederum, zu folgen. Einen Augenblick war ich unschlüssig. Sollte ich Thamai und den Priester allein hier lassen? Dann dachte ich, daß wir die ganze Zeit über schutzlos hier gelegen hatten, und daß die Savanne allem Anschein nach ohne Leben war. Ich hatte auch gar keine Wahl. Ohne Wasser wären sie doch nicht auf die Beine gekommen. Ich folgte dem Mädchen und beobachtete die wundersam schwebende Bewegung, mit der sie über die Savanne glitt. Den
kleineren Teil einer Stunde schwebte sie zielbewußt vor mir her, während die Dämmerung zunahm. Es war bereits ziemlich dunkel, als ein Stück Waldrand vor uns auftauchte. Auf den hielt sie zu. Es war kein Wald, nur eine Ansammlung von Bäumen und Büschen um eine Wasserstelle. Ich wollte dankend nach meiner Retterin greifen, aber sie wich vor mir zurück. So machte ich ihr in Worten klar, wie dankbar ich ihr war, und hoffte, daß sie mich verstand. Ich füllte alle Wasserbeutel an meinem Gürtel. Als ich gehen wollte, deutete das Mädchen auf einen der Büsche. Ich sah ihn mir genauer an und fand Beeren, die vorzüglich schmeckten. Ich aß hungrig einen Teil während des Pflückens. Mit zwei vollen Händen machten wir uns auf den Rückweg. Thamai und der Priester lagen noch so, wie ich sie verlassen hatte. Ich weckte sie, gab ihnen Wasser und Beeren und berichtete ihnen, daß wir unsere Rettung dem weißen Mädchen verdankten. Ich wollte sie lächelnd herbeiwinken, denn sie hatte meinen Bemühungen um meine Gefährten aus einiger Entfernung zugesehen. Aber sie war verschwunden. * Das Wasser und die Beeren gaben uns weder unsere Kräfte zurück, noch stillten sie den nagenden Hunger. Aber sie hielten uns am Leben – wenigstens für eine Weile. Das Gelände war flach um uns. Die Savanne erstreckte sich bis zum Horizont. In der Ferne konnten wir das Meer sehen, im Osten den dunklen Rand des wilden Dschungels. Vor uns in nordwestlicher Richtung erwartete uns ebenfalls Dschungel. Das Land wurde dort bergiger. Vereinzelte Gipfel ragten auf, unter ihnen ein schmaler, steiler Felsen, der alle überragte. Der Priester betrachtete ihn lange und nickte schließlich. »Ich bin ganz sicher. Diesen Felsen habe ich im Traum gesehen. Wir sind auf
dem richtigen Weg. Dort müssen wir hin.« »Doch nicht hinauf?« entfuhr es mir. Er schüttelte den Kopf. »Nein. Aber dort führen alle Wege zu Vitus Reich. Die Wege der Prüfung.« »Die Wege der Prüfung?« wiederholte ich mißtrauisch. »Sind wir nicht bereits geprüft genug?« Der Priester lächelte. »Es mag uns dann und wann so scheinen. Aber der Weg in das Paradies muß erstritten werden – nicht mit dem Schwert, sondern mit dem Herzen.« War das nur die Weisheit des Priesters, die aus ihm sprach, oder wußte er mehr? Aber ich drang nicht in ihn. Wenn die Zeit kam, würde er reden. Wir machten uns auf den Weg. An der Wasserstelle hielten wir an und versorgten uns mit der kostbaren Flüssigkeit. Auch Beeren fanden wir trotz der Dunkelheit noch reichlich. Der Priester schlug vor, hier bis zum Morgen zu lagern, aber ich drängte zum Aufbruch. Wir brauchten Fleisch, und hier würde es nicht zu uns kommen. Die Schwäche würde immer schlimmer werden. Je früher wir wildreiches Gebiet ereichten, desto besser. Auch Baril hatte das erkannt. Er war sicher längst auf Jagd. Thamai stimmte mir zu. So brachen wir auf und zogen nach Nordwesten. Der klare Sternenhimmel wies uns deutlich die Richtung, auch wenn wir die Berge in der Finsternis nicht zu sehen vermochten. Wir kommen gut voran. Erstaunlich, welche Kräfte ein wenig Wasser und ein paar Beeren wecken können. Lange nach Mitternacht, als wir erschöpft beschlossen, ein Lager aufzuschlagen, hörten wir den Schrei eines Vogels. Er klang schrill und klagend, aber er war Musik in unseren Ohren. Wir waren an der Grenze des Lebens angelangt. Der kurze Schlaf war angefüllt mit Träumen von saftigen Braten und wohliger Sattheit. Der Hunger trieb uns vor Sonnenaufgang auf. Baril war noch immer nicht zurück. Ich ahnte, daß wir ihn so rasch nicht wiedersehen würden. Nun, da Vitus Reich so nah war,
wollte er seinen eigenen Weg gehen und vermutlich versuchen, seinen eigenen Handel mit Vitu zu schließen. Er war anders als wir. Weniger menschlich. Unser Ziel war nicht seines. Er liebte das Leben nicht. Er wollte Macht über das Leben. Vielleicht irrte ich. Wir würden es wissen, wenn wir dem Lebensgeist gegenübertraten. Es gab viele Fragen, auf die ich mir eine Antwort erhoffte. Ich sehnte mich auch nach meinem Körper, und ich bedachte Baril mit wenig freundlichen Gedanken. Mehr noch aber beschäftigten sich meine Gedanken mit dem weißen Mädchen, das mir immer vertrauter erschien und das doch allen meinen Erinnerungen so fremd war. Nach und nach während des Vormittags ging die baumlose Steppe in Buschwerk und vereinzelte Bäume über. Dann sahen wir auch die ersten Tiere – ein Schwarm Steppensegler flatterte kreischend hoch. Es war ein sehr erfreulicher Anblick, der uns neue Kraft gab. Dann sahen wir die ersten Herden, und das beflügelte uns. Noch bevor die Sonne ihren höchsten Stand am Himmel erklommen hatte, saßen wir am Feuer und schlangen des Fleisch halb roh in uns hinein. Von da an schien alles einfach. Zwei Tage später erreichten wir die Vorberge und sahen im Westen eine weite Ebene von Dschungel vor uns und jenseits eine Bergkette. »Dort müssen wir hin«, sagte der Priester andächtig. »Dort ist Vitus Reich.« »Gibt es einen Weg über die Berge?« fragte ich. »Alle die das Leben achten, werden den Weg finden«, erklärte der Priester. »So war es mir im Traum verheißen.« »Ja«, sagte Thamai, »so hat es mir Vitu verheißen.« »Ich hoffe«, erwiderte ich mit gerunzelter Stirn, »ihr habt eure Träume richtig gedeutet.«
5. Seit wir den Dschungel betreten hatten, der zu den fernen Bergen führte, die nach den Worten des Priesters die Grenze zu Vitus Reich bildeten, lauerte etwas auf uns. Etwas im Busch ringsum beobachtete uns. Wir sahen nichts, wir spürten es nur. Mein Rücken kribbelte ständig in Erwartung eines Pfeils oder Speeres. Mit aller Macht mußte ich an mich halten, mich nicht immer wieder umzudrehen. Statt dessen bemühte ich mich, auf verräterische Geräusche im nahen Umkreis zu lauschen. Doch die Ohren in Thamais Körper waren nicht so geübt darin. Es war schwierig, mehr zu hören als die Geräusche, die wir selbst verursachten. »Spürst du es auch?« fragte Thamai. Ich nickte. »Ob es Menschen sind?« »Ich glaube ja«, erwiderte ich. Sie blieb stehen, aber ich schob sie vorwärts. »Wir lassen uns nichts anmerken. Wir gehen ruhig weiter.« »Warum zeigen sie sich nicht?« sagte sie gepreßt. Ich zuckte die Schultern. »Vielleicht sind sie sich noch nicht im klaren über uns.« »Vielleicht sind sie Pilger wie wir«, meinte der Priester. »Dann verhalten sie sich seltsam«, stellte ich fest. Karuam nickte mit zusammengepreßten Lippen. »Ich sagte auch nicht, daß ich es glaube.« »Wozu sich den Kopf zerbrechen?« sagte ich. »Wir können doch nichts tun. Früher oder später werden sie sich zeigen.« »Ich weiß nicht, ob ich so neugierig bin«, bemerkte der Priester trocken. »Was fürchtest du? Den Tod? Ist das nicht das, was du willst? Gehst du nicht deshalb zum Geist des Lebens?« fragte ich verwundert. Er schüttelte den Kopf. »Ich fürchte nicht den Tod«, sagte er, »ich
fürchte das Sterben.« Darüber dachte ich eine Weile nach. Ich verstand ihn. Es machte ihn in seiner Unsterblichkeit menschlich. Er wußte, daß ihn ein neues Leben erwartete, aber es war so schwer, das eine zu verlieren. Obwohl ich selbst bereits in den Genuß mehrerer Leben gekommen war, hatte ich nie darüber nachgedacht. Jetzt war auch nicht der Augenblick dazu! Eine Weile schien es, als ob sich unsere Beobachter mit ihrer Tätigkeit begnügen würden. Wir bekamen keinen zu Gesicht, aber sie waren allgegenwärtig. Wir erreichten eine kleine Lichtung. Mit einem Aufschrei deutete Thamai auf einen mannshohen Baumstumpf, auf dem ein Totenschädel befestigt war. Ein Pfeil stak in seinem rechten Auge, oder besser in der Höhle, denn die Knochen waren längst blank. »Was ist das?« flüsterte der Priester. »Ein Zeichen«, erwiderte ich. »Ein Stammeszeichen vielleicht. Jedenfalls aber eine Warnung. Hier ist eine Grenze. Wenn wir sie überschreiten, machen wir uns diesem Zeichen und seiner Bedeutung Untertan …« »Untertan?« »Nun, man wird uns nach Gesetzen richten, die hier herrschen, ob wir sie nun kennen oder nicht.« »Glaubst du, daß unsere unsichtbaren Begleiter …?« begann Thamai. »Schon möglich, daß sie nur darauf warten, daß wir diese Grenze überschreiten«, stimmte ich zu. »Es sieht nicht gerade friedlich aus«, meinte der Priester. Ich zuckte die Achseln. »Das ist schwer zu sagen. Die Frage ist: Müssen wir hier durch, oder können wir es umgehen?« Der Priester schüttelte den Kopf. »Davon war nichts in deinem Traum, nicht wahr?« bemerkte ich sarkastisch. »Nein. Aber ich weiß, daß nur der in Vitus Reich gelangt, der sich
seiner würdig erweist. Dies könnte eine Prüfung sein …« »Was meinst du dazu?« fragte ich Thamai. »Karuam mag recht haben«, sagte sie. »Aber auch nicht?« »Aber auch nicht«, stimmte sie zu. »Vitu ist nicht das Schicksal. Er bestimmt unsere Zukunft nicht. Er gibt nur das Leben.« »So ganz stimmt das nicht«, widersprach ich. »Er bedient sich unser immerhin und …« Ich wurde auf heftige Weise unterbrochen. Wer immer auf uns lauerte, hatte beschlossen, nicht auf unsere Entscheidung zu warten. Die Büsche um uns wurden lebendig. Überall quollen Gestalten hervor – dunkelhäutig, fast nackt, mit weiß bemalten Gesichtern, die dämonisch anmuteten. Sie hielten kurze Spieße in den Händen, die wie ein Mittelding zwischen einem Speer und einem langen Messer anmuteten. Damit rückten sie uns drohend zu Leibe. Thamai riß ihr Blasrohr hoch, aber ich winkte ihr warnend zu. Gegen so viele hätten wir nichts auszurichten vermocht. Auch wäre es nicht in Vitus Sinn gewesen, zu töten. Ich empfand nicht eigentlich Angst beim Anblick dieser gut hundert wilden Gestalten, aber ich war mir klar darüber, daß uns einige unerfreuliche Überraschungen bevorstanden. »Ruhig bleiben«, flüsterte ich meinen Gefährten zu. Dann waren wir umringt. Sie kamen völlig lautlos heran. Kein Geheul, keine Rufe, nur das Brechen des Unterholzes und das gelegentliche Klirren, wenn ihre Waffen gegeneinanderschlugen. Auch als sie uns umringt hatten, blieben sie stumm. Sie starrten uns nur mit ihren weißbestrichenen Gesichtern und funkelnden Augen an. Was von ihren Zügen zu erkennen war, verriet keine Regung. »Was wollt ihr von uns?« rief der Priester. Aber niemand gab ihm Antwort. Einer drängte sich durch die Menge, die ihm eine schmale Gasse öffnete. Er trug ein helmartiges Gebilde auf dem Kopf, das glänzte, als wäre es aus Silber. Ich nahm an, daß es sich um den Häuptling handelte, da die anderen auf seine
Entscheidung zu warten schienen. Er musterte uns und nickte schließlich. Bevor wir etwas sagen konnten, winkte er kurz. Die ganze Meute schob uns einfach voran. Ich versuchte sie mir vom Leib zu halten, aber das war unmöglich. Ziemlich rasch, streckenweise sogar laufend, hasteten wir durch den Dschungel. Ich versuchte ein paarmal zu bremsen, aber die Körper schoben mich einfach vorwärts. Den anderen erging es nicht besser. Nach etwa einer Stunde erreichten wir eine große Lichtung, deren eine Hälfte ein Dorf aus Laubhütten einnahm. Ein weiter Platz davor war frei. Zu unserer Rechten schimmerte schwarz ein Tümpel. Die schweigsame Horde drängte uns am Tümpel vorbei auf die Hütten zu. Es war ein ganz ansehnliches Dorf, in dem zwei- oder dreihundert Menschen wohnen mochten. Wir gelangten auf einen kleinen Platz inmitten des Dorfes. Dort wartete die erste Überraschung auf uns: An einen Pfahl in der Mitte des Platzes war eine dunkle, hünenhafte Gestalt gebunden, die wir sofort erkannten. »Ubali«, flüsterte der Priester erregt. »Baril«, berichtigte ich. Es war in der Tat Baril. Und Vitu mochte wissen, wie er seine Panthergestalt verloren hatte. Wir wurden an ihm vorbeigetrieben. Bis auf die Tatsache, daß er gefesselt war, schien er wohlauf zu sein. Er erkannte uns, ließ sich aber bis auf ein Verengen der Augen nichts anmerken. Jenseits des Platzes befand sich ein großes Gehege. Darauf trieb man uns zu. Als wir näher kamen, bemerkten wir, daß das Gehege nicht leer war. Ein halbes Dutzend sandgelber Leiber schnellte auf die Wand aus dünnen Stämmen zu und starrte uns brüllend entgegen. »Löwen!« entfuhr es dem Priester. Ich nickte grimmig. Vor dem Gehege befanden sich mehrere Pfähle wie jener, an den sie Baril gebunden hatten. Darauf führten sie uns zu und fesselten
uns, bevor wir dazu kamen, uns zu wehren, was uns wohl ohnehin nicht viel genützt hätte. Danach kümmerten sie sich nicht weiter um uns. Sie verschwanden zwischen den Hütten. Die Löwen beobachteten uns nicht hungrig, aber doch mit Blicken, die zu sagen schienen, daß wir füreinander bestimmt waren. Es war ein teuflisches Gefühl, so hilflos hier zu hängen mit den unruhig auf und ab schreitenden Bestien im Rücken. Fast der ganze Nachmittag verging, während die Löwen kein Auge von uns ließen. Es war schwer, nicht daran zu denken, daß sie mit jeder Stunde hungriger wurden. Die Sonne brannte auf uns herab, und wir verfielen nach und nach in eine Benommenheit, wozu auch der wachsende Durst beitrug. Daß wir den Tümpel mit seinem lockenden Wasser vor Augen hatten, schien uns wie ein Hohn. Nach mehreren Stunden, als wir bereits ziemlich erschöpft in den Fesseln hingen, kamen einige Frauen des Stammes herbei. Sie betrachteten uns abschätzend. Ich sah sie mir ebenfalls gut an. Sie waren sechs, verschiedenen Alters, mit länglichen, schmalen Gesichtern mit wülstigen Lippen – nicht häßlich, aber auch nicht sehr anziehend für meinen Geschmack. Zudem waren sie ziemlich rundlich, was mir ebenfalls nicht gefiel. Seltsamerweise beachteten sie die beiden (von den Körpern her) männlichen Gefangenen kaum, sondern hatten es nur auf mich abgesehen. Sie zupften an meinen Haaren herum, betätschelten mich und schienen nicht recht zufrieden mit meiner (eigentlich Thamais) Schlankheit. Besonders die festen, spitzen Brüste veranlaßten sie immer wieder zu Kopfschütteln. Sie waren kaum vergleichbar mit den Hängebrüsten der Frauen und mißfielen ihnen sichtlich. Einiges Erstaunen verursachte auch das Amulett zwischen meinen Schenkeln, das sie mir sofort abnahmen. Eine hob ihren Fellschurz und versuchte, die Kette um die Hüften zu legen, was aber bei ihrem Umfang nicht möglich war. Sie lachten, und das war der erste Hinweis, daß die Menschen hier Stimmen hatten. Bisher hätten sie
ebenso gut stumm sein können. Dann betasteten sie mich erneut wie eine Kuh auf dem Markt. Mir gefiel das gar nicht, und Thamai hätte es auch nicht gefallen, wie ich mit einem Seitenblick sah. Schließlich zogen sie ab. Eine war dabei, sich das Amulett um den Hals zu hängen. Nach kurzer Zeit kamen sie erneut, diesmal mit düsterer Miene. Wortlos banden sie mich los und nahmen mich in ihre Mitte. Grob stießen sie mich vorwärts zu den Hütten. Eine Flucht wäre mir sicher im Augenblick nicht geglückt, so machte ich gute Miene zum bösen Spiel. Wir erreichten eine große Hütte, die größte im Umkreis. Dort stießen sie mich hinein. Es dauerte eine Weile, bis sich meine geblendeten Augen an das dunkle Innere gewöhnt hatten. Der Anführer saß auf einem Lager aus Fellen. Er hatte die Farbe aus seinem Gesicht abgewaschen und wirkte nun menschlicher, aber nicht sehr vertrauenerweckend. Er betrachtete mich einen Augenblick stumm, dann nickte er und winkte den Frauen, sich zu entfernen. Plötzlich entdeckte er das Amulett am Hals der einen. »Was ist das?« rief er in einem so starken Dialekt, daß die Worte nur schwer verständlich waren. »Deins?« Er nickte mir zu. »Ja«, sagte ich. Er streckte die Hand aus, und die Frau gab es ihm widerwillig. Er winkte ihnen erneut, zu verschwinden, und reichte mir das Amulett. Dann sah er mir zu, wie ich es um meine Hüften kettete. Ich fühlte in diesem Augenblick wohl tatsächlich weibliche Regungen, einen Anflug von Scham als er mich so besitzergreifend dabei beobachtete. »Gut«, sagte er, als ich fertig war. »Du wirst mein siebtes Weib. Du wirst mir einen Sohn schenken!« Er nickte, überzeugt von seinen Worten. Er erhob sich. Während ich ihn noch blaß anstarrte und mich von meinem Schreck erholte, hatte er die Hütte verlassen. Ich wollte hinter ihm her, um ihm einiges klarzumachen, aber wie durch Zauberei
standen zwei Krieger vor dem Eingang und hielten mir drohend ihre kurzen Speere entgegen. Erschüttert zog ich mich ins Innere zurück und versuchte verzweifelt zu überlegen. Es war verrückt! Wie weit wollte Vitu das Spiel noch treiben? Gehörte das alles zu den Erfahrungen, die ich noch machen sollte? Eine Frau zu sein und einem Wilden Kinder zu gebären? In mir krümmte sich alles bei dem Gedanken. Wahrscheinlich wäre ich zu alledem in der Lage, denn auch unter meiner Führung hatte der Körper Thamais durchaus nichts von seiner Weiblichkeit eingebüßt. Aber das überstieg entschieden meine Kräfte. Ich ballte die Fäuste. Aber immerhin war ich in einer besseren Lage als meine Gefährten. Mit einigem Glück konnte ich etwas zur Befreiung unternehmen. Ich untersuchte die Hüttenwand, fand aber bald, daß es unmöglich war, ohne verräterische Geräusche zu entkommen. Schon ein leises Rascheln ließ die Wachen ins Innere spähen. Ich mußte also vorerst warten. * Als die Sonne hinter den Bäumen verschwand, begannen sie draußen Gesänge anzustimmen, und ich ahnte, daß es Hochzeitsgesänge waren. Der Häuptling hatte es verdammt eilig. Gleich darauf erschienen die sechs Frauen wieder. Sie waren noch schlechterer Laune als zuvor, und das Gefühl verstärkte sich in mir, daß ich ihnen in die Quere kam. Natürlich! Der Häuptling hatte siebente Frau gesagt. Sie waren die anderen sechs. Sie brachten mehrere Holzgefäße mit Fleisch und einer dunklen, rötlichen Flüssigkeit, deren Geruch mich an den Hünentrunk Urgors erinnerte. »Iß!« befahl eine. Sie stellten sich um mich und sahen mir unfreundlich zu. Ich ließ es mir nicht zweimal sagen, denn ich hatte einen Bärenhunger. Aber das Fleisch hätte für drei gereicht. Ich trank auch eine ganze Menge des roten Saftes. Er brannte in der Kehle, aber er
löschte den Durst, und zu spät bemerkte ich erst den Nebel, der sich in meinem Kopf breit machte. Als ich aufstehen wollte, taumelte ich. Aber die Frauen ließen mich gar nicht hoch. »Iß!« wiederholten sie in barschem, befehlendem Ton. »Ich bin satt«, murmelte ich und schob das Fleisch von mir. Ich rülpste und genoß das angenehm satte Gefühl. Aber nur einen Augenblick, dann fühlte ich mich plötzlich gepackt und auf den Rücken gelegt. Zwei hielten meine Arme, zwei meine Beine, und sie ließen mich ihr ganzes Gewicht spüren. Die fünfte zerrte mich an den Haaren, daß ich aufschrie. Und während ich den Mund zum Schrei öffnete, stopfte die sechste das Fleisch in mich hinein – so tief, daß ich würgte. Aber die andere tat etwas mit meinem Hals, massierte ihn mit ihren fleischigen Fingern, und schon hatte ich das kaum gekaute Fleisch geschluckt. Ich wehrte mich, aber es nützte nicht viel. Sie hatten vor, mich zu mästen! Ein Vorgang, den sie offenbar mit allen Tricks beherrschten. Mehr als Stöhnen brachte ich nicht zuwege. Immer wieder stopften sie Fleisch in mich hinein, und ich schluckte es unter den massierenden Händen. Zwischendurch folgte Schale um Schale der Flüssigkeit. Einmal gelang es mir, sie auszuspucken. Ich war längst nicht mehr fähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Meine Kehle brannte, meine Augen nicht minder, denn die Weiber hatten eine ganze Menge Flüssigkeit über mein Gesicht gegossen. In mir drehte sich alles. Der Nebel war allumfassend. Gleichzeitig war mir speiübel, aber Hände massierten emsig meinen Bauch, und irgendwie fand alles seinen Weg dort hinab. Früchte folgten zum Schluß. Das Gefühl zu bersten, wurde übermächtig. Es gab Augenblicke, da war ich nicht mehr bei Sinnen, da spürte ich selbst die streichelnden, knetenden Hände nicht mehr. Schließlich hatte es ein Ende. Ich rang verzweifelt nach Luft. Blind und von furchtbaren Schmerzen erfüllt, als wären tausend Teufel in mir, wurde ich herumgedreht. Ich wollte erbrechen, aber sie rissen meinen Kopf in den Nacken, daß mir alles im Hals steckenblieb. So
trugen sie mich aus der Hütte. Ich vermochte kaum etwas um mich wahrzunehmen, nur den schaukelnden Himmel über mir, der mich mit neuer Übelkeit erfüllte. Kurz bevor ich starb, hielten sie jedoch an. Der Himmel drehte sich plötzlich wild um mich. Ich hatte das Gefühl zu fliegen. Dann prallte ich nachgiebig auf. Kühles Wasser schlug über mir zusammen. Ich sank in die Dunkelheit hinab. Mir schwanden die Sinne – und das war sehr angenehm.. * »Hab keine Furcht, Ubali«, sagte eine Stimme. Sie kam von irgendwoher. Ich erkannte sie sofort wieder. »Vitu«, versuchte ich zu sagen. Wasser füllte meinen Mund. Aber ich wußte, daß der Lebensgeist meine Gedanken verstand. » Gib mir meinen Körper zurück!« »Du mußt Geduld haben.« »Hatte ich das nicht?« »Doch. Ich weiß, du bist meiner würdig. Aber einige Dinge müssen ihren Lauf nehmen. Habe Geduld. Ich wache über euch alle.« Der Lebensgeist verstummte. Er hatte sich zurückgezogen. Gleichzeitig hatte ich das Gefühl, zu ersticken. Kräftig stieß ich mich nach oben. Ich durchbrach die Oberfläche und füllte meine Lungen mit Luft. Meine Übelkeit und der Drang zu bersten waren verschwunden. Hände griffen nach mir und zogen mich ans Ufer. Der halbe Stamm erwartete mich. Eine Gasse öffnete sich vor mir. Diesmal schubste mich keiner. Naß und noch ein wenig benommen stand ich da, während der König auf mich zukam. »Ich muß mich für meine Frauen entschuldigen«, sagte er. »Sie nahmen meine Worte allzu ernst.« Er lächelte, und seine Züge wirkten fast freundlich. Der Zug von Verschlagenheit von vorhin war verschwunden.
»Dann willst du mich also gar nicht zur Frau nehmen?« fragte ich. »Ich bin nicht, wofür du mich hältst«, antwortete er kryptisch. »Wir alle sind nicht, wofür du uns hältst – auch wenn wir allzu menschlich wirken. Wir sind die erste Schwelle der Wahrheit. Jeder Pilger muß sie überschreiten …« »Jeder Pilger?« unterbrach ich ihn. »Alle, die durch diesen Dschungel pilgern, haben nur ein Ziel: Das Reich des Lebensgeistes. Aber keiner wird es mit einer Maske betreten. Wir reißen sie euch von den Gesichtern!« Die Umstehenden nickten bei diesen Worten. »Was habt ihr mit uns vor?« fragte ich. »Es gibt nur eine Wahrheit …« »Nur eine Wahrheit«, wiederholte die Menge murmelnd. »Den Tod!« »Den Tod!« echote die Menge. »Ihr wolltet uns töten?« entfuhr es mir. »Fürchtet ihr nicht die Strafe des Lebensgeistes? Er wird …« »Wir töten sie alle«, erklärte der Häuptling. »Wir geben den Tod reichlich. Wir sind die Meister des Todes …« »Die Meister des Todes«, wiederholten die Versammelten. »Ihr seid Mörder!« rief ich. Er schüttelte den Kopf. »Unser Tod ist kein Mord. Er ist eine Bereicherung. Jede Erkenntnis ist eine Bereicherung. Der Tod, den meine Frauen dir beinahe gegeben hätten, wäre eine Vergeudung gewesen …« »Eine Vergeudung«, unterbrach ich ihn wütend. Er ließ mich nicht ausreden. »Er wäre ohne Sinn gewesen. Du hättest nichts daraus gewonnen.« »Nein?« erwiderte ich sarkastisch. »Du wirst es verstehen. Schafft sie zu den anderen zurück!« Ich wehrte mich nicht. Es hätte doch nichts genützt. Mir war nicht klar, was uns wirklich bevorstand, aber daß sie wußten, daß wir Pilger des Lebensgeistes waren, stimmte mich nachdenklich. War dies vielleicht eine der Prüfungen, von denen der Priester gesprochen hatte?
Sie würden uns nicht lange darüber im unklaren lassen, dessen war ich mir gewiß. Ich beschloß, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Wenn ich schon sterben sollte, dann nicht ohne Grund. Ich fühlte mich noch immer ziemlich voll von dem unfreiwilligen Essen, aber der Lebensteich hatte mich von den Schmerzen befreit und von der Wirkung des Trunks freigemacht. Mit einigem Glück war ich rasch genug. Als wir an dem gefesselten Baril vorbeikamen, griff ich plötzlich nach dem Speer des Kriegers neben mir und entriß ihn dem Überraschten, bevor er zu einer Gegenwehr kam. Mit Speer und Armen schob ich die Krieger neben mir zur Seite und war zwischen ihnen durch. Tumult brach hinter mir los, aber ich achtete nicht darauf. Ich dachte nur an das, was ich tun wollte. Ich erreichte Baril. Mit einem Schnitt des scharfen Speerblattes hatte ich seine Handfesseln entzwei, mit einem zweiten die an den Füßen. Er taumelte los und hatte Mühe, auf den Beinen zu bleiben, da seine Gelenke ziemlich abgestorben waren. Im nächsten Augenblick waren die Krieger heran, aber wenn Baril mit meinem Körper nur einigermaßen gut umzugehen wußte, würden ihnen seine Kräfte einiges zum Beißen geben. Baril fing auch gleich den ersten Angreifer ab, entriß ihm den Speer und stach damit um sich wie ein Rasender. Das hielt sie auf, während ich zwischen den Hütten verschwand. Überall waren Eingeborene, in die sofort Bewegung kam, als sie mich erblickten. Meine einzigen Chancen waren Überraschung und Geschwindigkeit. Ich sah nicht links und rechts, als ich zwischen den Hütten hindurchraste. Dann hatte ich den Waldrand erreicht und war zwischen den Bäumen ihrer Sicht entzogen. Eine Weile behielt ich das Tempo bei, soweit es das Unterholz zuließ. Hinter mir vernahm ich, daß auch die Verfolger den Wald erreicht hatten. Sie mußten viele sein. Lange würde ich den Wettlauf nicht durchhalten. Ich hielt einen Augenblick an und lauschte. Viel Zeit blieb nicht. Hastig sah ich mich um. Aufatmend gewahrte ich einen Baum, dessen unterste
Äste leicht zu erklimmen waren. Während ich hochkletterte, sah ich zwischen den Bäumen, daß im Lager Fackeln entzündet worden waren. Es war ziemlich dunkel, ein Umstand, den ich sehr begrüßte. Unter mir liefen die ersten Verfolger. Ich verhielt mich vollkommen still, um ihre Aufmerksamkeit nicht durch Geräusche auf mich zu lenken. Das halbe Dorf schien sich an die Verfolgung gemacht zu haben. Den Kampfgeräuschen vom Dorf her nach zu schließen, mußte die andere Hälfte mit Baril beschäftigt sein. Es erstaunte mich außerordentlich, wie lange er Widerstand zu leisten vermochte. Das hatte ich ihm nicht zugetraut. Mir war es mit seiner Befreiung lediglich darum gegangen, die Verfolger einen Augenblick von mir abzulenken. Aber nach und nach wurde es ruhiger und schließlich ganz still. Auch unter mir regte sich nichts. Aber ich war klug genug zu warten. Eine gute Stunde später, als die Finsternis bereits fast undurchdringlich war, kehrten meine Verfolger zurück. Auch sie hatten Fackeln entzündet. Ich wartete, bis die Lichter alle im Dorf verschwunden waren, dann erst machte ich mich an den Abstieg. Vorsichtig schlich ich ebenfalls zum Lager zurück. Es war nicht einfach, sich zu verbergen, denn überall brannten Feuer. Ich begann die Lichtung zu umrunden, um an das Löwengehege und an Thamai und den Priester zu gelangen. Vielleicht konnte ich sie befreien. Im Widerschein der Flammen konnte ich sie deutlich sehen. Bis jetzt schien ihnen nichts geschehen zu sein. Sie standen noch immer an die Pflöcke gebunden. Eine große Anzahl von Dorfbewohnern scharte sich um etwas am Ufer des Tümpels, das ich nicht sehen konnte. Das mußte Baril sein. Ich beeilte mich. Als ich in die Nähe des Tümpels gelangte und ihn halb umrundet hatte, war mir ein guter Blick auf die Szene vergönnt. Ein Dutzend Männer hielten Baril fest. Mit ausgestreckten Armen und Beinen warfen sie ihn zu Boden. Baril wehrte sich verzweifelt, aber er vermochte sie nicht abzuschütteln. Was dann geschah, ließ
mich mein unbesonnenes Handeln tief bedauern. Die Fackeln beleuchteten jede grausige Einzelheit. Als er am Boden lag, trat der Häuptling vor und sagte: »Du hast ohne Grund getötet. Fürchte die Rache der Lebenden und der Toten!« Damit hob er seinen kurzen Speer und stieß ihn in den Boden. Baril stieß einen Schrei aus und krümmte sich wild. Erst jetzt erkannte ich, daß der Speer seine Hand durchbohrt und am Boden festgenagelt hatte. Es war mir, als fühlte ich den Schmerz selbst, so verbunden war ich in diesem Augenblick mit meinem Körper. Ein zweiter trat vor und stieß den Speer in die andere Hand. Wieder folgte ein peinvoller Schrei, gefolgt von einem dritten und vierten, als sie seine Füße festnagelten. Sie ließen ihn los. Er bäumte sich schreiend auf und lag dann still, denn jede Bewegung mußte ihm grausame Schmerzen bereiten. Die Dorfbewohner zogen sich langsam zurück an die Feuer und begannen die Toten an den Tümpel zu tragen. Es waren mehr als zwei Dutzend. Sie warfen sie in das Wasser, ließen mehrere helle Fackeln am Ufer, die Baril gut beleuchteten und begaben sich an ihre Feuer, wo sie Fleisch brieten und Schalen mit dem roten Trunk kreisen ließen. An Baril heranzukommen, war unmöglich, ohne gesehen zu werden. So peinvoll seine Lage auch war, niemand konnte ihm im Augenblick helfen. Ich mußte versuchen, an Thamai und den Priester heranzukommen. Vorsichtig umrundete ich den Tümpel und blieb in der Deckung des Waldrands. Gleich darauf sah ich mich um mein Ziel betrogen. Mehrere Männer begaben sich zu den Gefangenen und befreiten sie von den Pfählen. Sie führten sie an eines der Feuer und gaben ihnen zu essen und zu trinken. Diese freundliche Geste überraschte mich. Ich vermochte mir keinen rechten Reim darauf zu machen. Ich blieb in meinem Versteck und sah eine Weile zu. Die Männer unterhielten sich offenbar mit den Gefangenen. Es sah alles ganz zwanglos aus.
Einige der Männer begaben sich mit Fleischresten und großen Stücken rohen Fleisches zum Löwengehege. Sie öffneten es und betraten es völlig furchtlos. Überrascht sah ich, daß die Löwen zu ihnen kamen und ihnen aus der Hand fraßen. Waren sie Verwandelte? Aber ich hatte nirgends Vitus Mal an ihnen entdecken können. Geraume Zeit verstrich, und ich begann unruhig zu werden. Es sah aus, als warteten sie alle auf etwas, und es war beunruhigend, nicht zu wissen, was es war. Ich versuchte, näher heranzukommen, um etwas von den Gesprächen mitzubekommen, gab es aber bald auf. Plötzlich erhob sich Thamai vom Feuer und schritt ungehindert auf den Waldrand zu – in meine Richtung. Aufgeregt wartete ich auf einen günstigen Augenblick, um mich bemerkbar zu machen. Aber dann vernahm ich überrascht, daß sie nach mir rief. »Ubali!« Ebenso halblaut antwortete ich ihr: »Hier, Thamai!« »Du brauchst dich nicht mehr zu verstecken. Alle wissen seit geraumer Zeit, daß du hier in der Nähe bist. Komm ans Feuer.« »Sind wir keine Gefangenen mehr?« fragte ich erstaunt. »Doch, aber die Dinge haben sich geändert.« »Sie wollen uns nicht mehr töten?« »Doch, mein Liebster. Sie müssen uns alle töten. Uns alle zusammen, verstehst du? Nur uns alle zusammen.« »Thamai, was ist in dich gefahren?« entfuhr es mir verblüfft. »Siehst du nicht, daß sie euch dann nicht töten können, so lange ich fehle?« »Oh, Ubali. Es ist wichtig, daß sie uns töten. Wir müssen zusammen sterben. Wir tragen alle Masken. Wir müssen sie ablegen, bevor wir das reich des Lebensgeistes erreichen.« »Du meinst«, sagte ich vorsichtig, »wir würden wieder unsere Körper tauschen, wenn wir alle zusammen den Tod fänden?« »Ich hoffe es«, erwiderte sie und berührte mich. Es war zum erstenmal, daß wir einander in diesen Körpern berührten. »Ich hoffe
es so sehr, mein Liebster.« Sie küßte mich. Es war ein seltsamer Kuß, der sehr widerstreitende Gefühle auslöste, denn ich sehnte mich wohl danach, Thamai in den Armen zu halten, aber nicht in Barils Körper. So sanft es mir möglich war, schob ich sie von mir. »Es klingt vernünftig, was du sagst. Nur, wenn wir alle zusammen sterben, kann der Lebensgeist den Tausch der Körper rückgängig machen. Aber wie können wir sicher sein, daß sie uns auch wirklich in den Lebensteich werfen?« »Sie werden es tun«, sagte Thamai fest. »Das Löwenvolk dient dem Lebensgeist.« »Löwenvolk?« erwiderte ich überrascht. »Dann sind diese Tiere Verwandelte?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Die Menschen sind die Verwandelten.« Ich starrte sie überrascht an. Sie griff nach meiner Hand. »Komm. Ich sehne mich nach dir … nach Ubali. Laß uns gehen …« »Warte, Thamai. Weshalb haben sie das mit Baril getan? Wenn sie Diener Vitus wären …« »Er hat die Tochter des Häuptlings getötet. Es gab keinen Grund dafür, nur seine Lust am Töten. Er nahm sie als Geisel. Er …« Sie stockte. »Er schnitt ihr den Kopf ab, bevor er sie freiließ … Vitu hat sich von ihm abgewandt. Sein Herz ist kalt. Er wird viele Tode sterben und keinen unverdient.« »Wann soll es geschehen?« fragte ich sie. »Ich weiß es nicht. Aber noch in dieser Nacht.« Ich nickte. »Vitu macht es seinen Dienern nicht leicht.« Sie lächelte, und mit einemmal waren Barils Züge voll von ihrer Anmut. »Vielleicht erscheint es dir so, weil du nicht von dieser Welt bist, mein Liebster. Ist es nicht das einfachste der Welt? So wie die Flammen dem Feuergeist gehorchen, und die Bäche dem Geist des Wassers, oder die Winde dem Geist der Luft, die Steine dem der Erde – so gehorcht das Leben Vitu, vom ersten bis zum letzten Atemzug.«
Wir schritten gemeinsam auf das Lagerfeuer zu. Sie blickten uns entgegen und machten uns Platz. Sie nickten uns freundlich zu. Es war, als säßen wir unter Brüdern. Mit Ausnahme der Tatsache, daß sie uns töten wollten …
Das Leben war schon seltsam auf Danilas Welt.
6. Wir saßen bis lange nach Mitternacht. Sie aßen und tranken. Das waren Genüsse, die ich nicht teilte. Ich schätzte, daß die Frauen des Häuptlings mich für ein halbes Dutzend Tage vollgestopft hatten. Ich war der einzige, der immer wieder Blicke zur reglosen Gestalt Barils hinüberwarf. In mir wehrte sich alles gegen die Qualen, die Baril litt, auch wenn er sie tausendmal verdient hatte, auch wenn dies nur ein winziger Bruchteil des Leides war, das er selbst in den Gewölben Teguars bereitet hatte. Aber es weidete sich auch niemand an seinen Qualen. Er litt. Er büßte. Es war eine andere Welt – seine ganz allein. Ich fragte mich, worauf wir warteten. Selbst mit der Aussicht auf ein neues Leben war das Warten auf den Tod nicht leicht. Plötzlich kam Bewegung in die Menge. Einige erhoben sich und blickten zum Tümpel. »Sie kehren wieder«, flüsterte Thamai. »Sie kommen!« rief jemand. Nun begriff ich. Natürlich, die Toten, die sie dem Teich übergeben hatten! Darauf warteten sie also. Die Wasseroberfläche schäumte. Dann erschien der erste gelbe Schädel, holte pfeifend Luft und bewegte sich auf das Ufer zu. Alle erhoben sich von den Feuern und liefen den Neugeborenen entgegen. Wir schlossen uns an. Ein halbes Dutzend Köpfe waren bereits aufgetaucht. Weitere folgten. Eine junge Löwin kam als erste ans Ufer und schüttelte ihr Fell, daß die Tropfen nach allen Seiten flogen. Sie wurde mir großer Freude willkommen geheißen. Ihre Augen leuchteten in wilder Lebensfreude. Ihr Anblick bestätigte Thamais Worte, daß das Löwendasein ihr wirkliches Leben war. Im nächsten Augenblick wurde unsere Aufmerksamkeit auf Baril gelenkt. Als hätte die in seiner Nähe dem Wasser entstiegene Löwin etwas in ihm geweckt, begann er sich plötzlich wie rasend zu winden. Dabei gelang es ihm, den Speer, der in seiner rechten Hand
steckte, aus der Erde zu reißen und die Hand zu befreien. Er brüllte dabei unmenschlich. Ein Schauer von Blutstropfen regnete über uns, während er den Speer von sich schleuderte und nach dem zweiten griff. Im Nu hatte er die zweite Hand frei. Dann beugte er sich vor und zerrte an dem Speer in seinem rechten Fuß. Aber er schaffte es nicht. Rasend vor Schmerz versuchte er den linken, ebenso vergeblich. Alle starrten ihn an. Niemand hinderte ihn, aber auch niemand half ihm. »Nun ist es genug!« Ergrimmt drängte ich mich zu ihm und riß den Speer aus seinem rechten Fuß. Er schrie schrill, als das schmale Blatt zwischen den Knochen herauskam. Der Schmerz verlieh ihm unglaubliche Kräfte, denn im Sitzen riß er den letzten Speer aus seinem Fuß und kam taumelnd hoch. Einen Augenblick schien es, als würden die blutenden Füße ihm den Dienst versagen. Dann stand er wankend. Ich wollte ihn stützen, und einen Moment lehnte er sich auf mich – aber nur um Kraft zu sammeln. Zu spät merkte ich, was er vorhatte. Mit einem erneuten Aufschrei schnellte er plötzlich vorwärts und warf sich auf die junge Löwin. Die schmale, scharfe Klinge des Speers blitze auf. Die Löwin brüllte röchelnd. Alles war voll Blut. Noch einmal kam Baril auf die Beine. Mit einem triumphierenden Lachen hielt er den blutigen Löwenschädel hoch. Ein Aufschrei ging durch die Menge – ein Aufschrei der Wut und Hilflosigkeit. Ich hielt noch immer den Speer in Händen, und ich sah rot. Es war nicht der Tod des Löwen, der den Grimm in mir weckte. Vielleicht hätte auch ich in dieser Lage getötet, von Pein und Rache getrieben. Es war der Hohn in seinem Gesicht – das eigentlich mein Gesicht war, und das nie solch einen Hohn gekannt hatte. Mit einem Sprung war ich neben ihm und stieß ihm den Speer in die Brust, daß er im Rücken herauskam. Irgendwo in dem Inferno von Blut und Grimm war Thamai. Sie schrie auf. Ich sah plötzlich, daß ich umringt war. Lanzen richteten
sich auf mich und stießen zu. Ja, dachte ich, nun war der beste Augenblick zu sterben, jetzt in diesem Chaos des Tötens. Thamai, ich kom …! Der Schmerz brannte wie eine Waberlohe und erstickte jeden Gedanken. Ich schrie, aber niemand konnte mich hören. Die Welt verschwand in roten Schleiern. * »Dein Wunsch ist erfüllt, Ubali. Und deiner, Thamai.« Vitus Stimme. Nichts hatte ich sehnsüchtiger erhofft. Nun kam alles zu einem guten Ende. »Aber noch ist eure Mission nicht erfüllt«, fuhr Vitu fort. »Und noch bist du nicht frei, Ubali. Noch bist du ein Sklave deines Leibes. Hab Geduld.« Was bedeutete das? Diese letzten Worte gefielen mir nicht. Eine schreckliche Ahnung quälte mich. »Thamai!« versuchte ich zu rufen. Aber dann kam dieses Gefühl des Erstickens. Ich mußte schwimmen. Ich mußte an die Oberfläche. Ich brauchte Luft! Endlich! Ich rang nach Atem. Ein erleichtertes Grollen kam aus meiner Kehle. Entsetzt begriff ich in diesem Augenblick Vitus Botschaft. Die schwarzen Tatzen, mit denen ich das Wasser teilte, bestätigten die grausame Wahrheit. Ich war wieder Ubali, der Panther! Oh, Thamai! Welche unmenschliche Geduld forderte der Lebensgeist von uns? Aber es war wenigstens mein Körper. Thamai wenigstens würde wieder sie selbst ein. Das war ein Trost. Ich erreichte das Ufer und schüttelte die Nässe aus meinem Fell. Der Priester stand bereits dort. Die Feuer waren erloschen. Die Morgendämmerung kroch über den östlichen Himmel. Es würde bald Tag sein. Der Priester starrte mir entgegen. »Ubali?« Ich antwortete mit einem Grollen. Es schien ihn nur halb zu überzeugen. Aber dann tauchte Thamai
aus den Fluten und kam ans Ufer. Ich lief zu ihr. »Ubali«, flüsterte sie und betrachtete mich traurig. Sie kraulte mich am Hals. »Es ist nicht mehr weit, mein Liebster. Dann wird uns nichts mehr trennen.« Wenn Karuam noch Zweifel gehabt hatte, ob wir auch wirklich wir waren, Thamais Worte hatten sie beseitigt. Verwundert starrten wir um uns. Das Dorf schien verlassen. Neugierig und vorsichtig betraten wir einige der Hütten. Alle waren leer. Auch Baril war verschwunden. Selbst die Löwen fehlten. Was mochte das bedeuten? Warum sollten sie mitten in der Nacht das Dorf verlassen? Oder galt es, neue Pilger abzufangen? Aber das wäre kein Grund für alle, Frauen und Kinder eingeschlossen, aufzubrechen. »Da ist etwas Schreckliches geschehen«, meinte Karuam. »Du siehst zu schwarz«, widersprach Thamai, aber es klang nicht sehr überzeugend. »Was tun wir? Warten?« »Worauf?« Thamai schüttelte den Kopf. »Nein, wir gehen unseren Weg weiter, so lange wir das Glück haben, ungehindert zu ziehen.« Sie legte ihre Hand auf meine Schulter. »Einverstanden, mein Liebster?« Ich brummte zustimmend. Der Ort gefiel mir nicht. Je früher wir verschwanden, desto besser. Wir durchquerten das Dorf, hauptsächlich, um sicherzugehen, daß auch wirklich niemand mehr da war. Aber am ersten Eindruck änderte sich nichts. Das Dorf war ausgestorben! Als wir den Rand der Lichtung erreichten, begegnete uns eine seltsame Gruppe von Menschen. Einer war ein älterer Mann. An seiner Seite schritt ein Mädchen, nicht älter als ein Dutzend Sommer, und neben ihr ein Junge, der schon fast erwachsen war. Sie kamen aus dem Wald, und ein Zug von Verklärtheit war in ihren Gesichtern. »Seid gegrüßt!« rief der Mann freundlich. Der Junge und das Mädchen nickten uns zu.
Karuam und Thamai erwiderten den Gruß. »Ihr geht in die falsche Richtung, meine Freunde«, sagte der Priester. »O nein, seht ihr es denn nicht? Wir haben alle Pein längst hinter uns. Wir sind Gesalbte. Wir sind geheilt und erfüllt von Leben. Wir kehren zurück in Vitus Reich.« »So sind wir auf dem rechten Weg«, stellte Thamai erleichtert fest. »Ja«, stimmte der Alte zu. »Für uns gibt es keine Gefahren mehr, aber ihr … ihr müßt euch in acht nehmen …« »Welche Gefahren sind es, die uns bevorstehen«, drängte der Priester. Der Mann dachte nach, dann schüttelte er verwundert und ein wenig traurig den Kopf, »Ich weiß es nicht mehr.« Er wandte sich an seine Begleiter. »Wißt ihr es?« Aber auch diese schüttelten die Köpfe. »Wir haben es vergessen«, erklärte der Alte. »Seltsam. Aber es ist so.« Plötzlich griff er sich an die Stirn. »Doch die Kaimani … hütet euch vor ihnen …« »Was sind Kaimani?« fragte Thamai. »Das weiß ich nicht mehr. Verzeiht mir, meine Freunde. Es ist, als ob die schreckliche Vergangenheit ausgelöscht wäre. Sie sind … Feinde Vitus … ja, Feinde. Sie … bringen den Tod …« Er verstummte. Dann wünschte er uns viel Glück und zog mit seinen Begleitern weiter. Ein wenig verblüfft starrten wir ihnen nach. Sie schienen sich um die Umwelt kaum zu kümmern, als gäbe es keine Gefahren mehr für sie, als wären sie in einem Traum befangen. Es erfüllte mich mit Unbehagen. Und ihre Worte nicht minder. Die Kaimani. Wer oder was mochte das sein? Wir ließen das leere Dorf hinter uns und kämpften uns westwärts durch den Dschungel. Wenn wir gehofft hatten, auf die Dorfbewohner zu stoßen, wurden wir enttäuscht. Aber wir stießen auf andere Zeichen, die uns fast zweifeln ließen, daß wir auf dem rechten Weg waren. Es waren Zeichen von Tod und Fäulnis, von Blut und Gewalt. Der Priester war es, der das erste Zeichen fand: Ein Skelett, dessen bleicher Schädel uns warnend anstarrte als wollte er sagen: Geht
nicht weiter. Der Tod lauert überall. Keiner entgeht ihm. Er hat tausend Gestalten. Instinktiv sahen wir uns um. Die Stille des Dschungels wirkte drückend. »Wodurch mag er gestorben sein?« murmelte Thamai. »Wenn wir das erfahren, mag es zu spät sein«, meinte der Priester. Grollend drängte ich vorwärts. Ich sah wenig Sinn darin, über diesem Skelett zu grübeln. Nicht Tote, sondern Lebende waren unsere Feinde. Aber noch am gleichen Tag hatten wir ein Erlebnis, das uns wesentlich tiefer erschütterte. Wir vernahmen wimmernde Laute, die bald in schrille Schreie übergingen, wie sie nur jemand ausstößt, der einem schrecklichen Tod ins Auge blickte. Wir hatten erstarrt innegehalten. Es war nicht klar erkennbar, woher die Schreie kamen. Vorsichtig setzten wir unseren Weg fort. Langsam kamen die Schreie näher. Wir erreichten eine Lichtung und starrten von Grauen erfüllt in den Himmel. Ein dunkler, achtbeiniger Schatten fiel über die Lichtung. In einem gewaltigen Netz aus fingerdicken Fäden, das an den Stämmen am Rande der Lichtung verankert war, saß eine riesige Spinne. Sie mußte von der Größe eines Pferdes sein, was den Körper selbst betraf, und ihre acht Beine, schenkeldick und behaart, glitten unruhig über die Stränge des Netzes, als sie uns erblickte. Der mächtige Schädel mit seinem Kranz von Augen, den abschreckenden Fühlern und Kiefern war uns zugewandt. Ich grollte warnend, aber dann entdeckten wir die menschliche Gestalt nicht weit von dem Ungeheuer. Sie war eingesponnen aber deutlich erkennbar. Und sie war längst tot. Das Schreien hob wieder an. Jetzt erst sahen wir eine weitere menschliche Gestalt. Ein Mann. Er hing an den Ausläufern des Netzes, nahe am Dschungelrand. Er war nicht eingesponnen. Er hing nur mit dem Rücken an einem der starken Stränge, die in die Mitte des Netzes führten. Er mußte
daran kleben, denn er strampelte mit Händen und Füßen in dem verzweifelten Bemühen, sich aus der teuflischen Fessel zu befreien. Aber jede Bewegung kettete ihn fester an den Strang. Einer seiner Arme klebte fest. Dann eines seiner Beine, während wir entsetzt zusahen. Wir hätten ihn nicht erreichen können. Er schwebte zu hoch über dem Boden. Vielleicht hätte ein guter Speerwurf sein Ende weniger grauenvoll gestalten können. Bereits wurde sein Schreien schwächer. Er war nun fast vollkommen bewegungsunfähig. Ich stand wie gelähmt da. Nichts vermochte mich in solches Grauen zu versetzen wie Spinnen, und dies mußte sicherlich die Urmutter aller Spinnen sein. Der Gedanke, wie dieser Mann hilflos dort oben zu hängen und auf die erbarmungslosen Fühler und Kiefer zu warten, ließ mich unbewußt aufbrüllen. Wenn ich nur einen Speer hätte halten können. Oder einen Bogen! Ich dachte an Thamais Giftpfeile, aber sie befanden sich mit dem Rohr um die Schultern von Barils Körper. Als ich meine Blicke von dem hilflosen Ofper abwandte, sah ich entsetzt, daß Thamai und der Priester sich Schritt für Schritt einem der Stränge näherten. Brüllend hetzte ich hinter ihnen her. Aber sie nahmen mich gar nicht wahr. Ihre Gesichter waren verzerrt, als ob sie einen großen inneren Kampf ausfochten, aber ihre Augen waren stumpf. Sie waren nicht bei Sinnen! Sie waren der Spinne verfallen. Dieses Ungeheuer lähmte ihre Opfer nicht nur mit seinem Gift. Sie wartete nicht darauf, daß Beute in ihr Netz geriet. Sie trieb sie in ihr Netz. Mit einem erneuten Brüllen sprang ich Thamai an und brachte sie zu Fall. Blut floß, obwohl ich darauf achtete, sie nicht zu verletzen. Dann stürzte ich mich auf den Priester und riß ihn ebenfalls zu Boden. Aber noch während ich mit ihm beschäftigt war, erhob sich Thamai und folgte erneut dem Ruf der Spinne. Ich ließ von dem Priester ab. Es waren nur noch wenige Schritte zu einem dieser gefährlichen Stränge, an denen sie kleben bleiben
würden. Ich schleuderte sie mit der ganzen Wucht meines Körpers zu Seite. Plötzlich verfinsterte sich der Himmel über mir. Mit einer einzigen fließenden Bewegung glitt die Spinne an den Strängen herab, begleitet von einem schaudererregenden Schaben und dem Knacken gepanzerter Gelenke. Ihr Bauch war fast greifbar über uns, eine gepanzerte Platte, aus der die Beine wie aus einer Schildkröte kamen – haarig und ekelerregend. Das Netz schwankte, und die Lichtung war erfüllt von einem Surren, das in den Ohren schmerzte. Etwas zischte an uns vorbei. Gleich darauf hörte ich Karuam schreien. Er zappelte hilflos an den frischen Fäden, die von der Spinne herabbaumelten. Sein Gesicht war verzerrt, diesmal in körperlicher Pein. Zwei weitere Fäden schnellten aus dem hinteren Teil des Spinnenkörpers herab und wanden sich um ihn wie Schlangen. Ich sprang auf, aber bevor ich ihn erreichen konnte, ruckte er hoch und hing unerreichbar in den Strängen. Jetzt sah ich auch die grüne Flüssigkeit, die von den Strängen über ihn floß, und an der er klebte. Er hatte aufgehört zu schreien. Das Entsetzen überwog die Qual. Er starrte mit weit aufgerissenen Augen auf die Spinne, die langsam an ihn heranglitt. Als ihre Fühler ihn berührten, begann er wieder zu schreien – aber nur kurz. Die mahlenden Kiefer bissen knirschend zu. Das Gift lähmte ihn augenblicklich. Thamai stieß einen wimmernden Laut aus. Ich sah, daß sie aus ihrer Trance erwacht war und das Schauspiel mit ansah. Ihre Finger krampften sich in mein Fell. Die Spinne ließ von dem Priester ab, und wir sahen, daß er nicht mehr bei Sinnen war. Das Untier kümmerte sich nicht um uns. Mit dem schabenden Geräusch, das ich schon einmal vernommen hatte, glitt sie über das Netz und wandte sich ihrem zweiten Opfer zu, das stumm zugesehen hatte und nun seltsamerweise nicht mehr schrie, sondern das Ende ergeben erwartete. Thamai wandte sich schluchzend ab. Ich schubste sie. Wir mußten fort von hier, so lange sie sich mit ihren Opfern zufrieden gab. Für
Karuam konnten wir nichts mehr tun. Wir hatten keine Waffen. Wir konnten nur fliehen. Während hinter uns der andere das gleiche grauenvolle Schicksal erlitt, erreichten wir den rettenden Dschungel. Wir ruhten nicht, bis wir eine größere Strecke zwischen uns und die Lichtung gebracht hatten. Thamai sank schließlich erschöpft ins Gras, während ich unruhig die Umgegend absuchte. Ich fand aber nichts, das mein Mißtrauen erregt hätte. Wir konnten eine Weile hier lagern. Hätte ich nur reden können. Thamais Gesicht war totenblaß. Das änderte sich in den folgenden Stunden nur langsam. War das das Schicksal, das Vitu für seinen Priester ausersehen hatte? Die Frage quälte mich. Und eine zweite nicht weniger: Wenn sein Blut ihn nicht sterben ließ, wenn die magische Wirkung ihn immer wieder lebendig machte – dann starb er tausend Tode unter den Kiefern der Spinne. Immer und immer wieder … Das konnte nicht Vitus Wille sein! Aber der Gedanke ließ mich nicht mehr los. Diese Machtlosigkeit war quälend. Wir mußten auf schnellstem Wege Vitu erreichen. Nur so konnte ich etwas für Karuam tun. Ich drängte die erschöpfte Thamai zum Aufbruch. Der Dschungel um uns war erfüllt von Leben. Von überallher kamen Geräusche, selbst aus der Erde; als erwachte der Geist der Erde mit jedem unserer Schritte. Die Büsche raschelten, Äste knackten, das Gekreische von Vögeln erfüllte die Luft. Thamais war sehr ängstlich geworden. Karuams Ende hatte sie tief erschüttert. Nun schrak sie immer wieder zusammen, wenn Geräusche aus unserer Nähe kamen. »Helft mir!« krächzte eine Stimme schwach zu meiner Rechten. Ich sah erst nichts. Nur ein Geruch von Fäulnis kam aus dem dichten Buschwerk. »Ubali!« rief Thamai und versuchte mich zurückzuhalten. »Ubali, es … es ist eine Falle …« Ich knurrte zustimmend. Den Verdacht hatte auch ich. »So helft … mir … doch!« kam erneut die Stimme. Sie klang verzweifelt, erfüllt von Qual. Ich schüttelte Thamais Hände ab und schob mich durch die
Büsche. Ich konnte an dieser Stimme nicht vorbeigehen. Wenn es in meiner Macht lag, die Qualen zu beenden, dann wollte ich es tun. Oder ich hätte diese bettelnde Stimme bis ans Ende meiner Tage in meinem Herzen vernommen und eine Schuld gefühlt. Der Fäulnisgeruch wurde stärker. Thamai, die mir gefolgt war, stöhnte auf, als wir den Mann vor uns hatten. Er lag zwischen zwei mächtigen Wurzeln eines Baumes. Sein Körper bestand nur noch zum Teil aus Fleisch. Große Teile waren graue Pestbeulen von weißlichen Würmern, die über ihn quollen, sich wanden – denen er Nahrung war bei lebendigem Leibe. Er öffnete den Mund, und wir sahen sie zwischen seinen Zähnen, sahen sie über seine Lippen kriechen, aus seiner Nase kommen, und bemerkten mit würgendem Ekel, daß seine Augen nichts anderes waren als Häufchen sich windender Würmer. Sein ganzer Leib krabbelte. Der Gestank, der aufstieg, war kaum zu ertragen. »Ich flehe … euch an. Erlöst mich! Erlöst mich! Gebt mir … den Tod …« Ich verstand nicht, wieso er überhaupt noch lebte. »Sie sind überall … in mir. Ich … spüre sie in … meinen Eingeweiden …« Aber auch ohne sein Bitten hätte ich es nicht länger ertragen. Mit einem wütenden Knurren, mit dem ich meinen Ekel hinabwürgte, sprang ich über ihn und öffnete mit einem einzigen Prankenhieb seine Kehle. Er starb mit einem Seufzen. Er kam kaum Blut. Rasch sprang ich zurück und schüttelte mich. Der Gedanke, diese Würmer an mir zu haben, sträubte mir regelrecht das Fell. Plötzlich sprach der Tote, nicht mit den Lippen, sondern von innen heraus, als spräche nur der erlöste Geist. »Vitu wird es dir lohnen, mein Freund. Du sollst auch wissen, daß nicht alle Gefahren in diesem Dschungel wirkliche Gefahren sind. Und daß nicht jeder Tod auch den Tod bedeutet. Vor einem aber hütet euch besonders: die Kaimani! Sie haben wider Vitus Gesetze
gefrevelt und sind die Verdammten des Dschungels. Ihr dürft kein Mitleid mit ihnen haben. Sie sind tückisch und grausam und abgrundtief böse.« Dann schwieg der Tote. Die Hülle war nun leer, nur erfüllt vom Leben der Würmer. »Wer sind die Kaimani?« fragte Thamai mit zitternder Stimme. Aber es kam keine Antwort mehr. Langsam, Schritt für Schritt zogen wir uns zurück. Thamai klammerte sich an mich. »Warum all diese grauenhaften Qualen?« flüsterte sie. »Was sollen wir daraus lernen?« Vielleicht den Sinn des Lebens, dachte ich. Daß eins vom andern lebte, und daß Grausamkeit nicht immer Grausamkeit war und der Tod nicht das Ende, sondern ein Beginn? Aber jetzt war nicht der Augenblick zum Nachdenken. Jetzt war der Augenblick, zu kämpfen und zu überleben – und zu entscheiden. * Wir lagerten am Ufer eines Tümpels. Wir wußten nicht, ob er ein Lebensteich war oder gewöhnliches Wasser. Es löschte jedenfalls den Durst, und es wirkte belebend. Unsere Erschöpfung schwand. Allein, es schien uns in der Dunkelheit nicht ratsam, den Marsch fortzusetzen, selbst in meiner Gestalt eines nächtlichen Jägers. Ich erwachte nach Mitternacht durch ein seltsames Gefühl, das von meinem ganzen Körper Besitz ergriff. Als ich die ungewöhnliche Schlaftrunkenheit abgeschüttelt hatte, und auf die Beine kam, machte ich eine Entdeckung, die mich zu einem Freudentanz veranlaßte. Thamai erwachte und starrte mich verblüfft an. Dann wurden ihre Augen weit. »Ubali!« rief sie und flog in meine Arme. Es war verdammt gut, sie zu halten – als Mann! War etwas geschehen, während ich schlief? Hatte mich etwas
getötet? Ohne daß Thamai es bemerkte? Unwahrscheinlich. Aber ich hatte mich verwandelt. Ich besaß wieder meinen Körper. Ich war wieder Ubali! Und es war ohne magisches Wasser oder Blut geschehen! »Vitu ist gnädig zu uns«, flüsterte Thamai. »Obwohl wir noch nicht in seinem Reich sind«, erwiderte ich zweifelnd. »Vielleicht ist uns nur ein Augenblick gegönnt – damit wir nicht verzagen …« »Vielleicht hast du recht«, sagte ich. Wir sanken beide zur Erde, trunken in dem Gefühl des Lebens, das wir in uns spürten. »Dann sollten wir ihn nützen«, flüsterte Thamai. »Mein Liebster, es wäre eine Vergeudung nach all der Sehnsucht, die mich nach dir verzehrt hat …« »Ja, Thamai. Es soll unser Augenblick sein.« Es war unser Augenblick – durchlebt in einer ekstatischen Bejahung des Lebens, die in diesem von Fäulnis und Tod durchdrungenen Dschungel wie Hohn anmuten mußte. Die Ernüchterung kam gegen Morgen, als wir in einen Schlummer sanken, der wundervolle Träume brachte. Denn als die Sonne aufging, erwachte ich wieder als Vierbeiner. Vitu hatte uns in der Tat nur einen Augenblick gewährt. * Begleitet von den Erinnerungen, aber ernüchtert, nahmen wir bei Sonnenaufgang den Marsch wieder auf. Thamai war sehr schweigsam. Sie blieb immer in Berührung mit mir. Die Entfremdung, die während der vergangenen Tage gezwungenermaßen zwischen uns stattgefunden hatte (auch wenn mir Thamai immer zu verstehen gab, daß sie mich liebte), war mit dieser Nacht fortgewischt. Tiefer denn je zuvor hatten wir zueinandergefunden. Ich spürte es selbst in meinem Pantherherzen. Wir hatten wieder erfahren dürfen, wie sehr wir einander liebten.
Es machte den Weg nicht leichter. Aber Vitus Gunst erfüllte uns mit großen Hoffnungen. Gegen Mittag vernahmen wir schrilles Kreischen wie von Affen, dazwischen leisere stöhnende und wimmernde Laute. Vorsichtig pirschten wir uns an die Quelle des Lärms heran. Zu unserem Erstaunen sahen wir ein halbes Dutzend Männer und Frauen, die vor einem Baum standen oder sich gesetzt hatten. Sie starrten an ihm hoch. Irgend etwas bewegte sich im Geäst. Wir konnten es nicht genau erkennen. Es sah aus wie Affen, und wenn mich die Entfernung nicht trog, dann waren sie übermannsgroß. »Was wollen sie nur von den Affen?« murmelte Thamai. »Ah, es ist ein Dakai-Baum.« Das sagte mir nicht. Aber ihr eine ganze Menge. »Mit den Menschen stimmt irgend etwas nicht«, murmelte sie. »Sieh sie dir an, als ob sie kaum noch in der Lage wären, zu stehen …« Sie berührte mich im Nacken. »Komm, wir gehen zu ihnen.« Wir näherten uns der Gruppe. Zwei von ihnen versuchten vergeblich, an dem glatten Stamm hochzuklettern. Ein dritter begann ihnen zu helfen, aber sie erreichten nicht einmal die halbe Höhe, dann sanken sie kraftlos nach unten. Sie bemerkten uns erst, als wir sie fast erreicht hatten. Sie waren krank und offenbar so matt, daß sie sich kaum noch auf den Beinen halten konnten. »Sie brauchen die Dakai-Früchte«, sagte Thamai. »Sie scheinen Pilger zu sein wie wir, und sie brauchen unsere Hilfe.« Die Affen hatten offenbar etwas dagegen, daß Menschen die Früchte ernteten. Sie bewarfen die vier Männer und zwei Frauen zwar nicht, wie es Affen in der Horde oft tun, aber sie kamen kreischend und mit drohenden Gebärden näher, wenn einer der Menschen Anstalten machte, sich an die Früchte zu wagen. Die Menschen entdeckten uns, als wir auf den Baum zuschlichen. Sie sahen uns erst angstvoll, dann aber hoffnungsvoll entgegen, als sie Thamai an meiner Seite gewahrten. Oder sie erkannten an Vitus Mal, daß ich ein Verwandelter war, vor dem sie sich nicht zu
fürchten brauchten. Als wir näher kamen, sahen wir auch, was der Grund für die Erschöpfung der Menschen war. Sie waren über und über mit Geschwüren bedeckt. »Vitus Erbarmen«, entfuhr es Thamai. »Sie haben Gliederfäule. Es gibt keine Heilung von dieser Krankheit. Sie erhoffen sich vom Lebensgeist Hilfe. Deshalb pilgern sie zu ihm. Aber sie werden ihr Ziel nicht erreichen. Sie brauchen die Früchte, um wieder zu Kräften zu kommen. Können wir ihnen nicht helfen?« Ich spürte, wie sie die Fäuste ballte. »Wir haben keine Waffen«, murmelte sie. »Was können wir nur gegen diese Affen tun?« Ich grollte, um sie wissen zu lassen, daß ich sie verstanden hatte. Sie sahen in der Tat erbarmungswürdig aus – vollkommen ausgezehrt, furchtbar entstellt von den roten, eitrigen Geschwüren, die keine Stelle an ihnen verschonten, eine verzweifelte Hoffnung in den Augen. Sie streckten uns die Arme bittend entgegen, aber sie wichen angstvoll zurück. Ich verstand es nicht gleich. Aber Thamai sagte warnend: »Vorsicht, mein Liebster, daß du sie nicht berührst. Die Krankheit wird durch Berührung übertragen.« Sie wußten es auch, und sie waren bedacht, uns nicht zu nahe zu kommen. Mir war danach, den Blick zu senken vor ihrem Elend. Ich hatte schon viele Krankheiten gesehen, aber noch nichts, das dem hier glich. Ich starrte in den Baum hoch. Ein halbes Dutzend brauner Körper lauerte in der Krone. Mit einem Sprung war ich zwischen den unteren Ästen. Die Krallen waren ein gutes Hilfsmittel. Panther waren keine schlechten Kletterer – diese Erfahrung hatte ich auch schon früher gemacht. Nun kam sie mir zugute. Aber es war dennoch mühsam, sich am Stamm emporzuarbeiten. Die Affen warteten. Daß sie nicht kreischend auf den nächsten Baum flohen, bedeutete nur eines. Sie waren nicht bereit, ihr Spiel aufzugeben. Es bedeutete Kampf. Es war mir recht. Ich fühlte furchtbaren Grimm. Ich erreichte die
Äste, auf denen sie hockten. Zwei sprangen mich an. Sie landeten auf meinem Rücken, da ich mich nicht rasch genug umdrehen konnte auf dem schwankenden Ast. Ich brüllte auf, als sie ihre Zähne in meinen Körper gruben. Für einen Moment drängte ich mich mit aller Kraft gegen den Stamm. Einer meiner Angreifer ließ von mir ab und fiel kreischend mehrere Äste in die Tiefe, bis er sich fing. Den zweiten schüttelte ich ab und fing ihn mit den Pranken. Mit aufgerissener Brust stürzte er hinab. Dieser erste Mißerfolg machte die anderen vorsichtiger und mich mutiger. Ich wagte mich auf die dünneren Äste, auf die sie sich zurückzogen. Tief unter mir sah ich Thamai und die anderen um den leblosen Affenkörper geschart. Ein Sprung brachte mich in die unmittelbare Nähe von zwei Affen. Noch während ich landete, hieb ich mit der Pranke nach ihnen. Ich erwischte einen, bevor er zurückweichen konnte. Er starb und riß mich mit in die Tiefe. Ein Ast grub sich schmerzhaft unter meine Beine. Ich klammerte mich verzweifelt fest, schlug meine Krallen in das Holz. Aber noch während ich Halt suchte, landeten mehrere Körper auf mir und schlugen Klauen und Zähne in mein Fell. Ich brüllte auf, ließ den Ast los und wirbelte herum, wobei meine Pranken links und rechts ausschlugen. Die Affen fielen mit schrillem Schreien, und ich mit ihnen. Der Boden war plötzlich sehr nahe. Zweimal prallte ich auf Äste, bevor ich mich fangen konnte. Undeutlich glaubte ich Thamai aufschreien zu hören. Dann hing ich halb betäubt auf einem mächtigen Ast und hatte den Blick frei auf den Boden. Vier Affenkörper lagen dort. Die sich noch schwach regten, machten die Menschen fertig. Ich starrte nach oben. Die Krone des Baumes war leer. Die beiden übrigen hatten die Flucht ergriffen. Erschöpft machte ich mich an den Abstieg. Kaum hatte ich den Baum verlassen, versuchten die Kranken hochzuklettern, um zu den begehrten Früchten zu gelangen. Doch ihre Kräfte reichten nicht aus. So kletterte Thamai hoch und holte einen Armvoll Früchte herab. Die Menschen waren so erschöpft,
daß sie sich kaum auf den Beinen halten konnten. Nie hätten sie die harte Schale der Früchte öffnen können. Thamai öffnete sie mit spitzen Steinen. Dann begab sie sich zu den Kranken und flößte ihnen die belebende Milch ein. Ich brüllte angstvoll auf, denn sie berührte die Kranken, stützte sie auf, damit sie trinken konnten. »Hab keine Furcht, Ubali. Vitu wird uns nicht dafür bestrafen, daß wir diesen Armen helfen.« Die Kranken kamen rasch zu Kräften. Sie dankten uns überschwenglich, aber sie wollten sich uns nicht anschließen. »Ihr müßt euren eigenen Weg gehen«, sagte einer. »Wir müssen alle unsere eigenen Wege gehen. Es sind nicht die gleichen Prüfungen, die uns erwarten. Lebt wohl und seid guten Mutes.« Und es schien mir plötzlich, daß sie ein Teil unserer Prüfung sein mochten. Daß wir alle einander wohl prüften – nicht anders als im Leben selbst. Wir marschierten bis zum späten Nachmittag. Es war ein ereignisloser Marsch. Wir mußten nun bald den größeren Teil des Dschungels durchquert haben. Plötzlich sahen wir zwei kleine Gestalten vor uns zwischen den Bäumen. Sie mochten Zwerge sein, wie manche Stämme meiner Heimat, die auch am Rande der Berge lebten. Aber als wir näher kamen, sahen wir verwundert, daß es Kinder waren – zwei Knaben von nicht mehr als einem halben Dutzend Jahren. Sie sahen schwach aus und verloren. Sie hoben den Kopf halb, als sie uns kommen hörten. Ihre Augen waren verweint. Sie schienen uns nicht zu sehen. »Die armen Kleinen«, rief Thamai. Sie eilte trotz meines warnenden Knurrens auf sie zu und nahm sie in die Arme. Auch mich durchzuckte Mitleid bei ihrem Anblick, aber es schien fast, als wäre es mir aufgedrängt. Sie klammerten sich sofort an Thamai fest. »Oh, Ubali!« rief sie entsetzt, »wer hat sie nur hier allein gelassen mitten im Dschungel? Habt keine Furcht. Nun wird euch nichts mehr geschehen …«
Ich kam zögernd näher. Ich war mißtrauisch. Irgend etwas warnte mich, aber ist wußte nicht was, und ich konnte es Thamai nicht erklären. Ich knurrte nur warnend, was die Kleinen nur dazu brachte, daß sie sich noch fester an Thamai klammerten. »Sie sind blind«, entfuhr es Thamai. »Sie ihre Augen! Oh, ihr Armen. Sicher hat man euch hier ausgesetzt …« Es gefiel mir nicht. Es mochte eine Falle sein. Ich konnte mich des Gefühls nicht erwehren, daß etwas mit den Kindern nicht stimmte. Während Thamai sich ihrer annahm, sah ich mir ihre Spuren an. Lange konnten sie noch nicht unterwegs sein, wenn sie wahrhaftig blind und hilflos waren. Lange hätten sie in diesem Dschungel nicht zu überleben vermocht. Vielleicht stieß ich auf die, die sie ausgesetzt hatten. Vielleicht aber fand ich auch heraus, was hinter allem steckte. Was ich als erstes entdeckte, war die Tatsache, daß sie nicht blind sein konnten. Ihre Spuren verliefen recht geradlinig auf dem Weg und führten auch nicht in die Nähe von Hindernissen. Ein eigenartiger Duft haftete ihrer Fährte an. Ich konnte mich auf meine Panthernase recht gut verlassen. Dies war keine menschliche Fährte. Schon nach kurzer Zeit kam ich an einen Punkt, wo viele solcher Fährten zusammenliefen – oder auseinanderliefen. Es mußten unzählige sein. Was immer sie waren, Kobolde, Dämonen oder Kinder – es gab sehr viele von ihnen. Und sie waren längst nicht so hilflos, wie sie sich gaben. Ich fühlte plötzlich Furcht. Ich hätte Thamai niemals mit ihnen allein lassen dürfen! Ich raste zurück und versuchte, mir nicht auszumalen, was in dieser kurzen Zeit alles geschehen sein mochte. Meine schlimmsten Erwartungen wurden Wahrheit. Der Ort, an dem wir auf die Kinder gestoßen waren, war leer. Ich brüllte! Vielleicht bildete ich mir alles nur ein, und Thamai befand sich wohlauf hinter den Büschen. Sie mußte mich hören, wenn sie noch in der Nähe war. Aber sie antwortete nicht.
Voller Furcht und Selbstvorwürfe untersuchte ich die Spuren. Hier hatte ein Kampf stattgefunden. Das Gras war niedergetreten, doch fand ich nirgends eine Spur von Blut. Ein wenig erleichtert darüber, daß Thamai vermutlich nur entführt worden und noch am Leben war, machte ich mich an die Verfolgung. Die Spuren waren deutlich genug, aber eine seltsame Veränderung war zu bemerken. Die Kinder waren verschwunden. An ihrer Statt erkannte ich die Fußstapfen erwachsener Männer neben denen Thamais. Zwei Männer mußten sie entführt haben. Aber wo waren die Kinder geblieben? Es schien mir jedoch wichtiger, Thamais Spuren zu folgen, um herauszufinden, wo man sie hinschleppte und in welcher Gefahr sie sich befand. Eine gute Stunde folgte ich den Spuren, dann liefen weitere von allen Seiten herbei. Der Geruch war noch immer nicht menschlich. Er glich dem der Kinder. Aber ihre Gestalt war es. Die Fährten konnten nur von Menschen stammen. Alle diese Rätsel erfüllten mich nur um so mehr mit Besorgnis. Die Dunkelheit kam, und es wurde schwieriger, den Spuren zu folgen. Ich hatte schon Angst, daß ich die Fährte bei Einbruch der Nacht vollkommen verlieren würde. Aber ich besaß ja meine Panthernase, und dies war wieder einer jener Momente, da ich für meine Panthergestalt dankbar sein konnte. Selbst als die Dunkelheit für menschliche Augen fast undurchdringlich war, führte mich meine Nase unbeirrbar die Spur entlang. Es ging natürlich ein wenig langsamer. Mehrmals hörte ich in der Ferne menschliche und tierische Schreie, aber ich ließ mich nicht ablenken. Bald sah ich Feuerschein zwischen den Stämmen. Ich bewegte mich nun vorsichtiger. Vor mir befand sich offenbar ein Lager oder ein Dorf. Ich richtete meine Aufmerksamkeit auf mögliche Wachtposten, stieß jedoch auf keine. Sie schienen es nicht für nötig zu befinden, Wachen aufzustellen. Sie mußten sich sehr sicher fühlen. Ich
erreichte den Rand der Lichtung unangefochten, noch immer auf der Fährte Thamais und ihrer Entführer. Es gab keinen Zweifel: Thamai mußte sich in diesem Lager befinden. Es machte nicht den Eindruck eines festen Dorfes, obwohl in der Mitte des Platzes einige Hütten standen. Viele Zelte aus Tierhäuten standen über die Lichtung verstreut. In der Mitte befand sich eine Hütte aus dicken Stämmen. Sie war nicht groß, aber sehr fest gefügt – wie ein Gefängnis. Ich fragte mich, ob Thamai da drin war! Ich schlich mich näher, bis ich den Rand der Lichtung erreicht hatte. Geschäftiges Treiben herrschte auf dem Platz, große Feuer wurden geschürt. Es sah so aus, als bereitete man ein Fest vor. Der größte Teil der Bewohner, die ich sah, waren Kinder. Es gab nur wenige Erwachsene, und sie schienen auch nicht das Kommando zu haben. Es kam mir vor, als wären auch die Kleinen nicht so hilflos, wie sie sich gegeben hatten, denn sie bewegten sich mit der gleichen Zielstrebigkeit wie die Erwachsenen. Sie waren nur kleiner und schwächer. Erstaunt gewahrte ich an den Feuern drei große Pfähle. Während ich mich noch fragte, was sie zu bedeuten haben mochten, begab sich eine Schar der Kinder zu der Stammhütte und öffnete die verriegelte Tür. Sie verschwanden im Innern und kamen gleich darauf mit einer sich wehrenden Gestalt in ihrer Mitte zum Vorschein, die ich unter Tausenden wiedererkannt hätte: Baril! Wie kam er hierher? Hatten sie ihn aus dem Lager des Löwenvolks entführt? War deshalb das Dorf wie leergefegt gewesen? Waren sie die gefürchteten Kaimani? Es mochte erklären, warum sie keine Wachen aufstellten. Wenn jedermann sie fürchtete, war es überflüssig. Aber Baril war nicht der einzige, den sie ins Freie brachten. Hinter ihm kam Thamai. Sie war schwach und blaß und offenbar nur halb bei Bewußtsein. Hinter ihr führten sie eine dritte gefesselte Gestalt – eine die ich ebenfalls kannte: das weiße Mädchen!
Sie führten ihre Gefangenen zu den Pfählen an den Feuern und banden sie fest. Ich ahnte, daß mir nicht mehr viel Zeit blieb. Sie hatten mit den Gefangenen etwas vor, und es konnte nichts Gutes sein. Aber was sollte ich unternehmen? Keiner der Bewohner ließ ein Auge von den Gefesselten. Unbemerkt konnte ich nicht an sie heran. Die Gefangenen machten alle drei einen erschöpften Eindruck. Es gab offenbar einige Schwierigkeiten, das weiße Mädchen festzubinden. Sie schlangen das Seil um ihre Mitte, wobei es in ihren Körper einzusinken schien. Sicher war sie kein menschliches Wesen. Ich erinnerte mich daran, wie sie über dem Wasser geschwebt war. Voller Unruhe beobachtete ich die weiteren Vorbereitungen. Immer mehr der Bewohner versammelten sich um die Feuer. Aus allen Hütten kamen sie herbei, so daß ich bald verfluchte, daß ich nicht gleich zu Beginn einen Befreiungsversuch gewagt hatte. Es wurde mit jedem Augenblick schwieriger. Nur ein Berserker mochte noch versuchen, in diese Masse zu stürmen. Hätte ich nur einen Verbündeten gehabt … Ein Umstand fiel mir allerdings auf – keiner der Bewohner trug eine Waffe, abgesehen vielleicht von Messern an ihren Gürteln; das konnte ich von hier aus nicht sehen. Als alle um das Feuer versammelt waren, erhoben sich einige und begannen einen Tanz vor den Gefesselten. Sie waren ausnahmslos Kinder, aber sie bewegten sich wie erwachsene Männer und Frauen. Sie folgten einem unhörbaren Rhythmus. Die Bewegungen stachelten sie gegenseitig an. Sie umringten das weiße Mädchen und begannen, sie im Rhythmus ihrer Bewegungen zu berühren. Sie wand sich, aber sie vermochte den kleinen Händen nicht auszuweichen. Die Hände berührten sie sanft, dennoch zuckte sie unter jeder Berührung zusammen. So sehr hatte ich meine Beobachtung auf das Mädchen gerichtet, daß mir erst spät auffiel, daß mit den Tänzern eine seltsame Verwandlung vor sich ging. Sie wuchsen. Sie gewannen an Größe. In wenigen Augenblicken
wurden sie vor meinen Augen Erwachsene, während das Mädchen mehr und mehr Kraft zu verlieren schien. Die schreckliche Wahrheit wurde mir bewußt: Sie lebten vom Leben selbst – von der Lebenskraft anderer! Wenig später hatte der Tanz ein Ende. Die Tänzer, nun erwachsen, zogen sich zurück und nahmen unter den Zuschauern Platz. Das weiße Mädchen hing wie leblos an dem Pfahl. Eine neue Gruppe erhob sich und begann den Tanz. Auch sie umringten das weiße Mädchen und begannen mit den Berührungen. Baril und Thamai sahen mit weit aufgerissenen Augen zu. Von Zeit zu Zeit wanderten Thamais Augen zum Waldrand. Sie hoffte, daß ich kam. Sie hoffte auf meine Hilfe. Aber wie sollte ich ihr helfen? Untätig mußte ich zusehen, wie die neue Gruppe der Tänzer die Lebenskraft des weißen Mädchens in sich aufnahm, wie sie schwächer und schwächer wurde. Schließlich ertrug ich es nicht mehr. Meine Chancen verschlechterten sich von Augenblick zu Augenblick. Je mehr Kraft sie gewannen, je mehr Kraft die Gefangenen verloren, desto geringer wurden die winzigen Aussichten eines Gelingens. Brüllend stürmte ich auf das Feuer zu. Sie sprangen erschrocken auf, und einen Moment herrschte die Verwirrung, die ich erhofft hatte. Ich war zwischen ihnen durch und hieb mit den Pranken nach allen Seiten. Sie gingen schreiend zu Boden. Plötzlich hatte ich die Pfähle erreicht. Mit einem Sprung war ich bei Thamai und hieb mit den Klauen nach ihren Fesseln. Aber bevor ich sie lösen konnte, war ich von Körpern umringt, die mich umklammerten. Ein schwerer Ast kam in meinen Rachen und hinderte mich am Zubeißen. Ein Netz fiel über mich. Ich fühlte, wie alle meine Chancen zerrannen. Wie aus weiter Ferne hörte ich Thamai meinen Namen rufen, dann schnürten mich Stricke zusammen, und das Netz umgab mich wie ein Sack – eng und unerreißbar. Ich war gefangen! Sie schleiften mich über den Boden auf das andere Ende der
Lichtung zu. Dort warfen sie mich in eine tiefe Grube, über die sie Stämme rollten. Einen Augenblick später verebbten draußen alle Geräusche. Nur aus der Ferne kam ein Klatschen von kleinen Händen, die nach Lebenskraft lechzten. Es war alles halbverweht vom Wind und zu undeutlich, um Genaueres daraus zu entnehmen. Aber gerade die Ungewißheit machte mich verrückt. Ich stellte mir die teuflischsten Dinge vor, und was noch schlimmer war, ich wußte, daß sie da draußen stattfanden. Ich versuchte einige Male, zu den Balken hochzuspringen. Ich erreichte sie wohl, aber ich vermochte mich mit den Tatzen nicht daran festzuhalten. Schließlich gab ich es auf und saß brütend da, während die Nacht voranschritt. * Ich war eingenickt. Ich weiß nicht, wie es geschehen konnte, denn ich lauschte mir jeder Faser meines Körpers den Geräuschen da draußen. Und dennoch mußte ich eingenickt sein. Und als ich hochschrak, wußte ich instinktiv, daß sich etwas Entscheidendes verändert hatte, aber es währte einen Augenblick, bis ich begriff, was es war. Es geschah, als ich mit den Händen nach meinem Gesicht tastete, nach meiner Stirn, um gegen den Schmerz in meinem Schädel anzukämpfen. Da merkte ich, daß ich Hände besaß und ein Gesicht – daß ich wieder eine menschliche Gestalt besaß. Vitu sei Dank! Ich war im Nu auf den Beinen. Bereits beim dritten Sprung hing ich an einem der Stämme und zog mich langsam hoch. Niemand bewachte die Grube. Ein Tier hätte auch sicher nicht zu fliehen vermocht, aber mir gelang es mit viel Anstrengung, einen Teil der Stämme beiseite zu rollen, bis der Spalt groß genug war, daß ich durchschlüpfen konnte. Ich stand in vollkommener Dunkelheit. Es mußte mehr Zeit
vergangen sein, als ich dachte. Die Feuer waren längst erloschen. Nur ein schwaches Glühen zeigte mir an, wo sie sich befanden. Keiner der Bewohner des Lagers war auf den Beinen. Alles war still. Furcht überkam mich. War es zu spät für eine Rettung? Waren die Gefangenen tot? Ich lief zwischen den Hütten und Zelten durch. Die Bewohner lagen um die Feuerstellen. Sie schliefen, offenbar erschöpft von den Geschehnissen. Seltsam starr lagen sie herum. Vielleicht war das ihr Fluch? So, wie Vampire während des Tages starr in ihren Verstecken lagen und auf die erlösende Nacht warteten. Auf eine gewisse Art waren sie ebenfalls Vampire. Sie hatten die Augen offen, und ich konnte mich des Gefühls nicht erwehren, daß mir ihre Blicke folgten – haßerfüllt! Aber ich ließ mich von keinen Gefühlen aufhalten. Da, an den Pfählen hingen die Gefangenen. Als ich sie erreichte, wußte ich, daß ich zu spät kam. Sie waren tot. Aber nun war nicht der Augenblick, darüber zu grübeln, was sie gelitten haben mochten. Noch bestand eine winzige Chance – wenn ich in wenigen Stunden einen Lebensteich fand … Rasch befreite ich Thamai und hob sie mir über die Schulter. Mit der kostbaren Last rannte ich zwischen den Erstarrten hindurch und erreichte unangefochten den Dschungel. Mit einer stummen Bitte an Vitu schlug ich westliche Richtung ein. Es wurde ein mühsamer Weg, aber die Angst trieb mich voran. Und Vitu führte mich. Nach einer guten Stunde stolperte ich erschöpft direkt in das kühle Naß eines Tümpels, der so schwarz war, daß ich ihn erst zu erkennen vermochte, als ich bereits mitten hineinlief. Meine Erleichterung war grenzenlos. Ich zweifelte nicht daran, daß es ein Lebensteich war. Alle Gewässer in diesem Dschungel hatten die magische Kraft besessen. Ich ließ Thamai von der Schulter gleiten und watete zurück ans Ufer. Nun lag alles in Vitus Hand. Ich brauchte nur zu warten. Es würde einige Stunden dauern. Aber ich wollte diese Stunden nützen. Baril kümmerte mich wenig. Aber ich
fühlte mich tief in der Schuld des weißen Mädchens. Mit ein wenig Glück konnte ich auch ihr helfen. Ich mußte es einfach versuchen – selbst auf die Gefahr hin, daß ich diesen Tümpel nicht wiederfand. Daran versuchte ich nicht zu denken. Wenn ich etwas tun wollte, dann durfte ich keine Zeit verlieren. Ich machte mich sofort auf den Rückweg. Ohne Last ging es wesentlich rascher. Vorsichtig näherte ich mich dem Lager. Aber noch immer regte sich nichts. Alles war unverändert. Ich zögerte nicht. Mit dem weißen Mädchen im Arm, das sich leicht wie eine Feder anfühlte, verließ ich den unheimlichen Ort. Ich hatte wenig Zeit, mir Gedanken über das seltsame Geschöpf zu machen. Der Weg in der Finsternis erforderte meine ganze Aufmerksamkeit. Als ich den Tümpel schließlich erreichte, überkam mich selbst ein eigenartiges Gefühl, und ich ahnte, daß meine Verwandlung bevorstand. Der Fluch meines Körpers, wie Vitu es genannt hatte. Nichts anderes konnte der Lebensgeist gemeint haben. Ich übergab das Mädchen dem Wasser und ließ mich erschöpft am Ufer nieder. Noch während sich die Wellen mit leisem Plätschern am Ufer brachen, fühlte ich, daß ich nicht mehr Herr meines Körpers war. Alles um mich schien sich zu verändern. Doch ich wußte instinktiv, daß dieser Eindruck täuschte. Was ich halb bewußt miterlebte, war meine eigene Verwandlung. Ich wußte nicht, wieviel Zeit verstrich, aber als der Bann von mir abfiel, lag ich wieder in meinem glänzenden schwarzen Fell am Ufer. Ubali – der Panther. * Die Morgendämmerung brach an und warf schwaches Licht über den Tümpel. Ich spürte, daß es soweit war. Gleich darauf öffnete sich das Wasser, und Thamai kam heraus. Sie schwamm ans Ufer und sah verwundert um sich. Dann entdeckte sie mich. »Ubali, mein Liebster!« Sie sank neben mir ins Gras und schlang die Arme um mich. »War es Wirklichkeit oder nur ein böser
Traum?« flüsterte sie. »Sie hatten dich gefangen und …« Sie preßte sich an mich, und ich knurrte zufrieden. »So war Vitus Gnade mit uns«, murmelte sie. »Als die Kaimani um uns tanzten, da fühlte ich das Ende so nahe. Als ich schwächer und schwächer wurde. Oh, es wäre so … ungerecht gewesen, jetzt zu sterben. Unsere Liebe war so unerfüllt. Ich wollte, daß die Götter uns Zeit gäben … Zeit …« Sie seufzte. Sie richtete sich auf. »Ist Baril tot?« Ich antwortete mit einem zustimmenden Grollen. Sie deutete es richtig. »Und das Mädchen … das weiße Mädchen?« Ich erhob mich und ging langsam zum Ufer des Tümpels. Dann sah ich zu ihr zurück. »Sie ist da drin?« rief sie erfreut. Wie als Antwort schäumte die Oberfläche auf. »Sie kommt«, flüsterte Thamai. Sie kam, aber wir erlebten eine gewaltige Überraschung. Etwas Weißes quoll aus dem Wasser, das keine menschliche Form hatte. Ein wolkenartiges Gebilde schwebte schließlich über der Wasseroberfläche. Es war groß genug, daß es fast den halben Tümpel bedeckte. Gedanken waren plötzlich in meinem Kopf – alte, vertraute Gedanken. »Danke, Nichtreiter … Freund … – Komm. Auch du, Thamai … Nichtreiter … Jetzt werden wir mit dem Wind fliegen … mit dem Wind. Kommt. Ich bin … froh …« Eine Welle der Freude überschwemmte mich. Ich brüllte auf. Meine Gedanken waren von Jubel erfüllt. Waramau! Das weiße Mädchen … Waramau! Barils Teufelswerk. Er hatte gesagt, er hätte Wolken bezwungen. Und er hatte die ganze Zeit über geschwiegen … Aber meine Freude überwog den Grimm. Thamai klammerte sich an mich. »Ubali«, rief sie erschrocken, als die Wolke auf uns
zugeschwebt kam. »Nichtreiter«, flüsterten die Gedanken glücklich. »Mit dem Wind …« Als sie das Ufer erreichte, sprang ich an Bord. Thamai folgte mir nur zögernd, aber sie schien zu begreifen. Vorsichtig stieg sie über den Wolkenrand, der hilfreich fest wurde unter ihrem Tritt. Sie setzte sich zu mir und hielt meinen Hals umschlungen. Langsam stieg die Wolke hoch, erreichte die Wipfel der Bäume und hob sich über das Dach des Dschungels. Im Osten, dort wo der ewige Wind dieser Welt herkam, hob sich die Sonne so glanzvoll über den Horizont, daß wir geblendet die Augen schlossen. Dann griff der Wind nach Waramau und nahm sie mit sich. Wir waren frei. Vor uns lagen die Berge – dahinter Vitus Reich, wenn der Priester die Wahrheit gesagt hatte. »Wohin … Nichtreiter?« kamen die jubilierenden Gedanken. »Mit dem Wind?« »Ja, Waramau«, dachte ich, »mit dem Wind. Nach Westen. Über die Berge. In das Paradies.«
7. Wie eine riesige Arena tat sich das Tal unter uns auf. »Vitus Garten«, flüsterte Thamai ergriffen. Es war in der Tat ein beeindruckender Anblick. Es sah aus wie ein riesiger blühender Garten, der von Leben wimmelte. In den grünen und blauen Tiefen der Seen ebenso wie auf den Savannen und in den Wäldern. Es gab keinen Zweifel, wir waren am Ziel. Das war Vitus Reich. »Waramau« bat ich, »laß und absteigen.« »Absteigen?« »Ja, Waramau. Wir sind am Ziel. Bleib hier eine Weile mit uns. Das Savannengras ist nirgends saftiger, und das Leben nirgends friedlicher, der Wind nirgends sanfter. Der Lebensgeist erwartet uns.« Es folgten verwirrende Empfindungen, die ich nicht zu deuten wußte. Einen Augenblick dachte ich, Waramau hätte mich nicht verstanden. »Friede, Nichtreiter?« antworteten dann ihre Gedanken. Es klang nachdenklich. »Friede und Liebe«, bestätigte ich. »Hier ist Skortschs Macht zu Ende.« Langsam senkte sie sich hinab, und als wir abstiegen, machte sie sich bereits über das saftige Gras her. »Wir kommen wieder, Waramau«, dachte ich. »Geh nicht fort, ohne uns Lebewohl zu sagen. Es könnte sein, daß wir mitkommen … Mit dem Wind.« Sie gab keine Antwort, aber ich spürte, daß sie mich verstanden hatte. Nun erhob sich die Frage, Vitu selbst zu finden. Das Tal war gewaltig. Vielleicht hatten wir es uns mit dem Flug zu einfach gemacht und die Zeichen übersehen, die andere Pilger am Eingang des Tales vorfinden mochten.
Während wir ratlos auf der Savanne standen und Waramau beobachteten, die von dem Gras, das sie aufnahm, langsam gelblich wurde, dachte ich, wie großartig es wäre, mit Thamai auf Waramau für alle Zeiten über diese Welt zu fliegen, zu landen, wo ein Paradies wie dieses war, und wieder weiterzufliegen. Nein, vielleicht nicht für alle Zeiten. Aber für eine Weile. Ein Schreckensruf Thamais riß mich aus meinen Gedanken. Nicht weit von uns stand ein Löwe und hinter ihm tauchte ein Weibchen auf. Sie musterten uns, während wir erstarrt dastanden. Sie trugen keinerlei Mal des Lebensgeistes. Sie waren keine Verwandelten. Und wir hatten keine Waffe. Ich duckte mich in Sprungbereitschaft. Wir würden trotz allem kein leichter Happen sein. Sie kamen näher – langsam und unbefangen. Es war deutlich zu sehen, daß sie nicht auf Beute aus waren. Nur eine Neugier schien sie näher zu treiben. Sie hielten an. Im nächsten Augenblick geschah etwas Unglaubliches, das mich schon einmal überrascht hatte, vor langer Zeit, als ich zum erstenmal Verwandelten begegnete. Eine Antilope tauchte neben den Löwen auf und betrachtete uns mit der gleichen Neugier. Sie fürchtete die Löwen nicht, und die Löwen sahen sie wohl, kümmerten sich aber nicht um sie. Ich spannte mich ein wenig. Es war möglich, daß für Vitus Reich nicht zutraf, was für alle anderen Dschungel dieser Welt galt: fressen und gefressen werden! »Sie sind zahm«, flüsterte Thamai. Etwas anderes näherte sich uns in diesem Augenblick – zwei kleine, in der Entfernung menschlich anmutende Gestalten. Sie schritten furchtlos zwischen den Löwen auf uns zu. Je näher sie kamen, desto deutlicher erkannten wir, wie wenig menschlich sie waren. Abgesehen von ihrer Größe (sie erreichten kaum die Höhe der Löwen) war auch ihr Gang mehr ein Trippeln, denn ein Ausschreiten. Sie waren häßliche Gnomen mit einer Haut wie Baumrinde und
Haaren wie Maiswolle, aber ihre knorrigen Gesichter blickten uns nicht unfreundlich an. Sie reichten uns bis zur Mitte, und wir sahen jetzt aus der Nähe, daß ihre Füße Wurzeln glichen, und ihre Arme Ästen. Ein schmaler Schlitz in dem rundlichen, verwachsenen Kopf war der Mund. Völlig unerwartet öffnete sich einer der beiden Münder und der Gnom sagte knarrend: »Willkommen, Pilger.« Es war kaum verständlich, so schnarrte und krächzte die Stimme, aber es war gut und erleichternd, willkommen geheißen zu werden. Mehr noch, es weckte augenblicklich Thamais lebensgefährliches Zutrauen zu allem, was ihr klein und hilflos erschien – und bemutternswert. Bevor ich sie zurückhalten konnte, beugte sie sich zu den Zwergen hinab und fragte: »Und wer seid ihr, daß ihr uns willkommen heißt?« »Ich bin Uttar«, erwiderte der eine krächzend. »Ich bin Unnak«, schnarrte der zweite. »Wir sind die Diener des Lebensgeistes. Wir pflegen sein Reich.« »Uttar und Unnak«, wiederholte Thamai. »Das sind hübsche Namen. Ich werde sie mir merken. Ihr müßt sehr viel zu tun haben, wenn ihr das Reich des Lebensgeistes in Ordnung haltet …« »Wir sind viele«, schnarrte Unnak. (Oder war es Uttar? Ich vermochte sie kaum zu unterscheiden.) »Du wirst uns überall begegnen.« »Erfüllt ihr uns einen Wunsch?« fragte Thamai. »Wir sind gekommen, um eure Wünsche zu erfüllen. Wir haben euch erwartet.« »So wißt ihr auch, wer wir sind?« »Ihr seid Ubali und Thamai. Der Lebensgeist erwartet euch.« »Dann bringt ihr uns zu ihm?« »Ja, Pilgerin Thamai.« Man konnte sich an die schnarrenden Stimmen gewöhnen, besonders, wenn sie so gute Neuigkeiten brachten. »Kommt. Es ist nicht weit.« Wir folgten den beiden Gnomen und erreichten nach kurzem Weg
einen Hügel, auf dem eine wunderschöne Blume thronte. Glockenförmige, weiße Blüten hingen in weitem Bogen von ihr. Mehr als dreimannshoch strebte die Blume in einem Busch empor. Ihre Glocken klangen wir Silber im Wind – lockend und sehnsüchtig. Am Fuß des Hügels lagen und knieten viele Menschen. Sie mußten Pilger sein, die wie wir die Gefahren überstanden und den Weg zu Vitu gefunden hatten. Neben jedem von ihnen stand einer dieser Gnomen. So wie wir waren sie wohl auch von ihnen hergeführt worden. Aus den Glockenblüten fiel goldfarbener Staub, der sich langsam auf die Versammelten senkte. Ein süßer Duft wehte uns entgegen. Die Pilger griffen nach dem Blütenstaub und versuchten, sich damit zu bedecken. Manche leckten ihn von den Händen, andere rieben ihn über ihren ganzen Körper. »Sie werden geheilt«, erklärte einer unserer gnomenhaften Begleiter. »Alle Leiden verschwinden. Sie werden glücklich zurückkehren.« Wir sahen der Heilung der Pilger zu, und als sie vor Freude weinend und singend von Vitus Dienern weggeführt wurden, traten wir an den Hügel. Thamai sank in die Knie. Die Glockenblüten klangen hell wie Silber und wurden in meinem Kopf plötzlich zu einer Stimme. »Willkommen, Ubali. Willkommen, meine Priesterin Thamai. Meine Freunde, führt sie näher. Kein Sterblicher genießt mein Vertrauen wie diese beiden.« Die Gnomen führten uns den Hügel hinauf, bis wir fast unter den Blüten standen. Staub kam heraus und hüllte mich für einen Augenblick ein. Als er sich verflüchtigt hatte, stand ich nicht länger in der Gestalt eines Panthers vor der Blume. Ich war wieder Ubali. Dankbarkeit durchströmte mich. Die Stimme fuhr fort: »Nun ist der Fluch deines Körpers gebannt. Von jetzt ab wirst du deine Gestalt wandeln können, wann dein Geist es befiehlt. Versuche es.«
Es dauerte einen Augenblick, bis ich begriff, was die Stimme gesagt hatte. Ich konnte meine Gestalt wandeln, wann es mir beliebte. Vorsichtig dachte ich daran, mich zu verwandeln. Es geschah nicht sofort, erst als der Wunsch mächtiger in mir wurde. Von einem Augenblick zum anderen stand ich auf allen vieren. Ich erschrak zutiefst. Es schien mir ein Frevel, die Tiergestalt zu wünschen, wenn mir in diesem Augenblick die wiedergewonnene menschliche so teuer war. Aber allein mit der Kraft meiner Gedanken vermochte ich es. Ohne daß ich die Verwandlung spürte, besaß ich meine Gestalt wieder. Welch ein Geschenk der Götter! »Ich, sehe, du gewöhnst dich an den Gedanken, Ubali. Ich sehe in euren Augen noch einen anderen Wunsch, der bisher durch meine Schuld unerfüllt geblieben ist. Ich will es selbst gutmachen. Ich werde euch vermählen, und was das Leben besiegelt, mag keiner trennen und keiner zerstören. Danach werden wir von den Gründen sprechen, die mich dich hierherzurufen hießen, Mann aus einer anderen Welt. Atmet noch eine Weile den Staub meiner Blüten ein. Er wird eure Körper und Herzen von allen Gebrechen heilen – und seid bereit.« Die Stimme verstummte. Neue Wolken von Blütenstaub senkten sich auf uns herab. Überall, wo er uns berührte, brachte er ein Gefühl der Leichtigkeit und Freiheit, das bald vollkommen von uns Besitz ergriff. Wie in einem Taumel erhoben wir uns schließlich, ein Taumel, der uns an die zurückkehrenden Pilger erinnerte, die uns im Wald begegnet waren. Schmerz, Not, Kampf wurden zu bedeutungslosen Begriffen – Krankheit, Haß, Wut zu Dämonen in Ketten. Die Liebe ein freier Geist, der alle emporhob über die Welt. Einige Stunden wanderten wir durch Vitus Reich, begleitet von Unnak und Uttar und zwei weiteren Gnomen, die sich Orna und Omba nannten. Es war sehr schwierig, sie auseinanderzuhalten. Sie gingen mit ihrem trippelnden Gang schweigend neben uns her und sprachen nur, wenn wir Fragen an sie richteten. Vitus Garten war wahrhaftig das Paradies, der Urgarten des Lebens, wie mein Volk es nannte, in dem von allen Tieren ein Paar,
von allen Pflanzen ein Keim und von allen Seelen ein Schatten war – bereit, die Welt neu zu befruchten und zu beleben. Überall gewahrten wir die gnomenhaften halb menschlichen, halb pflanzlichen Wesen mit gärtnerhafter Emsigkeit am Werk. Nirgends war ein Zeichen von Gewalt. Es war fast unheimlich, nach allem, was wir erlebt hatten. Es war ein Ort der Liebe, und Thamai und ich gestanden einander unsere Liebe. Als der Abend dämmerte, fand am Fuß des Hügels des Lebensgeistes eine Vermählung wie in einem Märchen statt. Die weite Ebene davor war übersät mit Zeugen unseres Bundes, Gnomen und Tiere und eine Schar Pilger wohnten dem Geschehen bei. Selbst Waramau schwebte in einiger Entfernung über uns. Ob sie verstand, was geschah? Sie war eine Frau, wie ihre Verwandlung gezeigt hatte. Ob sie mir verzieh? Ihrem Nichtreiter? In dieser Nacht wurde der Wunschtraum für einige Stunden wahr – der Traum, mit Thamai auf Waramaus Rücken über die Welt zu fliegen. In dieser Nacht trieben wir über das Paradies. * Der Traum hatte ein jähes Ende. Es war, als ob ein Zucken durch das Paradies ginge – ein wütender Aufschrei Vitus! Dieser Garten war der Leib des Lebensgeistes, und er krümmte sich wie unter Pein. Dann kam der Ruf. »Ubali, liebst du das Leben?« »Ja, das tue ich«, rief ich. »Bist du bereit, dafür zu kämpfen?« »Habe ich das nicht immer getan?« »Willst du für mich fechten, als mein Paladin, damit diese Welt nicht einem schrecklichen Tod und einem schrecklichen Erwachen geweiht ist?«
»Deshalb hast du mich gerufen«, erwiderte ich fest. »Und deshalb bin ich gekommen.« »Es wird kein leichter Kampf sein. Die Feinde sind stark.« »Kein Kampf ist leicht. Da draußen in deiner Welt ringen in jeder Stunde Tausende um ihr Leben. Für sie ist ihr Kampf nicht leichter als deiner. Jeder erfordert den ganzen Mann.« »Was ich brauche, ist nicht weniger als das!« sagte Vitu. »Wer sind unsere Feinde?« »Akkeron, der Sohn Himurs, will mich bezwingen, um diese Welt nach seinen kalten Vorstellungen zu formen.« »Wer ist Akkeron?« »Höre mich an, mein Paladin. Vor langer Zeit, als die Täler da draußen noch jung waren, gehorchte ich wie alle Elemente dem Herrn – Vesta. Dann kam der Namenlose. Er befreite uns aus Vestas Gewalt und schloß den Herrn der Elemente ein in einem Gefängnis, das für alle Zeiten bestehen sollte. Sein Diener Himur sollte das Gefängnis bewachen. Himur hatte zwei Söhne, Akkeron und Akkathos, die er vor seinem Tod mit diesem Dienst beauftragte. Er gab jedem ein Auge Vestas und übergab ihnen auch den Herrscherstab Vestas, in dem die Macht aller Elemente schlummert. Akkeron blendete seinen Bruder, der bald darauf starb. Er wollte die neue Herrschaft über uns Geister der Elemente antreten. Er besitzt das eine Auge Vestas und den Stab, und er hat Tyde, den Wassergeist, bezwungen. Eben von diesem Augenblick an ist ihm auch Skortsch, der Geist des Feuers, untertan. Mit ihrer Hilfe hofft er, auch mich zu bezwingen. Wenn es ihm gelingt, werden auch Luft und Erde der Versklavung nicht entgehen. Dann ist diese Welt sein, ein Spielball seiner grausamen Launen.« Ich dachte über diese Worte nach. Ich verstand nicht alles, aber eine Frage beschäftigte mich besonders: »Fürchten die Geister der Luft und der Erde nicht ebenso wie du, daß dies geschehen könnte?« »Ja, sie fürchten es.« »Dann sind sie unsere Verbündeten?«
»Ja und nein. Sie werden uns helfen, wenn sie es für richtig befinden, aber sie werden sich nie unseren Plänen oder Befehlen fügen. Auch sind sie vielleicht nicht mehr frei, bis dieser Kampf beginnt. Es ist eine gute Nachricht für dich, Ubali. Dein König aus einer anderen Welt lebt …« »Dragon?« rief ich erfreut. »Ja, Dragon, der Dreiäugige. Er besitzt das zweite Auge Vestas. Akkathos gab es ihm, bevor erstarb. Er bezwang Erthu, den Erdgeist. Und er überwand inzwischen Aerula, den Geist der Luft. Er könnte unser Verbündeter sein. Aber er ist ein ebenso schlimmer Feind wie Akkeron, denn er will Vesta befreien. Dann hätte alle Freiheit ebenso ein Ende.« Einen Augenblick schwieg die Stimme in meinem Kopf, dann fügte sie hinzu: »Du wirst diesen Kampf allein führen müssen …« »Allein … gegen die Götter des Feuers und des Wasser?« entfuhr es mir. »Alles Leben wird dir gehorchen, wie es mir gehorcht. Das Leben, mein Paladin, ist ein mächtiger Verbündeter, denn es kann den Tod in Fesseln schlagen.« »Aber wie soll ich kämpfen?« rief ich verzweifelt. »Du bist der Krieger. Der Krieg ist ein Handwerk des Todes. Suche nicht Rat beim Geist des Lebens.« »Wieviel Zeit bleibt mir?« »Einige Tage.« »Das ist verdammt wenig, um deine friedliebenden Kreaturen auf einen Kampf vorzubereiten.« »Aber sie sind unsterblich. Kein Schwert vermag sie zu töten.« Ich nickte unbewußt. Das war sicherlich eine starke Waffe – aber es wäre gut zu wissen, welche Waffen die anderen besaßen. »Ich muß mehr wissen.« »Du sollst alles erfahren, und eines allem voran: Ihr habt an Baril erfahren, welcher Greuel ein kaltes Herz fähig ist. Ich habe es euch gut vor Augen geführt. Solch einer wie Baril ist auch Akkeron. Seine
Welt könnte den Kammern Teguars gleichen, wenn es ihm gelingen sollte, sie für sich zu gewinnen. Alles Leben, wie du es kennst, hätte dann ein Ende. Willst du dafür kämpfen, daß dies nicht geschieht, mein Paladin?« Ich tastete nach Thamais Hand. Sie war kalt und zitterte. »Ja«, sagte ich und zitterte selbst. »Dafür will ich kämpfen. Mit meiner ganzen Kraft.« ENDE Von Ubali, dem alten Kampfgefährten des Königs von Myra, der nun für die Sache Vitus kämpfen soll, blenden wir um zu Dragon! Der Atlanter ist auf dem Wege, den ehemaligen Herrn der Elemente zu befreien, und betritt DIE INSEL DES NAMENLOSEN … DIE INSEL DES NAMENLOSEN so heißt auch der Titel des nächsten Dragon-Bandes. Verfasser des Romans ist H. G. Ewers.