C. H. GUENTHER
Türkenblut
ERICH PABEL VERLAG KG-RASTATT/BADEN
1.
Die Kerkerzelle war in den Felsen geschlagen, s...
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C. H. GUENTHER
Türkenblut
ERICH PABEL VERLAG KG-RASTATT/BADEN
1.
Die Kerkerzelle war in den Felsen geschlagen, schalldicht und fensterlos. Der Gefangene schätzte ihre Länge auf drei, ihre Breite auf zwei und ihre Höhe ebenfalls auf zwei Meter. Nichts gab es darin. Keine Pritsche, keinen Wasserkrug, nur ein Urinierloch im Boden. Stets herrschte die gleiche feuchte Kühle, immer war es Nacht. Bald wußte Cemal Toker nicht mehr, ob draußen Winter war oder schon Sommer. Eine Uhr hatte er nie besessen, und in der Zelle war ihm jedes Zeitgefühl abhandengekommen. Anfangs hatte er immer dann, wenn er müde wurde, einen Strich in die Kerkerwand gekratzt, in der Annahme, daß ein Tag vergangen sei. Doch der Wächter schlug mit einem Meißel hundert Kerben in die Wand und nahm ihm damit seinen Ka lender weg. Niemand redete mit ihm. Nur ab und zu schoben sie ihm et was Essen herein. Es war immer dasselbe. Gekochter Reis und kalter Tee. Sie wollen was von dir, dachte Cemal Toker, wenn sie nichts von dir wollten, ließen sie dich krepieren. Manchmal wurde sein Käfigleben unterbrochen. Meistens dann, wenn die Wächter Langeweile hatten. Sie holten ihn, um ihn zu foltern und zu quälen. * Eines Tages kam ein Offizier aus Ankara nach Baskale und verhörte ihn. „Warum hast du deinen Herrn getötet?“ fragte der elegante mokkasüffelnde Hauptmann. „Weil er meine Mutter getötet hat“, lautete Cemals Antwort. „Er kannte sie nicht einmal.“ „Und weil er meine Schwester geschändet hat.“ „Er hat deine Schwester nicht einmal berührt.“ 3
„Und weil er meinen Vater in den Tod trieb.“ „Dein Vater starb weit weg im Kurdistan.“ „Woher“, fragte nun der junge, kaum einundzwanzigjährige Cemal, „woher wissen Sie das so genau?“ „Aus den Aussagen der Zeugen“, erklärte der geschniegelte Hauptmann. „Er wollte uns zu Sklaven machen“, keuchte Cemal, „der Feudalherr. Meine Mutter, meine Schwester und meinen Vater. So nahmen sie sich das Leben.“ Der Offizier winkte ab. „Unsinn, die Sklaverei ist längst ab geschafft.“ „Aber der Großgrundbesitzer hat es in die Zeitung gesetzt“, erwiderte der Junge unbeirrt, „dreißig Familien in vier Dörfern, insgesamt hundertachtzig Einwohner, neunhundert Stück Kleinvieh und siebzig Stück Großvieh seien zu verkaufen.“ „Das ist doch alles nur erfunden und erlogen.“ Jetzt lachte der geschundene Häftling in seiner Verzweiflung. „Ich habe die Zeitung, Efendi.“ „Wer“, bohrte der Hauptmann aus Ankara weiter, „hat dich dazu angestiftet? Wer gab dir die Idee ein, es zu tun, wer die Waffen? Waren es die grauen Wölfe, waren es die Linken, die Radikalen? Ein Idiot wie du macht so was nicht von sich aus.“ Da deutete der Gefangene auf seine Brust und auf seinen Kopf. „Es kam von hier“, erklärte er. „Und wenn Sie mich umbrin gen, es war so.“ Der Hauptmann trank Mokka und steckte sich eine Zigarette an. „Das werden wir“, sagte er, „fürchte ich.“ Diesmal war unter den Reis, den sie Cemal in die Zelle scho ben, Hammelfleisch gekocht. Seine Henkersmahlzeit. Am Morgen sollte er erschossen werden.
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Gefaßt hatten sie Cemal Toker am Tag des großen Aufruhrs. Er war entstanden, weil die Behörden den Trauerzug für seine Angehörigen verboten, den des toten Feudalherren aber ge nehmigt hatten. Freunde des Feudalherren waren über den Trauerzug der To ker-Familie hergefallen. Die Kurden hatten sich heftig zur Wehr gesetzt. Daraufhin hatte man ihre Dörfer gebrandschatzt. Viele der jungen Männer starben. Als dann die Soldaten kamen und Düsenjäger über die Stadt hinwe gflogen, wurde es noch schlimmer. Der Gouverneur sprach von direktem Aufruhr gegen den Staat und ließ nach Cemal Toker suchen, den er für den Rä delsführer hielt. Sie faßten ihn in der Moschee, als er für seine tote Familie betete. Sie warfen ihm vor, er stehe in den Diensten einer Geheimo r ganisation, die die Loslösung der ostanatolischen Provinzen betreibe. „Bis jetzt“, schrie ihnen Cemal entgegen, „kämpfe ich nur für mich und für meine Familie. Aber wundert euch nicht, wenn wir dereinst nach Ankara marschieren und euch allesamt auf knüpfen werden.“ „Er ist ein gottloser Kommunist“, entschied der Provinzgou verneur. „Wir brauchen aber Ruhe in Anatolien. Laßt ihn erst einmal verschwinden. Macht ihn fertig. Eines Tages wird er uns seine Hintermänner schon verraten. Ihr blutiger Bürger krieg, den sie wollen, wird enden wie jede Me sserstecherei im Kaffeehaus, und nicht mit einem befreienden Staatsstreich.“ Das war zu einer Zeit gewesen, als auf den Bergen noch Schnee lag. Jetzt fiel schon das Laub von den Bäumen. * In der Nacht wurde die, Kerkertür geöffnet. Zwei Wärter hol ten Cemal. Der eine hatte eine Laterne, der andere ein Gewehr. Der mit der Laterne ging voraus, der mit dem Gewehr folgte 5
dem Gefangenen. An der Treppe zu den oberen Räumen der Festung spürte der Gefangene einen Kolbenstoß im Kreuz, der ihn zu Boden warf. „Vorwärts, lauf schon!“ brüllte der Wärter und beugte sich zu Cemal Toker hinab, als wolle er ihn hochreißen. Für eine Se kunde befanden sich die Lippen des Wärters an Cemals Ohr. „Unter der Tischplatte“, zischte er, und trieb den Gefangenen wieder mit lauten Flüchen zur Eile an. Cemal wurde in eine Art Magazin gebracht. Ein Richter und der Gefängnisdirektor erwarteten ihn dort Nur durch einen schweren Tisch von ihm getrennt, verlas der Richter das Urteil. Es lautete auf Tod durch Erschießen. Der Gefängnisdirektor, ein fetter Sumnite, fragte: „Hast du dazu noch etwas zu sagen, Cemal Toker?“ Der Tisch, dachte Cemal, der Tisch, und gab erst nach der zweiten Aufforderung Antwort „Wir haben diesem Staat den Krieg erklärt“, sagte er. „Zu welcher Strafe Sie mich auch verurteilen, der Krieg wird euch alle hinwegfegen. Denkt daran, ein Toker bricht nie sein Wort Es lebe ein freies Kurdistan!“ Damit hatten die Beamten nicht gerechnet. Die letzten Worte des Todeskandidaten entsetzten sie. Kopfschüttelnd blickten sie sich an. Von hinten erhielt Cemal wieder einen Kolbenstoß. Aber der war wohl nur die Aufforderung, sich zu erinnern. Cemal Toker handelte. Blitzschnell ergriff er die zolldicke Holzplatte des Tisches. Sie lag lose auf, wog aber mindestens einen Zentner. Mit aller Kraft wuchtete er sie hoch. Während er sie auf die Beamten kippte, riß er die unter der Platte mit Gummistrippen befestigte Waffe an sich. Sie war ein schweres Ding, mindestens Kaliber neun Millimeter. Eine Armeepistole, schon vorgespannt und entsichert. Die Beamten gingen unter der Tischplatte zu Boden. Cemal Toker fuhr herum, schlug mit dem Pistolenlauf den Wärter mit 6
der Lampe nieder. Der mit dem Gewehr sprang erst beiseite, wie um ihm den Fluchtweg freizugeben, feue rte dann aber zwei schlecht gezielte Schüsse hinter ihm her. Tot ist tot sterben ist sterben, dachte Cemal, egal wo sie dich kriegen, aber du hast eine letzte Chance. Er stürmte den Gefängnisgang hinauf, trat die Tür zum Wachraum der Aufseher ein. Einer fuhr von der Pritsche hoch. Cemal packte ihn und zwang ihn, die innere Gitterschleuse zu öffnen. Dann sperrte er den Mann in seinen Wachraum, kam aber nicht weit. Plötzlich tauchte eine Gestalt vor ihm auf. Cemal Toker preßte ihr die Waffe in den Leib. „Schon gut, Cemal“, überraschte ihn eine weibliche Stimme, „bis hierher mußtest du es alleine schaffen. Jetzt hast du Freunde. Jetzt sind wir zu zweit. Jenseits der Mauer sind wir zu dritt und in den Bergen werdet ihr Hunderte sein.“ Das Mädchen war klein und zierlich, hatte dunkle Augen und gebräunten Teint. Weil sie einen Monteuranzug trug und eine Schirmmütze, hatte Cemal sie tatsächlich für einen Kerl gehal ten. Er stellte keine Fragen. Er funktionierte ebenso instinktsicher wie in dem Moment als er die Tischplatte anhob. Gemeinsam mit der Frau hastete er durch die Gänge. Eine handbetriebene Sirene heulte auf. Offenbar waren die Schüsse gehört worden. Die Tür zum Mannschaftsraum der Festungs wache öffnete sich vor ihnen. Die Frau führte etwas an den Mund, das aussah wie eine dik ke Wurst und biß einen Zipfel davon ab. Sofort begann es aus der Wurst zu zischen. Es war eine Tränengasbombe. Die schleuderte sie den Solda ten entgegen. Ungehindert erreichten sie den Festungshof, hatten jetzt aber die Mauer vor sich. Ein Scheinwerfer flammte auf. Der Kegel erfaßte sie. „Schieß!“ rief das Mädchen. Cemal, der mit seines Vaters alter Kugelbüchse einen Bus sard im Flug traf, zielte in die Quelle des gleißenden Lichtes 7
und riß durch. Scheinwerferglas barst das Licht verlosch. Ein Maschinengewehr hämmerte los. Cemal schoß erneut Ein Schrei, und das MG blieb fortan stumm. „Hierher!“ rief das Mädchen und zerrte Cemal zu einer Baumleiter, einer Stange mit beiderseits fußbreit herausragen den Querhölzern, wie die Bauern in Anatolien sie zum Abern ten ihrer Oliven benutzten. Wieselflink erklomm das Mädchen die Mauerkrone. Oben hing ein Seil um eine Zinne. Cemal wußte, daß es mehr als achtzig Meter in die Tiefe ging. Doch ohne zu zögern, folg te er dem Mädchen und vertraute sich dem Knotenseil an. Un ten baumelte das Seilende we it über der Erde. „Spring!“ rief das Mädchen. „Spring doch, Cemal!“ Er ließ los. Nach etwa fünf Metern freiem Fall kam er weich auf. Das Mädchen zog ihn weiter zu einem Gebüsch. Dort lag ein altes Motorrad versteckt. Sie trat es an, aber der Motor lief nicht. Sie befahl Cemal er solle sich hinter sie setzen und sich festhalten. Nun ließ sie das Motorrad die steile Straße hinunterrollen, gab die Kupplung frei und der Motor knatterte. Ohne Licht kurvte sie wie der Teufel durch die Serpentinen. Bald wußte Cemal warum. Hinter ihnen setzte eine wilde Schießerei ein. Aber schon deckten sie die Felsen und bald gerieten sie vollends in den toten Winkel des Hügels. * „Wenn der Morgen kommt, ist die Hölle los“, rief Cemal, an das Mädchen geklammert. „Schon früher, schon wenn der Mond aufgeht“ „Der Soldat auf dem Turm, ob er tot ist?“ fragte Cemal. „Du hast den Gutsherren mit rostigem Schrot ins Jenseits ge schossen. Macht dir töten etwas aus?“ 8
„Bei Unschuldigen schon“, gestand er. Das Mädchen lachte laut gegen das Motorhämmern an. „Du wirst das Wort Mitleid bald aus deinem Sprachschatz streichen müssen. Jetzt bist du im Krieg.“ „Der Tod bedeutet mir nichts“, sagte Cemal. „Ich liebe es, meine Haut für die Freiheit zu riskieren. Das gibt meinem Leben Sinn.“ Sie fuhren auf der Straße nach Baskale und bogen dann ab auf den Fluß zu. Als der Mond über den Bergen herauskam, hielt das Mädchen an und stellte den Motor alt. Sie riß die Mütze vom Kopf. Ihr schwarzes Haar wehte an kühlen Wind, der von der Grenze kam. Das Mädchen steckte sich eine Zigarette an. „Ich heiße Naciye.“ „Und was veranlaßte dich“, wollte er wissen, „soviel für mich zu wagen?“ Sie antwortete ein wenig spöttisch. „Nur solche Dinge verleihen meinem Leben noch Sinn. Gib die Pistole her. Du mußt jetzt allein sehen, wie du weiter kommst.“ „Ich bin in den Bergen aufgewachsen. Hier kriegen sie mich nicht.“ „Wohin wirst du gehen, Cemal?“ „Vielleicht zu meinem Großvater. Er ist der einzige aus mei ner Familie, der noch lebt.“ „Aber sei vorsichtig“, riet sie ihm. „Wie ein Fuchs“, versprach er. „Sie werden dich jagen.“ „Und ich werde nicht vergessen; daß ich von jetzt an im Krieg gegen sie stehe.“ „Wenn du je Probleme hast“, sagte das Mädchen, „dann komm nach Baskale, geh ins Cafe, in dem die Studenten sind, erkundige dich nach Naciye.“ Er nickte und fragte noch einmal. „Und warum tust du das für mich?“ Sie wich aus. 9
„Hier hast du hundert Pfund.“ Er fühlte die zusammengerollten Scheine in seiner Hand. Dann trat sie das alte Motorrad an und fuhr durch die Dunkel heit davon. Ohne Licht und trotzdem sehr schnell, als habe sie die Augen einer Eule. * Als Cemal Toker drei Tage später den Paß herunter ins Tal stieg, in dem das Haus seines Großvaters stand und wo seine Ziegenherden weideten, da wußte er, daß der Feind schon zu geschlagen hatte. Das Haus war niedergebrannt, die Ziegen fortgetrieben und sein Großvater war tot. Wer anders als der alte Mann sollte unter dem flächen Erd hügel verscharrt sein. Erst bei Dunkelheit wagte sich Cemal aus der Deckung. Vor dem Grab kniete er nieder und verrichtete ein Gebet. Dann ging er noch einmal zu dem Stein mit den zwei Sitz mulden, wo man in das Tiefland blicken konnte und wo ihm der alte Mann seine Geschichten erzählt hatte. Die Legenden aus dem ersten Krieg, als er an der, Seite der Deutschen ge kämpft hatte, und die aus dem zweiten Krieg, wo es gefährlich war, noch mit den Deutschen zu sympathisieren. „Ich habe alles aufgeschrieben“, hatte der Kurdenhäuptling immer wieder gesagt. „Die Geschichten, die ich dir erzählte, und die geheimen, die ich dir nicht erzählen darf, solange ich lebe.“ Nun war er tot, der alte Mann, der auch beim Ziegenhüten immer das blaue Gewand mit der Silberstickerei getragen hatte. Und das Papier, auf dem seine Geschichten standen, war mit seinem Haus zu Asche geworden. Sie hatten herausgefunden, diese Schweine, daß es den alten Mann noch gab. Gewiß hatte ihnen der Großvater etwas vorge flunkert, etwa, daß er seinen Enkel seit zehn Jahren nicht mehr gesehen hätte und so fort. Es war dem Alten zuzutrauen, daß er gut gelogen hatte. Und dafür hatten sie ihm eine Kugel gege 10
ben. Hoffentlich eine anständige Kugel, dachte Cemal, und keine, die ihn quälte. Cemal saß stundenlang da und dachte an die Zeiten, die jetzt schon alte Zeiten waren. Er wurde müde und legte sich in die Mulde hinter dem Stein. Sie war noch warm von der Sonne des Tages. Sobald sie kalt wurde, würde die Sonne aufgehen, und er mußte verschwinden. Als es dämmerte und Cemal die Augen aufschlug, fiel sein Blick unter den Stein. Das Gelbe dort konnte kein Gras sein, auch wenn es unter dem Stein nicht so grün wuchs wie an derswo. Er faßte hinein, obwohl er wußte, daß dort Nattern hausten. Das Gelbe fühlte sich steif an, glatt wie hartes Papier. Es war das Guttapercha, in das der Großvater seine Aufzeichnungen gewickelt hatte. Was hatte den Alten veranlaßt, das Buch hierherzubringen? Hatte er die Soldaten kommen sehn, hatte er gehofft, Cemal würde das Buch hier eines Tages finden? Der alte Mann war schon ein schlauer Fuchs. Kein Wunder, daß sie ihn damals nach der Schlacht bei den Dardanellen den Helden von Galipolis genannt hatten. Cemal nahm das Paket an sich und beeilte sich. Der erste Sonnenstrahl flackerte schon über die Kämme des fernen Sagrosgebirges. Cemal würde sich in eine Höhle ve r kriechen und dort das Tagebuch lesen, so wie der Alte es ge wollt hatte. Und er würde allem auf den Grund gehen, was der alte Mann zu Lebzeiten nicht preisgegeben hatte. Vermutlich waren es ganz unbedeutende Dinge und nur in der Erinnerung des Alten großartig und geheimnisvoll. * Zuerst überflog Cemal das Tagebuch des Helden von Galipolis und verstand wenig. Des Großvaters grobe Handschrift machte aus jedem Buchstaben einen Holzschnitt. Doch dann las er langsam und immer wieder und begriff mehr und mehr. 11
Soviel stand bald fest: Wenn er jemals gegen seine mißliche Lage und die der Kurden etwas unternehmen wollte, mußte er nach Europa. Aber Europa war für ihn zehnmal so weit wie für einen Euro päer die ferne Türkei. Und im Augenblick hatte Cemal andere Sorgen. Der Hunger plagte ihn. Er nährte sich von Beeren und von dem, was in seine primitiven Schlingen und Fallen ging. Mal war es ein Vogel, den er rupfte und briet, mal ein Berghase, dem er mü h sam ohne Messer das Fell abzog. Eines Nachmittags, als er noch einmal die Höhle verließ, sah er im Tal mehrere Punkte. Sie bewegten sich langsam in Reihe zu ihm herauf. Es mochten etwa ein Dutzend Männer sein. Sicherlich waren es Soldaten. Sie suchten ihn immer noch. Offenbar hatte ihn der Rauch seines Höhlenfeuers verraten. Cemal Toker hatte mit ihnen gerechnet. Er nahm das Buch des Großvaters und stieg höher. Er kletterte, bis die Nacht kam. Bei einer Dunkelheit, daß man die Steine nicht auf dem Pfad erkennen konnte, überquerte er den Paß. Bald wußte er nicht mehr wo er war und wo es nach Süden über die Grenze ging. Er kauerte sich hin und fror jämmerlich, denn die Nacht war kalt. Hundert Meter weiter oben lag schon Schnee. Als er so dahockte und sich ausrechnete, wann ihn die gut ausgerüsteten wohlgenährten Gebirgsjäger eingeholt haben würden, hörte er etwas rauschen. – Das nahm ihm seine Nie dergeschlagenheit. Die Wasserfälle waren ganz in der Nähe. Sie stürzten tief hinab in den kleinen See, dessen Abfluß an der Flanke des Ser i-Kazni schon jenseits der Grenze lag. Im Morgengrauen weckte ihn Hundegebell, das Schnauben von Tragtieren und die Stimmen von Soldaten, die ihr Zeltbi wak abbrachen. Die Verfolger waren nur noch eine Viertelme i le von ihm entfernt, und sie hatten Hunde bei sich. Ja, sie jag ten ihn mit Hunden, wie einen Verbrecher. Cemal Toker hastete durch die neblige Dämmerung, stolper 12
te, fiel, spürte aber keinen Schmerz. Nur weg von hier, nur bis zur Grenze wollte er kommen. Die Luft atmete sich ein, als wäre sie von Wasserstaub durchmengt Das Rauschen verstärkte sich. Die Pfade wurden glitschig. Bald waren sie von Rinnsalen überströmt Gut für ihn. Jetzt würden die Hunde seine Spur verlieren. An die Felswand gekrallt, tastete er sich unter den Wasserfal len hindurch und kletterte ab. Dann fielen die Schüsse. In weitem Hechtsprung suchte er seine Rettung im See. Das Wasser umfaßte ihn mit eisigen Krallen. Solange er konnte, blieb er mit dem Kopf unten. Als ihn die Atemnot heraufzwang, fielen keine Schüsse mehr. Über dem Wasser des Sees lag eine Nebelschicht Cemal schwamm der Strömung folgend weiter. Die Ufer des Sees näherten sich einander. Die Strömung wurde jetzt reißend. Er klammerte sich an Gestrüpp fest und zog sich aufs Trocke ne. Jetzt würden die Soldaten nicht mehr kommen. Er war jen seits der Grenze, im anderen Land. * Zwei Wochen brauchte Cemal Toker bis Mosul. Da er gelernt hatte, Lastwagen zu fahren, war er schon zwei Tage danach in Basra. In der alten Karawanserei, die jetzt als Ladehof für Lastwa gen diente, half er einem persischen Teppichhändler seinen Mack-Diesel in Gang zu bringen. Für Cemal eine Kleinigkeit. Die Treibstoffleitung hatte Luft bekommen. Man brauchte sie nur mit dem Hebel neben der Einspritzpumpe so lange zu ent lüften, bis oben am Filter keine Blasen mehr aufstiegen. Der Teppich-Perser nahm ihn mit bis Kuweit. Dort trieb sich Cemal im Hafen herum und hörte, daß sie auf einem griechi schen Frachter einen Mechaniker suchten. Er meldete sich 13
beim Kapitän. Weil er hundert Worte Englisch konnte, klappte die Verständigung. „Deine Papiere?“ fragte der Grieche den erstaunlich hellhäu tigen Burschen. „Verloren“, log Cemal. Offenbar war dies nichts Außergewöhnliches. „Du kennst dich aus mit Schiffsmaschinen?“ fragte der Kapi tän mißtrauisch. „Mein Chief, ein irischer Säufer, den die Poli zei sucht, hat auch kein Patent. Ich brauche also einen Mann, der was von Maschinen versteht“ »Motor ist Motor“, bemerkte Cemal. Sie wurden sich einig. „Zweihundert im Monat.“ „Und ein Seefahrtsbuch“, forderte Cemal. „Mußt du dir selbst besorgen“, erklärte der Kapitän. “Wir laufen bald aus. Heute nacht noch, nach Marseille.“ „Da will ich hin“, sagte Cemal Toker. Drei Wochen später ging Cemal Toker in Marseille an Land. Er hatte jetzt Papiere und eine Ahnung von Schiffsdieseln. Ferner hatte er sein Englisch verbessert und außerdem neunzig Dollar i n der Tasche. – Er fühlte sich seinem Ziel schon näher. 2. Von der Strecke Karatschi-Rom hatte der vierstrahlige Luft hansa-Jet etwa zwei Drittel zurückgelegt. Draußen war Nacht. Im schwach besetzten Firstclass-Abteil herrschte Dämmerlicht bei etwas zu hoher Raumtemperatur. Die letzten Sessel der Backbordreihe waren auf Liegestellung gekippt. Zwei Herren hatten es sich bequem gemacht. Aber nicht nur das Alter unterschied sie, sondern auch das Aussehen. Der eine mochte Mitte Dreißig sein, der andere über Sechzig. Der Jüngere war schlank und langbeinig mit athletisch breiten Schultern, der Ältere eher klein mit deutlichem Bauchansatz. Der Jüngere hatte ein schmales, gebräuntes Gesicht, graue Augen, kräftiges braunes Haar, ein Kinn voll Energie und ein 14
permanentes Lächeln um den Mund. Der Altere erinnerte an drei Haustiere zugleich. Sein Haar an einen Igel, seine Stirn an einen nachdenklichen Dackel, der Rest an einen Boxerhund, dem man Pfannkuchenteig ins Gesicht geschüttet hatte. Der Jüngere saß am Innengang, um den Drehbewegungen der Stewardessenkörper besser folgen zu können, wofür der Ältere nur wenig Interesse zeigte. Dafür trug dieser selbst im Schlaf noch ein Monokel vor dem Auge. Aber er schlief nicht. Obwohl die Geheimdienstkonferenz in Tokio höchst anstrengend verlaufen war und so ein Flug an Monotonie kaum überboten werden konnte, hatte er die Augen nur geschlossen. Mit leiser Stimme wandte sich der Operationschef des BND, Oberst Sebastian, an seinen Begleiter, den Spezialagenten Bob Urban: „Die Psychologen machen gern folgendes Spielchen“, sagte er, „der Arzt nennt einen Begriff, der Patient muß darauf spo n tan antworten. Was ihm gerade so einfällt. Der Arzt notiert die Reaktion und zieht seine Schlüsse daraus.“ Bob Urban, der den Oberst lange genug kannte, fragte: „Wer von uns übernimmt den Psychologen?“ „Ich, wenn Sie gestatten.“ Als Zeichen seines Einverständnisses hob Urban die Hand. Der Alte begann: „Türkei“, sagte er. „Unter uns“, antwortete Bob Urban. „Ankara.“ „Staatsbankrott.“ „Bodenschätze.“ „Griechenland.“ Der Oberst unterbrach das Spiel. „Sie dachten an Erdöl?“ Sein Spezialagent nickte. „Im ägäischen Meeresraum soll es ausreichend Erdöl geben. Aber leider reicht die griechische Grenze bis dicht an das türki sche Küstenvorfeld. So gehen die Türken leer aus.“ 15
„Und in Anatolien, wie steht es dort?“ „Da haben schon die Exxon-Prospektoren die Suche aufge geben, nachdem sie Abermillionen Dollars sinnlos verpulve r ten.“ „Und wie ich vor kurzem hörte“, erwiderte der Oberst, „be stätigte der sowjetische Wirtschaftsminister dem Regierungs präsidenten in Ankara, daß nach Überzeugung russischer Ex perten unter Anatolien Milliarden Tonnen Naphta liegen.“ „Woher haben Sie das?“ erkundigte sich Urban. „Hat mir Frings von CIA zugeflüstert“ „Bei der Teehausparty?“. „Ja, genau dort. Sie sind ein scharfer Beobachter.“ „Frings war betrunken. Er hatte nur Augen für diese ange malte Geisha und ist nicht ernst zu nehmen.“ „Wenn es aber doch stimmt.“ „Ich halte es für eine Masche der Russen. Sie schicken Ex perten, investieren, bohren und finden am Ende auch etwas Öl, was keine Kunst ist, denn es gibt praktisch überall Öl. In der Kambrium- und Silurzeit gingen ständig in allen Weltregionen Lebewesen zugrunde, deren Organstoffe unter Druck zu Öl wurden. Nur sind die Mengen eben nicht überall abbauwürdig. Aber die Russen hätten damit Fuß gefaßt“ „Und ein Bein in der Tür.“ „Armer Mann am Bosporus.“ „Warum bohren die Türken nicht selbst?“ wollte Sebastian wissen. „Womit sollten sie? – Kein Land liefert ihnen auch nur einen Bohrmeißel und einen Motor ohne Barzahlung. So verschuldet sind sie. Ohne Geldspritze der Weltbank geht in der Türkei nichts mehr.“ „Doch“, entgegnete der Alte, „die Korruption läuft auf hohen Touren.“ „Und der Radikalismus.“ „Und die Unterdrückung.“ Was will er, überlegte Urban, er hat das Spiel doch begonnen, um das Gespräch absichtlich auf die Türken zu lenken. Was 16
mag ihm der überschlaue Frings aus Washington noch alles zugeflüstert haben? Daß die Türkei als NATO-Partner ein Problem war, das wußte, jeder. Aber gab es vielleicht neue unbekannte Probleme. „Spielen wir weiter“, schlug Urban vor. „Wenn es sein muß.“ „Jetzt bin ich der Psychologe.“ „Meinetwegen“, knurrte der Alte. „Bürgerkrieg“, begann Urban. „Moslem“, reagierte der Chef. „Graue Wölfe.“ „Killerkommandos.“ „Terroristen“, fragte Urban. „Unterdrückung“, antwortete der Oberst Urban glaubte der Sache jetzt nahe zu sein. „Kurden“, sagte er. Sebastian unterbrach mit einer Handbewegung das Spiel. „Falsche Richtung.“ „Und wo geht es lang, bitte?“ „Was wissen Sie über die Kurden?“ wich der Alte aus. Damit aber gab er seine Zielrichtung preis. „Schlimmes“, bemerkte Urban. Die Stewardeß kam vorbei und erkundigte sich, ob die He r ren Wünsche hätten. „Ja, daß wir ungestört bleiben, bitte.“ „Einen Bourbon“, bestellte Urban und deutete zwischen Daumen und Zeigefinger eine Spanne von sechs Zentimetern an. „Vier Tropfen Wermut hinein, weiß und etwas Eis.“ * „Das erste Mal“, erzählte Bob Urban, wobei er den Dank im Glas kreisen ließ, „hörte ich durch Karl May von ihnen. Sein Buch ‚Durchs wilde Kurdistan’ ist von der heutigen Wirklich keit natürlich weiter entfernt als Coca-Cola von Henkell Trok ken.“ 17
„Mich interessieren nur gesicherte Fakten.“ „Nun, die Kurden leben im irakisch-persisch-türkischen Grenzgebiet“, fuhr Urban fort. „Das bedeutet geographisch, zwischen dem Armenischen Hochland, dem Sagrosgebirge und dem Euphrat. Sie führen ihre Herkunft direkt auf Noah zurück, der mit seiner Arche bekanntlich ganz in der Nähe am Ararat landete.“ „Und wie viele Kurden gibt es?“ „Man schätzt zwischen acht und dreizehn Millionen.“ Der Alte hob die buschigen Brauen. „Ziemlich weite Spanne.“ „Die Hälfte der Kurden lebt in der Osttürkei. Das steht fest. Fest steht weiterhin, daß es sich dabei um das ärmste Gebiet des ganzen Landes handelt“ „Warum ist es arm? Ist es so unfruchtbar, oder sind die Kur den so faul?“ „Ganz und gar nicht“, erinnerte sich Urban. „Diese merkwü r dig streifenartigen Täler sind, bevor sie ins Gebirge übergehen, sehr schön und auch sehr fruchtbar.“ „Die Kurden treiben Ackerbau?“ „Soweit sie nicht Nomaden sind schon.“ „Oder Räuber.“ „Dies ist wiederum Originalton Karl May.“ „Warum haben sie dann ständig solche Schwierigkeiten mit den Regierungen, denen sie unterstehen?“ Urban nahm einen Schluck. „Sie wollen die Selbständigkeit. Sie ertragen keine Unter drückung. Sie bevorzugen den Schutz durch eigene Truppen und nicht den durch türkische etwa.“ „Warum gab es diese blutigen Kämpfe im irakischen Teil des Kurdistan?“ Urban mußte erst nachdenken. „Weil die Regierung 1974 die Selbstverwaltungsverträge kündigte. Die Folge war Massenflucht nach Persien. Ein Son derabkommen zwischen Bagdad und Teheran zwang die Kur den dann zur Aufgabe des Widerstandes.“ 18
Der Alte wollte Zusammenhänge wissen, die ihm Urban nur sehr oberflächlich erläutern konnte. Zwar hatten ihn schon mehrere Aufträge in das Kurdengebiet geführt, aber Experte war er deswegen nicht. „Wie steht es mit den türkischen Kurden?“ bohrte Sebastian weiter. „Nicht besser“, sagte Urban. „Die Regierung fördert sie nicht. Die Existenz türkischer Kurden wird geradezu ve rschwiegen. Sobald sie die Köpfe heben, wird munter drauflosgeknüppelt Wie erst in jüngster Zeit wieder. Es soll eine Menge von Toten gegeben haben. Ankara setzte sogar Düsenflugzeuge und Na palm ein. Aber alle Nachrichten darüber werden unterdrückt“ Oberst Sebastian bestellte sich einen Cognac. Offenbar brauchte er ihn jetzt. Möglicherweise hatte Urban mit seiner letzten Behauptung dazu beigetragen. „Die Kurden“, sagte der Oberst, „planen einen Aufstand, der schon die Dimensionen eines Krieges annimmt“ „Laut CIA-Information?“ fragte Urban. „Frings sprach davon.“ „Er muß es wissen“, spottete Urban. „Die letzten intakten Radarbeobachtungsstationen der NATO Richtung Sowjetunion stehen in der Osttürkei. Sie werden gesichert durch ein Heer von CIA-Agenten. Und die hören natürlich das Gras wachsen.“ „Und jeden Zahn, der an den Fundamenten ihrer Basen nagt. Ein Bürgerkrieg dort wäre höchst störend. Die Türkei muß absolut stabil bleiben.“ „So ein Aufstand“, gab Urban zu bedenken, „kostet Geld, das die Kurden nicht haben.“ „Und wenn sie es sich beschaffen?“ „Von wem bitte?“ fragte Urban. „Wenn die Regierung in Ankara schon pleite ist. So was von leeren Taschen wie die der Türkei gab es schon lange nicht mehr.“ Daraufhin ließ der Oberst eine Bemerkung fallen, die Urban irritierte. „Wenn Ankara kein Geld hat dann bedeutet das möglicher weise erst recht Bürgerkrieg.“ 19
„Dahinter sehe ich keine Logik, Großmeister.“ Sebastian führte es genauer aus. „Nun, wenn Ankara kein Geld hat um auch nur Benzin für den Zivilverkehr einzukaufen, mangelt es ihm auch an Geld, um einen etwaigen Aufstand der Kurden militärisch niederzu schlagen. Dadurch hätte der Kampf der Kurden um Autonomie bedeutend größere Aussichten auf Erfolg.“ „Vorausgesetzt, die Kurden können ihren Feldzug bezahlen.“ „Das setze ich voraus.“ „Wer aber sollte sie finanzieren?“ Der Oberst gab auffallend lange keine Antwort „Was macht Ihnen Sorgen, Chef?“ drang Urban in ihn. Sebastian schwieg weiter beharrlich. „Wir, die Bundesrepublik, finanzieren den Krieg der Kurden gegen ihre Regierung in Ankara gewiß nicht“ Wieder machte der Alte eine seltsame Äußerung. „Gibt ja noch mehrere Deutschland, oder?“ „Die DDR hält sich erst recht heraus“, behauptete Urban. „Und mehr als zwei Deutschland kenne ich im Moment nicht“ „Im Moment“, murmelte der Alte. „Aber vielleicht gibt es doch noch eine dritte Möglichkeit“ Urban leerte sein Glas. Mit Scharfsinn war hier nicht weiter zukommen, und zum Raten hatte er keine Lust. „Sprechen Sie es aus, was Sie bedrückt oder verschweigen Sie es, Großmeister. Aber bitte keine halben Andeutungen.“ Er kannte seinen Boß gut genug. Wenn Sebastian einen Verdacht hatte, dann redete er solange drumherum, bis Urban ihn auf spürte und mittels Analyse begründete oder verwarf. Aber diesmal sah Urban keinen Weg, um weiterzukommen. Wenn es je eine ausländische Regierung gab, die sich nicht in die Kurdenfrage einmischen wurde, dann war es die in Bonn. „Nun, das ist alles in der fernen Türkei“, sagte der Alte, als wolle er sich damit selbst beruhigen. Trotzdem blieb unverkennbar, daß er Sorgen hatte. Irgend etwas quälte ihn. Dieser Colonel Frings, dachte Urban, dieser Scharfmacher 20
und Brunnenvergifter Frings aus Washington, dieser Einflüste rer, muß dem Alten einen Floh ins Ohr gesetzt haben. Frings war zuzutrauen, daß er damit Reaktionen auslösen wollte, die seinen eigenen Interessen dienten. Aber Frings hatte sich schon oft geirrt. Zuletzt hinsichtlich der Entwicklung in Persien. Da hatten sie so schief gelegen wie die Titanic bevor sie sank. Die Stimme des Captains meldete aus dem Cockpit, daß sich der Jet im Anflug auf Rom befinde. Erst jetzt wurde der Alte ruhiger, entspannte und zog den Halm aus der Virginia. Urban deutete auf das Lichtsignal an der Kabinenwand. „Gurte anlegen und Rauchen einstellen.“ „Zur Zeit verschwört sich aber auch alles gegen mich“, seufz te der Oberst kopfschüttelnd. * Der BND-Agent Nr. 18 hörte wochenlang nichts mehr über die Türkei und ihr Kurdenproblem. Er verfolgte einen deutschen Frachter, der ausgedientes NA TO-Waffenmaterial nach Südkorea liefern sollte und nie dort angekommen war. Schließlich entdeckte er die Waffen in An gola und den Frachter auf dem Grund des Meeres. Dieser Fall hatte ihn so beansprucht, daß er Urlaub ve rdient zu haben glaubte, und sei es nur auf seiner Dachterrasse in München-Schwabing. Eines schönen Morgens erreichte ihn dort ein Anruf aus Pa ris. Ein guter Freund, Gil Quatembre, Angehöriger des französi schen Geheimdienstes SDECE, erkundigte sich zuerst nach Urbans Befinden. Doch rasch kam er auf andere Dinge zu sprechen, nämlich auf die Waldbrände in Südfrankreich. „Warum überläßt du das nicht der Feuerwehr?“ fragte Urban erstaunt. 21
„Der Waldbrand ist mittlerweile so groß, daß wir die Armee und die Luftflotte einsetzen mußten.“ „Das Rauchen im Freien sollte verboten werden“, bemerkte Urban. „Eine weggeworfene Zigarette war diesmal nicht die Ursa che.“ „Was dann? Etwa die Fähigkeit provenzalischer Liebespaare zur Selbstentzündung?“ „An deiner Stelle würde ich das nicht so leicht nehmen“, ent gegnete Gils Konfirmandenstimme. „Die Feuerwalze bewegt sich mit Radfahrertempo nach Nordosten. Oberhalb von Fréjus ist alles ein Flammenmeer.“ „Dann versucht es unter Kontrolle zu kriegen, sonst frißt es sich noch bis München.“ Jetzt lachte Gil bitter auf. „Das hat es bereits.“ „Ich sehe noch keinen Rauch.“ „Aber ich.“ „Mal Scherz beiseite“, schlug Urban vor, „du vergeudest nicht Staatsgelder, um mit mir über Waldbrände und deren Bekämpfung zu diskutieren.“ „Der Brand ging von einem Haus aus.“ „In Häusern brennen oft Lampen oder Herde.“ „In diesem Fall brannte aber das ganze Haus.“ „Hat einer dran gezündelt?“ „Es gehört einem Mann“, fuhr Gil fort, „den du kennen dürf test“ „Deutscher?“ „Früher war er sogar ziemlich prominent.“ „Und er verbrachte den Sommer als Tourist an der Rivi era.“ „Nein, er lebt da.“ „Betreibt er Geschäfte dort?“ „Er ging nur noch jagen, fischen und zum Segeln.“ Aus der Vergangenheitsform, die Gil bei seiner letzten Ant wort wählte, schloß Urban, daß dieser Mann jetzt nicht mehr jagen, fischen und segeln ging. 22
„Ist er tot?“ „Ziemlich?“ „Sein Name?“ Gil zögerte mit der Antwort „Wird dein Telefon abgehört?“ „Möglich,“ „Wir gaben uns“, erklärte Gil, „bis jetzt erhebliche Mühe, daß sein Name in den Funk- und Pressenachrichten nicht er wähnt wird, bevor die Hergänge geklärt sind. Was ich wieder um dem BND überlassen wollte.“ „Dann kein Wort weiter“, schlug Urban vor. „Du kommst her?“ „Wird nicht zu umgehen sein“, befürchtete Urban. „Ich erwarte dich am Flughafen Nizza mit der nächsten Ma schine aus München.“ Nachdem Urban aufgelegt hatte, sprach er mit der Operati onsabteilung in Pullach, kleidete sich an und nahm von den zwei bereitstehenden Reisetaschen diejenige für Europaeinsät ze. Auf die Überseetasche glaubte er verzichten zu können. Von diesem Augenblick an hatte Bob Urban mit der Türkei zu tun, insbesondere mit den Kurden. Ohne dies auch nur im entferntesten zu ahnen. 3. Als Sohn eines kurdischen Landmaschinenschlossers hatte Cemal Toker eine außerordentlich vielseitige Erziehung genos sen. Nicht zuletzt ermöglichte dies die finanzielle Unterstützung, die der Großvater seinem einzigen männlichen Enkel hatte zukommen lassen. Cemals Vater hatte sich oft gefragt, woher das Geld stammte. Der Alte besaß eine Ziegenherde und etwas Land, aber bei weitem nicht genug, um die Ausbildung seines Enkels mit einem Betrag zu unterstützen, der sich auf dreihundert Dollar im Jahr belief. Für die Verhältnisse des armen Ostanatolien 23
eine ungeheure Summe. Aber das Geld war nun einmal da und floß regelmäßig. Niemand stellte Fragen, woher es kam. Au ßerdem wäre es unbotmäßig gewesen, bei einem Kurdenhäupt ling die rechtmäßige Herkunft zu bezweifeln. Cemals Vater hielt auf einem Großgut südlich Baskale die Pflüge, die Sä- und Erntemaschinen, die Traktoren und Last kraftwagen in Ordnung. So kam Cemal schon als Sechsjähriger mit diesen Geräten in Berührung. Bei seinem starken Interesse für alles, was sich mittels Mo torkraft über Zahnräder und Getriebewellen bewegte, und bei seinem hohen Intelligenzgrad verstand er von diesen Dingen mit Vierzehn soviel wie ein Mechanikermeister. Da er außerdem regelmäßig die Schule besuchte und in den Ferien von seinem Großvater zur Jagd und zum Fischfang mitgenommen wurde, war er seinen Altersgenossen weit vo r aus. Vier Winter lang besuchte er sogar das Gymnasium, bis das den Kurden wieder einmal verboten wurde. Zu dieser Zeit war Cemal aber schon so weit, daß er sich Bücher kaufte oder aus lieh und von sich aus weiterstudierte. Das Erlebnis mit einem Vogel machte ihm klar, welche Ge walt ein Mensch über Leben in jeder Form hatte. Es war eine kleine weiße Taube, ein zutrauliches Tier, das um ihn herumgurrte, wenn er ihm Brotkrumen zuwarf. Plötz lich zog Cemal das Messer, er wußte nicht warum, und warf es gegen den Kopf der Taube, wie er es Tausende Male auf das rote Farbkreuz im Balken der Scheune geschleudert hatte. So genau wie er den Schnittpunkt des Kreuzes traf, so traf er auch die Taube. Plötzlich kein Gurren mehr. Er hielt den heißen Körper des sterbenden Vogels in seinen Händen. Das Blut der Taube floß auf seinen Arm und tropfte zu Boden. Cemal weinte bittere Tränen und schwor sich, daß er fortan nur noch dann Gewalt anwenden würde, wenn es um sein oder das Leben seiner Lieben ging. 24
Zwei Jahre später wurde Cemal in die Armee eingezogen. Sie schickten ihn nach Istanbul. Er lernte eine Stadt kennen, andere Menschen, sah Häfen, Schiffe, Museen. Die Armee war ein bedeutender Einschnitt in seinem Leben, denn er lernte auch zu hassen. Er wurde als Kurde verachtet und verachtete die, die ihn verachteten. Die letzten fünf Monate bis zu seiner Entlassung tat er Dienst bei einer Panzerkompanie in Izmir. Da die Division mit franzö sischen AMX-Panzern ausgerüstet war, bekam er Kontakt zu einem französischen Instrukteur aus Paris. Das Wichtigste an dieser Freundschaft war Cemal, daß ihm der Franzose seine Sprache beibrachte. Cemal benötigte nur kurze Zeit, um sie einigermaßen zu be herrschen. Das kam ihm außerordentlich zugute, als er von dem griechischen Frachter abmusterte und in Marseille an Land ging. * „Wo kommst du her?“ fragte der Patron der Großtankstelle, bei dem Cemal nach einem Job fragte. „Kuweit“, lautete die Antwort „Nein, wo du geboren bist.“ „Kurdistan.“ Der Patron musterte ihn und reagierte verärgert „Für mich bist du kein Türke. Willst mich verarschen, he? Türken sehen anders aus. Du kommst aus Belgien, mach mir nichts vor.“ „Ich bin Kurde“, versicherte Cemal, „die haben oft helle Haut und manchmal sogar helles Haar.“ „Und woher kannst du Französisch?“ „Gelernt, Monsieur.“ „Was hast du noch gelernt?“ „Alles über Autos.“ Der Patron kratzte sich unter der Baskenmütze. „Der Tariflohn ist hier zwölf Franc die Stunde. Plus Versi 25
cherung. Wenn du mit zehn zufrieden bist und ich keine Sozi alabgaben abführen muß, darfst du bleiben.“ „Einverstanden.“ „Aber zu den anderen nichts davon.“ „Werde mich hüten.“ „Kannst heute in dem Schuppen hinter der Dieselzapfsäule schlafen.“ „Danke, Monsieur.“ „Und sag den anderen nicht, daß du Türke bist Morgen fängst du an.“ „Warum nicht gleich?“ fragte Cemal. Der Patron musterte ihn mit einem Blick, der abschätzte, bis wann der Junge wohl ebenso verdorben sein würde wie diese anderen Blutsauger von Kommunisten, die er in seinem Betrieb beschäftigte. „Bon“, entschied er, „geh zu Madame und laß dir einen Blaumann geben, einen Monteuranzug. Und einen Kaffee. Dann nimm dir den Renault vor, den Dreitonner. Springt nicht an behauptet der Gemüsehändler. Wird wohl der Anlasser sein.“ Es lag aber nur an den Batterieklemmen. Sie waren total oxy diert. Cemal hatte die Sache binnen we niger Minuten in Ord nung gebracht. Später hörte er, wie der Patron dem Gemüsehändler einen überholten Anlasser in Rechnung stellte. Aber das war ihm egal. Nach Arbeitsschluß fuhr er in die Stadt und überlegte, wie man in einem so großen Land wie Frankreich einen Mann finden konnte, von dem man nichts als den Namen hatte und der nicht einmal Franzose war. * Trotz wochenlangen Suchens in den Adreß- und Telefonbü chern der Côte d’Azur konnte Cemal Toker den Namen des Mannes nicht finden. 26
Also schrieb er an dessen Geburtsort Wetzlar und bat die dor tige Stadtverwaltung um Auskunft. Dies in der Annahme, man wisse über den Verbleib eines so prominenten Bürgers Be scheid. Sein Großvater hatte ihm versichert, daß die Deutschen das gründlichste Volk der Erde seien. In Allemagne sei alles re glementiert und organisiert. Es ist wie bei Allah, hatte sein Großvater geschwärmt, ohne dessen Willen nichts auf Erden geschieht. Bei den Deutschen passiert nichts ohne Wissen und Erlaubnis der Obrigkeit und ganz besonders ist das bei den Preußen der Fall. Cemals Erwartungen in die deutsche Gründlichkeit wurden nicht enttäuscht. Schon nach zehn Tagen hatte er Antwort aus Wetzlar. Von dort wurde ihm mitgeteilt, daß der Gesuchte im Jahre 1956 die Bundesrepublik verlassen habe und sich wahr scheinlich in Südfrankreich aufhalte. Die deutsche Bürokratie half Cemal leider auch nicht we iter. Er trug sich schon mit dem Gedanken, den Job aufzugeben und weiter nach Osten zu gehen, nach Nizza oder Cannes, um dort erneut die Fahndung aufzunehmen, als eines Tages ein VW-Bus undefinierbaren Altert an der Tankstelle hielt. Der VW führte jugoslawische Kennzeichen, aber Cemal ve r nahm bei den Insassen türkische Laute. Nachdem er den Tank gefüllt hatte, säuberte er die Front scheibe und fragte, ob er noch das Öl kontrollieren dürfe. Plötzlich nannte jemand im Inneren des Fahrzeugs seinen Na men. „Cemal, bist du es, oder bist du sein Geist?“ Über die Gepäcksäcke und Luftmatratzen hinweg turnte ein Mädchen heraus, schlank, langhaarig mit Mandelaugen. Cemal hatte sie nur einmal im Leben gesehen, dies für knapp eine Stunde und bei Nacht, aber vergessen würde er sie wohl nie. „Naciye!“ rief er. „Was tust du hier? Führst du in Marseille deinen Krieg weiter?“ Er wußte, daß sie in Anatolien studierte. Offenbar waren ge 27
rade Semesterferien und sie hatte sich mit Freunden aus Jugo slawien auf einen Europatrip gemacht. Ein wenig enttäuschte ihn das bei dieser Frau. Erst setzte sie ihr Leben ein, um ihn aus der Festung herauszuholen, dann ließ sie die heilige Sache im Stich und trampte durch die Welt. Aus dem Inneren des Busses drang der süßliche Duft von Ha schisch. Das auch noch, dachte Cemal. „Was mich betrifft ich habe meinen Krieg erklärt“, sagte er, „und bereite die erste Offensive vor.“ „Hier an der Riviera?“ antwortete Naciye spöttisch. „Erzähl mir nichts, du gehörst auch zu denen, die lieber genießen als kämpfen.“ „Das könnte man auch von dir behaupten.“ „Wir besuchen in Paris Gesinnungsfreunde“, vertraute ihm die Studentin an. „Kontakte ins Ausland sind wichtig. Verbün dete ersetzen oft eine Division Soldaten.“ Alles nur Worte, dachte Cemal. Doch plötzlich wurde Naciye ernst. Sie nahm ihn beim Arm und zog ihn fort. Hinten am Bus öffnete Cemal die Motorklappe und tat so, als prüfe er Ölstand und Keilriemenspannung. „Was ist es, was dich hierher verschlug?“ fragte sie. „Ich suche einen Mann und finde ihn nicht“ „Kann ich dir helfen?“ „Wüßte nicht wie.“ „Ich kenne viele Leute, habe gute Verbindungen nach Paris an die Sorbonne. Alles Intellektuelle. Sie wissen vielleicht einen Weg.“ Er gab ihr seine Adresse. Sie versprach ihn zu besuchen. Schließlich nannte er ihr noch den Namen des Mannes. Schon einen Tag später suchte ihn Naciye abends gegen 21 Uhr auf. Sie kam herein ohne anzuklopfen. Er stand gerade nackt unter der Brause. Sie blickte ihn ungeniert an und warf ihm schließlich ein Handtuch zu. 28
Dann steckte sie zwei Zigaretten mit einem Streichholz an und reichte ihm eine. Des Rauchens ungewohnt, hustete er beim ersten Zug. „Du lernst es noch.“ Naciye schaute sich um. „Hübsch hast du es hier.“ „Im Vergleich zum Kerker auf der Festung Ispiriz geht es.“ Sie setzte sich auf das Bett und schlug die Beine übereinan der. Sie trug enge, an den Rändern ausgefranste Hot-Pants. Sie hatte feste, aber wohlgeformte Beine ohne Behaarung und von regelmäßiger Bräune. „Was willst du von diesem Mann?“ fragte sie unvermittelt Cemal war nicht bereit, das ererbte Geheimnis preiszugeben. „Er war ein Freund meines Großvaters.“ „Sie haben ihn umgebracht, deinen Großvater.“ „Er verbrannte in seinem Haus. Das ist nun mal so.“ „Meinen Vater haben sie ebenfalls auf bestialische Weise umgebracht“, sagte Naciye, „aber er verriet seine Freunde nicht.“ Und dabei dachte sie daran, wie gräßlich seine verkohl te Leiche ausgesehen hatte. „Sind sie auch deine Freunde?“ „Unsere Freunde“, beteuerte Naciye. „Und was sind das für Leute?“ Sie lächelte. „Mißtrauen gegen Mißtrauen. Du sagst mir nicht, was du von diesem Mann in Südfrankreich willst, und ich verrate dir nicht, wer meine Freunde sind.“ „Vielleicht, wenn wir uns besser kennen“, meinte Cemal, „eines Tages.“ Sie aßen von dem Brot, das er hatte, von dem Stück Fleisch und von dem Käse. Dazu tranken sie Wein. „Er hat Alkohol“, erklärte Cemal, „für einen Moslem eine Sünde, Aber das Wasser hier ist ungesund.“ „Allah wird uns verzeihen“, sagte das Mädchen.
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Am Donnerstag erhielt Cemal einen Anruf. Es war am Spätnachmittag. An der Tankstelle herrschte Hochbetrieb. Der Patron erklärte, daß es unmöglich sei, Cemal herbeizurufen, vor der Waschhalle stünden die Autos in Schlange. Doch die Anruferin blieb hartnäckig. Es ginge um einen Verwandten, behauptete sie, er liege im Sterben. Als Cemal dann kam, war es Naciye. „Ich habe seine Adresse“, sagte sie. „Fahr nach Fréjus und weiter auf der N-1. Les Adrets heißt der Ort. Dort kennt ihn jeder. Frage einfach nach dem General.“ „Merci“, bedankte er sich. Der Patron nahm ihm den Hörer weg. „Los, an die Arbeit, d’accord!“ Cemal blieb höflich wie immer. „Ich mache ja auch Überstunden wenn es sein muß, Monsi eur.“ „Ohne die hätte ich dich gar nicht erst ans Telefon geholt.“ „Dann hätte ich gekündigt, Monsieur.“ „Halt’s Maul, werd nicht frech, geh an deine Arbeit!“ schrie der Patron. „Türkenlümmel.“ Das war zuviel. „Ich kündige“, sagte Cemal ganz ruhig. „Ich bin kein Türken lümmel.“ Ehe der Patron einlenken konnte, war Cemal aus dem ve r schmierten Overall geschlüpft und warf ihn über die Regi strierkasse. „Ich bekomme noch Geld für vier Tage.“ „Das kannst du dir in den Hinter blasen“, schrie der Patron. „Auch recht“, antwortete der junge Kurde, nahm aus dem Regal einen Karton Konserven im Wert des Lohnes, der ihm zustand, und verließ seinen ersten Arbeitsplatz in Europa. Der Fußtritt des Patrons erreichte ihn nicht mehr. Nur seine Schimpfworte, in denen hauptsächlich die Worte Gesindel und Kommunistenpack vorherrschten, hallten hinter ihm her. Den Karton mit Wurst- und Fleischbüchsen verkaufte Cemal 30
an seine Zimmerwirtin. Mit ganzen neunzig Franc Vermögen nahm er am Morgen den Zug nach Fréjus und von dort den Bus nach Mandelieu. Von Mandelieu aus mußte er noch acht Kilometer marschie ren. Die schmale Nebenstraße schlängelte sich über Hügel, die zum Teil bewaldet und teils mit Macchie überwuchert waren. In der Ferne sah man das Meer aufblitzen. Ab und zu tauchte ein Bauerngehöft auf oder eine Vi lla, versteckt hinter Pinien und Platanen. Der Himmel war wolkenlos und von jener Bläue, die der Küste ihren Namen gegeben hatte. Es wurde heiß. Cemal kam an einem kleinen Fluß vorbei. Das quellklare Wasser lockte zum Baden und der Schatten der Bäume am Ufer zum Ruhen. Aber er mußte weiter. Er hatte schon zuviel Zeit verloren. Zu viele Monate. Und der General war ein alter Mann. Vielleicht lebte er nicht mehr lange. Als Cemal die Ortschaft Les Adrets vor sich liegen sah, frag te er eine Frau in einem Weingarten nach dem Haus des Gene rals. Sie deutete nach Osten auf ein Dach zwischen den Spitzen dunkler Zypressen. Cemal ging querfeldein bis zu der Straße, die zu dem Haus führte. Er hatte nur noch wenige hundert Meter, da hörte er hinter sich das Brummen eines Autos. Es war ein offener CitroenGeländewagen. Am Lenkrad saß ein Mann im hellen Hemd. Er trug Strohhut, Sonnenbrille und hatte einen kurzen weißen Kinnbart Cemal trat zur Seite, um dem Wagen Platz zu machen. Aber der Fahrer hielt an und nahm sogar den Gang heraus. „Zu wem wollen Sie, junger Mann?“ Er hatte eine erstaunlich schneidende Stimme. „Zu General von Tettau.“ Der Mann im Mehari musterte ihn lange. „Franzose sind Sie nicht“ „Ich komme aus Anatolien, Monsieur.“ 31
„Türke sind Sie aber auch nicht Was wünschen Sie von dem General?“ „Das sage ich ihm nur persönlich.“ Der Mann in dem kleinen Geländeauto stützte sich mit den Unterarmen auf das Lenkrad und schien nachzudenken. „Sind Sie“, fragte er, „vielleicht Kurde?“ „So ist es, Monsieur.“ „Kommen Sie vielleicht von einem Mann namens Halit To ker?“ Cemal traute seinen Ohren nicht „Er war mein Großvater, Monsieur.“ „Nannte man ihn nicht“, der Mann im Auto überlegte mit halbgeschlossenen Augen, nannte man ihn nicht den He lden von Galipolis?“ „Stimmt, Monsieur.“ Da machte der alte Mann den rechten Sitz frei, indem er den Patronengurt und das Jagdglas nach hinten warf. „Steigen Sie ein“, rief er, „der Held von Galipolis war mein Freund. Und sein Enkel ist auch mein Freund. Ich bin General Bodo von Tettau.“ Er kuppelte, würgte den Gang hinein und fuhr weiter. – Achtundvierzig Stunden später war der General tot. Das Feuer, das in seinem Haus gelegt worden war, sollte sämtliche Spuren löschen. Es löschte nicht alle Spuren, aber der Brand vernichtete schließlich mehrere hundert Hektar kostbaren Waldes. 4. Der Körper des alten Mannes zeigte keine Verletzung. „Er ist einfach verdorrt“, sagte der SDECE-Agent Gil Qua tembre, „wie ein Stück Fleisch, das man großer Hitze, aber nicht dem Feuer aussetzt“ „Und wie war das möglich? Das Haus ist bis auf die Grund mauern verkohlt.“ „Er schlief wegen der Sommerhitze im Keller.“ 32
„Und kam nicht mehr heraus?“ „Anzunehmen.“ „Ein Mann wie General Tettau, mit Achtzig noch ein großer Fischer, Jäger, Segler und Golfmatador.“ „Wir fanden ihn so wie du ihn hier siehst“ Sie hatten ihn ins Leichenschauhaus von Mandelieu gebracht. Da lag er nun in der Kühle der Marmorwände, weiß wie alles um ihn herum. Urban fröstelte. „Er muß einen tiefen Schlaf gehabt haben“, sagte er. „Nun, nach mehreren Flaschen Côte du Rhône mag das zu treffen.“ „War das seine Marke?“ „Wir fanden im Keller einige Hundert Flaschen davon und auf der Terrasse des Hauses drei leere.“ „Und Gläser, wie viele Gläser?“ „Zwei.“ „Aber er lebte doch allein.“ „Das Haus versorgte eine ve rwitwete Bäuerin aus dem Dorf. Das Grundstück hielt er selbst in Ordnung, die Weinstöcke, die Obstbäume, den Rasen.“ „Wie“, fragte Urban, „lautet die amtliche Todesursache?“ „Exitus durch Ersticken und Hitzeschock.“ „Wo fandet ihr ihn?“ „Auf seinem amerikanischen Feldbett.“ „Nicht an der Kellertür oder wenigstens auf dem Weg dort hin?“ Gil hob die Schultern, zog den Kopf ein, machte den Buckel krumm und breitete beide Arme aus. In dieser Stellung des Zweifelns verharrte er sekundenlang. „Für mich ist es ja auch tres mystique“, gestand er. „Und weil er doch ein berühmter General war, deshalb rief ich dich an.“ Urban steckte eine Zigarette in Brand. Der penetrante Ge ruch, den Leichenhäuser im Laufe der Zeit annahmen, zwang ihn einfach dazu. „Das Feuer nahm in Tettaus Grundstück seinen Anfang.“ 33
„Laut Aussage des Branddirektors von Fréjus. Darüber be steht gar kein Zweifel. Südwestlich des Hauses grünt und blüht alles, vom Haus ab in nordöstlicher Richtung ist alles schwarz und verkohlt bis hinauf zum Stausee. Zeitweise heizte der Wind das Feuer an wie ein Gebläse.“ „Und die Theorie der Kripo, wie lautet sie?“ „Man schließt nur eines aus, nämlich, daß der General den Brand selbst legte.“ „Wie kann man das ausschließen?“ „Er liebte sein Haus und das Stückchen Land über alles.“ „Sah man Fremde in der Gegend?“ „Die Verhöre laufen noch. Die Sûrete verspricht sich aber wenig davon. Die Landgüter liegen hier ziemlich weit ve r streut“ „Hatte der General in letzter Zeit Besuch?“ „Seine Haushälterin war das letzte Mal am Freitagmorgen dort. Am Wochenende versorgte sich der General immer selbst Und am Sonntag brannte ja alles schon.“ „Hatte er Feinde in der Gegend?“ erkundigte sich Urban. „Nichts bekannt. Man wußte, daß er ein deutscher Exgeneral war. Politische Gruppen interessierten sich aber nicht mehr für ihn, nachdem sie erfahren hatten, daß er von Anfang bis Ende des Krieges an der Ost-Front im Einsatz stand.“ Urban drückte die MC so pomadig in den Aluminiumascher, daß Gil Quatembre ungeduldig wurde. „Gehen wir.“ „Du hast mich nicht gerufen, nur damit ich mir eine zusam mengeschrumpfte männliche Leiche ansehe.“ „Sie gehört immerhin einem berühmten deutschen Feld herrn.“ „Nun erwartest du von mir, daß ich einen Ansatzpunkt finde. Stimmt’s?“ „Offen gestanden, ich erwarte einen Genieblitz deinerseits. Schließlich ist manches ungeklärt. Zum Beispiel wer, wie und warum. Aber ich erhoffte wohl zuviel.“ „Es gibt in der Tat einen Ansatzpunkt“, erklärte Urban. „Der 34
General galt als kerngesund und geistig topfit, mit der Konditi on eines Fünfzigjährigen. Er soll sogar noch den Damen nach gestellt haben.“ „Behauptet man.“ „Und plötzlich ist er nicht in der Lage, den Keller seines brennenden Hauses zu verlassen, obwohl es zwei Ausgänge gibt und genug Fenster.“ „Du vergißt die Rauchvergiftung“, erinnerte Gil. „Oder“, führte Urban den Gedanken weiter, „Tettau war schon vorher tot“ Gil sah Urban so ernst an, als stehe er vor dem Pfarrer und nehme das Heilige Abendmahl entgegen. „Siehst du eine Verletzung?“ „Die Ritze unterband jede Blutung, und die schrumpfende Haut schloß vielleicht die Wunde.“ „Der Gerichtsarzt untersuchte ihn.“ „Wie wäre es mit einer Obduktion?“ „Die müßte vom Staatsanwalt oder von den Angehörigen be antragt werden. Angehörige gibt es keine, und der Staatsanwalt hat die Leiche zur Bestattung freigegeben.“ „Und wenn ich eine Obduktion beantrage?“ schlug Urban vor. „Mit welcher Begründung?“ fragte der SDECE-Agent. Urban deutete auf das linke Ohr des Toten. „Der Gehörgang scheint mir dunkel verkrustet“ „Keine Anomalie.“ „Aber vielleicht ein Schuß ins Ohr.“ „Dann müßte“, meinte Gil, „die Kugel in seinem Kopf zu finden sein.“ „Und deshalb beantrage ich die Obduktion“, sagte Bob Ur ban.
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Es gab Schwierigkeiten. Aber sie setzten durch, daß Tettau seziert wurde. Und schließlich fand der Pathologe im Gehirn des Toten et was, das nicht dorthin gehörte. Mit der Pinzette nahm er einen grauen Gegenstand aus der Glasschale, so groß wie das Ei einer Zwergtaube, und zeigte ihn seinen Besuchern. „So etwas hat Gott der Herr nicht im Zwischengehirn eines Menschen vorgesehen, Messieurs.“ Urban nahm dem Pathologen die Pinzette aus der Hand. Nachdenklich betrachtete er das Stück Blei im Schein der Lampe. „Neun Millimeter“, schätzte Gil Quatembre. „Eher kleiner.“ „Für siebenfünfundsechzig ist das Ding zu dick.“ „Und Zwischenkaliber gibt es selten.“ „Ich kenne überhaupt keines“, äußerte Gil, „wenn man davon ausgeht, daß das amerikanische Kaliber 38 in etwa damit über einstimmt.“ »Wollen hoffen, daß es ein Zwischenkaliber ist“, sagte Ur ban, „um so leichter können wir auf die Tatwaffe schließen.“ Sie hätten gerne erfahren, wie die Kugel ohne äußeres Zei chen einer Verletzung in den Kopf des Toten gelangt war. „Sie drang durch das Ohr schräg aufwärts in den dritten Ve n trikel“, erläuterte der Arzt. „Blutung durch montanen Herzstill stand gering und kaum nach außen dringend. Die starke Hitze, der die Leiche später ausgefetzt war, verschieß Einschußöff nung und Schußkanal fast vollständig.“ „Können wir die Kugel haben?“ fragte Urban. Mit lässiger Geste sagte der ein wenig heruntergekommene Mediziner: „Sie ist die Ihre, Messieurs.“ Mit der wertvollen Kugel begaben sie sich zur Polizeidirekti on von Nizza. Sie verfügte über ein modern ausgestattetes kriminaltechnisches Labor und konnte auch ballistische Unter suchungen vornehmen. 36
Der zuständige Beamte mit Fachausbildung maß zunächst die Kugel mit dem Mikrometer. Das Ergebnis befriedigte ihn nicht. „Ich würde sagen Kaliber achtkommavier. Aber wer baut ei ne Faustfeuerwaffe, zu der dieses ausgefallene Kaliber paßt“ Nun wog er das Projektil und verglich das Gewicht mit sei nen Tabellen. Auch das Gewicht der Kugel lag ziemlich genau zwischen dem einer 7,65er und einer Neunmillimeter. „Revolver?“ fragte Gil Quatembre. „Wieviele Züge?“ grenzte Urban das Problem ein. „Ich kann nur drei erkennen.“ „Ein dreizügiger Revolver“, mutmaßte Quatembre. Urban steckte sich eine MC an und sagte: „Oder Pistole. – Als nächstes wäre das Problemchen zu lösen, wer eine dreizügige Faustfeuerwaffe Kaliber achtkommavier herstellt“ „Bergmann, Mannlicher, Mauser, Walther, Parabellum, Browning und Colt jedenfalls nicht“, versicherte der Kriminal beamte. Sie gingen. Als sie in Quatembres Dienst-CX saßen, meinte der: „Die Waffe sagt noch lange nichts über den Täter aus. Vom seltensten Revolvermodell werden immer noch Tausende von Exemplaren hergestellt.“ „Kannst recht haben“, räumte Urban ein. „Aber angenom men, in Paris, mitten auf dem Boulevard Haussmann, wird ein Mann getötet, und zwar durch einen Pfeilschuß. Man stellt am Pfeil Merkmale fest, die auf einen bestimmten Stamm der Cheeroke-Indianer hinweisen. Was kann daraus gefolgert we r den?“ „Daß der Täter mit großer Sicherheit kein grönländischer Es kimo war.“ „Und kein Blasrohrjäger vom Amazonas“, ergänzte Urban. „Das ist doch schon etwas, oder?“ „Nur wenn man gar nichts anderes hat.“ „So wie wir. Man darf also keine Spur auslassen.“ 37
„Oder Deckel zu, Akte ins Archiv.“ „Davor“, gestand Urban, „habe ich echten Horror. Nach me i ner Erfahrung sind das die Fälle, die uns später zum Zittern bringen.“ Gil ging mit Urban in ein Fischrestaurant in Antibes. Sie nahmen Fisch als Vorspeise, Hauptgang und Nachtisch. „Bald schwimmt er mir aus den Ohren“, stöhnte der französi sche Geheimagent. „Bei uns in Bayern kriegst du Fisch einfach nicht so. Ich esse auf Vorrat.“ „Dafür ist euer Bier besser.“ „Es ist nicht besser“, sagte Urban, „nur unser Bier ist das Bier schlechthin. Der Rest der Weltproduktion zählt da nicht. Bloß, ich trinke kein Bier.“ Gil brachte Urban zum Flugplatz. Mit der letzten Maschine kehrte Urban über Zürich nach München zurück. * Bob Urban ging gleich zum Schmied. Bis die Haussachve r ständigen lange in ihren Katalogen wälzten, setzte er sich lieber mit dem größten aller Schußwaffensachverständigen in Ver bindung. Es kostete ihn einen Anruf in den Schwarzwald. Sie hatten vor Jahren eine Auseinandersetzung darüber ge habt, ob es möglich sei, eine Waffe mittels Einstecklauf im Kaliber zu vergrößern. Der Experte der Experten hatte behaup tet, das sei absurd. Einsteckläufe verringerten zwangsläufig immer das Kaliber. Urban hatte ihm daraufhin einen Revolver gezeigt, der ur sprünglich Kaliber 6,35 gehabt hatte. Durch Aufbohren um zwei Millimeter, Einführen eines Einstecklaufes, und Trom melbüchsen von je nullkommasieben Millimeter Wandstärke war ein 7,65er daraus geworden. Berechtigterweise konnte man sich die Frage stellen, wer so etwas machte. Nun, es war gemacht worden, aus welchen Gründen auch immer. – 38
Trotzdem war der Mann im Schwarzwald äußerst hilfsbereit. „Spontan“, sagte er, „kann ich keine präzisen Angaben ma chen. Aber ich erinnere mich dunkel, daß es mal eine acht kommavier gab. Ich melde mich wieder.“ Es dauerte nur bis zum Morgen. Urban saß kaum hinter seinem Schreibtisch im BNDHauptquartier, als ihm ein Anruf durchgesteckt wurde. „Tukstra“, vernahm er als erstes Wort „Tukstra“, murmelte Urban. – Erst in diesem Augenblick er kannte er die Stimme des Waffenexperten. „Das hat mich eine schlaflose Nacht gekostet“, gestand der Mann aus dem Schwarzwald. „Aber jetzt bin ich sicher. Es gibt praktisch nur eine dreizügige Pistole dieses exotischen Kali bers.“ „Tukstra“, wiederholte Urban. „Nie gehört“ „Ein Kleinserienhersteller hat dieses Modell gebastelt. Inter national konnte es sich natürlich kaum durchsetzen. Dazu tru gen einige gravierende Fehler bei. Angeblich soll die Waffe nur in der Sommerhitze funktioniert haben. Sobald es kalt wurde, hatte sie die unangenehme Eigenschaft von selbst los zugehen. Dann feuerte die Pistole den ganzen Magazininhalt heraus und gebärdete sich dabei wie ein Knallfrosch. Wohin die Kugeln jeweils schlugen, war unberechenbar.“ „Woran lag das?“ erkundigte sich Urban. „An einer falschen Dimensionierung von Abzugfeder und Abzugnocken und an ungeeignetem Material. Bei Kälte ve r größerte sich das Spiel zu sehr, und die Kanone machte sich selbständig.“ „Gab es nicht auch eine FN, der man das nachsagte?“ „Es war die israelische UZI“, korrigierte ihn der Experte. „Bei ihr lag der Grund aber woanders.“ Nun stellte Urban die entscheidende Frage: „Wo wurde die Tukstra gebaut?“ „Pardon“, erwiderte der Mann aus dem Schwarzwald, „dach te, das ginge schon aus der Silbe Tuk hervor. Der Hersteller saß irgendwo in Anatolien. In Erzurum glaube ich.“ 39
„Türkei?“ „Da packte einen der Ehrgeiz und er wollte unbedingt eine eigene Pistole herstellen. Um Lizenzgebühren für ein bewahr tes Modell zu sparen, nahm man von jeder der marktgängigen Waffen ein bißchen etwas.“ „Das Schlechteste.“ „Sagen wir das Einfachste. Aber die Technik, aus vielen Ve r einfachungen etwas Brauchbares zu machen, beherrschen nur die Russen.“ „Und die Tukstra ging voll in den Ofen.“ „Kann man behaupten. Die Tukstra ist keine Waffe, höch stens ein Scherzartikel, den Sie Ihrer Schwiegermutter schen ken können.“ „Aber sie tötet.“ „Und wie.“ „Wann“, fragte Urban, „wurde sie hergestellt?“ „Mit Sicherheit vor Weltkrieg zwo.“ „Die Fabrik existiert heute nicht mehr.“ „Bauen Sie mal Velozipeds mit eckigen Rädern.“ „Merci“, sagte Urban und wünschte Kimme - und Kornbruch. * Urban traf den Oberst in der Operationsabteilung und erstattete Zwischenbericht. Bei einem bestimmten Wort zuckte Sebastian regelrecht zu sammen. Urban baute den Begriff noch einmal ein – es war das Wort Türkei –, und wieder schien es, als ziehe der Alte den Kopf zwischen die Schultern. Schließlich meinte er: „Eine türkische Waffe, das besagt noch gar nichts. Wieviele Smith & Wessen gibt es allein in München.“ „Von der wurden auch Abermillionen Stück produziert.“ „Und was hätten die Türken mit General von Tettau zu tun, vorausgesetzt, der Mörder war ein Türke?“ 40
Urban stellte die Frage anders herum. „Was hatte Tettau mit den Türken zu tun.“ „Jacke wie Joppe“, antwortete der Alte. „Gar nichts, natür lich. Tettau war nie im Leben in der Türkei.“ „Sind Sie sicher?“ fragte Urban erstaunt. „Im Krieg jedenfalls nicht“, schränkte der Oberst ein. „Er kommandierte eine Panzerarmee, die in den Kaukasus vorstieß, aber er setzte nie den Fuß auf türkischen Boden. Meines Wis sens betrat im zweiten Weltkrieg kein deutscher Soldat je tür kisches Territorium.“ „Mit Einschränkung der Canaris-Leute.“ „Das waren Agenten und keine Soldaten.“ Urban wiederholte die Fakten. „Trotzdem wurde Tettau erschossen, bevor man sein Haus ansteckte. Erschossen mit einer Tukstra, einer Waffe, die ei gentlich ins Museum gehört.“ Sebastian winkte ab. „Sackgasse“, entschied er. „Vermutlich war es Raubmord. Tettau, so sagt man, besaß eine wertvolle Sammlung französi scher Erstausgaben. Es wird um Geld gegangen sein, wie mei stens.“ „Ich fasse trotzdem nach“, beharrte Bob Urban. „Was Sie in Ihrer Freizeit machen“, fuhr ihn der Operations chef daraufhin an, „ist Ihre Sache. Aber bitte verbrennen Sie sich nicht schon wieder unsere Finger.“ Urban ging. Nur selten hatte er Oberst Sebastian so nervös und konfus er lebt wie an diesem Vormittag im Lageraum. Er fuhr ins Casino. Der Kaffee dort war auch nicht besser als der, den seine Schreibkraft auf dem Fensterbrett brühte. Wieder im Büro, sprach er mit dem Archiv. „Bitte alles über General Bodo von Tettau“, forderte er an. „Haben wir schon zusammengestellt.“ „Dann schickt die Akte rauf.“ „Sie ist unterwegs.“ „Bei mir liegt sie nicht“ 41
„Kann sie auch gar nicht“, erklärte der Mann aus dem Ar chiv, „sie ging direkt zu Oper I.“ Urban dachte erst eine Weile nach, dann wählte er die Num mer des Alten. „Kann ich die Akte Tettau einsehen?“ fragte er. „Nein.“ Der Oberst war ziemlich kurz angebunden. Da es nicht üblich war, Entscheidungen ohne Begründung zu treffen, wartete Urban auf ein klärendes Wort. „Der Fall Tettau geht auf null.“ „Ich möchte das Dossier trotzdem lesen.“ „Das hat Sie nicht zu interessieren“, polterte der Alte los. „Tettau“, höhnte Urban, „lebte also nur an der Riviera wegen seines Asthmas. Und daran starb er auch. Sie erlauben, daß ich bezüglich Ihrer Entscheidung eine Aktennotiz anfertige.“ „Machen Sie was Sie wollen“, knurrte Sebastian und war so spontan aus der Leitung, wie es nur möglich war, wenn man den Hörer auf die Gabel schmetterte. Mit Alterssturheit war das schon nicht mehr zu erklären. 5. Das Dorf klebte am Hang des Berges. Seine vierhundert Ein wohner lebten in Häusern aus Lehmziegeln. Aber die Landschaft hätte sogar den Österreichern Ehre ge macht. Die Bergwiesen standen in sattem Grün. Im Osten rag ten Schneegipfel in das Blau des Mittags. In den warmen Mul den grasten Schafe und Ziegenherden. Es duftete nach würzi gen Blumen. Mitten hinein in diese Stille platzten die Soldaten. Sie kamen mit ihren Jeeps die Bergstraße herauf und stürmten überfallar tig das Dorf. Sie durchsuchten alle Häuser. Sie traten ein, ohne anzuklop fen, rissen die Schränke auf, durchwühlten Kisten und Kasten. Sogar in den Isolierungen der Petroleumkühlschränke suc h ten sie. Als die Aktion beendet war, ließ der Offizier die Einwohner 42
auf dem Dorf platz zusammentreiben und verlas einen Befehl der Regierung. „Ab sofort“, hieß es, „ist den Kurden das Tragen der traditio nellen Gurtmesser verboten. Der Besitz von Waffen jeder Art wird mit Zuchthaus nicht unter zehn Jahren bestraft.“ Die Soldaten requirierten alles, was wie eine Waffe aussah, und nahmen auch sonst noch mit, was sie brauchen konnten. Sie schleppten sogar einen frischgeschlachteten Hammel weg. In kalter Wut wog einer der Alten die Axt in der Hand. „Dann werden wir eben damit kämpfen“, schwor er. „Gegen ihre Maschinengewehre?“ „Auch gegen die.“ „Dann kommen sie mit Kanonen und Tanks.“ „Und mit Flugzeugen und Bomben.“ Ein junger Mann, der eilig seine Hütte verlassen hatte, als die Soldaten ausgeschwärmt waren, lehnte sich an die Dorfeiche und sagte: „Mit Waffen kannst du nichts gegen sie ausrichten.“ „Dann gehen wir vor die Hunde.“ „Ich sagte, du kannst nichts mit Waffen gegen sie ausrich ten.“ „Womit dann?“ Cemal Toker hob seine hellen Augen in die Ferne und faßte den Griff des Gurtmessers, das zu tragen jetzt verboten war. „Man muß sie in Ankara packen.“ „Dort sind sie noch stärker als sonstwo.“ „Man muß sie an einer empfindlichen Stelle treffen.“ „Die haben keine solche Stellen.“ „Auch das Panzernashorn ist verletzbar.“ Der Dorfälteste lachte bitter. „Wenn du es so genau weißt, Milchbart, warum stehst du noch herum und hältst Reden.“ „Ihr wißt“, fuhr Cemal fort, „daß ich verletzt war und deshalb bei euch Zuflucht suchte. Aber bald ist es soweit.“ Er hatte nicht all die Strapazen auf sich genommen, um ange schlagen und ermattet in die Hände des Gegners zu fallen. 43
Aber jetzt fühlte er sich wieder stark. Er war voll des Glaubens, daß er das Unmögliche schaffen konnte, sein Volk aus der Unterdrückung zu führen und die Weltöffentlichkeit auf die Kurden aufmerksam zu machen. Nur dafür hatte er durchgehalten. „Schon sein Großvater war ein tapferer Mann“, sagte einer der Männer. „Ja, ein großer Märchenerzähler war er.“ Der Lästerer hatte noch nicht ausgesprochen, da spürte er die Klinge von Cemals Messer im Weichen unter dem Kinn. „Heute magst du das ungestraft sagen“, zischte Cemal, „aber eines Tages komme ich zurück. Dann sprechen wir uns wie der.“ In der Nacht verschwand er. Die Frau, bei der er gewohnt hatte, glaubte, er sei nach Nor den gegangen. * Die Verfolgungen, die ständigen Gefahren, in denen er seit seiner Flucht aus der Festung Ispiriz schwebte, hatten Cemal Tokers Instinkte geschärft. Und den Erlebnissen zwischen Basra und Rom verdankte er mehr Erfahrungen, als sie man chem Siebzigjährigen zuteil wurden. Mit dem Geld des Generals und seinem Plan hatte Cemal zu nächst die Fahrt nach Genua angetreten. In Imperia hatte er die Zugtoilette aufgesucht. Als er wieder ins Abteil kam, hing seine blaue Segeltuchjacke nicht mehr am Haken. Er hätte ihr nicht nachgetrauert, wenn nicht sein ganzer Be sitz in der Jacke gesteckt hätte. Die Fahrkarte, das Reisegeld, der Plan des Generals und der Paß eines Seemanns, der im Libanon an Ruhr gestorben war. Der Paß war zwar schon abgelaufen, aber in alten Hafenstäd ten gab es Leute, die so etwas für wenige Dollar in Ordnung brachten. 44
Außer der Jacke fehlte im Abteil noch ein Bürschchen, ein Sizilianertyp, etwa Zwanzig, mit Bart und auffallender Haken nase. Cemal suchte in allen Waggons, ohne Ihn zu finden. Bei je der Station verließ er als Erster den Zug. Keiner der ausstei genden Fahrgäste entging ihm. Doch der Sizilianer war nicht dabei Genua war Endstation. Der Zug rollte noch, da sprang Cemal schon ab und bezog in der Bahnhofshalle Position. Die Reisen den kamen durch. Wieder war der Sizilianer nicht unter ihnen. Doch dann sah Cemal Toker einen Typen, der Ähnlichkeit mit ihm hatte. Die gleiche Hakennase, aber keinen Bart zwi schen ihr und der Oberlippe. Der Bursche eilte in De ckung eines Gepäckträgers aus dem Bahnhof. Cemal folgte ihm. Draußen sprang er auf eine Straßenbahn. Cemal rannte hinterher. An der nächsten Haltestelle verdrückte sich der Bursche in die hafenwärts abfallenden Gassen der Altstadt Cemal verlor ihn aus den Augen. Aber der Perlvorhang einer Trattoria bewegte sich auffallend. Da in der Mittagsstunde kein Luftzug durch die enge Gasse strich, mußte es eine Katze gewesen sein oder der Paßdieb. Cemal trat ebenfalls in die Bar. Erst sah er fast nichts, so dunkel war es. Dann entdeckte er den Sizilianer. Er stand an der Theke und wandte ihm den Rücken zu. Der Padrone stellte ihm gerade einen Vino rosso hin. Cemal zog das Messer und drückt e es dem Dieb in den Rü k ken. Der hob langsam die Hände, ohne sich umzublicken. – Er kennt sich aus, dachte Cemal, das ist ein Profi. „Laß die Pfoten unten“, zischte er. „Meine Papiere! „Was für Papiere?“ Kein Zweifel, es war dieselbe Hakennase, nur der Schnurr bart war einer von den abnehmbaren. „Meinen Paß, oder du bist dran!“ Cemal drückte zu. Die Spitze des Messers drang bis zur Haut und begann tiefer zu gehen. Der Ganove schaute sich um. Hinten würfelten ein paar 45
Männer. Von ihnen war keine Hilfe zu erwarten. Der Padrone hatte sich in die Küche verdrückt. Man sah seinen Schatten, hörte ihn mit einer Frau sprechen. Der Dieb ballte die Faust und lockerte sie wieder. Dann faßte er vorne in den Hosenbund. Wenn er eine Kanone hat, dachte Cemal, ist mein Messer schneller. Aber der Dieb legte nur den Paß auf den Tresen. Mit der frei en Linken blätterte Cemal ihn durch. Alles vorhanden. – Er steckte ihn ein. „Jetzt noch das Geld.“ „Bist recht clever für einen libanesischen Seemann“, bemerk te der Dieb, „und hast verdammt helle Haut für einen Levanti ner.“ „Mach dir deswegen keine Sorgen, Mann.“ „Trinkst du einen Kaffee mit mir?“ „Behalt deinen Kaffee.“ Cemal steckte das Messer weg und ging. Er lief die Treppen hinunter, den Gerüchen des Hafens folgend, die durch die Gas se herauf drangen. Jenseits eines bogenartigen Durchgangs sah er schon die La gerschuppen und dahinter die Ladebäume der Frachter. Plötz lich standen zwei Kerle vor ihm. Der eine hatte eine Waffe und der andere schlug ihn mit ei nem Bleirohr nieder. Als Cemal wieder zu sich kam, lag er in einem Zimmer auf einem Bett. Sie hatten ihn nicht einmal gefesselt. Er verspürte starke Kopfschmerzen. Der mit der Waffe saß am Tisch und reinigte die Fingernägel am Revolverlauf. Unter dem Fenster stand der mit der Haken nase aus dem Zugabteil. „Bist du vorbestraft?’’ fragte der mit dem Revolver. „Nicht daß ich wüßte.“ „Wirst du gesucht?“ „Nur in Anatolien.“ Sie lachten. 46
„Das ist weit. Was kannst du?“ „Verstehe was von Maschinen.“ „Auch von Autos?“ Cemal nickte. Sie sagten, daß sie einen flinken Burschen wie ihn brauchen könnten. Am nächsten Tag schliff er in einer Altstadtgarage aus ziem lich neuen Mercedes-Automobilen die Motornummern heraus und schlug andere ein. Außerdem hatte er die Typenschilder zu entfernen, was einiges Fingerspitzengefühl erforderte, denn die Dinger waren recht kompliziert vernietet. Er arbeitete Tag und Nacht. Die Autos mußten aufs Schiff, und das Schiff wurde in den nächsten Tagen erwartet. Kaum war er mit einer Partie fertig, rollte die nächste herein. Schließ lich hatte er mehr als sechzig Mercedes- und Jaguarlimousinen umfrisiert. Das Schiff nahm Ladung und ging Richtung Suez in See. Die Organisation war mit Cemals Arbeit recht zufrieden. Man brachte ihn nach Triest, wo es mit einer neuen Partie we i terging. Eines Tages fragte der Boss, ob er einen Lastwagen lenken könne. „Jede Größe“, versicherte Cemal. „Erfahrung mit MAN?“ „Mit MAN, Magirus und Berliet.“ Der Boß, ein eleganter Alfa-Romeo-Fahrer, der nur teure Seidenanzüge trug, schien nachzudenken. „Wir stellen gerade einen Konvoi zusammen. Ziel Teheran. Die Fahrer sind alle Berserker, von Motoren verstehen sie gar nichts. Du fährst mit“ „Die Route führt über Istanbul, Anatolien“, gab Cemal zu be denken. „Ja richtig, da hinten suchen sie dich. Spielt keine Rolle. Du kriegst neue Papiere. Deine libanesischen taugen sowieso nichts.“ Eine Woche später war der Konvoi gestohlener Schwerlast 47
wagen zusammengestellt und setzte sich Richtung Belgrad in Fahrt. Cemal Toker bildete mit einem Fiat-Sattelschlepper die Nachhut. Sie kamen ohne Probleme durch. Aber in Ostanatolien hinter Dogubayazit, als die Straße die Paßhöhe hinaufführte, ve rließ er in der Nacht den Konvoi. Die Lastwagen-Mafia, sollte ruhig annehmen, daß die Polizei ihn geschlappt habe. Zwei Nächte später geriet Cemal Toker in eine Kontrolle. Er haute ab. Sie schossen hinter ihm her. Die Kugel traf ihn am Bein. Mühsam erreichte er die Berge und das Dorf seiner Familie. Dort kurierte er sich aus und verließ das Dorf, als er bei Kräf ten war, im Dunkel der Nacht. * In den Studenten-Cafes von Baskale fragte Cemal Toker nach Naciye. Niemand kannte ein Mädchen dieses Namens. Als er sie beschrieb, wurden sie eher verschlossener. Bald gewann er den Eindruck, daß es nicht an seiner Frage, sondern an der Person lag, die er suchte. Im Grunde hatte er Naciye nur um das Motorrad bitten wol len. Da er sie nicht fand, motorisierte er sich auf eigene Rech nung. Ohne Fahrzeug ging es nicht. Allein bis zu dem Gebiet, wo die Planskizze des Generals be gann, waren es von Baskale fünfhundert Kilometer. Es gab kaum Straßen an der Schwarzmeerküste und erst recht keine Eisenbahnverbindung. In den Bussen, die einmal pro Woche die Dörfer abfuhren, wurde ein Fremder wie ein Weltwunder angestaunt. Seine Beschreibung machte rasch die Runde. Cemal kannte das. Da er andererseits sein Unternehmen so lange wie mö glich geheimhalten mußte, ging es nicht anders. Er mußte sich moto risieren. Aber das Angebot war mager. Die Taxis waren uralt und klapprig, der Diebstahl eines neue 48
ren Automobils zu riskant. Ein Militärfahrzeug zog er erst gar nicht in Erwägung. Am weitesten kam man noch mit einem Laster. Sie hatten Dieselmotoren, waren robust und zu starten waren sie mit jedem Nagel. Im Hof einer Ziegelfabrik entdeckte Cemal einen Zwe itonner mit vollem Tank und offener Tür. Sogar die Papiere klemmten in der Seitentasche. Cemal startete ihn und fuhr einfach damit weg. Er fuhr die ganze Nacht hindurch. Nach dreihundert Kilometern sackte die Treibstoffanzeige auf Null. Doch jetzt war er schon in Erzu rum. Er ließ den Laster in der Seitenstraße eines Vorortes stehen und nahm den Bus ins Zentrum. In einem Café frühstückte er zwei Sesamkringel. Im Bahnhof schlief er auf einer Bank. Gegen Nachmittag fragte er am Fahrkartenachalter: „Gibt es eine Verbindung nach Arhavi?“ Der Beamte hatte den Namen der Stadt noch nie gehört. „Wo liegt das?“ „Östlich Trabzon.“ „Junge, die Bahn fahrt nicht mal bis Trabzon.“ „Wie kommt man dann an die Schwarzmeerküste?“ „Übers Gebirge. Aber nicht mit der Bahn. In diesem Land gehen die meisten Züge nur von West nach Ost, kaum einer von Norden nach Süden. – Nur nach Samsun.“ „Da will ich leider nicht hin“, erklärte Cemal Toker. „Überleg’ dir’s. Soll eine schöne Stadt sein.“ „Ich muß nach Arhavi. Bedaure.“ „Das ist doch dicht an der russischen Grenze. Leben über haupt noch Menschen dort?“ „Man sagt es.“ Cemal blieb wieder keine Wahl Bei Dunkelheit ging er erneut auf Suche. Diesmal war es ein älterer Opel, dem man hinter dem Fahrersitz eine Pritsche auf gesetzt hatte. Auf der Ladefläche s tanden leere Korbflaschen. 49
Immerhin reichte das Benzin bis Erkimis. Von dort kam Cemal per Anhalter weiter. Aber im Gebirge wurde es schwierig. Die Straßen ließen kaum Autoverkehr zu. Cemal schloß sich wegekundigen Hirten an. In Murgui stand ein Bauer vor einem alten Traktor und starrte so verzweifelt auf den Motor wie ein Buschneger auf einen elektronischen Ta schenrechner starren mochte. „Wo soll’s denn hingehen?“ erkundigte sich Cemal. „Fürchte hier ist das Ende aller Straßen für ihn“, sagte der Bauer. „Wollte eigentlich nach Hopa. Meines Bruders Witwe ist gestorben und hat uns ihren Hausrat vermacht Bis ich an komme, haben die Ratten das Zeug gefressen.“ Cemal schaute sich den Motor an. Es sah schlimm aus. Am Nockenwellenantrieb waren vier Zähne gebrochen. Ersatzteile gab es für diesen uralten Diesel schon längst nicht mehr. Zum Glück hatte ein Nockenwellenzahnrad nur mäßige Kräfte zu übertragen. Cemal baute es aus, bohrte Gewindelöcher in die Zahnstummel und schraubte Kronen in Form von jeweils vier Stahlschrauben hinein, deren Köpfe er schräg abfeilte. Das Ganze dauerte einen Tag. Dann lief der Traktor wieder. „Was muß ich dir bezahlen?“ fragte der Bauer strahlend. „Bring mich an die Küste.“ „Wohin dort?“ „Ich sag dir schon den Weg“, erwiderte Cemal. * Die Ausläufer des Pontischen Gebirges reichten bis ans Meer und bildeten dort Buchten und fjordartige Einschnitte. In Arhavi deckte sich Cemal Toker mit Vorräten für eine Woche ein. Hauptsächlich bestanden sie aus Brot, Hartwurst und Ziegenkäse. Als ihn der Bauer abgesetzt hatte, marschierte er immer nordwärts durch das kahle flacher werdende Gebirge. Nach langem Suchen fand er schließlich den ersten Orientierungs 50
punkt. Es handelte sich um einen verfallenen sarazenischen Leuchtturm über dem Vorgebirge bei Cap Ofy. Auf der Karte des Generals Tettau war es mit A markiert. Cemal folgte nun der Peillinie zu Punkt B, einer Felseninsel, wo der fjordartige Küsteneinschnitt sich trichterförmig erwe i terte. Die Insel bildete gewissermaßen den Stöpsel im Trichter. Nur auf der Ostseite schien überhaupt eine Durchfahrt möglich zu sein. Und dies nicht ohne erfahrenen Lotsen. Beim Anblick der Insel setzte sich Cemal am Steilufer nieder, kaute die steinharte Wurst zu dem harten Brot und schaute aufs graue Meer hinaus. Soweit sein Blick reichte, war nichts zu sehen. Kein Dampfer, kein Segel eines Fischers, kein Flugzeug. War schon eine mächtig einsame Gegend, die sein Großvater da mals für den deutschen General ausgesucht hatte. Zwischen 1942 und 43 mußte das gewesen sein. Als sie Sonne sank und der Dunst verwehte und die Sicht für eine Stunde klar wurde, suchte Cemal nach der zweiten Peilli nie, der von C nach D. Sie lief von der Fjordbiegung her genau nach Norden und schnitt die Linie zwischen Leuchtturm und Insel im östlichen Drittel. Cemal begab sich zu der Stelle, wo der Fjord nach Westen bog, und wartete die Dunkelheit ab. Als sie hereinbrach, war der Himmel bedeckt. Erst gegen Morgen kamen die Sterne heraus. Cemal suchte den Nordstern und legte mit Steinen eine Mar kierung aus. Bei Tag visierte er daran entlang, merkte sich die Landmar ken, wanderte wieder hinüber zum Sarazenenturm, nahm eine neue Kreuzpeilung vor und tat das immer wieder, bis er den Punkt endgültig zu haben glaubte. Poch wie er die Gegend auch absuchte, er fand nichts von dem, was der General versprochen hatte. Theoretisch lag der Punkt am Westrand der Steilküste. Sie 51
bildete dort ein felsiges Plateau etwa 60 Meter über dem Me e resspiegel, von einer dünnen Erdschicht überzogen, aus der hartes Gras und Gestrüpp wucherte. Cemal suchte tagelang. Seine Vorräte gingen zur Neige. Nicht ein Loch, nicht eine Spalte entdeckte er. Als er noch für einen Tag zu essen hatte, stieg er wieder ein mal durch die Felsen ab. Gegen Mittag erreichte er den schmalen steinigen Strand, der sich an der Trennungslinie von Wasser und Felsen entlangzog. Nach etwa achthundert Metern stieß er auf eine Geröllhalde. Sie sah aus, als sei dort die Steilküste abgerutscht. Nur aus der Nähe erkannte man, daß die Natur kaum eine so ideale Rampe zustande gebracht hätte. Sie führte in sechs Meter Breite und etwa vierzig Prozent Steigung vom Wasser bis in halbe Höhe des Kliffs. Ihre Ober fläche, teilweise mit Buschwerk und Moos überwuchert, sah wie gewalzt aus. Klopfenden Herzens kletterte Cemal die Rampe hinauf. Sie endete vor einem haushohen Basaltfindling. Trotzdem glaubte er, am Ziel zu sein. Denn auch diesen Fel sen hatten nicht eiszeitliche Gesteinsbewegungen der Natur, sondern die hydraulischen Hebewerkzeuge eines deutschen Pionierbataillons dorthin bewegt. Mühsam legte Cemal zwischen dem hundert Tonnen schwe ren Felsblock und der gewachsenen Wand des Kliffs eine Spal te frei. Er wand sich hindurch und ins Innere der Höhle. * Die Batterie seiner Taschenlampe hielt knapp eine Stunde Dauerbetrieb durch. Aber bereits nach 20 Minuten wußte Cemal Toker recht gut Bescheid. Er befand sich in einem natürlichen Höhlensystem, dessen Mittelpunkt die Abmessungen eines Sportstadions hatte. Trotzdem war alles raumsparend gelagert worden. Die Pan 52
zer, die Granatwerfer, die Haubitzen und Lastwagen standen dicht bei dicht mit wenigen Zentimetern Abstand. Die Kisten mit Munition, der Dauerproviant, alle die für eine Truppe nötigen Vorräte, die Treibstofftanks und Kanister, waren meterhoch gestapelt. Man konnte sagen, die ganze Höh le war bis auf den letzten Kubikmeter als Depot ausgenutzt. Ein Umstand versetzte Cemal Toker maßlos in Erstaunen. Bei den Panzern handelte es sich ausschließlich um russische T-34. Die Artillerie bestand vorwiegend aus fahrbaren Stalin orgeln, die Lastwagen waren russische Ford-Lizenznachbauten. Sogar ein Dutzend demontierter Jagdflugzeuge entdeckte Cemal. Wenn er sich nicht irrte, waren es Jakowlew-Jagdeinsitzer vom Typ sieben oder neun. Und alles fabrikneues Material. Mann, dachte er und rechnete überschlägig, was zu erzielen sei, wenn man nur die Kupferkabel aus den Tanks, Lastwagen und Flugzeugen herausriß und kiloweise verkaufte. Dazu ka men noch die schweren Akkus. Sie waren alle trocken, versie gelt und gewiß noch brauchbar. Zweifellos kostete es große Mühe und Vorsicht, diesen gan zen Plunder in Geld zu verwandeln, beziehungsweise dem beabsichtigten Zweck zuzuführen. Aber er und seine Freunde wurden sich dieser Mühe gern unterziehen. Denn nur mit einer angemessenen Summe Bargeld ließen sich seine Pläne ver wirklichen. Als seine Birne nur noch glimmte, fand Cemal eine Kiste mit Karbidlampen und Karbid. Mit Hilfe von Sickerwasser brachte er eine der Lampen zum Leuchten. In ihrem scharfen weißen Kegel suchte er weiter. Zwischendurch verköstigte er sich aus den vorgefundenen noch eßbaren Konserven. Sogar Brot in Weißblechbüchsen fand er. Gutes schmackhaftes Roggenbrot. Und Schokolade, Bonbons, Fruchtsäfte in rauben Mengen. Seine Mühe um eine systemati sche Bestandsaufnahme wurde belohnt. In einem Seitengang, den man nur gebückt begehen konnte, fand er zwei Kisten ohne die übliche kyrillische Aufschrift. 53
Die Blechwände der Kisten zierte ein Adler aus schwarzer Farbe. Darunter stand: Deutsche Reichsbank Berlin. Cemal brach mit Stemmeisen die Verschlüsse auf. In den Ki sten befanden sich kleinere Kisten, ebenso massiv aus Alumi niumblech. In den kleinen Kisten stieß er auf Münzen. Sie trugen alle die arabische Zahl 5, bestanden ausnahmslos aus gelblichem Material und wogen schwer. Vorn hatten sie einen Adler, um ihn herum die Inschrift: Deutsches Reich 5 Gold mark. Die Rückseiten waren verschieden. Sie zeigten entweder eine Kirche, oder einen Männerkopf, aber stets mit dem Vermerk: Sonderprägung 1942. Cemal nahm an, daß jede Münze wenigstens 30 Gramm, etwa eine Unze wog. Demnach hatte sie einen Zeitwert von zwei hundert Dollar. Jede der kleinen Kisten enthielt dreihundert Stück davon. Und in jeder der großen Kisten gab es vierzig oder fünfzig kleine Kisten. Das Ganze war gut und gern, Cemal schwindelte, 8 Millionen Dollar wert. Zweifellos stand er hier der Kriegskasse einer Armee, die nie zu ihrem geplanten Kriegszug angetreten war, gegenüber. * Nachdem Cemal Toker den Goldkisten ein noch besseres Ver steck gegeben hatte, verließ er die Höhle, um frische Luft zu schnappen. Draußen dämmerte es schon. Die Sonne hing tief über dem Meer. Und unten, wo die Schwarzmeerdünung gegen, das Ende der Rampe leckte, lag ein Boot Toker warf sich in Deckung. Das Boot mochte sechs Meter lang sein, hatte einen Mast, um den ein Segel gewickelt war, und einen Motor. Weit hinausfah ren konnte man mit diesem Kahn wohl nicht. Toker nahm an, 54
daß er einem Fischet gehörte, der im Fjord und unter der Küste Sardinen fing. Aber er sollte sich irren. Da niemand zu sehen war, verließ Cemal seine Deckung bald, um durch die Felsen nach oben zu klettern. Plötzlich versperrte eine Gestalt, von der er des Gegenlichtes wegen nur die Umrisse sah, seinen Weg. Die Gestalt hatte ebenfalls in Deckung gelegen. Vermutlich wußte sie, woher er kam. Die Gestalt war mittelgroß, schlank und trug enganliegende Kleidung. Das Längliche in der Rechten konnte eine Maschi nenpistole sein. „Lauf nicht weg, Toker“, scholl es laut zu ihm hinüber, daß das Echo vom Kliff zurückfiel, Die Gestalt kam näher, trittsicher von einem Stein zum ande ren springend. So bewegt sich kein Mann, dachte Toker. In dem Moment, als das Licht der Sonne schräg auf die Ge stalt fiel, sah er, daß es eine Frau war. Naciye. Cemal ging in die Sitzhocke und blickte sie kopfschüttelnd an. „Das kann nicht sein“, murmelte er. Sie stand breitbeinig vor ihm. Ihre Waffe war ein Gewehr mit abgesägtem Doppellauf. Eine von den Schrotflinten, die auf zwanzig Meter einen Mann so zurichteten, daß ihn seine Mut ter nicht mehr erkannte. „Warum nicht?“ „Weil es nicht sein kann“, sagte er noch einmal. Sie setzte sich neben ihn und drehte eine Zigarette. Dabei hielt sie die Waffe zwischen den Knien eingeklemmt. „Du hast in Baskale nach mir gefragt.“ „Trotzdem ist es unmöglich.“ „Ein Lastwagen wurde aus einer Ziegelei gestohlen“, fuhr sie fort. „Man fand ihn in Erzurum wieder.“ „Na schön, in Erzurum. Und?“ „Ich fragte dort den und jenen. Am Bahnhof sagte man mir, 55
daß einer, der aussah wie du, nach Arhavi habe fahren wollen.“ Er konnte es nicht glauben, daß sie ihn auf diese einfache Weise gefunden hatte. „Du mußt aufpassen“, warnte Naciye. „Angenommen ich wä re ein Polizist.“ „Wer bist du?“ fragte er. Wie immer antwortete sie nicht darauf. „Ich habe überall Freunde. – Später hast du einen Lieferwa gen geklaut, kamst aber nicht über die Berge damit. Dann halfst du einem Mann aus Murgui, seinen Trecker flottzuma chen. Du hast ihn gefragt, ob er hier einen alten Sarazenen leuchtturm kennt“ „Das ist ja gespe nstisch.“ Naciye lächelte. „Du mußt in Zukunft eben besser aufpassen.“ Sie hatte die Zigarette rund gedreht, gab sie ihm und wickelte sich eine neue. Als die Zigaretten brannten; blickte Cemal dem Qualm nach. „Man wird unseren Rauch sehen.“ „Nur zwei Augen folgten dir“, versicherte sie. „Meine Au gen. – Was tust du hier, Ce mal?“ „Ich denke auch das weißt du längst.“ „Was ist hinter dem Felsblock am Ende der Rampe?“ Sie würde es ja doch erfahren, also stand er auf und sagte: „Komm mit!“ * Ihre Schritte hallten durch das Höhlengewölbe. We il ihre Stimmen verstärkt zurückhallten, beschränkten sie sich auf ein Flüstern. „Alles sowjetische Waffen“, erklärte Cemal, „aus dem letzten Krieg.“ „Was sie damit wohl vorhatten?“ „Das erzählte mir mein Freund nicht“, antwortete Cemal. „und im Tagebuch meines Großvaters steht auch nichts da von.“ 56
„Und du?“ fragte diese erstaunliche Studentin aus Baskale, „was hast du damit vor?“ Cemal sagte nicht die volle Wahrheit „Kämpfen“, antwortete er. „Kämpfen? Wie?“ „Wie man mit Waffen kämpft.“ Sie lachte leise. „Um diese Tanks fahrbereit und die Stalinorgeln schußbereit zu machen, brauchst du erst meterdicke Ordner mit Betriebsan leitungen und ein Heer von Technikern. Vergiß nicht, sie la gern seit beinah vierzig Jahren hier. Wie willst du sie wegbrin gen und wer soll die Waffen bedienen? Deine Ziele in Ehren, Cemal Toker, aber du bist ein Phantast.“ „Man kann auch anders kämpfen“, bemerkte er ausweichend. „Woran denkst du?“ „Man kann die Kupferkabel ausbauen, die Batterien, und sie zu Geld machen. Man kann die Maschinengewehre und die Munition verkaufen, ebenso die Vorräte, die Medikamente und mit dem Geld kann man…“ Weil er nicht weitersprach, fragte Naciye: „Was?“ „Irgend etwas finanzieren.“ „Zum Beispiel?“ „Eine Aktion gegen Ankara.“ „Gegen die ganze Stadt gleich?“ „Gegen die Regierung.“ „Gegen alle Minister, Parlament, Armeeführung?“ „Gegen einen der wichtig ist. Und dann muß man die Tat auf sich nehmen und die Welt damit zum Aufhorchen bringen, daß es ein Kurdenproblem gibt.“ „Die Welt hat Dutzende solcher Probleme. In jedem Land lauten sie anders.“ „Aber nicht überall werden Millionen Menschen bis zur Aus rottung unterdrückt.“ „Du bist ein Phantast“, wiederholte das Mädchen. 57
Cemal blickte über die Ansammlung von Waffenschrott, wie über ein Königreich. „Mein Großvater würde das nicht so sehen“, entgegnete er scharf. „Der ist tot. Er entstammte einer Generation von Träumern und Romantikern.“ „Mein Freund Tettau würde mir ebenfalls zustimmen.“ „General von Tettau“, sagte das Mädchen, „ist ebenfalls da hin.“ Cemals Kopf rückte nach links. In seinen Augen mischten sich Ungläubigkeit, Überraschung und Entsetzen. „Tettau tot? Der Mann war doch wie ein Baum.“ „Du wußtest das nicht?“ fragte Naciye. „Er verbrannte in sei nem Haus. Natürlich wurde das Haus angesteckt. Wir dachten, du hättest deine Hand im Spiel…“ In diesem Augenblick hakten zwei Gedankenketten bei Cemal ineinander. „Wie war es möglich“, fragte er unruhig, „daß ihr mich mit dem General in Verbindung brachtet. Du wußtest nur den Na men Tettau. Ich habe mit keinem Menschen je darüber gespro chen, daß Tettau ein deutscher General ist.“ Wieder stand dieses geheimnisvolle Lächeln um den schönen Mund. „Wir haben tausend Augen und tausend. Ohren. Uns entgeht nichts. Wir wissen alles.“ „Wer ist wir?“ fragte er tonlos. „Wir“, erklärte Naciye, „ganz einfach wir.“ 6. Die Panzergrenadierdivision im armenischen Kutaisi war zwar eine sogenannte „Vorfeldeinheit“ der Roten Armee, aber nichtsdestoweniger durch den Dienst an der Grenze weitge hend verschlampt Trotz harter Disziplin und Alkoholverbots schluckten die Soldaten wie die Fische. 58
Im Offizierscasino hingegen kam man weitgehend vom Wodka ab. Hier begann sich neuerdings Anacha durchzuset zen, ein marihuanaähnliches Rauschgift. Denn das Leben in den Grenzprovinzen war monoton, fast unerträglich. Der Polit-Offizier der Kutaisi-Division, ein mürrischer Mann, war an diesem Tag kaum ansprechbar. Er hatte Sorgen und obendrein Liebeskummer. Seine Braut im fernen Moskau hatte ihn wegen eines MIG-Piloten verlassen. Er schwor sich, beide umzubringen, wenn er sie erwi schte. Aber die Chance, nach Moskau zu kommen, stand für die nächsten zwei Jahre dreiunddreißig zu eins. Bis dahin würde sich die Welt einige Male weitergedreht haben. Als Major Pelinkow seine Polit-Informationsstunde für die Unteroffiziere beendet hatte, ging es auf 22 Uhr. Draußen im Kasernenhof blies der Trompeter Zapfenstreich. Auf halbem Weg zum Offizierscasino machte der Major kehrt. Er hatte keine Lust, sich zum tausendsten Mal die alten Sprü che der Genossen Kameraden anzuhören. Die Sprüche über Weiber, über Beförderung und was man tun würde, wenn es Krieg gab. Major Pelinkow ging in sein Zimmer, warf sich angezogen aufs Bett und tat das, was er tagaus tagein als Schande für einen Sowjetsoldaten hinstellte. Er griff unters Kopfkissen und machte sich eine Prise Anacha zurecht Es vermittelte schnell ein rauschartiges Gefühl, das wunder volle Träume bescherte. Träume, die so realistisch waren wie das Leben, so daß man sich die Frage stellte, was nun die Wirklichkeit sei, wachen oder träumen. Mitten in der Nacht wurde der Major geweckt. Jemand häm merte an die Barackentür. Pelinkow brauchte einige Zeit, bis er die Anacha-Nebel durchstoßen hatte. Torkelnd öffnete er. Der Funkoffizier der Division stand draußen. „Funkspruch auf G-Frequenz.“ „Dafür ist Hauptmann Mikojoff zuständig.“ „Oder Sie, Major, wenn Mikojoff nicht erreichbar ist.“ 59
„Dann sucht ihn, verdammt noch mal.“ „Mikojoff liegt im Lazarett. Außerdem ist der Funkspruch an Sie gerichtet. Hier steht es.“ Der Major las den Empfänger-Code. Es war tatsächlich sein persönlicher. Also mußte der Funkspruch von jemand abgesetzt worden sein, den er kannte. „Woher kommt er?“ „Unterschrift 33.“ „Haben Sie ihn nicht eingepeilt?“ „Die Peilung lag grob um West.“ Bis jetzt fiel nur der Schein der Korridorlampe in die Stube des Majors herein. Er machte Licht, rieb sich die Augen und las den Funkspruch. „Danke“, sagte er, seine Verblüffung beherrschend. Als der Funkoffizier gegangen war, nahm der Major etwas zur Anregung. Aber starken Tee diesmal. Dann eilte er zur Telefonzentrale und meldete ein Auslands gespräch an. * Am nächsten Tag beantragte der Major eine Dienstreise nach Moskau. Selbstverständlich war der Anlaß so wichtig, daß er den Flug in Moskau würde begründen können, aber im Hinterkopf schwelte der Gedanke, es Olga heimzuzahlen und ihr den pral len Hintern zu versohlen. „Grund der Reise?“ fragte der III-A der Division. „Angelegenheiten der politischen Führung, Genosse Oberst.“ „Gibt es in der Truppe damit Probleme?“ „Es hat mehr mit Abteilung G zu tun.“ „Ein Spionagefall?“ erkundigte sich der Oberst entsetzt. „Ich erhielt eine Information über Agentenfunk, die so brisant ist, daß ich beim KGB direkt Vortrag halten muß.“ „Gott sei Dank. Ich befürchtete schon wieder einen Sabotage fall.“ 60
Der Major bekam seinen Stempel, seine Marschpapiere und einen Platz in der Maschine. „Wie Sie von Kiew aus weiterkommen, ist Ihre Sache“, rief der Oberst noch. Major Pelinkow brauchte nur 29 Stunden bis Moskau, traf aber dort den zuständigen KGB-Offizier nicht an. Der befand sich auf Dienstreise in Finnland und im Baltikum. Der Major ließ sich die Reiseroute des Genossen geben und seinen Terminplan. Dann fuhr er mit dem Nachtexpreß nach Leningrad, verließ den Zug aber in Wolotschek und traf seinen zuständigen KGB-Kontaktmann im dortigen Inter-Hotel. Der Oberstleutnant war nicht wenig erstaunt, als Pelinkow sein Zimmer betrat „Ich wähnte Sie in Armenien“, rief Somitkan überrascht Der Major steckte sich eine Papyrossi an, ging zum Samo war, füllte ein Glas mit Tee und antwortete: „Sie haben mich einmal gebeten, Genosse Somitkan, wirklich wichtige Ereignisse stets persönlich vorzutragen und sie kei nem Fernschreiber, keinem Telefon und keinem Brief anzuve r trauen.“ „Leider gibt es zuviele Leute auf den Zwischenstationen, die Derartiges entweder unter den Tisch fallen lassen oder an sich reißen, um sich selbst damit zu schmücken.“ „Um so eine Sache handelt es sich.“ „Ich hoffe, Sie beurteilen die Lage richtig.“ Der Politoffizier des Garde-Panzergrenadierregiments in Ku taisi setzte sich aufs Bett und begann mit gedämpfter Stimme. „Ich bekam Informationen über ein sowjetisches Waffende pot in der Türkei.“ Der KGB-Abteilungsleiter winkte ab, schüttelte den Kopf und winkte abermals ab. „Unmöglich, gibt es nicht. Müßte ich wissen.“ Pelinkow entnahm seiner Litevka einen Zettel und las vor: „Sechzig Panzer, vierundzwanzig Raketenwerfer auf Lafet ten, ebensoviele Lastwagen, Feldhaubitzen, etwa neunzig schwere und leichte Maschinengewehre, Flugzeugabwehrka 61
nonen Kaliber zwei Zentimeter, nebst den dazugehörigen Men gen an Munition, Treibstoffen, Lebensmitteln und Medikamen ten für das Bedienungspersonal in Regimentsstärke.“ „Da will jemand durch eine Horrormeldung ein Sonderhono rar rausschinden“, war Somitkans Meinung. „Wo liegt das Zeug?“ „In einem Höhlensystem an der türkischen Schwarzmeerkü ste.“ Der KGB-Offizier sprang auf und wirkte verärgert „Ich schwöre Ihnen, es gibt dort kein Depot. Wozu auch. Wir verfolgen in dieser Richtung keinerlei Aktivitäten. Wäre auch glatter Wahnsinn, ist ja alles Nato-Territorium.“ „Das Depot ist sechsunddreißig Jahre alt“, gab der Major zu bedenken. Der KGB-Mann blieb stehen. „Wie bitte?“ „Die Panzer sind Typ T-34, die Raketenwerfer alte Stalinor geln, alles Material stammt aus dem zweiten Weltkrieg.“ Jetzt wurde der KGB-Oberstleutnant still. „Mann, Genosse…“, murmelte er und goß Wodka ein. „Das kann uns schwer in Bredouille bringen.“ Der KGB-Offizier starrte ins Glas, blickte auf und grinste. „Und“, fragte er, „wieso uns? Höchstens die Türken. Wenn jemand damit unter Druck zu setzen ist, dann nur die Türkei. Major, wenn das wahr ist, das ergibt Perspektiven, ergibt das.“ „Der Informant gilt als zuverlässig.“ „Wie zuverlässig?“ „Bis jetzt war er es.“ „Unsinn. Jeder kann umgedreht und als Werkzeug benutzt werden. Wenn das Ganze nun eine gezielte Falschmeldung darstellt, mit welchem Hintergedanken auch immer, was dann?“ „Man muß es überprüfen“, schlug Major Pelinkow vor. „Klar, aber wie.“ Der Oberstleutnant setzte sich wieder in den knarrenden Korbstuhl. 62
„Alte Geheimdienstrege l“, murmelte er, „erst die Reaktion, dann die Aktion. Beweise müssen her.“ „Vielleicht Fotos. Aber wer soll sie aufnehmen, wenn Sie un serem Informanten mißtrauen.“ „Zuverlässige Leute natürlich.“ „Am besten unsere eigenen. Aber wie wollen Sie die an Ort und Stelle bringen, Genosse Somitkan?“ „Dafür“, sagte der KGB-Offizier, „haben wir in der Dzerz hinskystraße tausend Mann sitzen, die nichts anderes tun, als über solche Kleinigkeiten nachzudenken.“ * Das Problem war gestellt, die Planung lief an. Von den Experten der Abteilung Südost der Hauptabteilung Operation/Ausland des KGB wurden binnen 24 Stunden drei verschiedene Konzepte entwickelt. Oberst Somitkan hatte sie in der Geheimmappe, als er zum Chefvortrag ging. Zunächst führte er die Notwendigkeit aus, die Angaben des türkischen V-Mannes zu überprüfen. Da dies nur mit eigenen Kräften geschehen konnte, ergaben sich folgende Möglichkeiten: „Plan A“, sagte er und legte gleichzeitig eine Karte des Ope rationsgebietes vor, „Einsatz von Agenten, abgesetzt aus einem Flugzeug. Landung per Fallschirm. Nach Durchführung Auf nahme vor der Küste durch einen Frachter oder Fischtrawler.“ „Gefahrenpunkte?“ fragte der KGB-Chef. „Der Einflug einer Transportmaschine wird mit Sicherheit von den amerikanischen Radarstationen in Ostanatolien regi striert. Dadurch ist die Rückkehr des Kommandos nicht zu garantieren.“ „Plan B!“ drängte der vielbeschäftigte Marschall. „Verwendung eines U-Bootes, das die Agentengruppe im Sund absetzt und wieder aufnimmt. Dagegen spricht die gerin ge Wassertiefe vor diesem Küstenabschnitt. Sie beträgt teilwe i 63
se nur zwanzig Meter und beraubt damit ein U-Boot seiner arteigenen Fähigkeiten, sich durch Tauchen unsichtbar zu ma chen.“ Der Marschall wurde ungeduldig. Er herrschte den Referen ten an: „Ich möchte wissen, wie es zu machen ist, und nicht, wie es nicht geht, zum Teufel!“ „Plan C sieht vor“, fuhr Somitkan fort, „bei Dunkelheit einen kleinen schnellen Kreuzer einlaufen zu lassen. Die Distanz von der türkischen Hoheitsgrenze bis in den Sund beträgt knapp vierzehn Meilen. Um diese Jahreszeit haben wir neun Stunden Nacht. Zeit genug also.“ „Und woran scheitert Plan C?“ erkundigte sich der Marschall. „Die Einfahrt in den Sund ist zwar gerade noch breit genug für einen kleinen Kreuzer, wenn auch mit Riffen und Unter wasserfelsen gespickt, aber im Sund wird ein überaus kompli ziertes Wendemanöver erforderlich, das bei Dunkelheit kaum durchgeführt werden kann, zumindest nicht mit der geforderten Sicherheitsmarge.“ Noch beherrschte sich der Marschall. „Kann der Kreuzer nicht draußen eine Pinasse absetzen?“ „Die Kurse der türkischen Küstenpatrouillen sind uns weit gehend unbekannt.“ Der Marschall blieb äußerlich ruhig. Er stand auf, verließ sei nen großformatigen Schreibtisch, trat ans Fenster und blickte hinüber zum Roten Platz und zur Kremlmauer. Seine Hand packte den gelben Vorhang und zerknüllte das Leinen in der Faust. „Verdammt, wie ist es denn zu machen?“ fluchte er. „Das hängt vom Wetter ab, Exzellenz.“ „Und wie wird das Wetter?“ „Die Meteorologen erwarten Anfang kommender Woche eine starke Kaltfront vom Kaukasus nach Südwest auf die türkische Nordküste zutreibend. Damit setzen die Nebelperioden ein.“ „Na bitte.“ „Außerdem geraten wir in eine Neumondphase.“ 64
„Wunderbar.“ „Man muß versuchen, die Operation aus Teilen von Plan A und C kombiniert durchzuführen.“ Die Laune des Marschalls besserte sich sichtbar. „Hat sie schon einen Namen?“ „Wir dachten an Operation Türkendolch oder Türkenblut“ „Bitte mir bis morgen die endgültigen Pläne vorzulegen. Sonst noch was, Somitkan? Ich muß jetzt zur Sitzung des Par teipräsidiums. Sie entschuldigen meine Eile.“ Die Entscheidung über die Operation Türkenblut fiel in der Nacht zum Sonntag. 7. Bob Urban sprach den Militärhistoriker Dr. Ferdinand Röming auf dem Münchner Flughafen. Der Mitarbeiter seriöser Zeitungen des In- und Auslandes, anerkannter Experte für Osteuropäische Kriegsschauplätze und Autor des Standardwerkes „Strategie östlich von Berlin“, war auf dem Sprung nach Tel Aviv. Zwischen zwei Flugzeugen hatte er eine Viertelstunde Zeit. „Fünfzehn Minuten, Bob“, sagte Röming, „aber bitte nicht eine mehr.“ Es reichte für einen Bourbon in der Cafeteria. „Betrifft General Tettau“, kam Urban sofort zur Sache. „Ich machte schon eine Andeutung am Telefon.“ Der Historiker seufzte. „Ich habe meine Unterlagen durchforstet, aber nur wenig kam dabei heraus.“ „Was bei dir wenig ist, ist für einen Laien eine ganze Men ge.“ Nach dem zweiten Schluck Bourbon begann Dr. Röming aus seinem enormen Gedächtnis die Lage im Sommer 1942 zu reproduzieren. „Die Kriegserklärung an die USA ist ein halbes Jahr alt. In Afrika stößt Rommel, nachdem Tobruk kapitulierte, über die 65
ägyptische Grenze nach El Alamain vor. An der Ostfront be ginnt die Operation Fall blau.“ „Offensive gegen Krim, Wolga und Kaukasus“, warf Urban ein. Röming nickte und fuhr fort: „Im Juli fällt Sewastopol. Deutsche Gebirgsjäger stehen auf dem Elbrus.“ „Und General Tettau?“ erinnerte Urban, um das Verfahren abzukürzen. „Die Heeresgruppe A nimmt die Ölfelder von Maikop. Das war am 9. August.“ „Und Tettau?“ „Ich erwähnte schon die Heeresgruppe A. General Tettau führte damals ihre Panzerdivisionen.“ „Maikop und Elbrus“, wiederholte Urban, „das waren doch die äußersten Punkte, zu denen deutsche Truppen in Rußland vorstießen.“ „Abgesehen von einigen Kommandounternehmen, die bis zur persischen Grenze und bis zum Kaspischen Meer führten. Sie dienten aber mehr der Vorausorientierung und hatten keinerlei strategische Bedeutung.“ „Wirklich?“ Der Historiker lächelte. „Nun, gewisse Pläne gab es immer, aber befiehl du einem ausgepumpten Mann am Reck, er soll nach dreißig Klimmzü gen noch mal dreißig zulegen.“ Urban fragte jetzt gezielt: „Standen deutsche Truppen je auf türkischem Boden?“ „Im zweiten Weltkrieg wohl kaum.“ „Das klingt nach einer Einschränkung.“ „Keine regulären Truppen“, betonte der Historiker. „Daß Spähtrupps oder einzelne Kommandos am Balkan ein paar Schritte über die griechische oder bulgarische Grenze hinweg auf türkischen Boden machten, ist nicht auszuschließen.“ „Ebenso in Anatolien.“ 66
„Das kannst du vergessen. Anatolien besaß keinerlei Bede u tung.“ Urban präzisierte seine Frage noch schärfer. „General von Tettau war mit Sicherheit nie mit einer Opera tion auf türkischem Gebiet befaßt?“ „Heiliger Himmel“, stöhnte der Historiker, „wie sollte er.“ Sie machten ihre Drinks leer. Der Historiker sah auf die Uhr. Offenbar rechnete er sich soviel Zeit aus, um seinerseits eine Frage an Urban stellen zu können. „Was hast du bloß mit Tettau und mit der Türkei?“ Urban machte wenigstens eine Andeutung. Das war er Rö ming schuldig. „Tettau wurde ermordet, bevor man sein Haus in Südfrank reich in Brand steckte.“ „Also kein Unfall. Dachte ich mir schon.“ „Die Mordwaffe stammt aus türkischer Produktion. Eine Tukstra, Kaliber achtkommavier.“ „Daraus zieht ihr sofort den phantastischen Schluß, daß es sich um einen Racheakt handelt, wegen einer Sache, die vierzig Jahre zurückliegt.“ Was Urban dem Historiker verschwieg, verschweigen mußte, war, daß der BND den Fall bereits zu den Akten gelegt hatte, als die heiße Information eines Agenten aus Moskau einlief. Angeblich plante der KGB eine Geheimunternehmung gegen die türkische Schwarzmeerküste. Doch davon erwähnte Urban nichts. „Du kennst doch unsere Bürokratie“, wich er aus, „du kämmst solange Nachrichten durch, bis du auf eine stößt, die dir mißfällt. An dem Mißfallen wird herumkonstruiert, bis du einen Verdacht hast. Ein Verdacht ist noch nichts Konkretes. Also wird er nach allen Seiten abgecheckt. Bleibt der Check negativ, erfolgt Ablage, ist er positiv, erwägt man Gegenmaß nahmen. Drüberschrift: Alles für die Sicherheit.“ „Hätten damals in der Antike“, sagte der Historiker, „die Griechen die Trojaner besser abgecheckt, dann hätte schon der Verdacht, Paris könnte Helena, die Gemahlin des Menelaos, 67
entführen, den Krieg verhindert. Aber Homer hätte der Nach welt nie vom hölzernen Pferd und von den Irrfahrten des Odys seus erzählen können. – Nicht auszudenken wäre das.“ „Mit zweitausend Jahren Abstand sieht alles rosiger aus“, bemerkte Urban. Dann wurde der Flug Tel Aviv aufgerufen. * Nicht öfter als einmal im Monat fuhr Urban bei seiner Bank vorbei, um Finanzgeschäfte zu regeln. Immer nach dem Grund satz: Über Geld spricht man nicht, Geld hat man. Die laufenden Zahlungen wie Telefon, KFZ-Kosten, Kran kenversicherung, Wohngeld für sein Penthouse wurden auto matisch abgebucht. Seine Einkäufe beglich er meistens mit Scheck, im Ausland mit Kreditkarte oder bar. Es ließ sich aber nicht umgehen, daß man für dies oder jenes immer ein paar Groschen im Sakko hatte. Also betrat er die Bankfiliale Leopoldstraße, räumte sein Gi rokonto für eine Festanlage ab und ließ sich an der Kasse noch ein paar Tausender durchschieben. Er wollte schon wieder durch die Schwingtür, als ihn der Fi lialedirektor einholte und in sein Büro bat. „Zigaretten, einen Cognac?“ Urban hatte seine eigenen Monte-Christos, und Cognac trank er nur, bevor man ihn schlug. „Haben Sie einen Zwölfprozenter-Tip?“ fragte er grinsend, „oder einen anderen Vorschlag, wie man sein Erspartes los werden kann?“ „Doktor Urban“, begann der Bankmensch, „erlauben Sie, daß ich ein wenig indiskret werde.“ Urban schüttelte lässig die Rechte. „Genehmigt.“ „Wir führen Sie hier seit zehn Jahren unter der Berufsbe zeichnung Ingenieur. Aber jeder, jeder der nicht blind ist, weiß, daß Sie für den BND arbeiten.“ 68
„Kein Geheimnis.“ „Und daß Sie in der Welt herumkommen.“ „Es geht“ „Reisen bildet“, scherzte der Filialdirektor. „Man begegnet draußen den wundersamsten Dingen.“ „Ich müßte lügen“, erwiderte Urban, „wenn es nicht so wä re.“ „Und da dachte ich mir…“ Jetzt kommt es, überlegte Urban, und war kein bißchen neu gierig. Der Filialleiter ging zu dem offenen Safe, entnahm ihm ein Säckchen, zog den Riemenverschluß des Beutels auf und ent leerte den Inhalt auf eine grüne Filzmatte. Ohne die dämpfende Unterlage hätte es mächtig geklappert. Vor Urban lagen Goldmünzen, etwa in der Größe eines Fünfmarkstücks. „Sie wurden mir gestern zum Kauf angeboten.“ Urban bekam eine Lupe und betrachtete die Münzen. Kopfschüttelnd las er die Gravierung. „Deutsches Reich, fünf Goldmark, Sonderprägung 1942.“ „Der Hoheitsadler ist immer derselbe“, bemerkte der Bankdi rektor, „nur die Rückseite zeigt einmal die Garnisonskirche von Potsdam, und einmal den Kopf Hindenburgs. – In den Münzkatalogen ist diese Prägung nicht aufgeführt.“ „Daher der Name Sonderprägung“, sagte Urban. „Haben Sie gekauft?“ „Privat zunächst.“ „Wieviel bezahlten Sie?“ „Der Verkäufer forderte vierhundert Mark.“ „Soviel wie für einen Krüger-Rand.“ „Wir prüften den Goldgehalt. Er ist in Ordnung. Vierhundert wäre der reine Goldpreis. Dazu kommt noch der Seltenheitszu schlag.“ „Und wer war der Anbieter?“ „Ein Ausländer.“ 69
Urban, bei dem sich in den letzten Tagen alles auf eine be stimmte Silbe reimte, fragte: „Türke?“ „Nein, Italiener.“ „Gab er eine Adresse an?“ „Ohne Paß hätte ich nicht gekauft. Der Mann kam aus Triest.“ Der Filialleiter hätte nun gerne gewußt, ob Urban Möglich keiten der Nachprüfung habe. Vielleicht handelte es sich um eine Falschprägung oder um geraubtes Gut aus einer Privat sammlung. „Ich verfolge die Sache“, versprach Urban. „Geben Sie mir Namen und Adresse des Verkäufers und eine Münze. Zu treuen Händen, versteht sich.“ Er brauchte nicht einmal eine Quittung zu unterschreiben. Man hielt ihn für honorig genug, daß er die Münze zurück brachte. * Sein Chef, Oberst im Generalstab außer Diensten, Wolf Seba stian, mißfiel Bob Urban immer mehr. Der Alte wirkte entnervt wie sonst nicht vor dem Jahresurlaub. Er verfiel, als leide er an Schlaf- und Appetitlosigkeit. Auf das Thema Tettau-Türkei angesprochen reagierte er geradezu bösartig. Anschließend wurde er grau im Gesicht und setzte eine Maske des Schwe i gens auf. Nicht, daß Urban den Sklaventreiber auf irgendeine Weise geliebt hätte, aber Sebastians Zustand machte ihn neugierig. Der strahlende Großmeister von einst wirkte wie das leibhafti ge schlechte Gewissen. Er war auffallend klein, runzelig und häßlich geworden. Jedes Gefühl von Sorge, die ein Quentchen Zuneigung als Ursache gehabt haben könnte, unterdrückend, pirschte sich Urban an das Problem Sebastians heran. 70
Zunächst wartete er einen günstigen Moment ab. Dieser kam am späten Freitagnachmittag. Der Alte nahm seinen Hut, den dunkelblauen Raglan-Coat, den Stockschirm und die altmodische Aktentasche aus Voll rindleder. Urban hörte, wie Sebastians Sekretärin den Dienst wagen bestellte. Der Alte hatte noch in Rottach zu tun. Dann gingen die Türen. Erst die gepolsterte, dann die äußere. Die Schritte des Alten verhallten auf dem Korridor. Urban zögerte jetzt nicht mehr. Er betrat das Büro des Opera tionschefs und visierte sofort dessen Schreibtisch an. Der war militärisch aufgeräumt wie ein Exerzierplatz am Sonntagnach mittag. Daneben auf dem Aktenständer lagen zwei Stapel. Links die erledigten Vorgänge, rechts die, die der Oberst vor sich her schob. Urban suchte eine Akte mit VS-Deckel. Es gab vier Hefter mit dem Querstrich. Wie immer war es der letzte. Mitnehmen oder hier lesen, überlegte er. – Da hatte er ihn schon geöffnet und überflog das Tettau-Dossier, das man ihm aus unerklärlichen Gründen vorenthielt. Es umfaßte den Werdegang des späteren Armeeführers von seiner Geburt im Westfälischen ab. Besuch der Kadettenschule 1914, Leutnant im letzten Jahr des I. Weltkriegs, anschließend Eintritt in das Hunderttausendmannheer und später Karriere in der Großdeutschen Wehrmacht. Das Dossier umfaßte Tettaus Kommandos, die Kriegszüge, die Schlachten, an denen er teilgenommen hatte und sogar seine Auszeichnungen. Daß er zur Widerstandgruppe vom 20. Juli 1944 gehörte, war nie zu beweisen gewesen. In der beigefügten Liste seiner Ka meraden und der ihm delegierten Offiziere war der Name eines Generalstabmajors aufgeführt. Dieser hervorragend beurteilte Divisions-IA war damals erst 26 Jahre alt gewesen. Eine bril lante Karriere stand ihm bevor. Sein Name war Wolf Sebasti an. Darauf hätte nicht einmal Goethe so schnell einen Reim gefunden. 71
Urban schloß den VS-Ordner, schob ihn unter die anderen, steckte sich eine Zigarette an und trat ans Fenster. „Das darf nicht…“, murmelte er leise für sich. „… wahr sein“, ergänzte hinter ihm eine bekannte Stimme den Satz. „Was darf nicht wahr sein?“ Urban verdrehte nicht einmal den Kopf. Er wußte es auch so. Der Alte war noch einmal zurückgekommen. „Sie und Tettau.“ „Aber es ist wahr“, gestand Sebastian. Dabei tupfte er sich den Schweiß ab, „und ich bin froh, daß Sie es endlich wissen.“ Der Alte setzte sich in seinen Ledersessel, um etwas zu su chen, das er vergessen hatte. Aber er fand es nicht. Vielleicht suchte er den Beistand des Himmels. Jedenfalls starrte er jetzt zur Decke hinauf. „Ich hätte es Ihnen ohnehin gesagt“, murmelte er. „Aber nur, weil es unumgänglich wurde.“ „Früher oder später.“ „Warum immer erst später?“ fragte Bob Urban. * Oberst Sebastian war ein Sklaventreiber, aber nie war er ein Unhold gewesen. Im Krieg hatte er korrekt seine Pflicht als Offizier erfüllt, so gar etwas mehr als nur die Pflicht, aber immer im Rahmen dessen, was man den Ehrenkodex des Soldaten nennt Sonst wäre er beim BND nicht in die Stellung eines Operationschefs gerückt. „Ich wollte es nicht wahrhaben“, gestand er leise. „Daß die alte Geschichte heute zu Komplikationen führen könnte.“ „Eine Operation, deren logistische Vorbereitung mir unter stand.“ „Na, dann schütten Sie Ihr kleines Herz schon mal aus“, riet ihm Urban. 72
Sein väterlicher Ton dem Alten gegenüber kam ihm sonder bar verdreht vor. Sebastian steckte sich eine Virginia an und rauchte in lang samen Zügen. „Es begann im Sommer 1942. Schuld daran waren unsere aberwitzigen militärischen Erfolge in Rußland und Nordafrika. Da mußten sie im Oberkommando der Wehrmacht ja zu Phan tasten werden.“ „Falls sie das nicht schon vorher waren.“ „Was wird ein Phantast, der Erfolg hat?“ „Ein Größenwahnsinniger.“ „Heute weiß ich das. Anno zweiundvierzig hielt ich es für einen strategischen Genieblitz.“ „Weil Stalingrad noch kein Begriff war.“ „Stalingrad war damals eine Industriestadt an der Wolga und nicht das Grab einer Armee.“ „Schön“, faßte Urban zusammen. „Wir befinden uns also in der Vorstalingrad-Ära, und die Soldatenwelt war noch in Ord nung.“ „Wir befinden uns im Juni/Juli 1942 zur Zeit der größten Ausdehnung der eroberten Gebiete.“ „Die deutschen Truppen stehen in Mosdok und am Terek, nehmen gerade Elista ein. Die deutsche Flagge weht auf dem Elbrus, die Ölfelder von Maikop sind in unserer Hand. Ebenso die ganze Krim-Halbinsel.“ „Sie kennen aber das Einmaleins.“ „Ich weiß nur, wo man es nachlesen kann.“ „Zwangsläufig“, berichtete der Alte, „entwickelte man neue Strategien. Neue Strategien fußen stets darauf, ob die Ziele der alten erreicht wurden. Und sie waren mehr als erreicht wo rden. Die neuen Strategien sahen vor, daß Rommel durch Oberägyp ten über den Suez nach Arabien vorstößt. Ziel Persischer Golf. Indischer Ozean. – Da so ein Stoßkeil immer gefährdet ist, muß man seine Flanken schützen. In diesem Fall die Nordflanke des Rommel-Flügels. Wie sollte das nun erfolgen? – Durch einen zweiten Stoßkeil, der sich via Türkei Richtung Syrien-Libanon 73
Palästina bewegte, um sich irgendwo in den Weiten des Zwe i stromlandes mit Rommel zu vereinigen. Doch dazu brauchte man Basen, Nachschubdepots et cetera.“ Der Alte benötigte eine Denkpause. Dazu genügten ihm eini ge Züge aus der Virginia. „Im Juli 1942, dem Sommer der Siege und des Höhenrau sches, ging das Oberkommando zunächst das logistische Pro blem an.“ „Man errichtete die Nachschublinien.“ „Unter anderem ein Depot an der türkischen Schwarzmeerkü ste. Für den Fall, daß es Schwierigkeiten im Kaukasus gab, plante man den Vorstoß nach Mesopotamien über die Türkei durchzuführen. Dort standen nur zwei mittlere Pässe im We ge.“ „Wo“, fragte Urban, „wurde das Depot angelegt?“ Der Alte hob die Schultern. „Irgendwo in einem Höhlensystem bei Arhavi.“ „Genauer geht es nicht?“ „Wissen Sie, wie lange das her ist…“, der Oberst rechnete, „… sechsunddreißig Jährchen.“ „Wer hatte damals die Planung?“ „Im Bereich der Heeresgruppe A oblag mir das. Ich entsinne mich eines Befehls, daß nur sowjetische Beutewaffen auf russi schen Transportschiffen über das schwarze Meer gesetzt we r den durften. Auf Dampfern also, die unter der Roten Flagge fuhren, jedoch von unserer Kriegsmarine geführt wurden. Es sollte aussehen, als handle es sich um Absetzbewegungen rus sischer Einheiten. Die Operation wurde weder von den Türken noch von Alliierten wahrgenommen. Es lag daran, daß sie nur geringe Flotteneinheiten in diesem Seegebiet stationiert hatten, daß der Luftraum von unseren Messerschmitts beherrscht wur de und daß die Küste Ostanatoliens sehr, sehr verlassen ist.“ „Die Anlage des Depots gelang also.“ Sebastian nickte. Urban bat ihn, in den Lagerraum mitzukommen, schaltete ei ne Spezialkarte der türkischen Schwarzmeerküste auf Wand 74
projektion und stellte weitere Fragen: „Wo bei Arhavi wurde das Depot errichtet?“ Der Alte starrte auf die Karte und schüttelte den Kopf. „Bedaure“, gestand er, „Auswahl und Anlage des Depots war Sache des türkischen Experten und eines Vorkommandos der Pioniere. Meine Kompetenzen reichten nur bis zur Beschaffung russischer Beutewaffen und deren Verladung in Sewastopol.“ Urban kreiste das Gebiet um Arhavi mit Fettstift ein. „Was hat Sie in den letzten Wochen so bedrückt?’ 4 erkundig te er sich nebenbei Der Oberst faßte es in wenige Worte. „Als wir aus Karatchi kommend über die Türkei flogen, fiel mir wieder dieses Depot ein. Waffen, dachte ich mir, gut konserviert, Munition und Sprengstoffe, was können Unbefugte alles damit anfangen. Von der CIA hatte ich kurz vorher erfahren, daß es da drüben wieder gärt. Später hörten wir vom Tode des Generals Tettau. Als Sie die Nachricht aus Südfrankreich mitbrachten, daß Te t tau möglicherweise mit einer türkischen Tukstra-Pistole er mordet worden ist, schwante mir Schlimmes. Dazu kommt noch die Information aus Moskau, daß der KGB ein Komman dounternehmen gegen die türkische Schwarzmeerküste plant – Natürlich kann es auch andere Ziele verfolgen. Vermutlich hat niemand außer uns noch Kenntnis von dem Waffenlager, und wir machen uns umsonst schwere Sorgen, aber wer weiß…“ Urban sah noch eine letzte Möglichkeit zu testen, ob ihr Ve r dacht begründet oder haltlos war. Er holte den goldenen Fünfer aus der Reverstasche und warf ihn ins Licht der Lagetischlampe. „Kennen Sie den?“ Der Alte starrte die Münze an. „Kein Louisdor und kein Maria Theresia-Taler.“ „Sonderprägung, Deutsche Reichsbank 1942.“ Der Alte erinnerte sich offenbar. „Zwei Kisten“, sagte er, „kamen unter starkem Begleitschutz per Ju-52 aus Berlin. Inhalt zwanzig Millionen Reichsmark in Gold. Alles Fünfer.“ 75
„Die Kriegskasse für den persischen Feldzug.“ „Im Orient sind Dienstleistungen jeder Art, deren eine vo r rückende Armee bedarf, nur mit Gold zu bezahlen. Das Depot in Anatolien erhielt eine Grundausstattung in Höhe von zwa n zig Millionen. Für alle Fälle.“ „Man dachte wirklich an alles.“ „Vier Marineoffiziere übernahmen an Bord des russischen Beutefrachters ‚Ninotka’ den Schutz des Geldes.“ „Es kam am Bestimmungsort an“, kombinierte Urban, „und lag dort fast vierzig Jahre unberührt, bis es gefunden wurde.“ „Und ausgegeben wurde.“ „Gold wird ja nicht ranzig.“ „Ausgegeben von wem?“ murmelte Sebastian, der seine stille Hoffnung, das Depot könnte für alle Ewigkeit vergessen wo r den sein, begraben mußte. „Es wurde gefunden und ausgegeben von dem Mann, der es entdeckte. Er entdeckte es nicht durch Zufall, sondern weil er es suchte. Also wußte er von seiner Existenz. Und wer half ihm, es zu finden? – Unser lieber General Tettau.“ „Verdammt“, fluchte Sebastian, „wenn jetzt eine Schweinerei passiert, wird man es so hinstellen, als würden wieder einmal die Deutschen sie finanziert haben.“ Bei früherer Gelegenheit hatte der Oberst von einem „dritten“ Deutschland außer der Bundesrepublik und DDR gesprochen. Das Dritte Reich hatte er damit gemeint. Sie wußten beide, was das bedeutete, und daß etwas dagegen unternommen werden mußte. Urban sah den Weg vorgezeich net. „Haben Sie“, fragte er eindringlich, „mir noch irgend etwas verschwiegen, Chef?“ Der Alte hob drei Finger zum Schwur. „Das war alles.“ „Dann mache ich mich auf die Socken.“ „Anatolien?“ „Nach Triest“, sagte Urban, „wo der goldene Fünfer her kommt“ 76
8.
Er betrat die Bar am Largo Riborgo und fragte nach Benedetti. Benedetti, so sagte der Mann an der Espressomaschine, sei eben noch da gewesen. Er habe gewartet und ging weg, komme aber gegen Abend wieder. Cemal Toker erledigte andere Dinge in der Stadt. Er besorgte sich ein Auto, ein kleines, einen Cinquecento. Das Auto tankte er voll und ließ es in der Seitenstraße hinter seinem Albergo stehen. Nun hatte er für den Notfall ein Transportmittel, das ihn unabhängig von Bahn, Schiff und Flugzeug machte. Als am Corso Italia die Lampen angingen, suchte er wieder die Bar auf. Hinten an der Wand saß Benedetti. Zwischen den Füßen ein geklemmt hatte er einen Fiberkoffer. Cemal Toker holte einen Stuhl und setzte sich zu ihm. „Wie ging’s?“ „Teilweise mit Haken und Ösen. Sie stellten überall dumme Fragen.“ „Was zahlten sie?“ „Ist meine Sache, oder? Du wolltest hundert Dollar pro Stück. Das Mehrgeld gehört mir.“ „So ist es abgemacht“, bestätigte Cemal und nahm an, daß Benedetti einen Schnitt von mindestens hundert Prozent bei dem Münztausch machte. Daß ihn ein Mafioso übers Ohr haute, war einkalkuliert. Cemal ging es darum, rasch Dollars in die Hand zu bekommen, egal auf welchem Weg, und dabei möglichst im Hintergrund zu bleiben. Benedetti schob ihm den Koffer hin. „Inhalt zwanzigtausend für zweihundert Münzen. In kleinen Scheinen. Geh vorsichtig damit um.“ Cemal bestellte Tee. An die Sitte, zu jeder Stunde des Tages Espresso zu trinken, hatte er sich noch nicht gewöhnt. „Bring mich mit Tonio zusammen“, verlangte der Kurde un vermittelt. 77
Benedetti kniff die Augen so schmal, als sei er kurzsichtig. „Bist du noch zu retten, Amico?“ „Ich muß Tonio sprechen.“ „Ausgerechnet den. Der hat noch ein Hühnchen mit dir zu rupfen, was sage ich, eine ganze Hühnerfarm.“ „Gerade deshalb.“ „Na schön. Auf dein Risiko. Und was soll ich ihm sagen?“ „Ich brauche seinen Dienst.“ Benedetti wischte sich übers hagere Gesicht. „Du… der Turco, will seinen Dienst, den Dienst von Tonio, dem Capo?“ Cemal nickte. Wozu sollte er Benedetti, der nur ein winziges Glied in der Organisation war, einweihen. Benedetti war am besten bei der Stange zu halten, wenn er Aussicht auf einen Reibach hatte. „Wann fährst du die nächste Tour für mich?“ „Du hast noch mehr Münzen von der Sorte?“ Cemal hob beide Hände, als sei das, was bis jetzt über den Tisch gegangen war nur Kleingeld. „In Ankara einen Harem geplündert“, flüsterte er, „du bringst mir Tonio, dann kannst du losgehen mit noch mal zweihun dert.“ „Zu den alten Bedingungen?“ „Nein“, bedauerte Cemal, „die Anfangsschwierigkeiten sind überwunden. Jetzt weißt du, wie der Laden läuft. Für hundert Dollar kann ich sie selbst einschmelzen und pfundweise ve r kaufen. Ich muß hundertfünfzig haben. Bleiben dir immer noch fünfzig Dollar am Stück. Sie einigten sich auf hundertdreißig. „Und Schnabel halten“, verlangte Cemal. „Ich säge mir doch nicht den Balkon ab“, erwiderte Benedet ti, „auf dem ich frühstücke.“
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Zwei Tage später trafen sie sich auf der Festung an der Galeria Sandrinelli. Es war schon dunkel. Tonio kam mit zwei Mann Begleitschutz an und war mächtig wütend. Er ging auf Cemal zu, packte ihn bei der Jacke und spielte den wilden Mann. „Warum hast du am Paß den Fiat im Stich gelassen?“ „Ich fuhr als letzter“, sagte Cemal. „Ein Felsbrocken riß mir die Ölwanne auf. Kolbenfresser, Lagerfresser. Das weiß jeder, daß es dann aus ist.“ Tonio griff noch fester zu. ,,Du lügst, du Hundesohn. Der Berliett machte kehrt. Dein Motor hatte gar keinen Lagerschaden. Sie schleppten den Fiat bis Täbris. Brachte uns zwei Tage Verzögerung ein. Das hat die Organisation eine Masse Dollar gekostet.“ „Wieviel?“ fragte Cemal. „Fünftausend war der Mindererlös für die Wagen, weil die Käufer schon abgereist waren.“ „Ich möchte“, schlug Cemal vor, „unser Verhältnis wieder auf gesunde Beine stellen, Tonio. Kann ich die Sache mit Drei tausend in Ordnung bringen?“ Der Sizilianer ließ los, spuckte aus und zertrat die Spucke im Staub. „Wie willst du die je aufbringen, du Hungerleider? Du magst als Mechaniker ein As sein, aber was hilft das, wenn ich mich nicht auf dich verlassen kann?“ Cemal griff in die Tasche, wo er das Kuvert mit den abge zählten Dollars hatte. Er reichte es Tonio. „Dreitausend. Sind wir quitt?“ „Diavolo!“ der Sizilianer zählte. „Woher hast du die Koh len?“ „Geschäfte.“ „Dir traue ich so was glatt zu.“ Sie steckten sich Zigaretten an. Tonio fragte, ob Cemal wi e der für ihn arbeiten wolle. Daraufhin fragte Cemal den Sizilia ner, ob er nicht Lust hätte, für ihn zu arbeiten. Tonio antwortete, daß er nur für die Organisation tätig sei. 79
Es handle sich um einen Lohnauftrag im Rahmen der Ser viceleistungen der Organisation, erklärte Cemal. „Was weißt du von unseren Geschäften“, bemerkte Tonio lauernd. „Nun, ihr mischt im Immobilienmarkt mit, auf dem Devi senmarkt und auf dem Automobil- und Antiquitätensektor. Ab und zu wird auch einer entführt und gegen Lösegeld wieder freigelassen.“ Tonio hob beide Hände und zeigte wie sauber sie waren. „Das überlassen wir unseren amerikanischen Brüdern.“ „Darum geht es ja“, deutete Cemal an. „Sag’s genauer.“ Cemal senkte die Stimme. „Ich biete dir im Auftrag von Leuten, die nicht genannt we r den wollen, zweimal hunderttausend Dollar für die Entführung eines bestimmten Mannes.“ Tonio spuckte die Kippe weg. „Dann muß es ein bedeutender Mann sein.“ „Dem nur Experten gewachsen sind.“ „Und wer ist es?“ wollte Tonio wissen. Cemal drehte sich um. Nur wenige Schritte hinter ihnen schlenderten Tonios Leibwächter. „Jag erst deine Gorillas weg“, verlangte er. * Ende der Woche lag in Tonios Postfach ein Umschlag. Er enthielt einen Zeitungsausschnitt und behandelte die Per son eines Präsidenten, der demnächst Rom besuchte, um dort einer Konferenz vorzusitzen. Ein Bild des Präsidenten war ebenfalls abgedruckt. Der Absender hatte es schwarz umrandet. Dem Umschlag lagen zehntausend Dollar in bar bei. Gegen Mittag rief Cemal bei Tonio an. „Meine Sendung erhalten?“ „Was sollen die Zehntausend?“ fragte Tonio ungnädig. „Meine Solvenz beweisen.“ 80
„Ich habe mit New York telefoniert“, berichtete Tonio, „sie checken die Möglichkeiten ab.“ „Wie lange dauert das?“ „Zwei, drei Tage. Der Mann wird stark geschützt.“ „Moro war auch stark geschützt, oder?“ „Sobald aus New York das Okay kommt“, fuhr Tonio fort, „ist die Vorkasse fällig.“ „Die Hälfte abzüglich der Zehntausend.“ „Die Zehntausend betrachte ich als Ansporn für meine Be mühungen.“ „Halsabschneider“, zischte Cemal. „Hör zu, mein Junge“, entgegnete Tonio scharf, „wir fragen nicht, was hier für ein schmutziges Spiel läuft, und du enthältst dich jeder Beleidigungen. Ohne mich geht nichts. Ohne mich kannst du dir den Kerl mit dem Lasso fangen oder wie man so etwas im Kurdistan macht.“ „Wann kommt das Okay?“ „Die Experten sind unterwegs. Fliegen schon ein.“ „Ich hoffe, sie leisten gute Arbeit.“ „Dafür garantieren wir. Wohin soll das Objekt gehen?“ „Ablieferung an einen Ort, den ich noch benenne.“ „Übergabe Zug um Zug. Erst Geld, dann Ware.“ „Aber es wird uns erlaubt sein, den ordnungsgemäßen Zu stand der Ware zu überprüfen.“ „Wir wickeln ihn in Watte“, spottete Tonio. „Im übrigen ve r bitte ich mir jeden Zweifel an der Professionalität unserer Ar beit“ „Um so besser“, sagte Cemal. Sie verabredeten den nächsten Kontakt in 48 Stunden unter einer anderen Nummer, die Tonio dem Kurden bereits genannt hatte. Er befürchtete offenbar, daß sein Telefon abgehört wur de. Cemal verließ die Telefonzelle an der Piazza del Ponterosso und schlenderte zum Hafen. Dort lag ein Schiff, das am Abend Triest verließ, um durch Adria und Ägäis Kurs auf Istanbul zu nehmen. 81
Wenn er an Anatolien dachte, bekam er Heimweh. Oft blickte er Flugzeugen nach und Eisenbahnzügen, um es zu stillen. * Zur Siestazeit kehrte Cemal Toker in die Via Palestrina, wo seine Hotelpension lag, zurück. Nur, weil um diese Stunde wenig Verkehr herrschte und auf den Straßen nichts los war, fiel ihm die Gestalt auf. Sofort brachte er sich hinter einem geparkten Lieferwagen in Deckung. Aber auch die Frau ging recht umsichtig zu Werk. Sie trug einen breitrandigen Sonnenhut und eine große Brille. Langsam spazierte sie am Eingang des Albergo vorbei, blick te auf die Uhr und bezog dann weiter oben hinter den Platanen Position. Nach mehreren Minuten verließ sie den Beobachtungsplatz und setzte sich in einen Fiat 131. Wegen der Hitze ließ sie die Tür auf der Fahrerseite offen. Spätestens jetzt erkannte Cemal Toker in ihr Naciye. Er hatte sie nicht gleich identifiziert, weil sie ein elegantes helles Som merkleid, Schuhe mit hohen Absätzen und das schwarze Haar mit Nackenrolle trug. Aber es war seine Freundin aus Baskale, darüber bestand kein Zweifel. Die Art, wie sie die Zigarettenkippe meterweit wegschnellte, hatte er noch bei keiner anderen Frau beobachtet. Ihr plötzliches Auftauchen am Fjord hatte ihm schon zu den ken gegeben. Wenn er das Zusammentreffen mit Naciye in Marseille dazurechnete, kreuzte sie jetzt schon zum vierten Mal unerwartet seinen Weg. Er fürchtete, daß sie sich mehr mit ihm befaßte als ihm lieb war und daß sie im Auftrag von Leuten arbeitete, die nicht unbedingt seine Interessen vertraten. Warum verschwieg sie ihm sonst den Namen dieser Gruppe. Cemal sah zwei Möglichkeiten. Entweder er betrat das Hotel, 82
wartete bis sie kam und hörte zu, was sie ihm zu sagen hatte. – Oder er versuchte, die Spur zu löschen. Cemal Toker entschloß sich zu letzterem. Er verließ die Deckung des Lieferwagens und umrundete im toten Winkel, so daß Naciye ihn nicht sehen konnte, den Block. Über die Via San Francesco, durch den Eingang eines Hauses und dessen Hinterhof, erreichte er die Gasse, wo sein Cinque cento stand. In der Mittagshitze fuhr er hinaus nach Aquilinia und mietete sich dort privat ein. Er hoffte, Naciye damit abgeschüttelt zu haben. Wenigstens fürs erste. Diese Frau hatte einen Bluthundinstinkt und würde ihn gewiß wiederfinden. Hauptsache, sie bekam von seinem Mafiakontakt keinen Wind. Aber wenn sie der Mafia zu nahe kam, würde die sich ihrer Haut schon wehren. Mit kleinen schwarzhaarigen Türkenmäd chen machten sie kurzen Prozeß. 9. Bob Urban folgte der Hot-Spur, wie sie heiße Fährten im Ge heimdienstjargon nannten, nach Triest. Dort suchte er den Mann, der in München die goldenen Fünfer verkauft hatte. Doch unter seiner Paßadresse wohnte Jacomo Benedetti nicht. Urban hatte damit gerechnet. Mit einem Zehntausenderschein brachte er die Hausmeisterin des ockerbraunen Mietblocks aus der Mussolinizeit zum Sprechen. „Wohin zog er?“ „Von ziehen kann keine Rede sein“, meinte die resolute Si gnora, „diese abgerissenen Typen besitzen nicht mehr als einen Koffer. Den packen sie, hauen ab und bleiben die Miete schul dig.“ „Er hat also Schulden bei Ihnen?“ „Nein, hat er nicht. Benedetti ausnahmsweise nicht, aber er hatte es wohl nötig, die Adresse zu wechseln. Mehr will ich nicht gesagt haben.“ 83
„Hat er mit der Polizei zu tun?“ „Früher oder später mit Sicherheit. Die Ganoven, mit denen er zusammenkam, sind Sizilianer. Und was Sizilianer hier oben treiben, nun, das wissen wir zur Genüge. Wegjagen sollte man das Gesindel.“ Im Norden waren die heißblütigen Burschen aus dem Süden nicht sonderlich beliebt, das wußte Urban und schürte das Fe u er. „Ist Benedetti auch Sizilianer?“ „Der stammt nicht weit weg von der Ecke.“ „Wie sieht er aus? Lang, schlank, dunkel.“ „Eher kleiner.“ Die Hausmeisterin verschwand in ihrer Wohnung. Bald kam sie mit einem Foto wieder. „Das hat meine Schwester aufgenommen, die mal mit Bene detti ging. Er hat sie benutzt, das Schwein, und sitzengelassen.“ Urban fragte, ob er das Foto behalten könne. Die Signora machte eine wegwerfende Handbewegung. „Und wo wohnt er jetzt?“ „Mal hier mal da.“ „Wovon lebt er eigentlich?“ „Er war im Autogeschäft tätig. Welcher Art, das können Sie sich denken.“ Was Urban erfahren hatte, half ihm nicht weiter. „Ich brauche ihn“, sagte er, „ist sehr wichtig. Wo verkehrte er, wohin ging er zum Essen, wo trank er seinen Vino?“ Er bekam die Adresse einer Bar am Largo Riborgo. Dort saß Benedetti angeblich öfter herum und spielte Domino. Am nächsten Tag hatte ihn Urban. Aber die Beschreibung der Hausmeisterin stimmte nicht. Be nedetti war piccobello gekleidet, sah gepflegt aus und fuhr einen nagelneuen Alfa Sprint.
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In der kurzen Zeit konnte Urban nicht beobachten, mit wem Benedetti Kontakte hatte und was er trieb. Aber er konnte ihm folgen, als er gegen 18 Uhr am Corso Cavour entlangfuhr, an der Piazza Antonio einen Mann zusteigen ließ und dann am Meer entlang Richtung Miramare raste. Noch innerhalb der Stadt bog er auf einen Standplatz für Ge brauchtwagen ab. Dort blieb er gut eine Stunde. Urban fiel die Behauptung der Hausmeisterin ein, daß Bene detti im Autogeschäft tätig sei. Als Süditaliener befaßte er sich aber kaum mit dem regulären Gebrauchtwagenhandel. Triest war eine der Drehscheiben für den Export gestohlener Luxus wagen und Schwer-Lkws in den Orient. Dieser Export lag ausschließlich in den Händen der Mafia. Vermutlich gehörte Benedetti dazu. Schlecht in dieses Raster paßte sein Handel mit goldenen Fünfern in München. Er hatte also noch ein zweites Bein. Ziemlich ungewöhnlich für einen Mafioso. Gegen 19 Uhr 15 schob der kristallweiße Alfa Sprint seine Nase wieder auf die Straße und wurde schnell Richtung Al t stadt bewegt. Urban hatte Mühe, Benedetti auf den Fersen zu bleiben. Nicht, daß sein BMW-Coupé zu langsam gewesen wäre, aber Benedetti war ortskundig. Er nahm jede Gelegenheit zum Überholen oder Abkürzen wahr. Im Gewirr der Gassen verlor Urban ihn endgültig. Also park te er, suchte zu Fuß weiter und fand den weißen Alfa Sprint in einer Gasse hinter der Piazza San Antonio. Um den Hydranten neben einem Torbogen planschten Kinder in Pfützen. Urban fragte, ob sie gesehen hätten, wohin der Mann aus dem Alfa gegangen sei. Sie deuteten auf ein älteres Wohnhaus gegen über. Urban betrat es und sah sich vor die Wahl zwischen fünf Stockwerken und fünfzehn Wohnungen gestellt. Da kam ihm sein Scharfblick zu Hilfe. In allen Briefkästen steckten Reklamezettel. Sie waren zu 85
sammengefaltet und schauten regelmäßig und bunt wie Blu mensträuße aus den Schlitzen. Nur ein Briefkasten war leer. Er gehörte zu der Wohnung Nr. 12 im vierten Stock. Urban nahm die Stiege. Je höher er kam, desto dunkler wurde es in dem alten Haus. Zur Wohnung Nr. 12 mußte man nach rechts um die Ecke. Durch die Wände scholl Radiomusik und das Geschimpfe einer Frau. Doch ein anderes Geräusch war ungedämpft und ganz nahe: Holzdielen federten. Urban fuhr herum und konnte dem hochgerissenen Arm noch ausweichen, bevor das Messer auf ihn heruntersauste. „Hab ich dich endlich, du Schnüffler“, zischte der Mann, der hinter dem dicken Abflußrohr auf Urban gelauert hatte. Urban winkelte den linken Unterarm ab und parierte so den Stich. „Noch nicht ganz.“ Urban schlug mit der Faust zu. Er setzte sie am unteren Frontabschnitt ein, den der Angreifer völlig außer Acht gelas sen hatte. In der Annahme, sein Messer würde treffen und den Gegner sofort außer Gefecht setzen, hatte er erst gar keine Körperdeckung aufgebaut. Urbans Rechte wühlte sich hinein wie in ein Daunenkissen, und die linke Handkante traf den Gegner voll. Die Wirkung war entsprechend. Der Italiener zog röchelnd Luft ein, wurde schlapp und sackte in die Knie. Urban fing ihn auf, schleifte ihn durch die offene Wohnungs tür und ließ ihn auf dem Steinboden liegen. Dann steckte er sich eine Monte-Christo an. * Ein Guß Wasser ins Gesicht förderte Benedettis Bereitschaft, Urbans Frage zu beantworten. „Schlaf nicht wieder ein“, sagte Urban. „So schlimm war es nicht.“ 86
„Das mußt du büßen“, keuchte der Italiener, „das zahlen wir dir heim.“ „Du willst mir deinen großen Bruder, die Mafia, auf den Hals hetzen“, erwiderte Urban kopfschüttelnd, „aber die werden nicht einen Finger für dich rühren, Benedetti, wenn sie von deinen Privatgeschäften erfahren. Im Gegenteil. Spaghetti Milanese machen sie aus dir.“ Benedetti wurde deutlich wacher. „Was quatschst du da, Mann?“ „München“, erinnerte Urban, „goldene Fünfer.“ „Ist Münzhandel verboten?“ „Der legale nicht.“ „Ist alles legal“, antwortete Benedetti, stand mühsam auf, ging ins Bad und duschte Wasser über seinen Hinterkopf. Urban ließ ihn nicht eine Sekunde aus den Augen. Ruhig wartete er, bis sich Benedetti abgetrocknet und gekämmt hatte. „Ich will dich nicht reinreiten, Benedetti“, fuhr Urban fort, „deine Autogeschäfte interessieren mich soviel.“ Dabei schnippte Urban mit den Fingern. „Polizei?“ fragte der Italiener. „Schlimmer.“ „Interpol?“ „Schon heißer. Denk, was du willst, mir geht es nur um die Herkunft der Münzen. Da steht nämlich Deutsche Reichsbank drauf.“ „Schlag’ mich tot“, erwiderte Benedetti, „ich sage nichts.“ „Mach ich“, drohte Urban, stand auf, schob ostentativ den Jackettärmel höher und ballte die Faust. Benedetti sah die sehnigen Muskelstränge, die weiß werdenden Knöchel und fing zu lügen an. „Ein Bekannter von mir, Sporttaucher, fand eine Kiste voll von dem Zeug an der jugoslawischen Küste.“ Klarer Fall, daß sich Benedetti das einträgliche Geschäft nicht vermasseln lassen wollte. Also verlegte er sich auf phan tasieren. 87
„War es nicht vor der türkischen Küste?“ fragte Urban spöt tisch. Benedetti bekam kleine Augen. Er schien abzuwägen, was sein Besucher alles wissen konnte und was nicht. Blitzschnell packte ihn Urban am Hemdkragen und drehte langsam zu. „Was denn noch?“ fragte Benedetti verängstigt. „Sein Name.“ „Cemal oder so.“ „Wie weiter?“ „Toker.“ „Woher kommt er?“ „Aus Anatolien, ein Kurde.“ „Wo steckt er?“ „Schlag’ mich tot…“ „Ich tu’s wirklich.“ „Vielleicht in Rom“, rückte Benedetti heraus, „oder schon wieder daheim.“ „Nicht in Triest?“ „Ich schwöre es“, sagte Benedetti. „Du tauschst das Geld für ihn um. Wieviel bis jetzt?“ „Etwa hunderttausend Dollar in den letzten Wochen. Ich war pausenlos unterwegs.“ Urban legte alle Marmorkälte, deren er fähig war, in Blick und Stimme. „Was hat er damit vor?“ Benedetti hob die Schultern. Er sah recht verzweifelt aus. „Was Großes“, antwortete er schon ein bißchen weinerlich. „Irgendwas ganz Heißes. Unsereins wird da nicht eingeweiht. Aber vielleicht…“ Weil er nicht weitersprach, trat ihm Urban auf den Zeh. „Aber was vielleicht?“ Benedetti bat Urban, mit ihm ans Fenster zu treten. Das Fen ster stand offen, aber eine Jalousie dunkelte das Zimmer gegen die grelle Sonneneinstrahlung der Südseite ab. Mit Fingerdruck bog Benedetti das Sperrholzblatt der alten Jalousette nach un ten und deutete auf die gegenüberliegende Straßenseite. 88
Aber dort war nichts von Bedeutung. „Siehst du sie?“ fragte der Italiener. „Wen?“ „Eine Frau, jung, dunkelhaarig, morgenländischer Typ. Sie steht immer im Torbogen. Schon seit Tagen. Wenn ich komme, ist sie da.“ „Heute nicht“, bemerkte Urban. „Erzähl keine Märchen.“ „Seitdem Cemal die Stadt verlassen hat, hab ich sie auf dem Pelz. Als ob sie es jetzt auf mich abgesehen hätte.“ „Erzähl keine Märchen“, sagte Urban noch einmal. „Du willst nur ablenken, deinen Kopf aus der Schlinge ziehn.“ Aber eine halbe Stunde später stand das Mädchen im Schat ten des Torbogens und starrte zum Fenster der Wohnung Nummer 12 im vierten Stock hinauf. * Nachdem Urban überzeugt war, daß es Benedetti nicht um ein Ablenkmanöver ging, sondern daß er tatsächlich alles gesagt hatte, was er wußte, konzentrierte er sich auf dieses Mädchen. Sie mochte Anfang Zwanzig sein. Dem Aussehen und dem Gesichtsschnitt nach war sie Türkin. „Hör zu, Benedetti“, erklärte Urban dem Italiener, „egal wo her du die Münzen hast, der Tatverdacht der Hehlerei besteht immer. Ein Wort zum Staatsanwalt von Triest, und sie buchten dich ein. Und einen Wink an deine Mafia-Brüder, und sie beto nieren dich in den nächsten Brückenpfeiler. Ich habe dich in der Hand. Also wirst du tun, was ich verlange. Wir beide neh men uns jetzt diese Dame vor. Wir gehen gemeinsam weg. Wenn sie dir folgt, beschatte ich euch, wenn sie mir folgt, übernimmst du das. Ich werde sie abschütteln, und du bleibst an ihr, bis wir ihren Unterschlupf kennen. Ist das verständ lich?“ „Capito“, bestätigte der Italiener. Sie verließen das Haus, tauschten auf der Straße ein paar Worte, dann schlenderte Urban in Richtung Piazza Goldoni. 89
Als er sich an der Ecke umdrehte, sah er die Türkin. Er schlenderte weiter durch den Fischmarkt. Als er die Hallen verließ, war sie wieder da. Er trank ein Ginlemo n. Sie saß drüben bei der Bushaltestelle auf einer Bank in der schrägen Sonne. Ein günstiger Augen blick, um sie zu fotografieren. Das Licht war gut, die Entfer nung für das Mikro-Zoom der Minox kein Problem. Die Kamera klickte dreimal. Danach suchte Urban ein Kino auf. In der Pause saß sie fünf Reihen vor ihm. Er verdrückte sich mitten im Hauptfilm. Das Mädchen schien über einen siebten Sinn zu verfügen. Unter den Arkaden des Corso hatte sie ihn schon wieder. Jetzt machte Urban Ernst. Er sprang auf einen anfahrenden Bus. Das Mädchen winkte einem Taxi. Urban verließ den Bus noch vor der Haltestelle, wischte durch die Drehtür eines Kaufhauses und sah sie im Taxi vorbeifahren. Abgehängt. Am Abend war Urban wieder bei Benedetti. „Hat ja geklappt“, rief der Italiener stolz, „als würden wir schon jahrelang zusammenarbeiten.“ „Wie verhielt sie sich?“ fragte Urban. „Sie folgte im Taxi dem Bus bis zur Endhaltestelle Aquilinia. Als du nicht rauskamst, ließ sie das Taxi wenden. In der Stadt hatte sie einen 131 stehen. Mit dem fuhr sie in ein Hotel am Giardino. Dort ist sie jetzt wohl. Jedenfalls hat sie das Haus bis 20 Uhr nicht verlassen.“ Urban ließ sich die Nummer des Fiat 131 geben. „Wir sehen uns wieder“, versprach er. „Bin nicht scharf drauf“, sagte Benedetti. Noch am Abend schickte Urban den Minox-Film nach Mün chen ab.
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Am nächsten Tag beschieß Urban, sich die Schönheit aus Kleinasien vorzunehmen. Er fuhr in die Via Volta am Giardino. Dabei hörte er Radio und bekam vom Sender Mailand gerade noch den Rest einer Meldung mit. Angeblich war der Präsident der Weltbank, der Amerikaner Jones H. Foxford, spurlos verschwunden. Urban drückte den Sendersuchlauf und holte Rom herein. Dort kommentierte ein RAI-Sprecher die Sensation. „Der Präsident der Weltbank, Chef des internationalen Wäh rungsfonds IWF und entscheidende Persönlichkeit für Sanie rung und Stützung von Staatsfinanzen, der gestern zu einer dreitägigen Konferenz in Rom eintraf, ist seit heute früh spur los verschwunden. Gegen 06 Uhr 30 verließ Präsident Foxford das Hotel Hassler, um einen Morgenspaziergang durch den Park der Villa Borghese zu unternehmen. Begleitet wurde er von seinem Sekretär und seinem deutschen Schäferhund. Wie der Sekretär Foxfords berichtet, trennte sich der Präsident kurz von ihm, um seinen Hund zu rufen, der vermutlich der Fährte eines Wildkaninchens folgte. Von da ab hat man Präsident Foxford nicht mehr gesehen. – Sofort angestellte polizeiliche Nachforschungen ergaben, daß Präsident Foxford in Beglei tung zweier in dunkle Anzüge gekleidete Herren eine Lancia Limousine bestieg. Präsident Foxford ist berühmt wegen seiner unkonventionellen Verhandlungsweise. Man schließt nicht aus, daß er ohne Wissen seines Mitarbeiterstabes Kontakte mit türkischen Experten suchte, über deren Kreditantrag in Höhe von vier Milliarden Dollar in Rom entschieden werden sollte. Informierte Kreise wiesen jedoch eine gewaltsame Entführung des Präsidenten der Weltbank nicht völlig von der Hand.“ Urban suchte noch andere Sender. Da die Kommentare und Meldungen dort ähnlich lauteten, schaltete er ab. Der Vorfall in Rom stimmte ihn prächtig auf die Unterhal tung mit diesem Mädchen ein. Sein Agenteninstinkt stellte sofort Zusammenhänge her. 91
Urban parkte unmittelbar vor dem Albergo. Der Mirafiori der Türkin stand etwa zwanzig Meter entfernt. Mit langen Schritten eilte er die Stufen zu dem älteren Hotel hinauf. Hinter der Rezeption saß eine Nonna, die möglicher weise schon die Grundsteinlegung des Hauses erlebt hatte. „Bei Ihnen wohnt eine Türkin“, kam er ohne Umschweife zur Sache. „Sie meinen eine Dame aus Istanbul.“ „Ist wohl dasselbe.“ „Nicht ganz, Signore.“ Urban achtete nicht auf den Unterton. „Ihr Name?“ „Polizia?“ fragte die Greisin. „Wenn Sie so wollen.“ Die alte Dame blätterte bei den roten Anmeldezetteln. „Naciye Gürpinar.“ „Welches Zimmer?“ „Im ersten das letzte rechts.“ Urban wollte die Treppe nehmen, da rief ihn die Dame zu rück. „Sie werden kein Glück haben, Signora Gürpinar ist nicht hier.“ „Aber ihr Auto steht vor der Tür.“ „Bedaure“, sagte die weißhaarige Signora, „sie hat vor einer Stunde die Rechnung bezahlt und das Hotel verlassen. Plötz lich und unerwartet.“ „Mit Gepäck?“ „Ein Taxi brachte sie zum Bahnhof.“ Urban sah auf die Uhr und rechnete. Vor einer Stunde, das war kurz nach Mittag. „Wann“, wandte er sich an die alte Dame, „kam die Meldung von Mister Foxfords Entführung im Radio durch?“ „Ist das nicht wieder eine schreckliche Geschichte?“ „Wann kam die Nachricht?“ „Nun, es mag gegen elf Uhr gewesen sein.“ „Grazie tante!“ 92
Nun wußte er genug. Wenn da kein Zusammenhang bestand zwischen Foxfords Verschwinden in Rom, kurz bevor man die Anleihe für die Türkei beschloß, und der fluchtartigen Abreise dieser Türkin aus Triest, dann verstand er die Welt nicht mehr. 10. Die Entführung des Weltbankpräsidenten gestaltete sich zu Anfang recht einfach. Die Schwierigkeiten traten erst am Ende auf. Das Kidnapperteam kannte Foxfords Vorliebe für Spazier gänge am kühlen Morgen, eine Gepflogenheit, die er beibe hielt, wo immer er sich auch aufhielt. Noch bei Tagesgrauen konnte man ihn ebenso durch den Central Park in New York wandern sehen, wie durch den Jardin de Luxembourg in Paris, oder durch den Englischen Garten in München. Immer beglei tete ihn sein Schäferhund, ein vier Jahre alter dressierter Rüde, und meistens auch einer seiner Mitarbeiter. Diesbezüglich hatten die Spezialisten aus Chicago gute Vo r arbeit geleistet. In Rom war noch ein Mann zu ihnen gestoßen, der über die nötigen Ortskenntnisse verfügte und in Verbindung mit der Mafia das Transportproblem löste. Dieser Mann wartete am Rand der Galopprennbahn in einem dunkelblauen Lancia. Über Sprechfunk stand er mit seinen Kollegen in Verbindung. Einer der Amerikaner folgte dem Weltbankpräsidenten vom Hotel ab in den Park. Der zweite wartete in der Nähe des Zo o logischen Gartens mit einer läufigen Wolfshündin. Er marschierte los, als er das Sprechfunksignal bekam. Nahe dem kleinen See kreuzten sich die Wege der Spaziergänger gruppen. Dies war der Augenblick, wo der Schäferhund Fox fords in eine andere Richtung zog, als sein Herr sie einschlug. Seine Nase hatte die Hündin gewittert. Da der Park noch men schenleer war, löste Foxford mit automatischem Griff die Lei ne vom Halsband und ließ den Rüden frei laufen. 93
Der Hund schoß auf eine Weise davon, daß der Präsident ein wenig in Sorge geriet Also folgte er ihm. Weil er den Hund nicht mehr sah, benutzte er die Ultraschallpfeife, um ihn zu rückzuholen. Da dies offenbar nichts half, ging er noch etwa hundert Meter und umrundete dabei den Äskulap-Tempel. Hinter dem Tempel bewegte sich das Gebüsch. Wieder setzte Foxford die Hundepfeife an. Als Reaktion darauf glaubte er ein Jaulen zu hören. In der Annahme, der Hund hinge in den Dornen des Gebü sches fest, näherte sich Foxford den Sträuchern. Plötzlich konnte er nichts mehr sehen. Gleichzeitig nahm er beim Atem holen den Duft von Mehl wahr. Man hatte ihm einen Jutesack über den Kopf geworfen. Dem Täter gelang es, Foxford diesen Sack bis zu den Hüften herunterzuziehen, so daß seine Arme keine Bewegungsfreiheit mehr hatten. Trotzdem versuchte Foxford sich zu wehren. Süßlicher Geruch von Chloroform lähmte aber bald seinen Widerstandswillen. Er hörte noch, wie ein Mann leise englisch in ein Funkgerät sprach. Wenig später vernahm er ein Motorgeräusch. Reifen knirschten auf dem Kies. Von diesem Augenblick an verlor Foxford das Bewußtsein. Er nahm nicht wahr, wie er in den Lancia gehoben wurde, wie der mit ihm den Borghese-Park Richtung Piazza del Popoli verließ und sogleich Richtung Autobahn fuhr. „Durch die Berge nach Pescara, das sind zweihundert Kilo meter“, sagte einer der Entführer zu dem Ortskundigen. „Bis Ostia hätten wir kaum eine halbe Stunde.“ „Das ist richtig, Sir“, bestätigte der Italiener. „Aber sobald Mister Foxfords Verschwinden als Entführung definiert wird, sperrt man als erstes die Ausfallstraßen zum Flugplatz und die zum nächstgelegenen Hafen. Und das ist Ostia.“ „Die römische Kriminalpolizei wird in frühestens einer Stun de Alarm bekommen. Über Ostia wären wir dann längst auf See.“ „Man verfolgt jede Yacht, die um diese Zeit auslief, Sir.“ 94
„Wir könnten ihn mit einem Boot, das irgendwo an der Küste wartet, auf ein draußen ankerndes Schiff bringen.“ „So werden wir es an der Adria handhaben, Sir“, erklärte der Italiener. „Nur ist dort die Küste weniger belebt, zehnmal we niger. Niemand rechnet damit, daß wir diesen Weg wählen. Außerdem soll das Objekt ja nach Griechenland, wie ich hörte. Von Pescara aus ist die Entfernung dorthin um die Hälfte kür zer als durch die Straße von Messina.“ Der Amerikaner wollte etwas einwenden, aber sein Kollege beschwichtigte ihn. „Laß es gut sein. Ich denke, er weiß es besser.“ „Wir machen das“, versicherte der Mafioso, „nicht zum er sten Mal, Gentlemen.“ Die Straßenkontrollen auf der adriatischen Seite des Apenin wurden erst wirksam, als sich das Objekt längst an Bord des Motorkreuzers befand und Richtung Korfu schwamm. * Cemal Toker graste tagelang die Gebrauchtwagenhändler ab, bis er das richtige Fahrzeug fand. Es handelte sich um einen Simca 1100 mit Kastenaufbau und Hecktür. Die Innenlänge des Kastens betrug einsneunzig, groß genug also für eine Luftmatratze. Außerdem hatte der Blech aufbau zwei Schiebefenster. Der Kilometerzähler des Kleinlieferwagens war schon vor geraumer Zeit über die Hunderttausender-Marke auf Null ge schnappt. Aber das besagte wenig. Hierzulande wurden die Autos bis zur absoluten Schrottgrenze gefahren, die oft bei einer halben Million Kilometer lag. Für anatolische Verhältnisse galt der Simca als neuwertig. Cemal prüfte ihn und fand Motor, Getriebe, Achsantrieb und Bremsen in Ordnung. Obwohl er mehr als zwanzigtausend Dollar Bargeld in der Tasche hatte, handelte er das Auto um ein gutes Stück herunter. Ohne Handeln ging hier nichts. Han deln machte jedes Geschäft erst zum Genuß. 95
Danach trank Cemal mit dem Verkäufer einen heißen Tee in dessen Wellblechbude. Schließlich zahlte er noch vierzig Lira extra. Dafür durfte er die Räder des Simca gegen Felgen mit Geländeprofilreifen austauschen. „Stammen von einem gestohlenen Armeejeep“, gestand der Verkäufer, „aber die Kontrollnummern habe ich rausgefräst.“ „Dann sind es besonders gute“, sagte Cemal, fuhr weg und besorgte sich eine Schaumgummimatratze und zwei Decken. In den Nächten wurde es recht kühl. Anschließend bepinselte er die Fenster des Kastenaufbaus innen mit schwarzer Farbe. Niemand sollte hineinsehen kön nen. Auch war es unnötig, daß man während der Fahrt von innen die Landschaft betrachtete. An einer Tankstelle fuhr er den Wagen auf die Grube, prüfte ihn von unten, schweißte den Auspuff fest und erneuerte ein Stück der angescheuerten Bremsleitung. Er brauchte ein zuver lässiges Auto. Er konnte sich unterwegs keine Panne leisten. Nachdem Cemal noch den Kühler abgedichtet und den Un terbrecher eingestellt hatte, nahm er fünf Liter Motoröl und vier Kanister Benzin extra mit. Am Abend machte er sich auf den Weg nach Osten. Als er müde wurde, rollte er sich hinten auf die Matratze. Beim ersten Sonnenstrahl fuhr er weiter. Den ganzen Tag brauchte er, bis er einen passierbaren Weg zum Depot gefun den hatte. Ganz heran kam man nur von der Seeseite über die Rampe. Vom Plateau her schaffte man es nur bis auf zweihun dert Meter. Es war aber erforderlich, daß er mehrere Bachfurten von Steinen freiräumte, einige Mulden mit Brocken ausfüllte und über eine Erdspalte eine Behelfsbrücke baute. Die Brücke bestand aus Baumstämmen, deren Fugen er mit Erde und Kies ausgefüllt hatte. Bei Nacht war ihr Befahren nicht ratsam. Am nächsten Morgen begab sich Cemal nach Arhavi, mietete dort ein Zimmer und telefonierte. In den nächsten Tagen verließ er es nicht, bis die Nachricht aus Griechenland kam. 96
Es war Nachmittag, als ihn der Wirt ans Telefon rief. Das vereinbarte Kennwort wurde durchgegeben. Es lautete: Kurdistan. „Ich hab’s im Radio gehört“, sagte Cemal. „Wie läuft es?“ „Wie bestellt.“ „Wo ist das Objekt jetzt?“ „In der Luft. In einer Stunde erfolgt Zwischenlandung. Das Flugzeug muß nachtanken.“ „Wo?“ „Auf türkischem Boden.“ „Ihr kennt den Übergabeort?“ „Unser Pilot kennt den Nahen Osten wie kein zweiter. Jede Wiese zwischen Ankara und Isfahan kennt er.“ „Bei schlechter Sicht muß er von See her anfliegen.“ „Er weiß wie er anfliegen muß“, erklärte der Anrufer. „Und wir hoffen, daß du weißt, wie die Bedingungen lauten. Ware gegen Geld.“ „Es liegt bereit.“ „Hundert Mille in Dollars und keine Tricks.“ „Ich bin kein Gangster“, beteuerte Cemal stolz, „ich bin Re volutionär.“ „Die haben noch weniger Charakter“, erwiderte der Anrufer, „weil sie Fanatiker sind, die mit ihren hohen Zielen jede Schweinerei entschuldigen. Also, keine Tricks, verstanden.“ „Bis wann wird er da sein?“ „Du rechnest am besten in sechs Stunden damit.“ Formlos und ohne die kleinste Höflichkeit wurde das Ge spräch beendet. Die Leute, die diesen Job durchführten, schätz ten Auftraggeber wie Cemal Toker nicht. Auch Toker bediente sich der Mafia nur, weil er keinen ande ren Weg sah, um sein Ziel, die Weltöffentlichkeit anzuheizen, zu erreichen. Im Besitz der Macht hätte er eine Organisation wie die Mafia als erstes mit Stumpf und Stiel ausgerottet. Die Verflechtung von Politik mit privatwirtschaftlichen In teressen lastete er in erster Linie dem Einfluß des internationa len Gangstertums und den Parlamenten an. Die Folge davon 97
waren künstlich herbeigeführte Krisen. Mit ihnen einher ging alles Inhumane wie Verfolgung, Unterdrückung, Terror, Hun ger, Kriege. Cemal Toker, der seit we nigen Wochen die erste Uhr seines Lebens besaß, rechnete, daß er noch zwei Stunden schlafen konnte. Dann kam er immer noch zurecht und hatte Zeit, seine Vo r sichtsmaßnahmen zu treffen. Keine Tricks, hatte der Mafioso gefordert So lullte man das Mißtrauen der Partner ein. – Aber nicht seines. * In einem Punkt hatte der Anrufer die Wahrheit gesagt. Der Pilot war ein Routinier von hohen Graden. Mit seiner zwanzig Jahre alten Cessna Centurion, einem ein motorigen Reiseflugzeug ohne Blindflugeinrichtung, fand er an der tausend Kilometer langen Küste den Landepunkt beinah auf Anhieb. Beim zweiten Anflug, er orientierte sich an einem verfallenen Leuchtturm und einem kleinen Fluß, landete er auf der kaum dreihundert Meter langen Hochfläche. Das Fahrwerk der Centurion sprang, hüpfte und federte hart ein. Schwankend, daß die Flügelenden fast den Boden berühr ten, kam das Flugzeug zum Stehen. Der Motor heulte noch einmal auf, die Luftschraube schwang aus. Es dauerte ein wenig, bis sich das Ohr an die Stille gewöhnt hatte. Dann vernahm es ein Säuseln und ein Knacken. Das Säuseln kam vom Seewind, das Knacken von der Hitze des Sechszylinder-Boxermotors. Der Pilot wollte die Tür öffnen. Sein Begleiter hielt ihn zu rück. „Erst das Signal abwarten.“ „Wozu das?“ „Um notfalls gleich wieder zu starten.“ 98
„Wer soll uns verpfiffen haben?“ „Was weiß man.“ Drüben bei der schwarzen Buschsilhouette wurde eine Lampe bewegt, dreimal linksherum und dreimal rechtsherum. Ein Blink und zwei Blitze folgten. .Alles okay“, sagte der Mann neben dem Piloten. Der Pilot machte in der sechssitzigen Cessna Licht. Hinter ihnen, quer auf der Sitzbank, lag ein Bündel Mensch, zusammengekrümmt, blaß, tief schlafend. „Braucht er noch eine Injektion?“ „Ist besser.“ .Aber geben Sie ihm nur die Hälfte. Nicht, daß er uns noch abnippelt. Ohne Herzschlag kein Geld.“ Der Begleiter des Piloten grinste. „Dieses Greenhorn wird in jedem Fall zahlen. Und wenn ich ihm einen Sack Kartoffeln vor die Füße schmeiße.“ Mittlerweile war es stockdunkel geworden. Daß ihr Ge schäftspartner herangekommen war, merkten sie erst, als er neben der Tragfläche stand. „Warum so spät?“ fragte Cemal. „Weil in der Nacht alle Vögel schwarz sind“, antwortete der Pilot. „Wie geht es ihm?“ „Puls und Temperatur normal. Er schläft noch für zirka sechs Stunden“, lautete die Auskunft. „Ich möchte ihn sehn.“ „Dein gutes Recht“, erklärte der Amerikaner. Er half Cemal auf die Tragfläche und leuchtete mit der Lam pe den rückwärtigen Teil der Kabine aus. „Mehr ins Gesicht“, bat Cemal. Im Schein der Lampe zuckten die Lider des Schlafenden, aber seine Augen blieben geschlossen. „Ist er es oder nicht?“ Cemal nickte. „Bringt ihn zu meinem Wagen.“ „Stop, Junge“, sagte der Amerikaner daraufhin und zog den 99
Geschäftspartner von der Cessna weg, einige Meter ins Dunkel. „Schönen Gruß von Tonio. Wir hatten unerwartete Probleme. Das Ganze kam teuerer als kalkuliert. Der Preis hat sich ve r doppelt.“ „Keine Tricks, he“, spottete Cemal. „Ich bekomme von dir nicht hundert-, sondern zweihundert tausend. Egal in welcher Währung.“ Cemal hob die Schultern. „Habe ich nicht.“ „Du hast es, wir wissen das.“ Cemal pokerte hoch. „Okay, dann nehmt ihn wieder mit“, entschied er. „Zu dem Preis besteht kein Interesse.“ Aber da hatte der Amerikaner schon den Revolver in der Hand und hielt ihn Cemal vor den Bauch. „Los, das Geld her. Alles was du hast.“ Der Kurde zog den Reißverschluß seiner alten Lederjacke nach unten, packte die Kanten mit beiden Händen und öffnete die Jacke weit. An seinem Hosengürtel hingen Handgranaten, mindestens acht gerippte Eier aus Stahl. In den Abzugring einer Handgranate steckte Cemal den Daumen. „Du bist wahnsinnig“, keuchte der Amerikaner. „Keine Tricks“, sagte Cemal, „oder ihr kommt nicht lebend weg.“ Der Amerikaner steckte den Smith & Wesson in den Hosen bund und wandte sich an den Piloten. „Los, die Ladung raus. Dann nichts wie avanti!“ Sie hoben Foxford durch die Tür und legten ihn neben der Cessna auf den Boden. „Dorthin“, befahl Cemal, zum Rand der Hochfläche deutend. Sie trugen den schlafenden und gefesselten Präsidenten hin über. Nach wenigen Minuten tauchten sie wieder auf. „Jetzt die Hunderttausend“, forderte der Amerikaner. „Keinen Cent“, sagte der Kurde. „Junge, sei vernünftig“, mischte sich der Pilot ein, „das geht ins Auge.“ 100
„Nicht meine Schuld“, äußerste Cemal fest entschlossen. Der Amerikaner faßte wieder an die Waffe. Aber Cemal öff nete nur die Jacke und zeigte seine Handgranatensammlung. „Das wirst du büßen.“ „Wenn schon.“ „Die Kohlen holen wir uns. Wir finden diese Stelle wieder.“ „Ja, an Ostern“, höhnte Cemal. „Haut endlich ab, ihr Ratten.“ Sie stiegen ein. Der Pilot startete. Der Anlasser sang, die Lat te drehte sich, der Motor lief. Er war warm und nahm sofort volle Drehzahl an. Die Cessna drehte auf dem Teller und hoppelte davon. Nach fünfzig Metern schon hatte sie soviel Druck unter den Flügeln, daß ihre Sprünge über die Bodenunebenheiten länger wurden. Nach hundertzwanzig Metern hob sie bereits ab. Cemal blickte auf die Uhr und rechnete. Der Vorlauf des Zünders an der Tellermine betrug dreihundert Sekunden. Er hatte sie unter die rückwärtige Sitzbank geschoben. Der Stoppzeiger seiner Omega hatte jetzt die vierte Drehung beendet. Draußen an der Kliffkante gewann die Cessna an Höhe und ging sofort auf Westkurs, weg vom Mond, weg von der sowj e tischen Grenze, weg von der US-Radarstation in Hopa. Cemal sah noch ihre Konturen. Bald sah er sie nicht mehr, hörte sie nur noch. Dann, als er sie schon nicht mehr hörte, sah er es aufblitzen. Es war, als zünde hinter dem Horizont eine Feuerwerksrakete. Der Blitz ging in weißes Licht über und verlosch rasch. Bis der Donner der Detonation heranrollte, vergingen zehn Sekun den. Demnach war die Cessna in einer Entfernung von etwa drei Kilometern explodiert und ins Meer gestürzt. * Im Licht des steigenden Mondes fuhr Cemal Toker mit seiner menschlichen Ladung zum Depot. Am nächsten Tag, wenn er den Weltbankpräsidenten in Si 101
cherheit hatte, würde die erste Nachricht per Einschreiben bei der Regierung in Ankara eintreffen. Daß Cemals Forderung ernst genommen wurde, dafür hatte er gesorgt. Drei gleichlautende Schreiben, adressiert an den In nenminister, an den Finanzminister und an den Kabinettchef waren unterwegs. Fotos des Bankpräsidenten würden folgen, ebenso seine Stimme auf Tonband. Dafür war im Depot alles vorbereitet. Cemal fuhr über das Hochplateau, bis es mit dem Wagen nicht mehr weiterging. Nahe der Mulde, wo er den Lieferwagen zugedeckt unter ei ner Tarnplane zurücklassen würde, hatte er einen umfassenden Blick über den Fjord, seine Einfahrt und die Insel in der Enge. Hart trat Cemal Toker auf die Bremse. Er traute erst seinen Augen nicht, hielt das Ganze für ein Trugbild, für eine Überre aktion seiner beanspruchten Nerven. Doch als es nicht ve r schwand, mußte er es wohl oder übel akzeptieren. Eine verdammte Überraschung war das, mit der er nicht ge rechnet hatte. – Wie kam das Teufelsding hierher? Durch die schmale Fjordeinfahrt zwischen der Insel und der Rampe schob sich ein Schiff, wie er noch keines gesehen hatte. Es war ein Kriegsschiff, vermutlich ein Zerstörer, aber so schmal und elegant stromlinienförmig in den Aufbauten, daß es mehr einem riesigen Rennboot glich. Langsam, das kritische Fahrwasser auslotend, schob es sich herein, grau im Mondlicht, ohne Namen am Rumpf, ohne Nummer und ohne Flagge am Mast. Aber die Konturen der Kanonen, der Torpedoabschußrohre, der Raketenstartgestelle und der Radarantennen schlossen jeden Zweifel aus. Wenig später rasselten bei dem Kriegsschiff Bug und Heck anker aus den Klüsen. Cemal Toker drehte sich eine Zigarette. Hastig rauchte er. Und immer wieder sagte er sich, bloß jetzt keine Panik, Cemal. Allah steh mir bei, betete er nach Mekka gewandt. 102
11.
Bob Urban raste nach Ljubljana, um den Orient-Expreß einzu holen. Nach seinen Ermittlungen am Bahnhof in Triest konnte Naciye nur diesen Zug genommen haben. Aber die Straße nach Jugoslawien hinein war eine einzige Katastrophe. Schmal, mit schlechtem Belag und stark befahren. Hinzu kam noch, daß es zu regnen anfing. Urban rechnete sich einen Schnitt von höchstens sechzig Ki lometern aus. Selbst wenn er noch so riskant fuhr und überhol te. Der Expreß hatte eine Stunde Vorsprung und kam auf den Schienen zügig voran. Allerdings dauerte die Zollabfertigung eines Zuges etwas länger. Der jugoslawische Grenzbeamte bei Basovizza schlug ihm rasch den Stempel in den Paß. Urban schöpfte wieder Hoff nung. Als er nach einer Hetzjagd sondergleichen den 633 CSI am Bahnhof in Ljubljana abstellte und zum Perron sprintete, war der Istanbul-Expreß bereits durchgedonnert. Mittlerweile ging es auf 16 Uhr. Aber eine Chance hatte er noch. Von Ljubljana bis Zagreb, der nächsten Station, wo der Expreß hielt, waren es hundertzwanzig Kilometer. Die Eisenbahnlinie führte durchs Gebirge. Es gab Steigun gen, Kurven, Tunnels und Brücken. Der Expreß konnte also nicht voll fahren. Andererseits war jetzt die neue Autobahn bis Zagreb fertig. Noch bevor der Abendverkehr einsetzte, erreichte Urban den Autoput und gab Bleisohle. Dabei war er sich des Risikos voll bewußt. In Jugoslawien herrschte auch für Autobahnen Ge schwindigkeitsbeschr änkung. Die Polizei war wachsam. Gerade in diesem kommunistischen Balkanland ließ er sich nicht gerne erwischen. Wenn er Pech hatte, kamen sie dahinter, daß er deutscher Geheimagent war. Aber er riskierte es. Er kalkulierte, daß die Polizei nur Schnellfahrern um die Hundertvierzig nachsetzte. Viel mehr 103
schafften ihre Zastavas nicht. Urban trat voll durch. Der Dreili ter wuchtete seine Bärenkräfte auf die Räder. Die Tachonadel stand bei Hundertneunzig. Einen, der so vorbeizischte und das noch bei Regen, den würden sie für einen Wahnsinnigen halten und vergessen. Urban machte es nicht aus Vergnügen. Bei Gott nicht. Er mußte nur diese Frau kriegen, ganz einfach. Am Morgen hatte er eine Information aus München erhalten, die die wahren Dimensionen des Falles erkennen ließ. Diese Frau war mehr als die Aktivistin einer unterdrückten anatoli schen Minderheit, diese Frau war eine Zeitbombe. Es regnete stärker. Der Ostverkehr Richtung Zagreb wickelte sich bei vorwiegend gedrosseltem Tempo auf der rechten Fahr bahnhälfte ab. Urban hatte freie Fahrt. Trotz der breiten Contis schmatzte sich der BMW wie auf Schienen vorwärts. Nach 54 Minuten Fahrzeit, vermutlich war es ein inoffizieller Rekord, zwängte Urban den BMW am Hauptbahnhof von Zagreb in eine Parklücke. Er nahm alles mit. Trenchcoat, Pepitahut, Reisetasche und stürmte ins Gebäude. Den ersten Beamten, den er sah, rempelte er an. „Istanbul-Expreß?“ „Läuft gerade ein.“ „Fahrkarten?“ „Können Sie im Zug lösen.“ Der Expreß stand da. Die Wagentüren wurden bereits wieder geschlossen. Urban turnte hinauf. Zehn Sekunden später sprang er schon wieder vom anfahrenden Expreß. * Langsam, tief durchatmend, schlenderte er in die Bahnhofshal le zurück. Was hätte er ohne Naciye Gürpinar im Zug schon gemacht. Sie ging etwa dreißig Meter vor ihm. Im allerletzten Moment 104
war sie ausgestiegen. Er hatte es gerade noch gesehen, hinten im linken Augenwinkel. Nur an ihrem schönen Türkinnenprofil und an dem langen schwarzen Haar hatte er sie erkannt. Gekleidet war sie anders als in Triest. Sie trug Jeans in hohen Stiefeln, dazu eine Leder jacke in der Farbe ihrer Reisetasche. Sie verschwand in der Toilette. Urban war so wild auf sie, daß er ihr beinah in die Damenab teilung gefolgt wäre. Sie brauchte ziemlich lange. Er steckte sich schon die zweite MC an, als endlich die Tür aufging. Aber das war sie nicht, nicht auf den ersten Blick. Eine Blondine in Kleid und Regenmantel schwebte heraus. Nur an der Tasche erkannte er sie. Dieses Weib hatte eine to tale Metamorphose durchschritten. – Offenbar fühlte sie sich verfolgt. Und dies nicht erst seit Zagreb. Sie verließ den Bahnhof, ging auf ein Taxi zu, dann aber we i ter durch den Park und auf Umwegen in ein kleines Hotel. Urban ließ ihr Zeit. Als er ebenfalls das Hotel betrat, hing der Portier halb schla fend über der Rezeption. Wortlos legte ihm Urban einen deut schen Zwanziger hin. „Die blonde Dame.“ Der Portier der schäbigen Absteige nahm den Schein. Ohne ein Wort zu sagen deutete er auf einen leeren Schlüsselhaken. Darunter stand die Nummer 11. „Gibt es einen zweiten Ausgang?“ Ein Finger zeigte an der Säule vorbei nach hinten. „Ich würde gerne ungestört sein“, erklärte Urban. Der Portier hielt die offene Hand hin. Urban nahm sie und schüttelte sie. „Später“, sagte er und ging die Treppe hinauf. Sie war alt und knarrte.
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Ohne Klopfen trat Urban ein. Das Mädchen lag auf dem Bett. Ein Kreuzfeuer von Blicken wechselte zwischen ihnen hin und her. Wahrscheinlich hatte sie ihn erkannt und begriffen, daß sie ihm nicht mehr entkam. Trotzdem versuchte sie es. „Hallo“, rief sie erstaunt, „du bist schon da. Ging aber schnell.“ Sie hatte nichts als ein schmales Höschen und einen spitzen besetzten BH an. Nur der Kontrast zwischen ihren dunklen Brauen und dem blonden Haar verriet, daß sie eine Perücke trug. Darauf baute sie offenbar. „Sie haben mich erwartet?“ fragte Urban auf das Spiel einge hend. „Du hast doch angerufen oder?“ Ihr Englisch war recht gut. „Zieh dich aus, Darling.“ Urban legte den Trenchcoat ab. „Nicht nur den Mantel“, flüsterte sie. Darauf lief es also hinaus. Sie machte ihm die Nutte vor. Sie fragte ihn, ob er eine Zigarette habe. Er verneinte. „Den Preis kennst du“, sagte sie und bewegte ihren schlanken Körper vielversprechend auf dem Hintern. Urban, der für weibliche Reize durchaus Antennen hatte, er kannte sofort, daß es auf diese Weise in die falsche Richtung lief. „Los, zieh was über!“ „Im Gegenteil“, sagte sie und begann ihren hauchdünnen Slip abzustreifen. „Spar dir die Mühe.“ Er warf ihr das Kleid hin. „Du bist die allseits berühmte Gürpinar, und wer ich bin, das weißt du auch.“ Anscheinend hatte sie kapiert und überlegte etwas Neues. Weil sie ihn nicht als Freier überfahren konnte, würde sie es anders versuchen, das stand fest. „Rose von Anatolien“, drängte Urban, „laß uns zum Thema kommen. Du hast in Triest Cemal Toker überwacht. In der Stunde, als in Rom der Weltbankpräsident entführt wurde, bist 106
du abgereist, weil du keine Chancen mehr sahst, auf deine Weise an der Sache zu drehen. Richtig so?“ Sie lächelte unschuldig. „Wer ist Cemal Toker?“ fragte sie. „Ein Kurde aus Anatolien, der Kumpel von Benedetti.“ „Und Benedetti, wer ist das bitte?“ „Der Mann mit den Mafiaverbindungen. Wenn du mich jetzt fragst, wer die Mafia ist, dann versohle ich dir deinen hübschen Hintern, Baby.“ „Okay“, sagte sie und begann sich anzukleiden. „Und solltest du mich fragen“, fuhr Urban fort, „wer der Weltbankpräsident ist, dann stellst du dein Licht verdammt unter den Scheffel. Eine Intelligenzbiene wie du weiß natür lich, daß er über den Milliardenkredit des Westens an die bank rotte Türkei entscheiden soll. Und das schnell, weil sonst der kranke Mann am Bosporus bald ein toter Mann ist.“ „Du bist aber auch ein mächtig Gescheiter“, wich sie aus. Er packte ihr Handgelenk, als sie den Reißverschluß der Jeans hochzog. „Wo ist Cemal jetzt?“ Sie hob die Schultern. „Er rennt in sein Unglück.“ „Du weißt es.“ „Woher sollte ich.“ „Das will ich dir sagen“, zischte Urban. „Ich machte Fotos von dir. In meiner Zentrale verglichen sie sie mit der Agenten kartei/Ost. Du bist nicht nur eine Kämpferin für die Freiheit der Unterdrückten. Dir geht es um mehr. Noch zwei Damen deiner Sorte, und die Sicherheit der NATO in Kleinasien stünde nur noch auf dem Papier.“ „Willst du damit sagen, daß wir Kollegen sind?“ „Leider verschiedener Blutgruppen.“ „Mein Blut ist rot“, betonte sie. „Weiß ich“, antwortete er. „Wo also ist Cemal Toker. Wo liegt das Waffendepot, das er anzapft, um seinen Privatkrieg zu führen. Es muß irgendwo bei Arhavi sein. Aber wo genau?“ 107
Sie öffnete ihre Tasche. Er nahm sie ihr weg. „Nur eine Zigarette.“ „Du erlaubst, daß ich sie vorher entschärfe.“ Urban rechnete damit, daß sie eine Waffe im Reisebeutel ve r steckt hatte und wühlte ihn bis in die Tiefe durch. Aber nichts fühlte sich wie eine Kanone an. Dafür fand er einen Paß und in dem Paß ein Stück Papier. Er faltete es auf. Mit einem Auge behielt er Naciye unter Kontrolle, mit dem anderen betrachtete er die Skizze. Sie zeig te eine quer über das Blatt verlaufende geschlängelte Linie. Links davon war das Blatt schraffiert. Vermutlich sollte die Strichelung das Meer andeuten. Rechts von der Linie gab es mehrere zipfelmützenartige Einschnitte nach Süden hin, wahr scheinlich Buchten, Flußmündungen oder fjordartige Trogtäler. Einer der Fjorde war mit zwei Kreuzen markiert. Die Markierung beschäftigte Urban so sehr, daß er die Türkin für kurze Augenblicke vergaß. Was mochten die Kreuze bedeuten, was bezeichneten sie? Waren es Landmarken oder Inseln? Während er noch überlegte und sich die Skizze einzuprägen versuchte, vernahm er die Stimme des Mädche ns. „Gib mir die Karte! Hände hoch!“ Irgendwoher hatte sie eine Waffe gezaubert. Der Lauf richte te sich auf Urbans Herz. Er war starr vor Staunen. * Weniger die Kanone erschreckte Bob Urban, als die Einzelhei ten an dieser Waffe. Sie hatte drei Züge, was man deutlich an der Laufmündung erkannte. Ihr Kaliber war für 7,65 zu groß, für neun Millimeter aber zu klein. Eine Achtkommavier also. Zweifellos handelte es sich um eine der wenigen noch exi stierenden Tukstras. „Die letzte Kugel“, sagte Urban, „tötete General von Tettau.“ 108
„Und die nächste tötet dich, Mister Dynamit.“ Diese Frau zeigte Entschlossenheit. Außerdem war sie aus gebildet und hochtrainiert. Nicht nur ihr Körper befand sich in Form, auch ihr Gehirn. Hinzu kam, daß sie leider wußte, wer er war, und daß er wußte, wer sie war. Ein Grund mehr, ihn zu beseitigen. „Warum“, fragte Urban, „mußtet ihr den General töten? Hätte es nicht genügt, Cemal zu folgen.“ „Der General war ein zu tapferer Mann“, erklärte Naciye. „Er verschwieg uns, was wir wissen wollten.“ „Dann stecktet ihr sein Haus an, um die Spuren der Gewalt zu löschen.“ Sie hob die Pistole. „Was uns offenbar nicht vollständig gelang.“ „Es wird dir auch diesmal nicht gelingen.“ Sie glaubte, es besser zu wissen. Jedenfalls verlor sie nichts von ihrer lässigen Überlegenheit. Die Tasche mitnehmend, stand sie auf und ging rückwärts zur Tür. Urban machte einen verzweifelten Versuch, ihrer Kugel zu entkommen. In einer blitzschnellen Schleuderbewegung warf er den rechten Unterschenkel aus dem Kniegelenk heraus nach oben. Dabei stellte er den Fuß quer, um eine größere Treffer fläche zu erhalten. Er hatte es viele Male geübt, mindestens so oft wie ein Fußballer die Freistoßvarianten. Er traf auch. – In neun von zehn Fällen wäre dem Gegner durch diesen Schlag vo n unten die Waffe wie ein Gummiball aus der Hand gesprungen. Aber diese ungewöhnliche Frau hatte den Fußkick kommen sehn und den Kolben noch fester umklammert. „So nicht.“ Sie stand jetzt dicht an der Tür. „Du hast noch einen Wunsch frei. Wohin?“ „So, daß es nicht tötet, möglichst.“ „Ich muß es tun“, entschied sie. „Du weißt warum. Du wü r dest das ganze Orchester durcheinanderbringen.“ 109
Sie hob den Lauf noch ein wenig an, machte ein Auge schmal und visierte. In dieser vorletzten Sekunde vor dem Knall warf sie ein Stoß von hinten aus der Balance. Die Tür war mit roher Gewalt eingetreten worden und traf Naciye im Kreuz. Hart und völlig unerwartet. Die Agentin stieß einen Schrei aus, riß die Schultern nach hinten. Ihr Körper nahm eine nach vorn gewölbte Bogenform ein. Aber gleichzeitig fuhr sie herum und schoß. Es war ein aufgesetzter fast lautloser Schuß. Der Lauf hatte sich, bevor ihn die Kugel verließ, in den Leib eines Mannes gewühlt. Wohin die Kugel auch getroffen haben mochte, die Wirkung war fürchterlich. Sofort wich alle Kraft aus dem Mann. Urban versuchte der Türkin nachzusetzen, aber der Schwe r verletzte versperrte ihm fallend den Weg. Urban fing ihn auf und legte ihn aufs Bett. Die Zeit genügte der Agentin, das Zimmer zu verlassen und es von außen zu versperren. Urban hörte ihre Schritte auf der Treppe. Keinerlei Chance, sie einzuholen. – Deshalb kümmerte sich Urban um seinen Lebensretter, um den Mann, der für ihn den Kugelfänger gemacht hatte. Urban kannte ihn. „Benedetti“, sagte er, „Junge, kratz mir jetzt nicht ab.“ „Dieses Dreckstück“, keuchte der Mafioso. „Du bist ihr gefolgt. Warum?“ „Und sie merkte es. Deshalb verließ sie in Zagreb den Ex preß.“ „Warum hast du sie nicht laufenlassen.“ Benedetti hatte keine Schmerzen, aber seine Stimme wurde leiser, sein Atem flacher. „Tonio kam hinter meine Privatgeschäfte mit Toker. Du kannst das ausbügeln, sagte er, wenn du uns das Frauenzimmer zurückbringst.“ „Was wollte die Mafia von ihr?“ 110
Der Italiener lächelte wie ein Mann, für den diese Dinge kei ne Bedeutung mehr haben, für den nichts mehr auch nur die geringste Rolle spielte. „Das Flugzeug“, murmelte er, „das Foxford nach Anatolien lieferte, kam nicht zurück. Da muß eine riesige Schweinerei passiert sein. Nun wollte man von ihr wissen, wie man Toker kriegen kann.“ „Damit die Kasse wieder stimmt.“ „Die Kasse“, flüsterte Benedetti, „die Kasse muß immer stimmen, verdammt noch mal.“ „Und ihr glaubt, daß sie Tokers Unterschlupf kennt?“ Benedetti nickte. „Wo genau sitzt dieser Toker?“ Benedetti hob die Hand und ließ sie fallen. Bald glich seine Stimme nur noch einem tonlosen Wispern. „Weiß der Teufel. Frag dieses Satansweib, Amigo.“ Das war sein letzter Atemzug und sein letzter Herzschlag gewesen. Benedetti war tot. Als deutscher Geheimagent mit einem erschossenen Mafioso am Hals ließ sich Urban nicht gerne in einem jugoslawischen Hotelzimmer antreffen. Erfahrungsgemäß sperrte die Policia erst einmal jeden Ve r dächtigen ein, bis es zu Ermittlungen kam. Das konnte Monate dauern. Leider waren jugoslawische Gefängnisse berühmt wegen ihrer miserablen Kost und ihrer Ausbruchsicherheit. Bob Urban sah lieber zu, daß er wegkam. 12. Cemals Hilferuf an Allah nützte wenig. Zwar dämpfte eine vorbeiziehende Wolke das Licht des Mondes, dies aber nur für wenige Minuten. Drunten auf diesem hochmodernen Schiff hatten sie nicht nur Radar, das jede Bewegung am Kliff erfaßte und auf ihre Bild schirme warf, sie hatten auch Feldstecher und Nachtsichtgerä te. 111
Cemal verstand nur wenig von diesen Dingen, hatte aber ge hört, daß es verschiedene Systeme gab. Das eine beruhte auf der Sichtbarmachung der Wärmeabstrahlung von Gegenstän den, Mensch oder Tier, das andere System hellte durch elek tronische Verstärkung Spuren von Licht auf, die selbst bei größter Dunkelheit noch vorhanden waren. Er wagte also nicht, über den Pfad zur Rampe abzuklettern. Damit hätte er den Leuten auf dem Kriegsschiff den Eingang zum Depot verraten. Zum Glück gab es noch einen zweiten Weg. Cemal hatte ihn erst vor kurzem entdeckt. Von einer Nebenhöhle aus führte eine Art Lüftungskamin senkrecht nach oben. Es handelte sich um eine natürliche Felsspalte, die die Anleger des Depots mit Steigeisen versehen hatten. Oben deckte ein tonnenschwerer Felsbrocken die Mulde mit der Kaminöffnung ab. Cemal hatte ihn mit Hilfe von Wagenhebern um siebzig Zen timeter angehievt und durch Unterlegen mehrerer Steine in dieser Stellung arretiert. Da der Brocken von wildem Ginster umwuchert war, sah man den Zugang kaum. Selbst wenn man nur wenige Meter danebenstand. Durch diesen Schacht kletterte Cemal ins Depot, holte ein vierzig Meter langes 3-Millimeter-Stahlseil und band es dem immer noch bewußtlosen IWF-Präsidenten unter den Achseln hindurch um Brust und Rücken. Da Foxfords Arme an den Hüften gefesselt waren, bestand keine Gefahr, daß die Seil schlinge abrutschte. Dann schaffte Cemal den Amerikaner zu der Kaminöffnung und ließ ihn am Seil Meter für Meter in die Tiefe. Kurz vor dem Seilende verringerte sich der darauf lastende Zug deutlich. Cemal befestigte das Seil am Lieferwagen und kletterte nun ebenfalls durch die Felsspalte ab. Die Taschenlampe zwischen den Zähnen, ergriff er Steigei sen um Steigeisen. Es waren neunzig Stück, rostig, feucht und glitschig, im Halbmeterabstand angebracht. Unten angekommen, war er ziemlich erschöpft. Doch schon 112
nach wenigen Atemzügen knüpfte er seinen Gefangenen los und schleppte ihn in die vorbereitete Kaverne, eine kleine Sei tenhöhle mit Munitionskisten als Bett, einer Petroleumlampe und einem Vorhang aus Zeltplanen gegen die Zugluft. Da Mister Foxford immer noch schlief, kümmerte sich Cemal Toker um die Verteidigung des Depots. Er schleppte Granatwerfer und ein schweres Maschinenge wehr zu der Spalte am oberen Rampenende, ferner bereitete er im Depot alles zur Zerstörung vor. Mehrere Handgranaten klemmte er in die Kisten mit Spreng stoff, verband ihre Abzugringe mit Draht und diese Draht schlinge wiederum mit dem Seil, an dem er Fo xford in die Tiefe gelassen hatte. Dieses Seil hing am Abschlepphaken des Simca. Cemal stellte sich vor, daß das Depot rasch zu zerstören sei, wenn er den Lieferwagenmotor anließ, den ersten Gang einleg te und losfuhr. Das Seil würde sich spannen, die Spannung in die Tiefe we i terleiten, dort die Handgranaten zünden und damit alles, was aus Dynamit oder TNT bestand. – Und das waren gut und gern fünfzig Tonnen. Später kletterte er noch einmal durch die kaminartige Spalte nach oben, zog die Tarnplane über den Simca und wagte einen Blick über den Rand des Kliffs. Wieder traute er seinen Augen nicht. Der Zerstörer, oder was immer es gewesen sein mochte, war verschwunden. Auf der schmalen Fahrrinne zwischen der Insel und der Steilküste spiegelte sich silbern die Mondsichel. Gibt zwei Möglichkeiten, dachte Cemal, entweder handelte es sich um eine Routinefahrt, oder sie kommen wieder. Aber warum hatte das Schiff keine Nummer und keine Flag ge? Gegen Morgen, als er nach seinem Gefangenen sah, hatte er die Augen geöffnet und blinzelte in das Licht der Lampe. „Haben Sie einen Schluck Wasser“, fragte er leise, „bitte.“ Cemal gab ihm Tee. 113
„Ich danke Ihnen.“ Foxford behielt erstaunlich viel Fassung. „Ich fühle mich sehr elend“, sagte er fast entschuldigend, „darf ich mich trotzdem vorstellen. Mein Name ist…“ Cemal winkte ab. „Ich weiß Sir, wer Sie sind.“ Es dauerte immer mehrere Minuten, bis der Amerikaner wi e der genügend Kraft hatte, um neue Worte zu formulieren. „Man verfolgt gewisse Absichten mit mir, wenn ich mich nicht irre.“ „In der Tat, Sir.“ Foxford blickte sich um. Aus der erbärmlichen Einrichtung schien er weitere Schlüsse zu ziehen. „In wessen Händen befinde ich mich?“ „In den meinen, Sir.“ „Vertreten Sie eine Gangsterorganisation?“ „Nicht, wenn Sie an ein Syndikat denken, an die Mafia oder so.“ Der Amerikaner verfiel in Nachdenken. Plötzlich wirkte er hellwach. „Aber es geht um Lösegeld.“ „Um eine beträchtliche Summe, Sir“, räumte Cemal Toker ein. „Wie hoch?“ „Mehr als eine Milliarde Dollar. Sagen wir zwei.“ Foxford lächelte mühsam. „Soviel bin ich nicht wert. Soviel zahlt niemand für mich.“ „Sie sind Präsident der Weltbank, Sir“, wandte Cemal ein. „Aber mit einem Jahresgehalt von knapp hunderttausend Dol lar. Ich bin kein vermögender Mann. Zwei Milliarden! Wissen Sie denn wieviel nur eine Milliarde ist? Das sind tausend mal eine Million.“ „Ich kann rechnen, Sir“, erwiderte Cemal. „Ich will ja gar nicht, daß man diese Milliarden für Sie bezahlt, Sir.“ „Sondern?“ Weil Cemal schwieg, faßte Foxford nach. 114
„Als Lösegeld zwei Milliarden Dollar, die Sie gar nicht ha ben wollen. Das verstehe ich nicht.“ Cemal versuchte es ihm zu erklären. „Meine Forderung für Ihre Freiheit lautet, daß Sie den ge planten Zuschuß in Höhe von zwei Milliarden Dollar für die türkische Wirtschaft an Ankara nicht bezahlen. – Nicht bezah len, hören Sie!“ Der Weltbankpräsident zerrte an der Fesselung seiner Arme. „Wie könnte ich das?“ fragte Jones Foxford. * Selbst wenn Cemal Toker einkalkulierte, daß Briefe, die man der türkischen Post anvertraute, von Anatolien bis Ankara länger brauchten als ein Brief von Hammerfest nach Sizilien, schätzte er, daß seine Forderung inzwischen den zuständigen Regierungsstellen vorlag. Zu allen Nachrichtensendungen stellte er sein Transistorradio an. Aber nichts kam durch. Keine Meldung über das Ve r schwinden von Foxford. Offenbar verschwiegen sie die Affäre. Und das mit gutem Grund. Die Regierung hatte die Opposition und die Radikalen immer wieder damit beruhigt, daß die Zuweisung der Wirtschaftshilfe durch die EG-Staaten und die USA nur noch eine Frage von Tagen sei. Da hätte die Affäre Foxford nur neue Unruhen ausgelöst. Cemal schaltete ab und überlegte, was er falsch gemacht hat te. Klar, die Adresse war untauglich. Nicht nach Ankara hätte er seine Briefe senden sollen, sondern nach Athen, an die griechi sche Regierung, den Erzfeind der Tü rken. Die Griechen hätten die Forderung der kurdischen Minderheiten mit Genuß verbrei tet, weil auch griechische Minderheiten auf Cypern unter dem türkischen Knüppel litten. Du hast es falsch gemacht, schalt sich Cemal und sann auf Abhilfe. 115
Es ging auf 23 Uhr. Wie jeden Abend machte er seinen Ko n trollgang. Zuerst schaute er nach dem Amerikaner. Der lag kraftlos, das Gesicht voll rotgrauer Bartstoppeln, auf seinem feuchten Lager. Cemal Toker hatte ihm die Fesseln gelöst. Nur um den rech ten Fußknöchel hing eine Kette. Das Kettenende war an einem der T-34 verankert. Foxford hätte einen Bewegungsradius von gut zehn Metern gehabt, wenn er nicht zu schwach dazu gewe sen wäre. Kaum daß er die leere Patronenkiste erreichte, um dort seine Notdurft zu verrichten. „Ich will mich nicht beschweren“, sagte der Präsident zu sei nem Bewacher, „aber ich vertrage die Kost nicht. Hätten Sie vielleicht ein wenig Aktiv-Kohle gegen meinen Durchfall?“ Cemal besorgte ihm Kohletabletten aus den Vorräten. „Geht es besser?“ fragte er bei der nächsten Runde. „Nein. – Und wie geht es Ihnen, junger Freund?“ „Auch nicht besonders“, gestand Cemal. „Es gibt Probleme mit der Nachrichtenübermittlung. Richten Sie sich auf einen längeren Aufenthalt ein, Sir.“ Gottergeben nickte der Amerikaner. „Kein Lösegeld“, murmelte er. „Aber was Sie von mir ve r langen, ist noch schwerer erfüllbar, als wer weiß was.“ „In Ankara sollen sie finanziell am Ende sein.“ „Das führt zu einem Bürgerkrieg.“ „Bürgerkriege haben immer politische Ursachen. Damit he ben wir das Problem auf das richtige Niveau. Auch die Kur denverfolgung ist ein Politikum. Nur hatten wir bis jetzt keine Stimme, die man hörte. Sie war schwach und verhallte in den Weiten Anatoliens. Das wird jetzt anders.“ Cemal stellte dem Amerikaner sein Essen hin und ging weiter seine Runde. Als er an der Einfahrt durch den Felsspalt kroch, war es, als werfe man sein Herz in einen Kübel mit Eisbrocken. Im Fjord lag wieder das Kriegsschiff. Rasch besorgte er ein Fernglas und stellte die Optik scharf. Der Zerstörer war kriegsmäßig abgedunkelt. Auf dem Ac h 116
terschiff herrschte jedoch hektische Tätigkeit. Ein Kommando wurde ausgesetzt. Männer in schwarzen Kombinationen bega ben sich über Fallreeps in flache Fahrzeuge. Vermutlich han delte es sich um Schlauchboote. Bald darauf legten die Boote ab. Sie kommen, durchfuhr es Cemal Toker. * Cemal hockte am oberen Ende der Rampe, bereit, das Depot zu verteidigen. Er war fest entschlossen es zu tun. Notfalls würde er es sprengen und wenn das ganze Kliff dabei wegexplodierte und auf den Zerstörer herunterkrachte. Wenn es keine andere Möglichkeit gab, ein Zeichen zu set zen, würde er es tun. Einmal hörte Cemal das Landekommando deutlicher, einmal leiser. Es waren Stimmen von Männern, die sich ungeniert ihre Beobachtungen zuriefen. Befehle flogen hin und her von einer Gruppe zur anderen, aber in einer Sprache, die Cemal nicht verstand. Einige Männer näherten sich dem oberen Ende der Rampe bis auf etwa vierzig Meter. Dann kehrten sie um. Offenbar hatten sie über Sprechfunk andere Befehle erhalten. Nachdem absolute Stille eingekehrt war, überwältigte Cemal Toker die Müdigkeit. Er schlief ein. Als er erwachte, dämmerte der Morgen und das Schiff war abermals verschwunden. Soviel stand für ihn jetzt fest. Das Geisterfahrzeug operierte nur im Schutze der Dunkelheit. Er zog sich ins Innere des Depots zurück, schlief mehrere Stunden, kochte dann etwas Reis auf einem Spirituskocher. Als der Reis fertig war, öffnete er eine Büchse Rindfleisch, schnitt den Inhalt in Würfeln darunter und brachte Foxford einen Te l ler davon. „Schon eine Nachricht?“ fragte der Amerikaner. „Sie versuchen es anders.“ 117
„Indem sie sich tot stellen? Das werden sie bald wieder auf geben.“ „Nein, sie versuchen einen Angriff. Jede Nacht läuft ein Schiff unbekannter Nationalität ein. Und jede Nacht dringen die Landkommandos weiter vor, bis ich aufzugeben gezwun gen bin.“ „Werden Sie das je sein?“ „Niemals.“ „Woher“, fragte Foxford, „will man wissen, daß Sie mich hierhergebracht haben. Undichte Stellen in Ihrer Organisati on?“ „Kaum, Sir.“ „Dann müssen Sie sich irren, dann hat das Schiff andere Ab sichten.“ In dieser Nacht tauchte das geheimnisvolle Schiff nicht auf. Jedenfalls war um 23 Uhr noch nichts von ihm zu sehen. Trotzdem überfiel Cemal eine merkwürdige Unruhe. Er spür te, daß etwas auf ihn zukam, das er nicht konkretisieren konnte. Irgendwo im Dunkel des Depots lauerte Gefahr. Cemal führte es auf seine überbelasteten Nerven zurück. Um Mitternacht hörte er die letzten Nachrichten ab. Wieder brachten die türkischen Sender kein Wort über die FoxfordEntführung. Cemal wickelte sich eine Zigarette und schaute noch einmal nach dem Präsidenten. Der schlief bereits. Dann ging er zur Rampe. Der Fjord war leer. Doch plötzlich vernahm er hinter sich ein Geräusch. Die einzigen Geräusche, die hier möglich waren, wurden von fallenden Wassertropfen oder von Foxford erzeugt. Dieses aber war ein Scharren gewesen, als huschten Ratten im Dunkel hin und her. – Jetzt herrschte wieder Stille. Cemal hielt die Luft an. Er lauschte, ortete ein Atmen und richtete die Lampe in diese Richtung. Als er sie einschaltete, war dort nichts als vor Nässe schim mernde Felswand. Langsam bewegte sich ein Schatten über sie. War es seiner oder der eines Fremden? Cemal fuhr herum. Der Lichtkegel erfaßte einen Menschen. 118
Ehe Cemal auf irgend eine Weise reagieren konnte, hatte ihn dieser Mann mit Armen wie Schraubstöcke umfaßt. Er packte so fest zu, daß Cemal zu ersticken drohte. Er ve rsuchte sich zu wehren, aber er hatte nur die Beine dafür. Er trat und stieß. Er versuchte den Kopf zu drehen, mit dem Kopf zuzuschlagen, zu beißen, was er immer mit den Zähnen erwischte. Doch der Mann wich immer wieder aus. Die Lampe war zu Boden gefallen. Ihr Licht traf jetzt auf den Fremden. Er war einen Kopf größer als Cemal, hatte graue Augen, einen schmalen Schädel und trug Straßenkleidung. „Verdammt“, keuchte Cemal, „schickt Sie der Satan?“ „Ganz ruhig, mein Junge“, sagte der Fremde, „ganz ruhig bleiben.“ * Bob Urban tastete Cemal Toker ab. – Keine Waffe. – Einhän dig zog er seinen Schlipsknoten nach unten, riß den gewirkten naturseidenen Binder aus dem Hemdkragen und umwickelte damit die Handgelenke des Kurden. Dann steckte er zwei Zigaretten an und schob eine davon zwischen Tokers Zähne. Doch der spuckte sie wütend aus. „Sind Sie überhaupt ein Lebewesen aus Fleisch und Blut?“ „Sogar sehr.“ „Wie, verdammt, kommen Sie dann hierher?“ Urban lächelte. „Mit einem Jeep. Bei jeder Zündung fürchtete ich, er hätte seinen letzten Schnaufer getan, aber er hielt durch.“ Der Junge zerrte an der Fesselung. Er war wütend und ve r zweifelt und konnte es nicht verstehen. „Wer hat Ihnen das Versteck verraten?“ „General Tettau.“ „Der ist tot.“ „Und dein Lieferwagen. Es wäre schwer geworden. Ohne das Seil, das vom Wagen durch den Schacht zu den Handgranaten läuft, hätte ich den Eingang nicht gefunden.“ 119
„Niemand ist perfekt“, sagte der Junge. „Sie sind Amerikaner und wollen Foxford befreien?“ Urban schüttelte den Kopf. „Ich bin Deutscher und will verhindern, daß mit Restvermö gen des ehemaligen Dritten Reiches Unsinn verzapft wird.“ „Bundeskriminalamt?“ „BND“, sagte Urban. „Das ist ein NATO-Geheimdienst, der mit der türkischen Re gierung unter einer Decke steckt.“ „So würde ich es nicht sehen“, erwiderte Urban. „Wie kommen Sie dann in unser Land? Ohne Flugzeug ging es wohl nicht.“ Urban hoffte, mit Offenheit würde er Vertrauen gewinnen. „Ohne einen schnellen Militärjet wäre es nicht möglich ge wesen“, gestand er. „Aber ich hatte Glück. Eine Jabostaffel der Bundeswehr startete zu Schießübungen auf einem anatolischen Testgelände. Die nahm mich mit.“ „Und was haben Sie jetzt vor?“ wollte Cemal wissen. „Was hast du vor?“ fragte Bob Urban dagegen. Ganz allmählich, erst bruchstückhaft, dann brockenweise, holte es Urban aus dem Jungen heraus. Er wollte die Regierung in Ankara dermaßen unter Druck setzen, daß endlich die alten Verträge die Behandlung der kurdischen Minderheiten betref fend eingehalten und verbessert wurden. „Das dachte ich mir“, äußerte Urban. „Das kenne ich von Südtirol her, aus Jugoslawien und aus Biafra. Es ist immer dasselbe. Die Starken unterdrücken die Schwachen. Aber ich fürchte, so wie du dir das denkst, geht es nicht, mein Junge.“ „Wie zum Teufel“, schrie Cemal jedes Wort betonend, „soll es dann gehen?“ Bob Urban geriet in schweren Gewissenskonflikt. Auf der einen Seite stand das Problem des Jungen, auf der anderen Seite seines, daß von diesem Depot nichts an die Öffentlichkeit dringen durfte. Sonst hieß es gleich wieder, schaut an, die bö sen Deutschen, vor vierzig Jahren hatten sie Welteroberungs pläne. Die gaben sie zwar auf, aber heute unterstützen sie mit 120
den Mitteln von damals Aufstände im Nahen Osten. „Anders“, sagte Bob Urban, „anders muß man das machen.“ Er wußte selbst noch nicht wie. Er kam auch nicht zum Nachdenken, denn plötzlich drang gleißendes Licht durch die Felsspalte an der Rampe. „Was ist das?“ fragte Urban verblüfft. „Das Schiff ist wieder da.“ „Was für ein Schiff?“ Urban ahnte schon, woher es kam. Das Licht verlosch. Urban stieg hinauf und blickte durch die Spalte auf den Fjord. Dort lag einer der modernsten Zerstörer die es gab. Er kannte den Typ nur von Geheimfotos her. Zweifellos ein Kynta-Zerstörer der letzten Generation. Hinter sich spürte er Cemals Atem. „Was ist das für ein Fahrzeug?“ „Russe.“ „Was suchen die hier? Jetzt schon die vierte Nacht.“ „Das Material das ihnen gehört.“ „Woher wissen die…?“ „Der KGB ist eine äußerst schlagkräftige Organisation.“ „Das muß doch verraten worden sein.“ „Alles wird einmal verraten, mein Junge. Man lebt in einer Welt des Verrats“, philosophierte Urban. „Dann muß ich jetzt handeln“, schrie der Kurde. „Lösen Sie mir die Fesseln, oder… oder ich beiße Ihnen die Gurgel durch.“ * Bob Urban hatte die Vorbereitungen zur Sprengung gesehen und glaubte zu wissen, wie weit Cemal gehen würde. Notfalls ging er bis zur totalen Vernichtung des Depots, des Zerstörers da unten und der Opferung Foxfords. Das mußte er schon deshalb verhindern, weil er die Hoffnung hatte, daß in dieser Nacht die Russen eindringen würden. Urban beobachtete mit dem Glas die Manöver des Zerstörers. 121
Sie setzten das Landekommando ab. „Kommen sie?“ fragte Cemal. „Sie sind nicht mehr aufzuhalten. Sie haben alles dabei, was sie brauchen, um den Mount Everest zu sprengen.“ Die Mannschaft, die sich vom Heck des Zerstörers in schwe re Schlauchboote begab, führte lange armdicke Stangen mit. Wenn sich Urban nicht irrte, handelte es sich um ein spezielles Pioniersprenggerät zur Beseitigung von Minensperren, Draht verhauen und Bunkern. Ein Kran schwenkte noch andere Hilfsmittel auf das Schlauchboot. Urban konnte selbst im scharfen Nachtglas kei ne Einzelheiten erkennen, nahm aber an, daß es sich um hy draulische Stempel oder Ähnliches handelte. Hebezeug also, das mittels motorisch erzeugtem Öldruck auch schwerste Ge genstände zu bewegen vermochte. „Ich werde sie aufhalten“, sagte Cemal zu allem ent schlossen. „Wie denn?“ „Mit dem Maschinengewehr, mit dem Granatwerfer.“ „Durch diese schmale Schießscharte?“ Urban lachte. „Dann werden sie Raketen einsetzen. Und was hättest du gewonnen?“ In ohnmächtiger Wut lehnte sich der Kurde gegen die Fels wand. „Was können wir überhaupt noch tun?“ „Uns zurückziehen. Durch den Lüftungsschacht.“ Cemal streckte die gefesselten Hände vor. „So?“ Urban packte ihn bei der Schulter. Der Wind, der durch die Spalte wehte, trug schon das dumpfe Brummen der Außen bordmotoren herauf. Die Schlauchboote des sowjetischen Lan dekommandos hatten abgelegt und würden in wenigen Minuten das Ufer erreicht haben. „Komm“, drängte Urban. „Heute machen sie Nägel mit Kö p fen.“ „Und Foxford?“ „Den lassen wir zurück.“ 122
„Sie bringen ihn um.“ „Sie verfolgen ihre Interessen, aber sie sind keine Mörder.“ „Wenn ich das Depot aufgeben muß, ist Foxford das einzige, was mir bleibt.“ „Er ist nichts in deiner Hand“, sagte Urban. „Was du vorhast, ist eine Nummer zu groß für dich.“ Seine Entscheidung, den Amerikaner im Depot zurückzulas sen, begründete Urban damit, daß Foxford zu schwach sei, durch den Abluftspalt hinaufzuklettern. Selbst wenn sie ihn hochzogen, konnten sie ihn nicht in der nötigen Weise medizi nisch versorgen. An Bord des sowjetischen Zerstörers gäbe es aber Ärzte und eine Krankenstation. Cemal sah das alles nicht ein. Trotzdem verschwieg ihm Ur ban seinen letzten Gedanken. Er lockerte Cemals Fesselung soweit, daß er von einem Steigeisen zum nächsten greifen konnte. Langsam stieg er auf. Urban folgte ihm. Für die vierzig Meter brauchten sie fast zehn Minuten. Als Urban die Schultern aus dem Loch schob, war es ihm, als vernehme er aus der Tiefe Bersten und Krachen. – Und auch Cemal war verschwunden. Besorgt stemmte sich Urban ins Freie. Er glaubte den Kurden laufen zu sehn. Cemal erreichte den etwa zwanzig Meter ent fernten Kastenwagen und riß die Tarnplane weg. Urban wußte sofort, was er vorhatte. „Jetzt sind die Russen in der Höhle“, schrie Toker, „jetzt sprenge ich sie alle in die Luft.“ Schon saß er im Auto und ließ an. Der Anlasser orgelte, der Motor reagierte mit ersten Zündun gen. Wenn er nur wenige Meter fuhr, spannte sich das Seil und löste in der Tiefe die Detonation aus. Dann war alles kaputt. Und sie würden das Desaster auch nicht überleben. Die Gefahr erkennend, rannte Urban, so schnell er nur konn te, los, stolperte, kam wieder auf die Beine. Der Motor lief jetzt rund. Mit Gas jagte ihn Cemal hoch. Krachend würgte er den Gang hinein. 123
Urban hatte nur noch wenige Meter. Der Simca ruckte an. Da machte Urban einen letzten langen Sprung, warf sich zu Boden, tastete nach dem Stahlseil und riß es in letzter Sekunde aus dem Schlepphaken. Der Simca vollführte einen Satz, der genügt hätte, um die Sprengung auszulösen. Cemal würgte den kalten Motor ab, versuchte erneut, ihn zu starten. Jetzt war Urban bei ihm, riß ihn hinter dem Lenkrad vor und schlug ihn erst einmal knockout. Dann fesselte er ihn wieder eng, nahm das dünne Stahlseil, schleppte sein Ende bis zum Ausstiegsschacht und ließ die Öse mit dem Seil in die Tiefe fallen. Dies in der stillen Hoffnung, daß die Russen dadurch den zweiten Schachtausgang nicht entdeckten. Dann steckte er sich eine Monte-Christo an. * „Gib mir auch eine Zigarette“, bat Cemal Toker. Er lag neben Urban am Rand des Kliffs und starrte hinab zur Rampe. Die Russen hatten mit ihrer schweren Hydraulik den Fels block vom Depoteingang weggerückt und transportierten um fangreiche Gegenstände zu den Schlauchbooten. Es dauerte nicht lange, und zwei Mann trugen etwas Längliches heraus. „Eine Bahre“, sagte Cemal. „Das ist Foxford.“ „Jetzt haben die Russen den Schwarzen Peter“, antwortete Urban befriedigt. „Der Schwarze Peter, was ist das?“ „Die Laus im Pelz. Die Pest am Hals.“ Cemal konnte Urbans Gedankengängen nicht folgen. „Warum“, fragte er, „hast du es mich nicht sprengen lassen? Uns allen wäre damit geholfen.“ „Nur deiner Wut“, schränkte Urban ein. „Aber die Komplika tionen wären unvorstellbar. Das Fahrwasser da unten ist 124
schmal. Der Zerstörer hat vier Meter Tiefgang, wenn nicht fünf, und nur wenige Meter Bewegungsfreiheit nach beiden Seiten. Die Sprengung der Höhle bringt vermutlich das ganze Kliff zum Bersten. Tausende von Tonnen Gestein stürzen auf den Zerstörer und rammen ihn im Fahrwasser eisern fest. Was glaubst du, was die Russen alles unternehmen würden, um ihr Schiff flott zu kriegen und wem sie die Panne in die Schuhe schieben würden? Aus solchen Situationen sind schon Kriege entstanden. – In diesem Fall wäre es eine Auseinandersetzung zwischen David und Goliath. Nur hat hier David neben seiner Schleuder noch einen zweiten Mangel. Er ist obendrein noch blind, kann also seinen Stein nicht ins Ziel schleudern. Und niemand anders als die Türkei wäre Klein-David.“ „Sie halten sich unerlaubt in unserem Hoheitsgebiet auf“, warf Cemal ein. Urban lächelte nur. „Sie würden behaupten, daß sie wegen eines Unwetters, einer Havarie oder wegen einer Epidemie an Bord unter Land gehen mußten. Dort habe man sie beschossen. In Friedenszeiten ist das ein feindlicher Akt.“ Unten sah es jetzt aus, als ziehe sich das russische Komman do zurück. Wurde auch Zeit. Es ging auf 02 Uhr. Bald setzte die Dämmerung ein und der Zerstörer hatte noch ein paar Mei len zu fahren, bis er die freie See erreichte. Die Schlauchboote wurden an Bord genommen. Der Zerstö rer holte die Anker herauf. Doch dann ereignete sich etwas, das Urban erwartet hatte, das Cemal aber nicht begriff. „Was machen sie mit den Kanonen, verdammt.“ „Das sind keine Kanonen, das sind Raketenstartgestelle.“ „Sie machen sie klar und schwenken sie genau auf uns.“ „Was dachtest du denn, was sie tun würden?“ fragte Urban. „Aber damit gefährden sie sich selbst.“ „Nicht aus einer Meile Abstand. Aus einer Meile Entfernung treffen moderne Schiff-Schiffraketen noch eine Fliege an der Wand.“ 125
Die Raketengestelle zeigten auf den Eingang des Depots und blieben ständig auf ihn gerichtet. Sie schwenkten stetig mit, während sich der Zerstörer in langsamer Rückwärtsfahrt aus dem Fjord tastete. „Wird höchste Zeit“, meinte Bob Urban, „daß wir wegkom men.“ * Urban ließ den alten Simca an und drosch ihn quer über die Hochfläche auf den Sarazenenleuchtturm zu, wo er seinen Jeep versteckt hatte. Dabei rechnete er die Zeit aus. Bis sich der Zerstörer rückwärts aus dem engen Fahrwasser zog, dann im Tiefen drehte, Fahrt aufnahm und den nötigen Sicherheitsabstand hatte, würden nur wenige Minuten verge hen. – Plötzlich begann der Boden zu beben. Viel früher, als Urban angenommen hatte. Der Simca wurde regelrecht hochgeworfen wie Gulliver von der Brust des einatmenden Riesen. Krachend landete er wieder auf den Rädern. Die Erde, der Horizont, die Luft bis hinauf zum schmalen Mond schienen zu zittern und zu vibrieren. „Festhalten!“ schrie Urban und trat das Pedal voll durch. Cemal zog den Kopf ein, riß die gefesselten Arme hoch, um sein Gesicht zu bedecken. Der Boden schien Wellen zu schlagen. Die Blitze und der Donner eines Urgewitters holten sie ein. Mehrere hundert Tonnen Munition und Sprengmittel, einge schlossen in einer Höhle im Fels, wenn die sich Luft machten, dann ging es eben rund. Urban warf einen Blick in den Rückspiegel. Hinter ihnen, da war die Hölle los. Ohne Pause zuckte es grellweiß durch die Dunkelheit. Am Ende blieb eine turmhohe Feuersäule stehen, allmählich in Gelb, schließlich in Rot übergehend, von Rauch schwaden durchsetzt. Die Paukenwirbel des Donners ve rklangen, die Erde wurde 126
wieder ruhig. Nur blutete sie jetzt am Kliff aus einer tiefen heißen Wunde. Urban fuhr bis hinauf zum Leuchtturm. Dort stellte er den Motor ab. Im fahlen Mondlicht sah er den Kynta-Zerstörer mit Höchst fahrt nach Norden laufen. Cemal saß wie geschlagen neben ihm. „Jetzt ist alles verloren“, hörte Urban ihn murmeln, „alles verloren.“ „Gegenteil. Jetzt ist alles gewonnen, Cemal.“ „Für dich vielleicht, für dich und für die Russen. Keine Spur vom Depot mehr. Man kann den Deutschen nichts anhängen und Moskau auch nicht. Keine russische Waffe mehr auf türki schem Territorium. Aber was habe ich? Nicht einmal Mister Foxford habe ich, mein Faustpfand, meine letzte Chance, um für uns Kurden etwas herauszuschinden.“ „Man hätte die Kurden Kidnapper genannt“, sagte Urban, „und Verbrecher, und sie nur noch heftiger verfolgt.“ Ungläubig starrte Cemal ihn an. „Aber was wird jetzt?“ Urban versuchte es zu erklären. Es war nicht einfach, aber er versuchte es. „Foxford befindet sich auf einem Schiff der Roten Flotte. Dieses Schiff hat seinen Auftrag durchgeführt und wird mor gen in seiner Basis Wladiwostok einlaufen. – Mit Foxford an Bord. Sie wissen aber nicht, wen sie da mitgenommen haben, nämlich den von der Mafia entführten Präsidenten der Welt bank. Wenn sie es merken, wird guter Rat teuer sein. Denn daß sie Foxford aus der Hand der Erpresser befreiten, können sie nicht gut behaupten, ohne den Übergriff in Anatolien einzuge stehn und ohne gewisse Informanten preiszugeben.“ „Schön, aber was ist damit gewonnen?“ fragte Cemal tief er schüttert. „Moskau hat etwas, was es unauffällig wieder loswerden möchte. Wir aber wissen, daß sie es haben. Damit kann man sie wundervoll unter Druck setzen.“ 127
„Wir lassen uns unser Schweigen abkaufen meinst du?“ „Oder unsere Hilfe, Mister Foxford irgendwo im Westen wieder auftauchen zu lassen.“ „Und du glaubst, sie werden dieses Schweigen honorieren?“ „Wenn man ihnen klarmacht, daß sie sonst das Gesicht ve r lieren, dann schon.“ „Wenn sie für die Kurden eintreten, beweist das sogar noch ihre humanitäre Gesinnung. Außerdem ist es der Ruhe an ihrer Südwestgrenze nützlich.“ „Ankara wird sich diesem Druck beugen müssen.“ „Also ist doch nicht alles verloren“, sagte Cemal, und die zar te Pflanze Hoffnung keimte in ihm. * Als ihm Urban die Fessel endgültig abnahm, wirkte Cemal Toker fast glücklich. Das dauerte aber nur kurz, nur bis zu dem Augenblick, als diese schneidende Stimme ertönte. „Du bist und bleibst ein einfältiger Idiot“, rief ein helles weibliches Organ. „Und für Idioten ist kein Platz in dieser Welt.“ Die Männer in der Fahrerkabine des Simca wußten, wer da draußen im Dunkel zwischen dem Leuchtturm und dem Wagen stand. Cemal öffnete die Tür. „Naciye, wie kommst du hierher?“ „Wie sie immer überall im richtigen Moment zur Stelle ist“ zischte Urban. „In der Festung, als sie dich befreite und dich und die Kurden zu ihrem Werkzeug machte, später in der Pro vence, als sie den General tötete, dann in Triest, als sie deine Kontakte zur Mafia verfolgte und endlich hier, um…“ Naciye, mit den Ohren eines Luchses ausgestattet, hatte jedes Wort mitgehört. „Und endlich hier, um die einzigen Zeugen, die meinen Freunden, den Russen, Ärger bereiten könnten, auszulöschen.“ 128
Cemal blickte Urban an. Er verstand nicht recht. „Wem bitte? Ihren Freunden, den Russen?“ Urban nickte mehrmals. „Wußtest du nicht, daß sie Funktionärin der extremen Linken Anatoliens ist, außerdem KGB-Agentin, und daß alles, was sie tat, auf Befehle aus Moskau zurückzuführen ist?“ „Los, aussteigen!“ befahl die Türkin. „Der schlaue Mister Dynamit zuerst.“ Urban verließ den Wagen und ging langsam auf sie zu. „Und die Hände zum Himmel!“ In Zeitlupe hob er sie, fieberhaft überlegend, wie er diese Frau endlich zur Strecke bringen könnte. Aber Naciye hatte ein gefährliches Ding im Hüftanschlag. Sie würde die Maschinenpistole ebenso kaltblütig benutzen wie die Tukstra. „Ich wußte“, sagte sie, „daß du hier aufkreuzen würdest. Ich fand die Spuren des Jeeps.“ „Eine Trappernase hat sie auch“, spottete Urban kühl. Sechs Meter mochte er jetzt noch von ihr entfernt sein. Naciye hob den MPi-Lauf ein Stück höher und lachte. „Meine Freunde werden Präsident Foxford auf andere Weise loswerden“, sagte sie, „und ihr werdet nicht mehr dazwischen funken.“ Nachdem sie diese Feststellung getroffen hatte, erwartete Ur ban ihre Kugelgarbe. Cemal schien auch damit zu rechnen, daß sie schoß. Er tat das einzige, was er tun konnte. Er schaltete die Scheinwerfer ein. Die Batterie hatte nicht mehr allzuviel Saft, aber auch das schwache Licht blendete die Türkin. Urban warf sich zu Boden und rollte blitzschnell zur Seite. Er rollte um sein Leben. Die Maschinenpistole hämmerte los. Die Kugeln sirrten kreuz und quer in die Luft, in Glas und Blech, aber auch dicht an Urbans Kopf vorbei. Eine riß seine Haut auf. Es schmerzte nicht, blutete jedoch stark. 129
Der Motor heulte auf. Cemal hatte angelassen. Die Räder drehten wild durch. Urban hörte den Wagen anfahren und hob den Kopf. Er sah die Türkin dastehn und feuern, bis sich ihre Mpi leergehustet hatte. Nun warf sie die nutzlose Waffe weg und ergriff die Flucht. Sie rannte auf die Turmruine zu, schlug dann einen Haken. Aber Cemal hatte als Fahrer eine Sternstunde. Er ahnte die Haken des Mädchens voraus, leitete rechtzeitig das Gegensteu ern ein und hatte sie nur noch wenige Meter vo r dem Kühler. Cemal blieb voll auf dem Gas stehen. Im zweiten Gang ent wickelte das Auto erstaunlich viel Kraft und Vortrieb. Der Kühler erwischte Naciye, stieß und trieb sie weiter. Nur noch wenige Meter bis zum Kliff, wo es steil hinab ins Meer ging. Heftig kurbelnd gelang es Cemal immer wieder den Aus weichversuchen des Mädchens zuvorzukommen. Er versetzte ihr einen neuen Stoß. Naciye wollte sich am Blech des Wagens festhalten. Es war zu glatt und bot keine Griffmöglichkeit. Sie richtete sich auf, warf die Arme empor, taumelte und ver lor die Balance. Sie ruderte mit den Armen wie ein Schwimmer gegen den Strom. Aber Luft war dünner als Wasser. Plötzlich war sie verschwunden. * Die Agentin stürzte mit gellendem Schrei in die Tiefe. Urban sah sie fliegen wie einen toten Vogel, bis ihr Körper in die Brandung tauchte. „Sie kann schwimmen“, sagte Bob Urban. „Eine Frau wie sie kann immer schwimmen.“ „Sie wird auftauchen und uns wieder in die Quere kommen“, befürchtete Cemal. Urban deutete in die Tiefe auf einen Punkt im Wasser. „Sie ist schon aufgetaucht“, sagte er, „aber weit kommt sie 130
nicht. Die NATO kann es sich gar nicht leisten, daß eine Agen tin ihres Formats frei herumflattert wie ein Schmetterling. Meine Freunde sind mit einem Schnellboot unterwegs. Ich erreiche sie über Sprechfunk. Sie werden sie herausfischen.“ „Freunde von der türkischen Marine?“ Urban machte sich mit dem Taschentuch einen Kopfverband, dann legte er die Hand auf Cemals Schulter. „Keine Angst, mein Junge. Eure Interessen werden nach drücklich vertreten werden. Aber nicht alles im Leben kann man sofort oder mit Gewalt erreichen. Auch Mohammed be gann einst seine Reise mit kleinen Schritten, als er von Mekka aufbrach.“ Damit ging Urban zu seinem klapprigen Fahrzeug. Mühsam bracht er den Motor mit der Handkurbel in Gang. Einen letzten Gruß winkend fuhr er weg. Unter sich den rostigen Armeejeep, den er wie ein Cowboy ritt, oben den durchbluteten Kopfverband, der wie eine Fahne leuchtete. Und in der Mitte hatte er seine Pistole. Die Mauser Kaliber 7,65, die er nie benutzte… Ende
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