Das Buch Es sieht ganz nach einem Routinefall für PolizeiInspektor Donal Riordan aus: Er soll eine Operndiva vor gefähr...
55 downloads
465 Views
2MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Das Buch Es sieht ganz nach einem Routinefall für PolizeiInspektor Donal Riordan aus: Er soll eine Operndiva vor gefährlichen Attentätern schützen. Und doch ist es alles andere als Routine: Denn in Tristopolis, einer gigantischen Zukunftsstadt, wird die Energie aus den Knochen Verstorbener gewonnen – und es dauert einige Zeit, bis man in dieser Stadt wirklich stirbt. Wieso haben es diese Verbrecher gerade auf die Knochen berühmter Künstler abgesehen? Und welche Rolle spielen dabei die weitläufigen Katakomben unterhalb von Tristopolis, in denen die Leichen gelagert werden? Unaufhaltsam gerät Riordan in einen Strudel von Intrigen – und stößt dabei auf das düstere Geheimnis von Tristopolis. Eine einzigartige Mischung aus Detektivgeschichte. Mystery-Thriller und Science-Fiction-Abenteuer – mit „Tristopolis“ erschafft der britische Autor John Meaney eine phantastische Welt, wie es sie noch nie zuvor gab. Der Autor John Meaney wurde 1957 in London geboren. Er studierte Physik in Birmingham und arbeitete lange Jahre in der Computerindustrie, bevor er sich als Schriftsteller einen Namen machte. Meaney gilt heute als einer der innovativsten britischen SF- und Fantasy-Autoren. Er lebt und arbeitet in Kent.
John Meaney Tristopolis Roman
Aus dem Englischen übersetzt von Peter Robert
Deutsche Erstausgabe
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
Titel der englischen Originalausgabe BONE SONG Deutsche Übersetzung von Peter Robert
Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100 Das für dieses Buch verwendete FSC-zertifizierte Papier München Super liefert Mochenwangen. Deutsche Erstausgabe 9/07 Scan by Brrazo 03/2008 Redaktion: Werner Bauer Copyright © 2007 by John Meaney Copyright © 2007 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH www.heyne.de Printed in Germany 2007 Umschlagbild: Franz Vohwinkel Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München Satz: Greiner & Reichel, Köln Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN: 978-3-453-52295-4
EINS
B
ernsteingelbe Augen beobachteten ihn aus der pechschwarzen Finsternis hinter der Steintreppe. Donal tippte sich grüßend an die Stirn, steckte die Hände in die Manteltaschen und schaute zu den zweihundert Etagen des Polizeipräsidiums hinauf, das dunkel und kompromisslos aufragte. Es war spät und kalt, der Himmel war ein dunkles Purpur und völlig undurchdringlich. Irgendwo ganz oben wartete Commissioner Vilnars Büro. Der Commissioner hatte bei seinem Anruf an diesem Morgen durchblicken lassen, dass er einen neuen Auftrag für Donal hatte – einen Auftrag, der ihm nicht gefallen würde. „Hundesohn“, murmelte er. Aus den Schatten kam ein leises Knurren. „Du doch nicht“, setzte Donal ebenso leise hinzu. Er knöpfte seinen Mantel auf, stieg leichtfüßig die Treppe hinauf – immer zwei Stufen zugleich – und ging zwischen hohen, von orangegelbem Lichtschein gekrönten Steinsäulen hindurch. Vor den großen Türflügeln aus Bronze und Stahl blieb er stehen. „Lieutenant Donal Riordan.“ Er sprach deutlich. „Marke Nummer Zwo-Drei-Omikron-Neun.“ Seine Haut begann von Kopf bis Fuß zu kribbeln, dann drehten sich riesige Schlösser, entriegelten sich mit einem dumpfen Klacken. Die Türflügel schwangen nach innen. Er betrat den gruftartigen Empfangsraum. 6
Rechts von ihm war der diensthabende Sergeant, Eduardo eine schattenhafte Gestalt über dem imposanten Granitblock seines Tresens; ansonsten war der Raum leer. Donals Schritte warfen ein Echo, als er zu der Reihe zylindrischer Fahrstühle am hinteren Ende ging. Sein Mantel bauschte sich wie ein Umhang in der Mischung aus kühlen und warmen Brisen, die durch diesen Raum wehten. Er stieg in einen leeren Fahrstuhlschacht. „Hey, Gertie. Einhundertsechsundachtzigster Stock, bitte.“ Einen Moment lang gar nichts. Dann: *Für dich tu ich alles, Babe.* Die Worte waren wie eine Liebkosung. Donals Magen drehte sich um, als er nach oben schoss. Zehn Sekunden später trat er in einen halbdunklen Flur hinaus. *Bis später, Darling.* „Wir sehen uns.“ Im Vorzimmer saß Commissioner Vilnars Sekretärin, die jeder Cop Eyes nannte, mit dem Rücken zu Donal. Dünne silberne Kabel hingen um ihre schalttafelartige Konsole. Ohne sich umzudrehen, winkte sie mit ihrer bleichen Hand. Donal verstand es als Aufforderung, unverzüglich hineinzugehen. „Danke.“ „Keine Ursache, Lieutenant.“ Er marschierte an einer Reihe ganz normal aussehender Aktenschränke vorbei. Jeder war mit einem 7
winzigen, faustähnlichen Zeichen markiert und zeigte damit an, dass sie gut gesichert waren. Er hätte gern gewusst, was sie enthielten. Wahrscheinlich die Spesenabrechnungen des Polizeichefs. Die schwarzen Türflügel vor Donal fuhren auseinander, und er betrat Commissioner Vilnars Büro. Vor dem mächtigen Schreibtisch stand ein einsamer Besucherstuhl aus schwarzem Eisen. Hinter Donal schloss sich die Tür mit einem leisen Quietschen. Auf der anderen Seite des Schreibtischs drehte sich der große Sessel und gab den Blick auf den kahlen Schädel des Polizeichefs und die breiten Schultern seines schwarzen Anzugs frei. „Setzen Sie sich.“ „Danke.“ „Schon mal in der Oper gewesen, Riordan?“ „Sir?“ „Tja …“ Die stumpfen Gesichtszüge des Commissioners gerieten in Bewegung: der angedeutete Versuch eines Lächelns. „Ich dachte mir, dass Sie das sagen würden. Lesen Sie das.“ Eine Schreibtischschublade glitt auf, und Commissioner Vilnar holte eine großformatige Zeitung heraus: die Fortinium Times, eine Luxusausgabe mit verschnörkelter violetter Schrift auf warmem gelbem Pergamentpapier. Das Layout ähnelte dem der Tristopolitan Gazette, wenn auch nicht der minderwertigen Ausgabe, die Donal las: die Underdog-Version, die binnen Stunden in Fetzen ging. „Äh …“ 8
Unten auf der Titelseite stand ein Bericht über einen Mord im Gangstermilieu. Ein blau-weißes Foto zeigte ein unschuldiges Opfer, eine zufällig vorbeikommende Krankenschwester, die zwischen einen abbremsenden Wagen und das eigentliche Ziel, Bugs Lander, geraten war. „Probieren Sie’s mit dem Feuilleton“, sagte der Polizeichef. „Unter Theater.“ „Sie machen Witze.“ Donal wendete die schweren Seiten. „Das da? Über die Opernsängerin?“ Purpurrote Tinte schimmerte, während er den Blick über die Beschreibung von Maria daLivnovas Auftritt in Die weiße Maske’ schweifen ließ. „Ich verstehe nicht … Oh. Sie kommt nach Tristopolis. Ins Theâtre du Loup Mort.“ Das Theater war ein reich verziertes Gebäude in einer Seitenstraße des Hoardway, an dem Donal schon oft vorbeigekommen war. „So ist es. Und während die Diva hier ist“ – der Commissioner langte über den Schreibtisch und holte sich die Zeitung zurück – „wird ihr absolut nichts Unerfreuliches zustoßen. Habe ich recht?“ Donal schloss die Augen und öffnete sie wieder. „Wollen Sie damit andeuten, dass ich sie beschützen soll, Sir?“ „Ich brauche nichts anzudeuten.“ „Äh … nein, Sir.“ Der Commissioner nahm weitere Pergamentpapierblätter aus einer anderen Schublade, diverse Zusammenfassungen von Polizeiberichten in indigo9
blauen Lettern, jeweils mit Ort und Datum in der Überschrift; der erste Tatort war in Fortinium. Zwei weitere Blätter enthielten nachgedruckte Zeitungsartikel. „Die sind sechs Monate alt“, sagte Donal. „Sehen Sie sich die Details an.“ In dem Bericht wurde geschildert, wie ein berühmter Schauspieler auf der Bühne tot zusammengebrochen war, begleitet vom überraschten Applaus eines Teils des Publikums, das nicht erkannt hatte, wie verfrüht die Sterbeszene war. „Ein falsches Krankenwagenteam“, setzte Commissioner Vilnar hinzu, bevor Donal mit dem Absatz fertig war, „hat die Leiche abgeholt. Fünf Minuten, bevor die echten Notärzte kamen.“ „Thanatos“, sagte Donal leise. Commissioner Vilnar runzelte die Stirn; er hatte nichts für vulgäre Ausdrücke übrig. Donal überflog Berichte aus drei anderen Ländern in Transifica und einen aus Surinam. „Die Leichen. Das ist der gemeinsame Nenner.“ Donal blickte auf. „Jemand hat es auf die Leichen der Künstler abgesehen.“ „Ganz recht.“ Commissioner Vilnar deutete auf den dritten Bericht über private Leibwächter in einem rundum gesicherten Mausoleum, die erst schossen und auch danach keine Fragen stellten. Sie hatten zwei der Eindringlinge getötet und die anderen in die Flucht geschlagen. „Das war Trelway Boskin der Dritte. Sein Leichnam liegt noch in seinem Sarkophag.“ 10
Einer der toten Schauspieler, Sir Alyn Conroly, hatte es bis ins städtische Leichenschauhaus von Lorgonne an der feuchtkalten Südküste geschafft. Dort fanden forensische Seher mikroskopische Löcher, die von sich auflösenden toxischen Splittern hinterlassen worden waren. Doch als der Assistent eines Sehers am Morgen nach der Untersuchung das mit Blei ausgekleidete Schubfach aufzog, in dem Conroly hätte liegen sollen, war es leer. „Und es ist Mord“, sagte Donal. „Nicht bloß Leichenraub.“ „In den anderen Fällen wäre das vor Gericht nur müßige Spekulation.“ „Ja. Ich verstehe.“ Die Berichte umfassten ingesamt zwölf Todesfälle. In Surinam, wo eine beliebte ausländische Sängerin namens Shalaria zu Besuch weilte – nur Shalaria, kein Nachname –, war das Gleiche geschehen. Doch nach Shalarias Zusammenbruch hatten die städtischen Beamten, wie es den lokalen Gebräuchen entsprach, ihren Leichnam an die glänzenden AlbinoSchlangen verfüttert, die in der größten Kathedrale der Stadt lebten. Auf dem blau-weißen Foto ringelten sich die Schlangen gleichmütig um die Steinsäulen, während die Gemeinde betete. Von den verdauten sterblichen Überresten war nichts zu sehen. Der kopierte Artikel, verfasst von einem Journalisten aus Tristopolis, lobte die Stadtoberhäupter für 11
die Schnelligkeit, mit der sie Shalaria ohne die lästigen Verzögerungen, die mit forensischen Untersuchungen verbunden sind’ den Schlangen übergeben hatten. Zum Glück seien die Behörden vertrauenswürdig, hieß es weiter in dem Artikel, sonst könnte man sogar daran zweifeln, dass es überhaupt Shalarias Körper war’. Donal schob die Papiere beiseite. „Könnte Zufall sein.“ „Tja. Und wenn nicht?“ „Eine zwei Kontinente umfassende Verschwörung. Mit umfangreichen Ressourcen und rigoroser Planung.“ „Und dem brennenden Wunsch“, sagte Commissioner Vilnar, „die Glückszahl dreizehn zu erreichen?“ „Schon möglich.“ Donal tippte auf die Papiere. „Und selbst wenn nicht, wird diese Diva einen ganzen Tross von Leibwächtern brauchen. Kommt natürlich drauf an, wie gut der Schutz sein soll.“ Mit anderen Worten, wie viel Geld das Department auszugeben bereit war. Für einen Moment blitzte fast so etwas wie Belustigung in den Augen des Polizeichefs auf. „Sie wird in unserer Stadt in Sicherheit sein.“ Donal verstand diese Aussage so, wie sie gemeint war. „Wann fange ich an, Sir?“ „Schon geschehen.“
12
Auf dem Schreibtisch im Vorzimmer lag eine Aktenmappe für Donal bereit. Er schlug sie auf und nahm einen Brief heraus. „Den sollen Sie lesen.“ „Ja“, sagte Donal zu Eyes. „Danke.“ Höflichkeit gegenüber der Sekretärin des Polizeichefs war eine elementare Überlebenstechnik im Department. Donal warf einen Blick auf den Briefkopf, der die geprägten Laubfrosch-Insignien der Stadtverwaltung sowie das staatliche Salamander-und-Adler-Wappen trug. Bezirksrat von Xoram 99 Phosphorits Way Bezirk Xoram Tristopolis TS 66A-298-omega-2 Polizeipräsidium Tristopolis 1 Avenue of the Basilisks Tristopolis TS 777-000 42. Quatrember 6607 Betr.: Zusammenkunft mit Malfax Cortindo, Direktor der städtischen Energiebehörde Lieber Commissioner Vilnar, Es war mir ein Vergnügen, eine Zusammenkunft zwischen einem Ihrer Beamten und Direktor Cortindo von der städtischen Energiebehörde anzuberau13
men. Letztere Körperschaft gereicht unserer Stadt natürlich zur Ehre, und der Direktor zögerte nicht, mir zu versichern, dass er sich überglücklich schätzen würde, jede relevante technische Unterstützung zu gewähren. Ich habe mich mit Direktor Cortindo darauf verständigt, dass Lieutenant Donal Riordan sich gemäß Ihrer Anfrage vom 40. des Monats am Abend des 37. Quintember um neunzehn Uhr in der DowntownKernstation bei ihm einfinden wird. Dem Lieutenant wird alles zur Verfügung stehen, was er benötigt. Mit den freundlichsten Grüßen K.Finross Bezirksrat Kinley Finross PS: Beste Grüße an Ihre hochverehrte Frau Gemahlin. Sally und ich würden uns gern beim Styx-Ball revanchieren. Donal schaute auf seine Armbanduhr, die er im militärischen Stil innen am Handgelenk trug. Nicht einmal mehr eine Stunde bis zu dem Treffen. „Süßer blutiger Tod. Wie soll ich denn da rechtzeitig hinkommen?“ Eyes zuckte die Achseln, ohne sich von ihrer Konsole abzuwenden. „Tut mir leid. Ich habe die Vereinbarung nicht getroffen.“ 14
„Nein, natürlich nicht.“ Donal legte den Brief in die Mappe zurück. „Soll ich den hierlassen?“ „Ja, bitte.“ „Dann mach ich mich mal auf die Socken.“ Gertie brachte Donal rasch und wortlos zum sechsundzwanzigsten Stock hinunter: Donals Stimmung war ihm deutlich anzumerken. Er rauschte durch den Mannschaftsraum, ohne Levison zu beachten, der mit einem Stück Papier wedelte. Er hatte jetzt keine Zeit. In seinem Büro stieß Donal die Tür mit dem Absatz zu. „Todverdammt noch mal.“ Er klemmte sich den Telefonhörer ans Ohr, drehte die ersten vier Kombinationsräder, um eine interne Nummer zu wählen, und wartete. „Garage.“ „Hey, Sam. Hier ist Donal. Hast du da unten einen fahrbereiten Streifenwagen?“ „Tut mir leid, Lieutenant. O’Doyle und Zachinow haben den letzten genommen. Die anderen hängen noch an der …“ „Scheiße.“ Donal legte auf. Wie …? Ein dunkles Kabel hing vor seinem Bürofenster, und ihm fiel ein, dass die Fensterputzer diese Woche draußen arbeiteten. Ich muss wahnsinnig sein. Da er es jetzt jedoch wirklich eilig hatte, griff er in seine Schreibtischschublade, holte ein Paar schwarze 15
Flüssigmetall-Handschuhe heraus und zog sie an. Er löste die Verriegelung des Fensters, packte fest zu und öffnete es. Ein langer Weg bis nach unten. Ach, Scheiße. Er bewegte die Finger in den schwarzen Metallhandschuhen, überlegte einen Moment, stieg aufs Fensterbrett und stürzte sich hinaus. Die Handschuhe schlossen sich selbsttätig um das Seil, ein Geruch wie von brennendem Öl stieg auf, und die Luft war kalt, als Donals Füße etwa alle fünfzehn Meter die Wand berührten, eine wahnwitzige Abseil-Aktion … eine Frau hinter irgendeinem Fenster sprang zurück, den Mund zu einem unhörbaren Schrei aufgerissen. Die Handschuhe griffen jetzt fester zu und bremsten Donals Abstieg – Thanatos sei Dank! – erst im letzten Moment, doch seine Füße setzten sanft auf. Er war unten. Ein purpurrotes Taxi wurde langsamer, als der Fahrer Donal erblickte, beschleunigte dann aber wieder. „Hey!“, rief Donal. Im selben Augenblick schoss eine dunkle Gestalt aus dem Raum hinter der Treppe des Präsidiums auf die Straße. Bernsteinfarbene Augen loderten. Das Taxi stoppte mit kreischenden Bremsen und schaukelte trotz seiner harten Federung. Donal sah das Bild, das sich ihm bot, einen Moment lang an, dann steckte er seine Handschuhe ein und marschierte zu 16
dem Taxi. Sein Herz klopfte immer noch heftig von der Anstrengung und dem Adrenalin. Er öffnete die Beifahrertür, hielt noch einmal inne. „Danke, FenSieben!“ Der riesige Todeswolf grinste. Er saß vor dem Fahrzeug auf den Hinterbeinen. Dann nickte er und trabte zu seinem Platz im Schatten zurück, während Donal ins Taxi stieg und die Tür schloss. „Polizeinotfall“, sagte er. „Äh … Ja?“ „Tausendsiebte Straße. Und ein bisschen Tempo, bitte.“ Der Fahrer drehte sich um. Eine nicht angezündete schwarze Zigarre hing ihm von den Lippen. „Polizei?“ „Was ist, wollen Sie meine Handschellen sehen? Oder meine Knarre?“ „Äh … Nein, Chief.“ Der Fahrer ließ den Motor aufheulen und fuhr los. „Nicht nötig.“ „Gut.“ Donals Stimme war leise. „Das ist gut.“ An der Ecke Avenue of the Basilisks und Hellvue Boulevard schaute eine weißhäutige Frau in einem blassgrauen Kostüm dem Taxi nach. Ihr gefiel die Art und Weise, wie er das Gebäude direkt verlassen hatte, ohne sich sonderlich große Gedanken darüber zu machen, was die Leute dachten. „Das ist eine Eigenschaft, die nützlich sein könnte.“ Ein Straßenkehrer in seiner schwarzen Kluft hielt auf der anderen Straßenseite inne. Er fragte sich, 17
weshalb eine so blasse, hübsche Frau Selbstgespräche führte. Aber dann erhaschte er nur für eine Millisekunde eine Bewegung in der Luft. Er zuckte zurück. Manche Dinge soll man nicht direkt anschauen. Der Straßenkehrer nahm einen Besen von seinem Wagen und machte sich daran, den Rinnstein zu fegen. Er blickte nicht mehr auf und schaute auch nicht zur Seite. Nicht einmal aus dem Augenwinkel. *Meinst du, er ist ehrlich?*, flüsterte die Luft. Die Frau in dem blassgrauen Kostüm nahm eine Puderdose aus ihrer Handtasche und klappte sie auf. Der Spiegel war zu einem Drittel silbern, die restlichen zwei Drittel waren schwarz, spiegelten jedoch trotzdem: noch jede Menge Zeit. Sie ließ die Puderdose zuschnappen, legte sie zu ihrer platinbeschichteten Pistole und hängte sich die Tasche über die Schulter. *Na. was ist?* „Ich weiß nicht“, sagte sie. „Glaubst du, wir könnten ihn gebrauchen, wenn er’s nicht ist?“ *Nein.* „Ich auch nicht.“ Die Frau schaute die dunkle Straße entlang, die in der Ferne auf einen Fluchtpunkt zulief, und beobachtete, wie das purpurrote Taxi scharf nach links abbog und verschwand. „Wenn er nicht überlebt, spielt es sowieso keine Rolle.“ *Ich dachte, ich wäre hier die Schwarzseherin.* Die Frau drehte sich um und ging zum nächsten schwarzen Hydranten. Ihr dunkler, mit Heckflossen 18
ausgestatteter Wagen – eine Vixen – wartete am Randstein. Eine nur andeutungsweise sichtbare Kräuselung in der Luft blieb an ihrer Seite. *Vielleicht hast du ja auch Angst, dir zu erlauben, ihn zu mögen. Ist es das?* Die Frau blieb stehen. Ihre Finger berührten den Türgriff des Wagens. Sie schaute nach oben. „Bin ich so leicht zu durchschauen?“ Eine weitere Kräuselung, die die Konturen der Kunstgalerie hinter ihr veränderte. *Soll das ein Scherz sein?* „Also, ich habe gelacht.“ Die Frau stieg in den Wagen und schlug die Tür zu. Gleich darauf öffnete sie von innen die Beifahrertür, wartete ungefähr eine halbe Minute, langte dann hinüber und zog sie zu. „Fahren wir hin und legen wir uns auf die Lauer. Wenn Lieutenant Riordan nicht wieder auftaucht, haben wir jemanden, dem wir seine Ermordung anhängen können. Alles hat seine lichten Seiten, Xalia. Wusstest du das nicht?“ *Ich ziehe die Dunkelheit vor, Laura.* „Wem sagst du das.“ *Du nicht?* Der Wagen glitt auf die Straße hinaus. Zwei riesige Steinsäulen ragten vor ihnen auf. Wenn man den Kopf in den Nacken legte, sah man vor dem Hintergrund des dunklen, purpurroten Himmels, dass jede Säule von einem Schädel gekrönt war, der ein 19
Ouroboros-Stirnband trug, eine abgeflachte MöbiusSchlange, die sich um ihn schlang und ihren eigenen Schwanz verschluckte. Wenn man den Blick nur ein kleines Stück senkte, hatte man das gewaltige, schwere schwarze Eisentor und die riesigen Granitmauern vor Augen, die sich zu beiden Seiten erstreckten und den DowntownKernkomplex umschlossen. Das Taxi hielt, klein in der verkürzten schwarzen Auffahrt, die an dem Tor endete. Hinter dem Taxi, jenseits der Straße, erhoben sich die langgestreckten Blocks alter, kahler Gebäude; leere Nischen zeigten, wo Gargylen gethront hatten, bevor sie alle miteinander verschwunden waren. „Herrje“, sagte der Taxifahrer leise. „Dieser Ort …“ „Drücken Sie auf die Hupe“, sagte Donal. „Oh, ich möchte nicht …“ „Na los.“ Unter der purpurroten Motorhaube des Taxis stieg ein langgezogenes Geheul hervor. „So. Sind Sie nun …“ Ein Knirschen ertönte. Das Taxi erbebte, als die Torflügel sich in Bewegung setzten und beiseite glitten. Donal blieb ruhig, während der Fahrer zwei, drei Mal schluckte und das Taxi dann vorwärtsrollen ließ. Als sie auf den riesigen Hof fuhren, hatte der Fahrer die Augen beinahe geschlossen, Donal aber musterte die Umgebung, betrachtete die Schießscharten in den Mauern und registrierte die Innentreppen, die zu Wachtürmen führten. 20
Dann wurde das Taxi langsamer und kam auf einer kreisrunden Messingplatte im Zentrum des Hofes zum Stehen. Der Durchmesser der Messingscheibe betrug vielleicht die doppelte Länge eines Lieferwagens. „BITTE DEN MOTOR ABSTELLEN!“ Die Stimme hallte über den Hof. „Mannomann …“ „Machen Sie schon.“ Kaum hatte der Fahrer den Motor ausgeschaltet, erbebte das Taxi erneut. Die Hofmauer glitt zur Seite … „Gütiger Hades.“ … nur dass sich nicht die Mauer bewegte, sondern das Taxi und die riesige Messingscheibe, auf der es stand; sie rotierte langsam. „Ist die Handbremse angezogen?“, fragte Donal. „Ja.“ Aber der Fahrer zerrte noch einmal kräftig am Hebel. „Ja, alles okay.“ Die Mauer bewegte sich jetzt schneller, und man konnte die Sinkbewegung spüren, mit der sich die Messingscheibe abwärts schraubte. Der Fahrer schlug die Hände vors Gesicht und versuchte, die konkave, mit einem Innengewinde versehene Mauer, die vor den Fenstern emporstieg, nicht anzuschauen. Die Scheibe schraubte sich weiter mitsamt dem Taxi in die Erde hinein. Der Abstieg in den Schacht dauerte nach Donals Uhr sieben Minuten. Dann verschwanden die Wände, und sie befanden sich in einem gewaltigen unterirdi21
schen Raum. Die große Schraube beförderte das Taxi weiter nach unten, zum Boden des höhlenartigen Komplexes. Breite, schattige Gänge trennten die riesigen, quadratischen Steinkegel. Selbst die Dunkelheit schien zu flackern, und das war nicht unbedingt ein Produkt von Donals Fantasie. Dies waren nämlich die Nekrofusionsmeiler, die Reaktoren, welche die Energieversorgung der Stadt sicherstellten und ihre Bewohner am Leben erhielten. Als die Messingscheibe schließlich langsamer wurde und zum Stehen kam, murmelte der Fahrer in einem fort ein Gebet vor sich hin: „Heiliger Magnus, Töter des Bösen, enthaupte meine Feinde und schütze mich. Heiliger Magnus, Töter des …“ Donal zückte seine Brieftasche und zählte dreißig Florins ab, wie es die Nadel auf der Skala am Armaturenbrett anzeigte. „Ich brauche eine Quittung.“ „… Feinde und was? Wie war das?“ „Eine Quittung. Bitte.“ „Oh. Klar.“ Der Fahrer zog einen Quittungsblock unter dem Armaturenbrett hervor und suchte nach einem Stift. „Hinter Ihrem Ohr“, sagte Donal. „Hm? Oh.“ Der Fahrer fand den Stift und zog die Kappe ab. Er versuchte zu schreiben, während er immer wieder zur Windschutzscheibe und den Seitenfenstern hinausschaute. Seine Hände zitterten. 22
„Hören Sie …“ „Was?“ „Nehmen Sie die Quittung, Mann. Tragen Sie den Betrag selber ein, okay?“ Donal gab ihm die Florin-Scheine und nahm die Blankoquittung. „In Ordnung. Wenn Sie oben auf mich warten – draußen auf der Straße, wohlgemerkt –, kriegen Sie noch mal fünfzig für die Rückfahrt.“ Der Fahrer starrte Donal im Spiegel an und nickte dann schnell. Draußen kamen Gestalten in Overalls auf sie zu. „Sie werden nicht da sein“, sagte Donal. „Mann, ich …“ „Lügen Sie lieber nicht.“ Aber Donal hatte zu tun. Er öffnete die Tür und stieg aus. „Und halten Sie sich brav an die Geschwindigkeitsbegrenzung.“ Er schlug die purpurrote Tür zu und trat von der Messingscheibe auf massiven Stein. Hinter ihm begann sich der Messingzylinder wieder nach oben zu schrauben. Donals Aufmerksamkeit galt jedoch den drei Männern in grauen Overalls. Er bemerkte den Totenschädel mit der Schlange auf ihrer Brust, den ruhigen Ausdruck in ihren Augen … und die schützenden Ohrstöpsel aus Platin, die feucht glänzenden bernsteinfarbenen Westen unter ihren Overalls. „Ich möchte zu Malfax Cortindo.“ Die Messingsäule hatte das Dach der Höhle erreicht und war jetzt eine massive, rotierende Säule, die das Taxi durch festes Erdreich nach oben trug. 23
„Selbstverständlich, Sir. Zu Direktor Cortindos Büro geht es hier entlang.“ „Woher wissen Sie, dass er mich empfangen wird?“ „Sie stehen in seinem Terminkalender“, sagte der größte der drei Männer. „Lieutenant Riordan.“ Donal hatte ihnen keinen Ausweis gezeigt. „Das ist schön“, sagte er. Der große Mann machte eine Handbewegung. „Sir?“ „Gehen Sie vor.“ Tatsächlich gingen die Männer neben und hinter Donal her. Sie eskortierten ihn eine breite Gasse mit schwarzem Boden entlang, die zwei Reihen von Nekrofusionsmeilern teilte. Trotz der Ummantelung aus Blei und Kohlenstoff spürte Donal eine Verzerrung in der Luft, und seine Lungen leisteten beim Gehen Schwerarbeit. „Gab es hier schon mal ein Leck?“ Donals Stimme klang leiser, als er beabsichtigt hatte. Keiner seiner Begleiter antwortete; sie gingen schweigend dahin. Nur das Summen der Reaktoren war zu hören, überlagert von Infraschallgeräuschen, bei denen sich die Eingeweide fast verflüssigten; dazu ein stechender Ozongeruch, der sich in Donals Nasenlöchern festsetzte; und noch etwas anderes … ein trockenes und zugleich feuchtes Gefühl, als würde ihm vergiftete Seide sanft über die Haut gezogen. Hier zahlten die Toten den Tribut für die Annehmlichkeiten ihres Lebens. 24
Und zwar sehr lange. „Diese Treppe hinauf, Sir. Oben erwartet Sie die Assistentin des Direktors.“ Bis in alle Ewigkeit. „Danke.“ Es war eine gewöhnliche Wendeltreppe aus Eisen. Donal machte sich an den Aufstieg.
25
ZWEI Am Kopfende der Wendeltreppe war ein Absatz, ebenfalls .aus schwarzem Eisen. In die Steinwand war eine kreisrunde Tür aus poliertem Metall mit einer Totenschädel-und-Ouroboros-Intarsie aus glänzendem Messing eingelassen. Die Tür schwang mit einem leisen, saugenden Geräusch nach innen auf. „Guten Morgen, Lieutenant.“ Die grauhaarige Sekretärin zog die Schultern nach vorn, sodass ihre Brust sich nach innen wölbte, als hätte sie Angst, zu viel Raum einzunehmen. „Direktor Cortindo wird Sie gleich empfangen.“ „Das ist nett von ihm.“ Donal musterte das Vorzimmer. Die Decke war niedrig, und in Wandnischen brannten Kerzen mit schwarzen Flammen; die eigentliche, indirekte Beleuchtung kam jedoch von eingelassenen Lichtleisten am Rand des Fußbodens. Er zog seinen Mantel aus und hängte ihn an den Garderobenständer aus schwarzem Eisen. „Kann ich Ihnen eine Tasse Tee anbieten, Lieutenant? Wir haben schwarzen Surinam oder roten Axil.“ „Nein, danke.“ Donal hätte die Frau am liebsten gebeten, sich aufzurichten und tief durchzuatmen. Er fragte sich, ob sie schon immer so einen krummen Rücken gehabt oder ob das dunkle, lastende Gewicht dieses Ortes sie mit den Jahren niedergedrückt hatte. 26
Er lächelte, aber die Frau schaute unsicher drein, während sie drei Glasschalter umlegte und wartete. Die große Stahltür zum Büro ihres Chefs schwang auf. Der Mann, der hinter dem blauen Glasschreibtisch aufstand, war vielleicht sechzig Jahre alt, mit einem grauen Ziegenbärtchen. „Lieutenant Riordan. Freut mich, Sie kennenzulernen.“ Das also war Malfax Cortindo. Er trug ein silbernes Halstuch statt der Krawatte und einen Anzug aus einem weichen, dunklen Stoff. Ein Gehstock lehnte neben seinem Sessel: ebenholzschwarz, mit einem schlichten silbernen Griff statt des Schädels mit Wurm, den Donal eigentlich erwartet hatte. „Danke gleichfalls.“ Sie gaben sich die Hand. Die von Cortindo war glatt – ein Hauch von Flieder lag in der Luft –, aber kräftig. Donal kam zu dem Schluss, dass sich hinter der Aura von Eleganz noch interessantere Dinge verbargen. „Wollen Sie nicht Platz nehmen?“ „Danke.“ Donal setzte sich. Auf der anderen Seite des Schreibtischs ließ sich Malfax Cortindo in seinem reich verzierten Sessel mit gebogener Lehne und Armstützen nieder. Dann schlug er die Beine übereinander und legte die Fingerspitzen aneinander. „Es ist mir wirklich ein Vergnügen, Ihnen behilflich sein zu können. Ihr Besuch ist eine Abwechslung von der üblichen Routine, Lieutenant. Zumindest dafür bin ich Ihnen dankbar.“ 27
„Und das Department bedankt sich für Ihre Hilfsbereitschaft.“ Donal und Cortindo sahen sich an. In diesem großzügig mit Schnitzereien und anderen Verzierungen ausgestatteten, isolierten Büro war das Geräusch der Reaktoren nur ein Summen im Hintergrund. Die miteinander verbundenen Metallknochen einer goldenen Uhr, die eine winzige Sichel schwangen, schnitten die halben Sekunden von einem senkrechten Faden einer zähen bernsteinfarbenen Flüssigkeit ab, zerschnitten den Faden in einzelne Tropfen. Sie fielen in eine Schale: schnick-schnack, schnick-schnackMalfax Cortindo überwand den toten Punkt. „Mir ist allerdings nicht ganz klar, wie ich Ihnen helfen kann.“ Donal stieß den Atem aus. „Soll ich Ihnen die Wahrheit sagen? Mir auch nicht.“ „Wenn das so ist“ – dies elegante leise Lachen! – „kann ich Sie zu einem Brandy überreden, während wir es herauszufinden versuchen? Ich habe Sintro Mundo, importiert aus Alfrikstan.“ „Nein, danke.“ Nicht an diesem Ort. „Ich muss darauf achten, dass ich keine näheren Einzelheiten über diesen Fall preisgebe.“ „Natürlich. Verstehe.“ „Und obendrein geht es eher um die Verhinderung eines Verbrechens als um die Lösung eines Falles.“ Wenn Donal mit seinen Kollegen sprach, redete er niemals von Lösung’; er hatte seine Arbeit nie als 28
eine Art Rätsel oder Spiel betrachtet. „Aber in anderen Städten sind ein paar bekannte Persönlichkeiten ermordet worden …“ Etwas veränderte sich in Cortindos Augen. „Ermordet? Das ist eine ernste Angelegenheit.“ „Ja.“ Donal verkniff sich, was er sagen wollte: dass er sonst nicht hier wäre. „Und in mehreren Fällen sind die Morde an öffentlichen Orten geschehen, vor Publikum. Die Verbindung besteht darin, dass jemand die Leichen mitgenommen hat, manchmal auf geradezu tollkühne Art und Weise.“ Malfax Cortindo stellte die Beine wieder nebeneinander und stützte sich auf den dunkelblauen Schreibtisch. „Das klingt nach einer groß angelegten Verschwörung.“ „Nein, nein“, log Donal. „Ich wollte damit nur sagen, dass hin und wieder ganz bestimmte Verbrechen begangen werden. Verbrechen, die wir erkannt haben und gerne verhindern möchten.“ „Interessant.“ Malfax Cortindos Blick ruhte unverwandt auf Donal. „Interessant … Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie die Verantwortung für Maria daLivnovas Sicherheit übernehmen werden?“ „Wie bitte?“ Donal setzte sich auf seinem Stuhl aufrecht hin. „Wer hat etwas von der gesagt?“ „Oh – Sie, Lieutenant. Sie haben mir jedenfalls einen deutlichen Hinweis gegeben und ihn gerade noch einmal bestätigt.“ „Das ist kein Spiel.“ „Ich war schon immer der Ansicht, dass man mit 29
Hilfe von spielerischem Denken wesentlich bessere Arbeit leisten kann. Aber da sind wir vielleicht verschiedener Meinung … Soll ich Ihnen erklären, wie ich darauf gekommen bin?“ „Warum nicht.“ „Als Sie Morde an öffentlichen Orten und vor Publikum sowie Leichenraub erwähnt haben, deutete das für mich darauf hin, dass die … Opfer … Schauspieler oder Künstler waren. Die letzte Schlussfolgerung lag dann geradezu auf der Hand.“ „Sie meinen das mit der Diva.“ „Ja, natürlich, ich meine Maria daLivnova. Ihre bevorstehenden Auftritte sind der Höhepunkt der aktuellen Saison, aber das wissen Sie ja bestimmt.“ „Klar.“ „Äh … kein Opernfreund, Lieutenant?“ „Ich singe manchmal unter der Dusche.“ Malfax Cortindo machte eine einladende Handbewegung zu seinem Büro hin. „Schauen Sie sich um. Sehen Sie diese Statuette? Sie ist surinesisch, vielleicht vierhundert Jahre alt. Und dieses Gemälde, das dunkle da, hat Turinette im letzten Monat vor seinem Tod geschaffen. Und dieses als Stickerei ausgeführte Gedicht – wenn Sie genauer hinschauen, werden Sie feststellen, dass die Verse aus Zar Cuchons Epos Gladius Mortis stammen, dem Teil, wo er im Wald ist und …“ „Faszinierend.“ Donals Interesse galt weniger den Statuetten und Stickereien als vielmehr Malfax Cortindo selbst. Der 30
Schwall wohlklingender Worte konnte nicht verbergen, mit welch beachtlichem intuitiven Sprung Cortindo Bühnenkünstler als Opfer von Mord und Leichenraub identifiziert hatte. Aber der Mann war nicht so leicht zu knacken, dafür besaß er zu viel Selbstbeherrschung … und außerdem sollte er, Tod noch mal, ein Helfer und kein Verdächtiger sein. „Der Punkt ist, Lieutenant, die Menschen, die diese Werke geschaffen haben, waren etwas ganz Besonderes. Auch wenn sie es selbst nicht wussten, ihre Träume waren unendlich kostbar – mit keinen materiellen Werten aufzuwiegen, die ich kenne.“ „Wenn Sie es sagen.“ „Vielleicht sollten wir uns die Anlage ansehen. Das dürfte zumindest ansatzweise erklären, was ich meine.“ Donals Begeisterung über diesen Vorschlag hielt sich sehr in Grenzen. „Gute Idee“, sagte er. „Als Erstes möchte ich Ihnen einen Überblick geben.“ Ohne aufzustehen, strich Malfax Cortindo mit der Hand über den blauen Glasschreibtisch. Etwas kräuselte sich im Glas. „Bitte sehr.“ Ein leises Ächzen ertönte, dann setzte sich die Wand rechts von Donal in Bewegung. Der gewaltige, fast meterdicke Granitblock glitt langsam in eine Vertiefung und gab den Blick auf die Kavernen dahinter frei. Sie befanden sich hoch oben, knapp unter der Höhlendecke. Unten sah man sieben Reihen von 31
Reaktoren; weitere verbargen sich hinter Stützpfeilern und Wänden: Dies war kein einzelner Raum, sondern ein ganzes Höhlensystem. „Sehen Sie, dort unter dem Boden“ – Malfax Cortindo zeigte hin – „wo die Luft zu wabern und zu zittern scheint?“ „Ahm … ja, ich sehe es.“ „Dort verlaufen die Stromleitungskanäle. Der Nekroflux selbst muss auf das Innere der Meiler beschränkt bleiben, sonst würde sich eine Überlagerung aufbauen, die katastrophale Ausmaße annehmen könnte.“ „Sie meinen, eine Explosion?“ „Genau.“ Malfax Cortindo ergriff seinen eleganten Gehstock und stand auf. „Wollen wir nun hinuntergehen und uns alles ansehen?“ Auf der untersten Ebene schien die Luft dicker zu sein, und Donal spürte so etwas wie ein schwebendes Summen in seinem Kopf. Die Reaktoren waren allesamt größer und massiver, als sie von Malfax Cortindos Büro aus gewirkt hatten. Arbeiter in grauen Overalls liefen unablässig zwischen den Meilern herum, und Donal sah die Stressfalten, die sich in ihre Gesichter gegraben hatten: der Preis permanenter Wachsamkeit. Etwa zehn Minuten gingen Donal und Cortindo einen breiten Gang entlang. Sie unterhielten sich kaum. Die Anlage war weitaus umfangreicher, als Donal geglaubt oder für möglich gehalten hatte. 32
Schließlich kamen sie zu einem Reaktor, dessen Ummantelung offen war. „Keine Angst“, sagte Malfax Cortindo. „Er ist gereinigt und dekontaminiert worden und geht bald wieder ans Netz.“ Sieben Männer mit schweren Schutzanzügen und Helmen arbeiteten an der Ummantelung. „Könnte ich den Kopf in den Hohlraum stecken?“, fragte Donal. „Nur, um mal reinzuschauen.“ Malfax Cortindo schüttelte den Kopf. „An Ihrer Stelle würde ich das nicht tun, Lieutenant.“ „Haben Sie nicht gesagt, er sei gereinigt worden?“ „Sauberkeit“ – ein Viertelsekundenlächeln! – „ist relativ. Alles hier hat ein Gedächtnis. Das ist ein Teil des Problems.“ Einer der Arbeiter hielt inne und versteifte sich. Dann klappte einer seiner Kollegen einen mit Blei ausgekleideten Kasten auf. „Okay, Karl. Ich bin so weit.“ Donal wollte näher herantreten, doch Malfax Cortindo berührte ihn am Ärmel. „Ich glaube, wir sollten wirklich Abstand halten.“ „In Ordnung.“ Der gebückte Arbeiter, Karl, trug dicke Handschuhe mit Stummelfingern, die zu seiner Schutzausrüstung gehörten. Das machte die Feinarbeit bestimmt nicht leichter, aber nach ein paar Sekunden richtete er sich auf uhd trat aus der hohlen Reaktorummantelung zurück. Dabei trug er etwas in der offenen Hand. Es war ein grauer Splitter, ein Knochensplitter, mehr nicht! 33
Aber Donal spürte sofort, wie sich die Übelkeit in seinen Magen krallte, und der Boden schien zu schwanken. „Kommen Sie.“ Malfax Cortindos Griff um seinen Oberarm war fest. „Lassen wir diese Herren ihre Arbeit erledigen.“ Geschrei, eine unausgegorene Mischung von Gesichtern und Berührung, Weichheit und dem Gefühl platzender Eingeweide, Tränen und dem Gestank von … Dann lag der Reaktor ein ganzes Stück hinter ihnen, und die Luft wirkte klar, wenn auch immer noch dick. „Was zum Hades war das?“ „Tut mir leid, Lieutenant. Der Splitter war größer, als ich angenommen hatte, sonst wäre ich mit Ihnen sofort von dort weggegangen.“ „Ein Knochensplitter? Nur ein Splitter?“ „Ja … Ein Fragment, das sehr lange zum Betriebsstoff des Reaktors gehört hat. Ist Ihnen klar, was in diesen Dingern geschieht?“ „Wir haben das Thema in der Schule gestreift“ – Donal wischte sich das Gesicht mit dem Handrücken ab – „aber das ist verdammt lange her.“ „Die schönste Zeit des Lebens. Erzählen wir das nicht immer unseren Enkeln?“ Donal bezweifelte, dass Cortindo und er dieselbe Art Schule besucht hatten. An manchen Lehranstalten braucht man nicht nur Köpfchen, sondern auch Fäuste, um seinen Abschluss zu machen. 34
Malfax Cortindo deutete mit seinem Stock auf den nächsten Reaktor. „Für die kritische Masse eines einzigen Meilers“, sagte er, „braucht man die Gebeine von zweitausend Leichen. Wir reden von einem resonanten Hohlraum, in dem stehende Nekroflux-Wellen vibrieren und stärker werden und eine Fülle von Obertönen abgeben.“ Die sterblichen Überreste von zweitausend Menschen, nur in diesem einen Reaktor. „Okay.“ Donal kniff die Augen zusammen und kämpfte seine natürliche Furcht und Traurigkeit nieder. „Zweitausend, hmm. Ganz schön viele.“ „Es herrscht kein Mangel an Rohmaterial, Lieutenant.“ Nach einer kurzen Pause sagte Donal: „Kann ich mir denken.“ Auf dem Rückweg zur Treppe erzählte ihm Malfax Cortindo mehr über den Prozess, der all dem zugrunde lag. Donal bemühte sich, ihm zu folgen. Er hatte keine Ahnung, ob irgendetwas davon für seinen Job relevant war. Cortindo erklärte, dass die Mikrostrukturen lebender Knochen von den Wahrnehmungen und Handlungen des Körpers verändert werden, der sie umschließt. Doch nach dem Tod, wenn selbige Knochen Bestandteil eines Meilers sind, stöhnt und heult der Nekroflux, dessen Wellen von der inneren Struktur der Knochen gebeugt werden, und erweckt die Erinnerungen der Toten wieder zum Leben. 35
„Aber nicht in einem zusammenhängenden Ganzen“, sagte Malfax Cortindo. „Es sind nur bunt gemischte Erinnerungsfragmente von zweitausend Individuen. Dieses Konglomerat denkt oder empfindet in Wahrheit gar nichts.“ Donal blieb stehen und schaute zu den langen, geraden Reihen der Reaktoren zurück. „Nicht einmal Schmerz?“ „Nein.“ Malfax Cortindo sah ihn lange an, dann tippte er mit seinem Stock auf den Boden. „Das erzähle ich zumindest jedem, der mich offiziell fragt. Verstehen Sie, Lieutenant?“ Donal biss sich auf die Lippen. Er stellte sich vor, wie die Stadt reagieren würde, wenn es auf einmal keinen Strom, keinen Verkehr und folglich keine Nahrungsmittel mehr in den Geschäften gäbe. „Verstehe.“ An der Wand neben der Treppe befand sich eine Reihe in Messing gefasster, mit Glas bedeckter Anzeigeinstrumente. Die Skala ganz links trug die Bezeichnung MNf 2 , und Malfax Cortindo blieb stehen, um einen Blick darauf zu werfen. Die mit GW gekennzeichnete Skala daneben zeigte die Gesamtmenge des produzierten Stroms in Gigawatt an, wie Donal vermutete. „Was misst die erste Anzeige?“, fragte er. „Die mittlere Flux-Rate in allen Meilern“, antwortete Malfax Cortindo, „in Meganekronen pro Quadratfuß.“ „Oh. Natürlich.“ 36
„Hmm. Wollen wir wieder nach oben gehen“ – wieder ein elegantes Lächeln – „und eine Tasse Tee trinken?“ Diesmal nahm Donal den angebotenen Tee an. Die grauhaarige Sekretärin brachte ihn auf einem Tablett in Malfax Cortindos Büro; das Geschirr bestand aus bestem Knochenporzellan. Donal, der beim Hades hoffte, dass zur Herstellung der Tasse keine echten Knochen verwendet worden waren, fasste sie an dem zerbrechlichen Henkel und genehmigte sich einen Schluck von dem dunklen, starken Tee. Es war der beste, den er je getrunken hatte. „Der ist gut.“ Vorsichtig stellte er die Tasse wieder auf der Untertasse ab. „Sehr gut sogar.“ „Freut mich, dass er Ihnen zusagt, Lieutenant. Nun … wenn Sie Ihren Tee ausgetrunken haben, möchte ich Ihnen noch etwas zeigen. Keine Angst, dazu sind keine weiteren Spaziergänge erforderlich.“ Ich habe keine Angst, war Donal versucht zu sagen. Stattdessen trank er noch einen Schluck Tee. Wunderbar. „Warum nicht jetzt gleich?“, sagte er. „Was immer es ist.“ „Wenn Sie darauf bestehen … ich bitte um einen Moment Geduld.“ Cortindo ging zu dem Bücherregal, das die gesamte Rückwand einnahm. Er schaute einen Moment lang auf die Buchrücken und tippte dann mit seinem Stock in einem Muster auf die Borde, dem Donal nicht folgen konnte. 37
Malfax Cortindo drehte sich um. Im selben Moment begann ein kreisrunder Teil des mit Teppichen ausgelegten Bodens zu rotieren, und ein Zylinder von einem knappen Meter Durchmesser stieg bis auf Brusthöhe empor und blieb stehen. „Voila.“ Cortindo lehnte seinen Stock an den Schreibtisch und legte die Fingerkuppen in messingfarbene Vertiefungen in dem Metallzylinder. Kurz darauf sprang an der Seite des Zylinders eine Stahlklappe auf. „Okay, das müssen Sie sich anschauen.“ Es war eine Platinschatulle mit goldenem Verschluss, vielleicht so groß wie ein Kasten für eine antike Pistole. Sie sah schwer aus, und Donal fragte sich, was sie enthalten mochte. In der Art, wie Malfax Cortindo die Schatulle hielt, den Verschluss aufschnappen ließ und den Deckel öffnete, lag so etwas wie Ehrfurcht. Er drehte die Schatulle um, damit Donal hineinschauen konnte. Auf scharlachrotem Samt lag ein vertrockneter Knochen. „Sie können ihn anfassen“, sagte Malfax Cortindo, „aber …“ Zu spät. Etwas hatte Donals Fingerspitzen bereits nach vorn gezogen, als hätte er die Kontrolle über sein neuromuskuläres System eingebüßt. Er berührte den Knochen und war unrettbar verloren. Es war eine Form des Ertrinkens. Die sanften Brecher eines silbernen Meeres liefen 38
über einen pinkfarbenen Strand, während über ihm durchsichtige Vögel flogen und Arien von solcher Herrlichkeit sangen, dass Donal die Tränen kamen. Landeinwärts gab es Blumen auf fantastischen Strukturen aus grünem Glas, vielleicht Pflanzen, vielleicht aber auch Kunst, und jedes noch so winzige Detail ihrer Textur war faszinierend. Hier glänzte ein Wassertropfen wie eine … Etwas packte ihn. Nein! … ganz eigene kristalline Welt, und überall war das Gewebe des Seins tief von Farbe durchwirkt, seltsame nackte Gestalten bewegten sich in der Ferne, und die Landschaft füllte sich mit … Ein weiteres Zupfen, das er abzuwehren versuchte. … Bändern aus leuchtendem Gelb, Rot und Indigo, die Bäume … Waren fort. Alles war fort. „NEIN!“ Donal warf sich auf Malfax Cortindo, der in einer täuschenden Kreisbewegung zurücktrat und ihm auswich. „Geben Sie ihn …“ „Tut mir leid.“ Cortindo beschrieb mit eleganter Beinarbeit eine Spirale erst in die eine, dann – mit einer geschickten Körperdrehung – in die andere Richtung. Auch Donals nächster Angriff ging ins Leere. „Geben Sie …“ Donal beugte sich mit pfeifendem Atem aus der Taille nach vorn und rang heftiger nach Luft als nach einem Fünfzehn-Kilometer-Lauf. Er kniff die Augen 39
zusammen – Salzschweiß blendete ihn halb – und wischte sich das Gesicht ab. Was zum Tod ging hier vor? „Sie haben sich in die Träume eines Künstlers verirrt“, sagte Malfax Cortindo. „Aber Sie …“ Cortindos schwere Handschuhe mussten ihn vor dem Einfluss des Knochens abschirmen. Seine fließenden Bewegungen wirkten täuschend langsam, als er den Knochen wieder in die Platinschatulle legte und den Deckel zuklappte. Sofort schien die Luft im Büro klarer zu werden. Donal taumelte zum Besucherstuhl zurück und setzte sich. „Oh, Hades.“ Er nahm die Tasse und trank einen großen Schluck. „Igitt!“ Der Tee war kalt. „Tut mir leid, Lieutenant. Aber Sie mussten es mit eigenen Augen sehen.“ Malfax Cortindo stellte die Schatulle wieder in die Öffnung des Zylinders. „Wenn Sie es nicht selbst erlebt hätten, wären meine ganzen Erklärungen für Sie nur fadenscheinige Worte, die Sie sofort wieder vergäßen.“ „Ich habe ein gutes Gedächtnis.“ Donal stellte die Tasse mit säuerlicher Miene ab. „Wie kommt es, dass der Tee so schnell …“ „Erinnern Sie sich, wie viel Zeit in Ihrem Traum vergangen ist?“ „Wie bitte?“ Donal verdrehte das Handgelenk und schaute auf seine Armbanduhr. „Nein. Das ist …“ 40
Es war 22 Uhr 63. „Unmöglich.“ Kaum hatte Malfax Cortindo die Metallklappe geschlossen, versank der Zylinder wieder im Boden. „Unmöglich, Lieutenant? Gewiss nicht.“ Malfax Cortindo hatte recht, denn Donal sah keinen Grund zu der Annahme, dass man seine Armbanduhr verzaubert oder mit Hilfe irgendeines unheimlichen Verfahrens die Wärme aus seiner Teetasse gesaugt hatte. Stattdessen ließ sich nur eine einzige Schlussfolgerung ziehen. Er war fast drei Stunden lang in den Knochenträumen versunken gewesen. Malfax Cortindo nahm wieder hinter seinem dunkelblauen Glasschreibtisch Platz und zog die schweren Schutzhandschuhe aus. „Ich hätte mir den Knochen zurückholen können“, sagte Donal. „Was wäre dann mit mir geschehen?“ „Mein lieber Lieutenant, ich bin von Kindesbeinen an in pakua ausgebildet worden, einer sanften Kunst, die es mir ermöglicht hat, Ihren – äh – nicht sonderlich zielsicheren Sprüngen auszuweichen.“ „Das war wie eine Entführung aus …“ Donal ließ seine Stimme verklingen. Aus dem Paradies. „Ich weiß, und Ihr Trancezustand hat mir natürlich einen Vorteil verschafft. Wäre das Risiko größer gewesen, hätte ich Wachleute bei mir gehabt.“ Es klang, als erwartete Cortindo einen Dank von Donal. 41
Stattdessen öffnete Donal sein Jackett und ließ es aufklaffen, während er sich zurücklehnte, sodass man die Magnus in ihrem Schulterhalfter sah. „Wollen Sie mir erklären, was gerade geschehen ist?“ „Ah. Vielleicht sollte ich mich für die drastische Demonstration entschuldigen …“ „Ja, das sollten Sie vielleicht.“ „… aber ich versichere Ihnen, es war nur zu Ihrem Besten. Der Knochen, den Sie berührt haben, gehörte zu einer ganz normalen Fuhre – gewöhnliche, für die Meiler bestimmte Knochen.“ Donal schüttelte den Kopf. Er wusste, er hätte nicht hierher kommen sollen. „Aber unser Personal ist hoch motiviert“, fuhr Malfax Cortindo fort, „und sehr gut ausgebildet. Alle Knochenlieferungen durchlaufen nekroskopische Untersuchungen. Ist ein talentierter Künstler den Armentod gestorben, so ist dies die letzte Chance, ihn zu entdecken.“ Der Zylinder war wieder im Boden versunken, bildete nun eine Einheit mit ihm und war nicht mehr zu erkennen. „Wer war das?“, fragte Donal. „Wessen Knochen habe ich berührt?“ „Es war eine Elle“ – Malfax Cortindo schenkte ihm ein präzises Lächeln – „von Jamix Holandson, dessen Werke heutzutage exorbitante Preise erzielen. Einige seiner Arbeiten sind im staatlichen Zentrum für moderne Kunst in Fortinium ausgestellt.“ 42
„Ach der.“ „Unsere Verfahren sind streng, und unser Personal ist sehr gut ausgebildet.“ „Schade, dass dieser Sorenson …“ „Holandson.“ „… Holandson nicht schon vor seinem Tod berühmt war.“ „Wie gesagt“, Malfax Cortindo rieb sich mit einem Finger den grauen Ziegenbart, „es ist die letzte Chance des Künstlers.“ „Wohl eher die hinterletzte, wenn dies das richtige Wort ist.“ „Worte sind Schall und Rauch, mein Freund.“ Donal sah ihn an. Hier gab es noch mehr Geheimnisse zu lüften, aber er wusste nicht, inwieweit sie etwas mit seinem Auftrag zu tun hatten. Obwohl er den starken Wunsch verspürte, so schnell wie möglich hier rauszukommen, zwang er sich zur Ruhe. „Was hat das mit den Morden zu tun?“, fragte er. „Liegt das nicht auf der Hand?“ „Ich weiß nicht. Erklären Sie’s mir, Mr Cortindo.“ Die Tafeln an der Wand verkündeten, dass sein Gegenüber Direktor Cortindo oder Doktor Cortindo war … oder im Fall der Donnerheim-Universität Herr Doktor Direktor Cortindo. „Wenn Sie ein bestimmter Sammlertypus wären – ein reicher, einflussreicher Sammler, verstehen Sie –, würden Sie nicht eine beträchtliche Summe zahlen, um in den Besitz solcher Knochen zu gelangen?“ Donal starrte ihn an. „Vielleicht.“ 43
„Nun ja … Wenn Sie ein bestimmter, fanatischer Sammlertypus wären, sähen Sie sich vielleicht außerstande, den – sagen wir mal – natürlichen Gang der Dinge abzuwarten, bis die Knochen Ihres Lieblingskünstlers … erhältlich sind.“ „Oh, verdammt.“ „Schließlich gibt es keine Garantie, dass Sie das Objekt Ihrer Begierde überleben, nicht wahr, Lieutenant? Wer weiß schon, wann er sterben wird?“ Donal stand auf. „Danke für den Tee. Und für die … Aufklärung.“ „Oh, Lieutenant.“ Malfax Cortindo stand ebenfalls auf. „Das Vergnügen war ganz auf meiner Seite.“ Sie gaben sich die Hand. „Hoffentlich sehe ich Sie hier unten bald wieder“, setzte Cortindo hinzu. „Oh … ich meine natürlich zu weiteren Gesprächen. Nicht …“ „Schon klar.“ Im Vorzimmer der Sekretärin nahm Donal seinen Mantel. Die schwarzen Flüssigmetall-Handschuhe steckten noch in den Manteltaschen. Donal erwog einen Moment lang, sie anzuziehen, in Cortindos Büro zurückzukehren und dem Mann die Elle des toten Künstlers in den Rachen zu stopfen. Aber Donal hatte einen Auftrag zu erledigen, und es gab sicherlich geeignetere Methoden, das zu tun, als einen zivilen Berater windelweich zu prügeln. „Vielen Dank, Lieutenant. Ich hoffe, es war ein angenehmer Besuch.“ 44
„Der Tee war ausgezeichnet. Danke, Ma’am.“ Donal ging zu der Tür hinaus, die zur Wendeltreppe führte, und stieg die schwarzen Eisenstufen zum Höhlenboden hinunter. Dort warteten dieselben drei Männer in grauen Overalls, um ihn zur Oberfläche zurückzubegleiten. „Nett, euch wiederzusehen, Jungs.“ „Hier entlang, Officer. Haben Sie keinen Wagen?“ „Brauche ich nicht.“ „Zum … ähm … Personenfahrstuhl geht es dort.“ Das Trio führte Donal zu einer gerundeten schwarzen Tür in einer Steinsäule. Die Tür glitt rasselnd auf. Donal trat hinein und fand sich auf einem zerkratzten Stahlboden wieder. Laternen auf kurzen, gedrungenen Metallständern bildeten einen Kreis um ihn. Er legte den Kopf in den Nacken, sah jedoch nur sich verdichtende Schatten und völlige Dunkelheit über ihm. „Ist das …?“ Aber die Tür glitt bereits zu. „Na dann …“ Der Boden stieg mit einem leisen Kratzen in die Höhe, wurde dann schneller und beschleunigte binnen Sekunden so stark, dass Donals Füße auf den Stahl gepresst wurden. Die Steinwand des Schachtes sauste verschwommen an ihm vorbei; es wäre keine gute Idee, sie zu berühren. Dann bremste der emporsteigende Boden ab, und als er ruckelnd und scheppernd zum Stehen kam, fühlte sich Donals Körpergewicht wieder normal an. Er befand sich in einer schwarzen, hohlen Halbkugel. 45
„Und wie komme ich …?“ In diesem Moment zerfiel die metallene Halbkugel in Spalten, die sich zurückfalteten, bis er auf einer freien Betonfläche in einem kleinen Hof stand. Er stieg rasch von der Scheibe herunter, falls sie auf die Rückkehr nach unten eingestellt war. Uniformierte Wachposten nickten ihm zu – Donal erkannte einen ehemaligen Streifenpolizisten, der entlassen worden war, weil er sich im Scarlet Quarter gratis hatte bedienen lassen –, und Donal tippte sich grüßend an die Stirn, während er zu einer kleinen Tür ging, die nach draußen führte. Die Tür war gerade hoch und breit genug für eine Person, doch als sie nach innen aufschwang, sah er, dass sie aus dreißig Zentimeter dickem Metall bestand, und er konnte sich nicht vorstellen, wie schwer sie sein mochte. Kleine Dampfwölkchen entwichen den maschinengetriebenen Angeln. Er verabschiedete sich mit einem angedeuteten Winken von niemandem im Besonderen und trat durch die Tür auf den Bürgersteig hinaus. Hinter ihm zischten Ventile, und Kolben ließen die schwere Tür zufallen. „Na wunderbar.“ Er befand sich in einem heruntergekommenen Gebiet außerhalb der Festung, denn genau das war diese oberirdische Erscheinungsform des DowntownKernkomplexes! – Nur wenige Menschen wagten sich hierher, außer zur Arbeit, und dann kamen sie mit den Bussen der Energiebehörde. 46
Donal hätte vom Vorzimmer der Sekretärin aus ein Taxi oder einen Streifenwagen rufen können, klar; aber er hatte den Komplex so schnell wie möglich verlassen wollen. Ein Stück weiter unten an der Straße parkte ein dunkler Wagen mit Heckflossen, eine Vixen. Donal erwog, den Fahrer zu bitten, ihn mitzunehmen, doch als er seine Aufmerksamkeit auf den Wagen richtete, sprang dessen Motor an, und er fuhr los. „Verdammt.“ Am Lenkrad hatte jedoch eine Frau gesessen; Donal hatte eine blassblonde Dauerwelle gesehen. Sie hätte keinen Grund gehabt, einen einsamen Mann mitzunehmen, schon gar nicht auf einer Straße wie dieser. Neben ihm lag ein Trümmergrundstück, ein Schutthaufen, aus dem skelettale Rippen verrosteter Träger ragten. Drei bleiche Eidechsen huschten über die Ruinen; sie erstarrten, als sie merkten, dass Donal sie ansah. Kopfschüttelnd schaute er zu dem kompakten, purpurschwarzen Himmel hinauf. Dann zog er den Mantel enger um sich und machte sich auf den Weg. Ein leichter Quecksilberregen setzte ein. Winzige Tropfen spritzten von dem langen Mantel. Ich hasse diesen Ort. Auf dem Bürgersteig bildeten sich bereits Pfützen aus flüssigem Metall, glänzend und klebrig. Ohne die regelmäßigen Injektionen, die er als aktiver Polizeibeamter bekam, wäre er nicht so lässig mit unbedecktem Kopf die Straße entlanggegangen. 47
Ein Scharren ertönte, als die Eidechsen in Dekkung huschten. Donal fragte sich, wo die Diva, Maria daLivnova, jetzt sein mochte. Wahrscheinlich probte sie in irgendeinem schicken Theater, oder sie dinierte in einem fantastisch eingerichteten Hotelrestaurant. Jedenfalls lief sie nicht allein auf Straßen herum, wo Eidechsen sich vor dem Wetter versteckten. Doch während er so dahinschlenderte, kam gegen seinen Willen eine Erinnerung in ihm hoch: eine Erinnerung an die Reichhaltigkeit und Fülle der Welt, gesehen durch Jamix Holandsons Augen. Durch einen seiner toten Knochen.
48
DREI Zurück in seinem Büro, winkte Donal Levison zu sich. Levison war groß, schlaksig und kahl – bis auf ein paar Büschel karottenroter Haare über seinen abstehenden Ohren. Wie üblich stand der oberste Hemdknopf offen, war die Krawatte gelockert. Levison nahm eine Aktenmappe von seinem Schreibtisch, betrat Donals Büro und stieß die Tür mit dem Ellbogen zu. Während er vor Donals Schreibtisch Platz nahm, rückte er die schräg nach vorn zeigende Schusswaffe an seiner linken Hüfte zurecht. Obwohl das Lederhalfter abgewetzt aussah, war Levisons Pistole draußen auf der Straße noch so gut wie gar nicht zum Einsatz gekommen. Levison hatte einen guten Polizisten noch nie mit einem guten Schützen verwechselt. „Der Tag hat nur fünfundzwanzig Stunden, weißt du“, meinte Levison. „Vielleicht solltest du mal mit dem Commissioner reden und es ihm sagen.“ „Weil er und ich so dicke Freunde sind, was?“ „Ja …“ Levison legte seine Mappe auf den Schreibtisch. „Das ist von oben gekommen, während du dich mit den hohen Tieren verlustiert hast. Wie war’s denn überhaupt bei der Energiebehörde?“ „Ein Knochenhaufen am anderen, wie zu erwarten.“ „Gemütlich.“ Levison schüttelte den Kopf. „Besser du als ich, Boss. Hast du irgendwas in Erfahrung gebracht?“ 49
„Nur dass gewisse Perverslinge“ – Donal erinnerte sich an die wunderschönen Träume: An ihnen war nichts Perverses – „einen prima Grund hätten, die Diva kaltzumachen und ihre Knochen zu klauen.“ „Na wunderbar.“ „Oder Profis, die für reiche Perverslinge arbeiten … wäre durchaus möglich.“ „Klingt nach erheblich mehr Aufwand, als jemanden vor einem irren Einzelgänger zu beschützen. Diese Diva landet in einer Woche auf Tempelgard. Steht alles da drin.“ Levison zeigte auf die Mappe. „Die Gerechtigkeit schläft nie.“ „Nee, sie kriegt nur schizophrene Halluzinationen vom Traumentzug und bläst sich das Gehirn mit ‘ner Silberkugel aus ‘ner Magnus raus.“ Der Humor schien in Levisons langem Gesicht zu versinken; zurück blieb eine ernste Maske. „Schon von Peters vom Hundertersten gehört?“ „Peters?“ „Hat sich gestern Nacht umgebracht.“ „Verdammt, ich war auf seiner Hochzeit.“ Donal starrte aus dem Fenster, hinüber zu dem hoch aufragenden Firmengebäude aus schwarzem Sandstein auf der anderen Straßenseite, ohne etwas zu sehen. „Seine Witwe …“ „Die Jungs veranstalten eine Sammlung.“ „Gib ihnen fünfzig Florins von mir, ja? Du kriegst sie morgen wieder.“ Levison nickte. Er wusste, dass Donal ihm das Geld zurückzahlen würde. „Gehst du wieder raus?“ 50
„Ja …“ Donal zog die Mappe zu sich herüber und schlug sie auf. „Muss mir die Umgebung ansehen, die Route vom Flughafen. Und so weiter.“ „Sie steigt im Exemplar ab.“ Levison langte zu ihm rüber und blätterte zwei Seiten zurück. „Da, siehst du. Hat ihre eigene Suite. Geld spielt keine Rolle.“ „Mist.“ „Genau. Wenn man sie vernünftig schützen will, braucht man Leute im Zimmer gegenüber. Kompletter Schutz hieße, die Zimmer zu beiden Seiten, im Stockwerk drunter – das sind drei verschiedene Zimmer – und drüber. Das ist eine weitere Suite.“ „Thanatos.“ „Als ich mit der reizenden Eyes telefoniert habe“ – Levison verzog das Gesicht – „hat sie mir Commissioner Vilnars Lieblingsspruch angedeihen lassen.“ „Sagen Sie Ihren Leuten, sie sollen wegen der Überstunden nicht so ein Theater machen?“ „Genau den.“ „Die Rechnungen werden gigantisch sein. Am besten inspiziere ich erst einmal das Hotel. Mal sehen, ob ich sie beschwatzen kann, uns mehr Rabatt zu gewähren als sonst.“ „Wie wär’s, wenn die uns bezahlen? Schließlich würden wir ihnen ja einige Unannehmlichkeiten ersparen. Ganz zu schweigen von den geschäftlichen Einbußen.“ „Wenn du es sagst.“ Donal legte die Füße auf den Schreibtisch. „Vielleicht würden die Leute aber auch 51
in Scharen kommen, um dort zu wohnen, wo die Diva ermordet worden ist.“ „Hades, Donal. Lass das bloß niemanden hören.“ „Ja … Sonst bringe ich noch irgendwen auf eine glänzende Idee. Oder auf eine finstere. Was auch immer.“ Donal mied Gerties Fahrstuhlschacht und ging durch den dunklen Flur zu einem kälteren Schacht, an dessen stählerner Verkleidung sich Reif bildete und dessen versklavter Geist seine Pflichten in immerwährendem Schweigen verrichtete. Die Zeit war knapp, aber er hatte heute noch nicht trainiert, und wenn man es einmal schleifen ließ, würde es beim nächsten Mal noch leichter sein, das Training ausfallen zu lassen. Und ehe man sichs versah, endete man als verweichlichter Bürokrat wie Commissioner Vilnar, dessen Kenntnisse der Polizeiarbeit auf der Straße auf uralten Erinnerungen und der Lektüre zahlloser Memos und Polizeiberichte beruhten. Im Innern des verschatteten Schachts fiel Donal mit den Füßen voran rasend schnell in die Tiefe. Der eisige Wind wehte seinen Mantel nach oben, aber er achtete nicht darauf. Nach dreißig Etagen wurde sein Sturz langsamer. Als er das dreizehnte Kellergeschoss erreichte, war seine Sinkbewegung unendlich gering. Donal trat in einen kalten, halbdunklen Raum. Er zog seine Magnus aus dem Schulterhalfter, nahm das Magazin heraus und vergewisserte sich, 52
dass es voll war – chitinbrechende Ladung, Silberkugeln mit Kreuzgravur –, setzte es wieder ein und steckte die Waffe ins Halfter zurück. Donal sog die kalte Luft tief in die Lungen und stieß sie dann in einem langen, beruhigenden Atemzug wieder aus. Vor ihm war eine eisenbeschlagene Tür. Donal stieß sie auf. An einer Seite stand ein leerer Tresen. „Ich bin’s, Riordan. Sind Sie da, Brian?“ „Klar, Lieutenant.“ Ein kahlköpfiger Mann mit bläulicher Haut und Schmerbauch stemmte sich hinter dem Tresen hoch. „Was kann ich heute für Sie tun?“ „Ich brauche“ – Donal warf einen raschen Blick auf seine Armbanduhr: Er würde sich beeilen müssen – „eine Schachtel mit fünfzig Patronen, das ist alles. Das Übliche.“ „Okay.“ Brian langte unter den Tresen und brachte eine Pappschachtel voller Munition zum Vorschein. „Unterschreiben Sie?“ „Klar.“ Donal zog das Klemmbrett auf dem Tresen zu sich heran. Er schrieb in Großbuchstaben LIEUT.D. RIORDAN und setzte seine Unterschrift dazu. „Sechs Zielscheiben, bitte.“ Vom Korridor draußen hallte Geschrei herein. „Was ist da los?“ „Kleines Wettschießen.“ Brian zog flache Schubladen in der Wand hinter dem Tresen auf. „Die Jungs vom Dreiundsiebzigsten gegen unsere. Sie haben nicht etwa daran gedacht, eine illegale Wette abzuschließen, oder, Lieutenant?“ 53
„Würde mir im Traum nicht einfallen. Aber wenn jemand, nur mal hypothetisch gesprochen, tatsächlich Wetten annähme, wie stünden dann die Quoten für den Sieg unserer Jungs?“ „Eins zu eins, mehr nicht. Hätten drei zu eins gegen sie gestanden, aber die vom Dreiundsiebzigsten hatten letztes Jahr ‘nen Haufen Probleme mit irgendwelchen Gangs. Dadurch sind sie deutlich besser geworden.“ Donal schüttelte den Kopf. „Ein andermal.“ „Sie müssen’s wissen, Boss.“ Brian nahm mehrere Bogen aus den Schubladen. „Okiedokie, hier haben wir die typische runde Zielscheibe – eine davon? – und ein paar Pappkameraden. Einen Ghul mit menschlicher Geisel. Einen Menschen mit GhulGeisel. Eine …“ „Ich nehme zwei von denen.“ „Okay. Und als letzte …“ Brian schob die sechzig mal eins zwanzig großen Bogen über den Tresen. „Ich hab gehört, dass jemand bekannte hohe Tiere aufs Papier gemalt hat, verstehen Sie? Zum Beispiel diverse Bezirksräte, darunter auch Finross und O’Connell. Vielleicht sogar den Comm-“ Donal langte über den Tresen und klopfte Brian auf die Schulter. Er lächelte, nach außen hin freundlich, während sein Griff fester wurde und seine Finger sich in Brians Fleisch gruben. „Also, Brian – wissen Sie, warum wir nicht mehr ausschließlich auf runde Zielscheiben schießen?“ 54
„Äh … nein, Boss. Hören Sie …“ „Weil es uns dann leichter fällt, auf echte Menschen zu schießen. Oder auf echte … was auch immer. Man nennt das operante Konditionierung, und es hilft uns Cops, am Leben zu bleiben. Weil wir draußen auf der Straße nicht vor Schreck erstarren, wenn es mal hart auf hart geht.“ „Ja, na klar. Aber Sie tun mir …“ „Also machen wir niemals Scherze damit, und wir schießen auch nicht auf Bilder bestimmter Personen. Nicht wahr?“ Donal löste seinen Griff. „Nicht wahr, Brian?“ „Ja, Lieutenant. Ich meine nein, zum Hades. Ich würde nicht mal im Traum …“ „Gut. Wenn morgen die Inspektion kommt, wird hier nämlich alles tipptopp in Ordnung sein. Und falls ich andere Gerüchte höre … aber das werde ich nicht, richtig?“ „Richtig, Sir.“ „So ist’s recht.“ Donal sammelte die vier Bogen ein. „Ich brauche noch zwei Zielscheiben, bitte.“ Schweigend nahm Brian zwei weitere StandardZielscheiben aus einer Schublade und legte sie ihm hin. „Vielen Dank, Brian.“ Er brauchte fünfzehn Minuten für die sechzig Schüsse auf die Zielscheiben: das Magazin und die fünfzig Patronen, die er von Brian bekommen hatte. Das war eine lange Zeit, aber die Deckenseile, mit denen die 55
Scheiben in dem unterirdischen Schießstand unterschiedlich weit weggefahren wurden, waren langsam. Silbernes Meer, sanfte Brecher auf einem rosafarbenen Strand, während hoch oben durchsichtige Vögel singen … Donal war Rechtshänder, aber mit dominantem linkem Auge, was bedeutete, dass er den Kopf beim Zielen auf die rechte Schulter legen musste. Es sah seltsam aus – als er noch ein Neuling gewesen war, hatten ihn Kollegen .Schielauge Riordan’ genannt –, aber es stabilisierte den Kopf und machte ihn zu einem besseren Schützen. Das und das tägliche Training. Als er das letzte Magazin für diesen Tag einlegte, schickte Donal die Zielscheibe ganz nach hinten, wandte sich ab und kniff dann fest die Augen zu, bevor er herumwirbelte und rasch hintereinander zehn Schüsse abfeuerte. Als er die Augen öffnete, war die Zielscheibe zerfetzt. „Gar nicht schlecht.“ Draußen auf der Straße kann man nämlich nicht immer mit guter Beleuchtung rechnen. Manchmal greifen einen die Mistkerle aus der Dunkelheit heraus an. Eine Reihe lauter, perkussiver Schüsse hallte durch den Schießstand. Donal hatte geglaubt, er wäre als Einziger hier. Welche Ladung der andere auch benutzte, sie war sehr stark. Donals Neugier war geweckt, aber … er schaute auf seine Uhr. Heute 56
Abend wollte er noch beim Hotel Exemplar vorbeischauen und sich die Etage ansehen, auf der die Diva residieren würde. Eine weitere Serie von Schüssen ertönte. „Nur ein kurzer Blick“, sagte sich Donal. Mit langsamen Schritten – er wollte den Officer nicht mit einer plötzlichen Bewegung am Rand seines Blickfelds erschrecken – ging Donal im Schießstand an sieben leeren Bahnen vorbei, bis er den Schützen sehen konnte. Der Mann war riesig, über zwei Meter groß; mächtige Schultern dehnten seine dunkelburgunderrote Lederjacke. Auf seiner Nase saß eine Brille mit runden, blauen Gläsern. Er schoss mit einer schweren, silbernen Waffe, die er in einer Hand hielt. Die Waffe war dazu gedacht, mit beiden Händen bedient zu werden: ein verkürztes Maschinengewehr. „Ha.“ Der Hüne legte die leere Waffe weg und zog seine Ohrstöpsel heraus. Donal tat dasselbe. „Was für …? Hades. Schau sich einer das an.“ Donal spähte die Bahn entlang, dann legte er die Hand auf den grünen Rückholknopf neben ihm. „Darf ich?“ „Nur zu, Lieutenant.“ Der Mann wusste also, wer Donal war. Nun, das kam vor. Ein Nachteil seines Rangs: Sie kannten einen, aber man kannte sie nicht. Donal drückte auf den Knopf und hielt ihn fest, während der Zielscheibenhalter an der Decke sirrend herangefahren kam. 57
Von der Zielscheibe war jedoch kaum noch etwas vorhanden. Als sie bei Donal eintraf, hatte er bereits festgestellt, dass nur ein paar flatternde Papierfetzen übrig geblieben waren. „Nicht schlecht. Was für eine Kanone ist das?“ „Was, die?“ Der Hüne strich mit einem Finger über die Waffe, die flach auf dem Bord lag. „Ich nenne sie Betsie. Eine Howler 50.“ „Hab ich mir schon gedacht. Ich habe von den Dingern gelesen. Nicht übel.“ „Wollen Sie’s mal mit ihr probieren, Lieutenant?“ „Tja … täte ich wirklich verdammt gern. Aber nicht heute Abend. Ich hab noch zu tun.“ „Aber Sie haben sich die Zeit genommen, zum Schießstand runterzukommen? Verstehe, Sir.“ Der Mann war unrasiert, sein Gesicht gebräunt und hässlich. Donal hatte bereits beschlossen, ihn zu mögen. „Wie heißen Sie, Detective?“ „Viktor Harman, Sir. Vom … äh … Siebenundsiebzigsten. Man nennt mich Big Viktor.“ „Wundert mich nicht. Sind Sie mal wieder hier?“ „O ja, Sir. Darauf können Sie sich verlassen.“ „Dann sehen wir uns.“ „Lieutenant.“ Draußen auf der Straße gelang es Donal gleich beim ersten Versuch, ein Taxi anzuhalten. Zuvor – nachdem er den Komplex der Energiebehörde verlassen hatte – war er fast zwei Kilometer gelaufen, ehe er 58
eine funktionierende Call-Station fand, sodass er sich ein Taxi rufen konnte. Es war erstaunlich schnell da gewesen. Jetzt fädelte sich der Fahrer in den dichten Verkehrsstrom ein und hielt gleich wieder an. In Kürze würde der Rushhour-Verkehr einsetzen, und Donal bereute es, dass er sich nicht für die Hypo-Bahn entschieden hatte. Weiter vorn auf der anderen Straßenseite sah er zwei potenzielle Fahrgäste – ein Touristenpaar aus der Kaltrin-Provinz, ihren blauen Mänteln nach zu urteilen –, die mit einem Taxifahrer redeten. Der Fahrer schüttelte den Kopf: Die Strecke war nicht lang genug, dass sich die Fahrt für ihn lohnte. Willkommen in Tristopolis. Der Fahrer von Donals Taxi schaute ausdruckslos geradeaus. Er hatte Donal erst gefragt, wohin er wollte, als dieser schon im Wagen saß. Das war einer der Vorteile, wenn man sich direkt vor dem Polizeipräsidium ein Taxi heranwinkte. Donal verschränkte die Arme und lehnte sich zurück, um einen Moment lang seine Ruhe zu haben. Er dachte an den großen Officer – Viktor … Harman, ja, so hieß er – und dessen mühelosen Umgang mit der Kaliber-50-Kanone. ,Vom … äh … Siebenundsiebzigsten.’ Das hatte Big Viktor gesagt … aber Donal wunderte sich jetzt über die Nummer des Reviers. Hatte er dreiundsiebzig sagen wollen, um anzudeuten, dass er zu dem Team gehörte, das sich mit den lokalen 59
Cops ein Wettschießen lieferte? Das wäre ein Grund für die Anwesenheit eines Officers aus einem Revier im Norden der Stadt hier in diesem Bezirk im Zentrum von Tristopolis gewesen. Brian hinter dem Tresen war durchaus kompetent in puncto Sicherheit. Und Eagle Dawkins, der Sicherheitsbeamte des Schießstands, war immer in der Nähe und passte auf. Es würde keinem Betrüger gelingen, sich Zutritt zum Schießstand zu verschaffen. Donal kam wieder in die Gegenwart zurück. Das Taxi war nicht einmal einen Block weitergekommen, bevor der Verkehr erneut ins Stocken geraten war. Er grub in seiner Brieftasche und sagte: „Ich gehe zu Fuß. Aber hier ist der Fahrpreis.“ Ergab dem Fahrer zwei Florins. „Oh, Mann … Wie soll ich …?“ Donal beugte sich vor. Seine Augen wurden hart. „Sie wenden am Ende des Blocks und fahren zurück. Da stand ein Paar in blauen Mänteln.“ „Ja, die hab ich gesehen.“ „Bringen Sie sie, wohin sie wollen, Mister“ – Donals Blick zuckte zur städtischen Lizenzplakette am Armaturenbrett – „Boudreaux, Fahrernummer vierzehn-null-drei. Haben wir uns verstanden?“ „Ja, Sir. Mache ich gern.“ „Dachte ich mir.“ Donal langte in seine Tasche und fand eine siebeneckige Halbflorin-Münze. Er streckte die Hand durch die Trennwand und warf die Münze auf den Sitz. „Sie sind ein anständiger Kerl, Boudreaux.“ 60
Der Fahrer schluckte. „Danke, Sir.“ Donal schlüpfte aus dem Taxi. Sein Weg führte ihn als Erstes zum Exemplar-Hotel Ecke Neunundneunzigste/Zweihunderterste Straße. Es war ein imposantes altes, dunkelgraues Gebäude, das fünfzig Stockwerke senkrecht aufragte, dann abknickte und in Form eines massiven Adlerkopfes aus Granit nach unten schaute. Die Ost- und Westmauer stellten eingefaltete Schwingen dar. Auf Höhe der Straße waren die ursprünglich schlichten Klauen jetzt mit nach oben gekehrten Messingschalen geschmückt, in denen orangerote ewige Flammen flackerten und tanzten. Bewegliche Muster wirbelten über Marmorstufen, die zum Foyer hinaufführten. Donal war noch nie drin gewesen. Als er die glänzende Empfangshalle betrat, kam er an gotischen Bronzedrachen vorbei, die von den Reflektionen tanzender Flammen schimmerten. Mit Pelzstolen behangene schlanke Frauen, die lange Zigarettenhalter schwangen, warteten auf ihre stattlichen, reichen Männer. Ein fast schon körperlicher Pagengeist fragte: „Kann ich Ihnen helfen, Sir?“ Donal starrte in die Dunkelheit, wo seine Augen gewesen wären. „Gibt es hier einen Hausdetektiv?“ „Ähm … Weshalb wollen Sie …?“ Donal gewährte ihm einen kurzen Blick auf seine 61
Marke und steckte sie wieder ein. „Ich würde gern mal mit ihm plaudern, wenn’s Ihnen recht ist.“ „Sofort, Sir.“ Der Geist schwebte davon. Seine Mütze behielt eine konstante Höhe über dem Messingboden bei. „Hier entlang.“ Einer der dunkelgrün Livrierten hinter dem Empfangstresen hatte außergewöhnlich weiße Haut. Er blickte auf, als der Geist sich näherte. Der Geist beugte sich vor und kam ihm so nah, dass sein Gesicht teilweise mit dem Kopf des blassen Mannes verschmolz. So konnte man am ungestörtesten miteinander flüstern. Als der Weißgesichtige nickte, entfernte sich der Geist ein Stück. Der Mann trat auf Donal zu. „Ich bin Shaunovan. Klingt, als wollten Sie mit mir sprechen.“ „Können wir das unterwegs machen?“, fragte Donal. „Während Sie mir alles zeigen?“ „Kein Problem.“ Shaunovan führte ihn nach hinten. „Zuerst das Restaurant und die Küchen?“ „Okay.“ „Also, ich nehme an, es geht um die Diva. Sie ist der prominenteste Gast, der in nächster Zeit bei uns absteigt.“ „Sie haben ein Auge auf die Reservierungen?“ „Gehört zu meinem Job, Officer. Ähm, Fred hat mir nicht gesagt, wie Sie heißen.“ „Riordan. Donal Riordan.“ „Oh, Lieutenant. Natürlich.“ Sie gingen durch den Barbereich. Zwei sich dre62
hende, vibrierende Gläser schwebten vorbei: fliegende Cocktails auf dem Weg zu einer der abgeteilten Nischen weiter hinten. „Wer arbeitet hier sonst noch als Detektiv?“, fragte Donal. „Haben Sie einen Ersatzmann für andere Schichten?“ „Nur ich.“ Ein seltsamer Ausdruck huschte über Shaunovans Augen. „Ich bin fünfundzwanzig Stunden pro Tag und neun Tage die Woche hier.“ „Und Sie schlafen nie, hm?“ „Nein.“ Shaunovans Stimme wurde kalt. „Nie.“ Die Anlage des Gebäudes beeindruckte Donal; sie kombinierte Sicherheit – leichter Zugang zu Notausgängen, Evakuierungsgeister – mit Schutzmaßnahmen. Bei hausinternen Sehern hatte das Management jedoch eine Grenze gezogen: Die Gäste erwarteten, dass ihre Privatsphäre gewahrt blieb. „Kommen Sie morgen Nachmittag wieder“, sagte Shaunovan, „dann macht Whitrose die Reservierungen für Ihre Leute klar. Er ist der leitende Manager, und er hat mehr … Gestaltungsfreiheit bei den Preisen, als er zugeben wird.“ „Er behauptet, er hätte keinen Verhandlungsspielraum?“ „Genau. Aber Whitrose kann die Preise bis sonstwohin reduzieren … wenn man es schafft, ihn dazu zu bewegen.“ „Sie sind ein Mensch nach meinem Geschmack, Shaunovan.“ 63
„Sind Sie sich da sicher?“ „Nun ja … jedenfalls sind Sie nach meinem Geschmack.“ Donal streckte ihm die Hand hin. „War nett, Sie kennenzulernen.“ „Ganz meinerseits, Lieutenant.“ Shaunovans Händedruck war wie eisiger Stahl. „Ganz meinerseits.“ Es war nicht weit bis zur Zweiundneunzigsten Straße. In der Nähe der Kreuzung mit dem Hoardway ragte der massive Bau des Théâtre du Loup Mort auf. Von der anderen Straßenseite aus beobachtete Donal, wie eine Gruppe von Schülerinnen sich vor dem Haupteingang versammelte: ein Schulausflug. Donal hatte das Stück in der Schule durchgenommen, eine Studie über Krieger im Angesicht ihres letzten Kampfes, und er erinnerte sich an die Speere, die in der Schlussszene über die Bühne flogen, und an die Todesschreie der Helden. Es war damals erschreckend gewesen und kam ihm all diese Jahre später immer noch furchteinflößend vor, trotz der realen Schrecknisse, die er auf der Straße erlebt hatte. Durch ein Fenster im obersten Stockwerk erhaschte Donal einen Blick auf die Silhouette einer Frau und ihre makellose, wippende Brust – erdbeerfarbener Nippel auf bleicher Haut –, dann war sie verschwunden. Hades … Eines der Fenster dort oben gehörte zur Garderobe der Schauspielerinnen, und die Abendvorstellung 64
würde in nicht einmal einer Stunde beginnen. Donal stieß den Atem aus, behielt das Fenster noch einen Moment im Auge und wandte sich dann mit einer Willensanstrengung ab. Seitengasse. Eine Durchfahrt nach hinten und eine Ladebucht für Lastwagen, die groß genug waren, um Bühnenausstattung zu transportieren. Feuerleitern. Das würde schwierig werden. Für einen gut ausgebildeten Killergab es so viele Möglichkeiten, sich … Eine weitere Schauspielerin ging an dem Fenster hoch oben vorbei und zog sich dabei die Bluse über den Kopf. Wenn Donal nicht weiterging, würde ihn ein Streifenpolizist noch wegen Spannerei festnehmen. Er ging zur Ecke Tausenderste, betrat eine kleine Cafe-Bar und bestellte einen Espresso. Dieser war dick und dunkel in der winzigen Tasse, und Donal erschauerte, als er ihn trank. Dann ging er zu dem großen bernsteinfarbenen, pförmigen Schild, das, von innen beleuchtet, über der nach unten führenden Eisentreppe hing. Donal stieg in die Pneumetro-Station hinunter, zusammen mit Hunderten anderer Pendler, die auf die Bahnsteige drängten. Er hielt Ausschau nach den roten Zeichen für die Z-Linie – normalerweise fuhr er nicht von der Tausendersten aus – und kam gerade rechtzeitig dorthin, als sieben große Geschosswagen eintrafen, einer hinter dem anderen. 65
Donal fragte sich, wie oft die Gäste des Exemplar wohl per Hypo-Bahn unterwegs waren. Der Zug war konvex und zum Bahnsteig hin halb transparent, obwohl das Hexiglas zerkratzt und flekkig war und vielleicht schon vor fünf Jahren hätte ausgetauscht werden müssen. Jeder rote Geschosswagen fasste zweihundert Personen, und Donal bahnte sich seinen Weg zum dritten Einstieg – Z3 war seine Strecke. Er gehörte zu den Letzten, die sich hineinzwängten, bevor sich die Tür mit einem Zischen schloss. Alle warteten dicht gedrängt und schwitzend. Dann ertönte ein explosives Husten, und alle sieben Wagen schossen gemeinsam aus dem Bahnhof. Die Rückfahrt in Donals Viertel dauerte zwanzig Minuten, aber er brauchte zumindest nicht umzusteigen. Der Wagen bog ohne jeden Zwischenfall auf die dritte Nebenstrecke der Z-Linie ein, und dann waren es nur noch sieben weitere Haltestellen und sieben explosive Beschleunigungsschübe bis nach Halls. Niemand begrüßte ihn, als er inmitten von blauen Sandsteingebäuden und umgewandelten Tempeln die Straße bis zu seinem Wohnhaus entlangging. Er öffnete die Haustür gerade in dem Moment, als die alte Mrs MacZoran mit einem Wäschebeutel in der Hand herauskam. „Ich schaue nachher noch beim Waschsalon vorbei“, erklärte ihr Donal. „Um nachzusehen, ob alles in Ordnung ist.“ „Machen Sie sich um mich mal keine Sorgen.“ 66
„Tue ich nicht. Ich will nur …“ Aber Mrs MacZoran war bereits fort, mit gesenktem Haupt; sie hörte nur die Stimmen in ihrem Kopf, Erinnerungen an längst vergangene Zeiten. „… eine Runde laufen.“ Donal stieg die Treppe hinauf, betrat seine Wohnung im vierten Stock und verschloss die Tür wieder hinter sich. Er ging rasch in das winzige Badezimmer – wenn er sich erst hinsetzte, würde ihm das Training nämlich umso schwerer fallen –, zog sich dann aus und schlüpfte in einen langen, einteiligen schwarzen Jogginganzug und seine alten schwarzen Schuhe. Er vollführte Dehnübungen und Ausfallsprünge auf den nackten Dielen und benutzte die freiliegenden Deckenrohre für eine Serie von Klimmzügen, unterbrochen von Liegestützen mit den Füßen auf dem Bett. Daran schlossen sich Sit-ups und Beinheber auf dem harten Fußboden an. Er stand auf und pulte zwei Splitter aus seiner Kleidung. Die Pistole war immer problematisch gewesen, und an diesem Abend beschloss er, ohne sie zu laufen. Er hängte das Schulterhalfter über den Bettpfosten, ging hinaus und verriegelte die Eingangstür – alle drei Schlösser. Mit dem Schlüssel und der Marke in der linken Faust ging er nach unten. Draußen auf dem Bürgersteig lief er langsam zur Ecke. Die Dunkelheit schien noch zuzunehmen, das Purpurrot des Himmels vertiefte sich. Das Licht in Foz67
zy’s Rags, dem Waschsalon, war hart und weiß. Mrs MacZoran saß darin Seite an Seite mit einer anderen der alten Klatschtanten aus der Nachbarschaft. Weidenkörbe für den Transport der sauberen Wäsche zu den großen Trocknern warteten zu ihren Füßen. Keiner der Rabauken aus dem Viertel schien sich hier herumzudrücken. Nicht an diesem Abend. Gut. Donal trabte zur nächsten Ecke, wo eine Säule aus feuchtem Stein stand, etwas mehr als mannsbreit und ungefähr zweieinhalb Meter hoch. An der Seite war für sehr scharfe Augen der Umriss einer Steintür zu sehen, aber die handgroße Öffnung daneben war frei zugänglich. Donal steckte seine Polizeimarke hinein, wartete eine Weile und zog die Marke dann wieder heraus. Dies konnte man vielleicht als Privileg seines Jobs bezeichnen. Die schwere Tür schwang knirschend auf. Das Innere der Säule war hohl, und man sah den Anfang einer steinernen Wendeltreppe, die in die Tiefe führte. Donal stieg die ersten paar Stufen hinunter und wartete. Ächzend schloss sich die Tür hinter ihm. Mit einem leichten Nicken ging er weiter. Phosphoreszierende Runen spendeten genug geisterhaftes Licht, dass er die Stufen erkennen konnte. Er war diese Treppe ohnehin schon viele tausend Male hinuntergestiegen. Es dauerte etwa zehn Minuten, bis er im Tunnel unten angelangt war und auf knirschenden grauen 68
Boden trat: feine Steinpartikel, nass, auf abgenutzten Steinplatten. Donals Fuß platschte in eine schwarze Pfütze. Hier unten gab es keine Autos, die die Luft verschmutzten oder die Straßen für sich beanspruchten. Im Allgemeinen waren hier auch keine Menschen unterwegs. Es gab vielleicht Wachposten, aber die neueren Mausoleen lagen weiter in Richtung Zentrum. Alles hier war uralt: Relikte einstmals mächtiger, aber inzwischen längst vergessener Familien. Dies waren die Katakomben, kalt und still. Wieder ein Tag vorbei. Donal setzte sich in Bewegung. Nachdem er zehn Minuten gelaufen war und sich aufgewärmt hatte, rannte er mit stampfenden Schritten einen gewundenen Tunnel entlang, der leicht abwärts führte und sich zu einer niedrigen Höhle erweiterte, in der ein halbes Dutzend Steinsärge standen. Jeder Sarkophag war wie eine Art Kokon mit dem steinernen Fußboden und der Wand verschmolzen. Donal lief an ihnen vorbei und spürte ein hauchfeines Wispern, als würde ein Spinnennetz über seine Haut gleiten. Dann hatte er die Kammer verlassen und befand sich in einem nicht gekennzeichneten Tunnel. Das Gefühl war verflogen. Er nahm eine seiner drei üblichen Routen, die ihn schließlich in weitem Bogen wieder zu der Steintreppe zurückführte: schwer atmend, schweißnass, bereit zum Aufstieg. 69
Die Treppe zwang ihn, sein Tempo zu verlangsamen, und die Spannung in seinen Schenkeln und Waden war so etwas wie ein angenehmer Schmerz, als er das Kopfende erreichte. Er trat auf den Bürgersteig hinaus. Donal trabte an Fozzy’s Rags vorbei, erreichte sein Wohnhaus und ließ sich bei der letzten Treppe Zeit. Wieder daheim, stellte er sich in der alten Kabine unter die Dusche, wusch sich und trocknete sich mit einem seiner alten, kratzigen Handtücher ab. Dann zog er frische Unterwäsche und ein Hemd an, denselben Anzug, den er zuvor getragen hatte, aber mit einer anderen, dunkelgrünen Krawatte, und verließ erneut die Wohnung. Zwei Blocks weiter gab es ein Antiquariat mit Büchern aus zweiter, dritter und vierter Hand, und dort schaute er zuerst vorbei. Er ging hinein, nahm ein ramponiertes Exemplar von Menschlich: Die Rache zur Hand, einen Titel aus einer Fantasy-Serie, die auf einer Parallel-Erde spielte, wo die einzigen intelligenten Wesen Menschen waren und Nekroflux entweder noch nicht entdeckt oder nichtexistent war: Er hatte noch nicht herausgefunden, welches von beidem zutraf. „Dreißig Centais für Sie.“ „Hey, Peat. Wie läuft’s denn so?“ Peat trug seinen Namen – Torf – zu Recht, vom schwammigen Aussehen seiner Haut bis zu dem dunklen, holzigen Geruch, der von ihm ausging. 70
Nicht, dass Donal viel über die Landschaft draußen wusste. Peats Hände endeten jeweils in drei Stummelfingern, die gegenwärtig einen dicken Stapel alter Bücher hielten. Er wog ungefähr hundertachtzig Kilo, war dreimal so stark wie ein Mensch und kannte jedes Versepos und Sonett der letzten dreihundert Jahre in- und auswendig. „Wie immer, Donal.“ „Gut.“ In Anbetracht von Peats literarischen Kenntnissen waren Gespräche mit ihm manchmal von kaum zu unterbietender Kürze. „Hör mal, ich muss einen Happen zu Abend essen. Aber …“ „Später, mein Freund.“ „Ja.“ Donal legte die Münzen auf den Tresen. „Später.“ Er verließ den Laden mit dem Buch in der Hand und ging über die Straße zu Freda’s Diner. Dort nahm Marie, eine kleine Kellnerin mit fehlenden Zähnen und freundlichem Wesen, seine Bestellung auf. Während er dünnen Kaffee trank, las Donal in dem Buch, bis sein Essen kam. Dann las er weiter und schaufelte dabei Eier und Knollen in sich hinein. Das Essen war fettig und sättigend, und er aß zu viel. Anschließend ging er wieder nach Hause, zog sich aus, hängte seine Sachen auf und legte sich aufs Bett, wo er weiterlas. Das Ende eines normalen Tages. Als er das Buch schließlich weglegte und in den Schlaf glitt, waren die Träume, die ihn heimsuchten, 71
allerdings beispiellos reichhaltig und farbig: Wiesen von unglaublichem, smaragdenem Glanz unter einem Himmel, der hell und nicht dunkel war; bezaubernde, halb durchsichtige Fabelwesen, die auf blauem Rasen grasten. Schließlich erschien ein schwarzer Riss, der sich über den Himmel zog, und Donal begann zu laufen, immer schneller, kam aber kaum vom Fleck, während Wörter – oder waren es Fingernägel? – über seine Haut kratzten und etwas flüsterten, was er nicht hören konnte – nicht ganz. Wir sind die Knochen, schien das Gras unter seinen Füßen zu sagen. Im Schlaf lief Donal noch schneller. Wir sind die Knochen. Wir kennen dich jetzt.
72
VIER Neun Tage später saß Donal mit Levison in seinem Büro, schaute auf seine Armbanduhr und fragte sich, ob die Maschine der Diva wirklich pünktlich landen würde. Den ganzen gestrigen Tag über hatte Tristopolis in dichtem Sommernebel gelegen, bis sich so gut wie gar nichts mehr rührte. Wie es aussah, würde es auch heute so bleiben. „Die Buchhaltung zieht mir das Fell über die Ohren“, klagte Donal, „wenn unsere Jungs eine Nacht umsonst im Hotel hocken, weil die Diva heute nicht kommt.“ „Die kommt schon.“ Levison blickte von dem Kreuzworträtsel in seiner gefalteten Zeitung auf. „Glaub’s mir.“ „Na schön.“ Donal beugte sich auf seinem Stuhl zur Seite und versuchte, aus dem Fenster zu schauen. Von seinem Platz aus war der Himmel nicht zu sehen, aber er konnte das Licht in der künstlichen Häuserschlucht abschätzen, und er registrierte die lilasilbernen Reflektionen in den Fenstern. „Ich bin versucht, darauf zu wetten.“ „Hör mal“, sagte Levison. „Du hast doch nichts getan, was du nicht tun solltest, oder, Boss?“ „Doch, mein ganzes Leben lang.“ Donal konzentrierte sich auf Levisons ernstes Gesicht. „Aber nichts Illegales. Wieso, was ist denn?“ „Ach, nichts.“ 73
„Na schön …“ „Es ist nur, ich hab mit Helven im Archiv geplaudert …“ „Und wie geht’s ihr? Hast du sie schon auf einen Kaffee eingeladen? Oder sie dich? Weiß deine Frau Bescheid?“ „… jedenfalls ist mir da zufällig diese Frau bei den Personalakten aufgefallen.“ „Und dabei hätte deine Aufmerksamkeit einzig und allein Helven gelten sollen. Also wirklich, Lev.“ „Deine Akte, Donal. Diese nett aussehende Blondine hielt sie in der Hand.“ „Aha.“ Donals Stuhl knarrte, als er sein Gewicht nach hinten verlagerte. „Und?“ „Und sie hatte ‘ne Knarre und war garantiert keine Büromaus.“ In Levisons Akzent schlugen wieder die Straße und seine Kindheit durch. Und die von Donal. „Kapiert? Sah für mich wie jemand von der Internen aus.“ „Inferno hat keinen Grund, sich mit mir zu befassen, Kumpel.“ „Na dann.“ Levison nickte. „Gut.“ „Abgesehen von den Millionen, die ich gebunkert habe …“ „Hades, Donal. Mach keine Witze über solche Sachen.“ „Schon gut. Hast du einen Wagen bestellt?“ „Zum Flughafen? Ja.“ Levison warf einen Blick auf die kleine Uhr auf Donals Bücherschrank. Im Innern der Zweikammeruhr tropfte dunkelgrüne 74
Flüssigkeit von der unteren Kammer in die obere, wodurch sich der Sekundenzeiger bewegte. „In fünfundfünfzig Minuten, unten.“ „Prima. Trink du mal weiter Kaffee.“ Donal stand auf. „Ich hab was zu erledigen.“ „Okay, Boss.“ Donal nahm seine Anzugjacke vom Haken und zog sie an, während er das Büro verließ – hauptsächlich für den Fall, dass er mit einem Zivilisten sprechen musste, bevor er zurückkam: Wenn man die Kanone versteckte, kam man in Gesprächen für gewöhnlich schneller voran. Außer beim Verhör. Der Fahrstuhlschacht öffnete sich, als er noch drei Meter entfernt war. *Hallo, mein Schatz. Hast mir gefehlt.* Und als er eintrat: * Wie lang ist es her?* „Eine volle Stunde.“ *Kommt mir länger vor.* „Bring mich zum Stand, Gertie.“ Unsichtbare Finger schienen über seinen Körper zu streichen. * Mal sehen, was ich tun kann …* Aber Donal fiel bereits den Schacht hinunter. „Benimm dich.“ *In Ordnung.* Die Hände begannen Donals Sturz abzubremsen. * Wie soll ich mich denn benehmen, gut oder schlecht?* „Hades.“ *Was ist denn das für eine Ausdrucksweise!* Gertie übte horizontalen Druck auf Donals Rücken aus. *Unartiger Junge.* 75
Die Kraft trieb Donal in den Flur hinaus. Er drehte sich zu einer Erwiderung um, aber der Schacht hatte sich bereits geschlossen. Seine bissige Entgegnung würde warten müssen. Aus dem Schießstand drang das eintönige Knallen mehrerer Schüsse. Jemand war dort schwer bei der Arbeit. Als Donal eintrat, saß Brian hinter seinem Tresen. Er trug ein schickes Hemd und eine Krawatte, und seine Haut war blauer als sonst. Hinter ihm blätterten zwei Männer mit ausdrucksloser Miene in Aktenmappen und in Schachteln aufbewahrten Unterlagen über entliehenes und zurückgegebenes Material. „Hey, Brian. Wie läuft’s?“ „Hab gerade Besuch von meinen IntSec-Kumpels. Stimmt’s, Jungs? Abgesehen davon geht alles seinen gewohnten Gang, Lieutenant.“ Brian zwinkerte Donal zu, als wollte er ihm für die Warnung danken, dass die Interne Sicherheit kommen würde. Dabei war es Donal selbst gewesen, der IntSec angerufen und gebeten hatte, den Schießstand zu überprüfen, und wenn Brian seine dämlichen Zielscheiben – Zeichnungen tristopolitanischer Politiker und dergleichen – nicht ausrangiert hatte, würde er selbst ausrangiert werden. Donal beugte sich über den Tresen. Die IntSecMänner blickten auf. „Lasst euch von Brian keinen Scheiß erzählen, okay?“ „Tun wir nicht, Lieutenant.“ In der Antwort lag 76
keinerlei Humor; es war eine nüchterne Tatsachenfeststellung. Keiner der beiden IntSec-Männer entsprach der Beschreibung, die Levison ihm gegeben hatte: eine nett aussehende Blondine mit Donals Personalakte in der Hand. „Geben Sie mir zweihundert Schuss“, sagte Donal zu Brian. „Und einen Stapel Zielscheiben, Ghule und Menschen gemischt.“ „Sollen Sie haben.“ „Ach, Lieutenant …“ Einer der IntSec-Männer, der Ruhigere, hielt eine Aktenmappe hoch. „Sie haben gestern unterschrieben, dass Sie Munition bekommen haben. Wissen Sie noch, wie viele Patronen es waren?“ Brians blaue Haut begann blasser zu glänzen. Donal schüttelte den Kopf. War Brian wirklich so dumm, die Anzahl der ausgegebenen Patronen zu ändern, den Verbrauch zu hoch anzusetzen und die Differenz in die eigene Tasche zu stecken? „Tut mir leid“, sagte Donal. „Kann mich nicht erinnern.“ Donal verschoss seine zweihundert Patronen und kehrte zum Tresen zurück. Die Jungs von IntSec waren immer noch da; sie schauten in die Zielscheibenschubladen und Archivschränke. Donal ließ sich von Brian weitere hundert geben, kehrte wieder in den Schießstand zurück und schoss seine Zielscheiben in Fetzen. 77
Als er zum zweiten Mal zurückkam, war Brian allein. „Diese IntSec-Kumpels“, sagte Donal. „Haben die sich für heute verabschiedet?“ „Äh … klar. Wieso nicht?“ „Ich weiß genau, dass mit dem Bestand alles in Ordnung ist. Ist es doch, Brian, oder?“ „K-klar.“ „Sie haben lange Streifendienst gemacht. Ich weiß das zu schätzen …“ „Danke, Lieutenant.“ „… aber wenn ich zu der Überzeugung gelangen muss, dass hier Munition oder Waffen auf Abwege geraten, jage ich Ihnen höchstpersönlich eine Kugel zwischen die Augen. Verstanden?“ Brian fiel die Kinnlade herunter. Das war die einzige Antwort, die Donal bekommen würde. „Mist.“ Donal verdrehte sein Handgelenk. „Und jetzt bin ich Ihretwegen zu spät dran.“ „T-tut mir leid.“ Donal marschierte aus dem Schießstand und lenkte seine Schritte zum Fahrstuhl. Gerties Tür ging rasch auf, und sie trug ihn mit einem ganz leisen, frechen Summen in seinem Ohr – Fetzen eines alten Songs, den er kaum erkannte und dessen Titel ihm erst recht nicht einfiel – zur Tiefgarage hinauf. Im Laufschritt eilte Donal in das hallende Betonparkdeck und erspähte einen Streifenwagen, der mit laufendem Motor und offener Fondtür dastand. Zwei uniformierte Beamte saßen vorn, und Levison hockte auf dem Rücksitz. 78
„Zum Flughafen“, sagte Donal leise zum Fahrer, während er einstieg. „So schnell wie möglich.“ Er schlug die Tür mit einem unnötigen Knall zu. Die Uniformierten verstanden. Sie reihten sich mit dem Wagen in den Verkehrsstrom draußen ein, aktivierten das Schwarzlicht und schalteten die Sirene von Heulen auf maximales Getöse. Für mehrere Blocks war der Verkehr so stark, dass es keinen Unterschied machte, aber dann waren sie auf Straßen, wo die Autos fuhren – es war später Vormittag, kein Stoßverkehr –, und es erwies sich als effiziente Zeitsparmethode, andere Fahrer zu erschrecken. Die Gebäude warfen schwarze Blitze zurück, als der Wagen beschleunigte und zwischen halb vollen Fahrspuren hin und her wechselte. Sie überfuhren drei rote Ampeln hintereinander, bevor sie den OrbSinister Expressway erreichten. Alle neun Spuren führten geradewegs zum Zentrum des dreihundert Meter hohen Totenschädels, der die Ostgrenze der Innenstadt kennzeichnete, und mündeten in der linken Augenhöhle dieses riesigen Konstrukts – oder vielleicht war es ein Relikt? Niemand wusste es. Sie fuhren in einen kilometerlangen runden Tunnel, der nur von körperlosen, über ihnen tanzenden Flammengeistern erhellt wurde. Die Geister versahen heutzutage nur noch für kurze Zeiträume ihren Dienst, weil die Belastung durch den Verkehr enorm stark war und sich jeder an den Tunnel-Unfall von ‘93 auf dem Orb-Dexter Freeway 79
erinnerte. Damals war unter den Flammengeistern – viele von ihnen schon im zweiten Jahrhundert ihrer Knechtschaft – eine Art Gruppenhysterie ausgebrochen. Geister dekorporierten explosiv in einem Funkenschauer; die Fahrer wichen erschrocken aus. Bei der anschließenden Massenkarambolage von mehr als hundert Wagen waren Dutzende ums Leben gekommen. Kurz darauf war der Streifenwagen wieder draußen im Freien. Schwere, purpur-graue Wolken bedeckten den Himmel. Donal fühlte sich immer noch eingeschlossen. Sie durchquerten das Geschäftsviertel von Prismatic Trance mit seinen in allen Regenbogenfarben schillernden Leuchtreklamen und seinen unzähligen Illusionen. Schließlich erreichten sie die Ausfahrt zum Flughafen. Der Fahrer ging auf die Überholspur und trat das Gaspedal durch. Als sie durch das bedrohlich aussehende ZweiPanther-Tor des Brody Airports fuhren – benannt nach Fisticuffs Brody, der immer noch als der beste Bürgermeister galt, den die Stadt je gehabt hatte –, verdichtete sich der Nebel über ihnen. Bei einer Polizeieinfahrt bremsten sie und bogen dann auf eine Rampe ab, die in die Tiefen des Terminals Aleph hinunterführte. „Gute Arbeit, Jungs“, sagte Levison. Er sah Donal an. „Äh, ja. Gutgemacht.“ 80
„Sir.“ Der Fahrer lenkte den Wagen ordentlich in eine Parklücke. „Glauben Sie, dass die Maschinen pünktlich sind?“, fragte der andere uniformierte Beamte. „Nicht bei diesem Nebel“, murmelte Levison. „Na ja, dann haben wir mehr Zeit, uns umzusehen. Stimmt’s, Boss?“ „Stimmt.“ Donal blieb noch einen Moment reglos sitzen. Seine Nervosität war vielleicht von einer unterschwelligen Wahrnehmung ausgelöst worden … „Alles okay?“ „Ja.“ Donal ließ die Fahrt – den Weg zum Flughafen – noch einmal vor seinem geistigen Auge ablaufen, spürte jedoch keine spezifische Reaktion auf irgendeinen Abschnitt der Route. Verdammt. Es war die gesamte Operation, die ihm Sorgen bereitete. Ein Mörder konnte von überallher zuschlagen. „Dann wollen wir mal.“ Sie stiegen aus dem Streifenwagen. Was immer Polizeichef Vilnar über die Begrenzung der Kosten für Überstunden gesagt hatte, es gab nur eine Möglichkeit, den Anschlag zu verhindern: Man musste für eine sichtbare Präsenz sorgen. Das würde zweierlei klar machen: Der Killer – männlich, weiblich oder nichtmenschlich – würde sein Leben opfern müssen; und niemand würde hinterher den Leichnam entwenden. Auf einer Rolltreppe aus Glasplatten, deren massiv 81
umschlossene Levitationsrunen düster leuchteten, stand Levison eine Stufe über Donal, während sie durch ein siebenstöckiges Atrium nach oben fuhren. Donal ließ den Blick über die Menge schweifen. Männer mit tief in die Stirn gezogenen Filzhüten standen an Ecken und Säulen und anderen strategisch günstigen Punkten, die Hände in den Manteltaschen. „Alles unsere Leute“, erklärte Levison. „Gut.“ „Aber du möchtest, dass ich später mal eine kleine Runde mache. Stimmt’s, Boss? Und sie persönlich überprüfe.“ Donal schaute zu Levison hinauf. „Ich hasse es, berechenbar zu sein.“ „Ich wusste, dass du das sagen würdest.“ „Leck mich, Lev.“ „Und ich wusste auch, dass du …“ „Ich mein’s ernst.“ Aber Levison grinste, als sie von der Rolltreppe stiegen. Sie wussten beide, dass diese Runde an ihn ging. Die Maschine landete mit Verspätung. Alles war in dicken, blassgrauen Nebel gehüllt, als das viermotorige Flugzeug von Dagger Airlines beim Terminalgebäude zum Stehen kam. Das Bodenpersonal fuhr die Treppe zum Ausstieg und rollte den langen, karmesinroten Teppichstreifen aus. Reporter und Fotografen drängten sich so dicht heran, wie sie konnten, im Zaum gehalten von Beam82
ten vom tausendfünften Revier. Mehrere lokale Würdenträger, darunter Bezirksrat Alexei Brown, waren anwesend, um die Diva zu empfangen. Die Propeller rotierten langsam, und schließlich blieben sie einer nach dem anderen stehen. Weiße Magnesiumblitzlichter flammten auf, als die Diva in der offenen Tür erschien und auf der obersten Stufe innehielt. Donal schaute vom Rand der kleinen Menge aus hoch und sah das dreieckige, fein geschnittene Gesicht, das er aus den Zeitschriftenartikeln kannte, die er während der Woche gelesen hatte. Ihm war nicht klar gewesen, wie schön Maria daLivnova war; doch als sie herabstieg, regierte eine Art eiserner Eleganz jede Bewegung, und als sie am Fuß der Treppe erneut stehen blieb, war ihre Präsenz geradezu überwältigend. Sie schaute sich mit einem breiten, strahlenden Lächeln um, das die Botschaft vermittelte: Hierzu sein, erfüllt mich mit Freude. Ihr Blick ging über Donal hinweg, ohne innezuhalten. Er hatte damit gerechnet, dass sie an den Arrangements herumkritteln würde, doch dies war schlimmer: Sie nahm nicht einmal seine Existenz zur Kenntnis. Aber warum sollte sie auch? Er machte hier seine Arbeit, die Diva war eine zu schützende Ware, und wenn er die Kugel eines Attentäters für sie abfangen musste, nun, dazu war er schließlich Cop geworden, dafür wurde er bezahlt. 83
„Wie gefällt es Ihnen in Tristopolis?“, rief ein Reporter. Er trug einen dunklen Hut und hielt Notizblock und Stift bereit, um die Antwort der Diva festzuhalten. „Hübschen Nebel habt ihr hier.“ Gelächter bei den Reportern. Nach dem Händeschütteln fuhren drei schwarze Limousinen mit schwarzen Windschutzscheiben auf der Rollbahn vor. Die Assistenten des Bezirksrats geleiteten die Diva zum mittleren Wagen. Sie stieg ein und setzte sich, behielt jedoch einen stilettobeschuhten Fuß für eine letzte Salve Blitzlichtfotos auf dem karmesinroten Teppich draußen. Dann zog sie den Fuß hinein, und ein Assistent schloss die Tür. Donal stieß fast unmerklich den Atem aus. Dies war der erste mögliche Fixpunkt für einen Hinterhalt, und sie hatten ihn heil überstanden. Wenn es allen während der nächsten achtzehn Tage gelang, weiterhin in höchstem Maße wachsam zu bleiben, die Nerven bis zum Zerreißen gespannt, würden sie es schaffen. Zwei Wochen. Zumindest würden die beiden Wochen rasch vergehen, denn sie würden keine Zeit haben, innezuhalten und sich auszuruhen. So lautete Donals Theorie. Er stieg in einen der vorfahrenden Streifenwagen, während die anderen vor und hinter den Limousinen Formation annahmen. Er schaute zum Flugzeug zurück. Die Journalisten zerstreuten sich, die Würdenträger saßen in den Wa84
gen, und nun durften auch die normalen Fluggäste aussteigen. Niemand wartete auf sie, um Fotos von ihnen zu schießen oder sie zu fragen, wie es ihnen hier gefiel. Kradbegleiter auf niedrigen Motorrädern, Polizisten mit Helmen und Lederjacken, an deren Benzintanks seitlich Spitguns angebracht waren, schwenkten zu beiden Seiten der Kavalkade ein. Alle Wagen setzten sich in Bewegung. Donal schaute aufmerksam in sämtliche Richtungen. Er hatte einen Hubschrauber über ihnen haben wollen, aber der Nebel war noch besser, er gewährte ihnen Sichtschutz gegen Heckenschützen auf Hausdächern: nicht so sehr hier, aber spätestens dann, wenn sie die Wolkenkratzer im Stadtzentrum erreichten. Nur dass in diesen architektonischen Schluchten der Nebel dünner sein würde. Verdammt. Überall wimmelte es nur so von Gelegenheiten für einen Anschlag. Der Wagen der Diva hielt vor dem Exemplar. Hier hatten sich nicht nur Journalisten, sondern auch viele Fans auf den Bürgersteigen versammelt. Donals Nerven spannten sich, als er schnell aus dem Wagen stieg und den Uniformierten an der Absperrung seine Marke zeigte, damit sie ihn durchließen. „Schön, Sie zu sehen, Lieutenant“, sagte einer von ihnen, ein grauhaariger alter Hase, den Donal kannte. „Sieht aus, als wären die alle hier, weil sie ein Autogramm von Ihnen haben wollen.“ 85
„Die fotografieren euch.“ Donal tippte sich in einem lässigen Gruß an die Stirn, während er die Fenster der oberen Geschosse auf der anderen Straßenseite musterte. „Okay, auf geht’s.“ Die Diva stieg aus ihrem Wagen, und die Polizisten hakten sich unter, um dem zunehmenden chaotischen Druck der Menge standzuhalten, als die weiter hinten Stehenden nach vorn drängten. Die tanzenden Flammen über der Treppe warfen goldene Glanzlichter auf die Diva, die stehen blieb, um der Menge zuzuwinken – nicht im Freien stehen bleiben, verdammt –, dann die Treppe hinaufstieg und unter den dekorativen Baldachin vor der Tür trat. Selbst dort würde ein Suchergeschoss sie problemlos aufspüren. Donal gab den Türstehern ein Zeichen, die Diva hineinzugeleiten. Einer von ihnen verbeugte sich und murmelte einen Gruß, während er nach drinnen zeigte, und die Diva schien ins Foyer zu gleiten. Drinnen waren Donals Männer bereits an strategisch günstigen Punkten postiert. Er fühlte sich allmählich besser. Während die Diva den Fahrstuhl nahm – bedient von einem menschlichen Fahrstuhlführer, der angemessen demütig aussah –, lief Donal die Treppe hinauf, immer drei Stufen auf einmal. Als er im zweiten Stock ankam, ging sein Atem laut und schwer, und auf seinem Körper bildete sich eine Schweißschicht: die Reaktion auf einen bevorstehenden anstrengenden Lauf. 86
Die Suite der Diva lag jedoch im sechsundvierzigsten Stock, zu weit oben für einen Sprint, und darum ging Donal über den Flur zum Wäschelift, wo Levison bereits wartete. Er war vor der Kavalkade hergekommen, hielt jetzt Donal die Messingtür auf und sagte mit beinahe schläfriger Miene: „Welche Etage, Sir?“ Aber er hatte bereits auf 46 gedrückt und zog die Tür zu, bevor Donal noch ganz drin war. Die Fahrstuhlkabine ruckte, fuhr rasselnd ein, zwei Meter nach oben und stieg dann mit zunehmender Geschwindigkeit ruhiger in die Höhe. „Schön, dass du so gelassen wirkst“, sagte Donal. „Wenn CommissionerVilnar volles Vertrauen in dich hat“ – Levison verzog keine Miene – „wieso sollte dann ausgerechnet ich anderer Meinung sein?“ „Da hast du völlig recht.“ Donal zog seine Magnus ein kleines Stück aus dem Schulterhalfter und steckte sie wieder hinein. So weit alles in Ordnung. „An deiner Stelle wäre ich auch gelassen.“ „Und was ist mit dir?“ „Ich hab eine Scheißangst. Kann’s kaum erwarten, dass die ganze Sache vorbei ist und die Diva wieder im Flugzeug sitzt und sonstwohin fliegt, nach Rio Exotico oder so.“ „Aha.“ Levison nickte, während die Nadel der Stockwerksanzeige die 40 überschritt und der Fahrstuhl allmählich langsamer wurde. „Deshalb sind wir anderen alle so entspannt. Wenn du nervös bist, ist alles unter Kontrolle.“ 87
„Schön zu wissen.“ Der Lift hielt rasselnd an, und Levison zog die Messingtür auf. „Sieht so aus, als wären wir bereit.“ Zwölf Uniformierte waren im Flur postiert. In den Etagen darüber und darunter hatten Detectives bereits Position bezogen. Zwei Angehörige von Donals Einheit öffneten grinsend die Tür der Suite gegenüber von jener der Diva. „Hey, Boss. Lev. Irgendwelche Wünsche an den Zimmerservice?“ „Zum Hades noch mal …“ „War bloß ein Scherz, Donal.“ „Wo ist die …“ „Sie kommt gerade.“ Levison fasste Donal am Arm. „Da.“ Eilig gingen sie zu den Gästeliften, als der Fahrstuhl der Diva hielt und die goldenen Türen aufglitten. Sie trat heraus, Maria daLivnova, Diva der Sonderklasse. Whitrose, der Generaldirektor des Hotels, war katzbuckelnd an ihrer Seite. „Äh … Miss daLivnova, haben Sie Lieutenant – äh – Riordan schon kennengelernt? Er ist verantwortlich für die … Arrangements während Ihres Aufenthalts.“ „Nein, ich hatte noch nicht das Vergnügen.“ Der Blick, mit dem sie Donal musterte, war belustigt, mehr nicht. Ihm stockte bei ihrem Anblick jedoch der Atem, und vielleicht blieb ihm sogar das Herz stehen. 88
So schön … Und eine Zielscheibe, wenn er seinen Job nicht anständig erledigte. „Ist mir eine Ehre, Ma’am“, brachte Donal mühsam heraus. „Wenn wir bei Gelegenheit noch mal ein paar Worte über die Sicherheitsmaßn – “ „Ein glamouröser Detective. Für mich. Also wirklich, ich bin gerührt.“ Dann rauschte sie an ihm vorbei, gefolgt von ihren beiden Assistentinnen. Die zwei waren vom Management abgestellte Mitarbeiterinnen des Théâtre du Loup Mort; sie hatten in der Limousine gesessen, mit der die Diva abgeholt worden war. Donal hatte beide befragt. Danach hatte Levison, der viel leichter einen Draht zu Fremden fand, einzeln mit ihnen gesprochen. Keine von beiden schien ein Sicherheitsrisiko darzustellen; beide sahen schon so gestresst aus, wie Donal sich fühlte. Ein glamouröser Detective. Donal sah zu, wie die Tür zur Suite der Diva ins Schloss fiel. Er stieß den Atem aus. Genau, das bin ich. Die erste Vorstellung änderte alles. Donal stand im dunklen Innern einer Loge im obersten Rang. Polizeichef Vilnar war einer von sechs Würdenträgern, die darin einen offiziellen Sitzplatz hatten. Unten, außerhalb des Saales, hatten bewaffnete Polizisten unübersehbar Position bezogen; in einer 89
anderen Loge hockten zwei Scharfschützen des Departments in Zivil, die Gewehre zu ihren Füßen. Levison saß im Parkett. Andere Mitglieder von Donals Team waren im Publikum verteilt. Die sichtbare Präsenz draußen stellte die erste Abschreckungsschicht dar; aber Donal nahm an, dass ein ausgebildeter Killer auch die beiden Scharfschützen erkennen würde: ihr grimmiger Blick schweifte fortwährend über das Publikum unten. Trotz des Smokings sah keiner der beiden wie ein Opernliebhaber aus. Sie waren die zweite, ebenfalls sichtbare Schicht. Die dritte Schicht war Donals Einheit. Wenn Levison es ihm nicht gesagt hätte, wäre Donal nie daraufgekommen, dass die übergewichtige, grauhaarige Dame mit den Diamanten und der Pelzstola Sergeant Miriam Delwether war, einer der besten Schützen des Departments. Dies war der Premierenabend, und wenn jemand einen Anschlag auf das Leben der Diva verüben wollte, dann wäre dies der dramatischste Moment dafür. Die Lichter erloschen, im Saal wuchsen unregelmäßige Schatten, und Donal achtete auf jede Bewegung, jede Licht-Spiegelung – dort – er zwang sich, sich zu entspannen – nur ein Opernglas – und weiterhin nach jedem Anzeichen für eine in Anschlag gebrachte Waffe Ausschau zu halten. Auf der Bühne begann die Vorstellung. Farbenprächtige Kostüme leuchteten, ja loderten geradezu 90
an der Peripherie von Donals Gesichtsfeld: Die Eröffnungsszene von Morf d’Alanquin spielte an einem königlichen Hof inmitten von Prunk und Pomp. Das trug nicht gerade zur Erhaltung der Dunkeladaptation von Donals Augen bei. Er musterte weiterhin das Publikum. Aus dem Augenwinkel heraus registrierte er die tanzenden Gestalten auf der Bühne. Mit der Zeit wurde die Szene jedoch immer statischer, und der Gesang gewann an Bedeutung. Als die Diva von links auf die Bühne kam, beim Eingang zum königlichen Hof, huschte Donals Blick mehrmals durch den Saal: Parkett, Rang, Logen, zur Bühne, dann wieder zu den Sitzplätzen unten. Und dann öffnete sie den Mund und begann zu singen. O mein Tod … Die Diva sang, rein und kristallklar, und bezauberte jeden mit ihrer unschuldigen Frage an den Hof: Ist dies der Ort, wo der große König Gericht hält? Als das Solo zu Ende war, senkte die Diva den Kopf, während Wogen von Applaus durch den Saal brandeten. Donal rieb sich das Gesicht mit den Händen und merkte, dass er während der letzten Minuten der Arie nur auf sie geachtet hatte. Minuten, die ein ganzes Leben hätten sein können. Konzentrier dich, verdammt noch mal. Es ging nicht nur um die Gefahr, in der die Diva schwebte. Wenn im Publikum Kugeln zu fliegen begannen, wenn seine eigenen Leute das Feuer eröffne91
ten, würde er sich dafür verantworten müssen. Und wenn eine wichtige Persönlichkeit ums Leben kam und ihre Angehörigen den Blutpreis verlangten, würde ihn nicht Commissioner Vilnar, sondern Donal zu zahlen haben. Doch obwohl Donal beim nächsten Solo der Diva mit aller Macht versuchte, woandershin zu schauen, wanderte sein Blick immer wieder zu ihr, wie bei einem erschöpften Mann, dem das Kinn beständig auf die Brust sinkt, auch wenn er sich noch so oft ruckartig aufrichtet und wach zu bleiben versucht. So viel zum Thema Sicherheit. In der Pause verdrückte sich Donal aus der Loge. Er ging nach unten und begab sich hinter die Bühne, vorbei an zwei bulligen Uniformierten, die er gut kannte: die Brodowski-Brüder. Im Kraftraum hießen sie bei ihren Kollegen ,die Barbaren’. „Alles klar, Jungs?“ „Ja, obwohl ich glaube, Al hat beim letzten Lied geweint.“ „Aber du nicht, was?“ Hades, die beiden waren ja genauso schlimm wie er. Donal stieg eine Holztreppe hinauf und trat durch den schweren, überlappenden Vorhang. Männer in braunen Overalls schoben schwere Fassaden – Burgzinnen – auf riesigen Gleitrollen umher. Mitglieder des Ensembles, die nicht viel Zeit auf der Bühne verbracht hatten, unterhielten sich leise miteinander; die anderen saßen bestimmt in der Garde92
robe und brachten ihren Flüssigkeitshaushalt wieder auf Vordermann. Eine gelenkige junge Frau kam halb nackt vorbei und schlüpfte dabei in eine Bauernbluse. Donal schluckte und zwang sich dann, langsam auszuatmen. „Kann ich Ihnen helfen?“, fragte ein Bühnenarbeiter. „Nein … Doch. Sehen Sie hier jemanden, der nicht hierher gehört?“ „Äh … glaub nicht.“ Der Bühnenarbeiter warf einen Blick auf die junge Schauspielerin, die ihre Bluse zurechtzog, und sah dann wieder Donal an. „Außer Ihnen, Officer. Wir anderen sind daran gewöhnt.“ „Muss ein hartes Leben sein.“ „Vorsicht, hart könnte hier ein Reizwort sein.“ Der Bühnenarbeiter zwinkerte. „Jedenfalls für ein paar von den Jungs.“ Hades … Donal sah sich ein letztes Mal auf der Bühne um. Ganz oben, über den Bühnenscheinwerfern, war ein Gerüst, von dem man Gegenstände an fast unsichtbaren Seilen herablassen konnte. Dort oben war ein massiger Mann mit einem Skript in der Hand, bereit, seine Stimme ertönen zu lassen: die Stimme des Geistes im nächsten Akt. Bei ihm waren zwei Polizisten in Zivil. Einer von ihnen winkte Donal kurz zu. Donal erwiderte den Gruß. Alles klar. 93
Er ging wieder zu den Brodowski-Brüdern hinaus. „Gut, dass ihr die Stellung haltet. Das ist die Hölle da hinten.“ „Wieso, Lieutenant?“ „All diese nackten Schauspielerinnen, die sich umziehen. Überall hüpfende Brüste. Mein Blutdruck ist nonstop durch die Decke gegangen.“ „Mannomann …“ Dritter Akt. Die Handlung überstieg Donals Horizont, aber er wurde nicht dafür bezahlt, der Geschichte zu folgen. Trotzdem schaute er immer wieder zur Bühne hinunter. Commissioner Vilnar war genauso gefesselt. Ob die Diva nun solo sang oder wie jetzt im Rahmen eines komplizierten Duetts, bei dem sie den Prinzen wegen seines unbedachten Umgangs mit der Bevölkerung kritisierte – sie bezauberte Donal ebenso wie jeden anderen im Theater. Vierter und letzter Akt. Das gesamte Ensemble war auf der Bühne und spielte die Schlachtszene und dann die Zusammenkunft beider Parteien in ihrer Trauer um die Toten. Als die Diva die herzzerreißende Abschiedsarie für den erschlagenen Prinzen sang, spürte Donal, wie seine Nerven aus seinem Körper gerissen, seine Seele von Klauen herausgezerrt wurde. Tränen liefen ihm in stummen Strömen über die Wangenknochen. 94
Keine Schüsse ertönten. Niemand rannte auf die Bühne und stieß der Diva einen Dolch ins Herz. Das war auch gut so, denn weder Donal noch einer der Polizisten – nicht einmal die gebannten Scharfschützen in der Loge gegenüber – wäre imstande gewesen, die Gefahr zu erkennen oder etwas zu unternehmen, während dem makellosen Mund der Diva dieser reine, erhabene Klang entströmte. Und dann war die Arie zu Ende. Donal senkte schweigend den Kopf. Er verließ die Loge, wischte sich mit dem Handrücken Tränen aus dem Gesicht, und als er im Parkett ankam, war er praktisch wieder normal. Die beiden Detectives, die am Seiteneingang des Saales stationiert waren, hatten immer noch feuchte Augen. „Ihr seid Profis, also benehmt euch auch so“, mahnte Donal, als er hindurchging. „Sir.“ Donal sah von der Seite aus zu, wie die Beifallsstürme anwuchsen, abebbten und dann erneut zunahmen. Das Ensemble verbeugte sich, aber der größte Jubel galt der Diva. Und nach ihr dem Prinzen, oder vielmehr dem Mann, der diese Rolle sang – höchstens ein Viertel des Publikums und keiner der Polizisten kannte seinen Namen. Blumen flogen in hohem Bogen durch die Luft, geworfen von begeisterten Opernbesuchern, und Donal zuckte jedes Mal zusammen, wenn sich einer der Scharfschützen in ihrer Loge bewegte. Aber keiner von ihnen hob seine Waffe über den Rand der Balustrade. 95
Ein kleines Mädchen brachte einen riesigen Blumenstrauß, größer als sie selbst, auf die Bühne. Die Diva nahm ihn entgegen und gab dem Mädchen einen Kuss auf die Wange, was ihr erneutes Klatschen und Jubelrufe einbrachte. Schließlich fiel der Vorhang und blieb unten. Das Licht ging an, so hell, dass Donal die Augen zusammenkneifen musste. Schlangen glücklicher Menschen rückten leise plaudernd und schwatzend durch die Gänge zu den Ausgängen vor, während Donals Anspannung ihren Höhepunkt erreichte. Im emotionalen Ausklang der letzten Arie war er erleichtert gewesen. Doch nun war niemand mehr auf der Hut, und dies war ein Gefahrenmoment. Niemand hatte behauptet, dass die Diva bei dem Mordanschlag auf der Bühne stehen musste. „Bleibt wachsam, verdammt noch mal“, sagte er zu den beiden Brodowskis, während er den Bereich hinter der Bühne erklomm. „Hm? In Ordnung.“ „Verstanden, Lieutenant.“ In der Garderobe der Diva drängten sich die Gratulanten; es gab Champagner in einem mit ziselierten Runen geschmückten, silbernen Kübel, Heptagramme aus ineinander verwobenen blauen Orchideen und indigofarbenen Rosen und eine schnatternde Kakofonie von Glückwünschen. Levison stand in seiner bescheidenen Art im Hintergrund und half mit den Blumensträußen. 96
„Ganz herzlichen Dank“, sagte Levison leise zu dem kräftigen Sohn eines bekannten Geschäftsmanns, dem die Supermarktkette Schwarze Viper’ gehörte. Der Blick des Mannes ging nicht einmal für einen Sekundenbruchteil in Levisons Richtung. Donal sah vom Eingang aus zu und hob die Augenbrauen, als Levison ein weiteres Bouquet in Empfang nahm. Ein ganz leises Lächeln ging über Levisons Gesicht: Es bedeutete, dass ihn jedermann ignorierte, ohne sich bewusst zu sein, dass seine Anwesenheit die Sicherheit der Diva in diesem Raum gewährleistete. Donal beobachtete die kriecherischen reichen Besucher, atemlos in der Gegenwart von Ruhm … aber auch von echtem Talent, und das entschuldigte sie vielleicht. Totenschädelförmige Manschettenknöpfe aus Platin, weiß-goldene Armringe mit Diamanteinlagen … keine offen sichtbaren Waffen. Und keine Körpersprache, die etwas Dringlicheres verriet, als in der Anwesenheit der Diva zu baden. Eine Sekunde lang nahm die Diva Notiz von Donal und schenkte ihm ein kaum merkliches Nicken. Es war ein Gefühl, als würde eine große Zahl von Geisterfingern über sein Rückgrat streichen. Dann richtete die Diva ihre Aufmerksamkeit auf eine füllige Frau in einem elfenbeinfarbenen Gewand, die sie mit Glückwünschen überschüttete, und der Augenblick war vorbei. Donal drängte sich wieder in den engen Korridor 97
hinaus. Dann ging er zur Bühne zurück, überprüfte Winkel und untersuchte Schatten. Alles klar. Die Brodowski-Brüder hielten jetzt am Seitenausgang Wache, und Al – der etwas Größere der beiden – machte Donal die Metalltür auf. Draußen stand die Limousine bereit. Zwei Mitglieder von Donals Einheit, Petrow und Duquesne, warteten in ihren besten Anzügen neben dem Fahrzeug. Ihre Blicke schweiften über die Dächer und über ihre ebenerdige Umgebung. „So weit, so gut“, sagte Duquesne. „Wir haben Avram auf dem Dach. Keine Probleme da oben.“ „Trotzdem – immer schön wachsam bleiben.“ „In Ordnung.“ Petrow nahm sich eine Sekunde Zeit, um Donal anzusehen. „Und wie viele Nächte sollen wir wachsam bleiben?“ Donal antwortete nicht. Die Frage war rhetorisch, und Petrows Ton war mild: keine Beschwerde, sondern eine Bemerkung. Verdammt, verdammt, verdammt. Denn niemand konnte ewig wachsam sein. Beim anschließenden offiziellen Empfang gab es ein Büfett mit Kanapees, Hors d’ceuvres und zahllosen pikanten Speisen. Commissioner Vilnar sah prachtvoll aus mit seinem Kummerbund, und er beglückwünschte Donal sogar zu den bisherigen Sicherheitsmaßnahmen. „Danke, Sir“, war alles, was Donal sagte – das Wort bisherige ignorierte er. 98
Wenn alles gut ging, würde der Polizeichef freudig einen warmen Regen von Dankbotschaften der städtischen Politiker auf sich niedergehen lassen; aber wenn der Diva etwas zustieß, würde es eine ätzende Dusche ganz anderer Art geben. Und sie würde auf Donals Kopf gerichtet sein. Donal schlenderte um die Menge der Partygäste herum und hielt kurz inne, um mit Levison zu sprechen, der sich an einem Teller voller fingergroßer Dinge labte, die alle in einem einzelnen schwarzen Auge zu enden schienen. „Was isst du da, Lev?“ „Keine Ahnung, aber es ist lecker. Mal probieren?“ „Nie im Leben.“ Als er weiterging, bemerkte ihn die Diva und winkte ihn herbei. Sie stand im Zentrum eines engen Halbkreises wichtig aussehender Leute. „Und das“, sagte die Diva, „ist mein glamouröser persönlicher Detective. Sehen Sie, wie die Stadt mich behandelt?“ „Ist uns ein Vergnügen“, sagte ein tristopolitanischer Stadtrat, der seine Platin-Amtskette über seinem mit Rüschen verzierten Smokinghemd trug. „Und Sie sind Captain …?“ „Lieutenant Riordan. Freut mich, wenn ich von Nutzen sein kann, Stadtrat.“ „Solches Talent und solche Schönheit“ – eine Geste mit weichen Fingern – „müssen unter allen Umständen bewahrt werden.“ 99
„Oh, Edward. Sie schmeicheln mir.“ Donal verbeugte sich knapp und trat beiseite. Die Diva warf ihm einen raschen Blick zu, und vielleicht sah er einen Anflug von Ironie in diesen dunklen, perfekten Augen. Dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Stadtrat, und die Gruppe fuhr mit ihrem netten, bedeutungslosen Geplauder fort. Clamouröser Detective. Donal blieb am Rand des Geschehens, bis die Party gegen zwei Uhr morgens endete. Er folgte der Diva, als sie schließlich zur Limousine hinunterging. Auf der Fahrt zum Exemplar Hotel waren die Straßen unheimliche, nahezu menschenleere und autofreie Täler. Zu dieser Stunde bewegten sich die Flammen, die über dem Eingang tanzten, so langsam, als wären sie müde, aber die Türsteher waren durchaus auf dem Posten, als sie der Diva die Tür öffneten. Sie stieg mit ihren beiden Assistentinnen die Treppe hinauf, flankiert von Petrow und Duquesne; Donal bildete die Nachhut. Die Nachtschicht war da, und Donals Dienst war zu Ende. Trotzdem konnte er nicht anders, als einen letzten Rundgang durch die leeren Hotelflure, das dunkle Restaurant und die stille, wenn auch nicht ganz leere Hausbar zu machen. Alles war in Ordnung. Er fuhr mit der Hypo-Bahn nach Hause und ignorierte den Betrunkenen, der ihn fast während der ganzen 100
Fahrt anstarrte. Niemand belästigte ihn, als er zu seinem Wohnhaus ging und sich Einlass verschaffte. In seiner Wohnung duschte er trotz der späten Stunde und des Ächzens der betagten Wasserleitungen mit Seife in der alten Duschkabine. Das Wasser versiegte, bevor er die Seife ganz abgewaschen hatte. Donal trocknete sich ab und setzte sich dann mit einer Flasche Jacques-Dauphin-Likör an den schmucklosen Holztisch. Er öffnete den Schraubverschluss, prostete den Schatten seines Zimmers zu und genehmigte sich einen großen Schluck. Der Likör rann ihm wie Feuer durch die Kehle. Zwei weitere Schlucke, und er schraubte die Flasche wieder zu. Obwohl er sich kratzig und unsauber fühlte, legte er sich auf das schlichte Bett, schaute zur Decke hinauf und wartete darauf, dass der Schlaf sein Werk tat. Toller Glamour. In einer menschenleeren Straße, zwei Blocks vom Exemplar Hotel entfernt, glitt um fünf Uhr morgens ein auf dem Rücken liegender Körper über den Bürgersteig. Nichts stützte seinen Kopf, die Fersen schleiften auf dem Boden, aber er bewegte sich. Dunkle Refraktionswellen schimmerten. Etwas schleifte den Bewusstlosen. Es zog ihn um die Ecke und ließ ihn dann los. Der Kopf des Mannes knallte mit einem übelkeiterregenden dumpfen Laut auf den Bürgersteig. Seine Nase 101
war zertrümmert, und in seiner Wange klafften tiefe Wunden. Neben seinem Kopf erstrahlten zwei teure, elegante Schuhe in schwarzem Glanz. Ihre Besitzerin trug ein graues Kostüm. „Was soll das?“, sagte sie. *Er hat sich beim Exemplar herumgedrückt. Ich habe ihn entdeckt.* „Und das ist alles?“ *Keineswegs. Schau in seine Taschen.* Die Frau warf einen raschen Blick in die Schatten. Dann ging sie auf ein Knie, steckte ihre behandschuhte Hand in die Taschen des übel zugerichteten Mannes und brachte eine Pfeilpistole zum Vorschein. Der darin steckende Bolzen war mit einer dunklen Flüssigkeit überzogen, deren Geruch sie sofort erkannte. „Mondschatten. Tödliche Dosis.“ Außerdem hatte der Verletzte eine Würgeschlinge bei sich, die so manipuliert worden war, dass sie sich selbsttätig zuzog, wenn man sie um den weichen Hals eines Opfers legte. Sie würde sich bis auf den Durchmesser einer Faust schließen … aber langsam. Keine schöne Art zu sterben. Die Frau richtete sich mit den Waffen in der Hand auf. Der Mann bewegte sich ein wenig, seine Lider flatterten, dann lag er wieder still. „Und was machen wir nun mit ihm, Xalia?“ Die Dunkelheit kräuselte sich, dann: *Gar nichts.* „Wie meinst du das?“ 102
*So wie ich es sage.* Die Frau schaute in beide Richtungen die Straße entlang, und dann sah sie es: zwei bernsteingelbe Augenpaare, die in schwarzen Schatten kurz aufleuchteten. „Ihn einfach hier liegenlassen? Für sie?“ *Komm schon, Laura. Er wollte die Diva ermorden.* „Ich weiß. Aber er gehört nicht zum Schwarzen Zirkel. Ist bloß ein einsamer Perverser.“ *Ganz meiner Meinung.* Der Wind schien die Worte herbeizuwehen. Die Frau – Laura – schaute noch einmal auf den Verletzten hinunter. „Hättest es dabei belassen sollen, dir mit deinen kranken Bildern im Kopf einen runterzuholen.“ Dann ging sie davon, und gleich darauf schwebte ihre sphärische Begleiterin in der Dunkelheit hinter ihr her.
103
FÜNF Donal erwachte um 5:23 Uhr, sieben Minuten, bevor sein Wecker klingelte. In den letzten Momenten seines Albtraums, der aus der Erinnerung hervorgesprudelt war wie Flüssigkeit aus einem Abfluss, glaubte er, einen verklingenden Schrei zu hören. Dann war es still. Er ging auf die Toilette, trank brackiges Wasser aus dem Hahn – wenigstens funktionierte er –, zog seinen alten schwarzen Jogginganzug an und verließ die Wohnung. Auf der Straße rührte sich nichts; dafür war es noch zu früh. Dreißig Meter über ihm flog eine Beobachtungsfledermaus des Departments in gerader Linie dahin, und Donal winkte ihr zu. Vielleicht würde einer der Überwachungsmagier ihn später erkennen, wenn er die Erinnerungen der Fledermaus in sich aufnahm. Bei der Steinsäule an der Ecke machte er mit seiner Polizeimarke dasselbe wie immer, und die Tür glitt knirschend auf. Er stieg die steinerne Wendeltreppe hinunter. Fühlst du es? Ein kalter Schauer überlief Donal, und er blieb stehen. Dann ermahnte er sich, mit dem Unsinn aufzuhören. Hier war niemand. Er stieg weiter hinunter, bis er die Katakomben erreichte. Dort setzte er sich in Bewegung und lief über den uralten Steinboden. 104
Fühlst du das Lied? Kälte kratzte über seine Haut, während er lief, und zwang ihn, das Tempo zu steigern, bevor seine Muskeln warm waren. Dann war er in der Kammer, wo die mit dem Erdreich verschmolzenen Sarkophage standen. Hörst du? Er trieb sich noch schneller voran, während Klauen, die reine Einbildung waren, nach seinen Nerven krallten und sich wie Haken in seinen Körper bohrten. Hörst du die Knochen? Donals Arme zitterten, als er zur Steintreppe zurückkehrte, seine mächtigen Schenkelmuskeln fühlten sich beim Hinaufsteigen schwach an, und er befürchtete, jeden Moment hinzufallen. Als die Tür sich knirschend öffnete, klemmte sie einen Moment lang auf halber Strecke, bevor sie sich befreite, und eine gewaltige Woge der Angst spülte durch seinen Körper. Er taumelte auf den Bürgersteig hinaus und machte sich auf den Heimweg. Am Nachmittag nahm Donal sich die Zeit für ein Nickerchen auf dem Rücksitz eines Streifenwagens. Da er keine Gelegenheit hatte, im Schießstand im Präsidium zu üben, versetzte er sich nach dem Aufwachen – aber noch bevor er die Augen aufschlug – in Trance. Er visualisierte ein Training, bei dem er präzise 105
auf die lebenswichtigen Stellen des Pappkameraden schoss. Dann kehrte er mit einem langen, tiefen, zitternden Atemzug in die Wirklichkeit zurück. „Hey, Lieutenant. Brauchen Sie Kaffee?“ „Nur wenn es Donuts gibt.“ „Das lässt sich machen.“ Die beiden Uniformierten, Beiden und O’Grady, hatten ihn im Wagen allein gelassen, während er schlief, waren jedoch in Hörweite des Funkgeräts geblieben, falls es nach ihnen quäkte, jetzt stiegen sie wieder ein und fuhren aus der Gasse heraus. Sie hielten auf den ultravioletten Parkverbotstreifen vor einem Fat’n’Sugar. Beiden ging hinein. „Er steht total auf Donuts mit Tarantura-Creme“, sagte O’Grady leise. „Davon kriegt man schwarze Zähne.“ „Na prima.“ Aber Beiden brachte Donuts ohne Füllung und welche mit Rotbeeren mit – genau dasselbe, was auch Donal bestellt hätte –, dazu große Schlangenhautbecher Kaffee, der so lala war. Mehr Volumen als Geschmack. „Werden Sie jetzt ‘n kultivierter Mensch, Lieutenant?“ Beiden, der auf dem Beifahrersitz saß, riss die kleine Schlangenmaulöffnung im Deckel seines Kaffeebechers auf. „Von wegen der ganzen Opern und so?“ „Absolut, mein Lieber. Kultiviert bis zum Anschlag.“ „Die Diva soll ja ‘ne echte Granate sein.“ O’Grady, 106
der hinter dem Lenkrad saß, biss in seinen Donut, trank einen großen Schluck Kaffee und begann zu kauen. „Ist sie wirklich so fabelhaft, wie die Leute sagen?“ „O ja.“ Donals Stimme wurde weich, und er stellte den Kaffee ab. „Das ist sie.“ Die zweite Vorstellung war noch besser als die erste. Das Publikum – wohlhabend, aber nicht die einflussreichsten Leute der Stadt – spendete noch enthusiastischeren Applaus. Diese triumphale Stimmung übertrug sich auf das Opernensemble und trieb es zu neuen Höchstleistungen. Nicht nur die Diva, alle sangen sich die Seele aus dem Leib. Mehrere Solisten rührten das Publikum zu Tränen, weil sie die Fähigkeit in sich fanden, die Zuhörer in ihren Bann zu schlagen und mit ihrer Seele Muster zu weben. Diesmal waren die Brodowski-Brüder hinter der Bühne postiert – wie sich herausstellte, hatten sie mit Levison gesprochen –, und nach der Vorstellung nahm Al Brodowski Donal beiseite. „Hades, Lieutenant. Sie hatten recht. Zwanzig Nacktschnecken, überall dicke Titten. Bud musste sich echt hinlegen.“ „Äh … Schön, dass ihr so gut aufgepasst habt.“ Dann ging Brodowski, und Donal fragte sich, ob sie wirklich zwanzig nackte Frauen gesehen hatten oder ob sie ihn aus reiner Gehässigkeit aufzogen. „Hey“, sagte Levison. „Was ist? Du starrst Löcher in die Luft.“ 107
„Ich stelle strategische Überlegungen an. Haben Petrow und Duquesne ihren Wagen bereit?“ Er meinte den Wagen der Diva. „Alles geregelt. Will sie immer noch ins Five Seasons?“ „Ja. Sieben-Gänge-Menü.“ Donal und die anderen würden herumstehen und zuschauen müssen. „Mit allem Drum und Dran.“ „Hast du’s schon geschafft, was zu essen?“ „Klar. Und du?“ „Hab mir ein Bohnensprossen-Sandwich mitgebracht. Tilly hat’s mir gestern Abend gemacht. Und bei dir?“ „Zwei Rotbeeren-Donuts und ein XXL-Kaffee von Fat’n’Sugar. Mit Beiden und O’Grady.“ „Fat’n’Sugar?“ Levison seufzte. „Verdammter Glückspilz.“ Kurz danach verließ die Diva das Theater, wobei sie einen Schwarm von Anhängern und Bewunderern hinter sich herzog. Donal fragte sich, ob sie das nicht irgendwann einmal satt hatte. Vom Rücksitz von Beidens und O’Gradys Wagen aus beobachtete er die Straßen. Seine Magenschmerzen rührten nicht nur von dem schlechten Kaffee her, sondern auch von dem Wissen, dass überall ein Killer lauern konnte. Erneut verteilte sich das Team an strategisch günstige Punkte. Drei Mann hatten den Tag im Five Seasons verbracht, dabei dem Küchenchef im Weg gestanden und sich bemüht, von den Gästen nicht be108
merkt zu werden. Donal klapperte die Posten draußen ab, lief durch die umliegenden Straßen und hielt Ausschau nach allem Ungewöhnlichen, allem, was das Muster störte, fand jedoch nichts. Drei Stunden später ging es wieder zum Exemplar zurück. Donal hatte jetzt eigentlich keinen Dienst mehr, aber er konnte es sich nicht verkneifen, durch die Flure zu schlendern und einen Blick in die Hausbar und die Versorgungseinrichtungen zu werfen. Er plauderte kurz mit Shaunovan, dem Hausdetektiv des Exemplar, der nie schlief und das Hotel auch nie zu verlassen schien. Es war schon spät, als Donal schließlich nach Hause ging. Am nächsten Morgen stand er um sieben auf und konnte es kaum erwarten, eine Runde zu laufen. Obwohl der Verkehr um diese Zeit bereits die Herrschaft über die Straße zu übernehmen begann, entschied er sich, auf dem Bürgersteig statt in den Katakomben zu laufen. Auf Straßenhöhe flüsterte ihm nichts etwas zu. Donal duschte mit heißem Wasser, das so lange vorhielt, wie er wollte, aß Rührei zum Frühstück und zog sich ein sauberes Hemd und seinen anderen Anzug an. Er hatte ihn bei Fozzy’s Rags reinigen lassen. Dies schien ein guter Tag zu werden. Es gab eine Frühvorstellung, die ein anderes Publikum anzog: Kinder in Begleitung ihrer Eltern. Sie 109
schluchzten und lachten an den richtigen Stellen, obwohl die Handlung für sie zweifellos völlig unverständlich war. Donal bekam allmählich die Feinheiten der Geschichte mit, in der sich Unschuld mit Ehrgeiz und soziale Gerechtigkeit mit Rache vermengten. Er hatte gelernt, sich in den tiefsten Schatten zurückzuziehen, wenn die Diva jene letzte Arie über dem Leichnam des toten Prinzen Turol sang. In diesen Momenten versagten Donals professionelle Instinkte, und ein geradezu überirdischer Kummer durchströmte ihn. Hinterher kehrte die Diva ins Hotel zurück, um sich auszuruhen, und während sie dort war, schaute sich Donal auf den Straßen in der Umgebung des Exemplar um. Einmal sah er eine dunkle Vixen zwischen den purpurroten Taxis und erinnerte sich an den Wagen, der vor über einer Woche beim Komplex der Energiebehörde gestanden hatte. Es war ein ungewöhnliches, aber keineswegs einzigartiges Fahrzeug, und bevor er näher herankam, sprang die Ampel um. Donal konnte den Fahrer nicht entdecken, als die Vixen davonbrauste. Nach Einbruch der Dunkelheit war es an der Zeit für die Diva, zum Théâtre du Loup Mort zurückzukehren. Erneut machte sich die Limousine, eingefasst von zwei Zivilfahrzeugen und zwei Streifenwagen, auf ihren Weg durch die Innenstadt. Zu dieser Zeit herrschte starker Verkehr, und Donal hatte darauf bestanden, dass Levison und Duquesne – der beste Schütze des Departments auf ge110
ringe Distanzen – in der Limousine mit der Diva mitfuhren. Sie war wütend gewesen und hatte sich erst beruhigt, als Levison sie fragte, mit welchen Atemtechniken sie sich eine solche Bandbreite stimmlicher Klangfarben verschaffte. Donal kam der Themenwechsel erzwungen und leicht durchschaubar vor, aber irgendwie schaffte Levison es mit seiner Art wieder einmal, dem Gespräch die von ihm gewünschte Wendung zu geben. Vielleicht lag es einfach daran, dass Lev so konzentriert war. Man merkte, dass er die Antworten auf seine Fragen unbedingt hören wollte. Die Brodowski-Brüder standen an diesem Abend vor dem Eingang – „Wir mussten die Posten tauschen, Lieutenant. All die nackte Haut, da konnten wir uns einfach nicht konzentrieren“ –, und Donal überprüfte wie üblich die Fenster in den gegenüberliegenden Gebäuden und musterte die Menge auf der Suche nach ungewöhnlicher Körpersprache. Dies war der dritte Abend hintereinander. Allmählich kam es ihm wie Routine vor. Gefährlich wie Routine. Gegenüber der Familie, die Sitzplätze in der exklusiven, bequemen Loge ganz oben rechts hatte, gab er sich als Angehöriger des Theater-Managements aus, der sich vergewissern wollte, dass die hochgeschätzten Gäste zufrieden waren. Der Mann warf sich stolz in die Brust und erklärte seinen Jungen, dass es im Leben vor allem darauf ankomme, Einfluss zu haben. 111
Seine Frau, der nichts von alledem entging, nickte stumm, aber vielleicht mit einem belustigten Funkeln in den Augen, als die Familienmitglieder ihre Plätze einnahmen. Die Kinder hatten mehr Ähnlichkeit mit ihr, was ihnen in Donals Augen nur zum Vorteil gereichte. Das Licht verlöschte. Ein Trommelwirbel ertönte, und das Orchester begann mit der Ouvertüre. Die ersten beiden Akte waren von derselben Magie erfüllt wie zuvor. In der Pause drehte Donal eine Runde durch den Saal und ging hinter die Bühne. Alles schien in Ordnung zu sein. Nein. Überprüf es noch mal. Er hatte das Gefühl, dass er seine Aufgabe nur noch mechanisch absolvierte. Aber die Sache war ernst. Deshalb ging er noch einmal zurück und überprüfte jeden Bühnenarbeiter und jedes Mitglied des Ensembles, an dem er vorbeikam. Er sah sich das Gerüst über der Bühne an und warf einen Blick in die Räume hinter den Vorhängen. Er ging noch einmal in den Saal hinaus, nahm die Innentreppe und schaute in sämtliche Logen. Immer noch nichts. Am Ende der Pause kehrten die Zuschauer wieder auf ihre Plätze zurück. Donal blieb im Parkett und stellte sich mit einem der Platzanweiser an die Tür. Als der dritte Akt begann, hielt sich Donal im Schatten; auch diesmal schlug ihn die Diva mit ihrer Darbietung wieder in den Bann. 112
Er applaudierte zusammen mit allen anderen; und als sich der vierte Akt auf Prinz Turols unausweichlichen Tod zubewegte, war er noch trauriger als zuvor. Während der Körper des Prinzen über die Steinbank drapiert war, wo er Lady Arla seine Liebe gestanden hatte, erhob sich die Diva und wandte sich dem Publikum zu. Mit ausgebreiteten Armen hob sie zu ihrer Arie an, und in diesem Moment geschah es. Etwas Schwarzes bewegte sich durch die Luft, und sämtliche Zuschauer erstarrten auf ihren Sitzen. Donal reagierte nicht. Die kleine Gruppe von Sängern auf der Bühne – ehemalige Verbündete des Prinzen, die ihn verraten hatten – stand wie angewurzelt da … aber die Diva sang weiter jene herzzerreißende Arie, ohne zu merken, dass etwas nicht stimmte. Eine Sekunde später standen jedoch die ersten drei Zuschauerreihen genau gleichzeitig auf, als wären sie ein einziger Körper. Donal konnte nur zusehen; er war ebenso gelähmt wie alle anderen. Die erste Reihe trat einen Schritt vor, und die nächsten beiden Reihen marschierten im Gleichschritt in die Gänge hinaus. In der Arie schwankte ein Ton. Trance. Muss sie … Als die Stehenden allesamt ihre Sitzreihen verlassen hatten, trat die gesamte Menge, rund hundert Männer und Frauen, einen einzigen Schritt nach vorn. Dann noch einen. 113
Wie der Anfang eines makabren Tanzes. … durchbrechen. Von dem Zauber gebannt, rückten die Hundert mit leerem Blick vor. Die Musik erstarb, und die Stimme der Diva verklang. Sie stand da wie gelähmt: nicht von einem Zauber, sondern vor Furcht. Das also war auch in den anderen Theatern geschehen. In einem Winkel seines gefangenen Geistes erkannte Donal, dass all die Berichte und Artikel, die er zur Vorbereitung gelesen hatte, nichts als Lügen gewesen waren. Eine Macht, die so stark war, dass sie hundert Menschen in aller Öffentlichkeit in ihren Bann zu schlagen vermochte, besaß auch die Fähigkeit, die Erinnerungen aller Anwesenden zu verändern. In Donals Innerem klickte etwas. NEIN. Es fühlte sich an wie ein Geräusch, ein hölzernes Klicken in seinem Kopf, als sich sein TranceTraining bemerkbar machte. Eisschichten schienen von seinem Körper wegzugleiten, und dann war er frei. Beweg dich. Donal duckte sich und ließ den Blick durch den Saal schweifen, aber jeder – selbst seine Polizisten, auch der theoretisch gegen Trance geschützte Petrow – saß oder stand starr und reglos an seinem Platz. Beweg dich – sofort. Das Orchester rührte sich immer noch nicht. Aber hundert Menschen rückten vor, während Donal durch 114
den Raum sprintete und auf dem Weg zur Bühne in den Orchestergraben sprang. Es war wie ein Signal: Der Kopf jedes Musikers fuhr zu Donal herum, mit toten Augen. Hände griffen nach ihm, aber er rammte einem Cellisten den Ellbogen gegen die Schläfe, beförderte eine Geigerin mit einem Fußstoß aus dem Weg und umfasste die Bühnenkante. Er zog sich hoch, trat nach Händen, die nach ihm griffen, rollte sich herum und kam geduckt auf die Beine. „Kommen Sie! Maria!“ Als sie ihren Vornamen hörte, schien die Starre von der Diva abzufallen. Ihr Blick zuckte von einer Seite zur anderen, die Panik beschleunigte ihren Atem, und sie wich mit schlurfenden Schritten zurück. Hinter ihr setzte sich der Prinz auf, und die anderen Darsteller traten einen synchronisierten Schritt vor. Scheiße. Donal rannte zur Diva, fasste sie um die Taille und sagte: „Wir müssen laufen. Verstehen Sie?“ „Ja …“ Er wollte ihr sagen, dass sie aufhören sollte, so flach zu atmen, aber dann bewirke irgendetwas, vielleicht ihre Gesangsausbildung, dass sie einen einzelnen tiefen, beruhigenden Atemzug tat, während sie die Schuhe abstreifte. „Wohin?“ „Nach links.“ Donal behielt den Arm um die Taille der Diva, 115
während sie zur Seite der Bühne und durch die Kulissen liefen, wo ein Bühnenarbeiter nach ihnen griff. Donal versetzte ihm mit dem Ellbogen einen Uppercut unters Kinn. Sie stürmten an ihm vorbei, polterten die Treppe hinunter und gelangten an einen Notausgang. Donal entriegelte ihn mit einem Fußtritt. Draußen war eine dunkle Gasse, aber drei Männer – Lanzenträger aus der vorhergehenden Szene – griffen von hinten nach ihnen und bekamen das Gewand der Diva zu fassen. Donal wirbelte herum, knallte dem Nächststehenden eine harte, über den Kopf geführte Linke seitlich gegen den Hals – da! –, und der Mann ging zu Boden, aber weitere kamen aus den Schatten auf sie zu. Donal trat dem Zweiten gegen das Knie, sodass sein Bein einknickte, packte dann den Kopf des Mannes und drehte ihn zur Seite. Die Diva rang mit dem letzten Mann. Donal riss seine Magnus aus dem Schulterhalfter und hieb ihm den Kolben ins Genick: Der Lanzenträger brach zusammen. „Kommen Sie.“ Eine Hand hob sich ihnen vom Boden entgegen – einer der Gestürzten –, aber Donal stampfte darauf, hörte ein helles Knirschen, und dann zog er die Diva zum Ausgang. Draußen in der Gasse duckte er sich. Ein Mann an der Ecke, der gerade vorbeigegangen war, erschauerte plötzlich und trat mit einem steifen Schritt in die Gasse hinein. 116
Von dem Zauber erfasst. Thanatos. Wie weit kann ein solcher Bann reichen? „Hier entlang.“ Donal lief um die Rückseite des Theaters herum. Die Diva hielt Schritt mit ihm. Der Boden war kalt und hart, und sie war barfuß. Sie liefen um Glasscherben herum, Überreste einer weggeworfenen Flasche, die funkelnd das Licht reflektierten. Vor ihnen war eine weitere Gasse: so schmal, dass sie hintereinander gehen mussten – und eine potenzielle Falle wie aus dem Bilderbuch, aber sie hatten keine Wahl. Donal lief als Erster hinein und zog die Diva hinter sich her. Dann waren sie draußen auf dem Bürgersteig der Sechsundneunzigsten Straße. Helle Lichter, fahrende Autos und ein Haufen Passanten: Vielleicht zwanzig Sekunden lang hatte es den Anschein, als wären sie in Sicherheit. Donal wollte gerade ein Taxi anhalten, als er sah, wie eine Gruppe surinesischer Touristen mit dem Fotoapparat in der Hand erschauerte; aus ihrem Blick wich alles Leben. Die verzauberten Touristen richteten ihre Aufmerksamkeit auf die Diva. Sie ist das Zentrum. Wohin sie auch gingen, der Zauberbann würde um sie herum gerinnen und jeden in Sichtweite befallen. Es war wie eine Infektion. Donal stieß die ausgestreckten Hände eines Touristen beiseite und zerrte 117
an der Diva, die sich sogleich wieder in Bewegung setzte. Ihr elfenbeinfarbenes Gewand war heruntergerutscht, und Donal erhaschte einen Blick auf ihre Brust – Hades, für so was hatte er keine Zeit –, dann erspähte er eine mehr als mannsbreite Steinsäule auf der anderen Straßenseite des Hoardway. Er steckte die Pistole ins Halfter zurück, packte die Diva am linken Handgelenk und beugte sich unter sie. Mit ihrem Gewicht auf den Schultern richtete er sich auf und hielt sie im Feuerwehrgriff. „Festhalten.“ Dann lief er los. Hupen plärrten, jemand rief etwas, dann stießen zwei Wagen in einem Schauer aus Glassplittern zusammen, als vom Zauberbann befallene Fahrer ihre Aufmerksamkeit auf das fliehende Paar richteten. Aber Donal lief seit zwanzig Jahren jeden Tag, und eine Art Freude loderte in ihm auf, als er den Fahrzeugen auswich, auf den gegenüberliegenden Bürgersteig sprang und trotz der Last der Diva auf den Schultern hart zutrat. Ein kräftiger Mann stürzte zu Boden. Noch zwanzig Meter, dann ging Donal in die Hocke und suchte nach seiner Brieftasche, wobei er die Diva beinahe abwarf. Er fand die Brieftasche, zog seine Marke heraus und rammte sie in den Steinschlitz. Die Metalltür setzte sich in Bewegung und gab den Blick auf Stufen frei, die in die Tiefe führten. 118
„Sie zuerst.“ Donal stieß die Diva hinein. „Schnell.“ „Ja …“ Blut schimmerte an den bloßen Füßen der Diva. Vielleicht würde sie ausrutschen, aber ihnen blieb keine Wahl. Donal versetzte ihr einen weiteren, diesmal sanfteren Stoß, dann folgte er ihr hinein und betätigte den Türmechanismus. Dutzende von Menschen kamen auf sie zu, und die Tür war langsam … Mist Mist Mist. … aber sie schloss sich gerade noch rechtzeitig! Fürs Erste waren sie in Sicherheit. „Die … die werden …“ „Nein. Weiter. Die Distanz und der Stein schirmen uns ab.“ Das war das Einzige, was den Zauberbann brechen würde: Abstand von den Menschen zu gewinnen. „Wohin?“ „Einfach nur weiter.“ Sie brauchten vielleicht zwei Minuten bis zu dem grob in den Stein gehauenen Tunnel am Fuß der Treppe. „Ist das …? Wo sind wir, Detective? In den Katakomben?“ „Nennen Sie mich Donal. Ja, das sind die Katakomben.“ Sie bewegten sich in einem Tempo vorwärts, das zwischen schnellem Gehen und Laufen lag. Donal wäre gern schneller gelaufen, aber dann hätte die Diva garantiert nicht mithalten können. 119
Geräusche … Donal blieb abrupt stehen. „Was ist los, De – Donal?“ Irgendwo vor ihnen erklang ein fernes Grollen. „Wir müssen zurück, in die andere Richtung. Sofort.“ „Oh …“ Die Diva verfiel in einen stolpernden halben Trab, als er sie durch den Tunnel zog und eine Biegung nach rechts nahm. Gleich darauf entzog sie ihm ihre Hand, taumelte jedoch weiter. „Kennen Sie sich hier überhaupt aus?“ „Nicht in diesen speziellen Katakomben.“ „Scheiße.“ Na, das klang aber nicht sehr divamäßig. Die Katakomben der Stadt waren nicht alle miteinander verbunden, aber jedes einzelne Netz erstreckte sich wahrscheinlich über etliche Kilometer. Hin und wieder gab es Verbindungen zur Hypo-Bahn oder zur Kanalisation. In der Ferne ertönte ein dumpfer Schlag. „Können Sie schneller laufen?“ „Oh, Hades …“ „Können Sie?“ „Ja.“ Einige der Sarkophage hier waren so alt, dass sie bloße geologische Höcker aus Stein zu sein schienen. Anderen sahen aus, als wären sie gerade erst vor ein paar Jahrzehnten angefertigt worden. Donal und die Diva liefen an ihnen vorbei. 120
Fühlst du die Knochen? Donal überlief es kalt. „Uh …“ „Was ist?“ „Nichts. Laufen Sie.“ Sie legten Tempo zu. Küsst du ihre Knochen? Schreckliche Gefühle zerrten an Donal, als sie in eine größere Höhle kamen. Seltsame, bruchstückhafte Bilder drangen auf ihn ein. Da war Hunger, als müsste jede Zelle in seinem Körper … irgendetwas aufnehmen. Oder schmeckst du das Lied? Aber dann ließen sie die Steinsärge hinter sich. Das Schlimmste war überstanden. Eine geschlossene Keramiktür vor ihnen trug ein rotes Mu-Sigma-TauLogo auf einem alphaförmigen Schild. Die Municipal Subterranean Transport Authority, die städtische Nahverkehrsbehörde. Erneut reagierte die Notfallverriegelung, als Donal seine Polizeimarke in den Schlitz rammte. Er lehnte sich zurück und zog an der Tür, bis sie sich ächzend in Bewegung setzte. „Sie zuerst.“ „Es ist dunkel.“ „Ich weiß. Los.“ Die Diva ging hindurch. Donal folgte ihr und zog die Tür zu. Als das Schloss klickend einrastete, spürte er eine sanfte Druckwelle im Gesicht. Sie waren im Hypo-Bahn-System, und es herrschte totale Finsternis. 121
„Nehmen Sie meine Hand. Okay … Strecken Sie die andere Hand aus, die Fingerspitzen nach vorn.“ „In Ordnung.“ „Fühlen Sie was?“ „Nein …“ „Dann folgen Sie mir.“ Donal ging vor. Er stieß auf keine Hindernisse, bis seine ausgestreckte Hand die Tunnelwand ertastete. Eine ganze Weile – vielleicht auch nur zehn Minuten lang – arbeiteten sie sich so voran, bis seine Fingerspitzen eine Fläche aus einem schweren, biegsamen Material – vielleicht Gummi – berührten; sie bildete einen Vorhang, der den Staub fernhielt. Donal fand einen senkrechten Schlitz in dem Vorhang, zog ihn auf – und kniff die Augen zusammen, als sich fernes Licht in seine weit geöffneten Pupillen bohrte. „Endlich in Sicherheit …“, sagte die Diva leise. „Vielleicht.“ Donal half ihr hindurch. „Aber wir sollten uns lieber nicht blicken lassen. Hier gibt es MSTA-Arbeiter.“ „Der Bann …“ „Kann bis hier herunter reichen.“ Donals Ton war grob. „Was können wir dann tun? Wird er allmählich nachlassen?“ „Nicht, solange Sie am Leben sind.“ Donal packte sie an den Schultern. „Vertrauen Sie mir, okay? Ich finde schon einen abgeschiedenen Ort mit einem Telefon. Ein Anruf, und sie fliegen Bannbrecher von 122
der Bundespolizei in Fortinium ein. Die können jeden erdenklichen Bann aufheben.“ „In Ordnung …“ „Die haben binnen Minuten einen Hubschrauber in der Luft. Ich brauche nur …“ „Ein Telefon. Dort entlang?“ „Dort entlang.“ In einem dunklen Abschnitt des Gleises stand ein flacher Schienenwagen. Sah so aus, als bekäme er Strom aus der Schiene. Es war offensichtlich ein Wartungsfahrzeug. Weiter vorn, in dem beleuchteten Bereich, befanden sich Arbeiter, deshalb wollte Donal das Ding nicht klauen, wenn es nicht sein musste. Hals über Kopf in die Dunkelheit zu rasen, womöglich geradewegs in einen herannahenden Zug hinein, war nicht die Art Sicherheit, die er der Diva versprochen hatte. Sie packte ihn am Oberarm und drückte zu: eine Primatenreaktion, ein Junges, das sich Schutz suchend an ein ausgewachsenes Tier klammerte. In diesem Moment hallte eine Reihe dumpfer Schläge durch den Tunnel, und ein Kompressor erwachte donnernd zum Leben. Mehrere von dem Kompressor angetriebene Druckluftbohrer leisteten ihren eigenen lautstarken Beitrag zu dem Lärm. Donal und die Diva arbeiteten sich in dem staubigen Tunnel weiter voran, hielten sich dabei jedoch von der Stromschiene fern. Schließlich erreichten sie einen Bahnsteig zu ihrer Rechten: eine aufgegebene 123
Station. Dahinter standen transportable Scheinwerfer und ein großer Kompressor, und die Arbeiter waren weiter vorn im Tunnel. Hörst du die Knochen? Irgendeine seltsame Kombination von Tönen in der Kakofonie musste … Nein. Donal verdrängte diesen Gedanken. Er musste arbeiten. Zielstrebig kletterte er auf den leeren grauen Bahnsteig und zog die Diva zu sich herauf. Auf der Suche nach dem Büro der Wartungstechniker betraten sie einen kleinen Gang, und in diesem Moment lief Donal direkt in einen schnurrbärtigen Mann mit gewölbter Brust hinein. Hades … Donal schlug dem Mann mit beiden flachen Händen vor die Brust, stieß ihn gegen die harte, mit Keramikfliesen verkleidete Wand und rammte ihm den Ellbogen von unten direkt unters Brustbein. Der massige Mann ging zu Boden, nach Luft schnappend wie ein Fisch auf dem Trockenen. Stöhnend lag er da. Donal erwog, den Mann zu fesseln, sah aber nichts, was dafür geeignet gewesen wäre, außerdem mussten sie sich beeilen. Er stieg über den Mann hinweg und öffnete eine schlichte Tür. Ein Büro. An der Wand hing eine leere Telefonhalterung, rund und schwarz wie ein höhnisches Auge. „Warum …“ Das war die Diva. „Was ist?“ 124
„… haben Sie ihn nicht getötet?“ Mit zitternder Hand zeigte sie auf den zu Boden Gestürzten. Wenn der Scheißkerl aufwacht, sind wir erledigt. Donal hatte keinen Beweis dafür, aber wenn der Zauberbann von diesem Mann Besitz ergriffen hatte, stand umso mehr zu vermuten, dass auch das Wartungsteam weiter vorn im Tunnel sich verändern und in Trance fallen würde, und das wäre das Ende. „Ist er der Feind?“ „Ich … ich weiß es nicht.“ Ein blau-weißes Diagramm war an die Wand geheftet, und ein maßstabgerechter Plan lag ausgebreitet auf einem Arbeitstisch. Sie hat sich nicht mal an meinen Namen erinnert. Unwichtig. Er musste herausfinden, wo sie waren und wohin sie gehen konnten. Ich musste ihn ihr erst noch mal sagen. Dies schien eine aufgegebene Nebenstrecke der Linie 21 zu sein. Wahrscheinlich hat sie ihn schon wieder vergessen. Donal sah sich die Verbindungen an. Das Polizeipräsidium war höchstens drei Kilometer entfernt, aber kein Tunnel führte in die richtige Richtung. Sie würden drei, nein, vier Mal umsteigen müssen, um dorthin zu gelangen. Jeder volle Zug, jeder überfüllte Bahnsteig auf diesem Weg beherbergte eine Menge, die sich in einen Haufen mordlustiger Parazombies verwandeln konnte. „Verdammte Scheiße, verdammt.“ 125
„Was ist los, D-Donald?“ Er hasste es, wenn man ihn Donald nannte. „Nichts.“ Jetzt sah er es. „Es gibt einen Weg hier raus.“ Der Mann auf dem Boden sah zu ihnen hoch. Thanatos. Donal trat ihm gegen die Schläfe. „S-Sie haben doch gesagt, er sei nicht der Feind.“ „Ja. Aber“ – Donal starrte auf den Bewusstlosen hinab: Er war übergewichtig, und sein Atem ging unregelmäßig – „es könnte sein, dass sie durch seine Augen sehen.“ Donal dachte zurück. Er hatte nichts darüber gesagt, wohin sie wollten. Das kleine Logo auf dem Plan, Totenschädel und Ouroboros, war nicht besonders auffällig. Selbst wenn die Feinde sich in die Wahrnehmungen des Mannes eingeklinkt hatten, würden sie es nicht wissen … sofern sie nicht in Donals Bewusstsein lesen konnten, wo er war. „Wir müssen los.“ Zehn Minuten später saßen sie auf dem Schienenwagen, und nach einer Biegung des Tunnels schalteten sie die Scheinwerfer ein. Sie fuhren in hohem Tempo nach Süden; Donal hatte den Gashebel bis zum Anschlag nach vorn geschoben. Irgendwann rasten sie durch eine weitere aufgegebene Station, in der Männer arbeiteten. Etliche Köpfe hoben sich, aber dann waren sie schon wieder im Tunnel. 126
Die Diva legte die Wange an seine Schulter. Ha. Zuvor hatte sie dem Mann, der alles riskieren würde, um sie zu beschützen, keine Beachtung geschenkt, aber jetzt … Schmeckst du das Lied? … Er musste aufpassen, das war alles, und er zählte die aufgegebenen Stationen, durch die sie fuhren. Sie waren wirklich verlassen, bis auf eine sechs Meter lange weiße Schlange, die zusammengerollt auf einem der Bahnsteige lag. Dann drosselte Donal die Stromzufuhr, und die Reibung bremste den Schienenwagen ab. Ein undeutlich sichtbarer blassgrauer Fleck vor ihnen wurde heller. Sie rollten langsam aus. Hier war ein sauberer Bahnsteig, dessen indirekte Beleuchtung stärker wurde, als Donal und die Diva von dem Schienenwagen stiegen. War die Station in Betrieb? Es gab keine Ausgänge zur Straße oben – nicht nach dem Plan, den er gesehen hatte –, aber vielleicht hielten Frachtzüge an diesen Orten. „Wo sind wir?“ Donal zeigte auf etwas. Wo der Name der Station hätte stehen sollen, legte sich ein Ouroboros-Wurm wie ein Stirnband um einen Totenschädel und biss sich in den eigenen Schwanz. „Energiebehörde“, sagte er. „DowntownKomplex.“ „Sind wir hier sicher?“ 127
„Das will ich hoffen.“ Am Ende des Bahnsteigs sah Donal eine mannshohe Tür mit einer kleineren Version des Logos. „Das will ich verdammt noch mal hoffen.“
128
SECHS Sie durchquerten einen horizontalen Schacht und kamen am Rand des gewaltigen Höhlenkomplexes heraus. Reihen riesiger Reaktoren erstreckten sich in die Ferne und füllten den ungeheuren dunklen Raum. Eine Million Finger schienen über Donals Haut zu gleiten. Die Diva stöhnte. „Hier gibt es eine Abschirmung“, flüsterte Donal. „Sehen Sie, da oben?“ Er zeigte auf ein kleines Gebilde hoch oben an der linken Wand: das Büro des Direktors. Seine Fingerspitze folgte dem Weg der aufwärts führenden schwarzen Eisentreppe. „In Ordnung.“ Die Diva umklammerte seinen Oberarm, ließ ihn aber dann los. Sie traten in einen Gang und machten sich auf den Weg. Es war eher eine Art Straße, und sie hielten sich links, sodass sie dicht am Fuß jedes Reaktors vorbeikamen, während sie von einem Meiler zum nächsten gingen. Niemand war … Verdammt. Etwa zwanzig Meter entfernt, im Quergang zu ihrer Rechten, arbeitete ein Mann in einem klobigen Schutzanzug an einem Reaktorgehäuse. Aber er blickte nicht auf, und schon waren Donal und die Diva vorbei. „Er hat uns nicht bemerkt“, flüsterte die Diva. 129
Donal senkte die Stimme, damit niemand außer ihr seine Worte hörte. „Sein Schutzanzug. Kann sein, dass der den Zauberbann abgeblockt hat.“ Das war eins der Dinge, auf die er gezählt hatte, als er sie hierher gebracht hatte. Sie passierten sieben weitere Reaktoren, und die Treppe zum Büro des Direktors wäre mit einem raschen Sprint zu erreichen gewesen, als alles zum Hades ging. Vier Männer in grauen Overalls vertraten ihnen den Weg. „Ahm … Hallo. Ich bin Lieutenant Riordan. Ich wollte zu …“ Aber ihre Augen waren leer. Donal warf der Diva einen Blick zu. Ihr bleiches, schönes Gesicht war jetzt kalkweiß. Hatte sie bemerkt, dass die Männer bei ihrem Anblick nicht erschauert waren? Fast so, als wären sie schon vorher … „Los.“ Donal versetzte dem ersten Mann einen kreisförmigen Tritt gegen den Oberschenkel, der das Bein lähmte und ihn zu Fall brachte. Dem zweiten verpasste er zwei Fausthiebe, dann packte er die Diva und rannte los, zog sie durch die Vierergruppe, stieß mit den Fingern nach den Augen eines dritten, und dann hatten sie freie Bahn. „Schnell …“ Sie beschleunigten ihre Schritte, aber dann versperrte ihnen eine größere Gruppe – sieben, acht Mann – den Weg. Donal blieb stehen, schaute zurück – auch dort Verstärkungen –, und zog die Diva rasch 130
seitwärts, wobei er ihr fast den Arm aus dem Gelenk riss, in einen Quergang hinein … Nein. … und blieb stehen, weil auch dieser Weg versperrt war. „Tut mir leid.“ Kein Durchkommen, nirgends. Donals Hemd war schweißgetränkt. Er war schnell gelaufen, aber die Diva … ihre Füße blutig, ihr Kleid zerrissen; und dennoch waren ihr Gesicht und ihr Körper die grandioseste Schöpfung des Universums. Sie war wunderschön. „Rette mich, D-D … Bitte. Rette mich.“ Donal schluckte und zog seine Magnus. Er hob sie, senkte sie und feuerte einen Schuss ab. Die Diva schrie bei dem lauten Knall auf. Einer der Männer fiel. Er war unschuldig … Aber die anderen vom Zauberbann befallenen Männer zögerten nicht. Sie kamen von beiden Seiten des Gangs her weiter auf Donal zu. Donal schaute nach oben. Ihm würde es vielleicht gelingen, den Reaktor zu erklimmen … aber mit der Diva? Keine Chance. Thanatos. Donal feuerte in die herannahende Gruppe, wirbelte rasch herum und schoss zwei weitere Männer der anderen Gruppe nieder. Dann schwollen beide Gruppen an, denn sie bekamen Verstärkung – weitere Männer, die Overalls 131
der Energiebehörde trugen, mit schweren Schrotflinten in den Händen. Jetzt hatten sie absolut keine Chance mehr. Donal ließ die Magnus sinken. „Rette …“ Schmeckst du das Lied? „… mich.“ Im Magazin waren noch sechs Patronen, bevor er nachladen musste. Mehr als zwanzig Männer kamen auf ihn zu; die Hälfte von ihnen war mit Schrotflinten bewaffnet, die ihn zu Rotbeeren-Sprühnebel zerstäuben konnten. Es war vorbei. Die Männer kamen näher. „Bitte …“ Donal war versucht, die Diva zu fragen, ob sie noch wusste, wie er hieß. Solch ein hübscher Gedanke unmittelbar vor dem Tod, bevor sein persönliches Universum so schwarz wurde wie die abgewischte Schiefertafel damals in der Schule des Waisenhauses. Er erinnerte sich an Schwester Mary-Anne Styx; sie hatte ihm Mathe eingepaukt und ihn nach seiner Schlägerei mit den drei größeren Jungs verarztet, die von da an einen großen Bogen … Die Männer blieben schlurfend stehen. Was ging hier vor? Eine Gruppe teilte sich ein wenig, sodass eine weitere Gestalt nach vorn kommen konnte. Es war ein schmaler Mann mit einem grauen Ziegenbärtchen, und Donal hatte das unangenehme Gefühl, dass er 132
von Anfang an damit hätte rechnen sollen. Malfax Cortindo, der Direktor dieser Anlage. Cortindos dunkle Augen funkelten, und sein Blick war alles andere als leer. „Ah, Lieutenant. Wie nett, Sie … Vorsicht.“ Als Donals Magnus hochkam, richteten all die unter dem Bann stehenden Männer, die eine Schrotflinte trugen, ihre Waffe auf die Diva. Die beiden Gruppen standen einander gegenüber, und wahrscheinlich würden die Männer einander im besten Fall die Beine wegschießen; aber Gebannte scheren sich keinen Deut um ihre eigene Sicherheit. Sie waren Kamikaze-Bauern. Donal senkte seine Waffe und ließ sie dann los. Klappernd fiel sie auf die Steinplatten. „Bin ich aus freien Stücken hierher gekommen?“ Er hatte nicht vorgehabt, diese Frage laut auszusprechen. „Sind unsere Motive“ – Malfax Cortindos Stimme war höflich, und es lag nicht die geringste Anspannung darin – „nicht ein ewiges Geheimnis für uns?“ „Leck mich doch.“ „Oh, bitte.“ Der Derringer, den Malfax Cortindo aus seiner Westentasche zog, war eine glänzende Antiquität. Die Enden seiner beiden verkürzten Läufe waren dunkel und bösartig. „Ein bisschen mehr Stilgefühl, wenn’s recht ist.“ Cortindo schwenkte den Derringer zu der Diva herum. „Zeit zum Sterben, meine Schöne.“ Fühlst du das Lied? 133
„Nein.“ Dies war der Moment. Berührst du die Knochen? Die Gebannten hielten ihre Schrotflinten im Anschlag, aber das war nicht der Grund. Im Namen des Todes, Furcht konnte niemals der Grund sein. Aber dies war der Moment. „R … Rette …“ „Er kann nicht.“ Der Moment, in dem Donal sich hätte bewegen können. Schmeckst du die … Der Derringer knallte und blitzte strontiumrot auf. Karmesinrot waren die Tropfen, die aus diesem reinen, elfenbeinfarbenen Hals sprühten, als die Diva herumwirbelte; arterielles Blut spritzte in hohem Bogen hervor, als sie auf den Steinboden stürzte. Und starb. … Knochen? Zu spät. Der Moment, in dem … Ein zweiter Schuss, rote Flamme, trockener Knall, in der Stirn der Diva erschien ein drittes Auge … … in dem Donal sie hätte retten können, aber es war zu spät, würde immer zu spät sein, ein Leben und ein Universum jenseits der Sekunde, in der er hätte handeln und etwas ändern können. „Nein!“ … und um ihren zerschmetterten Schädel herum breitete sich eine dunkle Blutlache aus. 134
Dann rührte Donal sich doch noch. Geschmeidig trat er in Aktion, und Malfax Cortindo beschrieb mit den pa-kua-Bewegungen einen raschen Kreis, aber er war nicht der Einzige, der die inneren Kampfkünste studiert hatte. Donal antwortete ebenfalls mit einer pa-kua-Figur, wischte den Derringer beiseite, stieß Cortindo dann die Fingerspitzen in die Augen und rammte dem Mistkerl einen Ellbogen in den Hals und ein Knie unter die Rippen; er zielte auf die Milz und traf sie auch. Donal schlang einen Arm um Cortindos Hals und wirbelte herum, wobei er ihre Körper eng beieinander hielt, als wären sie ein Liebespaar, weil Drehpunkte so funktionieren; er schleuderte Cortindo auf die Steinplatten, wo dieser reglos liegen blieb. Die vom Bann Befallenen waren erstarrt. Fühlst du das … Am Boden, aber nicht tot. Cortindo war eine Gefahr. Donal hob das Knie. … Lied? Und trat nach unten. Mit aller Kraft. Überall um ihn herum brachen die vom Bann Befallenen zusammen und blieben in thaumaturgischem Koma ausgestreckt auf dem harten Boden liegen. Bewusstlos, aber nicht tot. Nur Malfax Cortindo und die Diva waren jetzt Leichen. Hat erwartet, dass ich sie rette. 135
Donal wischte sich mit dem Rücken seiner Schusshand warme Flüssigkeit vom Gesicht. Es hätte Schweiß sein können; es hätte auch Blut sein können. Sie rette. Konnte sich nicht mal meinen Namen … Es war Blut. Eine Verletzung, die er gar nicht bemerkt hatte. Das Miststück konnte sich nicht mal meinen Namen merken. Aber sie war so schön, selbst jetzt, wo sie mit ausgebreiteten Armen und Beinen dalag, den Blick der offenen Augen in die Ewigkeit gerichtet, die blasse Haut rot gesprenkelt, das elegante Kleid von der heißen, klebrigen Flüssigkeit des Lebens getränkt. Und überall um sie herum schienen die Reaktoren schwarz zu glühen, in schreiender Stille. Langsam, ganz langsam hob Donal seine Magnus auf und steckte sie wieder ins Halfter, ohne den Blick von der Diva, der schönen Diva zu wenden. Er ging neben ihrer makellosen Gestalt in die Hocke. So wunderschön. Donal schob die Hände unter ihren Körper. Vollkommenheit. Fand sein Gleichgewicht. Schmeckst du das … Und stand mit einer energischen Bewegung auf, ihr schlaffes Gewicht auf den Armen. Er machte einen Schritt, dann noch einen, und dann gingen sie 136
davon, Donal und der Inbegriff der Vollkommenheit im Universum, gingen endgültig fort von hier. … Lied? Er nahm den Personenfahrstuhl, an den er sich vom letzten Mal erinnerte. Aufrecht stand er da, die Diva auf den Armen; einer ihrer Arme hing herunter, während die Stahlscheibe im Schacht emporstieg. In der Kuppel aus schwarzen Spalten kam sie rukkelnd zum Stehen. Das Metall faltete sich zusammen. Donal war in dem kleinen, umschlossenen Hof. Eine Eisentür in der Innenwand stand halb offen. Zwei Männer – auch sie ehemals vom Zauberbann Befallene wie ihre Kameraden unten – lagen auf dem Boden, in so tiefem Koma, dass nur ein thaumaturgischer Eingriff sie retten konnte. Aber das war nicht Donals Problem. Vollkommenheit. Er stieg über die zu Boden Gestürzten hinweg und trug die Diva in den größeren Hof, wo drei schwarze Wagen mit Heckflossen und einem erhabenen schwarzen Totenschädel mit Ouroboros an den Türen standen. Nirgends rührte sich etwas. Donal ging ein wenig in die Hocke und probierte den Türgriff des nächsten Wagens. Die Tür öffnete sich mit einem Klicken. Gut. Also trug er sie nach hinten, seine vollkommene Diva, ging erneut ein Stück in die Hocke, um den Griff zu drehen – Vorsicht, lass sie nicht fallen –, 137
und trat zurück, als der Kofferraumdecke] hochklappte. Dann rollte er den wunderschönen Körper der Diva mit vollendeter Sorgfalt und einem zärtlichen Lächeln in den Kofferraum. Und schlug den Deckel zu. Donal ging zum Pförtnerhaus, wo er zwei weitere zusammengesunkene Männer fand. Drei Sätze Wagenschlüssel hingen an Haken, er nahm sie alle an sich. Dann drückte er eine Reihe von Messinghebeln herunter, um die Flügel des Außentors zu öffnen. Er kehrte zum Wagen zurück und probierte die Schlüssel aus. Der zweite Satz passte. Die riesigen Torflügel aus Stahl glitten ächzend beiseite, während Donal zu einem Gulli ging und die beiden restlichen Sätze durchs Gitter warf. Man hörte es im Dunkeln zwei Mal klebrig klatschen. Er stieg in den Wagen, schob den Schalthebel mit dem hervorstehenden Totenkopf in den ersten Gang und fuhr los, durch das riesige Tor, dessen Flügel sich immer noch nicht ganz geöffnet hatten, und bog auf die leere Straße ein, wo ihn verlassene Gebäude anstarrten. Über ihm pulsierte der Himmel in dunklem Purpurrot, während er fuhr. Er brauchte zwei Stunden, um aus den zentralen Bezirken von Tristopolis rauszukommen. Wann immer möglich, benutzte er Nebenstraßen, dann und wann auch kleine Gassen, hielt sich vom Hauptstraßennetz fern. Er achtete sorgfältig darauf, die 138
Höchstgeschwindigkeit nicht zu überschreiten, fuhr rücksichtsvoll … So schön. … und bemühte sich trotz des makellosen Wunders im Kofferraum seines Wagens, sich aufs Fahren zu konzentrieren. Es war schwierig, und er wäre am liebsten stehen geblieben und hätte sich von der betäubenden Trance verschlingen lassen. Er musste unbedingt anhalten und nach hinten gehen, um seine Schönheit zu berühren … aber jetzt noch nicht. Noch nicht. Schön. Und sie war nicht nur schön, sie gehörte auch ihm, darum ging es doch, oder? Sobald sie die Stadtgrenzen hinter sich gelassen hatten, bog Donal mit dem Wagen in Richtung zum Schwarzeisenwald ab, wohin sich nur wenige Menschen wagten und wo noch weniger lebten. Vielleicht hatte das Waisenhaus deshalb darauf verzichtet, die Hütte zu verkaufen und den Gewinn einzustreichen; vielleicht lag es aber auch daran, dass Schwester Mary-Anne Styx alles zu Donals Vorteil arrangiert hatte. Donals Eltern waren gestorben, als er eine Woche alt war, aber sein mürrischer, einsamer Großvater hatte noch dreizehn Jahre gelebt. Obwohl er nicht bereit gewesen war, ein Enkelkind großzuziehen, hatte er Donal trotzdem als Erbfolger anerkannt. Bei Jack Riordans Tod – ein Jahr, bevor Donal das Waisenhaus abschloss’, bevor sie ihn an seinem vierzehnten Geburtstag hinauswarfen – erhielt Donal das 139
Besitzrecht an der Hütte und einen kleinen Betrag von Ersparnissen, die es ihm erlaubten, weiterhin zur Schule zu gehen und auf die Aufnahmeprüfungen fürs Militär hinzuarbeiten. So weit er wusste, kannte keiner seiner Kollegen vom Department dieses Haus. Er hatte es nie erwähnt, nur selten besucht und erst recht niemanden hierher gebracht. Bis jetzt. Der lange Wagen brummte über immer dunkler werdende Straßen. Die Bäume verwandelten sich in seltsam geformte Schatten vor der Nacht und verzerrten die Perspektive. Eine Zeit lang fuhr Donal ohne jeden bewussten Gedanken, versunken in schöne Träume – oh, meine Diva –, und als er in die Gegenwart zurückkehrte, sah er das Weitläufige Tal vor sich. Sie – er und die tote Diva – befanden sich jetzt tief im Schwarzeisenwald. Inzwischen würde jemand die Schweinerei im Downtown-Komplex entdeckt haben. Vielleicht waren schon Tatort-Rutengänger an der Arbeit. Der Zeitpunkt, zu dem er noch hätte aufgeben und zum Polizeipräsidium zurückkehren können, war seit Stunden vorbei. Ist schon gut, meine Geliebte. Es war besser, wenn der Weg klar war, wenn es keine Alternativen mehr gab. Donal hatte das Gefühl gehabt, dass der Wagen 140
mit seinem riesigen Benzintank bis in alle Ewigkeit weiterfahren konnte. Aber schließlich wanderten die Zeiger der Schädeluhr – sie waren wie dünne Knochen geformt: ein Schenkelknochen, eine Speiche – über fünfundzwanzig Uhr hinaus. Die ersten Morgenstunden brachen an. Er fuhr weiter. Unheimliche Schreie. Halb sichtbare Schatten mit bernsteinfarbenen Augen bewegten sich in der Dunkelheit. Donal bog von der ohnehin schon schmalen Waldstraße auf den Tartaros-Weg ab und verringerte die Geschwindigkeit. In seinen Augen schien sich Grus angesammelt zu haben. Gegen vier Uhr morgens war er in vertrauter Umgebung. Donal fuhr mit dem Wagen leise auf eine Lichtung und hielt an. Er schaltete den Motor aus. Und wartete. Nachdem er eine ganze Weile in Trance versunken war, kam Donal schließlich wieder zu sich. Er atmete tief durch und setzte sich dann mit einer Willensanstrengung in Bewegung; er stieß die Wagentür auf und trat in dunklen Schlamm hinaus. Der Himmel war von konturlosem Purpurrot. Als er hangabwärts schaute, sah er den See: ein riesiger Schatten, der nie heller werden würde. Der See hatte keinen Namen, und seine Wasser waren immer schwarz, ewig still. Donal hatte ihn noch nie anders gesehen. 141
Er ging zu einem ausladenden silbrigen Baum, der auf einem kleinen Hügel stand, und zog unterwegs einen Schlüssel aus der Tasche. Den Schlüssel steckte er in ein Astloch in der Rinde. Einen kurzen Moment lang geschah gar nichts, dann ertönte ein Knakken. Der Mulch des Hangs glitt beiseite und gab die Stahlfenster der Hütte und die mit Schnitzereien verzierte Schwarzholztür frei. Großvater Jacks Erbe. Donal öffnete die Haustür, ging dann zum Wagen zurück und hob die tote Diva aus dem Kofferraum. Behutsam trug er sie zur Hütte, ihrer Hütte, und legte sie auf den langen Esstisch. Er betätigte die Feuerstein-Schalter zweier Öllampen. Ihr gelbliches Licht tanzte und flackerte, bevor es kräftig und ruhig wurde. Vollkommen … Nein. Es gab noch einiges zu tun. Donal zwang sich, den Blick von dem vollkommenen Geschöpf abzuwenden, das ausgestreckt auf dem Tisch lag. Auf der Suche nach etwas Schwerem schaute er sich in dem Raum mit der niedrigen Dekke um, ohne die Deckenbalken zu beachten. Er hielt inne, als er auf einen alten surinesischen Steinschädel stieß, ein heiß geliebtes Totem seines miesen alten Großvaters Jack, der seinen Enkel nie besucht, geschweige denn ihn aus dem Gefängnis befreit hatte, das … Unwichtig. 142
So schön. Mit dem Steinschädel in der Hand begab Donal sich hangabwärts zu dem Wagen. Er klappte den Kofferraumdeckel zu, setzte sich auf den Fahrersitz, den Steinschädel auf dem Schoß, und fuhr im ersten Gang an einer großen Baumwurzel vorbei. Dann hielt er an, ließ den Motor jedoch laufen. Der namenlose See direkt unter ihm war so zähflüssig und dunkel wie immer. Donal rutschte vom Fahrersitz, klemmte den Steinschädel aufs Gaspedal, ließ das Kupplungspedal los und sprang zurück. Der Wagen holperte zum wartenden See hinab. Er wird stehen bleiben. Eine Sekunde lang glaubte Donal, dass er es nicht geschafft hatte, aber dann kippte der Wagen über den Rand und landete mit einem schweren Klatschen – nicht mehr – im See. Zähflüssiges schwarzes Wasser umgab das Dach des Wagens und zog ihn in die Tiefe. Dann war er verschwunden. Eine lange, gebogene Welle lief wie ein zufriedenes Lächeln über die zähflüssige Oberfläche und schwächte sich ab, bis sie wieder völlig verschwunden war. See und Wald waren zu ihrem dunklen Normalzustand zurückgekehrt. Kurz darauf drehte Donal sich um und ging zur Hütte zurück. Zum Objekt seiner Träume.
143
SIEBEN Während der nächsten drei Tage und Nächte fand Donal keinen oder zumindest keinen richtigen Schlaf. Im Halbschlaf kamen ihm immer wieder seltsame Träume, in denen die Diva nur für ihn Arien sang; dabei stand sie mitten auf einer unwirklich weißen Sandfläche an einem Quecksilbermeer, eine Szenerie, die den Erinnerungen Jamix Holandsons entstammte, jenes anderen Künstlers, dessen toten Knochen Donal berührt hatte. Aber die Diva blieb bei ihm; sie lag auf dem langen Tisch unter der niedrigen Decke, ihre Haut wie reines, strahlendes Elfenbein. So schön. Donal wusch die Wunden, kratzte mit Hilfe eines Bratenwenders aus der Küche getrocknetes Blut von makelloser Haut, schnitt blutbefleckte Stücke aus ihrem Kleid – oh Tha-natos, solche Vollkommenheit – und hüllte ihren Körper in ein weißes Bettlaken. Hinterher zog er den einzigen Sessel nah heran, drehte ihn vom Tisch weg und kniete sich darauf, die Unterarme über der Lehne. Er betrachtete die trocknende Vollkommenheit der Frau seines Herzens. Bald würde es so weit sein, dass er mit dem Auslösen der Knochen beginnen konnte. Hörst du die Knochen? Aber er verbrachte nicht die ganze Zeit auf solch kontemplative Weise. Für den schönen dunklen Akt 144
war es erforderlich, dass die Diva – und Donal – ungestört blieben. Darum schaffte er es, sich in die Küche zu schleppen, wo er kalte Dosensuppe trank, während er in dem alten Werkzeugkasten und der Gerätekiste wühlte. In einem Wald wie diesem hatte Großvater Jack sich auf gefährliche Zeiten vorbereiten müssen. Es gab dreizehn alte eiserne Lebenswächter: schmale, schwere Objekte von der Länge seines Unterarms, die in einem primitiven Stachel endeten, damit man sie in den Boden stecken konnte. Obwohl die Geräte in erster Linie zur Abwehr von Todeswolf-Rudeln gedacht waren, würden sie alle lebenden Organismen oberhalb der Pflanzenebene vertreiben. Donal schleppte die Lebenswächter nach draußen. Sie waren schwer, und als er sie ins harte Erdreich stieß und hineindrückte, versanken ihre Stacheln mühelos im Boden. Er brauchte eine Stunde – soweit er erkennen konnte: die Zeit schien sich auf seltsame Weise fortzubewegen –, um sie alle in einem groben Ring um die Hütte aufzustellen. Als der letzte Wächter ins Erdreich drang, senkte sich eine riesige, schimmernde Halbkugel herab, die die ganze Hütte vor Eindringlingen schützte. In Sicherheit. Donal ging wieder hinein, um die Diva zu betrachten. Nach einer langen Phase der Verzückung rüttelte Donal sich wach. Er kniete auf dem umgedrehten 145
Sessel. Als er mühsam aufstand, schmerzten seine Sehnen infolge der ungewohnten Körperhaltung. Er strich sich mit den Händen übers Gesicht, spürte grobe Bartstoppeln und ging ins Badezimmer. Jeder Schritt war eine Qual. Als er fertig war, trank er abgestandenes Wasser aus dem Hahn. Dann ging er in die Küche; er hatte immer noch Schmerzen, war aber schon beweglicher. Er öffnete eine weitere Dose Suppe, trank drei kalte Schlucke und stellte sie ab. Es gab Wichtiges zu tun. Was war es? Der Werkzeugkasten. Donal nahm die verrostete Sichel heraus, mit der Großvater Jack einst das lange, dunkle Gras geschnitten hatte. Er fand den Wetzstein, goss sieben Tropfen Mottenöl darauf und begann, die Sichel langsam und sorgfältig zu schärfen. Bald würde das Fleisch weicher werden und sich dabei ein klein wenig verflüssigen. Wunderschön. So … Dann, erst dann konnte Donal mit dem Schneiden und Säubern beginnen, das seinen Höhepunkt finden würde, wenn er unter Aufbietung seines ganzen Könnens diese entzückenden Knochen polierte, einen nach dem anderen. Donal arbeitete, bis er es nicht mehr aushalten konnte: die Anwesenheit der Vollkommenheit im Zimmer nebenan, während er hier drin die Klinge am Stein wetzte. 146
Er ging ins Wohnzimmer zurück, nahm seine kniende Haltung auf dem Sessel wieder ein und betrachtete die tote, vollkommene Diva, die auf seinem Tisch lag. So vollkommen … Und so kniete er auch noch da, in verzückter Ehrfurcht erstarrt, als die Haustür zersplitterte und die Fenster nach innen explodierten. Nein … Dunkel gekleidete Soldaten in Hexlar-Rüstung stürmten herein und nahmen geduckt Haltung an, einige schlugen einen Purzelbaum und kamen wieder hoch, die Waffe auf Donal gerichtet. Ihr könnt sie … Donals Hand bewegte sich zu seinem Schulterhalfter. … nicht haben! Er packte den Griff seiner Magnus und zog sie heraus. Und in diesem Moment trat eine Frau in einem blassgrauen Kostüm durch die zersplitterten Überreste des Eingangs. Sie hob eine schwere Pfeilpistole und richtete sie auf Donal. Die Welt bewegte sich so langsam. „Zu spät.“ Sie schoss. Die Decke wirbelte an ihm vorbei, und er lag ausgestreckt auf dem Boden, mit gelähmten Gliedern, atmete kaum noch. Wabernde Dunkelheit kreiste am Rand seines Blickfelds. 147
„Wie …?“ Es fiel ihm so schwer zu sprechen. „Wächter …“ „Das war Ihr Fehler. Es sind Lebenswächter.“ Die Frau beugte sich über ihn und strich ihr weißblondes Haar mit einer behandschuhten Hand zurück. Donals Lippen bewegten sich, um die nächste Frage zu stellen, aber es kam nur ein keuchender Laut heraus. „Der Wächter-Schild“ – sie lächelte – „hält nur Lebewesen fern.“ Donals Blick wanderte zu den Soldaten. „Oh, die sind durchaus lebendig.“ Die Frau tippte Donal mit einem Finger auf die Stirn. „Mit mir hatten Sie nicht gerechnet.“ Die Dunkelheit rückte von allen Seiten heran. „… nehmt die Diva und …“ war alles, was er von den Stimmen der Soldaten hören konnte. Ein Schweigen umgab Donal, legte sich wie eine Decke auf ihn. Nein. Sie gehört mir. Selbst die Luft war dicker, fast schon zähflüssig. Es war schwierig, das Zeug in die Lungen zu saugen. Hörst du die … Eine Schattenfaust schloss sich um die Welt und löschte sie aus.
148
ACHT Delirium folgte auf chaotische Träume, die ihn heimsuchten, nachdem er – oder das nahezu geistlose Ding, das er war – sich in seinem Bett wild hin und her geworfen und mit vor Schmerz kreischenden Gliedmaßen schreiend gegen die Fesseln angekämpft hatte. Dann versank er immer wieder in komatöser Dunkelheit. Hinterher breitete sich flüssiges Feuer bis in die feinsten Nerven aus, sodass sie vor Schmerz aufloderten, während der Folterzyklus von Neuem begann. Neun lange Tage und Nächte wachten Krankenschwestern mit senkrecht geschlitzten Augen über ihn. ihre Haut nahm verschiedene Violetttöne an, während sein sich windender Körper refraktierte Energie des thaumaturgischen Feldes zurückwarf. Sie waren immun gegen die Wirkungen des Feldes: Nachtschwestern mit dünnen, spitzen Fangzähnen und anmutigen Gliedern, in denen sich Spuren ihrer katzenhaften Seite offenbarten. In der zehnten Nacht platzte etwas in Donals Innerem, in seinem Geist … und er stieß einen gewaltigen, schmerzerfüllten Keuchlaut aus, sank zurück und fiel in einen friedlichen Schlaf. Der drei Meter lange Schild über ihm, der das Heilfeld projizierte, leuchtete seltsam auf und verblasste dann allmählich. Das thaumaturgische Feld wechselte die Farbe und 149
wurde zu einer blassblauen Wolke, die nach Ozon und Flieder roch. Zwei der Nachtschwestern sahen einander an. Die senkrechten Schlitze ihrer Augen rundeten sich ein wenig, als das Licht erneut schwächer wurde. „Er wird wieder gesund, oder was meinst du?“ „Ja. Gut gemacht, Schwester Felice.“ „Danke. Soll ich Commander Steele anrufen, oder willst du …?“ „Das überlasse ich dir.“ Die jüngere Nachtschwester namens Felice durchquerte den Mittelgang der Krankenstation. Es war Nacht, und der Raum lag im Dunkeln, nur eines der Betten schimmerte saphirblau: die Strahlungsenergie eines vom Bann befallenen und von einem Todesmottenbiss vollständig paralysierten Opfers. Andere schlafende Gestalten waren nur unförmige, reglose Erhebungen unter der Bettdecke, und über jedem Kissen schwebten winzige Überwachungselfen, bereit, hell aufzuleuchten, falls irgendeine elementare Körperfunktion unter die von den Nachtschwestern vorgegebenen Parameter sank. Im Schwesternzimmer nahm Schwester Felice den Hörer ab. Mit einem langen, einziehbaren Fingernagel drehte sie alle zehn Kombinationsräder in einer auswendig gelernten Abfolge. Sie horchte auf das Klingeln. Obwohl es mitten in der Nacht war, nahm am anderen Ende sofort jemand ab. „Hallo?“ „Ist dort Commander Laura Steele?“ 150
„Ja.“ „Sie wollten Bescheid bekommen, wenn es wesentliche Veränderungen im Zustand eines Patienten namens Lieutenant Riordan gibt?“ „Was ist passiert?“ „Es ist eine Verbesserung, keine Verschlechterung. Aber da er in den ersten drei Tagen nicht gestorben ist, hatte er gute Chancen, die …“ „ Wird er am Leben bleiben?“ „Ja, so viel steht …“ Ein Summen ertönte. Schwester Felice nahm den Hörer vom Ohr und sah ihn an. „Gern geschehen.“ Es klang wie das Flüstern eines Raubtiers. Sie legte auf. Am siebzehnten Tag – nachdem Donal dreimal binnen fünfundzwanzig Stunden für jeweils eine Stunde aufgewacht war – hievte Schwester Felice ihn vom Bett in einen Rollstuhl, dessen Gestell aus ineinander verflochtenen silbernen Heptagrammen bestand. „Soll Glück bringen“, sagte sie leise, als Donal mit den Fingerspitzen über das weiche Metall fuhr. „Und den Heilungsprozess fördern.“ „Wohin …?“ Seine Stimme war ein Krächzen. „Wohin … bringen Sie mich?“ „Rehabituation.“ Schwester Felice schob, und der Rollstuhl setzte sich in Bewegung. „Glauben Sie nicht alles, was man über mystische Therapeuten sagt.“ 151
Sie ließ die Griffe des Rollstuhls los und ging vor ihm her durch offene Doppeltüren und in einen Gang mit quadratischem Querschnitt. Der Rollstuhl zuckelte mit Donals von Schmerzen gepeinigter Gestalt hinterdrein. „Was … sagt man denn?“ „Oh“ – Schwester Felice schaute sich zu ihm um – „dass sie bösartig und sadistisch sind und Freude daran haben, einen zu quälen, bis man schreit.“ Sie setzten ihren Weg fort, bis sie zu einem schwebenden Schild in Handform gelangten, das auf einer fünfstrahligen Kreuzung von Gängen in der Luft hing. „Reha“, sagte Schwester Felice laut. Die Hand schwenkte nach links. „Hier bleibt nichts lange am selben Ort.“ Sie schüttelte den Kopf und bog dann in den angezeigten Korridor ein. „Komm mit.“ Der Rollstuhl folgte ihr. „Die … Therapeuten.“ Donals Stimme war angespannt, aber er musste fragen. „Sie … quälen Patienten?“ „O ja, natürlich.“Schwester Felice verlangsamte ihre Schritte vor einer Reihe schwarzer, undurchsichtiger Türen mit der Aufschrift RA. „Spaß macht es ihnen allerdings nicht.“ Dann grinste sie und zeigte dabei ihre nadelspitzen weißen Fangzähne. „War nur ein Scherz.“ Die Türen schwangen von selbst auf, und Schwe152
ster Felice trat beiseite, als Donals Rollstuhl vorwärtsrollte und ihn in die Reha-Abteilung brachte. Ein leises feminines Lachen erklang, als die Türen sich hinter ihm schlossen. „Ah, Sie sind also unser neues Opf … unser neuer Patient.“ Die androgyne Gestalt in weißem Kittel und weißer Hose hatte breite Schultern und fünfundzwanzig Zentimeter lange Finger. Ein Lächeln dehnte ihr langes Gesicht. „Das ist unser kleiner Scherz. Keine Angst.“ „Thanatos.“ Donal fühlte sich dem nicht gewachsen. „Na schön, ich heiße Jan, und als Erstes müssen wir ein paar elementare Denk- und Bewegungsmuster wiederherstellen. Alles klar?“ „Ähm, wenn Sie es sa-“ Aus einer Ecke der Rehabituations-Abteilung kam ein ersticktes Gurgeln. Donal war verwirrt von den seltsamen geometrischen Formen des Apparats, der für Hades weiß welche Zwecke gedacht war, aber dann sah er den darin gefangenen Patienten. Bizarre Verzerrungen liefen über den Körper des Mannes. Dann wuchs seine rechte Hand auf eine Länge von über einem Meter, und er stöhnte vor Schmerz. Gleich darauf blähte sich sein ganzer Körper nur für eine Sekunde auf einen Durchmesser von zehn oder elf Metern auf, wie eine Amöbe, bevor er wieder normale menschliche Form annahm. Der Mann beugte sich auf seiner Liege vor und würgte. Ein an153
derer androgyner Therapeut hielt ihm eine Pappschale unter den Mund. „Das ist Andy“ – Jan zeigte mit einem furchteinflößenden, langen Finger auf den Patienten – „und der Therapeut ist Alyx.“ „Sehr gut“, sagte Alyx leise zu dem Unglücklichen. „Versucht ihr, ihn in Stücke zu reißen?“ Donal verspürte den Drang, sich von seinem Rollstuhl zu erheben und wegzulaufen, doch als er seinen Muskeln befahl, sich zu bewegen, hatte das nur stechende Schmerzen zur Folge, „ihr bringt ihn ja um.“ „Nein. Entspannen Sie sich.“ Jan strich mit seinen langen Fingern, die in weichen, gepolsterten Spitzen endeten, über Donals Gesicht. „Andy ist mit einem Verdünnungsfeld infiziert worden. Wir bringen ihm bei, sich zusammenzuhalten.“ „Ach so.“ Donals Lider flatterten. Erneut blähten sich Andys Hände auf, die rechte mehr als die linke, und sein Gesicht wurde immer größer. „Sehen Sie den natürlichen Vorläufer der vollständigen Ausdehnung?“ Jan zeigte hin, und Donals Rollstuhl fuhr näher an Andys Liege heran. „So sieht Ihr Nervensystem die Welt in puncto Berührung. Die Hand und das Gesicht sind empfindlicher als …“ Andys ganzer Körper quoll abrupt auf und begann, durch den Raum zu fließen, aber Alyx schrie ihn an: „NEIN! Reißen Sie sich zusammen!“ „Ich kann nicht …“ 154
„Sofort.“ Mit einem Wimmern saugte Andy seinen Körper wieder in die normale Konfiguration. Dann schaute er zu Donal hinüber und schenkte ihm ein winziges Lächeln, ohne sich um die Tränen zu kümmern, die ihm zu beiden Seiten des Mundes herabliefen. „Manche Leute würden einen Haufen Geld für das hier bezahlen.“ „Ich gäbe ein Vermögen dafür, woanders zu sein.“ „Bringen Sie mich bloß nicht zum Lachen.“ Eine schmerzhafte Kräuselung breitete sich über Andys Brust und Gesicht aus. Dann drehte sich Donals Rollstuh! weg. Es war Zeit für seine Behandlung. Nach seiner Rückkehr auf die Station – vielleicht bedeuteten die Schmerzen in seinem Körper etwas Positives; es war ein seltsames Gefühl, irgendwie zwischen angenehm und unangenehm – saß Donal aufrecht neben dem Bett auf einem harten Holzstuhl, als er aus dem Schwesternzimmer seltsame Stimmen hörte. „… Commander? Ich bin nicht sicher, ob er dazu schon imstande ist.“ „Aber ich bin’s doch bloß, und ich werde mich zurückhalten.“ „Sie meinen“ – dies war Schwester Felices Stimme, und sie gab ein leises Zischen von sich, bevor sie fortfuhr – „Sie beide?“ Nach einem Moment: „Sehr scharfsichtig, Schwe155
ster. Wie ich sehe, ist Lieutenant Riordan in guten Händen.“ „Ha. Kommen Sie mit.“ Schwester Felice kam durch den breiten Gang zwischen den Betten auf ihn zu. Ihre Katzenaugen waren Schlitze, die Ohren lagen flach an den Seiten des Kopfes an, und ihre Haare hingen nicht herab, sondern standen waagerecht nach hinten. Ihr folgte die blasse Frau, die Donal mit der Pfeilpistole niedergeschossen hatte. Heute trug sie ein blassblaues Kostüm mit dunkelblauen Handschuhen. Und hinter ihr … Etwas? „Ja.“ Schwester Felice entblößte ihre dünnen, spitzen Fangzähne. „Ganz recht, Donal. Rufen Sie mich, wenn Sie irgendwas brauchen.“ Sie legte ihm einen grünen Stein in die Hand. „Drücken Sie darauf, dann bin ich in einer Sekunde hier.“ Hinter der Frau kräuselte sich die Luft. Aber wenn Donal den Kopf drehte und die Augen fast ganz schloss, nahm das Wabern beinahe menschliche Gestalt an. „Danke“, sagte er zu Schwester Felice. „Sie sind die Beste.“ „Ich weiß.“ Sie ließ ein leises Lachen hören. „Denken Sie daran, Sie brauchen nur auf den Rufstein zu drücken.“ Dann ging sie davon, schweigend und anmutig. Donal und die blasse Frau schauten ihr nach. Kurz darauf fragte die blasse Frau: „Wissen Sie noch, wer ich bin?“ 156
„Ja …“ Schmerzen ballten sich über Donals rechtem Auge zusammen. „Nicht Ihren Namen, aber ich erinnere mich, in der Hütte, als ich …“ Hörst du die Knochen? Aber die Worte waren fern, sie blieben nicht mehr haften: nur eine abstrakte Erinnerung. Doch bei dem Bild der Diva, die ausgestreckt auf dem Tisch lag – der toten Diva –, wurde es Donal übel. Er drehte sich zur Seite, griff sich einen Abfalleimer und kotzte hinein. „Vielleicht ist es noch zu früh.“ „Nein, schon gut.“ Donal wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab. „Also, wer sind Sie?“ „Laura Steele.“ Sie streckte ihm ihre behandschuhte Hand hin. „Freut mich, Sie richtig kennenzulernen.“ „Äh …“ Donal rümpfte die Nase. „Wir sollten uns die Hände reichen, wenn ich wieder sauber bin. Und heißt das, Sie sind Commander Laura Steele?“ „Richtig. Und das“ – Laura machte eine Kopfbewegung zu dem Cewaber in der Luft – „ist Xalia. Sie gehört zu der Sonderermittlungsgruppe der Bundespolizei, die ich leite.“ „Aha.“ Donal lehnte sich gegen den harten Stuhl. „Sind Sie hier, um mich aufzumuntern oder um mich zu verhören?“ „Weder noch. Wir sind hier, um Sie zu rekrutieren.“ „Das soll wohl ein Witz sein.“ Donal schloss die Augen und dachte an die lange Fahrt in den Wald 157
und an den verschwommenen Fleck – wie viele Tage? – seines Aufenthalts in der Hütte mit dem Leichnam der Diva auf dem Tisch zurück, während er seine Vorbereitungen getroffen hatte, um die Knochen sauberzukratzen. „Wie viele Gesetze habe ich gebrochen?“ „Sie standen effektiv unter einem starken Bann.“ „Ja, aber nicht vollständig … Bin ich deshalb nicht effektiv schuldig?“ „Nein, Sie sind deshalb ein verdammtes Opfer, vor allem, wenn Sie sich weiterhin wie eins aufführen.“ „Thanatos.“ Donal sah erst sie, dann Xalias fast unsichtbare, in stetiger Veränderung begriffene Gestalt an. „Nette Art, mit Kranken umzugehen. Sie sagen, Sie leiten eine Sonderermittlungsgruppe. Woran arbeiten Sie?“ „Nun ja, an etwas Besonderem …“ „Verdammt witzig.“ „Wir untersuchen den exklusiven kleinen Club, zu dem Malfax Cortindo gehört hat. Wir haben ihn , Schwarzer Zirkel’ genannt …“ „Sehr originell.“ „… weil sein richtiger Name ein Geheimnis ist, das nur die Mitglieder kennen.“ Dann ertönte ein leises Flüstern, kaum mehr als ein Windhauch: *lch wollte ihn Rosa Kollektiv nennen.* Donals Gesicht verzog sich unwillkürlich zu einem Lächeln. „Wie wär’s mit Fliederfarbene Verschwörung?“ 158
Xalias Gestalt kräuselte sich. „Und wie umfangreich ist sie?“, fragte Donal. „Diese Verschwörung.“ „Sagen wir mal“ – Lauras Blick zuckte zum Ende der Station, wo Schwester Felice im Schwesternzimmer saß und Nieswurztee trank – „der SZ hat bei der Anwerbung eher auf Quantität als auf Qualität gesetzt.“ „Aber nicht nur in Tristopolis.“ „Warum sagen Sie das?“ „Weil Sie zur Bundespolizei gehören, auch wenn Sie hier stationiert sind. Und wegen der Hintergründe des Schlamassels, das ich angerichtet habe. Wir sollten wegen der Vorkommnisse in anderen Städten – auch im Ausland – auf der Hut sein.“ „Hmm.“ Laura ging zu dem Schränkchen neben dem Bett. Darauf stand eine billige, fleckige Vase mit zwei schwarzen Löwenzähnen. „Ich glaube, Schwester Felice mag Sie.“ „Das ist ihr Job. Und den macht sie gut.“ „Wohingegen Sie Ihre Schutzbefohlene erst sterben ließen, bevor Sie ein paar Sekunden später den Hauptverdächtigen umgebracht haben.“ Donal entspannte bewusst die Schultern. „Sie haben gesagt, Sie seien hier, um mich zu rekrutieren, und jetzt erzählen Sie mir, wie schlecht ich gearbeitet habe. Interessante Taktik, Commander.“ „Der Punkt ist, wir“ – Laura machte eine Kopfbewegung zu dem nahezu unsichtbaren Flirren der Luft, das Xalia war – „wissen mehr über diesen Bann 159
und andere Manipulationsformen als Ihre Vorgesetzten. Oder jedenfalls mehr, als sie aus politischen Erwägungen heraus zu wissen vorgeben.“ „Sie meinen, ich soll den Sündenbock spielen? Aber es war meine Operation, wussten Sie das nicht?“ In lichten Momenten hatte Donal sich gefragt, was aus seiner beruflichen Laufbahn geworden sein mochte. Und ob ihm Gefängnis oder Schlimmeres drohte. „Sie waren die einzige Person im ganzen Theater, einschließlich der Cops“, sagte Laura, „der es gelungen ist, die Trance zu durchbrechen. Ohne Sie wäre die Diva sowieso gestorben, trotz des ganzen Polizeischutzes ringsum. Und die Erinnerungen aller Anwesenden hätten nicht den wahren Geschehnissen entsprochen.“ „Ich habe der Beeinflussung also widerstanden.“ Donal schaute zu Boden, während er zurückdachte. „Einer Form der Beeinflussung jedenfalls.“ „Cortindo hat die Saat dessen gelegt, was Ihnen widerfahren ist“, sagte Laura, „als er Ihnen den Knochen des Künstlers gezeigt hat. Er hat Ihnen doch den Knochen gezeigt, nicht wahr?“ „Thanatos, ja … Woher wissen Sie das?“ Eine weitere Kräuselung lief durch Xalias körperlose Gestalt. Diesmal, das spürte Donal, lag keine Belustigung darin. „Wir haben sein Büro untersucht.“ Laura machte eine Kopfbewegung zu Xalia hin. „Jeden Winkel und 160
jede Nische. Es bedurfte keiner großen Extrapolation, um herauszufinden, was geschehen war. Wir wussten bereits, dass man Ihnen die Anweisung erteilt hatte, dorthin zu gehen.“ Donal starrte in Lauras blasses Gesicht und versuchte, zwischen ihren Worten zu lesen. Beschuldigte sie Polizeichef Vilnar, ohne seinen Namen zu nennen, an der Verschwörung beteiligt zu sein? Oder sie unwissentlich zu unterstützen? Schwester Felice war am anderen Ende der Station, aber Donal kannte ihre Sensibilität und ihr scharfes Gehör bereits. Am besten, sie gingen nicht weiter in die Details. „Der einzige Grund, mich Ihrem Team anzuschließen“, sagte er, „besteht also darin, dass meine gegenwärtigen Bosse mir die Sache anhängen werden.“ *Nein.* Xalias körperlose Gestalt schwebte näher heran. *Das ist nicht der einzige Grund.* „Und der andere ist …?“ Laura antwortete für Xalia. „Sie spricht von Rache.“ „Ach so.“ Nachdem sie noch ein paar Einzelheiten bezüglich des Jobangebots besprochen hatten, erklärte Laura, sie wolle sich bei Schwester Felice nach Donals Fortschritten erkundigen, und begab sich mit Xalia an der Seite zum Schwesternzimmer. Es gab eine kurze Diskussion, die Donal beobachtete; er sah nur zu, ohne Urteile zu fällen. Dann kam 161
Laura zurück, während Xalia weiterhin neben Schwester Felice schwebte. „Neun oder neunzehn Tage“, sagte Laura zu Donal. „Oder neunzig, wenn es für Ihre Rehabituation nötig ist. Wie ist die Reha denn überhaupt? So eine Art Runderneuerung von Körper und Geist, richtig?“ „Übung und Illusion, zur Wiederherstellung alter Denk- und Bewegungsmuster“, sagte Donal. „Mit reichlich Schmerz verbunden, damit man weiß, dass es einem gut tut.“ „Klingt … interessant.“ „Mhm.“ Donal fragte sich, was sie dachte. „Ihnen ist aber klar, dass ich noch nicht zugestimmt habe, mich Ihrer Truppe anzuschließen.“ „Das hat keine Eile.“ „In Ordnung.“ „Ich habe mich gefragt … Sie wissen doch, worum es sich bei Xalia handelt, nicht wahr?“ „Was meinen Sie? Dass sie ein … Freigeist ist?“ „Genau. Sie ist nicht an einen Kran, einen Lift oder einen … Rollstuhl gebunden. Sie ist ein Mitglied des Teams, kein Gerät oder so.“ „Offensichtlich. Obwohl Sie Gertie vermutlich nicht sehr gut kennen.“ „Wer ist Gertie?“ „Fahrstuhl Sieben, im Präsidium. Wenn Sie das nächste Mal rauffahren, richten Sie ihr einen schönen Gruß von mir aus.“ Lauras helle Augen wurden schmal. „Nicht viele Cops würden so empfinden.“ 162
„Sind halt Arschlöcher. Die wissen’s einfach nicht besser.“ Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schloss ihn und sprach dann doch. „Ich hoffe, Sie entscheiden sich für uns, Lieutenant Riordan.“ „Danke.“ Donal fragte sich, was sie da gerade nicht gesagt hatte. „Danke, dass Sie hergekommen sind.“ Er sah ihr nach, als sie ging, begleitet von dem Gewaber in der Luft, das auf den Namen Xalia hörte. Laura trug sehr hochhackige Schuhe, und ihr Rock war eng; ihre Bewegungen riefen ein gewisses Gefühl in seinem Bauch hervor – unerwarteterweise. „Oh …“ Schwester Felice stand an Donals Bett. Ihre Schlitzaugen weiteten sich, bis sie rund waren. „Ich schätze, Commander Steele hat richtig Eindruck auf Sie gemacht, hm?“ „Eigentlich nicht.“ „Ha.“ Schwester Felice bedachte ihn mit einem winzigen Katzenlächeln und ließ ihre Krallen einen Zentimeter hervorzucken. „Sie sind so ein Lügner, Lieutenant.“ „Scheiße.“ „Oh, müssen wir die Bettpfanne benutzen?“ „Nein, wir nicht.“ Donal erhob sich von dem Stuhl. „Aber ich werde jetzt zur Toilette gehen – allein.“ „Wirklich?“ Ihre Augen waren wieder Schlitze. „Ja.“ Seine Stimme klang gepresst, wegen der Schmerzen. 163
„Gut für Sie. Wenn Sie hinfallen, rufen Sie einfach.“ Am nächsten Tag begann der sich verflüssigende Patient namens Andy, der Mann, der Probleme hatte, seine normale Gestalt beizubehalten, leise zu schreien. Die Elfen, die um sein Bett schwebten, gerieten in helle Aufregung und gaben selbst gespenstische Schreie von sich, wobei sie zwischen leuchtendem Orange und strahlendem Weiß wechselten. Schwester Felice kam angelaufen, starrte auf die silbernen Bänder, die um Andys Bett gewickelt waren, und prüfte das komplizierte Gerät, das ans Bettgestell geschweißt zu sein schien. Sie eilte zum Wandtelefon. „Schickt mir sofort die Thauma-Hilfe her. Die Morph-Unterstützung ist ausgefallen.“ Donal saß aufrecht in seinem Bett und sah zu, war jedoch außerstande, etwas zu unternehmen. Sogar Schwester Felice wirkte jetzt hilflos, als sie die Hand zu Andys Blasen werfender Gestalt ausstreckte und sie dann wieder zurückzog, weil sie sein Gleichgewicht nicht noch weiter stören wollte. Donal fragte sich, was geschehen würde, wenn Andys Haut platzte. Kurz darauf kam ein junger Mann mit elfenbeinfarbenen, orientalischen Zügen in die Abteilung geeilt; zwei ältere, grauhaarige Männner folgten ihm. Alle drei trugen rostrot-braune ärmellose Jacken mit eingeprägten messingfarbenen Runen. Schwester Felice sagte: „Thanatos sei Dank, dass ihr hier seid, Kyushen. Könnt ihr’s reparieren?“ 164
Der jüngere Mann, Kyushen, hatte eine stählerne Werkzeugkiste dabei. Einer der älteren Männer nickte, als Kyushen einen silbernen, gegabelten Stab aus der Kiste nahm und damit über Andys Bett fuhr. „Die Hex-Flux-Integrität ist ausgefallen.“ Kyushen blickte auf. „Das kriegen wir wieder hin.“ Die drei Männer arbeiteten mit komplizierten Werkzeugen, murmelten etwas von resonanten Frequenzen und verschobenen Oktaven und tauschten ein geschwärztes Ventil gegen ein glänzendes, bernsteinfarbenes neues aus. Auf einmal glitt eine durchsichtige Lichtfläche über das Bett hinweg, und Andys gequälte Gestalt erzitterte und lag dann still. Sein Körper war immer noch verzerrt, veränderte sich aber nicht mehr. „Gute Arbeit“, lobte Schwester Felice. „Ich hole Dr. Drax. Wir kümmern uns jetzt um alles Weitere.“ „Aber es ist wieder heil“, sagte Kyushen. „Ich weiß. Aber“ – Schwester Felice zeigte auf Andys verzerrten, starren, verlängerten Körper – „er nicht.“ „Oh. Der Patient.“ „Nur ein kleines Detail“, sagte Schwester Felice, aber mit einem Lächeln. „Wie gesagt, überlasst das uns gewöhnlichen Sterblichen. Ihr Thaumies dürft jetzt wieder in eure Labors zurück.“ „In Ordnung.“ Am Ende der Woche humpelte Donal in dünnem Nebel unter einem dunkel-purpurroten Himmel auf 165
der silbernen Wiese herum – während ihn Nebelgeister in seltsamen Mustern umschwebten und ihm ermutigende Worte zuflüsterten. Man konnte seine Bewegungen nicht als Laufen bezeichnen, noch nicht. Da seine Schusswaffe Schwester Felice zufolge irgendwo in einem gesicherten Spind lag, tat Donal das Nächstbeste. Er blieb am Rand der Rasenfläche stehen, hob eine imaginäre Schusswaffe, visualisierte die Angreifer und spürte den imaginären Druck des Abzugs und den Rückstoß, als er wieder und wieder auf die Schatten feuerte, die auf ihn zukamen. Die Rehabituation ging weiter; mit Druck und seelischem Stress versuchte man, die neuralen Muster des Donal vor dem Bann wiederherzustellen. Jan erklärte ihm, die alten Muster würden stärker sein als zuvor, wenn sie wieder zum Vorschein kämen: praktisch eine Garantie, dass ihm Senilität im Alter erspart bleiben würde. Am dritten Morgen humpelte er zum Schwesternzimmer und fragte Schwester Lynske, ob er telefonieren dürfe. „Klar.“ Sie ließ ihn allein, während er den Anruf tätigte. Silbrige Finger schienen um den Hörer zu spielen: Er hatte eine sichere Nummer gewählt. *Was kann ich für Sie tun, Lieutenant?* „Verbinden sie mich bitte mit Commander Steele.“ *Einen Moment.* Ein seltsames Seufzen wehte durch die Leitung. Vielleicht sehnten sich die Gegenmaßnahmen nach 166
einer Gelegenheit, sich gegen Stachelgeister zu wehren, die das Netz infiltrierten. *Ich stelle Sie durch.* „Hallo?“ „Commander Steele, hier ist Donal Riordan.“ „Lieutenant. Haben Sie über das Jobangebot nachgedacht?“ „Ja, und ich nehme es an.“ Die Leitung seufzte erneut. Dann: „Cur“, sagte Laura. „Melden Sie sich zum Dienst, sobald Sie entlassen werden.“ „In Ordnung.“ „Ich werde Ihnen keine anstrengenden Aufgaben zuteilen, ehe Sie nicht wieder vollständig fit sind.“ „Ist schon in Ordnung, ich habe nicht erwartet, dass …“ Die Leitung war tot. „Hat mich auch gefreut, mit Ihnen zu sprechen“, sagte Donal zu dem stummen Hörer. „Ist doch zum Rattenmelken.“ Schwester Lynske, die gerade zurückkam, warf ihm einen seltsamen Blick zu. „Ich erneuere bloß gerade meine Mitgliedschaft“, sagte Donal, „im Klub der Rattenfreunde.“ Schwester Lynske entblößte ihre schmalen Fangzähne ein wenig und schenkte ihm ein stummes Lachen. „Bringen Sie ein paar von diesen Ratten für mich um die Ecke, okay?“
167
Ein niedriger schwarzer Krankenwagen brachte ihn in die Stadt zurück. Das Fahrzeug war breit, mit ausladenden Radkästen neben den Trittbrettern. Schwester Felice schob Donal im Rollstuhl, den er allerdings nicht mehr brauchte, während Schwester Lynske neben ihm herging. Sie blieben am Rand der dunkelblauen Schotterauffahrt stehen. Die Hecktür des Krankenwagens klappte hoch, und Donal stand auf. Er küsste Schwester Felice auf die Wange und tätschelte Schwester Lynskes Hand. „Ihr seid wunderbar“, sagte er. „Alle beide.“ „Tja, das ist uns nichts Neues.“ „Glaub ich gern.“ Er lächelte Schwester Felice zu. „Passen Sie auf sich auf.“ „Sie auch, Lieutenant.“ Zwei schwarz gekleidete Sanitäter mit knochengrauer Haut stiegen aus dem Krankenwagen. „Ich kann allein einsteigen“, sagte Donal. Die Sanitäter sahen schweigend und ungerührt zu, wie Donal sich in das hintere Abteil hievte. Er setzte sich auf eine der fest verankerten Tragen. Die beiden Sanitäter verständigten sich mit einem wortlosen Blick und verbeugten sich dann voreinander. Einer von ihnen stieg hinten ein und setzte sich auf die zweite Trage; der andere ging wieder nach vorn und rutschte auf den Fahrersitz. Schwester Felice winkte. Donal warf ihre eine Kusshand zu, und dann senkte sich die Hecktür herab und schloss sich mit einem Klicken. 168
Und das war’s dann. Der Krankenwagen fuhr an und rollte knirschend über den blauen Schotter, bis er die Straße erreichte. Der Fahrer bog scharf ab – der Sanitäter, der Donal gegenüber saß, grinste kaum merklich –, und dann beschleunigten sie zügig, zurück nach Tristopolis. Und als sie bereits über einen Kilometer vom Krankenhausgelände entfernt waren und die Straße genügend Platz bot, klappten die Radkästen am Chassis auf. Fledermausflügel entfalteten sich und breiteten sich zu beiden Seiten aus. Der Klang des Motors wurde tiefer, als die Motorhaube des Krankenwagens nach oben kippte. Der Wagen wurde immer schneller. Und dann erhob er sich in die Lüfte.
169
NEUN Der Krankenwagen mit den Fledermausflügeln brauste in geringer Höhe über feuchte Sumpfgebiete hinweg, bis er die Stadtgrenzen erreichte, wo die Dichte thaumaturgisch aufgeladener Partikel in der Luft das Fahrzeug wegen der Gefahr eines Triebwerksausfalls wieder auf den Boden zwang. Luftverschmutzung kann tödliche Folgen haben. Der Sanitäter am Steuer bremste den schwarzen Krankenwagen auf das normale Schneckentempo ab, während sie auf den verlassenen Straßen der westlichen Stadtviertel Richtung Zentrum fuhren. „Sie wohnen in Lower Halls, richtig?“, fragte der Sanitäter, der hinten bei Donal saß. „Ja, aber … bringen Sie mich doch bitte zur Zentrale.“ „Zentrale?“ „Zum Polizeipräsidium. Avenue of the Basilisks, Nummer eins.“ „Ach das …“ Die Stimme des Sanitäters klang seltsam zischend. „Wir wissen, wo das ist.“ Er zwinkerte: Eine Nickhaut schloss sich langsam und feucht, bevor seine Lider zuckten. Der andere Sanitäter vorne auf dem Fahrersitz nickte langsam. Während der restlichen Fahrt sprach keiner ein Wort. 170
Donal wechselte einen Gruß mit FenSieben und einem anderen Todeswolf, den er nicht besonders gut kannte, FenNeunBeth. FenSieben schnupperte und prüfte die Luft nach Hinweisen auf Donals Gesundheitszustand. Dann ließ er die Zunge in einem Wolfsgrinsen heraushängen. Im Innern des Gebäudes fuhr Donal als Erstes zum Schießstand hinunter. Gertie verzichtete unterwegs auf freche Bemerkungen und schob ihn dann sanft aus ihrem Fahrstuhlschacht in den Vorraum. Das beunruhigte Donal mehr als jedes andere denkbare Geschehnis. Brian saß hinter dem Tresen. Seine Haut war von einem gesunden Mittelblau. Er winkte Donal zu. „Hey, Lieutenant. Wie geht’s, wie steht’s?“ „Ich bin noch am Leben“, sagte Donal. „Und selbst?“ „Mir geht’s prima.“ Brian tätschelte seinen kahlen Schädel. „Geradezu glänzend.“ „Und sonst? Alles klar hier?“ „Lieutenant. Alles in Butter. Wirklich.“ „Gut. Geben Sie mir zweihundert Schuss und ein paar Zielscheiben – gemischt.“ „Nichts … äh … Spezielles?“ „Brian …“ „War nur ein Scherz, ist alles einwandfrei hier.“ Donal ging mit den Zielscheiben durch den Schießstand, schickte die erste nach hinten, auf maximale Distanz, zog dann mit einer raschen Bewegung seine Magnus und schoss sie in Fetzen. Er 171
wechselte die Zielscheibe, lud nach und machte sich wieder an die Arbeit. Immer wieder feuerte er, jagte dicht beieinander liegende Schüsse in die Zielscheiben, bis die Luft stank und seine Munition alle war. Gut genug. Donal ging zu den Fahrstühlen zurück. „Mal was Neues für mich, Gertie. Runter zum siebenundzwanzigsten Untergeschoss.“ *Warst du ein böser Junge, Donal?* „Neuer Job. Von jetzt an arbeite ich da.“ *Du warst also ein böser Junge.* Auf dem restlichen Weg nach unten sagte Donal nichts mehr. Schließlich brachte Gertie ihn langsam, ganz langsam zum siebenundzwanzigsten Untergeschoss, als wollte sie ihm Zeit geben, es sich noch einmal zu überlegen. Donal schwebte eine ganze Weile im Ausgang, während Gertie zögerte. Dann: *Pech für dich, mein Schatz.* Sie schob ihn hindurch. Eine grobschlächtige Gestalt wartete auf ihn. Donal erkannte den Kerl von damals im Schießstand wieder, vor dem Debakel mit der Diva. Er hatte gesagt, er heiße Viktor Harman und sei vom 77. Revier. „Ich heiße wirklich Viktor Harman“, sagte er jetzt. „Aber ich war noch nie im Siebenundsiebzigsten.“ „Okay … ich vermute, wir haben denselben Boss, Sie und ich.“ 172
„Richtig vermutet. Willkommen im Team, und übrigens: Wir duzen uns hier alle. Laura möchte dich sehen.“ Als Donal Laura Steeles verglastes Büro betrat, schaute sie auf, und nur für eine Sekunde sahen ihre Augen so grau und metallisch aus, wie es ihr Name erwarten ließ. Dann änderte sich etwas in ihrem Blick. „Ich dachte, du wärst erst heute Morgen entlassen worden.“ „Ganz recht. Ich bin direkt hierhergekommen.“ „Und was glaubst du, was du an deinem ersten Tagim Team machen wirst?“ Donal schaute in den Teamraum hinaus, dunkle polierte Schreibtische, uralte Telefone und Viktor Harmans grobschlächtige Gestalt, in Selbstgespräche vertieft … nein, er redete mit dem Gewaber in der Luft, mit dieser Xalia. „Sag’s mir nicht. Ihr habt einen Haufen wirklich interessanter Akten, die ich lesen soll.“ „Du hast’s erfasst.“ „Auch Sachen, die ihr nicht aufgeschrieben habt?“ „Ja, ein paar. Aber hierfür“ – Laura zeigte auf ihren Kopf – „gibt’s keine Unzerstörbarkeitsgarantie. Das meiste ist irgendwo schriftlich festgehalten.“ „Na, das ist doch schon was.“ Donal sah sie an. „Wen haben wir im Visier?“ „Den Schwarzen Zirkel, wie wir sie nennen.“ „Ja, so viel weiß ich noch.“ „Du warst wirklich ziemlich benommen, wie mir 173
schien. Ich war nicht ganz sicher, an wie viel du dich erinnern würdest.“ „Mhm. Du hast Malfax Cortindo erwähnt.“ Er erinnerte sich halb an ein geflüstertes Fühlst du die Knochen?; es war wie ein abgeschwächtes Echo. Dann war die beunruhigende Erinnerung verschwunden, und er befand sich wieder in der Gegenwart. „Mach dir keine Sorgen wegen der Flashbacks“, sagte Laura. „Die sind – egal. Nicht meine Sache.“ Sie hatte recht: Das ging sie nichts an. „Malfax Cortindo“, wiederholte Donal. „Du hast gesagt, dass er zum Club gehört hat. Zum Schwarzen Zirkel.“ „Ja, ganz recht. Allem Anschein nach ist auch dein Lieblingspolitiker im Schwarzen Zirkel – der Name ist wirklich peinlich, was? Ein Teil des Belastungsmaterials findet sich in den Akten, wie du feststellen wirst.“ „Du meinst Finross? Ich hatte nichts mit ihm zu tun. Das heißt, nicht direkt.“ Donals Besuch bei der Energiebehörde war auf Veranlassung von Bezirksrat Finross erfolgt. Das würde Donal nicht vergessen. „Ich schätze, sie wollten herausfinden, wie viel du wusstest oder wie sehr du dich bemühen würdest, den Mord zu verhindern.“ Donal schüttelte den Kopf. Er hatte den Mord nicht verhindert, oder? Aber seine eigenen Handlungen – so weit er sich an sie erinnerte – kamen ihm vor wie die eines Fremden. 174
„Ursprünglich hat Commissioner Vilnar sich mit Finross in Verbindung gesetzt, glaube ich. Ihr werdet doch wohl nicht den Polizeichef verdächtigen.“ Laura legte den Kopf schief und schwieg. „Thanatos“, murmelte Donal. „Aber er hat mich doch überhaupt erst über die Angelegenheit informiert.“ „Na, das musste er wohl auch, oder? Nachdem ihm die Aufgabe übertragen worden war, die Diva zu beschützen. Die Anweisungen kamen ursprünglich nicht von ihm, sondern vom Magistrat.“ „Oh.“ „Und diese Überlegung ist ganz bestimmt nirgends schriftlich festgehalten. Wie gut kommst du mit dem Commissioner zurecht, Donal?“ Donal tat so, als hätte er Schwierigkeiten, die Finger zu kreuzen – als wären sie einander abstoßende Magneten. „So etwa. Verdammt. Genau so.“ „Gute Antwort. Ich hätte dich früher fragen sollen.“ „Kann schon sein, Laura. Wie wär’s mit einer Tasse Kaffee?“ „Gern. Schwarz und stark.“ „Sollst du kriegen.“ Donal holte zwei Ektoporbecher und stellte einen auf Lauras Schreibtisch. Sie war gerade in ein Telefongespräch mit irgendjemandem vertieft, hatte aber die Tür offen gelassen; es war also nicht vertraulich. Auf dem Rückweg in den Teamraum nickte Donal Viktor zu, während er an seinem zu heißen Kaffee 175
nippte. Dann ging er zu dem einzigen freien Schreibtisch. *Das ist meiner.* Plötzlich waberte die Luft vor ihm. *Deiner ist der unaufgeräumte da drüben.* Der schwach sichtbare Umriss einer erhobenen Hand zeigte hin. „Allerherzlichsten Dank.“ Donal setzte sich, kickte einen grauen Abfalleimer aus Metall an die richtige Stelle und fegte die Papiere auf der Tischplatte mitsamt dem altmodischen Tintenlöscher geradewegs hinein. Dann zog er die hohe untere Schublade auf, die für die Hängeregistratur gedacht war, und stopfte den Abfalleimer hinein. „Das hätten wir. Alles sauber.“ Donal stieß die Schublade mit dem Fuß zu. *Willst du mich nicht fragen, wozu ich einen Schreibtisch brauche?* Donal sah sie an. „Also wirklich, Xalia. Ich durchschaue dich. Du fischst nach Komplimenten.“ *Als hätte ich den Spruch nicht schon mal gehört. Aber was meinst du?* „Du bist bildschön. Und überhaupt einfach fabelhaft. Weshalb solltest du da keinen eigenen Sitzplatz haben?“ *Ha. Du bist mir vielleicht einer, Donal Riordan …* „Ganz meinerseits.“ *… aber mir machst du nichts vor. Ich weiß, auf wen du wirklich ein Auge geworfen hast.* 176
„Ich habe kein …“ Doch bevor er es verhindern konnte, war sein Blick schon zur Tür von Lauras Büro gewandert. „Verdammt.“ *Ha.* Dann kehrte Viktor mit einem dünnen Bericht in seiner großen Hand an seinen Schreibtisch zurück, und Xalia wurde beinahe unsichtbar. Donal tat so, als hätte er in der oberen Schublade seines neuen Schreibtischs etwas Interessantes entdeckt. Ein Detective, der nicht zum Team gehörte, durchquerte das Büro. Er war fast ein ebensolcher Hüne wie Viktor, und seine Augen hatten die Farbe von Schiefer – tatsächlich schienen sie aus Schiefer zu bestehen. Donal hatte schon während seiner Zeit beim Militär Augäpfel aus Stein gesehen: Scharfschützenimplantate. Die behielt man sein Leben lang. Kresham gab Donal die Hand. Ebenso wie Viktor schien er durchaus imstande zu sein, ihm dabei die Knochen zu brechen. „Freut mich, Sie kennenzulernen.“ „Gleichfalls.“ Kresham nickte, als spräche eine Antwort, die nur aus einem Wort bestand, für Donal. In Anbetracht der Schweigsamkeit der meisten Scharfschützen traf das wahrscheinlich auch zu. Viktor sagte: „Und wer ist jetzt an Blanz dran?“ „Harald hat ihn übernommen.“ „Aus gebührendem Abstand?“ 177
„Ja. Ich geh wieder an meinen Schreibtisch, um mich ein bisschen auszuruhen. Ruf mich nicht an.“ Donal schaute von einem zum anderen. „Ihr sprecht doch nicht etwa von Sherman Blanz, oder?“ Viktor zuckte die Achseln. „Warum nicht?“ „Senator Sherman Blanz.“ „Genau.“ „Ihr observiert einen Senator der Bundesregierung, der hier zu Besuch ist.“ „Mhm.“ „Verdammt.“ Ein Lächeln breitete sich langsam über Donals Gesicht aus. „Ich glaube, mir wird’s hier gefallen – falls wir es lange genug schaffen, nicht ins Gefängnis zu wandern.“ *Was uns droht, ist nicht das Gefängnis, sondern der Friedhof. * Donal starrte Xalia an, deren Gestalt für eine Sekunde so undurchsichtig wie Nebel zu werden schien. Ihm fiel wieder ein, dass intelligente Geister wie Xalia nach dem von Blanz eingebrachten Unentbehrlichen Erneuerungsgesetz als nichtmenschlich gelten und nicht mehr Rechte haben würden als ein Möbelstück. „Aber wir würden Blanz doch nichts Illegales oder Schlimmes antun, oder?“ *Wir sind Polizisten.* „Obwohl Blanz ein Kretin und ein bigottes Arschloch ist und einen langsamen, qualvollen Tod verdient hätte.“ *Trotzdem.* 178
Donal stieß die Luft in einem langen Atemzug aus. „Habt ihr noch andere interessante Überraschungen für mich?“ „Dutzende“, sagte Viktor. „Aber wenn wir sie dir erzählen würden, wären es ja keine Überraschungen mehr.“ „Verdammt.“ Der Abend brachte eine Überraschung anderer Art in Donals Leben: die plötzliche Erfahrung, obdachlos zu sein. Bei der Ankunft in seinem Viertel beachtete ihn niemand, aber das war er gewohnt. Als er am Waschsalon, Fozzy’s Rags, vorbeikam, sah er, wie die alte Mrs MacZoran bei seinem Erscheinen hochschreckte; dann drehte sie sich um und sagte etwas zu der korpulenten Frau, die neben ihr saß. Hinter ihnen rotierten die Trommeln der Waschmaschinen weiter. Donal wäre hineingegangen, um ein Schwätzchen mit ihr zu halten, aber er hatte zu viel Kaffee getrunken, und sein Gedärm war immer noch nicht ganz in Ordnung: Er musste auf die Toilette. Als er das Wohnhaus erreichte und in den vierten Stock hinaufstieg, merkte er sofort, dass sich etwas verändert hatte, noch bevor er die frische schwarze Farbschicht an seiner Wohnungstür sah und roch. Nur dass auf einem kleinen, von Hand beschriebenen Schild Davinia Strihen’ stand, was bedeutete, dass es eigentlich nicht mehr seine Wohnungstür war. 179
Donal steckte die Hand in sein Jackett und legte sie an den Griff seiner Magnus. Einen Moment lang war er versucht, das Schloss aus dem Türrahmen zu treten. Aber diese Strihen wusste wahrscheinlich nichts von Donal Riordan, und sie war vielleicht eine nette alte Frau, die an einem Herzinfarkt sterben würde, wenn Donal hereinplatzte. „Verfluchte Scheiße.“ Er ging nach unten, bahnte sich in der Diele im Erdgeschoss seinen Weg zwischen Pappkartons hindurch und begab sich zum Büro des Hausmeisters im rückwärtigen Teil des Gebäudes. Hier gab es eine Tür, die er eintreten konnte, und das tat er auch. Sie öffnete sich mit dem befriedigenden Geräusch von Splittern, die aus Holz gerissen wurden. „Hey …“ „Genau, hey, verdammt noch mal. Was ist los, Ferd?“ „Oh, Hades, Loot … äh, Lieutenant. Der Vermieter is schuld. Hat mich gezwungen, der Scheißkerl.“ „Wozu hat er Sie gezwungen, Ferd?“ Ferdinand war alt und fett und hatte sich schon seit zehn oder zwölf Tagen nicht mehr rasiert. Wenn Donal einen echten Gegner brauchte, gegen den er kämpfen konnte, dann war es nicht Ferd, und dies war nicht der richtige Ort. Der Vermieter wohnte ein ganzes Stück entfernt im Norden der Stadt. „Die harn gesagt, Sie wär’n im Krankenhaus oder so. Harn nicht geglaubt, dass Sie zurückkommen.“ 180
„Nett, dass ihr euch alle so viele Gedanken um mich gemacht habt.“ „Na ja … ham wir auch. Die alte Mrs MacZoran wollte Blumen schicken, aber ich wusste ja nich, wo das Krankenhaus war.“ „Wo sind meine Sachen?“ „Oh, Thanat – Verzeihung. Die sind …“ Ferds Stimme verklang, und er schluckte. „Sie haben sie auf den Müll geworfen?“ „Hades, nein. Die sind draußen.“ „Auf dem Hof.“ „Nein … ich meine ja, aber es war nich meine Idee. Ehrlich.“ Donal machte Anstalten, die Faust zu heben, dann wandte er sich ab und stieß die Hintertür mit dem Handballen auf. Sie prallte von der Wand zurück, und er verpasste ihr einen Tritt. Dann trat er in die schmale Gasse aus rissigem Beton hinaus. Kleine schwarze Farne wuchsen in den Spalten. Vier zerbeulte Pappkartons standen dort, fleckig vom letzten Quecksilberregen. Einer der Kartons war zerrissen. Donals altes braunes Sakko sah zerfetzt aus. Er kehrte wieder in Ferds Zimmer zurück. Ferd hatte seinen Mantel angezogen und versuchte vergeblich, den Knopf über seinem kugelförmigen Bauch zu schließen. Er hielt inne und schluckte, als er Donal sah. „Ich wollte nur gerade, äh, gerade …“ „Mir ein Taxi rufen. Richtig?“ „Äh, ja, Lieutenant. Richtig.“ 181
Er hatte die Miete nicht für einen Monat im Voraus bezahlt, das stimmte. Doch abgesehen davon … verdammt, Donal würde das morgen klären. Aber irgendwo musste er heute Nacht bleiben. Er sah sich in Ferds winzigen Zimmer um. Die Tapete hing in dreieckigen Fetzen von den Wänden. Ein alter, feuchter, fauliger Geruch lag in der Luft, und das Sofa war zerrissen, die Federn lagen bloß. Er hätte Ferd zwingen können, ihn bei sich aufzunehmen, aber lieber würde er im Freien schlafen. „Taxi. Draußen. Sobald wie möglich. Kapiert?“ „Kapiert. Danke, Lieutenant.“ Danke wofür? Dass er ihm nicht die Fresse poliert hatte? Donal ging erneut in den Hof hinaus, hob zwei seiner vier Kartons auf – die Hälfte seines gesamten Besitzes, wie wundervoll – und kam wieder herein. Ferd wählte bereits, und Donal ging in die Diele. Er stellte die beiden Kartons direkt hinter der geschlossenen Haustür ab. Als er zurückkehrte, um die anderen beiden zu holen, hörte er Ferd sagen: „Bitte, Joe, um Hades’ willen. Er bringt mich sonst um.“ Donal merkte, wie der Zorn in ihm hochstieg, und für einen Sekundenbruchteil blendete ihn das Gefühl, wie er die Magnus zückte, sie mit einem Rückhandschlag über Ferds schwabbeliges Gesicht zog, ihm die Haut aufriss … dann bremste er sich und würgte den Zorn wieder hinunter, wohin er gehörte: zusammengerollt und einsatzbereit, wenn er ihn brauchte. Bereit für den Moment, wenn er die wahren Mör182
der traf, die für das Ableben der Diva verantwortlich waren. Während er draußen auf dem Bürgersteig auf das Taxi wartete, fragte er sich, wo zum Thanatos er heute Nacht und in den folgenden Nächten bleiben sollte. Eine unbezahlte Monatsmiete, das entsprach … zwei Tagen in einem Hotel? Gerade als links am Ende der Straße ein Taxi auftauchte, glitt am anderen Ende eine Vixen um die Ecke; ihre geschwungene Form mit den Heckflossen wirkte in dieser Gegend fehl am Platz. Sie rollte gemächlich heran und wurde langsamer. Dann erkannte Donal die blonde Silhouette hinter der Windschutzscheibe. Er hob die Hand zu einem statischen Winken. „Hey, Kumpel.“ Der Taxifahrer lehnte sich aus seinem Fenster. „Sind Sie Riordan?“ „Nie von ihm gehört“, sagte Donal. „Ich werde gerade von dem Wagen da drüben abgeholt.“ „Hades, ich hasse diese kotzverdammte Gegend hier. Lower Halls.“ Der Fahrer starrte auf die zerkratzte, schäbige Tür des Wohnhauses und überlegte offenkundig, ob es Sinn hatte, hineinzugehen und Krach zu schlagen, während er sein Fahrzeug ungeschützt hier am Randstein zurücklassen musste. Auf der anderen Straßenseite lümmelten zwei Jugendliche mit gelben Augen – Neffen des Fozzy, dem der Waschsalon gehörte – an den Resten einer Ziegelmauer und beobachteten Donal und das Taxi. 183
Das reichte dem Fahrer. Er trat aufs Gaspedal und sagte: „Soll ich Ihnen ‘nen Rat geben? Sehen Sie zu, dass Sie weit von diesem Dreckloch wegkommen.“ Donal schwieg, während das Taxi losfuhr, wendete und mit brummendem Motor dorthin zurückfuhr, woher es gekommen war. Dann hielt Lauras Vixen, und das Taxi war vergessen. „Bringst du gerade den Müll raus, Donal?“ „Ich bin der Müll, Commander. Ich bin mitsamt meinem irdischen Hab und Gut hier auf dem Weg zu einem Hotel.“ „Verdammter Mist.“ Laura warf einen wütenden Blick auf das Haus. „Das soll doch nicht etwa heißen, dass man dich an die Luft gesetzt hat?“ „Während ich weg war, ja.“ Sie sah ihn einen Moment lang an. Dann: „Der Kofferraum ist nicht verschlossen. Worauf wartest du?“ „Danke.“ Donal ging zum Heck des Wagens. Er war niedrig und massiv und schien zu schnurren, während er im Leerlauf vor sich hintuckerte. Donal musste den Doppelgriff mit beiden Händen drehen; dann klappte der Deckel dank der gefederten Scharniere selbsttätig nach oben und gab den Blick in den fast leeren Kofferraum frei. Er zögerte, dann hob er den ersten seiner Kartons vom Bürgersteig, stellte ihn in den Kofferraum, schob ihn in eine Ecke und packte dann auch die anderen dazu. Er schloss den Deckel, ging um den Wagen herum und stieg auf der Beifahrerseite ein. 184
„Hast du schon ein Zimmer reserviert?“ „Ich dachte, ich probier’s mal beim A.“ Der Agnostikerverband betrieb nicht nur die Sporträume in den Gefängnissen, in denen Donal oft trainierte, sondern auch Wohnheime. „Auf der Tausendersten gibt es eins.“ „Das heißt also nein.“ „Ich … stimmt.“ „Ich hätte noch ein Zimmer frei. Mehr als eins.“ Laura legte den Gang ein. „Aber um deine Verpflegung musst du dich selbst kümmern. Ich habe nichts da.“ „Kein Problem.“ Donal sah zu, wie das Wohnhaus davonglitt. Ihm war, als hätte sich ein Stück seines Lebens gelöst und wäre in einen aufgewühlten, kalten Ozean gefallen. „Ich bin es nicht gewohnt, dass … na ja. Danke.“ Laura nickte. Sie presste die Lippen zusammen, als trüge sie gerade einen inneren Disput aus. Donal beschloss, den Mund zu halten. Weshalb ist sie überhaupt hierher gekommen? Das alte, heruntergekommene Viertel blieb hinter ihnen zurück, als die Vixen eine in weitem Bogen verlaufende Überführung erklomm und sich zwischen schnelle, zylindrische Lastwagen einreihte. Laura setzte sich vor einen Dreifachdecker mit einer Ladung fünfrädriger Quinbikes, ohne auf das Plärren der Drucklufthörner zu achten. Die Vixen beschleunigte stärker. Sie bogen auf den Midtown Expressway ein, und 185
Donals Herz begann, schneller zu schlagen. Laura musste weitaus wohlhabender sein als er. Und da sie gerade aus einem wohltätigen Impuls gegenüber einem Mitarbeiter heraus handelte, der ihr unterstellt war, konnte er sich jetzt nicht an sie heranmachen. Hörst du das …? Schnauze. Sie glitten ins Herz der Stadt hinein, mitten unter die kantigen Gothic-Deco-Türme, und nahmen dann eine schraubenförmige Ausfahrt. Oh, verdammt. Donal hasste diese Dinger. „Du hast doch nicht etwa Probleme mit Thaumatunnels, oder?“ Laura war bereits auf dem Weg von der Überführung in die Mündung der Spirale. „Oder?“ „Nein, nein …“ Der Wagen stellte sich auf den Kopf, als er durch die schraubenförmige Abfahrt sauste. Dann glitt er in eine Tiefgarage und richtete sich wieder auf. Kreischende Echos hallten von den Steinwänden wider, die mit bösartig wirkenden, kantigen Schutzrunen verziert waren. Die meisten geparkten Wagen waren größer und imposanter als die dunkle, aber sportliche Vixen, doch eins hatten alle Fahrzeuge gemeinsam: Donal hätte es sich nicht leisten können, einen von ihnen für ein Wochenende zu mieten, geschweige denn zu kaufen. „Trautes Heim, Unglück allein“, sagte Laura ohne 186
jedes Anzeichen von Emotionen und bremste ab, indem sie den Wagen in eine Kurve legte, die Donal gegen die Tür drückte. „Da wären wir.“ Kreischend und quietschend … Was hat sie vor? … kam die Vixen zum Stehen, die Nase nur Zentimeter von einer Wand aus grauschwarzem, poliertem Granit entfernt, in der Quarzplättchen mit bösartigem Licht funkelten. Soll ich einen Herzinfarkt kriegen? Dann warf Laura ihm einen Seitenblick zu. „Tut mir leid“, sagte sie leise. „Ich habe nicht daran gedacht, dass du nur ein gewöhnlicher … ach, egal.“ Diese abschätzige Bemerkung – dass er .gewöhnlich’ sei – war vielleicht das Niederschmetterndste, was ihm in dieser verwirrenden und beunruhigenden Nacht widerfahren war. Ein schwarzer Gepäckwagen hielt neben der Vixen, und Laura öffnete den Kofferraum, bevor sie ausstieg. Als Donal zum Heck gegangen war, standen seine vier ramponierten Kartons schon alle auf dem Flachbett des Gepäckwagens und wurden von vier dicken, pulsierenden Armen festgehalten. An der Vorderseite des Gepäckwagens drehten sich zwei große gelbe Augen, sahen Donal an und zwinkerten lange und langsam. Dann setzte sich der Wagen in Bewegung. Donal wollte ihm folgen, aber Laura sagte: „Zum Personenfahrstuhl geht’s hier entlang.“ 187
„Ah … okay.“ Er sah zu, wie der Gepäckwagen an einer riesigen Nebula-Limousine vorbei zu einer leeren Betonwand fuhr. Eine Öffnung tat sich auf, und der Gepäckwagen rollte vorwärts in einen dunklen, leeren Schacht. Er blieb in der Luft hängen, während die Wand sich hinter ihm schloss. Wo zum Thanatos bin ich? Laura lenkte ihre Schritte zu einem Pfeiler aus demselben glänzenden Granit-und-Quarz-Gestein, in den eine silberne Fahrstuhltür eingelassen war. Darüber befand sich eine Anzeige, deren Nadel gegenwärtig auf den 226. Stock zeigte. Als Laura näher kam, wanderte ein greller blauer Lichtschein von oben nach unten über die Tür. Die Nadel bewegte sich; ein Zeichen dafür, dass der Fahrstuhl herabkam. Bald darauf öffneten sich die Türen und gaben den Blick auf eine Fahrstuhlkabine mit Stahlboden frei, deren Wände sich nach innen wölbten und oben auf einen Punkt zuliefen. Als Donal vortrat, fuhren metallische Dornen wie Katzenkrallen aus den Wänden; aber dann berührte Laura seinen Arm. Die Dornen wurden wieder eingefahren. Sicherheitssystem. Zumindest hatte Laura ihn als Freund identifiziert. Donal fragte sich, was das Gebäude sonst getan hätte. Der Fahrstuhl schloss sich und stieg rasch empor; der Boden drückte gegen Donals Füße. Er schoss mit 188
gnadenloser Geschwindigkeit nach oben und begann dann zu bremsen. Der Aufstieg verlangsamte sich, dann kamen sie mit einem Ruck zum Stehen. Die Türen glitten auf. Sie befanden sich in einer sechs Meter hohen Eingangshalle mit nur einem Ausgang: einer massiven schwarzen Doppeltür aus Stahl, die nach innen aufschwang, als Laura auf sie zuging. Donal zögerte. Auf der anderen Seite befand sich ein riesiger Empfangsbereich mit stahlgrauem und mattschwarzem Dekor, alles aus Metall. In Schalen auf spiralförmig verdrehten Ständern tanzten blaue Flammen, deren Bewegung zu der fast unhörbaren Musik illurianscher Harfen passte, die durch den Obsidianboden drang. Eine blasse, ätherische Hand am Ende eines immateriellen Armes schwebte auf Donal zu. Je näher sie kam, desto länger wurden ihre Finger; sie griffen nach Donals Magnus in dem verborgenen Schulterhalfter. „Na, na“, machte Laura. Die Hand erstarrte, wich dann zur Wand zurück, versank darin und war verschwunden. „Genau wie in meinem alten Viertel.“ Donal schaute sich in dem Raum um. „Dort versuchen sie auch immer, einem die Waffen zu klauen.“ Laura lächelte. „Keine Angst, ich passe auf dich auf.“ „Ja … und bis jetzt machst du das gar nicht schlecht.“ „Ist mir ein Vergnügen. Zur Wohnung geht’s dort 189
hindurch.“ Sie neigte den Kopf zu der massiv aussehenden Wand, die mit einer vier Meter hohen Stahlmaske geschmückt war: das Gesicht eines Mannes mit Hakennase und geschlossenen Augen. „Zur Wohnung? Und was ist das hier?“ „So was wie eine Diele, nehme ich an. Ein … äh … Vorzimmer?“ „Vorzimmer“, murmelte Donal. Die Augen der Maske klappten auf und starrten Donal einen Moment lang an. Dann öffnete sich der Mund, immer weiter, wie ein klaffendes Maul, bis er einen Eingang in einen großen Raum mit dunkelblauem Fußboden bildete, der wie massives Glas aussah. Laura ging voran; Donal folgte ihr rasch und schaute sich um, während sich der Mund der Stahlmaske wieder schloss. Hier war die Luft kühl. „Tut mir leid“, sagte Laura. „Ich hatte nicht damit gerechnet, dass … na ja. Du weißt schon.“ „Was tut dir leid?“ „Ich meine, es ist kalt, oder? Das ist alles.“ Bei ihren Worten züngelten orangefarbene Flammensäulen aus regulierbaren Öffnungen auf Bodenhöhe die Wände empor. Wärmewellen spülten über Donal hinweg, während er sich um die eigene Achse drehte und den riesigen Raum in sich aufnahm: größer als seine alte Wohnung, fast so groß wie das ganze Wohnhaus. „Du bist reich“, sagte er. „Ich meine, richtig reich.“ 190
Laura zuckte die Achseln. „Und jetzt willst du wissen, weshalb ich Polizistin bin?“ „Nein, aber … Weshalb bist du bei der Truppe? Ich nehme an, du hast es nicht nötig, dir deinen Lebensunterhalt zu verdienen.“ „Meinen Lebensunterhalt …“ Laura schüttelte den Kopf. Sie hatte einen seltsamen Ausdruck in den Augen. „So kann man es auch nennen.“ Sie führte ihn durch den furchteinflößenden hohen Wohnraum zu den dunklen, sechs Meter hoch aufragenden Fenstern, die einen Blick auf die nächtlichen HochhäuserderStadt boten. In der Ferne segelte eine einsame intelligente Fledermaus vor einer vom Mond beschienenen Wolke dahin. „Tristopolis“, sagte sie. „Ist die Stadt es wert, was meinst du? Sollen wir überhaupt versuchen, sie vor sich selbst zu retten?“ Donal schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht mal, wovon du sprichst.“ „Wie bitte?“ „Mag sein, dass eine Stadt etwas Eigenes ist, wie ein Lebewesen … aber wir sind nicht dazu da, die Stadt zu beschützen, weißt du? Die ganz normalen Menschen da draußen, die sich mühsam durchs Leben schlagen und es nicht verdienen, auch noch zu Opfern zu werden – denen zu helfen, ist unsere Aufgabe.“ Donal konnte nicht aufhören, den Blick durch den hohen Raum schweifen zu lassen. Er betrachtete die schwarzen Kronleuchter aus Eisen und Quarz, die 191
große, verdrehte Skulptur in einer Ecke, die wie ein schmelzender Krieger aussah. „Du hast ein Problem mit meinem Reichtum“, sagte Laura. „Stört es dich, dass ich so wohlhabend bin?“ „Nein.“ Donal stieß den Atem aus. „Ich halte dich nicht für eine Berufspolitikerin. Nicht, wenn du eine Spezialeinheit leitest, die gegen Senatoren der Bundesregierung ermittelt … außer du bist wirklich darauf aus, dir einen Namen als Moralapostel zu machen.“ „Thanatos … ich ein Moralapostel. Ich habe schon genug damit zu tun, nur … ach, was soll’s.“ Laura verschränkte die Arme. „Wenn ich dich hier wohnen lasse, bis bei dir wieder alles in Ordnung ist, werden wir keine Probleme miteinander haben, oder?“ „Du leitest das Team. Du bist der Boss. Aber wenn ich hier festsitze, bis in meinem Leben wieder alles in Ordnung ist“ – Donal musste unwillkürlich grinsen – „werden wir eine ganze Weile aufeinander hocken.“ „Ha.“ Laura löste ihre verschränkten Arme. „Komm. Ich zeige dir alles.“
192
ZEHN Lauras Wohnung war wirklich riesig – so groß, dass Wohnung’ ein zu kleines Wort für die weitläufige, im Gothic-Deco-Stil gehaltene Behausung zu sein schien. Laura besaß das gesamte 226. Stockwerk des Gebäudes namens Darksan Tower, die oberste Wohnetage: die darüber liegenden, kleineren Etagen beherbergten Wartungsräume und die riesigen Motoren und Trommeln der sieben Fahrstühle, über die das Gebäude verfügte. Die Räume waren kalt, zugleich unwirtlich und palastartig, und Donals Atem dampfte, als er in einem riesigen Zimmer mit sauberem, poliertem Obsidianboden und einem Himmelbett stand, in dessen silberne Bezüge dunkel-purpurrote Runen eingewoben waren, wie er sie noch nie gesehen hatte. Aus schwarzen, vasenartigen Gebilden, die hier und dort auf niedrigen Tischen verteilt waren, züngelten tanzende, blassblaue Flammen empor, als Laura neben einem nach dem anderen mit den Fingern schnippte. „Keine Flammengeister.“ Donal runzelte die Stirn. „Ich spüre keine … hier gibt es keine gebundenen Geister, stimmt’s? Welcher Art auch immer.“ „Fehlen sie dir? Findest du, ich sollte in meinen Haushaltsgeräten versklavte Geister haben?“ Donal dachte an die Seufzer, die durch die unterirdischen Reaktorstraßen hallten, eine Begleiterschei193
nung der Nekro-flux-Wellen, die in die Gebeine der Toten spülten. Fühlst du das …? Nein, nicht mehr. „Vielleicht ist es nicht schlimmer als das“, sagte Donal leise, „was uns andere erwartet.“ Lauras Miene war unergründlich. „Ich sollte dir die Küche zeigen“, sagte sie nach einem Moment. „Dann kannst du dir selbst was zu essen machen. Das hier ist dein Zimmer, und dort ist ein Bad.“ Sie zeigte auf eine massiv aussehende Wand, die mit drei Meter hohen, senkrechten, abwechselnd grauen und schwarzen Paneelen geschmückt war. „Das dritte Paneel ist die Badezimmertür.“ Donals vier Pappkartons mit seinen Habseligkeiten waren bereits in einer Ecke verstaut. Der Gepäckwagen – er enthielt zweifellos einen Geist – musste das Zimmer auf einem anderen Weg erreicht haben, vielleicht durch einen Wartungsschacht. Jetzt war nichts von ihm zu sehen. Vielleicht gehörte er nicht Laura, sondern der Hausverwaltung. Donal folgte Laura in die eiskalte Küche. Schränke öffneten sich auf Lauras Kommando und gaben den Blick auf eine Stasis-Speisekamer voller Kartons mit Lebensmitteln und Stapel von Porzellangeschirr frei, das schon seit ewigen Zeiten nicht mehr benutzt worden zu sein schien. „Bedien dich“, sagte Laura. „Wir sehen uns morgen früh.“ 194
„Äh … okay. Danke.“ Donal war irgendwie enttäuscht, aber er wusste, dass es eine unvernünftige Reaktion war. Fühlst du … Nein! Nach allem, was Laura für ihn getan hatte, war ein gemeinsames Abendessen zu viel erwartet. Sie würde ausgehen und mit ihren reichen Freundinnen und Freunden speisen, würde sich in Schichten bewegen, die einem normalen, arbeitenden Cop völlig fremd wären. „Ich weiß das zu schätzen“, fügte er hinzu, als sie die Küche verließ. „Gern geschehen.“ Die Tür – einfach verzaubert, ein Geist war nicht erforderlich – schwang von selbst zu, als Lauras Absätze über den Dielenboden klackerten und aus Donals Bewusstsein entschwanden. „Tja“, sagte er leise zu sich selbst. „Mal sehen, was es zum Abendbrot gibt.“ Eigentlich hatte er gar keinen Hunger mehr, aber dann fiel ihm wieder Schwester Felice aus dem Krankenhaus ein, die ihm erklärt hatte, er müsse essen, sonst würde seine Genesung länger dauern. Vermutlich galt das auch jetzt noch. Donal fand ein in Pergamentpapier eingewickeltes Stück pinkfarbenen Alcadia-Käse und eine Pappschachtel mit Schwarzsprossen-Brühe. Ein paar schwarze Cracker aus der Stasis-Speisekammer. Und das war’s. Er suchte nach einem Kochtopf, fand aber keinen. 195
„Blutiger Thanatos.“ Am Ende begnügte er sich damit, die kalte Suppe, am Tresen stehend, direkt aus der Schachtel zu trinken. Der Käse und die schwarzen Cracker schmeckten … interessant. Auf der Hülle der Cracker-Schachtel stand ein Datum: 22. September 6604. Zumindest waren sie noch genießbar: Die Stasis-Speisekammer machte einen erstklassigen Eindruck und verhinderte garantiert jede Form von Verfall. Aber was für eine Luxuswohnung war das, in der die Zimmer eiskalt gehalten wurden und es keine frischen Nahrungsmittel gab, nur drei Jahre alte Crakker und gefrorenen Käse? Donal aß langsam, sammelte die heruntergefallenen Krümel auf und stellte das Geschirr ins Spülbecken – das anfangs rostfarbenes Wasser ausspie, als wäre es nicht an Arbeit gewöhnt. Doch als das Wasser eine Weile lief, klärte es sich. Dann spülte das Becken das Geschirr; kleine, ausgefahrene Arme wuschen und polierten die Teller und stellten sie anschließend zum Trocknen beiseite. Donal ging durch die hallende Diele zu dem hohen, dunklen Zimmer zurück. Er betrachtete das Himmelbett eine ganze Weile, zog sich dann bis auf die Unterhose aus und wühlte in den Pappkartons, bis er den richtigen fand und ein zerfleddertes Buch mit abgerissenem Einband herausfischte. Es war das Exemplar von Menschlich: die Rache, das er vor dem Job mit der Diva angefangen hatte. 196
Fühlst …? Nein. Er nahm das Buch mit ins Bett. Donal saß aufrecht da, von Kissen gestützt, deren Seidenbezüge wie Quecksilber schimmerten, und las im Licht flackernder, blassblauer Flammen. Die Worte einer imaginären Geschichte spendeten ihm einen gewissen Trost. Das wahre Leben und die wirkliche Welt hatten sich weit von jeder Logik und jeglicher normaler Sinnhaftigkeit entfernt. Irgendwann schloss er die Augen, um sich auszuruhen, und legte das Buch in den Schoß. Er driftete in einen warmen, leeren, orangefarbenen Traum. Durstig wachte er auf. Immer noch in seiner Unterhose, machte er sich auf den Weg zur Küche … Und blieb stehen. Fühlst du …? O mein Tod, ja. Laura war in der Diele, splitternackt. Die hohen Fenster hinter ihr standen offen und ließen die eisige Nacht herein. Der starke Wind wehte den Quecksilberregen fast waagrecht durch die Dunkelheit. Und Lauras makellose, blasse Haut war silbrig. Wenn Donal es nicht besser gewusst hätte, wäre er überzeugt gewesen, dass sie draußen gewesen war. „Du bist so warm“, flüsterte sie. Ihre Lider flatterten. „Ich wollte nicht …“ In einem Winkel von Donals Bewusstsein gellte eine Warnung, aber sie wurde von einer allumfas197
senden, überwältigenden Gewissheit übertönt, als er einen Schritt auf sie zutrat. „So nah bei den Lebenden. Den ganzen Tag, bei der Arbeit …“ „Du bist vollkommen.“ Donals Stimme war rau. Fühlst du das Lied? Etwas, eine gewaltige Kraft, flutete durch Donals Innerstes. Ich weiß es nicht. Vielleicht wehrte er sich einen Moment lang gegen die gezeitenhafte Anziehungskraft; vielleicht bildete er sich das aber auch nur ein und ließ sich sofort von den Geschehnissen mitreißen. Seine Hand legte sich um eine kalte Brust. Ihr Nippel war aufgerichtet und starr, wie Stahl. „Thanatos.“ Und dann lagen sie sich in den Armen und hielten sich mit aller Macht aneinander fest, und als sie zum Schlafzimmer stolperten, war die Zeit zum Nachdenken vorbei. Laura saß mit gespreizten Beinen auf ihm und lachte, als er in ihr kam, eine Nova-Explosion purer Freude, während er ihre kleinen Brüste umfasst hielt. Er rollte sich zur Seite, sodass sie auf das Bett zu liegen kam, und küsste ihre eisigen Nippel; dabei verhakte er seine Fingerspitze in ihr, und kurz darauf schrie sie laut auf, erschauerte und lachte dann noch einmal. Fühlst du … Nicht jetzt. 198
Donal küsste ihre bleiche, weiche Haut, so kalt an seinen Lippen, seinem Körper. Binnen Minuten war Laura von Neuem erregt und bog den Rücken durch, während Donal seine Zunge zum Einsatz brachte, und dann war er erneut in ihr und erklomm jenen Gipfel der Explosion, den sie diesmal beide zugleich erreichten. „Oh, Tod …“ „Du bist wunderbar“, erklärte er ihr. Auf einmal konnte er wieder sprechen. „Du auch, Lover.“ Sie kuschelten sich aneinander und hielten sich umschlungen. „Verdammt.“ Ein Krampf zerrte an seinen Rippen. „Entschuldige.“ Er rollte sich von ihr weg. „Alles in Ordnung?“ „Ja.“ Donal streckte sich, obwohl es wehtat. „Warte nur, bis ich wieder vollständig bei Kräften bin.“ Er rollte sich erneut zu ihr herum und küsste sie auf die kühlen Lippen. „Ja … du solltest schlafen, Donal. Sonst nützt du mir morgen früh nichts.“ Meinte sie bei der Arbeit oder im Bett? Er lächelte und wollte sie fragen, aber er lag im bequemsten Bett seines Lebens, erschöpft von dem noch nicht überwundenen Trauma und den soeben vollzogenen Liebesakten. Fühlst … Keine Ahnung. Kann mich nicht erinnern. Wen interessiert’s? 199
Donal fiel in eine Art Schlaf oder Trance, einen Zustand völliger Losgelöstheit von der Außenwelt. Es war Glückseligkeit, und das erlebt niemand sehr oft. Er ließ sich treiben. Als er aufwachte, war es wieder eiskalt in dem nach wie vor dunklen Zimmer, das nur von einer blassblau flackernden Flamme erhellt wurde. Laura lag nicht im Bett. Was haben wir getan? Die Begierde hatte sie übermannt. Aber wie war es dazu gekommen? „Laura?“ Donal blinzelte und richtete sich halb im Bett auf. „Bist du …?“ Sie war da. Oh, schwarzer Thanatos. Sie saß im Lotussitz auf dem Fußboden, immer noch nackt. Ein dünnes schwarzes Kabel, das in einer Kettenkurve herabhing, verband sie mit einer Steckdose in der Wand. Das Kabel pulsierte von nekrotonischer Energie. Aber an ihrer linken Brust … Nein. Das habe ich gar nicht bemerkt. … war ein großer blasser Hautlappen aufgeklappt, ein Dreieck jener makellosen Haut, die er geküsst hatte, über die er mit Zunge und Fingern gefahren war … Oder doch? Habe ich es gewusst? … enthüllte die Höhlung in ihrer Brust und das ölige, schwarze, nasse Ding, das in regelmäßigem, immer gleichem Rhythmus pumpte und schlug, wie200
der aufgeladen für eine weitere Nacht und einen neuen Tag. Eine unterdrückte Erinnerung kam hoch. „Der Wächter-Schild hält nur Lebewesen fern.“ Das war Laura, damals in der Hütte mit den hereingestürmten Soldaten. Jetzt waren Lauras Augen verschattet, als sie ihn dabei beobachtete, wie er sie beobachtete. Dann: „Was ist?“, fragte sie schroff. „Hast du noch nie mit einem Zombie gevögelt?“ Donal versuchte zu sprechen. Etwas packte seine Kehle, und es war, als würde sie zugeschnürt. Er wollte Laura erklären, dass es keine Rolle spielte, aber es ging nicht, denn sie stand auf, zog das Stromkabel aus ihrem schlagenden, öligen schwarzen Herzen, warf das Kabel beiseite, verschloss ihre Brusthöhle und zog ihre Brusthaut wieder zurecht. Die Ränder verschmolzen miteinander und verschwanden, sodass ihre Haut wie zuvor unversehrt war. „Ich …“ „Mach dir keine Sorgen, Donal.“ Lauras abgelegte Kleider blieben zurück, als sie nackt das Zimmer verließ. Ihre perfekten, konvexen Pobacken spannten und entspannten sich rhythmisch, und dann war sie fort, und Donal verfluchte sich. „Ach, Tod …“ Mit einer einzigen raschen Bewegung schwang er die Beine vom Bett und stand auf. 201
Sie bereut es. Es hat auch sie einfach überwältigt, dieses Verlangen … Donal war sportliche Aktivitäten gewohnt, aber nicht in seiner gegenwärtigen Verfassung. Das Blut sackte ihm aus dem Kopf, und er schwankte, taumelte, dann schien sich die Bettdecke seinem Gesicht entgegenzuheben – Hades, ich verliere das Bewusstsein, verdammt noch mal –, und er fiel vornüber; er konnte sich nicht einmal mehr abfangen, als alles verschwand. Schwarz. Laura stand nackt im großen Wohnzimmer. Sie zitterte, aber das lag nicht an der eisigen Luft, denn sie war kein Mensch mehr, und wie hätte etwas Totes die Kälte spüren können? Sie schaute zur Diele und zur Schlafzimmertür zurück – zur Tür ihres eigenen Schlafzimmers, in dem Donal lag. Sie hatte es nicht mehr benutzt, seit … seit es passiert war. Es gab sechs Gästezimmer, aber das siebte Zimmer war ihr eigenes: Obwohl sie nicht bewusst geplant hatte, mit Donal zu schlafen, musste ein Teil von ihr die ganze Zeit gewusst haben, dass es geschehen würde. Thanatos. So ein Mist. Sie ließ Donal noch einen Moment Zeit, ihr zu folgen und sich zu entschuldigen – Tod, er war so warm –, gab es dann auf – aber ich bin seine Vorgesetzte –, wandte sich den riesigen, offenen Fenstern zu und stieg aufs Fensterbrett. 202
Habe ich also schließlich doch noch einen echten Mann gefunden. Laura befand sich zweihundertsechsundzwanzig Stockwerke über der Straße. Die Nacht war schwärzer denn je; selbst der Mond verbarg sich hinter undurchdringlichen Wolken. Der einzige Hinweis auf seine Existenz war ein silberner Saum um die Wolkenbank. Schade, dass ich keine echte Frau bin. Sie hielt sich an einem Totenschädel fest, der die Außenwand zierte, und zog sich hoch. Mit Hilfe anderer Steinskulpturen – hier ein surinesischer Komodo, dort ein balkranischer Karnivulkan neben einem Ghuladler – kletterte sie stetig nach oben, nackt im Licht. Riesige Dämonenköpfe aus Stein, die zum umfangreichen Aufbau des Darksan Tower gehörten, starrten sie mit dunkelgrünen Augen an, die größer als Autos waren. Sie folgten Lauras Aufstieg zur nächsten, etwas zurückgesetzten Etage. Schließlich erreichte sie das Dach um die letzte, hohe Turmspitze, die in die Nacht ragte. Laura setzte sich hin. Ihre nackten Pobacken pressten sich gegen den Ansatz eines der vier riesigen Dämonenhälse. Sie starrte in die Nacht hinaus, sah aber nichts außer den Abgründen ihrer eigenen Dummheit. Eine dunkelgraue Katze kam auf leisen Pfoten zu ihr. „Hey“, sagte Laura sanft. 203
Die Augen der Katze leuchteten scharlachrot. „Setzt du dich eine Weile zu mir?“, fügte sie hinzu. Stille, dann: + Ja, gut. + Die Katze hockte sich neben sie und blinzelte. Lauras an die Dunkelheit angepasste Augen richteten sich auf die Hochhäuser jenseits der Straße, dieser von Menschen- und Geisterhand geschaffenen Schlucht, und auf die schmalen Steinholme, die sie verbanden: Kanäle für nekrotonische Kabel und Telefonleitungen. Kein Mensch konnte die Holme durchqueren – die Innenräume waren zu eng –, aber Geister konnten und taten es, sie strömten ganz nach Bedarf an den Leitungen entlang von einem Gebäude zum nächsten. Und andere Geschöpfe, die den gefährlich starken, turbulenten Winden in diesen Höhen zu trotzen beschlossen, konnten außen auf den Steinholmen entlanglaufen – und hin und wieder auch gleiten – und die weiten Entfernungen und gewaltigen Tiefen überwinden. Bei Lauras Erscheinen schimmerten nun auch auf anderen Dächern scharlachrote Katzenaugen wissend auf. Laura saß nackt am Fuß der Turmspitze des Darksan Tower und schaute in die Nacht. Die Nacht, zu der sie gehörte. Donal kam allmählich wieder zu sich. Er tappte ins Badezimmer, trank abgestandenes Wasser aus dem 204
Hahn und ließ es dann ein paar Minuten laufen. Das zweite Glas schmeckte frischer. Von Laura war nichts zu sehen. Er kehrte zu dem kleinen Pappkartonstapel zurück, wühlte in den Kisten und holte sein altes Sprungseil heraus. Es war schwarz und glatt und glänzte vom Alter: ein dünnes Stück abgenutzten Mantikor-Gedärms. Nur mit der Unterhose bekleidet, begann Donal langsam zu hüpfen. Er fing mit dem einfachen beidfüßigen Sprung an, hüpfte dann immer von einem Fuß auf den anderen und baute kurze Phasen rasanter Beinarbeit in den stetigen Aerobic-Rhythmus ein. Mal O’Brian, sein alter Boxtrainer, wäre stolz auf ihn gewesen. Eine halbe Stunde später – Donal wollte gerade aufhören – kam Laura voll angekleidet ins Zimmer. Sie trug eines ihrer schmucklosen Kostüme, diesmal ein navy-blaues, dazu hochhackige Schuhe in derselben Farbe. Auch ihr schimmernder Lippenstift war passend gewählt. „Du bist ziemlich fit, wie ich sehe“, sagte sie. „Fit genug für alles“ – Donal ließ das Seil spektakulär um sich herumpeitschen und warf es dann aufs Bett – „was du mit mir anstellen möchtest.“ „Wie bitte?“ „Ich fühle mich jetzt viel besser.“ „Nein.“ Donal stieß die Luft in einem langen Atemzug aus. „Ich …“ Nein. Er würde sich nicht entschuldigen. 205
Fühlst du die …? Ja, verdammt. Die ganze Zeit. Donal wollte ihr sagen, dass er sie liebte, auch wenn der rationale Teil seines Bewusstseins schrie, das seien nur die Nachwirkungen des Banns, eine Umpolung seiner elementaren animalischen Triebe. „Wir brauchen nicht darüber zu sprechen.“ „Nein“, sagte er. Sie starrten sich an. Fühlst …? Und schluckten. Laura knöpfte ihre lacke und ihre Bluse auf, nahm seine rechte Hand und legte sie auf die schwarze Spitze ihres BHs, sodass er ihre linke Brust umfasste, direkt über dem Herzen. „Spürst du, wie die schwarze Pumpe in mir … herumglitscht?“ „Ja.“ Donal schloss die Augen. Ein kalter Schauer überlief ihn. „Ja, ich spüre es.“ „Oh, Thanatos.“ Sie zogen einander in eine vereinigende Umarmung, als würde jede Zelle in ihren Körpern zu dem gemeinsamen Organismus gesaugt, den sie zusammen bildeten, als könnten sie ein einziges Geschöpf sein, erfüllt von den Freuden der Lust und der Liebe, der salzigen, schweißigen Flüssigkeiten, die sich vermischten, und dann riss er ihr die Kleider vom Leib, seine Unterhose fiel zu Boden, und doch war da eine Behutsamkeit, nicht das ungestüme Drängen der vergangenen Nacht. Und es war tiefer und viel befriedigender, als sie 206
laut schreiend und lachend gemeinsam kamen: einmal, zweimal und ein drittes Mal. Sie lagen nackt auf den zerwühlten silbernen Laken und lachten erneut, leise und zufrieden. „Tja“, sagte Laura. „Ich schätze, jetzt haben wir’s getan.“ „Schätze ich auch. Du verführst einen Untergebenen, und ich …“ „Du lässt dich mit einer Nichtperson ein, zumindest nach Senator Blanz’ Kriterien.“ „Der Mistkerl hat doch keinen blassen Schimmer.“ Sie sahen sich an. „Wird das immer so sein?“, fragte Laura. Donal schüttelte den Kopf. „Ich weiß überhaupt nichts.“ „Ich auch nicht.“ Er konnte Vermutungen über den Ursprung des Begehrens anstellen, das ihn durchflutete. Aber weshalb fühlte Laura sich derart zu ihm hingezogen? Ich weiß es nicht. Aber er wusste, dass es so war, und darauf kam es an. Donal stützte sich auf einen Ellbogen, schaute sie an und fuhr mit den Fingerspitzen über ihre kühle, makellose Haut. Ihre eiskalten, dunklen Nippel richteten sich bei seiner Berührung auf. „Ah … das gefällt dir? Also, warum hast du den Senator im Visier, Laura? Weshalb ist Blanz dein Feind?“ „Abgesehen vom Offensichtlichen? Ich habe nicht 207
gesagt, dass er mein Feind ist.“ Lauras Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, sie hob den Kopf, um Donal zu küssen, und ließ ihn dann wieder aufs Kissen sinken. „Natürlich ist er es … Ich hab’s bloß nicht gesagt. Er ist der Feind all derjenigen, die so sind wie ich und Xalia.“ „Xalia ist ein intelligenter Geist. Sie gehört wohl kaum in dieselbe Kategorie wie du …“ „Dann glaubst du also, dass sie unter dem Menschen steht?“ „Nein, glaube ich nicht, verdammt noch mal. Wie kannst du mir so eine Frage stellen?“ Laura schüttelte den Kopf. Ihr blondes Haar wirbelte über die silbrigen Satinkissen. „Tut mir leid, ich bin’s noch nicht gewohnt, dass … Eigentlich soll sich die Welt nicht von einem Moment auf den anderen ändern.“ „Ja, aber es kann passieren.“ Und hatte sie gewusst, dass dies geschehen würde? Hatte sie es geplant? Es ist mir egal. „Na schön.“ Laura rollte sich herum, setzte sich auf und warf einen Blick auf die eckigen Zeiger, die sich auf dem Schränkchen neben dem Bett in Position drehten und die Zeit anzeigten: 11:07. „Tod, hast du eine Ahnung, wie spät wir dran sind?“ „Ja … wir fahren wohl besser getrennt zum Präsidium.“ „Nein.“ „Du kannst mich auch fünf Blocks entfernt an ei208
ner unauffälligen Stelle absetzen. Dann hole ich irgendwo Kaffee. Der ist garantiert besser als der Muckefuck, den Viktor macht.“ „Ich glaube nicht.“ „Du willst mir doch wohl nicht erzählen, dass du Viktors Kaffee magst.“ „Ich habe ihn noch nie probiert“, sagte Laura. „Ich hatte nie das Bedürfnis. Und ich habe auch nicht das Bedürfnis, dich zu verleugnen, mein feuriger Liebhaber.“ Sie legte ihm die Fingerspitzen an die Brust, und einen Moment lang spielte ein Hauch von Dampf darum und verdunstete dann. „Ich tue dir doch nicht weh, hm?“ Donal kam zum ersten Mal so recht zu Bewusstein, wie unterschiedlich ihre Körpertemperatur war. „Ich meine, meine Haut verbrennt dich nicht, oder?“ „O doch, mein grandioser Gespiele. Aber es ist nicht schlimm.“ „Du hast gesagt“ – Donal reagierte auf ihre Küsse; erneut strömte Blut in sein schwellendes Glied – „wir kämen zu spät zur Arbeit, weißt du noch?“ „Mhm. Zum Glück bin ich der Boss.“ Sie schmiegten sich aneinander, verschmolzen wieder zu einem Wesen. „Zum Glück, zum Glück …“ Und dann steuerten sie auf die Nova-Explosion zu, die sie erwartete. Laura fuhr die Vixen, die wie für sie gemacht zu sein 209
schien. Selbst das halbmondförmige Lenkrad passte perfekt zu ihr, als könnte sie den Wagen schon mit dem leisesten Druck einer Fingerspitze durch die engsten Kurven lenken. Sie glitten durch die nicht übermäßig befahrenen Straßen und genossen die Erholung vom Berufsverkehr. Erst in der Nähe des Polizeipräsidiums standen die Wagen wieder dicht an dicht, und dann schaltete Laura das schwarze Blinklicht ihrer Vixen ein – Schattenbänder schossen über die Straße, während die Sirene aufheulte –, und Fußgänger wichen zurück, als Laura sich mit zwei Rädern auf den Bürgersteig schob und am Straßenrand entlangfuhr. Die Ampel an der Kreuzung war rot, aber die Fahrer hatten das Blinklicht gesehen und hielten alle an, während Lauras Wagen zwischen ihnen hindurchschoss. „Ich möchte, dass du die Diva-Spur verfolgst“, sagte sie, während sie mit dem Wagen über drei Fahrspuren hinweg nach rechts abbog, ohne auf das Gehupe zu achten. „In Ordnung?“ Stahltüren mit Reliefs von Drachenköpfen teilten sich, als die Vixen auf sie zuraste – für derart massive Konstruktionen bewegten sie sich unglaublich schnell. „Und was ist das, so eine Art Fährte durchs ganze Land?“ Donal zwang sich, seine Hände zu entspannen – er hatte sie gerade zu Fäusten verkrampfen wollen –, als sie an Steinsäulen vorbeisausten, die mit stilisierten brütenden Adlerköpfen geschmückt waren. „Oder was?“ 210
„Wenn sie dich durchs ganze Land führt, dann ist das eben so.“ Die Reifen kreischten und jaulten, als Laura mit der Vixen ein weiteres Mal scharf und schnell abbog und einen livrierten Chauffeur erschreckte, der gerade den Motor seiner großen Panzerlimousine anließ. „Aber ich dachte eher an Spuren in Papierform – die langweilige, unglamouröse Sorte.“ „Was ist mit der Diva?“ Donal war erstaunt, dass er keinen Schmerz mehr verspürte, wenn er ihren Namen oder vielmehr ihren Titel aussprach. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er Maria daLivnova überhaupt nicht gekannt hatte. Und wie wenig ihm das jetzt noch ausmachte. „Malfax Cortindo“, sagte Laura. Sie bremste schließlich, fuhr an Bronzesäulen vorbei und rollte eine lange, rote Metallrampe hinunter, die in einen schüsseiförmigen Parkbereich mündete. Die radial angeordneten Parkplätze waren tränenförmige Vertiefungen im Boden, wie Markierungen eines Töpfers im Lehm; und drei von ihnen waren von teuer aussehenden, leeren Wagen besetzt. „Da wirst du solches Material brauchen. Finde heraus, weshalb Bezirksrat Finross so erpicht darauf war, dich zu ihm zu schicken.“ „Du willst doch nicht, dass ich mit Finross rede.“ „Noch nicht, Donal. In diesem Stadium sollten wir uns lieber noch bedeckt halten. Der Mistkerl denkt wahrscheinlich, dass er mit allem davonkommt … und ich weiß nicht mal genau, welchen Vergehens er 211
sich eigentlich schuldig gemacht hat. Möglicherweise hat er ein Geschäft vermittelt … ich weiß es nicht.“ „Cortindo war ein Mittelsmann.“ Die Vixen kam zum Stehen, und Donal schloss die Augen, atmete leise aus und öffnete sie dann wieder. „Aber damit ist deine Theorie über Finross noch nicht vom Tisch … Jemand vermittelt ein Geschäft mit einem anderen Vermittler. Zwei Zwischenschichten zwischen dem Verbrechen und demjenigen, der dafür bezahlt hat.“ „Hmm. Wie gesagt, das ist dein Job, Liebster.“ Laura beugte sich zu ihm hinüber, um ihm einen Kuss zu geben, dann zwinkerte sie, stieß die Tür auf und stieg mit einem Bein aus. „Kommen Sie, Lieutenant, trödeln wir hier nicht herum.“ Donal schenkte ihr ein angedeutetes schiefes Lächeln und stieg aus. Als er auf dem harten Boden der Tiefgarage stand, entzog sich die Tür selbsttätig seinem Griff und schwang zu. Sie schloss sich mit einem lauten Klicken. „Äh …“ Er hatte nicht bemerkt, dass auch die Vixen geistaktiviert war. „Keine Angst. Sie ist ganz zahm.“ Laura tätschelte die bereits geschlossene Fahrertür. „Nicht wahr, Schwesterherz?“ „Wie bitte?“ Laura zuckte die Achseln. „Erzähle ich dir ein andermal … Aber wir sind bloß Halbschwestern. Es ist also nicht so seltsam, wie du vielleicht glaubst.“ Thanatos. 212
Das Leben hatte für Donal wirklich eine jähe, abrupte Wendung genommen. Aber eine Gruppe gut gekleideter Männer – sie trugen dunkle Geschäftsanzüge – steuerten in Begleitung zu elegant angezogener Frauen auf ein Trio silberner Limousinen zu. Donal behielt seine Gedanken für sich, als er mit Laura an ihnen vorbeiging. „Wir sind noch nicht im Präsidium“, sagte er stattdessen mit einem Blick zu der gebogenen rotbraunen Decke, deren Flachreliefs lächelnde Papageien zu zeigen schienen. „Was ist das für ein Gebäude? Das Redburn Centre?“ „Ja, genau. Das Five Circles ist zweihundert Etagen über uns, falls du mal mit Senatoren, Bezirksräten und ähnlicher Fauna aus dem Aquarium der Lokalpolitik speisen willst.“ „Nette Beschreibung. Ich glaube nicht, dass die mich reinlassen würden.“ Donal ging neben Laura her, die Schulter nah an ihrer, aber ohne Händchen zu halten. „Nicht mit meinen Anzügen und Krawatten.“ „Du wärst dort wahrscheinlich willkommener als ich. Und ich würde dich gern mal dorthin mitnehmen – schon wegen des Erlebnisses, weißt du?“ Vor seinem geistigen Auge sah Donal einen stattlichen Oberkellner, der Laura am Besuch seines Restaurants zu hindern versuchte, und hörte ihre eisenharte Antwort: „Was ist, haben Sie noch nie einen Zombie bedient?“ Aber das war pure Fantasie. Sie kamen am Eingang zu den oberen Etagen vorbei und gingen weiter 213
durch den silberweißen Tunnel, der seiner Beschilderung zufolge Deepway Fast I 7 war. Zusätzliche Schilder listeten Gebäude auf, zu denen der Tunnel führte, darunter auch das Präsidium. Es gab Geschäfte und kleine Esslokale, aber die Preise hinter dem Tresen ließen Donal zusammenzucken. „Anscheinend bewege ich mich jetzt in neuen Kreisen.“ „Hmpf.“ Laura schüttelte den Kopf. „Ein Techtelmechtel mit mir ergibt noch keinen gesellschaftlichen Kreis.“ „Das haben wir also? Ein Techtelmechtel?“ Sie gingen schweigend weiter. Donal hätte gern ihre Hand genommen, aber er wusste, dass er es nicht tun sollte – Laura war eine Vorgesetzte, er war in ihrem Team, und basta. Am metallisch-silbergrauen, unterirdischen Zugang zum Präsidium blieben sie stehen. Er war als rund zehn Meter großer Wolf mit aufgerissenem Maul gestaltet; die oberen Fänge waren über ihre Köpfe erhoben, die lange Zunge bildete eine Rampe. Donal nickte den echten Todeswölfen zu, die zu beiden Seiten postiert waren. „Hey.“ Mit langsamen Bewegungen holte er seine Brieftasche heraus, klappte sie auf und zeigte ihnen seine Marke. „Riordan.“ „Kenne Sie … nicht.“ Der Todeswolf links von Donal hob den Kopf und richtete seine bernsteingelben Augen auf sein Gesicht. „Lieutenant.“ 214
„FenSieben ist mein Freund.“ Donal hob die Hand und entließ mikroskopische Restgerüche in die warme Luft. „Riechst du’s?“ „Ah. Jah-h-h …“ Der andere Todeswolf starrte bereits Laura an. Sie erwiderte den Blick wie in einem wortlosen Austausch. Dann knurrte der Todeswolf, senkte den Kopf und tappte davon, hinein ins Gebäude. Als er zurückkam, wurde er von zwei weiteren Todeswölfen begleitet. „Das ist Donal.“ Laura machte eine Kopfbewegung zu Donal und nickte dann der Reihe nach jedem Todeswolf zu. „Er ist mein …“ „Partner.“ Der größte Wolf, alt und silbergrau, zog seine oberen Lefzen zu einem Wolfslachen zurück. „Wissen wir.“ Dann teilte sich das Rudel in zwei Wölfe pro Seite, und sie sahen zu, wie Donal und Laura das Gebäude betraten. Es hatte etwas seltsam Zeremonielles. Er wagte es nicht, Laura anzusehen. Sekunden später sanken sie in einem Fahrstuhlschacht – nicht dem von Gertie – nach unten, auf dem Weg zu einem weiteren Tag im Büro. Donal verspürte eine seltsame Erregung – obwohl sie angesichts der plötzlichen Veränderungen in seinem Leben nicht gar so seltsam war –, jenes vertraute Gefühl eines neuen Anfangs, wie zu Beginn eines neuen Jahres, eines neuen Abenteuers. Gemeinsam durch215
querten sie den Teamraum und gingen zu Lauras Büro. Viktor saß an seinem Schreibtisch und kämpfte, die Finger in verdrahteten Klauenhandschuhen, mit einem Compositor-Framework, einer Art dreidimensionalem Abakus, mit dem sich schwerer arbeiten ließ als mit einer Schreibmaschine. Eine blasse Frau, die Donal nicht kannte, kam herbei. Ihr Blick war ernst. „Alexa“, sagte Laura. „Darf ich euch bekannt machen? Das ist …“ „Es geht um Sushana“, sagte die Frau, Alexa. „Seit dreizehn Tagen hat niemand mehr sie gesehen. Gestern Abend sollte sie bei ihrer Cousine sein, aber sie ist nicht aufgetaucht.“ „Mist, verdammter.“ Laura wandte den Blick ab. „Mist.“ „Wir versuchen so unauffällig wie möglich, ihre Spur zurückzuverfolgen, aber du weißt, wie schwer das ist.“ Donal schaute von einer zur anderen. „Was hat sie gemacht?“ „Undercover-Zauberin“, sagte Alexa, und als Laura nicht einschritt, um sie von weiteren Erklärungen abzuhalten: „Es war ein gemischter Hexenzirkel, siebenunddreißig Akolyten, die sich über einem Gebrauchtreifenhandel im Norden der Stadt treffen. Angeblich hat Freddy C, alias Freddy die Klaue, das finanziert.“ „Den Zirkel oder den Laden?“ 216
„Beides. Kennst du Freddy?“ „Ich bin mal seinem Bruder begegnet. Al Clausewitz.“ Alexa kniff langsam die Augen zusammen. „Ich wusste gar nicht, dass Freddy einen Bruder hat.“ Donal wartete einen Moment. „Hat er auch nicht“, sagte er. „Nicht mehr.“ Lauras kalte Lippen strafften sich zu einem Lächeln. „Ich denke, du bist der Richtige für den Job.“ „Diese Sushana aufzuspüren?“ „Was ist mit Harald?“, sagte Alexa. „Wenn er sein Netzwerk dazu bringt, nach Sushana zu suchen, wird sie schon auftauchen. So oder … so.“ „Du weißt doch, sie arbeitet undercover“, sagte Laura. „Sobald Haralds zahme Luden und Wahrsager rumerzählen, dass wir sie suchen, wissen sie, dass wir ein besonderes Interesse an ihr haben. Solange sie glauben, dass Sushana eine wohlhabende Geschäftsfrau aus Selvikin City ist, wie es ihrer Tarnung entspricht, passiert ihr nichts. Aber wenn sie sie für einen Spitzel halten …“ „Oder für einen Cop.“ Donal zuckte die Achseln. „In beiden Fällen ist sie tot.“ „Das Treffen, zu dem sie nicht erschienen ist, war gestern“, sagte Alexa, „aber sie ist schon seit dreizehn Tagen verschwunden.“ Laura schwieg einen Moment. Donal wusste, was er tun würde, und er würde es vorschlagen, wenn Laura ihn fragte. „Also los“, sagte Laura dann. „Setzt alle Hebel in 217
Bewegung. Wenn wir irgendeinen Hinweis auf jemanden kriegen, der Sushana kennt, den wir aber nicht kennen, dann schnappen wir uns den Betreffenden und machen ihm die Hölle heiß.“ Alexa wirbelte herum, ging zu ihrem Schreibtisch zurück und griff zum Telefon. „Grünes Licht“, sagte sie und knallte den Hörer auf. Dann schaute sie zu Laura hoch und schenkte ihr ein strahlendes, mädchenhaftes Lächeln. „Ich hatte schon alles vorbereitet, weil ich mir dachte, dass du das sagen würdest.“ „Ich hasse es“, murmelte Laura, „berechenbar zu sein.“ Donal sagte zu Alexa: „Erinnere mich daran, dass ich dich irgendwann mal mit meinem Kumpel Levison bekannt mache.“ Aber der Humor war ein Mechanismus, mit der Situation fertig zu werden, nicht mehr. Ein vermisster Undercover-Cop am ersten vollen Tag, den Donal im Team war … Zum Glück glaubte er nicht an Omen. Hörst du das …? Oh, um Todes willen, nicht jetzt.
218
ELF Die Spezialeinheit schickte ihre Kontaktleute, ihre Spitzel und Sympathisanten, ihre bezahlten Informanten und die von ihr unter Druck gesetzten Schwächlinge auf die Suche in den inoffiziellen Labyrinthen, die der Stadt ihr Gepräge gaben. Sie suchten nach Sergeant Sushana O’Connor, oder vielmehr nach der Zauberin Shara Conrahl, die solches Interesse an der Erkundung der dunkleren Seite ihrer angeblichen Kunst an den Tag gelegt hatte. In dieser Nacht blieb Laura im Büro, um die Arbeit des Teams zu koordinieren. Donal konnte kaum noch die Augen offenhalten, und schließlich sagte sie, er solle nach Hause gehen. Er hätte eines der vorhandenen Feldbetten benutzen können, aber das hätte noch verdächtiger gewirkt, weil er dann die ganze Nacht zusammen mit Laura hier geblieben wäre. Schließlich gab er auf und befolgte ihren Rat. Er fuhr ins Erdgeschoss hinauf, wo er zehn Minuten lang mit FenSieben plauderte, bis das Taxi kam. Die Straßen waren leer, und so brauchte er nicht lange bis nach Hause. Zu seinem neuen Zuhause. Die Wächter des Darksan Tower, zweieinhalb Meter große Behemoths mit einem einzelnen Schlitzauge, traten beiseite und ließen Donal ins Gebäude. Ein Fahrstuhl beförderte ihn in rasantem Tempo zur Wohnung hinauf, wo er in den metallischen Gothic219
Deco-Räumen umherwanderte, bevor er ins Bett sank. Dunkle Träume umfingen ihn. Donal erwachte spät, ein Zeichen dafür, dass sein Genesungsprozess noch nicht abgeschlossen war. Er schlüpfte in seinen alten Jogginganzug und fuhr mit dem Fahrstuhl in die Kellergeschosse hinunter. Ein Wartungsmonteur, dessen Haut mit fettigen Schmutzflecken beschmiert war, und zwei hinter ihm schwebende Geister zeigten Donal den Zugang zu den Treppen, die in die Katakomben hinabführten. Er lief auf ihm unbekannten Strecken gewundene, längst aufgegebene Wege entlang. Dann war er in einem höhlenartigen Raum, wo neuere Familienmausoleen – teilweise aus poliertem Messing und Silber – von bernsteingelben Laternen mit bleichem Licht umringt waren. Er lief weiter, bis er schließlich in einem Bereich landete, den er kannte, und zu der festen Überzeugung gelangte, dass es keine Einbildung war: Etwas hatte sich verändert! Katakomben überdauerten Jahrhunderte oder sogar Jahrtausende. Wenn es Veränderungen gab, dann nicht in ihnen. Dennoch hörte er jetzt immer wieder ein seltsames Wispern, das verstummte, wenn er sich einem Sarkophag oder Mausoleum näherte. Es war fast so, als ob … Fang nicht an zu spinnen. Als ob die Toten auf einmal Angst vor ihm hätten.
220
Nach seiner Rückkehr in die Wohnung nahm Donal ein Frühstück zu sich, das aus kalter Schwarzsprossen-Suppe und Kaffee bestand. Wenn dieses Arrangement länger dauerte, würde er sich ums Einkaufen und Kochen kümmern müssen. Er überprüfte die Ladung seiner Magnus, rief dann beim Portier an und bat ihn, ein Taxi zu bestellen. „Daran könnte ich mich gewöhnen“, murmelte er, nachdem er den Hörer aufgelegt hatte. „Vielleicht.“ Der Lift, der ihn nach unten brachte, war wie ein riesiges Hochgeschwindigkeitsgeschoss. Er hielt im achtundfünfzigsten Stock, um zwei Fahrgäste aufzunehmen, einen Mann in einem dunklen Anzug mit Sinuswellen-Webmuster und eine Frau mit aufgedunsenem Gesicht und zu viel Schmuck, der samt und sonders echt war. Der Mann trug ein Monokel. Er und seine Frau starrten Donal mit leiser, überheblicher Neugier an, als fragten sie sich, was für einen neuen Dienstboten die Verwaltung da eingestellt hatte. Als der Fahrstuhl im Erdgeschoss hielt, legte Donal die flache Hand an die stählerne Wand der Kabine und sagte leise: „Danke.“ Mit gerümpfter Nase und gerunzelter Stirn stiegen die beiden vor Donal aus. Aber die Kabinenwand erzitterte in einem kalten Schauer, und Donal wusste, dass er recht gehabt hatte: Es war eine Geist-Kapsel. Er fragte sich, wie lange der Geist hier schon seinen Dienst versah. Als Donal dem Taxifahrer sein Ziel nannte, machte 221
sich Enttäuschung in dessen Miene breit. Wahrscheinlich hatte er mit einem dicken Trinkgeld von einem der reichen Säcke gerechnet, die im Darksan Tower wohnten; aber ein Mann mit hartem Gesicht, der ins Polizeipräsidium wollte, fiel nicht in diese Kategorie. An der Ecke Fünfte Straße und Avenue of the Basilisks herrschte dichter Verkehr – all die Leute, die jetzt nach einem späten Lunch unterwegs waren –, und das Taxi wurde langsamer und kam schließlich zum Stehen. Der Fahrer runzelte die Stirn, überlegte einen Augenblick, drehte sich dann um und sagte durch die Trennscheibe: „Wissen Sie was, Chef? Zu Fuß sind Sie schneller da.“ Donal schaute zum Bürgersteig hinüber. Es war unwahrscheinlich, dass der Fahrer demnächst einen anderen zahlenden Fahrgast auflesen würde. Es war eine reelle Einschätzung. „In Ordnung“, sagte er, zählte aus seiner Brieftasche zehn Scheine ab und reichte sie durch das Loch in der Trennscheibe nach vorn. „Rest für Sie.“ „Wirklich?“ „Ja.“ Donal stieg aus und schlug die Tür hinter sich zu. „Eigentlich bin ich nämlich durchaus spendabel.“ Der Himmel war mittelrot, und es waren keine Scan-Fledermäuse zu sehen. Ein ganz leichter Quecksilberhauch lag in der Luft, aber es regnete noch nicht. Donal schlug den Mantelkragen hoch und ging mit schnellen Schritten fünf Blocks weit, bis er das vertraute Hochhaus des Präsidiums erreichte. 222
„Hey, FenSieben. Gestern hab ich einen deiner Verwandten kennengelernt.“ „lah-h-h.“ Bernsteinfarbene Augen glühten. FenSieben zog sabbernd die oberen Lefzen zurück. „Du hast dich … gepaart.“ „Thanatos, bleibt denn hier gar nichts geheim?“ „Für die Menschen … schon.“ „Aha. Gut.“ Zwei weitere Todeswölfe kamen um die nächste Säule und hockten sich neben FenSieben. „Loo-ten-ant Riordan.“ FenSieben übernahm es, sie einander vorzustellen. „FenSiebenDrei. GrimwalZwei.“ Beide Todeswölfe sahen jung aus – zu jung für diese Aufgabe. „Freut mich, euch beide kennenzulernen.“ Donal tippte sich mit dem Zeigefinger grüßend an die Stirn. „Und in eine Tochter von FenSieben werden große Erwartungen gesetzt.“ Die kleinere Wölfin, FenSiebenDrei, senkte den Kopf und knurrte leise zur Bestätigung. „Bis … später.“ FenSieben nickte Donal zu. „Wir sehen uns, Kumpel.“ Donal stieg die dunkle Treppe hinauf, ging durch die Halle mit dem rot-weiß karierten Boden und umrundete eine sich zankende Gruppe jung aussehender, zernarbter Huren aus dem Hafengebiet. Am Granittresen winkte Eduardo – dessen Unterkörper längst mit dem Stein verschmolzen war – Donal zu. „Sie werden oben verlangt“, rief Eduardo. 223
„Der Commissioner?“ „Genau das meine ich mit oben.“ Eine der Huren hob einen Finger und sagte: „Steig doch da oben drauf.“ Ein dünner Mann, vielleicht ihr Zuhälter, schlug ihr mit dem Handrücken ins Gesicht. „Fresse, du blöde Sau.“ Ein uniformierter Polizist trat dem Zuhälter seitlich gegen die Knie. „Hey …“ Als Donal sich abwandte, rief Eduardo: „Schön, dass Sie wieder bei uns sind.“ Das von einem Mann, der sich in Granit verwandelte. Vielleicht hätten Donals Erlebnisse mit der toten Diva und dem Krankenhaus noch schlimmer sein können. „Danke, Eduardo. Schön, wieder hier zu sein.“ Der am Boden liegende Zuhälter rief: „Ooh, Eduar-do. Was für ein hübscher Name. Bist du ein Mensch oder eine Statue da oben in deiner – Mmmpf.“ Ein dumpfer Schlag, und die Huren verstummten, während der Zuhälter leise aufstöhnte. Donal ging zu den Fahrstühlen, ohne sich umzuschauen. Commissioner Vilnars Sekretärin, die reizende Eyes, wandte sich Donal zu, arbeitete jedoch weiter. Silbrige Faserkabel, die an ihren Augen befestigt waren, verbanden sie mit der schalttafelartigen Konsole voller winziger Hebel, über die sie Zugang zu dem 224
stadtweiten Netz von Überwachungsspiegeln auf den Dächern hatte. Donal hatte Eyes noch nie anders gesehen. Ihm kam der Gedanke, dass er sie nicht erkennen würde, wenn er auf der Straße an ihr vorbeiging. „Sie können sofort zum Commissioner reingehen, Lieutenant.“ „Ist er guter Laune?“ Eyes’ Finger blieben abrupt hängen und bewegten sich in der Luft, als benutzte sie imaginäre Kontrollen, um Donals Worten Sinn zu entnehmen. Dann wandte sie sich schweigend wieder ihrer Konsole zu. Die Tür zum Büro des Polizeichefs teilte sich. Fühlst da das …? Nein. Niemals. Donal schien eine Ewigkeit zu brauchen, um das Büro zu betreten, als zerrte etwas an seiner Haut. Das war neu. Oder ich habe mich verändert. Sichere Orte schützten sich manchmal mit zeitverzerrenden Hex-Feldern. Dadurch wurden Eindringlinge derart langsam, dass tödlichere Gegenmaßnahmen eingeleitet werden oder die potenziellen Opfer die Flucht ergreifen konnten. Aber hier im Polizeipräsidium? Waren solche Sicherheitsmaßnahmen hier wirklich nötig? Commissioner Vilnar, eine dicke, nicht angezündete Zigarre in der Hand, deutete auf den schwarzen Eisenstuhl für Besucher. „Setzen Sie sich.“ 225
„Sir.“ „Sie sind bei dieser Sonderermittlungsgruppe, Riordan, worüber ich ganz und gar nicht glücklich bin, ist das klar?“ „Äh … okay.“ „Was soll das heißen?“ „Das heißt, es war mir bisher nicht klar … Ich habe mich freiwillig gemeldet, Sir.“ „Dieser Zombie, wie heißt sie gleich noch …“ Donal merkte, wie seine Stimme eine Oktave tiefer wurde. „Commander Steele.“ „… genau, sie hat die Truppe angeführt, die Sie aus der Hütte geholt hat, deshalb konnte ich ihr den Wunsch nicht abschlagen. Aber …“ Commissioner Vilnar ließ den Satz in der Luft hängen. „Ich hätte Sie in die Scheiße reiten können. Die Möglichkeit habe ich immer noch.“ „Sir? Gibt es interne Ermittlungen gegen mich?“ „Nein.“ Vilnar legte seine großen, blassen Hände flach auf die Schreibtischplatte. „Sie haben IntSec geholt, um den Schießstand zu überprüfen, was nicht heißt, dass Sie selbst sauber sind, aber es hilft. Trotzdem haben Sie zugelassen, dass Sie unter einen starken Bann geraten sind, und zwar bei einem sehr wichtigen Auftrag, den ich Ihnen hier an dieser Stelle erteilt hatte.“ „Ja. Ich erinnere mich.“ „Manche Leute waren nicht erfreut darüber, wie die Sache ausgegangen ist.“ Commissioner Vilnar meinte wichtige Leute aus den oberen Rängen der 226
tristopolitanischen Gesellschaft, deren Meinung zählte. „Einige von ihnen haben versucht, mir das Leben schwer zu machen.“ „Oh.“ „Und deshalb gebe ich Ihnen eine Chance. Ich mag’s nämlich nicht, wenn man mich bedroht. Ganz gleich, wer es ist.“ Der Wunsch zu lächeln zupfte an den Muskeln um Donals Mund. Tief im Innern besaß der alte Mann diese eiserne Stärke. Das bewunderte Donal an ihm. „Wenn bei Ihren Ermittlungen etwas Merkwürdiges auftaucht“, fuhr Vilnar fort, „irgendetwas, was die Sicherheit unserer Stadt betreffen könnte“ – er meinte die Sicherheit seiner Position – „dann erzählen Sie es mir, und zwar hier, unter vier Augen, so bald es geht.“ „In Ordnung, Sir. Sobald mir etwas merkwürdig erscheint.“ „Okay, Sie können gehen, Riordan.“ Vilnar zog seine kaum vorhandenen Augenbrauen hoch. „Momentan gibt es gerade einigen Wirbel, wie ich höre. Hammersens Netz schlägt Wellen.“ „Eine Polizistin wird vermisst.“ „Richtig. Sushana sowieso. Aber nach dem, was ich hier oben so mitbekomme“ – Vilnar machte mit seiner fetten Hand eine Geste zu seinem Büro – „vibrieren die Straßennetze.“ „Ich weiß nichts über Hammersens Spitzel“, sagte Donal. „Nur, dass er welche hat.“ Von den Mitgliedern des Teams, die Donal noch 227
kennenlernen musste, schien Harald Hammersen das eindrucksvollste zu sein. Ein ehemaliger Marine mit dem umfangreichsten Netz von UnterweltKontakten, das ein aktiver Polizist je geknüpft hatte: Das war Haralds Ruf. „Es wäre interessant“, meinte Vilnar, „mehr darüber zu erfahren.“ „Ja“, sagte Donal leise, während er sich erhob. „Das wäre es wohl.“ Und wenn Vilnar glaubte, dass Donal ihm irgendwelche näheren Einzelheiten über das private Netzwerk eines anderen Cops weitergeben würde, von denen er erfuhr, dann war er verrückt. Gleich darauf erschien ein kaum merkliches Funkeln in Vilnars Augen: Es mochte Zorn oder Belustigung sein. „Gehen Sie“, sagte Vilnar. „Und lassen Sie von sich hören.“ „Ja, Sir.“ Er ging hinaus, vorbei an Eyes, die über ihre Konsole gebeugt war und ihre Finger über die winzigen Hebel tanzen ließ. Auch gut: Wenn Donal etwas gesagt hätte, wäre das vielleicht eine schlechte Entscheidung gewesen. Soll ich Laura für Sie bespitzeln? Donal glaubte kaum, dass er das tun würde. In Gerties Fahrstuhl sagte er leise: „Bring mich bitte zum Schießstand, ja?“ *Was ist los, Lover? Musst du so dringend mal zum Schuss kommen?* „Tu’s einfach, Gertie.“ 228
*Na dann.* Sie ließ ihn schnell den Schacht hinunterfallen. Auf Höhe des Tiefgeschosses, in dem sich der Schießstand befand, bremste sie ihn so scharf ab, dass er mehrmals nachfederte. *Dann spiel mal schön mit deiner Ballerbüchse.* Die unsichtbaren Hände, die ihn in den Vorraum hinausstießen, waren gröber als sonst. Während Donal im Schießstand Zielscheiben schredderte, beackerte ein Heer von Informanten die labyrinthischen Seitenstraßen der nicht ganz legalen Welt. Dieses Heer umfasste Menschen aller Art, von Gemüsestandbesitzern auf dem Mixnatine Market in der Nähe des Hafens, die beide Augen zudrückten, wenn hin und wieder mal eine Kiste von den Lieferwagen der großen Ladenketten fiel, bis zu einem umgedrehten Schläger, der für Freddy die Klaue arbeitete. Vor drei Jahren hatte Harald Hammersen diesen Schläger mit Hilfe von Fotos, die von städtischen Technikern geschossen worden waren, ins Boot geholt. Harald hatte ihn zu Freddy C zurückgeschickt, damit er weiterhin in dessen Organisation arbeitete, und ihm klargemacht, dass es besser war, seinen Boss zu bespitzeln, als in der offiziellen Exekutionsgrube von Tristopolis zu landen, wo beutegierige, wahnsinnige Geister harte Krallen, Klauen und Schnäbel Gestalt annehmen ließen, um ihren Hunger an den Lebenden zu stillen. 229
Als letzte Maßnahme drohte Harald mit dem Hammerschlag’, wie er es nannte. Er war bleich und dünn, mit schlohweißem Haar und seltsamen Augen, und es ging das Gerücht, dass er einmal die Augen eines Informanten verspeist hatte, als dieser ihn nicht über eine Waffenlieferung informiert hatte, die in Heringskisten bei den Buldown Docks eingetroffen war. Ob diese Geschichten der Wahrheit entsprachen oder nicht – Harald machte sich die in ihnen enthaltene Drohung taktisch zunutze. Das war einer der Gründe, weshalb Brijak Nelsan, ein hartgesichtiger Schauermann, der Haken statt Hände besaß, bereit war, in dem schmutzigen ,Büro’-Raum im hinteren Teil seines Lagerhauses eine Flasche Wodka mit Harald zu trinken. Über alte Kisten gespannte Netze bildeten eine Art Schaukel, in der Harald saß und zusah, wie sich Brijaks Gesicht beim Trinken zunehmend rötete. „Sie?“ Brijak hielt ihm die Wodkaflasche hin. „Nein. Trink du sie aus.“ „Ha.“ „Also, was hast du gehört?“ „Nichts.“ „Brijak …“ „Nichts darüber, wieso ein Zolllager im North Dock morgen Nacht leer sein wird. Ich meine, überhaupt keine Wachen.“ „Ein Raub?“ Harald war enttäuscht. Sushana wurde vermisst, und er erfuhr vom Diebstahl einer Ladung Zigaretten oder Schnaps. 230
„Keine Ahnung. Vielleicht ein Transport.“ Harald fuhr sich mit den Fingern durch die weißen Haare. Er hatte die Haut eines Achtzehnjährigen und das Haar eines Großvaters, aber er war keins von beidem. Seine Hände waren schlank, aber eisenhart. „Erzähl mir mehr“, sagte er. „Von dem Transport? Wenn Sie auf ein Schiff wollten – sagen wir, nach Surinam –, wie würden Sie’s anstellen?“ „Du meinst, statt ein Ticket zu kaufen wie ein normaler Mensch?“ „Normal?“ Brijak grinste spöttisch. „Keine Ahnung, was das bedeutet.“ „Spuck’s schon aus.“ „Das Zeug ist unterwegs zu einem anderen Hafen, kommt hier nur durch. Irgendwer merkt’s irgendwann, wenn man was klaut. Aber wenn man ein bisschen was dazutut, wer sollte das rauskriegen? Vor allem, wenn man ein paar Papiere ausfüllen kann, damit es korrekt aussieht.“ Harald dachte darüber nach. „Du meinst, jemand bricht ein, um eine Kiste ins Lager zu stellen? Nicht, um eine zu stehlen?“ „Hab ich doch gesagt, oder?“ „Hm.“ Harald zückte seine Brieftasche, zählte drei blaue Siebenundzwanziger, einen Dreier und einen Elfer ab und reichte ihm die Scheine. „Interessante Geschichte.“ „War’s das, wohinter ihr her seid?“ 231
„Nein … aber du hast deine Sache trotzdem gut gemacht.“ „Sag ich ja. Wollen Sie bestimmt keinen Schluck von dem Fusel?“ „Ein andermal.“ Harald ging leise hinaus. Draußen wartete sein knochenfarbenes Motorrad auf dem Ständer. Die keramische Entenschnabel-Schnauze war nah am Boden, die Scheinwerfer wie schräge Augen, der Lenker zurückgebogen wie gekrümmte Hörner. Als Harald näher kam, sah er einen leuchtend roten Klecks auf dem Schnabel. „Was ist passiert?“ Ein schwaches Aufschimmern in den Scheinwerfern. Harald hockte sich hin, atmete den Hafengeruch ein, und dann sah er es: die kaum wahrnehmbare Blutspur, dunkel auf dunkel. Zweihundert Meter entfernt stützten sich zwei klobige Gestalten in formlosen Klamotten, während sie so schnell davonhinkten, wie sie es mit ihren gebrochenen Gliedern konnten. „Ich mag Diebe selbst nicht besonders …“ Die Scheinwerfer leuchteten bernsteingelb auf, wurden dann wieder trüb. „… aber ich bin froh, dass du sie nicht umgebracht hast.“ Harald schwang das Bein über den Sattel. „Fertig?“ Er packte die nach oben gebogenen Griffe, die sich sofort umformten und seine Hände weiter herunterbrachten. „Ich schon.“ Sein Bike erwachte grollend zum Leben. 232
„Ich muss mit dir reden“, sagte Donal und winkte Laura zu. „Wenn … das in Ordnung ist.“ Viktor und Alexa schauten von ihren Schreibtischen auf. Donal hatte keine Ahnung, ob sie spürten, dass zwischen ihm und Laura etwas war. „Kann das warten?“ Laura stand über der Purpurpause eines Gebäudes. „Ich habe gerade mit Commissioner Vilnar geplaudert.“ „Und, hast du den alten Mistkerl abgeknallt?“ Alexas winzige Nasenflügel blähten sich. „Ich rieche Rauch und Kordit.“ Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. „Lecker.“ Donal sah sie einen Moment lang an, dann drehte er sich um und folgte Laura in ihr Büro. Die Tür schwang hinter ihnen zu und dämpfte die Geräusche von draußen. „Thanatos“, sagte Donal. „Bin ich der einzige Normale hier?“ Für einen Augenblick war Lauras Gesicht eine bleiche Maske. Dann entspannte sie sich und schenkte ihm ein angedeutetes Lächeln. „Wenn du der Normalste von uns bist“, sagte sie, „dann gnade uns Tod.“ Donal schaute auf den Besucherstuhl und beschloss, stehen zu bleiben. „Wie würdest du mich als Undercover-Agent einschätzen?“, fragte er. „Wenn du meinst, ob ich dich als Ersatz für Sus233
hana losschicken würde“ – Lauras Gesicht war wieder eine Maske – „lautet die Antwort nein, selbst wenn ich eine Rolle für dich fände. Du bist kein Zauberer, und sie war speziell …“ „Das hab ich nicht gemeint. Vilnar möchte mich hier haben, und zwar als Spitzel. Ich soll dich bespitzeln.“ „Oh.“ Laura stieß einen kalten Atemzug aus, der in dem warmen Raum ein wenig dampfte. „Das macht das Leben interessant.“ „Ja. Ich nehme nicht an, dass Eyes eine Spionin ist, die du ihm ins Nest gesetzt hast?“ „Schön wär’s. Dieses eiskalte Miststück ist mir ein Rätsel.“ Lauras Atem dampfte erneut, und sie sah, wie Donal die sich auflösenden Wölkchen betrachtete. Es hatte den Anschein, als würde sie halb lachen und halb weinen. „Verdammt. Ich bin ja so komisch. Was siehst du in mir?“ „Die erstaunlichste Person, der ich je begegnet bin“, erwiderte Donal. „Oder jedenfalls so ziemlich.“ „Hey.“ Laura kniff die Augen zusammen. „Was soll das heißen, so ziemlich?“ „Damals im Waisenhaus war ich total verknallt in Schwester Mary-Anne Styx. Alle anderen hielten sie für eine echte Kanaille.“ „Oh.“ Laura schaute auf ihren Schreibtisch, als ob dessen leere Fläche auf einmal außerordentlich interessant wäre. „Tja, da kann ich wohl nicht mithalten.“ Aber das war keineswegs alles. Hätte Donal die Worte gekannt, so hätte er Laura nach dem traumati234
schen Übergang ins Paraleben gefragt … aber nicht hier, und nicht jetzt. Nicht im Büro. Stattdessen erklärte er ihr: „Ich werde tun, was du gesagt hast, und der Spur folgen. Wenn Vilnar Dreck am Stecken hat, gibt es irgendwo im Archiv eine Verbindung zwischen ihm und Bezirksrat Kinley Finross. Ich muss bloß durch so viel langweiligen Mist waten, dass es für mehrere Leben reicht, um nach dem glänzenden Goldstück zu suchen, stimmt’s?“ „Stimmt.“ „Und …“ Auf einmal fiel jegliche Furcht von Donal ab. Leben und Paraleben waren zu kurz für Nervosität oder Komplexität. „… ich liebe dich, Laura, falls du’s noch nicht weißt.“ Laura machte überrascht den Mund auf. Tod. Das wollte ich gar nicht sagen. Er blinzelte, weil er nicht wusste, was über ihn gekommen war. Hörst du das …? Nicht jetzt. Donal drehte sich um und prallte gegen die Tür; seine Bewegungen waren so schnell, dass er sie überraschte. Sie erholte sich rasch, schwang auf und entließ ihn in den Teamraum, wo Viktor und Alexa ihn anstarrten. Die Tür schloss sich hinter Donal, und er durchquerte den Raum auf dem Weg zu den Fahrstühlen. 235
Er war fast dort, da hörte er drinnen Händeklatschen und Gelächter, und Alexa rief: „Nur weiter so, Riordan!“ Donals Gesichtsmuskeln spannten sich – vielleicht war es ein Grinsen –, als er in den Schacht trat und im freien Fall in die Tiefe stürzte. Ein, zwei Sekunden lang fiel er mit klopfendem Herzen, während er seine Angst niederkämpfte und sich weigerte zu schreien, dann umgaben ihn unsichtbare Hände und bremsten seinen Fall. *Wo willst du denn hin, Darling?* „Ganz nach unten, Gertie. Zum Archiv.“ *Dann verzeihe ich dir. Vielleicht.* Sie ließ ihn in dem siebenhundert Meter hohen Schacht weiter in die Tiefe sinken, aber diesmal auf kontrollierte Weise. *Du hast richtig Sehnsucht nach toten Sachen, was, Lover?* Starke Gefühle brodelten in Donal und hinderten ihn an einer Antwort.
236
ZWÖLF Gewölbe voller Obsidianplatten mit Runenschriften, die in den Regalen schwebten und an ihren Leinen zerrten; seltsame halb reale, halb körperlose Vogelgestalten, die schrien und weinten, während sie die aufgezeichneten Gespräche längst verstorbener Menschen im exakten Tonfall – wie die Archivare behaupteten – der ursprünglichen Sprecher rezitierten. Es gab Gruben voller Magma-Feuer, in denen die Forscher sich anketten und die Weitseher-Visionen ferner Ereignisse so lange nacherleben konnten, wie sie die Schmerzen ertrugen. Es gab verschlossene Schächte, aus denen leises Rascheln und hin und wieder ein unmenschliches Stöhnen drangen, ohne dass der gewöhnliche Besucher dafür eine Erklärung bekommen hätte. Am schlimmsten von allem waren die Vakua, jene Zonen des Nichts, die selbst einen Bannbrecher in den Wahnsinn treiben konnten. Sie versprachen jedem, der die neuntägigen Qualen der Durchquerung einer solchen Zone ertrug, nicht die Weisheit der Tatsachen, sondern der Intuition. Dies war der äußere Ring des Archivs. Donals Mantel flatterte in Brisen abwechselnd kalter und heißer Dämpfe, als er die matt erleuchtete Kolonnade entlangging, die an der Grube der Jungarchivare vorbeiführte. Die verhutzelten, grauhäutigen Gestalten saßen zumeist reglos und gebeugt da und 237
brüteten über uralten Aufzeichnungen, die auf verblichene, zum Teil nichtmenschliche Haut geschrieben waren. Sie schienen alle am selben Projekt zu arbeiten, aber Donal war nicht so dumm, stehen zu bleiben und einen von ihnen zu fragen, was sie da machten. Einer von ihnen blickte auf; seine Augäpfel wimmelten von winzigen roten Milben, die allesamt sein Blut und das seiner Kollegen aufnahmen und weitergaben und so das Material in dem siebenunddreißig Mann starken Team verbreiteten. Schlangen der winzigen Milben erstreckten sich über die Tische, in ihrem unaufhörlichen Marsch von einem der uralt aussehenden Jungarchivare zum nächsten. Warum genau die Archivare ihr Blut teilten – und dann auch noch auf solche Weise –, war ein weiteres Geheimnis, das Außenstehenden verschlossen blieb. „Was zum Thanatos machen Sie hier?“ Die Stimme war grob und laut, sodass Donal stehen blieb und nach links und rechts schaute, bevor er den Blick auf die fünfundzwanzig Zentimeter große Steinfigur senkte, die gestikulierend zu seinen Füßen stand. „Meine Arbeit“, antwortete Donal und zog seine Magnus. „Und du?“ „Ich akzeptiere diese Antwort“, schnarrte der kleine Homunkulus, dann begann er zu zittern … „Moment, bitte.“ … und zu schmelzen, schrumpfte zusammen, versickerte im massiven Gestein und war verschwunden. Donal steckte seine Magnus wieder ins Halfter. 238
„Nett habt ihr’s hier“, sagte er leise zu nichts und niemandem. In der Ferne hörte er ein Geräusch, als ob Steine in Teiche fielen; vielleicht war es aber auch spöttisches Gelächter über Donals Vermessenheit, das Archiv zu betreten. Er ging weiter, bis er in einen Raum mit rasiermesserscharfen Glasplatten gelangte. Sie waren auf willkürliche Weise in jedem erdenklichen Winkel angeordnet, in drei Dimensionen … und wahrscheinlich noch mehr, da es am Rand von Donals Blickfeld hin und wieder Verzerrungen gab; dort erhaschte er flüchtige Blicke auf geometrisch unmögliche Anordnungen von Glas, die verschwammen oder unsichtbar wurden, wenn er sie direkt anzuschauen versuchte. „Lieutenant Donal Riordan“, sagte er, „Marke Nummer Zwo-Drei-Omikron-Neun. Erbitte Knochenlauscherhilfe bei Archiverkundung.“ Um ihn herum schienen sich große Glasplatten neu anzuordnen, obwohl er eigentlich keine Bewegung feststellen konnte: Es war, als würde sich das Glas ohne Bewegung bewegen. Es war durchaus denkbar, dass sich die neue Anordnung genau dort realisierte, wo Donal stand, und ihn in geometrische Fleischblöcke zerschnitt. Die Genehmigungskriterien der Archivare kamen Außenstehenden häufig willkürlich vor, und Cops erzählten Gerüchte von Untersuchungsbeamten, die völlig grundlos zerstückelt worden waren, außer vielleicht, weil das Gitter frische Knochen brauchte. 239
Die Luft verschob sich – irgendwie, in eine Richtung, die nicht leicht wahrzunehmen war – und vibrierte dann in Donals Ohren, mit tiefen Untertönen, die er nur im Gedärm spürte. ~ ~ WIR VERLANGEN FOLGENDE INFORMATION: WARUM SIND SIE HIER?~ ~ Donal verkrampfte sich innerlich und kämpfte gegen seine Reaktion auf die subharmonischen Töne an, denn Furcht zu zeigen, war gleichbedeutend mit Niederlage: Das hatte er im Waisenhaus gelernt. „Um ein Netz korrupter Zauberer und Politiker aufzudecken“, sagte Donal, „und die Mistkerle aus dem Verkehr zu ziehen.“ Eine Stille trat ein, wie die falsche Geräuschlosigkeit ungeheuer schnell dahinströmenden Wassers ohne jede Oberflächenturbulenz, die seine Macht verraten hätte. Darunter erahnte man dunkle Wesen, die unhörbare, gewichtige Gespräche führten. Donals Sicherheit spielte hier nicht die geringste Rolle. Laura hatte von ihm erwartet, dass er nach belastenden Unterlagen suchte, also der Spur der Papiere statt der Spur der Knochen folgte, aber die echten Informationen befanden sich im Gitter. So war es immer gewesen. Und es gab allen Grund zu der Annahme, dass es auch immer so sein würde. ~ ~ DIE MÖRDER DER DIVA?~ ~ „Ja. Unter anderem.“ ~ ~ SINGEN SIE NICHT, DIE KNOCHEN? ~ ~ Waren die subharmonischen Töne spöttisch oder mitfühlend? Donal konnte es nicht erkennen. Die 240
Worte beunruhigten ihn, obwohl er an diesem Ort halbwegs mit ihnen gerechnet hatte. „Wenn ihr es sagt.“ ~ ~ WIR SCHMECKEN SIE IMMER NOCH AN DIR. ~ ~ „Ihr könnt mich mal.“ Das Geräusch, das nun zwischen den Glasplatten widerhallte, war Gelächter, aber nicht aus einer menschlichen Kehle. Donal spürte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht und der Haut seines Rumpfes wich. „Helft ihr mir nun oder was, verdammt noch mal?“ Jetzt umspülte ihn ein Schwall seltsamer Flüsterlaute. Sie bauten sich Schicht um Schicht zu einem Getöse auf, das selbst das Rauschen des Blutes in Donals Ohren übertönte. Dann: ~ ~ JA. ~ ~ Ein fahles weißes Licht schwebte in Kopfhöhe in der Luft. Es veränderte seine Form: Zuerst war es ein winziger geflügelter Mensch, dann so etwas wie eine gesichtslose, sich windende weiße Raupe, dann ein verschlungenes Gewirr fingerdicker Schnüre, wie ein lebendiger Knoten. Donal konnte nicht erkennen, ob es wirklich lebendig war. Als er sich auf den Knoten konzentrierte und einen Schritt vortrat, verwandelte sich das leuchtende Gebilde erneut, kehrte sein Inneres nach außen, glitt dann durch die feuchte Luft auf Donal zu und hielt an. 241
Es hing in der Luft. „Soll ich dir folgen?“ Donal machte einen Schritt in seine Richtung, und das leuchtende Gebilde driftete einen Meter weiter. Donal folgte ihm erneut, und das Gebilde schwebte in einen überwölbten, dunklen Tunnel aus würfelförmigen Steinquadern, die von den Jahrhunderten abgenutzt und verformt waren. Irgendwo schrie etwas. Donal zwang sich, den Laut zu ignorieren. Stufen führten in die Tiefe, und Donal stieg sie vorsichtig hinunter, denn man konnte leicht ausrutschen und mit gebrochenem Bein liegen bleiben. An diesem Ort gab es keine Gewähr, dass einem irgendjemand helfen würde. Er durchquerte eine Reihe gewundener Tunnels; einige sollten eigentlich gerade sein, hatten sich jedoch zu unregelmäßigen Konfigurationen verzogen, andere führten absichtlich in sich selbst zurück, und an einer Stelle, wo eine wie Blut riechende Flüssigkeit zwischen den Steinquadern heraussickerte, war der Tunnel eine geneigte Spirale, die sich nach unten schraubte. So tief wie jetzt hatte sich Donal gar nicht ins Archiv hineinbegeben wollen. Und die ganze Zeit schwebte das leuchtende Gebilde vor ihm her, nahm hin und wieder eine neue bizarre Gestalt an, verwandelte sich jedoch stets in das Knotengebilde zurück, das vielleicht weitgehend seiner wahren Form entsprach. 242
In einem Bereich mit sandigem Fußboden, wo die Öffnungen sieben dunkler Tunnels abgingen, hielt der Knoten inne und verdrehte sich in der Luft. „Bis hierher und nicht weiter, richtig?“, sagte Donal. Das Gebilde verdrehte sich ein letztes Mal, knickte dann in der Mitte um, als würde es sich verbeugen, schoss in einen der Tunnels hinein und war verschwunden. „Danke“, rief Donal ihm nach. „Gern geschehen“, sagte eine trockene Stimme hinter ihm. Thanatos … Er hatte keine Schritte gehört, hatte nicht gespürt, dass jemand hier war, doch als er herumfuhr, sah die Frau durchaus real aus: groß, blasse Haut, hohe Stirn und glattes, milchfarbenes Haar, das etwa in der Mitte ihres Schädels ansetzte und bis zum Kreuz herabhing. Die Frau war hager, nur ihre Handgelenke wirkten dick und kräftig, ihr Kiefer kantig und ihr Blick ruhig. Doch in ihren Augen lag noch mehr, als hätten sie Dinge gesehen, die Donal sich nur andeutungsweise vorstellen konnte. Diese Augen hatten eine dunkelbraune Iris, doppelt so groß wie bei normalen Menschen, sodass sich nur winzige Spuren von Weiß in ihren Augenwinkeln zeigten. Sie war eine Knochenlauscherin. „Ich bin Feoragh Carryn“, sagte sie. „Sie können mich Feoragh nennen, Lieutenant.“ 243
„Und Sie mich Donal.“ Feoragh nahm das zur Kenntnis und neigte den Kopf. Dann: „Haben Sie ein lohnendes Suchziel? Etwas, wofür es sich lohnt, das Gitter zu belästigen?“ „Ich weiß es nicht“, sagte Donal. „Ich habe keine Ahnung vom Gitter, aber die Sache bedeutet mir sehr viel. Es ist ein … politischer Fall …“ Feoragh runzelte die Stirn. „… was mir schnurzpiepegal ist“, fuhr Donal fort, „aber das erschwert es, die Mörder aufzuspüren. Und selbst wenn ich diejenigen finde, die den Abzug gedrückt haben, bleiben die Auftraggeber von dicken Zwischenschichten geschützt.“ „Mörder“, murmelte Feoragh. „Zu ihren Opfern gehört auch Maria daLivnova, die Diva. Sie hatten es auf ihre Knochen abgesehen.“ „Ah.“ Wenn Feoragh zwinkerte, wurden ihre Augen für einen Sekundenbruchteil schwarz. Donal überlief es kalt. „Erzählen Sie mir mehr, Donal. Erzählen Sie mir alles, was Sie wissen.“ Donal berichtete ihr, woran er sich erinnerte. Die Zeit vor seinem Krankenhausaufenthalt war ein wenig verschwommen, und die letzten Tage in der Hütte, bevor Laura eingedrungen war und ihn aus dem Bann der Knochen befreit hatte, bildeten einen in seinem Unterbewusstsein begrabenen traumatischen Schmerz, aber er konnte sich noch genug Dinge ins Gedächtnis rufen. 244
Da war das Treffen mit Commissioner Vilnar, mit dem alles begonnen hatte, da waren die Zeitungsausschnitte aus ausländischen Städten über unerwartet verstorbene Theaterstars. Zu seiner eigenen Überraschung erinnerte sich Donal an alle Namen und Orte … oder glaubte zumindest, sich an alle zu erinnern. Dann das Treffen mit Malfax Cortindo … „O ja“, sagte Donal. „Das hätte ich beinahe vergessen. Da war ein Brief von Bezirksrat Kinley Finross, der meinen Besuch bei der Energiebehörde arrangiert hat. Offensichtlich kannte er Cortindo …“ Unter Feoraghs dunklem, unverwandtem Blick merkte Donal, dass der Brief Wort für Wort in seinem Gedächtnis gespeichert war. Dann erzählte er ihr von dem Besuch selbst. Als er davon sprach, wie er den Knochen in die Hand genommen hatte und in Träume hinübergeglitten war, sog Feoragh scharf die Luft ein. Und er erzählte ihr, wie Cortindo ihm den Knochen weggenommen und ihn nach drei Stunden, die ihm jedoch nur wie eine Minute erschienen waren, wieder unsanft in die wirkliche Welt zurückgeholt hatte. Und schließlich erzählte er mit schwankender Stimme vom letzten Auftritt der Diva, dem vom Bann befallenen Publikum und seiner Flucht mit der Diva durch die Tunnels, die zur Energiebehörde führten. „Das war ein Fehler.“ Donals Brust hob und senkte sich jetzt, und seine Haut war von einer öligen Schweißschicht bedeckt, wie nach einem anstren245
genden Lauf. „Denn natürlich steckte Cortindo dahinter.“ Er erzählte von der Konfrontation zwischen den Meilern, umringt von gebannten Arbeitern in Trance, und wie Cortindo die Diva erschossen hatte. „Ich hätte …“ Donals Kehle fühlte sich an, als würde ihn der Geist der Diva strangulieren. „Ich habe gezögert. Ich hätte sie retten können, aber ich war eine halbe Sekunde lang wie erstarrt …“ „Ah.“ „… als wollte ich, dass sie stürbe. Als wollte ich ihre Knochen berühren, sie streicheln. Verdammt. Verstehen Sie …“ Fühlst du die Knochen? Ja. Immer. Donal starrte die Knochenlauscherin an. „Ja“, sagte Feoragh leise. „Ich verstehe das sehr gut.“ Und Donal erkannte, dass es stimmte. Dass Feoragh Carryn genau wusste, wovon er sprach. „Malfax Cortindo“, sagte er nach einer kurzen Pause. „Thanatos. Ich habe mir den Autopsiebericht gar nicht angesehen …“ „Ich kann ihn raussuchen“, sagte Feoragh. „Kommen Sie mit.“ Sie gingen durch einen Tunnel mit Sandboden und blieben vor einer schmucklosen, dunkelgrünen Tür stehen. Feoragh öffnete sie und ging hinein. Donal sah einen schlichten Schreibtisch aus Holz, ver246
schlossene Dokumentenboxen auf einem Bord und ein einsames Telefon. Feoragh nahm den Hörer ab. „Padraigh Fasheene“, sagte sie. „Wenn Sie so freundlich wären.“ Donal schüttelte den Kopf und lächelte über seine Vorurteile. Er hatte irgendeine esoterische Apparatur erwartet, aber kein Telefon. Feoragh deckte das Mundstück mit einer Hand ab. „Padraigh ist mein Vetter. Er arbeitet bei Mina im LLI.“ „Sie meinen Wilhelmina d’Alkarny?“ „Wen sonst?“ „Das ist – gut.“ Er hatte sagen wollen, es sei ein interessanter Zufall, dass ihr Vetter im Leichenlausch-Institut arbeitete, aber dann kam ihm der Gedanke, dass es vielleicht gar kein Zufall war. Was wusste er schon über Knochenlauscher? „Könnten Sie Ihren Vetter fragen“, sagte er, „was die …“ Feoragh hob die Hand. „Padraigh … die Autopsie von Malfax Cortindo. Ja, von der Energiebehörde.“ Donal sah zu und versuchte, etwas in Feoraghs angespanntes, bleiches Gesicht hineinzulesen. „Da bist du sicher“, sagte Feoragh. Es war keine richtige Frage. Erneut gab es eine Pause, während der Donal vergeblich zu erraten versuchte, was Feoraghs Vetter am anderen Ende der Leitung sagte. „Ja? In Ordung … Könntest du sie bitten, Lieute247
nant Donal Riordan zu benachrichtigen, wenn es so weit ist? Falls es überhaupt dazu kommt. Prima.“ Sie sah Donal mit diesen zu dunklen Augen an. „Danke, Padraigh.“ Sie legte auf. „Sagen Sie’s mir nicht“, sagte Donal. „Die haben den Bericht verloren.“ „Keineswegs.“ Feoragh schüttelte den Kopf. „Sie haben die Autopsie noch gar nicht vorgenommen. Cortindos Leichnam wird immer noch in einem Stasis-Hex aufbewahrt.“ „Aber … das ist unmöglich. Ich war über eine Woche im Krankenhaus.“ Donal wusste, dass nicht so viele Tote in der Leichenhalle liegen konnten. Nicht einmal der Fall mit der niedrigsten Priorität würde so lange aufgeschoben werden. „Was geht da vor?“ „Nichts.“ „Ich glaube nicht …“ „Es geschieht gar nichts“, sagte Feoragh in hartem Ton, „und zwar auf Geheiß von Commissioner Vilnar.“ „Oh“, murmelte Donal. „So ist das.“ „Genau. So ist das.“ Donal starrte an die leere Steinwand, ohne etwas zu sehen. Vilnar hatte ihn ursprünglich auf die Sache mit der Diva angesetzt, aber Laura glaubte, dass er es nur getan hatte, weil er politisch unter Druck stand. Konnte es wirklich sein, dass Vilnar die Ermittlungen seines eigenen Departments behinderte? 248
Aber die Spezialeinheit arbeitete im Auftrag der Bundespolizei. Das Department hatte ihr gegenüber eigentlich keinerlei Weisungsbefugnis. „Na schön.“ Donal versuchte, sich darüber klarzuwerden, ob er Feoragh bitten konnte, die Restriktion zu umgehen und das LLI irgendwie dazu zu bringen, die Autopsie trotzdem durchzuführen. Unwahrscheinlich. „Was ist mit den Informationen im Gitter?“ Ein seltsames Lächeln zupfte an Feoraghs Gesichtsmuskeln. „Na, deshalb sind Sie doch hier, oder?“ „Ja …“ „Dann sollten wir uns auf den Weg machen.“ Es war unmöglich zu erkennen, wie groß das Gitter war. Donal folgte Feoragh auf einem verschlungenen Weg, der schließlich in einer langen, niedrigen Kammer voller Verstrebungen und Knoten endete – die Verstrebungen bestanden aus titaniumummantelten Knochen, die Knoten aus mit Schnitzereien verziertem Gebein, in das Streifen aus einem grünschwarzen Mineral eingearbeitet waren. Die Kammer erinnerte Donal an einen Weinkeller. Sie war so eingerichtet, dass Feoragh – sofern sie bereit war, auf Händen und Knien zu krabbeln oder sich auf die Zehenspitzen zu stellen – jeden Knochenknoten mit bloßen Händen zu berühren vermochte. Aber dies war nur eine Kammer, eine winzige Zelle von Tausenden – vielleicht Zehntausenden oder mehr. 249
Sie waren über eine steinerne Brücke hierher gekommen, und Donal war in der Mitte stehen geblieben, um über den Rand in den verschatteten Abgrund zu schauen. Er war so tief, dass Donal den Boden nicht sehen konnte, und die Polizeiärzte hatten ihm stets eine ausgezeichnete Fernsicht bescheinigt. Überall führten schmale Brücken in das riesige unterirdische Bauwerk mit seiner dreidimensionalen Knochenstruktur, deren Ausmaße die der höchsten Gebäude, von denen Donal je gehört hatte, um ein Vielfaches übertrafen. Tief unten, auf anderen Brücken, hatte Donal die Gestalten von drei Knochenlauschern ausgemacht: Zwei betraten das Gitter, einer – oder eine – schlurfte gebeugt dahin und blieb auf der Brücke stehen, um Atem zu schöpfen. Zahlten sie einen Preis für die Arbeit, die sie verrichteten? „Ich bin bereit.“ Feoraghs Stimme brachte Donal in die Gegenwart zurück, in die kalte Kammer, in der sie standen. So nah beim Gitter kam es Donal vor, als wäre die Luft segmentiert und sein Körper brüchig. Wenn er sich zu rasch umdrehte, würden ihm womöglich die Augen ausfallen, dachte er. „Zur Informationssuche“, fügte Feoragh hinzu. „Sie sollten auf alles hören, was ich sage. Denn wenn ich spreche, heißt das, dass ich das Gehörte nicht zurückhalte.“ Hier herrschte eine andere Atmosphäre als in der Energiebehörde mit ihren Meilerreihen. Dort war ein 250
von permanenter Explosionsgefahr geprägtes Chaos an die Ränder von Donals Bewusstsein geplätschert; doch hier in der Gitter-Zelle kam es ihm eher so vor, als wäre die Luft voller gläserner Rasiermesser. Da war eine plötzliche Schärfe, eine Dichte, die Donal Angst machte. „Wir benötigen Verbindungen“, brachte er heraus, „zwischen der Diva und Finross, und zwischen …“ „So viel weiß ich noch.“ Donal konnte nicht erkennen, ob Feoragh beleidigt war. Sie verfiel in eine Art Trancezustand, obwohl sie keineswegs entspannt wirkte: Ihre Glieder zuckten, sie riss ein paarmal nur für Sekundenbruchteile den Mund weit auf, und ihre Lider flatterten länger, als er es für möglich gehalten hätte. Dann klappten Feoraghs dunkle Augen weit auf, und sie trat mit ausdrucksloser Miene in die Mitte des Gitters und streckte die Hand zu einem Knoten aus. Ihr Ärmel rutschte zurück, und ein anderer, scharfkantiger Knoten ritzte einen dünnen roten Bogen in ihre bleiche Haut. Winzige Blutstropfen glitzerten, als Feoraghs Fingerspitzen den Knoten berührten. Die Blutstropfen versickerten in dem Knochen, wie Wasser in einen Schwamm. Feoragh riss den Mund weit auf, als sie schrie … nur dass kein Laut zu hören war. Für Donal sah es so aus, als litte sie Todesqualen, aber das Geräusch schien ihn nicht zu erreichen: Etwas in der Luft zerschnitt die Vibrationen und nährte sich von ihnen, absorbierte sie. 251
Dann senkte Feoragh den Kopf, und Donal glaubte, eine dunkle Vibration an den Verstrebungen entlanglaufen, über Knoten spielen und ins größere Gitter hinausströmen zu sehen. Tut mir leid. Aber damit verdiente sich Feoragh ihren Lebensunterhalt. Es verletzte sie, es schien ihr sogar große Qualen zu bereiten, aber Donal wusste, dass er sie wieder bitten würde, eine Informationssuche durchzuführen, wenn es wichtig war. Tatsächlich hatte er den Eindruck, dass man eine Spur Rücksichtslosigkeit brauchte, um mit seinem Ansinnen überhaupt Erfolg zu haben: Die Knochenlauscher reagierten nicht auf jeden. Und es gab Gerüchte über Bewerber, die in die Tiefen des Gitterbaus – wenn nicht sogar hierher, in den Kern – vorgedrungen und einfach nicht mehr zurückgekehrt waren. Feoragh erschauerte ein weiteres Mal. „Du musst …“ Ihre Stimme erreichte Donal wie durch Meereswogen, abgeschwächt und gebrochen. „… nach III – “ Seltsame Kräuselungen zerrissen die Luft. „Illurium. Dort …“ Feoragh presste die Lippen zusammen und stand jetzt katatonisch da, reglos bis auf das Blut, das ihr über Lippe und Kinn lief. „Wach auf“, sagte Donal. Er hatte seine Meinung 252
geändert. „Was immer es sein mag, so dringend muss ich es auch wieder nicht wissen.“ Aber seine Entscheidung schien zu spät zu kommen. Feoragh begann zu zittern, und ihre Hände zuckten von den Knochenknoten zurück, als hätte sie Verbrennungen erlitten. Dann fiel sie um, steif wie ein Brett. Für einen Sekundenbruchteil glaubte Donal, nicht schnell genug reagieren zu können, aber sein Körper hatte sich bereits in Bewegung gesetzt, und ehe er sich’s versah, lag er auf den Knien und hielt Feoragh in den Armen. Ihr Kopf war fünf Zentimeter von der harten Steinplatte entfernt. Er legte sie auf den zu kalten Boden. „Mist, verdammter.“ Was sollte er jetzt tun? Geschah das immer mit Knochenlauschern? Oder war Feoragh krank? Hatte sie womöglich etwas im Gitter entdeckt, was sie krank gemacht hatte? Donal brachte Feoragh in die stabile Seitenlage, vergewisserte sich, dass sie nicht ihre Zunge verschluckt hatte, und stand auf. In der Kammer – oder Zelle – gab es keine Kommunikationsmöglichkeit mit der Außenwelt: kein Telefon, keinen Alarmknopf. Nichts. Er ging in den Säulengang hinaus, der zu anderen Zellen führte. Niemand war dort. „Hallo? Kann jemand helfen?“ Er beugte sich über die Balustrade und schaute in den dunklen Abgrund hinunter, der von schmalen 253
Steinbrücken überspannt wurde. Auch dort niemand. Er schaute zur Unterseite weiterer Brücken hinauf, hörte jedoch keine Bewegung. „Ich habe hier eine Knochenlauscherin, die in Schwierigkeiten ist!“ Das Echo seiner Stimme kam zu ihm zurück. „Feoragh Carryn braucht eure Hilfe!“ Die Schatten rührten sich nicht. „Thanatos“, sagte er leise und ging wieder hinein. Aber Feoragh saß bereits aufrecht auf dem Boden. Als sie Donal sah, streckte sie ihm eine Hand entgegen, damit er ihr aufhalf. „Das passiert manchmal“, sagte Feoragh, bevor er fragten konnte. „Wenn die Informationstiefe zu groß ist, wenn man thaumaturgische Sicherheitsvorkehrungen umgehen muss, zahlen wir den Preis.“ „Tur mir leid.“ „Das hat nichts mit Ihnen zu tun.“ „Oh.“ Donal schaute zu den Beinknoten und den Verstrebungen aus Titanium und Knochen, die diese Knoten trugen und verbanden. Fühlst du die …? Ja, und ich wünschte, es wäre nicht so. „Bei den Reaktoren habe ich etwas anderes gespürt“, sagte Donal. „Sie waren gefährlich, und ich wusste es. Fragmente von Qualen …“ „Ja.“ „Hier ist es anders.“ „Wir haben klare, tief eingravierte Informationen.“ Feoragh machte eine Pause, dann: „Die Knochen sind ein Medium mit rudimentären Erinnerungsspu254
ren aus ihrem Leben. Neue Knochen werden zunächst formatiert und erst später benutzt.“ Donal nickte. Er verstand nur halb, was sie meinte. „Sicherlich sind sie unscharf“, sagte er. „Die Informationen. Nicht fokussiert.“ Feoragh schüttelte den Kopf. „Informationsgravur ist ein präziser Vorgang“, sagte sie. „An den Ergebnissen ist nichts Unscharfes. Gar nichts.“ Sie rieb sich mit den Fingern über die Stirn, eine unbewusste Geste, wie Donal glaubte. „Was ist das für ein Prozess?“, fragte er. „Die Gravur … Wie funktioniert das, oder dürfen Sie’s mir nicht sagen?“ Feoragh starrte ihn eine Weile an. Dann sagte sie: „Leiden. Dadurch werden die Informationen fokussiert.“ Donal hatte keine Ahnung, was er darauf erwidern sollte.
255
DREIZEHN Donal fand die Begleiterscheinungen dieser Informationssuche mehr als beunruhigend. Für die blutende Feoragh dagegen schienen sie alltäglich zu sein; und sie hatte einige brauchbare Resultate erzielt. Sie erzählte Donal alles, was sie über die Hintermänner der Hintermänner derjenigen herausgefunden hatte, die in den Tod der Diva und der anderen Künstler verwickelt waren. Es gab potenzielle Verbindungen’ – wie sie es nannte – nach Surinam und in andere Länder. Feoragh zählte eine kurze Liste auf, die Daniel sich einprägte. „Aber die deutlichste Spur“, sagte Feoragh, „führt nach Silvex City. Stadtrat Gelbthorne – das ist der Name, den Sie sich merken müssen. Er gehört mit dreiundneunzig Prozent Wahrscheinlichkeit zur selben Gruppe wie Cortindo.“ „Silvex City? Das ist in …“ „lllurium, ja. Und eine Ihrer Kolleginnen ist Illurianerin. Obwohl sie meinen Nachforschungen zufolge dort keine relevanten Kontakte hat, sollte sie Ihnen einen kurzen Überblick über das Leben in Silvex City geben können, wenn Sie beschließen, dorthin zu reisen.“ Donal bemerkte kaum, dass sie ,wenn’ statt .falls’ gesagt hatte. Die Kollegin, von der Feoragh sprach, war Xalia, und er wusste nicht recht, was 256
ihm ein Geist über das Leben in der Stadt erzählen konnte. „Senator Blanz hat mit jemandem in Silvex City zu tun gehabt“, setzte Feoragh hinzu. „Den Namen kann ich aber nicht finden. Ich bin sicher, dass Malfax Cortindo ihn kennt.“ Das ergab irgendwie Sinn. „Cortindo ist tot“, sagte er. „Aber warum ist sein Leichnam noch in Stasis?“ „Dieser Frage bin ich nicht nachgegangen“, antwortete Feoragh. „Es hat keinen Zweck, im Gitter nach so neuen Informationen zu suchen.“ „Schade.“ Donal musste eine Autopsie in die Wege leiten. Vielleicht reichte Lauras Einfluss … aber nicht einmal sie konnte offen gegen Commissioner Vilnar vorgehen. Und falls Vilnar wirklich Dreck am Stecken hatte und argwöhnte, dass Lauras Spezialeinheit gegen ihn ermittelte, besaß er durchaus die Macht, sie zu stoppen, vorausgesetzt, er griff zu schmutzigen Tricks. Und wenn Vilnar ums Überleben kämpfte, dachte Donal, würde er kaum zögern, sich jeder Gemeinheit zu bedienen, die er kannte – er würde Laura oder ihre Polizisten diskreditieren, sie ins Gefängnis stecken lassen oder Schlimmeres. Einem Polizisten, dessen Vorgesetzte sich gegen ihn stellten, konnten viele unschöne Dinge zustoßen. Und einer Polizistin auch. „Sprechen Sie mit Padraigh“, riet Feoragh. „Sagen Sie ihm, ich hätte Sie geschickt.“ 257
„In Ordnung.“ „Das ist kein Versprechen, dass er imstande sein wird, Ihnen zu helfen.“ „Ich verstehe. Danke. Und danke für …“ Donal machte eine Handbewegung zu der Zelle. „Sie wissen schon.“ Feoragh verneigte sich. „Was hätte ich sonst tun können?“ „Keine Ahnung. Aber trotzdem danke.“ Harald saß vornübergebeugt auf seiner Phantasm Mk IV und raste mit 160 km/h auf der Überführung dahin. So spät nachts herrschte wenig Verkehr, aber es war trotzdem gefährlich, als er aus der Augenhöhle des über dreihundert Meter hohen Totenschädels schoss, der auf das Zentrum der Stadt hinabschaute. Er beschleunigte und schlängelte sich zwischen drei Lastzügen und ihrer Ladung verängstigt dreinschauender Echsen in ihren Kisten hindurch, die für die Nahrungsmittelmärkte bestimmt waren. Der Lenker der Phantasm war bereits in seine niedrigste Konfiguration gemorpht, und die Maschine brummte im sicheren Wissen, dass sie noch jede Menge Kraftreserven besaß, falls Harald sie brauchte. Dann kam eine spiralförmige Abfahrt, und Harald nahm sie mit hohem Tempo. Er spürte die Freude des Bikes, als er sich tief in die schier endlose, ein paar tausend Grad lange Kurve legte, bis er unten angelangt war und zwischen zwei riesigen Stützpfeilern durchschoss. Er jagte mit kreischenden Reifen über blutrote Ampeln, während Hupen blökten – selbst 258
um diese Zeit gab es Leute, denen er mit seiner Fahrweise einen Schrecken einjagen konnte –, dann wurde er langsamer. Er nahm eine Zickzack-Route zwischen neun Blocks der Innenstadt hindurch und bog dann auf die sanft ansteigende Rampe ein, die zur Avenue of the Basilisks hinaufführte. Es war dieselbe Straße, aber etliche Kilometer vom Polizeipräsidium entfernt: Die Avenue erstreckte sich über mehr als hundert Blocks. Dort. Jetzt sah er die grünen Scheinwerfer. Brijak, sein Spitzel, hatte die Wahrheit gesagt. Das Zolllager befand sich genau an der angegebenen Stelle. Ein einzelner, tiefgelegter Wagen hatte vor dem Tor angehalten. Der Fahrer war ausgestiegen; nun sprach er ein paar Minuten mit den Wachposten, bevor er wieder einstieg und wegfuhr. Er trug einen dunklen Anzug, und er hatte den Blick sicherheitsbewusst über die Straße schweifen lassen, bevor er zum Wachhäuschen hinübergegangen war. Den auf seinem lautlosen Bike im tiefsten Schatten parkenden Harald hatte er jedoch garantiert nicht gesehen. Nachdem der Wagen weggefahren war, wartete Harald noch fast zwei Minuten, bevor er die Maschine im Flüstermodus startete. Sie erwachte murmelnd zum Leben, und er fuhr langsam los. Es gab nur eine sinnvolle Richtung für jemanden, der das Lagerareal verlassen wollte. Erst auf dem Expressway schaltete Harald die Ma259
schine wieder in den Normalmodus. Rote Strontiumdampflaternen verwandelten die Schnellstraße in einen glänzenden Blutstrom, als Harald mit der Phantasm Gas gab, bis er den Wagen vor sich sah. Er rief sich ins Gedächtnis, wie der Fahrer die Umgebung gemustert hatte. Verdammt. Der Mistkerl musste die Phantasm, die ihm auf der Hochstraße folgte, längst ausgemacht haben. Als der Wagen die Abzweigung nahm, die acht Kilometer später an der Avenue of the Basilisks endete, hatte Harald die vorletzte Abfahrt genommen, die spiralförmige Rampe, die die Berufsverkehrsfahrer in ihren jammernden Autos vorsichtig hinunterkrochen. Eine Minute lang würde er aus den Rückspiegeln des Wagens verschwunden sein. Nun betätigte Harald ein paar Schalter und sprach die Schlüsselworte, die er sonst lieber nicht benutzte: Die Phantasm wurde dadurch unbequem. Sie streckte sich, ihre Räder rotierten, als sie ihr Chassis zur Vorbereitung verlängerte, dann formte sie einen Buckel und hob die Lenkergriffe, bis sie senkrecht standen. Ihre knochenweiße Haut erschauerte unter der Veränderung. Die Verkleidungen wurden breiter und dunkler, bis sie fast grün waren. Jetzt sah die Maschine nicht mehr wie eine Phantasm aus. Für einen Motorradfan ähnelten ihre Konturen nun weitgehend denen einer Maleville Seven, eines leistungsschwachen Klassikers. Es war die beste Tarnung, die das Bike zu bieten hatte. Vor ihm schwenkte der Wagen auf die Straße ein. 260
Grüne Scheinwerfer, vorsichtiger Fahrstil: Ja, das war der Mistkerl. „Dann mal los.“ Harald legte die Hand flach auf den Benzintank. „Und vielen Dank.“ Als Erstes hielten sie hinter einem Bekleidungsgeschäft, das um diese Zeit eigentlich leer sein sollte. In der Gasse, die nach hinten führte, blieb der Wagen stehen. Der Fahrer stieg aus, ging zu einer Metalltür hinüber und nannte ein Passwort, das Harald ihm nicht von den Lippen ablesen konnte. Silberne Funken sprühten über das Metall, als das Hex-Feld sich auflöste. Der Mann öffnete die Tür und ging hinein. Harald ließ das Motorrad stehen: Es tuckerte im Flüstermodus leise vor sich hin und war umfassend bewaffnet, falls jemand es in Haralds Abwesenheit anrührte. Er ging am äußersten Rand der Gasse entlang, die sich zu einem Hof mit schwarzem, öligem Kiesbelag öffnete. Obwohl er zu Fuß unterwegs war, machte Harald kaum ein Geräusch. Er spähte durch das erleuchtete, vergitterte Fenster hinein. Zwei kleine Männer mit kantigem Kinn, breiten Schultern und kräftigen Armen rückten einen sarggroßen Behälter auf einem Tisch zurecht. Der Mann im Anzug stand in einem inneren Durchgang, nur teilweise in Haralds Blickfeld. Sie sagten noch etwas, dann verschwand der dunkle Anzug aus dem Durchgang, und Harald erkannte, 261
dass das Treffen schon beendet war. Er bewegte sich schnell und verschwand in der schmaleren Gasse, als die Metalltür gerade aufschwang. „…türlich ist er leicht, wenn er leer ist“, sagte eine raue Stimme. „Is doch klar, oder nich?“ „Dann werdet ihr ja keine Probleme haben, dort zu sein.“ Die Stimme des Mannes hatte einen leichten Akzent. „Nicht wahr?“ „Nein, Boss.“ Harald wartete für den Fall, dass sie noch etwas Naheliegendes sagten, zum Beispiel einen Ort oder eine Zeit nannten. Wenn ja, müsste er beurteilen, ob es Wahrheit oder Märchen war – Letzteres würde bedeuten, dass sie ihn gesehen hatten. Aber es fiel kein einziges Wort mehr. Stattdessen knirschten Schritte über den Kies, die Wagentür wurde geöffnet und fast gleichzeitig mit der Metalltür des Gebäudes geschlossen. Harald hatte sich bereits in Bewegung gesetzt. Unter dem Motorengeräusch des Wagens hörte er ein tieferes Grollen, als das Motorrad aus dem Flüstermodus umschaltete und sich auf die Verfolgungsjagd vorbereitete. „Gut gemacht.“ Als der Wagen auf die Avenue of the Basilisks einbog, fuhr Harald schon auf dem immer noch als Maleville getarnten Bike vor ihm her. Der Wagen überholte ihn, aber nicht mit hohem Tempo, denn sie befanden sich unweit des Polizeipräsidiums, und der Fahrer wollte bestimmt nicht angehalten werden. Nicht in dieser Nacht. 262
Dann bog der Wagen nach rechts in den Kilbury Circle ab, und Harald musste schnell überlegen; er fuhr über den Melville Square und jagte durch eine kleine Gasse; ihm war klar, dass er sich jetzt nicht mehr blicken lassen durfte. Da. Harald erhaschte einen Blick von dem Wagen, sah, wie der Lichtschein seiner limonengrün gefärbten Scheinwerferstrahlen über eine Mülltonne schwenkte – sie befanden sich in einem Wohngebiet, fünfstöckige Stadthäuser aus der Zeit der Jahrtausendwende hatten die riesigen Hochhäuser ersetzt –, und schaltete das Motorrad auf Verfolgung. „Ich glaube, du kannst dich entspannen“, rief er über den Fahrtwind hinweg und drückte mit den Knien zu. Er spürte eine Wärme an der Innenseite seiner Beine: ein Zeichen der Dankbarkeit, als das Bike sich wieder in seine Ausgangsform zurückzuverwandeln begann. Es verlängerte seine Konfiguration, wurde niedriger und erbleichte zur Farbe von getrocknetem Knochen. Harald beugte sich nach vorn, bis er fast auf dem gepanzerten Benzintank lag, und die Phantasm brummte erfreut und nahm wieder ihre natürliche Gestalt an. Sie legte sich tief in die Kurve, als Harald mit starker Beschleunigung abbog, und sie jagten ins Pallas-Heptagon hinein. Der Wagen war inzwischen langsamer geworden; 263
er hatte bereits zwei Seiten des siebeneckigen zentralen Parks passiert. Obwohl es schon spät war, brannte in vielen der imposanten alten Gebäude auf der anderen Straßenseite noch Licht. Vor zweien hielten Soldaten in unbekannten Uniformen Wache. Sie befanden sich hier im diplomatischen Viertel, wo seit etlichen Jahrhunderten Botschaften und Konsulate standen. Das Motorrad schaltete im selben Moment das Licht aus und wurde langsamer, als Harald beschloss, ebendies zu tun: Es war nicht mehr klar, wer von ihnen Fahrer und wer Fahrzeug war. Machmal handelten sie gemeinsam wie ein einziges Wesen. Während sie lautlos ausrollten, wählten Bike-undHarald jeweils die dunkelste Stelle, um dort stehen zu bleiben. Eine große, geparkte Limousine mit Obsidianfenstern und ausgestellten Heckflossen half ihnen, sich zu verbergen. Stumm beobachteten sie, wie der Wagen, den sie verfolgten, langsamer wurde und dann vor dem mit einem Panzertor verschlossenen Hof neben einer der älteren und luxuriöseren Botschaften hielt. Ein Wachmann mit weißem Helm kam aus einem Wachhäuschen, schaute zum Fahrer des Wagens hinein und nickte. Gleichzeitig glitt das Panzertor auf eindrucksvoll leisen Rollen beiseite – Harald nahm an, dass Diplomaten gern tief und fest schliefen – und gab den Blick in einen dunklen Hof frei. Der Wagen glitt vorwärts, auf den Hof, und verschwand außer Sicht, als das Tor zurückrollte und 264
sich mit einem Klicken schloss. Im Pallas-Heptagon kehrte wieder Ruhe ein. Harald presste die Knie zusammen, und das Motorrad ging in den Flüstermodus über, ohne dass er die Schaltelemente benutzen musste. Dann rollte es bis zur nächsten Ecke des Heptagons zurück, bevor es umdrehte und sie von dort wegbrachte. Ihr Weg führte zum nächsten Polizeitelefon. Selbst in diesen frühen Morgenstunden gab es zumindest eine Person, von der Harald wusste, dass sie nicht schlief. Jedes Mitglied des Teams hatte Lauras private Nummer, und in der Telefonzentrale des Polizeipräsidiums war sie wie ein interner Apparat einprogrammiert. Harald überlegte, was er sagen würde. Sushana wurde vermisst, darum ging es. Würde das, was er herausgefunden hatte, irgendetwas nützen? Ein Zolllager, eine geheime Fracht … Möglich, dass all dies nichts mit Sushanas Verschwinden zu tun hatte. An der Ecke war ein Laden, der die ganze Nacht geöffnet hatte. Hier waren die Häuser dunkel und baufällig. Harald hielt an und parkte die Phantasm. „Bin gleich wieder da.“ Die Maschine schnurrte. Im Laden nickte Harald dem Inhaber zu, einem hoch gewachsenen Mann mit blassbrauner Haut und drei purpurroten Narben an der linken Wange. „Haben Sie Karten?“, fragte Harald. „Stadtpläne?“ „Ja, ich glaube, wir haben …“ Der Mann machte 265
Anstalten, auf eine bestimmte Stelle zu deuten, dann zuckte sein Blick zur Straße draußen. „Ist das Ihr Motorrad?“ „Mhm.“ „Bitte, soll ich die Polizei rufen? Ich glaube, jemand versucht es gerade zu stehlen.“ Harald merkte, wie er sich bei diesen Worten entspannte. „Es ist alles in Ordnung“, erklärte er dem Inhaber. „Aber er wird Ihr Motorrad klauen!“ Harald blätterte die Stadtpläne durch und fand denjenigen, den er suchte. Er klappte ihn auf, schaute im Index nach, schlug den Zentrumsteil von Tristopolis auf und fand die Seite, die das Pallas-Heptagon zeigte. Wie er gehofft hatte, waren die Namen der Botschaften eingetragen. Der Mann, dem er gefolgt war, hatte die illurianische Botschaft betreten. „Bitte, Sir, ich glaube, ich sollte jetzt wirklich …“ Ein Schrei gellte von der Straße herein. „Kein Grund zur Panik“, sagte Harald. Die Zentrale brauchte Harald gar nicht zu Laura nach Hause durchzustellen. Sie war im Büro, ebenso wie Donal. Er hatte sich auf einer der vier kleinen Pritschen im Lagerraum am Ende des Ganges schlafen gelegt. Viktor und Alexa waren im Mannschaftsraum, unter den Augen dunkle Ringe, die verrieten, unter welcher Anspannung sie standen. Warten war schlimmer, als draußen auf der Straße zu sein. 266
Nach einer Weile zog Viktor seine Lederjacke an und erklärte, er müsse weg. Alexa, die ins Leere starrte, nahm seine Worte kaum zur Kenntnis. Als das Telefon klingelte, stand Donal in Lauras Büro, während sie dasaß und dieselben Berichte durchblätterte, die sie schon zwanzig Mal gelesen hatte. Donal fühlte sich verschwitzt und schmutzig; sein Hemd war zerknittert, sein Anzug hätte eine Dampfreinigung gebraucht, und seine Krawatte war halb gelöst. Laura nahm den Hörer ab. „Harald? Hast du was rausgefunden?“ Es gab eine Pause. „Klingt dürftig“, sagte sie dann. „Hört sich an, als wärst du einer anderen Spur gefolgt – nein, ich mache dir keine Vorwürfe: ein Einbruch in ein Zolllager, interessant. Zufall?“ Laura hörte noch einen Augenblick zu, dann warf sie Donal einen Blick zu. „Könnte sein, dass wir Glück haben“, sagte sie ins Telefon. „Lass mich kurz mit Donal sprechen. Nur damit du’s weißt, Donal hat eine andere Spur entdeckt, und die weist ebenfalls nach lllurium. Silvex City.“ Laura deckte das Mundstück mit einer Hand ab. „Harald ist auf einen Fahrer der illurianischen Botschaft gestoßen“, erklärte sie Donal, „der mit einem geplanten Einbruch in ein Zolllager zu tun hat. Sie wollen irgendeinen Behälter in dieses Lager bringen.“ Sie erzählte ihm die Einzelheiten, die sie gerade von Harald erfahren hatte. „Was meinst du?“ 267
Donal war es gewohnt, sein eigenes Team zu leiten. Es war gut, dass Laura das anerkannte. „Bleib dran“, sagte er. „Aber setz nicht all unsere Kräfte dafür ein.“ Laura überlegte kurz. Dann sagte sie ins Telefon: „Entschuldige, Harald. Wir schmieden nur gerade Pläne. Irgendwelche Anmerkungen?“ Sie hörte zu, und ihre Augen wurden hart. „Die DIO?“, sagte sie dann. „Verdammt.“ Donal erriet, wovon sie sprachen. „Ihr wollt die Schlapphüte dazuholen?“ Selbst für jemanden, der an Freigeister gewohnt war, waren einige Beamte der DIO schwer zu ertragen. „Dann wird’s hier bald nur so wimmeln von denen, und wir sind raus aus dem Fall.“ Laura trommelte mit ihren diamantharten Fingernägeln auf die Tischplatte. „Das bringt uns auch nicht weiter … Hör zu, Harald.“ Sie entzog Donal ihre Aufmerksamkeit und konzentrierte sich ganz aufs Telefon. „Kennst du Alf Zentril? Vom Raub- und Heimsuchungsdezernat? Gut. Der schuldet mir noch einen Gefallen. Du kannst davon ausgehen, dass du sein Team bald vor Ort sehen wirst. Wenn nicht, schicken wir unsere eigenen Leute. Alles klar?“ Sie hörte noch einen Moment lang zu und nickte dann. „Klingt gut. Pass auf, dass sie dich nicht sehen.“ Und nach einer kurzen Pause: „Viel Glück.“ Laura legte auf. „Ich hätte gar nicht gedacht, dass du so ein Territorialverhalten drauf hast“, sagte sie zu Donal. „Das 268
Leben einer Polizistin steht auf dem Spiel, und die Distributed Intelligence Organization verfügt über Mittel, die wir nie …“ „Ich denke nicht an Sushana“, sagte Donal. „Äh … das war jetzt nicht so gemeint.“ „Nicht?“ „Der Fahrer, dem Harald gefolgt ist“, sagte Donal. „Das ist kein illurianischer Agent.“ „Wieso nicht?“ „Na ja, wenn man irgendwas – oder einen toten Jemand – außer Landes bringen will und einem ausländischen Geheimdienst angehört, benutzt man dafür das diplomatische Gepäck.“ „Diplomatisches Gepäck …“ „Das nennt man so. Es kann auch eine Frachtkiste sein.“ Jetzt war er sich seiner Sache sicher. „Wenn sie von einer Botschaft kommt, macht der Zoll sie nicht auf.“ „Verdammt“, sagte Laura. „Es ist, als wäre der Postraum der Botschaft selbst schon ein Zolllager.“ „Schon gut, ich hab’s verstanden. Aber vielleicht will ja irgendein Offizieller in der Botschaft eine inoffizielle Operation durchführen. Ich hab gehört, so was kommt manchmal vor.“ Ein winziges Lächeln zupfte an Donals Mund. „Ist ja schrecklich.“ „Du sagst es. Würden wir nie tun.“ „Thanatos bewahre.“ Donal setzte sich auf den Besucherstuhl. „Also, was machen wir, Boss?“ 269
„Wir werden rausfinden, wer sich Sushana geschnappt hat“, sagte Laura, „und uns die Arschlöcher vorknöpfen.“ „Offiziell oder inoffiziell?“ „Entweder oder.“ Haralds Zuträgernetz war riesig, aber er war nicht der Einzige, der über solche Hilfsquellen verfügte. Big Viktor hatte seine eigenen Kontaktpersonen, und im Moment war er gerade damit beschäftigt, eine davon immer wieder unsanft eine Ziegelwand küssen zu lassen. Franz wollte trotzdem nicht reden. Beim Anblick des blauweißen Fotos, das Viktor ihm gezeigt hatte – des Fotos von Sushana –, hatten sich seine Augen geweitet. Aber er hatte den Kopf geschüttelt und die Lippen zusammengepresst. Das war ungewöhnlich für Franz. Bedauerlicherweise hatte seine Schweigsamkeit jedoch nur zur Folge, dass Viktor so lange auf ihn einprügeln würde, bis er Antworten bekam. „Wie läuft das Geschäft?“, fragte Viktor, während er sich mit einem Papiertuch Blut von der Faust wischte. Kein Tropfen davon war sein eigenes. „So gut, dass du’s vermissen wirst, wenn es futsch ist?“ Sie befanden sich hinter Franz’ größter Spielhölle. In einem nach vorn zur Straße gelegenen Salon standen Steinsofas, auf denen Geisterfahrt-Süchtige in Trance sanken, ihr körperloses Ich an Geister häng270
ten und sich zu ihren Wettrennen durch die Kanäle unter der Stadt mitnehmen ließen. Viktor hakte die Finger in Franz’ Schlüsselbein, zog nach unten und riss dabei an den mürben Knochen, sodass sich Franz’ Gesicht vor Schmerz verzerrte. Dann drehte er Franz mit einem Hebelgriff den Arm auf den Rücken und trieb ihn ins Haus, durch die schmutzige Diele und in den Salon. Auf den leeren Steinsofas lagen keine Kunden. Jedes Sofa bestand aus einem einzelnen, ausgehöhlten Stein, der aus den Hallenden Höhlen im Norden von Orebury hierher gebracht worden war. Für eine solche Kaschemme waren das teure Objekte. Viktor bleckte die Zähne; es sah beinahe wie ein Lächeln aus. Er stieß Franz weg, verschränkte die Arme, griff mit beiden Händen in seine Lederjacke und zog zwei kantige Grauser-Automatikpistolen. Er zielte auf das nächste Sofa. „Nein.“ Franz schluckte. „Wissen Sie, wie viel die …?“ Viktor drückte auf beide Abzüge. Steinsplitter flogen in alle Richtungen. Einer zerschnitt Viktor die Wange, aber er beachtete es nicht. „Nein“, flüsterte Franz. Viktor wirbelte herum und richtete seine Waffen auf Sofas zu beiden Seiten, die Arme dramatisch gespreizt: eine kalkulierte Pose. Einschüchterung ist eine Fähigkeit, die man am besten auf der Straße lernt. 271
„Na schön.“ Mit hängenden Schultern und resignierter Miene sagte Franz: „Die Frau … da war so eine wie die.“ Er meinte Sushana, von dem Foto. „Und?“ „Ich hab gehört …“ Franz schluckte erneut. „Sie war im Hafen, mit Tax Silbermans Crew. Die kennen Sie ja.“ Viktor nickte. „Es war ein Spürgeist.“ Franz sprach jetzt schnell, als wäre ein innerer Damm gebrochen. „Jedenfalls soweit ich gehört hab. Sie haben sie untersucht, festgestellt, dass sie ein Spitzel war, und …“ „Und was?“ „Entweder haben sie sie gleich mit Ketten im Plax versenkt, oder sie haben sie zu Freddy der Klaue gebracht, und der hat’s getan, ich weiß nicht genau, welche Version wahr ist, und ich hab auch nicht versucht, es rauszufinden.“ In Viktors Innerem keimte eine unbändige Wut, aber dies war nicht der richtige Moment, ihr freie Bahn zu lassen. Sushana, meine Liebste. Franz blickte auf und fasste sich wieder ein wenig. „War sie eine von euch?“ „War …?“ Dann platzte sie heraus, eine schwarze Flut in seinem Innern, und Viktor machte keine Anstalten, sie einzudämmen; seine Hände hoben sich wie von selbst, die beiden Grauser donnerten, ein krachender 272
Schuss nach dem anderen, und Steinsofas zerplatzten in scharfkantige Fragmente. Franz krabbelte auf Händen und Knien zu seinem Büro, um sich vor dem Mahlstrom in Sicherheit zu bringen, dann gab er es auf. Zitternd kauerte er sich wie ein Fötus auf dem Boden zusammen, das Gesicht nach unten, während die Welt in der Kakofonie über ihm verschwand … „Sushana“, flüsterte Viktor. … und dann trafen die Schlagbolzen im Abstand von einer halben Sekunde auf leere Kammern, und Viktors Zorn verflog schneller, als er gekommen war, verwehte wie Rauch in einem plötzlichen Wind. In Viktors Innerstem blieb nur etwas Härteres und Dunkleres übrig, das mit der erforderlichen Geduld ausgestattet war. Er würde eine Weile brauchen, um an Freddy die Klaue heranzukommen, vorbei an all den Mittelsmännern, den Leutnants und Fußsoldaten; aber Viktor würde es schaffen. Was dann geschah, hing von Freddy ab, aber der war nicht der Typ, der sich widerstandslos festnehmen ließ. Darauf baute Viktor. Donal sah aus, als würde er gleich aus den Schuhen kippen. Alexa war schon gegangen; sie hatte sich schließlich Lauras Befehl gebeugt, sich ein wenig auszuruhen. In dieser Nacht oder an diesem Morgen würde wahrscheinlich nichts mehr geschehen. Es war schon zwei Uhr früh, und Laura hatte seit 273
Haralds Anruf nicht mehr zuwege gebracht, als ihm ein RH-Team zu schicken, das die Observierung durchführen sollte. Jetzt sagte sie zu Donal; „Du musst nach Hause.“ „Was ist mit dir?“ Er war zu müde, um noch groß zu diskutieren, wollte sie aber auch nicht allein lassen. Laura schaute sich im Büro um, traf dann eine schnelle Entscheidung, rollte zwei Pläne auf ihrem Schreibtisch zusammen und klemmte sie sich unter den Arm. „Ich komme mit. Ich brauche nur ein Telefon, und die Zentrale kann jeden Anruf in die Wohnung durchstellen.“ „In Ordnung.“ Laura nahm den Hörer ab, wartete, bis sich die Telefonzentrale meldete, gab dann ihre Anweisungen, dankte dem Geist und legte auf. „Gehen wir ein Stück zu Fuß“, sagte sie. „Ich brauche frische Luft.“ „Ich auch.“ Er dachte, dass sie es vielleicht um seinetwillen vorgeschlagen hatte, weil sie genauso aussah wie immer. Donal und Laura verließen gemeinsam das Büro und stiegen im Fahrstuhlschacht Seite an Seite hinauf, getragen von Gertie, die während der ganzen Zeit schwieg und ihnen nur einen normalen, unpersönlichen Schubs gab, um ihnen beim Ausstieg zu helfen. Im Erdgeschoss durchquerten sie die steinernen Hallen, die in den Vorraum übergingen, wo der mit 274
dem Steinblock des Empfangstresens verschmolzene Eduardo seinen permanenten Dienst versah. „Ihr wird schon nichts passiert sein“, sagte Eduardo. Er meinte Sushana. „Bestimmt nicht.“ Donal nickte, aber Laura schüttelte den Kopf; sie wollte sich nicht beruhigen lassen. Sie war sicher – oder so gut wie sicher –, dass Sushana nicht mehr unter den Lebenden weilte. Draußen auf der Straße waren die Bürgersteige rutschig von Pfützen, in denen feine silberne Fädchen schwammen, die orange- oder karmesinrot aufleuchteten, wenn sie das gespiegelte Licht der Straßenlaternen einfingen. Donal und Laura gingen schweigend dahin, bis ein Taxi auftauchte und Laura den Arm ausstreckte. „So geht’s schneller, als wenn wir erst den Wagen holen“, sagte sie. „In Ordnung.“ Vielleicht war sie zu müde zum Fahren. Vielleicht wollte sie aber auch für einen Moment unerreichbar sein. Donal stieg mit ihr ins Taxi und befahl dem Fahrer, sie schnell zum Darksan Tower zu bringen. Es dauerte nur Minuten, bis sie vor dem Hochhaus hielten. „Gut gemacht.“ Laura zahlte, bevor Donal es tun konnte. Sie stiegen aus und passierten die Wächter am Eingang. Lauras Absätze klackerten über den Schwarzglasboden, als sie durch die Eingangshalle zum Expresslift gingen. Sie fuhren direkt in die Wohnung hinauf. 275
Zuerst glaubte Donal, er wäre zu aufgedreht, um Ruhe zu finden, aber kaum war er im Schlafzimmer, legte er sein Jackett ab und setzte sich auf den Bettrand, um sich die Schuhe auszuziehen. Dann konnte er den Verlockungen des Bettes nicht mehr widerstehen; er legte sich zurück, entspannte sich und war mir nichts, dir nichts eingeschlafen. „Sehr gut“, sagte Laura leise. Sie kickte die Schuhe von sich, zog die Jacke aus, öffnete ihren Rock und ließ ihn zu Boden gleiten. Dann kam die Bluse an die Reihe. In ihrer schwarzen Unterwäsche stand sie eine Weile da und schaute auf den schlafenden Donal hinunter. Es fiel Laura schwer, sich ans Schlafen und Träumen zu erinnern. Sie ging in die Diele hinaus und blieb vor der dunkelgrauen Wand mit den fast fünf Meter hohen Spiegeln stehen, die wie verlängerte, umgedrehte Schilde geformt waren. Ihr Spiegelbild interessierte Laura nicht. Leise klatschte sie in die Hände und sprach die Kennwörter, die verschlüsselte Zauber im Innern der verborgenen Mechanismen aktivierten. Sie hielt inne, lauschte – aus dem Schlafzimmer drang kein Geräusch außer einem ganz leisen Schnarchen – und klatschte dann erneut. Dies war der schnellste Weg nach oben, schneller, als außen am Gebäude hinaufzuklettern – das tat sie nur, wenn sie das Bedürfnis hatte, sich lebendig zu fühlen … oder dieses Gefühl noch einmal wachzurufen. 276
Der Spiegel bewegte sich, schwang dann zurück und gab ein schmales Portal frei. Es führte zu einem dunklen Schacht, in dem eine schmale Leiter mit knochenartigen Streben in dunkelgrüner Lumineszenz glomm. Laura durchschritt die Pforte und setzte den Fuß direkt auf die Leiter. Sie hielt sich mit beiden Händen fest, stellte den anderen Fuß auf dieselbe Sprosse und wartete. Die Tür schwang hinter ihr zu, und der Spiegel, der sie verbarg, nahm wieder seinen Platz ein. Nach einem raschen Blick nach unten – die Leiter verschwand in den schwarzen Tiefen – legte Laura den Kopf in den Nacken und konzentrierte sich auf den schwach sichtbaren siebeneckigen Umriss hoch oben. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Leiter. Mit anfangs noch langsamen Bewegungen stieg Laura hinauf. Zehn Minuten später war sie an der hexgeschützten Luke und sprach leise die Kennwörter, die ihr Durchlass verschaffen würden. Gleich darauf leuchtete die Luke silbern auf, öffnete sich von selbst und klappte zurück. Eine jähe, unerträgliche Furcht packte Laura, aber ihr Griff war fest. Sie stieg die letzten Sprossen hinauf, zog sich aufs Dach und trat in die turbulente Nacht hinaus. Hinter ihr schwang die Luke zu. Laura war jetzt hoch über den Straßen, auf der komplexen Gothic-Deco-Turmspitze, die sich auf 277
dem eigentlichen Darksan Tower erhob, hundert und mehr Meter über ihrer Wohnung im zweihundertsechsundzwanzigsten Stock. Wie immer hingen nekrotonische Kabel in dunklen Kettenkurven herab und verbanden ihr Gebäude mit den anderen Hochhäusern, die wie gigantische Wachposten über die Straßen der Stadt aufragten. Laura hockte sich hin, um dem Wind nicht so viel Angriffsfläche zu bieten – nicht wegen der Kälte, sondern weil eine launische Kraft sie sonst jederzeit geradewegs vom Dach ziehen konnte –, schaute in die Nacht hinaus und wartete. Bald darauf glommen in der Dunkelheit – dort, wo Laura mit ihrer verstärkten Sehkraft undeutlich die Kabel und Verbindungsbrücken erkennen konnte – mehrere scharlachrote Augenpaare auf. Die winzigen Leuchtfeuer bewegten sich durch die Dunkelheit auf sie zu. Lauras Katzen kamen.
278
VIERZEHN Die kleinen Gestalten glitten eine nach der anderen über die schmalen Steinbrücken, die hängenden Kabel und die winzigen, durchscheinenden Fäden, die normalerweise nur die aus der Abspaltung immaterieller Fragmente von großen Geistwesen entstandenen Elfen trugen. Jetzt schlängelten sich die Katzen in stetigem Tempo über diese schmalen Nebenwege, wobei sie den chaotischen Turbulenzen der Winde, die in solchen Höhen wehten, durch die erforderlichen Körperbewegungen Widerstand leisteten. Ihre Augen glühten in leuchtendem Scharlachrot, wenn sie ein fernes Licht einfingen. Einmal, als eine Beobachtungsfledermaus über sie hinwegglitt, kauerten sich zwei der Katzen auf der Verbindungsbrücke zusammen, die sie gerade überquerten; aufmerksam registrierten sie die Möglichkeit, neue Beute zu machen. Doch die Fledermaus war bald wieder verschwunden, und gleich darauf liefen die Katzen weiter, Richtung Darksan Tower. Wenn Sushana noch lebte, musste Laura es erfahren. Sie hatte schon früher Kolleginnen und Kollegen verloren, aber nicht in diesem Team, nicht bei diesem Einsatz. Die Art und Weise, wie Laura sich ihren Lebensunterhalt – oder wie immer sie es jetzt nennen sollte – verdiente, hatte schon immer ihre Persönlichkeit geprägt. Und jetzt, wo sie Donal in ihr 279
Leben – ihr Unleben – gelassen hatte, war der Job wichtiger denn je. Nicht die Politik, nicht das Abhaken geklärter Fälle oder gesicherter Etats. Sondern die echten Menschen. Die erste Katze leckte ihr die Hand und hockte sich neben sie, um zu warten. Während Laura überlegte, wie sie ihre Freunde der Nacht einsetzen konnte, welche Gebäude sie erforschen, welche Personen sie unauffällig aus der Dunkelheit heraus beobachten sollten, versammelten sich die Katzen auf dem Dach in einem immer größer werdenden Kreis um sie. Hinter ihr erhob sich die skelettartige Nadel der letzten Spitze des Darksan Tower und malte ihr Zeichen in den Nachthimmel. Dann waren alle Katzen da, und Laura begann zu sprechen. Während Donal träumte – bizarre, fragmentarische Bilder, vielleicht ein Albtraum, vielleicht auch ein Weg, mit der dunklen Realität fertig zu werden, ohne sich selbst in Angst und Schrecken zu versetzen – und Laura den Katzen ihre Pläne darlegte, war der Rest des Teams schwer beschäftigt. Nach einem kurzen Abstecher in eine PolizistenBar, wo sie rasch hintereinander drei brennende Tequilas hinuntergekippt hatte, war Alexa jetzt in ihrer Wohnung und atmete lilafarbenen Klarheitsrauch von zerbrochenen Zweigen ein, die in einer Kupferschale brannten. Sie versuchte, die Wirkung des Al280
kohols zu neutralisieren und sich wieder nüchtern zu husten. Die anderen Mitglieder des Teams waren jedoch aktiver. Harald hatte zwar seit drei Tagen nicht mehr geschlafen, wirkte jedoch hellwach, als er breitbeinig auf seinem stehenden Motorrad saß und seinen neuen Kollegen, dem RH-Team, alles erzählte, was er vom Lageplan der Botschaft und dem Fahrer wusste, den sie beobachten sollten. „Wenn er losfährt, folgen wir ihm. Wir bleiben ein bisschen zurück, aber nicht so weit, dass wir ihn verlieren könnten.“ Haralds sanfter Blick änderte sich nicht, als er hinzufügte: „Wenn er uns sieht, müssen wir ihn ausschalten.“ „Ausschalten? Für wie lange?“ „Das Leben einer Polizistin steht auf dem Spiel.“ Die RH-Leute sahen sich an. „letzt ist mir alles klar“, sagte einer von ihnen. „Was?“ „Warum unser Boss eurer Chefin einen Gefallen tut.“ „Und“, sagte ein anderer, „warum keiner von uns momentan im Dienst ist, außer wenn’s sein muss. Keine Berichte.“ „Die Sache läuft unter der Hand?“ „Ganz und gar. Sofern nichts rauskommt.“ „Gut“, sagte Harald. „Dann sollten wir versuchen, so wenig wie möglich aufzufallen. Ich mag’s gern, wenn alles still und leise vonstatten geht.“ 281
Um ihn herum nickten die RH-Leute. Sie hatten ihr eigenes Leben und ihre Familien, und dorthin wollten sie wieder zurück, sobald das hier vorbei war. Währenddessen befand sich Haralds Freund Viktor in der West Side, nahe beim Hafenviertel, nur ein paar Kilometer vom Ausgangspunkt von Haralds Spur, dem Zolllager, entfernt. Aber Viktor hatte ein anderes Ziel. Hinter dem Maschendrahtzaun lag eine weite Betonfläche. Paletten- und Kistenstapel standen wahllos zwischen einem halben Dutzend blockförmiger Bürogebäude und Lagerhäuser. Sie lieferten eine halbwegs brauchbare Deckung vor den hin und her wandernden silbernen Lichtstrahlen der langsam dahingleitenden Gallertlampen über ihm. Jede schwebende Gallertlampe zog giftige, fadenartige Ranken hinter sich her. Im Büro war eine erstaunliche Anzahl von Fenstern erleuchtet. Dahinter gingen hemdsärmlige Krawattenträger ihren Tätigkeiten nach – die, wie Viktor wusste, größtenteils legal waren, denn dies war eine echte Handelsgesellschaft. Seltsame dunkle Kräuselungen liefen über den Maschendrahtzaun. Er wurde von Bandstacheldraht gekrönt, der sich langsam drehte und wandt, belebt von gequälten Geistern, deren fadendünne Gestalten über die gesamte Länge des Drahtes ausgezogen waren. Sie schrien für immer in einem Reich, wo kein Mensch sie je hören konnte, und blieben nur, um 282
vielleicht einmal einen lebenden Menschen zu erwischen und ihm ihrerseits Höllenqualen zu bereiten. Am Tor standen Wachposten. Sie rauchten, behielten die Straße draußen sowie die Gebäude gegenüber im Auge und befingerten hin und wieder ihre Waffen. Während Viktor sie beobachtete, kam ein ein älterer, grauhaariger Mann auf sie zu. Die Männer warfen ihre Zigaretten weg und traten sie mit dem Absatz aus. Wachsamkeit war alles. Dennoch fand Viktor, während der ältere Mann zu einem der Gebäude zurückkehrte, dass der Laden nicht so sicher war, wie es den Anschein hatte. Das lag zum Teil daran, dass Freddy die Klaue hier ein weitgehend legales Geschäft betrieb. Aber vielleicht war das eine Fehlkalkulation, oder sie verließen sich zu sehr auf Freddys Ruf als brutaler Killer mit einer Organisation von Psychopathen im Rücken. Für Viktor wirkten die äußeren Schutzvorkehrungen massiv, nur im Inneren war das Gelände schlecht bewacht. Noch während ihm all dies durch den Kopf ging, bemerkte er, dass der grauhaarige Mann das Gebäude wieder betrat, ohne ein Passwort benutzen oder sich einer persönlichen Überprüfung stellen zu müssen. Die Türen des Gebäudes waren nicht einmal verschlossen. In seinem Versteck in der dunklen Einmündung einer Gasse lächelte Viktor: kalt und raubtierhaft, so hart und unversöhnlich wie die Strafen, die Freddy so leichtfertig verhängte. 283
In der Wohnung setzte sich Donal in dem schweißgetränkten Bett kerzengerade auf. Die Decke rutschte von seinem nackten Oberkörper. Seine Augen klappten auf, sahen jedoch nichts als die verblassenden Fetzen seiner Albträume. Außer ihm war niemand im Schlafzimmer; von Laura keine Spur. „Oh, Thanatos“, sagte er. Dann flatterten seine Lider, er ließ sich wieder auf die Matratze sinken, erschauerte einmal und glitt schnurstracks in seine Träume zurück. Er lächelte kurz, doch trotz seiner geschlossenen Augen war es ein humorloses Lächeln, raubtierhaft und dem von Viktor erstaunlich ähnlich, fast im selben Moment. Donal sank tiefer in den Schlaf. Viktor blieb in der Gasse stehen. Zwar wusste er, dass er etwas unternehmen sollte, aber nicht, warum er an Ort und Stelle bleiben wollte. Er war jedoch schon lange genug im Außendienst, um seinem Unterbewusstsein zu vertrauen, das mehr von der Welt sah als der Verstand. Ein paar Minuten später wusste er es. Am äußersten Rand seines Blickfelds, im vierten Stock eines Gebäudes, das er für leer gehalten hatte, verlagerte sich ein Schatten in der Dunkelheit: eine fast unmerkliche Bewegung. Scharfschützen. Nun ja, zumindest ein Scharfschütze in diesem Gebäude. Selbst wenn der Mann allein war – was zu vermuten stand –, würde er nicht als Einziger in der 284
Umgebung des Geländes stationiert sein. Auch in anderen Häusern würden mit Gewehren bewaffnete Wachposten die umliegenden Straßen und den Zaun ums Gelände von außen im Auge behalten. Natürlich bestand die Möglichkeit, dass es sich um einen Feind von Freddy der Klaue handelte, einen Polizisten oder Verbrecher, der das Gelände weitgehend mit denselben Absichten beobachtete wie Viktor … aber das erschien ihm unwahrscheinlich. Der Mann würde allein sein, weil Einsamkeit im Dunkeln Angst und folglich Wachsamkeit erzeugte. Dadurch bekam Viktor eine Chance, die er sonst vielleicht nicht gehabt hätte. Mit diesem Gedanken setzte er sich in Bewegung und schlich die Gasse entlang, sorgfältig darauf bedacht, die Füße immer nur ein kleines Stück zu heben und langsam wieder aufzusetzen. Einmal stieß er mit der Schuhspitze gegen einen halben Ziegelstein und konnte gerade noch verhindern, dass der Stein über den Beton scharrte. Stattdessen umrundete er das kleine Hindernis mit dem Fuß und machte einen weiteren lautlosen Schritt. Mit solchen Zeitlupenbewegungen brauchte er endlos lange bis zur Rückseite des Gebäudes. Der Hintereingang bestand aus rostfleckigem, aber durchaus massivem Metall. Viktor wühlte in den Tiefen seiner Tasche und holte den Satz Hex-Schlüssel heraus, den er immer bei sich trug. Eine blassblaue Phosphoreszenz lief über die Schlüssel. 285
Die Tür war geschützt. Um die Schwelle herum erschien eine Kette winziger, leuchtender Heptagone. Sie verteilten sich über den rostigen Türsturz und liefen an beiden Seiten herunter. Dort begann Viktor mit seiner Arbeit. Er kratzte winzige Anti-Muster hinein, um das geometrische System aufzulösen, das sich ihm entgegenstellte. Es war eine mühsame Arbeit. Das System konnte im Nu zusammenbrechen, wenn er einen Fehler machte. Sollte das geschehen, würde er dann den letzten Lichtblitz spüren, der seinen Tod begleitete? Oder wäre seine Welt in diesem Moment bereits ein für allemal ausgelöscht? Viktor vertraute darauf, dass die Erfahrung seine Hand richtig leiten würde, und arbeitete sich um die Ränder der Türöffnung herum. Dann kratzte er eine Knotenform auf die Betonschwelle. Sein Schlüssel leuchtete blau und weiß auf, verbrannte ihn erst mit Hitze, dann mit eisiger Kälte … Verflucht, tut das weh. … als sich Kette und Anti-Kette ineinander wanden, strahlend zu leuchten begannen … Verdammte Scheiße. … und dann zusammenbrachen und verblassten. Die erste Barriere war gefallen. Viktor entdeckte drei weitere Barrieren. Im Innern gab es womöglich noch mehr Schilde. Aber Viktor war der Beste, und er genoss diese Arbeit. Sushana. Ich komme. 286
Er schlich zur zweiten Abwehrschicht und machte sich ans Werk. Wilhelmina dAlkarny, von ihren wenigen Freunden Mina genannt, schritt den langen, steinernen Gang zu den unterirdischen Labors entlang, die tief unter der Oberfläche in zwei konzentrischen Heptagonen um die zentralen Leichenhallen angeordnet waren. Zuvor hatte einer ihrer vielversprechendsten jungen Mitarbeiter, ein angehender Knochenlauscher namens Padraigh, erwähnt, dass sich Feoragh Carryn nach einer der vielen Leichen erkundigt hatte, die dort lagen. Sie wurden in verwesungsfreier Stasis gehalten, bis eine Entscheidung erfolgte: Obduktion oder Beseitigung. Etwaigen Druck übte für gewöhnlich nur die Energiebehörde mit nicht allzu subtilen Andeutungen aus, dass ihr Knochenbestand allmählich erschöpft sei und sie so bald wie möglich Nachschub brauche – ein Wunsch, den Mina normalerweise ignorierte. Ihr Abscheu vor den Nekrofusionsmeilern entsprang tieferen Kenntnissen, als sie normale Menschen besaßen. Mina wusste genau, welches bis ins Unermessliche gesteigerte, für lebendige Menschen völlig unerträgliche Leid im Inneren der Reaktoren herrschte, die mit stehenden Nekroflux-Wellen angefüllt waren … und Wärme und Strom für alle lebenden Bürger von Tristopolis lieferten. Es war eine Art Ausgleich, eine Gegenleistung für die Annehmlichkeiten des Lebens, nachdem dieses 287
Leben ein Ende gefunden hatte; aber auch eine Art von Gerechtigkeit, die Mina nicht gefiel. In diesem Fall war die seltsame Anfrage im Namen eines Lieutenant Riordan erfolgt, den Feoragh Donal genannt hatte (eine Vertraulichkeit, die an sich schon ungewöhnlich genug war). Padraigh hatte nachgeforscht und festgestellt, dass die Anweisung, die Leiche in Stasis zu lagern und die Finger von ihr zu lassen, aus Commissioner Vilnars Büro gekommen war. Dieser Wunsch war zwar nicht ganz und gar ungewöhnlich, aber auch nicht gerade alltäglich. Interessant fand Mina allerdings, dass einer von Vilnars eigenen höheren Beamten die Entscheidung in Frage stellte. Das alles hätte sie nicht unbedingt veranlasst, der Sache selbst nachzugehen. Als Chefin musste sie sich um das gesamte LLI kümmern … nicht nur um die Obduktionen, sondern auch um die Gehälter und die Moral der Mitarbeiter, darum, ob genug Reinigungsmittel da waren und ob die sanitären Anlagen funktionierten, sowie um die zahllosen anderen bürokratischen Verwaltungsaufgaben, die mit der Leitungsfunktion einhergingen. Hier war jedoch noch etwas anderes ungewöhnlich: die Identität des Toten. Sein Name war Malfax Cortindo. Bis ihn ein gewisser Lieutenant Riordan vom Leben zum Tode befördert hatte, war dieser Cortindo der städtische Direktor der Energiebehörde gewesen, ein unangeneh288
mer, manipulativer Patron. Von seinem Büro inmitten der von immer wieder durchlittenen Todesqualen stöhnenden Nekrofusionsmeilern aus hatte er die Oberaufsicht über den Downtown-Komplex geführt. Weshalb war er selbst kein Reaktortreibstoff? Zwei uniformierte Polizisten standen in Habachtstellung da, die Schultern gestrafft, den Blick geradeaus gerichtet. Mina schmeckte die sublimen Pheromone ihrer Angst – für sie war Noradrenalin bittersüß, mit einem Hauch von Mandeln: eine synästhetische Illusion –, aber sie lächelte nicht. Nach all diesen Jahren kümmerte es Mina nicht mehr, was normale Menschen über sie dachten. Sie war eine forensische Knochenlauscherin, die beste ihrer Generation. Das reichte. „Ich muss da hinein“, sagte sie. „Ja, Ma’ am.“ Die große, kreisrunde Stahltür hinter ihnen sah undurchdringlich aus und war es wahrscheinlich auch. Klugerweise hatte noch nie jemand versucht, die Sicherheitsmaßnahmen des Instituts zu überwinden. Fahle Wellen gingen durch Minas hoch gewachsenen, knochigen Körper. Die Scan-Geister beendeten ihre Überprüfung und gewährten ihr Zutritt. An der Tür drehten sich komplexe siebeneckige Räder und Zahnräder in unterschiedliche Richtungen – eines von ihnen schien einen unmöglichen Bogen zu beschreiben, der außerhalb der normalen Geome289
trie lag –, und ein plötzlicher Luftzug wehte Minas glatte Haare nach vorn, als die Metalltür nach innen schwang und Luft aus dem Gang ins kalte Innere sog, wo der Luftdruck geringer war. Mina zögerte einen Moment und dachte vielleicht zum zehntausendsten Mal, was für ein Glück sie hatte, hier sein zu dürfen, an einem Ort, der anderen Furcht einflößte. Für eine Knochenlauscherin hingegen war es das Nonplusultra. Sie ging hinein, und die Tür schwang zu; ihr Luftdruck erzeugte einen Schub, der Minas Schritte beschleunigte. Sie durchquerte eine dünne Wand aus schimmerndem Kaltfeuer – eine zweite Abwehrschicht, die glutheiß wie eine Nova werden konnte – und betrat die Vorräume. Zwei angehende Knochenlauscher – Padraigh war nicht darunter – saßen an Arbeitstischen im Verwaltungsbereich und sortierten Karteikarten, die später zwecks Archivierung eingescannt werden würden, in Metallschachteln ein. Beide Knochenlauscher trugen purpurrote Gewänder, die hier und dort schwarze Streifen aufwiesen – Spuren vergossener Verwesungsflüssigkeiten eines von ihnen aufgeschnittenen Leichnams. Was zählte, war die Knochenarbeit, nicht das kalte Fleisch. Jedenfalls waren Knochenlauscher fast immun gegen normale Infektionen: Beschmutzte Gewänder zu tragen war hier gang und gäbe. „Wie läuft’s?“, fragte Mina die beiden. „Na ja, Ma’am“, sagte einer von ihnen, ein bleicher junger Mann mit ausdrucksloser Miene. „Wir 290
sortieren gerade die Ergebnisse der gestrigen Neuaufnahmen ein. Neunzehn Zugänge.“ „Ausgezeichnet“, sagte der andere. Ein froschähnliches Grinsen verzerrte sein knochiges Gesicht. „Wir haben bei einem jungen Mädchen, das von Flammengeistern verbrannt wurde, eine Resonanzspur gefunden. Die dachten, sie hätten ihre Knochen vernichtet, aber wir“ – er warf seinem Kollegen einen Blick zu – „haben’s geschafft, die Wahrnehmungen rauszuholen, die wir brauchten.“ „Reicht’s für einen Abgleich?“ Mina meinte eine visuelle Identifizierung des Mörders. „Schon erledigt, Ma’am“, sagte der Ernste. Etwas in seinem Ton sagte Mina jedoch, dass der Enthusiastische die eigentliche Arbeit gemacht hatte, nicht der Schwerfällige, der das Verdienst zusammen mit ihm beanspruchte. Diese beiden musste sie im Auge behalten. „In Ordnung“, sagte Mina. „Ich inspiziere den Bestand. Ihr braucht mir nicht zu helfen“, fügte sie hinzu, als sie sah, dass der enthusiastische Knochenlauscher Anstalten machte, sich zu erheben. „Ich spaziere hier gern allein umher.“ Er reagierte sofort mit einem Grinsen, und Mina erkannte, dass er genau dasselbe tat: Er ließ die schwachen Vibrationen der in den Knochen gefangenen Erinnerungen an die Ränder seines Bewusstseins spielen, während er in den Labors und Aufbewahrungsräumen der Leichenhalle umherwanderte. Es war eine Methode, ein Gefühl für die Atmosphäre 291
des Ortes zu bekommen, alles Ungewöhnliche schon im Voraus zu bemerken, bereits zu Beginn der Obduktion vorbereitet zu sein. „Sie sind Lexar, nicht wahr?“, sagte Mina. „Ja, Ma’am.“ „Nur weiter so.“ In einem Winkel ihres Bewusstseins lachte Mina über sich, weil sie eine solch banale Phrase benutzte. „Das meine ich ernst.“ „Danke.“ Als Mina in den inneren Tunnel durchging, fiel ihr wieder ein, dass der andere junge Mann Brixhan hieß, und ihr wurde bewusst, dass er die Stirn gerunzelt hatte, als sie die beiden verließ. Glaubte er etwa, sie würde so etwas nicht bemerken? Thanatos bewahre sie vor solchen Untergebenen … Aber es war unklug, sich Feinde zu machen, und seien es auch nur welche auf den untersten Sprossen der Rangleiter. Besonders wenn man vorhatte, die Gesetze zu brechen, zu deren Einhaltung man eigentlich beitragen sollte. Mina betrat die Stahlkammer, die sie die Honigwabe’ nannten. Die Körper der auf ihre Untersuchung wartenden Toten lagen in siebeneckigen Stahlzellen, die von einem nebelartigen Flirren verschlossen waren: ein Nebeneffekt des Stasis-Hex, das jede Zelle füllte. Stasis verhinderte den Abbau der in den Knochen gespeicherten Interferenzmuster, jener Muster, die die erfahrensten forensischen Knochenlauscher de- und rekonstruierten, wenn sie die letzten 292
Momente des oder der Toten noch einmal durchlebten. In aller Regel bestätigten die Interferenzmuster nur eine medizinische Diagnose, zumindest innerhalb der normalen Parameter des ärztlichen Könnens. Die Knochenlauscher hier unten wussten besser als die meisten, was für eine große Rolle Vermutungen in der Medizin spielten. Per definitionem hatten Mina und ihre Kollegen es immer nur mit den Patienten zu tun, die gestorben waren. Der Metallboden war ein wenig abschüssig und nahm diverse Windungen und Wendungen, sodass der Weg im Zickzack tief in die unterirdischen Räumlichkeiten der Honigwabe hinabführte. Fünf Etagen tiefer gelangte Mina in die Sektion, die sie gesucht hatte. Sie ging langsamer und sah sich die Nummern auf den Schildchen mit näheren Angaben über die Verstorbenen an. Hier waren einige der langfristig belegten StasisZellen, in denen Leichen jahre- oder sogar jahrzehntelang aufbewahrt wurden – für gewöhnlich, bis ein juristischer Prozess abgeschlossen war und feststand, wem der Körper gehörte. Ein Leichnam, der liebevoll ,der dicke Fredo’ genannt wurde, ruhte seit über einhundertzwanzig Jahren in Stasis, während Generationen von Anwälten mit ihren Pendants im fernen Surinam stritten. Fredo war ein rangniedriger Diplomat gewesen, der bei einer Kneipenschlägerei ums Leben gekom293
men war, aber es hatte Komplikationen gegeben, weil die Tochter des Bürgermeisters von Tristopolis der Grund für die Schlägerei gewesen war und Fredo seine Position angeblich genutzt hatte, um widerrechtlich Einfluss auf gewisse Geschäfte zu nehmen. Die Batterie ineinander verflochtener Prozesse hatte seither ein Eigenleben angenommen und ging immer weiter, obwohl die ursprünglichen Beteiligten längst das Zeitliche gesegnet hatten. Dann fand Mina die gesuchte Zelle. Der Name war in einer verschnörkelten Schrift geschrieben, die kaum ein Tristopolitaner noch entziffern konnte. Malfax Cortindo. Mina betrachtete das schimmernde Stasis-Feld und überlegte, was sie tun sollte. Die meisten forensischen Knochenlauscher brauchten die hundertprozentig resonanten Kammern der Autopsieräume für ihre Arbeit. Mina war sich jedoch auf ganz unkomplizierte Weise und ohne jede Selbstgefälligkeit ihrer Fähigkeiten bewusst. Mit dem richtigen Werkzeug, einem Skalpell, einem Knochenfräser und vielleicht einem Wünschelskop aus Platin könnte sie Cortindos Schädel an Ort und Stelle analysieren. Die Frage war, ob die maßgeblichen Stellen darauf bestehen würden, den Leichnam auf unbegrenzte Zeit in Stasis zu halten. Wenn ja, ginge Mina kein Risiko ein, denn nachdem das Stasis-Feld einmal aktiviert war, sah sich niemand mehr die Leichen an, bis es Zeit für die Autopsie war. 294
Doch wenn die Entscheidung, eine Obduktion vorzunehmen, bald getroffen wurde, wäre der Eingriff nicht zu übersehen – und es wäre auch klar, auf wessen Konto er ging. „Scheiße.“ Minas Kollegen wären überrascht gewesen, sie jetzt zu hören. Sie war berühmt dafür, dass sie auch in schwierigen Situationen die Ruhe bewahrte und auf eine gebührliche Ausdrucksweise bestand, selbst wenn nur Leichen zuhörten. Mina legte eine Hand an den stählernen Rand der siebeneckigen Zelle, als wollte sie Kraft auf dem Metall schöpfen. Dann nahm sie die Hand weg und ging durch den langen, leicht ansteigenden Gang zurück zu den Autopsieräumen, wo sie ihren eigenen, ganz persönlichen Satz von Werkzeugen und Geräten aufbewahrte. Katzen bewegten sich über die Dächer, geschmeidig und agil; sie fühlten sich wohl in der Dunkelheit und erfreuten sich an ihren Fähigkeiten. Suchend glitten sie durch die Nacht und jagten winzige, umherflatternde Silberfalter. Während sie über die Stadt ausschwärmten, hielten sie Ausschau nach irgendwelchen Anzeichen von den Menschen, die Laura Steele ausfindig machen wollte. Manchmal trafen die Katzen andere ihrer Art und gaben die Nachricht auf eine Weise weiter, die den Menschen stets verborgen geblieben war – obwohl Laura vielleicht ein wenig von dem Phänomen gespürt hätte, wenn sie dabei gewesen wäre. 295
Darum saß nun eine von ihnen, ein struppiger kleiner silberner Tiger, der von den Menschen, die ihn manchmal fütterten, Spike genannt wurde, auf einer feuchten Ziegelmauer in der Nähe des Hafens und beobachtete einen großen, kräftigen Mann in einer Lederjacke, der sich an der verzauberten Hintertür eines größtenteils leeren Hauses zu schaffen machte. Größtenteils, aber nicht ganz leer. Spikes Katzensinne nahmen das Gewehr und den im Haus versteckten Scharfschützen in Form saurer Geschmacksnoten und bitterer Gerüche wahr, und er witterte eine komprimierte, von der Notwendigkeit der Disziplin kaum im Zaum gehaltene Gewalt sowie die Angst vor der Strafe eines noch böseren Menschen. Aufflammende Lichter erhellten die Tür, wurden schwächer und erloschen. Nun waren keine Abwehrmechanismen mehr vorhanden. Der Mann in Leder, Viktor, zog die Grauser unter seiner linken Achselhöhle hervor und stieß mit der freien linken Hand die Tür auf. Der kleine Kater, Spike, war oft genug in Laura Steeles Geist gewesen, um zu wissen, dass sie Viktors Handlungen billigen würde. In den fiktionalen Bildern in Lauras Geist – Spike erlebte Fiktionen aus zweiter Hand als eine Form des Träumens, die gefährlich war, wenn man sie in die reale, wache Welt brachte – gingen Cops mit einer Schusswaffe in den ausgestreckten Händen durch 296
Türen. In der realen Welt würde das dazu führen, dass eine feindliche Hand hervorschnellte, die Hände des Cops packte und verdrehte, sodass die Schusswaffe zu einem Hebel wurde, der dem Cop die Finger brach. Dann würde der unsichtbare Angreifer dem Cop die Feuerwaffe entreißen und sie selbst benutzen. Viktor ging geduckt durch die Tür, die linke Seite zuerst, die linke Hand ausgestreckt, die Waffe in der Rechten an die Brust gedrückt. Auf diese Weise konnte sie ihm niemand wegnehmen. Die meisten Cops, die an Schussverletzungen sterben, werden mit ihrer eigenen Waffe erschossen. Während Viktor im Inneren des Gebäudes verschwand, hockte Spike zusammengekauert auf der Mauer, eine winzige Pelzkugel, und begann ganz leise und summend zu schnurren. Donal erwachte, rollte sich aus dem Bett, taumelte, richtete sich dann auf und streckte sich ausgiebig. Wirbel und Sehnen knackten. Barfuß ging er im Zimmer umher und suchte nach Anzeichen für Lauras Anwesenheit; gleichwohl wusste er, dass sie fort war. Er tappte zur Küche, die er immer noch nicht mit Vorräten ausgestattet hatte. Außer dem unablässigen leisen Zischen der internen Systeme, die die Funktionen im Darksan Tower aufrechterhielten, war in der ganzen Wohnung kein einziges Geräusch zu hören. Er rief Lauras Namen, bekam jedoch nur ein winziges Echo seiner eigenen Stimme zur Antwort. 297
Sie war eindeutig fort. Vielleicht war sie kaum hier gewesen, denn Donal wusste nur noch, dass sie draußen vor dem Schlafzimmer gestanden hatte, als er aufs Bett gefallen und eingeschlafen war. Vielleicht war sie gleich wieder ins Präsidium zurückgekehrt, nachdem sie dafür gesorgt hatte, dass er die nötige Ruhe fand. „Verfluchte Scheiße, verdammt“, sagte Donal leise. „Laura, Thanatos noch mal.“ Dann stieß er den Atem aus und gestattete sich ein Grinsen. Zumindest sorgte sie sich um ihn. Er hob sein abgelegtes Jackett vom Boden auf und durchsuchte die Taschen, bis er einen Fetzen Notizpapier fand, den er erst kurz zuvor dort hineingesteckt hatte. Es war eine wandernde Liste teilweise privater Telefonnummern, unter denen er Mitglieder des Teams zu ungewöhnlichen Uhrzeiten erreichen konnte. Donal schaute mit zusammengekniffenen Augen auf die Uhr mit den Stahlzeigern an der Wand: elf nach neun. Aber sie hatten alle während der Nacht gearbeitet, sodass die normalen Maßstäbe nicht galten: Vielleicht schliefen sie. Aus einer reinen Vermutung heraus stellte er die Drehrädchen am Telefon neben dem Bett auf Alexas Nummer ein und wartete auf das Klingeln. Es läutete zweimal, dann gab es ein Klicken, und Alexas Stimme sagte: „Hallo?“ „Hey, hier ist Donal. Schön, dass du wach bist.“ „Tja.“ Alexa klang heiser. „Fährst du jetzt ins Präsidium?“ 298
„Würde ich, aber …“ Donal schaute auf die zerwühlten Laken, in denen er allein geschlafen hatte. „Ich hab so das Gefühl, dass niemand da sein wird, nicht mal Laura.“ „Wieso? Seid ihr beide nicht …?“ Alexa hustete. „Sorry. Vergiss es. Geht mich nichts an.“ „Kann sein.“ Das Lachen kam ihm zu seiner eigenen Überraschung leicht über die Lippen. „Ich bin bei ihr. Aber sie ist nicht da. Ich glaube, sie wollte nur, dass ich schlafen gehe.“ „Und was dann? Ist sie raus auf die Straße?“ „Ja, schon möglich. Wo würde sie hingehen?“ „Moment mal eben.“ Donal lauschte dem Husten am anderen Ende der Leitung, dann kamen ein paar gedämpfte Geräusche, gefolgt von Wasser aus dem Hahn, das in ein Glas lief. Kurz darauf kam Alexa zurück. letzt war ihre Stimme klarer. „Zwei Möglichkeiten“, erklärte sie Donal. „Erstens, sie ist zu Harald gefahren, um sich dem Observierungsteam anzuschließen. Zweitens …“ „Ja?“ „Was anderes. Sie hat eine eigene Spur verfolgt. Sie ist … Na ja. So ist sie.“ „Thanatos.“ „Ja, genau. Alles okay mit dir?“ „Kann ich nicht behaupten. Sehen wir uns bei der illurianischen Botschaft?“ „Ja. Bis dann.“ Donal legte auf, suchte seine Magnus und über299
prüfte sie. Er nahm das Magazin heraus und schob es wieder hinein, bevor er die Waffe ins Halfter steckte. Zeit, an die Arbeit zu gehen.
300
FÜNFZEHN Viktor schlich tiefer ins Dunkel hinein. Er gelangte an eine Treppe und prüfte sorgfältig die schmalen Stufen. Sie waren alt und neigten zum Knarren, aber die äußersten Bereiche wirkten einigermaßen fest. Viktor machte sich an den Aufstieg, wobei er die Füße seitlich auf die Stufen setzte und mit Überkreuzschritten hinaufstieg. Er bewegte sich vorsichtig und wurde langsamer, als er den ersten Absatz erreichte. Gab es hier Stolperdrähte? Nein. Jedenfalls konnte er keine entdecken. Mit der Linken holte er seine Dietriche heraus und stieg weiter nach oben. Er wusste, dass die Schlüssel bei jeder Spur eines Hex-Feldes fluoreszieren würden. Aber es gab andere, ebenso gefährliche Fallen. Als sich die Dunkelheit vertiefte, verlangsamte er seine Schritte erneut. Der Scharfschütze war drei Stockwerke über ihm. Wenn Viktor so nah bei ihm über etwas stolperte und die Falle selbst nicht tödlich war, würde es die Reaktion des Scharfschützen mit Sicherheit sein. Er würde aus seinem Versteck kommen und ins Treppenhaus feuern, und das wär’s dann. Langsam … Aber es gab Tricks, mit denen man das Verstreichen der Zeit manipulieren konnte. Während ein Teil von Viktors Bewusstsein in der Gegenwart blieb und wachsam auf die kleinsten Stimuli achtete, änderten 301
andere Schichten ihre Zeitwahrnehmung, gingen in ein gemächliches Tempo, eine Art Bewegungsmeditation über. Viktor arbeitete sich weiter nach oben, immer tiefer in die Gefahrenzone hinein. Schließlich gelangte er zum vierten Treppenabsatz, und auf einmal fügte sich in seinem Kopf alles zusammen. Die Nacht war ein lebendiger Flickenteppich aus Dunkelheit und leuchtendem Silber. Er konnte nicht erkennen, woher das gestreute Mondlicht kam. Aber seine Nackenhaare sträubten sich, als er den Lichtschimmer erblickte – Thanatos und Hades –, wie einen einzelnen, von einer Nachtspinne gesponnenen Faden. Er spannte sich über den Boden und berührte den Stoff von Viktors Hosenbein, berührte ihn nur ganz leicht. Stolperdraht. Noch einen Millimeter, und er hätte das Ding ausgelöst. Viktor trat drei Schritte zurück. Hinter dem Draht war eine geschlossene Tür, die sich nach innen öffnen würde. Wie immer gab es zwei Möglichkeiten: hineinzuschleichen oder hineinzustürmen, in der Hoffnung, dass ihn der Schwung an etwaigen Fallen vorbeitrug, die drinnen warteten. Die dritte Möglichkeit bestand darin, die Tür einzutreten und sich dann zurückzuziehen, bereit für das, was folgen würde … aber der Mann dort drin war ein Scharfschütze, und das Letzte, was Viktor wollte, war der Lärm eines Feuergefechts. 302
Auf der anderen Straßenseite lag ein weiter, leerer Hof mit Gebäuden, die Freddy der Klaue gehörten. Zwar waren viele der Leute dort drüben normale Büroangestellte, aber es würden zumindest ein paar Dutzend Fußsoldaten unter ihnen sein, die nicht zögern würden, sofort zu ihren Waffen zu greifen. Viktors Schlüssel blieben dunkel; es gab also keine Hex-Schilde, mit denen er fertig werden musste. Vielleicht war dem Scharfschützen der raffinierte Hex-Alarm unten ausreichend erschienen. Er hatte kein Zeit, noch länger nachzudenken, also setzte er sich in Bewegung. Sein Fuß traf die Tür direkt unter dem Griff und zertrümmerte das Schloss. Die Tür flog nach innen auf. Viktor sprang und legte gute drei Meter zurück, während der auf dem Bauch liegende Scharfschütze sich abrupt aufrichtete. Draußen auf der Straße waren die Tore zu dem Komplex aufgeschwungen, und etwas leuchtend Gelbes signalisierte einen äußerst merkwürdigen Anblick, der, wie Viktor sich später erinnern würde, den Scharfschützen ein paar zusätzliche Millisekunden abgelenkt hatte. Viktors Schwung bewahrte ihn jedoch vor der Notwendigkeit, den Anblick zu verarbeiten, und er holte mit dem Fuß weit aus und trat dem Scharfschützen in den Hintern: eine Bewegung, die vielleicht komisch aussah, dem Mann aber das Steißbein zertrümmerte und bewirkte, dass er sich nach hinten krümmte, ohne einen Ton herauszubringen, und in diesem Augenblick war Viktor über ihm. 303
Knee Drop aufs Rückgrat, ein Schlag mit dem Grauser-Kolben in den Nacken, dann schob Viktor den linken Unterarm unters Kinn des Scharfschützen, drückte mit dem rechten Ellbogen nach unten und wandte einen brutalen Sleeper Hold an. Der Mann verlor wahrscheinlich schon gleich zu Beginn des Würgegriffs das Bewusstsein, aber sicher war sicher – wenngleich die Gefahr bestand, dass er nie mehr aufwachen würde. Nach dreißig Sekunden löste Viktor den Griff und stand auf. Der Scharfschütze blieb reglos liegen. Während Viktor die Umgebung überprüfte, gestattete er es sich, für einen kurzen Moment in tiefe Trance zu fallen und nach einem wie auch immer gearteten Bann zu suchen. Wenn die verschiedenen Teile seines Bewusstseins nicht mehr miteinander synchronisiert waren, ließ das vielleicht darauf schließen, dass irgendein Hex die neuralen Muster in seinem Gehirn verzerrte und Halluzinationen hervorrief. Nichts. Das bedeutete mehreres: nicht nur, dass es hier keine verborgenen, raffinierten Sprengladungen gab, sondern auch, dass das Bild, das Viktor zuvor erblickt hatte, real gewesen war. Warum genau die Tore draußen aufgeschwungen waren, um zwei Zwerge auf einem kanariengelben Tandemfahrrad hinauszulassen, war unklar … aber genau an diesen Anblick erinnerte sich Viktor. Entweder zwei Zwerge, oder zwei Kinder mit falschen Barten. 304
Der Scharfschütze begann zu stöhnen und zu zittern. Gut. Währenddessen war Spike, der kleine Streuner, schon unterwegs. Er hielt sich im Schatten und huschte über eine von Scherben zerbrochener Flaschen gekrönte Mauer. Die scharfkantigen Glasscherben waren einzementiert, um Eindringlinge abzuschrecken; Spike umging sie mühelos. Dann kletterte der Kater auf einen schon seit langem toten Baum, der vor der Nacht wie eine Ansammlung gespreizter Knochen aussah, und lief über einen trockenen Ast, der zu einem Dach führte. Hoch oben segelte ein Giftadler unter mondbeschienenen Wolken dahin; aber Spike war sich der Gefahr bewusst. Binnen Sekunden hatte er sich unter einem rostigen Wassertank versteckt und wartete darauf, dass der fliegende Jäger wieder verschwand. Gelbliche Augen beobachteten ihn von der anderen Seite des Daches. Es war ein Parafuchs, kein Todeswolf, aber sein Blick war alles andere als freundlich. Noch während Spike allmählich begriff, in welcher Gefahr er sich befand, glühten auf einmal zwei Augenpaare scharlachrot auf, gefolgt von einem dritten und vierten. Verdutzt registrierte der Parafuchs das Erscheinen weiterer, diesmal langgliedriger und muskulöser Katzen. Gleich darauf hatte er sich mit einem Aufblitzen seines buschigen Schwanzes umgewandt und 305
war davongehuscht. Einen Augenblick später kam eine der Katzen, alt, grau, mit zerfetzten Ohren, zu dem Wassertank herüber, wo Spike kauerte. Die anderen Katzen hielten weiterhin Wache. Sie waren weit von vertrautem Gebiet entfernt. Der Kater beugte sich tief herunter und schaute zu Spike herein. Er war ein harter Bursche, aber Spike kam binnen Sekunden zu dem Schluss, dass er auch fair und vertrauenswürdig war. Spike erwiderte seinen Blick, und die beiden Katzen – der alte Kämpfer und das entschlossene Jungtier – schauten einander unverwandt in die Augen, während Informationen durch den verworrenen Kanal feliner Kommunikation wanderten, der durch die tiefste Geometrie der Raumzeit verläuft. Spike begann zu schnurren. Dann drehte sich der ältere Kater um und setzte sich in Bewegung. Immer schneller huschte er übers Dach. Es dauerte ein paar Sekunden, bis die anderen Katzen erkannten, was geschehen war; dann waren auch sie auf den Beinen und verschwanden in der Nacht, auf dem Weg zu ihrem Treffen mit Laura Steele. In ihrem Spind war ein zweites Ärztegewand deponiert. Mina nahm es heraus und zog es über ihre normalen Kleider. Das Gewand war sauber und roch gut. Sie strich mit dem Finger über ihren Instrumentenkoffer und verzichtete dann darauf: Das verdammte Ding war zu schwer, um es mehrere Stockwerke hinunterzuschleppen. 306
Mina besaß ein kleineres, mit einem Reißverschluss versehenes Reise-Instrumentenetui, das sie von Aldinov, ihrem alten Jugendfreund an der Uni, bekommen hatte. Je deutlicher Minas Erfolg und berufliche Aussichten seine in den Schatten stellten, desto mehr hatte Aldinov das Interesse an ihr verloren. Er oder vielmehr seine Eltern waren sehr wohlhabend gewesen, und ein nützliches, aber teures Geschenk wie die transportable Ausrüstung war eine gute Idee gewesen. Nach dem unerfreulichen Ende ihrer Beziehung hätte Mina die glänzenden Instrumente beinahe weggeworfen, statt mit einer Erinnerung an ihre Dummheit weiterzuleben. Am Ende hatte sie das Etui jedoch behalten und sich entschlossen, es nur im Notfall zu benutzen, wenn sie aus praktischen Gründen keinen umfassenden Instrumentensatz mit sich herumtragen wollte. Sie steckte das kleine Etui in die Tasche ihres Gewands, betrachtete sich in dem kleinen Spiegel, der innen an der Tür ihres Spinds angebracht war, und klappte die Tür dann zu. Sie ging hinaus, in den Autopsieraum 3, wo konkave Stahltische mit eingebauten Abläufen und antiseptischen Sprühvorrichtungen leer vor sich hinglänzten. Kein Fleck verunzierte den gefliesten Boden, kein Geruch hing in der Luft, der den ewigen Dunst von Desinfektionsmitteln in diesem kalten Raum durchdringen konnte. Vielleicht kondensierte Minas Atem zu einem Hauch von Dampf, als sie sich noch einmal 307
in dem Raum umschaute, der ihr so viel bedeutete, in dem sie lebendig wurde. Mina wusste genug, um bei diesen Gedanken spöttisch zu grinsen. Sie schüttelte den Kopf, durchquerte den Autopsieraum und ging durch die drei hintereinander angeordneten Türen hinaus. Sie schaute nicht zurück, als der stählerne Boden sich zu neigen begann und zur Honigwabe hinunterführte, wo Malfax Cortindos Leichnam wartete. Tief unter ihren Füßen ertönte ein dumpfes Grollen. Mina blieb stehen. „Was zum Thanatos …?“ Mina rührte sich nicht. Sie rechnete damit, dass noch etwas kommen würde. Aber nichts geschah. Es hatte sich wie ein ferner Zug angefühlt; doch unter dieser Einrichtung verliefen keine Tunnels. Wenn es sich um einen unberechenbaren Streich der Geologie und des Zufalls handelte, dann war das in Ordnung; aber Mina beschloss, die Sache zu melden. Umso mehr ein Grund, das, was sie tun musste, schnell, leise und heimlich zu tun. Unter ihrer dünnen, weißen Knochenlauscherhaut begann ihr Puls sichtbar zu schlagen. Im Gehen holte sie das Instrumentenetui hervor, öffnete den Reißverschluss und entnahm ihm ein langes, schmales Skalpell. Sie näherte sich der siebeneckigen Zelle, in der Cortindo lag, dann blieb sie stehen und warf einen Blick in beide Richtungen des stählernen Ganges. Sie spürte nichts als den klammen Schweiß, der ihren 308
schmalen Körper bedeckte. Ein weiteres Beben lief durch den Boden. Diesmal war sie sicher. Was immer hier vorging, es bedeutete Gefahr, und sie war das Ziel. „Leckt mich.“ All die Jahrzehnte der medizinischen Ausbildung, der politischen Spielchen mit den Mächtigen – und der intensiven Beschäftigung mit den beschwerlichsten Knochenlauscher-Disziplinen – fielen jetzt von ihr ab, und zurück blieb nur ihre angeborene Härte. „Leckt mich doch.“ Mina hämmerte mit der Faust gegen das kristalline Gewirre am Rand der Zelle und sah zu, wie der HexSchild aufleuchtete und dann allmählich verblasste. Inmitten dieses verlöschenden grellen Scheins wurde die reglose Gestalt zu einem toten Körper, der sich nicht von den vielen tausend anderen unterschied, die hier schon gelegen hatten. Nur dass diesmal jemand den Körper zurückhaben wollte. Jemand, der imstande war, in dieses Institut einzubrechen … aber dies war ihr Institut. Mina schnitt schonungslos in Malfax Cortindos leblosen Kopf. Als sie das Skalpell herauszog, war es klebrig von zähem, halb flüssigem Blut. Sie hatte keine Zeit mehr, die anderen Instrumente herauszuholen, aber das machte nichts; Mina hakte die Finger unter die Schnittränder der Kopfhaut und zog sie gewaltsam auseinander. Verzweifelt schob sie sich bis zu den Schultern in die Zelle, als draußen 309
eine Explosion durch den Korridor krachte. Metall riss auf, und sie wurde mit Staub und Lärm überschüttet. Ich höre dich. Der freigelegte Schädel der Leiche schmeckte blutig und salzig, als Mina die Zunge daranlegte. Cortindo, ich höre dich jetzt. Dann zog Mina den Kopf zurück. Sie tastete den Knochen mit leicht gespreizten Fingerspitzen ab und begann mit der Suche nach einem speziellen Lied inmitten der unvollständigen Muster, die in diesem … Hände schlossen sich um Minas Knöchel. „NEIN!“ Starke Hände, die sie von Cortindo wegzogen … „Nein …“ … und sie erschauerte, als der Kontakt unterbrochen wurde … „Bitte nicht …“ … als sie sie in die kalte, staubige Luft hinauszogen, die beiden kleinen Gestalten, die sie anstarrten, gewöhnliche, grobknochige Männer, höchstens einen Meter zwanzig groß, aber kräftig. In dem Moment, als Mina ihren steinernen Blick sah, wusste sie, dass die Regeln, die sie gebrochen hatte, und die Regeln, nach denen sie gelebt hatte, nichts mehr bedeuteten. Dies war der Tag, an dem ihr eigenes Leben enden würde. Einer der Zwergenmänner hob eine Axt, die von kohärenten Hex-Wellen schimmerte. Ihre Schneide 310
konnte den härtesten Stein, das härteste Metall durchtrennen. Biologisches Material stellte für sie nicht die geringste Herausforderung dar. Der Zwerg fletschte die Zähne; man konnte den Gesichtsausdruck nur bedingt als Lächeln bezeichnen. Konzentrier dich. Lass es noch einmal ablaufen. Mina schloss die Augen ganz fest und rief sich die Disziplinen ins Gedächtnis. Sie erinnerte sich an die Schmerzen. KonzenDas Universum wurde schwarz. Existierte nicht mehr. Die Leute vom Raub- und Heimsuchungsdezernat verstanden ihr Handwerk. Als Donal und Alexa eintrafen, hatten sie schon ihre Stellungen bezogen. Sie hatten zwei konzentrische Kreise von Beobachtungsposten um die illurianische Botschaft gelegt. Harald, dessen sanften Augen man allmählich die Erschöpfung ansah, führte Donal und Alexa durch die stillen Straßen. „Und die Limousine“, sagte Harald, während sie eine der schmalen Zufahrtsstraßen zum Heptagon überquerten. „Die RH-Jungs haben sie von einem Fälscherring requiriert.“ Alexa grinste. Donal betrachtete das Fahrzeug mit einem Seitenblick, ohne den Kopf zu drehen, falls ihr Verdächtiger oder einer seiner Komplizen ebenfalls die Umgebung überwachte. In einer solchen Gegend, wo die imposanten alten 311
Häuser Diplomaten, Botschaften und hin und wieder einer reichen alten tristopolitanischen Familie gehörten, wäre ein normales Observierungsfahrzeug – der Lieferwagen einer Bäckerei zum Beispiel – viel zu sehr aufgefallen. Aber die Limousine mit den dunklen Fenstern war genau das Richtige. „Wer sitzt drin?“, fragte Donal. „Ein Bursche namens Ralfinko, den ich nur flüchtig kenne“, sagte Harald, „und ein älterer Sergeant, der aussieht, als ließe er sich kein X für ein U vormachen.“ „Gut.“ Alexa berührte Harald am Arm. „Du musst dich ein bisschen ausruhen.“ „Nein.“ „Ähm … Ich weiß, wir haben uns gerade erst kennengelernt“, sagte Donal, „aber ich finde, sie hat recht, alter Freund.“ „Red keinen Scheiß.“ Haralds Ton war so sanft wie immer. „Na schön. Mein alter Sergeant hat immer gesagt, nur deine Kameraden können dir sagen, wann du Mist baust.“ Sie standen unter einer Laterne. Harald wühlte in seiner Tasche und förderte eine kleine Schachtel mit Essen zutage. Er klappte den Deckel auf und hielt ihnen die offene Schachtel hin. „Hunger?“ „Mmh … nein, danke“, murmelte Donal. In der Schachtel lagen geschichtete Blütenblätter. Orange und dunkelstes Purpurrot waren die vorherrschenden Farbtöne. „Ich versteh nicht, wie du dieses Zeug essen kannst.“ 312
„Er isst gar nichts anderes“, sagte Alexa. „Wir nennen ihn Harald den Sanftmütigen’.“ „So, so.“ Donal sah Harald an, der an einem Blütenblatt knabberte. „Und welcher Sergeant war das, von dem du gesprochen hast?“ „Oh, wir haben ihn immer Bastard Balrooney genannt.“ „Und das war bei …?“ Harald sah erst Alexa, dann Donal an und setzte ein friedliches Lächeln auf. „Bei den Kampferprobten Siebenern.“ Donal hatte während seiner Zeit beim Militär nur selten etwas mit den Männern von der 777sten zu tun gehabt, aber diese wenigen waren stets dem Ruf ihrer Brigade gerecht geworden, die weithin als ,die verfluchten Kommandos’ bekannt war. Er hatte einmal gesehen, wie ein einäugiger alter Sergeant der 777sten sechs Militärpolizisten erledigte, bevor er zu Fuß in die Kaserne zurückkehrte und sich stellte. „Harald der Sanftmütige“, sagte Donal. Harald lächelte erneut. „Und was machen wir nun?“, fragte Alexa. „Das Übliche.“ Harald schloss seine Schachtel und steckte sie wieder ein. „Wir suchen uns den bequemsten Wachposten und warten.“ So war das nun mal. Observierung besteht größtenteils aus Beobachtung und verhaltenem Harndrang. Die größten Herausforderungen sind Langeweile und die Neigung, einzudösen. 313
Irgendwo hinter ihnen wurde ein Motor angelassen und auf Touren gebracht. „Hast du gerade was von Warten gesagt?“, murmelte Donal. „Manchmal irre ich mich auch“, erwiderte Harald. Ein dunkler Wagen bog in die Straße ein. Seine Scheinwerfer waren von einem glänzenden, bösartigen Grün. Dann beschleunigte der Fahrer stark, und der Wagen raste an ihnen vorbei. Erschrocken flog eine reptilienartige Gekkofledermaus von einem Steinbaum auf und flatterte in den dunklen, konturlosen Himmel. „Scheiße“, sagte Alexa. Der Motor der Limousine am Randstein startete, und die Beifahrertür schwang auf. „Wollt ihr mit?“ Der Sprecher hatte graue Haare und ein kantiges Kinn: der Sergeant, von dem Harald gesprochen hatte. „Schnell, springt rein.“ Die Limousine stand falsch herum, aber der Fahrer wendete in engem Bogen und hielt neben Donal und Alexa. Donal zog die Tür auf, stieß Alexa hinein und folgte ihr dann. „Fahrt los“, sagte Harald. „Ich hole euch schon ein.“ „Okay.“ Donal zog die Tür zu, nachdem der Sergeant die vordere Beifahrertür ebenfalls geschlossen hatte, und die Beschleunigung warf ihn in den Sitz zurück. „Passen Sie auf, dass er Sie nicht sieht“, sagte er leise zum Fahrer. Wie war noch gleich sein Name? „Äh, Sie sind Ralfinko, stimmt’s?“ 314
„Ja, und Sie wohl ein Witzbold. Der Mistkerl ist schon außer Sichtweite.“ Mit quietschenden Reifen bog Ralfinko nach links ab und drückte das Gaspedal durch. An der Ecke Silvan Avenue und Fünfhunderterste Straße erhob sich ein blutroter, schroffer Wolkenkratzer, der wegen seiner verqueren Architektur, der schwarzen, ovalen, wie Augenreihen aussehenden Fenster und der seltsamen Besucher, die durch seine Türen gingen, lokale Berühmtheit erlangt hatte. Auf einem Fenstersims im dreizehnten Stock, in der Nähe der Stelle, wo ein nekrotonisches Kabel in der Mauer verschwand, hockte eine graue Katze. Ihr scharlachroter Blick folgte dem Botschaftswagen, der unten vorbeiraste, gefolgt von einer dunklen Limousine, dann von einem weiteren, kleinen Wagen und schließlich von einem knochenfarbenen Motorrad, das die Nachhut bildete, aber stark beschleunigte. Die Katze blinzelte. Kurz darauf sprang sie leichtfüßig auf das hängende Kabel, ohne einen Gedanken an den möglichen, tödlichen Absturz zu verschwenden, und ging zum nächsten Dach. Sie kümmerte sich nicht weiter um die Verfolgungsjagd, die sich unten entwickelte. Zwei andere Katzen hatten die Botschaft weitergegeben, seit der zähe alte Kater, Dilven, sie von dem jungen Spike erhalten hatte; es waren die Vorgänge im Hafen, die Laura Steele interessieren würden. 315
Darksan Tower, wo sie auf Nachrichten wartete, stand stolz vor dem rot geränderten, frühmorgendlichen Himmel. Viktor drückte mit den Daumen zu, und der Scharfschütze stieß einen erstickten Schrei aus – mehr erlaubten seine gelähmten Stimmbänder nicht. In diesem Stadium wusste der Scharfschütze nicht einmal, auf welche Informationen Viktor aus war. Er sollte nur begreifen, dass Viktor bereit war, ihm Schmerzen zuzufügen. Bereit und fähig. „Eine kleine Frau.“ Viktors Stimme war tief und kehlig; sie sollte die Angst verstärken. „Mit grünen Augen. Hast du sie gesehen?“ „Nein …“ Der Scharfschütze konnte nur leise krächzen. „Hab ich nicht …“ Viktor drückte erneut fest zu, und der Rücken des Scharfschützen wölbte sich vom Boden hoch, aber seine Arme und Beine blieben hilflos liegen. Viktor hatte zuerst die Schultern und Hüften bearbeitet, und diese Gelenke mussten inzwischen vor Schmerzen brennen. „Habt ihr eine Gefangene?“ „Ich … ja!“ Ein Finger zuckte: die einzige Abwehrgeste, zu der der Scharfschütze fähig war. „Da drüben … Freddy. Hat je …mand.“ Viktor schaute zum Fenster. „Auf dem Gelände? Freddy die Klaue ist da drin?“ Der Scharfschütze nickte mit aufgerissenen Augen. 316
„Mit einer Gefangenen?“ Viktors Kiefermuskeln arbeiteten. „Rede schon.“ „Hat sie … hergebracht. Heute Nacht.“ „Ihr Name. Wie …?“ Aber der Scharfschützte schüttelte bereits den Kopf. Wenn er gewusst hätte, wie sie hieß, hätte er es gesagt, davon war Viktor überzeugt. „Welches Gebäude?“ „Block … drei.“ Viktor wusste nicht, welches Gebäude das war, aber er hatte nicht die Absicht, danach zu fragen. Um seine Dominanz zu bewahren, musste er den Eindruck erwecken, als wüsste er schon so gut wie alles. „Was kannst du mir sonst noch sagen?“ Der Scharfschütze schüttelte den Kopf. Viktor schaute auf ihn hinab. Als der Scharfschütze wieder zu sich gekommen war, hatten Furcht und Verwirrung die Verteidigungsmechanismen seines Bewusstseins durchbrochen, und geschlossene Fragen hatten Antworten erbracht … aber nun waren Viktor die Details ausgegangen, nach denen er fragen konnte. „Nächstes Mal“, sagte Viktor, „suchst du dir deinen Arbeitgeber sorgfältiger aus.“ „Nein, du …“ Viktors Faust sauste herab. Danach durchsuchte Viktor nur für den Fall, dass ihm bei der ersten Durchsuchung etwas entgangen war, sorgfältig die Taschen des Bewusstlosen und brachte schließlich einen kleinen ID-Streifen aus 317
Messing zum Vorschein. Er trug das DrachenflügelLogo von CalTransPort, der Dachgesellschaft der fast legalen Import-Export-Gruppe von Freddy der Klaue. Angaben zur Person fehlten jedoch. Einen Moment lang erwog Viktor, dem Scharfschützen die gepanzerte Hexlar-Weste auszuziehen und sich mit dem Gewehr in der Hand für ihn auszugeben. Aber er konnte nicht wissen, ob die Wachposten unten den Scharfschützen vom Sehen oder sogar mit Namen kannten. Vielleicht war Viktor aber auch seiner eigenen Lederjacke so liebevoll zugetan, dass er sie nicht in dieser verwanzten Bude lassen wollte. Kopfschüttelnd hob er das Gewehr des bewusstlosen Scharfschützen auf, prüfte die Balance und warf das Magazin aus. Es enthielt einen Ladestreifen mit fünf langen, schlanken Patronen. Falls der Scharfschütze einen zusätzlichen Ladestreifen besaß, musste er ihn irgendwo versteckt haben; und er war jetzt nicht in der Lage, diese Information preiszugeben. Viktor steckte den Ladestreifen in seine Jackentasche. Dann untersuchte er den Scharfschützen noch einmal – der Mann würde am Leben bleiben, vorausgesetzt, jemand fand ihn in den nächsten paar Stunden – und verließ den kahlen Raum. Auf dem Treppenabsatz und im Rest des verfallenen Gebäudes schien die Luft rein zu sein, und er ging die alten Stufen schnell, aber beinahe lautlos hinunter. Im Erdgeschoss stieg er über Glasscherben auf 318
dem Boden hinweg, bückte sich unter die Treppe und tastete herum, bis er ein passendes Versteck fand. Er schob das Gewehr in die Lücke zwischen einer Stufe und einem zerbrochenen Regal. So. Gut. Das Gewehr war zu auffällig, als dass er es in den Komplex mitnehmen konnte, aber falls er sich zurückziehen musste, war dies ein guter Platz, um sich eine Waffe mit großer Reichweite zu schnappen. Mit fünf Schüssen konnte er ein oder zwei Verfolger erledigen, vielleicht auch mehr. Viktor wog den ID-Streifen in der linken Hand, verließ das Haus und zog die Tür hinter sich zu. Wenn jemand damit rechnete, dass die Tür verhext war, aber keinen Detektor besaß, würde alles so aussehen wie zuvor. Falls er doch einen Detektor hatte, würde er merken, dass die Schutzvorrichtungen durchbrochen worden waren, aber dagegen konnte Viktor nichts tun. In der verfallenen Gasse hinter dem Haus hielt Viktor inne und ließ den Blick über die Straße und die schwarzen Löcher der leeren Fensterhöhlen in anderen Gebäuden schweifen. Dann holte er tief Luft, hielt sie an und stieß sie wieder aus. Viktor trat auf die offene Straße hinaus und ging mit lässigen, selbstbewussten Schritten aufs Haupttor zu. Sein Gang wirkte völlig ungezwungen. Im Innern kribbelten seine Nerven. Adrenalin sprenkelte seine Haut, während sich die feinen Härchen hinten auf seinen Schultern aufstellten. Jemand hinter dem Maschendrahtzaun schwenkte 319
den Lichtstrahl einer Taschenlampe in Viktors Richtung.
320
SECHZEHN Sie rasten durch die Straßen. Zweimal war der Verfolgte bereits in hohem Tempo über rote Ampeln gebraust. „Das gefällt mir nicht“, sagte Alexa leise. Sie saß links neben Donal. „Ralfinko weiß, was er tut“, sagte der Sergeant von vorn. „Ja.“ Donal schenkte ihm ein Grinsen, das nur eine halbe Sekunde dauerte. „Das sehen wir. Aber warum fährt die Zielperson so schnell?“ „Weil sie’s kann“, sagte Ralfinko. „Sieht so aus, als hätte der Kerl diplomatische Fahnen gehisst.“ „Oder …“ Donal hielt inne, als das Funkgerät unter dem Armaturenbrett losquäkte. Der Sergeant nahm das Mikro aus der Halterung. „Wagen Null-Sieben-Neun. Was ist?“ „Ist Lieutenant Riordan bei Ihnen?“ „Ja, ist er.“ „Geben Sie ihn mir bitte mal?“ „Ähm, klar.“ Donal beugte sich vor, während der Sergeant das Mikro nach hinten reichte. Das Spiralkabel reichte knapp über die Lehne des Beifahrersitzes. Donal drückte auf die Sendetaste und meldete sich. „Riordan.“ „Sir, Knochenlauscherin Carryn meinte, wir soll321
ten Ihnen das mitteilen, jemand ist ins LLI eingebrochen.“ „Was?“, entfuhr es dem Sergeant, während Ralfinko murmelte: „Unmöglich.“ „Bisher sind vier Todesopfer gemeldet, Sir, darunter auch Dr. d’Alkarny.“ „Wie war das?“ Donal warf Alexa einen Blick zu. „Haben Sie Wilhelmina d’Alkarny gesagt?“ „Korrekt. Bisher unbestätigten Meldungen zufolge wurde ein grüner Van gesichtet, der die nähere Umgebung verließ, möglicherweise mit Diebesgut an Bord.“ „Diebesgut? Aus der Leichenhalle?“ „Ich soll Ihnen von Knochenlauscherin Carryn ausrichten, Sir, dass der fehlende Körper Direktor Cortindo gehörte.“ „Verdammt“, sagte Donal leise, während das Mikro noch auf Empfang geschaltet war. Er klickte auf Senden. „Können Sie Verbindung zu Commander Steele aufnehmen?“ „Leider nein, Sir. Wir haben es schon versucht.“ Draußen vor dem Fenster zogen die Häuser vorbei. Dann blieb Blood Alley unter ihnen zurück, als der Wagen die steile Auffahrt zur zehnspurigen Hochstraße erklomm. Donal stellte fest, dass Ralfinko das Gaspedal bis zum Fußboden durchgetreten hatte, sodass der Motor aufheulte. „Was ist los?“ „Da vorn ist euer Mann aus der Botschaft.“ „Ja, aber …“ 322
„Und er fährt neben einem grünen Van her.“ Donal starrte Ralfinko einen Moment lang an, dann drückte er auf die Sendetaste. „Zentrale, haben Sie eine genauere Beschreibung des grünen Vans? Von dem Vorfall beim LLI?“ „Negativ, Sir.“ „Mist.“ Alexa sagte: „Wir müssen uns mit unseren anderen Wagen koordinieren. Können wir auf der Hochstraße eine Sperre errichten?“ Der Verkehr war spärlich, aber schnell. Es gab nur noch eine Ausfahrt vor der riesigen Kreuzung in dem dreihundert Meter hohen Totenschädel, in dessen Mund sie hineinfahren würden. „Zentrale“, sagte Donal. „Bereithalten für Rundruf an alle Streifen. Sind gerade irgendwelche Wagen in der Nähe, die Ausfahrt Siebenundvierzig-Nord abriegeln können? Wir brauchen eine Straßensperre.“ „Sir.“ Ein lautes Knistern, dann: „Schon erledigt. Zwei Wagen sind unterwegs.“ Der Freeway beschrieb eine Kurve und legte sich dabei ein wenig schräg, und Donal erhaschte für eine Sekunde einen Blick auf die weiß und purpurrot blinkenden Kennleuchten vor und unter ihnen, als die Wagen die Ausfahrt am unteren Ende sperrten. „Gute Arbeit, Zentrale. Wir haben möglicherweise den grünen Van gesichtet. Er hat sich unserem eigenen Verdächtigen angeschlossen.“ „Ich geb’s weiter.“ Vor ihnen blinkte es rot und weiß aus dem Inneren 323
der leeren rechten Augenhöhle des riesigen Schädels. Weitere Streifenwagen in Position. Auf der Straße, der Ralfinko folgte, waren jedoch keine Hindernisse in Sicht. Der grüne Van und die Limousine der illurianischen Botschaft beschleunigten noch mehr und vergrößerten den Abstand zu ihren Verfolgern. Dann raste ein langes, niedriges, knochenweißes Motorrad auf der ganz linken Spur vorbei, als stünden die Wagen still. Ralfinko zuckte zusammen. „Was zum Thanatos …?“ „Das wird Harald sein“, sagte Alexa. Am Rand des Hafenkomplexes fuhr ein niedriger Wagen mit dunklen Heckflossen langsam an den Maschendrahtzaun heran. Es war eine Vixen der Spitzenklasse, und noch mehr: Das Fahrzeug schien mit den Achseln zu zucken, als es nah an den Zaun heranfuhr. Silbrige Wellen liefen über den Zaun und verblassten dann, als die Tür der Vixen aufschwang. Laura stieg aus und trat auf den rissigen Asphalt. „Er ist verhext, Schwester“, sagte sie leise. „Kannst du was dagegen unternehmen?“ Ein Lichtschimmer glomm in den Scheinwerfern auf. Der Wagen rollte vorwärts, schob sich näher an den Zaun heran, bis die Beifahrerseite den Draht berührte. Weitere silberne Pulsschläge liefen über den Zaun und beschrieben dabei einen Abwärtsbogen, als würden sie von der Schwerkraft herabgezogen. Bald gab es unmittelbar über der Vixen einen dunklen Be324
reich im Zaun: Der Wagen leitete den Hex-Strom durch sein Chassis. „Ist die Kühlerhaube sicher?“ Lauras hochhackige Schuhe verwandelten sich in Kampfstiefel, und sie stieg trotz ihres Kostüms auf die Kühlerhaube. „Hübsche Nummer, Schwester.“ Laura überprüfte die Pistole in dem Halfter an ihrem Kreuz, schlang sich die Handtasche diagonal über eine Schulter und sprang leichtfüßig von der Kühlerhaube zum Zaun. Sie landete wie eine Katze, die nach oben klettern will, und fand mit Händen und Füßen Halt in den Maschen. Oben auf dem Zaun wand und verschlang sich Bandstacheldraht. Doch als Laura sich dem obersten Bereich des Maschengewebes näherte, war sie bereits vollauf konzentriert und machte sich bereit. Sobald der Stacheldraht in Reichweite war, griff sie mit beiden Händen gleichzeitig zu. Der Draht bäumte sich auf und schlug hin und her, dann erschlaffte der Abschnitt zwischen ihren Händen. Kurz darauf kletterte Laura über den Zaun und stieg auf der anderen Seite hinunter. So was hätte ich nicht machen können, als ich noch lebendig war. Als sie den Erdboden erreichte, regte sich der Stacheldraht wieder, wenn auch nur schwach. „Wenn ich nicht zurückkomme …“ Die Vixen blinkte mit den Scheinwerfern. „Mir passiert schon nichts.“ Laura öffnete ihre Handtasche und überprüfte die größere Pistole darin: 325
eine 35er Grauser. Ein kleineres Kaliber als Viktors Waffe, aber sie konnte damit trotzdem jeden Angreifer zum Stehen bringen. „Mach dir nicht so viele Sorgen.“ Im Innern der Vixen bewegte sich eine kleine, pelzige Gestalt und rollte sich dann zu einer Kugel zusammen. Spike schloss die Augen, und seine Schnurrhaare spreizten sich, als er in Schlaf sank. Er hatte getan, was er konnte, hatte die Nachricht ins Netz weitergeleitet und den Menschen – Viktor – dabei beobachtet, wie er auf das Gelände vorgedrungen war. Er hatte Laura erzählt, welches Gebäude Viktor betreten hatte. Alles Weitere lag nun bei ihr. Die Luft im Wagen war warm und beruhigend. Binnen Sekunden atmete Spike leise, und seine Pfoten zuckten, als er von der Jagd träumte, bevor er sich wieder entspannte. Doch der Wagen selbst hielt weiter Wache und verfolgte Laura, so lange es ging, bis sie zwischen Palettenstapel schlüpfte und aus dem Blickfeld entschwand. Sie hatten die Abfahrt gesperrt, sodass dem grünen Van und der Limousine nichts anderes übrig blieb, als auf der Hochstraße zu bleiben. Niemand hatte daran gedacht, die nächste Auffahrt zu blockieren, selbst wenn Wagen verfügbar gewesen wären, aber sobald Donal den zweiten großen Lastwagen sah, wusste er, dass sie ein Problem hatten. Es waren sechs, die in enorm hohem Tempo zur Hochstraße herauffuhren, obwohl sie riesige Anhän326
ger hinter sich herzogen. Die Anhänger mussten leer sein. „Geben Sie Gas“, sagte Donal zu Ralfinko. „Wir müssen an diesen verdammten LKWs vorbei.“ „Ich sehe sie, aber das schaffen wir nicht“, murmelte Ralfinko. „Nicht bevor – Scheiße.“ Die ersten drei LKWs fuhren bereits nebeneinander auf den linken Spuren und begannen zu bremsen. Harald auf seinem Motorrad war unmittelbar hinter ihnen; und dann war er auf gleicher Höhe mit ihren Heckklappen. Als Harald gerade Gas geben und in die Lücke zwischen zwei Lastern vorstoßen wollte, verringerten sie den Abstand, bis sie gefährlich nahe beieinander waren, und versperrten ihm so den Weg. Harald fiel zurück. Zwei weitere Laster nahmen ihre Position auf den restlichen Fahrspuren ein, sodass sie nun die ganze Straße blockierten. Der sechste diente als Reserve; er hängte sich an einen der anderen, während die ganze Formation bremste. „Verdammt.“ Der Sergeant sprach ins Mikro und schilderte der Zentrale die Lage. Alexa sah zu, wie Donal seine Magnus zog und sie überprüfte, bevor er sie wieder ins Halfter steckte. Sie biss sich auf die Lippe. „Was ist?“, fragte Donal. „Die sind gut organisiert.“ Alexa schaute nach vorn. „Bis jetzt. Was mögen sie noch so alles in petto haben?“ 327
Der Sergeant legte das Mikro weg. „Wir haben sämtliche Fahrbahnen auf der anderen Seite des Schädels gesperrt. Wenn sie erst mal drin sind, kommen sie nicht mehr raus.“ In diesem Moment sah Donal etwas: einen Schatten hoch oben am Himmel. „Ich glaube nicht“, sagte er, „dass sie vorhaben, auf irgendeiner Straße zu verschwinden.“ „Das soll wohl …“ „Schaut euch Harald an“, fiel Alexa dem Sergeant ins Wort. Das Motorrad schoss durch die schmale Lücke nach vorn, und dann war Harald an den LKWs vorbei und beschleunigte vor ihnen. Hinter den Lastern bremsten Personenwagen und fuhren auf den Standstreifen; vor ihnen fuhr ein Wagen zu langsam, während die anderen drei Fahrer, die Donal sehen konnte, nach einem Blick in den Rückspiegel Gas gaben und sich weiter von den immer langsamer werdenden Lastern entfernten, die die Hochstraße blockierten. Ein Laster stieß den langsamen Wagen von hinten an und riss den Fahrer aus seiner Lethargie. Er geriet in Panik, scherte aus und machte einen Schlenker über zwei Fahrspuren, bevor er sein Fahrzeug wieder unter Kontrolle bekam und das Gaspedal durchtrat. Weit vor ihm waren ein grüner Van, eine dunkle Limousine und die knochenweiße Phantasm, die rasch zu ihnen aufschloss. Dann erhellte eine Abfolge weißer Blitze die Dunkelheit. 328
„Verdammt, worauf schießt Harald da?“ Donal beugte sich vor und versuchte zu erkennen, was dort geschah. „Frag nicht“, sagte Alexa. „Ist bestimmt vorschriftsmäßig.“ Ralfinko schnaubte. „Klar“, sagte er. „Hat jemand eine Idee, wie ich an diesen Kerlen vorbeikomme?“ Die Laster waren fast zum Stehen gekommen, Personenwagen hatten bereits angehalten. Der Sergeant drehte sich zu Donal um; beide Männer nickten und kurbelten die Fenster auf ihrer Seite herunter. Ralfinkos Gesicht wurde maskenartig vor Konzentration, als er dicht an die Heckklappen der LKWs heranfuhr und den Wagen ruhig hielt. Donal und der Sergeant feuerten gemeinsam, aber sie brauchten ein ganzes Magazin, um den Hinterreifen wegzuschießen; doch als sie es schafften, war das Ergebnis spektakulär. Ralfinko zog den Wagen hart nach links, als der Laster ausschwenkte und erst gegen den benachbarten LKW auf der einen, dann auf der anderen Seite prallte; sein Schleudern löste eine Pendelbewegung aus. Dann riss Ralfinko die Handbremse nach oben und rammte die Ferse ins Bremspedal, sodass der Wagen seitwärts schlitterte und langsamer wurde, während die kollidierenden LKWs voneinander abprallten. Der Zusammenstoß entwickelte sich zur Katastrophe, als er vier der sechs Laster erfasste; der fünfte schwankte und kippte um, und nur der sechste bremste, während die anderen ineinanderkrachten und 329
über die Fahrspuren ausschwenkten; einer durchbrach die Trennwand in der Mitte und geriet auf die Gegenfahrbahn. Flammen schlugen aus einem Lastwagen, der auf der Seite lag. Dann stand der Wagen still. „Kommen Sie da durch?“ Donal zeigte auf einen Weg durch die Trümmer. „Dort vielleicht.“ „Verstehe.“ Ralfinko brachte den Motor wieder auf Touren. „Sind Sie sicher, dass Sie nicht anhalten wollen?“ „Seien Sie vorsichtig.“ Donal hatte seine Magnus bereits nachgeladen. Alexa schwieg, aber ihre Lippen wurden schmal: Sie wusste, dass Ralfinko daran gedacht hatte, den in der Falle sitzenden Lastwagenfahrern zu helfen. Donal und den Sergeant hatte jedoch das Jagdfieber gepackt. Von Haralds Motorrad vor ihnen blitzte weiteres weißes Mündungsfeuer auf, und die dunkle Limousine brach aus, korrigierte dann jedoch ihren Kurs. Sie waren keine Minute mehr von der orange beleuchteten Mundöffnung des riesigen Totenschädels entfernt, und die Verfolgungsjagd spitzte sich zu. Donal beugte sich aus dem offenen Fenster, die Augen gegen den Fahrtwind zusammengekniffen, und starrte in den Himmel hinauf. Nichts. Offenbar hatte er sich nur eingebildet, dass … Dort. „Scheiße.“ Er zog den Kopf wieder ein. „Es ist groß, vielleicht eine Pterafledermaus.“ 330
„Was zum Tod führen die im Schilde?“, fragte der Sergeant. „Ich weiß es nicht“, sagte Donal. „Aber wir sollten dafür sorgen, dass nichts draus wird.“ Der Segeant nahm wieder das Mikro zur Hand und befahl der Zentrale, Luftunterstützung zu organisieren, wenn irgend möglich, aber es ging alles sehr schnell: Jeder wusste, dass sie keine Zeit mehr hatten. Vor ihnen blitzte es erneut weiß auf, und diesmal kreischte die dunkle Limousine über die linke Spur und prallte von der zentralen Trennwand ab. Sie schwenkte wieder ein, und Donal glaubte einen Moment lang, der Fahrer hätte sie unter Kontrolle; aber dann wackelte die Limousine, Harald schoss noch zweimal, und die Hinterreifen platzten. Die Limousine brach weit aus und geriet ins Schleudern. Sie steuerte auf das harte Bankett zu und prallte gegen die Balustrade. Beton explodierte, und die Limousine durchstieß die Balustrade und segelte durch die Luft. Donal schloss die Augen und horchte auf den Aufprall, hörte jedoch nichts, weil der Lärm des Motors, das Tosen des Fahrtwinds und die schockierten Stimmen von Alexa und Ralfinko alles übertönten. „Unmöglich!“ „Was für ein …?“ „Das war eine Molyskarab-Panzerung“, erklärte ihnen der Sergeant. „Die Karosserie der Limousine. Dieses Zeug hab ich schon mal gesehen. Durchbricht alles.“ 331
Harald hielt an dem Loch in der Balustrade und schaute hinunter. Vor ihnen fuhr der grüne Van, der im Licht der orangefarbenen Natriumdampflampen schwarz aussah, durch die Mundöffnung des riesigen Totenschädels in den Tunnel hinein. „Sie wollen doch nicht behaupten, dass die Limousine diesen Absturz überstanden hat?“ Alexa schaute zu dem Loch in der Balustrade zurück. „Die Karosserie vielleicht schon“, sagte der Sergeant. „Aber mit den Rädern und Achsen ist das was anderes, und der Fahrer ist wahrscheinlich ein bisschen zermatscht von …“ „Mehr ist nicht drin.“ Ralfinko stand auf dem Gaspedal. „Sonst haben wir gleich ein Loch im Boden.“ „Treffend formuliert“, sagte Donal leise und entsicherte seine Magnus. Obwohl er den Finger außerhalb des Abzugsbügels ließ, konnte ein plötzlicher Ruck eine ungewollte Entladung auslösen. „Achtung!“ Ralfinko beschrieb mit dem Wagen einen Bogen über den Asphalt, dass die Reifen qualmten; blaugrauer Rauch stieg von den Radkästen auf, dann stand der Wagen still, quer über eine Spur. Der grüne Van stand ebenfalls, und all seine Türen waren offen. Oben auf dem Sicherheitsweg für Fußgänger schlug die Metalltür eines Notausgangs zu. Donal war als Erster draußen. Im Laufen zog er seine Waffe. Hundert Meter weiter vorn im Tunnel blieb ein beleibter Mann, der seinen Wagen verlassen hatte, 332
um nachzuschauen, was dort hinten vorging, so ruckartig stehen, dass seine Hängebacken wackelten, tauchte dann wieder hinter das Lenkrad und zog die Tür zu. Ein paar Meter weiter war eine Steintreppe. Da es auf Sekunden ankam, benutzte Donal die Kühlerhaube des stehen gelassenen Vans als Sprungbrett, packte mit einer Hand das eiserne Geländer, setzte drüber hinweg und landete geduckt auf dem Beton des Gehwegs. Der Weg diente dazu, den Tunnel im Notfall zu evakuieren, und das hieß, dass die Treppe hinter der Metalltür nach unten führte, damit man sich in Sicherheit bringen konnte, aber auch nach oben zu den höher gelegenen Tunnels. Zu den Hochstraßen, die durch die leeren Augenhöhlen des riesigen Totenschädels mehr als hundert Meter über ihm verliefen. Hinter Donal rief Ralfinko: „Der Van ist leer. Liegt nur ein gelbes Tandemrad drin.“ „Ein was?“ „Ein Fahrrad für zwei. Verstehen Sie?“ „Mist.“ Wenn die Verdächtigen Cortindos Leichnam dabei hatten, würden sie nicht so schnell vorankommen. Donal stieß die Metalltür mit dem Fuß auf und wich dann geduckt zurück. Das Licht im Treppenhaus war ein mattes Bernsteingelb, das dunkle Schatten zurückdrängte: die übliche Notbeleuchtung. An der Wand war ein roter Alarmknopf. Donal rammte den Kolben seiner Magnus dagegen. „Hey!“ 333
Ein künstlicher Regenschauer prasselte im Innern des Straßentunnels herab, als die Sprinkler – tatsächlich waren es Hochdruckdüsen – in Aktion traten. Purpurrote Lichter blinkten. Noch wichtiger: Das Innere des Treppenhauses wurde von magnesiumweißem Licht erhellt. Donal trat geduckt in die Tür und wich erneut zurück. „Welche Richtung?“, rief Alexa mit gedämpfter Stimme. „Rauf oder runter?“ Donal schüttelte den Kopf. Vielleicht lagen sie schon mit gezückten Waffen auf der Lauer, aber er hatte keine Pistolenläufe bemerkt, und bisher hatte niemand geschossen. Er war zu neunzig Prozent sicher, dass er zuvor vom Wagen aus eine Pterafledermaus gesehen hatte. Das wäre ein mörderisch teures Ablenkungsmanöver. Donal zeigte nach oben. Der Sergeant deutete nach unten zum Erdboden, und Donal nickte. Für den Fall des Falles war es am besten, wenn auch einer diese Richtung einschlug. Bereit … Donal trat geduckt ins Treppenhaus. Keine Schüsse. Ach, Thanatos. Mit erhobener Waffe trat Donal auf die erste Stufe und stürmte nach oben. Viktor kauerte im sechsten Stock des Büroblocks, in den er eingedrungen war, und lauschte den leisen 334
Stimmen hinter einer geschlossenen Doppeltür. Auf einem Messingschild stand Sitzungssaal’, aber das leise Stöhnen, das aus dem Innern drang, ließ darauf schließen, dass dies keine normale Sitzung war. Um drei Uhr morgens war das eine feststehende Tatsache. In das Gebäude zu gelangen, war zugleich schwieriger und einfacher gewesen als erwartet. Von draußen hatte es den Anschein gehabt, als wären die Türen völlig unbewacht, ohne Schlösser und Wächter. Aber kaum hatte er die Außentür aufgezogen, änderte sich alles. Als Erstes hatte Viktor die kleine Kugel gesehen, die in der ersten Ecke knapp unter der Decke schwebte. Dann erkannte er, dass an jedem Engpass Schwebaugen hingen. Auf solche Dinge war Viktor jedoch vorbereitet. Er zog sein großes Taschentuch heraus, betrachtete es prüfend – schnitt eine Grimasse – und band es sich dann um die untere Gesichtshälfte. Aus der Innentasche seiner Lederjacke zog er zwei kleine graue Glaskolben mit Zerstäubern und holte ein paar Mal tief Luft. Zuerst sprühte er ein bisschen Augenschlafnebel in den Gang und ließ ihn treiben, damit die Aufmerksamkeit der schwebenden Augäpfel nachließ. Dann ging er hinein und besprühte das erste Schwebauge direkt. Eine Nickhaut glitt über die glänzende Kugel, und das Auge schlief ein und träumte. 335
Viktor hatte weitergesprüht, während er tiefer ins Gebäude vordrang. Bei einer halbhohen Glaswand hatte er in ein Großraumbüro gespäht, wo sich ein paar müde aussehende Angestellte über Stapel von Rechnungen und Frachtbriefen beugten und die legalen Geschäfte der Firma von Freddy der Klaue betrieben. In einem inneren Treppenhaus war Viktor an einer Reihe unbeleuchteter Stockwerke vorbei nach oben gestiegen, bis er schließlich die sechste Etage erreicht hatte. Jetzt kauerte er draußen vor der Tür. Aus dem Sitzungssaal kam ein weiteres Stöhnen. Sushana! Er war sicher. Viktor betrachtete die Tür. Sie hatte einen langen Türgriff aus Messing, keinen Knauf. Gut. Er kreuzte die Arme und zog beide Grauser aus den Schulterhalftern. Dann ging er in die Hocke und drückte mit dem linken Ellbogen langsam auf den Türgriff. Er bewegte sich. Dann ging alles sehr schnell. Durch die Tür, diagonal über die rechte Schulter abgerollt, und er kam mit den Pistolen im Anschlag hoch. Sieben, nein, acht Männer griffen bereits nach ihren Waffen. Eine massigere Gestalt in einem perlgrauen Anzug stand am anderen Ende des Raumes; und die blutüberströmte Sushana saß gefesselt auf einem Stuhl; ihre Kleider waren zerrissen, zwei ihrer Finger verdreht und in Übelkeit erregendem Winkel nach hinten gebogen. 336
Viktor eröffnete das Feuer: Er schoss unablässig mit beiden Waffen und drehte sich dabei hin und her, eine sich überlagernde Abfolge ohrenbetäubend lauter Schussgeräusche in dem Raum. Aber die Männer, die um den Konferenztisch herum tot zu Boden sanken, würden nie wieder etwas hören. Wahrscheinlich traf nur jeder dritte Schuss sein Ziel, aber Viktor hatte siebzehn Patronen in jedem Magazin, und das war mehr als genug. Korditrauch hing in der Luft, als er rasch durch den Saal ging, um festzustellen, ob einer der Gefallenen noch lebte, und einmal feuerte, als ein Sterbender zuckte und die Hand nach einer heruntergefallenen, mit Blut befleckten Waffe ausstreckte. Alle erledigt. Eine verirrte Kugel hatte Sushanas linke Schulter zertrümmert, und ihre Augen waren geweitet vom Schock, das Gesicht weiß vom Blutverlust. Aber Viktor hatte keine Zeit, ihr zu helfen, denn der beleibte Mann in dem edlen Anzug am Ende des Raumes war Freddy die Klaue, und in diesem Moment wurde er seinem Namen gerecht. Freddys rechte Hand war normal, seine linke jedoch eine große, glänzende Zange. Sein linker Arm kam schnell hoch, und Viktor feuerte auf die Bewegung; Kugeln prallten von dem Panzer ab, der den Arm schützte, und dann hatte die Klaue Viktor beide Waffen entrissen. Viktor versuchte sich zu ducken und wegzudrehen, aber Freddy war schneller, die Klaue öffnete sich, schoss vor und packte zu, alles binnen einer 337
Zehntelsekunde, und dann hatte sie sich um Viktors Hals geschlossen, und er wusste, dass es zu spät war. „Wer bist du?“, fragte Freddy die Klaue. Donal stürmte in dem hallenden Treppenhaus nach oben. Zweimal blieb er mit rasselndem Atem stehen, und seine überanstrengten Schenkel begannen zu brennen. Ein öliger Schweißfilm überzog seine Haut unter den Kleidern. Bis jetzt hatte er dreihundert Stufen hinter sich gebracht – etwas in ihm musste unbedingt mitzählen. Von oben kamen scharrende Geräusche, aber niemand schoss durch den Treppenschacht auf ihn. Die Verdächtigen waren auf dem Weg zum Dach des riesigen Schädels, eine andere Möglichkeit gab es nicht. „Thanatos. Na los.“ Donal setzte sich mit immenser Willensanstrengung wieder in Bewegung. Er atmete schwer. Während er nach oben hastete, verzogen sich seine Lippen unwillkürlich zu so etwas wie einem Grinsen, eine urtümliche Reaktion auf die enorme körperliche Anstrengung und das Gefühl von Todesgefahr: letzt war er ganz in seinem Element, jeglicher Zweifel war verflogen. Er legte noch einen Zahn zu. Laura kauerte neben einem Abfluss, als die Schüsse ertönten und zwischen den Lamellen der Jalousien im sechsten Stock des nächsten Gebäudes eine Reihe von Blitzen aufflammten. Neben einem Palettenstapel ging sie in Deckung. 338
Sie betastete die Handtasche, die an ihrer Hüfte hing; der Riemen war immer noch diagonal über ihre Schulter geschlungen, ihre Pistole war drin. Dann zischte etwas durch die Luft und zerschnitt den Riemen der Handtasche, während andere Hände sie Lauras Griff entrissen. Sie machte einen Satz nach vorn, aber hinter den Paletten sprangen zwei große Gestalten auf und packten sie an den Armen. Ein weiterer massiger Mann trat vor sie hin und richtete eine Schrotflinte auf ihr Gesicht. „Was sollen wir machen?“, fragte einer der Männer. „Ich schlage vor“, sagte Laura leise, „dass ihr mich verdammt noch mal …“ „Sagt mir“, ertönte eine Grabesstimme, „was in der Handtasche ist.“ Der Mann – oder was auch immer – war über zwei Meter groß und hatte graue Haut; eine Narbe lief schräg über sein fast quadratisches Gesicht. Der Blick, mit dem er Laura ansah, war völlig gefühllos. Einer der Männer öffnete die Handtasche. „Eine Automatik“, sagte er. „Ziemlich klein … und eine Marke. Sie ist Polizistin.“ Ein weiterer Wachtrupp eilte zu dem Gebäude. Falls Viktor oder Sushana noch lebten, dann waren ihre Chancen, auch weiterhin am Leben zu bleiben, verschwindend gering. „Ein Commander.“ Der Grauhäutige betrachtete Lauras Marke und steckte sie dann in seine Tasche. „Wir fühlen uns geehrt.“ „Ihr werdet nicht …“ 339
„Tötet sie.“ Der Grauhäutige wandte sich ab. „Jetzt gleich.“ Laura kniff die Augen fest zu. Donal … Dann spürte sie einen Ruck und hörte jemanden nach Luft schnappen. Ihre Augen klappten auf, und sie sah, wie eine nebelartige Gestalt aus dem aufgerissenen Asphalt emporstieg. Das Wesen griff mit immateriellen Händen in den Kopf und die Brust des Mannes mit dem Gewehr … „Xalia!“ … und dann verlieh Xalia ihren Extremitäten körperliche Gestalt und drückte zu. Mit großer Kraft. Noch während der Mann seine Waffe fallen ließ und in tödlichem Schock nach Luft schnappte, wirbelte Laura beiseite, schlug ihre Jacke zurück und riss ihre zweite Waffe aus dem Rückenhalfter. Sie feuerte dreimal, bevor die Wachposten überhaupt reagieren konnten. Die Gruppe löste sich auf, und sie liefen in alle Richtungen auseinander. Nur zwei von ihnen erwiderten das Feuer. Aber Laura duckte sich bereits und setzte ihre taktisch kluge Bewegung fort, während Xalia unstofflich war und blieb: Die Kugeln gingen durch ihre Geistergestalt hindurch. Dann war Xalia über den beiden Männern, die noch schossen. Blut sprudelte aus ihren Mündern, als der Freigeist ihre Herzen zerquetschte und auch sie tot auf den Asphalt stürzten. 340
Der Grauhäutige lief einfach nur weg, aber seine Schritte waren nicht furchtsam, sondern beherrscht, und Laura musste entscheiden, was sie tun sollte. Er hatte ihr den Rücken zugekehrt, aber er lief, um Hilfe zu holen, nicht, um zu fliehen, da war sie sicher, und da das Leben ihrer Kollegen auf dem Spiel stand, hatte sie eigentlich keine Wahl – gar keine. Sie drückte auf den Abzug, die kleine 23er ruckte, im Nacken des Mannes erblühte eine Blume aus dunkler Flüssigkeit, und er fiel zu Boden und rührte sich nicht mehr. Trotzdem war sie noch längst nicht außer Gefahr. Laura rollte seitwärts über den Boden, landete neben einem anderen Toten und hob ihre größere Schusswaffe auf. Aber die verbliebenen Wächter waren geflohen … alle außer einem, der beschlossen hatte, sich Xalia entgegenzustellen, es aber sehr schnell bereute, als sich Xalias Finger in Krallen wie aus Stahl verwandelten, die auf ihn herabsausten. Der Mann fiel winselnd hin, mit durchtrennten Sehnen, sodass seine Gliedmaßen allesamt unbrauchbar waren. Er konnte nur noch zittern, während Blut aus seinen aufgeschlitzten Arterien spritzte und der Tod nahte. Laura ließ den Blick in die Runde schweifen, während Xalia auf sie zukam. Es bestand keine unmittelbare Gefahr, und für einen Sekundenbruchteil grinste Laura, weil sie noch immer lebte. Dann: „Wo kommst du denn her?“, fragte sie. „Woher weißt du, dass ich hier bin?“ 341
Xalias Geistergestalt schwebte wie von einer Brise getragen herbei, obwohl die kalte Luft völlig still war. *Aus derselben Quelle wie du.* „Was soll das heißen?“ Laura ging auf ein Knie und lud ihre Automatik nach. „Aus derselben Quelle?“ *Also wirklich, Laura.* Xalia stieg etwas höher in die Luft, schien zu schnuppern und sank dann wieder herunter. *Glaubst du etwa, du bist die Einzige, die mit Katzen spricht?* Dann fiel in dem Gebäude erneut ein Schuss. Wachsam nach weiteren Bewaffneten Ausschau haltend, eilten Laura und Xalia zum Eingang.
342
SIEBZEHN Donal war zwei Treppen tiefer, als er hörte, wie sich die Tür zum Dach scheppernd öffnete. Er erhaschte einen flüchtigen Blick auf zwei kleine, kräftige Gestalten, die etwas grau Umwickeltes und Klobiges trugen – Cortindos Leichnam –, dann waren die Zwerge draußen auf dem Dach, und Donal fluchte. Noch während er sein Tempo verdoppelte und die letzten rund dreißig Stufen hinaufsprintete, hörte er von oben nicht nur den Wind, sondern auch ein tieferes Grollen, eine fast im Infraschallbereich angesiedelte, ungeheuer machtvolle Vibration. Es war die Pterafledermaus, die herunterkam und über dem riesigen Totenschädel schwebte. Mach schon. Donals Atem ging rau und zischend. Schneller. Eine lautlose Verfolgung war unmöglich. Er polterte die letzten Stufen hinauf, stolperte beinahe auf dem Treppenabsatz und blieb in der Tür stehen. Draußen erstreckte sich die Fläche des Schädeldachs über zweihundert Meter, bevor sie sich abwärts krümmte und schließlich senkrecht abfiel. Die Verdächtigen waren nirgends zu sehen. Donal rannte, so schnell er konnte – seine Beine fühlten sich wie geschmolzener Gummi an –, auf die nasse, glitschige Fläche hinaus. Starke Windböen peitschten ihm den Regen ins Gesicht, und Donal 343
musste die Augen zusammenkneifen, um die beiden gedrungenen, kräftigen Gestalten zu sehen, die ihre Last niederlegten und sich offensichtlich eiligst aus dem Staub machen wollten, als Donal seine Magnus hob. „Hört auf, oder ich schieße!“ Der Wind riss ihm die offiziellen Worte von den Lippen. Zumindest wahrte Donal die korrekte Form. „Halt!“ Über ihm füllte die Pterafledermaus den halben Himmel aus. Sie kam noch tiefer herunter. Ein Schlitz im Bauch pulsierte und riss auf; dünne schwarze Seile entrollten sich. Binnen Sekunden ließen sich dunkel gekleidete, mit Kapuzen getarnte Gestalten herab. Donal gab einen einzelnen Warnschuss ab, aber die herunterkommenden Gestalten zögerten nicht. Thanatos … Er hockte sich geduckt hin, zielte auf die Gestalt, die dem Dach am nächsten war – nein, pass auf –, und wirbelte herum, als einer der Zwerge mit den Füßen voran auf ihn zugesprungen kam und seinen Unterarm streifte. Die Magnus krachte erneut, eine weitere vergeudete Patrone, und Donal ließ die Waffe mit dem Kolben voran herabsausen, aber der Zwerg entfernte sich bereits Rad schlagend von ihm. Dann traf ein heftiger Schlag traf Donal ins Kreuz, und er fiel nach vorn. Er drehte sich im Fallen und feuerte auf den zweiten Zwerg, der ihn getreten hatte. Der Stoff von dessen dickem Pullover zerriss, aber es war nur eine 344
oberflächliche Wunde. Ein kleiner, aber schwerer Fuß kam im Bogen auf Donals Auge zu – der andere Zwerg –, und er rollte sich gerade noch rechtzeitig weg. Etwas Hartes knallte gegen Donals Stirn. Neongelbe Punkte kräuselten sich in seinem Blickfeld, als er sich auf ein Knie erhob, mit der linken die rechte Hand stützte, beim Zielen ausatmete – ruhig – und auf den Abzug drückte. Kein Schuss krachte. Ladehemmung … Die Zwerge waren über ihm, Zähne gruben sich in seinen Unterarm, und eine kleine, harte Faust erwischte ihn im Unterleib, ein Aufwärtshaken, der die meisten Männer niedergestreckt hätte, aber Donal wusste, dass er den grässlichen Schmerz ertragen und weiterkämpfen konnte. Er versetzte demjenigen, der ihn biss, einen Fausthieb, stieß den anderen mit einer Hüftdrehung weg und pumpte dann drei weitere Haken seitlich in den Hals des Beißers, bis dieser zu Boden sank. Der andere ging erneut auf ihn los, kam mit gesenktem Kopf heran, um Donal in Kniehöhe anzugreifen – kein Feigling! –, aber Donal versetzte ihm einen Snap Kick, der den Zwerg direkt unter dem Kinn traf. Dann rammte er ihm das Knie unters Kinn, gefolgt von einem Aufwärtshaken an dieselbe Stelle, und die kleine Gestalt war erledigt. Der erste Zwerg bewegte sich schon wieder – was 345
geben die euch bloß zu fressen? –, aber Donal machte ein paar schnelle Schritte und trat ihm ins Gesicht. Der Zwerg wurde zurückgeworfen und rollte herum. Fürs Erste war Donal außer Gefahr. Aber es war gar nicht erforderlich gewesen, dass die Zwerge ihn besiegten, sie hatten ihn nur so lange ablenken müssen, bis die Kapuzenmänner ihre Seile um Cortindos eingewickelten Leichnam geschlungen hatten. Donal hob seine Waffe und erinnerte sich dann an die Ladehemmung – auswerfen, reinschieben, abdrücken: So lautete der Spruch, den Schießstandleiter Ryan Donal eingebläut hatte. Er zog den Schlitten zurück und schlug mit der linken Faust gegen die Magnus, um die nicht abgefeuerte Patrone auszuwerfen. Bereit. Es dauerte nicht einmal eine Sekunde, aber das war bereits zu lange, denn die Pterafledermaus stieg ein wenig höher, und Cortindos Leichnam hob sich vom Dach. „Nein, verdammt.“ Ein Zwerg griff nach Donals Knöchel, aber Donal kickte die Hand weg, trat beiseite und schwenkte die Waffe nach oben. Doch die Kapuzenmänner, die sich an die schwarzen Seile klammerten, trugen keine Waffen. Donal konnte sie erschießen, aber er kam nicht mehr an sie heran. Er zielte. 346
Einen Moment lang verschwamm das Bild, als seine Augen sich auf das Ziel einstellten. Der Blick des Kapuzenmannes war auf Donal gerichtet. Der Mann wusste, dass er gleich sterben würde. Ganz ruhig … Donal atmete aus und verband den Unterleib und den Finger am Abzug fest miteinander. „Scheiße.“ Er nahm den Finger aus dem Abzugsbügel und senkte die Waffe, saugte kalte, feuchte Luft in die Lungen. Hörst du …? Nein. Es hatte keinen Sinn, den Mann zu töten, das war alles. Die Pterafledermaus stieg weiter in die Höhe. Vielleicht hätte Donal ein paar Kugeln in Cortindos toten Körper jagen können, aber wozu? Einer Leiche konnte man nicht mehr viel Schaden zufügen, und sie war bereits an die Seile gebunden und wurde von der Pterafledermaus weggetragen. Und einen der Kapuzenmänner zu töten, obwohl sie unbewaffnet waren, entsprach nicht Donals Vorstellung von rechtmäßiger Gewalt. Er warf wieder einen Blick auf die Zwerge – einer von ihnen war auf Händen und Knien und schüttelte den Kopf, wobei sich scharlachrote Blutstropfen mit dem Regen vermischten –, dann schaute er erneut nach oben. Die Seile wurden in den Körper der Pterafledermaus eingeholt, während sie noch höher stieg und dabei langsam abdrehte. 347
„O gütiger Tod.“ Alexas Stimme drang mit beunruhigender Klarheit durch die Infraschallgeräusche der Pterafledermaus. „Diese Treppen haben mich fertig gemacht.“ Sie beugte sich vornüber und stützte sich mit der linken Hand auf den Schenkel; ihr Atem ging pfeifend. Aber nichts von alledem hinderte sie daran, mit der rechten Hand die Waffe zu ziehen und sie auf den nächsten der beiden Zwerge zu richten. „Verdammt noch mal, wehe, ihr …“ Sie holte tief Luft. „Ah … Keine … Bewegung.“ Dann taumelte Ralfinko durch die Tür, zog die Jacke gegen eine plötzliche Regenbö enger um sich und richtete seine Pistole auf den zweiten Zwerg. Donal betrachtete die beiden prüfend und steckte seine Magnus dann wieder ins Halfter. Er schaute noch einmal in den dunklen Himmel hinauf. Cortindos Leiche war in den Laderaum gezogen worden, auch die Kapuzenmänner waren verschwunden. Die Öffnung schloss sich, während die Pterafledermaus sich in die Kurve legte, dabei ein wenig abtauchte, dann nach oben zog und in die Wolkenschicht emporstieg, wo ihre Umrisse verschwammen, bis sie schließlich nicht mehr zu sehen war. Fort. Einer der Zwerge begann zu lachen. Die Klaue schloss sich enger um Viktors Hals. „Ich hab dich gefragt“ – Freddys Stimme klang gepresst, als wäre er derjenige, der erwürgt wurde – 348
„wer zum Thanatos bist du? Und was hast du mit der Frau da zu tun?“ „Sie ist …“ Viktor zwang sich zu der Lüge. „… Meine Schwester.“ Die Klaue, die aus Freddys linkem Arm wuchs, konnte sich abrupt schließen und Viktor im Nu den Kopf vom Körper trennen. Dann würde Viktors kopfloser Leichnam bald die Polizeimarke freigeben, die an einer Schnur unter dem Hemd auf seiner Brust baumelte. Selbst wenn sie blutgetränkt war, würde Freddy C die Marke sofort erkennen. Aber jede Sekunde, die Sushana am Leben blieb, war eine Art Sieg, und das war vielleicht das Beste, was Viktor … Freddy die Klaue schrie auf. Ein Ceisterarm griff in seinen Unterleib, und Freddy reagierte wie jeder normale Mensch, er krümmte sich, sein Kinn kam hoch, und sein Griff wurde schwächer. Das reichte Viktor. Die scharfe Klaue hatte die Haut an seinem Hals eingeritzt, und nun erlaubte ihm sein eigenes schmieriges Blut, sich ihr zu entwinden. Dann kam eine blasse Gestalt in einem Kostüm zur Tür herein, hob ihre Waffe und schoss. Freddys rechtes Auge explodierte. Xalia dematerialisierte, als sein Leichnam durch sie hindurchstürzte und mit dem kalten, dumpfen Laut von totem Fleisch auf den Boden klatschte. Sie driftete beiseite und manifestierte sich partiell; ihre Konturen wurden stabiler. 349
*Alles in Ordnung mit dir?* Viktors Antwort war ein kaum hörbares Krächzen: „Nie … besser.“ „Verdammt.“ Lauras Blick wanderte rasch über die im Raum verstreuten Leichen – sie vergewisserte sich, dass es wirklich Leichen waren und keine Verwundeten, die wieder zu sich kommen und nach ihren Waffen greifen würden. Dann versuchte sie, Sushana von den Stricken zu befreien, mit denen sie an den Stuhl gefesselt war. Viktor schleppte sich zu seinen auf dem Boden liegenden Grauser-Pistolen hinüber. „Darf ich?“ Er hob die Waffen auf, ging zum Leichnam von Freddy der Klaue, zielte auf das Handgelenk und zerschmetterte es mit einem Hagel chitinbrechender Kugeln. Als seine Wut halbwegs verraucht war, steckte er seine Waffen wieder ins Halfter, packte die nahezu abgetrennte Klaue und zog daran. „Gleich hab ich’s …“ Viktor zog erneut, und die Klaue löste sich mit einem feuchten, schmatzenden Geräusch. Dann schleppte er das Ding zu Sushana, drosch damit auf die Seile ein und zerschnitt sie. „Gut gemacht“, sagte Laura. Sushana fiel endlich in Ohnmacht und kippte vom Stuhl. Laura und Viktor fingen sie auf, bevor sie auf den Boden schlug. *Ich würde sagen …* Xalia schwebte zu ihnen herüber. 350
*… wir sollten das als Erfolg verbuchen.* Laura betrachtete die im Raum verstreuten blutigen Körper. „Ja“, sagte sie. „Das sollten wir wirklich, verdammt noch mal.“ Drei Stunden später waren alle Mitglieder des Teams außer Harald in einem Verhörraum im hundertsten Stock des Präsidiums um einen Tisch versammelt, auf dem ein schmutziges, kanariengelbes Tandemrad lag. „Und nun?“, sagte Viktor. „Sollen wir dem Fahrrad so lange Angst machen, bis es redet?“ Xalia schlang eine fast unsichtbare Hand um den Rahmen. Der Rest ihres Körpers driftete wie Rauch. *Es ist kein Geist drin.* „Das war ein Scherz“, knurrte Viktor. *Oh.* Alexa grinste. Xalia schaffte es immer wieder, Viktor auf die Palme zu bringen. „Du hast gesagt, du hättest ein solches Tandemrad auf dem Gelände von Freddy der Klaue gesehen.“ Laura lehnte im hinteren Teil des Raumes mit geschlossenen Augen an der Wand und dachte nach. „Bevor Xalia und ich gekommen sind.“ *Und dich gerettet haben.* „Mir ging’s bestens.“ *Wie bitte?* Viktor grinste. „Was ist, hast du das Gefühl, du wirst nicht genügend gewürdigt, Xalia?“ 351
„Peace“, sagte Donal. „Wir alle wissen, wie wahrscheinlich es ist, dass in der vergangenen Nacht zwei gelbe Tandemräder an zwei verschiedenen Orten aufgetaucht sind. Das hier lag im Laderaum des Vans, mit dem die Hässlichen Zwillinge Cortindos Leiche transportiert haben. Freddy die Klaue gehörte zu dem Netz, dem wir auf der Spur sind.“ „Die Hässlichen Zwillinge mit dem Stahlfallengebiss“, sagte Alexa leise. Damit bezog sie sich einerseits auf Donals verbundenen Unterarm, andererseits aber auch darauf, dass die Zwerge seit ihrer offiziellen Festnahme die Zähne nicht mehr auseinanderbekommen und kein einziges Wort gesagt hatten. Sie hatten auch keinen Widerstand mehr geleistet, nachdem man ihnen Handschellen angelegt hatte: Sie waren einfach erschlafft und hatten die zur Unterstützung herbeigeeilten uniformierten Polizisten gezwungen, sie die vielen Treppen im Innern des riesigen Totenschädels zum wartenden Polizeibus hinunterzutragen. „Überrascht mich nicht.“ Laura öffnete die Augen. „Freddy hatte seine Finger – das heißt, seine Klaue – in allen möglichen Sachen.“ „Wäre schön, wenn wir das zurückverfolgen könnten.“ „Ja“, sagte Alexa. „Und wenn das LLI irgendwas aus Freddys Leiche rausholen könnte.“ Donal stieß den Atem aus, und Viktor murmelte: „Scheiße.“ „Du sagst es.“ 352
Das ganze Team wusste inzwischen, dass Wilhelmina d’Alkarny, die oberste forensische Knochenlauscherin, auf einem ihrer eigenen stählernen Obduktionstische in den Tiefen des LLI lag. Viktor und Harald hatten sie gekannt – gut genug, um sie Mina zu nennen –, und deshalb war Harald jetzt gerade im LLI und nicht hier. „Das ergibt alles überhaupt keinen Sinn“, meinte Donal. „Weshalb haben sie die Zwerge mit Sprengladungen da hingeschickt, nur um sich.Cortindos Leichnam zu holen?“ „Wie hätten sie’s sonst machen sollen?“ Alexa streckte die Hand zu dem Tandemrad aus, als wollte sie es vom Tisch stoßen, dann trat sie zurück. „Wer hätte denn geglaubt, dass überhaupt irgendjemand zu einem solchen Angriff imstande wäre?“ „Nein.“ Laura sah sie alle an. „Donal hat recht. Wenn unsere Gegner fähig waren, einen derartigen Anschlag durchzuführen, warum dann gerade jetzt? Weshalb sollten sie wegen eines einzigen Toten aus der Deckung kommen?“ „Weil Cortindo irgendwas wusste.“ Viktors Stimme war wie Kies, der in einen eisernen Eimer rieselte. „Weil Mina bei seiner Obduktion etwas über den Schwarzen Zirkel erfahren hätte.“ „Den Namen von Cortindos Kontaktperson?“, fragte Alexa. „Vielleicht sein unmittelbarer Vorgesetzter. Oder jemand noch weiter oben.“ Alle schwiegen eine Weile. Dann steckte Donal die Hände in die Taschen und schaute zur Decke hinauf. 353
„Wisst ihr“, sagte er, „es wäre vielleicht interessant, in Erfahrung zu bringen, warum Cortindo noch nicht obduziert worden war. Klar, es gibt eine Warteliste, aber die kann doch nicht so lang sein, oder?“ Laura sagte: „Du meinst, jemand hat angeordnet, ihn in Stasis zu halten?“ „jemand Wichtiges.“ Viktor schaute von Laura zu Donal. „jemand, der sich über Mina hinwegsetzen konnte.“ „Richtig.“ „jemand“, sagte Viktor, „mit dem wir mal ein Wörtchen reden sollten.“ Harald saß in einem der Vorräume des LLI. Ein junger Knochenlauscher namens Brixhan hatte ihm eine Tasse Rosen-und-Schwarzdorn-Tee gebracht und dann ein mürrisches Gesicht gemacht, als Harald ihn bat, einen Moment zu bleiben. „Sie kennen … kannten Mina, richtig?“ „Ich habe für Dr. d’Alkarny gearbeitet, ja.“ „Was zum Thanatos ist da passiert, wissen Sie es?“ „Dr. d’Alkarny muss wohl beschlossen haben, eine nicht genehmigte …“ Ein weiterer Knochenlauscher betrat den Raum. „Es war ihr Vorrecht, die Honigwabe zu überprüfen“, sagte der Neuankömmling. „Es war sogar ihre Pflicht, Brixhan, meinst du nicht auch?“ „Ähm … im Prinzip schon.“ „Nun, im Prinzip ist gut genug, finden Sie nicht, Officer?“ 354
„Wie heißen Sie?“ Haralds Stimme wurde sehr sanft. „Ich habe Ihren Namen nicht verstanden, Knochenlauscher.“ „Lexar Pinderwin. Ich hoffe, Sie kriegen die Scheißkerle, die das getan haben.“ „Ich glaube, wir haben sie schon. Zumindest diejenigen, die die eigentliche Tat begangen haben.“ Brixhan runzelte die Stirn. „Sie meinen“, sagte Lexar, „Sie haben die Fußsoldaten, aber nicht deren Auftraggeber.“ „ja“, sagte Harald, „das meine ich.“ „Tja, immerhin ein Anfang.“ „Ganz recht.“ Harald zwinkerte mit seinen sanften Augen, „jeder Hinweis, den Sie mir geben können, hilft uns vielleicht, diese Auftraggeber aufzuspüren.“ „Dr. d’Alkarny hat nichts Falsches getan.“ Lexar starrte Brixhan an. „Das ist gut.“ Harald tippte Brixhan an die Schulter. „Sie hatte doch einen Terminkalender, oder? In den sie ihre Verabredungen eintrug?“ „Ahm … ja, ich glaube … also, ja, das stimmt. Er musste in ihrer …“ „Holen Sie ihn mir doch bitte her, ja?“ „Ich bin nicht …“ „Und zwar sofort, seien Sie so gut.“ Brixhan schluckte. „Ahm, natürlich, Officer.“ „Lassen Sie sich ruhig Zeit.“ Mit einem letzten Blick zu Lexar verließ Brixhan den Raum. Harald zählte bis zwanzig, ging zur Tür 355
und und schaute in den mit Metall ausgekleideten Gang hinaus. Er war leer. „Schön.“ Harald kam wieder herein, setzte sich und zeigte auf einen freien Stuhl. „Nehmen Sie Platz, Lexar.“ Lexar setzte sich. „Und nun reden Sie.“ „Ich werde niemanden anschwärzen“, sagte Lexar. „Dr. d’Alkarny war die beste Leichenlauscherin, die wir je …“ „Mina war eine Freundin von mir.“ Harald beugte sich vor, und auf einmal wurden seine sanften Augen stahlhart. „Eine enge Freundin. Ich will alles wissen.“ Lexar schluckte, zwinkerte dann mehrmals, und seine Augen wurden feucht. „Ich hätte nicht hinschauen sollen“, sagte er. „Aber sie … Da war ein Körper in Stasis, auf besondere Anweisung. Dr. d’Alkarny hat sich gefragt, warum.“ „Auf wessen Anweisung?“ „Hm … ich weiß nicht genau. Ist das wichtig?“ Lexar machte Anstalten, sich zu erheben. „Ich hole das …“ „Gleich“, sagte Harald. „Was sollte Brixhan mir nicht sagen?“ „Er weiß nichts. Er hat nur einen vagen Verdacht, weil ich etwas gesagt habe. Er hat nicht die Empfindsamkeit, um es selbst zu spüren.“ „Wovon reden Sie?“ Haralds Ton nahm den Worten den Stachel. „Empfindsamkeit wofür?“ 356
„Für die Spuren, die an ihren Fingern, in ihren Knochen zurückgeblieben sind …“ Harald rückte von ihm ab. „Wie bitte?“ „Dr. d’Alkarny hat die Obduktion durchgeführt“, sagte Lexar, „obwohl sie es laut Anweisung von oben nicht durfte.“ „Sind Sie da sicher?“ „Hmm.“ Lexar zögerte, sagte aber dann: „Ja, ich bin sicher.“ Harald ließ den Blick durch den Raum schweifen. Wenn Brixhan zurückkam, würde Harald ihn mit Handschellen an einen Tisch fesseln und mit Lexar rausgehen, denn dies war wichtig. „Sie konnte sich hervorragend konzentrieren, die gute Mina“, sagte Harald. „Meinen Sie nicht?“ „Ja. Besser als jeder andere, den ich kenne. Jeder Knochenlauscher.“ „Genug, um einen sterbenden Gedanken festzuhalten?“ „Oh, Thanatos …“ „Um ein sterbendes Bild in ihre Knochen zu brennen?“ „Ja.“ Lexar liefen Tränen über die Wangen, aber er versuchte nicht, es zu verbergen. „O ja. Sie war die Beste.“ Harald stand auf. „Ich möchte, dass Sie die Obduktion durchführen.“ „Nein.“ Lexar schluckte. „Ich bin nur ein untergeordneter …“ 357
„Ich möchte, dass Sie die Obduktion jetzt sofort durchführen.“ Der Rest des Teams kam eine Stunde später, als die Obduktion schon im Gang war. Sie hatten vorher noch im tiefsten Zellengeschoss vorbeigeschaut, wo die Zwerge mit Riemen an den kalten Steinwänden festgebunden waren. Keiner der beiden schien reden zu wollen, nicht einmal, als Xalia nah an sie heranschwebte und durch ihre knochigen Schädel hindurch mit den Fingerspitzen über ihre Gehirne strich. Wenn sie nur Gedanken lesen könnte … aber so, wie die Dinge lagen, blieb ihr nichts weiter übrig, als sich unter Aufbietung ihrer ganzen Selbstbeherrschung daran zu hindern, die Finger mit den langen Nägeln materielle Gestalt annehmen zu lassen und kräftig zuzudrücken. Es hätte einfach niemandem etwas genützt. Donal rief noch rasch im Archiv an und sprach kurz mit der Knochenlauscherin, mit der er sich beraten hatte, Feoragh Carryn. Die Traurigkeit in ihrer Stimme wurde noch von etwas anderem überlagert, aber es dauerte eine Minute, bis Donal begriff, was es war. Feoragh verspürte Schuldgefühle, weil sie wusste, dass sie Minas Tod verursacht hatte; zumindest sah sie es so. „Nein“, sagte Donal. „Zunächst mal haben Sie auf meine Veranlassung mit Dr. d’Alkarny gesprochen. Kein Grund für Überlebensschuldgefühle.“ 358
„Bitte …“ „Tut mir leid, aber machen Sie sich Folgendes klar: Am einen Ende der Kausalkette stehen die Menschen, die den Angriff ausgeführt haben, am anderen meine Handlungen, und Sie sind irgendwo in der Mitte. Sie trifft keine Schuld.“ „Ja.“ Feoraghs Stimme kam seufzend wie ein Windhauch durch die Leitung. „In der Theorie ist mir das schon klar, aber momentan glaube ich davon kein Wort.“ „Und was könnte helfen?“ „Herauszufinden, wer Mina umgebracht hat, und warum. Und sich die Täter … vorzuknöpfen.“ „Gut“, sagte Donal. „Dann werden wir das tun.“ Er legte auf. Vor seinem geistigen Auge sah er, wie Feoragh ins Gitter hinunterging und sich immer tiefer in die archivierten Erinnerungen der Knochen vergrub. Ganz gleich, welche Folgen Mina d’Alkarnys Tod sonst noch haben mochte, er führte dazu, dass mindestens eine der Knochenlauscherinnen das Archiv mit konkurrenzloser Entschlossenheit durchforstete. Und was auch immer der Schwarze Zirkel – oder wie ihre Gegner sich nannten – damit beabsichtigt haben mochte … sie würden schon noch merken, dass ihnen eine Spezialeinheit auf den Fersen war, die nicht aufgeben würde. Donal fuhr ins Erdgeschoss hinauf und ging an den finster dreinschauenden Todeswölfen auf der Haupt359
treppe vorbei. FenSieben drehte sich zu ihm um, schwelenden Zorn in den bernsteinfarbenen Augen: Er hatte von Minas Tod erfahren. Donal nickte ihm zu. Die Vixen wartete am Randstein. Sie klappte die Beifahrertür hoch, und Donal stieg ein. Laura saß bereits hinter dem Lenkrad, und als die Tür herunterkam und sich mit einem Klicken schloss, fuhr sie los. „Sind die anderen schon weg?“ Donal schaute sich um, als das Präsidium hinter ihnen zurückblieb. „Viktor kam mir erstaunlich nervös vor, nach allem, was er durchgemacht hat.“ „Was meinst du damit?“ „Ich hätte einen Adrenalin-Crash erwartet, verstehst du? Als Reaktion auf das alles. Besonders nachdem … Ich würde sagen, er mag Sushana sehr gern.“ Die Sanitäter hatten Sushana mitgenommen und deutlich zum Ausdruck gebracht, dass sie für eine ganze Weile – wahrscheinlich auf Tage hinaus – keinen Besuch bekommen durfte. „Ja“, sagte Laura. „Aber Mina mochte er auch gern.“ „Oh.“ „Er und Harald, alle beide. Manche sagen …“ Sie presste die Lippen aufeinander. „Sagen was?“ „Dass die drei, Harald, Mina und Sushana … nun ja … mehr als gute Freunde waren.“ „Oh“, sagte Donal noch einmal. „Verstehe.“ 360
Laura griff nach Donals Handgelenk und legte seine Hand auf ihre linke Brust. „Das ist doch normaler“, sagte sie, „als sich mit jemandem einzulassen, der keinen Herzschlag hat, oder was meinst du?“ „Ich liebe dich.“ „Verdammt.“ Laura blinzelte und schüttelte den Kopf. „So was ist eigentlich nicht vorgesehen.“ Fühlst …? Schsch. Donal zog seine Hand weg. „Und?“ „Und, Thanatos noch mal, ich liebe dich verdammt noch mal auch. Genügt dir das?“ „Ja“, hauchte Donal. „Das ist mehr als genug.“ Die Vixen kam zum Stehen und öffnete ihre Türen. „Da wären wir“, sagte Laura. Oberirdisch war das Leichenlausch-Institut ein geducktes blaues Steingebäude, das einem erstarrten Tier ähnelte; ein kleiner, kopfähnlicher Anbau – selbst die Fensterbänder sahen wie riesige Augen aus – war mit dem Zentralbau verbunden. Nur die zwanzig Streifenwagen, die sich willkürlich auf dem Gelände verteilten, deuteten darauf hin, was in den Untergeschossen der Honigwabe geschehen war. Noch unter der Obduktionsebene, wo Minas Körper gerade in Stücke geschnitten wurde, während der junge Knochenlauscher, der sie so bewundert hatte, seine Hände auf ihre noch warmen, vom Blut 361
schmierigen Knochen legte und die Botschaft zu lesen versuchte, die ihnen von den Todesqualen eingeschrieben worden war.
362
ACHTZEHN „Ich kann das nicht“, sagte Lexar. „Da ist nichts, was ich …“ „Sie können.“ Haralds Stimme wurde von der OPMaske gedämpft, die er trug. „Versuchen Sie’s noch mal.“ „Nein …“ Doch dann zwängte Lexar seine Hände erneut in Minas geöffneten Leichnam. „Ah …“ Er erzitterte, und seine Lider flatterten. „Scheiße.“ Harald fing Lexar auf, als er umkippte. „Thanatos noch mal.“ Aber Lexar bewegte sich sofort wieder, schob sich von Harald weg und stand schwankend auf seinen eigenen Beinen. „Zwei kleine, gedrungene Männer“, sagte er. „Zwerge.“ Harald stieß den Atem aus. Das bestätigte, was Laura am Telefon über die beiden von Donal und Alexa festgenommenen Häftlinge gesagt hatte. Ob es vor Gericht als Beweis taugte, hing davon ab, ob es ihm gelang, eine rückwirkende Genehmigung für diese Obduktion einzuholen. „Axt“, fügte Lexar hinzu. „Sie hatten eine Axt.“ Harald schüttelte den Kopf. Wunderbar, letzt können wir jeden Eisenwarenhändler in Tristopolis vernehmen. Das war alles andere als hilfreich. Können ja höchstens ein paar tausend sein. 363
Aber Lexars Blick wurde wieder klar, und er sah Harald an. „Keine gewöhnliche Axt“, sagte Lexar. „Das war ein Resonator für kohärente Hex-Wellen. Solche Dinger wachsen nicht gerade auf Bäumen.“ „Okay.“ Harald starrte Minas Leichnam an. „Gut. Das ist doch schon was.“ „Sah für mich illurianisch aus“, ergänzte Lexar. „Na ja, und für Mina …“ In seinem Ton lag ein seltsamer Schmerz, und Harald nahm an, dass hier Qualen im Spiel waren, die nur ein Knochenlauscher voll und ganz erkennen oder verstehen konnte. Dann tippten Fingernägel ans durchsichtige Glasfenster in der Tür des Obduktionsraums. Draußen stand Laura. Eine nebelhafte Gestalt driftete durch die geschlossene Tür. „Was …?“ Lexar griff unwillkürlich nach einem seiner chirurgischen Schneidewerkzeuge. „Das ist eine Kollegin.“ Harald nickte. „Xalia, das ist Lexar. Er ist in Ordnung.“ Xalia hing keine zwei Meter entfernt in der Luft und stieg ein wenig zur Decke hinauf. *Freut mich, Sie kennenzulernen, Lexar.* „Äh … ganz meinerseits, Xalia. Entschuldigen Sie meine Reaktion.“ Aber Xalia schwebte bereits über Minas Leichnam, und aus den Schatten und Vertiefungen ihres nahezu unsichtbaren Gesichts sprach ebenso viel Kummer wie aus dem von Lexar. 364
*Sie war ein guter Mensch.* *Ja.* Xalia drehte sich und sah Harald an. *Viktor will nicht hereinkommen.* „Kann man’s ihm verdenken?“ *Nein …* Nach einer Weile sagte Harald: „Ich gehe raus zu ihm. Lexar?“ „Ich komme hier schon zu recht. Es gibt nichts mehr zu tun, ich muss sie nur noch … saubermachen, verstehen Sie?“ „Sorgen Sie dafür, dass sie vorzeigbar aussieht.“ „Ja.“ Lexar berührte Minas totes, unverletztes Gesicht. „Vorzeigbar.“ Eine einzelne Träne wuchs in Haralds linkem Augenwinkel. *Irre ich mich, oder sehe ich da …?* „Ach was.“ Xalia sagte nichts mehr, sondern stieg fast bis unter die Decke empor, während sie Harald nachblickte, der den Obduktionsraum verließ und seine Gefühle unter Kontrolle zu behalten versuchte. Obwohl sie durch Wände gehen und unbeobachtet beobachten konnte, wusste sie nicht, ob die Gerüchte über eine Dreierbeziehung der Wahrheit entsprachen. Der Grund dafür war, dass man seine Freunde nicht bespitzelte. Niemals. *Wir werden sie aufspüren.* Sie wandte sich an Lexar, der sich über die Leiche beugte und nach kurzem Zögern den langen Einschnitt verschloss, der Minas 365
Rumpf aufklaffen ließ. * Irgendwann kriegen wir sie – auch diejenigen, die die Befehle gegeben haben.* „Wahrscheinlich.“ Lexars Stimme klang gleichgültig, und Xalia verstand, was das bedeutete: Vergeltung bedeutete nichts, Gerechtigkeit im juristischen Sinn bedeutete nichts, denn wahrhaft gerecht wäre nur eins: Mina wieder zum Leben zu erwecken. Und dazu war kein Knochenlauscher und kein Thaumaturg imstande. *Vielleicht landen sie hier. Auf Ihrem Tisch.* Bei diesen Worten schaute Lexar zu Xalia hinauf. „Ja. Und wenn sie noch nicht ganz tot sind, kann ich damit leben.“ Xalia fragte sich, was ein Knochenlauscher wohl mit den Gefühlen und dem Nervensystem von jemandem – einem Feind – anstellen konnte, der noch am Leben war. *lch will sehen, was ich tun kann.* Dann neigte sie den Kopf, stieg noch höher und verschwand durch die Decke. Laura tätigte von Minas ehemaligem Büro aus ein paar Anrufe. Der erste ging ans Krankenhaus, wo sie dreimal weiterverbunden wurde und mehrere Minuten in der Leitung warten musste – insbesondere eine Oberschwester ließ sich von ihrem Rang nicht beeindru.zufriedenstellend’ sei. Laura dachte über eine Antwort nach, die zum Ausdruck brachte, was sie von dieser Kategorisierung hielt, aber ihr fiel keine ein. Sie legte auf. 366
Dann kam Alexa herein und stieß die Tür hinter sich zu. „Was ist?“ Laura blickte aus ihrem Sessel hoch. „Ähm … vielleicht steht es mir nicht zu, das zu sagen.“ Alexa hielt inne. „Oder doch.“ „Wie bitte?“ „Du sagst ja gar nichts, Alexa. Also, was ist?“ „Du und Donal.“ Alexa schluckte und fuhr dann rasch fort: „War es deine Idee, ihn zu uns zu holen?“ „Worauf willst du hinaus?“ „Ich weiß, dass ihr euch nahe steht. Wir … wir alle finden das toll, weißt du …“ „Thanatos, Alexa. Spuckst du’s jetzt endlich aus?“ „Es ist nur … Ich wundere mich über das zeitliche Zusammentreffen. Wir rücken dem Schwarzen Zirkel mehr denn je auf die Pelle und lösen eine massive Reaktion aus. Diesen Einbruch hier.“ Alexa machte eine Handbewegung zu den stahlverkleideten Wänden. „Damit ist die Katze jetzt aus dem Sack, meinst du nicht auch?“ Laura verschränkte die Arme. „Was hat Donal damit zu tun? Abgesehen davon, dass er den Fall geknackt hat.“ „Ich bin nicht neidisch auf seinen Erfolg, falls du das denkst.“ Alexa rieb sich die Augen, und Laura rief sich ins Gedächtnis, dass lebendige Menschen Schlaf brauchten. „Und? Ich glaube, du verwechselst da Ursache und 367
Wirkung.“ Lauras Stimme klang schärfer, als sie beabsichtigte. „Erst ist Donal zu uns gekommen, und dann haben wir angefangen, Fäden zu entwirren.“ „Indem wir Nachforschungen weitergeführt haben, mit denen wir schon begonnen hatten.“ Alexa trat von einem Bein aufs andere. „Tut mir leid, aber deshalb musste ich wegen Donal fragen. Ursache und Wirkung …“ Laura rührte sich nicht. Dann: „Xalia und ich haben Donal praktisch aus dem Krankenbett gezerrt. Wir mussten ihn ganz schön bearbeiten. Ihn überzeugen.“ „Aha … Danke“, sagte Alexa. „Du hättest auch einfach sagen können: Mach, dass du rauskommst, und kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten.“ „Hätte ich auch beinahe getan.“ Laura lächelte und wartete, bis Alexa das Lächeln erwiderte. „Aber eigentlich willst du wissen, ob Donal mich benutzt, mich manipuliert haben könnte. Und die Antwort lautet nein.“ „Okay.“ Laura wartete erneut. Dann zeigte sie auf einen leeren Stuhl. „Setz dich doch.“ Alexa gehorchte. „Verdammt“, sagte sie schließlich und wühlte in ihrer Jackentasche. „Hier. Nimm du das.“ Sie zog eine verbogene, pinkfarbene Karteikarte heraus und gab sie Laura. Die mit purpurroter Tinte geschriebene Aufschrift auf der Karte war in goti368
schem Stil mit vielen Schnörkeln gehalten. Sie lautete: Auf Anweisung des Büros von Commr. A. Vilnar in Stasis versetzt. 3. Quintober 6607. Darunter hatte jemand in anderer Handschrift eine burgunderfarbene Notiz hinzugefügt. Dauer: unbegrenzt. Laura legte die Karte auf den Schreibtisch. „Ich brauche wohl nicht zu fragen, welche Leiche gemeint ist.“ Alexa biss sich auf die Lippe. „Du vertraust Donal.“ „Du warst zusammen mit ihm hinter der Leiche her.“ Laura runzelte die Stirn. Seltsame Glanzlichter wanderten durch ihre Augen. „Du willst doch nicht behaupten, dass Donal sich zurückgehalten hat? Dass es ihm möglich gewesen wäre, sie zu erwischen?“ „Ich …“ Alexa stieß den Atem aus. „Keiner von uns anderen war auch nur in der Nähe. Ich finde, er hat sich besser gehalten, als man erwarten konnte.“ „Aha. Gut.“ „Und da ist noch was …“ „Nämlich?“ „Ich habe gesehen, wie er die Treppen in diesem riesigen Schädel raufgelaufen ist, während ich versucht habe, ihm zu folgen.“ „Und?“ „Und? Er hat einen schmalen Arsch und ist fit wie ‘n Turnschuh. Ich würde sagen, du hast das große Los gezogen.“ „Thanatos“, sagte Laura, aber sie musste unwill369
kürlich lachen. „Machst du jetzt endlich, dass du rauskommst?“ Als Alexa gerade aufstand, klopfte es an die Tür. Sie schwang auf, und Donal schaute herein. „Hi“, sagte er. „Störe ich gerade?“ Laura und Alexa sahen sich an. „Nein“, sagten sie unisono und prusteten los. „Entschuldige“, setzte Laura hinzu. Donal sah sie einen Moment lang an, verschwand kopfschüttelnd wieder auf dem Gang draußen und schloss die Tür. Aber er lächelte dabei. Das Lächeln verblasste, als er den Korridor entlangging. Er war froh, dass Laura und Alexa Freundinnen waren; und Alexa schien in Ordnung oder zumindest ein guter Cop zu sein. Ob beides dasselbe bedeutete, war ein Diskussionsthema für einen faulen Tag. Aber in dem Raum hatte etwas in der Luft gelegen, was darauf hindeutete, dass das von Donal ausgelöste Gelächter zum Teil eine Reaktion auf eine vorherige Spannung gewesen war. Und der Grund für diese Spannung war deutlich zu sehen gewesen: die pinkfarbene Karteikarte, die mit der beschrifteten Seite nach oben auf dem Schreibtisch neben Laura lag. Zwar stand die Schrift auf dem Kopf, aber das stellte für Donal kein Problem dar: Er wusste noch, wie Schwester Mary-Ann Styx im Waisenhaus den dreijährigen Donal auf seine Behauptung hin, die am anderen Ende des Raumes liegende Zeitung gelesen 370
zu haben, einem scharfen Verhör unterzogen und er seine Behauptung untermauert hatte, indem er ihr die Schlagzeilen zitierte. Commissioner Vilnar hatte also Anweisung gegeben, Cortindos Körper in Stasis aufzubewahren. ,Folge der Spur der Papiere’, hatte Laura gesagt. Eins stand fest: Vilnar hatte von Donal verlangt, dass er das Team bespitzelte. Und Laura hatte Vilnar im Verdacht. Aber nichts von alledem war ein Beweis. Ein Kribbeln lief Donal über den Rücken, und er drehte sich um. Eine bleiche Gestalt – ein Knochenlauscher – beobachtete ihn von einer offenen Tür aus. „Kann ich Ihnen helfen?“, sagte Donal. „Ähm … es geht um Dr. d’Alkarny.“ „Und Sie sind?“ „Brixhan Dektrolis. Ich bin nicht sicher, aber ich glaube, dass einer meiner Kollegen Dr. d’Alkarny gerade obduziert.“ Donal sagte: „Wir sind hier im LLI, oder nicht? Wo Obduktionen durchgeführt werden?“ „Natürlich sind wir …“ Brixhan errötete. „Der Betreffende ist nicht qualifiziert, und ich vermute, er hatte eine emotionale Bindung an Dr. d’Alkarny.“ „Du meine Güte.“ „Ja. Das ist ein glatter Verstoß gegen die professionelle …“ „Ich muss schon sagen. Hören Sie, haben Sie meiner Kollegin geholfen, Detective Ceerling? Alexa Ceerling?“ 371
Brixhan blinzelte. „Ja, ich habe ihr die Registratur aufgeschlossen, und …“ „Und haben Sie auch die Schildchen in der Honigwabe noch mal überprüft? Nur um sicherzugehen, dass wir den richtigen Körper haben.“ „Das ist alles korrekt.“ Brixhan runzelte die Stirn; wahrscheinlich versuchte er, respekteinflößend zu wirken. „Die Unterlagen sind in Ordnung.“ „Natürlich. Ihr leistet hier gute Arbeit.“ Donal ließ seinen Blick verschwimmen. „Obwohl ich sie nicht machen möchte.“ „So reagieren viele.“ Brixhan klang selbstgefällig. „Wir haben aber die Ausbildung dafür.“ „Und wir haben großen Bedarf an forensischen Talenten.“ Donal zog eine Augenbraue hoch. „Und an Leuten, die wissen, was Professionalität bedeutet. Sie werden es bestimmt noch weit bringen.“ „Ah. Danke, Lieutenant Riordan.“ Brixhan kannte also bereits seinen Namen, obwohl er sich nicht vorgestellt hatte. „Vielleicht“, sagte Donal und ließ den Blick zu der Stahlwand wandern, hinter der die Obduktionsräume lagen, „genauso weit wie Dr. dAlkarny.“ Brixhans Mund arbeitete, aber er brachte kein Wort heraus. „Nur die Ruhe“, setzte Donal hinzu. Er zog sein Jackett zurecht, wobei er darauf achtete, dass der Kolben seiner Magnus für eine Sekunde sichtbar wurde – Brixhan trat unwillkürlich einen halben Schritt zurück –, dann drehte er sich um und 372
ging davon. Sollte Brixhan aus seinen Worten machen, was er wollte. Unangenehmes Arschloch. Aber ein Fiesling zu sein war kein Schwerverbrechen, sondern eher so etwas wie eine angeborene Krankheit. Es war lange her, dass Donal Leuten wie Brixhan erlaubt hatte, ihm auf die Nerven zu gehen. Dagegen wusste er, dass es mehr als unangenehm sein würde, wenn er sich Commissioner Vilnar zum Feind machte; es würde schrecklich sein. Er hatte Respekt vor dem Mann. Aber wenn Vilnar etwas mit dem Schwarzen Zirkel zu tun hatte, musste ihm jemand das Handwerk legen. Am Rand des Laborbereichs war eine Art Vorzimmer. Es diente als Warteraum für Zivilisten, die einen Toten identifizieren oder auf andere Weise behilflich sein sollten. Donal war schon mehrmals mit Angehörigen von Opfern dort gewesen … einmal in Begleitung einer dicken alten Frau, die den seifig aussehenden Körper des Mannes begutachtete, den man für ihren Sohn hielt, ihn mit einem knotigen Finger anstupste und sagte: „Sieht aus wie ‘n Stück Scheiße, was? Aber immer noch besser als mein Junge. Netter Versuch, Loot.“ Dorthin ging er jetzt. Er erinnerte sich an die kleine, akustisch abgeschirmte Telefonkabine an einer Wand. Da der Raum leer war, suchte er in seiner Tasche nach den siebeneckigen Münzen, die er benötigte, nahm den Hörer ab und steckte die Münzen in den Schlitz. 373
Eine weibliche Stimme meldete sich. „Hallo? Commissioner Vilnars Büro.“ „Hi“, sagte Donal, außerstande, sie mit Namen anzureden; er kannte sie nur als Eyes. „Ahm … ist er da? Hier ist Riordan.“ „Einen Moment.“ Eyes war zu selbstbewusst, um jemandem vorzuflunkern, sie müsse nachsehen. Sie war durchaus imstande, jedem Anrufer zu erklären, ihr Boss sei zu beschäftigt, um mit ihm zu sprechen. „Ich stelle Sie durch, Lieutenant.“ Ein Klicken und Kratzen, und Donal stellte sich vor, wie Eyes einen Schalter an ihrer Konsole umlegte. Konnte sie diese Gespräche mithören? Egal. Wenn Vilnar ihr vertraute, dann konnte sie es; sonst hätte er Gegenmaßnahmen ergriffen. „Riordan.“ „Sir. Ich bin im LLI, wo Cortindos Leiche entwendet worden ist.“ „Glauben Sie, das ist mir neu?“ „Der Diebstahl? Nein, Sir. Und ich nehme an, Sie wissen, dass Dr. d’Alkarny bei dem Einbruch getötet wurde.“ Eine lange Pause, länger als Donal erwartet hätte. „Gibt es schon irgendwelche Fortschritte? Ich meine, was ihren Tod betrifft?“ „Wir können fast mit Sicherheit sagen, dass es die beiden Verdächtigen waren, die wir festgenommen haben. Ich gehe davon aus, dass wir in Kürze die Bestätigung dafür bekommen.“ „Die Bestätigung?“ 374
„Dr. d’Alkarny war Knochenlauscherin, Sir. Vielleicht ist es ihr gelungen, den Augenblick ihres Todes in scharfen Bildern festzuhalten, die … später zutage gefördert werden können.“ „Sie meinen, es gibt eine Obduktion.“ „Wir hatten noch nicht die Zeit“, sagte Donal, „die dazu erforderliche richterliche Genehmigung einzuholen.“ „Und?“ Vilnars Ton war trocken. Er war vielleicht kein Streifenpolizist mehr, aber er kannte sich aus mit bürokratischen Systemen und den Möglichkeiten, sie zu umgehen. „Jemand führt die Obduktion gerade durch. Inoffiziell.“ Aus der Leitung kam ein Geräusch – vielleicht atmosphärisches Rauschen, vielleicht Vilnars ausgestoßener Atem. „Gut. Lassen Sie mich wissen, was dabei rauskommt. Gute Arbeit, Riordan.“ „Ach … noch eins, Sir. Cortindos Leiche ist in Stasis aufbewahrt worden.“ „So? Aber er ist doch schon vor Wochen gestorben, als Sie …“ „Als ich ihn getötet habe. Ja.“ Donal hätte noch mehr sagen können, aber dies schien nicht der richtige Moment zu sein. Stattdessen fügte er hinzu: „Aber das war nur eine bürokratische Panne, glaube ich. Die Zwerge sind unsere wichtigste Spur.“ „Zwerge?“ 375
„Die beiden Verdächtigen, die wir in den Zellen haben. Sie sind höchstens eins zwanzig groß, aber sehr kräftig.“ „Ah.“ Papiere raschelten am anderen Ende der Leitung: Vilnar warf einen Blick in Dokumente auf seinem Schreibtisch. „Ja, verstehe.“ Vilnar hatte also bereits Kopien der Festnahmeberichte vorliegen. „Und die Sonderermittlungsgruppe? Macht sie sonst irgendwelche Fortschritte, über die ich im Bilde sein sollte?“ Donal zögerte. „Commander Steele ist äußerst tüchtig, Sir“, sagte er schließlich. „Eine ihrer Kolleginnen ist entführt und gerettet worden, aber das scheint uns alles nicht weiterzubringen. Ich würde sagen, das Team ist … abgelenkt.“ Sollte Vilnar ruhig denken, dass die Spur ins Leere geführt hatte statt in sein Büro. „Na schön.“ Vilnar hustete. „Halten Sie mich auf dem Laufenden.“ „Ja …“ Die Leitung war jedoch bereits tot. Donal lauschte dem ozeanischen Auf und Ab des atmosphärischen Rauschens, aber es sagte ihm nichts. Er legte auf und verließ den Warteraum, ohne die schwache, fast unsichtbare nebelartige Bewegung an der Wand mit dem Telefon zu bemerken. Lange Geisterfinger bogen sich zurück; die Handfläche der immateriellen Hand zeigte nach oben. 376
Dann reckte der Geist den Mittelfinger zu der Tür, durch die Donal verschwunden war. *Zur Hölle mit dir, Freundchen.* Xalia verschwand wieder in der Wand. Harald wandte sich an den Rest des Teams – nur Sushana fehlte; sie würde noch lange im Krankenhaus bleiben müssen. Seine sanften Augen waren ausdrucksloser als sonst, seine Stimme klang tonlos. Die Ergebnisse der von dem jungen Knochenlauscher, Lexar, durchgeführten Obduktion seien eindeutig, soweit es die Spezialeinheit betreffe. Ob sich diese Erkenntnisse auch vor Gericht verwerten ließen, sei jedoch eine ganz andere Frage. Donal lehnte mit verschränkten Armen an der Wand. Er wusste nicht recht, weshalb Xalia von ihm weggeschwebt war, als er den Raum betreten hatte. „Natürlich können wir die Hässlichen Zwillinge“ – Alexa meinte die festgenommenen Zwerge – „mit der Tat in Verbindung bringen. Thanatos noch mal, ich habe sie auf dem Dach gesehen, während eine unregistrierte Pterafledermaus in den Himmel stieg.“ „Eine Pterafledermaus“, sagte Laura, „die nicht nur keinen Flugplan aufgegeben hatte, sondern auch von keinem Überwachungssystem entdeckt worden ist. Keiner unserer gestarteten Kopter hat sie gesehen.“ „Verdammt.“ „Ganz recht. Der grüne Van der Zwerge ist ebenfalls nicht mit Sicherheit identifiziert worden. Die einzige Verbindung“ – Laura nickte Harald zu – „ist 377
Dr. d’Alkarnys Todeserinnerung an den Angriff der Zwerge. Wenn wir die rückwirkende richterliche Obduktionsgenehmigung bekommen, können wir das als Beweis vorlegen.“ Alexa hob beide Hände. „Na schön. Das reicht doch, oder?“ „Um die Fußsoldaten dranzukriegen“, knurrte Viktor. „Aber nicht diejenigen, die ihnen befohlen haben, Mina zu töten.“ Harald nickte langsam. „Mist“, sagte Alexa. Einen Moment lang herrschte Schweigen. Dann verlagerte Donal sein Gewicht von einem Bein aufs andere. „Du hast etwas von einer Waffe gesagt, Harald. Eine Axt?“ Harald zuckte die Achseln. „Lexar meint, sie sei illurianisch.“ „Noch eine Verbindung nach lllurium“, murmelte Laura. „Du hast doch Kontakte dort, stimmt’s?“ Donal zog die Augenbrauen hoch. Harald sagte: „Ich war fast zwei Jahre dort. Bei der Militärpolizei, abkommandiert von den Marines.“ „Als ob uns eine einzige Axt zu dem Laden führen würde, der sie verkauft hat“, sagte Viktor leise. „Einem einzigen Laden in einem ganzen Land. Vorausgesetzt, sie war wirklich illurianisch … ganz sicher kann sich dieser Lexar da wohl kaum sein, oder?“ „Sie ist irgendwie mit einem Bann belegt worden“, erklärte Harald. „Ein kohärentes Flux-Dingsbums … ich weiß nicht mehr, was er gesagt hat.“ 378
„Hast du dir keine Notizen gemacht?“ Alexas Ton war halb scherzhaft, halb anklagend. „Nein, ein Schreibgeist hat alles offiziell aufgezeichnet.“ „Hoffentlich ohne Zeitsignatur“, sagte Laura. Wenn der Geist die Aufzeichnung mit einer Zeitsignatur versehen hatte, würde man daran erkennen können, dass die Obduktion stattgefunden hatte, bevor die offizielle Erlaubnis vorlag. Schon das würde dazu führen, dass man ihre Ergebnisse nicht als Beweismittel zulassen würde. Kleine, dünnflüssige Wellen wogten durch einen schmelzenden menschlichen Körper … Das Bild stand plötzlich vor Donals geistigem Auge, und er verscheuchte es mit einem Kopfschütteln. Er erinnerte sich an Andy, einen der anderen Patienten im Krankenhaus: den Mann, der nicht verhindern konnte, dass sein Körper willkürliche Formen annahm. Den Mann, dessen zerfließender Körper beinahe zerrissen wäre, als der Heilfeld-Generator an seinem Bett ausgefallen war. „Kann sein, dass ich aus Versehen einen Sparkler betätigt habe“, murmelte Harald mit einem Blick zu Xalia. Er zuckte die Achseln. „Tut mir leid.“ „Das ist nicht komisch.“ „Ich weiß.“ *Nein, weißt du nicht. Du bist kein Geist.* „Sparkler tun weh. So viel weiß ich.“ Xalia schwebte in der Luft, ohne zu antworten. Sie missbilligte es offensichtlich, dass Harald den 379
Schreibgeist mit dem Sparkler aus dem Obduktionsraum vertrieben hatte. Laura seufzte. „Das bringt uns nicht weiter, Leute.“ „Entschuldige.“ „Vielleicht doch“, sagte Donal, ohne den seltsamen Blick zu beachten, den Xalia ihm zuzuwerfen schien. „Willst du damit sagen, Harald, dass diese Axt mit einem ungewöhnlichen und besonders starken Bann belegt war?“ „Ja. Das hat Lexar angedeutet.“ „Sie würde also eine deutlich erkennbare Spur in der Aura der Hässlichen Zwillinge hinterlassen, richtig?“ Harald nickte. „Du hast recht. Wir sollten Lexar mitnehmen, damit er …“ „Nein.“ Laura schlug auf den Tisch. „Wir lassen lebendige Menschen nicht von Knochenlauschern foltern.“ „Vielleicht ist das gar nicht nötig.“ Donal stieß sich von der Wand ab. „Vielleicht gibt es noch jemanden, der fähig ist, diese Spur zu verfolgen. Der in die Aura der Festgenommenen eindringen kann.“ Sein Unterbewusstsein hatte die Erinnerung an den unglücklichen Andy zutage gefördert, der im Krankenbett zerschmolz. Als das Heilfeld ausgefallen war, hatte Schwester Felice die Experten geholt. Wie hatte dieses junge Genie noch gleich geheißen? Kyushol? Kyushen? So ähnlich. Xalia driftete näher heran. *Ich möchte bei diesem Verhör dabei sein.* 380
Donal versuchte, sich auf ihre Geistergestalt zu konzentrieren, aber sie schien ständig zwischen Realität und Irrealität zu changieren. „In Ordnung“, sagte er schließlich. „Wenn du willst.“ *Ja, will ich.* „Dann muss ich jemanden anrufen.“ Einen Moment lang glaubte Donal, Xalia würde noch etwas sagen. Stattdessen schüttelte sie ihren nahezu unsichtbaren Kopf, dann sank ihre gesamte immaterielle Gestalt in den Fußboden und war verschwunden. „Ich kann’s nicht leiden, wenn sie das macht“, sagte Alexa leise. Laura starrte Donal an. Was nun?, fragte er sich. „Bin gleich wieder da“, erklärte er und ging hinaus, um im Krankenhaus anzurufen.
381
NEUNZEHN Am Telefon klang Schwester Felice sanft und charmant, und Donal fragte sich eine Sekunde lang, warum er nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus nicht versucht hatte, sie wiederzusehen. Aber da war Laura, und es verblüffte ihn immer noch, wie schnell er sich in sie verliebt hatte. Schwester Felice schien froh zu sein, dass Donal wohlauf war; sie staunte nur ein wenig, als er sich nach dem Namen des jungen Thaumaturgen erkundigte. Er lautete Kyushen Jyu, erfuhr er, genau genommen Dr. Jyu, aber nicht Dr. med. sondern Dr. thaum. Er benutzte seinen Titel nie, damit man ihn nicht für einen Arzt hielt. Nachdem Donal Kyushen erreicht hatte, brauchte er eine Weile, um ihn davon zu überzeugen, dass eine Reise in die Stadt lohnender sein würde als seine normale Arbeit. Erst als Donal ein illurianisches Artefakt erwähnte – eine mit Hex-Kohärenz verzauberte Axt –, erwachte Kyushens Interesse. „Kohärente Hex-Wellen? Eine ResonatorKlinge?“ „Ahm, ja“, sagte Donal. „So hieß das, glaube ich.“ „Mannomann.“ „Aber Sie können die Spuren in der Aura der Häftlinge ausfindig machen?“ „Aura? Haben Sie irgendwelche Drogen genommen? Es gibt keine Auren, abgesehen von den visuel382
len Metaphern mancher Leute. Das ist nichts … Reales.“ „Oh“, sagte Donal. „Hören Sie, moderne thaumaturgische Technik beruht auf BOZ, der gegenüber prozedurales Hex so antiquiert ist wie … wie eine Antiquität. Verstehen Sie?“ „Sollte ich wissen, wofür BOZ steht?“ „Sie haben noch nie etwas von bildorientierter Zauberei gehört.“ Es war keine richtige Frage. „Alles in der Welt hat Qualia und Neigungen, und in der BOZ modellieren wir das in Hex. Wir kombinieren die beiden Konzepte, verstehen Sie, statt die teleologischen Funktionen von den Entitäten zu trennen, auf die sie wirken. Das ist eine antiquierte Methode.“ „Na klar“, sagte Donal. „Liegt ja auf der Hand.“ „Dadurch werden die gesamten … Hören Sie, ich erkläre Ihnen das alles ganz genau, wenn ich dort bin.“ „Ich kann’s kaum erwarten.“ „Na schön“, sagte Kyushen. „Gegen sechs Uhr bin ich da.“ „Sechs Uhr? Das ist ein bisschen …“ Ein Klicken, und die Leitung summte. Donal starrte den Hörer einen Moment lang an. „… früh“, sagte er. Und legte auf. Laura streckte den Kopf zur Tür herein. „Bist du zu deiner Kontaktperson durchgekommen?“ 383
„Ja. Wir werden’s mit so was wie bildorientiertem Hexen probieren“, sagte Donal. „Glaube ich.“ „Mhm. Das ist schön.“ „Macht mehr Spaß als Sex. Hat meine Kontaktperson jedenfalls angedeutet.“ „Und hat er eine Freundin? Hatte er überhaupt schon mal eine?“ „Das bezweifle ich“, sagte Donal. „Und woher weißt du, dass meine Kontaktperson ein Er ist?“ „Glückstreffer.“ Ein Lächeln zauberte Grübchen in ihr blasses Gesicht. „Hmm … Wie wär’s später mit ein bisschen Hex?“ „Wenn Sie Ihre Karten richtig ausspielen, Lieutenant.“ „Ich werde mein Bestes tun, Commander.“ Xalia löste sich aus ihrem Versteck in der massiven Wand und kam im Gang heraus, wo Harald stand, einen Sparkler in jeder Hand. Xalia erschauerte – das Geister-Äquivalent zum erschrockenen Zusammenfahren eines lebendigen Menschen. *Was machst du denn hier?* „Ich sehe zu, wie du aus dem Mauerwerk kommst.“ Xalia wich ein wenig zurück; sie war auf der Hut vor den unangezündeten Sparklern in Haralds Händen. *Ich mag diese Dinger nicht.* „Und wie steht’s mit Donal Riordan?“, fragte Harald. „Magst du den?“ 384
Xalia schüttelte den Kopf, hielt inne und nickte dann. *Mögen ja. Vertrauen nein.* „Alexa hat gesagt, er hätte gute Arbeit geleistet.“ Xalia drehte sich in der Luft um die eigene Achse, wie ein träger Tornado. Dann wurde sie langsamer, entwirrte ihre Gliedmaßen und kam näher zu Harald herunter. *Er bespitzelt uns. Für Vilnar.* Harald blinzelte und sah Xalia mit seinen sanften, friedlichen Augen an. „Das ist nicht gut“, sagte er. Nach ihrer Rückkehr ins Präsidium stellte Donal fest, dass Viktor fehlte. Er erwähnte es Alexa gegenüber, die ihn einen Moment lang anstarrte und dann sagte: „Er ist ins Krankenhaus gefahren.“ „Oh, Thanatos“, murmelte Donal. „Tut mir leid. Sushana.“ „Ich weiß.“ Alexa nickte verständnisvoll. „Du bist ihr ja nicht mehr begegnet, aber manche von uns kennen sie schon sehr lange.“ „Verdeckte Arbeit ist gefährlich – in vielerlei Hinsicht.“ „Willst du damit sagen, dass Sushana nicht sauber ist?“ „Nein.“ Donal lehnte sich an den Schreibtisch. „Sie ist tapfer und entschlossen und steht reichlich unter Stress. Man braucht Mumm, um diese Arbeit zu machen. Es überrascht mich nicht, dass Viktor mit ihr zusammen ist.“ 385
„Er ist nicht mit ihr zusammen, so wie du das meinst.“ „Also, ich hab rausgefunden, dass sie, Dr. dAlkarny und …“ Donal ließ seine Stimme verklingen. „Und Harald“, ergänzte Alexa. „Hat Laura dir das erzählt, oder hast du es wirklich selbst rausgefunden?“ „Beides, glaube ich.“ „Jeder braucht irgendjemanden.“ „Ah … ja.“ Donal hoffte, dass das keine Anmache sein sollte. So etwas war ihm hin und wieder schon mit anderen Frauen passiert, und er hatte es nicht immer rechtzeitig bemerkt. „Das mit Laura, also …“ „Wenn du ihr wehtust“, sagte Alexa, „bringt dich einer von uns um.“ „Aha.“ Donal lächelte. „Ich bin froh, dass wir das geklärt haben.“ „Und?“ „Ich werde ihr nicht wehtun“, sagte Donal. „Und wenn jemand anders es tut, bringe ich ihn höchstpersönlich um.“ „Das reicht mir.“ Alexa streckte ihm die Hand hin. Donal sah sie an, ergriff ihre Hand und schüttelte sie. „Was macht ihr denn da?“ Es war Laura, die gerade zur Tür hereinkam. „Teamentwicklung“, sagte Donal. „Wird schon klappen mit ihm“, sagte Alexa. „So einigermaßen.“ „Tut mir leid, dass ich gefragt habe. Donal, bist du 386
sicher, dass du das machen willst?“ Laura hielt einen länglichen, schmalen Umschlag hoch, der mit einem erhabenen, stilisierten silbernen Flugzeug verziert war. „Inkognito und ohne offizielle Befugnisse … das wird nicht ganz ungefährlich.“ Alexa runzelte die Stirn. „Du sprichst doch nicht etwa von einem Undercover-Job für Donal, oder?“ Donal sagte: „Wir haben gerade über Sushana gesprochen. Aber das hier ist was anderes. Ich fliege nur zu einem kurzen Besuch nach lllurium, und zwar als …“ „Das wird das Department garantiert nicht bezahlen“, fiel ihm Alexa ins Wort. „Was meinst du damit?“ Donal zeigte auf das Flugticket in Lauras Hand. „Frag Laura, wer die Buchung vorgenommen hat“, sagte Alexa. „Frag sie, wer das bezahlt hat.“ Laura legte das Ticket auf den Schreibtisch. „Spielt das eine Rolle?“ „Also wirklich“, sagte Donal. „Laura … du hast das doch nicht etwa aus eigener Tasche bezahlt? Das kostet mindest …“ „Ich wohne im Darksan Tower.“ Laura wirkte amüsiert. „Du hast es immer noch nicht kapiert, was?“ „Wenigstens ist er nicht wegen deiner Kohle hinter dir her“, sagte Alexa. „Wovon redet ihr beiden?“ Alexa zeigte auf Laura. „Ihre Freundin, Lieutenant Riordan, ist nicht nur Ihre Vorgesetzte. Sie ist auch eine der reichsten Frauen von Tristopolis.“ 387
Laura zuckte die Achseln. „Stinkreich“, sagte sie. Alexa zeigte auf Donal. „Trotzdem – denk daran, wovon wir gerade gesprochen haben.“ Donal nickte. „Ich werd’s nicht vergessen.“ Aber Alexa machte ein finsteres Gesicht, und Donal glaubte zu verstehen: Nachdem sie über die Gefahren der verdeckten Arbeit geredet hatten, meldete er sich freiwillig, um jenseits der Grenze in einem fremden Land, wo das Justizsystem schneller und härter war als daheim, just einen solchen Job zu übernehmen. Zwar würde er Laura nicht absichtlich wehtun, aber wenn er ums Leben kam, wäre dies das Schlimmste, was ihr widerfahren konnte. All dies las Donal in Alexas Miene. „Wenn wir keine präziseren Spuren haben“, sagte er, „dann weiß ich nicht, ob sich die Reise nach lllurium überhaupt lohnt. Kannst du dieses Ticket stornieren, ohne dein Geld zu verlieren?“ Laura schüttelte den Kopf. „Nicht so wichtig. Aber du weißt, dass Harald eine Menge Kontakte in lllurium hat. Du wirst nicht auf dich allein gestellt sein.“ „Spitzel“, sagte Donal. „Kann sein. Ich glaube allerdings, einige sitzen auch in höheren Positionen.“ Alexa sagte: „Wie sollen wir weitere Spuren finden? Momentan tut sich ja nichts.“ „Die Hässlichen Zwillinge“, sagte Donal. 388
„Aber die reden doch nicht, oder?“ „Noch nicht.“ Um fünf Uhr am nächsten Morgen wurde Donal von Kaffeeduft geweckt. Laura, die bereits ein olivgrünes Kostüm trug, kam mit einer vollen Tasse Kaffee auf einem silbernen Tablett herein. „Uh“, machte Donal. „Morgen, Liebster.“ „Mmm.“ Donal nahm den Kaffee und trank einen Schluck. Er war heiß. „Ah … danke.“ „Bist du sicher, dass ich mich nicht an deiner Stelle mit dem charmanten Eierkopf treffen soll?“ „Ja. Nein.“ Donal rieb sich das Gesicht. „Du würdest ihn abschrecken, Schatz.“ „Ist das ein Kompliment?“ Laura beugte sich herunter und küsste ihn. Ihre kalten Lippen fühlten sich an diesem Morgen wie eisgekühlt an. „Oder eine Beleidigung?“ „Nicht fair. Ich bin wehrlos.“ Laura strich ihm mit der Hand über die Wange. „Leichte Beute.“ „Ich …“ Donal nahm seine Armbanduhr von dem kristallinen Nachttisch. „Schau mal, wie spät es ist.“ „Soll ich nicht zu dir unter die Dusche kommen?“ „Na ja, Dr. Jyu wird sicher auf uns warten.“ „Du bist dir ganz und gar nicht sicher.“ „Ähm, nein …“ Laura war bereits auf dem Weg aus dem Schlaf389
zimmer. „Nicht trödeln, Liebster. Ich warte an der Wohnungstür.“ Die Vixen hielt direkt hinter dem purpurroten Taxi, das Kyushen Jyu vor den Stufen des Polizeipräsidiums absetzte. Donal und Laura stiegen aus und beobachteten Kyushen, der sie nicht bemerkt hatte. Als er an den Todeswölfen vorbeiging, glühten ihre Augen bernsteingelb – das war mehr oder weniger normal –, aber dann legte sich das gesamte Rudel, darunter FenSieben, mit ausgestreckten Vorderläufen auf den Bauch, und ihre Mäuler öffneten sich zu einem wölfischen Grinsen mit heraushängender Zunge und gebleckten Zähnen. „Das ist ja ‘ne richtige Show“, sagte Laura. Donal holte Kyushen in der Eingangshalle ein. Kyushen hatte bereits eine Diagnose-Hex-Welle über den Rezeptionsblock laufen lassen, wo Eduardos Unterkörper mit dem Tresen verschmolzen war. Eduardo grinste. „Vielen Dank, Dr. Jyu. Ich habe mich in der Hinsicht wirklich nie für was Besonderes gehalten.“ „Soll das ein Scherz sein?“ Kyushen ließ mit einer Handbewegung einen silbrigen Nebel entstehen, der die Form schwebender Runen annahm. „Der beste Hemimorph, den ich je gesehen habe, und der Integrationsgradient ist spektakulär. Hätten Sie was dagegen, wenn ich für eine der Zeitschriften über Sie schreibe?“ „Sicher, ich meine nein, ich habe nichts dagegen. Wird auch ein Foto von mir dabei sein?“ 390
„Ja“, sagte Kyushen. „Ganz bestimmt ein TRS, vielleicht ein paar …“ „Was ist ein TRS?“, fragte Donal. „Oh, hallo, Lieutenant. Ein Thauma-ResonanzScan. Benutzen Ihre Kriminaltechniker diese Methode nicht zu Analysezwecken?“ „Keine Ahnung.“ Donal dachte an den zerstörten Gang im LLI zurück, wo Dr. d’Alkarnys Leiche gefunden worden war. „Die Häftlinge, die ich Ihnen, äh, vorstellen wollte …“ „Oh, die Testobjekte. Sicher.“ Eduardo runzelte die Stirn, aber Donal konnte nicht erkennen, ob es daran lag, dass Kyushen die Häftlinge als Testobjekte bezeichnet hatte, oder ob es ihm nicht passte, dass Donal Kyushens Aufmerksamkeit auf sich lenkte. „Sie haben die oberste Leichenlauscherin erschlagen.“ „Sie hat doch gewiss nicht versucht zu lauschen, während sie noch am Leben waren. Was hat ihr denn so zugesetzt?“ „Hm?“ Donal brauchte eine Sekunde, um Kyushens Missverständnis zu erkennen. „Nein, ich meine, sie haben sie wirklich erschlagen. Buchstäblich.“ „Sie haben Dr. d’Alkarny ermordet?“ „Sage ich doch.“ „Unglaublich. Ich meine, wirklich schlimm.“ Kyushen steckte die Hände in die Taschen. „Und, wie weit soll ich gehen?“ „Wie bitte?“ 391
„Schauen Sie, das menschliche Denken ist flüchtig, aber es entsteht aus neuralen Mustern, die sich im Lauf der Zeit entwickeln. Mustererhaltung ist … also, sagen wir, es gibt ein Bild, das Sie gewohnheitsmäßig vor Ihrem geistigen Auge erstehen lassen.“ Donals Augen drehten sich nach links, als er an Laura dachte. „Genau das meine ich“, sagte Kyushen. „Sie haben gerade ein Muster instantiiert, das Sie schon früher benutzt haben, obwohl jede Instantiierung – das ist ein Fachbegriff – einzigartig ist und sich von den vorherigen Instantiierungen unterscheidet.“ „Mhm … wenn Sie’s sagen.“ „Aber man erlernt beispielsweise auch Lernstrategien. Dadurch entstehen Metamuster, mit denen man Muster erschafft, die dann instantiiert werden. Klar?“ Donal gelangte zu dem Schluss, dass es an der Zeit war, ihm zu zeigen, dass Cops nicht dumm sind. „Und ich nehme an, es gibt Metametamuster, die Metamuster produzieren.“ Kyushen lächelte. „Sie haben’s erfasst.“ „Und als Sie gefragt haben, wie weit Sie gehen sollen?“ „Wenn Sie sich in dem Raum umschauen, der Sie umgibt“, sagte Kyushen, „besteht er zum größten Teil aus verschwommenem Hintergrund, aber Sie erschaffen sich ein mentales Modell, wie der Raum aussieht.“ „In Ordnung …“ 392
„Verborgene Teile Ihres Bewusstseins könnten jedoch Details entdecken, die von den Vordergrundmustern ignoriert werden. Es gibt Tricks, neue Muster aus dem Hintergrundschleier nach vorn zu holen. Man filtert ja immer durch ein Fehlerkorrektursystem, denn es geht einzig und allein um die stochastische Analyse von scheinbarem Rauschen, das der Vordergrund nicht … Verzeihung, bin ich Ihnen zu schnell?“ „Nein.“ Donal schaute Kyushen in die Augen. „Sie wollen mir erzählen, wie schwierig Ihr Job ist.“ „Hm … teilweise, vielleicht … Aber die Suchwerkzeuge graben sich tief in die neuralen Strukturen. Schmerz ist ausschließlich ein neurales Konstrukt.“ „Sie meinen, je tiefer Sie graben, desto schmerzhafter ist es.“ „Nun ja, grob vereinfacht … ja.“ „Und Sie wollen wissen, wie viel Schmerz den Verdächtigen zugefügt werden soll.“ „Äh … ja.“ „Wenn Sie so tief graben, wie es geht, bringt sie das um?“ „Unwahrscheinlich. Allerdings …“ „Was?“ „Nun, sie werden sich wahrscheinlich wünschen, sie wären tot. Die Prozedur kann Minuten oder eine Stunde dauern, allerhöchstens zwei Stunden. Aber der Zeitfluss ist eine Frage innerer mentaler Zustände.“ 393
„Sie meinen, für sie dauert es länger.“ „Jahre. Zumindest wird es sich so anfühlen.“ Kyushen lächelte sanft. „Vielleicht sogar Jahrhunderte. Länger als ein normales Leben.“ „Sie tun ihnen also einen Gefallen. Sie vermitteln ihnen das Gefühl, länger zu leben.“ „Unter höllischen Qualen.“ Donal zuckte die Achseln. „Handlungen haben Folgen.“ Kyushen nickte. „Ja“, sagte er. „So ist es.“ Harald kam ins Büro der Spezialeinheit und setzte sich an seinen Schreibtisch. Dort starrte er mit seinen sanften Augen wortlos ins Leere. „Hey“, rief Alexa. „Alles in Ordnung mit dir?“ Harald sah sie an. „Ich glaube nicht.“ „Und was kann ich …?“ Aber Harald hatte bereits seine Schreibtischschublade aufgezogen und gelbe Berichtsmappen herausgeholt. Er legte sie auf seine Schreibtischunterlage und begann, spärlich mit Schreibmaschine beschriftete Seiten durchzublättern. Es war Bewegung um der Bewegung willen: Alexa sah, dass Harald die vor ihm liegenden Berichte nicht wirklich las. Laura kam aus ihrem Büro, zog sich einen Besucherstuhl in die Lücke zwischen Haralds und Alexas Schreibtisch und setzte sich. „Irgendwelche Neuigkeiten über die Pterafledermaus?“, erkundigte sie sich bei Alexa. 394
„Entschuldige.“ Alexa warf einen Blick auf die Liste von offiziellen Adressen und Telefonnummern, die sie auf ihren Notizblock geschrieben hatte, jede Nummer war inzwischen durchgestrichen. „Ich hab’s bei jeder offiziellen Stelle probiert, die mir eingefallen ist, angefangen mit der Luftwaffe und der zivilen Flugbehörde. Sogar beim Wetterdienst, für den Fall, dass einer ihrer Beobachtungsballons was gesehen hat.“ Die geist-aktivierten intelligenten Ballons wurden oft als Behemoths bezeichnet, ein emotional befrachteter Begriff, den Alexa vermied, um Xalia nicht zu verärgern. Obwohl es schon eine ganze Weile her war, dass einer von ihnen Xalia gesehen hatte. „Was ist mit der Luftwaffe? Eine Pterafledermaus kann unmöglich in den nationalen Luftraum eingedrungen sein, ohne dass es jemand bemerkt hat.“ „Na, na, Laura.“ Alexa tippte auf ihren Notizblock. „Die Grenze ist viele tausend Kilometer lang und verläuft durch weitgehend unbewohntes Gebiet. Die Chancen, einen Eindringling zu sehen, sind minimal, wenn er in geringer Höhe fliegt, unterhalb der Hexwellen der Suchseher.“ „Ist das die Meinung der Fachleute?“ Laura schenkte ihr ein halbes Lächeln. „Du klingst, als wärst du deiner Sache ziemlich sicher.“ Alexa errötete ein wenig. „Ich habe mit einem Beamten der Flugbehörde gesprochen. Er war wirklich nett.“ „Ach ja?“, brachte Harald heraus, obwohl seine 395
Stimme leer klang; er zog Alexa auf, aber er war nicht richtig bei der Sache. Nicht, solange Sushanas Zustand noch kritisch war. „Was hat er dir erzählt?“, fragte Laura. „Was ich gesagt habe. Die Sendemasten schicken ihre Wellen in einer Höhe von dreihundert Metern aus. Nachts und bei schlechtem Wetter kann sogar eine Pterafledermaus unter der Hexar-Höhe fliegen und den Banshee-Patrouillen entgehen.“ Harald rieb sich das Gesicht. „Steht es wirklich fest, dass sie aus Illurium gekommen ist? Die Pterafledermaus, meine ich. Könnte sie nicht innerhalb unserer Grenzen gestartet und gelandet sein?“ „Na ja, David sagt …“ Alexa hielt inne und sah erst Laura, dann Harald an. „Lasst mich zufrieden. Er ist wirklich nett. Er arbeitet in der Sicherheitsabteilung der Flugbehörde, und er sagt, eine Pterafledermaus sei zu groß für einen normalen kleinen Flugplatz, und man könne sie ganz sicher nicht auf einem isolierten Gehöft oder so versorgen.“ „Er ist nicht verheiratet, oder?“, sagte Laura. „Dieser David?“ „Ich … hört zu, vielleicht ruft er mich nicht mal mehr an.“ Alexa stieß den Atem aus. „Thanatos. Jedenfalls, David glaubt, dass sie eigentlich nur von einem Flughafen gestartet sein kann, außer die Hintermänner sind wirklich sehr gut organisiert. Und es gab keine Flugpläne für Pterafledermäuse, die zu unseren Verdächtigen gepasst hätten. Überhaupt keine.“ „Aber unmöglich ist es nicht“, erwiderte Harald. 396
„Nein. Eine Pterafledermaus könnte innerhalb unseres Luftraums gestartet und gelandet sein. Es ist bloß unwahrscheinlich.“ „Warum fragst du?“, sagte Laura. „Hast du irgendwelche anderen Informationen, Harald? Oder begründete Zweifel an einer illurianischen Beteiligung?“ Harald schüttelte den Kopf. „Ich versuche nur, logisch zu denken, das ist alles. Damit wir nicht unsere gesamte Aufmerksamkeit auf eine Spur konzentrieren, wenn sie nicht eindeutig ist.“ Laura sagte: „Du warst derjenige, der die Botschaft observieren wollte.“ „Ich bin dem Fahrer gefolgt, bis er …“ Harald hielt inne. „Ich hab nichts gegen Donal.“ Alexa wirkte überrascht. „Was ist mit Donal?“ „Ich hab nur gesagt …“ „Deine Worte und die Anspannung in deiner Stimme sagen verschiedene Dinge“, erklärte Laura. „Ich hab’s gehört, und Alexa auch.“ Alexa schaute unglücklich drein. Dann nickte sie. Harald schloss die Augen, atmete aus und öffnete sie dann wieder. „Vilnar hat ihn uns zugewiesen, erinnert ihr euch? Ob du Donal rekrutiert hast oder nicht, Laura, es war trotzdem Vilnar, dem er zuvor unterstellt war und der sich einverstanden erklärt hat, ihn hierher zu versetzen.“ „Was willst du damit sagen?“ Lauras Stimme war wie Eis. 397
„Nichts. Gar nichts. Du hast mich gefragt.“ Harald stand auf, die Berichtsmappen in der Hand. „Ich fahre ins Krankenhaus und löse Viktor ab.“ Laura sah ihn einen endlosen Moment lang an, dann sagte sie: „In Ordnung. Schick Viktor nach Hause. Er soll sich ausruhen.“ „Ich werd’s versuchen.“ Laura sah Harald nach und rechnete damit, dass er die Tür hinter sich zuschlagen würde. Als sie mit einem leisen Klicken ins Schloss fiel, schreckte sie dennoch ein wenig zusammen. Dann merkte sie, dass Alexa sie besorgt ansah. „Glaubst du, ich blicke nicht mehr durch?“, fragte sie. „Das will ich nicht hoffen“, sagte Alexa. „Denn wenn du nicht mehr durchblickst, geht’s mir genauso.“ Laura wusste nicht recht, was das heißen sollte. Sie nickte und kehrte in ihr eigenes Büro zurück, setzte sich vor den großen Stadtplan, den sie an die Wand gepinnt hatte, und fragte sich, was sie als Nächstes tun sollte.
398
ZWANZIG Es ähnelte einer Sektion. Als Donal den Verhörraum betrat, entsprach das, was er vor sich sah, nicht dem, was er erwartet hatte. Statt einer schreienden, sich windenden, mit nassem, glänzendem Blut beschmierten Gestalt sah er einen reglosen, blassen, zwergenhaften Körper, der unter der Vielzahl leuchtender, farbenprächtiger Bilder, die überall im Raum in der Luft hingen, fast verschwand. Der Verdächtige schien im Koma zu liegen; seine Züge waren starr. Währenddessen saß Kyushen an der gegenüberliegenden Wand hinter einem kleinen Tisch und bediente einen Stapel zierlicher Geräte, wie Donal sie noch nie gesehen hatte. Trotzdem sah es wie eine Vivisektion aus: allerdings wie eine des Geistes oder vielleicht der Seele statt des Körpers. Bilder aus goldenem Licht hingen in der Luft, markiert mit Legenden wie: [[image schoolJourneyDaily [ qlist: [duration: variSec dftval=30min, painLink: Beating* dtfval = new Beating(severity:=3.2), adrenalDump: seq‹glandExcrete› = new seq[dftlen = 5], tempList: seq‹Strategem› = getDump(dumpType.strategem. levelOne). ] 399
plist [flee (inp SurroundPic: minGestalt, inp Howling: audio-Chord) [ initRun(speed:=currentState.physioMax()), attempt [ executeStrategem(nearFit(tempList))] success [ wait(22), watch(maxPoss), continue] otherwise [ [nitRun(speed:=recalc())] self.propensityElasticity:=subl ] ] ] end-image]] Nichts von alledem ergab für Donal irgendeinen Sinn. Die Bilder waren in Mustern gestapelt, die durch mit Runen gekennzeichnete Bogen wie Inhaltsmaterialisierung, Vorgänger und Beschwörung verbunden waren. „Du meine Güte.“ Donal enträtselte die Bedeutung der leuchtenden Bilder, indem er sich an seine eigene Kindheit erinnerte. Dieses verfluchte Waisenhaus. Denn dies waren die Erinnerungen des Häftlings an die Prügel, die er auf dem Schul- und Heimweg eingesteckt hatte. Solche Erfahrungen hatten ihn zu dem gemacht, was er war. Kyushen lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und wischte sich den Schweiß vom Gesicht. „Tut mir leid, Lieutenant. Harte Arbeit. Er ist gründlich mit geschütztem Hex verzaubert worden.“ „Äh … Sie meinen, Sie bekommen keinen Zugang 400
zu seinem Geist?“ Donal machte eine Handbewegung zu den Bildern. „Aber sind das nicht …?“ „Bestandteile von Dilvox’ Seele, ja.“ „Dilvox?“ Kyushen zeigte auf den festgeschnallten Zwerg. „So heißt er.“ Das Leuchten in Kyushens Augen hatte nichts mit der reflektierten Flammenschrift zu tun, die über seine Netzhäute tanzte. Er war ein Wissenssucher. Dies war seine Droge. „Und …“ Donal ließ den Blick über die leuchtenden Bilder schweifen. „Nähern Sie sich schon dem Kern seiner Gedanken?“ „O nein.“ Kyushen machte ein überraschtes Gesicht. „Das wird noch eine ganze Weile dauern. Dies sind Mesolayer-Schablonen für rekurrentes Verhalten. Ich muss ihn in tiefe Trance versetzen.“ Kyushens Finger bewegten sich über die Regler und die winzigen Schalter. Neue, komplizierte geometrische Muster – dunkelblau und dunkelgrün – nahmen inmitten der Flammenschrift-Bilder Gestalt an. „Wir können Instantiierungs-Suchen ausführen und die Aktionen seiner potenzialisierten Gedanken durchgehen.“ „Potenzialisiert“, sagte Donal. „Ja, gespeichert.“ Weitere Displays öffneten sich, dann huschten Kyushens Finger erneut über die Geräte, und diesmal bewegte sich der gefangene Zwerg unter seinen Fes401
seln. Dann stieß er einen Schrei aus, einen Schrei voller schrecklicher Qualen. Donal hätte nie geglaubt, dass ein solcher Laut aus einer menschlichen Kehle kommen könnte. Er öffnete den Mund, um Kyushen zu sagen, dass er aufhören sollte, dann sah er die süffisante Miene des Mannes: Sie besagte, dass alle Laien so reagierten. Donal unterdrückte seine Gefühle. „Ist das alles, was Sie können?“, sagte er. „Ein bisschen Schmerz? Das schaffe ich ja schon mit bloßen Händen.“ „Warten Sie, bis Sie das hier sehen.“ Kyushen drehte an drei Reglern. „Jetzt bringe ich ihn dazu, seine Erinnerungen an die vorvorgestrige Nacht noch einmal zu durchleben.“ Diesmal waren die Schreie so laut, dass Donal die Hände auf die Ohren presste, und sie gingen weiter, bis er es nicht mehr ertragen konnte. Er stolperte zur Tür des Verhörraums, und sie schwang auf, als er näher kam. Er ging hinaus, und die schwere Tür schwang wieder zu. Verzauberte Riegel schlossen sich selbsttätig. Auf dem Gang draußen herrschte Stille. „Thanatos“, sagte Donal wie zu sich selbst. Aber vielleicht ging eine Kräuselung über die Wand, knapp außerhalb der Grenze seines Sichtfelds. Donal kniff die Augen fest zu und öffnete sie dann wieder. „Scheiße“, sagte er leise. Er wusste, dass er wieder hineingehen musste. 402
Mein Häftling. Ohne jeden vernünftigen Grund langte er in sein Jackett und zog seine Magnus aus dem Schulterhalfter. Er öffnete die Sperrklinke, ließ das Magazin herausgleiten, um die Ladung zu überprüfen, und schob es dann wieder in den Griff. Donal packte den Türknauf und kehrte in den Verhörraum zurück. Um Xalia herum war es dunkel. Sie stieg durch kaltes Mauerwerk nach oben und war sich dabei der vertikalen Ströme von Nicht-ganz-Klang bewusst, die von einem namenlosen, fernberührungsähnlichen Gefühl gekennzeichnet waren: einem taktilen Sinneseindruck von eisigen Metallrohren in einigen Metern Abstand. Xalias Dichte in den materiellen Dimensionen ging gegen null, aber sie behielt jene minimale Bindungskraft bei, die eine Auflösung verhinderte. Sie balancierte auf einem schmalen Grat, den kein Mensch richtig einschätzen konnte: Wenn sie einen noch größeren Teil ihres Ichs aus dem sterblichen Universum herausdrehte, würde sie vielleicht nie mehr zurückfinden. Im Darksan Tower war sie mit Lauras Erlaubnis durch die Schächte geschweift und hatte mit einigen der dort eingesperrten Geister kommuniziert. Das Hochhaus war riesig, labyrinthisch und uralt, verblasste jedoch neben der dunklen Geschichte und der Komplexität des Polizeipräsidiums. Wächterfelder stießen Xalia zurück. 403
Hätte Sushana nicht im Krankenhaus und Mina nicht in der Leichenhalle gelegen, hätte Xalia niemals versucht, hier einzudringen. Die Wächterfelder erstreckten sich auf dieser Höhe horizontal durchs gesamte Präsidium. Schichten stehender Hex-Wellen füllten Resonanzräume in den Steinböden, und das nur zu einem einzigen Zweck: um halbmaterielle Lebensformen wie Xalia daran zu hindern, in die obersten Etagen des Gebäudes vorzudringen. Dorthin, wo hochrangige Beamte wie Commissioner Vilnar ihre Büros und Geheimräume hatten. Tief unten, beginnend mit dem fünfzehnten Untergeschoss, verhinderten andere Wächterfelder, dass Geister – sowie Elfen und Ektonebel – die dunklen Geheimnisse der Folterkammern erreichten. Ganz zu schweigen von den beigesetzten Gebeinen ehemaliger Polizeichefs. Xalia hatte noch nie versucht, so hoch hinaufzusteigen. Jetzt schwebte sie mit äußerster Vorsicht zwischen Netzen aus Hochspannungs-Hex, inmitten von verschlungenen dreidimensionalen Irrgärten aus tödlicher Energie. Nur eine einzige Konzentrationsschwäche, und sie würde gebraten und aus dem Dasein geschleudert – in allen Universen. Vilnar hatte Donal geschickt, um Laura zu bespitzeln … und, noch schlimmer, sie zu verführen. Xalia hegte nicht den geringsten Zweifel daran, was passieren würde, wenn sie einen Beweis dafür fand, den sie Laura zeigen konnte. 404
Donal würde leiden, vielleicht sogar in einer einsamen Gasse sterben, auf Hilfe wartend, die nie kommen würde. Xalia schlüpfte gerade durch die dritte Abwehrschicht, als ein feuriger Satz in ihr Bewusstsein sprang. + Wer bist du? + Xalia unterbrach ihren Aufstieg. Für den Bruchteil einer Sekunde driftete sie zur Seite, aber ganz in ihrer Nähe waren Hochspannungs-Hex-Fäden. Sie brachte sich zum Stehen. *Wer will das wissen?* Die Antwort war kalt und laut. + Hast du schon mal über das Wesen der Ewigkeit nachgedacht?+ *Was?* + Die Zeitspanne, die nach dem Ende deines Daseins weiterbesteht. + Es dauerte einen Moment, bis Xalia zu dem Schluss gelangte, dass dies eine Drohung war. *Verpiss dich.* Für einen kurzen Moment herrschte Schweigen im massiven Stein. Dann ging eine kalte, wellenartige Bewegung durch alles, einschließlich Xalia, und sie begann die Natur des Wesens zu verstehen, das die oberen Schichten bewachte. Es war ein Tesselan, eine Aggregation aus Geisterfamilien, die von Meistern der dunkelsten BewusstseinskontrollmagierSchulen auseinandergerissen, brutal umgestaltet und 405
mit einer einzigen Quasi-Seele reprogrammiert worden waren. + Ich werde dich fressen. + *Das glaube ich nicht.* + Dich zerreißen und in mich aufnehmen. + Xalia hatte sich bereits in Bewegung gesetzt. *Und wo sind die Heerscharen, die du dazu brauchst?* + Ich brauche niemanden … + Aber sie waren jetzt bei den novahellen Netzen tief im Innern des Steins, wo tödliche Energien brannten und eine riesige, mächtige Gestalt wie der Tesselan-Wächter keine Bewegung wagte. Die dummen, hirnlosen Energien der Feuernetze spürten das enorme Resonanzvolumen des Tesselan und kamen bereits heran. Xalia verlängerte ihre Gestalt und schlüpfte in die Feuernetze. Und jetzt war sie wirklich in Gefahr. *Oh, Scheiße.* Die Worte des Wächters hinter ihr waren strahlend hell. + Das war eine tödliche Dummheit, Kleines. + Xalia versuchte, sich vorwärts zu bewegen, aber die gierigen Energiefäden schlugen sie zurück, und eine bittere Erkenntnis durchflutete sie: Gleich würde sie sterben. Donal kam in den Verhörraum zurück. Die ursprünglichen Bilder und leuchtenden Muster wurden jetzt 406
von matrixförmigen Anordnungen fließender Lichter überdeckt, Netzen, in denen sich Hieroglyphen und ikonische Zeichen bewegten. Kyushen war an seinem Arbeitstisch hinter dem Lichtermeer kaum zu sehen. Geräte summten und knisterten. Der zwergenhafte Häftling, dessen Seele gehäutet wurde, war unsichtbar, verborgen unter dem gewaltigen Feuerwerk von Licht und Bewegung, das den von Steinmauern umgebenen Raum erfüllte. „Thanatos … was machen Sie mit ihm, Kyushen?“ „Das ist die Seele in Aktion.“ Kyushens Stimme klang undeutlich; sie wurde von misstönenden Klickund Knarrlauten seiner Instrumente übertönt. „Die eigentlichen Gedanken, die von den Schemata und Bildern erzeugt werden. Sehen Sie: Da wird eine Neigung wachgerufen, um die Qualia zurückzuweisen, die mit …“ „Sie sind verrückt.“ „Ganz im Gegenteil. Sehen Sie.“ Kyushens Ärmel erstrahlte in kaleidoskopischen Farbtönen, als er in die Mitte des visuellen Mahlstroms zeigte. „Dort. Diese Struktur passt überhaupt nicht zu rationalem Denken, zumindest nicht zu dessen menschlicher Spielart.“ „Wollen Sie damit sagen, dass der Häftling kein Mensch ist?“ „Nein, sondern dass er im klinischen Sinn wahnsinnig ist. Man brauchte schon ein paar mächtige Zaubertherapeuten, um die Probleme dieses Burschen mit ei407
nem wie auch immer gearteten Rechanneling zu lösen.“ Donal starrte eine Weile auf die wabernden Lichter. „Wir sind nicht hier, um seine Probleme zu lösen.“ „Nein. Sind wir nicht.“ „Aber ich kann nicht zulassen, dass Sie …“ „Pst. Da, sehen Sie! Blutiger Tod, ich hab’s.“ „Was haben Sie gefunden?“ „Moment. Das ist die Spur, der ich einfach nur durch diese Invokationen hindurch folgen muss …“ Donal setzte zu einer weiteren Frage an und machte den Mund dann wieder zu. „Da ist eine Telefonnummer“, murmelte Kyushen. „Sie machen Witze.“ „Es ist ein Resonanzeindruck.“ Kyushen blickte zu Donal hoch. „Er hat sie nicht direkt wahrgenommen. Ich muss die Eindrücke aufspüren und einen Schatten bauen.“ Donal schüttelte den Kopf. „Sie meinen, es ist Spekulation, nicht Erinnerung.“ „Wenn wir ein vollständiges Bild haben, wird es präzise sein.“ Donal hätte Kyushen gern gefragt, woher er das wusste, aber er entschied sich dagegen. Kyushens Finger huschten über Schalter und Tasten. „Gleich hab ich’s …“ Finger bewegten sich schneller über die Konsole. „Nein. Verdammt …“ Es gab nichts, was Donal sagen oder tun konnte. „Ah … Hades.“ 408
„Sie haben ihn verloren“, sagte Donal. „O nein.“ Kyushen blickte auf. „Ich kann Ihnen genau sagen, woher der Anruf kam: sieben sieben sieben, zwo neun, drei fünf eins, sieben zwo null.“ Donal starrte ihn an und nickte dann. „Machen Sie Aufzeichnungen“, sagte er. „Von allem, was Sie finden.“ „Natürlich.“ Kyushen schüttelte den Kopf. „Was hatten Sie denn gedacht?“ Donal schwieg, aber seine Gedanken rasten. Dies war das zweite Beweisstück. Ich denke, Sie würden es verschwinden lassen, wenn Sie wussten, dass Sie gerade Vilnar belastet haben. Donal konnte sich nämlich nicht vorstellen, dass es einen noch gefährlicheren Gegner gab als einen Polizeipräsidenten. Xalia versuchte zu entkommen, aber das Feuer trieb sie zurück, das Pseudo-Feuer, das ihre Geistergestalt unter Schmerzen vernichten konnte, die ein subjektives Jahrhundert lang andauern würden: ein Tod, bei dem sich die Zeit dehnte. Das Feuernetz drängte und brannte sie aus dem Dasein. *Verdammtes Drecksloch.* Plötzlich ging eine kühle Welle durchs Netz und räumte ihr einen Weg frei. *Wer …?* *Man nennt mich Gertie.* Jetzt erkannte Xalia den Geist. Wenn Laura in den 409
Fahrstuhlschächten nach unten sank – Fahrstuhlschächten, die für einen Geist wie Xalia bedeutungslos waren –, flog Xalia manchmal neben ihr her, und dabei hatte sie ein paar der gefangenen Geister kennengelernt. *Gertie? Bist du nicht in Fahrstuhl 7 gefangen? An ihn gebunden?* *Na ja … Es gibt solche und solche Bindungen, oder?* Xalia wusste nicht genau, was das heißen sollte. Sie passte die Rotationsfrequenz ihres Vektors der von Gertie an: Es war, als hielten zwei reale Menschen Händchen. Zusammen schlüpften sie durch feste Materie, hinauf zu dem Ort, wo vielleicht die Wahrheit ans Licht kommen würde. Commissioner Vilnars Büro. Harald brachte sein knochengeschütztes Motorrad zum Stehen und ließ es im Leerlauf vor sich hintukkern. Das Bike fuhr zwei gekrümmte Ständer aus und stützte sich ab, als Harald ein Bein über den Sattel schwang und abstieg. „Halt dich bereit“, sagte er leise. „Und pass auf.“ Das Motorrad schien Wachsamkeit auszustrahlen, als Harald sich von ihm entfernte. Er marschierte mit schnellen Schritten eine Gasse entlang, die von einer Reihe niedriger, stacheliger Poller gesperrt wurde: Sie sollten Motorräder und Autos davon abhalten, nur so zum Spaß zwischen den mit Graffiti verzierten Mauern hindurchzubrettern. 410
In dieser Nacht war es so kalt, dass nicht viele Jugendliche aus dem Viertel draußen waren. Trotzdem flackerte plötzlich rotgoldenes Licht über geschlossene Fenster, und laute Detonationen hallten durch die Luft: Knallfrösche und Kracher, geworfen von jungen Dummköpfen, die es besser wissen sollten. Als junger Polizist hätte Harald beinahe einmal einen vierzehnjährigen Knallfroschwerfer erschossen, weil seine aufgepeitschten Nerven auf das Krachen reagiert hatten, als wären es Schüsse. Jetzt erkannte er den Unterschied automatisch – nicht nur von seinen Jahren auf der Straße her, sondern auch von den dazwischenliegenden Jahren bei den Marines, bevor er sein Leben als Cop wieder aufgenommen hatte. Und als Sergeant der Kampferprobten Siebener hatte er seine Truppe im kongalesischen Steinwald – im umkämpften Fuerile-Tal jenseits der surinesischen Grenze – einmal an einen sicheren Zufluchtsort geführt. Harald hatte einen Einheimischen als Führer benutzt, jemanden, der im Militär-Stützpunkt mit ihnen zusammenlebte und ihnen sogar das Essen zubereitete. Der Name des Führers war Garn Sintil; zumindest hatten sie ihn unter diesem Namen gekannt. Verdammte dreckige Spitzel und Verräter. Niemand ahnte jedoch, dass Garn Sintils wahre Sympathien den Separatisten galten. Niemand wusste es, bis ein Crescendo von hexlarbrechenden Kugeln unter den dicken fraktalen Baumstämmen hervorgepfiffen kam. Die Hälfte von Haralds Leuten war tot, bevor sie den Hinterhalt überhaupt bemerkten. 411
Zur Hölle mit den Scheißkerlen. Harald hatte sich mit drei verwundeten Kameraden freigekämpft. Seine einzige Genugtuung war, dass Billy alias Corporal Büken Flewelor Garn Sintil eine Kugel ins Rückgrat gejagt hatte. Der Mistkerl hatte die Flucht ergriffen und wäre beinahe davongekommen. Eine Sekunde später war Billys Schädel zu scharlachrotem Nebel explodiert – ein Scharfschütze, den Harald nicht gesehen hatte. Es war Harald mit Müh und Not gelungen zu fliehen. Bringt sie alle um. Genau das würde er auch mit Donal Riordan machen, wenn sich herausstellte, dass der Mistkerl die Verantwortung dafür trug, was mit Sushana geschehen war. Harald benutzte Spitzel. Er war sanft und freundlich zu ihnen, wenn es angebracht war. Aber er misstraute ihnen und hasste sie allesamt. Dies war ein Einwandererviertel, in dem sich Flüchtlinge aus lllurium angesiedelt hatten. Harald wusste schon, wo er als Erstes hingehen würde: in ein Cafe namens Stelto’s, wo Birtril Kondalis an acht Abenden pro Woche herumhing – der Hachitag war für die Andacht im Xithros-Tempel reserviert. Aus dem Stelto’s wehte die übliche sehnsuchtsvolle Musik, und Harald stieß die Metallperlenvorhänge beiseite und schob die schwere, mit Runen verzierte Holztür auf. Ihre Laufschienen waren gut geölt, sodass sie 412
sich zügig und geräuschlos öffnete. Harald trat in die opiumgeschwängerte Atmosphäre. Drei Männer mit langem Gesicht saugten in der hinteren Ecke an spiralförmigen Pfeifen. Als sie zu Harald herüberschauten, waren ihre Regenbogenhäute vollständig zusammengezogen, und ihr nadelspitzer Blick ging in eine Traumwelt, die wenig mit Harald zu tun hatte: Es war lediglich eine Reaktion auf die Bewegung. Auf der rechten Seite, wo eine Familie beim Essen saß, schloss ein rundgesichtiger Mann mit kaffeebrauner Haut – Birtril – die Augen und schluckte. Dann öffnete er die Augen wieder und rang sich ein Lächeln ab. „Hallo, Sergeant“, sagte er. „Birtril. Was hast du für mich?“ „Hm?“ „Informationen. Du weißt doch, das mag ich.“ Haralds freundlich wirkende Augen schienen noch größer zu werden. Er zog sich einen freien Stuhl über den billigen Linoleumboden heran, setzte sich an Birtrils Tisch und nickte der dünnen Frau und den beiden kleinen lungen zu, die bei Birtril saß. „Mrs Kondalis“, fügte Harald hinzu. „Freut mich, Sie zu sehen. Und die Söhne.“ Birtrils Frau, Laxara, nickte, aber mit misstrauischer Miene. Sie und Birtril waren sich des wahren rechtlichen Status ihrer Ehe nur allzu bewusst. Birtrils erste – und laut Gesetz einzige – Frau war in Silvex City in lllurium geblieben. 413
Nur das Geld, das Birtril ihr jede Woche schickte, hielt sie davon ab, die Angelegenheit offiziell aufs Tapet zu bringen. Wenn Birtrils Bosse in der Botschaft davon erfuhren, wäre seine Karriere in der Diplomaten-Verpflegung ein für allemal beendet. Und der Geldsegen würde versiegen. „Äh … da läuft nichts …“ Birtril blickte auf, als der Besitzer des Cafes, Zegrol – Stelto, der ursprüngliche Eigentümer, hatte im Verlauf einer Auseinandersetzung mit einem nahe gelegenen Nachtclub, dessen Rausschmeißer Säbel trugen und sie auch zu benutzen wussten, das Zeitliche gesegnet –, den Kopf durch die Vorhänge am hinteren Ende des Raumes steckte. Zegrol erspähte Harald, registrierte, in welcher Stimmung er war, und zog sich sofort wieder zurück. Die Vorhangschnüre schwangen sanft hin und her, nachdem er verschwunden war. Birtril zwinkerte langsam; seine feuchten Augen blickten enttäuscht, aber nicht überrascht. „Ehrlich, Sergeant. Niemand in der Botschaft führt irgendwas im Schilde.“ „Nicht mal der Fahrer von XSA899-Omega-BethDel?“ „Hä?“ „Der Chauffeur. Hager, blass, schwarze Haare. Reiß dich zusammen, Birtril.“ Harald beugte sich zu ihm. „Und konzentrier dich, ja?“ „Äh … klar, Sergeant.“ Harald warf den beiden Söhnen einen prüfenden 414
Blick zu, um festzustellen, ob sie Anzeichen von Verärgerung zeigten, aber sie waren noch nicht alt genug, um zu erkennen, wie sehr ihre Familie Harald ausgeliefert war und wie tief die Abneigung ihrer Eltern gegen ihn sein musste. Laxaras Gefühle blieben ihm verborgen. „Und wie heißt er nun? Der Fahrer?“ Birtrils Blick wanderte nach links. „Ixil Deltrassol. War früher Fahrer beim Militär. Bleibt meistens für sich.“ „Und?“ Birtril warf Laxara einen raschen Blick zu. „Machen wir einen Spaziergang, Sergeant?“ „Natürlich.“ Harald lächelte. „Auf geht’s.“ Er stand rasch auf und half Birtril auf die Beine, als ob dieser Hilfe brauchte. Es ging darum, die Vormachtstellung zu wahren. Harald ignorierte die Opiumraucher und Birtrils Familie – seine zweite Familie –, als er mit Birtril an der Seite hinausging. Aber er beobachtete alles aufmerksam aus den Augenwinkeln. Nichts geschah, als sie durch die Vorhänge auf die kalte Straße hinaustraten. Zwei Jugendliche an der Ecke, von denen einer einen nicht angezündeten Kracher in der Hand hielt, verdrückten sich in die Raxman Alley, als sie Harald sahen. Er war hier bekannt. Und das fand er gut so. „Red’ schon, Birtril.“ „Ich hab keine Ahnung, was er getan hat“, sagte 415
Birtril rasch. „Deltrassol schließt keine Freundschaften. Er macht sich weder Freunde noch Feinde, verstehen Sie, was ich meine?“ „Nur wenn du einfache Wörter benutzt.“ „Ha?“ „Nicht so wichtig. Was verheimlichst du mir?“ „Gar nichts – verdammt.“ Birtril blieb neben einem der Metallpoller stehen. „Ich weiß nichts von irgendeinem Verbrechen, das er begangen haben könnte, okay?“ „Na schön. Und wer sind seine Bekannten, wenn er schon keine Freunde hat?“ „Keine Ahnung … Er hängt oft in Sir Alvans Büroräumen herum, aber schließlich arbeitet er für den Mann. Das ist alles.“ „Und?“ Harald starrte ihn durchdringend an, um den psychologischen Druck aufrechtzuerhalten. „Es gab Gerüchte, und … ich habe Deltrassols Wagen gesehen, wo er eigentlich gar nichts zu suchen hatte.“ „Mhm. Weiter, Birtril. Bis zum Ende.“ „Das See-Through Look’n’Feel“, sagte Birtril. „Ich hab ihn da zufällig rauskommen sehen.“ „Bist du sicher?“ „Ja, und der Türsteher hat ihm eine gute Nacht gewünscht und ihn beim Namen genannt, als ob er ein Stammgast wäre oder so.“ „Gut.“ Birtril stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. 416
„Das ist alles, Boss. Sergeant. Mehr weiß ich nicht über ihn.“ „Ich glaube dir.“ Harald zückte seine Brieftasche und nahm drei Dreizehn-Florin-Scheine heraus. „Hier, kauf Laxara einen neuen Mantel.“ Birtril steckte das Geld rasch ein. „Sehr nett von Ihnen, Sergeant.“ Er schien auf die Erlaubnis zu warten, zu seiner Familie zurückzukehren. „Geh schon.“ Harald machte eine Kopfbewegung zum Stelto’s. „Laxara wartet auf dich.“ „Danke.“ Harald wartete, bis Birtril fast an der Tür des Cafes war, bevor er rief: „Und ich werde Laxara nichts verraten.“ Birtril blieb stehen und versteifte sich. „Dass du in der Quarter Moon Alley gewesen bist“, fügte Harald hinzu. „Ich will gar nicht darüber spekulieren, was du da gemacht hast. Verstehst du?“ Birtrils Kopf sank auf die Brust. Wie er da so vor der Tür des Stelto’s stand, lag sein Gesicht vor dem Licht im Schatten, und vielleicht weinte er: Er war unmöglich zu erkennen. Dann richtete er sich ein wenig auf, stieß die Tür auf und ging hinein. Die Tür schloss sich mit einem dumpfen Laut hinter ihm. Harald stand eine Weile da und sah die geschlossene Tür an. Dann erinnerte er sich an Sushanas übel zugerichtetes Gesicht, und seine Miene wurde zu Stein. 417
Hoch über ihm explodierte eine Rakete, verstreute silberne Sterne und gab ein kreischendes Geheul von sich. Als Harald zu seinem Bike kam, schwang er das Bein über den Sattel und setzte sich hin. „Wenn dieser Deltrassol einer der Auftraggeber ist“, erklärte er dem Motorrad, „reiße ich ihm die Eier ab. Aber wenn er nur eine Marionette ist …“ Das Motorrad grollte und knurrte, und als Harald die Griffe packte, kam die Maschine auf Touren. Das Bike rollte vorwärts und zog seine beiden Ständer wieder ein. „… dann sorge ich dafür, dass Donal Riordan, dieser Scheißkerl, seine Testikel verliert – und noch mehr. Nicht nur wegen Sushana, sondern auch wegen Laura.“ Das Motorrad beschleunigte und fuhr auf die Straße hinaus.
418
EINUNDZWANZIG Xalia kämpfte sich durch weitere Barrieren, an denen Gertie mühelos vorbeischlüpfte. Mehr als hundertzwanzig Jahre lang war Gertie durch Fahrstuhlschächte und die weniger bekannten Elemente der Architektur des Polizeipräsidiums geglitten. Sie wusste, wo massiver Stein freien Durchgang gewährte und wo Sicherheitsbelange hinterhältige Abwehrsysteme hervorgebracht hatten. Jetzt blieb Gertie vor dem letzten Labyrinth zurück und wies Xalia den Weg. *Dort entlang. Siehst du?* *Ja. Danke.* Es war nicht ungefährlich, einem Mitgeist zu helfen, aber Gertie hatte eine rebellische Ader, und außerdem langweilte sie sich schon seit Tagen. Überdies arbeitete Xalia mit Donal zusammen, sie gehörte zu seinem neuen Team, und Gerties Zuneigung zu Donal war mit den Jahren gewachsen. Xalia wand und schlängelte sich unterdessen durch die Hindernisse; sie verlängerte ihre Gestalt in gefährlichem Ausmaß und versuchte mit aller Kraft, die Barrieren zu durchbrechen. Sie wollte den Beweis für Donals Komplizenschaft finden, um ihn Laura zu präsentieren. Aber dieses Feuerlabyrinth war das Werk eines Könners. *Alles in Ordnung, Xalia?* Gerties Frage kam wie ein fernes Echo durch 419
flammende Vorhänge aus heißem Hex. Xalia schickte einen schmalen Kommunikationsstrahl durch das Labyrinth zurück. Sie musste sich jetzt konzentrieren. *Klar. Was hast du denn gedacht?* Ob es an der mit dieser Antwort verbundenen winzigen Ablenkung lag, konnte Xalia nicht sagen … aber gleich darauf wurden die in den dünneren Abschirmungen schwebenden Hex-Riegel dicker und heißer und verstärkten ihre Manifestation. Xalia zog sich zusammen und hielt still; reglos schwebte sie an Ort und Stelle. Dann wurden die Riegel noch heller und begannen, sichelförmige Hörner aus knisternder Energie auszufahren, und Xalia wusste, dass sie erledigt war. Ein noch tieferer Vorstoß ins Labyrinth kam nicht in Frage. Sekundäre und tertiäre Labyrinthe schwangen und rotierten aus den orthogonalen Taschenuniversen herein, in denen sie abgelegt waren. Sie fügten sich selbsttätig ins sterbliche Kontinuum ein und füllten die Lücken des Labyrinths. *Vilnar. Du dreckiger …* Xalias Fluch auf den Commissioner wurde abgeschnitten, als die ersten beiden Energiehörner ihre halb ätherische Gestalt durchbohrten und Schmerz durch ihre Paranerven loderte: eine grausame Pein, wie normale Menschen sie niemals erleben konnten. „Xalia?* *Mich hat’s erwischt.* Ein langer, dünner Faden bahnte sich seinen Weg 420
durch die hervorsprießenden neuen Riegel des Oberlabyrinths. Es war Gertie, die sich zu Xalia ausstreckte … oder es zumindest versuchte. In einem lichten Moment begriff Xalia, was Gertie da tat, und warum. Sie erinnerte sich daran, wie Gertie mit Donal gescherzt hatte, und wie Donal ohne jedes Zögern akzeptiert hatte, dass ein Freigeist Mitglied einer Spezialeinheit war. Verdammt, Xalia mochte Donal, aber wenn er mit dem Feind im Bunde stand … *Gertie, ich bin hier, um Beweismaterial gegen Donal Riordan zu suchen.* Für eine Sekunde zog sich der ausgestreckte Teil von Gerties Gestalt zurück wie eine blinde Schlange, die nach einem elektrischen Schlag rückwärts gleitet. Doch dann schob sie sich wieder suchend ins immer enger werdende Labyrinth hinein; und kurz darauf erkannte Xalia, dass es keinen Sinn hatte, Gertie zu sagen, sie solle, Thanatos noch mal, von hier verschwinden. Es würde schneller gehen, wenn sie ihr zeigte, wie schlimm die Dinge standen. Xalia dehnte sich aus, bis ihre Gestalt auf Gerties Verlängerung traf, eine Koexistenz zweier Geister im selben Raum; zugleich drangen zwei weitere Sichelhörner in ihren Körper ein, und sie schrie auf. Schmerz wurde über Frequenzen und Energiefelder transportiert, die dem Menschen unbekannt waren. Gerties Gestalt – oder jene Teile von ihr, die Xalia spüren konnte – pulsierte und loderte von geteiltem Schmerz, während das Schneide-Hex durch ihr eige421
nes Paranervensystem sauste. In der Ferne erklang ein Schrei. *Wirst du jetzt, verdammt noch mal, von hier verschwinden, Gertie?* Nach einer Hundertstelsekunde ertönte Gerties Antwort in Xalias Paranervensystem: *Das hier ist mein verdammtes Gebäude, und niemand macht so was mit mir!* Dann begann Gerties Gestalt als Folge einer Energiekonzentration zu glühen, wie Xalia sie noch nie erlebt hatte. Währenddessen hatte Donal die Telefonnummer, die er brauchte, die zweite Verbindung zu Commissioner Vilnars Büro, aber ohne jede Aussicht, sie vor Gericht als Beweismittel verwenden zu können. Sein technischer Experte, Kyushen, saß in schockiertem Schweigen da, während Bahrenträger den reglosen Zwerg hinausbrachten. Schon allein der Zustand des Zwergs machte das Beweismittel ungültig. Er war nicht im eigentlichen Sinne tot, sondern befand sich in einer Basiliskentrance, die Kyushens sämtlichen Diagnosen zufolge nicht mehr aufgehoben werden konnte. Juristisch gesehen war eine derart tiefe Katatonie gleichbedeutend mit dem Tod. In der tristopolitanischen Rechtsgeschichte war noch nie jemand aus einer Basiliskentrance erwacht. Kyushen starrte ins Nichts. „Sie fühlen sich schlecht.“ Donal sah den Bahren422
trägern nach, bis die Eisentür hinter ihnen zufiel. Die Darstellungen, die zuvor so hell geleuchtet hatten, waren jetzt zu ein paar kleinen, minimierten und gedämpften Geisterbildern verblasst. „Und Sie könnten dieses Gefühl wahrscheinlich mit Ihren eigenen Instrumenten ändern …“ Kyushen blickte auf. „… aber das sollten Sie bleiben lassen“, fuhr Donal fort. „Denn Sie haben einen Menschen getötet, und da kommt man nicht drüber weg, man akzeptiert es nicht … man lebt einfach damit.“ „Aber ich wollte das nicht … Das wissen Sie.“ „Ja“, sagte Donal. „Aber es war von Anfang an ein Risiko, und wir beide wussten es.“ Kurz darauf begann Kyushen zu zittern. Seine Haut war bleich: die Nachwirkungen des Schocks. Donal sah zu, wie ihn der Schüttelkrampf packte. „Entspannen Sie sich“, sagte er. „Nicht dagegen ankämpfen. Lassen Sie’s einfach über sich ergehen …“ Kyushen schloss die Augen und stöhnte. „… das ist nämlich ganz natürlich. Hinterher sind Sie wieder okay.“ Einige dieser Wörter kamen aus Donals Unterbewusstsein, von der hypnotischen Trance, in die ihn der Polizeimagier nach seiner ersten tödlichen Schießerei auf der Straße versetzt hatte. Donal hatte nicht bloß einen, sondern drei Männer getötet, nachdem Fontänen scharlachroten arteriellen Blutes aus Fredrix’ zerfetztem Hals gespritzt waren. 423
Donal hatte mitangesehen, wie Sergeant Fredrix Paulsen – wenn Donal je so etwas wie einen Vater gehabt hatte, dann war er es – nach Luft schnappte und in sich zusammenschrumpfte, während seine Augen trüb wurden, und das war’s: Von dem Mann blieb nichts übrig, nur Brennstoff für die Reaktoren. Und nach zwei Minuten – obwohl es Kyushen viel länger vorgekommen sein mochte – schwächte sich der Schüttelkrampf zu einem Zittern ab und hörte schließlich ganz auf. Kyushen sackte zusammen. Donal wartete noch einen Moment, dann ging er hinaus. Xalia schrie, rotierte wie Wäsche im Trockner und wechselte rasend schnell zwischen Realität und Irrealität, während Gertie sie durch winzige, sich schließende Öffnungen der Schmerzen zerrte. Kochend heiße Qualen waren das bestimmende Merkmal der immer enger werdenden Labyrinthe, in denen Xalias Geistergestalt zerrissen und zerfetzt wurde. Dennoch blieb sie im Wesentlichen unversehrt, als Gertie sie alle beide mit Hilfe ihrer Kräfte und unter geschickter Ausnutzung der Topologie durch die tödlichen Hex-Abwehrsysteme zur Peripherie zurückbrachte. Und dann waren sie draußen und badeten im kühlen, massiven Stein. Über ihnen brodelten und brannten die äußeren Abwehrvorrichtungen. Gerties Worte rollten durch Xalias Bewusstsein. *Und was hast du nun bewiesen?* 424
Schmerz sprach aus jeder Bewegung von Xalias entkörpertem Wesen. *Was … meinst … du?* *Du wolltest Anschuldigungen gegen Donal Riordan erheben. Belastungsmaterial gegen ihn finden.* Xalia, deren Geistergestalt noch immer Risse aufwies, wogte immateriell im Innern des massiven Mauerwerks. Sie konnte sich kaum konzentrieren, und die Verständigung bereitete ihr große Mühe. *Ja …* *Hast du die Resonanz irgendeiner Persönlichkeit da drin empfangen? In den Energien des Labyrinths?* Xalia drehte sich im Versuch, ihre Konzentration wiederzuerlangen. *Resonanz?* *Ja … Was für ein Geist bist du eigentlich?* Kurz darauf hatte Xalia so viel Energie in sich hineingesaugt, dass sie zu einer Antwort imstande war. *Verpiss dich.* Gertie gluckste. *Schon besser. Also, je eher du herausfindest, wessen Geschmack das war …* – sie meinte den Geschmack der Resonanz – * desto eher kannst du den jungen Donal in Ruhe lassen.* *Du … magst ihn.* Erneut spürte Xalia Gerties Belustigung. *Welpen mag ich auch. Warst du schon mal in der Höhle der Todeswölfe?* 425
Hätte Xalia Augen besessen, so hätte sie sie geschlossen. Albernes Geplänkel war einfach zu viel. Ihr tat immer noch alles weh. *Verstehe … nicht.* *Der junge Donal ist wie ein Haustier für mich. Du bist wie ein Nachbarskind. Und es ist an der Zeit, dass du deine eigenen Gefühle für Laura Steele klärst.* ‘Ach du dickes Ei …’ *Tja, du bist ein Geist, Xalia. Dicke Eier werden dir wohl kaum weiterhelfen.* Das war zu viel. Aber Gerties nächste Worte kamen in sanfterem Ton, sie klangen beruhigend und führten Xalia weiter weg von dem brennenden Labyrinth. Die beiden Geister ließen sich nach unten sinken, blieben dabei jedoch in dem kühlen, massiven, schützenden Stein. *Komm mit, Xalia. Da sind Wäldchen und Grotten, die keiner mehr kennt. Einige besitzen Heilkräfte.* *Ich weiß … nicht.* Gertie näherte sich. *Vertrau mir. Ich kann dich heilen.* Nach einer kurzen Pause sagte Xalia: *Ja …* *Dann komm.* Sie sanken schneller durch den Stein in die Tiefe. Donal war in Lauras Büro. Die inneren Glaswände hatten sich auf Lauras Befehl hin verdunkelt, sodass sie mit Donal allein war. Sie umarmten und küssten 426
sich, und Laura stöhnte, als Donal mit Handflächen und Fingerspitzen über ihre dünne Bluse und den seidigen BH strich, aber weiter gingen sie nicht. Es waren zu viele Polizisten und andere Wesen im Gebäude, die starke Resonanzen spüren konnten; intimere Zärtlichkeiten würden warten müssen, bis sie wieder in Lauras Wohnung waren. Donal stieß langsam den Atem aus. „Oh, Thanatos.“ „Ja …“ Dann schluckte Donal und schaute auf die nunmehr undurchsichtige Wand, als gäbe es dort etwas zu sehen. Er sagte: „Ich will nicht weg. Verstehst du?“ „Du hast keine Lust auf einen Besuch in einem fremden Land?“ Donal schüttelte den Kopf. „Ich hab eine Scheißangst vor dem Flug, wenn du die Wahrheit wissen willst. Aber ich kann mich natürlich bis zur Bewusstlosigkeit betrinken. Auslandsreisen waren nicht gerade ein Charakteristikum des Waisenhauses, und schon deshalb würde ich’s gern machen … daran liegt es nicht.“ „Ich weiß.“ Lauras Stimme wurde dünn und leise. „Es ist furchteinflößend, nicht wahr? Wie schnell alles geht, so wie das mit dir und mir.“ „Genau.“ „Du willst nicht von mir getrennt sein, und das ist gut.“ Laura schenkte ihm ein etwas trauriges Lächeln. „Mir geht’s genauso, Liebster. Aber wir wissen beide, dass du nach Illurium fliegen wirst, weil 427
es die einzige Möglichkeit ist, unsere Aufgabe zu erfüllen.“ Nach einer Weile nickte Donal. „Wahrscheinlich. Hör zu, ich will dich nicht in Gefahr bringen … Aber du könntest mitkommen, und …“ „Nein, ich glaube nicht.“ Donal rieb sich das Gesicht. „Könntest du keinen Urlaub draus machen, während ich meine Nachforschungen anstelle? Ich möchte nicht, dass du inkognito hinfliegst – entschuldige, ich weiß, du bist der Boss –, aber wir könnten dich woanders unterbringen. Ich bin gut darin, mich durch Gassen zu schleichen und etwaige Verfolger abzuhängen …“ „Ach, du bist so ein Schatz.“ Laura trat nah an ihn heran, legte ihm eine kalte Hand ans Gesicht – es fühlte sich für Donal herrlich beruhigend an – und küsste ihn sanft. „Was ist?“ „Du behandelst mich genauso wie jede andere Frau.“ „Na ja …“ Donal lächelte. „Nicht genauso wie jede andere.“ „Ha. Aber darum geht es.“ „Äh … worum?“ „Um das, was hier drin ist.“ Laura zeigte auf ihre linke Brust. „Ich bin nicht wie jede andere Frau. Leute wie ich werden bei jedem Schritt aufmerksam beobachtet. Ich bin nicht mal sicher, ob ich in lllurium überhaupt Rechtsansprüche besäße.“ 428
„O Mann, geht mir dieser Mist auf den Zeiger!“ Laura schenkte ihm ein wunderschönes Lächeln. „Das freut mich, Liebster. Aber pass auf, dass dein Zeiger nicht zu sehr darunter leidet.“ Donal schüttelte den Kopf und kniff die Augen zusammen. Laura lachte. „Na schön“, setzte sie hinzu. „Wir müssen noch ein paar Vorbereitungen für deine Reise treffen. Haralds Kontakte dort drüben werden von unschätzbarem Wert sein … Wo steckt er eigentlich?“ „Hab ihn seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen“, sagte Donal. „Vielleicht im Krankenhaus, bei Sushana?“ „Nein, da hab ich vorhin angerufen. Viktor ist bei ihr. Ich glaube, er und Harald passen abwechselnd auf sie auf.“ „Gut.“ Harald saß vornübergebeugt auf seinem Motorrad und gab ordentlich Gas, als er auf dem Orb-Dexter Freeway zurückfuhr. Er wusste, dass er in wenigen Minuten möglicherweise Commander Steeles Glück zerstören würde. Laura Steele war die beste Vorgesetzte, die er je gehabt hatte, einschließlich seiner Dienstzeit bei den Marines. Wenn ihr klar wurde, dass Donal ein Handlanger des Schwarzen Zirkels war, würde sie am Boden zerstört sein. Doch dann rief Harald sich Sushanas Gesicht ins Gedächtnis, die Spuren all dessen, was Freddy die Klaue und seine Männer ihr angetan hatten. Viktor 429
hatte mit einem der Krankenhausärzte eine Ewigkeit lang, wie es schien, unter vier Augen gesprochen und war dann mit totem Blick und Klammern des Zorns in den Muskeln um den Mund herausgekommen. Harald würde dafür sorgen, dass jemand bezahlen würde … dass alle bezahlen würden, angefangen mit Lieutenant Riordan, und er würde erst aufhören, wenn er Commissioner Vilnar zu Fall gebracht hatte. Er brauchte nur noch ein einziges Beweisstück. Aber er hatte schon immer das Gefühl gehabt, dass in Commissioner Vilnars Reich etwas nicht stimmte. In seinem Büro hatten sonderbare Energien geflackert und vibriert, knapp außerhalb der Reichweite von Haralds bei den Marines trainierten Sinnen. Die Phantasm legte sich in die Kurve und bog um eine Ecke, erschreckte dabei eine elegant gekleidete alte Frau, die gerade die Straße überqueren wollte, richtete sich dann wieder auf und beschleunigte erneut. „Ixil Deltrassol“, hatte Haralds unfreiwilliger Informant Birtril gesagt. „War früher Fahrer beim Militär. Bleibt meistens für sich.“ Dieser Deltrassol, der zum Botschaftspersonal gehörte und keine Ahnung vom wahren Charakter des Schwarzen Zirkels hatte, für den er letztendlich arbeitete, war vermutlich ein mieser kleiner Gauner – ein Fahrer, der im umfangreichen Heer der von unsichtbaren, über ihnen stehenden Individuen manipulierten Schwachköpfe und schwarzen Schafe – dessen mittlere Offiziere allerdings richtig üble Typen 430
sein konnten, siehe Freddy die Klaue – höchstens als Fußsoldat rangierte. Aber niemand würde es wagen, gegen den eigenen Polizeipräsidenten zu ermitteln. Wenn Harald auch nur halbwegs vernünftig gewesen wäre, hätte er ebenfalls gar nicht erst daran gedacht. Sie werden bezahlen. Sushana spielte dabei die entscheidende Rolle – Sushana, die in Haralds manchmal trostloser Welt schon immer die entscheidende Rolle gespielt hatte. Fern von den reich verzierten alten Stadthäusern mit polierten Messinggeländern bremste Harald die Phantasm ab. Sie fuhren in ein Pentagramm, dessen Seiten von ehemaligen Herrenhäusern gebildet wurden, die sich in verfallende Hotels verwandelt hatten. Den fünfeckigen Garten konnte man nachts nicht mehr gefahrlos betreten, jedenfalls nicht unbewaffnet oder allein. Dann fuhr er mit dem Motorrad eine Reihe immer schmaler und dunkler werdender Straßen entlang, bis die Lichter wieder heller wurden; diesmal herrschten grelle Blau- und Rottöne vor. Die reiche alte Dame, die sie beinahe überfahren hätten, wäre schockiert gewesen, wenn sie von der Existenz dieses Gebiets Kenntnis erlangt hätte, obwohl es nicht viel mehr als einen halben Kilometer von dort entfernt war, wo sie ihr vornehmes Leben verbrachte. Über Sid’s Scar Parlour flatterte eine winzige, angekettete Dämonengestalt mit ihren ledrigen Flügeln; die verschlungenen Runen-und-Knoten-Muster auf 431
ihrem Körper legten Zeugnis ab von der beträchtlichen Geschicklichkeit des einäugigen Sid mit dem Rasiermesser. Hier in der Quarter Moon Street war Sids Kunstfertigkeit wohlbekannt; aber Harald erinnerte sich an ihre gemeinsamen Jugendzeiten, als sie in derselben Gang die Straßen unsicher gemacht hatten und Sid das Rasiermesser für unmittelbarere Zwecke als finanziellen Gewinn oder künstlerische Anerkennung eingesetzt hatte. Wer weiß, vielleicht war Sids Umgang mit der ultrascharfen Klinge tatsächlich von so etwas wie künstlerischem Geschick geprägt gewesen. Im Schneckentempo – die Maschine murmelte fast im Leerlauf – glitten sie an dem schwarzen, vieleckigen, fensterlosen Gebäude namens Nameless, einem Wettbüro und einem Nachtclub vorbei, der so schlecht lief, dass er unerbittlich auf den Status eines Bordells zusteuerte – in Tristopolis strikt verboten, aber dennoch allgegenwärtig. Hatte es jemals eine Großstadt ohne Prostitution gegeben? Harald hatte sich schon oft so seine Gedanken über die Nähe zwischen ihr und den Gnadenhöfen gemacht, die zwar nur knapp drei Kilometer, aber trotzdem Welten von hier entfernt waren. Zumindest ließ jeder Richter, der sich auf der Quarter Moon Street verlustieren wollte, seine Robe im Gericht. Hinter den Leuchtreklamen dreier weiterer Etablissements auf der rechten Seite sah Harald die 432
ephemere Hand, die aus der Mauer kam, über dem Bürgersteig hing und Passanten einladend heranwinkte. Das See-Through Look’n’Feel wirkte zwar nobler als viele der Nachtclubs in der Umgebung, hatte aber im Grunde nur eine Sorte von Gästen. Bei vielen von ihnen drehte sich sogar Haralds abgehärteter Magen um. Direkt vor ihm parkte ein Taxi, und Harald fuhr mit dem Motorrad dahinter an den Randstein. Die drei jungen surinesischen Seeleute, die aus dem Taxi stolperten, lachten und waren halb betrunken, und Harald hoffte, dass bei den wie auch immer gearteten Abenteuern, die sie an diesem Abend erwarteten, wenigstens die Illusion von Glück im Spiel war – ganz gleich, welche schmutzige Transaktionen dabei vonstatten gehen mochten –, und dass sie keine Traumata davontrugen, die sie ihr restliches Leben lang verfolgten. Hier konnte es jedoch ebenso gut sein, dass ihr verwirrtes Bewusstsein als Letztes das Aufblitzen einer Klinge oder den Lichtreflex auf einer ausgeworfenen Patronenhülse wahrnahm, bevor es dunkel um sie wurde. Vielleicht spürten sie die Finger, die nach ihren Brieftaschen und Ausweisen suchten, dann schon gar nicht mehr. So etwas kam hier vor, genauso wie in den ausländischen Häfen, die Harald als junger Marine besucht hatte; es schien der Lauf der Welt zu sein. Harald erwog für eine Sekunde, ihnen seinen eigenen Ausweis zu zeigen, seine Dienstmarke als Detective, und 433
sie wegzuschicken … aber sie würden nur woanders in Schwierigkeiten geraten. Und dann fiel ihm wieder ein, in welchem Zustand Sushana war, und er verschwendete keinen Gedanken mehr an die Seeleute. Das Motorrad fuhr zögernd einen Ständer aus, sodass Harald sich zur Seite beugen und einen Blick in den Eingang des SeeThrough Look’n’Feel werfen konnte. Dort standen vier Männer in dunkelroten Umhängen – die Clubfarbe –, und der größte von ihnen war Stone. Harald kannte Stone schon lange, und zwar nur unter diesem Straßen-Spitznamen, der jedoch durchaus zutreffend war. „In Ordnung“, sagte Harald leise zu dem Bike. „Ich gehe vorne rein. Aber erst mal verstecken wir dich.“ Das Motorrad brummte zustimmend, rollte weiter und zog den Ständer ein. In einer dunklen Gasse, in der überall kaputte Kisten und blaue und braune Glasscherben herumlagen, brachte Harald die Maschine zum Stehen. Sie fuhr beide Ständer aus, und als Harald abstieg, sah er ein blasses Kind mit reptilienartigen Schuppen auf der Stirn. Das Kind schien fünf Jahre alt zu sein, vielleicht auch acht, falls es nicht genug zu essen bekam. „Hey“, sagte Harald. „Könntest du mir einen Gefallen tun?“ Nach einer Sekunde nickte der schuppige Junge. Harald wühlte in seiner Tasche und warf ihm eine 434
Handvoll neuneckiger Münzen hin. Der Junge fing sie auf. „Sorg dafür, dass niemand meiner Maschine zu nahe kommt“, fügte Harald hinzu. „Dann kriegst du noch mehr, wenn ich zurückkomme.“ Ein Schimmer lief über den knochigen Panzer des Motorrads. Der Junge machte große Augen. „Ja“, sagte Harald. „Ist sozusagen in ihrem eigenen Interesse, nicht wegen des Bikes.“ Der Junge grinste. Nach einem Moment erwiderte Harald das Grinsen. Dann ging er durch die Gasse zurück zum Vordereingang des Clubs, wobei er die Waffe seitlich am Körper in der nach unten gestreckten Hand hielt. Stone sah Harald schon aus hundert Metern Entfernung kommen und trat mitten auf den Bürgersteig hinaus. Er stand da wie ein massiver Felsbrocken, der eine Meerenge zur Hälfte ausfüllt. Passanten schoben sich zu beiden Seiten an ihm vorbei; sie wichen ihm unbewusst aus. „Hey, Sergeant“, brummte Stone, als Harald näher kam. „Hey, Stone.“ „Brauchen Sie das?“ Stone hob eine steinverkrustete Hand und zeigte auf Haralds Pistole. „Steht uns Ärger ins Haus?“ „Ich hoffe nicht.“ Harald hielt die Mündung der Waffe weiter nach unten. „Aber ich bin gern vorbereitet.“ „Sie wollen doch nicht behaupten, dass jemand 435
von unserer Kundschaft schlimme Sachen gemacht hat?“ Als Stone die Stirn runzelte, schabten die Ränder von ineinander greifenden Granitplatten aneinander, die sie schützten. „Wir führen hierein exklusives Etablissement, Sergeant.“ „Sicher doch“, sagte Harald. „Und Sie wollen bestimmt, dass es auch so bleibt.“ „Also, wer ist der Missetäter?“ „Missetäter?“ „Was ist?“ Die Steine um Stones Grinsen verschoben sich. „Glauben Sie, ich könnte keine tollen Wörter benutzen, oder was?“ „So was werden Sie aus meinem Mund nicht hören, großer Mann. Der Missetäter heißt Deltrassol, obwohl … wer weiß, welchen Namen er hier benutzt.“ „Ach, der.“ Stones Grinsen wurde breiter. „Der mag die Frauen … die immateriellen jedenfalls. Macht sich keine Falte in seine Chauffeuruniform, zumindest nicht von außen, verstehen Sie, was ich meine?“ Harald wusste sehr gut, worauf Stone hinauswollte. „Schon mal dran gedacht, eine ehrliche Arbeit zu machen, Stone?“ „Was, Sie meinen, wie ‘n Polizist? Nette Uniform, bisschen durch die Gegend spazieren, Delinquenten schnappen …“ „Wir bezeichnen sie eigentlich nicht als Delin-“ „Offenbar nicht mehr, seit ich Ihnen die ‚Missetäter’ beigebracht habe.“ 436
„Stimmt.“ Harald lächelte beim Gedanken an Stone in Polizeiunform, wie er an der Akademie Kriminologie und Sozialkompetenz studierte. „Also, wo ist unser Mann?“ „Oberste Etage“, sagte Stone. „Ganz hinten.“ „Nur das Beste für unsere Missetäter.“ „Na bitte, Sergeant“, sagte Stone. „Klappt doch schon ganz gut …“ „… für ‘nen dämlichen Cop“, beendete Harald den Satz für ihn. „Besten Dank.“ Drinnen trat Harald durch den ektoplasmischen Vorhang, der die Eingangshalle füllte – er glitt feucht über seine Haut –, dann stand er in einem in Rot und Schwarz gehaltenen Korridor. Flammenelfen tanzten in Wandnischen. Rechts von Harald öffnete sich ein Durchgang zum dunklen Innern des Clubs. In blau beleuchteten Sitzgruppen saßen einige wenige Männer mittleren Alters mit ihren bezahlten Gespielinnen, die teilweise normale Menschen waren: Das Angebot des SeeThrough Look’n’Feel richtete sich an eine große Bandbreite von Gästen. Drei weibliche Geister tanzten auf dem Tresen; ihre unteren Extremitäten versanken ein kleines Stück darin. Sie wiegten sich zu der überlauten Musik. Eine von ihnen schaute zu Harald herüber; die Dunkelheit, wo ihre Augen hätten sein sollen, richtete sich nun auf ihn. Sie zwinkerte langsam beim Tanzen. Sie nickte leicht zum rückwärtigen Teil des Gebäudes, als wüsste sie, weshalb Harald hier war: um 437
sich Deltrassol zu schnappen. Das bestätigte, was Stone bereits gesagt hatte, und Harald tippte sich dankend an die Stirn, bevor er weiter den rot beleuchteten Korridor entlangging.
438
ZWEIUNDZWANZIG Rückwärts geschriebene Wörter krochen über die Wand; Haralds Schatten löschte das Zentrum aus. Das Licht kam von dem leuchtenden Schild, das hinter ihm schwebte. Harald trat zur Seite, damit man seine Silhouette nicht sah, und ging mit Überkreuzschritten durch den Korridor. Er warf einen raschen Blick in den hinteren Salon, falls der Gesuchte nicht dort war, wo Stone glaubte, oder falls es andere Probleme gab. Die TiplogBrüder waren da – sie kehrten Harald den Rücken zu –, und er merkte sich vor, später herauszufinden, was sie im Schilde führten. Sonst niemand Interessantes. Er zog sich in den Korridor zurück und ging zur Treppe hinüber, wo zwei brennende Geister beiseite wichen. Einer von ihnen öffnete den Mund und bleckte Zähne aus gelben Flammen. Ohne sie zu beachten, machte Harald sich an den Aufstieg. Der Teppichbelag auf den Stufen war klebrig und schwarz von Schmutz. Wenn sie so weit gekommen waren, brauchten die Besucher des Clubs den trügerischen Glamour nicht mehr, der die Bar und die Salons zierte: ein Schleier der Lust verbarg die schäbige Wirklichkeit, den abgestandenen Geruch von Verzweiflung und altem Samen. Der Flur in der obersten Etage war mit bloßen Dielen ausgelegt. Lack blätterte von fadenscheinigen Türen ab; hinter zweien ertönte rhythmisches Stöh439
nen. Harald zog seine Waffe. Er würde alle Türen der Reihe nach eintreten, ganz gleich, wer in den Räumen dahinter sein mochte. Doch einer der Geister, der offenbar vorausgesehen hatte, welchen Schaden Harald wahrscheinlich anrichten würde, stieg durch den Fußboden herauf und deutete auf die Tür am Ende des Ganges. Er blieb in der Luft stehen, bis Harald nickte. Dann sank er nach unten und verschwand. Harald bewegte sich schnell. Dielen knarrten unter seinem Gewicht, aber nicht mehr rechtzeitig genug, um Deltrassol zu warnen, bevor Haralds Absatz neben dem Schloss gegen die Tür krachte. Ein kräftiger Hüftstoß, Splitter flogen, als die Tür aufsprang, und Harald wirbelte herum, zielte aus der Hüfte – bei den Kampferprobten Siebenern hatte er Instinktives Schießen gelernt, weil traditionelles Zielen Zeit brauchte – und hielt inne. „Hey, Ixil.“ Harald nannte Deltrassol beim Vornamen, weil das ein elementares Mittel der Einschüchterung war. „Wie geht’s, wie steht’s?“ Auf dem Bett lag ein Mann in einem dunklen Anzug, mit bleichem Gesicht. Seine Augen waren geweitet, und er rührte sich nicht. Der halb manifeste weibliche Geist, der breitbeinig auf ihm saß, pumpte noch ein paarmal mit den Hüften und hörte dann auf. Der Geist drehte sich zu Harald um, musterte ihn und öffnete schließlich den Mund – es sah aus wie von Sternen gesprenkelte Dunkelheit – zu so etwas wie einem Grinsen. 440
Dann wurde er immateriell, und Harald bemühte sich, nicht auf die Schwellung zu schauen, die sich in Ixil Deltrassols Hose abzeichnete. Der Geist verblasste fast bis zur Unsichtbarkeit. Harald lachte. „Ist es nicht immer so, Ixil? Eben noch da, und im nächsten Moment schon wieder weg.“ Er wandte sich an den Geist: „Stimmt’s, Schätzchen?“ Der Geist sank bereits durch den Fußboden nach unten. Er nickte Harald zu und machte eine kaum merkliche Handbewegung zum Bett. Eine Sekunde später war er fort. Deltrassols Mund öffnete und schloss sich. Dann schluckte er und sagte: „Was …?“ „Ich verhafte dich wegen Mordes“, sagte Harald. „Nein …“ „Doch. Außer du überzeugst mich, dass es einen Grund gibt, dich laufen zu lassen. Dann würdest du sofort nach lllurium zurückfliegen, nicht wahr?“ „Ich … Nein, ich würde hierbleiben. Ehrlich, Officer. Ich würde …“ „Falsche Antwort.“ Haralds Hand schien nur eine einzige rasche Bewegung zu machen. „Versuch’s noch mal.“ Auf Deltrassols Stirn quollen Blutstropfen hervor. Die Kampferprobten Siebener zielten nicht im herkömmlichen Sinn, aber das Korn auf dem Lauf einer Schusswaffe war ja auch für andere Zwecke zu gebrauchen. 441
Harald hob die Waffe erneut, bereit, ihm noch schlimmere Verletzungen zuzufügen. „Äh … Officer. Was – was soll ich tun?“ Aber Haralds Waffe war jetzt auf Deltrassols Schritt gerichtet. „Ich mag winzig kleine Ziele. Sind eine echte Herausforderung, weißt du?“ „Hören Sie, Officer. Ich wusste nicht, dass die Zwerge … das tun würden. Ich schwöre, ich habe erst hinterher im Radio gehört, was passiert ist. Thanatos … ich würde doch nie bei … so was mitmachen.“ Harald senkte die Waffe ein wenig, um nicht gar so bedrohlich zu wirken. Mit einer ganz kleinen Bewegung konnte er Deltrassol immer noch ins Bein schießen und ihm die Oberschenkelarterie zerfetzen. „Ich würde dir gern glauben.“ Harald beugte sich vor und legte die Finger seiner linken Hand um Deltrassols Kehle. „Aber ich kann’s leider nicht.“ Wenn Deltrassol aktiv an Sushanas Martyrium beteiligt gewesen war, dann würden sich Haralds Daumen und Finger schließen und den Kehlkopfknorpel zerquetschen. Es würde eine Weile dauern, bis Deltrassol erstickte. „Nein, Mann … bitte. Tun Sie das nicht.“ „Eine Chance.“ Harald tippte Deltrassol auf die Stirn. „Entspann dich.“ „Ich …“ „… weiß nicht, ob du das weißt, aber es ist ganz leicht, die Kontrolle aufzugeben … den Körper los442
zulassen und sich einfach treiben … nur treiben zu lassen …“ Haralds Stimme wurde tiefer und langsamer, während er Deltrassol in die Augen sah. „… und du kannst die Augen schließen … so ist es gut … während die Gefahr nachlässt …“ Deltrassols Lider sanken herab und schlossen sich dann. Bei den Marines hatte Harald gelernt, mit Schusswaffen und Messern, Händen und Füßen zu töten; aber er war auch im Einsatz subtilerer Waffen ausgebildet worden. Ixil Deltrassol fiel in immer tiefere Trance. Von Furcht gepeinigt, war er äußerst anfällig für den unerwartet hypnotischen Ton von Haralds trainierter Stimme. Noch tiefer. „… so schmerzhaft, so schwer … Abwehr ist nicht nötig, darum … lässt du dich fallen …“ Als Botschaftsfahrer hatte Deltrassol ein TranceTraining absolviert, aber es ging nicht sehr tief. Nachdem Harald die anfängliche Abwehr durchbrochen hatte, machte Deltrassols Training ihn sogar noch verwundbarer: Er war so oft in Trance gewesen, dass es ihm leicht fiel, dorthin zurückzukehren. „Polizist“, murmelte Deltrassol. Harald modulierte seine Stimme so, dass sie zu Deltrassols Neurophysilogie passte „…denn ich bin es, der … dich vom Schmerz befreit … eine Kleinigkeit … und du erinnerst dich an … Dinge, die du mir … erzählen musst … dein Unterbewusstsein weiß, 443
was es braucht … so wie immer … um dir zu helfen … es mir zu erzählen …“ „Polizist. Unser Kontaktmann. Er – hat’s arrangiert.“ Harald beugte sich näher zu ihm. „… erzähl mir alles …“ Laura ging in den Teamraum hinaus. Donal war schon ewig lange weg, um Kaffee zu holen – er hatte ihr angeboten, ihr eine Tasse mitzubringen –, und sie fragte sich, wo er blieb. Ihr schwarzes Zombieblut konnte mit dem Koffein nichts anfangen; aber es war ungewöhnlich, dass Donal so lange brauchte. Seit seiner Aufnahme ins Team hatte er nur selten Alkohol getrunken, einen unverdünnten, billigen Whisky, den Laura nicht mal in ihren Wagen eingefüllt hätte – dafür war die Vixen viel zu wählerisch. Für einen Zombie schmeckt Alkohol wie saurer Essig mit einem Schuss von etwas noch Schlimmerem: Rattenpisse, oder die Lymphflüssigkeit zertretener Käfer. Betrunken wie ein Zombie war ein Oxymoron, das irgendwie in die Sprache eingegangen war. Als Laura noch gelebt hatte, war es für sie immer eine der Ironien des Lebens gewesen. „Hey, Laura.“ Alexa telefonierte gerade; sie legte die Hand übers Mundstück. „Ich hab Harald am …“ Ihre Miene änderte sich; sie runzelte die Stirn, dann blickte sie zu Laura auf und hob die Schultern. „Entschuldige. Er hat einfach aufgelegt.“ „Ist alles in Ordnung?“ 444
„Er will, dass ich einen Fahndungsaufruf zurückziehe. Den für den illurianischen Fahrer. Ahm“ – Alexa warf einen Blick auf ihren Notizblock – „Ixil Deltrassol.“ Laura sah rasch zur Tür, wo Donal mit drei Bechern Kaffee in den Händen hereinkam. Kein Wunder, dass er so lange gebraucht hatte. „Was ist los? Erzähl mir nicht, dass er …“ Laura ließ ihre Stimme verklingen. „Nicht so wichtig.“ Alexa starrte sie einen Moment lang an. „Ich glaube nicht, dass Harald den Kerl kaltgemacht hat, falls du das meinst.“ „Nein“, sagte Laura. „Ich glaube nicht, dass einer meiner Leute so was tun würde.“ „Ich auch nicht.“ Donal kam mit den Kaffeebechern zu ihnen und zuckte zusammen, als er vergeblich versuchte, alle drei auf Alexas Schreibtisch abzustellen, ohne etwas zu verschütten. ,,’tschuldigung. Was für schlimme Sachen würden uns im Traum nicht einfallen?“ „Das Gesetz in die eigenen Hände zu nehmen“, sagte Alexa. „O je, da sei Thanatos vor.“ „Mit tödlichem Ausgang“, sagte Laura. „Indem man einen Verdächtigen verschwinden lässt.“ „Oh.“ Donal sah Alexa an. „Um wen geht’s hier eigentlich?“ „Deltrassol, Ixil. Gesucht wegen …“ „Der Botschaftsfahrer, richtig?“ „Genau der.“ Laura hockte sich auf die Schreib445
tischkante. „Und hat Harald irgendwie zu erkennen gegeben, warum wir den Fahndungsaufruf stoppen sollen? Weiß er nicht, wie hart ich arbeiten muss, um ihn überhaupt in die Presse zu kriegen?“ „Doch“, sagte Alexa. „Aber es ist ihm egal.“ Donal lächelte halb. „Ich glaube“ – Alexa schaute erneut auf ihren Notizblock – “er hat den Burschen erwischt und ihn dazu bewegt, als Zeuge auszusagen.“ Laura biss sich auf die Lippe. „Na schön.“ Donal sah ihre Miene und kam zu dem Schluss, dass Harald in Schwierigkeiten war. Aber wahrscheinlich würde es ihm gelingen, sich herauszureden. Donal selbst hatte solche Diskussionen mit diversen Vorgesetzten geführt. Man verhörte einen Zeugen, es ergab sich eine Chance, etwas aus ihm herauszuholen, und man nutzte sie: Man bot ihm eine niedrigere Strafe oder was auch immer an. Der Punkt war: So spontan das Angebot auch sein mochte, der Polizist musste es einhalten. Wer seine Versprechen nicht hält, gilt auf der Straße nicht als senkrecht, und das ist das allerschlimmste Verbrechen. „Na schön“, wiederholte Laura. „Das ist gut. Falls ich gerade nicht da bin, wenn Harald auftaucht, soll er hierbleiben, bis ich zurückkomme.“ „Ahm … ich sag’s ihm.“ Alexa nippte an ihrem Kaffee und nickte Donal zu. „Danke.“ Laura trank ebenfalls einen Schluck, stellte ihren Becher dann wieder auf Alexas Schreibtisch und vergaß ihn. 446
„Donal, hast du die restlichen Details der Reise geklärt?“ „Ja, Moment.“ Donal ging mit seinem Kaffee zu seinem Schreibtisch und nahm einen blassgrünen Block zur Hand. „Hier haben wir’s. Bist du sicher, dass wir uns das leisten können?“ „Ich kann es.“ „Tja … na schön.“ Er war ein Waisenjunge aus ärmlichen Verhältnissen, der ins Ausland reiste. Verdammt. Ich fliege nach Illurium. Schwester Mary-Anne Styx wäre stolz auf ihn gewesen. Harald beugte sich näher zu Deltrassol hinab. „… tiefer“, sagte er, „und dann erzähl mir … ob … da drin irgendwelche Befehle lauern.“ Er sprach von Deltrassols Unterbewusstsein, und dafür gab es einen Grund: Wenn der Schwarze Zirkel Hex-Fallen oder Schutzvorrichtungen darin platziert hatte, würde deren Existenz schon bei einer normalen Suche unter Hypnose zutage treten. Eine verborgene Löschfalle würde bewirken, dass Deltrassol schrie, während das Hex-Inlay seine Erinnerungen bis zurück in die Kindheit wegschrubbte. Harald war bereit, das zu riskieren. Etwas in ihm wollte sogar, dass es passierte. „… damit uns keine Erinnerungen fehlen, weil dort … Befehle der Bosse verborgen sind …“ 447
„Nein.“ Mit flatternden Augenlidern schüttelte Deltrassol den Kopf. Seine Persönlichkeit war noch intakt. Kein Magier hatte Hex-Fallen in seinem Geist versteckt. „… und du willst mir erzählen … was für eine Ladung die Zwerge gestohlen haben …“ „Ja. Champagner. Das richtig teure Zeug. Kisten im Wert von vielen Tausenden. Wir hatten die Pläne, die Reaktionspläne der Polizei. Daher wussten sie, dass sie die Pterafledermaus auf dem Totenschädel landen lassen konnten.“ Champagner? Das alles für beschissenen Champagner? „… und als du gesehen hast, dass die Zwerge eine Leiche dabei hatten, als du den Van gesehen hast …“ „… bin ich ausgestiegen, Mann. Hab abgebrochen. Solche Schwierigkeiten will ich nicht.“ „… genau das wollen wir vermeiden, du musst dich nur entscheiden, alles zu tun, um mir zu helfen …“ „Ja.“ ….und ich muss wissen … dein Boss, Sir Alvan …“ „Richtig.“ „….ist er dein Freund?“ „Nein.“ „… obwohl du dich häufig in seinem Büro aufhältst …“ „Der Club.“ „… wegen dem Laden hier? Dem See-Through? Erzähl …“ 448
„Sir Alvan kommt hierher. Ich hab ihn zufällig gesehen. Ihn erkannt.“ „… obwohl er verkleidet war …“ „Ja, eine Maske. Aber sein Gang. Ich hab’s gewusst.“ „… dass es Sir Alvan war, und du hast ihn erpresst …“ „Um kleine Beträge, für einen Mann wie ihn.“ „… der dir einen besonderen Gefallen täte, wenn du ihn darum bätest …“ „Sein Geheimnis. Wäre erledigt. Wenn ich’s verrate.“ „… und er könnte dich nach Illurium zurückschicken …“ „Ja.“ Deltrassol war also ein Epresser in seiner eigenen Botschaft. Er war ein mieser kleiner Gauner, und Harald hätte ihn liebend gern festgenommen. Aber wenn er ihm in Illurium von Nutzen sein konnte, in Silvex City, wohin Donal fliegen würde … Hab ich dich, Zombieficker. Die Mistkerle, die mit Cortindos Leichnam und dem – Tod noch mal – teuren Champagner entwischt waren, hatten eine Kontaktperson bei der Polizei, jemanden, der ihnen die Reaktionspläne gegeben hatte. Für sich allein genommen, sagte das nicht viel aus, doch es schloss die Kette von Ursache und Wirkung, die bis zu Commissioner Vilnars Büro reichte. Aber eins nach dem anderen. Riordan. Du bist tot. 449
Harald befahl Deltrassol, eine Minute lang zu schlafen. Dadurch gewann er Zeit zum Nachdenken. Stück für Stück setzte er seinen Plan zusammen. „… und wenn du zur Botschaft zurückkommst, bittest du ihn darum …“ Harald ließ den Satz in der Luft hängen, als er draußen auf dem Gang wildes Geschrei hörte. Es war das Gebrüll eines Betrunkenen, irgendwo auf dieser Etage: Einer der Gäste des Clubs hatte die Kontrolle über sich verloren. Das konnte ein Problem sein, wenn es Deltrassol aus der Trance weckte. Plötzlich ertönte draußen ein helles Knirschen – der Schwall von Flüchen des Betrunkenen verstummte abrupt –, gefolgt von Stones Stimme: „Das wird ihn ein bisschen abkühlen, Leute. Geht sanft mit ihm um.“ Dann hörte man Absätze über den nackten Boden scharren. Harald ging in den Tiefensuggestionsmodus über und instruierte Deltrassol. „Da ist ein Haus … in Upper Kiltrin North …“ Zu diesem Bezirk gehörten einige der wohlhabenderen Wohngebiete von Silvex City, wo Harald während seiner Zeit in lllurium eine Weile stationiert gewesen war. Das Militärcamp lag dreißig Kilometer von der Stadt entfernt. Während seiner Dienstzeit bei der Militärpolizei hatte sich Harald auch häufig in der Stadt selbst aufgehalten und Kontakt zur lokalen Polizei gepflegt. Er half bei Ermittlungen und bei den Kneipenraz450
zien am Oktemtag, bei denen MP-Trios zechende Marines aus dem Trümmerfeld zerschlagener Tische und bewusstloser Zivilisten herausholen mussten. Und zwar ohne den zum Töten ausgebildeten Betrunkenen tödliche Verletzungen zuzufügen. „Kiltrin“, murmelte Deltrassol. „PulkwilPs Hill.“ „… richtig, und von Pulkwill’s Hill gehst du … die Serpentinenstraße hinunter …“ Harald wartete auf Deltrassols winziges Nicken, bevor er fortfuhr. „Zu dem silber-weißen Herrenhaus mit den drei stählernen … Gargylen draußen, die mit den ausgebreiteten Flügeln …“ „Bewegen sich.“ „… sie bewegen sich, das stimmt. Die Gargylen bewegen sich …“ Haralds Stimme wurde noch tiefer … und in diesem Haus … dieser Villa … wohnt ein Mann namens Don Falvin Mentrassore …“ „Don Mentrassore.“ „… richtig, und der Don hat eine Tochter … namens Rasha … und Diener, und der Chefbutler heißt vielleicht … Adamnol …“ Haralds letzter Besuch lag über zwei Jahre zurück. Adamnol war wahrscheinlich noch da, aber das Leben war voller Ungewissheiten. „… Du wirst ihm das Codewort sagen … das du jetzt sofort vergisst, bis … du dich in Don Mentrassores Haus daran erinnerst … das Codewort ist Darksong Lightning’ … und anschließend wirst du es … endgültig aus deinem Gedächtnis streichen.“
451
Der Don war ein schlanker, eleganter Mann mit einem silbergrauen Ziegenbärtchen, der für gewöhnlich eine Perle an jedem Ohrläppchen trug und seine Geschäfte mit derselben gewissenhaften und doch lässigen Würde betrieb, die er auch im gesellschaftlichen Umgang an den Tag legte. Deshalb war er so enttäuscht über seine Tochter Rasha gewesen, als sie sich in einen jungen Studenten von zweifelhaftem Charakter und zweifelhafter Herkunft verliebt hatte. Dieser Student, der zur lokalen Unterwelt gehörte und Beziehungen zu betrügerischen Quartiermeistern in den Militärbasen pflegte, war eine der Personen gewesen, die Harald im Visier gehabt hatte. Zusammen mit vier anderen MPs, alle in Zivil, war Harald gerade rechtzeitig ins Zeughaus eines Camps gestürmt, um die Männer zu fassen, die sich mit Feuerwaffen und anderer Ausrüstung davonmachen wollten. Zwei der Verbrecher hatten nach ihren Waffen gegriffen, und binnen Sekunden war eine wüste Schießerei im Gange – in einem mit Sprengstoff gefüllten Waffenlager: Sie konnten von Glück sagen, dass es heil geblieben und nicht in einem Feuerball aufgegangen war. Sonst wäre das gesamte Camp mitsamt zweitausend Männern und Frauen ausgelöscht worden. Rasha Mentrassores Verlobter war zu dumm gewesen, um sich zu ergeben. Er war auch zu dumm gewesen, um Rasha daheimzulassen. Weil er vor ihr angeben, sich mit sei452
ner Bedeutung unter wichtigen Geschäftsleuten brüsten wollte, hatte er Rasha hinten in seinem gestohlenen kleinen Militärjeep ins Lager geschmuggelt. Sie war aus dem Fahrzeug gekrabbelt, als die Schießerei losging. Vielleicht war die verirrte Kugel, die Rasha in die rechte Schulter getroffen hatte, aus Haralds Waffe gekommen, vielleicht auch aus einer anderen, jedenfalls war Rasha umgekippt; ihr Mund arbeitete, aber ihre Kehle war gelähmt. Ihre Schulter war zerfetztes Fleisch mit Knochensplittern. Nachdem Harald und sein Team die Männer getötet hatten, die nicht aufgeben wollten, hatten sie sich um Rasha und zwei Komplizen der Bande gekümmert, die ins Kreuzfeuer geraten waren. Mit Riemen von den Munitionskisten – ein hübsches ironisches Zusammenspiel – banden sie die Hauptarterien des verwundeten Trios ab. Von Rechts wegen hätten sie Rasha der zivilen Polizei übergeben müssen. Aber Harald war zu dem Schluss gelangt, dass sie weitgehend unschuldig war, manipuliert von ihrem Freund, dessen Körper nun in drei Teile zerstückelt war. Und Rashas Vater, der Don, besaß Ehrgefühl. Er zahlte seine Schulden immer zurück. „… Du wirst … Don Mentrassore erklären … dass ihn bald ein Mann namens … Donal Riordan … besuchen wird … Er wird behaupten, er sei ein Freund … von Harald Hammersen … und der Don soll so 453
tun, als wäre es wahr … sag ihm das … als wäre es wahr … aber es ist … eine Lüge …“ Harald versetzte Deltrassol in noch tiefere Trance und verankerte posthypnotische Befehle in ihm: Deltrassol würde sich niemals bewusst an diese Worte erinnern. „… denn man kann Riordan nicht trauen … man kann ihm nicht trauen … und der Don muss Riordan … eine Falle stellen … und sie zuschnappen lassen … sodass es ihm das Genick bricht …“ Deltrassols Stirn legte sich in Falten, dann entspannte er sich; er war zu tief in Trance, um zu widersprechen. „… und zwar wird der Don …“ – Harald sprach noch langsamer, während er im Geist die Details durchging – …Riordan … folgendermaßen … töten …“ Als Donal eine Stunde später mit zwei weiteren Bechern Kaffee und einer dunkelblauen Aktenmappe unterm Arm ins Büro der Spezialeinheit zurückkehrte, sah er Harald im Gang auf sich zukommen. Harald trank gerade einen ordentlichen Schluck aus einem silbernen Flachmann. Harald sah Donal im selben Moment. Er schraubte die Flasche wieder zu und steckte sie in seine Jacke. „Hey, Donal. Wie läuft’s?“ „Gut. Ich glaube, die anderen haben sich deinetwegen Sorgen ge-“ „Kann ich dir was abnehmen? Gib her.“ Harald nahm einen Kaffeebecher. „Was ist in der Mappe?“ 454
Donal schwenkte sie vor ihm hin und her. „Meine restlichen Reisedokumente. Ich fliege wirklich nach Illurium.“ Sie gingen weiter zum Büro. Harald ging als Erster hinein; er öffnete die Tür und hielt sie Donal auf. „Gute Neuigkeiten“, sagte Harald. „Hab mir schon gedacht, dass es klappen würde.“ „Ja … Gibt’s was Neues wegen Sushana? Wir dachten, du wärst vielleicht noch mal ins Krankenhaus gefahren.“ „Nee. Viktor ist dort, oder?“ Sie betraten das Büro. Donal runzelte die Stirn; Haralds plötzlicher Stimmungsumschwung verwirrte ihn. „Hey, Donal“, rief Alexa. „Du gehst Kaffee holen und kommst mit den Marines zurück.“ „Freut mich auch, dich zu sehen“, sagte Harald. „Tjaja.“ Harald nickte nur. Dann setzte er ein zu breites Lächeln auf, als Laura aus ihrem privaten Büro kam. „Hey, Boss.“ „Selber hey. Alles okay?“ „Na klar.“ Ernst fuhr er fort: „Unser kleiner Donal fliegt nach lllurium, wie ich höre.“ „Stimmt“, sagte Laura. „Erzähl mir von Deltrassol.“ „Deltrassol.“ „Mhm.“ „Den hab ich gerade im Pallas-Heptagon abgesetzt. Musste ihn an den RH-Jungs vorbeischmug455
geln. Die müssen dir ja einen großen Gefallen schulden, wenn sie ihr Team so lange vor Ort lassen.“ „Nicht mehr.“ „Tja …“ Harald warf Alexa einen Blick zu. „Wie’s scheint, hat der kleine Deltrassol Sir Alvan von der Botschaft erpresst.“ „Womit?“, fragte Donal. „Was hat der Botschafter denn angestellt?“ „Ach, sagen wir mal, hin und wieder geht er gern aus und verbringt eine Nacht in der Stadt. Nichts übermäßig Kriminelles.“ „Und warum hast du ihn dann laufen lassen?“, fragte Laura. „Weil er die Hosen so voll hatte, dass er nicht mal mehr lügen konnte, und er wusste nichts darüber, dass Sushana in eine Falle gelockt worden war.“ Harald sah sie an. „Du glaubst doch nicht, dass ich ihn sonst hätte laufen lassen.“ Laura dachte darüber nach. „Nein. Natürlich nicht.“ „Und jetzt“, sagte Donal, „haben wir eine Quelle in der illurianischen Botschaft. Gute Arbeit, Harald.“ Harald nickte wortlos, mit verkniffenen Lippen.
456
DREIUNDZWANZIG Auf dem Flughafen herrschte reger Betrieb. Die Reisenden waren geblendet von der Fassade und dem Glanz oder benommen vor Müdigkeit. In den Wänden schwebten Sicherheitsgeister, die sich gelegentlich blicken ließen. Ein Stück von den Abfertigungsschaltern entfernt führten hex-geschützte Eingänge zu den Ladezonen und auf die Rollbahnen hinaus. Donal war zum letzten Mal an dem Tag hier gewesen, als die Diva angekommen war. Fühlst du das Lied? Und ob, Tod noch mal. Draußen, jenseits des bodentiefen Fensters, war der opake Himmel fast indigoblau. Der unablässige Wind schnitt durch schwere Mäntel und brachte die Fluggäste auf dem Weg zu ihren Maschinen zum Frieren. Die Gepäckverlader arbeiteten schnell. Ein paar Männer vom Sicherheitsdienst erkannten Donal, als er am Abfertigungsschalter stand. Zwei Beamte in Zivil kamen zu ihm herüber. „Fliegen Sie nach lllurium?“, fragte einer von ihnen mit einem Blick auf das Ticket, das Donal bereithielt. „Nicht schlecht, Lieutenant.“ „Darf nicht drüber sprechen“, erwiderte Donal. „Eine Familienangelegenheit, wie man so sagt.“ Die beiden Beamten sahen sich an. Vielleicht wussten sie, dass Donal keine Familie hatte, abgesehen vom Department. 457
„Wollen Sie sich umschauen?“ „Klar“, sagte Donal. „Hat sich hoffentlich nicht viel geändert im Vergleich zu früher.“ „Vielleicht ein bisschen sicherer.“ Die beiden sahen sich erneut an. „ich wünschte, die hätten hier versucht, sich die Diva zu schnappen, Sir, wenn ich das sagen darf.“ „Was meinen Sie?“ „Er meint, dass wir hier Trance-Schutz bis zum Abwinken haben, Lieutenant. Und wir sollen zwar nicht drüber reden, aber unter den Passagieren an Bord sind immer auch zwei Undercover-Magier.“ „Das wusste ich nicht“, sagte Donal. „Tja, da geht’s Ihnen wie den meisten.“ Aber vielleicht wissen es ein paar hochrangige Polizisten und Politiker. Wäre interessant zu erfahren, wer genau. Die Betreffenden hätten nämlich gewusst, dass man sich die Diva am besten in der Stadt schnappen konnte. „Soll ich Ihr Gepäck durchchecken, Sir?“ „Äh … Gern.“ „Gang oder Fenster?“ „Hm?“ „Wollen Sie lieber am Fenster oder am Gang sitzen, Sir?“ Donal kniff die Augen zusammen. „Keine Ahnung. Ich bin ein armer Junge aus dem Waisenhaus. Das ist alles neu für mich.“ „Es geht darum, ob Sie lieber einen guten Ausblick haben möchten oder ob es Ihnen wichtiger ist, 458
dass Sie niemandem auf die Füße treten müssen, wenn sie zum Klo wollen.“ „Aha.“ Donal überlegte. „Dann nehme ich das Fenster.“ Sie checkten Donals zwei Gepäckstücke durch. Das ältere war ein ramponierter Handkoffer aus Rattenleder, den Schwester Mary-Anne Styx Donal am Tag seiner Entlassung aus dem Waisenhaus geschenkt hatte. Er bewahrte normalerweise seine Bücher darin auf – diejenigen, die zu wertvoll waren, um sie einzutauschen. Der andere Koffer war glänzend und neu, ein Geschenk von Laura. Donal kämpfte gegen das Unbehagen an, das ihm der Gebrauch eines Gepäckstücks bereitete, für dessen Preis man das gesamte Waisenhaus hätte verpflegen können. „Wollen Sie die Tiere sehen, Lieutenant? Ich heiße übrigens Piersen.“ „Tiere?“ „Die in Ihrer Maschine mitfliegen. Sie kommen in den Laderaum, zusammen mit dem Gepäck.“ „Ist das nicht gefährlich?“ „Die Laderäume sind druckfest, jedenfalls manche. Kommen Sie, ich zeige sie Ihnen!“ Donal folgte Piersen durch eine Tür mit der Aufschrift Nur für Flughafenpersonal und spürte die kalte Berührung zarter Finger auf seiner Haut. Er bedankte sich stimmlos, nicht weil ihm die Empfindung gefiel, sondern weil er nicht annahm, dass es dem Sicherheitsgeist Spaß machte, ihn zu durchsuchen. 459
„Haben alle erfahren, was passiert ist?“, erkundigte sich Donal bei Piersen, während sie einen kahlen Korridor entlanggingen. „Mit der Diva?“ „Einige von uns kennen Leute, die in jener Nacht Dienst gehabt haben, Lieutenant. Im Theater, meine ich. Einer der Uniformierten hat uns erzählt, dass die da alle durchgedreht sind. Er ist hinterher zu einem Polizeimagier gegangen, zur Trancearbeit, um drüber wegzukommen.“ Piersen blieb vor einer Doppeltür aus einem schweren, ölig aussehenden Material stehen. „Sieht so aus, als hätte jemand das Publikum mit einem Bann belegt und ein paar Dutzend oder noch mehr Besucher in einen Parazombie-Modus versetzt. Hab ich recht?“ „So ungefähr“, sagte Donal. „Was ist hier drin?“ „Fracht.“ Piersen stieß die Türen auf. „Bereit zum Verladen.“ „Thanatos. So viel?“ Überall standen Gepäckbandwagen mit hoch aufgestapeltem Gepäck; andere wurden von ausdruckslos dreinschauenden Verladern bei den großen Außentüren in Position manövriert. Und es gab graue, sechseckige Kisten mit Tieren, die durch die kleinen, vergitterten Öffnungen kaum zu sehen waren. Donal erhaschte einen Blick auf dahingleitende, blau schillernde Schuppen; in einer anderen Kiste sah er membranartige, blassrosa Flügel. Er hörte erbärmliches Maunzen und verzweifeltes, psychotisches Knurren. 460
„Kann man ihnen keine Beruhigungsmittel geben oder so?“ „Doch“, sagte Piersen, „aber das funktioniert nicht besonders gut. Manche sind wahrscheinlich schon von ihren Besitzern unter Drogen gesetzt worden, aber der Stress weckt sie wieder auf.“ Donal hatte in der vergangenen Nacht eine Stunde in Trance verbringen müssen, um seine Flugangst gegen die Begeisterung über seinen ersten Besuch in einer ausländischen Stadt einzutauschen. Dies war eine Erinnerung, die er gar nicht gebrauchen konnte. „Diese Käfige sehen ziemlich stabil aus.“ Donal hörte den Zweifel in seiner Stimme. „Die Fluglinien würden ihre Maschinen sicherlich keinem Risiko aussetzen.“ Piersen legte die Hand an eine graue Kiste, ohne das Zischen zu beachten, das darin ertönte. „Sie werden bald genug schlafen.“ „Ich dachte, Sie hätten gesagt …“ „Stimmt.“ Pierson grinste und bleckte dabei die Zähne. „Bei jedem Flug ist ein Magier oder eine Hexe an Bord, wussten Sie das nicht? Sie wollen doch in der Maschine nicht von Parazombies angegriffen werden.“ Donal blinzelte. „Und stimmt es auch, dass Sie eine ganze Horde von denen erledigen mussten“, fuhr Piersen fort, „in der Energiebehörde?“ „Äh … gewissermaßen.“ „Verdammt.“ Piersen sah die Kisten an und schlug 461
dann mit der Seite seiner Faust gegen eine. „Da war ich gern dabei gewesen. Von Zombies aller Art krieg ich ‘ne Gänsehaut, wissen Sie?“ Donal atmete lange und tief aus. „Wirklich?“ „Was, wollten Sie etwa noch nie auf einen anlegen und …?“ „Wissen Sie was, Piersen? Sie können mich mal.“ Donal wandte sich ab und ging hinaus, zurück in den Abfertigungsbereich und zu den regulären Passagieren. Bei der Zugangskontrolle am Gate – Zugang’ war wörtlich gemeint: Man musste aufs Vorfeld hinausgehen und dann mehrere hundert Meter durch den kalten, beißenden Wind laufen – prüfte eine Frau in Uniform die Tickets und tauschte sie gegen Bordkarten aus. Donal stellte sich mit allen anderen in die Schlange. Schließlich war er an der Reihe. „Reisen Sie allein, Sir?“ „Ja. Und zum ersten Mal.“ Donal hielt inne. Die Haut der Frau hinter dem Schalter war sehr weiß, und das kaum wahrnehmbare Filigranmuster grauer Adern deutete darauf hin, dass ihr Blut schwarz und kalt war. Fühlst du die Knochen? Ja. Die Nasenflügel der Frau weiteten sich. Sie starrte Donal einen langen Moment schweigend an. Dann senkte sie den Blick, kritzelte etwas mit purpurroter Tinte in ein silbernes Hauptbuch und be462
schriftete anschließend eine weiße Karte, die sie Donal aushändigte. „Der Flug ist ein wenig unterbucht, Sir …“ „Äh … was hat das …?“ „… darum habe ich Sie in die Erste Klasse hochgestuft.“ Donal sah sie an. Er wusste nicht, was er sagen sollte. „Guten Flug, Sir.“ „Gleichfalls. Ich meine, einen schönen Tag.“ Die Frau zeigte ihm ihr eisiges Zombielächeln. „Den werde ich jetzt haben. Vielen Dank.“ Da Harald nun im Krankenhaus bei Sushana Wache hielt, hatte Viktor sich – nach zwei Stunden Schlaf – gezwungen, wieder zur Arbeit zu gehen. Als Eduardo vom Empfang anrief und sagte, eine Knochenlauscherin wolle mit Lieutenant Riordan sprechen – und zwar persönlich –, nahm Viktor den Anruf entgegen. Er fuhr hinauf, um die Knochenlauscherin abzuholen. Dort fand er sie in stummer Blickkommunikation mit zwei Todeswölfen, deren Augen in dunklem Bernsteingelb leuchteten. Viktor war befremdet, und ohne dass er es merkte, legten sich seine Hände an den Gelenken über Kreuz, bereit, die beiden Grauser zu ziehen; erst dann wurde ihm bewusst, was er da tat. Er räusperte sich und sagte: „Ich bin Viktor Harman. Ich arbeite mit Donal Riordan zusammen.“ 463
„Ist der Lieutenant nicht zu sprechen?“ Die Knochenlauscherin, Feoragh, schaute zu Viktor auf; ihre seltsamen, sanften Augen wirkten dunkel vor ihrer blassen Haut. „Was ist los?“ „Er fliegt ins Ausland.“ Viktor schaute auf seine Armbanduhr. „Wahrscheinlich steigt er gerade ins Flugzeug.“ „Wie schade.“ Feoragh stand auf. „Ich würde ihm gern ein paar Informationen geben.“ „Worüber?“ Viktor merkte, wie seine Stimme klang. „Ich meine, kann ich Ihnen nicht helfen? Oder einer der anderen?“ „Wer arbeitet noch mit ihm zusammen?“ „Wir sind beide Commander Steele unterstellt. Sie ist …“ „Laura Steele?“ Ein Glitzern zeigte sich in Feoraghs großen Augen. „Äh … ja.“ Feoragh streckte jedem der Todeswölfe eine Hand entgegen und murmelte etwas in einer archaischen Sprache, die Viktor nicht erkannte, geschweige denn verstand. Die Todeswölfe rissen das Maul weit auf, und ihre großen Zungen hingen heraus, als sie ihre Fänge in einem gemeinsamen Wolfsgrinsen bleckten. Sie nickten einmal, während sie sich mit einer einzigen Bewegung erhoben, abwandten und zu den Außentüren tappten. Von dem massiven Tresen aus, mit dem er untrennbar verbunden war, sah Sergeant Eduardo Kolemann den Todeswölfen mit großen Augen nach. 464
Währenddessen marschierte Feoragh bereits zu den nächsten zylindrischen Fahrstuhlschächten aus Messing. Viktor zwinkerte dreimal, dann gewann er seine Fassung wieder und folgte ihr. „Kennnen Sie Commander Steele?“, fragte er, als er sie einholte. „Wir wissen, wer sie ist.“ Feoragh ließ ein Lächeln sehen, das Viktor keine Wärme spendete. „Und wir interessieren uns für euren Fall. Eure aktuelle Operation.“ Sie betraten den Schacht gemeinsam. Als der Geist Feoragh umschloss, leuchtete er in einem weichen blauen Licht, das Viktor noch nie gesehen hatte. Ihn selbst umfasste er mit seinem üblichen ätherischen Griff; doch der Abstieg ging ruhiger und schneller vonstatten als sonst. Feoragh wandte sich Viktor zu, während sie nach unten sanken. Als sie sprach, hallten ihre Worte von beunruhigenden Überlagerungen im Luftstrom wider. „Die Leute, hinter denen ihr her seid“, sagte sie, „haben keine x-beliebige Kollegin getötet. Mina d’Alkarny war drauf und dran, eine der größten Knochenlauscherinnen der Geschichte zu werden. Bilden Sie sich nicht ein, Sie könnten verstehen, was ich damit meine.“ „Ähm … wir versuchen …“ „Ich weiß, was ihr versucht.“ Feoragh schaute nach unten, als sich ihr Abstieg verlangsamte, dann 465
sah sie wieder Viktor an. „Und wir sind auf eurer Seite, sonst wäre ich nicht hier.“ „In Ordnung.“ In diesem Moment wurden Feoraghs Züge jedoch auf einmal seltsam weich, und während der Geist zum Stehen kam und sie im Schacht festhielt, bewegte sie ihre Fingerspitzen vor Viktors Stirn hin und her. Viktor spürte, wie ihn Wellen abwechselnd warmer und kalter Impulse durchliefen. Feoragh nickte, und der Geist schob sie und Viktor durch die Öffnung in den mit grauem Teppichboden ausgelegten Korridor hinaus. „Sie haben Ihre eigene Wunde, mit der Sie fertigwerden müssen, Viktor Harman“, sagte sie. „Und ich hoffe, dass sie gut und schnell verheilt.“ „Partner“, sagte Viktor leise. „Nur eine von ihnen ist verwundet.“ „Jedenfalls physisch“, sagte Feoragh. „Aber in diesen Dingen müssen wir nicht nur auf so etwas achten, meinen Sie nicht?“ Viktor wollte gerade den Mund aufmachen, als ihm klar wurde, dass er keine Ahnung hatte, was er zu ihr sagen sollte. „Kommen Sie“, setzte Feoragh hinzu. „Stellen Sie mich Ihrem Commander vor. Ich freue mich schon darauf, die berühmte Laura Steele kennenzulernen.“ Viktor ging voran, aber es kam ihm vor, als folgte er ihr. Es war ein ungewöhnliches Gefühl, und er zwinkerte mit seinen sandigen Augen und forschte zugleich nach einem Bann – wenn man häufig gähnen 466
oder rasch zwinkern musste, war das ein Symptom für eine noch nicht lange zurückliegende Hypnose. Da war nichts, und er ging die inneren Visualisierungen durch, mit denen er im Trance-Training ausgestattet worden war. Wieder nichts. Laura kam aus ihrem Büro, um die Knochenlauscherin zu begrüßen. „Hallo, ich bin Laura Steele.“ Sie streckte ihr die Hand hin. „Tut mir leid wegen Dr. dAlkarny.“ „Ja.“ Feoragh verbeugte sich und berührte dann Lauras Handrücken. „Es scheint Ihnen tatsächlich leid zu tun.“ „Ähm … Wie kann ich Ihnen helfen?“ „Ist es Ihnen möglich, Kontakt mit Lieutenant Riordan aufzunehmen“, fragte Feoragh, „bevor er nach Illurium abfliegt?“ „Ich bin nicht sicher …“ Laura wandte sich an Alexa. „Ruf im Büro des Commissioners an und bitte Eyes, im …“ Laura brach ab, als Harald den Kopf schüttelte. „Streich das“, fuhr sie fort. „Mach es selbst, ganz normal über die Telefonzentrale. Ruf im Tower oder beim Sicherheitsdienst an, wen du halt an die Strippe kriegst. Sie sollen dranbleiben.“ „Schon dabei.“ Alexa riss den Hörer von der Gabel und stellte alle Drehrädchen auf null. „Zentrale? Ich brauche …“ Aber Laura führte Feoragh bereits in ihr Büro und zog die Tür hinter ihnen zu. 467
Als sie mit Feoragh allein war, fragte sie: „Haben Sie Informationen aus dem Archiv?“ „Aus den Tiefen des Gitters“, antwortete Feoragh. „Nach einer ausführlichen Suche. Bei dem Fall, an dem Lieutenant Riordan gearbeitet hat, ging es um eine Verschwörung – oder eine mögliche Verschwörung. Dadurch sind Sie auf ihn aufmerksam geworden, nehme ich an.“ „Das stimmt. Und Sie wissen über die Diva Bescheid.“ „Ja, und auch über deren Vorgänger. Die berühmten Bühnenkünstler, die vorzeitig gestorben sind, damit andere sich mit ihren Knochen amüsieren konnten.“ Sie sagte das in einem samtigen Ton, bei dem es selbst Laura schauderte. „Ist mir da was entgangen?“, fragte Laura. „Diese Künstler waren nicht mal in Tristopolis, sie waren … oh, verdammt.“ „Es gibt deutliche Verbindungen nach Illurium, sonst würde Lieutenant Riordan nicht hinfliegen. Aber das ist noch nicht alles. Haben Sie schon mal von den tringulianischen Drillingen gehört?“ „Nein.“ Laura dachte an Theaterbesuche mit ihren Eltern zurück, damals, als sie noch jung und die Welt warm, hell und einfach gewesen war. Ihre Mutter hatte die Zeitungskolumnen über Theaterstars verfolgt. „Moment … Das sind auch Opernsänger, richtig?“ „Ja … und die thaumaturgischen Genies in Svaltirno haben die Drillinge kürzlich operiert, nicht um 468
sie zu trennen, sondern um sie gesund zu erhalten. Der Zustand der Drillinge hatte sich verschlechtert, aber nach der Operation“ – Feoragh klang, als zitiere sie wörtlich aus einem Zeitungsartikel – „sagte ein Sprecher des Krankenhauses, die Prognose sei mehr als ausgezeichnet, und der Chefthaumaturg erklärte, die Operation stelle einen gewaltigen Fortschritt in den modernen Operationstechniken dar.“ Im Teamraum, den man durch die Glaswände von Lauras Büro sehen konnte, winkte Alexa und deutete auf den Hörer, um zu zeigen, dass sie den Flughafen in der Leitung hatte. Laura hob die Hand und signalisierte ihr: Warte einen Moment. „Hören Sie, Knochenlauscherin, wenn Sie mir etwas sagen wollen, was für Lieutenant Riordan wichtig ist, dann müssen Sie …“ „Ich merke, dass Sie in einer intimen Beziehung zu ihm stehen“, sagte Feoragh. „Vielleicht kann der Flughafen-Tower eine Nachricht ins Cockpit weiterleiten, bevor sie außer Reichweite sind. Selbst wenn das Flugzeug schon gestartet ist, meine ich.“ „So was machen wir nicht jeden Tag“, antwortete Laura. „Was müssen Sie Donal sagen?“ „Ich bin zu siebenundneunzig Prozent sicher, dass die Verschwörung, die bei Ihnen vermutlich den Codenamen .Schwarzer Zirkel’ trägt, die tringulianischen Drillinge aufs Korn nehmen wird. Die Drillinge passen in das Profil berühmter Bühnenkünstler, deren Knochen ein verlockendes Ziel für diese … Leute abgeben.“ 469
Diesmal lag hörbarer Hass in Feoraghs Stimme. „Und die Ankündigung“, fuhr sie fort, „dass die Drillinge mehrere Jahrzehnte länger leben werden als erwartet, wird die Verschwörer gewaltig ärgern. Der anstehende Auftritt der Drillinge in Silvex City bietet ihnen eine Gelegenheit, die sie nicht …“ „Es wird einen weiteren Anschlag geben? In Silvex City?“ „Ja, diese Nachricht müssen sie Donal Riordan übermitteln. Und dass ich die Liste möglicher Kontaktpersonen eingegrenzt habe. Wegen der eingefügten Zwischenschichten beträgt die Genauigkeit nicht mehr als dreiundfünfzig Prozent, aber meine Intuition sagt mir, dass ich recht habe.“ Laura sah Feoragh unverwandt an. Die Intuition einer Knochenlauscherin war mehr wert als Fakten; zumindest hatte Lauras Mentor, Captain Felthorn – der einen Monat vor Laura gestorben war, aber in seinem Fall endgültig –, ihr das oft erklärt. „Sie glauben zu wissen, wer das Mitglied des Schwarzen Zirkels ist? Derjenige, der den Anschlag auf die Diva organisiert hat?“ „Ich bin nicht sicher, ob diese Operation auf sein Konto geht … Aber Stadtrat Gelbthorne hat Interessen im Banken- und Energiesektor, die sich allem Anschein nach mit der langfristigen Strategie des Schwarzen Zirkels decken. Ihn muss Donal Riordan festnehmen. Ich nehme an, er hat im Ausland gültige Haftbefehle?“ „Ja, drei Blankoformulare mit Hex-Verschränkung 470
zu Richter Priors Büro.“ Sobald der Richter einen Namen eintrug und eines der ihm vorliegenden Exemplare unterzeichnete, würde der entsprechende Haftbefehl in Donals Besitz dieselben Informationen aufweisen. „Wenn Sie sich wirklich sicher sind, können wir sofort zu ihm gehen.“ „Und der Flughafen?“ Laura schaute zu Alexa hinaus. „Hast du sie noch in der Leitung? Die Flughafen-Cops?“ „Haben gerade aufgelegt“, rief Alexa zurück. „Ein Typ namens Piersen. Er sagt, Donal sei schon durch. Mal sehen, ob wir das Flugzeug anrufen können, aber Piersen meint, es sei unmöglich.“ Harald, der an seinem Schreibtisch saß, lächelte beinahe unmerklich. Sein Gesicht war abgewandt, sodass eigentlich niemand sein Mienenspiel sehen konnte. Wie es der Zufall wollte, war Alexas Blick jedoch gerade zu einem kleinen Spiegel gewandert, der in einer Ecke des Raumes hing, und in diesem Spiegel hatte sie Harald lächeln sehen. Hatte ihn lächeln sehen, als sie gesagt hatte, Donal sei nicht zu erreichen. Alexa nahm erneut den Hörer ab und versuchte es auf einem anderen Weg; sie bat die Zentrale, sie zum Reservierungsschalter der Fluglinie durchzustellen. Wenn das nicht klappte, würde sie sich etwas anderes ausdenken. Harald stand rasch auf und murmelte etwas in der Richtung, dass er zum Schießstand hinauf wolle. Er 471
sah aus wie jemand, der Dampf ablassen musste, aber ein Schießstand war nicht immer der beste Ort dafür. Der Schießstandleiter würde einen Polizisten, der wegen seiner emotionalen Verfassung momentan lieber keine Waffe in die Hand nehmen sollte, rasch bemerken. Alexa schaute ihm stirnrunzelnd nach.
472
VIERUNDZWANZIG Laura zog eine Schreibtischschublade auf und starrte auf die darin liegende Magnus. Es war Donals Pistole; er hatte sie hierlassen müssen, weil keine Fluglinie anderen Personen als Sky-Marshals im Dienst erlaubte, bewaffnet zu fliegen. Sie wünschte, er hätte sie mitnehmen können. „Ich kann warten“, sagte Feoragh. „Der Richter auch. Es dauert noch mindestens drei Stunden, bis die Maschine in Silvex City landet, vielleicht noch erheblich länger … Sie kennen ja die Stürme an der illurianischen Grenze. Und die Haftbefehle lassen sich von einer Sekunde auf die andere ändern.“ „Ich weiß.“ Laura schaute wieder durch die Glaswand hinaus und sah Alexa am Telefon; sie gestikulierte heftig. „Aber hier kommen wir nicht weiter. Gehen wir.“ Feoragh blinzelte mit ihren klaren Augen. „Ich spüre intuitiv, dass mächtige Feinde etwas gegen Sie unternehmen werden, Commander Steele.“ „Aha“, sagte Laura. „Wer genau?“ „Bisher unbekannt, sonst würde ich es Ihnen sagen. Aber der Punkt ist … sie haben einen Fehler gemacht. Sie hätten Mina d’Alkarny auf gar keinen Fall töten dürfen.“ „Wie …? Was meinen Sie?“ „Im Gitter breiten sich kleine Kausalitätswellen 473
aus, Muster, die sich zwischen den Informationsvektoren zeigen werden. Und …“ „Ja?“ ….und wir sind nur Menschen, oder“ – sie konnte sich ein humorlose Lächeln nicht verkneifen – „zumindest so menschlich wie Sie, Commander. Knochenlauscher sollen unvoreingenommen sein, und das sind wir auch, aber die Frage der Motivation spielt natürlich schon eine gewisse Rolle.“ Draußen knallte Alexa fluchend den Hörer auf die Gabel. „Sie wollen ihre Mörder ebenfalls erwischen, hm?“, sagte Laura. Feoragh nickte beinahe unmerklich. „Dann wollen wir mal, ihr zwei.“ Laura sah zu, wie Alexa die Schusswaffe in ihrer Handtasche überprüfte. „Man braucht eine Weile, um Richter Prior zu motivieren, aber ich glaube, er wird von Ihnen beeindruckt sein. Ich will es zumindest hoffen.“ „Ja.“ Alexa ließ ihre Handtasche zuschnappen. „Ich bin so weit.“ Donal dankte dem Scan-Geist, als er durch die letzte Tür nach draußen ging. Ein kalter, stetiger Wind fegte über das Vorfeld, und eine dünne Frau vor Donal hielt mit einer Hand ihren großen weißen Hut fest und mit der anderen ihr Kleid und ihren Mantel zusammen. Die Lady trippelte mit kleinen Schritten 474
dahin und bemühte sich, auf ihren Stilettos die Balance zu wahren. Sie steuerten auf die Treppe zu, die das Hilfspersonal bereits ans Flugzeug gerollt hatte. Die Propeller der Maschine standen still, aufgeladen von potenzieller rasender Drehbewegung; sie warteten darauf, das metallene Fluggerät in die Luft zu ziehen. Der beleibte, mit einem Zweireiher bekleidete Ehemann der dünnen Frau hielt den Kopf beim Gehen gesenkt und machte keine Anstalten, seiner Gattin zu helfen. Kopfschüttelnd musterte Donal die anderen Passagiere, die mit ihm gingen. Alle waren besser gekleidet als er, obwohl sie bestimmt nicht alle Erster Klasse flogen. Und er fragte sich auf dem Weg übers Vorfeld, ob der Scan-Geist ihm nicht doch erlaubt hätte, sein wertvollstes Accessoire mit an Bord zu nehmen. Aber das war Schnee von gestern: die Magnus lag in Lauras verschlossener Schreibtischschublade im Präsidium. Die ersten Passagiere stiegen bereits die Stufen hinauf, während ihnen oben zwei Stewardessen in schwarzen Capes zur Begrüßung entgegenlächelten. Auch wenn man Erster Klasse flog, musste man die Stufen selbst erklimmen, aber Donal konnte sich durchaus einen künftigen Service vorstellen, bei dem Geister die Fluggäste in die Maschine trugen. Der Wind zerrte an ihm, als er zum Aufstieg ansetzte. Er hielt sich am Geländer fest und spürte, wie kalt es war: fast so kalt, dass die Haut daran kleben blieb. Er wartete einen Moment, bis die Frau vor ihm 475
oben angelangt war, dann stieg er – immer zwei Stufen zugleich – zur Einstiegsluke hinauf und betrat die Maschine. „Willkommen an Bord, Sir.“ „Danke.“ „Sie sitzen dort drüben.“ In der Ersten Klasse machte es sich der beleibte Mann mit der dünnen Frau bereits bequem, nachdem er den Brandy getrunken hatte, der ihm von einer Stewardess eingeschenkt worden war. Er nahm eine dicke Zigarre aus einem silbernen Etui, steckte sie zwischen die Lippen und saugte heftig, während er sie anzündete. Ein fast unsichtbarer Vorhang um seinen Sitz trennte ihn vom Rest der Kabine. Donal hatte Zigarren schon immer gehasst. Wenn er daran dachte, dass selbstentzündlicher Tabak mit der Essenz eines Flammengeistes getränkt wurde … das war eine neue Widerwärtigkeit, derentwegen er den Mann noch mehr verabscheute. „Darf ich Ihnen etwas zu trinken bringen, Sir?“ Der Steward, der ihn ansprach, war dünn und effeminiert. „Vielleicht einen Sherry?“ „Whisky“, sagte Donal. „Single Malt, ohne Eis.“ „Sehr wohl. Danke, Sir.“ Während der Steward nach hinten ging, musterte Donal die anderen Mitglieder des Kabinenpersonals. Er sah die Schwuchteln mit den Stewardessen plaudern und bemerkte die beiden Stewards, die anders aussahen: hager, nicht dünn, mit vergrößerten Knöcheln und ein paar Narben um die Augen. 476
Wenn die anderen Passagiere es bemerkten, würden sie sich wahrscheinlich Sorgen machen, aber für Donal bedeuteten die Beamten vom Federal Sky Branch zusätzliche Sicherheit. Trotzdem bereute er es jetzt, dass er einen Fensterplatz gewählt hatte: Falls es irgendwelche Probleme gab, saß er am besten direkt am Gang. Allerdings war es zwölf lahre her, dass die Separatistenallianz von Goladol eine Reihe von Flugzeugen – insgesamt sieben – gekapert und nach Surinam entführt hatte. Und nachdem die Passagiere der letzten zwei voll besetzten Maschinen von den surinesischen Behörden exekutiert worden waren – die Hijacker waren absichtlich am achten Tag der Tränenwoche gelandet, in der Ungläubige ihr Haus nicht verlassen durften, und die Kampfbischöfe hatten geweint, als sie das Urteil an den unschuldigen, nach Surinam verschleppten Ausländern vollstreckten –, hatte man Gegenmaßnahmen ergriffen und die Sicherheitsvorkehrungen verschärft. Die letzten beiden Anschläge waren nur teilweise erfolgreich gewesen, und in den vergangenen neun Jahren hatten es die Rebellen nicht einmal mehr versucht. Dennoch gehörte die Provinz Goladol nach wie vor zu Illurium. Und wenn man den wenigen Nachrichtenmeldungen, die an den Grenzzensoren vorbeigelangten, Glauben schenken konnte, gab es in der Region immer noch Probleme. Kein Wunder, dass sich die staatlichen und tristopolitanischen Behörden an den strengen Sicherheitsmaßnahmen beteiligten. 477
„Bitte sehr, Sir. Ein feiner Whisky.“ Donal hoffte, dass er nicht zu fein war, doch als er einen Schluck davon trank, schien sich der Schnaps in einen berauschenden Nebel zu verwandeln. Er schloss die Augen, um die vielschichtigen Geschmacksnuancen zu genießen. Donal musste unwillkürlich lachen. „Bitte achten Sie darauf, dass Ihr Sicherheitsgurt geschlossen ist, Sir.“ „Ja, vielen Dank.“ Vor ihm war ein zentrales Schott, rund drei Mieter hinter der Tür zum Cockpit. Schwarze Vorhänge schirmten den kleinen Bereich ab, und Donal nahm zuerst an, dass es eine zweite Bordküche war, vielleicht ein Bartresen nur für die Passagiere der Ersten Klasse. Doch dann sah er, dass der Steward mit der Whiskyflasche zur Bordküche im hinteren Teil des Flugzeugs zurückkehrte, und ihm fiel auf, wie wachsam ihn einer der hart aussehenden Stewards beobachtete, als er an dem schwarzen Vorhang vorbeikam. Dies war ein gesicherter Bereich. Vielleicht eine Waffenkammer? Es dauerte weitere acht Minuten, bis die letzten Passagiere an Bord waren; sie schoben sich noch immer durch die Gänge zu den Economy-Plätzen ganz hinten. Die Propeller liefen ruckartig an, während acht immaterielle Geister die Treppe wegzogen. Die Kabine vibrierte, und das Flugzeug drehte sich langsam auf den Vorderrädern, bis die Nase zum fer478
nen Ende der Startbahn zeigte. Der leere, purpurrote Himmel über ihnen schien noch um ein paar Nuancen dunkler geworden zu sein. Die Motoren dröhnten. Donal trank noch einen Schluck Whisky. „Willkommen an Bord, meine Damen und Herren. Ich bin Kapitän Yershwin, und wir sind startbereit. Bitte machen Sie es sich bequem und genießen Sie den Flug.“ Damals im Waisenhaus hatte Schwester MaryAnne Styx großen Wert darauf gelegt, ihrem Publikum aus größtenteils ungläubigen jungen Schützlingen die elementaren Gesetze der Physik zu erklären – soweit sie sie kannte. Donal hatte ihr jedoch stets Aufmerksamkeit geschenkt, und darum wusste er nun, dass es die Trägheit war, die ihn in die Polsterung drückte, während die Beschleunigung das Flugzeug die Startbahn entlangzerrte. Die Lichter draußen verschwammen, und das Motorengeräusch wurde tiefer. Dann blieben die Lichter unter ihnen zurück, und das Flugzeug stieg in die Höhe; von den Motorgehäusen ging ein blassgrünes Leuchten aus, als hex-geschützte Turbinen Energie aus den in die Tragflächen und den Rumpf eingebetteten nekroskopischen Zellen sogen. Ich fliege nach Illurium. Donal schüttelte erneut den Kopf, dann kippte er den restlichen Whisky mit einem langen, genussvollen Schluck hinunter.
479
Alexa war allein im Büro der Spezialeinheit. Auf ihrem Schreibtisch stand ein weiterer Becher Kaffee, aber sie hatte nicht vor, ihn zu trinken, weil sie sonst den ganzen restlichen Abend lang ständig zum Klo rennen würde. Es war ihr schleierhaft, wie Donal es schaffte, solche Mengen von dem Zeug in sich hineinzuschütten. Möglicherweise hatten die Männer größere Blasen oder so. Wenn Sushana wieder so weit auf den Beinen war, dass man mit ihr plaudern konnte, würde Alexa sie danach fragen. Vielleicht kannte sie sich da aus. Nachdem es ihr nicht gelungen war, Donal vor seinem Abflug noch eine Nachricht zukommen zu lassen, wusste Alexa nicht so recht, was sie nun tun sollte. Ein vernünftiger Mensch würde nach Hause gehen. Ein vernünftiger Mensch hätte sich auch niemals freiwillig zu Lauras Sonderermittlungsgruppe gemeldet. Wenn sie einen spektakulären Erfolg erzielten, würden die Mitglieder der Einheit vielleicht Anerkennung ernten und befördert werden … aber niemand mochte einen Spitzel, geschweige denn einen Polizisten, der seine Kollegen verpfiff. Solange sie Korruption außerhalb des Departments untersuchten, ließ sich das jedoch bewältigen. Selbst dann konnten einem die städtischen Politiker mit ein paar Worten hinter vorgehaltener Hand, einer versteckten Andeutung oder sogar einer diskre480
ten, wenn auch plumpen kleinen Erpressung allerdings die Karriere vermasseln. Alexa war jedoch entschlossen, eines Tages selbst Polizeichefin zu werden. Wenn sie die linke Schublade ihres alten Schreibtischs aufzog, sah man einen Stapel Bücher aus der Sammlung, die sie größtenteils zu Hause aufbewahrte: trockene Wälzer, die sie auswendig lernen und verstehen musste, um nächsten Monat ihre Prüfung zum Sergeant zu bestehen. Einige davon waren dünne Bücher mit billigem Einband, und das oberste hatte sie sich bis jetzt kaum angesehen: Observierung II – Lippenlesen. Alexa besaß alle sieben Bände der Observierungsreihe, dazu den inoffiziellen’ achten Band, bei dessen Lektüre sich kein Polizist erwischen lassen durfte: Er trug den Untertitel Das Weite suchen. Die Autorin war eine pensionierte Streifenpolizistin, und in OBSERVIERUNG VIII beschrieb sie die Geometrie des Versteckens, die Vektoren von Licht und Schatten und die Aspekte der Flucht. Plötzliche Richtungsänderung ist eine häufig angewandte Taktik bei der Flucht, aber sie erlaubt es dem Verfolger oftmals, die Hypotenuse eines rechtwinkligen Dreiecks entlangzulaufen, während der Fliehende einen weiteren Weg über die beiden anderen Seiten zurücklegen muss. Ein tödlicher Fehler. Jeder wusste, dass die Bücher von großem praktischen Nutzen waren; aber wenn man sich dabei blikken ließ, wie man ein Buch übers Weglaufen las, handelte man sich damit wochen- oder sogar monate481
lange permanente Spötteleien und Beleidigungen ein. Und zwar nicht nur in diesem Department: Garantiert war es bei jeder Polizeitruppe jeder Stadt der Welt genauso. Alexa nahm den Band übers Lippenlesen heraus und schlug ihn auf ihrem Schreibtisch auf. Sie überflog die Kapitel und suchte nach interessanten Passagen, die eine eingehendere Lektüre lohnten. Alexas Meinung nach verstand es die Autorin, die relevanten Punkte mit humorvollen, wenn auch vielleicht übertriebenen persönlichen Anekdoten zu akzentuieren, aber trotzdem klappte sie das Buch wieder zu. Es gab noch andere für Kriminalbeamte in Zivil nützliche esoterische Fertigkeiten; eine davon war die tiefe Trancearbeit. Harald hatte ihr ein paar Tipps gegeben, sie mit elementaren Hypnosepraktiken und Suggestionen bekannt gemacht und ihr gezeigt, wie man das Bewusstsein anderer Leute wie auch das eigene manipulieren konnte. Seither hatte Alexa zwar noch keinen Verdächtigen in Trance versetzt, aber ihre Trefferquote im Schießstand mit Hilfe der Visualisierung verbessert, und dafür war sie Harald zu Dank verpflichtet. Harald. Dein Lächeln heute Abend gefällt mir nicht. Unter seinem sanften Gebaren hatte Harald auch eine gefährliche Seite: das Produkt seiner Jahre bei den Marines, wo er Fertigkeiten erlernt hatte, die der Zivilbevölkerung unbekannt waren, ja, die sie sich nicht einmal vorstellen konnte … und das galt auch für die meisten Polizisten. 482
Irgendwas stimmt da nicht. Ausgehend von ihren ursprünglichen Verwendungszwecken in der Medizin, gehörte es zur Trancearbeit, dass man die Fähigkeit entwickelte, Erinnerungen wieder wachzurufen und frühere Ereignisse noch einmal so detailliert zu durchleben, dass man Stimuli zu erforschen vermochte, die man im eigentlichen Moment des Geschehens gar nicht bewusst wahrgenommen hatte. In der Therapie konnte man damit angenehme Erinnerungen lebhafter und intensiver machen und den Patienten in einer Welt des positiven Denkens verankern. Umgekehrt konnte man einer traumatischen Erinnerung auch ihre schmerzhaften Stacheln ziehen. Für Polizisten, insbesondere solche, die Observierungsmaßnahmen durchführten, gab es darüber hinaus auch noch andere Einsatzmöglichkeiten. Alexas Lider flatterten, als sie daran zurückdachte, wie sie Laura und Donal nach dessen Rückkehr aus dem Archiv durch die Glaswände von Lauras Büro gesehen hatte. Es war der Tag, an dem er die Knochenlauscherin Feoragh kennengelernt hatte, die heute hergekommen war … Nein. Falscher Zeitpunkt. Alexa suchte in ihrem Gedächtnis nach Donals Rückkehr von dem Verhör, über das er sich ausgeschwiegen hatte – dem Verhör, bei dem er mit Dr. Kyushen Jyu zusammengearbeitet hatte. Danach war einer der Zwergenzwillinge von schwarz gekleideten Sanitätern in eine geschlossene Abteilung gebracht worden. 483
Ja … Alexa sank ein wenig tiefer. Diese Erinnerung. Da war etwas, da ging etwas vor. Die Art, wie Harald Donal angesehen hatte, brachte sie auf den Gedanken, dass er vielleicht wusste, was es war. Alexa hatte den Zeitpunkt festgelegt. Jetzt musste sie in ihrem Gedächtnis noch einmal dorthin zurückkehren. Sie schloss die Augen und begann, von siebenhundert an rückwärts zu zählen. Ihre Lider flatterten, als sie sich lächelnd in ihrem Stuhl zurücklehnte. Der Brennpunkt ihres Bewusstseins verlagerte sich tief ins Innere. In der Vergangenheit sah sie, wie Lauras Lippen sich bewegten, sie sah, wie Donal sich umdrehte, sodass er Alexa den Rücken zukehrte, aber die Anspannung in seinen Schultern sagte ihr genug … dann drehte er sich erneut um, und diesmal konnte sie ihm in ihrer Erinnerung – anders als beim ersten Mal – jedes Wort von den Lippen ablesen. „Sieben-sieben-sieben.“ Donal machte eine Pause, dann: „Zwo-neun-sieben-zwo, sechs-sechs-neunsechs.“ „Das war im Gedächtnis des …?“ Laura trat beiseite, sodass ihr Gesicht hinter Donals Schulter verschwand. Aber es genügte. Ich glaub ‘s nicht … Fröstelnd holte Alexa tiefer Luft; sie fühlte sich wie eine Taucherin, die zum Aufstieg ansetzte. Donal 484
hatte gesagt, der Commissioner sei in die Sache verwickelt, und das sei von einer zweiten Quelle bestätigt worden. Alexa war sich dessen sicher. Donal hatte Laura gesagt, dass Vilnar zum Kreis der Verdächtigen zählte. Dennoch hatte sich Haralds Einstellung zu Donal verschlechtert. Nicht er. Es war schwer zu glauben. Vor allem angesichts der Tatsache, dass Sushana im Krankenhaus lag. Harald, ein Spion Vilnars? Unmöglich. Mit flatternden Lidern glitt Alexa in ihre Erinnerungen zurück. Fünf Minuten später klappten ihre Augen abrupt auf. „Harald, du beschissener Kretin.“ Nach einer Flugstunde ertönte unter Deck ein leises Ächzen. Erschrocken schaute Donal nach draußen, ob ein Stück von der Tragfläche abgebrochen war. Er sah jedoch nichts als das helle grüne Leuchten der Turbinen vor der indigoblauen Nacht. Ein weiteres Ächzen ertönte, gefolgt von einem langgezogenen Knurren. Die hartgesichtigen Stewards waren bereits auf dem Weg nach hinten. Donal erkannte, dass sie zum Zugang zu den Laderäumen wollten. Stammten die Laute von einem der Tiere dort unten? Donal erinnerte sich an die Geschöpfe in den Käfigen, die er kurz gesehen hatte. Einige von ihnen 485
konnten gefährlich sein, wenn sie in Freiheit gelangten. Draußen in der Ferne loderten grelle Blitze auf. Dies war ein Vorbote des Transit-Sturms, jener Turbulenz und Hex-Konzentration, die für immer im Himmel über der illurianischen Grenze brodelte. Kapitän Yershwins Ankündigung kurz nach dem Start zufolge betrug die Flugzeit bis zu den ewigen Stürmen allerdings noch rund zwei Stunden. Es war also noch zu früh, als dass sich hex-induzierte Phänomene manifestieren konnten. Unten im Laderaum folgte jedoch ein vielstimmiges Heulen auf ein schreckliches Kreischen. Was immer dort los sein mochte, es betraf offenbar mehr als eines der Tiere. Tatsächlich klang es, als wären sie allesamt beteiligt und würden ihrer Furcht und ihrem Zorn mit Gebrüll Luft machen. Eine der Stewardessen eilte mit bleicher Miene nach vorn und blieb an den schwarzen Vorhängen hinter dem vorderen Schott stehen. „Entschuldigung.“ Er stand auf und stieg über die Füße der weißhaarigen Frau im Sitz nebenan hinweg. „Ich bitte um Verzeihung.“ „Vorsicht, junger Mann.“ „Tut mir wirklich leid, Ma’am.“ „Nein, ich meine, wenn Sie bei diesen gefährlichen Tieren helfen wollen, sollten Sie sehr vorsichtig sein.“ „Ich werd’s versuchen.“ Aber ohne Waffe war Donal nicht sicher, was er tun würde, wenn die Biester freigekommen waren. 486
„Bitte machen Sie sich keine Sorgen.“ Die Stimme, die aus dem Lautsprecher kam, gehörte nicht Kapitän Yershwin, sondern einem jüngeren Mann. „Hier ist der Erste Offizier. Mein Name ist Smeltil. Ich versichere Ihnen, dass wir alles unter Kontrolle haben. Bleiben Sie bitte an Ihrem Platz und lassen Sie den Sicherheitsgurt geschlossen.“ Eine weitere Stewardess, nicht die Frau, die nach vorn geeilt war, berührte Donal am Arm. „Sir, würden Sie bitte zu Ihrem …“ Donal beugte sich nah an ihr Ohr. „Ich bin Polizist. Lassen Sie mich helfen.“ „Oh, Lieutenant, ja …“ Donals Rang stand also zusammen mit seinem Namen in der Passagierliste. „Verzeihung.“ Es war die erste Stewardess, gefolgt von einer dunkelhäutigen Frau, die Donal bisher noch nicht gesehen hatte. Sie trug ein schwarz-rotes Gewand, und das elfeckige Amulett zwischen ihren kleinen Brüsten glänzte silbern und tiefschwarz. Bewegliche Heptagramme liefen über die sichtbaren Bereiche ihrer Haut: in ihrem angespannten, faltigen Gesicht und an den knochigen Händen. Man konnte unmöglich sagen, wie alt sie war. Sie sah aus wie eine sandgegerbte Skulptur, die jahrzehntelang draußen in der Wüste gestanden hatte. Donal wollte gerade die Hand heben und vorschlagen, dass die Frau blieb, wo sie war; aber in ihren Augen lag ein seltsames Glitzern, sie waren wie 487
ölige Teiche, in deren seltsamen Tiefen irgendwelche Kreaturen schwammen. Eine Hexe? Ganz recht. Es schien Donals eigener Gedanke zu sein. Kurz darauf kam Donal mit einem Blinzeln wieder vollständig zu sich. Die beiden Stewardessen gähnten, ihre Lider flatterten, dann wurden sie wach. „Was …?“ Die Hexe hatte den hinteren Teil der Maschine erreicht. „Ich bin froh, dass sie auf unserer Seite ist“, sagte Donal leise. „Äh … sie Ist doch …?“ „O ja.“ „Hades sei Dank.“ In diesem Augenblick schwankte die Maschine ruckartig zur Seite. Ein Dutzend Leute brüllten oder schrien auf. „Verdammt.“ Donal hielt sich am nächsten Sitz fest, als ein Tablett scheppernd zu Boden fiel. „Schnell.“ Eine Stewardess schob ihn weiter. „In Ordnung.“ Donal ging zur hinteren Bordküche durch, wo die Hexe verschwunden war. Ein Steward hielt mit grimmiger Miene eine Innenluke auf. Metallstufen führten in einen in Schatten gehüllten Raum hinunter. Donal bückte sich, schaute hinein und erhaschte einen Blick vom Gewand der Hexe. „Thanatos. Dann wollen wir mal.“ Er hielt sich an 488
den Stahlgeländern fest, sprang und rutschte auf den Handflächen die Geländer hinunter, wie bei den Treppen im Waisenhaus. Dann trafen seine Füße aufs untere Deck. „Pst.“ Die Hexe saß im Schneidersitz vor der Käfigreihe, die Arme ausgestreckt, die Augen geschlossen; ihr Kopf war nach vorn geneigt, und sie sandte Energiewellen – was immer das heißen mochte: Donal hörte beinahe Schwester Mary-Anne Styx’ skeptische Stimme, mit der sie jede Form von Mystizismus geißelte – zu den ängstlichen Tieren, in den Käfigen blitzten silberne Schuppen, purpurrote Haut und graue Krallen auf. Hinter Donal ertönte ein dumpfer Aufschlag, dann ein Fluch. Er drehte sich um und sah einen der hartgesichtigen Stewards – ein Undercover-Marshal, kein Zweifel – auf der Seite liegen. Ein Knie war an die Brust gezogen. Das Flugzeug hatte erneut gebockt, als er gerade die Stufen herunterstieg. Donal sah sofort, dass der Mann sich das Bein gebrochen hatte. „Ich bin Riordan“, sagte Donal. „Haben Sie eine Waffe?“ „Ja … Knöchel … halfter“, presste der Mann durch zusammengebissene Zähne hervor. „Anderes Bein.“ „Ich hab sie.“ Donal bewegte sich schnell. Er zog den schwarzen, kurzläufigen Revolver aus dem Halfter. Das ver489
letzte Bein musste ruhiggestellt werden, aber wenn die Tiere freikamen – oder sich die Turbulenz noch verschlimmerte –, würde Erste Hilfe auch nichts mehr bringen. Geduckt zielte Donal auf den nächsten Käfigund schwenkte die Waffe dann von einem zum nächsten. Ein durchscheinender Streifen bleichen Lichts flutete durch den Laderaum. Erst in diesem Moment akzeptierte Donal endlich das Offensichtliche. Dies war kein normales Unwetter, und dies waren keine normalen Tiere. Und es würde mehr als Kugeln brauchen, um mit der Situation fertig zu werden. Eine dunkle Aureole umgab die Hexe. Das Flugzeug kippte mit einem Ruck nach vorn. Von oben waren Schreie und das Klirren von Gläsern zu hören, gedämpft von dem dazwischen liegenden Deck und noch etwas anderem: einer Verdickung der Luft, einer neuen Vibration knapp unterhalb der Grenze des menschlichen Hörvermögens. Die Luft um die Hexe herum verdichtete sich immer mehr. Die Tiere in den Käfigen beruhigten sich; ihre Augen leuchteten auf. Dann begannen auch sie zu summen und zu trällern; Reptilienkehlen stimmten in den beinahe unterschwelligen Singsang der Hexe ein. Donal ließ seine Waffe sinken. Geh nach vorn. Einen Moment lang konnte Donal nicht erkennen, wer gesprochen hatte. Die Hexe summte und sang 490
weiter, aber irgendwie waren es ihre Worte, die er dachte. Berühre die Tiere, kam der Gedanke. Eines nach dem anderen. „Ich weiß nicht, ob …“ Jetzt. Donal schaute sich zu dem Polizisten mit dem gebrochenen Bein um. Die Augen des Mannes glänzten feucht vor Schmerz; aber er war fest entschlossen, bei Bewusstsein zu bleiben. Donal gab ihm seine Waffe zurück. „Die werde ich nicht brauchen“, sagte Donal. „Was … haben Sie vor?“ „Ich wünschte, ich wüsste es, verdammt noch mal.“ Das Flugzeug kippte wieder zur Seite. Donal rollte über das glatte Deck und rappelte sich auf ein Knie hoch. Irgendwie blieb die Hexe an Ort und Stelle, als hätte sie Wurzeln geschlagen; sie hockte im Schneidersitz auf dem schräg liegenden Deck, und ihre Aufmerksamkeit war nach innen gerichtet. Donal konnte nicht beurteilen, welchen Kampf sie ausfocht, und auch nicht, wie viel Kraft er sie kostete. Er konnte nur tun, worum sie ihn gebeten hatte. Also kroch er zum ersten Käfig. „Nicht.“ Das war der verwundete Sky-Marshal. „Tun Sie das nicht.“ „Ich muss“, murmelte Donal. Er packte die Gitterstangen und zog sich daran ein Stück weit hoch. „Ich weiß, es ergibt keinen …“ 491
Eine kalte schwarze Zunge schabte über seine Hand und war wieder verschwunden. Fühlst du die Knochen? „Thanatos“, wisperte er. „Das war ein Basili-“ Schnell. Wieder die Hexe, in seinem Geist. Wir haben wenig Zeit. Dann folgte ein weiterer Gedanke von anderer Art. Und schmeckst du das Lied?
492
FÜNFUNDZWANZIG Das Flugzeug bockte ein paarmal, und erneut erklang ein Schrei im Passagierdeck – so laut, dass er den Geräuschteppich der dort oben herrschenden Panik durchdrang. Donal zog sich zum nächsten Käfig und steckte die Hand hinein. „Ah …“ Zähne schlossen sich um sein Handgelenk. Spitze Zähne. Es war, als würde sich Säure durch seine Haut brennen. Donal zwang sich, stillzuhalten und die Hand nicht wegzuziehen: Diese scharfen Fänge konnten ihm die Sehnen zerreißen. Fühlst du …? Pst. Lass mich arbeiten. Donal brauchte seine ganze vom Trance-Training gestählte Willenskraft, um seine Reflexe zu besiegen und die Hand nicht zu bewegen, bis der Druck nachließ. Das Brennen durchflutete ihn immer noch, als er weiterkroch. Noch vier Käfige. Das hex-geschwängerte Unwetter draußen war nicht die einzige Gefahr, die hier drohte. Irgendwie hatte Donals Anwesenheit etwas damit zu tun. Hörst du die Musik? Alles meinetwegen. Eine der Bestien war ätherisch, ähnlich wie ein Geist, aber nicht einmal andeutungsweise menschlich. Die Gitter ihres Käfigs fungierten als Leiter für das nekromagnetische Feld, das sie gefangen hielt. 493
Als Donal die Hand in das Feld schob, folgte ein eisiger Hauch auf das Brennen, und die fremdartige Gestalt verschmolz für einen kurzen Moment mit ihm. Die Geometrien des Raumes rotierten durch unmögliche Winkel und Richtungen. Donal sah die Welt wie ein kubistisches Gemälde aus Perspektiven, die kein normaler Mensch einnehmen konnte. Dann schien ihm eine heftige Migräne wie eine Axt den Schädel zu spalten. Er fiel nach hinten, schrie auf … und fühlte sich gut. „Was zum Thanatos?“ Die Hexe zitterte heftig. In Donals Kopf waren keine Worte, aber er verstand die Botschaft: Sie konnte nicht mehr sehr lange durchhalten. Er musste rasch mit den restlichen Tieren Frieden schließen und so etwas wie eine harmonische Beziehung zu ihnen aufbauen, sonst würde das Flugzeug vom Himmel fallen. Es ist meine Schuld. Sie müssen begreifen, dass ich keine Bedrohung darstelle. Es waren noch drei Käfige übrig. Donal packte den nächsten mit beiden Händen und hielt sich fest, als das Flugzeug erneut zur Seite kippte. Er zwängte sein Gesicht zwischen die Stangen. Törichtes Risiko … Diesmal erhaschte er eigentlich einen klaren Blick von dem Tier, aber purpurrote Schuppen wirbelten in so schnellen Spiralen, dass seine Augen nicht folgen konnten. Es spie ihm etwas Säureartiges ins Gesicht, 494
und er zuckte zurück, ließ die Stangen los und rollte über das harte Metall. Er prallte gegen einen Käfig. Kein … Die vornübergebeugte Hexe sah aus, als würde sie gleich zusammenbrechen. Kein Angriff. „Es verzeiht mir“, sagte Donal. „Ich verstehe.“ Nein … Einen Moment lang glaube Donal, die Hexe wollte ihm widersprechen. Dann bockte das Flugzeug, sie kippte um, und Donal erkannte, dass es vorbei war: Das Flugzeug stürzte mit allen Menschen an Bord ab, und es war seine Schuld. Der Rumpf kreischte, als sich Metall verbog. Donal rammte die Faust in den nächsten Käfig, und etwas glitt über seine Haut. Es wand und drehte sich im Innern des Käfigs, und so etwas wie eine Quecksilber-Injektion drang in Donals Knochen und brachte Schmerz. Donal schrie, als eine Stoßwelle durch den Laderaum fuhr und ihn gegen ein Schott schleuderte. Die Hexe lag auf dem Boden. Sie schien ohnmächtig zu sein. Der Verletzte hatte sich zusammengerollt und zitterte. Noch ein Käfig. Das Flugzeug starb, aber er hatte noch eine Chance. Donal machte einen Hechtsprung zum letzten Käfig, als der Laderaum sich auf den Kopf stellte, dann wurde alles … NEIN! … dunkel. 495
Als Donal zu sich kam, kümmerten sich mehrere Leute um den Verletzten. Einer der Stewards sowie ein gut gekleideter Passagier legten ihm mit Hilfe von Leinenservietten Notschienen an. Von der Hexe war nichts zu sehen. Jemand hatte Donal eine Wasserflasche hingestellt. Er nahm sie, schraubte den Deckel ab und trank. Als sie leer war, warf er einen Blick aufs Etikett: Bergwasser aus Goladol im Norden Illuriums. Das Flugzeug flog ruhig dahin. „Uff.“ Donal rappelte sich mühsam auf. „Oben ist ein … Arzneimittelschränkchen. Habe ich vorhin gesehen.“ „Ja, wissen wir.“ Der Steward schaute zu ihm auf. „Das Problem ist, dass es oben ein Dutzend Verletzte gibt. Einer hat einen Herzinfarkt.“ „Das wird schon wieder“, murmelte der gut gekleidete Mann, während er weiter an der Schiene arbeitete. „Wenn wir landen, wird ein Krankenwagen bereitstehen“, sagte der Steward. „Vorausgesetzt, wir geraten nicht in weitere Unwetter. Wären wir nicht besser umgekehrt?“ Der Steward schwieg einen Moment, dann sagte er: „Ähm … Behalten Sie’s für sich, aber hinter uns ist das Wetter noch schlimmer als vor uns. Das Wetteramt hat nichts dergleichen vorhergesagt.“ Der Arzt lachte leise in sich hinein. „Vertraue niemals einem Seher, sage ich immer.“ 496
„Was“ – Donal machte eine Handbewegung zum Boden – “ist mit der … Lady passiert?“ „Sie meinen die Hexe?“, fragte der Steward. „Es geht ihr gut. Warum?“ „Nichts.“ Donal hatte sie zuletzt reglos am Boden liegen sehen; aber an Hexen war nichts normal. „Und die Tiere?“ In den Käfigen herrschte Stille. „Sie sind ruhig. Keine Ahnung, was sie vorhin so erschreckt hat. Na ja … das Unwetter, stimmt’s? Ich meine, ich weiß nicht, woher sie gewusst haben, dass es eins geben würde.“ „Ich auch nicht“, sagte Donal. Aber er hatte das ungute Gefühl, dass er es irgendwie doch wusste, dass die Hexe recht gehabt und seine Anwesenheit alles ausgelöst hatte. Er erinnerte sich an jenen Moment im Theater, als die ersten Reihen des vom Bann befallenen Publikums in Parazombie-Trance aufgestanden und in exaktem Gleichschritt nach vorn marschiert waren, auf die Diva zu … und auf Donal. Hörst du die Knochen? Nein. „Wo ist sie jetzt?“, fragte Donal. „Die Hexe.“ „Sie kümmert sich um einen der Passagiere“ – in der Stimme des Arztes klang Bitterkeit durch – „für den ich nichts tun konnte. Ich mache mich hier unten nützlich.“ Fühlst du die Musik? Es war nicht meine Schuld. 497
Der verletzte Steward stöhnte vor Schmerz und verlor erneut das Bewusstsein. Donal grinste und schaute sich zu den Käfigen um. „Was ist so komisch?“ „Nichts“, antwortete Donal. „Verzeihung. Ich hab einen Schlag auf den Kopf bekommen. So was führt manchmal zu seltsamen Reaktionen.“ Ich fühle mich großartig. Der Arzt machte ein besorgtes Gesicht. „Setzen Sie sich einfach hin, dann schaue ich Sie mir gleich …“ „Nein, nein. Ich habe keine Gehirnerschütterung. Sehen Sie?“ Donal hob die rechte Hand und hielt den gekrümmten kleinen Finger mit dem Daumen fest. „Drei Finger, stimmt’s? Nein, das Merkwürdige ist … wie gut ich mich fühle.“ Wirklich wundervoll. „Euphorie“, sagte der Arzt. „Vielleicht ist der Sauerstoff hier drin … Egal. Wenn Sie einigermaßen sicher auf den Beinen sind, sollten Sie vielleicht zum Passagierdeck raufgehen und sehen, ob Sie irgendwie helfen können. Ich denke, Sie schaffen das.“ „In Ordnung.“ Donal stieg die Leiter hinauf und lächelte dabei in sich hinein. „In Ordnung.“ Er wusste, dass dies eine seltsame Reaktion war. Als Donal das obere Ende der stählernen Leiter erreichte, schloss sich eine dünne Hand um sein Handgelenk, packte dann mit eiserner Kraft zu und zog ihn hinauf. Es war die alte, schwarz-rot gekleidete 498
Hexe. Als sie losließ, spürte er einen pochenden Schmerz im Handgelenk. „Äh … danke“, sagte er. Niemand hatte ihm beigebracht, wie man eine Hexe ansprach. Nonnen, das schon: Das Stahllineal auf seinem Bein lehrte ihn, respektvoll Schwester’ zu sagen – oder Mutter’ im Fall der Ehrwürdigen Schwester Oberin, die das Waisenhaus regiert hatte, dieses eiskalte Miststück. Aber bei der Hexe war das etwas anderes, und Donal wusste, dass ihr ein Mangel an Förmlichkeit nichts ausmachen würde. „Du trägst das Mal des schwarzen Blutes“, sagte sie. „Das Sturmfeld ist heute Nacht ungewöhnlich ausgedehnt, wenn es aus so großer Ferne die Resonanz der … Könnte eine bewusste Absicht dahinterstecken?“ „Möglich, dass ich in Silvex City Feinde habe, obwohl ich noch nie dort gewesen bin.“ Donal zuckte die Achseln. „Gehört nun mal zum Job.“ „Das macht es nicht besser, junger Mann.“ „Nein, Ma’am.“ Ein Lächeln zerknitterte die alte Haut der Hexe. „Aber du wirst dich trotzdem den Gefahren stellen? Gut für dich, Donal Riordan.“ „Woher kennen Sie meinen Namen?“ Die Hexe nickte zum hinteren Schott der Bordküche, wo hinter einer Glasscheibe eine kleine getippte Liste hing. „Das nennt man Passagiermanifest.“ „Oh …“ „Man muss mit wachen Augen durch die Welt ge499
hen. Nur so kommt man auf einen grünen Zweig, meinst du nicht?“ Donal neigte den Kopf in so etwas wie einer Verbeugung. „Hier.“ Die Hexe langte in ihr Gewand und brachte das silber-schwarze Amulett zum Vorschein, das Donal zuvor gesehen hatte. „Das ist für dich.“ „Das kann ich nicht …“ „Nimm es. Sofort.“ „Äh …“ Das Amulett lag bereits in Donals Hand. „Thanatos. Wie haben Sie das gemacht?“ „Ich habe gar nichts gemacht. Willst du behaupten, ich könnte deine Hände steuern?“ „Nun ja, ich glaube nicht, dass man mir …“ „Leg dir das Amulett jetzt gleich um.“ „… befehlen kann, etwas …“ Donal band die Schnur im Nacken fest und ließ das Amulett gegen sein Brustbein baumeln. „… zu tun, was ich nicht sowieso tun will …“ „Genau.“ Die Hexe lächelte erneut, und diesmal sah Donal die Wärme ihres Geistes: jung und tanzend, trotz des Alters ihres physischen Körpers. „Bist du nicht überaus froh, dass du das Richtige tun wolltest?“ „Doch …“ „Entschuldige mich bitte.“ Die Hexe berührte Donal am Arm. „Da sind noch ein paar Leute, die meine Hilfe brauchen.“ „Ja. Ich will nur …“ „Zurück an deinen Platz.“ 500
Donal wartete, bis sich die Hexe in der Bordküche an ihm vorbeigeschoben hatte, dann kehrte er in die Erste Klasse zurück. Die Passagiere schnarchten leise, trotz der vorherigen Panik. Als er wieder an seinem Platz saß, fielen ihm langsam die Augen zu, und er genoss den sanften, orangefarbenen Lichtschein, der durch seine geschlossenen Lider drang. Irgendwie hatte ihm die Hexe erlaubt, sich daran zu erfreuen. Er glitt allmählich in Wärme hinab. Fühlst du … Donal schlief lächelnd ein. Der Kern des Transit-Sturms bestand aus gewaltigen, wogenden Schichten silberner und purpurroter Fluoreszenz, das Aurora-Herz eines Jahrhunderte-, vielleicht sogar jahrtausendealten Unwetters, das stationär über der illurianischen Grenze tobte. Jederzeit konnten silberne Blitze einschlagen. Auf einmal geschah genau dies: Einer schlug ein. Weißes Licht loderte durchs Cockpit, raste nach hinten durch die Gänge und über die konkaven Wände und war dann verschwunden. Die Systeme des Flugzeugs funktionierten jedoch weiter, und niemand geriet in Panik. Allerdings hätte in diesem Moment auch nur die Hexe in Panik geraten können, aber sie war zu beschäftigt, um sich über irgendetwas Sorgen zu machen, denn sie verwandte ihre ganze Kraft darauf, ihren beruhigenden Bann aufrechtzuerhalten, der alle 501
Passagiere umfing, insbesondere Donal Riordan, der tief in einem schönen Traum lächelte und nur einziges Wort murmelte: Laura. Als die Hexe es hörte – oder irgendwie spürte –, lächelte sie ebenfalls. Die Liebe war ihr nicht fremd; fünfunddreißig Jahre lang war sie mit dem Magier ihrer Träume verheiratet gewesen, bis er in einem sicheren’ Flügel des Krankenhauses mit einer Gruppe von Parazombies aneinandergeraten war, die von einer unbekannten Macht gelenkt wurden. Die Ärzte hatten versucht, die Kontrolle über die vom Bann befallenen Parazombies wiederzuerlangen, und die Polizisten, die ihnen helfen wollten, nicht in die Station gelassen. Valkton, ihr Mann, hatte sich im Alleingang an den Gruppenexorzismus gewagt, weil er nicht auf Unterstützung warten wollte. Die Hex-Konzentration war mit jeder Minute gewachsen: Der Lenker der Parazombies war persönlich auf dem Weg dorthin, und dank der simplen Geometrie eines Abstandsgesetzes wurde seine Sendeleistung umso stärker, je näher er kam. Die Hexe hatte die Resonanz des Schwarzen Zirkels in den verbliebenen Emanationen um den Leichnam ihres Mannes geschmeckt. Der Name der Verschwörung war ihr damals noch unbekannt gewesen, aber sie hatte dieselben Spuren bei Donal Riordan wahrgenommen. Und du weißt es, nicht wahr? All dies hatte sie Donals Unterbewusstsein während der zwanzigminütigen Befragung in der Bord502
küche entnommen, nachdem er aus dem Laderaum des Flugzeugs heraufgekommen war. In Donals Erinnerung hatte die Unterhaltung jedoch nur Sekunden gedauert. Du erkennst allmählich, was sie mit dir gemacht haben, Donal Riordan. Als Donal erwachte, setzte das Flugzeug gerade zum Sinkflug an. Er zog die kleinen weißen Vorhänge im Fenster zurück – oder hieß es Bullauge’? – und bemerkte zwei Dinge zugleich: den schwarzen – nicht roten! – Himmel über ihm und die glänzenden Spiegelungen auf dem brettflachen Boden jenseits von Silvex City. Er hatte den Anfang der Glasebenen verpasst, der quadratischen Glasplatten mit einer Kantenlänge von hundertfünfzig Kilometern, die sich übereinander stapelten wie das dreidimensionale Schachbrett eines Gottes, mit jeweils – der Abstand variierte – fünfzehn oder dreißig Metern Luft dazwischen. Die Stützpfeiler bestanden aus Marmor; jeder war so umfangreich wie eine normale Stadt. Es gab jede Menge Legenden über die im Dunkel der Vergangenheit liegenden Ursprünge der Ebenen. Jede Legende hatte Tausende oder Hunderttausende Anhänger. Dennoch widersprachen sich viele von ihnen. Niemand kannte die Wahrheit, obwohl viele sie zu kennen behaupteten. Donal hatte die ganze Zeit geschlafen, während die Maschine in den Transit-Sturm geflogen und auf 503
der anderen Seite, über illurianischem Gebiet, wieder herausgekommen war. Seltsamerweise sah er vor seinem geistigen Auge jedoch jedes Detail dieses gewaltigen, langlebigen Sturms, der die Grenze schützte. Der Klang der Triebwerke änderte sich, ebenso der Farbton des grünen Leuchtens; es wurde dunkler, als sich das Flugzeug in eine abwärts führende Linkskurve legte und zu seinem viele Kilometer langen Anflug auf die wartende Landebahn ansetzte. Silvex City leuchtete scharlachrot und smaragdgrün, golden und kobaltblau, mit Glastürmen, die von violettem Licht beschienen wurden. In ihnen schwammen gelbe Muster wie Sternennebel. Ein anderes Land. Ein breites Grinsen dehnte Donals Gesicht, als die nächtliche Stadtlandschaft während des Landesanflugs immer größer wurde und sich in erstaunliche Details auflöste. Bald darauf setzte die Maschine auf. Die Reifen wirbelten über das aufgeraute opake Glas der Landebahn, und Donals Kopf ruckte nach hinten. Dann traten die Bremsen in Aktion, und die Geschwindigkeit des Flugzeugs reduzierte sich auf kontrollierte Weise, bis es gemächlich dahinrollte. Jetzt würden nur noch die letzten Bodenmanöver ausgeführt werden, dann konnte Donal nach Silvex City hineingehen. Schließlich kam das Flugzeug parallel zu einem der sieben Terminal-Gebäude, die sich in einer sternför504
migen Konfiguration über die Glasebene ausbreiteten, zum Stehen. Ein Oval löste sich von der Wand und fuhr auf das Flugzeug zu; es zog einen immer länger werdenden Tunnel aus überlappenden Metallplatten hinter sich her. „Wir möchten uns bei Ihnen allen dafür bedanken, dass Sie Air Illurium für Ihre Reise gewählt haben, und wir freuen uns darauf, Sie …“ Während die Durchsage des Ersten Offiziers aus den Lautsprechern tönte, brachten selbst die abgestumpftesten Passagiere der Ersten Klasse mit leiser Stimme ihre Anerkennung zum Ausdruck. Eine massige Frau, die an einer Pelzstola zog, sagte zu ihrem Mann: „Wunderbarer Flug, Schatz. Wollen wir das nicht bald wiederholen?“ „… nächstes Mal wieder bei uns begrüßen zu dürfen. Nochmals vielen Dank.“ „Unbedingt!“ Keine der Stewardessen schaute bei diesen Worten verständnislos drein, nicht einmal die junge Frau mit der verbundenen Hand. Wie würde sie sich die Verletzung erklären? Mit einem kaputten Glas? Der verletzte Steward mit dem gebrochenen Bein war nirgends zu sehen. Und die schwarzen Vorhänge vor der Kabine der Hexe waren zugezogen, obwohl sie sich nach Donals fester Überzeugung noch darin befand. Alle sind glücklich. Donal wartete bis zum Schluss; er tat so, als holte er in aller Ruhe seine Habseligkeiten aus dem Ge505
päckfach unter dem Sitz, obwohl sie nur aus seinem Mantel und dem ramponierten Taschenbuch Menschlich: Die Häretiker bestanden, das er als Nächstes hatte lesen wollen. Die schwarzen Vorhänge, die die Hexe verbargen, bewegten sich nicht. Donal wartete. Er war der letzte Passagier an Bord. „Das war ein großartiger Flug“, sagte er zu dem effeminierten Steward. „Abgesehen von den interessanten Momenten.“ „Ich weiß, was Sie meinen, Sir.“ Donal blieb bei den Vorhängen stehen und überlegte, ob er sie aufziehen sollte. Wenn die Hexe in Trance war, konnte eine Unterbrechung gefährlich sein. Das Amulett, das jetzt unter seinem Hemd hing, fühlte sich kalt und hart an. Fühlst du …? Schsch. Drei Männer in schwarzen Gewändern kamen an Bord der Maschine. Der größte des Trios starrte Donal mit Augen an, die sich auszudehnen schienen, während sie sich auf ihn konzentrierten. „Wer sind Sie?“ „Ich bin Donal Riordan.“ Einer der anderen Magier zeigte auf Donals Brust, genau dorthin, wo sich das Amulett unter seinem Hemd und seiner Krawatte verbarg. „Es wurde weitergegeben, nicht gestohlen.“ „Wahrhaftig“, sagte der dritte Magier. 506
Alle drei verneigten sich zugleich. „Sie sind gesegnet“, sagte ihr Anführer. „Nehmen Sie auch unseren Segen mit auf Ihren Weg.“ „Äh … gern“, sagte Donal. „Danke. Besonders an …“ Er schaute zu den schwarzen Vorhängen hinüber. „Dann will ich nicht weiter stören.“ Keiner der Magier rührte sich, bis Donal das Flugzeug verlassen hatte. Die fünfeckige Bronzeuhr wurde von Wassergeistern betrieben. Sie war reich verziert und hing an einem Bündel ineinander verflochtener, über und über von facettierten, juwelenartigen Glastropfen besetzter Bronzeketten von der Decke. Der Boden war mit einem schimmernden dunkelgrünen Mineral gefliest, durch das dunkle Spiralen kreiselten. Und dies war nur die Gepäckausgabe. Donals Mitreisende warteten darauf, dass ihre Koffer über die gläserne Rutsche hoch oben in der Wand hereinkamen. Als Donal die Rutsche erreichte, kamen gerade seine beiden Koffer herunter. Einige der anderen Passagiere starrten ihn an, als hätte er das so arrangiert. Das war offensichtlich Unsinn, aber Donal lächelte, als stünde es ihm ohnehin zu, nahm sein Gepäck und schaute sich um. Er sah kein Schild, aber aus der Art, wie einige Leute in der Halle herumstanden, schloss er instinktiv, welchen Durchgang er nehmen musste. 507
Er ging hindurch, sah den schwebenden Flammengeist, der ihm den Weg zum Zoll wies, und folgte diesem Gang. Die Dekoration ähnelte dem Gothic-Deco-Stil, den Donal aus Tristopolis gewohnt war, aber bei den Materialien lag die Betonung stärker auf Glas und Bronze. Die Luft roch sauber, fast antiseptisch. An den letzten Türen, die in die Flughafenhalle hinausführten, prüften Zollbeamte die Dokumente, und die Passagiere standen nervös Schlange und warteten darauf, dass sie endlich an die Reihe kamen. Ein Beamter mit weißen Handschuhen winkte Donal jedoch vor, nickte, als dieser ihm seinen Pass hinhielt, und ließ ihn durch. „Willkommen in Illurium, Lieutenant.“ „Danke.“ Alles lief wie geschmiert. In einem Büroraum, der seitlich abging, machte eine fast verborgene Gestalt in einem dunklen Gewand, das schwarz oder tiefrot sein mochte, eine winzige Handbewegung. Beim Anblick dieser Segnung durchlief ihn ein gutes Gefühl. Ob die Person, die das Hex eingesetzt hatte, ein Magier oder eine Hexe war, konnte er nicht erkennen. Fühlst du …? Bald. Schon bald. Donal ging durch die Sperre und betrat die riesige Flughafenhalle mit dem Kuppeldach. Da er in Tristopolis keine Zeit gehabt hatte, sich illurianisches Geld zu besorgen, suchte er eine Wechselstube auf 508
und sah verblüfft, wie klein der Geldstapel war, den er für seine Florins bekam. Bei einer Reihe roter Münztelefone steckte Donal zwei vierzehneckige Münzen in den nächsten Apparat, bevor er wählte. Es summte und zischte in der Leitung, dann meldete sich ein Vermittlungsgeist, und Donal nannte ihm die Nummer des gewünschten Anschlusses. Fünf Sekunden später meldete sich Laura. „Stell dir vor, mein Schatz, du bist schon wieder auf dem Weg in die Oper …“
509
SECHSUNDZWANZIG Über ihm glänzte Kristallglas inmitten von Stahlträgern, zwischen denen bernsteingelbe Gebilde mit darin eingeschlossenen Flammengeistern schwebten. Blitzsaubere Geschäfte und Speiselokale verteilten sich über eine verwirrende Vielzahl übereinander gestapelter Galerien, deren Böden zumeist aus Glas bestanden. Der Lärm von zweitausend plappernden Stimmen spülte über Donal hinweg und hallte in dem riesigen Raum von allen Seiten wider. Ein Cafe erregte seine Aufmerksamkeit. Dem handgemalten Schild zufolge gab es dort dreiundzwanzig Sorten Kaffee und siebzehn Sorten Tee. Der Anblick und der geheimnisvolle Duft zauberten ein Lächeln auf Donals Gesicht. Er ging mit seinen Koffern hinein und setzte sich an einen Tisch an der Wand. Eine kleine, durchscheinende Elfe stieg aus dem Tisch empor und blieb, eifrig mit ihren fast unsichtbaren Flügeln schlagend, vor ihm in der Luft stehen. Donal zeigte auf Schoko Surinesisch’ und sagte: „Medium, bitte … nein, groß.“ Die Elfe schien zu lächeln, zumindest zeigten ihre winzigen, zarten, fast menschlichen Züge einen Ausdruck, der wie ein Lächeln aussah; dann schlüpfte sie für eine Sekunde in die Tischplatte zurück. Sie kam wieder zum Vorschein und schwebte zum Tresen, wo drei normale Menschen arbeiteten. 510
Die hübscheste der Serviererinnen brachte Donal den Kaffee, und er schenkte ihr ein strahlendes Lächeln. „Das sieht ja fantastisch aus.“ Sie ließ sich von seiner guten Laune anstecken und strahlte zurück. „Wird Ihnen bestimmt schmecken.“ Alles war friedlich. Als die Bedienung zum Tresen zurückkehrte, lächelte sie eine ihrer Kolleginnen an, die gerade ein Stück Kuchen abschnitt. Die Kollegin bediente einen korpulenten Mann mittleren Alters, der auf ihren kleinen Scherz – Donal bekam nicht richtig mit, was sie sagte – mit einer freundlichen Bemerkung antwortete und sich mit seinem Kuchen und seinem Tee in eine Ecke setzte. Er schnitt mit seiner Gabel ein Stück von dem Kuchen ab, führte es zum Mund und schloss genießerisch die Augen. Irgendwie kam es Donal so vor, als hätte sich seine schlichte Freude über den Kaffee binnen Sekunden auf drei weitere Menschen übertragen. Wäre es nicht wunderbar, wenn das Leben immer so sein könnte? Und warum kann es nicht so sein? Donal wusste nur eines über die Zukunft, nämlich dass sie noch nicht eingetreten war. Und was die jüngste Vergangenheit betraf, so wusste er lediglich, dass er sich beim Besteigen des Flugzeugs in Tristopolis nicht besonders wohlgefühlt hatte, dass es ihm jedoch großartig ging, seit er hoch 511
über Silvex City aufgewacht war. Konnte es etwas mit der Höhe zu tun haben? Oder vielleicht sogar mit der Zusammensetzung der hiesigen Luft? Nachdem er den Kaffee ausgetrunken hatte, brachte er Tasse und Untertasse persönlich zum Tresen und bedankte sich bei den beiden anwesenden Bedienungen; die dritte war hinter einem Vorhang verschwunden. Sie bekamen tausend Fältchen um die Augen, als sie ehrlich erfreut lächelten, und riefen ihm ein fröhliches „Auf Wiedersehen“ nach. Er verfolgte damit keine weitergehenden Absichten; die beiden waren ohnehin viel zu jung für ihn. Und wenn es in Bezug auf die Gegenwart eines gab, was er wusste – eine melancholische Tatsache, die ihm die Perfektion dieses Augenblicks verdarb –, dann, dass er dieses Abenteuer gern zusammen mit Laura erlebt hätte. Vorausgesetzt, es wäre völlig ungefährlich. Er legte den Kopf in den Nacken und schaute zu der Glaskuppel und der ewigen Schwärze hinauf, die gegen sie drückte. Nicht an einen Himmel gewöhnt, der anders als in diversen dunklen Rottönen gefärbt war, wollte er sehen, wie es sich hier verhielt. Wies dieser nahezu schwarze Himmel keinerlei bestimmte Merkmale auf, oder gab es so etwas wie eine sichtbare Topologie? Sichtbar für das unbewaffnete Auge? Er ließ den Blick über die Beschilderungen der Ausgänge schweifen. Eine lautete Bodentransport, und Donal nahm an, dass damit Busse und Taxis ge512
meint waren. Ein anderes Schild für Züge zeigte eine Treppe hinunter. Donal suchte nach einem Ort, wo er … Dort. Ein Schild mit der Aufschrift Aussichtsraum führte ihn zu einem Laufband, das anfangs horizontal verlief und dann zu einer Rolltreppe anstieg. Diese trug ihn aufwärts, vorbei an mehreren Ebenen voller Restaurants und Bekleidungsgeschäfte. Oben stieg er ab und ging, ohne die einladenden Drinks zu beachten, an der gläsernen Bar vorbei zu dem Ausgang, der nach draußen führte. Die meisten Leute begnügten sich damit, an den Glaswänden zu sitzen und hinauszuschauen; da es jedoch eine Terrassentür gab, öffnete Donal sie und trat in Kälte und Dunkelheit hinaus. Am schwarzen Himmel waren winzige gelbe Punkte zu sehen, hier und dort auch ein paar blassblaue Kugeln. Es ist wirklich Nacht. Dieser Anblick blieb einem in Tristopolis wie im gesamten Luftraum des Landes versagt. So sahen die Menschen das größere Universum, das Sternenlicht, das über gewaltige Zeiträume hinweg die Leere durchquert hatte. Vor Donals Augen schoss ein scharlachroter Meteor über den Himmel, gefolgt von einem zweiten und dann einem dritten. Lange Zeit stand er da und nahm die ungeheure Weite in sich auf. Als Donal mit seinen beiden Gepäckstücken in die 513
Flughafenhalle zurückkehrte, war es bereits fünfundzwanzig Uhr vorbei. Er war länger draußen gewesen, als er beabsichtigt hatte. Alexa hatte ihm telefonisch ein Hotelzimmer reserviert, ohne das Reisebüro des Departments in Anspruch zu nehmen: Es war schon mühsam genug gewesen, ihnen die Genehmigung für die Auslandsreise abzuringen, obwohl Laura das Flugticket aus eigener Tasche bezahlt hatte. Donal wusste nicht, ob das Nova deLuxe ihn in diesen frühen Morgenstunden einchecken lassen würde. Auf einer spiralförmigen Rolltreppe fuhr er sieben Stockwerke bis zur Bodentransport-Ebene hinunter. Inmitten von Familien, die auf Verwandte oder billige, inoffiziell bestellte Taxis warteten, stand dort eine verzweifelt wirkende Gruppe von Fahrern. Einige trugen dunkle Uniformen und hielten Plakate mit den Namen von Besuchern hoch. E. Aalsighsen; Stadtrat Livko stand auf einem davon; ein Krickelkrakel, das Familie Labrusvhjo lauten mochte – wie immer man das aussprach –, auf einem anderen; und D. Riordan; dann ein Schild, das nur die Aufschrift LexCo Inc Reprezentativ trug, entweder ein fremde Sprache oder schlechte Orthografie, und … Donal ging zu dem Mann mit der spitzen Mütze und dem D. Riordan-Schild. „Wer hat Sie geschickt?“ Niemand erwartet mich. „Äh … Mr Riordan. Darf ich Ihr Gepäck nehmen?“ 514
Donal konzentrierte sich auf seine Atmung und sorgte dafür, dass seine Augen hohe Sensibilität für Bewegungen am Rand seines Blickfelds entwickelten. „Aber wer ist Ihr Auftraggeber?“, fragte er. „Verzeihung. Ich hätte es Ihnen sagen sollen, Sir … Don Falvin Mentrassore ist ein Freund von Harald Hammersen.“ „Ach so. In Ordnung. Gehen Sie vor.“ Dies war also eine von Haralds Kontaktpersonen. „Und ich trage mein Gepäck selber, danke.“ „Ja, Sir. Hier entlang.“ „Waren Sie schon da, als die Maschine gelandet ist?“ Donal warf einen Blick auf seine Armbanduhr. „Das war vor fast einer Stunde.“ „Ja, Sir.“ „Tut mir leid, dass Sie warten mussten. Brauchen Sie eine Pause oder so, bevor wir losfahren?“ Donal wusste von Observierungen her, was lange Wartezeiten bedeuteten; man benötigte in jedem Wagen und jedem unauffälligen Raum immer mindestens eine große leere Flasche, wenn nicht mehrere, falls er zum Beobachtungsposten wurde. Der Fahrer zögerte und sagte dann: „Nur eine Minute.“ Donal grinste ihn an. Der Fahrer machte sich auf den Weg zur Toilette. Donal stellte sein Gepäck auf die polierten Fliesen und schaute sich in der Halle um. Einige Läden boten billigen Schmuck, normale Nahrungsmittel und sogar Arzneimittel feil. Wenn 515
man den Flughafen von den unteren Ebenen der Stadt aus leicht erreichen konnte, diente er vielleicht als Einkaufszentrum für die Einheimischen. Und für Flughafenpersonal. Ein schäbig gekleideter junger Mann, der eine Laute an einem Lederriemen über der Schulter hängen hatte, kam auf Donal zu. „Entschuldigung, Sir.“ Der Mann hatte elfenbeinfarbenen Teint und Mongolenfalten, und sein Akzent war schorinesisch. „Wissen Sie, wie ich zur Dalishville Range komme?“ Donals Kenntnisse der illurianischen Geografie standen auf wackligen Füßen, aber er wusste, dass dieser Gebirgszug mindestens ein paar hundert Kilometer nördlich lag. „Eigentlich nicht. Zum Bahnhof geht’s dort entlang.“ Er zeigte nach hinten, zu einer Rampe. „Das ist am billigsten, glaube ich.“ „Ja, keine Busse hier.“ Er meinte Reisebusse. „Viel Glück“, sagte Donal. „Danke, Sir.“ Der Junge ging in Richtung der Rampe. „Wer war das, Sir?“ Der Fahrer kam gerade zurück. „Hat Sie jemand belästigt?“ Jeder redete Donal mit Sir an. „Eigentlich nicht. Er kannte sich hier nur nicht aus.“ „Oh. Und da ist er als Erstes zu Ihnen gekommen.“ Donal zuckte die Achseln. Wenn man ruhig und 516
aufmerksam wirkte, nahmen die Leute an, man wäre am jeweiligen Ort zu Hause. Aber dies war keine Stadt wie jede andere, auch wenn sie noch so sehr auf Hochglanz poliert … Fühlst du die Knochen? Nein, aber irgendetwas ist in der Nähe. Donal starrte den Wegweiser zum Bahnhof an. „Sir? Wir sollten jetzt wirklich …“ „Wie heißen Sie?“, fragte Donal. „Und Sie können Donal zu mir sagen.“ „Ich bin Rix.“ „Also, Rix, wie wär’s, wenn Sie nun doch mein Gepäck nähmen?“ Donal hob die Koffer auf und hielt sie ihm hin. „Und bringen Sie’s bitte zu Don Mentrassores Haus.“ „Äh …“ „Genau, nur das Gepäck. Ich komme später nach. Wie lautet die Adresse?“ „Von Don Mentrassore?“, fragte Rix, als könnte er nicht glauben, dass jemand nicht wusste, wo der Don wohnte. „Mhm.“ „Upper Kiltrin North“, sagte Rix. „Die Straße führt in Serpentinen von PulkwilPs Hill hinunter, und die Villa des Dons …“ „Wie heißt die Straße?“ „PulkwilPs Hill Ist die öffentliche Hauptstraße. Das Haus liegt an einer namenlosen Privatstraße.“ Donal fragte sich, wie die Post zugestellt wurde; aber momentan brauchte er nur zu wissen, wie er 517
dorthin gelangte. „Ich nehme an, Taxifahrer kennen den Weg. Was muss ich sagen – zur MentrassoreVilla?“ „Richtig. Sie ist leicht zu finden. Fahren Sie langsam die Straße runter, bis Sie das Haus mit den drei stählernen Gargylen vor der Tür sehen; ihre Flügel sind normalerweise so ausgebreitet.“ Rix machte eine ausladende Geste mit beiden Händen. „Oder vielleich sehen Sie zwei Gargylen und eine leere Wieheißtdasnochgleich – Plinthe.“ „Renoviert der Don gerade?“ „Nein, aber … Sachen bewegen sich eben, wissen Sie? Nur nicht, wenn man gerade hinschaut.“ Rix trug das Gepäck ebenso mühelos wie Donal. „Sir? Äh, Donal … Was haben Sie denn vor? Der Don hat alles, was man braucht.“ Donal schaute sich zu den Ladenfronten um. „Ich will nur ein paar Sachen besorgen, die ich zu Hause vergessen habe. Vielleicht stöbere ich ein bisschen rum und schaue mir ein paar Sehenswürdigkeiten an.“ Fühlst du …? Beeil dich. Rix schaute auf seine Armbanduhr. Er trug sie innen am Handgelenk, wie Donal. Auch er war also beim Militär gewesen. „Machen Sie sich um mich mal keine Sorgen“, fügte Donal hinzu. „Ich schlafe schon nicht auf der Straße.“ „Na dann.“ Rix tippte sich an die Mütze. „Viel Glück, Sir.“ 518
Donal blickte Rix nach und lenkte seine Schritte dann zu den Geschäften. Dort angelangt, schaute er auf seine Uhr, als fiele ihm gerade etwas ein, dann kehrte er um und folgte dem Weg, den Rix genommen hatte. Er schaute auf einen gepflasterten Bereich hinunter, wo Limousinen und dunkelgrüne Taxis warteten, und sah, wie Rix in eine niedrige schwarze Limousine einstieg. Der Wagen fuhr zügig los und folgte der Straße, bis er unter einer Decke aus opakem Glas verschwand. Fühlst …? Ja. Donal machte sich auf den Weg zu der Rampe, die zum Bahnhof hinunterführte. In Tristopolis war es der Busbahnhof, der menschliche Aasgeier anzog. Hier legten ihm subtile Fingerzeige der Geometrie und des Sauberkeitszustands eine andere Wahl nahe. In der unterirdischen Station gab es siebzehn lange, dunkle Bahnsteige. Die Luft war kalt; alles war in fremdartiges, silbriges Neonlicht getaucht. Von drei Bahnsteigen am anderen Ende führten Zufahrtsrampen zur Straße hinauf. Vor Donals Augen fuhr ein Taxi eine dieser Rampen hoch; auf dem betreffenden Bahnsteig lagen bloß noch Ballen in Sackleinen gehüllter Güter. Ein paar Bahnhofsarbeiter gingen an dem Zug vorbei, dessen Waggonbeleuchtungen eine nach der anderen erloschen. 519
Um diese Zeit warteten nur noch wenige Fahrgäste auf ihre Züge. Als Donal zum nächsten Bahnsteig hinunterging, fiel ihm ein Streifenwagen auf, der hinter einer großen Säule dicht bei der nächsten Rampe stand. Zwei uniformierte Polizisten kamen hinter ihm heran und gingen langsam an ihm vorbei. Der größere der beiden, ein Mann mit enorm breiten Schultern und muskelbepacktem Hals, wurde noch langsamer, während er Donal ansah. Donal tat so, als bemerkte er den aufmerksamen Blick des Polizisten nicht. Er holte seinen Ticketumschlag aus der Innentasche, öffnete ihn, schaute zur Zuganzeige hinauf – eine Geisterhand malte gerade den Bestimmungsort des nächsten Zuges in purpurroter Kursivschrift ein – und nickte wie zur Bestätigung seiner Reisearrangements vor sich hin. Die Polizisten gingen weiter. Donal musterte die kleinen Grüppchen von Fahrgästen und die einsamen Individuen, die mit den Händen in den Taschen und hochgezogenen Schultern herumstanden oder sich allein auf kalten Bänken zusammenkauerten, und begann schon zu glauben, er hätte sich geirrt. Trotzdem bemerkte er die junge Frau – das Mädchen – auf einer der Bänke. Hatten die Polizisten sie auf ihrer Patrouille befragt? Sie sah aus, als wäre sie höchstens vierzehn und allein, also schutzlos. Die Polizisten stiegen in ihren Streifenwagen und schlossen die Türen. Donal sah zu, wie sie im Rückwärtsgang losfuhren, mit quietschenden Reifen wen520
deten und dann mit zu hoher Beschleunigung die Rampe zu den Straßen oben hinaufrasten. Kaum waren sie außer Sicht, kam ein hagerer, unrasierter Mann hinter einer Säule hervor und machte sich auf den Weg über den Bahnsteig. Mit seinen zu großen Augen starrte er alle der Reihe nach an. Donal zog selbst die Schultern hoch und krümmte sich kaum merklich zusammen, während er den Blick abwandte; er täuschte die Körpersprache unbehaglicher Angst vor. Die meisten normalen Bürger würden sich um diese Zeit und an diesem Ort tatsächlich fürchten. Der Mann gab ein leises Knurren von sich, als er an Donal vorüberging, und Donal erschauerte und duckte sich noch tiefer in seinen Mantel. Dann war der Mann an ihm vorbei; sein Ziel war das einsame Mädchen auf der Bank. Hab ich’s mir doch gedacht. In der Nähe der Bank des Mädchens bekam der Gang des Mannes etwas Großspuriges. Er setzte ein Grinsen auf und sagte: „Hi. Darf ich Platz nehmen?“ Das Mädchen erschauerte leicht und zuckte die Achseln. Sie schaute kurz zu ihm auf und wandte dann den Blick ab. „Mach dir meinetwegen keine Gedanken, Kleine“, fügte der Mann hinzu. „Ich bin ein Prediger. Kein Grund zur Sorge.“ Ein Prediger. Vielleicht hatte Donal sich geirrt. Fühlst du die Knochen? Ja, jetzt, wo du es erwähnst … 521
Mit gesenktem Kopf kam Donal wie zufällig näher. Er analysierte die Haltung des Mannes und kam zu dem Schluss, dass er eine Eisenstange oder einen Schlagstock in der rechten Manteltasche hatte. Die Schusswaffe saß an seiner linken Hüfte, vermutlich mit dem Griff nach vorn; er hatte seinen langen Mantel trotz der Kälte offen gelassen. Das war Pech. Ein dummer oder zu selbstsicherer Mann hätte den Mantel vielleicht zugeknöpft und sich den Griff zur Waffe damit erschwert. Noch näher. „Sieht so aus, als brauchtest du einen Freund.“ Die Stimme des Mannes klang mitfühlend. „Und was Warmes zu essen. Ich kenne ein Haus, wo …“ In diesem Moment bemerkte er Donal. „Du da.“ Er fletschte die Zähne, und die Kälte, die in seiner tiefer werdenden Stimme aufklang, sagte Donal alles, was er wissen musste. „Zieh Leine. Na los.“ „Hm?“ Donal machte ein verständnisloses Gesicht. Der Mann erhob sich von der Bank, streckte sich und schob die Hand in seinen Mantel. Speichelsprühend zischte er: „Verdammte. Scheiße. Willst. Du. Das hier?“ Er verfiel in ein-Wort-Sätze, und das bedeutete, dass er gleich angreifen würde und dass die Zeit abgelaufen war. Jetzt. Als der Mann fester zupackte und die Waffe zu 522
ziehen begann, ging Donal abrupt in einen anderen inneren Modus über. Er war ein reines Reptil, als seine linke offene Hand ins Gesicht des Mannes krachte und dann die Hand mit der Pistole packte, während er dem Mann unter Einsatz jeder Unze Drehmoment aus den Hüften heraus mit der rechten Faust einen Haken seitlich gegen den Hals versetzte. Der Mann brach bewusstlos zusammen. Aber Donal folgte ihm mit den Knien voran nach unten. Es gab ein übelkeiterregendes Knirschen. Schließlich nahm Donal ihm die Waffe ab. Das tut man erst, wenn der Gegner sie nicht mehr benutzen kann. Danach durchsuchte er die Kleider des Bewusstlosen und fand eine ausziehbare Stahlrute – die würde sich vielleicht noch als nützlich erweisen – sowie eine Handvoll loser Patronen. Unprofessionell. Aber die eigentliche Profession des Mannes war es, sich mit jungen Mädchen anzufreunden und sie dann in die wundervolle Welt der Prostitution einzuführen. Dann konnte er ihnen den Löwenanteil von allem abnehmen, was sie verdienten, während sie immer tiefer in diesem Leben versanken. Diesmal nicht. Der Mann besaß eine Brieftasche, und Donal nahm sämtliche Geldscheine und achteckigen illurianischen Münzen heraus. Er gab sie dem Mädchen. „Hier“, sagte er. „Ich glaube, er wollte, dass du das bekommst.“ „Mister … tut mir leid.“ 523
„Was denn? Er wollte ein Opfer aus dir machen, aber du bist keins, du bist ein Mensch und wirst es … aus eigener Kraft … schaffen, okay?“ Der Bewusstlose stöhnte. „Okay?“, wiederholte Donal. „Und du kaufst dir was zu essen und machst einen Anruf. Gibt’s in dieser Stadt die Barmherzigen Todesschwestern?“ Erinnerungen an Schwester Mary-Anne Styx inmitten der mürrischen Kälte der anderen Nonnen kamen in ihm hoch. Aber der Orden war den Umgang mit Ausreißern gewohnt. Und man unterzog sie dort keiner Gehirnwäsche: Das widersprach buchstäblich ihrer Religion. „Ich glaube schon …“ „Dann geh wieder rauf zu den Geschäften“, sagte Donal, „und zwar jetzt gleich. Hol dir was zu essen. Mach diesen Anruf.“ „Ja, Sir.“ Das Mädchen stand auf. „Okay.“ Sie ging ein paar Schritte in Richtung der Fußgängerrampe. Dann schaute sie sich zu dem Bewusstlosen um. „Was werden Sie …?“ „Nun geh schon.“ Sie zog den Kopf ein, drehte sich um und stieg zu den Ebenen der Flughafenhalle hinauf, wo es zumindest hell und fürs Erste sicher war. Donal hatte das Gefühl, dass sie seine Ratschläge befolgen würde. Mehr konnte er nicht tun. Die Hand des Mannes zuckte. Donal richtete ihn in eine sitzende Stellung auf; die Beine blieben ausgestreckt auf dem Bahnsteig 524
liegen. Er schaute sich rasch um: Niemand beobachtete sie. Alle wartenden Fahrgäste hatten das, was hier geschah, ausgeblendet. Er betätigte die Druckpunkte im Nacken, bis der Mann unter Schmerzen halb aus der Ohnmacht erwachte. Seine Lider flatterten. „Wenn ich dich bewusstlos hier liegen gelassen hätte“, flüsterte Donal dem Kerl ins Ohr, „wärst du gestorben. Glaubst du, irgendjemand würde sich um Abfall kümmern?“ „Uh …“ „Wenn du noch mal hierher kommst, stirbst du.“ Der Mann stöhnte, schluckte, öffnete den Mund und gab einen Laut von sich, als schnappte er ganz kurz nach Luft. Donal drückte fester zu. „Wenn du die Mädchen weiterhin auf den Strich schickst, stirbst du.“ Jetzt war nur ein Krächzen zu hören. Donal lockerte seinen Griff ein wenig. „Hast du sie in einem Haus untergebracht? Die Mädchen?“ „Ja …“ „Welche Straße?“ „Gruytliwik Avenue.“ „Nummer?“ „Hmh …“ „Die Hausnummer. Welche ist es?“ „Sieb … zehn.“ „Wenn du dorthin zurückkehrst“, sagte Donal, „stirbst du. Verstanden?“ 525
Der Mann nickte unter Schmerzen. „Dann steh auf.“ Donal zog ihn auf die Beine. „Und verschwinde.“ „Wohin …?“ „Weg von hier. Raus aus deinem Leben.“ „Ja …“ Statt den Weg zur Rampe einzuschlagen, taumelte der Mann zu einer gelb lackierten Metalltür, zog sie mühsam auf und fiel halb hindurch. Seine Schritte klangen dumpf auf abwärts führenden Metallstufen. Donal folgte ihm. Es war ein Notausgang, der zu einem schmutzigen Straßentunnel führte, an dessen feuchten Seitenwänden sich stinkender Müll häufte. Dies war die Fäulnis, von der nicht einmal der Kern von Silvex City verschont blieb, wie Donal gewusst hatte. Er sah, wie der Verletzte davontaumelte und dann verschwand. Vielleicht bewegte sich noch ein weiterer Schatten in der Dunkelheit, irgendein Räuber, der Verletzung und Schwäche spürte, auf der Jagd nach einem anderen Exemplar seiner eigenen Gattung. Donal blickte auf die Schusswaffe in seiner Hand, schaute wieder ins Dunkel und zuckte dann die Achseln. Er schob die schwere Tür zu. Als er wieder auf den Bahnsteig trat, ertönte gerade ein fröhliches Rumpeln auf den silbrigen Gleisen. Ein Zug fuhr in den Bahnhof ein. Fahrgäste stiegen aus, einige mit Gepäck, auf der Anreise zu ihren Flügen. 526
Donal ging inmitten einer umfangreichen Großfamilie in die Flughafenhalle hinauf. Trotz der späten Stunde schwatzten alle lebhaft miteinander über die bevorstehenden Ferien und nahmen Donals Anwesenheit als bloßen Zufall hin. Dann stand Donal wieder inmitten der glitzernden Fassaden, die eine zivilisierte Welt verhießen, in der zweibeinige Ratten nicht überlebten; zumindest hofften die Menschen das in ihrer Naivität.
527
SIEBENUNDZWANZIG Alexa schloss in der dampfigen, überhitzten Kantine zu .Laura auf. Neue Aushänge verkündeten, dies sei VOLKOWAN’S RESTAURANT, aber es war dieselbe alte Kantine mit demselben alten Speisenangebot, nur dass es jetzt von einer Fremdfirma statt von zivilen Angestellten des Departments zubereitet wurde. Laura brauchte nicht zu essen, klar, aber sie musste ihre Kontakte pflegen, musste sich mit Leuten, die für die Spezialeinheit – und somit den weiteren Verlauf ihrer Karriere – nützlich waren, anfreunden und sie manipulieren. So sahen die Spielregeln eben aus, und wenn man erst einmal zum Commander aufgestiegen war, musste man sich an sie halten. Das alles war Alexa klar, aber es kümmerte sie nicht. Ihr Ziel war es, selbst Commander zu werden, und zwar nicht erst, wenn sie so alt war wie Laura jetzt. Oh, und … sie wollte noch am Leben sein, wenn die Beförderung kam. Einen Kollegen zu verpfeifen, der schlechtes Urteilsvermögen an den Tag gelegt hatte … also, das war nicht gerade die optimale Art, seine Karriere voranzutreiben. Harald hatte Donal in Gefahr gebracht – das stand für Alexa fest. Als Erstes sollte sie Harald deswegen zur Rede stellen, ohne jemand anderen einzuweihen, so gefährlich diese Vorgehensweise auch sein mochte. 528
Aber es gab noch ein anderes Problem. Xalia. Laura verabschiedete sich gerade von einem Revierleiter, den Alexa nicht kannte. Alexa wartete, bis der Captain gegangen war, dann gesellte sie sich zu Laura. „Hallo.“ „Oh, Alexa. Alles in Ordnung?“ „Na ja … ich hab gar nichts von Xalia gehört. Niemand hat sie gesehen, und sie war auch noch nicht hier.“ „Keine Sorge“, sagte Laura. „Ich weiß, was sie … Nein. Warte.“ „Was ist?“ Laura schaute auf ihre Armbanduhr. „Sie ist noch nicht wieder aufgetaucht?“ „Nein.“ Alexa, die sich an ihre Trance und das Lippenlesen erinnerte, machte einen intuitiven Sprung. „Hat es was mit dem Commissioner zu tun? Was hast du ihr aufgetragen?“ „Weshalb fragst du?“ Beide sahen sich verstohlen um und vergewisserten sich, dass niemand ihr Gespräch mithören konnte. Aber sie waren weit genug von jeder Wand oder Säule entfernt, in der ein Geist lauern konnte. In diesem Teil des Restaurants war der Boden von einer Art Hanfmatte bedeckt, der Stöckelabsätzen übel mitspielte, aber eine gute Isolierung abgab. „War bloß geraten.“ „Na schön.“ Laura schaute sich um und erspähte ein schwarzes Haustelefon an einer blau gefliesten 529
Wand. „Ich muss einen Anruf machen – mal hören, was mit Xalia ist. Komm mit.“ „Danke.“ Alexa ging neben Laura her. „Hat Donal dieselbe Einstellung zu Vilnar wie du?“ Lauras Augenbrauen legten sich leicht in Falten, und der Anflug eines Lächelns erschien auf ihrem Gesicht, aber dann fing sie sich wieder. „Was meinst du damit?“ Alexa stieß den Atem aus. „Ich meine, entweder ist Donal Vilnars Spion, oder er ist dein Spion in Vilnars Lager. Hab ich recht?“ Laura schüttelte den Kopf. Als sie das Telefon erreichten, nahm sie den Hörer ab und bat die Zentrale, sie zur Geisterresonanz durchzustellen. Sie wartete, dann sagte sie: „Hier ist Commander Steele. Können Sie mir sagen, wo Xalia …“ Ihre Stimme verklang. „Was soll das heißen?“, sagte sie dann. „Wie lange? Was ist ihr zugestoßen?“ Sie lauschte noch einen Moment, dann dankte sie der Zentrale und legte den Hörer auf. „Scheiße.“ „Was ist passiert?“ „Xalia ist verletzt. Sie kann nicht sprechen und wird es auch erst wieder können, wenn sie eine gewisse Zeit in einem Heilungsfeld verbracht hat. Könnte Tage oder noch länger dauern.“ Alexa und Laura sahen sich an. Beide dachten an Sushana in ihrem Krankenbett. Das Team hatte nicht gerade eine Glückssträhne. 530
„Mal sehen, ob sie mich jetzt zu ihr lassen“, setzte Laura hinzu. „Gehst du ins Büro zurück?“ „Ja, natürlich. Und Donal ist auf unserer Seite, ja?“ „Verlass dich drauf.“ In Lauras Stimme lag nicht das geringste Zögern. „Wenn ich irgendwann in der Zukunft mal nicht mehr da bin, Donal aber schon, behandle ihn genauso wie mich, okay?“ „Hm … okay.“ „Bis später.“ Laura marschierte eilig aus dem Restaurant, und ihre Schritte wurden immer schneller, bis sie aus Alexas Blickfeld verschwunden war. Alexa blieb stehen und schaute ihr nach. Dann nahm sie den Hörer des Haustelefons ab, das Laura benutzt hatte, und ließ sich mit Viktors Apparat verbinden. Es klingelte ein einziges Mal, dann meldete sich Viktors Stimme: „Hallo?“ „Hey, ich bin’s. Alexa. Bist du die nächste Stunde noch im Büro?“ „Ich? ja, ich bin hier“, antwortete Viktor. „Warum fragst du?“ „Ich geh noch mal eben raus, einen Happen essen.“ Alexa wollte Viktor nicht anlügen. Vielleicht würde sie rasch einen kleinen Imbiss zu sich nehmen, während sie draußen war. „Soll ich dir was mitbringen?“ „Nein. Oder doch … Vielleicht einen Bagel. Irgendwas.“ „Geht klar. Alles in Ordnung mit dir?“ ,,Ja, ja …“ 531
Alexa hörte den Schmerz in Viktors Stimme. Sie wagte es nicht, ihm etwas von Xalias Verletzung zu erzählen. Der arme Kerl litt schon genug, und er hatte Xalia immer gemocht, auch wenn sie ihn noch so sehr provozierte. „Nimm’s leicht, Großer.“ „Ja.“ Es klickte, und die Leitung war tot. Alexa hängte auf. Dann schlug sie denselben Weg ein wie Laura. Beim ersten Fahrstuhlschacht wartete eine Gruppe von Leuten. Alexa eilte durch den Korridor weiter zum Fahrstuhl 7 und trat in das Liftfeld. *Wo soll’s hingehen?* „Erdgeschoss, Gertie. Danke.“ Alexa schloss die Augen, als sie den Schacht hinunterfiel. Gertie war ein sensibler Geist; sie hatte den Stress in Alexas Stimme bemerkt und wusste, dass sie es eilig hatte. *Da wären wir.* Gertie schob Alexa in die Eingangshalle hinaus. „Noch mal danke.“ Dann ging Alexa durch die riesigen Türen hinaus, vorbei an dem Polizisten am Empfang und an den Todeswölfen draußen. Sie stieg die großen Stufen zur Straße hinunter, wo zwei Personen gerade aus einem Taxi stiegen. Alexa beugte sich hinein und rief dem Fahrer zu: „Können Sie mich gleich mitnehmen?“ „Klar doch, Puppe. Wo soll’s denn hingehen?“ „Ins Krankenhaus, bitte.“ 532
Die beiden Polizisten in Zivil warteten, während der Fahrer ihnen die Quittung ausstellte, und bezahlten den genauen Betrag, kein Trinkgeld. Der Fahrer runzelte die Stirn, schwieg jedoch, bis die beiden die Stufen zum Präsidium hinaufstiegen und Alexa auf den Rücksitz glitt. „Geizhälse“, sagte er leise. Interne Sicherheit, hätte Alexa beinahe geantwortet, aber sie hielt ihre Zunge im Zaum. Wenn man ein Cop war, der gegen andere Cops ermittelte, durfte man sich nicht den geringsten Fehltritt leisten, das war das Problem. Man hatte zu viele Feinde, die es einem liebend gern heimzahlen würden. „Besuchen Sie jemanden?“, fragte der Fahrer, während er sich in den Verkehr einfädelte. „Gewissermaßen“, antwortete Alexa. Vielleicht sollte sie im Krankenhaus-Shop Blumen kaufen, bevor sie hineinging. Aber sie musste mit Harald reden, nicht mit Sushana; und was sie ihm zu sagen hatte, würde durch ein billiges Geschenk nicht gemildert werden. Harald, ich glaube, du steckst echt tief in der Scheiße. In erster Linie ging es ihr jedoch um die Gefahr, in der Donal sich befand. Donals Taxi hielt vor dem großen Tor. Die letzten zweihundert Meter waren ein langsamer Zickzackkurs eine abwärts führende, eisglatte Straße hinunter gewesen, und der Fahrer war allmählich nervös ge533
worden. Es gab nur wenige Straßenlaternen: eine Abschreckung für müßige Spaziergänger. „Nennt sich auch .Straße der Milliardäre’„, sagte der Fahrer. „Ich fühl mich hier nicht gerade besonders wohl.“ „Nicht Ihre besten Kunden, hm?“ „Nee. Die haben ihre eigenen Nobelkarossen und so, oder?“ „Verstehe“, sagte Donal. „Hören Sie, Sie können mich hier rauslassen. Sie brauchen nicht reinzufahren.“ Die Schultern des Fahrers sackten vor Erleichterung herab, und Donal fragte sich, was für einen Ruf diese Villen hatten. Er zählte Münzen ab, während der Fahrer die Quittung ausstellte. „Rest ist für Sie.“ „Hey, danke. Soll ich einen höheren Betrag reinschreiben?“ „Nee, ist schon in Ordnung.“ Donal rutschte vom Sitz. „Immer schön langsam“, sagte der Fahrer. „Und gute Nacht.“ „Gleichfalls.“ Donal trat auf die seltsam glatte Straße hinaus und schloss die Tür des Taxis. Er hob den Blick. Ein seltsamer Schimmer überzog den Nachthimmel, jenen verblüffenden schwarzen Himmelsvorhang, der von gelben und blassblauen Sternen punktiert wurde. Als ein weiterer scharlachroter Meteor über das Gewölbe der Nacht glitt, begleitet von ei534
nem helleren Gegenstück mit identischer Geschwindigkeit, erkannte Donal, dass sich über ihm eine riesige Glasschicht befand, die die Straße und die Stadt von dem echten Himmel dort oben isolierte. Das Motorengeräusch des Taxis änderte sich, als der Fahrer mehrmals hin und her rangierte, bis die Nase des Wagens schließlich wieder die gewundene Hangstraße hinaufzeigte. Dann stoppte er und sah Donal an, um sich zu vergewissern, dass alles in Ordnung war. Donal hob eine Hand und ging zwischen den großen Säulen zu beiden Seiten des offenen Tores hindurch. Sofort stellten sich die Haare auf seinem Kopf und an seinem ganzen Körper auf, als er einen starken Hex-Scan passierte. Er blieb stehen und ging dann weiter. Der Kies knirschte unter seinen Schuhen. Bleiche Schemen glitten lautlos über den Kies und setzten sich dann hechelnd hin. Ihre Augen glühten karmesinrot, nicht bernsteingelb wie die ihrer tristopolitanischen Gegenstücke. Todeswölfe, in privater Hand. Donal gelangte rasch zu dem Schluss, dass sie ihn nicht angreifen würden. Er machte einen Schritt auf das Haus zu, dann noch einen. Die Wölfe erhoben sich und trabten neben ihm her. Die bronzene Haustür schwang auf, als Donal die mit silbernen Verzierungen geschmückte Marmortreppe erreichte. Ein hochgewachsener Mann in Livree stand lächelnd da. 535
„Ich bin Hix, Sir. Willkommen, und bitte treten Sie ein.“ „Hix.“ „Richtig, Sir.“ Donal betrat die riesige Eingangshalle, die so luxuriös ausgestattet war, wie er es sich vorgestellt hatte. „Sind Sie mit Rix, dem Fahrer, verwandt?“ „Mein Vetter, Sir, wie ich zu meinem Leidwesen gestehen muss.“ „Aber er hat sich sehr positiv über Sie geäußert.“ „Ähem … sehr wohl.“ Es gab Statuen und Gemälde, die einen sehr hübschen Anblick boten; aber es war schon ein Uhr morgens vorbei, und Donal war müde. Hix führte ihn zu einer Wendeltreppe und bedeutete ihm, voranzugehen. Die Treppe erwachte zum Leben, als Donal auf die erste Stufe trat. Sie fuhr aufwärts und trug ihn zum oberen Treppenabsatz. Dort wartete er auf Hix. „Hier entlang, Sir.“ „Sollten wir nicht leiser sprechen?“ „Sir? O nein … Außer uns ist niemand hier. Nicht in diesem Flügel des Hauses.“ „Ah. Natürlich.“ Hix betrat ein Zimmer und hielt die Tür auf. Donal folgte ihm. Das Bett war riesig, mit weichen Kissen und einem goldenen Gestell, über dem sanft ein blassblauer Baldachin wogte, obwohl es hier drin nicht zog. 536
„Das Badezimmer ist dort.“ Hix deutete auf einen Innentür. „Und haben Sie schon etwas gegessen? Oder wünschen Sie vielleicht etwas zu trinken?“ Donal machte eine Kopfbewegung zu einem Schränkchen. „Ist das eine Bar?“ „Vollkommen richtig, Sir. Und wenn Sie in diesen Kleiderschrank schauen, werden Sie feststellen, dass Ihre Sachen bereits aufgehängt worden sind.“ „Also, Thanatos. Daran könnte ich mich gewöhnen.“ „Sehr wohl, Sir.“ „Was bedeutet das?“ „Verzeihung, Sir?“ „Was bedeutet ,sehr wohl, Sir’? Heißt das, ich habe eine geistreiche Bemerkung gemacht? Heißt es, Ihnen ist gerade so wohl ums Herz?“ „Ähm … da bin ich überfragt, Sir.“ „Schon gut, Hix. Ich entschuldige mich.“ „Sir … das ist nicht nötig.“ „Trotzdem, tut mir leid. Und ich bin Ihnen dankbar, dass Sie mich für die Nacht beherbergen.“ Donal schaute auf seine Uhr. „Oder vielmehr für den Rest der Nacht. Und jetzt möchte ich Sie nicht länger von Ihrem Bett fernhalten.“ „Sir.“ Mit einer geübten Verbeugung zog sich Hix aus dem Zimmer zurück und schloss die Tür hinter sich. Sie rastete mit einem Klicken ein, dann klickte es erneut: Zusätzliche Schlösser verriegelten sich. Gefangen. 537
Aber Donal war dort, wo er sein sollte, und er war sehr müde. Er suchte nach Lichtschaltern, sah jedoch nichts dergleichen. Mist. Wie sollte er das verdammte Licht ausmachen? Ist das in einem fremden Land immer so? Winzige Flammen flackerten in der Nachttischlampe; aber es gab keine Knöpfe, Schalter oder Tasten. Nach einer Weile schnippte Donal aus einer Vermutung heraus mit den Fingern. Er kam sich töricht vor. Alle Lichter im Zimmer erloschen. Donal zog sich aus und stieg ins Bett. Er legte sich hin und glitt … Fühlst du die …? Ja, sie sind überall. … in den Schlaf. Die Überwachungselfen, die über den Patienten schwebten, gaben leise Piepser, Seufzer und Zwitscherlaute von sich. Harald hielt Sushanas Hand, während sie schlief. Aus dem Infusionsschlauch, der in ihren Arm führte, kam das narkotische Koma, das sie brauchte, damit die Schmerzen aufhörten und ihr Körper heilen konnte … zumindest von äußeren Wunden. Eine Lichtpfütze umgab das Bett. In der Dunkelheit drumherum standen durch Vorhänge abgeteilte Betten, in denen Patienten schliefen; die meisten von ihnen gingen langsam dem Tod entgegen. Harald war 538
sich darüber im Klaren, wie schwer Sushanas Verletzungen waren. Dann kam Alexa den Gang zwischen den Betten entlang. Sie steckte ihre goldene DetectiveDienstmarke wieder ein, mit der sie sich Einlass verschafft hatte. Die Besuchszeit war längst vorbei, und Sushana war eine Kollegin, keine Verwandte. Aber Alexa war hier, um mit Harald zu sprechen. „Was ist los?“ Harald machte ein überraschtes Gesicht, dann wurde seine Miene zu Stein, als er seine Regungen unterdrückte. „Ist was passiert?“ „Erwartest du das?“ Alexa blieb stehen. Sie hatte wenige andere psychologische Vorteile gegenüber einem ehemaligen Marine mit so vielen Jahren Erfahrung. „Dass was Schlimmes passiert ist?“ „Was soll das heißen?“ „Vielleicht in Illurium? Dass Donal Riordan was zugestoßen ist?“ Harald sah sie an, dann breitete er die Hände aus. „Pst … Ich hab keine Ahnung, wovon du sprichst, aber wir sind hier auf einer Station für Schwerkranke, wo …“ „Donal Riordan späht Commissioner Vilnar für uns aus. Für Laura. Ich frage mich, ob dir das klar ist.“ „Nein.“ „Und außerdem ist Xalia verletzt. Irgendwer nimmt hier dem Schwarzen Zirkel die Arbeit ab. Vielleicht gibt es da Dinge, die du uns nicht erzählst, Harald. Die du auch Sushana nie erzählt hast, weil du uns alle verraten hast.“ 539
Obwohl Sushana in einem tiefen narkotischen Koma lag, stöhnte sie und drehte den Kopf von einer Seite zur anderen, bevor sie wieder in Reglosigkeit verfiel. Auf ihrem übel zugerichteten, geschwollenen Gesicht lag ein missbilligender Ausdruck. Ihre Augen blieben geschlossen. „Du glaubst doch nicht ernsthaft“ – Harald war jetzt auf den Beinen; es hatte den Anschein, als wäre er nicht aufgestanden, sondern hätte übergangslos die Position gewechselt – „dass ich ein Verräter bin. Schau dir an, was sie mit …“ Er machte eine Handbewegung zu Sushana in ihrem Bett. „Genauso wenig, wie ich glaube, dass Donal ein Verräter ist“, sagte Alexa mit leiser, aber wütender Stimme, „wo er so viel riskiert und unsertwegen so gelitten hat. Wer, zum Teufel, glaubst du, hat uns Vilnars Telefonnummer besorgt?“ „Was?“ „Wenn Donal nicht Kyushen Jyu geholt hätte, den Spezialisten, den er kennengelernt hat, als er dank des Schwarzen Zirkels im Krankenhaus war … und er war es, der mit Feoragh Carryn gesprochen hat, schon vergessen? Beide Spuren sind das Ergebnis von Donals Arbeit.“ „Ich …“ Haralds Miene hatte sich verfinstert. Er drehte sich um und schaute auf Sushanas zerschlagenes Gesicht. „Nein. So einen Fehler kann ich nicht gemacht haben.“ „Vielleicht solltest du mal gründlicher nachdenken.“ 540
Haralds Kiefermuskeln spannten sich. „Thanatos.“ „Ich hab unten eine Kapelle für den Heiligen Thanatos gesehen. Willst du mal kurz runtergehen und beten, Harald? Und darüber nachdenken, was du eigentlich tust?“ Alexa wusste, dass sie ein Risiko einging. Sie beschuldigte Harald krimineller Machenschaften, und wenn sie es an die große Glocke hängte und Harald verurteilt wurde … Cops, die in den Knast kamen, stießen interessante Dinge zu. Und aus ihrem Verhalten konnte er zweifellos schließen, dass sie niemandem von ihrem Verdacht erzählt hatte. „Harald?“ Vielleicht hätte sie Laura gegenüber offener sein sollen. „Ja“, sagte Harald zu Alexas Überraschung. „Ich glaube, das mache ich.“ „Du …?“ „Ich gehe in die Kapelle, um zu beten.“ Dann schlüpfte er an Alexa vorbei und verließ mit lautlosen Schritten die Station, wie ein Gespenst. Sie stand verwirrt da und wusste nicht, was sie tun sollte. Donal benutzte zuerst das luxuriöse Badezimmer, ging dann barfuß über den dicken, weichen Teppich zum nächsten Fenster und schaute hinaus. Der Himmel war immer noch schwarz, und scharlachrote Meteore schossen vorbei. Wunderschön. 541
Gärtner arbeiteten unten auf der Rasenfläche. Ein Faktotum rechte den Kies der riesigen Auffahrt. Einer reich verzierten Uhr auf einem barocken Tisch zufolge war es schon nach elf. Später Vormittag, aber Donal hatte nicht das Bedürfnis verspürt, früher aufzustehen. Er fragte sich, ob Don Mentrassore zu Hause arbeitete oder ob er jetzt schon woanders war und sich mit den Dingen beschäftigte, mit denen er seinen Lebensunterhalt verdiente. Vielleicht hatte er auch nicht mehr zu tun, als sein Geld zu zählen und es auszugeben. Donal merkte, dass er nicht die geringste Ahnung hatte, wie richtig reiche Leute ihr Leben verbrachten. Er ging wieder ins Badezimmer, ließ sich ein Glas Wasser einlaufen und trank es. Dann machte er Lokkerungsübungen, Gymnastik und Schattenboxen. Er spürte, dass ihm die Übungen leichter und mit einem neuen Gefühl hitziger Freude von der Hand gingen. Alles fügte sich zusammen. So ging es ihm, seit ihm die … Fühlst du die Knochen? Spielt keine Rolle. … Hexe im Flugzeug das Amulett gegeben hatte, das er auch jetzt noch trug. Donal hielt mitten in einer Kombination von fünf Schlägen inne. Ein Glücksbringer? Ein Zauber, der es ihm erlaubte, durchs Leben zu gehen und es für selbstverständlich zu halten, dass sich alles wie von selbst glücklich fügte? 542
Im Waisenhaus hatte er gelernt, dass er selbst seines Glückes Schmied war. Aber Schwester MaryAnne Styx hatte immer gesagt, ein Junge mit der richtigen Einstellung erschaffe das Glück allein schon dadurch, dass er auf Chancen achte und sie furchtlos wahrnehme. Nun denn … er befand sich in der Villa eines reichen Verbündeten, der vollauf bereit war, ihm zu helfen. Er hatte den Namen eines Mannes, den er aufspüren musste: Stadtrat Gelbthorne. Diesen Namen hatte Feoragh aus dem Gitter geholt. Vielleicht war es an der Zeit, dass Donal Riordan das Glück in sein Leben einließ. Laura. Ich wünschte, du wärst hier.
543
ACHTUNDZWANZIG Mit einem sauberen Hemd und dem Anzug vom Vortag bekleidet, machte Donal sich auf die Suche nach einem Frühstück. Er hatte versucht, das Amulett über dem Hemd zu tragen, aber weil er damit wie ein Lude von der Lower Southside aussah, hatte er das Ding daruntergestopft, sodass man es nicht sah. „Mr Riordan.“ Eine vertraute, hochnäsige Stimme. „Hix. Guten Morgen.“ „Wenn Sie speisen möchten, könnte die Küche Ihnen vielleicht helfen. Dort wird gerade das Mittagessen des Dons zubereitet.“ „Wo geht’s denn zur Küche?“ „Diesen Gang entlang.“ Hix zeigte nach unten. „Dann nach links und die zweite Tür rechts.“ „Alles klar. Immer schön locker bleiben, Hix.“ Donal schenkte ihm ein sonniges Lächeln, weil er sich wohlfühlte und weil man sich von niemandem aus der Fassung bringen ließ, ob man nun keine Miene verzog oder lächelte. Hix wandte sich naserümpfend ab, um einen antiken Schild an der Wand zu polieren. Ein Kurzschwert hing diagonal darüber. Donal hatte billige Imitationen gesehen; aber das hier hätte wahrscheinlich in ein Museum gehört. Donal pfiff ein altes Tanzlied vor sich hin, während er den Weg nahm, den Hix ihm beschrieben hatte, dann steckte er den Kopf in die Küche. Mit ihren 544
roten Fliesen und dem vielen Kupfer sah sie aus wie der Traum eines Chefkochs. „Hey, Jungs“, sagte Donal zu den vier Köchen. „War’s wohl möglich, was zum Frühstück zu kriegen?“ „Kein Problem. Setzen Sie sich.“ Einer der Männer zeigte auf einen Holztisch an einer Seite. „Was möchten Sie? Wurst, Omelett? Was?“ „Omelett klingt prima“, sagte Donal. „Irgendeins, das Sie selber mögen.“ Es war angenehm, die Zubereitung jemand anderem zu überlassen, als säße er in einem Restaurant, das magischerweise keine Bezahlung erwartete. Eine kleine Weile gelang es Donal, sich wie im Urlaub zu fühlen – einem Urlaub, den er bis vor kurzem mit Vergnügen allein genossen hätte. Jetzt jedoch vermisste er Laura. Der starke, dunkle Kaffee war bereits fertig, und Donal nippte daran, bis das Omelett kam, dick gefüllt mit blauen Paprikaschoten und seltsamen orangefarbenen Pilzen sowie zerschmolzenem blaugrünen Käse darauf, dazu zwei dicke Scheiben Toast mit Butter. Donal ließ es sich schmecken, während die Köche weiterhin das Mittagessen zubereiteten. „Das war absolut fantastisch“, sagte Donal kurz und bündig. „Ihr Teller ist ja noch gar nicht leer.“ „Aber ich bin satt, und das war das Beste, was ich je gegessen habe.“ „Danke.“ Der Koch war besänftigt. „Gern geschehen.“ 545
Donal machte eine Handbewegung zu den Kochtöpfen, aus denen verführerische Düfte aufstiegen. „Wie viele Gäste hat der Don zum Mittagessen?“ „Nur drei“, sagte ein anderer. „Hohe Tiere aus dem Norden.“ Donal schenkte sich Kaffee aus der Kanne nach. „Bin mal gespannt, wann mich der Don empfangen kann.“ Als hätte jemand gelauscht, betrat eine Gestalt die Küche, ein Mann mit rasiertem Schädel in der Livree eines Butlers. Einer von Hix’ Untergebenen, nahm Donal an. „Der Don bittet Sie, jetzt zu ihm zu kommen“, sagte der Butler, „in die rote Bibliothek. Wenn Sie mir folgen möchten …“ „Bin schon unterwegs.“ Donal war nach wie vor guter Laune. Er fragte sich, was passieren würde, wenn er das Amulett abnahm. Zur selben Zeit sprachen Alexa und Viktor in der Tiefgarage des Krankenhauses mit einer der Schwestern, die gerade zur Arbeit zurückkam. Zuvor hatten sie schon mit den Angehörigen eines todkranken Patienten geredet, die die ganze Nacht in der Krankenhauskapelle Wache gehalten hatten. Die Angehörigen hatten bestätigt, dass ein Mann, auf den Haralds Beschreibung passte, dort einige Zeit im Gebet, wenn nicht in Trance verbracht hatte. Dann war der Mann aufgestanden und hatte leise ,So 546
eine Scheiße’ gesagt, bevor er den Blick zu den heiligen Reliquien gehoben und sich entschuldigt hatte. Anschließend war er aus der Kapelle gestürmt, und Alexa wusste nur, wohin Harald nicht gegangen war: zu Sushanas Bett auf der Station. Alexa hatte dort nämlich über eine Stunde gewartet, bis kein Zweifel mehr daran bestand, dass Harald verschwunden war. „Das stimmt“, sagte die Schwester jetzt. Sie sprach mit Viktor. „Ein Knochen-Motorrad, eine Phantasm IV. Ich hatte mal einen Freund, der auf Bikes stand, und der fand, dass … Also, das sind kraftstrotzende Maschinen, und die ist mir aufgefallen, okay?“ „Und dieser Kerl hier“ – Viktor hielt einen Schnappschuss von Harald hoch – „hat sie gefahren?“ „Ja, er kam die Treppe runtergelaufen.“ Die Schwester zeigte auf eine Tür in der Betonwand. „Von dort. Er ist aufs Motorrad gesprungen, und ich schwöre, es ist gestartet, bevor er’s berührt hat, und dann ist er mit einem Affenzahn hier rausgerast.“ „Sind Sie sicher?“, fragte Alexa. „O ja. Der war’s. Hat er was angestellt?“ „Nein.“ Alexas Antwort kam automatisch. „Zumindest noch nicht“, brummte Viktor nicht gerade überzeugend. Wenn man sich Don nannte, musste man sich auch entsprechend kleiden, das nahm Donal jedenfalls an. Der Mann, der sich von dem Stuhl erhob, trug einen 547
perlgrauen Anzug und ein weißes Spitzenhemd mit einem festgesteckten silbernen Halstuch. Auf der Nadel prangte ein großer blauer Diamant. Was den Mann selbst betraf, so war er dünn, mit gebräunter Haut, und sein grauer Ziegenbart war elegant. Vom Gesamteindruck her – in visuellem Steno – ähnelte er dem toten Malfax Cortindo; aber ihn umgab eine ganz andere Aura. „Sie müssen Don Mentrassore sein.“ Donal streckte ihm die Hand hin. „Und Sie Lieutenant Riordan.“ Sie schüttelten sich die Hand. „Wenn Sie nichts dagegen haben, auf harten Stühlen wie diesen zu sitzen, nehmen Sie bitte Platz.“ „Danke.“ „Kann ich Ihnen einen Kaffee bringen lassen?“ „Ich habe in der Küche gerade eine ganze Kanne getrunken, bei den Köchen.“ „Ah.“ Der Don lächelte. „Die essen besser als ich oder meine offiziellen Besucher, wissen Sie. Und ich finde, sie haben es verdient.“ „Harald lässt Ihnen Grüße ausrichten.“ „Und wie geht es ihm, Lieutenant?“ „Fabelhaft. Was Sie betrifft, brauche ich ja gar nicht zu fragen.“ Donal zeigte auf die rötlichen Regale voller Bücher, die vorwiegend in scharlachrotes Leder gebunden waren. „Das ist eine großartige Bibliothek.“ „Aus Ihrem Mund klingt das, als meinten Sie es ernst.“ „Ha.“ Donal sah sich einige der Buchtitel an. Es 548
waren philosophische Texte, von denen er nur andeutungsweise gehört und die er noch nie zu lesen versucht hatte. „Kann man wohl sagen.“ Don Mentrassore warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Donal hatte halbwegs mit einer Uhr an einer Kette gerechnet, aber diese wirkte modern und enorm teuer. „Ich werde mich bemühen, meine Lunch-Gäste so schnell wie möglich loszuwerden und mir den Abend freihalten, um Ihnen nach besten Kräften zu helfen.“ „Danke. Ähm … Demnächst wird hier eine Oper aufgeführt, mit diesen berühmten Drillingen … wie heißen sie gleich noch …“ „Die tringulianischen. Sie können niemand anderen meinen.“ „Genau. Die. Ist es möglich, dafür Karten zu kriegen?“ „Für welche Vorstellung?“ Der Don lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander. „Ich nehme an, Sie denken an die Premiere.“ „Und für die folgenden Abende auch, wenn möglich.“ „Jeden Abend? Wozu das denn, um alles in der Welt?“ Donal sah ihn an. „Um Ihre Schulden zu begleichen, könnte man vielleicht sagen.“ „Ah, Lieutenant. Sie haben meine Tochter Rasha nicht kennengelernt. Sie lebt jetzt im Ausland und ist eine brillante Akademikerin, aber vor ein paar kurzen 549
Jahren … Ich würde das, worum Sie mich bitten, hundert Mal bezahlen, und es wäre eine geringe Entschädigung für das, was Harald mir geschenkt hat. Er hat mir meine Tochter zurückgegeben.“ „Verstehe.“ „Und ich habe eine Loge im Theater, ein Arrangement, das jeweils für eine ganze Saison gilt, obwohl ich es nicht oft genug nutze. Das kriegen wir hin, Lieutenant.“ „Danke, Don Mentrassore.“ „Was meinen Geschäftstermin anbetrifft, den wir beschönigend als Lunch bezeichnen, obwohl ich vermute, dass meine Gäste wenig Appetit haben werden, da es bei unseren Geschäften um viel Geld geht – und zwar um ihr Geld …“ „Dabei will ich nicht stören.“ „Wie Sie meinen, Lieutenant. Aber ich wollte hinzufügen, dass sie ebenso wie ich im Energiegeschäft sind, und ein kleines Vögelchen hat mir gezwitschert, dass es eine Verbindung zwischen der Energiebehörde von Tristopolis und den Leuten gibt, hinter denen Sie her sind. Zumindest glaube ich, dass ich das richtig verstanden habe.“ „Das ist eine Möglichkeit“, sagte Donal, der keine Informationen preisgeben wollte. „Und ich frage mich, ob es auch eine Verbindung zu unseren Energiezentren geben könnte. Nicht, dass mir etwas Bestimmtes aufgefallen wäre, und ich bin Großaktionär. Nun ja, acht Prozent, aber das ist das zweitgrößte individuelle Aktienpaket im Konzern.“ 550
„Ich verstehe nicht.“ „Wenn ich Ihnen einen Besucherausweis fürs Hauptenergiezentrum besorgen könnte, mit Zugangsberechtigung zum Archiv – wäre Ihnen das eine Hilfe? Und wegen der Oper werde ich natürlich sehen, was ich tun kann. Falls meine Assistenten die Loge an jemand anderen vermietet haben, werde ich die Vereinbarung rückgängig machen.“ „Danke.“ Donal hätte ihn gern nach einem bestimmten Namen gefragt: Stadtrat Gelbthorne. Aber alles, was Don Mentrassore bisher gesagt hatte, konnte Mumpitz sein, und den Namen eines Verdächtigen hinauszuposaunen, war nicht gerade die beste Ermittlungsmethode. Donal würde zunächst auf weniger direkten Wegen versuchen, etwas über den Stadtrat herauszufinden, bevor er um spezifische Hilfe bat. „Mein Fahrer bringt Sie hin“, sagte der Don. „Lassen Sie mich ein paar Anrufe tätigen, und Rix holt sie ab, sobald alles arrangiert ist. Ich werde dafür sorgen, dass Sie rechtzeitig zur Oper wieder zurück sind. Ääh … Haben Sie etwas Passendes anzuziehen?“ „Ääh …“ Donal zupfte an seinem Jackett. „Kein Problem. Ich werde einen der Hausgeister anweisen, Ihre Maße zu nehmen.“ Der Don nahm eine kleine Glocke vom Tisch und schüttelte sie. Falls ein Klingeln ertönte, so war es für menschliche Ohren unhörbar, aber im Handumdrehen erschien ein bläulicher Geist; er stieg aus dem Boden herauf. 551
„Flisswell, nehmen Sie bei diesem Gentleman Maß und kleiden Sie ihn neu ein.“ Ein verschwommener Fleck wie Rauch, das kurze Gefühl feuchter Fingerspitzen auf der Haut, dann war der Geist verschwunden. „War’s das?“, fragte Donal. „O ja. Alles erledigt. Die Schneider werden schon bei der Arbeit sein.“ „Dann gehe ich mal und warte … es ist wohl nicht möglich, mir ein Buch auszuleihen?“ „Mein lieber Freund.“ Der Don stand auf. „Mein Mittagessen ist bald fertig, und ich muss meine Gäste begrüßen. Sie können so lange hierbleiben, wie Sie möchten, und alles lesen, was Ihnen beliebt. Mit dieser anderen Glocke dort, der schwarzen“ – er zeigte hin – „können Sie einen der Butler rufen. Und wenn Sie wieder auf Ihr Zimmer oder sonstwohin gehen möchten, tun Sie’s einfach. Sie sind hier ganz und gar in Sicherheit. Es ist nicht nötig, Türen abzuschließen oder dergleichen.“ „Okay. Danke.“ Der Don nickte und verließ die Bibliothek. Aber Donal war bereits an den Regalen und fuhr mit den Fingern über die Rücken der imposanten alten Bücher, fasziniert von der enormen Auswahl. Drei Stunden später riss ihn ein Klopfen an der Tür aus seiner Lektüre. Er blickte auf, merkte, dass jemand auf die Erlaubnis einzutreten wartete, und rief: „Nur herein!“ 552
Der Mann, der die Tür öffnete, trug einen dunklen Anzug, so wie letzte Nacht, aber ohne die Mütze. „Tag, Sir.“ „Ich habe Ihnen doch gesagt, Sie sollen mich …“ „Donal, in Ordnung. Ich bin Rix, vielleicht erinnern Sie sich.“ „Ich erinnere mich, und ich habe auch Ihren Vetter Hix kennengelernt.“ „Ja, tut mir leid.“ Rix schenkte ihm ein trockenes Grinsen. „Er ist wirklich ein alter Charmeur, nicht wahr? Wenn wir nur den Schürhaken rausbekämen, der neben seinem Rückgrat sitzt.“ „Ich bin sicher, er ist ein wundervoller Mensch.“ „Ha.“ Rix klatschte in die Hände. „Wie sieht’s aus, bereit für ein neues Abenteuer? Der Don hat Ihre Stadtrundfahrt ausgearbeitet, mit einem Abstecher zum Energiezentrum, stimmt’s?“ „So war’s vereinbart.“ „Ihr Ausweis wartet bestimmt schon auf Sie“, sagte Rix. „Alles offiziell arrangiert. Soll ich den Wagen in zehn Minuten vorfahren?“ Donal schloss den Band der Encyclopaedia Yelbinica, in dem er gerade eine Abhandlung über die nichtlineare Hexodynamik gelesen hatte, die im Widerspruch zu dem zu stehen schien, was Schwester Mary-Anne Styx ihnen im Waisenhaus beigebracht hatte. Ihm schwirrte der Kopf. „Zehn Minuten, einverstanden“, sagte Donal. „Das wäre perfekt.“ Er hatte also noch Zeit, sich in der Küche einen 553
Kaffee zu holen, kurz auf die Toilette zu gehen und noch einmal seine gestohlene Pistole zu überprüfen: eine vernünftige Vorsichtsmaßnahme bei einer Waffe, mit der er noch nie geschossen hatte. Das Energiezentrum befand sich in der Nähe des Hafens; zumindest erzählte Rix ihm das. Es bedeutete, dass sie zum Stadtrand von Silvex City fuhren, wo vertäute Luftschiffe ungeduldig an den Andocksäulen schwebten. Sie warteten darauf, eine neue Reise antreten zu können und von laminaren Luftströmen fortgetragen zu werden, jenen stetigen Winden, die horizontal zwischen den übereinandergeschichteten Glasflächen wehten. Rix hielt eine Weile an, damit Donal sich alles anschauen konnte. „Wie kommen sie wieder zurück?“, fragte er. Rix zeigte auf ein Luftschiff, das aus einem großen, kreisrunden Loch im Glasboden emporstieg. „In den verschiedenen Schichten weht der Wind in unterschiedliche Richtungen. Ist wahrscheinlich ein merkwürdiges System, aber alle sind dran gewöhnt.“ „Erstaunlich.“ Nach einer Weile ließ Rix den Motor wieder an und fuhr knapp zehn Kilometer weiter, bevor er eine sechsspurige, spiralförmige, gläserne Abfahrt nahm, die durch die Schichten der Stadt nach unten führte. Fünf Schichten tiefer fuhr er ab und passierte unmittelbar darauf einen stählernen Torbogen und einen hallenden Tunnel, bis er vor einem Tor hielt. 554
Geister schwebten durch den Wagen; sie flitzten hin und her, bis sie zufrieden waren. Dann erschien ein menschlicher Wachposten und prüfte die Dokumente, die Rix ihm durchs Fahrerfenster hinhielt. „Hey, Rix“, sagte der Wachmann. „Die übliche Prozedur.“ „Und wie üblich ,kein Problem’.“ „In Ordnung.“ Der Wachmann gab die Dokumente zurück. Er hatte keinen Blick auf Donal im Fond geworfen. „Ihr könnt reinfahren.“ Die großen Torflügel teilten sich, und Rix fuhr hinein. Und als er den Wagen parkte, die Torflügel zuglitten und tiefer ins Energiezentrum hineinführende Innentüren aufgingen, strömte eine seltsame Mischung aus Hitze und Kälte durch Donals Brustbein. Als er nach unten sah, leuchtete sein Hemd. Thanatos … Nicht das Hemd, sondern das Amulett darunter fluoreszierte in Resonanz auf die Energien, die an diesem Ort genutzt wurden. Drinnen zog Donal sein Jackett zurecht, sodass es das Leuchten verbarg. Wachleute und Wartungspersonal trugen dunkelgrüne Uniformen, die nur dort, wo das Licht am hellsten war, nicht schwarz wirkten. Etliche Männer und Frauen nickten Rix und Donal zu, als sie auf ihrem Weg durch den eigentlichen Komplex eine Reihe von Korridoren durchquerten, in denen Donal sich 555
nur unter größten Schwierigkeiten allein zurechtgefunden hätte. Schließlich erreichten sie eine Aufzugplattform, die Donal viel zu sehr an die entsprechende Anlage der Energiebehörde in Tristopolis und an den Tag erinnerte, an dem sowohl die Diva als auch Malfax Cortindo gestorben waren. „Erzählen Sie mir nicht“, sagte Donal, als die Plattform abwärts zu sinken begann, „dass die Archiv-Sektion unten bei den Nekroflux-Reaktoren ist.“ Eine Frau mit sehr kurzen Haaren fuhr mit ihnen zusammen hinunter. Sie schaute überrascht von ihrem Klemmbrett auf. „Das nicht gerade.“ Rix lächelte die Frau an – und Donal merkte, dass sie auf Rix’ Charme reagierte und sein Lächeln automatisch erwiderte. „Aber ich dachte mir, Sie würden vorher gern sehen, wie wir unseren Strom erzeugen. Um die Wahrheit zu sagen“ – Rix warf einen Blick auf seine Uhr – “sind wir nämlich ein bisschen früh dran. Aber wir benutzen keine Reaktoren.“ Die Frau sah ihn immer noch an. „Mein Freund“, sagte Rix, „kommt aus Tristopolis.“ „Oh.“ Die Frau nickte und lächelte Donal zu. „Willkommen im Energiezentrum.“ „Danke.“ Die Aufzugplattform hielt, die Türen glitten auf und die Frau stieg aus. „Wie heißen Sie?“, rief Rix ihr nach. 556
„Debbie Shantol, Abteilung für Leistungssteigerung.“ Sie hob eine Hand, als die Türen sich wieder schlossen. Rix runzelte die Stirn, während die Aufzugplattform weiter abwärts fuhr. Dann sah er Donal an und zuckte die Achseln. „Verzeihung. Es fällt mir schwer, mir Namen zu merken.“ „Oh. Kein Problem.“ Kurz darauf hielt der Lift, und die Türen öffneten sich. Rix stieg als Erster aus, und Donal folgte ihm. Sie gingen einen Gang mit Steinwänden und schlichtem Teppichboden und anschließend einen weiteren nüchternen Korridor entlang, ohne einer Menschenseele zu begegnen. Schließlich kamen sie auf einem quadratischen Steinbalkon heraus, der Ausblick auf eine rechteckige Halle bot, in der Hunderte sitzender Statuen aufgereiht waren. Nirgends eine Bewegung. Die Gestalten waren zwar reglos, aber keine Statuen. Vielmehr waren es in blassblaue Kittel gekleidete Kinder mit kahlrasiertem Schädel, die Reihe um Reihe im Schneidersitz dasaßen. Ihre Augen schauten geradeaus, und ihr Blick ging in die Unendlichkeit. „Was …?“ Donal verstand nicht, was er da sah. Von der Mitte jeder Kinderbrust führte eine biegsame Glasfaserleitung in den Boden. Ein Teil von Donal spürte, wie undefinierbare Wellen durch diese Leitungen liefen; sie leuchteten hell, in einer namenlosen Farbe. Das Amulett brannte an seiner Brust. 557
Jedes der zweitausend Kinder zwinkerte genau zur selben Zeit. Furcht presste Donals Herz zusammen. Er sah, wie sich die blasse Brust der Kinder synchron hob und senkte. Er wusste, wenn er ihren Herzschlag hören könnte, würden auch ihre Herzen im Gleichtakt schlagen. Die Atmosphäre war von kalten Energien erfüllt. Rix’ Schusshand kam sehr schnell hoch. Jetzt. Donal ließ den linken Unterarm herumsausen, während er sich aus der Schusslinie drehte, und packte ihn am Ärmel. Der Schuss knallte laut in dem riesigen, hallenden Raum. Vielleicht gaben die eingesperrten Kinder einen kollektiven Laut des Erschreckens von sich, aber Donal war mitten in der Bewegung, tat auf geradezu naturwüchsige Weise, was in dieser Situation nötig war, verpasste Rix einen Kniestoß in die Milz und einen Kopfstoß ins Gesicht und entwand seinen erschlaffenden Fingern die Waffe. Er hieb Rix den Griff seiner eigenen Waffe über dem Auge gegen die Stirn. Die Pistole, die er sich am vergangenen Abend beschafft hatte, war ihm vertrauter, deshalb zog er sie jetzt und nahm Rix’ Waffe in die linke Hand. Am Rand seines Blickfelds bewegte sich etwas Dunkles, und er ging auf ein Knie, wirbelte gleichzeitig herum und feuerte einmal, zweimal und dann noch zweimal. Bewaffnete Wachleute suchten eiligst Deckung. 558
Fühlst du …? Nicht jetzt, verflucht noch mal! Rix bewegte sich hinter Donal, deshalb trat er ihm gegen den Hals. Dann rollte Donal zur Seite, während die Wachleute eine Salve von Schüssen abfeuerten. Der Korridor war kurzfristig ein Schutz und langfristig eine Falle, aber Donal brauchte den unmittelbaren Vorteil, deshalb überquerte er den Balkon mit ein paar Sätzen, sodass die Wachleute ihn nicht mehr sehen konnten. Und was nun? Er sah sich die Waffe an, die er Rix abgenommen hatte: eine Magnus. Donal lächelte. Mit einer Waffe in jeder Hand zielte er hinaus in die Halle und gleichzeitig in den Korridor. Seine Gedanken rasten, während er seinen nächsten Schritt zu planen versuchte. Rix gab ein leises Stöhnen von sich, das die schnellen, leisen Schritte von Kampfstiefeln mit Gummisohlen jedoch nicht übertönte. Weitere Wachleute bezogen neue taktische Positionen. Wie viele von den Mistkerlen sind es? Sie würden im überschlagenden Einsatz vorgehen, wobei eine Gruppe der anderen beim Vorrücken Deckung gab. Bald würden sie beim Balkon und dann beim Korridoreingang sein. Währenddessen würde weitere Verstärkung aus dem Inneren des … „ALLE BEWAFFNETEN ANGEHÖRIGEN DES WACHPERSONALS, SOFORT ABZIEHEN! 559
NICHT FEUERN, SOFERN KEINE UNMITTELBARE BEDROHUNG VORLIEGT. SOFORT ABZIEHEN!“ Die Stimme plärrte aus der Lautsprecheranlage und hallte durch den Raum, in dem die eingesperrten Kinder saßen. „WIR HABEN EINEN UNZUTREFFENDEN BERICHT BEKOMMEN, WIEDERHOLE: EINEN UNZUTREFFENDEN BERICHT. LIEUTENANT RIORDAN STELLT KEINE – WIEDERHOLE: KEINE – GEFAHR FÜR DIESE EINRICHTUNG DAR. LIEUTENANT RIORDAN, SIE BRAUCHEN IHRE WAFFEN NICHT ZU SENKEN, ABER SIE SOLLEN WISSEN, DASS SIE JETZT AUSSER GEFAHR SIND.“ Es war eine überzeugende Stimme. Genau aus diesem Grund wagte Donal es nicht, ihr zu vertrauen. Nach einer Weile hörte er ein Husten weiter drin im Korridor. Donal zielte um eine Säule herum, aber der Mann, der vortrat, trug nur dunkelgrüne BoxerShorts. Er sah dünn, aber verweichlicht aus, nicht wie ein Kämpfer. Er hielt ein blassblaues Blatt Papier in einer Hand. „Ähm … Sir? Darf ich Ihnen das geben?“ Donals Blick zuckte hin und her, in beide Richtungen des Korridors. „Leg’s auf den Boden und verschwinde.“ „Sir!“ Der Mann legte das Papier vor seine Füße und trat zitternd zurück. Dann war er um die Ecke gebogen und lief barfuß davon, laut keuchend, als 560
rechnete er damit, eine Kugel in den Rücken zu bekommen. Donal legte eine Pistole auf den Teppichboden, knöpfte sein Hemd auf, zog sich das Amulett über den Kopf und schlang die Kette um die linke Hand, bevor er die Waffe wieder aufhob. Dann huschte er gebückt zu dem Zettel hinüber und ließ das Amulett darüber baumeln; er wartete auf das leiseste Kribbeln einer Reaktion und behielt das Amulett aufmerksam im Auge, um den kleinsten Funken oder Schimmer wahrzunehmen. Doch von dem Amulett kam gar nichts. Dies waren normale Wörter auf alltäglichem Papier. .Nachricht von Don F. Mentrassore: Besucher namens Lieutenant D. Riordan ist ein Verbündeter in polizeilichen Angelegenheiten. Frühere Informationen, denen zufolge er in kriminelle Aktivitäten verwickelt war, sind unwahr. Arbeiten Sie mit diesem Mann nach besten Kräften zusammen’. Donal trat von dem Papier zurück, ohne es zu berühren, und hängte sich das Amulett wieder um den Hals. Es baumelte vor seinem Hemd. „Erwartet ihr, dass ich das glaube?“, rief er niemandem im Besonderen zu. Er setzte sich wieder hin, die Waffen im Anschlag.
561
NEUNUNDZWANZIG Laura hockte sich auf einer gepolsterten blauen Matte auf die Fersen. Die steinerne Zelle um sie herum war trocken. Außerdem war es darin so kalt, dass sich ein Mensch, der nur ein Kostüm trug, nicht hinknien konnte: zu kalt für einen lebendigen Menschen. Neben Laura schwebte Gerties ätherische Gestalt. Gertie hatte ihren Posten im Fahrstuhlschacht wieder verlassen. Sie schwebte über den silbernen Stangen, die im Boden verborgen waren und sich auch durch Wände und Decke erstreckten. Dies war als Verwahrzelle für zeitweise psychotische Magier gedacht, bei denen sich nicht ausschließen ließ, dass sie anderen absichtlich oder zufällig Schaden zufügten, wenn ihre Hex-Kräfte der Hysterese unterlagen oder ihrer Kontrolle entglitten. Aber der silberne Käfig hatte auch andere Verwendungszwecke, und mit Gerties Hilfe würde Laura Dinge sehen können, die sich die meisten Menschen, einschließlich der Nicht-mehr-Lebenden, nicht einmal erträumen konnten. Gerties immaterielle Fingerspitzen berührten Lauras zombiekalte Haut, verweilten kurz und glitten dann hinein. Sie griff in Lauras Gehirn, in den visuellen Kortex. Neurochemische Bahnen strudelten von überschüssigen Energien aus Gerties GeisterParametabolismus. 562
Kurz darauf trieben blaue Gebilde durch Lauras Blickfeld, und sie schnappte erschrocken nach Luft. „Was ist das?“ *Können Sie Bilder erkennen?* „Nein …“ *Warten Sie. Gleich wird sich alles beruhigen.* „Oh. Da.“ In Lauras Blickfeld, oder vielleicht vor ihrem geistigen Auge – es gab keinen großen Unterschied mehr dazwischen –, gewann ein eiförmiges, schimmerndes blaues Feld an Konturen. Und in dem Blau … *Sehen Sie sie?* „Xalia, ja. Ich sehe Xalia.“ *Da.* Laura verstand wenig von Geistergestalten, von der unglaublichen Komplexität, die für Menschen unsichtbar blieb, weil nur ein so geringer Teil der Geister in den drei räumlichen Dimensionen existierte, an die Menschen gewöhnt sind. Irgendwie gab es in der Vision jedoch so etwas wie Verstehen. Laura erkannte, dass die hellen weißen Bänder, die sich der Länge nach über Xalias schwebenden Körper zogen, ein Heilungsphänomen waren. Seltsame Hex-Wellen liefen auf ihrem Körper hin und her und heilten die Risse und die offenen Wunden, die ihr die Kraftfelder um Vilnars Büro zugefügt hatten. „Xalia …“, flüsterte sie unwillkürlich und zuckte zusammen, als eine pastellfarbene Welle über Xalias Gestalt lief. *Bitte nicht kommunizieren.* 563
„Nein. Tut mir leid.“ Das war eine der Bedingungen für diesen visuellen Besuch gewesen; aber Laura hatte ganz natürlich reagiert. Sie konnte erkennen, welche Schmerzen Xalia litt. Welche Schmerzen Commissioner Vilnar ihr bereitet hatte. *Am besten ziehen Sie sich jetzt zurück. Lassen Sie sie gesund werden.* „Kann ich …?“ „Jetzt sofort, Commander.* „Ja. Hol mich raus.“ Dann kräuselten sich die Bilder, wurden inkonsistent, und Laura verspürte eine seltsame Traurigkeit, als Gerties immaterielle Finger sich langsam aus ihrem Gehirn zurückzogen und sie erneut allein ließen, gefangen in ihren üblichen fastmenschlichen Wahrnehmungen. „Thanatos.“ Irgendwann, nachdem Laura aus der Trance erwacht war, ertönte ein leises Klopfen an der schweren Metalltür der Zelle. Durch das Sichtfenster sah sie Gesichter, die halb von den dicken Stangen verborgen wurden, und erkannte die Silhouette von Alexas Kopf. „Ja“, sagte Laura. „Kommt rein. Ich bin fertig.“ *Ja.* Gertie sank durch den Boden nach unten und verlängerte ihre Gestalt, um den verborgenen silbernen Käfigstangen auszuweichen. 564
„Danke …“ Dann kam Alexa herein, gefolgt von Viktor. Gertie war bereits fort. „Was tust du hier?“ Alexa schaute sich in der Zelle um. „Ich wusste nicht, was du vorhattest, nur dass du hier drin bist.“ „Xalia besuchen – mit ein wenig Hilfe.“ Laura machte eine vage Handbewegung zu der Zelle. „Geisterfrequenzen anzapfen.“ „Wie geht’s ihr?“, fragte Viktor. Er umklammerte ein Blatt Papier, das offiziell aussehende Insignien trug. „Ihre Wunden verheilen“, sagte Laura, „aber sie kann nicht sprechen. Was hast du da, Viktor?“ „Ein Telegramm“, antwortete Alexa, außerstande, den Mund zu halten. „Vom Militär.“ Nur wenige wussten, dass das Militär sein eigenes Netzwerk abgeschirmter Kabel unterhielt, durch die ultra-high-speed-geschützte Elfen mit verschlüsselten Botschaften sausen konnten. Ein solches Telegramm hatte Laura bisher nur ein einziges Mal zu Gesicht bekommen. „An wen ist es adressiert?“ „An uns. An dich und uns alle.“ Viktor meinte die Spezialeinheit. „Es ist von Harald, diesem dämlichen Arsch.“ Laura ignorierte das Papier und schaute Viktor ins Gesicht. „Was schreibt er? Und warum übers Militärnetz?“ „Er hat Gefälligkeiten seiner Kumpels bei den Ma565
rines eingefordert“, sagte Viktor. „Von den Burschen, mit denen er nach Jahren immer noch in Kontakt steht … ihr wisst ja, wie er ist.“ Alexa und Laura lächelten kaum merklich. Haralds Netzwerkfähigkeiten waren legendär. „Und?“, drängte Laura. „Er schreibt: SORRY HAB MIST GEBAUT STOP MACHS WIEDER GUT STOP H.“ Viktor schaute auf das Telegramm. „Ich glaub’s einfach nicht.“ „Was will er damit sagen? Was ist los?“ Lauras Blick ging von Viktor zu Alexa. „Redet schon.“ „Ähm … Harald dachte, Donal wäre ein Spitzel“, erklärte Alexa. „Und dass er uns in Vilnars Auftrag ausspioniert.“ „Wie bitte?“ „Na ja, es war eine berechtigte …“, setzte Viktor an und korrigierte sich dann: „Nein, war’s nicht. Warum hat er mir nichts davon gesagt?“ Alexa legte ihm die Hand an den Arm und wandte sich an Laura. „Ist ja nicht so schlimm. Ich hab mir Harald deswegen vorgeknöpft. Er weiß, dass Donal auf unserer Seite ist. Äh … das ist er doch, oder?“ Laura verarbeitete den plötzlichen Zweifel in Alexas und Viktors Blick. „Aber natürlich, Thanatos noch mal!“ Viktor schluckte. „Alexa glaubt, dass … dass Harald Donal in Illurium irgendeine Falle gestellt hat.“ „Ach du Scheiße.“ 566
„Ja. Er ist in einem Höllentempo aus dem Krankenhaus abgehauen, nachdem Alexa ihn zur Rede gestellt hatte. Hat das Motorrad genommen.“ „Und wo will er hin?“ „Soll ich raten?“ Viktor wedelte mit dem Telegramm. „Nach Illurium, mit einer Militärmaschine. Wir haben dort Stützpunkte, sie haben hier Stützpunkte … Da wird bestimmt viel hin und her geflogen.“ „Aber man kann nicht einfach in einem militärischen Pterakopter mitfliegen.“ „Nein, man nicht.“ Viktor schenkte ihr ein angespanntes Lächeln. „Aber Harald?“ Als die uniformierten Beamten des Police Departments von Silvex City kamen, wusste Donal, dass es an der Zeit war, die Waffen niederzulegen. Sie hatten einen Detective in Zivil dabei, dessen sündteurer Blauwurf-Mantel in Tristopolis eine Überprüfung durch die Interne Sicherheit ausgelöst hätte. Der Detective sagte, sein Name sei Temesin, und der Mann, der Donal angegriffen habe, werde im Krankenhaus in Gewahrsam genommen, wenn Donal erlaube, dass er von der Besatzung eines Krankenwagens weggebracht werde. „Sprechen Sie von Rix?“, fragte Donal. „So ist es.“ Donal legte seine Waffen auf den Boden und stand auf, die Arme hoch erhoben. Vier Polizisten drängten sich an ihm vorbei und gingen zum Balkon. 567
„Kann sein, dass er eine Tracheotomie braucht“, sagte Donal. „Aber vielleicht auch nicht, er atmet ja noch. Er hatte zwei Schusswaffen dabei.“ Ein winziges Lächeln zuckte über Temesins Gesicht. „Pech, dass er nicht gut in Farbkoordination ist und obendrein zwei Waffen verschiedenen Kalibers hatte, die man nicht mit der gleichen Munition laden kann.“ „Ja, das fand ich auch schlampig.“ Einer der Uniformierten rief ihnen zu: „Er hat eine Kugel in den Trapezmuskel bekommen. Die Arterie, aber nicht so schlimm.“ Temesin sah Donal an. „War ich nicht.“ Donal zuckte die Achseln, die Hände immer noch erhoben. „Es sind ein Haufen Schüsse gefallen, und ich war die Zielscheibe. Könnte mir vielleicht jemand erklären, warum?“ „Also, ich weiß, dass – hören Sie, nehmen Sie die Hände runter, ja?“ Temesin machte eine entsprechende Handbewegung, „jemand hielt Sie für einen Saboteur. Dann ist man zu dem Schluss gekommen, dass Sie doch keiner sind. Falls Sie das verwirrend finden, kann ich Ihnen nur beipflichten. Wollen Sie mir auf die Sprünge helfen?“ Donal entspannte sich und zeigte dann auf die Nachricht, die am Boden lag. „Ich wohne bei Don Mentrassore.“ Und als Temesin die Augenbrauen hochzog, fügte er hinzu: „Der Freund eines Freundes. Zumindest hat er mich aus dieser Klemme befreit.“ 568
„Hmm.“ Temesin sah zu, wie Polizisten und ein Sanitätsmagier Rix auf einer Trage abtransportierten. Rix’ Augen zuckten hin und her, als der Morphiumzauber seine Wirkung tat. „Schade, dass sein Fahrer anderer Meinung war.“ „Ja. Ist mir ein echtes Rätsel.“ „Glauben Sie, es war der Don, der behauptet hat, Sie würden Ärger bringen?“ „Kann sein. Sagen Sie mal, Temesin, wie wichtig ist Mentrassore in diesem Kaff?“ „Hm.“ Temesin rieb sich das lange Kinn. „Sehr reich, sehr gute Verbindungen. Glauben Sie, ich kenne den Namen jedes erfolgreichen Geschäftsmanns? Wir sind hier in einer Großstadt.“ „Es gefällt Ihnen nicht, dass ich Silvex City als Kaff bezeichnet habe, hm?“ „Da bin ich empfindlich.“ Temesin grinste und hob die Waffe auf, die Donal dem Aasgeier im Bahnhof abgenommen hatte. Er machte eine Handbewegung, und einer der Uniformierten hob die andere Waffe auf, die Rix gehörte. „Na schön, die habe ich.“ Er steckte die Waffe in seine Manteltasche. „Und ich schreibe den Bericht, Officer Reilly“, fuhr Temesin fort. „Okay?“ „Ja, Sir.“ „Ich gäbe nämlich eine prima Sekretärin ab.“ Temesin sah Donal an. „Soll ich Sie zu Mentrassores Haus bringen lassen? Oder in ein ruhiges Hotel? Ich hab eine Tante, die eine kleine Pension betreibt – sehr vernünftige …“ 569
„Vielleicht fahre ich zurück und halte ein kleines Schwätzchen mit dem Don.“ „Woher habe ich bloß gewusst, dass Sie das sagen würden?“ „Weil Sie genau dasselbe täten“, antwortete Donal. Im Büro der Spezialeinheit beendete Alexa endlich das Telefonat mit der Krankenhausverwaltung. Auf ihrem Notizblock stand die Telefonnummer, die die Vermittlungsgeister aus dem Gedächtnis rematerialisiert hatten; ihre menschliche Vorgesetzte hatte Alexa die Ziffern übers Telefon vorgelesen. Diese Nummer hatte Harald von einem der Münztelefone im Foyer des Krankenhauses aus gewählt, ohne zu ahnen, dass solche Anrufe über die Telefonzentrale des Krankenhauses liefen. Die städtischen Vermittlungsgeister unter Strafandrohung zur Suche nach einer Nummer zu bringen, die jemand zu einem willkürlichen Zeitpunkt gewählt hatte, war eine langwierige Angelegenheit; aber das Krankenhaus überwachte die Telefonate natürlich, so wie es auch das Präsidium tat … selbst die ausgehenden Anrufe. „Das ist in Illurium“, sagte Alexa. „Soll ich rauszufinden versuchen, wer das ist? Vielleicht haben sie beim Nachrichtendienst ausländische Straßenverzeichnisse … Ich bin nicht sicher.“ „Gib her.“ Laura nahm den Notizblock. „Ich rufe einfach an. Mal sehen, wer drangeht.“ 570
Sie wählte die Nummer, und die Stimme, die sich meldete, war steif und hatte einen seltsamen Akzent. „Don Mentrassores Residenz.“ „Verzeihung, ich versuche gerade, Lieutenant Donal Riordan aus Tristopolis ausfindig zu machen. Er sollte …“ „O ja. Da ist ein … Fahrzeug in der Auffahrt, und ich glaube, ich sehe den Lieutenant auf dem Rücksitz. Soll ich ihm sagen, dass er Sie zurückrufen soll?“ „Kommt er oder fährt er?“ „Verzeihung, Ma’am?“ „Wird Lieutenant Riordan demnächst das Haus betreten?“ „Ja, ich glaube schon.“ „Dann bleibe ich dran.“ „Sehr wohl, Ma’am.“ Zwei Minuten später meldete sich Donal. „Hallo?“ „Hey, Liebster.“ „Laura! Hey …“ „Alles in Ordnung?“ „Jetzt ja, wo ich mit dir rede. Und … ja, ich glaube, jetzt ist hier alles okay.“ Laura fiel auf, dass er zweimal das Wort jetzt’ benutzt hatte. „Gab’s Probleme?“ „Nicht so wichtig. Kleines Missverständnis.“ Mit einem raschen Blick zu Alexa sagte Laura: „Das könnte an etwas liegen, was Harald zu seiner dortigen Kontaktperson gesagt hat. Das wäre dieser Don Mentrassore, nicht?“ 571
„Genau der. Aber Harald … weshalb sollte er …?“ „Er hat vielleicht gedacht, du wärst ein Spitzel.“ „Aber …“ Eine Pause, dann dieses vertraute, herzzerreißende Lachen. „Wenn’s keine Spitzel gäbe, wäre Harald aufgeschmissen. Das ist doch seine Spezialität.“ „Sie zu rekrutieren“, sagte Laura lächelnd. „Nicht, selber einer zu sein.“ „Ja, das ist ein Unterschied … Ist bei euch alles in Ordnung? Wie geht’s den anderen?“ „Wie immer. Sushana erholt sich noch. Xalia auch.“ „Xalia? Was ist passiert?“ „Sie hat versucht, in Commissioner Vilnars Büro einzudringen. Um unterstützendes Beweismaterial zu suchen. Ich weiß, du bist auf die Telefonnummer gestoßen, aber ich wollte mehr.“ Ozeanische Wellen rauschten in der Leitung. Dann sagte Donal: „Ich nehme an, ihr habt nichts gefunden.“ Laura schüttelte den Kopf, obwohl Donal über tausend Kilometer weit entfernt war und es nicht sehen konnte. „Oh, ich habe genug Material. Meinst du, ein verletzter Geist wäre kein Beweis? Selbst wenn er noch nicht sprechen kann?“ „Ah.“ Wieder gewann das flüssige Wogen willkürlicher Geräusche die Oberhand in der Leitung. „Sei vorsichtig, ja? Ich liebe dich.“ 572
„Ja. Und ich“ – Laura blickte zu Alexa und Viktor auf – “dich auch, okay?“ „Okay.“ Es wurde still in der Leitung. „Na schön.“ Laura legte den Hörer auf und sah erst Alexa und dann Viktor an. „Na, ihr beiden, Lust auf einen Kampf?“ „Nicht mit dir, Boss“, sagte Viktor lächelnd. „Ich dachte an einen Polizeipräsidenten. Wird Zeit, dass er auf die Bretter geschickt wird.“ Donal legte den Hörer des Telefons in der Eingangshalle auf und veränderte seine Position, sodass er die Pistole hinten in seinem Gürtel überprüfen konnte. Temesin hatte ihm die Waffe in die Hand gedrückt, als Donal aus dem Streifenwagen gestiegen war. Temesin war im Wagen sitzen geblieben und hatte Donal mit einem süffisanten Lächeln bedacht. „Hoffentlich sehen wir uns nicht so bald wieder, Lieutenant.“ „Gleichfalls“, hatte Donal erwidert. „Und danke.“ „Dafür nicht.“ Dann hatte Temesin mit der flachen Hand gegen die Rücklehne des Fahrersitzes geschlagen. „Fahren wir, Reilly.“ „Ja, Sir.“ Und Donal war zurückgetreten, als die Reifen frischen Kies in alle Richtungen spritzen ließen, bevor sie richtig fassten und den Wagen zum Tor und auf die abschüssige Serpentinenstraße hinauszogen. Dann war er ins Haus gegangen, wo der wartende 573
Hix ihm sofort erklärt hatte, er werde am Telefon verlangt. Jetzt schaute Donal Hix direkt in die Augen. „Ihr Vetter“, sagte Donal, „hat mir eine Menge Ärger gemacht.“ „Oh, das tut mir leid, Sir.“ Hix schloss kurz die Augen. „Die Leute halten ihn für einen charmanten Schlingel. Ich hoffe, er hat Ihnen keine allzu großen Unannehmlichkeiten bereitet.“ Donals Sinne waren hellwach. Allem Anschein nach war Hix ehrlich: aufrichtig trotz seiner steifen Art, während Rix offen und freundlich und letztendlich ein Feind gewesen war. „Ich nehme an“, sagte Donal, „der Don ist nicht zu Hause?“ „O doch, Sir. Und er möchte Sie unbedingt sprechen, sobald Sie wieder da sind. Darf ich Sie zu seinem Arbeitszimmer bringen?“ „Ja, warum nicht.“ „Für wen zum Teufel halten Sie sich eigentlich?“, sagte Donal, als er in der offenen Tür des Arbeitszimmers stand. Neben ihm schluckte Hix und machte ebenso große Augen wie sein Herr. Dann winkte der Don ihn hinaus. „Das habe ich verdient“, sagte Don Mentrassore. „Und bitte kommen Sie herein … Allerdings habe ich auf falsche Informationen hin gehandelt, wie Sie inzwischen vielleicht schon erfahren haben. Und es ist mir gelungen, Rix noch rechtzeitig zu stoppen.“ 574
„Von wegen.“ Donal betrat das Arbeitszimmer. „Mir ist es gelungen, Ihren beschissenen Handlanger zu stoppen. Wenn er stirbt, sind wir ihn Gott sei Dank los.“ Don Mentrassore zuckte zusammen, aber Donal konnte nicht erkennen, ob es an seinem Ton lag oder an den Bildern, die er heraufbeschwor. „Ich entschuldige mich. Und ich habe schon alles wunschgemäß arrangiert – die Plätze im Theater.“ „Was?“ „Die Premiere. Sie ist heute Abend. Und ich habe einen Haufen Geld ausgegeben, um … Nun ja, nicht so wichtig. Aber Sie werden sich die Aufführung in den nächsten drei Wochen jeden Abend ansehen können, wenn Sie das möchten.“ Donals Zähne blieben zusammengebissen. „Mir ist es egal, welche Abmachungen Sie mit Hammersen getroffen haben. Aber wenn Sie mir noch mal in die Quere kommen, mache ich Sie fertig, Mentrassore. Und zwar gründlich.“ Der Don schluckte. „Ich glaube Ihnen“, sagte er. Drei Stunden später nahm Donal seinen Platz in der luxuriösen Loge im Theater hoch über dem Parkett ein. Er zog den Eckenkragen seines Hemdes zurecht und strich mit den Fingern übers Revers. Es war der erste Smoking, den er je getragen hatte. Er hatte noch nie den Ehrgeiz verspürt, wie ein Kellner auszusehen. 575
Neben ihm setzte sich der Don, in eine pflaumenfarbene Samtversion von Donals Smoking gekleidet, die bei den meisten Leuten lächerlich ausgesehen hätte, und rückte die Spitzenmanschetten seines Hemdes zurecht. Wie dumm. Donal hatte keine Waffe dabei, weil er schon im Vorhinein gewusst hatte, dass am Eingang des Theaters Scan-Geister sein würden. Obwohl sie unsichtbar waren – man hatte sie gerade wegen ihrer Fähigkeit gewählt, so diskret zu sein, schließlich waren die Theaterbesucher wohlhabende Leute –, hatten die Geister ein warnendes Kribbeln in Donals Amulett ausgelöst. Schließlich verlöschten die Lichter langsam, das Orchester im Graben begann mit der Ouvertüre, und Donal lehnte sich zurück. Er schaute durch sein Opernglas und ließ den Blick in der zunehmenden Dunkelheit ein weiteres Mal über den Rest des Theaters gleiten. In einer Loge auf der gegenüberliegenden Seite sah er zwei Personen, die zu spät kamen. Eine von ihnen – einen Mann in einem dunklen Samtanzug, der dem von Don Mentrassore ähnelte – kannte er nicht … aber die Züge des anderen waren ihm irgendwie vertraut, und eine Sekunde später wusste er es. Dies war Bezirksrat Kinley Finross aus Tristopolis. Kaum jemand hatte ihn während der gesamten Ermittlungen erwähnt, und dennoch … Donal erin576
nerte sich an den Brief, der die Zusammenkunft mit Malfax Cortindo vorbereitet hatte: Bezirksrat von Xoram 99 Phosphorus Way Bezirk Xoram Tristopolis TS 66A-298-omega-2 Polizeipräsidium Tristopolis 1 Avenue of the Basilisks Tristopolis TS 777-000 42. Quatrember 6607 Betr.: Zusammenkunft mit Malfax Cortindo, Direktor der städtischen Energiebehörde Lieber Commissioner Vilnar, Es war mir ein Vergnügen, eine Zusammenkunft zwischen einem Ihrer Beamten und Direktor Cortindo von der städtischen Energiebehörde anzuberaumen. Letztere Körperschaft gereicht unserer Stadt natürlich zur Ehre, und der Direktor zögerte nicht, mir zu versichern, dass er sich überglücklich schätzen würde, jede relevante technische Unterstützung zu gewähren. Ich habe mich mit Direktor Cortindo darauf verständigt, dass Lieutenant Donal Riordan sich gemäß Ihrer Anfrage vom 40. des Monats am Abend des 37. Quintember um neunzehn Uhr in der DowntownKernstation bei ihm einfinden wird. Dem Lieutenant wird alles zur Verfügung stehen, was er benötigt. 577
Mit den freundlichsten Grüßen K.Finross Bezirksrat Kinley Finross PS: Beste Grüße an Ihre hochverehrte Frau Gemahlin. Sally und ich würden uns gern beim Styx-Ball revanchieren. Donal und Laura hatten angenommen, dass Commissioner Vilnar Gefälligkeiten eingefordert und Finross als Werkzeug benutzt hatte: ein Strohmann, damit niemand auf den Gedanken kam, es gäbe eine direkte Verbindung zwischen Vilnar und Cortindo. Doch nun tauchte Finross hier auf, genau an der Stelle, wo der nächste Anschlag des Schwarzen Zirkels erwartet wurde – zumindest von einer hoch motivierten Knochenlauscherin, die den Tod ihrer Kollegin rächen wollte. Da Finross’ Begleiter ähnlich gekleidet war wie Don Mentrassore, stammte er wahrscheinlich von hier. Donal beugte sich zum Don hinüber und flüsterte: „Wissen Sie, wem diese Loge gehört?“ Er zeigte hin. Der Don beugte sich zu ihm und antwortete ebenfalls im Flüsterton. „Das ist Stadtrat Gelbthorne. Ich mache Sie in der Pause miteinander bekannt, wenn Sie möchten.“ Dann verklang die Ouvertüre, die Scheinwerfer tauchten die Bühne in helles Licht, und der Don lehnte sich in seinen Sitz zurück und schlug die Beine übereinander. 578
Gelbthorne. Bingo. Diesen Namen hatte Feoragh im Archiv zutage gefördert, den Namen des Stadtrats aus Silvex City, der mit – wie war das noch gleich? – dreiundneunzigprozentiger Wahrscheinlichkeit an der Verschwörung beteiligt war, das jedenfalls hatten die von Knochenlauscher-Archivaren wie Feoragh Carryn angewandten stochastischen Vorhersageverfahren ergeben. Was immer das sein mochte. Ob es nun der richtige Abend war oder nicht, Donal war sicher, dass er am richtigen Ort war und die richtigen Verdächtigen vor Augen hatte. „So sieht also das Haus eines Richters aus“, murmelte Alexa, als sie die Auffahrt hinaufgingen. Hinter ihnen schnurrte der Motor der Vixen leise und zustimmend. „Ich war nicht mehr hier, seit … na ja, sehr lange“, sagte Laura. Es war dunkel, und das tiefe, undurchdringliche Purpurrot des Himmels betonte den Lichtschein der externen Flammengeister, die in ihren Messingkäfigen gefangen waren und die Auffahrt sowie die Statuen auf dem Gelände beleuchteten. Das Luxusanwesen bestand aus mehreren solcher riesigen Häuser, von denen keine zwei identisch aussahen, und das dunkle Land dahinter war der Thesselae-Park. Man konnte sich kaum vorstellen, dass Tristopolis das gesamte Gelände umgab und dass sie 579
nicht so sehr außerhalb der Stadt als vielmehr von ihr umschlossen waren. Die Türglocke läutete automatisch, als sie sich näherten. Kurz darauf öffnete die im Haus wohnende Assistentin des Richters, die grauhaarige Mrs Fogerty, die Tür. Neben ihr liefen gespiegelte Glanzlichter über das Messingschild mit der Aufschrift A. Prior, Richter. „Kann ich Ihnen helfen?“ „Es ist dringend. Wenn Sie dem Richter bitte sagen würden, dass Commander Steele hier ist.“ Laura hielt ihre Marke hoch. „Sagen Sie einfach, es ist Laura.“ „Nun, es ist schon ziemlich spät, und der Richter braucht seine …“ „Ich bin Vladil Steele’s Tochter. Der Richter wird mich schon empfangen.“ „Ach du meine Güte … Ja. Kommen Sie herein.“ Laura und Alexa stiegen die Stufen hinauf und gingen hinein. In der Eingangshalle blieben sie stehen, während die Tür zuschwang und Mrs Fogerty geschäftig irgendwo im Innern verschwand. Sie konnten sie sprechen hören, dann antwortete die Stimme eines alten Mannes. Mrs Fogerty kam zurück und winkte sie durch die gebohnerte Eingangshalle. „Hier entlang, meine Lieben. Hier entlang.“ Richter Prior saß in seiner kleinen Bibliothek, in seinen Morgenmantel gehüllt, ein kleines Glas Milch auf einem Tisch neben seinem Sessel. Er lächelte Laura an und stemmte sich aus seinem Sessel hoch. 580
„Nun, wir haben uns nicht mehr gesehen, seit … seit …“ Sein Lächeln schwand. „Seit dem Tag, an dem ich gestorben bin“, sagte Laura. Der Richter hustete und ließ sich wieder in den Sessel sinken. Alexa trat neben ihn und reichte ihm das Glas Milch. „Danke …“ Er trank einen Schluck. „Vielen Dank.“ Mit zitternder Hand gab er Alexa das Glas zurück, und sie stellte es wieder hin. „Gern geschehen, Sir“, sagte Alexa. Dann trat sie zurück. Dies war Lauras Show. „Euer Ehren, offensichtlich brauche ich Ihre Hilfe.“ Laura hielt ihm ein Blatt Pergament hin, das mit purpurroter Schrift im alten Stil beschrieben war. „Dies ist ein Durchsuchungsund Haftbefehl.“ „Meine Liebe, ich …“ Der Richter hielt inne. „Offensichtlich handelt es sich um etwas, was die zuständigen Richter vom Nachtdienst nicht regeln können.“ „Oder nicht regeln wollen“, sagte Laura. „Und wen“, fragte der Richter und nahm das Dokument entgegen, „wollen Sie verhaften?“ Laura holte tief Luft – was ja eigentlich unnötig war. „Commissioner Vilnar. Ich möchte sein Büro und sein Haus durchsuchen.“ 581
„Den Polizeipräsidenten?“ Der Richter ließ das Dokument in seinen Schoß fallen. „Unmöglich.“ „Nein“, sagte Laura. „Alles ist möglich, wenn man bereit ist, genug dafür zu opfern.“ Sie griff in ihre Handtasche.
582
DREISSIG In der Mitte des zweiten Aktes begannen mehrere Reihen des Publikums im Gleichtakt zu atmen, und das Amulett an Donal Brust wurde glühend heiß. „Thanatos.“ Jemand drehte sich um und brachte ihn mit einem „Pst“ zum Schweigen. Scheiße Scheiße Scheiße. Donal riss sich das Amulett herunter, und danach beschleunigten sich die Ereignisse. Unten auf der Bühne sangen die Drillinge so eindrucksvoll, dass Donal in Gefahr gewesen war, von Erinnerungen an die Diva überwältigt zu werden. Fühlst du die Knochen? O Tod, ja. Das Amulett lag auf dem Teppich. Sein Licht verblasste allmählich, jetzt, wo es sich nicht mehr an Donals Brust schmiegte, starb sein schützendes Hex. Es konnte ihn nicht mehr vor dunklen Gezeitenkräften beschirmen. Das Licht der Bühnenscheinwerfer erstrahlte golden; in der Geschichte der Oper sollte bald ein Dorffest im verzauberten Land Brismangidor beginnen. Donal bemerkte ein helles Flackern, als blitzte es im Innern des Saales. Scheinwerfer an der Decke blitzten dem Publikum Runen in die Augen, eine unterschwellige Induktion, die Donal aus irgendeinem Grund wahrzunehmen vermochte. 583
Und jetzt, wo er ungeschützt war, konnte ihn der Schwarze Zirkel erneut benutzen. Thanatos, ich habe ihnen in die Hände gespielt. Das Amulett hatte nämlich nicht die Aufgabe gehabt, Donal vor äußeren Kräften zu schützen, sondern seine innere Dunkelheit vor der Welt zu verbergen. Doch nun war dieser Schild fort. Fühlst du die Knochen? „NEIN!“ Ein paar Gesichter im Publikum blickten erschrocken zu Donal auf, aber die meisten standen schon unter dem Bann der blitzenden Runen. Der Parazombie-Massenzauber wäre bereits in Kraft getreten, aber der Schwarze Zirkel hatte nicht erkannt, dass Donal Riordan im Publikum sein würde. Nicht hier, nicht an diesem Abend. Wenn doch, wäre das Publikum jetzt bereits genauso vom Bann befallen wie im Théâtre du Loup Mort. Denn nicht die Diva war der Brennpunkt dieses Massenbindezaubers gewesen. Sie war das Ziel gewesen, aber jemand anders hatte die ins Theater übertragenen thaumaturgischen Wellen konzentriert, hatte als eine Art Linse für die Magier des Schwarzen Zirkels fungiert. Schmeckst du die Musik? „Ja! Ja, ich schmecke sie.“ Denn Donal war der Brennpunkt. Donal war die Linse. Er war die Waffe, die den Tod der Diva verursacht hatte.
584
Donal stand stocksteif da, alle Muskeln bis zur Katatonie gespannt. Die ganze Reha, das Neubrennen der Erinnerungen, all das Leiden. Er hatte so sehr versucht, wieder der alte Donal zu werden, der Mensch, der er gewesen war, bevor er dem Einfluss der Knochen erlag. Seltsame Harmonien strudelten um ihn herum: ein Gestöhn und Geheul, das nichts mit dem Orchester unten zu tun hatte. Hörst du die Knochen? Immer. Fühlst … Jeden verdammten Augenblick. Auf der anderen Seite des Theaters, in einer ebenso üppig ausgestatteten Loge wie derjenigen, die Donal sich mit Don Mentrassore teilte, betrachteten zwei Männer aufmerksam das Publikum. Nein … Finross teilte seine Aufmerksamkeit zwischen dem zunehmend in Trance fallenden Publikum und den Drillingen auf der Bühne auf. Aber Stadtrat Gelbthornes Augen glitzerten, während er thaumaturgische Energie ins Theater hinunter lenkte. Gelbthorne. In einem Winkel seines Bewusstseins sah Donal eine schwarze Welle nach der anderen hinabwandern, obwohl dies eine Illusion war, eine Art Metapher: Die eingesetzten Energien hatten nichts mit Licht zu tun. Die menschliche Netzhaut konnte keine Nekronen wahrnehmen. 585
Laura. Tu’s für Laura. Sein alter Boxtrainer, Mal O’Brien, hatte Donal einmal vom Ringboden aufgehoben. Es sollte eigentlich ein Sparringkampf sein, aber sein schwererer Gegner war aus seinen eigenen Gründen voller Hass gewesen, und Donal war zu Boden gegangen und hatte sich bei dem Aufprall den Unterarm gebrochen, nachdem seine Rippen bereits von einem Seitwärtshaken angeknackst waren, den er nicht hatte kommen sehen. Mal hatte gesagt: „Das heilt schon wieder, mein Junge. Und dein Kampfgeist? Der hat nichts abgekriegt.“ Und Donal hatte seinem Gegner, der gerade den Ring verließ, zugerufen: „Hey. Schon die Hosen voll?“ Was danach passiert war, hatte ihn mit dunkler Freude erfüllt: Donal lief vorwärts, wobei sein gesunder Arm aus der Hüfte heraus hochkam, und der Uppercut, den er dem anderen versetzte, war der beste seines Lebens. Der schwere Mistkerl kippte hintenüber und rührte sich nicht mehr. Jetzt kamen Donal jedoch die Worte in den Sinn, die Mal später gesagt hatte, als sie die Schienen mit Wurmhaut-Bandagen befestigten. „Keine Sorge“, hatte er zu Donal gesagt. „Wenn gebrochene Knochen heilen, sind sie stärker als zuvor, wusstest du das nicht?“ Hier im Theater stiegen und fielen Schattenwellen 586
um Donal herum. Dann sah der geheime Magier, der wahre Feind, Stadtrat Gelbthorne, Donal von der anderen Seite des Saales aus an. Er erkannte, was für eine Person, was für ein Gerät Donal war und wie ein Magier ihn benutzen konnte. Gelbthorne konzentrierte sich. Hörst du die Knochen? Tief im Innern wehrte sich Donal, er klammerte sich an seine Gedanken, denn er brauchte nur menschlich zu sein: seine echten Gedanken zu stärken, statt seine Nervenbahnen zu einem Filter für das umzustrukturieren, was von Gelbthorne kam. Wenn gebrochene Knochen heilen, sind sie stärker als zuvor. Fühlst du die Musik? Es war eine Illusion, aber auf der anderen Seite des Saales begannen Gelbthornes Augen zu leuchten, sie wurden riesengroß, wie immer weiter aufgezogene Scheinwerfer, die jetzt nur auf Eines gerichtet waren. Auf das Gefäß, das seine Energien fokussieren konnte. Auf Donal. Wenn gebrochene Knochen … Fühlst … Heilen … – du – Sind sie stärker … – die – Als … zuvor. 587
– Musik? Und jeder Moment des Hasses in seinen Waisenhaustagen und jede Sekunde der Liebe, die er in Lauras Gegenwart verspürte, gaben Donal jetzt Kraft, als er zurückschlug, und tief in ihm stieg so etwas wie Gelächter auf. Nein. Ich bin die Musik. Der Bann zerriss. Donal war frei. Aufgrund der vorherigen Beeinflussung stand ein Teil des Publikums nach wie vor unter Hypnose. Bühnenscheinwerfer strahlten ihnen immer noch ihre subliminalen Gestalt-Runen in die Augen. Nicht jeder würde empfänglich genug sein, um den Befehlen zu gehorchen, die Gelbthorne durchgab, aber es würden dennoch sehr viele sein. Donal war auf sich allein gestellt, und er hatte Hunderte gegen sich. Überall im Theater wandten sich ihm Gesichter zu. Unten stand eine Gruppe von Männern in Sanitäterkluft nah bei einem der Notausgänge im Schatten. Ihr Blick war auf die Drillinge gerichtet. Wenn es so weit war, würden sie die sterbenden – oder bereits toten – Drillinge packen und durch die Notausgänge wegschaffen. Würden sie die Knochen auslösen? Oder war das ein Vergnügen, das Gelbthorne persönlich vorbehalten war, vielleicht mit Finross’ Unterstützung? 588
Ich bin die Musik. Notausgänge … Donal erinnerte sich an einen Feueralarm-Knopf im Gang draußen; die Erinnerung kam wie von selbst. Also überlass dich dem Flow. Er machte einen Salto rückwärts über die Lehne seines Sitzes, stieß Don Mentrassores Hand weg – der Don stand nun unter Gelbthornes Einfluss –, war mit drei langen Schritten draußen im Gang und hämmerte mit der Unterseite seiner Faust auf den dreieckigen roten Knopf. Eine Sirene heulte los. Aus Düsen unter der Decke sprühte Wasser herab. Weiter vorn im Gang war ein Schlauchschrank mit einem Sandeimer und einer Feuerwehraxt. Donal schnappte sich die Axt und lief zur Loge zurück. Wasser rieselte aufs Publikum hinab, die Darsteller auf der Bühne hörten abrupt auf zu spielen, und der Orchesterklang zerfiel mit einer Disharmonie. Nun wurden auch die bisher hypnotisierten Zuschauer aus ihrer Trance gerissen. Eine Frau schrie gellend auf und löste die Panik aus. „Feuer!“ Von seinem Platz jenseits der Kluft aus schaute ihm Stadtrat Gelbthorne nur für eine Sekunde direkt in die Augen. Gelbthorne konzentrierte sich, um Donal zu zwingen, in Trance zu fallen. „Leck mich“, sagte Donal. Der Don griff von hinten nach ihm, aber Donal 589
rammte ihm den Ellbogen ins Gesicht, Blut spritzte, als die Nase brach, und dann wirbelte Donal aus der Loge und schoss mit der Axt in der Hand auf den Gang hinaus. Donal rannte, so schnell er konnte. Gelbthorne würde nicht davonkommen. Ich bin die Musik. Aber in Panik geratene Menschen füllten die Flure und Gänge. Donal erreichte die Tür, die zur Bühne führte. Sie wurde von der anderen Seite her langsam geöffnet. Donal packte den Knauf, riss sie auf und schlüpfte an dem stolpernden Mann vorbei, den er überrascht hatte. Ohne die Axt wegzulegen, rannte Donal hinter die Bühne. Bei dem Pandämonium im Publikum war dies der schnellste Weg zu Gelbthornes Loge. Und zu der von Finross. Er durfte Finross nicht vergessen. Donal schlängelte sich zwischen Darstellern und Bühnenarbeitern hindurch, gelangte zur anderen Seite und schaute hinaus. Eine stämmige Gestalt in Polizistenuniform gab drei weiteren Beamten gerade Anweisung, das verängstigte Publikum weiter durch den Notausgang strömen zu lassen. Einer der Uniformierten kam ihm bekannt vor: Es war Reilly, der Polizist, der den Wagen gefahren hatte. Keine Spur von Gelbthorne. Aber er sah Temesin, der in seinem dunkelblauen Mantel seelenruhig dastand und, kaum zu glauben, 590
eine Zigarette rauchte, während das Wasser herabrieselte und Hunderte fliehender Zivilisten an ihm vorbeifluteten. Donal beschloss, ihm zu vertrauen. Er arbeitete sich durch das herabströmende Wasser zu Temesin vor und sagte: „Er war da oben. In dieser Loge. Der Magier, der den Zauberbann verhängt hat … Muss irgendwie nach hinten losgegangen sein.“ „Tja, sieht so aus.“ Temesin starrte eine Sekunde lang auf die Axt in Donals Hand, dann schaute er nach oben. „Das wäre Stadtrat Gelbthorne. Er hatte einen Gast dabei.“ „Aus Tristopolis. Bezirksrat Kinley Finross.“ „Na wunderbar. Noch ein Politiker. Und was war das übrigens für ein Zauber?“ Die Sanitäter, die zuvor hier gewartet hatten, trugen jetzt Handschellen. Fünf uniformierte Polizisten umringten sie. „Ich schlage vor, Sie …“ „Bevor Sie weiterreden: Gelbthorne ist verschwunden.“ „Heißt das, Sie hatten Männer draußen, die nach ihm Ausschau gehalten haben?“ „Kann sein.“ Temesin nahm die Zigarette aus dem Mund. Mittlerweile war sie völlig durchnässt. Er schnippte sie auf den nassen Teppich. „Ich bin nicht sicher, ob wir genug gegen ihn in der Hand haben.“ „Für einen Haftbefehl?“, fragte Donal. „Oder für einen Durchsuchungsbefehl?“ „Sowohl als auch.“ Temesin sah Donal durch den 591
nicht aufhören wollenden künstlichen Sturzbach mit zusammengekniffenen Augen an. „Schade eigentlich.“ „Ja …“ Donal schaute zu der Loge hinauf, in der er selbst gesessen hatte. Von dem Don war nichts zu sehen. „Ist Ihnen schon mal aufgefallen, dass ein Unglück selten allein kommt?“ Temesin rammte die Hände in seine Taschen. „Woran denken Sie?“ „Na ja, falls es einen Notfall – einen Brand oder so – in Gelbthornes Haus gäbe, würden Sie nicht zögern, mit Ihren Leuten einzudringen, um den guten Mann mutig zu retten … Meinen Sie nicht auch?“ „Schon möglich.“ Temesin sah Reilly an, der die Leute immer noch durch den Notausgang hinauswinkte. „Das nehme ich zurück. Definitiv.“ So etwas erforderte Planung … aber Donal wusste, dass Finross ein Feigling war und mit der ersten Maschine nach Tristopolis zurückfliegen würde, nachdem der Mordversuch und der Knochendiebstahl nun vor seinen Augen aufgeflogen waren. Donal musste ihn noch in dieser Nacht zur Strecke bringen. Zweitausend Kinder, die im Gleichtakt atmen … Vielleicht war es die synchronisierte Atmung des Publikums, als es in Gelbthornes Bann geriet, die Donal an die eingesperrten Kinder im Energiezentrum erinnerte. Oder wurden sie in den Energiezentren speziell aus Neugeborenen gezüchtet? Donal war sich nicht sicher, ob er in ihren Augen echtes Bewusstsein gesehen hat592
te. Er fragte sich, ob es wirklich schlimmer war, statt der Gebeine der Toten Lebewesen zu benutzen. Er erinnerte sich an das Gespräch im Komplex der Energiebehörde und an Cortindos Worte: „Dieses Konglomerat denkt oder empfindet in Wahrheit gar nichts.“ „Nicht einmal Schmerz?“, hatte Donal gefragt. „Nein. Das erzähle ich zumindest jedem, der mich offiziell fragt.“ Jetzt stieß er den Atem aus. „Wie gelangt der Strom in die Häuser? Die großen Häuser.“ „Wie das von Gelbthorne? Er hat sogar seine eigenen … Generatoren, wenn man sie so nennen kann.“ „Ich weiß über eure Energiezentren Bescheid.“ „Ja … Zumindest begraben wir sie, wenn sie sterben, und respektieren die Totenruhe.“ „Scheiße.“ „Ganz recht. Aber die Subgeneratoren sind durch lange Schächte mit den Hauptzentren verbunden, falls es zu Strommangel oder Unfällen kommt. Wenn Sie jemanden kennen, der in dem Laden was zu sagen hat, könnten Sie wahrscheinlich sogar Pläne des Systems kriegen.“ Der Sprühregen aus den Düsen verringerte sich zu einem leichten Nieseln. „Wenn ich doch nur so jemanden kennen würde“, sagte Donal. „Mhm.“
593
In der Bibliothek lehnte Richter Prior sich in seinen Sessel zurück. „Junge Dame“, sagte er zu Laura. „Ich habe Ihren Vater viele Jahre lang gekannt, und ich erinnere mich an jede Ihrer Geburtstagspartys, Sie und die anderen Kleinen …“ „Andere Kinder reicher Leute.“ „Wenn Sie so wollen. Aber diesen Wunsch kann ich Ihnen nicht erfüllen.“ „Bitte, Euer Ehren. Es ist wichtig.“ „So wie die Rechtsordnung. Und die guten Sitten.“ Der Richter nahm seine Lesebrille ab und legte das Schriftstück beiseite. Er rieb sich die Nase. „Tut mir leid, Laura.“ Alexa trat einen Schritt zurück, weil sie dachte, dass Laura jetzt gehen würde, dann blieb sie stehen. „Entschuldige uns einen Moment.“ Laura wog einen kleinen Gegenstand aus ihrer Handtasche in der Hand. „Können wir unter vier Augen reden?“ „Ist das ein Abschirmkegel?“ Richter Prior warf Alexa einen kurzen Blick zu. „Nun gut, meine Liebe. Wenn Sie wollen. Aber ich werde meine Meinung nicht …“ Laura aktivierte den Zauber des Talismans, und die Luft kräuselte sich, als ein invertierter Kegel der Stille entstand und Richter Prior und Laura in einem Raum einschloss, aus dem kein Geräusch entweichen konnte. Einem transparenten Raum. Alexa rührte sich nicht; sie hoffte, dass sowohl 594
Laura als auch der Richter ihre Anwesenheit vergessen würden. Sie beobachtete die beiden aufmerksam, vielleicht zwei Minuten lang. Schließlich schrumpfte das Abschirmfeld und verschwand, und Laura steckte das talismanartige Gerät wieder in ihre Handtasche und verschloss sie. Dann wartete sie, während Richter Prior mit zitternden Händen die Kappe seines teuren Füllers abschraubte und langsam seinen Namen unter die richterliche Anordnung setzte. „So“, sagte er. „Sind Sie jetzt zufrieden?“ „Das bin ich. Danke, Sir.“ Laura nahm das Papier entgegen. „Wir finden allein hinaus.“ Der Richter sah Laura und Alexa nach, bis sie an der Tür der Bibliothek angelangt waren. Dann: „Sie haben sich verändert, Laura Steele. Früher waren Sie nicht so.“ „Ja“, sagte Laura. „Das hat der Tod nun mal so an sich.“ Draußen leuchteten die Scheinwerfer der Vixen hellauf, als Laura und Alexa die Treppe herunterkamen. Keine der beiden Frauen sagte etwas, während sie in den Wagen stiegen und die Auffahrt entlangrollten. Als sie auf der öffentlichen Straße waren, seufzte Alexa. „Ich glaub’s einfach nicht.“ „Wir haben das Dokument“, sagte Laura. „Ist das nicht das Einzige, worauf es ankommt? Hoffentlich bist du im Lippenlesen noch so gut wie immer.“ 595
„So ziemlich. Hat dir dein Vater wirklich erzählt, dass er einen Richter bestochen hat? Und obendrein auch noch den alten Prior, Mister Unbestechlich persönlich?“ „Nicht direkt. Gesagt hat er’s schon, aber nicht zu mir. Ich hab an der Tür gelauscht.“ „Oh.“ Als sie am Park vorbeifuhren – in der Nacht sah er dunkel und gefährlich aus –, fügte Alexa hinzu: „Was hast du vorhin gemeint mit der Bereitschaft, etwas zu opfern? Den Richter?“ „Nein … Ich bin diejenige, die sich heute Abend einen Feind gemacht hat.“ „Au weia.“ „Sehe ich aus, als würd’s mir was ausmachen?“ Don Mentrassore, dessen Nase sich unter einem grünen Verband aus Wurmseide verbarg, war äußerst ungehalten – wenn auch nicht wegen Donal –, und er besorgte nicht nur die Informationen, sondern tat noch mehr. Mit Hix und nicht Rix am Lenkrad, begleitete er Donal zum Energiezentrum, wo sie an den Stromerzeugungshallen mit den versklavten Kindern vorbeifuhren. Donal fragte sich, ob es angesichts all dessen richtig von ihm war, einen einzigen Mann zu verfolgen, aber dann dachte er wieder an die Diva und an das, was ihm selbst widerfahren war. Uniformierte Techniker übergaben ihm eine zusammengerollte Purpurpause und eine große Taschenlampe. 596
„Da gibt’s Schienenwagen“, sagte einer der Männer, „die bringen Sie fast bis ans Ziel.“ Der Don, der immer noch seine prachtvolle Theaterkleidung trug, nickte Donal zu und sagte: „Das ist ein bisschen zu abenteuerlich für einen Mann meines Alters. Aber ich wünsche Ihnen alles Gute.“ „Danke.“ Donal nickte, außerstande, sich mehr für den Mann zu erwärmen. Er wedelte mit der Purpurpause. „Ich weiß das zu schätzen.“ Vor gerade einmal fünf Stunden hatte der Fahrer des Don hier versucht, Donal zu töten. Vielleicht würde er später imstande sein, für diesen Anschlag Harald und nicht den Don verantwortlich zu machen. „Hier entlang.“ Zwei Techniker führten ihn durch eine Luke und eine metallene Leiter hinab zu einem engen Wartungstunnel, in dem eine einzelne Schiene verlief. Wie versprochen, war auch ein Schienenwagen da, ein kleiner Flachwagen auf zwei nebeneinander liegenden Rädern. Donal konnte nicht erkennen, was ihn aufrecht hielt, auch nicht, womit er angetrieben wurde. „Nekromagnetische Induktion“, sagte einer der Techniker. „Und schauen Sie, da oben …“ Donal hob den Blick. Oben neben der Luke leuchtete eine orangerote Nummer, 327. „Fahren Sie immer geradeaus“, fuhr der Techniker fort, „bis Sie bei zweihunderteins sind, dann steigen Sie ab und klettern die Leiter rauf, dorthin, wo die Haustunnels abgehen – das sind die Tunnels zu Pri597
vathäusern, okay? Sie nehmen Nummer fünf, dann ist es das zweite Haus.“ „In Ordnung“, sagte Donal. „Zweinhunderteins, fünf, zweites Haus.“ „Und die hier werden sie auch brauchen.“ Der Techniker gab ihm eine schwere Schutzbrille. „Das Ding fährt ziemlich schnell.“ Donal zog sich die Brille über den Kopf, kletterte auf den Schienenwagen und ließ sich im Schneidersitz auf der Plattform nieder. Er dachte erneut an die hirnlosen Kinder, die nicht so weit von hier entfernt im Schneidersitz aufgereiht saßen. „Was muss ich …?“ Ein rechteckiges Stück der Plattform, direkt neben Donals rechter Hand, begann in sanftem Orange zu leuchten. „Da draufdrücken, und die Hand drauflassen …“ Donal drückte darauf, und der Schienenwagen setzte sich in Bewegung. „… bis Sie anhalten wollen. Dann einfach loslassen.“ Niemand hatte Donal erklärt, dass man dies als Totmannschalter bezeichnete. Der Wagen beschleunigte immer mehr, aber etwas verhinderte, dass er herunterfiel. Nette kleine Spritztour für Kinder. Wenn das Waisenhaus ihn jetzt doch nur sehen könnte, ungeachtet der erbärmlichen Lage Hunderter, nein, Tausender Kinder. Wenn Schwester MaryAnne Styx hier wäre … 598
Aber der Tunnel hatte bereits eine Biegung nach links gemacht und führte abwärts, und wenn Donal zurückschaute, sah er nichts mehr vom Energiezentrum, sondern nur noch die schmucklosen Wände und die Reihen der Sicherheitslampen, die an ihm vorbeizogen. Ich bin die Musik. Mit der linken Hand tastete er erneut nach der Waffe in seinem Kreuz. In Tristopolis führte Viktor eine Gruppe RHDetectives den kurzen Weg zu Commissioner Vilnars schwarzer Sandstein-Villa entlang. Viktors Ansicht nach war es unfair von Laura, vom Raub- und Heimsuchungsdezernat auch nur die geringste Unterstützung zu erwarten – sich gewaltsam Einlass ins Haus eines Polizeipräsidenten zu verschaffen, schien ihm nicht gerade die beste Methode der Karriereförderung zu sein. Zumindest würde er selbst das Reden übernehmen, entschied Viktor. Mit dem Durchsuchungs- und Haftbefehl in der Hand, hämmerte er gegen die Tür. Vielleicht fünf Sekunden später schwang sie auf. Eine finster dreinschauende Frau mit faltigem Gesicht starrte Viktor an. „Was zum blutigen Thanatos wollen Sie denn um diese Zeit hier?“ Viktor hielt das Papier hoch. „Ist der Commissioner zu Hause, Ma’am?“ „Nein, ist er nicht. Er ist aus irgendeinem Grund in 599
sein todverdammtes Büro gegangen. Sind Sie verheiratet, Detective?“ „Äh … nein, Ma’am. Das nicht gerade.“ „Also, dann tun Sie irgendeiner armen Frau einen Gefallen und denken Sie drüber nach, ob sie mit dem ganzen verdammten Department verheiratet sein will. Und war das ein Durchsuchungsbefehl, was ich da gerade gesehen habe?“ „Ja, das ist …“ „Ich weiß nicht, was los ist, aber Arrhennius wird ziemlich sauer auf euch sein. Wollt ihr Kaffee?“ „Arrhennius?“ „Sie dringen ins Haus eines Mannes ein und kennen nicht mal seinen Vornamen?“ Viktor rieb sich das Gesicht. „Tut mir leid, Ma’am.“ „Nein, tut’s Ihnen nicht. Aber ich schätze, das kommt noch.“ Genau zur selben Zeit führten Laura und Alexa ein anderes, sechs Mann starkes Team von RHPolizisten zu den Fahrstuhlschächten. Gerties Geisterhand winkte ihnen kurz zu, bevor sie wieder im Eingang ihres eigenen Schachtes verschwand. Die acht Frauen und Männer sahen sich an. Dann stiegen sie immer zu zweit in die Schächte. Nirgends waren irgendwelche Anzeigen zu sehen. Sie stiegen schweigend in die Höhe und kamen im 186. Stockwerk heraus, in einem Flur, der von eiskalten und sengend heißen Bändern gesäumt war. 600
Laura sagte kein Wort, als sie das Vorzimmer durchquerten. Eyes saß wie immer an ihrem Schreibtisch. In ihren langen schwarzen Haaren spiegelten sich Glanzlichter der silbernen Kabel, die ihre Augenhöhlen über die Konsole mit den Dachspiegeln verbanden … mit jenem System, das praktisch das private Kommunikations- und Überwachungsnetz des Commissioners hoch über den Straßen der Stadt war. Vielleicht wusste Eyes irgendwie über die richterliche Anordnung Bescheid, die Laura bei sich trug, denn Alexa bemerkte, dass sie sofort unter ihren Schreibtisch langte und auf einen Knopf drückte. Die Tür zum Büro ihres Chefs glitt auf. Dann betraten Laura und Alexa das Büro des Commissioners, gefolgt von den RH-Beamten. „Was ist los?“ Dies war der Polizeichef selbst. Mit einer Handbewegung hielt er den metallenen Besucherstuhl zurück, der sich in eine stachelige, klauenbewehrte, angriffslustige Monstrosität verwandelte. „Was hat das zu bedeuten?“ Es gab noch andere, meist raffinierte und unerwartete Schutzvorrichtungen in diesem Raum, bis hin zu dem Aschenbecher, der sich auch als Handgranate mit Aufschlagzünder einsetzen ließ. „Es geht um den Schwarzen Zirkel“, sagte Laura und hielt ihm den Durchsuchungs- und Haftbefehl so vor die Nase, dass er seinen Namen auf dem Dokument nicht lesen konnte. „Er ist höher in den städti601
schen Apparat vorgedrungen, als irgendjemand vermutet hat.“ „Und dafür haben Sie Beweise?“, fragte der Commissioner. „Genug, glauben wir.“ „Sind Sie sich dessen sicher?“ Der Commissioner ballte die Hände zu Fäusten. „Wirklich sicher?“ „So sicher“, sagte Laura, „dass wir die Unterschrift eines Richters bekommen haben.“ Das fast quadratische Gesicht des Commissioners verzog sich zu einem Raubtierlächeln. „Dann mal los, holen wir sie uns“, sagte er. „Darauf habe ich schon lange gewartet.“ Laura erstarrte. Sie hielt ihm immer noch die richterliche Anordnung hin. „Was haben Sie gesagt?“ „Ich sagte … Na, was zum Thanatos glauben Sie wohl, was ich gesagt habe? Sind Sie taub?“ „Nein, aber …“ Ein lautes Krachen hallte durchs Büro, eine Vibration versetzte die Luft oder vielleicht auch nur die Augäpfel aller Anwesenden in wellenartige Bewegung. Sie stürzten zu Boden. Die richterliche Anordnung segelte herab und blieb direkt neben den kurzen, dicken Fingern des Commissioners liegen. Er richtete sich in eine sitzende Haltung auf und starrte auf das Papier. Dann schaute er zu Laura auf. „Sie verdammte Idiotin“, sagte er. Es dauerte eine ganze Weile, bis Laura ihre Stimme wiederfand. 602
„Sir?“ Ihre Sicherheit war verflogen. „Wir haben Beweise aus bestätigten Quellen. Wir kennen die Telefonnummer, von der aus Sie Kontakt mit …“ Lauras Stimme verklang. „Welche Nummer?“ Alexa antwortete: „Sieben-sieben-sieben, zwoneun, drei-fünf-eins, sieben-zwo-null. Es besteht kein Zweifel.“ Der Commissioner schnaubte, während er sich aufrappelte. „Das ist der Apparat auf Marnies Schreibtisch.“ Der Eingang zum Büro existierte nicht mehr. Die RH-Leute waren bereits zu der Wand gekrochen, wo sich die Tür befunden hatte. Bei dem Versuch herauszufinden, welcher Hex-Zauber hier angewandt worden war, fielen zwei von ihnen in tiefe Trance. Einer ihrer Kollegen hämmerte mit der Faust frustriert gegen das massive Mauerwerk. „Auf wessen Schreibtisch?“, sagte Laura. „Dem von Mamie, meiner Sekretärin.“ „Ach, Sie meinen Eyes“, sagte Alexa. Die Lippen des Commissioners zuckten. „Ja, ich meine Marnie Finross, die Nichte des Bezirksrats, die ich einigermaßen unter Aufsicht zu haben glaubte, bis Sie die ganze Sache vermasselt haben.“ Laura versuchte, sich auf die Geschehnisse zu konzentrieren. Commissioner Vilnar war ein harter Brocken, aber schwer zu fassen, wenn es zu Konfrontationen kam: Jeder wusste das. 603
„Guter Versuch, Commissioner. Aber die Beweise lassen sich auch mit rasch aus dem Ärmel geschüttelten Lügen nicht vertuschen.“ „Nein, aber unüberlegte Aktionen werden sicherlich dazu führen, dass Marnie davonkommt, meinen Sie nicht?“ Laura öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, aber eine der RH-Polizistinnen mischte sich ein. „Er sagt die Wahrheit, Ma’am.“ „Und Sie sind …?“ „Petra Halsted. Man hat mir gesagt, ich solle Sie unterstützen.“ „Ich habe von ihr gehört, Laura.“ Alexas Stimme war leise. „Sie ist eine Wahrsagerin. Gemeldet bei den Bannbrechern der Bundespolizei.“ „Verdammt.“ Der Commissioner räusperte sich. „Wechselseitige Vorwürfe sind was für Vollidioten“, sagte er. „Warum versuchen wir nicht, uns aus diesem todverdammten Schlamassel zu befreien?“ Donal schlich geduckt und mit gezückter Waffe durch den engen Zugangstunnel. Unten im Haupttunnel war der geistaktivierte Schienenwagen weggefahren, kaum dass er abgestiegen war. Nun hatte er keine Möglichkeit mehr, schnell die Flucht zu ergreifen. So weit er sah, führten all die engen, sich verzweigenden Tunnels zu den Untergeschossen der großen Häuser; keiner führte direkt ins Freie. Das wäre ein Sicherheitsrisiko gewesen. 604
Er gelangte an die nächste Tür und blieb stehen. Ihr nekromagnetisches Schloss wirkte riesig, und Donal erkannte, dass er das Problem nicht ausreichend durchdacht hatte. Dann summten Stromspulen, und schwere Riegel fuhren klackend zurück. Die Tür schwang auf. „Scheiße.“ Zwei riesige Männer mit zombiebleichem Gesicht hoben ihre Maschinenpistolen – Grauser Howlers mit den scheibenförmigen Magazinen – und richteten sie mitten auf Donals Körper. Ein Fingerzucken, und eine ratternde Salve von Kugeln würde Donal zerreißen, die blutigen Hälften würden mit einem feuchten Klatschen zu Boden fallen, und das war’s dann.
605
EINUNDDREISSIG Die Katastrophe brach von allen Seiten über Donal herein und erfasste ihn wie ein Strudel, als er sich das ganze Ausmaß seiner Dummheit eingestand. Ohne das Chaos, das er hatte auslösen wollen, gab es für Temesins Leute – vorausgesetzt, sie standen überhaupt draußen vor Gelbthornes Villa – keinen Grund, unter dem Vorwand, sie wollten den Stadtrat retten, ins Haus einzudringen. Laura. Tut mir leid. Es tat ihm leid, dass er sie im Stich gelassen hatte. Dass er sie nie wiedersehen würde. Thanatos. Und dann geschah etwas sehr Seltsames – etwas, was noch bei keiner Polizeioperation geschehen war, soweit Donal wusste. Beide Zombie-Wachen senkten ihre Waffe, sahen sich an und schüttelten den Kopf. Dann wandten sie sich Donal zu, und einer von ihnen sagte: „Du trägst das Mal des schwarzen Blutes an dir.“ „Äh …“ „Dieses Haus“, sagte der andere, „ist ein Ort der Unruhe und des Unfriedens.“ „Ach tatsächlich?“ Donal fand, dass er nicht widersprechen sollte, aber was genau ging hier eigentlich vor? Der erste Zombie gab seinem Kollegen die Waffe, knöpfte sich das Hemd auf und drückte die Finger606
spitzen in einer präzisen Abfolge an seine weiße Brust. Es gab ein leises, feuchtes, reißendes Geräusch, und Donal konnte den Blick nicht abwenden, als die Brust des Mannes aufplatzte. Darin lag, schwarz und glänzend, das rhythmisch pumpende Herz des Zombies. Er legte die Fingerspitzen an dessen pulsierende Oberfläche und sagte: „Ich werde dir nichts zuleide tun, Bruder.“ Und der Kollege des Zombies legte seine Grauser Howler auf den Boden, richtete sich dann auf und berührte ebenfalls das schlagende schwarze Herz des anderen. „Auch ich schwöre, dass dieser Mensch mein Bruder sein soll.“ Die Zombies sahen Donal an. „Ähm, danke. Ich meine … vielen Dank.“ „Das genügt uns.“ Der Zombie zog seine Brust zusammen, und die Wunde – die Zugangsöffnung oder was auch immer – schloss sich unverzüglich. Er knöpfte sein Hemd wieder zu. „Wir haben dem Stadtrat Gelbthorne soeben gekündigt“, teilte der andere Zombie-Wachposten Donal mit. „Und zwar durch unsere Handlungsweise. Wir haben dieses Haus nie gemocht.“ „Gelbthorne“, sagte der andere, „stört die Dunkelheit.“ Donal kapierte noch immer nicht, was hier vorging. „Ich heiße Brial“, sagte der erste Zombie, „und das ist Sinvex.“ 607
„Sehr … erfreut“, sagte Donal. Dann wandten die beiden sich ab und verschwanden in einem nichtssagenden Gang. Donal schaute ihnen verwirrt nach und fragte sich, was zum Thanatos hier gerade geschehen war. Zu seinen Füßen lag immer noch eine Maschinenpistole. „Hey … ihr habt was vergessen!“ Aber die Zombies waren schon fort. „Was man hat, das hat man.“ Donal hob die Maschinenpistole auf, prüfte das Magazin und den Verschluss – voll und funktionsfähig – und grinste. Er erinnerte sich an das Bataillonswettschießen, bei dem er in der Kategorie Maschinengewehr Zweiter geworden war. Er hatte das immer für einen Zufall gehalten: Er war miserabel mit solchen Waffen. Vielleicht konnte er diesmal Erster werden. Gertie rettete sie. Ihre Geistergestalt glitt durch die Wände, um nach ihnen zu sehen, dann verschaffte sie sich Zugang zu dem Sicherheitsschalter unter Eyes’ Schreibtisch. Unter Marnie Finross’ Schreibtisch: Laura war immer noch wütend auf sich, weil ihr das Offensichtliche entgangen war. Die große Tür erschien wieder. Geist-aktivierte Möbel flitzten aus dem Büro. Der lebendige Metallstuhl verließ es als Erster, gefolgt von einem Schwarm bunt zusammengewürfelter Gegenstände, die den großen, schwerfälligen Schreib608
tisch auf seinen Stummelbeinen umgaben. Die Nachhut bildeten die Menschen, nachdem sie sich vergewissert hatten, dass der Weg frei war. Hinter ihnen schloss sich das Portal zum Büro des Polizeichefs wieder. *Tut mir leid, Arrhennius.* „Was denn?“, fragte Commissioner Vilnar. *Ich glaube, dein Büro ist endgültig futsch.* Der Commissioner lächelte. „Ich kann mir jederzeit ein neues besorgen.“ Laura blinzelte. Der Polizeichef duzte sich mit einem Fahrstuhlgeist? Vielleicht hatte sie den Mann doch falsch eingeschätzt. „Commander Steele“, sagte der Commissioner. „Worauf warten Sie?“ „Äh … Sir?“ „Ich möchte, dass Sie Marnie sofort festnehmen.“ Er machte eine Handbewegung zu ihrem leeren Schreibtisch. „Finden Sie sie und schaffen Sie sie her.“ „Ja, Sir.“ Laura ging rasch hinaus, gefolgt von Alexa. Die RH-Polizisten wechselten Blicke, nickten dem Commissioner dann zu und verließen den Raum. Der Commissioner griff in seine Jacke, zückte eine große Handfeuerwaffe aus blauem Stahl, prüfte den Sicherungshebel und steckte sie wieder ins Halfter. Dann ging er zum Garderobenständer, nahm seinen schweren Mantel und schlüpfte hinein. Dabei fiel ihm ein weggeworfenes, mit Lippenstift beflecktes 609
Papiertaschentuch in Marnies Papierkorb auf. Er holte es heraus und steckte es in seine Manteltasche. „Gertie?“ *Ja, Arrhennius?* „Kannst du mich ganz schnell nach unten bringen? Wie in den alten Zeiten?“ *Mit Vergnügen.* „Dann los.“ Eine fremdartige Präsenz streifte in den unteren Fluren von Stadtrat Gelbthornes Haus umher. Seltsame Kältewellen waberten durch die Luft. Dienstmädchen und andere Hausangestellte hasteten durch die Flure, eilten in Büros oder irgendwelche Schlupflöcher und verschlossen die Türen, als Donal inmitten des Chaos vorbeikam. Er sah zwei grobschlächtige, grauhäutige Männer mit in die Haut eingewobenem Mosaikpanzer, die ihren massigen Körper in einen Wäscheschrank zwängten und verstohlen den Flur entlangschauten. Was immer hier drin losgelassen worden sein mochte, Donal wollte es nicht sehen. Er lief ein paar Stufen hoch und gelangte zu einem offenen Treppenabsatz aus rotem Backstein. Es war ein riesiges Atrium mit weißen Wänden, roten Fliesen und fünfzehn oder mehr in seltsamen Winkeln angeordneten Baikonen. Donal erhaschte einen Blick auf dunkle Schuppen, dann war er wieder in Bewegung und huschte so leise, wie er konnte, eine Treppe hinauf. 610
Weiteres Hauspersonal spritzte beiseite, als er auf eine Doppeltür aus Glas zulief. Dann sah er einen winzigen roten Knopf, der ihn an den Feueralarm im Theater erinnerte, deshalb tat er das Nächstliegende: Er hämmerte mit der Faust darauf. Nichts geschah. „Scheiße Scheiße Scheiße.“ Es musste ein Feueralarm sein. Donal war nur nicht auf die Idee gekommen, dass es sich um einen lautlosen Alarm handeln könnte, der die Hausangestellten irgendwie erreichte, ohne dass heulende Sirenen Außenstehende womöglich zu Nachforschungen veranlassten. Doch eben das war ja der entscheidende … Eine Metallbarriere fuhr aus dem Boden und schnitt ihm den Zugang zu der Zimmerflucht vor ihm ab. Beweg dich. Donal reagierte aus dem Instinkt heraus. Er vertraute seiner Intuition – ich bin die Musik –, sprintete los – schnell – und spürte, wie eine Woge stinkender Kälte im Atrium hinter ihm aufstieg – schneller! –, dann setzte er über den hochfahrenden Stahl hinweg, sein Fuß berührte den Teppich dahinter, verfing sich darin, und er stolperte. Decke und Wände kreiselten um ihn, und er rollte weiter zur Seite, erhaschte einen halluzinatorischen Blick auf ein riesiges dunkles Reptilienauge, das auf ihn gerichtet war, dann schlossen sich die Stahlbarrieren mit einem dumpfen Laut und sperrten die Welt draußen aus. Donal war in Sicherheit. 611
Es singt … Er spürte einen kalten, unheimlichen Gesang tief in seinen Knochen, und wusste, was das bedeutete. Ein Magier war ganz in der Nähe. Commissioner Vilnar kam wie eine herabsausende Fledermaus an der Außenseite des Gebäudes herunter, und sein Mantel bauschte sich wie ein Umhang, als er auf alle viere fiel. Erschrockene Todeswölfe sahen die leuchtende, bläuliche Aura, die ihn umgab: Gertie, der Geist, dessen Knechtschaft im Polizeipräsidium immer mit einem gewissen … Spielraum verbunden gewesen war. Gertie blähte sich auf und flatterte in die sicheren Gefilde des riesigen alten Hochhauses zurück. Um den Commissioner herum knurrten die Todeswölfe, und ihre bernsteinfarbenen Augen glühten. „FenSieben“, sagte der Commissioner. „Und FenNeun-Beth. Seid ihr bereit für die Jagd?“ „Gnr …“ „Kommt mit.“ Der Commissioner ging voran. Für seine massige Gestalt bewegte er sich sehr behände. „Mal sehen … verdammt.“ Die Avenue of the Basilisks war voller Menschen, die sich aus Theatern ergossen und die Restaurants ansteuerten. Marnie konnte überall sein, unter den vielen tausend Menschen auf der weiten, langen, schluchtartigen Hauptstraße oder in irgendeinem der zweihundertstöckigen Hochhäuser, die sie wie Mauern umgaben. 612
„Sie hat dunkle Haare“, sagte Commissioner Vilnar leise, „und das ist ihr Geruch.“ Er kramte das Papiertaschentuch hervor, das er aus Marnies Abfalleimer geholt hatte. „Sofern sie das Ding nicht mit irgendeinem HexTrick manipuliert hat“, fügte er hinzu, an die Todeswölfe gewandt. „Also seid vorsichtig, Jungs.“ Die Todeswölfe schossen davon, hinein in die Menge, hager und gefährlich und kaum sichtbar für reiche Leute, die den Anblick echter Raubtiere nicht gewohnt waren. Sie hätten nur höchst ungern zur Kenntnis genommen, dass es Gefahren gab, die tödlicher und unmittelbarer waren als zweifelhafte Geschäfte in Vorstandsetagen und Clubs. Laura und Alexa kamen auf die Straße gerannt. Alexa blieb ruckartig stehen, als sie den Commissioner sah. Ihr Mund öffnete sich, aber sie bekam kein Wort heraus. Dann kam die Vixen, Lauras Wagen, herbeigerast und wirbelte seitwärts auf sie zu, als hätte jemand die Handbremse angezogen und das Lenkrad eingeschlagen. Die Türen sprangen auf, als sie schlitternd zum Stehen kam. Das Innere des Wagens war leer. Laura sah den Polizeichef an. „Na los.“ Er machte eine energische Geste. „Hinterher!“ Laura blinzelte, sprang in den Wagen und fuhr los, bevor Alexa überhaupt reagieren konnte. „In Ordnung“, sagte Commissioner Vilnar zu Ale613
xa, als die Vixen sich in den Verkehr einfädelte. „Sie kommen mit mir.“ Alexa drehte sich um und wollte der Vixen folgen, dann blieb sie stehen. „Nein“, sagte der Commissioner. „Wir gehen wieder rein.“ Donal betrat eine Galerie der Knochen. Ohne sich zu bewegen, zerrten sie an ihm. Erstarrte Skeletthände, ein paar von stillen Strahlern beleuchtete goldgerahmte Ausstellungsstücke, die nur aus einem einzigen Knöchelbein bestanden, dann einige einzelne Rippen und, in einem speziellen Triptychon-Arrangement, drei komplette Totenschädel, die Donal angrinsten, als er an ihnen vorbeitaumelte. Sie sangen. Unkoordinierte Visionen umstrudelten Donal, und er ließ die Maschinenpistole fallen, ohne es auch nur zu bemerken, als die Schmerzen und Krämpfe seinen ganzen Körper erfassten, eine Warnung davor, gegen die schönen Träume anzukämpfen. Sie sangen ihm ihr Lied. Nein. Hilfe … Überall um ihn herum riefen ihn die Knochen, versprachen ihm ihre wilden, verführerischen, künstlerisch vollendeten Träume. Diva, hilf mir. Oder war sie die Letzte, die ihm helfen würde, selbst wenn sie noch am Leben wäre und ihm zu Hil614
fe kommen könnte? Vielleicht verdiente er zu scheitern, in wundersamer Trance zu sterben. Da war eine zweiflügelige Innentür mit reich verzierten Griffen, und Donal hatte sie bereits mit bloßen Händen gepackt, bevor er seinen Fehler bemerkte … die Griffe bestanden nämlich aus geschnitztem Bein: die Knochen längst verstorbener Künstler. Nein … Ein Mahlstrom von Visionen zog ihn hinab. Da waren rubinrote Meere, und der Gesang kleinbrüstiger Meerjungfrauen lockte ihn in – Nein. – den lebenden Wald, wo Blumen Düfte atmeten, wie er sie noch nie – Ich werde nicht … – ihre zahllosen Hände strichen sanft über seine Haut, umfassten sein – … zulassen, dass dies … – zogen ihn hinein in – … geschieht. – wirbelnde Pastellfarben und das Gefühl von – NEIN! Er zerbrach die Visionen. Denn … Und stand schweratmend und schweißüberströmt da, nachdem er die Doppeltür geöffnet hatte, um in die letzte, innerste Kammer zu schauen. Ich bin das Lied. Aus eigener Willenskraft hatte Donal den Bann 615
der Knochen abgeworfen, aber es war viel zu spät, als er sah, was in der Kammer lag. Er unterdrückte den Drang, sich zu übergeben. Drei Männer standen um einen flachen Altar: Stadtrat Gelbthorne, Bezirksrat Finross und ein anderer, der Donal mit seinem weißen Haarschopf und seinen fotogenen Zügen bekannt vorkam, wie eine berühmte Persönlichkeit, die man nur aus der Zeitung kannte, und Donal vermutete, dass es sich um einen Politiker handelte. Aber den Leichnam, der ausgestreckt auf dem Altar lag, kannte er sehr gut; schließlich war der Mann von Donals Hand gestorben. Malfax Cortindo. Und überall um sie herum … Gütiger Thanatos, nein. … lagen die bleichen, ausrangierten Überbleibsel der Komponenten, die sie bei ihrem Werk verbraucht hatten, die Kraftquelle für jedes seltsame Hex, das sie erzeugt und eingesetzt hatten. Es war fast eine Enttäuschung, als die Augenlider der Leiche zuckten, denn selbst für die pervertierten Magier des Schwarzen Zirkels musste das Resultat den Aufwand rechtfertigen: Es musste die verbrauchten Ressourcen wert sein. Der Boden war von Dutzenden toter Kinder übersät, deren leere Augen weit aufgerissen waren und doch nie wieder etwas sehen würden. Gelbthorne hob eine Hand und richtete sie auf Donal. Ein orangefarbener Blitz schoss durch den Raum. 616
Und zerplatzte, als er auf Donals Brust traf. Donal trat einen halben Schritt zurück. Er wusste, dass er keine Zeit hatte, in die Knochengalerie zurückzulaufen und die Maschinenpistole zu holen, die er unter dem Ansturm der Visionen fallengelassen hatte. Letzte Chance … In diesem Moment begann Malfax Cortindos Leichnam jedoch, sich ruckartig zu bewegen; er fuhr auf dem Altar herum, setzte sich auf und stellte die bloßen Füße auf den Boden, wobei er die toten Kinder unter seinen Sohlen zertrat. Diese weichen Körper würden keine Klagen äußern. „Zur Hölle mit euch“, sagte Donal und rannte los. Gelächter folgte ihm, als er zur Tür hinausstürzte, hinein in den Raum, wo die Anziehungskraft der Knochen wie ein Brandungsrückstrom durch seine Seele flutete. Aber er brauchte nur eine Sekunde, um die Maschinenpistole aufzuheben, sich umzudrehen und auf den Abzug zu drücken. Das ohrenbetäubende Rattern automatischen Feuers dröhnte und hallte durch den geschlossenen Raum. Donal biss die Zähne zusammen, während Kugel um Kugel durch den Eingang jagte und auf ihr Ziel zuflog: den sitzenden Leichnam und die drei stehenden Männer, die … Ein Klicken, als das Magazin leer war. … immer noch auf den Beinen waren. Ein Schwarzpulverdunst hing vor dem Trio: die Überreste der Kugeln, die sich beim Auftreffen auf 617
den wie auch immer gearteten Schild auflösten, den der Magier, Gelbthorne, mit einer Handbewegung vor ihnen errichtet hatte. Nun verzogen sich die Lippen in Cortindos totem Gesicht zu einem Grinsen, das nichts Menschliches hatte. Die verweste Zunge hinter den geschwärzten Zähnen bewegte sich. Vielleicht zeichneten sich dort drin Maden ab, bevor die Leiche den Mund wieder schloss. Wenigstens konnte dieses Ding noch nicht sprechen. Wenn es sich so weit regeneriert hatte, würde Donal schon tot sein. Oh, Laura. Es … Alle vier Magier, einschließlich Cortindo, hoben die Hände, um ihn zu vernichten. … tut mir leid. Eine Explosion hinter Donal sprengte die Stahltür auf. Der Luftdruck schleuderte Donal durch die Öffnung zurück in die Kammer, in der die Magier standen. Er fiel auf tote Kinder. Im Eingang stand eine hochgewachsene Gestalt mit einer schweren Hexzooka auf der Schulter. In dem riesigen Atrium hinter ihr sah man ein fahrerloses Knochenmotorrad, das seine Beute attackierte; es schoss auf ein riesiges, schuppiges Reptil zu, das vor Angst spuckte. „Die Marines sind da.“ Donal lächelte. „Wir kommen immer“, sagte Harald. Orangefarbene Blitze sammelten sich um die vier dunklen Magier, als sie zum Gegenschlag ausholten 618
… doch in diesem Moment fuhren weitere Motorräder grollend und kreischend ins Atrium ein, dunkelgrüne Maschinen mit aufgeblendeten Scheinwerfern. Nach ihnen strömten Fußpolizisten in dunkelgrünen Uniformen mit weißen Helmen herein, die automatischen Waffen im Anschlag. Und als Letztes kam die schmale Gestalt von Temesin, gelassen und entspannt, eine Zigarette im Mundwinkel und die Polizeimarke in der Hand. Donal sah die vier Magier an. „Das Spiel ist aus“, sagte er. „Aaah …“ Der Laut, der aus Cortindos totem Mund kam, war unmenschlich. Doch dann packten Stadtrat Gelbthorne und der Weißhaarige den wiederbelebten Cortindo und umfassten ihn in einer bizarren Gruppenumarmung. Der Weißhaarige nahm sich noch die Zeit, Donal einen boshaften Blick zuzuwerfen, dann senkten sie den Kopf und konzentrierten sich. Die Luft geriet in Bewegung, begann zu wabern und zu rotieren. Seltsame Geometrien manifestierten sich. „Nein. Bleibt hier …“, wimmerte der entsetzte Kinley Finross. Aber das Magiertrio hatte ein ineinander verschmolzenes Ganzes gebildet, das immer schneller kreiste, bis es sich schließlich durch einen vollkommen unmöglichen Winkel drehte, der orthogonal zu jeder Achse stand, die Donal kannte … und verschwand. Nun war nur noch der erbärmlich heulende Finross 619
übrig, der an dem verlassenen Altar lehnte, umgeben von mindestens zwei Dutzend toten Kindern. Donal rappelte sich auf. „Nein! Es war Blanz. Er … er hat mich mit einem Bann belegt’.“ Kinley Finross stammelte beinahe. „Bitte, bitte, tötet mich nicht … ich sage euch alles. Sie haben mir keine Wahl gelassen, ich …“ Er brach ab, als ihm klar wurde, wie sehr er sich belastete. „Senator Blanz“, sagte Donal. „Dieses Arschloch.“ Finross sank zu Boden und blieb lang ausgestreckt liegen. „Ich glaube, er ist ohnmächtig geworden.“ Temesin war hereingekommen, ohne dass Donal es bemerkt hatte. „Schade. Der Klang seiner Stimme hat mir gefallen.“ Donals Nasenflügel blähten sich, und er machte eine Handbewegung, die den ganzen Raum umfasste. „Lässt Sie das völlig kalt?“ Temesin betrachtete die kleinen Leichen. „Hab schon Schlimmeres gesehen.“ „Heiliger Bimbam …“ Dann drehte Temesin sich zu Harald um. „Eindrucksvoller Auftritt“, sagte er. „Ja.“ Harald spuckte zur Seite aus, dann grinste er. „Soll ich noch ein paar andere Häuser in Schutt und Asche legen, wo ich schon mal hier bin?“ Laura rollte in ihrer Vixen die Avenue of the Basilisks entlang, ließ den Blick über die Menge schwei620
fen und hielt Ausschau nach der dunkelhaarigen Gestalt von Eyes … Marnie Finross. Das Problem war, dass Laura die Frau vor ihrem geistigen Auge immer nur mit diesen silbernen Kabeln sah, die ihr aus den Augen hingen und sie mit dem zum Spiegelsystem auf dem Dach führenden Refraktionsapparat verbanden. Sie würde ihr Gesicht garantiert nicht wiedererkennen. Außerdem waren so viele Hunderte, ja Tausende von Menschen auf der Straße unterwegs. Wenn sie in ein Gebäude geflohen war … „Ich geb’s auf“, erklärte Laura der Vixen. „Ich glaube nicht, dass wir eine Chance haben, das Miststück zu finden.“ Auf einmal sah sie jedoch zwei niedrige Gestalten zwischen den Beinen der Menschen dahinflitzen, dann gab es ein plötzliches Tohuwabohu, und die Todeswölfe hatten mit ihren Fängen einer Frau den Mantel heruntergerissen. Das lange weiße Haar der Frau schwang hin und her, als sie vor den Todeswölfen weglief … „Verdammt, das ist sie. Sie hat sogar ihre Haarfarbe verändert.“ … und die Frau kickte ihre hochhackigen Schuhe von sich, sprang an die nackte Wand des nächsten Hochhauses und begann, daran emporzugleiten. Marnie Finross’ Handflächen und Fußsohlen hafteten an der Oberfläche, und sie glitt förmlich hinauf. Den beiden Todeswölfen blieb nichts anderes übrig, als sich auf die Hinterläufe zu setzen und zu heulen. 621
Die Vixen kam mit quietschenden Reifen zum Stehen und erbebte. „Komm schon“, sagte Laura. „Ich weiß, dass du’s kannst.“ Laura berührte den Schalthebel – nur eine Berührung –, und die Vixen wendete, rollte vorwärts und steuerte schnurstracks auf das Gebäude zu, wie es auch Marnie Finross getan hatte. Dann morphte die Vixen ihre Hinterreifen abrupt in Federn und sprang drei Meter in die Höhe. Die Reifen der Vixen drehten sich schnell und verwandelten sich erneut, diesmal in schräg ausgestellte Klauen, die wie Stahlblüten angeordnet waren, und der Wagen traf die Wand mit allen vier Stachelreifen zugleich und begann, aufwärts zu klettern; er rollte die Wand langsam hinauf, mit vor Anstrengung knurrendem Motor, wurde langsamer … dann hielt er an und hing zitternd da. Laura biss sich auf die Lippe. Der Wagen sank zum Bürgersteig zurück und rollte laut ächzend wieder auf die Straße, ohne sich damit aufzuhalten, die Reifen in die normale Konfiguration zurückzuverwandeln. „Ist schon gut“, sagte Laura und tätschelte das Lenkrad. „Wirklich.“ Schon in ihrer Jugend hatte die Vixen unter Höhenangst gelitten. Dann seufzte der Motor der Vixen, und ihre Scheinwerfer drehten sich nach oben und wurden unglaublich hell. Sämtliche Energie wurde in die 622
Glühbirnen gelenkt und verwandelte sie in Punktscheinwerfer, deren grelle weiße Stahlen an der Wand des Hochhauses hinaufschwenkten und die immer noch in die Höhe kletternde Gestalt von Marnie Finross aus dem Dunkeln rissen. „Oh, das ist gut“, murmelte Laura. „Ich glaube, mehr brauchen wir gar nicht.“ Die Scheinwerfer der Vixen folgten Marnie Finross bis ganz nach oben, wo sie aufs Dach stieg und aus dem Blickfeld verschwand. Eine Sekunde lang glaubte Laura, damit wäre nun alles vorbei. Dann sagten ihr erst einer, dann mehrere winzige rote Lichtpunkte dort oben, dass alles gut war, es war alles in Ordnung, der Fall war zu einem Abschluss gekommen. Laura legte die Hand an die Fahrertür und stieß sie auf. Sie trat auf den Bürgersteig hinaus. „Bin gleich wieder da“, sagte sie. Der Türsteher des Gebäudes benutzte seinen Hauptschlüssel und begleitete Laura in den Expresslift zum Penthouse. Der Fahrstuhl schoss sehr schnell zum obersten Stockwerk hinauf und bremste erst in den letzten paar Sekunden ab. Der Türsteher ging mit ihr den Flur entlang und öffnete die gepanzerte Glastür, die nach draußen führte, dann blieb er stehen und hielt den Atem an. „Keine Angst“, sagte Laura. „Sie tun Ihnen nichts.“ Für Marnie Finross traf das jedoch nicht zu. 623
„Das sind, das sind …“ „Meine Freunde“, sagte Laura. „Bloß meine Freunde.“ Überall auf dem Dach saßen Katzen. Hunderte von Katzen. Und die Augen jeder Katze leuchteten scharlachrot in der Nacht und versetzten jeden in Trance, der es wagte, sie anzuschauen – jeden, der es mit den Meistern des Hypnotisierspiels aufnehmen wollte. Marnie Finross hatte sich auf einen Blickwettkampf mit den Katzen eingelassen. Ihr katatonischer Körper lag zusammengerollt und gelähmt da wie ein versteinertes Fossil aus längst vergangenen Zeiten. Sie war dem Wahnsinn verfallen; ihr Geist war in Scherben zerbrochen, die nie wieder zusammengesetzt werden konnten. Laura lächelte. „Ich danke euch.“ Währenddessen brauchte Alexa tief unten in den verborgenen Kellerräumen des Polizeipräsidiums ihre gesamte Kraft, um Commissioner Vilnars bewusstlosen Körper aus der Kammer zu schleifen, in der er Antworten gesucht hatte. Ihm war bewusst gewesen, dass er bei der Suche ohnmächtig werden würde, aber er hatte darauf vertraut, dass Alexa ihn aus dem Raum herausholen würde, bevor dieser ihn umbrachte. Unter Anspannung aller Kräfte – war der Mann schwer! – zerrte und schleifte sie ihn schließlich in 624
den steinernen Gang hinaus, sodass der Eingang frei war. Sie schaute noch einmal in die Kammer, auf das brodelnde, nova-weiße Licht … und dann schlug die Tür von selbst zu und verbarg das Innere. Auf dem Boden stöhnte Commissioner Vilnar. „Hier.“ Alexa entstöpselte die Wasserflasche, die sie hatte mitnehmen müssen, hob seinen Kopf an und träufelte ihm ein paar Tropfen zwischen die Lippen. „Gut.“ Kaum eine Minute später war er wieder bei sich. Was immer in der Flasche sein mochte, es war nicht nur Wasser. Er holte tief Luft und streckte dann die Hand aus, damit Alexa ihm half, seinen massigen Körper auf die Beine zu hieven. „Sie werden es in dieser Abteilung noch weit bringen“, erklärte er ihr. „Nicht jedes Netz von Verbündeten ist so korrupt wie der Schwarze Zirkel.“ „Ähm … nein.“ Alexa warf unwillkürlich einen verstohlenen Blick auf die geschlossene Tür. „Aber Sie werden niemals jemandem erzählen, was Sie da drin gesehen haben.“ Commissioner Vilnars Augen wirkten groß und rund. „Einverstanden?“ Alexa schluckte. „N-niemals.“ „Dachte ich mir. jetzt werden wir beiden die anderen informieren. In Ordnung?“ „Ja, Sir.“ Das Lächeln, das über Commissioner Vilars Gesicht ging, sah unmenschlich aus. Alexa war überrascht, dass er nach dem, was er gerade durchgemacht hatte, überhaupt lächeln konnte. 625
„Dieser Senator Blanz hält sich für einen überaus raffinierten Burschen“, sagte er. „Sir?“ „Er versteckt sich dort, wo jeder ihn sehen kann. Aber wir werden ihn festnageln … nein.“ Alexa schwieg; sie wagte es nicht, Fragen zu stellen. Es ging alles so schnell. „Diese Ehre gebührt dem Team. Laura Steele wird die Verhaftung vornehmen. Irgendwie angemessen, finden Sie nicht?“ Endlich lächelte Alexa. „Ja“, sagte sie. „Das fände ich in der Tat angemessen.“
626
ZWEIUNDDREISSIG Das Kapitol war ein riesiges neuneckiges, verformtes Polygon, über dem ewige dunkle Wolken hingen, wie tintenschwarze Nebelstreifen am indigoblauen Himmel. Trotz des Quecksilberregens hatten Journalisten auf den Stufen Aufstellung genommen, um die eintreffenden Senatoren zu fotografieren. Dies war ein wichtiger Tag. Es spielte keine Rolle, dass der Mann, der den Gesetzentwurf eingebracht hatte, nicht hier war. Für die Abstimmung über das Unentbehrliche Erneuerungsgesetz war Senator Blanz’ Anwesenheit nicht erforderlich. Na türlich lag den Journalisten auch daran, Fragen nach den widersprüchlichen Gerüchten um das Verschwinden des Senators zu stellen. Doch kein Angehöriger des Parlaments war bereit, sich dazu zu äußern … zumindest nicht offiziell. Blitzlichter flammten auf, als Sanitätsmagier mit einer leichten Sänfte aus einem gerade eingetroffenen Krankenwagen herbeikamen. Die heutige Abstimmung würde wahrscheinlich knapp ausgehen, sodass selbst Abgeordnete, die im Krankenbett – und womöglich sogar auf dem Sterbebett – lagen, dem Aufruf gefolgt waren, heute im Kapitol zu erscheinen. Die verhutzelte Gestalt in der Sänfte war der Abgeordnete Will Sharping, ein imposanter alter Liberaler und Idol der jüngeren Generation. Sharping ge627
noss selbst bei seinen Gegnern Respekt als Gentleman der alten Schule, jemand, der sich niemals für die unlauteren Taktiken hergeben würde, die heutzutage so weit verbreitet waren. Man spekulierte darüber, wie der Abgeordnete wohl abstimmen würde, weil er andere – und nicht nur Mitglieder seiner eigenen Partei – entscheidend beeinflussen konnte. Im Innern des Kapitols standen Laura und Donal auf der Besuchertribüne neben einer Steinsäule. Sie sahen zu, wie die Parlamentarier ihre Plätze einnahmen, und beobachteten, wie die Magier die Sänfte hereintrugen und irgendwie so zusammenfalteten, dass Sharping wie ein normaler Abgeordneter auf einem normalen Stuhl zu sitzen schien. „Dann wollen wir mal“, flüsterte Laura. „Ja.“ Donal war vor drei Tagen aus Illurium zurückgekommen, und seine Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt, als er mit Laura zu den Politikern hinunterging. Würde es wirklich bald vorbei sein? Der Parlamentspräsident verlas vor der Abstimmung noch einmal den Wortlaut des Gesetzesvorschlags. „… dass allen nichtmenschlichen und exmenschlichen Wesen ab sofort das Recht auf rechtlichen Beistand, auf Eheschließung und auf Arbeit entzogen werden soll …“ Die Stimme des Mannes stockte, als er Laura und Donal die Treppe herunterkommen sah. Wenn 628
der Präsident mit einem einzigen Blick auf Laura erkannte, dass sie ein Zombie war, hatte er vielleicht mehr von einem Magier an sich, als man ihm ansah. „… dass, äh, sämtliche Zurückbehaltungsrechte und Vermögenswerte in Staatseigentum übergehen sollen, die gegenwärtig von solchen …“ Laura blieb als Erste stehen. Hinter ihr öffnete Donal sein Jackett, sodass man seine LieblingsMagnus in ihrem neuen Schulterhalfter sah, einem Geschenk von Laura. Dann griff Laura in ihre Handtasche, holte ihre Polizeimarke heraus und ließ ihre Stimme ertönen: „Ich bin Commander Steele vom Police Department in Tristopolis. Und dies“ – sie steckte die Marke wieder in ihre Handtasche und holte ein mit purpurroter Tinte beschriebenes Blatt Pergamentpapier heraus – „ist ein Haftbefehl für Senator Blanz …“ Um sie herum erhob sich Gemurmel. Wusste diese Frau nicht, dass Senator Blanz verschwunden war? „Mit anderen Worten, ich nehme Sie fest.“ In der anderen Hand hielt sie bereits Handschellen, und jetzt lenkte sie ihre Schritte zu der verhutzelten Gestalt mit dem dünnen weißen Haar. Über ihr hustete der Parlamentspräsident. „Junge Dame, Sie begehen einen lächerlichen Fehler. Das ist ganz eindeutig der Abgeordnete Sharping, dessen …“ Aber dann trat Donal vor und packte den verhut629
zelten Mann am Handgelenk. Wie erwartet, hielt sein gestärktes Selbstwertgefühl – das wahre Geschenk der Hexe und der Knochen – jetzt stand. Er durchschaute die Illusion. Ich bin … Und zerstörte sie in den Augen anderer. … das Lied. Für die versammelte Staatsregierung schien es, als würde die Luft erzittern und zerreißen, bis der Mann, den Donal festhielt, stark und vital aussah und die Haare auf seinem Kopf zwar nach wie vor weiß, aber auch dick und buschig waren. „Wir haben Sie, Blanz.“ Ein orangefarbener Blitz fuhr knisternd durch den Sitzungssaal des Kapitols. Der Aufprall schleuderte Donal zurück. Da er durch eine Hexlar-Weste geschützt war, die extra zu diesem Zweck eingeflogene Bannbrecher verstärkt hatten, blieb er bei der Explosion unverletzt. Eine Sekunde lang dachte er, alles wäre noch in Ordnung, und die Operation verliefe wie geplant. Dann sah er, dass Senator Blanz einen Trick angewandt hatte, der eher ein Taschenspielerkunststück als echte Zauberei war. Er hielt Donals Magnus in der Hand, und sie war direkt auf Donal gerichtet. Nein … Dann wirbelte Blanz zu einem anderen Ziel herum und zog den Abzug durch. Donal machte einen Satz nach vorn. Er wusste bereits, was geschehen war. 630
Lauras Kopf zerplatzte in einem Sprühnebel aus Knochensplittern und flüssiger Gehirnmasse. NEIN! Und Donals Finger krallten nach Blanz’ Augen, als der Schuss ihn ins Herz traf. Der Knall kam später und schien weit weg zu sein, und alles wurde schwarz, als Donal starb …
631
DREIUNDDREISSIG … und erwachte, während die Sanitätsmagier noch an ihm arbeiteten. Er lag auf dem Steinboden des Sitzungssaals im Kapitol, und einige Abgeordnete starrten entsetzt auf das Schauspiel zu ihren Füßen. Donal versuchte, die Lippen zu bewegen. „Nicht sprechen“, sagte einer der Magier leise. „Das kommt schon wieder in Ordnung.“ Nein, das stimmt nicht. Er hob das Kinn und schaute auf seine offene Brusthöhle hinab. Zwei Magier werkelten in ihm herum; ihre Hände und Unterarme waren glitschig von schwarzer Flüssigkeit. Und in seiner Brust … Oh, Thanatos. … saß ein schlagendes, glitschiges schwarzes Herz … Oh, Tod. … aus dem Körper der Frau, die es nicht mehr brauchen würde. NEIN NEIN NEIN NEIN NEIN! Denn nicht einmal ein Zombie kann ohne Gehirn überleben, wenn sein Schädel in Splitter und nasse Fragmente zerplatzt ist. Nein … Drei Tage später stand Donal gegen jeden ärztlichen Rat am Grab, auf dunklem Heideland im Weitläufigen Tal, am Rand des Schwarzeisenwaldes. Die To632
tengräber schaufelten nasses Erdreich ins Grab, und der Quecksilberregen fiel unablässig. Die Priesterin und das Team der Spezialeinheit schauten zu. Hinter ihnen stand Polizeichef Vilnar – gegen den Rat seiner politischen Berater. Ganz gleich, was Laura in ihrem ursprünglichen Leben gewesen war, hier wurde ein Zombie beigesetzt … und Blanz mochte zwar diskreditiert sein, nicht aber seine Bewegung. Ihr Herz schlug stetig. Laura. Stetig, in Donals Brust. Ich liebe dich. Aber immerhin blieben ihr die Meiler erspart. So wie Donal, wenn die Reihe an ihn kam. O Thanatos … Denn untote Knochen sind stark, und ihr Lied ist wild. Unbezähmbar wild.
633