MYTHOR Treibgut der Strudelsee von Horst Hoffmann
Band 14
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Vorwort Liebe Leserinnen und Leser, immer weiter in den...
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MYTHOR Treibgut der Strudelsee von Horst Hoffmann
Band 14
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Vorwort Liebe Leserinnen und Leser, immer weiter in den Süden führen die Abenteuer des jungen Helden Mythor, in eine Welt, die sich gänzlich von den Ländern unterscheidet, die er bislang durchreist hat. Allein schon die seltsame Strudelsee und die zahlreichen Länder, die zum Shalladad gehören, zeigen, daß hier Gefahren auf den Kometensohn und seine Begleiter warten, die sie bislang nicht einmal ahnen konnten. Mit der Odyssee des jungen Helden orientiert sich die MYTHOR-Serie nicht zum erstenmal an Klassikern der Fantasy-Literatur wie dem »Herrn der Ringe«, der John R. R. Tolkiens Weltruhm begründete und bis heute das erfolgreichste schriftstellerische Fantasy-Werk ist. Beim »Herrn der Ringe« sind es die kleinwüchsigen Hobbits, die zusammen mit menschlichen Gefährten durch die vom Krieg geschüttelten Regionen Mittelerdes ziehen, bei der MYTHOR-Serie müssen Mythor und seine Freunde zahlreiche Gefahren bestehen. Wobei auch der »Herr der Ringe« die »Quest«, die Suche des Helden, nicht erfunden hat. Solche Suchen finden sich in praktisch allen Mythen der Menschheit, angefangen beim immer wieder gerne zitierten Gilgamesch-Epos bis hin zu allerlei Sagen der Griechen, Germanen oder auch mittelamerikanischer Völker. Der Kampf eines Helden gegen das Böse und für seine Bestimmung ist offensichtlich ein uralter Stoff, der immer wieder aufs neue fasziniert und interessiert. So auch bei MYTHOR – wobei der vorliegende Band mit einem neuen Feind aufwartet, der sich auf die Spur des jugendlichen Helden gesetzt hat. Geschrieben wurden die Romane »Treibgut der Strudelsee« sowie »Insel der Träumer« von Horst Hoffmann, während Ernst Vlcek »Schattenjagd« 3
verfaßte. Begleiten Sie nun Mythor bei seiner abenteuerlichen Reise zu den Gestaden der Strudelsee! Viel Vergnügen wünsche ich Ihnen schon jetzt. Klaus N. Frick
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Der Schatten des gleißenden Ringes aus kosmischen Trümmern, der die Welt in zwei Hälften teilt, beherbergt die Mächte der Finsternis. Aus dieser Dunkelzone greifen die gierigen Finger des Bösen nach der Welt der Menschen. Unter dem Befehl von Dämonenpriestern machen sich ihre Handlanger, die Caer, daran, den Norden der Welt zu erobern. Und das in einer Zeit, in der die Menschen auf den »Sohn des Kometen« hoffen, der dem Bösen standhalten kann. Die Nomadenstadt Churkuuhl, die auf den Rücken gewaltiger Tiere über die nördliche Welt getragen wird, geht an der Küste des Meeres der Spinnen unter. Aus ihren Trümmern rettet sich ein junger Mann namens Mythor, dessen Herkunft unbekannt ist. Nyala, die Tochter des Herzogs von Elvinon, bewahrt Mythors Leben, denn sie glaubt daran, daß er jener Sohn des Kometen sei, dessen Kommen vorausgesagt wurde. In einem unterirdischen Tempel erfährt er, daß er sich diesen Titel erst erkämpfen muß. Nachdem Mythor vor einer Invasion der Caer fliehen konnte, erfüllt er verschiedene Aufgaben, die ihm gestellt wurden: In Xanadas Lichtburg kann er das Gläserne Schwert Alton für sich gewinnen, in Althars Wolkenhort erringt er nach harten Kämpfen den Helm der Gerechten. So gerüstet macht sich der Sohn des Kometen auf die Suche nach weiteren Verbündeten, die er im Bereich der Zaubertiere zu finden hofft: ein Einhorn, einen Schneefalken und den Bitterwolf, der angeblich bei seiner Geburt geheult haben soll. Gemeinsam mit den Tieren erreicht Mythor das Land Ugalien, das ebenfalls von den Caer bedroht wird. Mythor lernt die aufgeputzten, selbstgefälligen Adligen mit ihren Ränkespielen kennen, und er erlebt den Beginn des Kriegszugs gegen die Caer. Rasch wird ihm jedoch klar, daß der Krieg durch Schwarze Magie entschieden wird. Seine Warnungen verhallen ungehört, und am Tage der Schlacht 5
geschieht genau das, was Mythor befürchtet hatte: Die Kämpfer des Lichts erleiden eine furchtbare Niederlage. Die Länder des Nordens können keinen Widerstand mehr leisten, und Mythor muß wie Tausende anderer Menschen nach Süden fliehen. Überall trifft Mythor auf die Sendboten des Bösen. Vier Todesreiter setzen sich auf seine Spur, um ihn endgültig aus dem Weg zu schaffen. Und zu allem Überfluß trifft Mythor einen alten Bekannten wieder – Luxon, der ihn schon einmal betrogen hat und der nun behauptet, selbst der Sohn des Kometen zu sein! Die beiden Rivalen wollen das Orakel von Theran in dieser Frage entscheiden lassen. Aber als Mythor zu dem legendären Orakel vordringt und seine Fragen stellt, erhält er keine brauchbaren Antworten. Also sucht er jenen Ort auf, an dem man ihn einst als fünfjähriges Kind aufgefunden und mitgenommen hat. Aus den Trümmern eines gewaltigen Meteorsteins soll er gestiegen sein. Doch dieser Stein stellt sich als tödliche Gefahr für den Sohn des Kometen heraus: Nach einer Berührung des Steins fällt Mythor in eine Todesstarre. Zwar gelingt es den Weisen Großen, ihn zu erwecken, doch das schattengleiche dämonische Wesen, von dem er vorübergehend besessen war, fordert einen hohen Tribut von seinen Helfern. Mit dieser Bedrohung im Nacken zieht der Kometensohn weiter zum Koloß von Tillorn, dem nächsten Fixpunkt des Lichtboten, an dem er sich mit seinen Freunden Nottr und Sadagar verabredet hat. Verfolgt von dem furchtbaren Schatten, von Drudins Sendboten und von feindlichen Vogelreitern, schließt sich Mythor einer Räuberbande an, um mit ihrer Hilfe den Koloß zu erreichen. In einem Höhlenlabyrinth unter den Splittern des Lichts, einer kleinen Inselgruppe in der Strudelsee, trifft er schließlich alte und 6
neue Freunde, und dort erwirbt er den Sonnenschild, den nächsten Ausrüstungsgegenstand, den der Lichtbote hinterlassen hat. Nun ist die Auseinandersetzung mit Luxon unabdinglich. Gemeinsam begeben sich die Gefährten in Luxons Heimatstadt Sarphand, um sich dem Richtspruch der Weisen Großen zu stellen. Dabei stellt sich heraus, daß Mythor tatsächlich der echte Sohn des Kometen ist, während Luxon der Titel des Shallads zusteht, eines weltlichen Herrschers, der sich selbst als den Nachfolger des Lichtboten betrachtet. Luxon ist zwar für den Moment geschlagen, reagiert aber schnell: Er entwendet erneut Mythors magische Waffen. Auch die restlichen drei Todesreiter haben Mythor gefunden, doch die Weisen Großen verhelfen dem Sohn des Kometen zur Flucht – als Galeerensklave auf dem Weg nach Logghard, in die Ewige Stadt des Lichts…
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Horst Hoffmann
TREIBGUT DER STRUDELSEE Oblak versuchte für ein, zwei Herzschläge, durch wildes Rudern mit den Armen sein Gleichgewicht wiederzufinden, aber die Bohlen der Ruderbänke waren naß, und da war keiner unter den Ruderern, der ihm eine Hand hätte reichen können. Im Gegenteil: Das letzte, was Oblak von den Männern sah, war der unbarmherzige Ausdruck auf ihren wettergegerbten Gesichtern. Die Peitsche noch in der Rechten, verlor er endgültig den Halt. Es bedurfte keines Stoßes mehr, um ihn mit einem gellenden, langgezogenen Schrei in die Tiefe stürzen zu lassen. Die Gischt spritzte nach ihm. Die Schaumkronen der aufgewühlten Wasser schienen weiße, perlende Finger auszubilden, um ihn zu greifen und erbarmungslos zu sich herabzuziehen. Schreiend und wild um sich schlagend, klatschte Oblak in die übermannshohen Wellen, die über ihm zusammenschlugen. Der dicke Pelz seiner Kleidung sog sich voll und wurde zu einem tödlichen Gewicht, das ihn unbarmherzig in die Tiefe zog. Oblak kämpfte um sein Leben. Noch hatte er Kraft in den Armen und Beinen. Noch war Luft in seinen Lungen. Er kam prustend an die Oberfläche. Für Augenblicke war sein Kopf über Wasser. Oblak sah Jejed und ein paar seiner Männer zwischen den Ruderern erscheinen. Seile wurden zu ihm herabgeworfen, doch bevor er eines greifen konnte, rollte eine weitere Welle über ihn hinweg, und viel zu schnell zog die 8
Gasihara an ihm vorbei. Wieder stieß sein Kopf aus dem Wasser. Oblak kämpfte, doch seine Bewegungen waren zu hastig. Die Angst griff mit eisigen Klauen nach seinem Verstand. Über ihm waren die langen Ruder, doch keines lag tief genug, um sie zu erreichen. Erneut tauchte Jejed auf und brüllte etwas, das vom Toben der Wasser geschluckt wurde. Wieder flogen starke Seile herab und wurden von der Strömung fortgerissen. Oblak schrie, bis er Wasser schluckte. Die Schaumkronen überspülten ihn. Die Stiefel und das Wams zogen an ihm. Er schluckte das Wasser in seinem Mund hinunter und hielt die Luft an, bis ihm die Lungen wie Feuer brannten. Oblak spürte, wie seine Kräfte erlahmten. Einmal noch schob sich sein Arm aus den Fluten. Dann riß ihn ein Strudel, der sich urplötzlich um ihn herum bildete, endgültig in die Tiefe. Oblaks Augen waren weit offen. Glitzernde Blasen perlten an ihm empor, dem Licht der Sonne entgegen, von dem es ihn weiter und weiter fortzog. Immer dunkler wurde es um ihn herum, und er klammerte sich an eine letzte Hoffnung. Wenn er den Kiel der Fähre erreichen konnte… Er machte einige verzweifelte Schwimmzüge in die Richtung, in der er jetzt den dunklen Schatten des Schiffsrumpfs sah. Der Strudel ließ ihn nicht los. Oblak verausgabte sich. Der Schmerz in den Lungen wurde unerträglich. Schwärze breitete sich um ihn herum aus. Seine Lungen mußten platzen! In Panik riß der Seefahrer den Mund weit auf. Keine Strömung brachte ihn wieder nach oben. Es zog ihn weiter und weiter hinab. Alles Leben war aus Oblaks Körper gewichen, als der Strudel ihn losließ. Doch seine Augen waren offen, und sie sahen. Was zunächst nur ein schwaches rotes Glühen gewesen war, wurde heller und zersplitterte in Tausende heller Lichtfunken, 9
die den Leblosen umtanzten und dann in ihn eindrangen. Vielleicht war es ein Unfall gewesen, wie er auf jedem Meer der Lichtwelt vorkam, wenn ein Seemann, noch dazu vom Wein oder anderen Mitteln berauscht, sich zu nahe an den schäumenden Abgrund unter der Reling wagte. Ein heftiges Schaukeln, ein plötzlicher Wasserschwall reichte aus, um Leichtsinnige über Bord zu spülen. Und auf den Ruderbänken der Lichtfähren gab es keine schützenden Begrenzungen, nichts, an dem ein Mann sich hätte festklammern können. Sie waren zu beiden Seiten der mächtigen, bauchigen Schiffe außerhalb des stark nach außen gewölbten Schiffskörpers angebracht. Nur wer nicht bei klarem Verstand war, wagte sich so weit vor, wie Oblak es getan hatte. Und er war rasend gewesen, wie immer, wenn er zuviel vom Tabak der Mondblume gekaut hatte und die Männer hinter den langen Ruderstangen zu noch größerer Anstrengung antreiben wollte – mit Peitsche und Fäusten. Eine einzige unkontrollierte Bewegung auf den glitschigen Bohlen genügte oft schon, um ein Menschenschicksal zu besiegeln. Aber auch ein schneller Tritt oder das Vorschnellen einer Faust. Niemand an Bord der Gasihara sollte je erfahren, was sich wirklich zugetragen hatte. Jene, die es als einzige wissen mußten, preßten die Lippen aufeinander und schwiegen eisern, auch als Jejeds Peitsche auf sie herabzuckte. »Du, du und du!« Der Kapitän der Lichtfähre schlug unbarmherzig zu, bis den drei Männern hinter der Ruderstange das wenige, was sie am Körper trugen, in Fetzen vom Leib hing. Schwer atmend ließ er die Peitsche sinken und winkte zwei Aufseher heran. »Bringt sie fort!« befahl er mit sich überschlagender Stimme. »Ich werde mir überlegen, wie sie für Oblaks Tod büßen sollen!« 10
Kräftige Hände lösten die ledernen Riemen, mit denen die Ruderer an die Stangen gebunden waren. Haßerfüllte Blicke schlugen dem Kapitän entgegen, und noch einmal zuckte Jejeds Peitsche durch die Luft und riß blutende Striemen ins Fleisch der drei, die von ihrer Holzbank gerissen und auf Deck geführt wurden. »Und ihr dahinten, rudert weiter! Es gibt nichts zu sehen!« Die langen Ruder, vierzig auf jeder Seite der Gasihara, tauchten ins Wasser. Zwanzig Dutzend Männer, unter ihnen halbe Kinder und Greise, legten sich in die Riemen und bissen die Zähne zusammen. Jejed sah das Feuer in ihren Augen und spürte den Haß, der aus ihnen sprach. Nichts würden sie lieber sehen, als daß er den gleichen Fehler beging wie der einzige Mann an Bord, der Jejed etwas bedeutet hatte. Doch der Kapitän stand breitbeinig auf den nassen Bohlen und wartete, bis von der Mannschaft drei neue Männer herbeigebracht und an die Ruderstangen gebunden wurden. Wie versteinert wirkte er, ein dunkelhäutiger, fast blauschwarzer Hüne, gut sechs Fuß groß und bepackt mit zuckenden Muskelpaketen. Der Brustpanzer aus Echsenleder hob und senkte sich unter schweren Atemzügen. Aus dem gleichen widerstandsfähigen und phantasievoll gemusterten Material bestanden der Waffenrock und die Arm- und Beinschienen des Moronen. Nur kurz blickte Jejed hinüber zum einzigen Deckaufbau, der ihm und Rachamon als Unterkunft diente. Der Seemagier stand mit unbewegter Miene vor dem Eingang, die Arme vor der Brust verschränkt. »Wollt ihr wohl rudern!« Jejed ließ die Peitsche wahllos auf die Rücken der Sklaven niedersausen. Er ging die langen Reihen bis zur Mitte des riesigen Schiffes ab und blieb bei drei Ruderern stehen, deren Körper sich im Takt der Trommeln spannten, langsam nach hinten bogen und wieder nach vorne 11
schoben. »Du da!« Jejed stieß den Knaben, der in der Mitte zwischen zwei kräftigen Legionären saß, mit dem Stiel der Peitsche an. »Was ist los mit dir?« Der Kopf des Knaben fuhr herum. Große Augen blickten Jejed angstvoll an. »Hast du keinen Mund, um zu reden? Was ist? Mir scheint, du läßt die anderen für dich arbeiten!« »Es ist nichts«, sagte da jener der beiden Kräftigeren, der ganz außen auf der Ruderbank saß, zwei Schritte vom schäumenden Abgrund entfernt. Das Langruder knirschte und ächzte in der Halterung. »Er rudert wie wir. Er hatte sich nur erschrocken, als Oblak…« »Habe ich dich gefragt?« fuhr Jejed den Krieger an. »Willst du mir weismachen, ein einziger von euch Halunken hätte Mitleid mit Oblak gehabt? Ihr…« »Hatte er Mitleid mit uns?« Die Peitsche zuckte in die Höhe. Für einen Augenblick sah es so aus, als wolle der Krieger seine Hände vom Ruderholz losreißen, um nach dem Riemen zu greifen, der auf sein Wams niederfuhr. »Du wirst aufsässig, eh?« schrie Jejed. »Du willst mit Zirpe Bekanntschaft machen? Warte, ich…« »Gnade, Herr!« rief der Knabe. Doch bevor Jejed seine Drohung wahr machen und den Finger unter die rechte Armschiene schieben konnte, hallte die Stimme des Magiers über das Deck. »Jejed!« Der Dunkelhäutige fuhr herum. Zorn blitzte in seinen Augen, als er den Ruderern einen letzten Blick zuwarf. »Ich komme wieder«, knurrte er, bevor er der Aufforderung Rachamons folgte. »Verlaßt euch drauf!« Mit schweren Schritten stieg er aufs Deck und verschwand mit dem Magier im Aufbau. Viele Augen sahen ihnen nach, 12
denn es bedeutete nichts Gutes, wenn der Kapitän und der Seemagier sich zurückzogen, um Dinge zu bereden. Und als ob Oblaks Tod in den Wirbeln der Strudelsee ein Omen gewesen wäre, schoben sich von Osten her dunkle Wolken über den Himmel und verfinsterten die Sonne. Doch noch machte das Schiff ruhige Fahrt, noch trieb es relativ friedlich in einer der vielen Nebenströmungen der Strudelsee in Richtung Süden. Dort, irgendwo in der Ferne, lag das Ziel der fünfhundert Legionäre aus allen Teilen der Lichtwelt, die in Sarphand den Wilden Fängern in die Arme gelaufen waren: Logghard, die Ewige Stadt des Lichtes. Dorthin waren sie unterwegs, um jene zu verstärken, die seit nunmehr 249 Sommern einen aussichtslos erscheinenden Kampf gegen die Mächte der Finsternis fochten.
Der Knabe zitterte. Seine Hände hatten nicht mehr die Kraft, die Ruderstange zu umfassen. Scheu blickte er den Mann neben ihm aus seinen großen Augen unter dem bis auf die Brauen reichenden weißen Tuch an. Es war mehrere Male um seinen Kopf geschlungen. Weiß war auch das weite, bis zu den Fußknöcheln reichende Gewand, das in der Körpermitte nur durch einen Strick zusammengehalten wurde. Farin, wie der Halbwüchsige sich nannte, hatte sich standhaft geweigert, es abzulegen, obwohl es für einen, der an die Ruder mußte, denkbar unbequem war. Die Mannschaft Jejeds hatte ihm schließlich seinen Willen gelassen und gelacht. Wenn er sich unbedingt zu Tode schwitzen wollte… »Sei ruhig«, sagte der dunkelhaarige Krieger, legte sich in die Riemen und biß die Zähne aufeinander. »Er wird es vergessen.« »Aber du… Er hätte dich töten können!« 13
Der Knabe flüsterte es, und doch hatte seine Stimme wieder jenen seltsamen Klang, als schäme er sich seiner Jugend und bemühe sich, wie ein Mann zu sprechen. »Er braucht uns«, knurrte nun der, der an Farins anderer Seite saß, ein Mann, der seine besten Jahre hinter sich hatte, mit fast weißem Haar und Vollbart. »Ruh dich aus, Junge, und wenn du kannst, hilf uns wieder. Solange schaffen wir es auch allein.« Der Dunkelhaarige schenkte ihm einen dankbaren Blick. Farin aber drehte die Hände so, daß er die blutenden, aufgerissenen Innenflächen sehen konnte, und schüttelte den Kopf. Nur mit Mühe hielt er die Tränen zurück. »Ich will nicht, daß ihr meine Bürde auf euch nehmt. Es war nur eine kurze Schwäche.« »Keiner von uns nahm das hier freiwillig auf sich«, sagte der Dunkelhaarige. »Nun leg die Hände auf die Stange und tu so, als ob du ruderst, bevor sie dich doch noch fortholen. Bald kommt die Ablösung.« Der Knabe wollte widersprechen, senkte dann aber den Blick und tat wie ihm geheißen. »Du hast mit Absicht den Zorn des Kapitäns auf dich gelenkt«, flüsterte er nach einer Weile zwischen den Ruderschlägen. »Du wolltest mich beschützen. Warum?« »Weil wir auf der Gasihara nur überleben können, wenn einer dem anderen hilft, Farin. Wir sind fünfhundert Mann. Jejed hat zwanzig Kerle, Menschenschinder allesamt.« »Jetzt einen weniger«, knurrte der Weißhaarige. »Trotzdem genug, um uns zu knechten, denn ihre Hände sind nicht gefesselt und sie haben Peitschen.« »Und einen Magier, vor dem alle zittern«, fügte der andere hinzu. Farin sah sie abwechselnd an. Dann blieb sein Blick auf dem Dunkelhaarigen haften, auf den hervortretenden Muskeln 14
seiner kräftigen Arme, auf seinen Lippen, die zu einem schmalen Spalt wurden, wenn er sich nach hinten legte und das Ruder zog, auf den Augen, aus denen Stolz und Unbeugsamkeit sprachen. »Sage mir deinen Namen«, bat der Knabe. Seine Hände lagen auf der Stange und zogen mit daran. Er war nicht bereit, sich zu schonen, und der Zeitpunkt seines Zusammenbruchs zeichnete sich ab. »Du sollst doch nicht…!« »Sage mir, wie man dich nennt«, wiederholte Farin. »Mythor«, antwortete der Krieger. »Ein… seltsamer Name.« »Achtung!« Einer von Jejeds Männern war bei ihnen stehengeblieben und ließ die Peitsche knallen. »Redet nicht! Das könnt ihr tun, wenn wir am Ziel sind!« Es hörte sich nicht so an, als glaube der Seefahrer daran, daß die fünfhundert Legionäre dieses Ziel jemals erreichen würden.
Findelkind, Gejagter, Krieger, König und nun Legionär -einer von fünfhundert Unfreiwilligen auf der Gasihara. Mythors junges Leben kannte viele Stationen, denen offenbar nur eines gemeinsam war: Jede von ihnen hätte seine letzte sein können. Mythor sah hinaus aufs relativ ruhige Meer. War Luxon, der Mann mit den tausend Namen und tausend Gesichtern, ebenfalls schon auf dem Weg nach Süden? An Bord einer anderen Galeere? Oder gar hier, als einer der fünfhundert Legionäre? Der Sohn des Kometen glaubte nicht daran. Einer wie Luxon, dem das Glück sprichwörtlich in den Schoß fiel, würde eine andere, weitaus angenehmere Möglichkeit finden, die Strudelsee zu überwinden oder ganz zu umgehen. 15
Alles hatte er ihm geraubt, alles außer seinen drei Tieren, die König Lerreigen von Leone mit sich genommen hatte, um sie wieder zum verwunschenen Tal zu bringen, wo sie, dessen war Mythor sicher, auf seine Rückkehr warten würden. Ansonsten besaß Mythor nur noch das, was er am Leibe trug, wozu er auch Fronjas Bildnis zählte, das sich ihm nur noch im Spiegel zeigte. Aber es war da, es verband ihn mit ihr. Niemand konnte ihm dies wieder nehmen. Glaubte Luxon denn tatsächlich noch immer daran, auserwählt zu sein, nachdem er, Mythor, nun endgültig durch die Großen als Sohn des Kometen anerkannt worden war? Teilte er schon den Wahn des Shallad Hadamur, die Inkarnation des Lichtboten zu sein? Mythor unterdrückte einen Fluch und biß sich auf die Lippen. Er sollte es aufgeben, nach Luxons Motiven zu forschen. Jedesmal, wenn er geglaubt hatte, den Glücksritter durchschaut zu haben, erlebte er eine Enttäuschung. Natürlich war Luxon auf Macht aus, aber gab es eine größere weltliche Macht, als sie im Amt des Shallads vereinigt war? Luxon dürfte es nicht schwerfallen, genügend Männer zusammenzutreiben, um mit ihnen den Kampf um den Thron aufzunehmen. Was also wollte er noch? Warum gab er sich nicht endlich zufrieden? Nein! dachte Mythor. Ein Mann wie Luxon würde nie zufrieden sein, ganz egal, was er erreicht hatte. Es trieb ihn weiter. Und er ging über Leichen. Mythor schauderte, als er daran dachte, daß der Rivale ihn zum zweitenmal Drudins Todesreitern zugetrieben hatte. Wäre der Stumme Große Vierfaust nicht Zeuge seiner Gefangennahme gewesen, Mythor hätte sich über kurz oder lang in Gianton wiedergefunden. So aber konnte Vierfaust im letzten Moment die echten Fänger auf den Plan rufen und die finsteren Pläne der Dämonischen durchkreuzen. 16
Dafür befand er sich jetzt mit fünfhundert Leidensgenossen auf dem Weg nach Süden. Nur der Gedanke daran, so zur Ewigen Stadt zu gelangen, dem letzten der sieben Fixpunkte des Lichtboten, ließ Mythor immer wieder stillhalten und jede Demütigung über sich ergehen. Wenn der Weg dorthin tatsächlich nur über die Strudelsee führte, war er auf der Gasihara, die wie alle Lichtfähren nach einer der vielen Töchter des Shallad Hadamur benannt war, vermutlich sicherer als auf einem kleineren Schiff. Rachamon, der Seemagier, mußte sein Handwerk, Wind und Wetter günstig zu beeinflussen, schon verstehen, wenn Jejed sich mit ihm einließ. Der Kapitän mied ihn wegen seiner unerträglichen Überheblichkeit, wo und wann er nur konnte. Das täuschte nicht darüber hinweg, daß die beiden mit Hilfe der zwanzigköpfigen Mannschaft ein Schreckensregiment an Bord des Schiffes führten. Mythor zog kräftig am Ruder und merkte, daß der Knabe an seiner Seite wieder mitzog. Der Seefahrer war weitergegangen, nachdem er ihn eine Weile lang spöttisch gemustert hatte. »Laß gut sein, Farin!« flüsterte der Sohn des Kometen. »Es geht schon!« Der Weißhaarige lachte unterdrückt. Schwarze Augen sahen Mythor unter buschigen Brauen an. »Er ist stur wie ein Yarl, Mythor. Er wird schon noch merken, was er davon hat.« »Ja«, murmelte Mythor. »Wenn sie ihn fortholen.« »Für einige ist die Arbeit auf Deck nicht mal die schlimmste«, sagte der Alte, der über die Kräfte eines Kriegers verfügte. »Der Wahrsager ist doch dein Freund, oder? Ihm scheint es dort zu gefallen.« »Sie ist menschenunwürdig«, brummte Mythor. Doch selbst den Tätigkeiten, die dort auszuführen waren, schien der Steinmann noch ihre guten Seiten abgewinnen zu 17
können. Mythor drehte den Kopf so, daß er zum Deck hinaufsehen konnte. Manchmal erschien Sadagar dort an den Begrenzungsseilen und machte sinnlose Gesten, neuerdings in Begleitung eines noch seltsameren Kauzes, dessen Namen Mythor nicht kannte. In der Regel zerrten die Aufseher sie schnell wieder zu ihren Plätzen zurück. Einige von ihnen mochte der Steinmann mit seinen Kunststückchen beeindrucken, Jejed und den Magier bestimmt nicht. Völlig unzumutbare Zustände herrschten an Bord des Schiffes, das für sich in Anspruch nahm, ein Werkzeug des Lichtes zu sein. Die Legionäre waren entweder an die Ruder gefesselt oder wie Tiere unter Deck zusammengepfercht, wo sie darauf warteten, die Rudernden beim dreifachen Schlagen des Gongs abzulösen. Wer nicht kräftig genug dazu war, mußte auf Knien das Deck säubern oder noch niedrigere Tätigkeiten ausüben, sich von Jejeds Leuten treten und verhöhnen lassen. Farin gehörte ganz gewiß nicht zu den Kräftigen, wie außer ihm Dutzende von Knaben, die sich Beine und Gesäß auf den harten, roh gezimmerten Bänken wund scheuerten oder die Hände blutig ruderten. Und doch gaben sie alles, um nicht zu denen zu gehören, an denen die Mannschaft ihr Mütchen kühlte. Hier, auf den Ruderbänken, saßen sie zwischen starken Männern. Sie mußten bis zur Erschöpfung arbeiten, doch sie hatten das Gefühl, nicht allein zu sein. Tatsächlich schien die unbarmherzige Härte des Kapitäns die Männer, die den Wilden Fängern in die Falle gegangen waren, zu einer verschworenen Gemeinschaft zusammenzuschweißen, ganz egal, ob sie Gauner oder ehrliche Leute gewesen waren. Hier waren sie nur noch Sklaven, von denen jeder wußte, daß er ohne die anderen ein Nichts war. Vielleicht war das auch Jejeds Ziel, dachte Mythor. Der Kapitän aus dem fernen Land Moro-Basako, dessen Bewohner 18
sich Moronen nannten, hatte nur das zu tun, was man ihm an Land aufgetragen hatte. Er war dafür verantwortlich, daß die Kämpfer für die Lichtwelt nach Logghard gelangten, und zwar nicht als Krüppel. Wie lange waren sie nun schon auf See? Mythor suchte vergeblich nach der Sonne. Die dunklen Wolken hatten mittlerweile das gesamte Firmament überzogen. Erste Regentropfen klatschten auf die Planken. Aber die Sonne mußte ihren höchsten Punkt längst erreicht haben, und als die Gasihara von Sarphand aus in See stach, war es früher Morgen gewesen. Noch schien Rachamons Magie zu wirken. Doch die Wellen schlugen bereits mit mehr Wucht gegen den bauchigen Schiffsleib, und weißer Schaum spritzte bis zu den Ruderern hinauf. Mythor dachte flüchtig daran, wie er und die anderen unfreiwilligen Legionäre an Bord geschleppt worden waren. Da war von diesem Gefühl der Zusammengehörigkeit noch nicht viel zu spüren gewesen. Im Gegenteil, viele hatten sich abgesondert oder versucht, Streit vom Zaun zu brechen. Jene, die sich freiwillig in die Hände der Wilden Fänger begeben hatten, ließen alles mit sich geschehen. War es Jejeds Absicht, durch Peitsche und Faust dieses Zusammengehörigkeitsgefühl erst zu schaffen, um eine Truppe nach Logghard zu bringen, in der jeder für den anderen einzustehen gelernt hatte? Mythor wurde aus seinen Gedanken gerissen, als Farin sich neben ihm aufbäumte und mit weit offenem Mund nach Luft rang. Das dunkle Gesicht des Knaben hatte eine aschfahle Färbung angenommen. Die großen Augen rollten in den Höhlen. »Hör auf zu rudern!« flüsterte Mythor. »Verdammt, Junge, du bringst dich um!« 19
Farins Kopf sank nach unten. Mythor lief der Schweiß in die Augen. Es brannte, und er hatte keine Hand frei, um sich das Gesicht abzuwischen. Der Regen war stärker geworden und ließ die Haare an der Haut festkleben. Das nasse Wams wurde schwer. »Farin!« Der Knabe gab keine Antwort. Er begann leise zu schluchzen. Mythor stieß ihn leicht mit dem Ellbogen an und vergaß für einen Moment das Rudern. Hilfesuchend sah er zum Weißhaarigen hinüber und erstarrte. Jejed stand vor ihnen. »Ich wußte es doch«, sagte der Kapitän mit unverhohlenem Spott, die Peitsche in der Rechten und die Finger der Linken verdächtig nahe an der Armschiene. Ohne sich umzudrehen, rief er zwei seiner Männer herbei. »Bindet den Burschen los und schafft ihn auf Deck!« befahl er. »Und ihr beiden anderen haltet besser den Mund!« Kurz blitzte es in Mythors Augen auf. Doch er versuchte nicht noch einmal, Farin das Deck zu ersparen. Dort würde er gedemütigt werden – hier war ihm der Tod gewiß. Der Knabe aber schrie und wehrte sich wie eine Wildkatze, als die Seefahrer ihn losbanden und von der Bank zerrten. Halb hing er in ihrem Griff, strampelte mit den Beinen und trat um sich, bis er vor Jejed auf die Knie gedrückt wurde. Der Morone lachte dröhnend. »Sieh an, der Kleine ist übermütig!« Er packte das Tuch und riß Farin mit einem Ruck den weiten Umhang vom Leib. Farin schrie gellend auf. Vor Überraschung machte Jejed einen Schritt zurück. Mythor glaubte, nicht richtig zu sehen. Hinter und vor ihm vergaßen die Männer das Rudern. Einige lachten rauh, andere fluchten. Von weiter hinten kam ein entsetzter Schrei. »Ein Weib!« stieß einer der Seefahrer hervor. »Wir haben ein Weib an Bord!« 20
Mythor starrte auf den leeren Platz neben ihm, auf die Ruderstange, dann wieder blickte er Farin an. Irgend jemand schrie etwas von einem Fluch, der nun auf der Lichtfähre liege. Der »Knabe« trug unter dem Umhang, der ihm jetzt in Fetzen um die Beine baumelte, nur ein dünnes Hemdchen und eine bis zu den Knien reichende Hose aus Wolle. Die Brüste waren noch flach, die Hüften die eines jungen Mädchens. Mythor schätzte Farins Alter auf sechzehn, höchstens siebzehn Sommer. Die kleinen Hände zu Fäusten geballt und Tränen der Wut und Verzweiflung in den Augen, stand sie nun vor Jejed und blickte ihn trotzig an. Und dem Moronen, der noch nie viel Federlesens gemacht hatte, schien die unerwartete Entdeckung die Sprache verschlagen zu haben. Dann grinste er. »So, du hast dich also an Bord geschmuggelt, wohl als Junge verkleidet, um den Fängern in die Arme zu laufen!« Wieder lachte er schallend. »Hast wohl einen Liebsten hier, eh? Sag schon, Kleine, wer ist es?« Sie brauchte nicht zu antworten. Wieder erklang von den weiter hinten gelegenen Bänken ein Schrei, und als Mythor sich umwandte, sah er einen dunkelhäutigen Recken, kaum viel älter als Farin, wie er sich aufgerichtet hatte und an den Handfesseln zerrte. »Er ist es?« fragte Jejed grinsend. »Dann soll er deinen Platz einnehmen! Wahrhaftig, du bist auf Deck besser aufgehoben!« Was er damit meinte, daran ließen seine Blicke kaum einen Zweifel. Auf Befehl ihres Kapitäns machten sich zwei Seefahrer daran, den Jüngling von seiner Bank zu holen. »Golad!« schrie das Mädchen entsetzt. Der Recke hatte nun die Hände frei und schlug einen der 21
Aufseher nieder. Bevor der zweite seine Überraschung verdaut hatte, lag auch er zwischen den Ruderern. Golad sprang mit einem Satz über ihn hinweg und stürmte auf Jejed zu. So schnell, daß Mythor Mühe hatte, der Bewegung zu folgen, fuhr die linke Hand des Moronen zur rechten Armschiene. Als er sie wieder zurückzog, saß ein fingerlanges Insekt mit messerscharfen Scheren auf seinem Handrücken. Blitzschnell schlang er den Arm um Farins Hals. »Noch einen Schritt, und du kannst dir ein neues Liebchen suchen!« donnerte er den Jüngling an. Wie vom Blitz getroffen blieb Golad stehen. Farin weinte leise und sah ihn flehend an. Mythor erschauerte und hielt den Atem an. Das also war Zirpe, mit der Jejed gedroht hatte. Ein Tier, das er offenbar ständig unter der Armschiene trug, klein und tödlich. »Laß sie los!« rief Golad mit bebender Stimme. Hinter ihm sprangen gleich vier Seefahrer auf die Ruderbank und drückten ihm ihre Dolche in den Rücken. »Was glaubst du, was ich bin?« fragte der Morone höhnisch. »Ein Kindermörder? Ihr wird schon nichts geschehen, wenn ihr vernünftig seid, mein Junge.« Jejeds rechte Hand fuhr durch das pechschwarze Haar des Mädchens und löste es, daß es ihr lang über die samtbraunen Schultern fiel. »Jedenfalls nichts, was sie nicht verträgt.« »Bei allen Göttern«, stieß Golad schwer atmend hervor. »Dafür wirst du sterben, Morone!« Die Ohnmacht des Jünglings, das Entsetzen in Farins Augen, die wie erstarrt sitzenden Ruderer, all das schien Jejed köstlich zu amüsieren. Er gab seinen Männern einen Wink, und sie schleppten Golad zum frei gewordenen Platz zwischen Mythor und dem Weißhaarigen. Als er angebunden war, ließ der Kapitän das Insekt wieder unter der Armschiene verschwinden. 22
»Schafft sie nach oben!« befahl er seinen Männern. »Ich schwöre es dir, Morone!« schrie Golad. »Dafür…« »Rudere!« Die Peitsche fuhr auf den Rücken des Jünglings herab, zwei-, dreimal. Golad biß die Zähne zusammen und blickte Jejed haßerfüllt an. »Auch ihr anderen! Habe ich etwas von Aufhören gesagt? Das Spektakel ist vorbei! Rudert!« Noch einmal knallte die Peitsche. Dann folgte der Kapitän den anderen aufs Deck. Einige seiner Männer blieben zurück und sorgten dafür, daß sich die Legionäre gehörig ins Zeug legten. »Ich bringe ihn um«, knurrte Golad, während sich seine Muskeln spannten. »Dann sieh zu, daß du selbst am Leben bleibst«, flüsterte Mythor. Zum erstenmal sah Golad ihn an. Er hatte einen Fluch auf den Lippen, doch irgend etwas im Blick des Kriegers ließ ihn verstummen.
»Aß und Baß… na und?« Steinmann Sadagar und Chrandor hatten sich wieder einmal von der Arbeit davonstehlen können und hockten zwischen etlichen großen Holzkisten im Heck des monströsen Schiffes. Nur hier fanden sich solche Versteckmöglichkeiten, ansonsten war das gesamte Deck so gut wie leer. Es gab keine Segel, also auch keine Masten. Die zwanzig Dutzend Legionäre, die die Ruderer bald ablösen sollten, waren unter Deck zusammengepfercht. Hier oben standen nur die skelettartigen Aufbauten, in denen die Vorräte und die ledernen Schlafsäcke hingen, in die die Mannschaft sich zum Ruhen einrollen konnte. Ein Stück davor befand sich die Unterkunft für den 23
Magier und den Kapitän. Sadagar und Chrandor hatten sich unter eine quer auf zwei anderen liegende Kiste verkrochen. Immer hielt einer von ihnen Ausschau nach Jejeds Männern, die die Kinder und Altersschwachen auf Deck traktierten und sie vielleicht vermissen würden. Die Bürste, mit der er die Planken schrubben sollte, war noch in der Hand des Steinmanns. »Na und?« fragte Chrandor bissig. »Das ist alles, was du dazu sagst? Du mit deinem angeblichen Schutzgeist?« »Der Kleine Nadomir ist kein angeblicher Schutzgeist!« versetzte Sadagar und spielte den Entrüsteten. »Du wirst ihn schon noch kennenlernen!« »Dann zeig ihn mir, Angeber! Beschwöre ihn!« Sadagar winkte ab. »Doch nicht für jeden hergelaufenen Hanswurst.« »Hanswurst!« Chrandor stieß die Luft aus. »Ich! Ich sage dir, es ist noch nicht sehr lange her, da zitterten die Seefahrer der Strudelsee vor Chrandor! Es gab keinen gefürchteteren Piraten als mich!« »Dann müssen die Piraten hier allesamt harmlose Gesellen gewesen sein.« Chrandor musterte den Steinmann eine Weile schweigend. Der Regen prasselte auf die Kisten. Erste Blitze zerrissen das Halbdunkel des Himmels, und von Osten her rollte Donner über das Meer. Die Aufseher brüllten Befehle. Chrandor war nicht viel größer als Sadagar. Unzählige Narben verunstalteten sein Gesicht, dessen Zierde eine übergroße Nase war, über der die rostroten Brauen zusammengewachsen waren. Chrandors nasse Haare standen ihm weit vom Kopf ab. Auch der Regen hatte sie nicht zu bändigen vermocht. Ein Krausbart verstärkte noch den Eindruck eines wilden Mannes, genau wie die abenteuerliche, bunte Kleidung, die der ehemalige Pirat am Leibe trug. 24
»Sieh her!« sagte er schließlich. »Meine Hände wurden mir abgeschlagen, als die Schergen des Shallads mich erwischten.« »Das ist kein Beweis. Jedem kleinen Dieb, der sich fangen läßt, schlägt man die Hände ab.« »Sadagar, du bist ein sturer Hund!« »Und du ein Aufschneider, der sich durchs Leben schwindelt! Wenn sie dir die Hände abgeschlagen haben, warum bewegen sie sich dann?« Chrandor grinste und hob die Arme mit den bis zu den Ellbogen reichenden Stulpenhandschuhen. Und tatsächlich bewegten sich alle zehn Finger wie winzige Schlangen, als er sie dem Steinmann entgegenstreckte. »Aß und Baß, meine linke und meine rechte Hand. Oh, es waren derer viele, die ihr Geheimnis erfahren wollten, Freund.« »Humbug«, wehrte Sadagar großspurig ab. »Fauler Zauber. Dir hat keiner die Hände abgeschlagen. Und mit deinen seltsamen Bewegungen beeindruckst du mich auch nicht.« »Nein, Freund Steinmann?« Chrandor kicherte. »Wir werden sehen.« Liebevoll ließ Chrandor eine Hand die andere streicheln. Es war gerade so, als schmiegten sich die Finger aneinander. Obwohl Sadagar noch nie einen Menschen gesehen hatte, der dermaßen gelenkig war, winkte er, scheinbar unbeeindruckt, ab. In Wirklichkeit war er aber mehr als neugierig. »Freund Chrandor, du gefällst mir. Aber du solltest nicht soviel dummes Zeug reden.« Tatsächlich war es Freundschaft auf den ersten Blick gewesen, als die beiden sich kurz nach dem Auslaufen der Gasihara zum erstenmal begegnet waren. Beide hatten es geschafft, sich vor den Ruderbänken zu drücken. Sadagar war das nicht sonderlich schwergefallen, denn er war wahrhaftig nicht der Kräftigsten einer. Aber Chrandor…? 25
Jetzt begann der Bärtige sogar, mit seinen Händen zu reden! Sadagar schüttelte in gespielter Verzweiflung den Kopf und streckte diesen dann aus dem Versteck, um nach Jejeds Männern Ausschau zu halten. Noch schien man sie nicht zu suchen, und mit etwas Glück sollte es ihnen gelingen, sich wieder unter die auf dem Deck Kriechenden zu mischen, ohne daß ihre selbstverordnete Ruhepause bemerkt worden wäre. »Wir müssen zurück«, sagte der Steinmann. »Natürlich, natürlich«, nickte Chrandor. »Damit du dich drücken kannst.« »Wovor?« »Den Schutzgeist zu beschwören.« Sadagar seufzte gequält. »Was ein echter Schutzgeist ist, der läßt sich nicht wegen nichts beschwören!« »Natürlich, natürlich.« »Natürlich, natürlich!« äffte der Steinmann Chrandor nach. »Und außerdem würdest du ihn gar nicht sehen können. Das kann nur ich!« »Aber natürlich, Freund.« Chrandors Augen wurden zu zwei schmalen Schlitzen. Pfiffig grinste er Sadagar an. »Dann laß ihn etwas tun, an dem ich sehen kann, daß er dir erscheint!« »Chrandor, wir müssen zu den anderen, bevor…« »Ach was! Siehst du, daß sie nach uns suchen? Unten bei den Ruderern scheint sich etwas zu tun. Sie haben andere Dinge im Kopf als uns.« »Chrandor, lieber Freund, was soll ich dem Kleinen Nadomir denn sagen, wenn er erscheint? Daß hier jemand ist, der ihn gerne kennenlernen möchte?« »Du könntest ihm befehlen, die Mannschaft und den Kapitän außer Gefecht zu setzen und die Ruderer zu befreien.« Das war nicht die schlechteste Idee, sagte sich Sadagar, obwohl er immer noch zauderte. Er schielte verstohlen nach Chrandors Handschuhen. Wenn er wirklich Hände darunter 26
hatte, mußten es phantastische Hände sein. Und wenn nicht… »Also gut«, brummte der Pirat. »Gehen wir. Ich wußte, daß du nur Märchen erzählst.« »Halt, warte!« Schon halb erhoben, drehte Chrandor sich um. »Also schön. Ich… ich versuche den Kleinen Nadomir zu beschwören, wenn du mir zeigst, was unter den Handschuhen ist.« »Aß und Baß…« Wieder betrachtete Chrandor die sich windenden, anscheinend nie zur Ruhe kommenden Finger der Stulpenhandschuhe. Dann nickte er. »Aber zuerst du!« Sadagar seufzte und streckte die Beine von sich. Mit dem Rücken gegen eine der Kisten gelehnt, sagte er: »Dann sei jetzt ruhig und achte auf die Aufseher.«
Sadagar bereute seinen Entschluß, noch bevor er zu Ende gesprochen hatte. Aber er konnte nicht mehr zurück, wollte er sich nicht zum Gespött machen. Er wartete darauf, daß irgend etwas geschah, was ihm die Herbeirufung unmöglich machte. Aber kein Aufseher erschien und trieb ihn und Chrandor aus ihrem Versteck heraus. Mit einem letzten Seufzer schloß der Steinmann die Augen. Wenn schon, so wollte er Chrandor ein Schauspiel bieten, das der andere nicht so schnell vergessen sollte. Sadagar ging in sich und vollführte mit beiden Armen fuchtelnde Bewegungen. Über seine Lippen kamen beschwörende Formeln, alles, was ihm gerade so einfiel. Natürlich durfte er den wahren Namen des Kleinen Schönen Nadomir nicht laut aussprechen. Niemand außer ihm durfte ihn wissen. Also rief er in Gedanken nach dem Königstroll. Nexapottl! 27
Dabei nahm er sich die drei von Nadomir erhaltenen Halsringe ab und drehte sie gegeneinander. Kurz blinzelte er und sah, wie Chrandor beeindruckt auf die Ringe blickte. Das steigerte sein Selbstvertrauen ganz erheblich. Sadagar vergaß seine Zweifel. Der Kleine Nadomir würde schon Verständnis für seine Situation haben. Und schließlich befand er sich ja wirklich in einer gewissen Notlage. Und Mythor ging es noch viel schlimmer. Nexapottl! Erscheine mir! Anscheinend hatte der Troll gerade wichtige Dinge in den Götterbergen zu erledigen, denn er ließ sich Zeit, und Chrandor murrte schon wieder etwas von »faulem Zauber«. Dann aber war es soweit. Sadagar schlug die Augen auf und sah Nadomir vor sich schweben, wobei er den Eindruck hatte, als rage ein Teil des gedrungenen, nur drei Fuß großen Wesens halb aus Chrandor heraus. Was willst du von mir? war die Stimme des Trolls in Sadagars Kopf. Warum rufst du mich immer dann, wenn gerade wichtige Dinge zu tun sind? Natürlich konnte Chrandor ihn nicht hören. Der Troll war nur als Vision vorhanden. Für Chrandor sah es so aus, als spreche Sadagar zur Luft. »Entschuldige, Nadomir, aber…« Der Steinmann suchte nach Worten. Jetzt, da er Nadomir vor sich sah, das kleine verkniffene Gesicht auf dem blätterhaarigen Kugelkopf, schwand seine Selbstsicherheit dahin wie die Butter in der Sonne. Er schalt sich einen Narren und begann zu schwitzen. Du rufst mich und weißt selbst nicht, warum? »Die… die Aufseher dort drüben«, sagte der Steinmann schnell. Etwas Besseres wollte und wollte ihm nicht mehr einfallen. »Sie bedrohen uns. Kannst du sie…?« Bedrohen sie dich? Wie ich sehe, geht es dir ganz gut! »Nicht mich, Nadomir!« Was sollte er noch sagen? Der 28
Schweiß brach ihm in Strömen aus allen Poren. Er wand sich und wollte irgend etwas sagen, etwas zu seiner Verteidigung. Herumzeigen wolltest du mich! rief Nadomir schrill und empört. Während in den Götterbergen… Oh, Feged, nannte ich dir dafür meinen wahren Namen? Sadagar zuckte zusammen, als auch er mit seinem wahren Namen angeredet wurde. Seine Hände fuhren flehend in die Luft, aber da war kein Kleiner Nadomir mehr, der sich gestammelte Entschuldigungen angehört hätte. Dafür begann die Kiste über den Köpfen der beiden Drückeberger zu rucken und zu ächzen. Bevor sie sich in Sicherheit bringen konnten, brach sie krachend auf und gab ihren Inhalt frei. Tausende von meist rostigen Pfeilspitzen begruben Sadagar und Chrandor fast unter sich. Hinten bei den Gestängen fuhren mehrere Aufseher herum und stürmten mit knallenden Peitschen heran. »Das war der Kleine Nadomir?« fragte Chrandor zerknirscht, als er wie Sadagar im Nacken gepackt und unter Fußtritten übers Deck geschleift wurde. »Das war er«, jammerte der Steinmann. Dort, wo ein halbes Dutzend Kinder die Planken schrubbten, wurden die beiden hart auf den Boden gestoßen. Sadagar erhielt noch einen Tritt in die Seite und riß sich schützend die Hände vors Gesicht, als die Seefahrer plötzlich von ihm abließen. Er hob den Kopf und sah, wie zwei Männer ein Mädchen an Deck brachten. Ihnen folgte Jejed. Rachamon erwartete sie vor dem Aufbau, ließ den Kapitän und das Mädchen an sich vorbei und schloß die Tür hinter ihnen. »Wie… wie kommt ein junges Weib an Bord?« fragte Chrandor verblüfft. »Fragt euch lieber, was euch noch blüht!« bellte einer der Aufseher und ließ die Peitsche knallen. »An die Arbeit!« 29
Sadagar und Chrandor hatten wieder ihre Bürsten in den Händen und rutschten auf den Knien über die nassen Planken. Wohl allein dem Umstand, daß Jejed sich bald persönlich um sie kümmern würde, hatten sie es zu verdanken, daß sie nicht unter Deck mußten, um dort die haarsträubenden Wünsche der Mannschaft zu erfüllen. Von Jejeds nun noch neunzehn Männern beaufsichtigten ein halbes Dutzend die Ruderer, ein weiteres halbes Dutzend die Kinder und Alten auf Deck, und der Rest machte sich einen Spaß daraus, die Legionäre zu verhöhnen, die noch nicht an die Ruder mußten, oder wechselte sich im Schlagen der Trommel ab. Nur der Steuermann stand wie ein Standbild weit hinten im Heck und hielt die lange Stange des Steuerruders mit eisernem Griff umklammert. »Ich möchte wissen, was sie mit der Kleinen anfangen«, flüsterte Chrandor, als der Aufseher ihnen den Rücken gekehrt hatte, um sich um einen Alten zu kümmern, der zusammengebrochen war. Sadagar schrubbte verbissen. Vorläufig war seine Lust an Abenteuern gestillt. »Ob sie sie sich vornehmen? Jejed und der verfluchte Magier?« »Halt den Mund und poliere die Planken!« zischte der Steinmann. »Du hast eine schmutzige Phantasie.« »Ich bin ein ehrlicher Pirat und habe vielleicht einigen Männern zuviel die Hälse durchgeschnitten, aber noch nie konnte ich zulassen, daß einer Jungfrau Gewalt angetan wurde!« Der Gedanke daran paßte auch Sadagar ganz und gar nicht, und obwohl er sich dagegen zu sträuben versuchte, blickte er immer wieder zum Aufbau hinüber. So weit war es bis zur 30
Unterkunft des Kapitäns und des Magiers gar nicht. Wenn sie sich unauffällig darauf zubewegten… »Ich sage dir, wir müssen etwas für sie tun, Sadagar. Sieh genau hin, die Tür ist nur angelehnt.« »Ja und? Kein Mensch kommt durch den Spalt, nicht einmal ein Zwerg.« »Kein Zwerg, aber Aß… oder Baß.« Was sollte das nun wieder heißen? »Wir kriechen auf den Aufbau zu, Freund Sadagar, ganz langsam und unauffällig.« Das war das letzte, was der Steinmann von Chrandors Worten verstand. Ganz plötzlich hob ein Sturm an. Die aufgewühlte See peitschte gegen das Schiff. Das Deck neigte sich bedrohlich. Kinder schrien und sprangen in Panik auf. Es wurde noch finsterer, und mehrere Blitze zugleich teilten den dräuenden Himmel. Der Donner rollte über das Schiff hinweg, das in den entfesselten Naturgewalten ächzte und knirschte. »Ein Fluch!« war von irgendwoher ein Schrei zu hören. Der Sturm trieb den Regen in Böen über das Deck. Die Sicht reichte kaum noch zehn Schritte weit. Schattenhaft schälten sich die Gestalten der rennenden Seefahrer aus der hochspritzenden Gischt. »Das Weib hat einen Fluch über uns gebracht!« Bärtige Gesichter erschienen und verschwanden wieder. Peitschen knallten auf den Ruderbänken. Für einen Moment setzte der Sturmregen aus, und Sadagar sah den Steuermann, wie er das Ruder gepackt hielt. Dann spritzte wieder Wasser in die Höhe. Eine Welle schwappte über das Schiff und spülte Sadagar, der sich aufgerichtet hatte, die Beine weg. Hart landete er wieder da, wo er gelegen hatte. Von hinten erhielt er einen Stoß. Blitze blendeten ihn. Kindergeschrei, das Knallen der Peitschen und der Donner vermischten sich. »Zum Aufbau!« schrie Chrandor ganz nahe an Sadagars Ohr. 31
Wieder erhielt der Steinmann einen Stoß. Chrandor kroch an ihm vorbei und zog ihn mit sich. Der Sturm rüttelte an beiden. Von Jejeds Männern und den Kindern war nun nichts mehr zu sehen. Sie wurden unter Deck gebracht. Sadagar merkte erst, daß er den Aufbau erreicht hatte, als er hart mit dem Kopf dagegen stieß. Und im gleichen Augenblick erstarb der Sturm. Die schwarzen Wolken teilten sich und ließen die Strahlen der Sonne durch. Binnen weniger Atemzüge hörte auch der Regen auf, und dann war klarer blauer Himmel über diesem Teil der Strudelsee. »War das… der Kleine Nadomir?« fragte Chrandor flüsternd. Wortlos schüttelte Sadagar den Kopf. Er begriff nicht, was geschehen war, was das Unwetter so plötzlich gebannt hatte. Irritiert sah er sich um. Unter den Ruderern schien wieder ein Tumult ausgebrochen zu sein, denn die Seefahrer, die jetzt wieder an Deck auftauchten, beeilten sich, auf die Ruderbänke hinabzuklettern. Chrandor aber schien, von alledem völlig unbeeindruckt. »Das ist die Gelegenheit für uns«, flüsterte er. »Aß, willst du für uns gehen? Oder du, Baß? Baß? Also schön. Ich will wissen, was dort drinnen geredet wird.« In diesem Moment war Sadagar zutiefst davon überzeugt, es mit einem Verrückten zu tun zu haben, dem ein schreckliches Schicksal den Verstand geraubt hatte. Was er dann aber mit ansehen mußte, ließ ihn an seinem eigenen Verstand zweifeln. Der Stulpenhandschuh löste sich von Chrandors linkem Arm, und ein glitschiges Weichtier mit fünf Tentakeln kroch daraus hervor, huschte schnell über die Planken und verschwand im offenen Türspalt. »Das ist Baß«, flüsterte Chrandor. »Er wird uns bald sagen, was wir wissen wollen. Ein Glück für uns, daß der Magier die Tür auch bei dem Regensturm auflassen mußte, um das 32
Unwetter bannen zu können.« »Aß und… Baß…«, krächzte der Steinmann. »Das sind… sie? Diese Tiere?« »Meine Hände«, sagte Chrandor. Liebevoll lächelte er und betrachtete das Spiel der fünf Finger, die er noch hatte. »Sie sind meine Hände, Freund Sadagar, aber Hände mit Augen, die sehen, und mit Ohren, die jedes geflüsterte Wort verstehen.« In stummer Verzweiflung schüttelte der Steinmann den Kopf.
Natürlich hatte Chrandor recht seltsame Vorstellungen von Magie, und natürlich war es reine Spekulation von ihm, daß die Tür des Deckaufbaus einen Spaltbreit offengeblieben war, selbst im Unwetter, weil der Magier einen Blick nach draußen haben mußte. Tatsache war, daß Rachamon die Tür nicht ganz verschlossen hatte und dies auch nicht nachholte, als der Sturm den Regen in die Unterkunft blies. Im flackernden Licht einer Öllampe wirkte des Seemagiers Gesicht noch härter, noch gefühlloser, noch überheblicher. Dunkle Schatten umspielten seine Züge auf der bronzefarbenen Haut. Niemand wußte, woher er kam, nicht einmal der Kapitän der Gasihara. Man fragte nicht danach. Rachamon hatte bei seiner ersten Fahrt mit der Lichtfähre bewiesen, daß er eine Menge von seiner Kunst verstand. Mehr als einmal hatte er das Schiff sicher durch die Tücken der Strudelsee gelotst, die Strömung und das Wetter günstig beeinflußt. Auch hüteten sich Jejed und seine Männer, Rachamon Fragen nach seiner magischen Kunst zu stellen. Selbst jetzt, als der Magier sichtlich erschöpft an einem Balken lehnte, schwieg Jejed. 33
Das Mädchen lag zusammengerollt auf dem Boden, dann und wann leise schluchzend. »Sie hat keine Schuld«, sagte Rachamon endlich. »Nicht sie beschwor das Unwetter über uns herauf.« »Nicht… sie?« fragte Jejed überrascht. Auch ihm haftete wie fast allen Seeleuten dieser Region etwas von dem Aberglauben an, eine Frau an Bord bringe Unglück. »Nicht sie«, wiederholte der Magier bestimmt. »Es ist etwas anderes, einer von den Legionären vielleicht, möglicherweise aber auch etwas, das sich noch nicht zeigt.« Jejed, der Hüne aus dem fernen Moro-Basako, wich unwillkürlich einen Schritt vor Rachamon zurück. Er hatte gesehen, wie der Magier den Zauber wirkte, der das Unwetter bannte. Zum erstenmal war er nicht von Rachamon fortgeschickt worden. Das machte ihm diesen noch unheimlicher, ihn und seine Tiere. Über ein volles Dutzend der geheimnisumwitterten Siebenläufer verfügte Rachamon. Jejed hatte nie zuvor eines dieser seltenen Wesen gesehen, die im Süden der salamitischen Wüste lebten und dort als Glücksbringer galten. Außerdem sagte man ihnen eine ganz besondere Wetterfühligkeit nach. Vorhin jedoch, als der Sturm urplötzlich über das Schiff hereinbrach, waren sie wie erstarrt gewesen. Sie hatten diesmal nicht wie üblich lange vorher davor gewarnt. »Kannst du deutlicher werden?« fragte Jejed. Unsicherheit machte sich in ihm breit, als er die stechenden Augen des Magiers auf sich gerichtet sah, aber auch Zorn über die maßlose Überheblichkeit, die aus diesen Blicken sprach. »Du hast gesehen, wie Oblak ertrank«, sagte Rachamon nach einer Weile. Er sprach gedehnt, ohne Gefühl, ohne Betonung. »Natürlich!« knurrte Jejed. »Wir versuchten alles, um ihn aus dem Wasser zu fischen, in das ihn einer der verdammten Ruderer gestoßen hat!« 34
»Weißt du das so sicher, Jejed?« Wieder sprach der Magier zu ihm wie zu einem Kind, das noch nichts vom Leben wußte. »Ich will aufs Rad genagelt werden, wenn ich nicht sicher bin! Und falls es wirklich nur ein Unglück war – sie hätten ihm beistehen können. Aber ich sah den stillen Triumph in ihren Augen. Sie…« »Beistehen?« fragte Rachamon höhnisch lachend. »Mit ans Ruder gebundenen Händen?« Jejed ballte die Hände. »Warum ertrank Oblak, er, der ein so guter Schwimmer war? Hat er zuviel Tabak gekaut, Jejed?« Was sollten die Fragen? Der Morone wurde immer erregter. Widerwillig gab er zu: »Er kaute ständig.« »Aber das war nicht der Grund. Ich sah, was dir offenbar entging, Jejed. Das rote Leuchten in der Tiefe, wie es erschien, als Oblak um sein Leben kämpfte.« »Die Seelen der Verlorenen!« stieß der Kapitän hervor, und Grauen schlich sich in sein Herz. »Ich sah das Leuchten, und wir beide wissen, was darüber geredet wird. Schiffe, denen es begegnete, kehrten nie zurück.« »Aberglaube!« schrie Jejed. »Nichts als Aberglaube, und du weißt das so gut wie ich!« »Es heißt, daß die toten Seelen nur erscheinen, wenn finstere Mächte sie herbeirufen«, erwiderte der Magier, ohne mit der Wimper zu zucken. »Und weiter heißt es, daß sie nicht eher zur Ruhe kommen, bevor sie nicht alles Leben, das sich zu nahe an sie heranwagt, verschlungen haben.« »Das ist Unsinn! Rachamon, andere magst du mit deinen Orakeln beeindrucken, nicht aber mich! Du glaubst, Macht über Menschen gewinnen zu können, indem du ihre Seelen mit Angst erfüllst!« »Oblak sank in sie hinein«, fuhr Rachamon ungerührt fort. Er 35
wischte einen Einwand des Kapitäns mit einer energischen Handbewegung beiseite. »Aber er war es nicht, der sie herbeirief. Einer unter den Männern trägt Finsternis in sich.« Jejed machte einen weiteren Schritt zurück, stieß gegen einen Hocker und setzte sich. Lange sah er den Magier an. »Wer ist es, Rachamon?« »Ich werde es herausfinden. Wichtiger ist jetzt, was mit ihr zu geschehen hat.« Rachamon deutete auf das Mädchen. »Für die Männer ist sie die Botin des Unheils.« »Ich weiß«, knurrte Jejed. »Darum muß sie geopfert werden.« Der Morone sprang auf. »Das meinst du wirklich!« fauchte er. »Du würdest es wirklich tun, obwohl du weißt, daß sie rein ist!« »Es geht darum, was die Männer denken.« »Du bist kein Mensch!« flüsterte der Kapitän. »Nein, Rachamon, denn Menschen bedeuten dir nichts. Du verachtest alle, die nicht wie du der Magie mächtig sind. Sie sind für dich nur Kreaturen, über deren Leben einer wie du verfügen kann, wie es ihm gerade in den Sinn kommt.« »Wenn du es nicht tust, werden die Männer sie sich holen, Jejed.« »Nur, wenn du sie dazu bringst! Höre, Magier! Dies ist mein Schiff, und ich allein gebe die Befehle. Deine Magie mag mächtig sein, doch es gab andere vor dir, die von ihr zerstört wurden!« Rachamon ging nicht auf die Worte des Kapitäns ein. Kalt sagte er: »Und noch etwas sollst du wissen, Jejed: Oblak wird zurückkehren. Dann wirst du ihn töten müssen.« »Das ist nicht wahr!« schrie der Morone. »Du wirst es sehen. Diesmal konnte ich die Kräfte des Bösen noch bannen. Beim nächstenmal…« »Schweig!« herrschte Jejed ihn an. »Sollte sich deine 36
Prophezeiung erfüllen, so will ich den Göttern danken! Aber weder meine Hand noch die eines anderen wird sich gegen Oblak erheben!« »Du wirst die Zeichen bald verstehen lernen«, sagte der Magier. Dann lächelte er dünn, nickte dem Kapitän zu und trat hinaus aufs Deck. »Kein Mensch wird geopfert werden, solange ich dieses Schiff führe«, knurrte Jejed, als er mit dem Mädchen allein war. Er beugte sich zu ihr hinab, und nun war nichts mehr an ihm, was an den Menschenschinder erinnerte, den die Legionäre zu hassen gelernt hatten. »Und keiner der Männer wird dich anrühren, Kleine.« Sie hob den Kopf, aber da war keine Hoffnung mehr in ihrem Blick. Jejed sah nicht, wie sich ein winziges, tentakelbewehrtes Tier aus dem Schatten löste und durch die nun weit offenstehende Tür schlüpfte.
Das kurze, aber heftige Unwetter war überstanden, doch wuchs in Mythor die Gewißheit, daß er nur das Vorspiel zu etwas anderem, noch weitaus Schrecklicherem erlebt hatte. Die Bewegungen seiner Arme, das Vorbeugen, das Anspannen aller Muskeln und das Ziehen an der Ruderstange waren fast schon eintönig geworden. Er nahm sie kaum noch wahr. Vor und zurück, immer wieder, zu den dumpfen Schlägen der Trommel. Inzwischen kannte er auch den Namen des Weißhaarigen, so wie die einiger anderer Männer vor und hinter ihm, die die Köpfe zusammensteckten, wenn gerade kein Aufseher in der Nähe war. Der Weißhaarige hieß Yellen und stammte aus Tainnia. Doch auch er wußte nichts Neues über die Verhältnisse im Norden zu berichten, außer daß die Caer das 37
Land mit Blut und Dunkelheit überzogen. Andere Legionäre waren Flüchtlinge aus Ugalien und dem nördlichen Salamos. Daneben gab es Männer aus vielen unbekannten Ländern im Süden, die alle in Sarphand das gleiche Schicksal erlitten hatten. Zu jenen, die sich freiwillig in die Hände der Wilden Fänger begeben hatten, zählte ausgerechnet jener Golad, der nun neben Mythor ruderte und sich dabei keine Schonung auferlegte. Es war, als wolle er seine Verzweiflung dadurch vergessen machen, daß er sich anstrengte wie kaum ein anderer. Inzwischen aber war er ruhiger geworden, und bald hatte sich eine Freundschaft zwischen ihm und Mythor entwickelt. Mythor wußte nun, welch grausames Schicksal ihn und Farina, wie seine Gefährtin wirklich hieß, dazu getrieben hatte, sich an Bord der Lichtfähre bringen zu lassen. Beide stammten aus dem heißesten Süden. Golad, der alles andere als der tobende Hüne war, als der er anfangs noch gewirkt hatte, lebte nur für Farina. Er war sanftmütig und verträumt, und zusammen mit Farina träumte er von einem Land, in dem sie beide nur für ihre Liebe leben konnten, denn zu lange hatten sie ihre Zuneigung verbergen müssen. Sie stammten von verschiedenen einander befehdenden Stämmen ab und waren noch Kinder gewesen, als sie gemeinsam geflüchtet waren. Seither hatten sie einen rastlosen Irrweg quer durch die Welt hinter sich gebracht. Bei ihrer Flucht schworen sie sich ewige Treue, und dieser Schwur war bis heute nicht vergessen. Gegen alle Widrigkeiten verteidigten sie ihre Liebe. Und nun war Farina gewaltsam von Golad gerissen worden, hier auf dem Schiff, von dem sie sich so viel versprochen hatten. Ihr Glaube daran, in der Ewigen Stadt das zu finden, wonach sie so lange vergeblich gesucht hatten, schien 38
unerschütterlich. »Es heißt«, hatte der junge Hüne auf Mythors Einwand gesagt, daß eine umkämpfte Stadt wohl kaum der richtige Ort für sie sei, »daß im Jahre 250 Logg eine Entscheidung fallen werde, und wir glauben fest daran, daß die Kräfte der Finsternis am Ende unterliegen werden.« Mythor verzichtete auf eine Antwort, obwohl er Golads Überzeugung längst nicht teilen konnte. Doch er brachte es nicht übers Herz, Golad auch diese Hoffnung zu nehmen. Immer wieder blickte der Hüne verzweifelt zum Deckrand hinauf. Doch nichts war zu sehen von Farina, kein Laut drang von dort herab, der Aufschluß über ihr Schicksal gegeben hätte. Golad mußte das Schlimmste befürchten, und oft genug zerrte er an den Riemen, mit denen seine Hände an das Ruder gebunden waren. »Warte ab, bis wir abgelöst werden!« flüsterte Mythor. »Du bist nicht allein, Freund.« Golad schenkte ihm einen dankbaren Blick, doch große Hoffnung lag nicht darin. Er hatte die Männer rufen hören, die Farina für das Unwetter verantwortlich machten. Nur jene, die nahe bei ihm saßen und sein Leid sahen, schwiegen. Mythor wurde eigenartig berührt, als er die Sehnsucht im Blick des Jünglings sah. Er glaubte ihn gut zu verstehen. War doch auch sein Herz von einer unstillbaren Sehnsucht erfüllt. Golad hatte seine Liebe gefunden, obwohl er jetzt alle Qualen der Hölle erleiden mußte. Fronja dagegen… Wo würde er sie endlich finden? Wann? All das Rätselhafte, das er bislang gehört hatte, war eher dazu angetan, seine Sinne noch mehr zu verwirren. »Ihr kommt nicht gegen eine Übermacht an«, sagte Golad finster. »Und die meisten Männer würden Farina lieber jetzt als später über Bord werfen.« 39
Was sollte Mythor darauf erwidern? Was vermochte eine Handvoll Legionäre, die auf Golads Seite standen, gegen diese Übermacht auszurichten? Er hatte sich bisher nicht als Sohn des Kometen zu erkennen gegeben, weil er keine Sonderrolle unter den Schicksalsgefährten einnehmen wollte. Außerdem – weit über die Hälfte der Männer waren Anhänger des Shallads und glaubten daran, daß Hadamur die Reinkarnation des Lichtboten sei. Sie würden sich nicht von einem Sohn des Kometen beeindrucken lassen, der für sie nur ein Frevler sein konnte. »Warte bis zur Ablösung«, sagte Mythor wieder und blickte dabei zum Himmel auf. Die Sonne neigte sich dem Horizont zu. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis der dreifache Gongschlag ertönte. »Jejed mag sein, wie er will. Aber auch er ist anderen Rechenschaft schuldig und wird sich hüten, Kämpfer für Logghard zu opfern.« »Es gibt viele Wege, unbequeme Gegner so beiseite zu schaffen, daß es später als Unglück hingestellt werden kann«, murmelte Golad mutlos. »Jetzt seid still und wartet ab!« sagte Yellen. Mythor dachte an Steinmann Sadagar, von dem er wußte, daß er den Gurt mit den zwölf Messern irgendwo an Deck versteckt hatte. Aber warum zeigte er sich nicht mehr? Die Gasihara glitt weiterhin in Richtung Süden, durch eine ruhige See. Wo blieben die gefährlichen Strömungen, von denen vor dem Auslaufen die Rede gewesen war? Es war wie die Ruhe vor einem alles vernichtenden Sturm, und Mythor fragte sich, ob die bisher ruhige Fahrt, abgesehen von dem kurzen Unwetter, allein den Künsten des Seemagiers zuzuschreiben war oder ob dämonische Mächte die fünfhundert Kämpfer des Lichts in trügerischer Sicherheit wiegen wollten. Weiter neigte sich die Sonne dem Horizont zu, und der 40
Himmel im Westen färbte sich blutrot. Mythor wartete darauf, durch den Gongschlag endlich erlöst zu werden, als sein Blick über den Rand der Ruderbank wanderte und er glaubte, sein Herzschlag müßte aussetzen. Golad sah die Hand, die sich tastend über das Holz schob, im gleichen Augenblick, und kaltes Grauen erfaßte die Männer.
Die Hand tastete am Holz entlang, dann folgte eine zweite. Ein Arm schob sich auf die Ruderbank. Jetzt sahen es die Männer vor und hinter Mythor, und einige schrien entsetzt auf. Wenige Atemzüge später brach ohrenbetäubender Tumult aus. Die Legionäre vergaßen das Rudern, und dadurch, daß auf der zweiten Bank auf der anderen Schiffsseite weitergerudert wurde, begann das Schiff sich leicht zu drehen. Vom Reck her war das Fluchen des Steuermanns zu hören, das im Geschrei der Legionäre unterging. Sofort waren Jejeds Seefahrer heran und ließen die Peitschen auf die Rücken der Erschöpften niedersausen, bis auch sie sahen, wer sich da auf die Ruderbank schob. »Das ist… der Geist von Oblak«, flüsterte Golad entsetzt. »Kein Geist!« war die Stimme des Kapitäns dröhnend zu hören. »Das ist Oblak!« Im Nu war der Morone die Stufen herunter und warf dem vor Nässe Triefenden, der jetzt den Oberkörper über den Rand der Bank geschoben hatte, den Peitschenriemen entgegen. Oblak griff hastig danach und ließ sich von Jejed ziehen. Dann stand er direkt neben Mythor. Das Wasser lief von seinen Kleidern und den im Gesicht klebenden Haaren herab. Oblak, der von der Statur her Jejed glich, atmete schwer, wischte sich mit den Armen übers Gesicht und schob sich an Mythor, Golad und Yellen vorbei. 41
Unwillkürlich machte Jejed einen Schritt zurück. Sein Kopf fuhr herum, und er sah Rachamon mit verschränkten Armen und wie versteinertem Gesicht auf den Stufen stehen. »Nein!« schrie er dann. »Du blendest mich nicht, Magier!« »Ich… glaubte nicht mehr, daß ich es schaffen würde«, stieß der Totgeglaubte endlich hervor. »Ich konnte mich am Kiel festklammern und…« »Du lebst!« rief der Morone aus, wobei er Rachamon wieder trotzige Blicke zuwarf. »Du lebst, Oblak! Erzählen kannst du, wenn du gestärkt bist! Komm mit mir! Und ihr Kerle sollt rudern!« Doch auch den Aufsehern schien die Angst in den Gliedern zu sitzen, denn es dauerte eine Weile, bis wieder die Peitschen knallten. Mythor legte sich in die Ruder, die Zähne aufeinandergebissen und finster blickend. Er hatte es gespürt, das Fremdartige, das von Oblak ausging, als dieser sich an ihm vorbeidrängte. Mit Oblak, das fühlte Mythor, war das Verhängnis an Bord der Gasihara gekommen, etwas Unvorstellbares, das von ihm Besitz ergriffen hatte, irgendwo dort unten in der Tiefe. Kein Mensch konnte sich so lange am Schiff festklammern, wie Oblak es getan zu haben vorgab. Kein Mensch… Niemand redete mehr. Niemand wagte, Fragen zu steilen, denn zu groß war die Furcht vor einer Antwort. Wütend und verbissen ruderten die Legionäre. Die Lichtfähre war wieder auf Kurs. Und dunkle Wolken schoben sich erneut vor den blutroten Ball der untergehenden Sonne, als endlich der Gongschlag ertönte und die Ruderer von den Stangen losgebunden wurden. Eine Bank nach der anderen wurde neu besetzt. Als die Reihe an Mythor war, starrte er an den Aufsehern vorbei aufs Meer hinaus. 42
Winzige Windhosen waren plötzlich überall auf dem Wasser, umtanzten die Gasihara und wirbelten Gischt zu ihr hinauf. Der Spuk verschwand so schnell, wie er gekommen war. Dafür verfinsterte sich der Himmel um so mehr, und es war nicht das Dunkel der Nacht, das sich da von Osten heranschob.
Steinmann Sadagar und Chrandor waren gerade dabei, die Pfeilspitzen in eine neue Kiste zu schaufeln, als die Ablösung erfolgte. Zwei Seefahrer standen hinter ihnen und ließen sie nicht aus den Augen. Noch, so höhnten sie, habe der Kapitän keine Zeit gefunden, sich persönlich um sie zu kümmern. Aber das würde er bald nachholen. Chrandor ließ sich davon offenbar überhaupt nicht beeindrucken. Baß saß wieder unter dem Stulpenhandschuh am linken Armstumpf und nahm den Platz der abgetrennten Hand ein. Vorher hatte das Schleimwesen * seinem Herrn und Meister durch eine komplizierte Zeichensprache zu verstehen gegeben, was es in der Unterkunft des Kapitäns und des Magiers belauscht hatte. Chrandor konnte es gerade noch für Sadagar übersetzen, bevor sie von den Aufsehern gepackt und zum Heck geschleift wurden. »Chrandor!« flüsterte Sadagar, ohne aufzusehen, als die Schritte der Legionäre schwer über die Bohlen dröhnten. »Bei diesen Männern, die jetzt unter Deck gebracht werden, sind Mythor, mein Freund, und der Schatz dieses Mädchens.« »Ja und?« fragte der ehemalige Pirat, ebenfalls in seine Arbeit vertieft. »Wir müssen zu ihm.« »Unter Deck? Sadagar, du bist des Wahnsinns!« »Ich werde gehen«, zischte der Steinmann eine Spur zu laut. 43
»Ihr sollt schaufeln!« knurrte einer der Aufseher. Chrandor wartete, bis der Seefahrer den Blick wieder für einen Moment abwandte, dann fragte er flüsternd: »Und wie willst du das schaffen, Steinmann? Du weißt doch wohl, daß du ohne meine Hilfe wie ein Krieger ohne Schwert bist?« Sadagar zog eine Grimasse. Er gab noch keine Antwort, sondern wartete ab, bis die polternden Schritte endlich verstummt waren, die Ruder neu besetzt und die Abgelösten unter Deck. Wind frischte auf, und leichter Nieselregen fiel. Der Himmel verdunkelte sich nun zusehends. Die Nacht brach bald herein. Noch lagen weit über die Hälfte der Pfeilspitzen zwischen den Kisten. »Du machst also mit, Chrandor?« flüsterte der Steinmann, verstohlen nach den Wachen schielend, die sich gerade unterhielten. »Sadagar, du bist ein sturer…« »… Hund, ich weiß. Dann paß auf und tu das gleiche wie ich!« Der Pirat begriff nicht. Dann, als der Steinmann zwei Handvoll Pfeilspitzen hoch in die Luft warf, aufsprang und darunter tanzte wie ein Verdurstender im lang ersehnten Regen, riß er den Mund sperrangelweit auf und faßte sich mit Aß an die Stirn. »He!« rief einer der Seefahrer. »Welcher Dämon ist in dich gefahren, Kerl?« »Ich bin Croesus!« jubilierte Sadagar, tanzte, bückte sich und warf weitere Pfeilspitzen in die Höhe. »So reich wie Croesus aus Sarphand! Reich, reich! Meine Hände verwandeln alles in Gold!« »Hör auf!« brüllte der Aufseher und ließ die Peitsche knallen. »Schluß damit, oder wir…« »Croesus, Croesus!« Endlich begriff Chrandor und schaufelte gleich vier, fünf 44
Dutzend Pfeilspitzen hoch in die Luft. Unter dem schimmernden harten Regen reichte er Sadagar die rechte »Hand« und tanzte mit ihm einen Reigen. »Reich, wir sind reich!« riefen sie im Chor. »Reich, reich!« Die Seefahrer sahen sich an, als erlebten sie einen bösen Spuk. »Aufhören, ihr beide! Oder wir peitschen euch die Lust auf Gold aus!« »Reich, reich! Croesus, Croesus!« sangen die beiden »Besessenen«. Die Peitschenriemen zogen ihnen die Beine unter dem Körper weg, daß sie hart auf die nassen Planken fielen. »Unter Deck mit ihnen!« dröhnte da die Stimme des Kapitäns. »Ich werde sie schon zur Vernunft bringen, wenn ich…« Jejed, der durch den Lärm herbeigelockt worden war, blickte über die Schulter. Der Seemagier stand wie versteinert vor dem Decksaufbau und blickte eisig. »Seid froh, daß ich noch anderes zu tun habe, aber euch nehme ich mir danach vor. Los, bringt sie unter Deck. Sie sollen den Alten und Kindern dabei helfen, die Ruderer zu verbinden.« »Nein!« schrie Sadagar in gut gespieltem Entsetzen. »Das nicht, Kapitän! Wir wollen auch…« »Mit Zirpe Bekanntschaft machen, ja?« Der Morone brachte den linken Zeigefinger gefährlich nahe an die rechte Armschiene. Zu seinen Männern sagte er: »Los, schafft sie mir aus den Augen!« Er drehte sich um und verschwand in seiner Unterkunft, ohne sich noch einmal umzublicken. Die Aufseher schwangen die Peitschen. »Ihr habt gehört, was er sagte. Dankt den Göttern, daß ihr überhaupt noch lebt!« Wie getretene Hunde ließen Sadagar und Chrandor sich abführen. Nur der Pirat sah, wie es kurz triumphierend in des Steinmanns Augen aufblitzte.
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Die Nacht brach herein, jene Nacht, in der das Verhängnis seinen Anfang nahm. Schwere Wolken blies der stärker werdende Wind über das mächtige Schiff, das gleichsam ein Nichts in den Strömungen der Strudelsee war. Keine Sterne standen am Himmel, die Wegbegleiter der Seefahrer und einsamen Wanderer in hellen Nächten. Kein Licht von irgendeinem nahen Hafen durchbrach das Dunkel. Die See blieb ruhig, wenngleich jetzt höhere Wellen gegen die Planken schlugen. Weit und breit gab es keine lebende Seele außer jenen, die dicht gedrängt von der Gasihara nach Süden getragen wurden. Aber das Unheil braute sich finster über der Lichtfähre zusammen. Die Männer konnten es fühlen, und mancher unter ihnen begann, das Schiff zu verfluchen, das mehr und mehr zu einem schwimmenden Kerker wurde. Unter ihm war nur das endlos erscheinende Innenmeer, die Strudelsee, das feuchte Grab mit all seinen Schrecken. Daß diese Schrecken sich bisher noch nicht offenbart hatten, schrieben viele allein den Künsten des Magiers zu, der nun neben dem Steuermann stand, von dem es hieß, noch niemand habe ihn anders gesehen als so, wie er statuengleich an der langen Ruderstange stand, den Blick starr geradeaus gerichtet, das Holz mit eisernem Griff umklammert. Um Rachamon herum waren seine Siebenläufer. Sie krochen an seinem langen dunklen Gewand empor, krallten sich in seinem Nacken fest und huschten dann wieder aufgeregt umher. Kein Wort kam über die Lippen des Zauberers, wenn er seine Magie wirkte. Nur manchmal zuckte es um seine Mundwinkel, wenn der Sturm anhob oder Gischt über die Planken spritzte. Und auch der Steuermann, der ähnliche Rituale schon so oft beobachtet hatte, schwieg. Noch nie hatte er die Siebenläufer 46
so erregt hin und her huschen sehen. Noch nie hatten sie sich so verbissen an ihren Herrn geklammert, gerade so, als suchten sie in und unter seinem Gewand Schutz vor etwas, das unaufhaltsam auf das einsame Schiff zukam. Die Furcht schlich sich in die Herzen der Männer. Sie alle spürten das Namenlose, das die Nacht erfüllte. Niemand brauchte sie zum Rudern aufzufordern. Sie quälten sich, als ob es gelte, vor Dämonen zu fliehen, die im Kielwasser der Lichtfähre mitschwammen, von unheimlichen Kräften herbeigerufen. Und sie raunten einen Namen: »Oblak!« Noch aber war die Angst vor dem Kapitän und seinen Männern größer als die vor jenem, von dem geflüstert wurde, er sei besessen von den Geistern der Seeleute, die hier in der Strudelsee ihr nasses Grab gefunden hatten. Auch in den Augen der Aufseher stand die Furcht geschrieben, doch zu sehr waren sie auf den Moronen eingeschworen – und Oblak befuhr mit ihnen die See, solange sie als Mannschaft zusammen waren. Die Männer suchten also nach einem anderen Sündenbock, und es fiel ihnen nicht schwer, den zu finden. Die Frau! Das Mädchen hatte das Unheil über die Gasihara gebracht! Jejed mußte sie opfern!
Unter Deck, im mächtigen Bauch des Schiffes, herrschten mehr als menschenunwürdige Zustände. Die zwanzig Dutzend Legionäre, die von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang an den Rudern gesessen hatten, lagen ächzend und wehklagend auf dünnen, schmutzigen Matten und wanden sich vor Schmerzen – soweit sie vom Schlaf der Erschöpfung noch nicht übermannt worden waren. Ihre Hände waren blutig aufgerissen, die Füße voller Blasen, Beine und Gesäß wund 47
gescheuert. Die meisten lagen auf dem Bauch, fluchten und hielten sich die Ohren zu, wenn die Schmerzensschreie derer ertönten, die von den Kindern und Alten mit Salbe behandelt und mit grauen Leinenwickeln verbunden wurden. Sie alle wußten, daß sie wieder auf die Ruderbänke mußten, sobald die Sonne im Osten aufging – falls sie jemals wieder ihre Strahlen über den Horizont schicken würde. Es stank erbärmlich nach Schweiß, nach verfaultem Fleisch, Fisch und ranzigem Fett. Die Kisten mit den Vorräten waren im Bug und im Heck gestapelt. Nur die wenigsten enthielten Nahrung. In den anderen befanden sich Waffen für Logghard, streng bewacht von Jejeds Männern. Wer stark genug war, ließ alle Torturen über sich ergehen, das Beißen der Salben, die Schmerzen bei jeder Bewegung und das Löffeln des stinkenden Breis, der von den Kindern gereicht wurde. Für jeden gab es an Bord der Lichtfähre eine Verwendung – aber auch in Logghard? Wie sollten Kinder und Greise gegen die Mächte aus der Schattenzone kämpfen? fragte sich Mythor, der den Brei mit Abscheu hinunterwürgte. Golad und Yellen teilten das Lager mit ihm, dazu einige Legionäre, die auf den Bänken vor und hinter ihnen gesessen hatten. Schnell stellte sich heraus, daß Mythors Art, zu reden oder sich zu bewegen, viele in ihren Bann schlug. Bald hatten sich zwei Dutzend Männer um die Freunde gesammelt, vier Dutzend Fäuste, auf die man zählen konnte, wenn es zum Äußersten kam. »Ihr solltet versuchen zu schlafen«, sagte Mythor, der sich ebenfalls nur langsam an die wiedergewonnene Bewegungsfreiheit gewöhnen konnte. »Wie soll ich schlafen«, fragte Golad, »wenn Farina vielleicht jetzt von diesen Bestien…?« Er sprach nicht aus, was alle dachten – und was noch in ihren Köpfen herumgeisterte:… wenn dieser Untote sich frei an 48
Bord bewegen kann! »Du mußt bei Kräften sein, wenn wir bei Sonnenaufgang wieder auf die Bänke müssen«, sagte Mythor. Golad schüttelte heftig den Kopf. »Glaubst du das?« fragte Yellen. »Glaubst du denn wirklich, daß wir den nächsten Morgen erleben werden?« Sadagar war angeekelt und nahe daran, etwas anzustellen, damit er wieder nach oben gebracht wurde. Chrandor, den bisher kaum etwas berührt hatte, schien noch schlimmer zumute zu sein. Er sah aus, als müsse er sich jeden Augenblick übergeben. Der Steinmann versuchte vergeblich zu ergründen, ob dies geschauspielert oder echt war. Natürlich, der Pirat suchte wie er unentwegt nach einer Möglichkeit, die Reise nach Logghard so bequem wie eben möglich zu überstehen. Konnte er sich auf ihn überhaupt verlassen? Beim Kleinen Nadomir! dachte der Steinmann und verschluckte sich dabei fast. Nach seinen jüngsten Erfahrungen mit dem Königstroll würde er sich hüten, ihn noch einmal wegen einer Nichtigkeit anzurufen. »Wir müssen Mythor finden. Du weißt ja, wie er aussieht!« flüsterte er, als sie die Treppe verließen und begannen, sich durch das Gewühl der ächzenden und sich windenden Leiber weiter in den Bauch des Schiffes vorzuarbeiten. »Ich möchte wissen, wie viele von uns noch leben, sollten wir jemals Logghard erreichen. Noch ein Tag wie dieser, und Jejed kann sich selbst an die Ruder setzen.« »Er wird seine Gründe haben«, flüsterte der Steinmann. Chrandor sah ihn zweifelnd an. Was die beiden ansehen mußten, ließ Zweifel an der Gesinnung des Kapitäns aufkommen, wie sie durch die Unterhaltung mit Rachamon offenbar geworden war. Chrandor trat wütend gegen einen Bottich mit abgestandenem Wasser. »Kann dein Nadomir das nicht 49
wenigstens in Wein verwandeln?« Schnell legte Sadagar einen Finger auf den Mund. »Nenne seinen Namen nicht, jedenfalls nicht so laut!« »Wer sollte ihn schon hören?« Chrandor schüttelte seine rechte Hand den vier Aufsehern entgegen, die vor und auf den Kisten mit den Waffen hockten. Konnte Aß seine Gedanken lesen, daß er seine Tentakelfinger sofort zur Faust ballte? »Dort drüben!« sagte Sadagar. »Da liegt Mythor!« Der Sohn des Kometen hob den Kopf, als er den Gefährten und dessen merkwürdigen Begleiter auf sich zukommen sah. Dabei schaute Chrandor so verwegen drein, daß die Männer, die ihn umringten, unwillkürlich eine Gasse bildeten. Mit einem Seufzer der Erleichterung ließ Sadagar sich vor Mythor nieder, während Chrandor es vorzog zu stehen. Golad blickte Mythor an, als wolle er sagen: Wer sind diese beiden Käuze? »Mythor«, stieß der Steinmann hervor und brachte ein unglückliches Lächeln zustande. »Da wären wir wieder beisammen.« Aber es klang gerade so, als wolle er damit ausdrücken, daß sie wieder einmal beide in der gleichen Jauchegrube gelandet seien. »Das ist Steinmann Sadagar«, stellte Mythor den Gefährten den anderen vor. »Und dein Begleiter…?« »Chrandor«, sagte Sadagar. »Ein berüchtigter Piratenkönig.« Augenblicklich wurde er ernst. »Mythor, ich weiß, daß jetzt keine Zeit für Späße ist. Wir haben an Deck einiges belauschen können.« »Baß hat das getan«, versetzte Chrandor mit unbewegter Miene. »Wer…?« »Später, Mythor. Es geht jetzt um diesen Oblak und das Mädchen.« 50
Golad kam mit einem Ruck in die Höhe und biß für einen Herzschlag die Zähne zusammen, als der Schmerz ihm durch den Körper fuhr. Er packte den Steinmann an den Schultern. »Farina? Sag, was weißt du über sie? Lebt sie noch?« »Das ist Golad«, erklärte Mythor. »Farinas Gefährte.« Sadagar sah dem jungen Hünen in die Augen und nickte dann. »Also hört zu…« Und er berichtete. Als er geendet hatte, herrschte für eine Weile betretenes Schweigen. Golads große Hände zitterten, und seine Blicke ließen die Qualen erahnen, die er litt. »Dann hatte ich also recht«, murmelte Mythor. »Jejed spielt uns nur den Menschenschinder vor, uns und seiner Mannschaft. Rachamon ist gefährlicher. Aber Oblak, Sadagar?« »Der Magier sagte voraus, daß er zurückkehren werde, und er sagte etwas von einem roten Leuchten, das aus der Tiefe kam, als Oblak unterging.« »Die Seelen der toten Seefahrer!« flüsterte einer der Legionäre fast andächtig. Es wurde gehört und verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Schlafende wurden geweckt. Geschundene Körper rückten näher heran. Köpfe schoben sich über die Schultern und starrten Mythor, Sadagar und Golad an. Die Angst kam auf leisen Sohlen, kroch über die geteerten Innenwände, die Stützbalken und die Lager der Erschöpften. Sie fraß sich in die Seelen der Männer, brannte sich in ihren Verstand. »Es geht die Sage«, flüsterte jemand, »daß jene, die nie von ihrer Fahrt über die Strudelsee zurückkehrten, nicht wirklich starben. Ihre Seelen leben in den Tiefen des Meeres weiter und lauern auf Opfer.« »Aberglaube!« knurrte Yellen. »Nein!« rief ein anderer. »Nur die Macht der Untoten konnte Oblak die Kraft geben, an einem der Ruder hochzuklettern.« 51
»Wovon niemand etwas bemerkt hat«, sagte Mythor nachdenklich. Er sah die Blicke, die Golad von einigen zugeworfen wurden, und erfaßte die Stimmung unter den Männern. Mit Farinas Enttarnung hatte für sie alles begonnen. Sie hatte das Unheil über das Schiff gebracht! Sie mußte von Bord! Hier unten hatte wohl kaum einer mehr die Kraft, sich zu erheben. Die Mannschaft aber war bei Kräften, und sosehr die Seefahrer auf ihren Kapitän eingeschworen waren – es war nur eine Frage der Zeit, wann sie meutern und Farinas Herausgabe fordern würden. Eine Frage der Zeit und dessen, was da kommen mochte. Regen prasselte auf das Deck. Durch einige Ritzen tropfte es und heulte der Wind. »Golad, du und ich gehen an Deck. Jejed wird unsere Hilfe brauchen. Es ist besser, wenn alle wissen, woran sie sind.« »Wie willst du das schaffen, Mythor?« fragte Sadagar entsetzt. »Die Wachen hinten bei den Kisten…« Mythor ließ den Blick über die Gesichter der Männer schweifen, die in drei, vier Reihen hintereinander um ihn herumsaßen. »Wer von euch glaubt, daß das Mädchen Unheil über uns gebracht hat?« Einige Köpfe ruckten in die Höhe. Lippen öffneten und schlossen sich wieder. »Keiner von uns, Mythor. Nur feige Memmen glauben das!« knurrte Yellen. »Dann hört zu. Sadagar wird die Wachen hierherlocken, und wir…« »Wer?« fuhr der Steinmann auf. »Ich?« »Sadagar, du bist nicht nur ein sturer Hund, sondern auch ein Feigling«, kam es von Chrandor. »Ich werde das übernehmen.« Bevor weitere Pläne geschmiedet werden konnten, drehte 52
der Pirat sich um, legte beide »Hände« trichterförmig an den Mund und schrie: »He, ihr dahinten! Hier sind noch zwei, die gar keine Männer sind! Kommt her und holt die Weiber fort, bevor wir sie uns vornehmen!« Drei der vier Seefahrer sprangen auf und bahnten sich ihren Weg durch die Liegenden. »Oder hätte ich sagen sollen, ihr habt die Pest?« überlegte Chrandor laut. »Hüte dich!« flüsterte Yellen erschrocken. »Dann säßen wir wirklich im Tollhaus!« Die Aufseher waren heran. »Wo sind die Weiber?« fragte einer. »Na, da doch!« Chrandor deutete auf Sadagar und Mythor. »Kommt, seht sie euch genauer an!« Nur wenige Öllampen tauchten den Schiffsbauch in flackerndes Dämmerlicht. Die Wachen traten durch die Gasse, die die Legionäre für sie bildeten. Sadagar wich mit weit von sich gestreckten Armen vor ihnen zurück. Kräftige Hände wollten nach ihm greifen, um ihm die Kleider vom Leib zu reißen, als Mythor, Yellen und Golad wie auf ein Zeichen aufsprangen. Mythors Fäuste gruben sich in den Magen des Neugierigen. Yellen und Golad betäubten die beiden anderen mit zwei, drei gezielten Schlägen. »Der vierte!« Jener, der bei den Kisten zurückgeblieben war, schrie auf und wollte zur Treppe rennen. Blitzschnell bückte Mythor sich nach einem Bottich und schleuderte ihn. Hart in die Kniekehlen getroffen, brach der Seefahrer zusammen. Bevor er sich wieder aufrichten konnte, waren drei Männer über ihm und droschen mit aller Kraft, die noch in ihren Leibern war, auf ihn ein. »Halt!« rief Mythor. »Hört auf, ihr sollt ihn nicht umbringen!« 53
»Er hätte es verdient! Sie alle verdienen es!« Mit einem Fluch riß der Sohn des Kometen die Rasenden zurück und stellte sich breitbeinig vor den Bewußtlosen. »Dann kommt her, wenn ihr nicht besser sein wollt als sie! Aber vorher nehmt es mit mir auf!« Yellen und Golad postierten sich zu beiden Seiten Mythors. Ihnen folgten zwei weitere Legionäre, dann immer mehr, bis drei Dutzend Mann beisammenstanden und keinen Zweifel daran ließen, daß sie entschlossen waren, jeden Übergriff von Seiten der Legionäre zu vereiteln. Murrend zogen die anderen sich zurück und ließen sich wieder auf ihre harten, schmutzigen Lager fallen. »Geht jetzt, aber seht euch vor«, warnte Yellen. »Danke, alter Freund.« Golad war schon bei der Treppe. Noch zögerte Mythor. Dann aber sah er die Blicke jener, die sich um ihn geschart hatten, und da wußte er, daß er sich auf jeden dieser Männer verlassen konnte. »Komm endlich!« flüsterte Golad.
Es regnete stärker, und der Sturm rüttelte an den Kleidern der beiden, als sie die Klappe über dem Treppendurchgang leise schlossen und schattengleich hinter eines der Gestelle mit Hängematten und Vorräten huschten. Einige Seefahrer hatten sich eingerollt und schienen zu schlafen. Ein Wetter wie dieses schien für sie nichts Ungewöhnliches zu sein. Aber Mythor sah, wie sie sich in den Hängematten drehten und wanden, und ab und zu war halblautes Stöhnen zu hören, wie von einem, der böse Träume hatte. Drei Wachen befanden sich im Bug der Gasihara, die anderen waren auf den Ruderbänken und stellten keine Gefahr dar. Von Jejed war weit und breit nichts zu sehen. 54
»Er wird im Aufbau sein«, flüsterte Mythor. »Wahrscheinlich mit Farina.« »Und dem Magier!« sagte Golad finsteren Blickes. Wieder bebten seine Hände, und nur mit Mühe dämpfte er seine Stimme. Von irgendwoher kamen und verklangen Schritte. Der Wind heulte und pfiff, schwoll auf und ab und schien eine Melodie über das Meer zu tragen, die Mythor schaudern ließ. »Rachamon steht dort, im Heck!« flüsterte er. »Beim Steuermann.« Golad sah ihn nur als Schatten, der die Arme in den Himmel gereckt hatte. Kleine Tiere huschten aufgeregt um ihn herum. An den Gestängen vorbei schlichen Mythor und Golad auf die Unterkunft des Kapitäns zu. Bei jedem Laut blieben sie stehen und drückten sich eng an einen Balken. Blakende Öllampen warfen gespenstische Schatten über das Deck. Zwischen den Gestellen und dem Aufbau gab es keine Deckung mehr. Schon wollte Mythor aufatmen, als sie ihr Ziel unangefochten erreichten, da wurde die Tür von innen geöffnet. Ein winziger Lichtspalt erschien, verbreiterte sich schnell und verschwand wieder. Für die Dauer weniger Herzschläge hatten Mythors Augen Mühe, die Dunkelheit zu durchdringen. Jemand war aus dem Aufbau herausgetreten, aber da war niemand mehr bei der Tür. »Jejed?« rief Mythor leise. »Kapitän?« Plötzlich hatte er das Gefühl, ein Hauch eiskalter Luft streife seinen Nacken. Er fuhr herum und sah Oblak. Golad erstarb der Schrei auf den Lippen. Seine Augen weiteten sich in namenlosem Entsetzen. Mythor machte unwillkürlich einen Schritt zurück und stieß mit dem Rücken gegen Holz. Oblak stand vor ihnen und sah sie an. Doch nicht die Augen eines Menschen waren da auf sie gerichtet. Es waren zwei 55
glühende Lichter in einem Schwall fließender Düsternis. Mythors Herz schlug rasend. Er war wie gelähmt, konnte nichts tun und fühlte sich vom Blick dieser furchtbaren Augen durchbohrt. Er stand auch noch mit angehaltenem Atem da, als Oblak sich umwandte und davonging, bis die Dunkelheit ihn schluckte. »Bei Quyl!« flüsterte der Sohn des Kometen. »Hast du das gleiche gesehen wie ich, Golad?« »Er ist kein Mensch!« Das Heulen des Sturmes riß Golad die Worte von den Lippen. »Er bewegt sich wie…« Auch Mythor fand keinen Vergleich, der passend genug gewesen wäre. Eisige Schauer liefen ihm über den Rücken. Er kämpfte um seine Beherrschung. »Dann ist Jejed jetzt allein mit Farina«, flüsterte er endlich. »Worauf warten wir dann noch?« Golad hatte Angst, furchtbare Angst. Der Regen wurde in Schauern über das Deck geblasen, wie von finsteren Mächten herbeigerufenen Schleiern, hinter denen sich das nackte Grauen verbarg. Irgend etwas in Mythor schrie nach Licht, aber er wußte, daß es nun keinen Ort mehr auf der Gasihara gab, der sicher war. Erkannte Jejed denn wirklich nicht, wer da an Bord gekommen war? Welches gemeinsame Schicksal mochte ihn und Oblak verbinden, daß er sich weigerte, die grausame Wahrheit zu sehen? Mythor klopfte an die lur. Erst beim drittenmal war von drinnen Jejeds dunkle Stimme zu hören. Ein Riegel wurde beiseite geschoben. Licht fiel durch den schmalen Spalt. Mythor wartete nicht darauf, daß der Kapitän nach seinen Männern rief. Er riß die Tür auf, schob Golad an sich vorbei und brachte blitzschnell seine Hand auf Jejeds Mund. Der Morone war viel zu überrascht, um Widerstand zu leisten. Mythor schloß die Tür wieder, legte den Riegel vor, sah Farina auf dem Boden kauern und sagte schnell: »Sei ruhig, 56
Kapitän. Du wirst gleich alles verstehen. Wir kommen als Freunde… Freunde, die du brauchen wirst.« Golad ließ sich neben Farina zu Boden fallen. Das Mädchen schluchzte laut auf und schlang weinend die Arme um seinen Hals. Jejed starrte Mythor zornig an. Erst jetzt schien ihm einzufallen, daß er es an Kräften mit dem Krieger aufnehmen konnte, doch Mythors Griff war eisern. Mit der Linken bog er Jejeds Arm nach hinten, mit der Rechten zog er den Kopf des Moronen in den Nacken. »Ich lasse dich los, Jejed, wenn du versprichst, nicht nach deinen Leuten zu rufen. Wenn wir gekommen wären, um euch niederzumachen, wären wir nicht allein hier. Du brauchst uns nichts vorzuspielen. Wir wissen, daß du Hilfe brauchen wirst.« Der Morone rang nach Luft. Endlich nickte er heftig. Mythor nahm die Hand fort. Langsam drehte sich Jejed zu ihm um. Mißtrauen und Unsicherheit lagen in seinem Blick. Dann funkelten seine Augen wieder zornig. »Dafür werde ich euch auspeitschen lassen!« stieß er hervor. »Ich schwöre euch, ihr…« »Schwöre nicht! Wir wissen, daß du nicht so bist, wie du dich gibst. Wir wissen, daß du das Mädchen beschützen willst. Aber bald werden deine Männer kommen, wenn die Angst vor dem, was draußen geschieht, übermächtig wird. Dann werden sie auch auf dich keine Rücksicht mehr nehmen, Jejed!« Der Morone schwieg. Lange sah er in Mythors Augen und begegnete nur Offenheit und Ehrlichkeit. Endlich setzte er sich. »Woher?« fragte er nur. »Woher wißt ihr es?« Mythor winkte ab. »Das spielt jetzt keine Rolle, Jejed. Du sollst wissen, daß es auf diesem Schiff Männer gibt, die dir 57
ihre Hilfe anbieten und eher sterben würden, als daß sie zuließen, daß dieses unschuldige Mädchen für einige abergläubische Narren geopfert wird.« Der Kapitän ließ seine Maske vollends fallen. »Du fielst mir schon auf, Krieger«, sagte er. »Glaube nicht, daß es mir Freude bereitet, euch peitschen zu lassen. Aber es ist nötig. Nur so werdet ihr zu einer Gemeinschaft zusammengeschmiedet, die alle Schrecken ertragen kann, die auf euch warten.« Mythor bekam Mitleid mit dem Moronen. Er spürte, wie einsam dieser mächtige Mann im Grunde doch war. Lange mochte Jejed darauf gewartet haben, jemandem sein Herz ausschütten zu können. Aber die Zeit drängte. Der Sturm und die aufgepeitschte See rüttelten immer heftiger am Schiff. Irgendwo draußen, an Deck und auf den Ruderbänken, schrien Männer Befehle, knallten Peitschen. Jedesmal zuckte Jejed leicht zusammen. Mythor legte’ ihm die Hände auf die mächtigen Schultern. »Jejed, wir müssen uns etwas einfallen lassen. Wir müssen das Mädchen in Sicherheit bringen, bevor es zu spät dazu ist. Und…« »Und?« fragte Jejed. Mythor zögerte. »Oblak«, sagte er dann. »Ich weiß nicht, was euch beide verbindet, aber…« Mythor blickte Golad hilfesuchend an, doch dieser sah nur noch Farina. »Wir haben seine Augen gesehen, und…« Augenblicklich wurde die Miene des Kapitäns abweisend. »Niemand rührt ihn an. Was soll mit seinen Augen sein?« »Dann hast du nichts gesehen?« »Rachamon hat dich aufgehetzt, ist es nicht so?« »Jejed, wir haben kein Wort mit dem Magier gesprochen!« Der Morone biß die Lippen aufeinander und starrte finster vor sich hin. »Ich kann nicht glauben, daß meine Mannschaft sich gegen mich erhebt.« 58
»Noch nicht, Jejed. Aber…« Mythor suchte nach Worten. »Spürst du es denn nicht? Öffne die Augen! Etwas ist an Bord gekommen, was uns alle vernichten kann!« »Nicht Oblak!« Mythor ballte die Hände. Plötzlich schlugen prasselnd Hagelkörner gegen die Wände. Das Heulen des Sturmes drang durch die Türritzen und brachte eisige Kälte herein. Und als es sich zu einem Kreischen wie von tausend Dämonen steigerte, wurde es von einem gellenden Schrei zerrissen. Jejed sprang auf. Golads Kopf fuhr herum. Farinas Schluchzen erstarb. Namenloses Entsetzen stand in ihren Augen. »Das ist Rachamon!« flüsterte Jejed. »Ihr bleibt hier und verriegelt die Tür hinter mir. Meine Männer sollen euch nicht sehen.« Bevor Mythor ihn zurückhalten konnte, hatte der Morone den Riegel zurückgerissen und stürmte hinaus. Wieder war Rachamons Schreien zu hören, und wütendes Heulen antwortete ihm. Hagel schlug in die Unterkunft, als auch Mythor ins Freie huschte und die Tür hinter sich zuzog. Im Schutz der Dunkelheit folgte Mythor dem Moronen bis ins Heck der Lichtfähre. Er mußte gebeugt gehen. Der Sturm zerrte an seinen Haaren und der Kleidung. Große Hagelkörner bedeckten die Planken, und eine feste Eiskruste hatte das Deck überzogen. Die aufgepeitschte See schaukelte das mächtige Schiff auf und ab. Gischt spritzte weiß in die Höhe, und wo Seewasser über Deck schwappte, gefror es binnen weniger Atemzüge. Innerhalb kürzester Zeit war die Temperatur bis weit unter den Gefrierpunkt gesunken – und das hier im Süden! Mythor bedauerte die Legionäre, die unermüdlich zum Weiterrudern angetrieben wurden. Sie würden sich den Tod holen, wenn das Wetter sich nicht besserte. 59
Hinter den Kisten, unter denen vor ihm schon Sadagar und Chrandor Schutz gefunden hatten, kauerte Mythor sich nieder. Seine Finger begannen steif zu werden, doch das nahm er kaum wahr. Fassungslos starrte er auf das, was sich seinen Augen bot. Der Steuermann stand hoch aufgerichtet am Ruder. Neben ihm hing eine Öllampe, die heftig im Wind schaukelte und unheimliche Schatten zauberte. Ein paar Schritte vor ihm kniete Rachamon auf den gefrorenen Planken und rutschte wie besessen umher, wie um etwas gierig aufzuraffen oder einzufangen. »Meine Siebenläufer!« schrie er. »Sie sind fort, alle fort! Jejed, sie sind über Bord gesprungen!« Mythor hatte Mühe, die Worte zu verstehen. Wieder heulte der Wind auf, und mächtige Wellen brachen sich am Schiff. Doch was er hörte, reichte ihm vollauf. Auch Jejed stand wie zu Stein erstarrt vor dem Magier. Rachamon richtete sich auf, rutschte fast aus und reckte die geballten Hände in den Himmel. Die Worte, die er schrie, wurden vom Sturm verschluckt. Die Siebenläufer sind über Bord gesprungen! Die Glücksbringer, die jedes aufkommende Wetter und jedes bevorstehende Unheil als erste spürten! Was brachte sie dazu, freiwillig den nassen Tod zu suchen? Vorsichtig schob Mythor sich weiter an die Männer heran. Drei Seefahrer liefen an ihm vorbei, rutschten aus, rappelten sich wieder auf, ohne ihn zu sehen. »Ich kann die Elemente nicht mehr beeinflussen!« schrie der Magier. »Und einzig Oblak ist daran schuld! Jejed, auch du wirst ihn nicht länger schützen! Er ist verflucht! Die Geister der Untoten in ihm wollen Opfer!« Rachamon drehte sich zu den Seefahrern um. »Jejed ist nicht länger euer Kapitän! Geht und sucht den Untoten! Werft ihn über Bord, bevor wir alle 60
sterben müssen!« »Nein!« gellte Jejeds Schrei durch Sturm und Nacht. »Hört nicht auf ihn! Er…!« So schnell, daß Mythor ihn erst wieder sah, als er schon hinter dem Moronen war, stürzte der Magier auf Jejed zu. Ein Arm mit einer schweren Holzlatte zuckte in die Höhe und fuhr herab, einmal, zweimal. Mit einem röchelnden Laut brach Jejed zusammen. Weitere Seefahrer kamen heran. Mythor, der schon auf dem Sprung gewesen war, um Jejed beizustehen, duckte sich wieder. Gegen diese Übermacht konnte auch er ohne Waffen nichts ausrichten. Jetzt konnte er nur noch eines tun. Er schlich sich auf dem glatten Eis vorsichtig zurück, während Rachamon den Männern noch Befehle zurief. Einige von ihnen zögerten, ihn als ihren neuen Herrn anzuerkennen. Aber das würde sich schnell ändern. Mythor erreichte ungesehen den Decksaufbau, wartete bebend, bis Golad ihm öffnete, und sagte schnell: »Ihr beide bleibt hier! Ich hole Yellen und die anderen! Bereitet euch auf einen Kampf vor! Öffnet nur auf dreimaliges Klopfen!« Golad fragte etwas, doch schon war Mythor wieder verschwunden. Auf den Ruderbänken brachen Tumulte aus. Mythor erreichte die in den Schiffsbauch führende Treppe, riß die Klappe hoch und kletterte hinunter. In knappen Sätzen berichtete er über das Vorgefallene, und kurz darauf folgte ihm seine kleine Streitmacht von drei Dutzend Legionären an Deck. Auch Sadagar und Chrandor waren bei ihnen. »Zu Golad«, sagte Mythor schnell. »Yellen, du führst die Männer an. Verteidigt euch, bis ich zurück bin.« »Du kommst nicht mit uns?« wunderte sich der Weißhaarige. »Später, Yellen. Zuerst muß ich Oblak finden.« »Dann komme ich mit! Kein Mann hat allein eine Chance 61
gegen den…« »Ich gehe allein!« wehrte Mythor entschlossen ab. »Dann nimm das hier mit!« Steinmann Sadagar stand neben ihm und zog eines seiner Messer unter der Samtjacke hervor. Mythor nahm die Waffe an sich und verzichtete darauf, Fragen zu stellen. Er verschwand in den Nebelschleiern, die sich wie herbeigezaubert plötzlich über das Schiff gelegt hatten, als der Hagel aufhörte und der Sturm abrupt nachließ. Die Schritte der Männer entfernten sich schnell. Mythor war allein. Aber wo sollte er mit der Suche beginnen? Für einen wie Oblak, der jeden Winkel der Gasihara kannte, gab es Verstecke zuhauf. Ein furchtbarer, langgezogener Schrei gab Mythor die Antwort. Noch bevor er sich auf den Weg zurück zum Heck machen konnte, ging ein Knirschen und Ächzen wie von berstendem Holz durch das gesamte Schiff. Dann spritzte die Gischt viele Mannslängen hoch in die Luft, und es war, als hätten die Fäuste eines Riesen die Lichtfähre gepackt und zögen sie mit großer Gewalt mit sich fort. Die Schreie der Ruderer waren zu hören und dann wieder Rachamons Stimme: »Der Steuermann ist fort! Das ist Oblaks Werk! Und wir… bei allen Göttern, wir geraten in die IsminaStrömung!« Die Ismina-Strömung! Nun wußte Mythor mit Sicherheit, daß es keine Rettung für die Gasihara gab. Rachamon konnte die Elemente nicht mehr beeinflussen. Was Oblak in sich trug, mußte seine Magie unwirksam machen. Und von Männern, die in Sarphand mit Seeleuten zusammengesessen und gezecht hatten, wußte Mythor, daß ein Schiff, das einmal in die Strömung geraten war, unrettbar den Gewalten der Strudelsee ausgeliefert wurde. Sie führte sie alle ins Verderben, in noch gefährlichere 62
Gewässer und schließlich in den gefährlichsten und legendenumwobenen Sarmara-Strudel selbst, von dem es hieß, daß er die Wassermassen der See in sich aufsauge und am Ende der Welt wieder emporspüle, von wo sie nach vielen Jahren wieder zum Zentrum zurücktrieben. Denn allgemein herrschte der Glaube, daß die Strudelsee die Urquelle allen Wassers sei, auf dem wiederum die Landmassen nur schwammen. Diese Gedanken schossen Mythor durch den Kopf, als er das Messer fester packte und sich, jede Deckung ausnutzend, auf dem glitschigen Boden an den Gestellen und dem Deckaufbau vorbeischlich, bei dem jetzt bereits heftig gekämpft wurde. Mythor mußte an sich halten, nicht seinen Freunden zu Hilfe zu eilen. Sie mußten selbst mit der von Rachamon aufgehetzten Mannschaft fertig werden. Er hatte einen anderen Kampf auszufechten. Dabei kam ihm noch nicht der Gedanke, daß es nicht nur Oblak sein könnte, der das Schiff ins Verderben führte, sondern etwas anderes, das in der Nacht lauerte, das seiner Spur gefolgt war und nur auf die Gelegenheit wartete, endgültig von ihm Besitz zu ergreifen. Ein Schatten, schwärzer als die Nacht…
Rachamon trieb die Seefahrer unablässig an, packte die zu Boden Geschlagenen und stieß sie ins Kampfgetümmel zurück. Keiner von ihnen war noch im Heck der Lichtfähre, als Mythor die Kisten erreichte. Der Nebel war noch dichter geworden und erstickte fast das Licht der Öllampe. Jejed lag blutüberströmt noch an der Stelle, an der der Magier ihn heimtückisch niedergeschlagen hatte. Mythor beugte sich über ihn und stellte erleichtert fest, daß das Herz des Hünen noch schlug. Gerade schickte er sich an, erste 63
Wiederbelebungsversuche zu machen, als ihn ein Geräusch zusammenfahren ließ. Dort, wo eben noch nichts außer der wild schlagenden Stange des Steuerruders gewesen war, stand der Steuermann wie eh und je, das Ruder fest im Griff und die Augen starr geradeaus gerichtet. Und diese Augen waren glühende Lichter, die selbst die Nebelschwaden mühelos durchdrangen. Lähmendes Entsetzen griff nach Mythors Herz. Wie viele Männer an Bord mochten schon so sein wie er? Wie viele hatte Oblak in seine Gewalt gebracht, damit das unheimliche Leben, das in ihm war, auch von ihnen Besitz ergriff? Unwillkürlich hatte der Sohn des Kometen einige Schritte auf den Untoten zugemacht. Der Steuermann schien ihn gar nicht zu sehen. Er hielt das Ruder, und mit Sicherheit würde er das Schiff nicht aus der Strömung herausbringen wollen – im Gegenteil. Er manövrierte es immer tiefer ins Verderben. Zorn und Verzweiflung überkamen Mythor. Mit einem Schrei stürmte er vor, und mit solcher Wucht rammte er dem Verlorenen den Kopf in den Leib, daß der Steuermann in weitem Bogen über Bord ging. Mythor hörte, wie sein schwerer Körper auf das Wasser klatschte, und sah, wie er, von rotem Leuchten umspielt, versank. Was immer in ihn gefahren war und seine Seele getötet hatte – es strömte aus ihm heraus. Mythor fuhr herum, als er das Scharren hinter sich hörte. »Oblak!« Die Gestalt, die sich, schwarz wie die Nacht, an Jejed zu schaffen gemacht hatte, verharrte in der Bewegung. Für Augenblicke war es, als löse sie sich auf. Dann drehte sie ganz langsam den Kopf. Das Feuer aus den furchtbaren Augen schien Mythor verbrennen zu wollen. Irgend etwas lähmte ihn. Er war nicht fähig, auch nur einen Schritt zu machen. Oblak zerrte Jejed in die Höhe. Ein dämonisches Grinsen trat 64
in sein Gesicht, als er den Kapitän auf den Armen hatte. »Du wirst mich nicht daran hindern, ihren Willen zu erfüllen, Krieger!« zischte er, und seine Stimme hatte nichts Menschliches an sich. »Auch du wirst zu uns gehören; doch Jejed soll verschont werden!« Und Mythor sah, wie der Unselige den Moronen über das Deck trug, bis zum Rand. Er konnte nichts tun. Er wollte schreien, aber kein Laut kam über seine Lippen. Er wollte rennen, doch die Beine waren schwer wie Blei. Oblak holte Schwung.
Yellens Männer waren in der Überzahl, aber ihre Körper waren vom Rudern geschwächt, ihre Arme wollten ihnen nicht mehr recht gehorchen. Ihre Beine knickten ein, und einige sanken zu Boden von einem Fausthieb, den sie sonst lachend eingesteckt hätten. Es war ein erbitterter, aber kurzer Kampf. Golad hatte sich mit Farina eingeschlossen. Nur Yellen und eine Handvoll anderer kämpften wie die Löwen. Sadagar war verschwunden, angeblich, um einen Gurt mit elf Messern aus seinem Versteck zu holen, und Chrandor lag in einen der Schlafsäcke eingewickelt. Yellen wurde als letzter mit einer Holzstange zu Boden gestreckt. »Fesselt sie!« befahl Rachamon, und niemand wagte, gegen den Seemagier aufzubegehren. Hoch aufgerichtet stand er da und gab sich keine Mühe, seine Genugtuung zu verbergen. Wenigstens diesen einen Sieg hatte er errungen, den Sieg über Jejed und die Mannschaft. Von nun an hörten die Männer auf ihn, und sollte es ihnen gelingen, Oblak über Bord zu werfen, war vielleicht noch nicht alles verloren. Allerdings nagten jetzt wieder Zweifel an Rachamons 65
Überzeugung, daß Oblak allein für das Versagen seiner Magie verantwortlich sei. Undeutlich spürte er wieder, daß da noch etwas anderes, weitaus Mächtigeres war, das an den Grundfesten des Gleichgewichts rüttelte, das die Welt zusammenhielt. Und es wurde stärker, es kam näher. »Verteilt euch über das Schiff!« befahl er. »Geht zu zweit und ruft sofort, wenn ihr Oblak seht!« Inzwischen waren auch die vier, die unter Deck betäubt worden waren, wieder zu sich gekommen und hatten durch Schreie auf sich aufmerksam gemacht. Auf den Ruderbänken befanden sich nur noch jeweils zwei Seefahrer. Alle anderen drängten sich um den Magier. Nur zögernd machten sie sich auf den Weg. Sie hatten viele Kämpfe ausgefochten, bevor sie sich Jejed anschlossen. Manch einer war nur knapp dem Henker entgangen, und doch waren es Menschen aus Fleisch und Blut gewesen, die ihnen auf Leben und Tod gegenübergestanden hatten. Oblak aber… Kaum einer wagte noch, diesen Namen laut auszusprechen. Geduckt und schweigend verschwanden sie im Nebel, zuckten bei jedem Laut zusammen und schrien auf, wenn sie eine Bewegung vor sich zu erkennen glaubten. Die Schatten wurden lebendig. Das Unheimliche schlich sich in die Seelen der Männer. Überall konnte der Tod lauern, hinter jedem Balken und auf den Ruderbänken, auf denen es seltsam still geworden war.
Mythor versuchte verzweifelt, wenigstens die Hand mit dem Messer zu heben, obwohl er nicht daran glaubte, daß er Oblak mit der Waffe etwas anhaben könne. Aber auch der rechte Arm gehorchte ihm nicht. Der Untote holte weit aus, Jejeds schlaffen Körper auf den Armen. Mythor schloß die Augen, um nicht sehen zu müssen, wie der Morone über Bord ging. Er 66
wartete auf das Klatschen. Aber es blieb aus. Er öffnete die Augen und sah Oblak immer noch in der gleichen Haltung wie zuvor. Und als ob etwas den Bann, unter dem er gestanden hatte, auf den Untoten übertragen hätte, konnte er sich plötzlich wieder bewegen. Eine seltsame Wärme breitete sich über seinen Körper aus, trotz der klirrenden Kälte der Nacht. Mythor umklammerte den Griff des Messers und schlich sich von hinten an. Er stand zwei Schritte hinter Oblak, als er sah, daß die Augen des Kapitäns weit aufgerissen waren. Rotes Feuer spiegelte sich in ihnen. »Oblak!« stieß der Morone heiser aus. Das Sprechen mußte ihm unbeschreibliche Qualen bereiten. »Oblak, was… tust du?« Da begriff Mythor, daß Jejed im letzten Moment wieder zu sich gekommen war und daß dies etwas in Oblak wachgerufen hatte, was vielleicht noch tief in seiner ausgebrannten Seele geschlummert hatte. Welche Bande hatte diese beiden Männer zusammengeschmiedet? Offensichtlich wollte der Untote Jejed ein grausames Schicksal ersparen, indem er ihn über Bord des Schiffes warf, das er sich Untertan zu machen gedachte. Aber warum? Mythor drängte alle Fragen zurück. Oblak war es nun, der wie gelähmt am Rand des Schiffsdecks stand. Diese vielleicht nie wiederkehrende Schwäche galt es zu nutzen. Mythor schnellte sich vor, riß den Untoten herum, griff blitzschnell nach Jejed und legte den Kapitän, der noch keine Kraft in den Gliedern hatte, hinter sich auf die Bohlen. Ebenso schnell fuhr er wieder hoch und stand für die Dauer eines Herzschlags Angesicht in Angesicht Oblak gegenüber. Das Feuer in dessen Augen war erloschen, doch schon glomm ein neuer Funke darin auf. Mythor dachte nicht daran, sich noch einmal von dem, was in ihnen wohnte, in den Bann 67
schlagen zu lassen. Oblak sah die Entschlossenheit in seinem Gesicht und wich zurück. Mythor setzte nach, bekam ihn am Arm zu fassen und setzte ihm die Spitze des Messers an den Hals. Und Oblak fing sich. Ein heiseres Lachen entrang sich seiner Kehle. »Glaubst du wirklich, mich damit töten zu können, Krieger?« höhnte er. Bevor Mythor das Messer zurückziehen konnte, stieß der Kopf des Seefahrers vor, und die Klinge bohrte sich tief in seinen Hals. Lachend ruckte Oblak hin und her, daß der Stahl kreuz und quer durch das Fleisch schnitt. Aber kein einziger Tropfen Blut quoll hervor, lief an der Klinge entlang. Ganz kurz nur sah Mythor winzige rote Lichter, wie Funkenflug, die im Körper des Unglückseligen wühlten. Er zog den Arm zurück. Aus den Augenwinkeln heraus gewahrte er eine Bewegung. »Ich bin’s, Sadagar«, hörte er. »Ich… komme dir zu Hilfe, Mythor. Ich habe meine Messer.« »Sie sind wertlos! Sieh ihn nicht an, nicht in sein Gesicht!« Oblak wich nicht länger zurück. Die unheimliche Glut in seinen Augen schien Mythor abermals in ihren Bann schlagen zu wollen. Doch diesmal war der Sohn des Kometen vorbereitet. Er wich blitzschnell zur Seite, als Oblak sich auf ihn zuschnellte. Der Untote rutschte auf der Eisschicht aus, drehte sich mit der Geschmeidigkeit einer Katze noch im Fallen und war auf den Beinen, bevor Mythor bis drei zählen konnte. Bebend fauchte Oblak: »Die hungrigen Seelen werden euch alle bekommen, außer Jejed! Und du machst den Anfang, mein Freund!« Er stürzte vor und bekam Mythor zu fassen. Wie Schraubstöcke schlangen sich seine Arme um den Leib des Kriegers. Mythor hatte alle Mühe, sich auf den glatten 68
Decksplanken auf den Füßen zu halten. Er spürte die kalten Hände des Untoten unter dem Wams, wie sie ihn fortzerren wollten. Beide Fäuste ließ er auf den Nacken des Rasenden herabsausen. Ein Hüne wäre unter diesem Schlag zusammengebrochen. Oblak jedoch lachte nur. Mit übermenschlichen Kräften zerrte er Mythor mit sich. Der bekam keine Luft mehr. Grelle Punkte begannen vor seinen Augen zu tanzen. Sadagar schrie, wagte sich aber keinen Schritt näher heran. Mythor sah das Ende der Planken vor sich. Zwei, drei Fuß trennten ihn und Oblak noch vom gischtsprühenden Abgrund. Alles in ihm verkrampfte sich. Wieder fuhren seine Fäuste auf den Rücken des Untoten herab, mit einer Wucht, die einem Ochsen das Genick gebrochen hätte. Doch Oblak steckte die Schläge ein. Die Umklammerung seiner Arme wurde noch fester. Panik erfaßte Mythor. »Nein!« schrie er gellend, holte weit mit dem rechten Fuß aus und setzte all seine Kraft in den Tritt. Oblak stieß einen heiseren Laut aus, als ihm die Beine weggerissen wurden. Sein Körper sackte nach unten, doch er klammerte sich fest. Mythor biß die Zähne aufeinander, hielt den Atem an und umfaßte die Handgelenke des Gegners. Endlich gelang es ihm, sich freizumachen. Bevor die Arme des Untoten wieder zuschnappen konnten, brachte Mythor sich mit einem Satz zur Seite in Sicherheit. Er rutschte aus, sah, wie Oblak sich katzengleich zum Sprung duckte, und trat zu. Seine Stiefel trafen den Besessenen vor die Brust. Oblaks Augen weiteten sich, ein trockener Schrei kam über seine blutleeren Lippen. Der Untote fiel hart. Blitzschnell schob sich Mythor über die vereisten Planken, bis sich Oblak zwischen ihm und dem Meer befand. Noch einmal trat er mit Wucht zu, halb auf dem Rücken liegend und die Hände weit von sich gestreckt, um einen möglichst guten Halt zu bekommen. 69
Oblak hatte nichts, woran er sich festklammern konnte. Er rutschte über das Eis. Für ein, zwei Augenblicke ruderten seine Arme wild durch die Leere. Dann fiel er. Ein grauenvoller, langer Schrei war das letzte, was jene, die inzwischen vom Kampfeslärm herbeigelockt worden waren und einen Halbkreis um die Gegner gebildet hatten, von ihm hörten. Schwer atmend lag Mythor da. Der Schweiß brach ihm aus den Poren, und sein Herz klopfte so heftig, als wolle es ihm die Brust sprengen. Für eine Weile war es vollkommen still an Bord, selbst das Heulen des Windes erstarb nun völlig, als sei die Luft erstarrt. Niemand sprach ein Wort. Niemand jubelte. Aller Augen waren auf Mythor und die Stelle gerichtet, an der Oblak eben noch gelegen hatte. Dann war es Steinmann Sadagar, der den Bann brach. Er stürzte auf Mythor zu, fiel neben ihm auf die Knie und schlang dem Gefährten die Arme um den Hals. »Du hast ihn besiegt, Mythor! Bei Erain, es ist vorbei!« »Du brauchst mich darum nicht gleich zu erdrücken«, sagte Mythor geistesabwesend. Er spürte, wie sich Blicke in seinen Nacken bohrten, und drehte langsam den Kopf. Rachamon stand vor ihm, in der Hand eine Öllampe. Und der Blick des Magiers war eisig, gnadenlos, und Furcht und Entsetzen schwangen in ihm mit, ein Grauen, das er nur mühsam unterdrücken konnte, als er nun die Hand hob und anklagend auf Mythor zeigte. »Nichts ist vorbei! Nicht Oblak allein war es, der das Schiff ins Verderben trieb!« Er stieß zwei Seefahrer an. »Packt euch den Verfluchten und werft ihn Oblak hinterher. Er besiegte ihn mit den Kräften des Bösen, das in ihm wohnt!«
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Rachamon hatte gespürt, wie es stärker und stärker wurde, näher und näher kam: das nicht Greifbare, dunkler als die dunkelste Nacht. Es folgte dem Schiff wie etwas, das sich behutsam vortastete und doch mit einer unstillbaren Gier. Als die Seefahrer schrien und nach ihm riefen, war es da, irgendwo dort draußen in der Finsternis, und wartete. Rachamon, der niemals die Mächte der Finsternis zu beschwören versucht hatte, spürte, wie es seine unsichtbaren Fühler nach ihm ausstreckte. Irgend etwas war für kurze Zeit in ihm, tastete ihn ab, seine Seele, seinen Geist. Dann zog es sich so schnell zurück, wie es gekommen war. Aber es blieb in der Nähe der Fähre. Es suchte ein ganz bestimmtes Ziel, einen Menschen, der an Bord war. Nein, Rachamon gehörte nicht zu den Magiern, die bereit waren, einen Pakt mit dem Bösen zu schließen. Er hatte andere gesehen, die von den Mächten, die sie beschworen hatten, verzehrt wurden. Niemals würde er dies vergessen können. Und so war nicht die Versuchung in ihm, sich dieses Etwas nutzbar zu machen, um wieder Macht über die Elemente zu gewinnen, sondern blanke Angst. Er spürte wieder, wie die Schwärze näher kam, als er inmitten der Mannschaft stand und den Zweikampf beobachtete. Sie tastete sich vor, Rachamon konnte es fühlen und glaubte einmal, einen Schatten zu sehen, der über den Kämpfenden schwebte. Und immer dann, wenn Oblak für kurze Zeit die Oberhand gewann, zuckte es zurück, als fürchte es die Seelen der Untoten. Doch nicht Oblak war sein Ziel. Das erkannte der Magier, als der Schatten nicht mit dem Untoten verschwand, nachdem Oblak in den Fluten der Ismina-Strömung versank. Dieser dunkelhaarige Krieger, der nun schwer atmend auf den Planken lag, zog das Böse an. Er mußte von Bord. Vor ihm und Oblak waren die Siebenläufer geflohen. Viel früher als er 71
hatten sie das Böse gespürt und den Tod dem vorgezogen, was da kommen würde. Angst und verzweifelte Hoffnung erfüllten den Magier, als er anklagend auf Mythor deutete. Angst vor dem Schatten und Hoffnung, doch noch das Verderben abwenden zu können, wenn das Schiff endlich rein war. »Wartet!« rief Rachamon, als die Männer sich auf den Krieger stürzen wollten. »Holt einen Sack aus Leder und steckt ihn hinein! Bindet ihn gut zu, denn er soll Luft haben, um so lange zu leben, daß das Böse ihm folgt, wenn er davongetrieben wird!« Kaum hatte er ausgesprochen, als das Schiff sich neigte und herumgerissen wurde wie ein Stück Holz in der Strömung. Männer rutschten aus und gingen schreiend über Bord. Die Gasihara wurde hart durchgeschüttelt. Schauriges Geschrei drang von den Ruderbänken herauf, wo die Legionäre längst nicht mehr die Ruder bedienten. Rachamon wußte, was das bedeutete. Holz knirschte, und weiße Gischt spritzte über das Deck. Hände griffen um sich und suchten verzweifelt nach einem Halt. Immer schneller wurde das Schiff. Dies war der Sarmara-Strudel, und keine Magie konnte die Lichtfähre noch retten – ausgenommen jene, die Rachamon mehr fürchtete als den Tod. Von nun an würde die Lichtfähre immer heftiger auf den Mittelpunkt des Strudels zugerissen werden, von Kräften, die nur jenen vergleichbar waren, wie sie die Welt selbst geschaffen hatten. »Holt den Sack!« schrie der Seemagier. »Worauf wartet ihr?«
Steinmann Sadagar krallte sich mit den Fingern in einer Ritze fest, bis das Schiff zur Ruhe kam und in einem Wirbel des 72
Strudels dahinschoß. Eiseskälte griff nach seinem Herzen. Es durfte nicht geschehen! Die Männer, die Rachamon fortgeschickt hatte, kamen mit einem großen Ledersack zurück. Noch lag Mythor wie benommen auf dem Rücken und schien nicht fassen zu können, was er sah und hörte. Warum sprang er nicht auf und lief davon? Allein der Kampf konnte ihn nicht so geschwächt haben. Aber er war wie gelähmt. Sadagar hatte den furchtbaren Verdacht, daß er sich nicht einmal wehren würde, wenn die Männer nach ihm griffen. Verzweifelt sah der Steinmann sich um. Seine Hand tastete nach der Jacke und fühlte den Gurt mit den Messern darunter. Aber er war einer gegen ein Dutzend! Selbst wenn er zwei, drei der Männer töten konnte, würden die anderen über ihm sein, bevor er die nächste Klinge schleudern konnte. Und als Toter nützte er Mythor nichts. Er sah den Kapitän zwei, drei Schritte neben sich liegen. Hastig kroch er auf Jejed zu und rüttelte an den Schultern des Moronen. Rachamon schenkte ihm keine Beachtung. Die Seefahrer, die nicht über Bord gegangen waren, näherten sich Mythor wie einem gefährlichen, in die Enge getriebenen Tier. »Jejed«, flüsterte Sadagar verzweifelt. »Befiehl ihnen, daß sie von ihm lassen sollen! Laß nicht zu, daß sie ihn umbringen!« Doch die Augen des Kapitäns waren blicklos in die Ferne gerichtet, als sei kein Leben mehr in ihnen. Sadagar drehte ihm den Kopf so, daß er ihn ansehen mußte, aber sein Blick ging durch ihn hindurch. »Nein!« schrie Sadagar, als kräftige Arme sich Mythor entgegenstreckten, Hände sein Wams packten und ihn roh in die Höhe zerrten. Und Mythor ließ alles willenlos mit sich geschehen! »Nein!« Mit dem Mut der Verzweiflung stürzte sich der Steinmann auf die Seefahrer, verteilte Tritte, rutschte aus und kam wieder 73
auf die Beine. Er griff in den Bart desjenigen, der den Sack aufhielt, und schlug die Faust tief in dessen Magengrube, bis er selbst von einem Schlag getroffen wurde und benommen zurücktaumelte, über ein heimtückisch gestelltes Bein fiel und mit dem Hinterkopf hart auf die Planken schlug. Was nun weiter geschah, nahm Sadagar nur noch wie durch Nebel wahr, die sich vor seinen Geist geschoben hatten. Mythor ließ sich willenlos in den Sack stecken. Rachamon selbst band ihn zu und zog die Schlinge so fest, daß seine Handknöchel weiß hervortraten. »Nadomir!« flüsterte Sadagar. Nexapottl! »In den Strudel mit ihm!« rief der Seemagier. Er trat zurück. Vier Hände packten sich den Sack, holten Schwung und beförderten ihn in hohem Bogen über die Seile. Irgend etwas zuckte durch das Dunkel, tiefschwarz und ohne erkennbare Form. Es entfernte sich vom Schiff und wurde von der Nacht verschluckt. Nadomir! Sadagar hatte die drei Ringe in den Händen und rieb sie gegeneinander, ohne zu wissen, was er tat. Er hörte das Aufklatschen des Sackes, dann nur noch das Heulen des wiederauflebenden Windes und das Rauschen des Wassers. Nexapottl, erscheine mir! Rette Mythors Leben! Aber der Königstroll kam nicht. Sadagar verfluchte sich selbst für seine Dummheit, als er Nadomir allein aus gekränkter Eitelkeit angerufen hatte. Aber wußte der Troll denn nicht, daß Mythor hilflos war, dem Sarmara-Strudel geopfert, nur weil er sich nicht hatte wehren können – oder wollen? Nexapottl! Nexapottl! Ich rufe dich bei deinem wahren Namen, den du mir anvertrautest! Ich, Feged, bitte dich, erscheine! Wenn du mir schon grollst, so rette wenigstens Mythor! Rette Mythor! Doch nichts geschah.
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Vielleicht hatte Rachamon einen Zauber gewirkt, der den Ledersack so gut verschloß, daß keine Luftblase aus ihm perlte, als er mit Mythor unterging, von den tobenden Wassern umhergewirbelt und schließlich wieder an die Oberfläche gespült wurde. Vielleicht waren es auch nur seine geschickten Hände gewesen, die bewirkt hatten, daß der über Bord Geworfene nicht sofort starb. Mythor hätte nicht einmal den Kampf gegen den Tod aufgenommen. Er war unfähig, irgend etwas zu tun. Er erkannte, daß er in großer Gefahr war, doch wie eiserne Barrieren hatte sich das Grauen vor sein Denken gelegt. Denn eines, ein Eindruck, eine entsetzliche Furcht, überlagerte alle anderen Wahrnehmungen und Empfindungen. Das hatte ihn gelähmt, zu einer willenlosen Puppe gemacht, und das kam näher, unbarmherzig, unaufhaltsam. Der Schatten! Er war wieder da, aufgetaucht just in dem Augenblick, in dem die Bedrohung durch Oblak gebannt schien. Mythor fühlte, wie er sich ihm näherte, sah schwarze Nebel, die gräßliche Klauen ausbildeten, um nach ihm zu greifen. Wieder riß der Strudel den Sack in sich hinein, zog ihn in die Tiefe, eine gewaltige Luftblase mit einem Menschen darin, der mehr tot als lebendig war. Doch Mythor atmete, und mit jedem Atemzug nahm er mehr von der kostbaren Luft, bis sie völlig verbraucht sein würde und er den Tod erlitt, den der Seemagier ihm zugedacht hatte – weit genug von der Gasihara entfernt. Die schwarzen Nebel verschwanden, kehrten zurück, lösten sich wieder auf, um sich ganz langsam um den Eingeschlossenen zusammenzuziehen – gerade so, als ob der Schatten die Qualen seines sicheren Opfers so lange wie möglich genießen wolle, als gäben sie ihm Nahrung, als wolle 75
er nun, ganz kurz vor seinem lang ersehnten Ziel, jeden Augenblick auskosten. Mythor wurde herumgerissen, drehte sich mit dem Ledersack, schwitzte und suchte nach einem Halt. Dann griff der Schatten an, und endlich, als Mythor fühlte, wie etwas wütend an dem Leder zerrte, fiel der Bann von ihm ab. Es war, als erwache er aus einem ungeheuer tiefen, bösen Traum, schweißgebadet und unendlich schwach. Aber da war nicht mehr das Gefühl, hilflos einem ungreifbaren Gegner ausgesetzt zu sein. Was da am Leder riß und sich wütend Einlaß zu verschaffen suchte, war etwas Körperliches. Mythors Sinne waren verwirrt. Er wußte nicht, wie er in diese Blase aus Luft und Leder gekommen war, aber sein Lebenswille erwachte mit ungestümer Gewalt. Er schrie und stemmte die Hände gegen die Stelle, an der der Sack sich einbeulte. In absoluter Dunkelheit begann ein Kampf, der am Ende nur einen Sieger kennen konnte. Doch Mythor wollte um jeden Herzschlag ringen, um jeden Atemzug und eher tausend Tode sterben, als erneut von dem Schatten besessen zu werden. Wie rasend trat der Sohn des Kometen dorthin, wo er die unsichtbaren Klauen des Bösen spürte, als könne er dadurch verhindern, daß der Schatten das Leder durchdrang. Daß dies noch nicht geschehen war, gab ihm eine verzweifelte Hoffnung. Er war verloren, irgendwo in den Fluten des reißenden Wassers. Niemand konnte ihm mehr helfen. Doch er selbst konnte verhindern, daß er zum willenlosen Werkzeug des Bösen wurde, einer Schwärze, geboren aus der tiefsten Finsternis der Dunkelzone. Er konnte sein Leben beenden, bevor der Schatten in ihn fuhr. Und als spüre der Gegner Mythors Absicht, wurden seine Angriffe noch wütender, noch ungestümer. Von allen Seiten rüttelte er nun am Leder. Mythor atmete heftig, sog gierig die 76
Luft ein. Seine Gedanken wirbelten in hellem Aufruhr wild durcheinander. Die Stationen seines kurzen Lebens zogen wie flackernde Feuer an seinem geistigen Auge vorbei, während er trat, mit den Fäusten stieß und schrie. Dabei spürte er, wie der Schatten die Lebensgeister aus ihm herauszuziehen versuchte, um ihn zu lähmen, wieder willenlos zu machen. Die Lichtwelt, das Vermächtnis des Lichtboten… und Fronja… Sein Weg, den er eben erst angetreten hatte. Durch seinen Tod würde das Licht einen Streiter verlieren, der vielleicht allein in der Lage war, die vorrückenden Mächte der Finsternis zu bannen. Irgend etwas in Mythor beschwor ihn, nicht den Tod zu suchen. Eine andere lautlose Stimme sagte ihm, daß er, einmal vom Schatten besessen, zur vielleicht größten Gefahr für die Lichtwelt werden würde. Aber hatte er nicht schon Zeichen gesetzt? Gab es nicht, nicht zuletzt durch sein kurzes Wirken, schon einige Inseln des Lichts, von denen aus der Kampf gegen das Böse aufgenommen werden mochte, auch wenn es sich über die ganze Lichtwelt ausgebreitet hatte? Waren Leone und diese anderen Stätten nicht Orte, die Heroen hervorbringen konnten, stark genug, um den Kampf aufzunehmen – auch ohne ihn? Doch die Zweifel überwogen, und mit ihnen wuchs Mythors Verzweiflung. Er begann zu rasen, schlug um sich, als könne er den Schatten allein mit seinen Fäusten bezwingen. Jeder Atemzug bereitete ihm schon unerträgliche Qualen. Grelle Punkte tanzten vor seinen Augen und wurden von der Finsternis verschluckt, die dichter wurde, immer dichter. Sie drang auf ihn ein, fraß sich in sein Denken, lähmte ihn und nahm ihm alle Kraft aus den Gliedern. Dort, wo der Schatten am Leder zerrte, glaubte Mythor Bewegungen, Schemen in der Finsternis zu sehen, die sich zusammenballten und sich auf ihn zuschoben. Er hörte seine Schreie nicht, doch seine Lungen drohten zu platzen. Allein 77
der Schmerz verhinderte noch, daß er in diesen Augenblicken aufgab. Er mußte dem Schatten zuvorkommen, sterben, ehe er zu seinem Werkzeug wurde. Mythor hielt die Luft an, schloß die Augen und streckte Hände und Füße abwehrend von sich. Nicht mehr atmen! Nicht der Versuchung erliegen, nicht auf die Stimmen hören, die da riefen: Lebe! Dann war es, als drückten sich Meeresungeheuer von allen Seiten gegen den Sack. Mythor bekam ein paar harte Stöße in die Rippen. Seine abwehrenden Hände wurden jäh zurückgestoßen. Der Verzweifelte biß die Lippen aufeinander, so fest, daß er das Blut schmeckte, das ihm in den Mund drang. Schon griff die Ohnmacht nach ihm. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis… Plötzlich war es ihm, als zögen sich die Klauen des Schattens von ihm zurück, und noch einmal bäumte sich alles in ihm gegen den Tod auf. Mythor lauschte in sich hinein -und da war etwas anderes in ihm, nicht die wispernden Stimmen, von denen er wußte, daß sie aus ihm selbst herauskamen. Der Schatten wich zurück, klammerte sich an das Leder und… kämpfte! Mythor konnte nichts sehen und nichts hören. Aber nun wußte er mit untrüglicher Sicherheit, daß dort draußen, in den Fluten des Strudels, ein unheimlicher Kampf tobte. Aber welcher Gegner hatte es mit dem Schatten aufgenommen?
Irgendwann verließ den Sohn des Kometen das Bewußtsein. Die Luft um ihn herum war verbraucht. Der Tod, den er gesucht hatte, griff mit eisigen Klauen nach ihm -jetzt, da er gerade begonnen hatte, neue Hoffnung zu schöpfen. Zeit verstrich. Irgendwann begann Mythor wieder zu fühlen, 78
zuerst den Schmerz in seinen Gliedern, dann das, was seine Hände ertasteten. Er war nach wie vor im Ledersack gefangen, doch nun hob und senkte sich seine Brust wieder unter regelmäßigen Atemzügen. Die Luft war frisch und rein, als sei er eben erst eingeschlossen worden. Ein schrecklicher Gedanke kam Mythor. Er schrie und suchte im Dunkel etwas zu erkennen. War er bereits besessen? Hatte der Schatten den Kampf gegen seinen unbekannten Gegner gewonnen und von Mythor Besitz ergriffen, kurz bevor die Flamme seines Lebens erlosch? Aber da war nichts Fremdes in ihm, nichts, was er fühlen, mit seinen Sinnen ertasten konnte. Er lebte, und er war frei in seinen Gedanken. Keine Finsternis fraß an seiner Seele. Im Gegenteil – er spürte den Schatten nicht mehr. Die Lederblase trieb weiter im Strudel, wurde herumgeworfen und gedreht, aber nichts zerrte mehr an ihr. Oder bildete er sich das alles nur ein? Er wußte doch, daß er die Luft aufgebraucht hatte. Befand er sich in einem Zustand zwischen Leben und Tod, zwischen Sein und Nichtsein, in dem er von unwirklichen Empfindungen heimgesucht wurde? Und war da nicht ein Lachen in ihm, ein belustigtes Kichern wie von einem Geist? Ein Geist? wisperte es lautlos in ihm. So nenne mich einen Geist, Sohn des Kometen! Mythor fuhr zusammen. Er drehte den Kopf, versuchte wiederum, die Dunkelheit zu durchdringen, doch da war nichts, was seine Augen sehen konnten. Wer… bist du? fragte Mythor in Gedanken. Erneut hörte er das Kichern, dann wieder die geistige Stimme: Du solltest es wissen, Mythor, aber du glaubst ja selbst deinen Freunden nicht! Meinen… Freunden? 79
Ein verwegener Gedanke kam Mythor. Sollte…? Sadagar, jawohl! Erzählte er dir nicht oft genug von mir? Und tatest du es nicht immer als Unfug ab? »Der Kleine Nadomir!« sagte Mythor laut und erschrak vor dem dumpfen Klang seiner Stimme. Ich habe viele Namen, Sohn des Kometen, der du eine arge und gefährliche Bürde mit dir herumschleppst. Ich habe Wichtigeres im Karsh-Land zu tun, als dir jetzt noch lange Erklärungen zu geben. Sieh zu, daß du den Deddeth bald besiegst, willst du nicht doch noch sein Werkzeug werden! »Den… Deddeth?« Den Schatten, der dich verfolgt. Er ist einer der Deddeth und wird sich wieder an deine Fährte heften. Für dieses Mal konnte ich ihn von dir abwenden, aber er wird dich wiederfinden. Und er wird immer mächtiger, Mythor! Mythor versuchte, sich einen Reim auf das zu machen, was er da erfuhr. Es gab den Kleinen Nadomir also wirklich. Sadagar mußte ihn herbeigerufen haben. Ihm allein hatte er die Rettung zu verdanken. Aber immer noch war er eingeschlossen. Der Schatten war verschwunden, doch der Tod wartete weiterhin auf ihn, wenn er sich nicht bald aus der Lederblase befreien konnte. Zuviel strömte auf den Sohn des Kometen ein, als daß er in diesen Augenblicken hätte Erleichterung verspüren können, obwohl etwas von ihm abgewendet worden war, tausendmal schlimmer als der Tod. Es war ziemlich dumm von dir, einfach sterben zu wollen! vernahm er. Nur wenn du den Kampf aufnimmst, kannst du den Deddeth bannen! »Wie?« fragte Mythor schnell. »Wie soll ich ihn je besiegen können?« Das wirst du schon selbst herausfinden müssen. Aber bedenke, er wird mächtiger, je länger du vor ihm fliehst! Merk dir das gut! Und jetzt muß ich zurück. Ich habe viel zuviel Zeit vergeudet! 80
»Warte!« rief Mythor, aber schon spürte er, wie das Kichern des Kleinen Nadomir schwächer wurde, sich entfernte und dann ganz erstarb. »Befreie mich aus dem Sack!« rief er verzweifelt. »Hörst du?« Er bekam keine Antwort mehr. Er war wieder allein, eingeschlossen in seinem ledernen Gefängnis, einem dünnen Sarg, der von den Strömungen mitgerissen und dann und wann hart durchgebeutelt wurde. Bald würde er erneut die Luft verbraucht haben, die nur Nadomir hineingezaubert haben konnte. Aber bedeuteten die Worte des Wesens nicht, daß er leben würde? Mythor klammerte sich an diese Hoffnung, zog Arme und Beine an und bewegte sich nicht mehr. Je ruhiger er sich verhielt, desto länger mußte die Luft reichen. Und dann? Der Strudel riß ihn weiter mit sich fort, spülte ihn an die Oberfläche, zog ihn wieder in die Tiefe und immer weiter auf sein Zentrum zu. Mythor versuchte, nicht an die Legenden zu denken, die sich um dieses Gewässer rankten. Er klammerte sich an die Worte des Kleinen Nadomir. Wie eine Nußschale wurde die Gasihara von der Strömung mitgerissen. Im Osten dämmerte der neue Tag herauf. Die ersten Strahlen der Sonne rissen die Dunkelheit auf, und der Anblick, der sich den Legionären und Seefahrern bot, brachte viele gestandene Männer an den Rand des Wahnsinns. Die Lichtfähre trieb mit ungeheurer Geschwindigkeit am Rand eines gewaltigen, unüberschaubaren Trichters, dessen fernes Zentrum tief unter dem Schiff lag. Die Wasser des Strudels kreisten um diesen Mittelpunkt, wohl schon seit Anbeginn der Welt, und mit ihnen nun die Gasihara, auf der längst nicht mehr gerudert wurde. Mit ungestümer Gewalt wurde das Schiff auf dieses Zentrum zugerissen. Es war, als habe das Meer sich geneigt. Zur einen Seite war das Nichts, 81
das alle Wasser der Strudelsee verschlingen sollte, zur anderen das Meer, turmhoch über der Lichtfähre. Und doch begruben die Fluten sie nicht unter sich. Ungeheure Kräfte hielten sie für ewige Zeiten in ihren Bahnen, die immer weiter abwärts führten, immer weiter zu auf das durch Gischt und sich plötzlich bildende Wasserhosen verborgene Loch im Boden der Welt. Rachamons Magie vermochte nichts mehr gegen den Untergang auszurichten. Keine tausend Ruder hätten die Gasihara wieder aus dem Strudel herausbringen können. Dennoch drohte der Magier jedem mit Peitschenschlägen, der versuchte, die Ruderer loszubinden oder jene, die nun unter Deck eingeschlossen waren, zu befreien. Rachamon hatte Kisten auf die Treppenklappe stellen lassen. Manch einer der Seefahrer, die nun allein mit dem Magier an Deck waren, hatte ihn verständnislos angeblickt. Doch keiner der Männer wagte, gegen ihn aufzubegehren. Obwohl sie sahen, daß seine Magie auch jetzt, da Oblak und Mythor über Bord geworfen worden waren, keine Wirkung zeigte, klammerten sich ihre letzten verzweifelten Hoffnungen doch an ihn. Nur Jejed war zu Golad und Farina in den Aufbau gebracht worden. Bei aller kreatürlichen Angst der Mannschaft konnte es Rachamon doch nicht wagen, auch ihn unter Deck zu sperren. Zwar hingen die Herzen der Männer an ihrem Kapitän, doch nach wie vor war der Morone geistig verwirrt. Er bedeutete keine Gefahr für Rachamon, ebensowenig wie die beiden Liebenden, die offenbar mit dem Leben abgeschlossen hatten. Rachamon beeindruckte die Seefahrer weiterhin durch magische Gesten und allerlei wertlose Zaubereien. Mit unbewegtem Gesicht stand er im Heck des Schiffes, sah die ängstlichen Blicke der Mannschaft auf sich ruhen und gab sich den Stimmen hin, die seit einer Weile in ihm waren. 82
Zunächst hatte er geglaubt, die Geister, die Oblak erfüllten, hätten von ihm Besitz ergriffen, als sie Oblaks Körper in den Fluten verlassen mußten. Nach dem ersten Entsetzen aber begriff der Magier, daß etwas anderes geschehen war. Die Geister der ertrunkenen Seeleute, so ging die Sage, lebten nur in ganz bestimmten Teilen der Strudelsee, eben dort, wo Oblak zum erstenmal über Bord gegangen war. Und nur selten zeigten sie sich. Sie konnten diese Zone nicht verlassen. Oblak hätte versucht, nachdem alle an Bord in seiner Gewalt gewesen wären, die Gasihara dorthin zurückzusteuern, damit die Untoten neue Nahrung bekamen, Lebenskraft, die sie den Ertrinkenden entzogen, um sich selbst damit zu stärken und für weitere hundert, vielleicht tausend Jahre existieren zu können. Hier, im Sarmara-Strudel, gab es sie nicht. Dies war ein weiterer Beweis dafür, daß nicht Oblak am Verhängnis schuld gewesen war – wenigstens nicht allein. Rachamon glaubte inzwischen fest daran, daß der unheimliche Schatten, der dem Krieger in den Tod gefolgt war, das Schiff in den Strudel gebracht hatte. Aber auch der war fort, und was der Magier nun leise wispernd vernahm, mußten die Stimmen der Verheißung selbst sein – der Verheißung ewigen Glücks und neuen Lebens jenseits der Schranke des Todes. Sie waren in ihm, und sie lockten… lockten… Rachamon war längst entschlossen, ihrem Ruf zu folgen, sich das zu nehmen, was ihm sein kranker Geist vorgaukelte. Denn was von Rachamon Besitz ergriffen hatte, war schlimmer als die Verwirrung des Kapitäns. Rachamon wollte Macht. Das Versagen seiner Magie hatte ihn innerlich zerbrechen lassen, wenn er dies auch nie gezeigt hatte. Dort, im Zentrum des Strudels, lag eine unermeßliche Macht, die Macht der Schöpfung selbst. Er würde sie teilen, vielleicht mit 83
einigen anderen, doch das Schicksal der Legionäre kümmerte ihn nicht. Wer waren sie schon, daß er sich ihretwegen Gedanken machen sollte? So wirr des Magiers Gedanken auch waren – seine Ausstrahlung auf die Mannschaft wuchs noch. Und so sollte das Verhängnis seinen bitteren Lauf nehmen.
»Hört endlich auf! Wir sterben so oder so!« Ein Mann schrie es, einer von mehr als zwanzig Dutzend. Die Worte hallten dumpf von den geteerten Wänden wider und ließen für die Dauer weniger Herzschläge das Weinen der Kinder verstummen. Nur das Mahlen und Kreischen der See war zu hören. Dann stand Yellen auf und brüllte in die Richtung des Rufers: »Du hast recht, Kerl! Wir werden sterben, aber es gibt eine Menge unter uns, die das in Würde tun wollen, die um den letzten Atemzug kämpfen und nicht ersäuft werden wollen wie Ratten!« »Wer sagt denn, daß wir untergehen?« kam es von anderswo. »Warum hat der verfluchte Magier den Treppenaufgang verbarrikadieren lassen? Ich sage euch, er bringt uns zurück nach Sarphand auf den Sklavenmarkt!« Yellen schüttelte den Kopf und sah Sadagar an. Der Steinmann hockte mit unbewegter Miene neben ihm auf dem Boden und starrte blicklos vor sich hin. So war es, seitdem Mythor über Bord geworfen worden war und man ihn und die Legionäre, die sich gegen die Mannschaft erhoben hatten, wieder unter Deck gebracht hatte. Etwa die Hälfte der Eingesperrten erkannte Yellen inzwischen als ihren Führer an. Der Rest teilte sich in Unentschlossene und solche, die mit dem Leben abgeschlossen hatten. Doch in den Augen fast aller loderte der Haß auf 84
Rachamon, den Menschenverächter. Die Kinder begannen wieder zu weinen. Männer, die sie vor dem Auslaufen aus dem Hafen von Sarphand nie gesehen hatten, schlossen sie in ihre Arme und kümmerten sich um sie wie Väter. Erschütternde Szenen spielten sich ab. Mehr als einmal mußten die Entschlossenen um Yellen andere davor zurückhalten, ihrem Leben gewaltsam ein Ende zu bereiten. Das war auch der Grund dafür, daß Yellen einige Männer vor den Waffenkisten postiert und jeden davor gewarnt hatte, sie aufzubrechen. Sadagars Gurt war unter der Jacke verborgen. Nur wenige wußten um seine zwölf Messer, die er inzwischen wieder komplett hatte. »Mit Waffen kommen wir nicht hier heraus«, hatte Yellen finster gesagt. Nun setzte er sich wieder zu Sadagar und stieß den Steinmann in die Seite. »Komm endlich zu dir, Freund. Du konntest nichts für Mythor tun. Keiner von uns konnte das.« Der Weißhaarige biß sich auf die Lippen. »Aber was Rachamon mit ihm tat, ist Grund genug, hier auszubrechen!« Sadagar blickte ihn unsicher an. Dann sah er hinüber zu Chrandor, der sich auffällig fernhielt. Yellens Worte waren eine Aufforderung an Sadagar, der damit geprahlt hatte, was er alles zu bewirken imstande sei – bevor das Unheil seinen Anfang nahm. »Kannst du ein Feuer machen?« Sadagar drehte mürrisch den Kopf zur Seite und verfluchte sich für seine Angeberei. Hatte der Kleine Nadomir Mythor vor dem Schatten retten können? Ja, er war ihm erschienen, als er schon glaubte, seinen Schutzgeist für alle Zeiten verloren zu haben. Nadomir sagte jedoch, daß seine Magie lediglich dazu ausreiche, dafür zu sorgen, daß Mythor nicht ertrinken mußte, sondern irgendwo als Treibgut an Land geschwemmt würde. Kein Wort von dem schattenhaften Etwas, das über Mythor geschwebt hatte. Dann 85
war er verschwunden, mit den üblichen Beschwerden, daß Sadagar ihn nicht wegen jeder Kleinigkeit stören solle. Aber was sollte das heißen: irgendwo an Land gespült? Gab es denn hier, in diesem gewaltigen Strudel, Land? Konnte man dem Tod doch noch entrinnen? Sadagar hatte weder zu Yellen noch zu irgendeinem anderen über seine Erscheinung gesprochen. Niemand würde ihm Glauben schenken. Er rang mit sich. Sollte er Yellen jetzt nicht doch wenigstens eine Andeutung machen? Würde die Aussicht, irgendwo zu stranden, den Männern nicht neue Hoffnung geben? Der Steinmann schüttelte den Kopf. Sie würden ihn an den Füßen aufhängen, sollte sich diese Hoffnung nicht erfüllen. Sie brauchten nichts von dem zu wissen, was der Kleine Nadomir gesagt hatte. Es genügte, wenn sie all ihre Kraft darauf verwandten, aus ihrem Gefängnis auszubrechen, um nicht im Fall der Fälle jämmerlich zu ersaufen. »Die Ruderer«, murmelte der Steinmann. »Sie sind immer noch angebunden.« »Darum müssen wir hier heraus und das Schiff übernehmen!« sagte Yellen schnell. »Sadagar, kannst du ein Feuer machen?« Traurig winkte der Steinmann ab. »Dazu brauchte ich Dinge, die ich hier nicht finde… falls du ein magisches Feuer meinst. Natürlich kann ich ein anderes Feuer machen, wie ihr alle. Wir haben Holz und Decken. Mehr brauchen wir nicht.« »Endlich bist du wieder der alte!« stieß Yellen erleichtert aus. »Aber es muß schnell gehen. Die Treppe und die Kisten, die auf der Klappe stehen, müssen brennen, bevor wir alle elend ersticken.« Sadagar sah sich unter den Männern um. Wer hören konnte, was zwischen ihm und Yellen gesprochen wurde, blickte ihn an, als erwarte er ein Wunder von ihm. Nur Chrandor 86
bemühte sich eifrig, seinem Blick auszuweichen. »Die Gefahr ist zu groß«, murmelte der Steinmann. »Rachamon wird uns erschlagen lassen, sobald wir die verräucherten Köpfe in die Höhe schieben.« »Es gibt nur diese Möglichkeit!« »Ja«, gab Sadagar zu. Dann fluchte er und schlug mit der Faust auf den Boden. »Wir müßten wissen, was mit Jejed los ist! Ich bin sicher, die Mannschaft würde wieder auf ihn hören, wenn er sich Rachamon entgegenstellte. Auch die Seefahrer hassen den Magier, aber ihre Angst ist zu groß!« »Vergiß den Moronen jetzt«, sagte Yellen. »Auch er könnte nichts tun, solange er gefangen ist.« »Es sei denn…« »Was?« Sadagar stand auf und schob einige Männer beiseite, bis er vor Chrandor stand. Der Pirat zuckte zusammen und rutschte ein Stück fort. Als er Sadagars Hand auf seiner Schulter fühlte, fuhr er herum und schrie: »Ich konnte auch nichts tun! Ich…« »Du warst als einziger frei!« brüllte der Steinmann, daß sich jetzt überall die Hälse nach oben reckten. »Während die anderen kämpften, hast du dich in einem Schlafsack verkrochen! Du hättest Aß und Baß ausschicken können, um Mythor beizustehen. Die Seefahrer sind abergläubisch und wären in hellem Entsetzen geflohen!« »Aß und Baß?« fragte Yellen. »Diese hier!« Bevor Chrandor die »Hände« wegziehen konnte, hatte Sadagar die Handschuhe gepackt und sie ihm von den Stümpfen gerissen. Neugierig schoben die beiden Weichtiere ihre Tentakel daraus hervor. Chrandor schrie wie einer, der am Spieß gebraten wurde, sprang Sadagar an und streckte die Stümpfe den 87
Handschuhen entgegen. »Das sind Aß und Baß!« rief der Steinmann unbarmherzig und drehte sich, so daß jeder sehen konnte, was er hochhielt. »Chrandors Hände! Und sie werden dafür sorgen, daß Rachamon bald andere Gedanken hat, als uns die Köpfe einschlagen zu lassen!« »Nein!« kreischte Chrandor. »Gib sie mir! Aß und Baß, kommt zu mir!« Sadagar schob die Tiere in die Handschuhe zurück und verschloß deren Öffnungen. Die Finger zuckten heftig, die Handflächen beulten sich unnatürlich aus. Sadagar hielt sie mit einer Hand hoch, mit der anderen zog er ein Messer unter der Jacke hervor. »Was willst du…? Steinmann, nicht!« »Du hast nun die Wahl, Pirat! Entweder befiehlst du deinen Händen, daß sie tun, was ich dir jetzt sage, oder du hast sie eben zum letztenmal gesehen.« Chrandor riß den Mund weit auf und starrte Sadagar an wie einen Geist. »Glaub mir, Kerl«, knurrte Yellen. »Es ist besser für dich, wenn du sein Angebot annimmst und keine Dummheiten machst.« Drohend schoben sich die Männer näher. Chrandor sah sich wie gehetzt um, schluchzte und schrie: »Ich tue alles, was ihr wollt, aber gebt sie mir zurück!« »Na also! Und denke immer daran: Von nun an weiß hier jeder, was in den Handschuhen steckt«, sagte Sadagar. »Du verstehst mich?« »Ja, ja! Gib sie her!« Yellen nickte. Der Steinmann ließ es sich nicht nehmen, Chrandor die Handschuhe selbst überzustreifen. »Ich denke, jetzt sind wir quitt, Freund.« Sadagar griff wieder unter die Jacke und zog ein zweites Messer hervor. 88
»Nun paßt auf…«
Golad und Farina hockten eng umschlungen auf dem harten, schmutzigen Boden unter dem Decksaufbau. Sie schwiegen. Alles, was zu bereden war, war gesagt. Die Gasihara war dem Untergang geweiht. Die Seefahrer, die ab und zu den Sitz des von außen vorgelegten Riegels überprüften, sprachen laut genug. Das Ende war nur noch eine Frage der Zeit. Dann und wann hörten sie draußen den Magier Befehle brüllen oder Beschwörungen von sich geben. Sonst war nur das Mahlen und Tosen des Wassers zu hören. Farina weinte nicht mehr. In Golads Armen verlor ihr grausames Los an Bedeutung. Die Fügung eines unbekannten Schicksals schien das Ende ihres langen gemeinsamen Weges vorherbestimmt zu haben. Wenn sie unter den Lebenden keinen Frieden fanden, dann vielleicht im Tod. Daran klammerten sich ihre Gedanken, und je härter das Schiff von der Strömung hin und her geworfen wurde, desto mehr begann sie, dieses Ende herbeizusehnen. Dort, wo sie geboren und aufgewachsen war, glaubten die Menschen nicht, daß mit dem Tod alles vorüber sei. Für sie war er das Ende des jetzigen und der Beginn eines neuen, besseren Lebens. Und gemeinsam mit Golad wollte Farina diese Grenze überschreiten. Nichts sollte sie mehr auseinanderreißen. Golad dachte ähnlich. Farinas anschmiegsamer Körper gab ihm Wärme. Und doch war da eine Unruhe in ihm, etwas, das ihm sagte, es sei falsch, die Hände in den Schoß zu legen, während draußen seine Kameraden um ihr Leben zitterten. Immer wieder blickte er hinüber zu Jejed, der gleich vor der Tür auf dem Rücken lag und gegen die Decke starrte. Die Öllampe flackerte heftig. Bald würde sie verlöschen. Gespenstische Schatten huschten über das Gesicht des 89
Kapitäns. Manchmal glaubte Golad, ein Zucken darin erkennen zu können. Dann beugte er sich vor, aber der Blick des Moronen blieb starr. Nur aus den sehr laut geführten Unterhaltungen der Männer draußen wußte Golad ungefähr, was sich an Bord zugetragen hatte. Er hatte sogar den Verdacht, daß sie absichtlich so laut redeten, um ihn, Farina und Jejed zu quälen. Nein, dachte Golad, nicht den Kapitän. Rachamon mochte sie jetzt blenden können, doch wenn Jejed wieder zu sich käme und vor sie hintreten könnte… Der Gedanke ließ den Recken bald nicht mehr los. Den Männern an den Rudern und unter Deck mochte ein grausames, menschenunwürdiges Ende zugedacht sein. Durfte er denn da tatenlos zusehen? Würde er im Leben nach dem Tod gnädige Aufnahme finden, wenn er jetzt und hier dieses Unrecht geschehen ließ? »Golad«, flüsterte Farina. »Was hast du?« Er löste behutsam ihre Arme von sich und strich durch ihr langes dunkles Haar. »Habe keine Angst«, flüsterte er. »Ich muß mich um Jejed kümmern.« »Bleib hier!« flehte sie. »Geh nicht fort! Nie mehr!« »Ich bleibe bei dir, und das weißt du.« Sie ließ ihn gehen, aber in ihren Augen lag Furcht. Golad hockte sich vor Jejed hin und schob vorsichtig die Hände unter den Kopf des Moronen. »Jejed!« flüsterte er eindringlich. »Kapitän!« Der Hüne rührte sich nicht. Einmal zuckte es um seine Mundwinkel, schienen seine Augen sich auf Golad richten zu wollen. Dann lag er wieder still und atmete flach. Golad schüttelte ihn, leicht zunächst, dann heftiger. »Jejed, du mußt zu dir kommen! Du hörst mich! Deine Männer brauchen dich!« Da öffneten sich die Lippen des Moronen. Golad fühlte, wie 90
sich Finger in seine Arme gruben, und hörte ganz schwach: »Oblak…!« »Er ist tot, Jejed. Frei! Die Geister, die ihn besessen hatten, sind aus ihm ausgefahren. Du wußtest, daß er besessen war, und wolltest ihn schützen. Dafür hätte er dich fast umgebracht.« Ein Zittern durchlief den Körper des Kapitäns. Seine Lippen öffneten und schlossen sich wieder. Golad schwitzte. Wieder rüttelte er an den Schultern des Moronen, diesmal fester. »Er würde mich nicht töten!« schrie Jejed plötzlich. »Oblak nicht! Wir haben es uns geschworen!« »Was, Jejed?« »Wir hielten zusammen, immer schon! Mein Stamm tötete sie alle, außer ihm!« »Wen?« »Die… Karawane, die aus dem Norden kam. Ich brachte Oblak in Sicherheit. Er war… ein Kind wie ich. Wir wuchsen zusammen auf, und was mein war, war auch sein! Wir…« Erschüttert sah Golad, wie Jejeds Augen sich weiteten. Dann stieß der Morone einen grauenvollen Schrei aus, riß sich los und sprang auf. Im Nu war er über Golad und brachte die Hände an dessen Kehle. »Oblak würde mich nicht töten, hörst du? Du lügst! Niemand redet schlecht über Oblak, ohne gestraft zu werden!« Farinas schriller Schrei ließ Jejed herumfahren. Dieser kurze Augenblick genügte Golad, um ihn von sich zu stoßen. Draußen wurden Stimmen laut und verstummten, als Rachamon unverständliche Befehle brüllte. »Hörst du ihn?« flüsterte Golad. »Er hat dir deine Mannschaft weggenommen! Er will, daß wir alle einen grauenvollen Tod sterben!« Golad sah, wie Jejed unsicher wurde. Was er erreichen wollte, hatte er geschafft. Er vermied es, noch einmal Oblaks Namen auszusprechen. Jejed war aus 91
seiner Starre erwacht, und allmählich schien er die völlige Kontrolle über sich zurückzugewinnen. Schnell berichtete Golad alles, was er über das Geschehene wußte. Jejed ballte die Hände. Seine Brust hob und senkte sich unter heftigen Atemzügen. Dann, als Golad geendet hatte, setzte er sich und blickte finster vor sich hin. »Oblak war nicht böse«, flüsterte er. »Was er tat, kam nicht aus ihm heraus…« Schon glaubte Golad, der Morone würde erneut in seine Starre verfallen und sich allein seinem Schmerz hingeben. Doch der Kapitän blickte ihn aus klaren Augen an. »Es ist gut, Freund«, sagte er. »Aber was können wir noch tun?« »Rufe deine Männer! Sie werden dich hören.« »Du unterschätzt den Magier«, murmelte Jejed. »Er würde nicht zögern, jeden zu töten, der den Riegel zurückschieben will. Wir…« Ein schabendes Geräusch ließ ihn verstummen. Für Augenblicke herrschte vollkommene Stille. Dann flüsterte Golad: »Aber da ist jemand an der Tür. Hört ihr das?« An Deck wurde geschrien. Die Worte der Seefahrer waren kaum zu verstehen. Rachamon brüllte, aber es hatte den Anschein, als könne er dem, was nun draußen geschah, nicht mehr Einhalt gebieten. Dann fiel der Riegel. Die Tür öffnete sich einen Spaltbreit, und ein Wesen, wie die drei es noch nie zuvor gesehen hatten, glitt geschwind durch den Spalt. »Was… was ist das?« Jejed machte ein paar Schritte zurück, bis er mit dem Rücken gegen eine Wand stieß. Abergläubische Furcht ließ ihn zittern. Auch Golad war zurückgewichen. Doch dann sah er, wie dort, wo das schleimige, tentakelbewehrte Ding nun am Boden zu kleben schien, etwas im Licht der flackernden Lampe blitzte. »Das ist… ein Messer!« stieß er hervor. »Und… das Ding 92
bringt es uns! Seht hin, es zieht sich zurück!«
Rachamon fluchte und schrie, aber die Ohren der Männer waren taub geworden. Abergläubische Furcht ließ sie vor dem schleimigen Wesen fliehen, das seine Tentakel wie Beine gebrauchte und sie regelrecht über das Deck jagte, wobei in einem weiteren Glied ein blitzendes Messer eingerollt war. Rachamon begriff noch nicht, was plötzlich geschehen war, obwohl er ahnte, daß es für das Auftauchen des Geschöpfes eine sehr natürliche Erklärung gab. »Du! Bleib stehen!« Er griff nach dem Arm eines in wilder Furcht an ihm Vorbeirennenden und riß den Mann herum. Im nächsten Moment traf ihn ein Faustschlag und beförderte ihn auf die Planken. Der Magier rang nach Luft, und dann sah er fast gleichzeitig die offene Tür des Aufbaus und den Rauch, der unter der Kiste auf der Treppenluke hervorquoll. »Dämonen!« schrien die Männer. »Dämonen haben vom Schiff besitz ergriffen!« »Das sind keine Dämonen, ihr Narren!« brüllte der Seemagier. »Seht ihr denn nicht, was…« Erste Flammen schlugen aus den Planken. Rachamon sah, daß niemand auf ihn hörte, und richtete sich auf. Das Feuer, die offene Tür – das alles konnte nur eines bedeuten. Er vergaß die Mannschaft und stürmte auf den Aufbau zu, um seinen Gegnern zuvorzukommen. Aus den Augenwinkeln heraus sah er, wie zwei Seefahrer sich über Bord stürzten. Er hatte den Aufbau noch nicht erreicht, als das Schleimwesen an ihm vorbeiglitt und in der Türöffnung verschwand, um im nächsten Augenblick mit einem weiteren zurückzukehren. Noch während der Magier ihnen hinterherblickte und sie zwischen den Planken verschwinden 93
sah, wurde die Tür vollends aufgestoßen, und Jejed trat ins Freie. Rachamon wich zurück. Ein heiserer Schrei entrang sich seiner Kehle. Der Morone kam auf ihn zu, ganz langsam und mit einem Messer in der Faust. Rachamon wich zurück, Schritt für Schritt. Und plötzlich waren die Stimmen wieder in ihm. Sie lockten noch stärker als zuvor. Sie lockten ihn fort vom Schiff, in die Tiefen des Strudels, wo die Erfüllung auf ihn wartete, auf ihn allein. Jejed würde ihn nicht daran hindern, ihnen zu folgen! Niemand würde das tun können! Rachamon verlor den Boden unter den Füßen, ruderte wild mit den Armen und stürzte mit wahnsinnigem Lachen in die Tiefe. Die Strömung riß ihn mit sich fort. Jejed blickte ihm nicht nach. Mit versteinerter Miene suchte er das Deck nach seinen Männern ab, und als habe sein Auftauchen allein den Bann gebrochen, hörten die Seefahrer auf zu rasen und starrten ihn fassungslos an. »Kommt her!« rief Jejed, und jene, die sich nicht in die Fluten gestürzt hatten, scharten sich um ihren Kapitän und blickten ihm scheu in die Augen. Jejed verlor kein Wort über das Gewesene. Golad und Farina stellten sich hinter ihn. Auch Golad hatte ein Messer in der Hand. »Schafft die Kiste beiseite«, befahl Jejed, »und holt die Legionäre an Deck! Bindet die Ruderer los!« Die Männer gehorchten. Kurz darauf war das Feuer gelöscht. Das Deck drohte vor Männern zu bersten, die sich jetzt um Jejed, Golad, Yellen und Sadagar scharten, der verstohlen beobachtete, wie Chrandor seine Arme wieder in die Handschuhe mit Aß und Baß schob. Er ließ sich die Messer zurückgeben, mit denen er selbst eine Öffnung in die Planken geschnitten hatte, die groß genug war, um Aß und Baß 94
hindurchkriechen zu lassen, bevor er das Feuer entfachte. Und die Gasihara wurde immer schneller. Ungestüme Naturgewalten rissen sie mit sich fort, während eine brennende Sonne am Himmel stand. Immer tiefer geriet die Lichtfähre in den Sarmara-Strudel hinein, immer näher kam sein Zentrum. »Nadomir«, flüsterte der Steinmann. »Ich weiß, du hast Wichtigeres zu tun, als mir zu erscheinen und uns zu retten. Aber bei Erain, ich werde dir nie verzeihen, wenn es das Land nicht gibt, von dem du sprachst!«
Wieder verging eine lange Zeit, die sich nicht schätzen, nicht bestimmen ließ. Mythor lag reglos in der Lederblase, atmete kaum und spürte doch, wie die Luft erneut schlechter wurde. Es wirbelte ihn immer schneller umher. Der Sack wurde eingedrückt, in die Höhe gespült und wieder hinabgerissen in unbekannte Tiefen. Er kämpfte gegen die Zweifel an, die sich immer stärker in sein Herz schlichen. Wie lange würde er noch atmen können? Befand er sich überhaupt noch im Strudel, oder stimmte es, was man sich erzählte, und er wurde bereits unter den Landmassen hinweg ans Ende der Welt geschwemmt? Er bemühte sich, all diese Gedanken zu verscheuchen, versuchte, an gar nichts mehr zu denken. Doch es fiel unsagbar schwer. Er litt Höllenqualen, focht einen stillen Kampf gegen die Schreckensbilder aus, die ihn mehr und mehr erfüllten, und verlor schließlich erneut das Bewußtsein. Er kam zu sich, als etwas hart in seine Seite stieß. Noch benommen stellte er fest, daß er nicht mehr bewegt wurde. Der Ledersack war zur Ruhe gekommen, und unter sich spürte er… Land! Er lag auf festem Boden. Die Luft in seinem Inneren wölbte 95
den Sack nach wie vor nach außen. War dies ein Traum? Doch dann hörte Mythor das Rauschen von Wasser, das an Land schlug, und wieder traf ihn etwas in die Seite. Er richtete sich halb auf und trat mit dem Fuß gegen die betreffende Stelle. Hatte ein Tier ihn aufgespürt? Im Strudel hatte es keine Meeresungeheuer gegeben, obwohl alle Seefahrer an ihre Existenz glaubten und sie fast noch mehr fürchteten als die Strömungen der Strudelsee. Mythor hatte jedenfalls mit keinem Bekanntschaft gemacht. Aber nun…? Da hörte er plötzlich Stimmen und das Schlurfen von Schritten auf Sand. Mythor hielt den Atem an. Irgend etwas drückte von oben auf den Sack. Dann entstand ein Loch, durch das erstmals wieder Licht einfiel. Mythor streckte die Hände weit von sich und sah, wie die Spitze eines Messers durch das Leder gestoßen wurde, das sich über seinen Fingern spannte. Atemlos sah er zu, wie die Klinge den Sack aufschlitzte und zwei Hände erschienen, die das Leder auseinanderzogen. Frische, würzige Luft drang in Mythors Lunge, und er blickte in ein bärtiges, edles Gesicht. »Sieh da!« sagte der Unbekannte mit angenehm klingender Stimme, als er Mythor eine Hand reichte. Der Sohn des Kometen ergriff sie und ließ sich aus dem Sack ziehen. Seltsamerweise konnte er keinen Argwohn dem Fremden gegenüber empfinden. Wo immer er gestrandet war – alles an diesem Ort war friedlich, obwohl er noch nichts von ihm gesehen hatte. Aber er atmete die frische Luft, sah nichts als Zuvorkommenheit in den Augen des Fremden und hörte das Zwitschern von Vögeln. »Willkommen im Lande Sarmara!« rief der Bärtige aus, drückte Mythors rechte Hand und gab ihm einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter. Mythors Beine, noch etwas schwach, knickten leicht ein. Der Mann vollführte 96
eine weit ausholende Geste. Nicht fähig, Worte hervorzubringen, folgte Mythor seinem Arm mit Blicken und sah das Wunder. Keine Wolke stand am Himmel, und es schien dem Sohn des Kometen, daß niemals Finsternis über dieses Land kommen dürfte. Es wäre ein Frevel gewesen. Nachts mußten hier die Sterne und der silberne Mond am Himmel leuchten. Ein großer, in allen Farben schillernder Schmetterling setzte sich auf Mythors Arm. Grillen zirpten, und Schwärme unbekannter Vögel erhoben sich aus den Kronen prächtiger Bäume. Irgendwo sangen und lachten Menschen. Ein leichter Wind trieb Blütenduft herüber. »Im Lande Sarmara…«, brachte Mythor schließlich hervor, fast andächtig. »Ja, aber es ist nicht wirklich, nicht wahr? Es ist… nicht wirklich. Einen solchen Ort gibt es nicht in unserer Welt.« Der Bärtige, ein Mann von sechs Fuß Größe und kräftigem Körperbau, lächelte nachsichtig. Er trug nichts außer einem Lendenschurz aus weißem Tuch und einigen prächtigen Ketten aus Perlen und Korallen am Leib. Nun nahm er wieder Mythors Arm und drehte ihn einmal halb um die eigene Achse. »Das Meer«, sagte er, und Mythor sah die in der Ferne dahinschießenden Wasser des Strudels, die sich turmhoch erhoben und für alle Zeiten dieses Land der Wunder zu umfließen schienen, »ist ein unüberwindlicher Wall. Keine Boten der Finsternis, nichts Böses wird jemals diesen Wall überwinden können, mein junger Freund. Du hast den Weg zu uns gefunden. Sei willkommen auf dem Eiland der Glücklichen.«
Das Eiland der Glücklichen… 97
Mythor ließ sich diese Worte auf der Zunge zergehen, während sein Befreier ihn landeinwärts führte. Der schmale Küstenstreifen aus weißem Sand und hier und da schroffen Klippen blieb hinter ihnen zurück. Ein Pfad führte durch blühende Büsche und schulterhohes, saftiges blaues Gras. Das Singen und Lachen wurde lauter. Noch immer fiel es Mythor schwer zu glauben, daß das, was er sah und hörte, Wirklichkeit war. Zu rasch war der Wechsel erfolgt. Eben noch hatte er in den Fluten des unbarmherzigen Strudels um sein Leben gebangt, hatte er dem Grauen an Bord der Gasihara ins Auge geblickt und einen bis zuletzt aussichtslos erscheinenden Kampf gegen den Schatten gekämpft. Und nun führte ihn ein nur spärlich bekleideter Mann in ein Paradies. Mythor ging hinter ihm her und betrachtete bewundernd die samtbraune, makellose Haut des Fremden, der jeden Fußbreit dieses Eilands zu kennen schien. Wer war er? Wer waren die anderen, die er hörte? »Wie heißt du?« fragte er, als der Bärtige haltmachte und eine Ziege streichelte, die ohne Scheu aus dem Gebüsch hervorgekommen war und ihn aus großen runden Augen anblickte. Der Mann sah auf, strich sich das lange, lockige Haar aus der Stirn und lächelte wieder. »Was sind Namen, mein junger Freund – Worte, die der Wind einfängt und davonträgt. Bald wirst auch du lernen zu vergessen. Früher nannte man mich Nilombur.« »Ich bin Mythor«, sagte der Sohn des Kometen. »Mythor…« Nilombur legte eine eigenartige Betonung in das Wort, betrachtete sein Gegenüber und nickte langsam. »Ein bedeutungsschwerer Name, wahrhaftig.« Das Verhalten Nilomburs verwirrte Mythor. Zum erstenmal spürte er so etwas wie Unwillen. Aber erfüllte ihn nicht bereits 98
der Zauber dieses Paradieses? »Komm!« sagte der Bärtige. »Sie erwarten uns.« »Wer?« »Mein Volk, die Menschen, die hierhergefunden haben und die Bürde ablegten, die ihnen das Leben draußen zu tragen gab.« Sie schritten weiter; Nilombur teilte das Gras mit den kräftigen Armen und hob ein kleines Pelztier auf seine Schulter. »Dein Volk?« fragte Mythor weiter. »Dann bist du der Herrscher des Eilands?« »Wir brauchen keinen Herrscher, Mythor. Vergiß, daß es Haß, Not und Elend gibt, Neid und Mißgunst. Wer Fragen hat, kommt damit zu mir und läßt sich von mir beraten. Wenn ein Mann ein Weib gefunden hat, mit dem er den ewigen Bund eingehen möchte, dann kommen sie zu mir, um diesen Bund zu besiegeln. Aber du wirst ja sehen.« Wieder regte sich Widerspruch in Mythor. Eine solche Welt, wie Nilombur sie beschrieb, gab es nicht, konnte es nicht geben. Auch wenn dieses Land inmitten des Strudels lag – ringsum herrschten dennoch Haß und Krieg, im Norden wie im Süden. Dann wieder dachte er an Leone. Sollte auch dieses Eiland eine Insel des Lichtes sein? »Ich habe dir noch nicht gedankt, Nilombur«, hörte er sich sagen. »Ohne dich wäre ich…« Er hielt inne. »Hast du mich durch Zufall gefunden?« »Wir wußten, daß du kommen würdest«, antwortete der Bärtige mit der geduldigen Stimme eines Weisen, der einen allzu neugierigen Schüler zufriedenzustellen hatte. Und bevor Mythor eine weitere Frage stellen konnte, wich das Gras zu beiden Seiten und gab den Blick frei auf einen großen, von mächtigen Bäumen geschützten Platz, auf dem 99
Männer und Frauen jeden Alters zwischen Hütten aus Holz und Stroh saßen und den verschiedensten Beschäftigungen nachgingen. Der Duft von gebratenem Fleisch stieg Mythor in die Nase, und erst jetzt wurde er sich seines knurrenden Magens bewußt. Nilombur ließ Mythor an sich vorbeitreten. Zwei Mädchen, nicht älter als fünfzehn Sommer, kamen auf ihn zugelaufen und legten ihm Kränze aus geflochtenen Blumen um den Hals. Andere winkten und lächelten freundlich. Und wahrhaftig: Noch nie hatte Mythor Menschen gesehen, die glücklicher waren als jene, die sich nun um ihn und Nilombur scharten. Keiner von ihnen stellte Fragen. Niemand wollte wissen, wer er sei und woher er komme. Aber sie ließen ihn durch ihre Blicke, ihr Lächeln und ihre Gesten spüren, daß er nun zu ihnen gehörte. »Du bist hungrig«, sagte Nilombur. »Geh und laß dir von allem geben. Was unser ist, soll fortan auch deines sein. Sobald die Sonne den Lichtern des Himmels weicht, wird ein Fest beginnen, für dich und die anderen.« »Die… anderen?« »Natürlich. Die meisten unserer Männer sind dorthin unterwegs, wo das Schiff strandete. Ich nehme doch an, daß du mit ihm kamst?«
Mädchen erschienen und führten Mythor zu einer der zwischen den Hütten errichteten Feuerstellen, über der ein Spieß mit duftendem, knusprig gebratenem Fleisch gedreht wurde. Andere brachten Wein herbei, den sie aus den Früchten des Waldes gewonnen hatten. Für kurze Zeit zwang sich Mythor dazu, alle Fragen zu vergessen, die seinen Geist verwirrten. Er aß und trank, und wohlige Wärme breitete sich in ihm aus. Ein Jüngling spielte auf einem selbstgefertigten 100
Saiteninstrument und sang von schönen Dingen, pries die Götter, die ihm den Weg ins Paradies gewiesen hatten, und dankte für die Gaben, die sie ihm und seinem Volk jeden neuen Tag bescherten. Mythor hörte ihm zu, und die innere Stimme, die ihn wieder und wieder zur Wachsamkeit mahnte, wurde mit jedem Schluck aus dem hölzernen Becher schwächer. Er sah sich um. Mehr als zwei Dutzend Hütten füllten den freien Platz aus, und jede mochte zehn oder mehr Menschen aufnehmen. Die Männer und Frauen gehörten den verschiedensten Volksstämmen an. Sie waren nicht hier geboren. Er sah bärtige Hünen aus den Nordländern, dunkelhäutige Bewohner der südlichen Regionen und solche, die er nicht einzuordnen vermochte. Nilombur setzte sich mit einem Becher in der Hand zu ihm und schien seine Gedanken zu kennen. »Sie entstammen allen möglichen Seevölkern der Strudelsee«, sagte er. »Wir alle befuhren einstmals das Innenmeer, bevor wir in den SarmaraStrudel gerieten und hier kenterten oder angeschwemmt wurden wie du.« Nilombur lächelte. »Natürlich nicht gerade so wie du, Mythor. Aber fürchte deine Feinde nicht länger. Sie werden deine Freunde sein, denn Haß hat keine Nahrung in diesem Land.« »Feinde, Freunde«, murmelte Mythor, und die Erinnerung ließ ihn für kurze Zeit den Zauber um sich herum vergessen. »Das liegt nahe beieinander, Nilombur.« Der Bärtige blickte ihn forschend an. Mythor schätzte sein Alter auf vierzig, vielleicht schon fünfzig oder sechzig Sommer. Es war sehr schwer zu sagen. Irgend etwas schien diese Menschen hier ewig jung zu erhalten. Nirgendwo sah er Waffen, nicht einmal solche, wie die Männer sie für die Jagd benötigten. Dieses Land schien ihnen tatsächlich alles von selbst zu geben, was sie zum Leben brauchten. 101
War dies ein Spiegelbild der Lichtwelt, wie sie war, bevor die Finsternis sich über sie ausgebreitet hatte? fragte er sich. »Du denkst, mein junger Freund«, sagte Nilombur. »Du denkst zuviel. Gedanken sind wie Gefängnisse, wie Kerkermauern, in die Menschen sich selbst einschließen.« »Dann denkt ihr überhaupt nicht?« Mythors Frage war etwas zu heftig hervorgestoßen, und sogleich kam er sich vor wie ein Frevler. Nilombur aber zeigte sein nachsichtiges Lächeln und sagte: »Warte nur ab, Mythor. Die Zeit wird alle deine Fragen beantworten.« »Zeit…« Mythor blickte sinnend in die glühenden Holzscheite. »Ich habe nicht viel Zeit.« Nilombur lächelte nur. Er stand auf und schickte sich an, zu einer der Hütten zu gehen, als Mythor ihn noch einmal zurückrief: »Sag mir, wann kamen die ersten von euch hierher?« »Vor langer Zeit. Wir zählen die Sonnenwenden nicht, Mythor. Aber warum fragst du?« »War dieses Land damals schon so wie jetzt?« Nilombur nickte. »Es war so, wie du es nun siehst. Wir bauten nur unsere Hütten.« »Aber ihr mußtet doch Felder anlegen und…« »Sarmara gibt uns alles ohne unser Dazutun, Mythor.« »Und was draußen in der Welt geschieht, jenseits des Strudels… das bekümmert euch nicht?« Zum erstenmal sah Mythor eine Spur von Unwillen in Jilomburs Gesicht. »Die Götter machten uns dieses Eiland zum Geschenk, mein Freund. Sie hätten es nicht getan, wäre es ihr Wille gewesen, daß wir anderswo unser und anderer Blut vergießen.« Damit wandte er sich ab und verschwand in der Hütte. Mythor blieb allein zurück, trank vom Wein und legte sich 102
auf den Rücken. Mädchen kamen und lachten, hockten sich zu ihm und betupften ihn mit wohlriechenden Ölen. Auch sie trugen nichts am Leib als Lendenschurze und geflochtene Kränze. Ihre zarten Hände strichen über seine Haut und machten ihn seine Sorgen für kostbare Augenblicke vergessen. Sie brachten neuen Wein heran. Mythor sprach ihm zu und sah diese kleine Welt allmählich in einem neuen Licht. Warum quälte er sich? Hatte Nilombur nicht recht? Waren seine Worte nicht die eines Weisen? Die Sonne versank in den Wipfeln der Bäume. Wie Lichtspeere drangen ihre letzten Strahlen durch das Geäst. Schatten senkten sich über das Eiland, während die ewig kreisenden Wasser des Strudels noch in hellem Schein lagen. Tiere, die an Rehe erinnerten, traten aus dem Wald und mischten sich unter die Menschen und schienen keine Furcht zu kennen. Vögel stimmten ihr Abendkonzert an, und irgendwo quakten Frösche. Dann hörte Mythor andere Stimmen. Er richtete sich träge auf und sah eine Gruppe von Männern aus dem Gebüsch treten, die er bislang noch nicht zu Gesicht bekommen hatte. Ihnen aber folgten andere, und diese kannte er. Steinmann Sadagar ging an ihrer Spitze, neben ihm sein seltsamer Freund. Als Sadagar Mythor erblickte, stieß er einen Jubelschrei aus und begann zu rennen. Mythor sprang auf, und lachend fielen sich die Gefährten in die Arme. Der Steinmann hatte Tränen in den Augen, umfaßte Mythor so fest, als ob er ihn erdrücken wolle. Dann machte er sich los, fiel zu Boden und rief laut aus: »Oh, du Kleiner… Schöner Nadomir! Vergib einem schwachen Geist, daß er an dir zu zweifeln wagte! Wo immer du jetzt bist, nimm meinen Dank für Mythors Rettung entgegen!« Er stockte und sah Mythor unsicher an. Der aber lachte wieder und sagte: »Auch ich muß ihm wohl Abbitte leisten, 103
Sadagar, und dir.« »Du weißt also, daß er…?« »Ich weiß es jetzt. Ohne ihn wäre ich…« Mythor winkte ab. »Vergessen wir das. Kommt, Freunde, kommt alle her und stärkt euch!« Nilombur stand hinter ihm und breitete die Arme aus. »Ja, stärkt euch an dem, was uns gegeben ist! Es soll euch an nichts mehr fehlen! Seid alle willkommen im Lande Sarmara!« Männer und Frauen brachten große Holztafeln mit gebratenem Fleisch herbei, dazu randvolle Krüge mit Wein. Bald war der Platz überfüllt mit jenen, die das Ende der Gasihara überlebt hatten. Aber jeder bekam, was er begehrte. Die Quelle, die die Menschen von Sarmara mit Nahrung und Trank versorgte, schien schier unerschöpflich. Mythor zählte die Überlebenden nicht, nachdem Sadagar ihm knapp berichtet hatte, was sich an Bord noch zugetragen hatte und wie die Lichtfähre schließlich an der Küste des plötzlich aufgetauchten Landes im Zentrum des Strudels gestrandet war. Doch er schätzte, daß mehr als die Hälfte der Legionäre für Logghard mit dem Leben davongekommen waren. Nur der Seemagier und der Kapitän, berichtete Sadagar, hätten den Tod in den Fluten gefunden. Doch das war bald vergessen. Die Nacht brach herein. Tausend funkelnde Sterne zeigten sich am Firmament. Silbern blitzte der Halbmond am klaren Nachthimmel. Und tatsächlich schien das Eiland auch die härtesten und verbittertsten unter den Legionären zu verwandeln. Sie lachten und tanzten bald wie Kinder, ließen sich von den Frauen und Mädchen verwöhnen und verbrüderten sich mit den Männern der Insel. Manches Paar verschwand in der Dunkelheit des Waldes. Golad und Farina saßen nahe bei Mythor, und ihre Blicke verrieten, daß sie endlich das Land 104
gefunden zu haben glaubten, das sie so lange gesucht hatten – das Land der Liebe. Sadagar und Chrandor ergingen sich in Beteuerungen, daß sie dem jeweils anderen niemals wirklich gegrollt hätten. Sie tranken auf ihre Freundschaft, bis der ehemalige Pirat schnarchend am Boden lag. Draußen ging das Fest weiter, als Mythor sich müde in eine der Hütten zurückzog. Eine Weile noch lauschte er den Gesängen der Männer und dem fernen Rauschen des Strudels. Dann fiel er in einen tiefen, unruhigen Schlaf. Er sah sich in seinen Träumen wieder eingeschnürt in einen Sack und fühlte, wie der Schatten nach seiner Seele greifen wollte. Schweißgebadet wachte er auf und sah durch den offenen Eingang die Feuer brennen. Männer und Frauen schliefen gemeinsam auf der warmen und weichen Erde. Wieder übermannten ihn die Träume. Er sah sich selbst in der Gruft der Gwasamee, im Schlachtgetümmel von Dhuannin, im Baum des Lebens und im Koloß von Tillorn. Gesichter tauchten auf und machten anderen Platz: Kalathee, Luxon, Drudins Todesreiter und Fronja, immer wieder Fronja. Ihr Antlitz füllte den Himmel aus, der von dunklen Wolken überzogen wurde und unter dem die anrennenden Horden von Caer eine Stadt um die andere in Schutt und Asche legten. Fronjas Lippen öffneten sich, doch Mythor verstand nichts von dem, was sie ihm sagte. Nur die Unrast, die ihn von einem Fixpunkt des Lichtboten zum anderen getrieben hatte, war plötzlich wieder da, und als er erneut erwachte, wußte er, daß es für ihn kein Bleiben auf der Insel geben konnte. Er mußte weiter, seinen Weg zu Ende gehen. Logghard wartete auf ihn… und Fronja! Er war nicht frei in seinem Tun. Er hatte eine Bürde zu tragen, schwerer als jeder andere Mensch. Sein Weg war ihm vorherbestimmt, aber wo würde er einmal enden? 105
Der Schatten, den der Kleine Nadomir einen der Deddeth genannt hatte, würde sich nicht aufhalten lassen. Er würde den Weg hierher finden… Mythor fand keinen Schlaf mehr. Er sah Nilombur und ein Dutzend andere friedlich neben sich liegen und empfand dabei stärker als je zuvor, daß er nicht hierhergehörte. Er verließ sein Lager und trat in die Nacht hinaus.
Als die Sonne ihre ersten Strahlen über das Land schickte, stand Mythor am Strand und blickte starr auf den Strudel hinaus. Er hörte die Schritte erst, als Nilombur und Sadagar schon hinter ihm standen. »Was machst du für ein Gesicht, Mythor?« fragte der Steinmann. »Hier läßt es sich leben. Willst du nicht mitkommen und Holz schlagen für neue Hütten? Wir…« »Nein«, sagte Mythor. Fast schien es ihm, als müsse er sich vor Sadagar, dessen Augen vor Tatendrang strahlten, für sein hartes Wort rechtfertigen. Er schüttelte bedauernd den Kopf und blickte Nilombur an. »Ihr habt ein Paradies gefunden oder es euch geschaffen«, sagte er. »Und nur die Vorsehung mag wissen, ob es dem Sturmlauf der Mächte der Finsternis auf Dauer trotzen kann. Ich wünsche es euch allen, die hier leben. Aber ich muß weiter auf meinem Weg, Nilombur. Ich verlange nicht, daß du mich verstehst.« »Ich wußte, daß du so entscheiden würdest, mein Freund«, sagte der Bärtige ruhig, während Sadagar entsetzt zurückwich und Mythor aus großen Augen anstarrte. »Ich wußte es schon gestern abend. Doch es gibt keine Möglichkeit, die Insel zu verlassen, Mythor.« Der Sohn des Kometen schüttelte heftig den Kopf. »Es muß eine Möglichkeit geben!« »Du siehst den Strudel«, entgegnete Nilombur. »Es gibt 106
keine Strömung, die von hier wieder fortführt. Glaube mir, mein Freund. Was hätte ich davon, dich zu belügen?« Und Mythor sah, daß der Bärtige die Wahrheit sprach. Sadagar kam auf ihn zu und fuchtelte mit den Händen in der Luft herum. »Warum kannst du dich nicht damit abfinden, Mythor? Ich… ich weiß ja, was dich von einem Ort zum anderen treibt, und glaube mir, ich wäre der letzte, der nicht mit dir gehen würde! Aber… es ist eben nicht möglich!« Nicht möglich, dachte Mythor. War er also dazu verurteilt, bis zum Ende seines Lebens an diesem Ort zu bleiben – verurteilt zum Glücklichsein? Es gab kein Licht ohne Schatten, kein Glück ohne Unglück. Tief in seinem Inneren spürte der Sohn des Kometen, daß nicht alles so war, wie es sich ihm und all den anderen hier darbot, und plötzlich hatte er das Gefühl, von Kerkermauern umschlossen zu sein, die höher und höher in den Himmel wuchsen und alles Licht verschluckten.
107
Horst Hoffmann
INSEL DER TRÄUMER Niemand hatte sie fortgehen sehen. Niemand war vom leisen Geräusch ihrer Schritte geweckt worden. Dies war die Nacht vor dem Fest des Vollen Mondes. In solchen Nächten schliefen die Menschen von Sarmara besonders tief und fest – außer jenen, die den Ruf vernahmen. Clydha und O’Lywynh hatten ihn gehört, tief in ihrem Inneren. Es war nicht so, daß jemand gekommen und vor sie hingetreten wäre und zu ihnen gesagt hätte: »Nun kommt mit mir, meine Kinder! Die lange Zeit des Wartens ist vorüber. Laßt zurück, was euer war, denn dort, wohin wir gehen, ist nichts von Bedeutung außer der Reinheit eurer Herzen!« Sie hatten ganz plötzlich gewußt, daß die Zeit gekommen war, dem Leben zu entsagen, wie sie es geführt hatten in einem Land, das ihnen von den Göttern selbst zum Geschenk gemacht worden war. Ein neues, besseres Leben wartete auf sie, die Erfüllung all ihrer Sehnsüchte, ihrer Träume und geheimsten Wünsche. Mit schlafwandlerischer Sicherheit suchten sie sich ihren Weg Hand in Hand durch die blühenden Büsche, die sich vor ihnen teilten, geleitet von Schwärmen großer, leuchtender Insekten und der leise wispernden Stimme in ihnen. Sie verstanden ihre Worte nicht, doch sie folgten dem Locken… Sie wußten nicht, wieviel Zeit verstrichen war, als sie die Bucht erreichten und auf den Klippen stehenblieben. Unter ihnen war das Wasser ruhig. Nur ab und zu spritzte weiße Gischt Mannslängen hoch auf. Im hellen Licht der Sterne und des Mondes waren die Wassermassen des Strudels zu sehen, 108
wie sie für ewige Zeiten ihre schäumenden Bahnen turmhoch um das Eiland zogen. Am gegenüberliegenden Ende der Bucht stieß bleich ein Teil der vor Tagen hier gestrandeten Lichtfähre aus den Fluten, eingekeilt zwischen zwei mächtigen Klippen. Lange standen die beiden Menschen so da, bis das Locken in ihnen übermächtig wurde. Ihre Blicke waren verschleiert, als sie sich ein letztes Mal ansahen, dann noch einmal den Kopf hoben und aufschauten zum schwach leuchtenden, nebligen Streifen, der im Süden das Firmament überzog. »Gehen wir«, flüsterte Clydha. Und sie packte die Hand des Gefährten fester, als sie nebeneinander den Weg zwischen den Felsen hinabschritten, den so viele andere vor ihnen genommen hatten, wenn sie sich auf die Traumreise begaben.
»So sieh es doch ein, Mythor! Es gibt keinen Weg zurück in die Welt des Hasses und des Kampfes, der Neider und der falschen Gläubigen! Haben wir nicht alles, was das Herz begehrt? Hör auf zu grübeln und erfreue dich an unserem Paradies. Ich für meinen Teil…« Mythor winkte ab. »Laß mich in Ruhe, Chrandor.« Der ehemalige Pirat rückte ein Stück von ihm fort und rümpfte die Nase. »Irgend etwas stimmt mit dir nicht, mein Freund, daß ich dir das einmal sage!« »Irgend etwas stimmt mit diesem… diesem Paradies nicht.« »Was soll das sein? Ist es dir noch nicht gut genug? Ist es das? Erwartest du noch mehr?« Chrandor lachte meckernd. »Irgend etwas stimmt nicht mit dir!« Mythor erhob sich. Die Lust an derlei Unterhaltungen war ihm vergangen. Chrandor war hartnäckig und ein wenig zu neugierig. Warum gab er sich nicht mit seinem Leben auf dieser Insel der Träume zufrieden? Oder hatte Sadagar geredet? Anlaß dazu wäre genügend 109
gewesen. Der Wein vernebelte nicht nur die Sinne der Männer, er lockerte vielen auch die Zunge. Mythor hatte sich bislang gehütet, sich als Sohn des Kometen zu zeigen. Unter den etwa 300 hier gestrandeten Legionären der Gasihara gab es viele Anhänger des Shallad Hadamur, und selbst jetzt noch mochten diese auf einen »Frevel« mit einem Strick um den Hals antworten. »Wo ist er?« fragte Mythor. »Wer?« »Der Steinmann.« »Am Strand, nehme ich an. Er verspürte plötzlich Hunger auf Fisch.« »Und du bist nicht bei ihm?« »Warum sollte ich? Hier gibt es nichts, was ihm gefährlich werden könnte, und er braucht meinen väterlichen Schutz nicht. Außerdem habe ich von Fisch genug.« Chrandor verzog das Gesicht. Er blieb im warmen Sand zwischen den Hütten liegen und blickte Mythor herausfordernd an. »Ein Weib«, sagte er. »Es kann nur ein Weib sein.« »Wovon redest du?« »Wenn einer wie du unbedingt von hier fortwill, muß er irgendwo ein Weib sitzen haben, das auf ihn wartet. Ich sage dir: Vergiß sie! Kein Frauenzimmer auf der ganzen Welt ist es wert, daß man sich um es Gedanken macht.« Mythor drehte sich zu ihm um, eine harte Entgegnung auf der Zunge. Unwillkürlich fuhr seine Hand über die nackte Brust, dort, wo sich einmal Fronjas Bildnis befunden hatte. Dann winkte er ab. »Sicher hast du recht, Chrandor. So wird es sein.« Er verließ den Schatten der Hütten. Die Sonne brannte heiß auf den freien Platz herab. Auch Mythor hatte sich wie die meisten bis auf den kurzen Fellrock seiner Bekleidung entledigt. Der Sand brannte ihm zwischen den Zehen. Er folgte 110
dem Pfad im schulterhohen blauen Gras bis zum Strand hinunter. Große Falter und Käfer waren überall. Die Luft war erfüllt vom Zirpen der Grillen und dem Gesang wunderschöner Vögel. Kleine Pelztiere krochen flink an Mythor hoch und setzten sich zutraulich auf seine Schultern. Nein, dachte er in plötzlich aufwallender Bitterkeit, als ihm wieder zum Bewußtsein kam, daß er Logghard erreichen mußte – mußte! Ich bin nirgendwohin auf dem Weg. Ich bin ein Gefangener dieser Insel, die irgendwann einmal aus dem Meer auftauchte; verurteilt zum Glücklichsein! Er stieß eine Verwünschung aus und teilte das Gras mit den Händen. Sofort stieg ein kleiner Schwarm von Leuchtkäfern auf und umschwirrte ihn summend. Vieles hatte er in Sarphand über die Strudelsee gehört, doch nie war die Rede von der Insel Sarmara gewesen. Es war, als gehöre dieses Eiland überhaupt nicht zu der Welt, aus der er kam. Aber war dies nicht nur die Bestätigung dafür, daß es keinen Weg von hier zurückgab? Daß noch niemand von hier entkommen konnte, um in den Hafenstädten des Innenmeers Kunde von diesem Paradies zu verbreiten? . Die Wasser des mächtigen Strudels waren ein unüberwindlicher Wall um Sarmara – unüberwindlich für Menschen. Jener Gegner, den Mythor mehr fürchtete als alle anderen, würde sich aber kaum von ihm zurückhalten lassen. Einer der Deddeth… Wann würde er hier erscheinen, um erneut nach ihm zu greifen? Und wie sollte er ihn besiegen, bevor er noch mächtiger wurde? Es schien, als wehre sich die Welt um Mythor herum gegen solcherlei bange Gedanken. Das Zwitschern der Vögel riß Mythor aus ihnen heraus. Tiere kamen und sahen ihn aus großen Augen an, als wollten sie ihm zu verstehen geben, daß es nichts gab, was er hier zu fürchten brauchte. 111
Und doch war es ein Trugbild, das seine Sinne ihm vermittelten. Mythor spürte es, so, wie andere einen Wetterumschlag spürten. Nirgendwo fiel einem Menschen alles, was sein Herz begehrte, einfach in den Schoß. Doch hier kamen die Tiere freiwillig zur Schlachtbank, wenn jemand nur den Wunsch nach einem knusprigen Braten äußerte. Saftige Früchte senkten sich aus den Wipfeln der Bäume herab, wenn die Mädchen und Frauen mit ihren geflochtenen Körben in den Wald gingen, und die Fische sprangen den Männern am Strand in die Netze. Und mehr noch: Nach der Ankunft der Schiffbrüchigen hatte kein einziger Mann zur Axt greifen müssen, um neue Hütten zu bauen. Die Behausungen waren über Nacht entstanden, wie von Geisterhand geschaffen. Mythor erinnerte sich daran, daß Sadagar ihn aufforderte, mit in den Wald zu gehen, um Holz zu schlagen. Wenig später holte er ihn vom Strand fort und zeigte ihm das Wunder. All dies konnte nicht mit rechten Dingen zugehen. Mythors erste Vermutung, Unbekannte könnten – aus welchen Gründen auch immer – den Menschen diese Wunder vorgaukeln, hatte sich als falsch erwiesen, nachdem der Sohn des Kometen zusammen mit Sadagar und Golad Fuß für Fuß des Eilands abgesucht hatte, bis er zu den Steilfelsen an der Bucht kam, in der das Wrack der Gasihara lag. Hier lebte niemand außer den gestrandeten Seefahrern vieler Schiffe, die in den Sarmara-Strudel geraten waren -und den Frauen. Es gab fast ebenso viele wie Männer. Nilomburs Auskunft, daß sie ehemalige Sklavinnen seien, die von Sarphand aus in den Süden verschifft werden sollten, konnte Mythor nicht befriedigen. Durch dichtes Buschwerk gelangte Mythor zum Strand. Fast genau an jener Stelle, an der er, gefangen in einem ledernen Sack, an Land geschwemmt worden war, stand der Steinmann neben einem Berg von Fischen. Andere Männer tauchten nach 112
Schwämmen und riesigen Muscheln, die berauschende Melodien ins Ohr bliesen, wenn man sie an den Kopf hielt. Berauschend… Berauschend wie der Wein, wie der Duft der Blüten – wie alles an diesem Ort. Beim Anblick der lachenden Männer verstärkte sich Mythors Unbehagen. Warum konnte er sich nicht an diesem Bild des Friedens erfreuen? Weil er ahnte, daß der Tag kommen würde, an dem die Berauschten jäh aus ihren schönen Tagträumen gerissen wurden?
»Mythor!« Sadagar warf einen Fisch zurück ins Wasser und breitete die Arme aus, als der Sohn des Kometen auf ihn zukam. Mythor nickte nur und gab ihm einen leichten Klaps auf die Schulter. Dann, als er den Weggefährten genauer betrachtete, zuckte er leicht zurück. Sadagar sah aus, als sei er Jahre jünger geworden. Auch er trug nur mehr einen Lendenschurz und hatte sogar den Gurt mit den zwölf Messern in seiner Hütte zurückgelassen. »Dir geht es gut, ja?« fragte Mythor. Sein Blick wanderte über den Strand, und erst jetzt sah er, wie viele Männer und Mädchen es sich hier gutgehen ließen. Das Dorf war so gut wie verlassen. Die anderen durchstreiften die Wälder oder frönten der Liebe. Niemand brauchte zu arbeiten. »Natürlich!« rief Sadagar aus. »Paß auf!« Er hielt einen an einer langen Holzstange befestigten Kescher über die hier sanft heranrollenden Wellen, und schon sprang ein Fisch hinein. Vermutlich war es sogar jener, den der Steinmann vorher selbst wieder in sein nasses Element zurückgeworfen hatte. »Siehst du?« »Und das macht Spaß, oder?« fragte Mythor. »Und wie! Es…« Sadagar sah den Blick in Mythors Augen, in 113
dem keine Spur von Spott zu erkennen war. Mit einer Verwünschung warf der Steinmann den Kescher beiseite und brummte: »Es macht auf Dauer keinen Spaß, vor allem nicht, wenn einer wie du alles tut, um einem die Freude daran zu verderben!« »Laß dich nicht abhalten«, sagte Mythor bitter. »Wenn du den Sinn deines Lebens darin siehst, den Mund aufzureißen und dir die Trauben hineinregnen zu lassen…« »Mythor, wir können nicht von hier fort! Wenn es der Wille des Lichtboten wäre, daß wir nach Logghard gelangten, würde er uns einen Weg zeigen!« »Der Lichtbote weilt nicht mehr auf dieser Welt«, erinnerte Mythor den Freund. »Aber er wird zurückkehren, eines vielleicht nicht mehr fernen Tages, und sein Blick wird nicht auf eine reine Lichtwelt fallen!« Was das hieß, war Sadagar klar. Der Steinmann trat wütend mit einem Fuß in den Sand und breitete die Arme zu einer Geste der Hilflosigkeit aus. »Dann sag mir, was wir tun sollen!« »Bei Quyl, wenn ich das wüßte!« Mythor setzte sich in den weißen Sand und starrte finster auf die fernen, turmhoch um die Insel kreisenden Wassermassen. »Auf Burg Anbur«, murmelte Sadagar, »erfuhr ich vieles vom Sterndeuter Thonensen, wie du weißt. Er beobachtete weite Teile der Welt durch sein magisches Fernrohr.« Mythor sah den Gefährten fragend an. »Einmal sagte er mir, daß er riesige Blasen gesehen habe, die sich durch die Lüfte bewegten. Und in ihnen sollen Menschen gesessen haben.« »Hütten mögen aus dem Boden wachsen«, entgegnete Mythor. »Aber keine Gefährte, die in den Himmel aufsteigen und uns von hier fortbringen. Wer immer dieses Gefängnis erschaffen hat… er will nicht, daß auch nur einer der hier 114
Gestrandeten entkommt!« Der Steinmann erschrak. »Sag so etwas nicht, Mythor…« »Warum nicht? Weil du Angst hast? Vor wem, Sadagar? Wo doch hier alles so friedlich ist?« »Man weiß nie…« »Wir wissen gar nichts, und der, der uns die Antwort geben könnte, blendet uns mit schönen Sprüchen!« Mythor sprang auf und wandte sich zum Gehen. »Warte!« rief Sadagar. »Wo willst du hin?« »Zurück. Ich will Nilombur suchen, und diesmal wird er mir einige klare Antworten geben müssen. Ich will wissen, wie es war, bevor die ersten Schiffbrüchigen hier an Land gingen. Er ist der Herrscher des Eilands. Und frühere Herrscher werden ihm ihr Wissen mitgeteilt haben.« »Nilombur weiß auch nicht mehr als wir, Mythor.« »Vielleicht, aber ich brauche Gewißheit.« »Dann komme ich mit, wenn du mir hilfst, die Körbe mit den Fischen zu tragen. Ich habe Clydha versprochen, ihr welche mitzubringen, als wir gestern abend…« Verlegen räusperte sich der Steinmann. Mythor lächelte schwach. »Du wirst tatsächlich jünger. Aber gib acht! Du meinst doch das Mädchen, das zu O’Lywynh gehört.« »Er bekommt auch von den Fischen. Und außerdem ist hier keiner eines anderen Eigentum!« versetzte Sadagar trotzig. Wortlos packte Mythor sich einen Korb auf die Arme. Sadagar tat es ihm gleich und folgte ihm zurück zu den Hütten. Eine Handvoll Männer, die Mythor alle von der Gasihara her kannte, brieten ein Stück Wild auf einem Spieß. Andere ließen sich von Mädchen in der Kunst des Blumenflechtens unterweisen. Mythor sah sie noch vor sich, wie sie sich die Hände blutig gerudert und die Fäuste gegen Kapitän Jejed 115
und seine Mannschaft geschüttelt hatten. Nichts von dieser grimmigen Entschlossenheit war mehr in ihren Augen. Sie winkten ihm zu, und einer der peitschenschwingenden Aufseher des Moronen hockte friedlich zwischen ihnen. Aller Groll war vergessen, alles schien vergessen zu sein. Sie waren nur noch glücklich. Und diese Männer sollten in Logghard für die Lichtwelt kämpfen! durchfuhr es Mythor. Sosehr ihn das Bild des Friedens auch berührte, sosehr er sich wünschte, überall auf der Welt gebe es nur noch Frieden und Freundschaft, so sehr traf ihn der Anblick. »Wo ist Nilombur?« fragte er. Golad und Farina, die beiden Liebenden aus dem tiefen Süden, traten aus einer Hütte und begrüßten ihn lächelnd. Hand in Hand blieben sie vor ihm stehen. »Nilombur?« meinte Golad. »Ich weiß es nicht. Er ist nicht mehr hier.« »Was heißt das, er ist nicht mehr hier?« fragte Mythor weiter. »Fort!« rief einer von jenen, die sich schon seit vielen Sommern von Sarmara verwöhnen ließen. »Er ist gegangen.« »Und wann kommt er zurück?« Männer und Frauen lachten, als habe Mythor einen besonders gelungenen Scherz gemacht. Ein Jüngling trat auf ihn zu und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Weißt du denn nicht«, fragte er lächelnd, »daß einer, der sein Hab und Gut zurückläßt, bevor er aufbricht, nie mehr zurückkommt, mein Freund?« Mythor war wie vom Donner gerührt. Der Jüngling setzte sich wieder zu den anderen und kümmerte sich nicht mehr um ihn, als sei die Angelegenheit damit für ihn erledigt und als gebe es nichts Selbstverständlicheres, als daß Menschen ihr Hab und Gut zurückließen, sich auf und davon machten und nie wieder 116
gesehen wurden. Irgend etwas in Mythor zwang ihn dazu, zu Nilomburs Hütte zu laufen und dort nach dessen Lager zu suchen. Einige Männer und Frauen, teilweise eng umschlungen auf ihren Decken liegend, blickten überrascht auf und rollten sich wieder zusammen. Sadagar stolperte Mythor schimpfend hinterher und machte entschuldigende Gesten zu den Ruhenden hinüber. »Mythor!« flüsterte der Steinmann, als der Sohn des Kometen sich vor die zusammengerollte Decke hinhockte. »Das war doch sicher nur ein Scherz! Alle merken doch, was mit dir los ist, und lachen schon über dich. Bei Erain! Was ist denn auf einmal in dich gefahren?« »Sein Hab und Gut«, murmelte Mythor und rollte die Decke auf. Er hob zwei Ketten mit Perlen, Fischzähnen und Korallen in die Höhe. »Alles, was ein Mensch hier besitzt, ist dies! Nilombur trug die Ketten immer um den Hals. Warum hat er sie dann jetzt abgelegt?« »Mythor, du siehst Gespenster!« »Nein!« Mythor kam in die Höhe und trat vor einen Mann hin, der halb aufgerichtet auf seinem Lager saß und sich die Müdigkeit aus den Augen rieb. Anklagend deutete er dorthin, wo Nilombur gewöhnlich schlief. »Wohin ist er gegangen?« Der Mann schüttelte verständnislos den Kopf. Von plötzlichem Zorn übermannt, ließ sich Mythor vor ihm auf die Knie fallen und packte ihn fest an den Schultern. »Wohin ist er gegangen? Rede schon! Und was soll das heißen, er kommt nicht mehr zurück?« »Willst du dir unbedingt Feinde machen?« zischte Sadagar. Mythor lachte bitter auf. »Feinde, Sadagar? Sieh sie dir an! Sie wissen gar nicht mehr, was ein Feind ist! Gib mir eines von deinen Messern, und ich schwöre dir, keiner von ihnen würde 117
sich rühren, wenn ich es ihm an die Kehle setzte! Sie würden mich nur aus ihren großen Augen anblicken und auf den tödlichen Stoß warten wie die Tiere, die zu ihnen kommen, um sich schlachten zu lassen!« »Mythor, du hast den Verstand verloren!« rief Sadagar entsetzt aus. »Meinst du?« Mythor schüttelte den Mann. »Was ist mit Nilombur geschehen? War es ein Machtkampf? Ist ein anderer Herrscher der Insel geworden? Mußte er darum gehen? Antworte mir, oder ich…« »Dein Geist ist verwirrt«, sagte der Mann langsam. Keine Spur von Furcht lag in seinem Blick, nur Unverständnis. Mythor stieß ihn hart zurück und stellte sich breitbeinig in die Mitte der Hütte. »Ihr!« schrie er. »Ihr alle! Sagt mir, wohin euer Herrscher verschwunden ist, oder ich nehme mir einen von euch und stecke ihm den Kopf so lange unter Wasser, bis er…« Eine Hand legte sich von hinten auf seine Schulter. Gereizt fuhr Mythor herum, die Faust schon zum Schlag erhoben. Dann blickte er in Golads Gesicht. »Du bist zuviel unterwegs gewesen, Mythor«, sagte der junge Recke. »Zuviel allein mit dir selbst und deinen Gedanken. Sonst wüßtest du, daß es für jeden hier die größte Sehnsucht ist, einmal den Ruf zu vernehmen. Wer ihn hört, folgt ihm.« »Welcher Ruf?« »Die Traumreise, Mythor. Jeder hier sieht es als seine Erfüllung an, einmal die Traumreise machen zu dürfen. Viele sprechen nur von dieser Sehnsucht, wenn der Wein ihre Geister in weite Fernen reisen läßt. Doch nur wenige sind auserwählt. Nilombur gehörte zu ihnen. Er ging und nicht allein. Auch Clydha und ihr Gefährte vernahmen in der Nacht den Ruf.« 118
Mythors böse Ahnungen drohten plötzlich Gestalt anzunehmen, als könne er sie greifen, als ballten sich dunkle Schatten vor ihm zusammen, aus denen sich dämonische Grimassen schälten, die ihn verhöhnen wollten. Mühsam beherrscht fragte er: »Was ist das, Golad, die Traumreise?« Trauer und eine ungewisse Sehnsucht traten in den Blick des Recken, als er achselzuckend antwortete: »Das weiß niemand, Mythor. Aber alle sehnen sie herbei. Sie vernehmen den Ruf und folgen ihm.« »Wohin?« »Sie wissen es, wenn sie den Ruf vernehmen.« Mythor ballte die Hände. Sein Mund war trocken, und trotz der sengenden Mittagshitze fühlte er eisige Kälte in sich. »Und du, Golad? Wartest du auch darauf, gerufen zu werden?« preßte er kaum hörbar hervor. »Ja, Mythor, ich sehne diesen Augenblick herbei.« »Ihr Lämmer!« schrie Mythor. Er ging zu den Lagern und zerrte die Teilnahmslosen in die Höhe. »Nichts anderes als Lämmer seid ihr alle! Wer schickt euch denn diesen Ruf, habt ihr euch das wenigstens schon einmal gefragt? Wer ruft euch, und wer gab euch dieses… Paradies?« Doch sie wandten sich von ihm ab und verließen die Hütte, alle außer Steinmann Sadagar. Mythor blickte ihn zornig an. »Und du?« fragte er. »Du gehst nicht mit zu ihnen?« Verlegen senkte der Steinmann den Blick. »Ich… Nun, ich…« Betroffen mußte Mythor feststellen, daß offenbar auch der Freund schon diese Sehnsucht nach etwas in sich hatte, von dem niemand zu wissen schien, was es eigentlich war. Dann aber hatte er gar nicht von anderen von dieser Traumreise gehört, sondern das Wissen um sie kam aus ihm heraus, war in ihm. Und er selbst? Der Sohn des Kometen lauschte in sich hinein. Wenn es 119
etwas gab, was sich in ihm breitzumachen versuchte, so war er jetzt viel zu erregt, um es aufzuspüren. Doch war da nicht hin und wieder diese seltsame Müdigkeit in ihm gewesen, der Wunsch, zu vergessen und sich treiben zu lassen? Sicher, er hatte mit Erfolg dagegen angekämpft und würde es immer wieder tun. Aber war dies der Beginn einer unheimlichen Beeinflussung? Mythor ließ den Steinmann stehen und trat aus der Hütte. Sadagar schrie auf und folgte ihm eilig. »Was hast du vor, Mythor? Du darfst dich nicht…« »Ich suche Nilombur!« »Mythor, das darfst du nicht!« »Warum nicht?« Mythor schritt weiter, und die gleichen Männer und Mädchen, die ihn eben stehengelassen hatten, saßen bei anderen und lächelten ihn an, als sei nichts gewesen. »Weil es gefährlich ist, Mythor!« sagte Sadagar beschwörend. »Gefährlich?« fragte Mythor mit bitterem Hohn. »Es gibt doch keine Gefahren auf Sarmara. Du siehst Gespenster.« Steinmann Sadagar blieb stehen und raufte sich die Haare. Als Mythor schon zwischen den Bäumen verschwunden war, rief er ihm nach: »Ich sehe keine Gespenster, aber du, du wirst an deiner eigenen Sturheit zugrunde gehen! Und überhaupt hätte ich nie mit dir gehen sollen, als wir uns…« »Ein sturer Hund«, pflichtete Chrandor ihm bei, der plötzlich hinter ihm stand. »Sturer als du, Freund Steinmann.« »Ach, was weißt du denn schon!« Sadagar sah sich hilfesuchend um, doch da war keiner, der aufstand und ihm anbot, Mythor zu folgen. Zwischen den Hütten standen noch die Körbe mit den Fischen. Der Steinmann ging hin und trat wütend dagegen. »Und Clydha ist auch gegangen! Wie viele noch in dieser Nacht?« Die Sitzenden sahen ihn nur an. Einer sagte ruhig: »Die 120
meisten gehen in den Nächten vor dem Vollen Mond. Diese Nacht, nach dem Fest, werden es weitere sein. Vielleicht du, vielleicht ich – wer weiß es?«
Es war sinnlos. Mythor hatte die Insel etwa bis zu ihrer Mitte durchquert, war Pfaden gefolgt und tief in dichtes Unterholz eingedrungen, wenn er glaubte, daß abgeknickte Ästchen ihm den Weg wiesen, den Nilombur und die beiden anderen Verschwundenen genommen hatten. Doch nur Tiere kamen ihm entgegen und rieben sich an seinen Beinen. Hier und da schliefen Menschen oder liebten sich, so daß Mythor allmählich verstand, wie es zum Kinderreichtum hier auf Sarmara kam. Die Sprößlinge der Gestrandeten waren unbeaufsichtigt und durchstreiften in Gruppen Wald und Grasland. Als er von Nilombur zu den Hütten gebracht wurde, hatte er kein einziges Kind zu Gesicht bekommen. Sie lebten mit den Tieren – und wie die Tiere. Auf einer Lichtung fand er einen Felsblock und setzte sich darauf. Er schwitzte, obwohl es ihn fröstelte, wenn er an die Worte der Schiffbrüchigen dachte. Sollte er noch weiter marschieren? Das Dorf befand sich an der Nordspitze der langgestreckten Insel. Zum Meer hin war es von dem hohen Gras umgeben, zum Land hin von Wald. Hohe Wälder mit vielen Lichtungen erstreckten sich auch bis zur Südspitze, wo es keinen flachen Sandstrand gab, sondern nur Steilfelsen und Klippen, die bis weit in die Strudel hinausreichten. Dort war auch die Gasihara gestrandet. Auf seinen Wanderungen hatte Mythor die Bucht gesehen, und von diesen rastlosen Märschen her wußte er auch, daß kaum ein Inselbewohner jemals weiter als bis zur Mitte des Eilands ging. Im Südteil gab es keine Pfade außer denen der Tiere und 121
keine Behausungen. Gab es etwas, das die Menschen davon abhielt, viel weiter als bis hierher zu gehen? Etwas, das ihnen die Nordhälfte Sarmaras zugeteilt und die südliche Hälfte für sich vorgesehen hatte? Mythor ärgerte sich über seine eigene Phantasie. Als die Gasihara strandete, waren einige Dutzend Inselbewohner aufgebrochen, um die Schiffbrüchigen aus der Bucht zu holen, und sie hatten es ohne Furcht getan. Warum sollten die, die in der Nähe des Dorfes alles in Hülle und Fülle hatten, sich auch die Mühe machen, sich zu weit fortzubewegen? Neugier, Sehnsucht nach Abwechslung? Mythor hatte nichts dergleichen in ihren Blicken gesehen. Sie waren zufrieden mit ihrem Leben – mit ihrem glücklichen, im Grunde aber doch jämmerlichen Dasein. Nein, dachte Mythor. Dieses Leben war nichts für ihn. Er mußte fort und würde einen Weg finden, irgendwie und irgendwann. Während er hier festsaß, wurde in Logghard und an unzählbaren anderen Orten der Lichtwelt weitergekämpft, rückten die Mächte des Bösen unaufhaltsam vor. Er stand auf und blickte zum Himmel auf. Mochten sich überall über der Strudelsee dunkle Wolken zusammenbrauen, hier schien die Sonne immer zu strahlen. Bis zum Einbruch der Nacht hatte er noch Zeit genug, um bis zur Bucht und wieder zurück zum Dorf zu gelangen. Je länger er sich den Kopf zerbrach, desto einleuchtender wurde ihm, daß Nilombur und das junge Paar nach Süden gegangen waren, wenn sie allein sein wollten. Daß niemand, der auf die Traumreise ging, je zurückkehrte, konnte vielerlei Gründe haben. Vielleicht verspürten die Menschen plötzlich den Wunsch, ihrem Leben ein Ende zu bereiten. Dann mochten die gebleichten Gebeine vieler Männer und Frauen nun irgendwo unter den Steilfelsen liegen. 122
Mythor beschleunigte seine Schritte. Vielleicht kam er noch rechtzeitig. Vielleicht redete er sich auch nur etwas ein. Es gab nur einen Weg, sich Gewißheit zu verschaffen. Von nun an wurde der Weg beschwerlicher. Er folgte den Pfaden des Wildes oder verließ den Wald, um auf den Klippen schneller voranzukommen. Das allerdings machte es ihm unmöglich, eventuell vorhandene Spuren zu finden. Als er die Bucht vor sich liegen sah, ging er wieder landeinwärts. Die Sonne neigte sich weiter dem Horizont zu, während er durch Gebüsch und über Lichtungen irrte. Äste mit Früchten senkten sich zu ihm herab, und der Duft nie gesehener Blüten wollte ihn betäuben. Mythor stieß die Früchte von sich fort. »Vielleicht sind sie für den Zustand der Inselbewohner verantwortlich«, überlegte er laut. Gerade wollte er eine weitere Lichtung überqueren, als er plötzlich stehenblieb und stutzte. Nicht weit von ihm, zwischen zwei eng beieinanderstehenden Bäumen, schimmerte etwas weiß auf dem Boden. Mit wenigen schnellen Schritten war Mythor dort. Als er sich bückte und erkannte, was er in Händen hielt, stieß er einen leisen Pfiff durch die Zähne aus. »Nilomburs Lendenschurz«, murmelte er. »Also war er hier.« Und noch etwas sah er: Ein kleiner Ast in Schulterhöhe war abgeknickt worden. An ihm hingen noch einige Fasern des weißen Tuches. Jemand war nach ihm hierhergekommen und hatte das Leinen heruntergerissen. Er ging in die Hocke und suchte nach Spuren. Der weiche Boden war an dieser Stelle platt getreten, als habe sich jemand lange hier aufgehalten und viel bewegt. Aber das Moos hatte sich noch nicht völlig aufgerichtet, und Mythor sah zu seinem Erstaunen, daß zwei Fußspuren von hier aus in zwei verschiedene Richtungen wiesen, wobei die eine frischer war als die andere. 123
»Wenn also Nilombur als erster an diesem Ort war«, murmelte der Sohn des Kometen, »und der andere ihm folgte, dann müssen die schwächeren Spuren von Nilombur sein.« Mythor erhob sich und blickte sich unsicher um. Wurde auch er schon beobachtet? Er gab sich einen Ruck. Es ging um Nilombur. Er hatte nicht vergessen, daß dieser es gewesen war, der ihm das Leben rettete. Er folgte Nilomburs Spuren, bis er zu den Klippen kam, wo sie abrupt endeten. Vielleicht hatte er sich hier in die Tiefe gestürzt? Mythor ging weiter bis zum Rand der Steilfelsen und blickte hinab. Tief unter ihm spritzte die Gischt in die Höhe. Wellen schlugen gegen den Fels und liefen zurück, bis sich wieder kleinere Strudel bildeten, die das Wasser in die Höhe wirbelten. Das ständige Rauschen und Mahlen des eigentlichen Strudels nahm er kaum noch bewußt wahr. Falls Nilombur hier sein Ende gefunden hatte, war jede weitere Suche sinnlos. Also zur Bucht? Oder nach Norden? Noch während Mythor unschlüssig dastand, hörte er ein Geräusch hinter sich in den Büschen. Er fuhr herum und sah, wie Äste zurückschwangen. Mit einem Aufschrei rannte er auf die Stelle zu, doch da war nichts mehr. Die Büsche bildeten einen schmalen Gürtel zwischen den Klippen und einer großen Lichtung, über der sich die weit ausladenden Wipfel von Riesenbäumen zu einem Blätterdach vereinten. Mythor legte die Hände an den Mund. »Komm zurück!« rief er. »Komm her, ich weiß, daß du da bist! Ich will nur mit dir reden!« Hatte er eine Antwort erwarten dürfen? Der Wald schwieg. Selbst das Gezwitscher der Vögel und das Summen der Käfer waren verstummt. Nur ein leichter Wind brachte die Blätter der Bäume zum Rauschen. Aber der Unbekannte hatte deutliche Fußabdrücke hin124
terlassen. Mythor folgte ihnen.
Es begann bereits zu dämmern, als Mythor jene Stelle wieder erreichte, an der er Nilomburs Lendenschurz gefunden hatte. Wollte der Unbekannte ihn narren, indem er ihn wieder hierher zurückführte? Aber das weiße Tuch war verschwunden, und die frischen Spuren folgten jenen, die Mythor bereits gesehen hatte. Mythor brach sich einen starken Ast ab und wog ihn in der Hand. So bewaffnet nahm er erneut die Verfolgung auf. Dabei gewann er den Eindruck, daß der Fremde nicht recht wußte, wohin er sich eigentlich wenden sollte. Einmal führte seine Spur nach Westen, dann wieder nach Osten, kurz darauf nach Süden. Bedeutete das, daß er sich noch nicht lange auf der Insel aufhielt? Nur ein Narr konnte hoffen, einen Verfolger durch den häufigen Richtungswechsel in die Irre führen zu können. Aber gerade dies schien der Unbekannte zu wollen, wenn er nicht darauf aus war, Mythor die Verfolgung leichtzumachen. Denn nun fand der Sohn des Kometen immer häufiger weiße Fäden, die an Zweigen hingen oder auf dem Boden lagen. Mythors Grimm wuchs. Er fühlte sich zum Narren gehalten, und als er schließlich wieder auf dem Fels der Klippen stand, machte er seinem Zorn durch eine Reihe von Verwünschungen Luft. »Ich weiß, daß du mich hören kannst!« schrie er. »Zeige dich endlich, wer immer du bist!« Ein in die Tiefe polternder Stein antwortete ihm. Er befand sich jetzt genau am Südzipfel der Insel. Von hier aus war von der Bucht nichts mehr zu sehen. Mythor trat vorsichtig an den Rand der Felsen und sah hinab. Hier fielen die Klippen nicht so steil ab wie an anderen Stellen, und es gab Vorsprünge 125
genug, um einen Mann nach unten klettern zu lassen – weit genug jedenfalls, um bis zu der Höhle zu gelangen, deren dunkle Öffnung ihm entgegengähnte. Er sah sich noch einmal um und begann mit dem Abstieg. Die Höhle befand sich etwa in halber Höhe des Felsens. Der Eingang war groß genug, um zwei Männer nebeneinander eindringen zu lassen, ohne daß sie ihre Köpfe einziehen mußten. Davor schob sich eine zwei, drei Fuß breite Felsleiste über den Abgrund. Lehmspuren und kleine Moosbüschel zeigten ihm an, daß derjenige, der sich diesen Ort als Versteck ausgesucht hatte, häufiger Ausflüge auf die Insel unternahm. Mythor wußte, daß es sinnlos war, noch einmal nach dem Fremden zu rufen. Falls der Unbekannte ihn in einen Hinterhalt locken wollte, hätte er dies oben auf bequemere Weise tun können. Er wollte, daß er ihm folgte, denn auch hier lagen die weißen Fäden aus Nilomburs Lendenschurz. Aber wieso war er dann geflohen? Gab es etwas, das er ihm nur hier zeigen konnte? Er ging bis zum Ende der Felsleiste und überzeugte sich davon, daß es dort keine Spalten oder sonstige Verstecke mehr gab, in denen ihm jemand auflauern könnte. Der Fremde befand sich in der Höhle. Er wartete auf ihn – mit einem Messer in der Hand? Mythor versuchte, das Dunkel des Eingangs mit Blicken zu durchdringen, aber zu spärlich war das Licht der untergehenden Sonne, das den Himmel im Süden blutrot färbte. Nun zögerte er nicht länger. Vorsichtig, nach jedem Schritt haltmachend, betrat er die Höhle. Bald war er von völliger Dunkelheit umgeben, als der Gang einen Knick machte. Er tastete sich langsam weiter vor. Er hielt sich mit dem Rücken an einer Wand und ließ die Hände über das feuchte Gestein gleiten. Nichts rührte sich. Seine eigenen Atemzüge waren die einzigen, die erhörte. 126
Schon begannen sich erneut Zweifel in ihm zu regen, als er plötzlich etwas Spitzes, Kaltes an seiner Kehle fühlte. »Nicht weiter, mein Freund!« sagte eine Stimme aus dem Dunkel heraus, und Mythor blieb stehen, wagte kaum mehr zu atmen und versuchte verzweifelt, sich daran zu erinnern, zu wem diese Stimme gehörte. Denn er kannte sie, doch hier klang sie dumpf und hohl. Er hätte die Klinge und den Arm, der sie hielt, leicht zurückschlagen können. Doch dann hätte er wieder ganz am Anfang gestanden. Wenn der andere ihn töten wollte, hätte er es jetzt tun können. Wer war er, und was wollte er von ihm? Was hatte er mit Nilomburs Verschwinden zu tun? »Du sagst nichts mehr?« hörte er. »Du willst nicht mehr mit mir reden?« »Deine Stimme…« Irgend etwas schwang in ihr mit, was Mythor nicht einordnen konnte. Aber sie verriet Angst, große Angst vor ihm. Die Hand mit der Klinge zitterte. »Du hast also überlebt, Krieger. Niemand kann das, der nicht mit den Mächten der Finsternis im Bunde ist!« Da fiel es Mythor wie Schuppen von den Augen. »Rachamon!« stieß er überrascht hervor. »Aber die Männer sagten, du seist…« »Tot?« Der Magier lachte, doch es war das Lachen eines Menschen, der zutiefst geistig verwirrt war. »Natürlich, sie sahen ja, wie ich über Bord ging. Aber du wirst sterben, du und das, was dich besitzt! Nicht noch einmal wirst du die Gasihara ins Verderben führen. Nimm einen letzten Atemzug! Dann…« »Schluß mit dem Unsinn!« Blitzschnell schlug Mythor den Arm des Magiers zur Seite; packte ihn und entwand ihm das Messer. Rachamon schrie gellend auf und wollte fliehen, doch Mythors Griff war eisern. 127
Er legte den linken Arm um den Hals des Seemagiers und setzte nun diesem das Messer an die Kehle. »Und nun wirst du uns Licht machen!« befahl der Sohn des Kometen. »Du kannst es doch. Ich will dich sehen, Rachamon, und was du noch hier versteckt hast!« »Nein!« schrie der Magier in höchstem Entsetzen. »O doch! Du hast dir nicht die Mühe gemacht, mich hierherzulocken, um mich dann zu töten. Du versteckst etwas, und du weißt etwas über diese Insel, Rachamon! Heraus damit, oder…« Der Widerstand des Magiers brach. Mythor lockerte seinen Griff etwas und ließ sich von Rachamon tiefer in die Höhle führen, auf jede Heimtücke gefaßt. Als dann ein Stab in Rachamons Hand an der Spitze aufglühte und den Docht einer Öllampe anzündete, als die Höhle in sparsames Licht getaucht wurde, stieß Mythor einen Laut grenzenloser Überraschung aus. Die Öllampe ruhte auf einem aus Wrackteilen roh zusammengezimmerten Tisch, vor dem zwei kleinere Kisten standen. Darum herum lagen überall auf dem Boden magische Banner und Fetische der Weißen Magie. Mythor erfaßte deren Bedeutung nicht, doch dies alles wirkte auf ihn wie eine kleine Festung. Zweifellos wollte Rachamon sich hier vor etwas schützen – aber wovor? Und nichts war zu sehen von Nilombur oder dem Paar, das ebenfalls dem geheimnisvollen Ruf gefolgt war. Nachdem er sich davon überzeugt hatte, daß Rachamon sich außer dem Messer keine weiteren Waffen aus dem Wrack besorgt hatte, ließ er den Magier los und stieß ihn von sich. Rachamon ging in die Knie, richtete sich auf und starrte Mythor aus irren Augen an. Er hat den Verstand verloren! durchfuhr es den Sohn des Kometen. Aber sein Tun ist auf ein ganz bestimmtes Ziel gerichtet! 128
Also muß er zumindest zeitweise noch wache Momente haben! Und er hatte furchtbare Angst vor ihm. Mythor brauchte nicht lange zu überlegen, um zu wissen, warum. »Hör zu, Magier«, sagte er. »Ich kann mich nicht mehr an das erinnern, was geschah, bevor ich in dem Ledersack über Bord geworfen wurde. Aber ich nehme an, du hast erkannt, daß ich von einem Schatten verfolgt wurde. Er ist fort, Rachamon.« Mythor deutete auf die Fetische am Boden. »Oder glaubst du, daß ich sonst hier vor dir stehen könnte?« Rachamon wich ein paar Schritte zurück. Noch immer stand Entsetzen in seinen Augen. Seine Lippen bewegten sich, aber er brachte kein Wort heraus. »Mich interessiert jetzt nicht, wie du dich retten konntest«, fuhr Mythor eindringlich fort. »Ich will wissen, was auf Sarmara geschieht. Du hast etwas herausgefunden, und du wolltest… Hilfe herbeiholen, indem du die Spur legtest?« Mythor sprang vor und packte den Magier bei den Schultern. Beschwörend sagte er: »Rachamon, ich bin vielleicht der einzige Mensch weit und breit, der noch klar denken kann!« Alle Überheblichkeit war aus dem Gesicht des Seemagiers verschwunden. Dieser Mann mußte Unvorstellbares durchgemacht haben, etwas, das ihn krank gemacht hatte an Seele und Leib. Er war nur noch ein bebendes Bündel Elend. Mythor ließ ihn los, als er alle Ablehnung aus seinem Blick schwinden sah. Rachamon ließ sich auf eine der Kisten sinken und schlug die Hände vor die Augen. »Ich… habe meine Macht verloren!« begann Rachamon schluchzend. Mythor hatte Mühe, die Worte zu verstehen, die nun aus ihm heraussprudelten. Doch er hütete sich davor, den Magier zu unterbrechen. Erst mußte Rachamon sich von der Seele reden, was schwer wie Blei auf ihr lastete. Vielleicht brachte ihn dies in die Wirklichkeit zurück. Mythor hoffte es inbrünstig, denn 129
stärker als je zuvor spürte er, daß etwas Grauenvolles die Menschen auf der Insel bedrohte. So hörte er, wie Rachamon fast bis zuletzt versucht hatte, die Lichtfähre wieder aus dem Strudel herauszubringen, und wie er, als er sein Scheitern einsehen mußte, mehr und mehr dem Wahnsinn verfiel, die Ruderer und die Legionäre unter Deck mit sich in den Tod reißen wollte und schließlich selbst über Bord ging, besessen von der Wahnidee, im Zentrum des Strudels warte eine ungeheure Machtfülle auf ihn. Statt dessen hatte er Land vorgefunden. Rachamon wußte nicht zu sagen, wie er sich vor dem Ertrinken hatte retten können. Aber als er zwischen den Klippen lag, waren die Stimmen verschwunden, die ihm eine Erfüllung im Tod vorgegaukelt hatten. Geistig umnachtet hatte er die Höhle gefunden und mehrere Tage in ihr verbracht, bis ihn das Grauen aus seiner Starre riß. »Es ist hier«, flüsterte Rachamon. »Überall, Mythor! Du spürst es nicht, weil es durch meine Magie noch daran gehindert wird, sich in die Höhle zu schleichen. Ja, Krieger, ich mag die Macht über Winde und Strömungen verloren haben, aber was mir geblieben ist, reicht aus, um mich hier zu schützen. Ihr alle wißt nichts von ihm, denn es wiegt euch in Sicherheit, bis…« »Bis?« fragte Mythor schnell. Rachamon sah ihn aus fieberglänzenden Augen an. »Du bist wirklich nicht mehr… besessen?« »Du weißt es, Magier!« Zögernd nickte Rachamon. »Ja, ich würde es spüren, so, wie ich es auf der Gasihara spürte. Du mußt etwas Besonderes haben, wenn du den Schatten bannen konntest. Vielleicht würde es dir auch gelingen…« »Was, Rachamon? Was bedroht uns?« »Eine Macht«, flüsterte der Magier. »Eine dämonische 130
Macht, die den Menschen ein Paradies vorgaukelt. Aber es ist alles nur ein Traum! Dieses Paradies ist in Wahrheit ein Ort der Verdammnis. Ich habe es als einziger erkannt, und deshalb sucht das Böse mich zu zerstören. Ich muß all meine Kraft aufbringen, um die Trugbilder zu durchschauen, die mich verderben wollen, wenn ich den Schutz dieser Höhle verlasse.« »So wie vorhin«, murmelte Mythor. Er setzte sich auf die zweite Kiste und sah dem Magier in die Augen, unter denen sich dunkle Ringe abzeichneten. Die blakende Lampe warf unheimliche Schatten, daß Mythor hin und wieder herumfuhr und glaubte, etwas schleiche lautlos herein. »Wie vorhin«, flüsterte Rachamon. »Aber ich mußte dich hierherbringen. Die Erinnerung ließ mich oft schwanken.« Der Magier beugte sich weit vor und legte eine Hand auf Mythors Arm. Beschwörend sagte er: »Auch du wirst von nun an in großer Gefahr sein, denn das Böse weiß, daß auch du die Wahrheit kennst. Du wirst keinen Frieden mehr finden, denn wenn es so wäre, wenn du wieder den Trugbildern erliegen würdest, gäbe es keine Hoffnung für die Gestrandeten mehr.« Mythor schauderte. Er fragte sich, wie weit er den Worten des Magiers trauen durfte. Sicher, er war selbst davon überzeugt, daß hier vieles nicht stimmte, doch wer sagte ihm, daß Rachamon nicht schon ein Werkzeug dieser Macht war, von der er sprach? »Sobald du die Höhle wieder verläßt, wird es versuchen, dich zu täuschen. Doch die Insel ist kein Paradies, sie ist ein düsterer Ort des Todes! Du wirst lernen müssen, gegen die Trugbilder zu kämpfen, Mythor!« »Was geschieht mit den Menschen, die auf die Traumreise gehen, Rachamon? Was weißt du über Nilomburs Schicksal?« Rachamon zuckte beim Klang dieses Namens zusammen. Seine Augen weiteten sich. 131
»Du bist ihm gefolgt!« sagte Mythor hart. »Nein, nein! Ich sah ihn, als ich nach einem Menschen suchte, den ich in die Höhle locken konnte, um ihm die Augen zu öffnen. Aber er war… Es war bereits zu spät! Er sah mich nicht und hörte nicht! Er war nicht mehr er selbst.« Der Magier atmete tief ein. Ruhiger geworden, fuhr er fort: »Sie sind tot, Mythor. Sie folgten dem Locken des Bösen, das Nahrung sucht, immer neue Nahrung.« »Dann sag mir, wo diese dämonische Macht steckt!« forderte Mythor. »Ich weiß es doch nicht! Sie ist überall! Nur wer ihren Ruf vernimmt, weiß, wohin er zu gehen hat!« Rachamon schrie die Worte, und sie hallten schaurig von den feuchten Wänden wider. »Geh jetzt! Geh und sage den Menschen, daß es alles, was sie sehen, überhaupt nicht gibt! Öffne ihnen die Augen!« Mythor stand auf. Er zögerte. »Warum kommst du nicht mit mir?« Rachamon starrte ihn entsetzt an. »Das… kann ich nicht. Ich bin schwach geworden. Schon der Ausflug vorhin brachte mich an den Rand des Zusammenbruchs. Ich sehe den Zweifel in deinen Augen, Mythor. So lasse dir einen magischen Schutz geben, aber wisse, daß er nur für kurze Zeit anhalten kann. Diese Zeit aber wird reichen, um auch dich erkennen zu lassen, wo wir gestrandet sind.« Rachamon kam noch näher und flüsterte: »Du mußt diese Macht finden und sie vernichten, Mythor. Ich weiß nun, wer du bist. Ich war blind und überheblich. Jejed hatte recht, als er das sagte. Aber vielleicht kann ich etwas wiedergutmachen. Nur wer die Kraft des Lichtes selbst in sich trägt, vermag einen Schatten wie den zu besiegen, der dich verfolgte. Aber hüte dich! Der Kampf, den du führen wirst, ist ungleich härter! Jeder wird gegen dich sein, der nicht die Wahrheit erkennt! 132
Und dies zu verhindern wird das ganze Trachten des Bösen sein. Du wirst Feinde haben, wohin du dich auch wendest!« Lange blickten die ungleichen Männer sich in die Augen. Dann gab Mythor sich einen Ruck. »Gib mir den magischen Schutz, Rachamon«, sagte er tonlos. Als der Magier damit begann, seine Rituale zu vollziehen, fragte Mythor: »Du sagtest, du hättest den Schatten gesehen… oder gefühlt. Ich selbst konnte ihn nicht besiegen, aber der, der mich vor ihm bewahrte, nannte ihn einen der Deddeth. Was weißt du über die Deddeth?« Rachamon wich mit einem erstickten Laut vor ihm zurück, öffnete den Mund und streckte abwehrend die Hände von sich. Mythor schalt sich einen Narren der Frage wegen. Es bedurfte all seiner Redegewandtheit, den Magier wieder zu beruhigen. Doch von nun an schwieg Rachamon eisern. Er versah Mythor mit dem magischen Schutz und machte ihm den Weg aus der Höhle heraus frei. Mythor nahm sich fest vor, ihn später noch einmal zu befragen, denn das panische Entsetzen des Magiers zeigte nur zu deutlich, daß er schon einmal von den Deddeth gehört hatte. Falls es ein Später gab… An Rachamon vorbei verließ Mythor die Höhle. Als er über die letzten Fetische und Banner hinwegstieg, war es ihm, als packe ihn etwas mit der Gewalt eines Orkans, als versinke er in einem endlos tiefen Ozean, als versuche etwas, sich in seinen Geist zu schieben. Es rüttelte an ihm, daß er schwankte und sich mit einer Hand gegen den Fels stützen mußte. Aber es prallte von ihm ab. Mythor fand sein Gleichgewicht wieder, kämpfte gegen das Fremde an und hatte sich bald ausreichend unter Kontrolle, um den Aufstieg zu wagen. Doch das Grauen schlich sich in sein Herz, als er auch unter dem von Rachamon 133
verabreichten Schutz nun spürte, wie ungeheuerlich diese Macht war, die irgendwo auf der Insel lauerte und die Menschen in ihrem schrecklichen Bann hielt. Innerlich bereitete Mythor sich auf das vor, was er sehen würde, wenn er über den Rand des Felsens kletterte. Und doch traf ihn der Anblick, der sich dann seinen Augen bot, mit solcher Gewalt, daß er für die Dauer einiger Herzschläge an seinem Verstand zweifelte. Es war viel schlimmer, als er es sich vorgestellt hatte. Mythor schob sich über den Rand des Felsens und stand auf kahlem, schmutziggrauem Boden, aus dem die Wurzeln der Bäume herausstießen. Und was für Bäume waren das! Die Früchte, die sich ihm noch vorhin verlockend entgegenstreckten, waren häßlich und vom Schimmel zerfressen. Inzwischen war es Nacht geworden, doch der fast volle Mond spendete genug Licht, um Mythor alle Einzelheiten der Landschaft erkennen zu lassen, die wie aus tiefsten Alpträumen entsprungen wirkte. Die halbverfaulten Früchte schoben sich ihm auch jetzt entgegen, und Mythor wich angeekelt vor ihnen zurück. Sie hingen an knorrigen, kahlen Ästen. Die Stämme der Bäume waren gespalten, und Ungeziefer hauste in ihnen. Mythor brachte sich durch einige schnelle Sprünge in Sicherheit, als fingerdicke Käfer mit scharfen Scheren an ihm emporklettern wollten. Das Gebüsch, das die berauschend schönen Blüten getragen hatte, hatte sich in Dornensträucher verwandelt, der Duft der nicht mehr vorhandenen Blüten in einen abscheulichen Gestank, der Brechreiz hervorrief. Wie schreckliche Dämonen ragten die knorrigen Äste in den sternenübersäten Himmel, der im Süden von einem glühenden Band überzogen war. Sie streckten Mythor ihre Arme entgegen, ihre Klauen, ihre gräßlichen Mäuler. Der Sohn des Kometen begann zu rennen, doch wohin er 134
kam, fand er das gleiche Bild vor. Die Tiere des Waldes, die so viel Anmut ausgestrahlt hatten, waren dürr und blickten ihn aus leeren Augen an. Nur ein Verhungernder, der sie so sah, wie sie waren, würde von ihnen einen Bissen hinunterwürgen können. Mitleid regte sich in Mythor, denn er begann zu ahnen, daß diese Kreaturen nur dazu da waren, um die Menschen zu ernähren, zu… … mästen? Mythors Gedanken gerieten in Aufruhr. Was er da dachte, konnte nicht wahr sein. Welche dämonische Macht auch immer irgendwo im Dunkel lauerte, ihr mußte es um die Seele der Menschen gehen, die sie zu sich holte, um die Lebenskraft ihrer Opfer. Mythor rannte weiter, ohne Pause, über kahlen, holprigen Boden und aus der Erde ragende Wurzeln. Die Dornen der Büsche brachen ab, wenn er mit ihnen in Berührung kam. Kein Kratzer erschien auf seiner Haut. Der Sohn des Kometen begriff, daß alles, jede Pflanze und jedes Tier auf dieser Insel, ebenso unter dem Bann der unheimlichen Macht stand wie die Männer, Frauen und Kinder. Der Gedanke an die Kinder machte ihn rasend. Wurden sie nur in diese Welt hineingeboren, um eines Tages dem Ruf des Bösen zu folgen und seine Gier nach Lebenskraft zu stillen? Waren sie schon zum Sterben verurteilt, sobald sie den ersten Schrei taten? Mythor blieb abrupt stehen. Was war Wirklichkeit, was Trugbild? Gab es denn diese Insel überhaupt, oder sah er immer noch etwas, das gar nicht vorhanden war? Er trat mit voller Wucht gegen einen Baumstamm, daß die schwarze Borke absplitterte. Der Schmerz in seinem Fuß war ihm Antwort genug. Alles schien sich plötzlich um ihn herum zu drehen. Mythor klammerte sich an einem tief hängenden Ast fest. Er sah einige halbverfaulte Früchte vor sich und 135
schlug danach. Sie fielen ab und zerplatzten auf dem Boden, worauf ein dicker gelber Saft zwischen den Schalen austrat. Der Geruch ließ Mythor würgen. Aber diese Früchte waren eßbar und das Fleisch der Tiere zart und schmackhaft – jedenfalls in den Augen derer, die sich davon ernährten. Die Menschen wurden von seinem Genuß nicht krank. Niemand hungerte. Und was war mit den Fischen, die ihnen in die Netze sprangen? Reichte die Macht des Unheimlichen bis in den Strudel hinein? Mythor hastete weiter, sah kaum noch, was um ihn herum aus dem Boden wuchs und sich dazwischen bewegte. Der Boden war unfruchtbar. Was also nährte die Pflanzen und Tiere? Er konnte sich nicht daran erinnern, eines von ihnen jemals etwas fressen gesehen zu haben. All diese leeren Augen schienen sich jetzt auf ihn zu richten. Die knorrigen Äste streckten sich nach ihm aus. Der Boden verwandelte sich in einen schwarzen Schlund. Mythor fiel und hätte sich die Knie blutig schlagen müssen, doch seine Hände glitten über weiches Moos, wo nur kahler Fels war. Für Augenblicke sah er grüne Flächen sich ausbreiten, und häßliche graue Käfer verwandelten sich in wunderschöne Schmetterlinge. Aber wisse, daß der magische Schutz nur für kurze Zeit anhalten kann! Er raffte sich auf und lief weiter. Das Blut hämmerte in seinen Schläfen, und immer häufiger sah er nun wieder Teile der Alptraumlandschaft sich in paradiesische Gestalt hüllen. Er wußte, daß der magische Schutz nachließ. Nur wenn er sich ganz fest einredete, daß er Trugbilder sah, verschwand der Zauber. Mythor nahm den Kampf auf. Er würde nicht ständig gegen die Trugbilder ankämpfen können, ohne dabei den Verstand zu verlieren. Doch bevor er sich Ruhe gönnen durfte, mußte er die Menschen sehen, die Hütten und alles, was sie 136
für ihr eigen hielten. Er hörte sie schon aus der Ferne lachen und singen. Das Fest des Vollen Mondes hatte also bereits begonnen. War es wirklich Wein, den sie tranken, oder ein Gift, das den Verstand lähmte und sie aufnahmebereiter für das machte, was ihnen vorgegaukelt wurde? Mythor war am Rand der Erschöpfung, als er das Dorf endlich erreichte. Kaum hatte er mehr die Kraft, einen Fuß vor den anderen zu setzen. An einen Baumstamm gelehnt, die Haare schweißverklebt, blieb er stehen und atmete heftig. Für einen Moment schloß er die Augen, und der gräßliche Gestank, der von den Hütten her in seine Nase drang, verwandelte sich in betörenden Duft. Von den Hütten? Er riß die Augen auf. Er sah die Männer und Mädchen um Feuer tanzen, trinken und Spieße über der Glut drehen. Es roch nach knusprigem Braten. Die Sterne sahen auf ein Bild von betörender Anmut herab. Leicht wogten die Wipfel der Bäume im Wind hin und her. Die Blätter raschelten, und große Blüten öffneten ihre Kelche für Mythor. Grillen zirpten, und leuchtende Käfer tanzten zwischen herrlichen Sträuchern. Der Wind strich durchs Gras auf der anderen Seite des Dorfes und sang eine wunderbare Melodie. Aber das war nicht wirklich! Du mußt lernen, gegen die Trugbilder zu kämpfen, Mythor! Der Sohn des Kometen lehnte mit dem Rücken gegen den Stamm am Rand des Dorfplatzes, schweißgebadet, erschöpft und ausgemergelt. Sein Magen rumorte. Er hatte Hunger und Durst. Dort, nur ein, zwei Steinwürfe vor ihm, drehten sich köstliche Braten über den Feuern, und die Mädchen warteten nur darauf, ihm den Wein in den offenen Mund fließen zu lassen. Zwei betörend schöne Geschöpfe kamen auf ihn zu, mit Früchten in ihren vorgestreckten Händen, mit Wein. 137
Komm! schienen ihre Augen zu locken. Das Verlangen erwachte in ihm, ließ ihn einige Schritte auf die beiden Grazien zumachen. Er stolperte und… Sie waren fort. Brennender Schmerz durchzog Mythors Körper und riß die falsche Wirklichkeit vor seinen Augen auf. Es gab keine Mädchen mehr, die ihre Körper anboten und die Männer dort bei den Feuern verwöhnten. Nur einige Weiber mit verfilztem Haar und spröder, schmutziger Haut lagen in den Armen der Schiffbrüchigen. Aber es waren nur wenige. Alle anderen waren verschwunden, und die vom Wein berauschten Männer hielten nichts als Luft in den Armen. Es gab keine Hütten. Dort, wo das saftige Gras gestanden hatte, waren nur Unkraut und mannshohe Distelgewächse. Mythor wollte schreien, aber kein Laut kam über seine Lippen. Er wollte rennen, die Feuer austreten und die Krüge umstoßen, doch seine Beine versagten ihm den Dienst. Schon schob sich wieder das andere Bild vor seine Augen. Er sah die Mädchen wieder. Sie knieten vor ihm, und als er seine Hand nach ihnen ausstreckte, fühlte sie weiches, festes Fleisch. Grelle Punkte tanzten plötzlich vor seinen Augen. Dann breitete sich Schwärze um ihn herum aus. Das letzte, was er sah, bevor er bewußtlos zusammenbrach, waren die von Feuern beschienenen Hütten der Schiffbrüchigen.
Steinmann Sadagar seufzte und schüttelte den Kopf. Seine Hand ruhte auf Mythors Brust, die sich regelmäßig hob und senkte. Chrandor saß neben ihm und verfolgte jede seiner Bewegungen, sagte aber nichts. Er schlürfte seinen Wein in sich hinein und machte eine beleidigte Miene. Außer dem Steinmann und seinem neuen Freund waren nur Golad und Farina noch in der Hütte, während draußen im Schein der Feuer gelärmt und getanzt wurde. Das Fest des Vollen 138
Mondes war in vollem Gang. Stunden schon wurde geschmaust, getrunken und geliebt. Dabei war noch nicht wirklich Vollmond. Die Menschen auf Sarmara feierten in der Nacht vorher, solange sie sich zurückerinnern konnten. Sie priesen auf ihre Art die Götter, die ihnen dieses Land geschenkt hatten, und baten um weitere reiche »Ernte«. Farina klammerte sich fest an Golad, blickte von ihm zu Mythor und wieder in die Augen des Gefährten, und Furcht lag in ihren Blicken, als habe sie große Angst davor, daß Golad das gleiche geschehen könne wie Mythor, dem sie so vieles verdankten. »Warum hat er das nur getan!« schimpfte Sadagar. Hilflos sah er sich um, als Mythor sich immer noch nicht regte. »Und das schlimme ist, daß wir überhaupt noch nicht wissen, was er getan hat!« »Vielleicht«, lallte Chrandor, doch der ehemalige Pirat besann sich rechtzeitig seiner selbstverordneten Zurückhaltung und blickte mit glasigen Augen interessiert die Decke an, als Sadagar sich zu ihm umdrehte. Mythors Hände waren aufgerissen und blutverkrustet, seine Gesichtszüge selbst in der Ohnmacht verzerrt. Auch an den Beinen und Armen hatte er Schrammen, die man sich hier, wo es nichts als Sand und Moos gab, kaum zu holen vermochte. »Er war bei den Klippen«, stellte Golad fest. »Vielleicht beim Wrack der Gasihara.« »Ja, aber was wollte er da? Nilombur suchen?« Sadagar schimpfte wieder wie ein Rohrspatz. »Ein Dickschädel ist er! Solange ich ihn kenne, war er das, aber immer hatte er Gründe für das, was er tat! Was ist jetzt nur wieder in ihn gefahren? Was will er?« Golad hob die Schultern und zog Farina fester an sich. »Es ist, als habe er keine Augen für das Schöne.« »Ach, ich könnte dir sagen, wofür er Augen hat!« 139
»Wofür?« fragte Chrandor schnell. »Du bist still!« Beleidigt rutschte der Pirat bis zur Wand der Hütte zurück und bedachte den Steinmann mit vernichtenden Blicken, bevor er sich seinen »Händen« zuwandte – Aß und Baß, den beiden in den Stulpenhandschuhen steckenden Weichtieren, die ihm die abgeschlagenen Hände ersetzten. Er schien mit ihnen zu sprechen, ihnen sein ganzes Leid zu klagen. Doch er ging nicht hinaus zu den anderen. Wenn er Durst verspürte, schickte er entweder Aß oder Baß hinaus, und bald schon kamen die tentakelbewehrten Tiere mit den unglaublichen Kräften mit einem neuen, vollen Krug zurück. Auch Sadagar war berauscht, wenngleich ihn der Anblick Mythors, als dieser ins Dorf gebracht worden war, schnell wieder einigermaßen nüchtern gemacht hatte. So hütete er sich davor, jemandem vom Sohn des Kometen zu erzählen, wenngleich er nicht verstand, warum Mythor daraus jetzt noch ein Geheimnis machte. Er wollte nicht, daß darüber gesprochen wurde, und Sadagar respektierte das. Aber er begriff den Freund nicht mehr. Endlich, Sadagar hatte die Krüge nicht gezählt, die Chrandor in der Zwischenzeit geleert hatte, rührte sich Mythor. Seine Lippen bewegten sich, aber nur unzusammenhängende, meist unverständliche Worte redete er. Farina fuhr ihm sanft mit einem feuchten Tuch über die Stirn, als er erneut stark zu schwitzen begann. Dann schlug er die Augen auf. Sadagar wich entsetzt ein Stück zurück, als er sah, wie sie in ihren Höhlen rollten. »Mythor«, flüsterte er. »Bei Erain, beruhige dich doch! Wir sind bei dir, deine Freunde!« Doch der Sohn des Kometen schien ihn nicht zu hören. Seine Augen kamen zur Ruhe und blieben in unergründliche Fernen gerichtet. 140
»Mythor!« Sadagar war wieder bei ihm und nahm Farina das Tuch aus der Hand. »Holt mir etwas Wein.« »Nein!« Mythor bäumte sich auf. Wie ein Gehetzter sah er sich um, erblickte erst jetzt die Gefährten und ließ sich kraftlos zurücksinken auf das weiche Lager aus Decken. »Keinen… Wein«, flüsterte er. Seine Hand fand den Arm des Steinmanns. »Es ist alles… nicht wirklich! Trinkt nicht vom Wein! Er vergiftet euch! Es gibt… kein Paradies, keine Hütten, keine… Frauen hier…« »Krank«, kam es von Chrandor. »Sssein Geist issch krank!« Golad sah Sadagar unsicher an. Er beugte sich über Mythor und fragte: »Sag uns, wo du warst, Mythor! Was hast du gesehen?« »Die Insel…«, stammelte Mythor, »wie sie… wirklich ist!« Er holte tief Atem und richtete sich auf. Zwischen Sadagar und den beiden Liebenden blieb er sitzen und schüttelte den Kopf. »Ihr müßt alles vergessen, was ihr gesehen und gehört habt. Es ist nicht wirklich da.« Und er berichtete von seiner Spurensuche, von der Begegnung mit Rachamon und dem, was er unter dem magischen Schutz geschaut hatte. Sein Atem ging heftig, und immer wieder mußte er Pausen machen. Er hatte nicht die Kraft, sich gegen die Beeinflussung aufzulehnen. Er sah die Hütten, wußte aber, daß es sie nicht gab. Und solange er dieses Wissen besaß, hatte die dämonische Macht im Dunkel noch keine Gewalt über ihn gewonnen. Sadagar schüttelte den Kopf, und aus seinen Blicken sprachen Trauer und ernste Sorge um den Freund. »Mythor, Rachamon ist tot! Er ging über Bord, lange bevor wir strandeten. Kein Mensch kann durch den Strudel bis hierher schwimmen! Du willst nicht wahrhaben, daß du wie wir den Rest deines Lebens auf Sarmara verbringen mußt, und darum 141
erfindest du Dinge, die gar nicht vorhanden sind. Es steht schlimmer um dich, als ich dachte.« »Ihr solltet an eurem Verstand zweifeln. Ihr seht Trugbilder und schenkt ihnen Glauben!« rief Mythor aus. »Geht und fragt, wer die Mütter der Kinder sind, die hier geboren wurden. Und ich kann euch jetzt schon sagen, es sind immer die gleichen Frauen, nämlich die, die es wirklich gibt, ehemalige Sklavinnen oder blinde Passagiere wie Farina! Es gibt nur eine Handvoll Frauen hier!« »Mythor, du redest irr!« schimpfte der Steinmann. »Laß dir von mir sagen, daß Sileena weder eine Erscheinung noch eine Mutter ist. Ich muß es wissen, denn…« Sadagar sah sich finster um, als Chrandor meckernd lachte. »Ich weiß es eben, ich weiß es genau!« »Ihr wißt es«, murmelt Mythor resigniert. »Oh, ihr wißt es alles so gut! Narren seid ihr allesamt! Wollt ihr denn wirklich warten, bis es auch euch zu sich ruft?« »Dann zeig es uns! Zeig uns diesen Dämon! Führe uns hin!« Doch Mythor sah den Freund nur an und schüttelte den Kopf. Rachamon hatte es gewußt. Er wußte, daß er niemanden finden würde, der bereit war, seinen Worten Glauben zu schenken. Jeder wird gegen dich sein, der nicht die Wahrheit erkennt! Du wirst Feinde haben, wohin du dich auch wendest! Noch war es nicht soweit. Sadagar, Golad und Farina waren in aufrichtiger Sorge um ihn. Es fiel Mythor schwer, sich diese drei als unerbittliche Gegner vorzustellen, aufgehetzt von dem, das sich nicht nennen ließ. Er mußte den Kampf gegen diese Macht allein aufnehmen. Niemand würde ihn unterstützen, vielleicht abgesehen vom Magier. Mythor wußte, daß er seine Worte verschwendete und Gefahr lief, das Unheil selbst heraufzubeschwören. »Es ist schon gut«, sagte er. »Ich fühle mich besser. Es war 142
wohl nur ein Traum.« »Ein Traum mit Schrammen«, entgegnete Sadagar. »Willst du uns nicht sagen, wo du sie dir geholt hast? Du warst beim Wrack?« »Ja«, murmelte Mythor. Er stand auf, schwankte noch, aber die Kraft kehrte zurück. »Du hast dir eingeredet, Rachamon könnte vielleicht doch noch am Leben sein und dir einen Weg zurück durch den Strudel weisen. War es so?« »Ja, Sadagar.« Mythor brachte ein Lächeln zustande, obwohl ihm nach Schreien zumute war. Er gab dem Steinmann einen Klaps auf den Rücken und nickte Golad und Farina zu. Chrandor war mit Aß und Baß beschäftigt und blickte nicht einmal auf. Ihm schien dies alles zu dumm zu sein. »Ja«, sagte Mythor. »So wird es gewesen sein. Es war töricht von mir. Nun laßt uns gehen und mit den anderen feiern.« »Endlich wirst du vernünftig! So gefällst du mir schon wieder besser, Mythor!« lobte Sadagar. »Komm, ich weiß, was dir guttun wird. Ich bringe dich zu Sileena. Worauf verzichtet ein Mann nicht, wenn er einem Freund dadurch helfen kann!« Mythor wollte auffahren, doch er beherrschte sich eisern. Und plötzlich war der Drang in ihm, die Macht der Täuschung auf die Probe zu stellen. Von nun an mußte er das unselige Spiel mitspielen. Es gab nur diesen einen Weg, wollte er nicht schon jetzt ein gejagtes Wild sein.
Mythor trank mit den Männern, ließ sich von Sadagar zu Sileena führen, einem Mädchen mit großen schwarzen Augen und fast schwarzblauer Haut, und tat, als ob es nichts Schöneres auf der Welt gebe, als hier zu sitzen und das Leben in vollen Zügen zu genießen. Doch nach jedem Zug lauschte er 143
in sich hinein, nach jedem leidenschaftlichen Kuß stellte er sich selbst auf die Probe. Nur kurz setzte er all seine Willenskraft gegen den Einfluß der dämonischen Macht, und dann sah er, wie sich Risse in dem unwirklichen Bild zeigten, wie die Hütten zu verschwimmen begannen und die Bäume ihr Laub verloren. Nur Sileena blieb. Mythor schätzte, daß der Gegner all seine Macht darauf verwandte, die Frauen und Mädchen wirklich erscheinen zu lassen. Dagegen kam auch er nicht mehr an, nachdem der magische Schutz abgeklungen war. Er wünschte sich den Helm der Gerechten. Dann vielleicht hätte er sagen können, ob er Luft in seinen Armen hielt oder eines der ungewaschenen Weiber, die einstmals wirkliche Schönheiten gewesen sein mochten, für südländische Fürsten oder den Shallad selbst bestimmt. Der Mond wanderte weiter, und im Süden zogen glühende Himmelslichter ihre Bahnen, heller leuchtend als der unheimliche Streifen, der davon kündete, daß die Schattenzone um so näher kam, je weiter Mythors Weg nach Süden führte. Aber die Lichter erinnerten den Sohn des Kometen an die Schlacht von Dhuannin, an die Caer, an die Himmelssteine, vor denen er sich so hüten mußte. Allein der Gedanke an die Schlacht auf dem Hochmoor ließ die Trugbilder für Augenblicke verblassen. Mythor wurde müde. Aber durfte er sich in dieser Nacht zum Schlaf hinlegen? Lief er nicht Gefahr, dann dem, was ihn als gefährlichen Gegner erkannt haben mochte, hilflos ausgeliefert zu sein? Würde er noch um diesen Feind wissen, wenn er erwachte? Andererseits mußte er ausgeruht sein, wenn er zum Handeln gezwungen wurde. Inzwischen hatte er sich einen Plan zurechtgelegt. In dieser Nacht, so glaubte er, würde er nicht mehr dazu kommen, ihm nachzugehen, doch in der folgenden 144
mußte er Augen und Ohren offenhalten. Es gab nur eine Möglichkeit, den Feind aufzuspüren. Einer derjenigen, die den Ruf vernahmen, mußte ihn zu ihm führen. So zog er sich schließlich zurück und suchte sich ein freies Lager in einer der Hütten, doch die Möglichkeit, auf die er wartete, kam früher als geglaubt. Er war eingeschlafen, von bösen Träumen verfolgt. Irgendwann spürte er, wie jemand leicht an seiner Schulter rüttelte und leise seinen Namen aussprach. Es war noch dunkel draußen, doch wer ihn da aus dem Schlaf gerissen hatte, den erkannte er sofort. Und er wünschte sich, es wäre ein anderer gewesen. Nicht Golad! Nicht Farina! Warum hatte sich der Unbekannte keine anderen Opfer aussuchen können? Warum ausgerechnet sie? War es zunächst nur eine Ahnung gewesen, so bestätigten Golads Worte Mythors schlimme Befürchtungen. »Wir wollten nicht gehen, ohne dir Lebewohl zu sagen, Mythor. Es verstößt zwar gegen das Gebot, aber wir haben dir viel zu verdanken und einen wahren Freund in dir gefunden. Wir…« »Gebot?« fragte Mythor flüsternd. Er sah sich schnell um. Ein Mann wälzte sich auf seinem Lager und redete im Rausch. Doch niemand erwachte. »Von welchem Gebot redest du?« Golad schien ihn nicht zu verstehen. »Wer den Ruf vernimmt, hat ihm zu folgen, ohne zu zögern und ohne mit anderen darüber zu sprechen. Du weißt es doch, Mythor.« »Ja«, log der Sohn des Kometen. »Natürlich.« Farina hatte ihren Arm um Golads Hüfte geschlungen. Ihre Augen waren groß, ihr Blick verklärt und voller stiller Sehnsucht. »Wir gehen auf die Traumreise, die uns für immer vereinen wird«, flüsterte der Hüne aus dem Süden. »Aber es ist kein Abschied für immer, Mythor. Auch du wirst bald den Ruf 145
vernehmen und uns folgen.« Golads Augen glänzten. Es war, als befinde sich sein Geist bereits in einer anderen Welt. Mythor mußte an sich halten, um ihn nicht mit Gewalt in die Wirklichkeit zurückzuholen. Er bezweifelte, daß ihm das überhaupt gelingen würde. Aber warum rief die unheimliche Macht ausgerechnet diese beiden zu sich, die erst so kurze Zeit im Lande Sarmara verweilten? Wollte sie ihm seine engsten Freunde rauben, um danach um so leichteres Spiel mit ihm zu haben? Nein, dachte er. Selbst Golad würde nicht zögern, seine Hand gegen ihn zu erheben, sollte er den Befehl dazu bekommen. Niemand würde zögern, ihn zu töten, selbst Sadagar nicht. Oder holte sein Feind die Freunde, weil er wußte, daß er ihnen folgen würde? Kannte er seine geheimsten Gedanken? Waren Golad und Farina die Köder, die ihn in die tödliche Falle locken sollten? Es kann mir nur recht sein! dachte Mythor grimmig. Und er verbarg das Beben seines Körpers. Er würde nicht versuchen, die Liebenden zurückzuhalten. Er würde ihnen folgen und um sie kämpfen, was immer sie auch zu sich holte. »Dann geht«, flüsterte er, um seine Fassung ringend. »Doch sage mir noch eines, Golad: Was erwartet euch?« Die Frage konnte ihn nicht verraten. Keiner, der den Ruf noch nicht vernommen hatte, wußte, wie die angebliche Erfüllung aussehen würde, die ihm vorgegaukelt wurde. Wie aber verhielt es sich mit jenen, die bei Nacht und Nebel heimlich aus dem Dorf verschwanden? »Glück«, flüsterte Golad. »Unbeschreibliches Glück, Mythor.« Mythor hatte den Eindruck, daß der Recke noch etwas hinzufügen wollte, doch plötzlich spannten sich sein und Farinas Körper. Ihre Blicke wurden starr. Sie erhoben sich und 146
gingen Hand in Hand davon, mit Bewegungen, die Mythor schaudern machten. Sie beherrschten ihre Körper nicht mehr selbst. Mythor blieb liegen und sah ihnen nach, bis sie aus dem Schein der allmählich herabbrennenden Feuer verschwunden waren. Dann sprang er auf, überzeugte sich davon, daß niemand Zeuge seines Aufbruchs wurde, und schlich ihnen nach. Er ließ die Hütten hinter sich und sah die beiden als dunkle Schatten zwischen den Bäumen gehen. Weder Golad noch Farina blickten sich um. Es verwunderte ihn nicht, daß die beiden nach Süden gingen. Er war sogar überzeugt davon, daß sie zwischen den beiden gleichen Bäumen hindurchgehen würden, bei denen er Nilomburs Lendenschurz gefunden hatte. Er kannte ihren Weg bis dorthin und konnte es sich leisten, einige Male stehenzubleiben und in sich zu gehen. Manchmal hatte er das Gefühl, irgend etwas stelle sich ihm entgegen, wolle verhindern, daß er weitermarschierte. Es fiel ihm immer schwerer, die Trugbilder zu durchschauen. Doch was er dann sah, gab ihm neue Kraft und ließ seinen Grimm und seine Entschlossenheit wachsen. Golad und Farina wandelten durch ein finsteres Tal des Todes, finsterer noch, als Mythor es beim erstenmal geschaut hatte. Die knorrigen Äste der verkrüppelten Bäume senkten sich auf sie herab, als wollten sie sie vorwärts peitschen. Hinter ihnen wuchsen Dornenranken zusammen, wie um ihnen den Weg zurück ein für allemal abzuschneiden. Mythor mußte um sie herumgehen und sah wieder nichts als nachtblühende Büsche mit wunderschönen Blütenkelchen, aus denen ein Duft stieg, der ihm die Sinne rauben wollte. Er biß die Zähne zusammen, daß seine Kiefer schmerzten. Schmerz allein konnte den unheilvollen Einfluß bannen, 147
Schmerz und das Heraufbeschwören finsterer Erinnerungen, die Mythors Seele schreien ließen. Er mußte sich vorankämpfen, und mit jedem Schritt wurde es schwerer. Vielleicht lag darin die Absicht des Gegners, daß er sich jetzt vollkommen verausgabte, um dann, wenn es zur entscheidenden Begegnung kam, hilflos zu sein, ein weiteres Lamm auf der Schlachtbank. Und sie waren Lämmer! Alle, die es hierher verschlagen hatte! Was Mythor bisher weit von sich geschoben hatte, wurde zur furchtbaren Gewißheit. Nur die Kräftigsten rief die dämonische Macht zu sich, Hünen wie Golad und Nilombur und O’Lywynh. Sie wollte nicht nur ihre Lebenskraft, sie wollte mehr! Die Menschen wurden wie eine Herde Vieh gehalten, gemästet und in Sicherheit gewiegt. All das konnte nur eines bedeuten. Aber es zeigte Mythor auch, daß er es mit einem Gegner aus Fleisch und Blut zu tun hatte. Seine Hände waren geballt, daß seine Fingernägel sich schmerzhaft ins Fleisch der Handfläche bohrten. Aber er brauchte den Schmerz! Sie kamen zur Lichtung. Immer noch war es Nacht. Die beiden bekannten Bäume… Golad und Farina erreichten sie und blieben stehen. Mythor verbarg sich hinter einem Strauch, dessen Zweige sich ihm drohend entgegenreckten, und sah, wie die beiden Liebenden sich ihrer Lendenschurze entledigten. Sie ließen sie einfach fallen und setzten ihren Weg fort. Mythor nahm die gewickelten Tücher an sich und schob sie halb in den Fellrock. Warum mußten sich jene, die auf die Traumreise gingen, an dieser Stelle ausziehen? Erhielten sie hier neue Weisungen? Mythor lauschte vergeblich in sich hinein. Da war nichts, nichts außer dem Druck in seinem Schädel, der ihn immer stärker zur Umkehr zwingen wollte. Er schritt schneller aus, 148
um den Vorsprung der beiden Todgeweihten wieder aufzuholen. Er hatte das bestimmte Gefühl, sie jetzt nicht mehr aus den Augen verlieren zu dürfen, ihnen noch näher sein zu müssen. Wo lauerte der Gegner? Wann schlug er zu? Wie durch eine zähe Masse bewegte er sich. Jeder Schritt wurde zur Qual. Er glaubte, die Muskeln in seinen Beinen müßten zerreißen, doch er wußte, daß dem nicht so war, daß dies alles nur in seinem Kopf entstand. Das hämmerte er sich ein, unaufhörlich, bis er fast wahnsinnig wurde. Die Nacht war warm, doch eiskalt lief es ihm den Rücken hinunter. Tausend Eisnadeln schienen sich in sein Fleisch zu bohren, in seine Knochen, in sein Herz. Weiter, immer weiter! Ein kurzes Zögern, ein kurzes Atemholen konnte den sicheren Tod für Golad, Farina und ihn selbst bedeuten. Dann endlich erreichten sie die Klippen. Unter ihnen lag zu Mythors Erstaunen die Bucht, in der die Gasihara gestrandet war. Weiter südlich befand sich Rachamons Versteck. Wußte der Magier, was in diesen Augenblicken hier vor sich ging? War von ihm Hilfe zu erwarten? Eine Ewigkeit schien zu vergehen, als Golad und Farina wie erstarrt auf den Klippen standen und sich ansahen. Mythor lag flach auf dem Bauch, schob sich bis auf wenige Schritte an sie heran und scheuchte die Leuchtkäfer fort, von denen er wußte, was sie in Wirklichkeit waren. Kurz gab er jeglichen Widerstand auf und ließ die Trugbilder voll auf sich wirken, um zu wissen, was Golad und Farina jetzt sahen und empfanden. Ein Schwall von nie gekannten Glücksgefühlen strömte auf ihn ein, eine ungeheuer starke Sehnsucht, aufzustehen und die Klippen hinabzugehen. Mythor schrie auf, wand sich am Boden und kämpfte gegen das an, was ihn schon sicher in seinem Griff zu haben glaubte. Es hielt ihn umklammert, zog ihn zu sich, erstickte seinen Willen. Wie 149
schlaftrunken taumelte der Sohn des Kometen auf den Rand der Klippen zu, und er breitete die Arme aus, hatte nur noch den einen Wunsch, hinabzugelangen dorthin, wo die Erfüllung seines Lebens auf ihn wartete, die Erfüllung all seiner geheimen Wünsche. Unter ihm tobte die Gischt, aber es waren Finger aus reinem Licht für ihn, Arme, die sich ihm entgegenstreckten, um ihn sanft aufzunehmen. Noch ein, zwei Schritte!
Golad und Farina hörten nicht den gellenden Aufschrei. Sie wußten, daß sie nun zu gehen hatten, den einzig gangbaren Weg zwischen den hier teilweise weit überhängenden Felsen hindurch nach unten, zur Glückseligkeit… Golad ging vor. Mit schlafwandlerischer Sicherheit setzte er einen Fuß vor den anderen, fand er die Vorsprünge, die wie die Stufen einer uralten Treppe in den Fels gewaschen waren. Das Rauschen der Wasser tief unter ihm hörte er nicht. Goldene Stufen führten hinab, immer weiter ohne Ende. Farina war hinter ihm. Nur sie bedeutete noch etwas. Sie und er im Angesicht des neuen Lebens, der Erfüllung aller brennenden Sehnsüchte… Wie die Türme einer gewaltigen Festung ragten die Klippen zu beiden Seiten auf, und auch sie strahlten in reinem Gold. Silberne Nebelschleier stiegen aus der Tiefe auf, um ihn und Farina zu geleiten. Golad zählte nicht die Stufen und blickte nicht zurück. Die Treppe verbreiterte sich, und mächtige Geländer aus weißem Marmor wuchsen aus den Mauern der Festung. Nein, keine Festung war es, kein Bollwerk. Ein Schloß, schöner als jedes von Menschenhand erbaute. Nichts vermochte den Frieden zu stören, in den Golad hineinglitt, kein Laut, kein Schmerz, keine Erinnerung. 150
Die silbernen Schleier umfingen ihn, umfingen Farina. Wohlige Wärme breitete sich in Golads Körper aus, und sie war das einzige, was er noch zu fühlen vermochte. Dann teilten sich die Silberschleier und machten goldenen Fäden Platz, die von der gewölbten Decke eines gewaltigen Domes auf ihn herabregneten. Seine Seele jauchzte vor Freude und Glück. Überall um Golad herum war ein Glitzern und Gleißen wie von Abertausenden von Edelsteinen. Und dies war nur ein Vorgeschmack. Die Traumreise hatte eben erst begonnen. Die wispernde Stimme in Golad lockte ihn weiter hinein in den sich endlos erstreckenden Dom. Farina, war nun neben ihm, ihre großen Augen spiegelten den überweltlichen Lichterglanz wider. Schritt für Schritt näherten sie sich einem mächtigen Portal, bis sie wußten, daß sie erneut zu warten hatten. Sie blieben stehen und nahmen die prachtvollen Schnitzereien und Beschläge des Portals in sich auf. Die Goldfäden legten sich auf ihre Schultern, ihre Arme und wurden zu funkelnden Juwelen. Die Erwartung wurde unerträglich. Wann öffnete sich das Tor für sie, hinter dem alle Sorgen, alles Leid für alle Zeiten vergessen waren? Dann, endlich: Die beiden Flügel des Portals wurden von innen heraus aufgestoßen. Prachtvoll gekleidete Wesen von himmlischer Schönheit kamen in langen Prozessionen auf die beiden Wartenden zu, langsam und voller Anmut. Sie hatten keine Eile. Die Zeit hatte alle Bedeutung verloren.
Ein aus dem Fels ragender Stein, eine Wurzel vielleicht Mythors Fuß stieß dagegen, der Sohn des Kometen verlor das Gleichgewicht, schrie vor Schmerzen und ruderte wild mit den Armen, doch der Sturz war nicht mehr aufzuhalten. Hart schlug er auf kahlen Stein, kaum eine Handbreit vom 151
gähnenden Abgrund entfernt. Der rasende Schmerz wühlte ihn auf und riß ihn aus dem Bann, der seinen Geist mit eisernen Klauen würgte. Entsetzt blickte er in die Tiefe, und für ein, zwei Augenblicke wußte er nicht, wo er hier war, was er hier suchte und tat. Dann traf ihn die Erkenntnis, und mit einem gellenden Schrei sprang er auf. Der stechende Schmerz in den Beinen drohte ihm die Besinnung zu rauben. Die Knie bluteten, aber nichts schien gebrochen zu sein. Golad! Farina! Sie waren verschwunden! Er hatte sie gehen lassen! Ein einziger Augenblick der Unachtsamkeit hatte ausgereicht, um vielleicht ihr Schicksal für immer zu besiegeln! Rasend vor Zorn auf sich selbst und seinen unglaublichen Leichtsinn, sah Mythor die Insel wieder so, wie sie wirklich war. Kein Trugbild war mächtig genug, um in diesen Momenten von ihm Besitz zu ergreifen. Er humpelte, als er die ersten Schritte machte, doch der Zorn war mächtiger als der Schmerz. Er erreichte die Stelle, an der er die Geblendeten zuletzt gesehen hatte, und fand den Pfad zwischen den Klippen. Weit und breit war nichts zu sehen von Golad und Farina. Lauerte das Verderben im Meer? Hatte es sie dorthin zu sich geholt? Mythor legte die Hände an den Mund und rief nach ihnen. Weit hallten seine Schreie über die Bucht und vermischten sich mit dem Rauschen und Mahlen der anrollenden Wellen, die wie von einem plötzlichen Sturm gepeitscht gegen die Klippen schlugen. Niemand antwortete ihm. Jetzt, während er noch hier stand, geschah etwas Entsetzliches! Er spürte es in jeder Faser seines Herzens. Ohne länger zu zögern, stürmte der Sohn des Kometen die Felsvorsprünge hinab, übersprang einige kleinere und balancierte mit den Armen um sein Gleichgewicht. Er rutschte aus, fing sich und lief weiter. Die Stufen führten zwischen den Klippen hindurch, 152
die geradewegs in den Himmel zu stoßen schienen. Einmal nur blieb Mythor stehen, um Atem zu holen. Er sah in die Höhe, und da waren keine leuchtenden Sterne mehr über ihm, kein Mond und kein nebliges Band. Dunkle Wolken verfinsterten das Firmament, und sie senkten sich langsam auf ihn herab. Sie kamen plötzlich aus allen Richtungen, wie magisch beschworen. Mythor hastete weiter, ohne Rücksicht auf sein eigenes Leben. Seine Füße fanden immer wieder Halt. Tiefer gelangte er, durchstieß die Wolken und sah zeitweise kaum fünf Fuß weit. Die Nebel wurden noch dichter und dunkler. Panische Angst schlich sich in Mythors Herz, denn aus den Wolken schienen sich dämonische Fratzen zu schieben. Doch nicht sie waren es, die er so fürchtete. Er dachte an seinen Schatten, an den Deddeth, und als er das Ende des Pfades erreichte, war er nahe daran zu glauben, der Schatten selbst müsse sich hinter der dämonischen Macht verbergen, von der Rachamon gesprochen hatte. Es gehörte die Willenskraft eines Mannes dazu, der mehr als einmal den Ausgeburten der Finsternis gegenübergestanden hatte, um diese Schreckensbilder zu bannen. Mythor sah sich nach allen Seiten hin um. Er stand auf einer Felsplattform, nur wenige Mannslängen über dem Meer. Auch hier fand er keine Spuren der Verschwundenen. Doch wenige Schritte vor ihm gähnte die Öffnung einer gewaltigen Grotte. »Golad!« schrie er. »Farina! Bei Quyl und Erain, so antwortet!« Nicht sie antworteten ihm, doch nun schlug das Unbekannte mit aller Macht zu. Mythor war vorbereitet. Wie ein wütender Stier, der sein Ziel erfaßt hatte, arbeitete er sich auf den Eingang der Grotte zu und kämpfte gegen den Drang an, umzukehren und sich in die Fluten zu stürzen. Als hätte sein Gegner erkannt, daß er nicht noch einmal zu überrumpeln 153
war, wich der Druck so schnell, wie er gekommen war. Und als Mythor sich noch fragte, ob er es nicht als Anzeichen einer Verwirrung seines Gegners zu werten hatte, daß dieser ihm nicht einfach auch den Ruf schickte, sah er, daß dies gar nicht mehr nötig war. Er brauchte nicht mehr auf die Traumreise zu gehen, um in die Fänge des Ungeheuers zu geraten. Er stand in der riesigen Grotte. Wasser drang aus den feuchten Wänden und rann in kleinen Rinnsalen über den Fels. Von der gewölbten Decke tropfte es herab. Unheimliche schleifende Geräusche kamen von dort, wo sich die dunklen Schleier zusammenballten. Mythor hob einen schweren Stein auf und drang in sie ein. Er rief nach den Verschwundenen, wieder ohne Antwort zu erhalten. Doch plötzlich spürte er eine Gier in sich, so fremdartig, daß er für die Dauer eines Atemzugs wieder wie gelähmt war. Und es war nicht seine Gier, sie kam von dort, wo die dunklen Schleier am dichtesten waren, und sie richtete sich auf ein ganz bestimmtes Ziel. »Nein!« schrie Mythor. Er rannte los und sah zuerst Golad, dann Farina. Kaltes Entsetzen griff nach ihm. Sie standen so da, wie er sie auf den Klippen gesehen hatte, wie zu Stein erstarrt, ohne eigenen Willen. Doch etwas anderes bewegte sich. Wie riesige Schlangen schälten sich gräßliche Fangarme mit unzähligen Saugnäpfen daran aus den Wolken, erhoben sich in die Luft, zuckten und näherten sich den Liebenden wie die Beine einer Spinne der hilflos in ihrem Netz klebenden Fliege. »Nein!« Mythors Schrei hallte schaurig von den feuchten Wänden wider. Der Sohn des Kometen vergaß alle Vorsicht. Er hatte keine Waffe außer einem lächerlichen Stück Fels. Aber er konnte nicht mehr klar denken. Unbändiger Zorn peitschte ihn vorwärts, auf Golad und Farina zu, auf die furchtbaren 154
Fangarme und die Ausgeburt der Finsternis, zu der sie gehörten. Er erreichte Farina fast gleichzeitig mit einem der Fangarme und riß sie zu Boden. Der Arm peitschte über sie hinweg und fuhr ins Leere. Mythor sprang auf die Beine. Farina begann zu schreien und wild um sich zu schlagen. Er gab ihr einen so heftigen Stoß, daß sie mehrere Schritte zurücktaumelte und dort zu Boden sank. Und auch Golad schien endlich aus seiner Starre erwacht zu sein. Er schrie, wich dem vorschnellenden Fangarm aus und sah sich gehetzt um. Er verstand nicht, was um ihn herum vorging. Seine Augen schimmerten irr. Mythor packte die Hand des Hünen und zerrte ihn fort, heraus aus der Reichweite der Fangarme, die wütend auf und ab peitschten, Fels zerschmetterten und die schwarzen Nebel aufrissen. Mythor stieß Golad von sich fort, auf die am Boden liegende Farina zu, und sah für die Dauer eines Herzschlags in ein riesiges blutrotes Auge. Ein Krake! durchfuhr es den Sohn des Kometen. Die dämonische Macht, die Rachamon erkannt hatte, war ein riesiger Krake! »Da!« schrie er und schleuderte den Stein nach dem Auge. Im nächsten Moment war die Grotte erfüllt von schrillem, ohrenbetäubendem Kreischen. Die Fangarme schnellten vor, ohne Mythor zu erreichen, der mit Gewalt an sich halten mußte, um sich nicht in sie hineinzustürzen, auf das blutrote Auge zu. Doch er war waffenlos. Die Hand, die gewohnt war, das Gläserne Schwert Alton zu führen, zitterte. Farinas Schluchzen brachte ihn zu sich. Es gab nur noch die schnelle Flucht, bevor sich der Krake aus seinem Sitz hervorschieben konnte. Mythor lief einige Schritte zurück, erreichte Golad und Farina und nahm die Hand des Mädchens. Golad schien endlich bei Sinnen zu sein. 155
»Raus hier!« rief Mythor. »Hörst du mich?« Schnell nickte der Hüne, hob Farina auf seine Arme und lief mit ihr aus der Grotte, so schnell ihn seine Füße auf dem feuchten, glitschigen Fels trugen. Ein letztes Mal sah Mythor sich um, doch da waren nur noch die schwarzen Wolken, die sich zusammenzogen zu einer Ballung undurchdringlicher, absoluter Finsternis. Ein kalter Schauer nach dem anderen jagte Mythors Rückgrat entlang, als er den beiden Geretteten nachsetzte und sie auf der Felsplattform erreichte. Golad hatte Farina abgesetzt und sah ihn nun unsicher an. Das Mädchen hatte die Hände vors Gesicht geschlagen und schüttelte sich in Weinkrämpfen. Doch sie stand einigermaßen sicher auf ihren Beinen. »Dort hinauf!« Mythor deutete auf den Pfad zwischen den Klippen. »Schnell, bevor…« Er brauchte nicht auszusprechen. Golad stützte Farina und ließ Mythor an sich vorbei. Als erster betrat der Sohn des Kometen den Pfad und wartete, bis die beiden heran waren. Dann und wann reichte er Golad eine Hand und sprach ihm Mut zu. Die Nebelschleier wichen zur Seite, und über die Klippen fielen die ersten Strahlen der Morgensonne aufs Strudelmeer. Jeder Schritt bedeutete eine neue Herausforderung, neue Qual. Der Krake begann von neuem, seine Trugbilder auszusenden und zu locken. Doch das jähe Erwachen hatten nun auch Golad und seine Gefährtin einen Teil der Wahrheit erkennen lassen. Sie bissen die Zähne zusammen, und tapfer folgte Farina dem Hünen einen Vorsprung nach dem anderen hinauf, bis Mythors Hände endlich den Rand der Klippe ertasteten. Er schob seinen Körper darüber und reichte Golad die Hand. Zu spät dachte er daran, ihn und das Mädchen vor dem zu warnen, was sie nun sehen mußten. Golads Augen weiteten 156
sich vor Entsetzen, als er den Kopf über den Rand des Abgrunds schob. Der Anblick der Insel, so, wie sie wirklich war, war zuviel für ihn. Blitzschnell packte Mythor seine Arme und zog ihn zu sich hoch, dann Farina, die nur einmal heiser aufschrie, bevor sie neben dem Gefährten zusammenbrach.
»Ich… kann es nicht fassen!« Golad saß auf den Klippen und schüttelte den Kopf. »Und doch ist es so. Ihr wißt es nun, und ich weiß es. Doch die Menschen im Dorf werden sich weiterhin danach sehnen, auf die Traumreise gehen zu dürfen. Einer nach dem anderen wird dem Lockruf des Kraken folgen und in sein Verderben gehen. Es ist so, wie ich vermutete. Die hier Gestrandeten werden gemästet wie Vieh. Die Kinder, die die wenigen wirklichen Frauen gebären, sind schon zum Sterben verurteilt, sobald sie das Licht der Welt erblicken.« Farina saß zusammengekauert neben dem Gefährten. Sie hatten sich beide einigermaßen gefangen. Sie konnten um sich blicken, ohne zusammenzuschrecken. Wie Mythor brauchten sie nun nicht mehr gegen die trügerischen Träume anzukämpfen, die das Krakenungeheuer ausschickte. Der erlittene Schock war zu groß gewesen. Sie waren gefeit, obwohl sie spürten, wie vehement der Krake angriff. »Wie kann ein Wesen aus Fleisch und Blut solche Macht über Hunderte von Menschen und die ganze Natur dieser Insel gewinnen?« fragte Golad. Mythor hob die Schultern und betastete die blauen Flecken auf seinem Schienbein. Das Blut war verkrustet. »Äußerlich mag es ein Wesen aus Fleisch und Blut sein, Golad«, sagte er. »Doch in ihm ist die Macht der Finsternis.« Golad atmete tief ein und blickte Mythor forschend an. »Und 157
was tun wir jetzt? Kann Rachamon uns helfen?« »Er hat genug mit sich selbst zu tun«, murmelte der Sohn des Kometen. »Vielleicht finden wir im Wrack der Gasihara Waffen, mit denen wir dem Kraken zu Leibe rücken können. In der Zwischenzeit aber sind unsere Freunde im Dorf in größter Gefahr. Ich könnte mir denken, daß das Ungeheuer nun nicht mehr auf die Nacht wartet, um sich neue Nahrung zu holen.« »Niemand hörte auf dich«, erinnerte Farina ihn. »Es macht keinen Unterschied, ob einer oder drei ihnen die Wahrheit sagen.« »Das weiß ich. Aber ich will wenigstens versuchen, Sadagar und einige andere zur Vernunft zu bringen, falls nötig, mit Gewalt. Allein richten wir auch mit den besten Waffen nichts gegen den Kraken aus.« »Wir kehren also zurück?« »Wir versuchen, einige kräftige Männer außerhalb des Dorfes zu überwältigen.« Mythors Stimme verriet nicht allzuviel Hoffnung. »Es gibt nur diesen Weg. Wir müssen sie betäuben und zu Rachamon bringen, in die Höhle. Er wird sie mit dem gleichen magischen Schutz versehen müssen wie mich. Wenn wir genug Männer beisammenhaben, die die Trugbilder durchschauen, klettern wir zur Gasihara hinab.« Golad war anzusehen, daß ihm dieses Vorgehen ganz und gar nicht behagte. Doch schließlich nickte er finster. Farina schmiegte sich schutzsuchend an ihn und blickte Mythor aus ihren großen dunklen Augen an. Wie auch Golad trug sie wieder ihren Lendenschurz. »So sei es denn«, knurrte der Hüne. »Komm, laß uns von diesem verfluchten Ort verschwinden.« »Die ganze Insel ist verflucht«, flüsterte Farina. »Haben wir denn überhaupt eine Chance, etwas gegen den Dämon auszurichten?« 158
Mythor gab keine Antwort. Finstere Ahnungen plagten ihn, als sie aufbrachen, und die scheuen Blicke, die Golad und Farina um sich warfen, zeigten ihm, daß die beiden den Schock der Erkenntnis noch längst nicht überwunden hatten. Doch sie hielten sich tapfer, und jeder von ihnen versuchte, dem anderen durch entschlossenes Auftreten Mut zu machen. Die drei Menschen bahnten sich ihren Weg durch die Landschaft, die selbst das Licht der Sonne zu fliehen schien. Grauer Dunst lag über dem kahlen Boden. Überall huschte kleines Getier umher. Irgend etwas sagte Mythor, daß sie sich beeilen mußten, daß im Norden der Insel etwas Unheilvolles geschah. Er beschleunigte seine Schritte und trieb Golad und Farina an. Die innere Unruhe, die ihn erfaßt hatte, wuchs und wuchs. Das Dorf war fast erreicht, als Golad stehenblieb. »Wir sollten nicht weitergehen«, flüsterte er, als hätten die Bäume Ohren. »Ich weiß nicht, warum, aber…« »Wir sollten doch jetzt schon ihre Stimmen hören«, flüsterte Farina. »Ihr Lachen und…« Es war totenstill geworden. Kein Wind strich mehr durch die Büsche und Zweige. Kein Laut drang von den Feuern herüber. »Sie sind fort«, sagte Golad leise. »Alle fort.« Mythor hörte etwas rascheln. Sein Kopf fuhr herum, und kurz sah er etwas hinter einem der Dornenbüsche aufblitzen. »Sie sind nicht fort«, preßte er hervor. »Sie haben auf uns gewartet. Sie sind hier, überall.« Und als hätte er das Zeichen dazu gegeben, wuchsen plötzlich überall um sie herum Leiber aus dem Dunst, schoben sich Männer heran, deren Blicke keinen Zweifel an ihren Absichten ließen. Dort, wo es kurz aufgeblitzt hatte, trat Steinmann Sadagar aus den Büschen heraus, eines seiner Messer in der Faust. »Die 159
Flucht ist zu Ende, Mythor«, sagte der Steinmann. Mythors Gedanken waren in Aufruhr. Zwar ahnte er sofort, was dieser Aufmarsch zu bedeuten hatte, doch wie viele Männer verbargen sich noch in den Büschen? Gab es eine schwache Stelle in dem Kreis, der sich immer enger um sie zog? Es mochten drei, vier Dutzend sein, die sich mit abgebrochenen Ästen und Steinen bewaffnet hatten. Wo waren die anderen? »Ruhig«, flüsterte Mythor und legte Golad eine Hand auf den Arm, als er aus dem Augenwinkel heraus sah, wie es im Gesicht des jungen Hünen zuckte. Farina sank auf den Boden und weinte hemmungslos. »Warte ab!« Nur widerwillig gehorchte Golad. Mythor machte einen Schritt auf Sadagar zu. »Bleib, wo du bist, Mythor!« warnte der Steinmann und hob die Hand mit dem Messer. »Bei Quyl! Willst du uns nicht sagen, was in euch gefahren ist? Von welcher Flucht redest du denn? Wir waren auf dem Weg zu euch, um…« »Um uns zu versklaven, wie ihr versklavt worden seid! Oh, wir wissen Bescheid, Mythor, und glaube mir, was wir tun, ist nur zu eurem Besten.« »Aber das ist Unsinn! Wir sind nicht versklavt!« »So?« Sadagar lachte bitter. »Und was hindert euch dann daran, auf die Traumreise zu gehen? Wir wissen, daß der Ruf an euch erging. Ich hätte erkennen müssen, wie es um dich steht, als du in der Hütte lagst und freveltest! Du bist besessen, Mythor! Und die dunkle Macht, die sich in deine Seele geschlichen hat, hat bereits zwei neue Opfer gefunden. Sie will euch die Erfüllung verwehren, die am Ende der Traumreise auf euch wartet, und sie treibt euch voran, um auch uns zu blenden!« 160
Mythor schüttelte verzweifelt den Kopf und ballte die Hände. Rachamons Worte waren wieder in seinem Ohr: Jeder wird gegen dich sein! Er hätte wissen müssen, daß der Krake zu solch einem Mittel greifen würde, nachdem er sie selbst nicht mehr in seine Gewalt bringen konnte. Sie bedeuteten eine Gefahr für ihn und mußten außer Gefecht gesetzt werden. Dazu hatte das Ungeheuer die Schiffbrüchigen auf den Plan gerufen, die ihm noch hörig waren. In Sadagars Augen lag keine Wärme mehr. Nichts an den Männern erinnerte noch an die friedlich in den Tag hineinlebenden Inselbewohner. Mythor sah sich um und begegnete den kalten Blicken derer, mit denen er zusammen die Ruderbank geteilt hatte. Yellen, der Weißhaarige aus Tainnia – mit ihm hatte er gegen die Mannschaft gekämpft, die Farina über Bord werfen wollte. Nun hielt der Alte einen Knüppel schlagbereit in der Hand. »Spar dir deine Worte, Mythor!« sagte der Steinmann kühl. »Um unserer Freundschaft willen muß ich dich vom Bösen befreien. Du wirst auf die Traumreise gehen.« »Nein!« schrie Farina schrill. »Nicht wieder dorthin!« Golads Fäuste bebten. Mythor erkannte, daß er ihn nicht länger zurückhalten konnte. Sie mußten fliehen, solange sie es noch konnten. Oder sollten sie zum Schein auf die Forderung der Männer eingehen, bis sich eine bessere Möglichkeit ergab? Sadagars Worte ernüchterten ihn. »Wir alle werden euch begleiten, Mythor. Versucht nicht zu fliehen. Wir müßten euch töten.« Er würde es tatsächlich tun! Er würde ihm das Messer in den Leib stoßen, ohne mit der Wimper zu zucken! »Dann… geht ihr mit uns auf die Traumreise… bis zum Ende?« fragte Mythor schnell und warf Golad einen strengen Blick zu. Falls Sadagar und wenigstens einige der anderen dazu zu bewegen waren, mit ihnen in die Grotte 161
hinabzusteigen… »Das dürfen wir nicht«, nahm der Steinmann ihm auch diese letzte Hoffnung. »Wir werden euch von den Klippen in die Bucht stoßen. Doch fürchtet den Tod nicht. Die Götter, die uns dieses Eiland schenkten, werden euch beschützen und sicher auf die Reise geleiten.« Das war nicht Sadagar, der da sprach. Noch nie hatte Mythor den Freund so hochtrabend reden hören. Der Krake sprach aus ihm. Doch es war der Steinmann, gegen den er auf Leben und Tod würde kämpfen müssen, wenn es zum Äußersten kam. Wieder suchte Mythor nach einer schwachen Stelle in den Reihen der Männer. Golad atmete heftig. Seine Lippen bebten. Wenn er jetzt die Beherrschung verlor… Die Blicke der beiden Männer trafen sich. Mythor suchte verzweifelt nach einer Möglichkeit, Golad ein Zeichen zu geben, ohne daß die anderen etwas davon bemerkten. Schließlich setzte er alles auf eine Karte. »Farina ist zu schwach«, sagte er zu Sadagar, wobei er langsam einen Schritt auf sie zumachte. »Ihr seid in der Übermacht, was bleibt uns also übrig, als uns zu beugen? Aber laß mich das Mädchen tragen.« Vielleicht konnte der Steinmann unter dem Einfluß des Kraken tatsächlich nicht mehr klar genug denken, um die simple List zu durchschauen. Vielleicht glaubte der Krake auch, daß Mythor sich füge. Der Steinmann nickte zögernd. Mythor beugte sich über Farina, und wie er gehofft hatte, fuhr Golad auf ihn zu, um ihn zur Seite zu stoßen. Mythor packte ihn schnell an der Schulter und zog seinen Kopf zu sich heran, als wolle er ihn zu Boden stoßen. »Wir fliehen!« raunte er ihm zu. »Nimm Farina! Wir brechen dort bei dem Rothaarigen durch!« »Was habt ihr da zu tuscheln?« rief Sadagar. »Wir haben 162
schon zuviel Zeit verloren. Entscheidet euch, wer sie nimmt, und…« »Los!« schrie Mythor. Golad hob die Gefährtin auf die Arme, als Mythor schon vorwärts stürmte und zwei der Männer, die ihnen den Weg verstellten, mit zwei gezielten Fausthieben niederstreckte. Golad folgte ihm mit wildem Gebrüll, Farina auf der linken Schulter und mit der Rechten Schläge nach allen Seiten austeilend. Wie ein Sturmwind wütete Mythor unter den Verblendeten, bis der Weg frei war. Er winkte Golad an Steinmann mit erhobenem Messer dastehen und ihn fassungslos anstarren. Offensichtlich hatte niemand wirklich mit einem Fluchtversuch gerechnet, und nun warteten alle auf neue Befehle des Kraken. Mythor rannte Golad hinterher, so schnell ihn die Füße trugen. Es gelang ihnen, eine Reihe von Büschen zwischen sich und die Männer zu bringen und zwischen den kahlen Bäumen unterzutauchen, die für ihre Verfolger dicht belaubt waren und ihnen die Sicht nehmen mußten. Dann hörten sie das schaurige Geschrei aus Hunderten von Kehlen und wußten, daß die Jagd begonnen hatte. »Es gibt nur einen Ort, wo wir sicher sein können!« rief Mythor. »Wir müssen zu Rachamons Höhle!« »Sie werden uns überallhin folgen!« antwortete der Hüne keuchend. »Notfalls bis in den Strudel!« Mythor übersprang im letzten Augenblick eine Wurzel, die sich aus dem Boden schnellte, und da wußte er, daß nicht nur die Schiffbrüchigen Jagd auf sie machten. Der dämonische Krake zog alle Register seiner Macht. Mythor, Golad und Farina waren allein gegen eine ganze Insel, die zu schrecklichem Leben erwachte . Sadagar starrte auf das blinkende Messer in seiner Hand, 163
dann sah er in die Gesichter der Männer, die wie er plötzlich eine schreckliche Leere in sich fühlten. Mythor und die beiden anderen Besessenen rannten davon. Warum? Warum sträubten sie sich so sehr gegen die Traumreise? Gegen das Glück? Eben noch wollte er das Messer nach Mythor schleudern. Jetzt sank seine Hand schlaff herab. Etwas hatte ihn gehindert, etwas, das er sich nicht erklären konnte. Er mußte Mythor doch töten, wenn er zu fliehen versuchte. Plötzlich durchfuhren ihn entsetzliche Schmerzen. Sadagar sank in die Knie, den Mund zu einem lautlosen Schrei aufgerissen. Neben ihm setzten die Männer sich in Bewegung, und andere stürmten aus ihren Verstecken bei den Hütten hervor. Er sah das alles wie durch Nebel. Der Schmerz brannte in seinem Schädel, und da waren wieder die Stimmen in ihm, die Stimmen der Götter, die ihn vor den Besessenen gewarnt und befohlen hatten, ihnen aufzulauern. Sie sprachen nicht zu ihm, wie Menschen es getan hätten, nicht einmal wie der Kleine Nadomir. Doch sie ließen ihn wissen, daß er versagt und die Zukunft dieses ganzen Paradieses aufs Spiel gesetzt hatte. Wenn er jemals die große Gunst der Traumreise erfahren wollte, mußte er seinen Fehler wiedergutmachen und Mythor töten, auf daß sein besessener Geist frei wurde und Einkehr fand ins Reich des immerwährenden Glücks. Die Schmerzen ließen nach, und der Steinmann stand auf, um sich an die Spitze der Verfolger zu setzen. Fast alle Inselbewohner waren nun auf den Beinen. Nur die Frauen blieben mit den Kindern im Dorf zurück. Sadagar steckte das Messer zu den anderen elf in den Gurt zurück und rannte. Er mußte Mythor stellen. Um die beiden anderen konnten sich die Männer kümmern. Aber er, Mythors Freund und Weggefährte, mußte ihn von dem befreien, was von seinem Geist Besitz ergriffen hatte. Das war er ihm schuldig. 164
Die Büsche teilten sich vor ihm. Tiefhängende Äste ruckten hoch und machten den Weg frei. Tiere liefen zur Seite und verschwanden im Unterholz, und der Duft der Blüten machte nicht mehr schläfrig, sondern weckte neue Kräfte. Die Macht der Götter war ohne Grenzen. Pflanzen und Tiere nahmen mit den Menschen den Kampf gegen das Böse auf. Sadagar fühlte sich als ein winziges Teil eines wunderbaren Ganzen. Und auch Mythor sollte wieder zu dieser Einheit gehören. Daß er ihn dazu töten mußte, berührte den Steinmann nicht. Nur manchmal, wenn sich etwas verdunkelnd vor seinen Geist zu schieben drohte, hatte er das Gefühl, etwas Schreckliches tun zu wollen. Doch schnell wischte die Macht der Götter diese Zweifel wieder beiseite und gab ihm neue Kraft, dem Bösen zu widerstehen, das nach ihm greifen wollte. Mythor, Golad und das Mädchen blieben verschwunden, als habe der blühende Boden sie verschluckt. Sadagar hatte inzwischen zu den ersten Verfolgern aufgeschlossen, unter denen sich auch Chrandor befand, und trieb sie vorwärts. Er wußte, wo sie zu suchen hatten. Sie mußten nach Süden, bis zum Ende der Insel. Sadagars Blick fiel zufällig auf Chrandors Handschuhe. Die Finger hingen schlaff herab. »Aß und Baß!« rief der ehemalige Pirat klagend, als er den Blick des Steinmanns bemerkte. »Sie sind fort!« »Ist das jetzt wichtig?« fuhr Sadagar ihn an. »Es geht darum, Mythor zu retten und das Böse zu bannen! Was scheren dich da deine Hände?« »Was weißt du denn! Außerdem ist es ein böses Zeichen, daß sie…« Sadagar hörte nicht mehr, was der Pirat rief. Er hatte nur noch Augen und Ohren für die Jagd.
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Mythor und Golad trugen Farina abwechselnd. Sie sahen sich nicht um, doch das lauter werdende Geschrei verriet ihnen, daß ihr gewonnener Vorsprung langsam, aber sicher schrumpfte. Dornenranken peitschten nach ihnen, Käfer bildeten lebende Mauern quer über die Pfade, und selbst das halbverhungerte Wild setzte ihnen nach. »Laßt mich herunter!« rief Farina. »Ich kann laufen!« »Zu langsam«, rief Mythor zwischen zwei Atemzügen. Natürlich war das Mädchen jetzt eine schwere Last. Ohne sie hätten Mythor und Golad wohl Aussichten gehabt, die Südküste vor den Verfolgern zu erreichen. So aber würden sie mit Glück gerade bis zur Mitte der Insel kommen. Das Getier und die Pflanzen stellten nicht die Gefahr dar, wie Mythor sie befürchtet hatte. Für sie galt das gleiche wie für die Männer: Dadurch, daß ihre Bewegungen durch einen fremden Willen gesteuert wurden, waren sie langsamer, unbeholfener als sonst. Nur diesem Umstand hatten die drei Gehetzten es zu verdanken, daß sie überhaupt noch frei waren. Die Käfer mit ihren tödlichen Scheren und Giftstacheln rückten langsam an, ihre Bewegungen ließen sich voraussehen. Aber es kostete viel zuviel Zeit, einen Bogen um sie zu machen. Ein leichter Wind hob an und riß den über dem Boden liegenden Dunst an Stellen auf. Mythor fragte sich, ob auch die Verfolger diesen Dunst sahen – oder was der Krake ihnen an dessen Stelle vorgaukelte. Verzweifelt suchte er sich an seine Ausflüge zu erinnern, während er neben Golad, auf dessen Schulter Farina nun wieder ruhte, über Wurzeln sprang und Haken schlug, wenn plötzlich Kleingetier aus Erdlöchern kam. Sein Atem ging schwer, das Herz klopfte bis zum Hals. Und immer lauter wurde das Gebrüll der Besessenen. Wo gab es Verstecke, eine Mulde vielleicht, in der sie die Verfolger vorbeiziehen lassen konnten? In einen der Bäume zu 166
klettern hatte wenig Sinn, wollten sie nicht von Ästen aufgespießt werden, die sich plötzlich gegen sie wendeten. Außerdem reichte die Zeit dazu nicht mehr. Sie mußten schnell etwas finden, was sie den Blicken der Jäger entzog, sehr schnell. Die Schreie kamen nun von allen Seiten. Nur der Weg nach Süden war noch frei. »Sie wollen uns einkreisen!« rief Golad. Plötzlich sah Mythor drei Bäume, die ein gleichseitiges Dreieck bildeten, und obwohl er auf seinen Ausflügen die Insel nur als Paradies gesehen hatte, erinnerte er sich. »Hierher!« rief er außer Atem, sprang über einen Pfad und schob sich durch dichtes Gebüsch. Die Ranken peitschten nach ihm, und blutige Striemen erschienen diesmal auf seiner Haut. Hier hatte er einen Bach gefunden, dessen Wasser ihm in der Mitte bis zu den Hüften reichte, gespeist von einer weiter südlich liegenden Quelle. Aber warum hörte er kein Rauschen? Golad brach hinter ihm durch das Gebüsch, als Mythor die Bodenrinne vor sich sah. Es war ein tief klaffender Riß im Fels, breit genug, um ihn, Golad und Farina aufzunehmen, und ein Dutzend Mannslängen lang. Die Verfolger waren jetzt ganz nahe, schon bei den drei Bäumen. Mythor winkte heftig und deutete auf den Spalt. Golad setzte Farina ab. Mythor kletterte bis auf den Grund des Risses und streckte dem Mädchen die Hände entgegen. Sanft fing er sie auf und legte sie hin. Golad landete mit einem Sprung neben ihm. »Flach hinlegen!« flüsterte Mythor. »Ebensogut können wir ihnen entgegenlaufen«, erwiderte der Hüne heftig. »Sie sehen uns doch!« »Nicht, wenn ihnen ein anderes Bild vorgegaukelt wird«, hoffte Mythor. Doch schon beschlichen ihn wieder Zweifel. 167
Das Wasser des »Baches« war klar gewesen, als er an seinem Ufer gesessen hatte. Er konnte bis auf den Grund schauen. Die Verfolger schienen zum Stehen gekommen zu sein. Mythor hörte ihre Stimmen, wie sie sich heftig unterhielten. Er hielt den Atem an und hoffte inbrünstig, daß sie dabei ihre Spuren zertrampeln würden. Doch jetzt näherten sich Stimmen aus der anderen Richtung! »Laß uns kämpfen, Mythor!« flüsterte Golad bebend. Da gewahrten sie eine Bewegung am Rand der Spalte. Golad wollte aufspringen, doch schnell drückte Mythor ihn wieder zu Boden. »Das sind… Chrandors Tiere!« stieß er ungläubig hervor. »Aß und Baß, seine Hände!« »Dann haben sie uns gefunden! Wir…« »Nein! Sieh doch, was sie tun!« Und die Augen des Hünen weiteten sich in maßlosem Erstaunen. So schnell, daß die Gehetzten Mühe hatten, ihre Bewegungen zu verfolgen, sprangen die beiden Weichtiere über den Spalt, von einer Seite auf die andere und wieder zurück, immer und immer wieder. Und dabei zogen sie dicke, klebrige Fäden hinter sich her, geradeso, wie Spinnen es taten, doch ungleich schneller. »Sie helfen uns!« flüsterte Mythor fassungslos. »Ja«, knurrte Golad. »Oder sie spinnen uns ein, daß wir hier lebend verfaulen.«
Sadagar war ratlos. Wieder fühlte er die Leere in sich, als raube ihm etwas alle Kraft aus dem Körper. Den anderen erging es ähnlich. Die Männer kamen aus allen Richtungen herbeigelaufen und machten ihrer Hilflosigkeit durch Flüche und Beschimpfungen Luft. »Wir müssen weiter nach Süden!« brüllte Yellen, der 168
Weißhaarige. »Nein!« rief ein anderer. »Sie sind hier, ganz in der Nähe! Ich hörte einen von ihnen etwas rufen!« »Sadagar!« Der Steinmann fuhr herum und blickte Yellen in die Augen. Inzwischen hatten die Männer ihn stillschweigend als ihren Anführer anerkannt. Sie verlangten eine Entscheidung von ihm, und die Zeit drängte. »Was fragt ihr mich, wenn ihr ihre Spuren zertrampelt habt?« fuhr er den Weißhaarigen an. Warum wußte er plötzlich nicht mehr, wohin er sich wenden sollte? »Schwärmt wieder aus!« brüllte er. »Sucht überall! Wir teilen uns! Yellen, du nimmst die Hälfte der Männer und gehst mit ihnen nach Süden!« Für einen Augenblick war ihm, als habe er jeglichen Richtungssinn verloren, als treibe er in einem endlosen Ozean, ohne Land zu sehen. Dann kehrten seine Kräfte zurück. Sein Geist blieb verwirrt, doch der unbändige Wille, Mythor und die beiden anderen Besessenen zu finden, trieb ihn vorwärts, ließ ihn nicht ruhen. »Los!« brüllte er. »Lauft! Wir suchen sie hier!« Yellen fluchte und winkte Männer zu sich. Sie verschwanden hinter den Bäumen. Sadagar achtete nicht mehr auf sie. Plötzlich sah er etwas, das ihm und allen anderen bisher entgangen war. An einem Busch gleich neben den drei Bäumen, die ein Dreieck bildeten, waren Zweige abgeknickt worden, und Blüten lagen zertreten am Boden. Der Steinmann rief die ausgeschwärmten Männer zurück, bückte sich und hielt Ausschau nach Spuren. Nur hier und da bedeckte Moos den Boden, ansonsten war er ungewöhnlich karg. Doch bald hatte Sadagar gefunden, wonach er suchte. 169
»Sie sind hier entlanggelaufen, durch die Büsche!« Er rannte los, gefolgt von einer alles niederwalzenden Meute. Chrandor blieb dicht bei ihm und erging sich in Selbstmitleid. Dann standen sie vor dem Bach. Das friedlich dahinplätschernde, kristallklare Wasser aber war von einem dichten Netz aus Tausenden dünner, im Licht der Sonne glitzernder Fäden überzogen. »Spinnweben«, knurrte der Steinmann. »Und ich hätte schwören können, daß sie durch das Wasser gehen, um ihre Spuren zu verwischen.« »Dann sind sie hinübergesprungen!« rief einer der ehemaligen Ruderer. »Ihnen nach!« Bevor der Steinmann einen Satz über den Bach machen konnte, erschienen am anderen Ufer die Inselbewohner, die die Gejagten von Osten her in die Zange nehmen sollten. »Was ist?« brüllte einer von ihnen. »Habt ihr sie gefunden?« »Fragt nicht so dumm!« fuhr Sadagar ihn an. »Sie müssen auf eurer Seite sein!« »Wir haben nichts gesehen!« »Der Erdboden wird sie kaum verschluckt haben! Wir kämmen die Insel Fuß für Fuß durch, bis zu den Klippen im Osten!« Er sprang. Die anderen folgten ihm Mann für Mann. Sadagar schimpfte wie ein Rohrspatz, weil nun auch hier das Moos völlig niedergetrampelt war. Als sie den Bach schon weit hinter sich gelassen hatten, legte sich plötzlich ein Arm um den Hals des Steinmanns. Sadagar wurde roh herumgerissen und sah in Chrandors wütende Augen. »Jetzt hörst du mir zu, Freund!« kreischte der Pirat. »Ich sagte, daß Aß und Baß verschwunden sind! Und zwar…« »Laß mich mit deinen Viechern in Ruhe!« Sadagar wollte 170
sich losreißen, doch Chrandor stellte ihm ein Bein. »Und zwar verschwanden sie im gleichen Augenblick, in dem die drei flohen! Sie schlüpften einfach aus den Stulpenhandschuhen heraus. Nein, Freund Steinmann, du hörst mir zu! Denn das Netz über dem Wasser kann auch ihr Werk sein!« Sadagar starrte Chrandor an. »Was sagst du da?« »Endlich wirst du vernünftig! Ich weiß, daß Aß und Baß solche Netze weben können. Sie taten es früher für mich, wenn ich auf dem Markt von Sarphand gewissen Händlern ein paar von ihren…« Er winkte ab. »Wenn ich selbst gejagt wurde und ein Versteck brauchte!« Der Steinmann sprang auf. Schnell sah er sich um. Die Männer waren weitergelaufen. Er war allein mit Chrandor. »Dann komm!« rief er. »Los, worauf wartest du noch?« Sie wagten nicht zu atmen, als die Verfolger am Ufer standen und über ihr Vorgehen berieten. Jedesmal versetzte es Mythor Nadelstiche ins Herz, wenn er des Steinmanns Stimme hörte. Die beiden Weichtiere lagen zwischen den Gejagten, als wollten sie ihnen dadurch kundtun, daß sie auf ihrer Seite waren. Das Netz war so dicht, daß Mythor nur schattenhafte, schwache Schemen von den Männern sehen konnte. Dann endlich sprangen sie über den Spalt, der für sie wahrhaftig ein klarer Bach war, und ihre Stimmen verloren sich in der Ferne. »Sie sind fort«, flüsterte Farina. Tränen rannen ihre dunklen Wangen herab. Ihre Augen waren gerötet. »Ich… kann es nicht glauben.« Mythor und Golad sahen sich schweigend an. Sie sagten nichts, um Farina im Glauben zu lassen, daß sie fürs erste in Sicherheit seien. Doch jene, die nun im Osten der Insel nach ihnen suchten, waren nicht alle, die sich an ihre Fersen geheftet hatten. Fingerdicke, spitze Wurzeln schoben sich aus winzigen 171
Ritzen im Felsspalt. »Wir können hier nicht bleiben«, flüsterte Mythor. »Wir kamen bis hierher, und wir werden es auch bis zu Rachamons Höhle schaffen!« Und falls es zum Kampf kommt, ist wenigstens Sadagar nicht unter den Gegnern! dachte er. Golad richtete sich auf und berührte vorsichtig das Netz über seinem Kopf. Seine Finger blieben daran kleben. »Aß und Baß«, raunte der Sohn des Kometen den Weichtieren zu. »Ich weiß nicht, ob ihr mich verstehen könnt. Falls ja, so schafft uns einen Weg hier heraus.« Golad lachte bitter. »Du gibst die Hoffnung niemals auf, Mythor?« »Nicht, solange ein Funke Leben in mir ist. Seht!« Aß und Baß glitten unglaublich schnell am Fels in die Höhe, wichen den starren, immer weiter auf die Gefangenen zuwachsenden Wurzelspeeren aus und wiederholten das, was sie bereits vorher getan hatten. Blitzschnell huschten sie von einem Rand des Spaltes zum anderen und lösten die Fäden. Sie rollten sie auf, bis das Netz sich teilte und dicke, klebrige Knäuel herabfielen. Als der Weg nach oben frei war, kamen sie zurück und hefteten sich auf Mythors Schultern. Golad stieß erleichtert die Luft aus, und Farina schlang weinend ihre Arme um ihn. Auch Mythor stand auf, brach einige der Wurzelspeere ab und schob die Hand über den Rand der Spalte. »Ihr beide seid also gegen die Trugbilder gefeit, Aß und Baß?« sagte er lächelnd. »Wahrscheinlich weiß euer feiner Herr gar nicht, was er an euch hat.« Ein Fuß setzte sich hart auf seine Hand. Farina schrie auf. Mythors Kopf ruckte in die Höhe. »Er weiß es!« sagte Steinmann Sadagar. Das Messer blinkte in seiner Hand. »Glaubt mir, er weiß es!« Aber die Männer waren doch vorbeigezogen! Mythor starrte entsetzt in die Augen des Steinmanns, und als 172
er Chrandor neben diesem auftauchen sah, erfaßte er die Situation blitzschnell. Nur diese beiden waren umgekehrt. Chrandor hatte seine »Hände« vermißt und beim Anblick des Netzes die richtigen Schlüsse gezogen. So nur konnte es sein! Und noch schienen beide ihren Fang zu sehr zu genießen, um nach den anderen zu rufen. Mythor handelte instinktiv. Er wußte um die Schnelligkeit des Steinmanns mit seinen Messern und daß er nur eine Chance hatte, wenn der erste Hieb saß. »Den anderen, Golad!« rief er und hatte schon die Hand losgerissen und sie um Sadagars Fußgelenk gelegt. Der Steinmann schrie auf, holte mit dem Messer Schwung und verlor das Gleichgewicht. Mythor zog ihn mit einem Ruck in den Spalt, holte mit der Faust aus, um den Freund zu betäuben, doch… Sadagar war wie von Sinnen. Er ließ das Messer fallen und bewegte sich wie ein Ertrinkender. Sein Mund war geschlossen. Keinen Laut von sich gebend, ruderte er wild mit den Armen, und Mythor begriff, daß der Spalt für ihn mit Wasser gefüllt war. Die Täuschung war so perfekt, daß der Steinmann in Todesangst gegen die Luft ruderte! Chrandor erging es nicht anders. Golad drückte ihn mit beiden Fäusten auf den Boden der Rinne, wo er sich wand und die Augen so aufriß, daß sie ihm aus den Höhlen zu quellen drohten. Seltsamerweise machten Aß und Baß keinen Versuch, ihrem Herrn und Meister zu helfen. Mythor packte den Steinmann und preßte ihm eine Hand vor den Mund, bevor er mit ihm aus dem Spalt kletterte. Wenn es überhaupt eine Möglichkeit gab, ihn und Chrandor aus dem Bann des Kraken zu befreien, ohne Rachamons Hilfe in Anspruch nehmen zu müssen, so bot sie sich jetzt. Sadagar sog gierig die Luft ein. Mythor wartete, bis er völlig mit Strampeln aufgehört hatte. Dann sagte er, nachdem er sich 173
davon überzeugt hatte, daß tatsächlich niemand außer den beiden mehr in der Nähe war: »Du selbst bist besessen, Sadagar! Ich habe das Ungeheuer gesehen, das euch seinen Willen aufzwingt! Weißt du es jetzt?« Der Steinmann wollte Mythors Hand von seinem Mund reißen und schüttelte heftig den Kopf. »Also schön. Du siehst das Wasser?« Golad hatte inzwischen auch Chrandor aus dem Spalt gebracht und tat mit ihm das gleiche wie Mythor mit dem Weggefährten. Abwehrend streckte Sadagar die Hände von sich. »Du siehst es also noch? Tut mir leid, alter Freund, aber ich kann dir diese Lektion nicht ersparen.« Und schon setzte er sich ans »Ufer«, ließ die Beine baumeln und stieß Sadagars Kopf in den Spalt. Wieder begann der Steinmann zu toben, und Chrandor stand ihm nicht nach. »Er wird die Luft anhalten und ersticken«, warnte Golad, während Farina dem Treiben der beiden Männer entsetzt zusah. »Ganz bestimmt nicht!« Mythor nahm die Hand von Sadagars Mund und drehte ihm die wild schlagenden Arme auf den Rücken. »Du hörst mich, alter Freund. Und wenn du mich hören kannst, kannst du auch atmen! Tu es!« Der Steinmann gab eine Reihe von Entsetzenslauten von sich und rollte mit den Augen. Seine Lippen waren ganz fest aufeinandergepreßt. Sein Körper bäumte sich auf, und Schweiß drang ihm aus allen Poren. Mythor mußte sich dazu zwingen, das grausame Spiel bis zum Ende zu treiben. »Atme! Es gibt kein Wasser!« Sadagar schüttelte sich. Sein Mund blieb verschlossen. Auch Mythor schwitzte. Sadagar würde wahrhaftig so lange die Luft anhalten, bis er erstickte! Plötzlich sprang Farina in den Spalt, öffnete den Mund weit und brachte ihn direkt vor die Augen des Strampelnden. »Sieh 174
her!« rief sie. »Ich ertrinke nicht!« Doch sie erreichte nur das Gegenteil von dem, was sie wollte. Jetzt mußte der Steinmann auch noch glauben, einen Geist vor sich zu haben. »Bei Quyl!« rief Mythor verzweifelt. »Chrandor hat schon recht, daß du ein sturer Bock bist! Jetzt hilft nur noch das!« Schnell ließ Mythor einen Arm des Freundes los und gab ihm einen kräftigen Klaps auf die Sitzfläche. Sadagar riß den Mund auf, stieß ein markerschütterndes »Au!« aus und schloß die Lippen wieder, als habe er Gift in sich hineingesogen. Dann aber schluckte er, sah Farina wieder an und atmete heftig. »Siehst du noch Wasser?« fragte Mythor. »Ja! Zieh mich raus!« »Aber du schluckst kein Wasser!« »Nein, ich…« »Was?« Sadagar stöhnte laut, riß den Kopf in den Nacken und verdrehte die Augen, bevor sein Körper in Mythors Armen schlaff wurde.
Die Sonne stand bereits im Westen, als die nun fünfköpfige Gruppe den Südzipfel der Insel erreichte. Oft hatten sie Suchtrupps ausweichen müssen. Die Besessenen rannten nicht mehr wie eine Herde Ochsen blindwütig durch die Gegend, sondern suchten nun gezielter. Lange mußten die Gejagten warten, bis der Weg die Klippen hinunter frei war. Nachdem Sadagar und Chrandor zu sich gekommen waren, hatte es noch einiger weiterer drastischer Überzeugungsversuche bedurft, bis sie endlich erkannten, was mit ihnen geschehen war. Nun gab es zwei Gehetzte mehr. Sadagar wurde nicht müde, Mythor um Vergebung zu bitten, 175
und unter Chrandors Stulpenhandschuhen regten sich wieder seine »Hände«. Beide, der Steinmann und der Pirat, waren allerdings noch nicht wie die anderen imstande, die Trugbilder völlig zu durchschauen, aber sie wußten nun, daß die Welt um sie herum nicht so war, wie sie sie sahen, und dieses Wissen gab ihnen die Kraft, den Befehlen des dämonischen Kraken zu trotzen. Mythor hatte sie knapp über den Kraken aufgeklärt. Mythor stieg als erster die Klippen zur Höhle hinab. Er wußte nicht, in welcher Verfassung er den Magier antreffen würde, und wollte kein unnötiges Risiko eingehen. Doch die Höhle war leer. Die Öllampe brannte noch, und alles deutete auf einen überstürzten Aufbruch Rachamons hin. Entsetzt sah der Sohn des Kometen, daß mehrere der magischen Fetische zertreten waren. Eine furchtbare Ahnung beschlich ihn, die zur Gewißheit wurde, als Sadagar erklärte, die Macht des Kraken sei an diesem Ort ebenso stark wie draußen in den Klippen. »Dann gibt es nur einen Ort, wo wir ihn noch finden können, falls es nicht schon zu spät ist«, preßte Mythor hervor. Fragend sah er Golad und Farina an. »Die Höhle war die längste Zeit ein sicheres Versteck. Nun bleibt uns nur noch eines.« »Du willst den Kraken töten?« fragte der Steinmann schnell. »Wenn du glaubst, daß wir es können, dann verlieren wir keine Zeit!« »Wenn überhaupt, können wir es wohl nur mit Rachamons Hilfe. Golad?« »Wir müssen noch einmal… dorthin.« Mythor wünschte, er hätte ihm und Farina dies ersparen können. Doch sie allein zurückzulassen hieß, sie den Verfolgern preiszugeben, die kaum lange auf sich warten lassen würden, obwohl Sadagar versicherte, daß sie nur bis zum Rand der Klippen gehen durften. 176
Es war Farina, die für Golad sprach: »Wenn es also sein muß, werden wir gehen. Nein, Golad, sorge dich nicht um mich. Wir dürfen uns nicht mehr trennen, und…« Schluchzend warf sie sich an seine Brust. »Es muß ein Ende haben! Endlich ein Ende, oder wir sterben alle!« »Zur Bucht!« knurrte Mythor.
Sie hielten sich nahe am Abgrund und mußten nur zweimal einem Trupp Männer ausweichen, die sich offenbar hier postiert hatten, um auf sie zu warten. Unangefochten erreichten sie die Bucht – und sahen eine menschliche Gestalt in den wallenden, dunklen Nebeln verschwinden. »Rachamon!« stieß Mythor aus, legte die Hände an den Mund und schrie, daß der Magier umkehren solle. Doch die Nebel gaben ihn nicht mehr frei. Dafür wurden andere Schreie und Rufe hörbar, dann das Poltern von Steinen. »Jetzt wissen sie, wo wir sind!« sagte Golad vorwurfsvoll. »Egal«, versicherte Sadagar schnell. »Sie werden nicht wagen, uns dort hinunterzufolgen.« Und schon drängte er sich zwischen Golad und Mythor hindurch und stürmte die Felstreppen hinab. Wie schon bei anderen Gelegenheiten zuvor schien er sein »Versagen« durch übertriebenen Eifer wettmachen zu wollen. Den anderen blieb gar nichts anderes mehr übrig, als ihm zu folgen. Chrandor zeterte und jammerte. Sie hatten die dunklen Wolken erreicht, als über ihnen die Verfolger auftauchten. Und wahrhaftig hielten sie inne, brüllten und fluchten. Wenige Augenblicke später hagelte ein Steinregen auf die fünf herab, die Mühe hatten, auf dem glitschigen, nassen Fels Halt zu finden, und mehr als einmal auf dem Rücken landeten. 177
Mythor war nicht zu halten. Er befürchtete das Schlimmste für Sadagar, der auf keinen Anruf mehr reagierte und wie Rachamon in den Nebeln verborgen blieb. Er erreichte die Plattform und sah den Eingang der Grotte dunkel klaffen. »Sadagar!« schrie er. »Rachamon!« »Hierher, Mythor!« kam es vom Rand der Plattform her. »Ich habe ihn! Aber bei Erain! Die Fangarme…!« Mythor sah, wie sich etwas schattenhaft in den Wolken bewegte. Zusammen mit Golad fand er den Steinmann, der den offenbar bewußtlosen Magier von dort wegschleifte, wo sich die mörderischen Tentakel des Kraken über die Klippen schoben. Das aber hieß, daß das Ungeheuer seine Opfer nicht nur in der Grotte töten, sondern seine Arme durch unterseeische Öffnungen in die Bucht selbst hinausstrecken konnte. Sadagar rutschte aus. Schon schossen die Tentakel heran, zwei, drei von ihnen. Mythor ließ sich flach auf den harten Fels fallen und entging den peitschenden Mördern nur um Haaresbreite. Aber sie schwangen zurück. Mythor riß dem Steinmann, der sich nun beide Hände vor die Augen geschlagen hatte, zwei seiner Messer aus dem Gurt und warf eines davon Golad zu, der sich um den Magier kümmerte. In der aufspritzenden Gischt konnte der Sohn des Kometen für Augenblicke nichts erkennen. Seine Linke hatte Sadagar am Nacken gepackt, die Rechte wartete mit der Klinge auf den nächsten Fangarm. Wie weiße Juwelen regnete das aufgewühlte Wasser auf die Männer herab. Völlig durchnäßt zog Mythor Sadagar mit sich fort, nur weg vom Wasser. Farina schrie auf. Mythor fuhr herum und sah den Tentakel heranschnellen. Mit beiden Händen hielt er die Klinge und stieß sie blitzschnell ins graue, schleimige Fleisch des Kraken. Von irgendwoher kam ein gräßliches Kreischen, und der 178
Boden schien unter den Füßen der Verzweifelten zu erzittern. Mythor stieß zu, immer und immer wieder, bis sich der Fangarm einrollte und in Nebel und Gischt verschwand. »Weg hier, Golad!« brüllte er. »Schnell, zum Pfad!« Er selbst zerrte den Steinmann in die Höhe und trug ihn bis zu den Felsstufen. Golads Gestalt schälte sich mit Rachamon auf der Schulter aus dem Dunkel. Auch sein Messer war von gelbem Blut verschmiert. Schwer atmend ließen sich die beiden Kämpfer auf den Stufen nieder. Irgendwo hinter ihnen zuckten die Tentakel durch die Schleier, doch sie reichten nicht bis zu ihnen heran. Mythor gönnte sich keine Rast. Er packte den Magier an den Schultern und rüttelte ihn, bis sein Blick sich klärte. »Mythor«, flüsterte Rachamon, als gebe es nichts Selbstverständlicheres, als den Krieger hier zu sehen. »Da bist du also. Aber warum hast du mich warten lassen? Und… wer sind deine Begleiter?« Der Geist des Magiers war verwirrt. Unsicher sahen Mythor und Golad sich an. »Rachamon, du kennst sie alle! Sie waren mit uns auf dem Schiff!« »Oh… ja«, murmelte der Seemagier. »Jetzt weiß ich es wieder.« Mythor hörte Steine die Klippen herabpoltern und bezweifelte, daß die Verfolger nun noch immer oben warten würden. »Was meinst du damit, ich habe dich warten lassen?« fragte er schnell. »Du hast mich doch gerufen«, sagte Rachamon. »Ich sollte zu dir kommen… hierher…« Mythor begriff augenblicklich, was geschehen war, und klärte Rachamon eilig auf. Der schüttelte ungläubig den Kopf. »Dann gibt es kein sicheres Versteck mehr. Meine Magie kann das Ungeheuer nicht mehr bannen. Und ich wäre blind 179
in die Falle gelaufen, wenn ihr nicht…« »Rachamon, darüber können wir später reden! Wir müssen hier fort! Der Weg auf die Insel ist uns versperrt. Wir werden von allen gejagt. Aber einen Ort gibt es noch, an dem wir vorerst sicher sind und… vielleicht das finden, was wir brauchen, um den Kraken zu besiegen.« »Die Gasihara!« rief Sadagar aus, der von Chrandor rührend umsorgt wurde. »Das Schiff«, nickte Mythor. »Unter Deck sind Waffen für Logghard gelagert. Doch wie es aussieht, werden wir sie hier dringender brauchen.« »Ich verstehe zwar nicht, wie du dir das vorstellst«, murmelte der Magier, »aber was bleibt uns anderes übrig?« »Außerdem haben wir den Kraken verwunden können«, sagte Golad. Mythor lachte bitter. »Nadelstiche, mein Freund. Mehr war es nicht. Wohl noch nie zuvor hat jemand gewagt, sich dem Monstrum entgegenzustellen. Allein deshalb verlor es für einen Augenblick die Kontrolle. Kommt, wir versuchen, an den Felsvorsprüngen dicht über dem Wasser auf die andere Seite der Bucht zu gelangen!« Die Gefährten standen auf. Nur Sadagar blieb sitzen. Der Steinmann hatte die Augen geschlossen und drehte die drei Ringe gegeneinander, die er sich vom Hals genommen hatte. »Freund Steinmann!« rief Chrandor. »Ausgeruht wird nicht. Wir…« »Sei still!« sagte Mythor schnell. »Er will den Kleinen Nadomir rufen.« »O nein! Nicht schon wieder!« Sadagar schlug die Augen auf und legte die Ringe wieder an. »Spar dir deine abfälligen Bemerkungen!« fuhr er den Piraten an. »Nadomir hat offenbar wieder wichtige Dinge im Karsh-Land zu tun. Er antwortet nicht.« 180
»Und wennschon!« gab Chrandor bissig zurück. »Selbst wenn es ihn gäbe, hätte er nichts gegen… gegen das dort in der Grotte ausrichten können.« »Er wurde schon mit einem ganz anderen Gegner fertig«, sagte Mythor finster. »Und jetzt kommt endlich!«
Das letzte Stück legten sie schwimmend zurück. Die Sonne stand bereits tief im Westen, als die nun sechsköpfige Gruppe das Schiff erreichte, an einem tief ins Wasser reichenden Ruder bis zur Ruderbank kletterte und von dort auf das Deck. Nach einer kurzen Untersuchung schwanden endgültig alle im geheimen gehegten Hoffnungen, die mächtige Lichtfähre doch noch einmal seetüchtig machen zu können. Sie steckte zwischen zwei Klippen fest. Im Schiffsbauch klaffte ein Leck, durch das ein Mammut bequem hindurchgegangen wäre, und das eingedrungene Wasser hatte den Raum zur Hälfte geflutet. Glücklicherweise jedoch befanden sich die Kisten mit den Waffen im trockenen Teil. »Aus den Wrackteilen ließe sich ein kleineres Boot zusammenbauen«, murmelte Rachamon versonnen. »Das mag sein«, knurrte Golad, der seinen alten Groll auf den Magier trotz dessen Wandlung nur schwer abzulegen vermochte. »Aber wir können die Insel nicht verlassen. Wir sollten versuchen, uns mit den hier gelagerten Waffen so lange wie möglich zu verteidigen.« Mutlosigkeit klang aus seinen Worten, das Ergebnis zu vieler Enttäuschungen, die er und Farina erleben mußten. Erschrocken erkannte Mythor, daß Golad offenbar schon wieder bereit war, die Erlösung zusammen mit Farina im Tod zu suchen. Überall oben auf den Klippen standen die Jäger, Hunderte von ihnen. Einige waren bereits herabgeklettert und warteten 181
am Ufer darauf, daß die »Besessenen« das Schiff wieder verließen. Die Gasihara war zur tödlichen Falle geworden. Doch plötzlich zeigte sich ein feines Lächeln auf dem scharfgeschnittenen Gesicht des Magiers. »Nicht unbedingt, mein Freund«, sagte er zu Golad. »Es steht nicht fest, daß wir hier gefangen sind.« Mythor blickte ihn fragend an. »Vielleicht ist es doch noch nicht zu spät für mich, meine Schuld abzutragen«, fuhr Rachamon gedehnt fort. »Während ich in meiner Höhle noch sicher vor den Trugbildern des Ungeheuers war, hatte ich Zeit, den Strudel zu studieren. Ich konnte die Wasserwirbel schließlich berechnen.« »Und?« fragte Sadagar. »Was hast du herausgefunden?« Mythor fragte sich, ob Rachamon bei Verstand sei oder ob der Einfluß des Kraken seine Sinne verwirrt habe. Doch der Magier sprach mit einer Klarheit, die ihm schließlich alle Zweifel nahm. Mit zunehmender Erregung hörte er, wie er sagte: »Zu gewissen Zeiten zirkuliert der Strudel in umgekehrter Richtung, also von der Insel weg. Dies geschieht aber nur sehr selten, und wir müssen uns beeilen, wenn wir diese nächste Phase ausnutzen wollen.« »Wann?« fragte Mythor heftig. »Wann wird das sein, Rachamon?« »Beim nächsten Vollmond.« Sadagar schrie auf. »Aber der steht kurz bevor! Noch in dieser Nacht wird der Mond voll am Himmel stehen!« »Ich sagte euch, wir müssen uns beeilen.«
Auch jetzt noch nahmen Sadagar und Chrandor die Ausstrahlungen des Kraken wahr und sahen trügerische Bilder. Und so zweifelte niemand an den Worten des Steinmanns, als dieser plötzlich ausrief: »Wir werden es nicht 182
mehr schaffen! Er… er verläßt die Grotte und kommt hierher!« Bis dahin hatten die Gefährten in fieberhafter Eile damit begonnen, mit den an Bord gefundenen Werkzeugen aus den Wrackteilen ein Boot zu zimmern. Unbeschreibliche Gefühle beherrschten Mythor. Plötzlich war wieder all das in greifbare Nähe gerückt, was ihm für immer verschlossen gewesen war. Der Weg nach Logghard, zum letzten Fixpunkt des Lichts, wohin Luxon mit Sicherheit schon unterwegs war. Mythor konnte wieder hoffen, bei der entscheidenden Schlacht um die Ewige Stadt dabeizusein. Und Fronja! Sie wartete auf ihn, irgendwo! Sie galt es zu finden, sie und seine Bestimmung. Der Gedanke daran, diese in weite Ferne gerückten Ziele nun doch noch erreichen zu können, spornte den Sohn des Kometen zu schier übermenschlichen Anstrengungen an. Unablässig hatte er den Hammer geschwungen und neue Planken aus dem Schiffsleib gebrochen, unablässig die Gefährten zur Eile angetrieben. Schon verdunkelte sich der Himmel. Die Nacht zog herauf, und bei den Klippen tauchten brennende Holzfeuer das Heer der Belagerer in helles, unheimlich flackerndes Licht. Und nun, als es darum ging, das neue Boot zum Wassern fertigzumachen, bevor die Nacht vorüber war und die Strudel sich wieder um die Insel schlossen, kam Sadagar mit seiner Schreckensbotschaft. Mythor kletterte an Deck, wo nur Farina die Männer an den Klippen beobachtete, und versuchte, bei der Grotte etwas auszumachen. Doch zu groß war die Entfernung, und mit jedem Atemzug wuchs die Dunkelheit. »Wie lange, Sadagar?« fragte Mythor den Steinmann, der ihm nachgeeilt war. »Wie lange wird es dauern, bis er hier ist?« »Ich weiß es nicht, Mythor.« Der Sohn des Kometen ballte die Hände. »Geh wieder hinab 183
und zimmere mit Chrandor und Golad weiter«, preßte er hervor. »Und schicke Rachamon zu mir!« »Mythor, was hast du vor?« »Geh!« Sadagar hob die Schultern. Nur schlecht konnte er seine Furcht verbergen. Seine Knie zitterten, als er sich entfernte. »Du willst ihn töten?« fragte Farina tapfer. »Du glaubst, wir können den Kraken besiegen?« Mythor gab keine Antwort. Er legte den Arm um das Mädchen und starrte auf die dunkle Bucht hinaus. Täuschte er sich, oder schäumte dort vorne das Wasser? Rachamon erschien neben ihm. »Ich weiß, was du fragen willst«, kam er Mythor zuvor. »Ja, wir luden nicht nur die Kisten mit den Schwertern, Lanzen, Rüstungen und Bögen an Bord. Es gibt Wurfmaschinen und Pfähle in einem abgetrennten Raum des Schiffsbauchs.« »Wo, Rachamon?« »Komm mit, aber wir werden alle Kräfte brauchen. Ich kann dafür sorgen, daß der Krake durch das Leck ins Schiff kommen wird. In meiner Unterkunft gibt es noch magische Fetische, die ihn daran hindern werden, sich aufs Deck zu schieben. Mehr vermag ich nicht zu tun.« »Mehr wird nicht vonnöten sein.« Mythor nahm Farina bei der Hand und folgte dem Magier unter Deck. Ein verzweifelter Plan reifte in ihm heran. Diesmal würde es kein Entrinnen mehr geben, falls die für Logghard bestimmten schweren Waffen versagten. Es begann ein Wettlauf mit der Zeit. Von der anderen Seite der Bucht her näherte sich der Krake, lautlos und tödlich. Der Weg zurück auf die Insel war abgeschnitten, und schon stand der volle Mond am Himmel, und die Wasser des Strudels schienen sich zu teilen. Während Sadagar und Chrandor weiterzimmerten, wobei 184
ihnen Farina nach Kräften half, machten sich Mythor, Golad und der Magier daran, die Wurfmaschinen aus dem zweiten Raum des Schiffsbauchs zu ziehen, der so gut getarnt war, daß nicht einer der hier unten zusammengepferchten Legionäre überhaupt von dessen Existenz gewußt hatte. Mächtige angespitzte Pfähle mußten von zwei Männern getragen werden. Mythor schwitzte und blickte sich immer wieder nach dem Leck um, durch das das fahle Licht des Mondes einfiel und sich im eingedrungenen Wasser spiegelte. Wann erschien der Krake? Endlich waren drei Wurfmaschinen so aufgestellt und gespannt, daß die eingelegten Pfähle alle auf eine Stelle zielten. Der Krake mußte mit seinem ganzen monströsen Leib eindringen, wenn Aussicht bestehen sollte, ihn mit dem ersten Abfeuern der Geschosse zu töten. Eine zweite Chance würde es nicht geben. Das Warten begann. Chrandor hatte den Hammer längst aus der Hand gelegt und sich in den hintersten Winkel des Schiffsbauchs verkrochen. Sadagar zitterte, und auch die anderen spürten wieder die Lockrufe des Ungeheuers. Langsam schob sich das Unheil heran, wie etwas, das sich seiner Beute völlig gewiß war. Farina lag leise weinend in Golads Armen. Sie war tapfer, doch das, was da lautlos unter der Wasseroberfläche heranglitt und seine tödlichen Fangarme nach den Menschen ausstreckte, war stärker als sie. Die Schreie der Belagerer waren verstummt. Unheilvolle Stille machte sich breit. Selbst das Schlagen der Wellen, die an der Gasihara rüttelten, war leiser geworden. Da schob sich der erste Fangarm tastend aus dem Wasser. Ein Ruck ging durch das Schiff. Golad schrie auf und wich mit Farina zurück. Mythor aber schritt auf den Fangarm zu, in der Hand eines 185
der Schwerter aus den aufgebrochenen Kisten. Sein Blick war starr, seine Bewegungen waren ruhig. »Komm zurück!« rief Sadagar, doch Mythor ging weiter, bis er die Stelle erreicht hatte, auf die die Pfähle zielten. In diesen Augenblicken empfand er keine Furcht, obwohl seine Hände so kalt waren wie der Stahl in seiner Rechten. Was nun kam, war ein Abwägen von Augenblicken, ein Spiel mit dem Tod, ein stummes Ringen, das alle geistige Kraft erforderte. Mythor stand bis zu den Fußknöcheln im Wasser. Sadagar war verstummt. Golad wollte Mythor zu Hilfe eilen, doch Farina hielt ihn fest. Rachamon stand, ebenfalls mit einem Schwert in beiden Händen, vor den Halteseilen der Katapulte, bereit, eines nach dem anderen auf Mythors Zeichen zu durchschlagen. Die Eingeschlossenen hielten den Atem an. Wie die Statue eines Kriegers stand Mythor im Wasser, das Schwert halb erhoben, den Blick starr auf die Tentakel gerichtet, die sich nun immer heftiger peitschend in die Höhe reckten. Mythor spürte, wie das Blut in seinen Schläfen hämmerte. Alles an ihm war angespannte Erwartung. Eiseskälte griff nach seinem Herzen. Die Fangarme wurden länger, schienen Fuß um Fuß aus dem Wasser zu wachsen, bis sie die Länge mehrerer ausgewachsener Männer erreicht hatten. Noch schienen sie ziellos durch die Luft zu schwingen, fürchterliche Arme einer blinden Kreatur. Der geistige Druck auf Mythor wurde fast unerträglich. Etwas wollte ihn dazu bringen, ins tiefere Wasser zu gehen. Der Krake war vorsichtig geworden. Mythor wußte, daß er dem Druck in seinem Schädel nicht ewig widerstehen konnte. »Komm endlich!« schrie er bebend. »Komm und hol dir deine Mahlzeit!« Seine Stimme hallte dumpf von den pechgetränkten Wänden 186
wider. Gleichzeitig begann das Wasser zu schäumen. Wie eine kleine Insel tauchte etwas grau und triefend daraus auf. Unwillkürlich machte Mythor einen Schritt zurück. Und als habe er so ein Zeichen gesetzt, schossen zwei, drei Fangarme blitzschnell auf ihn zu. Mythor schrie auf und warf sich herum. Zwei der Tentakel peitschten wie die Sensen eines Riesen über ihn hinweg. Der dritte fand sein Ziel, riß Mythor mit schrecklicher Wucht die Beine unter dem Leib fort und wickelte sich um sein Fußgelenk. Der Sohn des Kometen schlug hart auf, fühlte, wie er davongezogen wurde, und nahm den Griff des Schwertes in beide Hände. Panik erfaßte ihn. Wie besessen ließ er die Klinge auf den schleimigen Fangarm schmettern, immer und immer wieder. Schon schlugen die Wasser über seinen Beinen zusammen, und vor sich sah er das riesige rote Auge der Kreatur auftauchen. Angst und Verzweiflung verdreifachten Mythors Kräfte. Doch die Klinge prallte am Fangarm ab wie an einem magischen Schild. Mythor stieß den Stahl nun wie einen Dolch in den Tentakel. Zwei, drei Zoll tief drang er in das graue Fleisch ein. Ein Zittern durchlief den Fangarm. Die tödliche Umklammerung lockerte sich für die Dauer eines Herzschlags – lange genug für Mythor, um schnell den Fuß zurückzuziehen. Er kam auf die Beine. Wasser umschäumte seine Waden. Ein schauriges Kreischen wie aus tausend verstimmten Trompeten ließ die Planken der Schiffswände knirschen und bersten, als das Ungeheuer sich wie ein Berg aus grauem Fleisch vorwärts schob. Sadagar, Chrandor und Farina preßten die Hände an die Ohren. Golad stand verzweifelt da und suchte nach einer Möglichkeit, Mythor beizustehen, und sah, wie der Magier seinen Platz bei den Wurfmaschinen verließ und sich dem Kraken schreiend 187
entgegenwarf. »Bleib hier!« schrie er. »Bei allen Göttern, komm zurück!« Rachamon hörte ihn nicht. Schon schnellten weitere Fangarme heran. Mythor wich zurück, um den nun blindwütig angreifenden Kraken weiter ins Schiff zu locken, bis er genau jene Stelle erreicht hatte, auf die die Bolzen zielten. Doch da war niemand mehr, der die Seile durchschlagen konnte. Mythor fluchte lautlos, als er Rachamon neben sich sah, mit dem Schwert um sich mähend wie einer, der gegen Luft kämpfte. Und der Magier lief weiter, bis ihm das Wasser bis zu den Hüften reichte. Das Riesenauge des Ungeheuers richtete sich wie feurige Glut auf ihn. Mythor konnte dem Magier nicht nachsetzen, ohne wieder in die Reichweite der Tentakel zu gelangen. Rachamon rannte in den Tod! In unbändigem Zorn schleuderte er die eigene Klinge nach dem glühenden Auge, in dem es bis zum Heft versank. Das Schiff schien unter dem entsetzlichen Kreischen der verletzten Kreatur auseinanderbrechen zu wollen. Der Boden schwankte unter Mythors Füßen, und er mußte wild mit den Armen rudern, um sein Gleichgewicht zu halten. »Rachamon! Komm zurück, du Narr!« Aber es war schon zu spät. Ein peitschender Fangarm traf den Kopf des Magiers mit unvorstellbarer Wucht. Undeutlich sah er, wie des Magiers zertrümmerter Schädel im Wasser versank und es blutrot färbte. Entsetzen und Zorn brannten sich in sein Denken. Mythor wußte in diesen Augenblicken nicht mehr, was er tat. Er kam erst zu sich, als er an einem der Halteseile stand und nach einer Klinge suchte, mit der er es durchtrennen konnte. Sein Schwert stak noch im Auge des Monstrums, das sich in den Schiffsleib hineinschob, so ungestüm, daß das Wasser bis zu den Decksplanken hinauf spritzte. Es hatte die Stelle fast erreicht, auf die die Pfähle zeigten, und kam näher. Die Tentakel schoben sich über die 188
Wände. Immer noch wuchs der furchtbare Körper, und ein schrecklicher, weit offener Schlund genau im Zentrum der Fangarme gähnte den Eingeschlossenen gierig entgegen. Plötzlich war der Steinmann heran, riß drei Messer aus seinem Gurt, warf eines davon Mythor zu, ein zweites Golad. Er selbst stellte sich an eines der Halteseile und legte die Schneide der Klinge daran. Golad zögerte einen Augenblick, Farina fest im Arm. Ein Fangarm kroch wie eine riesige Schlange auf sie zu. Das rote Auge leuchtete und schien den Hünen zu lähmen. »Golad!« brüllte Mythor, wassertriefend und bebend. »Bei Quyl! Kommt her!« Und nur hinter den Geschützen bot sich noch Sicherheit. Die Tentakel schoben sich über den Boden der Wände, berührten die Decke des Schiffsbauchs. Golads kräftiger Körper wurde von einem Zittern durchlaufen. Wasser spritzte ihm ins Gesicht und entriß ihn endlich dem Bann des Kraken. Die drei Pfähle in den Wurfmaschinen zeigten schon auf das Riesenauge, als alle drei Männer endlich beisammenstanden und sich daranmachten, die Seile zu durchtrennen. Die Klingen der Messer schnitten sich in die Fasern, doch viel zu langsam geschah das. Farinas Schreie antworteten dem ohrenbetäubenden Kreischen des angreifenden Kraken, der sich näher schob, immer näher… Planken wurden mit furchtbarer Gewalt gesprengt, weitere Wassermassen drangen schäumend und gurgelnd ein, Holz splitterte und regnete auf die Todgeweihten herab, als ein Tentakel das Deck durchstieß. Mythor spürte seine Hand kaum noch. Er sah in die wabernde rote Glut des Auges, versank darin, kämpfte um die 189
Freiheit seines Willens und schnitt, scheuerte und zerrte an dem Seil. Der Krake war zur Ruhe gekommen, doch seine Fangarme schoben sich auf die Wurfmaschinen zu, so als wisse das Ungeheuer, wovon ihm allein Gefahr drohen konnte. Die Maschine, an der Sadagar stand, wurde erfaßt und bewegt. Der Steinmann schrie auf, bebend vor Angst und Zorn, und packte den Griff des Messers wie den eines Schwertes. Seine Arme sausten herab, die Klinge traf das zerfranste Seil und durchtrennte es. Mit unvorstellbarer Wucht wurde der Pfahl von der Sehne der Riesenarmbrust nach vorne geschnellt und fand sein Ziel. Das Schiff erbebte, das Katapult ruckte zurück, daß Sadagar sich mit einem mächtigen Satz in Sicherheit bringen mußte, und das hölzerne Geschoß bohrte sich bis zur Hälfte in den Körper des Kraken. Mythor glaubte, seine Trommelfelle müßten platzen. Das Kreischen des dämonischen Untiers übertönte alles, als der Krake seine Fangarme peitschen ließ und mit einigen versuchte, den Pfahl aus seinem Fleisch zu ziehen. Dann zersprang auch das Halteseil von Mythors Katapult und nur einen Herzschlag später das letzte. Fast gleichzeitig bohrten sich die beiden Pfähle tief in den Schlund und das Auge des Ungeheuers. Mythor sprang zurück, riß Golad mit sich und warf sich schützend über Farina, die Hände fest gegen die Ohren gepreßt. Sadagar lag ebenfalls am Boden und schrie etwas, das im Toben des Kraken unterging. Sämtliche Tentakel rollten sich ein. Mythor wagte sich nicht umzusehen. Wuchtige Schläge rissen immer größere Löcher in den Schiffsleib. Wie in einem Höllensturm wurde die Gasihara hin und her gerissen. Das Kreischen und Schlagen wollte kein Ende nehmen. Hilflos lagen die Menschen da, wissend, daß sie nun keine Waffe mehr besaßen, und mit jedem Herzschlag steigerte sich ihre Todesangst. 190
Dann war plötzlich alles still um sie herum. Nur das Gurgeln abfließenden Wassers war zu hören. Unendlich langsam richtete Mythor sich auf, Angst im Herzen vor dem, was er sehen würde, wenn er sich umwandte. Doch er sah nur Chrandor, der wie benommen aus seiner Ecke taumelte, immer wieder mit weit aufgerissenen Augen und zitternden Fingern auf etwas zeigte, was sich noch im Rücken der Gefährten befand, und dann zu tanzen und zu springen begann, als sei ein Dämon in ihn gefahren. »Wir haben ihn besiegt!« brüllte er. »Wir haben es geschafft, Freunde! Der Krake ist tot!« Farinas Schluchzen erstarb. Golads Kopf fuhr in die Höhe, und seine Blicke spiegelten das wider, was auch Mythor in diesen Momenten empfand: bange Hoffnung, Fassungslosigkeit und die Erleichterung, die sich zögernd aus dem Mantel aus Zweifeln schälte. Noch war das Toben entfesselter Gewalten und Mächte in Mythors Ohren, noch fiel es schwer zu glauben, daß der Alptraum ein Ende gefunden hatte. Doch als er sich umwandte, sah er den Körper des Kraken, wie er schlaff und leblos halb im Wasser lag. Die furchtbaren Fangarme waren eingerollt und dunkelbraun verfärbt. Das entsetzliche Auge war erloschen. Gelbes Blut mischte sich mit dem Wrack und wurde aus dem Schiffsleib gespült, wenn das Wrack sich nach einer Seite hin hob und senkte. »Ja«, flüsterte Mythor fast andächtig. »Wir haben gesiegt.« »Das sagte ich doch!« lachte Chrandor und gab Sadagar einen Schlag auf den Rücken, der den Steinmann von den Beinen riß und klatschend ins Wasser beförderte. Chrandor setzte ihm nach und half ihm grinsend auf. »Wenn ich das erzähle, wird mir…« »So!« fauchte Sadagar den ehemaligen Piraten an. »Du hast 191
also den Kraken besiegt! Ja?« Chrandor wich zurück bis zwischen zwei Katapulte. »Nun, ich… Freund Steinmann, was willst du tun? Was… willst du mit dem Hammer? Nein, laß ihn liegen!« Sadagar bückte sich nach dem Werkzeug und hob es auf, ohne Chrandor aus den Augen zu lassen. »Dir dein lockeres Maul zunageln! Das werde ich tun!« Chrandor und Sadagar stürmten hintereinander die Treppe zum Deck hinauf. Ihre Schreie verloren sich in Richtung Heck. Eine Hand legte sich schwer auf Mythors Schulter. »Hör auf zu grübeln, Freund«, sagte Golad leise. »Es ist vorüber. Dieses Ungeheuer wird niemals wieder Schiffbrüchige in trügerische Träume wiegen und Menschen wie Vieh halten.« Die Wellen schlugen leise gegen das Wrack. Das Wasser stand nun fast bis zum unfertigen Boot, das wie durch ein Wunder von den peitschenden Tentakeln verschont geblieben war. Der volle Mond stand hoch am Himmel, genau über dem Loch in der Decke, das die Fangarme im Todeskampf gerissen hatten. »Rachamon«, murmelte Mythor. »Er hat sich geopfert, Golad. Er wußte, daß er in den Tod ging.« »Er wird für sein Tun belohnt werden, irgendwo in einer besseren Welt. Er hat viel Schlechtes getan, doch er starb geläutert.« Mythor lächelte dünn und schenkte dem Hünen einen dankbaren Blick. Farina saß mit dem Gesicht zur Wand auf dem nassen Boden und weinte leise. »Geh zu ihr«, sagte Mythor. Golad schüttelte den Kopf. »Hast du Rachamons Worte vergessen, Mythor?« fragte er leise. »Es war sein Wunsch, daß wir diese Insel verlassen, solange die Strömung von Sarmara wegführt.« »Ja«, murmelte der Sohn des Kometen, nahm Golads Hand 192
und drückte sie fest. Es fiel ihm schwer, sich vom Anblick des toten Ungeheuers freizumachen, nicht ins Wasser zu gehen und nach Rachamons Leiche zu suchen, den Schrecken zu vergessen. »Ja, mein Freund. Doch wir schaffen es nicht mehr. Wir sind wenige, und die Nacht ist schnell vorüber. Selbst wenn Sadagar und Chrandor mit anpacken würden…« »Ich glaube, du irrst dich«, widersprach Golad lächelnd. Dann hob er den Arm und zeigte hinaus aufs im Mondlicht silbern glitzernde Wasser der Bucht. »Sie kommen. Sie sind frei, und sie werden uns helfen, das Werk zu vollenden, Mythor.« Mythor sah sie. Mehrere Dutzend Köpfe stachen aus dem Wasser zwischen den Klippen, die die Gasihara hielten, und viele Arme teilten das Wasser. Die Männer von der Insel kamen nicht länger als Jäger. Mit dem Tod des Kraken und der dämonischen Macht, die er beherbergte, war auch der Bann erloschen, der sie zu willenlosen Geschöpfen gemacht hatte. Mythor sah noch viele unschlüssig auf den Klippen stehen, so, wie sie es getan hatten, als ihnen der Krake – aus welchen Gründen auch immer – verboten hatte, bis ans Wasser zu kommen. Mythor hörte kein Triumphgeschrei. Zu verwirrt waren diese Menschen noch, zu kalt war das Entsetzen, das sich in ihre Herzen schlich, als sie nun die schreckliche Wahrheit erkannten. Nur jene, die gelernt hatten, den Tod zu verachten, die vielleicht schon nahe daran gewesen waren, die Trugbilder zu durchschauen, ließen sich ins Wasser gleiten, umschwammen die aus dem Leck ragenden Reste des Kraken in weitem Bogen und kletterten an den Rudern empor. »Wir werden viele Zimmerleute haben«, sagte Golad. Chrandor stürzte die Treppe hinunter, sprang auf wie von Dämonen gehetzt, und rannte weiter, an Mythor vorbei, wobei er sich über eine Beule an der Stirn rieb. Sadagar tauchte hinter 193
ihm auf. Als er Mythor sah, blieb er stehen, schluckte und breitete sodann mit strahlendem Gesicht beide Arme weit aus. Und Mythor packte ihn, lachte und drehte sich mit Sadagar um die eigene Achse. Alle Anspannung der letzten Stunden machte sich jetzt auf einmal Luft. Der Krake war tot, seine Schrecken waren vergessen. Es gab wieder eine Zukunft für Mythor und seine Gefährten und für die Bewohner der Insel, auch wenn sie nun sehen mußten, daß ihr Paradies in Wahrheit ein ödes, unfruchtbares Land war. Aber sie lebten, und mit der Zeit würde es ihnen vielleicht sogar gelingen, Sarmara nach ihren Vorstellungen zu gestalten. Mythor aber zog es fort von hier. Er ließ Sadagar zu Boden gleiten, wehrte die Männer ab, die plötzlich überall um ihn herum waren und ihn, Golad und Sadagar als ihre Befreier feierten, und brachte sie schließlich dazu, mit Hand anzulegen an das neue Boot. Es gab noch viel zu tun, und der Mond wanderte weiter am sternenklaren Firmament.
Nach wie vor umschloß der Strudel die Insel wie ein Wall. Nur an einer Stelle, weit draußen vor der Bucht, bestand die Gegenströmung. Sie teilte das Wasser, und was sie von dem Eiland fortriß, strömte von den Seiten her nach, wo sich andere, verheerende Strömungen gebildet hatten. Das neue Boot ruhte fertiggestellt noch im Leib der Gasihara, die in der Bucht vor den Gewalten der entfesselten Elemente geschützt war. Doch als Mythor nun den Blick über das Meer schweifen ließ, beschlichen ihn Zweifel am Gelingen ihres Vorhabens. Es erschien ihm plötzlich, als fordere er die Elemente heraus. Er stand mit Sadagar, Chrandor, Golad und Farina auf einer der beiden Klippen, zwischen denen das Wrack der Lichtfähre festhing. Um sie herum saßen die Männer der Insel, zu denen 194
sich die Frauen und Kinder gefunden hatten, die es nach ihrem bösen Erwachen nicht länger allein dort hielt, wo sie ihr trügerisches Dasein gefristet hatten. Viele weinten und ließen mutlos die Köpfe hängen. Andere starrten grimmig hinaus auf den Strudel, in ihren Augen die wilde Entschlossenheit, dem grausamen Schicksal zu trotzen und den Kampf gegen die abartige Natur der Insel aufzunehmen. Zu Mythors Erstaunen aber waren die wenigsten von ihnen wirklich niedergeschlagen. Noch standen sie unter dem Eindruck der furchtbaren Veränderung, die sie hatten mit ansehen müssen, als sich ihr Paradies in ein Ödland verwandelte. Doch schon zeigte sich neuer Unternehmungsgeist in ihren Blicken und Gesten. Es war, als ob sie mit dem Verlöschen der Trugbilder ihre bislang sinnlose Existenz erkannt hätten und nun gerade beweisen wollten, daß sie auch ohne fremde »Hilfe« auf Sarmara überleben konnten. Zehn, zwölf Männer hatten sich von den anderen abgesondert und hinter Mythor und Sadagar aufgestellt. Sie wollten mit ihnen an Bord des Bootes gehen und in Logghard gegen die Mächte aus der Schattenzone kämpfen. »Es wird Zeit, Mythor«, drängte der Steinmann. Mythor nickte zögernd. Dann fand sein Blick Golad und Farina, die Hand in Hand am Rand der Klippe standen. »Wir haben uns entschlossen, auf Sarmara zu bleiben«, verkündete der Hüne mit sanfter Stimme. »Dies ist das Land, von dem wir träumten, Mythor, kein Paradies, aber ein Land, sicher vor den Nachstellungen derer, die die Lichtwelt zu dem gemacht haben, was sie nun ist. Wir werden es formen, und eines Tages vielleicht…« Er sah Farina an, und zum erstenmal lächelte das Mädchen wieder. Sie reichte Mythor die Hand, und gerührt drückte dieser sie. »Danke«, sagte Farina. »Danke für alles.« 195
»Auch ich habe euch zu danken«, sagte Mythor. »Für die Hoffnung, die ihr mir zurückgabt.« Sie blickte ihn verständnislos an, suchte in seinen Zügen zu lesen. Sadagar begann zu schimpfen und trat zwischen sie. »Willst du nach Logghard oder nicht?« krächzte er. »Mythor, du wirst noch hier stehen und träumen, wenn die Sonne aufgeht!« Gewaltsam machte der Sohn des Kometen sich frei von der eigentümlichen Stimmung, die ihn erfaßt hatte. Er drückte noch einmal Farinas Hand, dann umarmte er Golad. »Du hast wie immer recht, Sadagar. Gehen wir. Wo ist Chrandor?« Der Steinmann verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Wo soll er schon sein? Er will auch hierbleiben und versteckt sich irgendwo.« Sadagar hob die Stimme. »Aber er soll bloß nicht glauben, daß ich ihn vermissen werde, ihn und seine beiden Viecher!« Sadagar schien enttäuscht, als er keine Antwort erhielt. Mythor hielt es nun nicht mehr länger. Er schüttelte einigen Männern die Hände und wünschte den Zurückbleibenden, daß sich ihre Hoffnungen erfüllen mochten. Und als er an der Spitze seiner Gruppe die Klippen hinabkletterte, sah er im Licht des Mondes ein zartes Keimblatt, das noch die Samenkapsel trug, aus der es im fingerdicken Humus auf einem Vorsprung geschlüpft war. Es war wie ein Omen für die Insel Sarmara, für ihre Bewohner und all jene, die in Seenot gerieten und eines Tages ebenfalls als Schiffbrüchige hier stranden sollten. Mythor lächelte und kletterte weiter abwärts. Ja, er war sicher, daß dies durch die Arbeit und Begeisterungsfähigkeit der Zurückbleibenden doch noch eine Insel glücklicher Menschen werden würde – vielleicht sogar eine Insel des Lichts, ein Land der Liebe. Nicht nur die Menschen schienen mit dem Tod des 196
Kraken aus dessen unseligem Bann befreit worden zu sein. Auch die Insel selbst, ihre Natur, hatte seine dämonische Macht erstickt. Nun leuchteten die Sterne über Sarmara, und unter den warmen Strahlen der Sonne sollte sich neues, blühendes Leben entwickeln. Eine Insel des Lichts, eine weitere Bastion gegen die Mächte der Finsternis. Leone war eine solche, und in den Götterbergen des Karsh-Landes ging der Kleine Nadomir daran, eine weitere zu schaffen. Nottr war an der Spitze der Cirymer in die Wildländer des Nordens gezogen, und Mythor war zuversichtlich, daß der Barbar auch dort das Erbe des Lichtboten hochhalten würde und den Dunklen Mächten den Kampf ansagte. War es nicht das Wirken des Lichtboten gewesen, Fixpunkte über die Welt zu verstreuen, die bis heute den Dämonen und ihren Handlangern zu trotzen vermochten? Und war dies, was nun geschah, nicht etwas Ähnliches? Erfüllte er nicht schon den Willen des Lichtboten, indem er solche Bastionen zu schaffen half? Durfte er nicht der Zukunft zuversichtlich entgegenblicken, trotz der an allen Fronten vorrückenden Heerscharen der Finsternis? Mythor erschrak vor sich selbst. War er bereits so vermessen, sich mit dem zu vergleichen, der einstmals auf seinem Kometentier zur Welt herabgekommen war und das Böse in seine Schranken verwies? Solche Gedanken beschäftigten Mythor, bis er mit Sadagar und den zwölf Männern das Boot aus dem Leib der Gasihara ins Wasser der Bucht gebracht hatte. Dann jedoch, als er sich an eines der Ruder setzte und das Boot gemeinsam mit den anderen vom Wrack abstieß, sah er nur noch den Strudel vor sich und die schmale, reißende Wasserstraße, die sie zurück aufs offene Meer bringen sollte, aus dem Sarmara-Strudel hinaus in andere, tückische Gewässer. Jetzt, im Angesicht der 197
schäumenden Fluten, nahm sich das Unternehmen mehr als nur tollkühn aus. Eine Handvoll zu allem Entschlossener schickte sich an, die Elemente herauszufordern, und keine Magie würde sie schützen können. Dreißig Fuß lang war das Boot, gut zehn Fuß breit. Sechs Ruder auf jeder Seite schlugen gleichmäßig ins Wasser. Sadagar saß im Heck und bediente das Steuerruder. Eine winzige Nußschale in den mahlenden Wassern des mächtigsten Strudels, den die Seefahrt kannte, dachte Mythor ernüchtert. Ein Geschrei aus Hunderten von Kehlen hob auf den Klippen an, als die Männer sich in die Ruder legten. Mythor winkte ein letztes Mal. Doch eine Stimme übertönte alle anderen. »Sadagar, alter Schuft! Hast wieder einmal die leichteste Arbeit für dich ausgesucht! Hol dich das schrecklichste aller Seeungeheuer, wenn du die Kerle nicht sicher nach Logghard bringst. Denk dran, du bist jetzt ohne meinen Schutz!« Chrandor stand allein auf dem weitesten in die Bucht ragenden Vorsprung und winkte heftig. Sadagar grinste Mythor an. »Ich werd’s überleben, Pirat! Und du halte dich wacker! Möge das häßlichste aller alten Weiber dich in seine Hütte schleifen und…« Alles Weitere ging im Rauschen der Strömung unter, die das Boot in diesem Augenblick erfaßte und mitten hinein in den Strudel riß. Der Kampf gegen die Naturgewalten begann. Wie ein Stück Treibholz wurden sie fortgerissen. Rechts und links zirkulierten die Strudel, und voraus türmte sich der Wall aus Schaum und Wasser viele Mannslängen hoch auf. Mitten hinein riß es die Männer, die die Ruder hochgezogen hatten und Gebete sprachen, hilflos dem Willen ihrer Götter 198
ausgeliefert.
Das Boot schaukelte auf den Wellen wie eine Nußschale. Die Männer klammerten sich an den aus Planken gefertigten Sitzbalken fest oder legten sich flach auf den Boden. Sadagar hielt die Stange des Steuerruders im aussichtslosen Bemühen, auf den Kurs einzuwirken. Wasser spritzte viele Mannslängen hoch und schwappte über die Todesmutigen hinweg. Schauer aus silbern sprühender Gischt durchnäßten sie bis auf die Knochen. Mythor und einige andere waren unaufhörlich dabei, das Wasser aus dem Rumpf zu schöpfen, in eigens dafür mitgebrachten Bottichen, während das Schiff herumgewirbelt und gerüttelt wurde. Unglaublich schnell schoß es dahin, mit der Gegenströmung zum Strudel, in einer Rinne von vielleicht hundert Fuß Breite, einem mächtigen Strom, der alles mit sich fortriß, was er einmal erfaßt hatte. Hoch, drohend und doch gleichermaßen erhaben türmten sich die Wasser zu beiden Seiten dieser Strömung, und Mythor wußte, daß sie in dem Augenblick zusammenschlagen würden, in dem die unbegreiflichen Kräfte sich erschöpften, die den Strudel in dieser Nacht öffneten. Die Männer schrien und flehten ihre Götter um Beistand an. Mythor schwitzte trotz der Eiseskälte, schöpfte Wasser und wußte doch, daß all sein Bemühen umsonst sein mußte, würde das Boot nicht bald in ruhigere Gewässer gespült werden. Doch immer neue Wassermassen schoben sich heran, hoben es an und schleuderten es herum. Die Männer wußten bald nicht mehr, in welche Richtung die rasende Fahrt ging. Weiter fort von der Insel oder um sie herum, wieder auf die tödlichen Klippen zu? Zu allem Überfluß hob plötzlich ein Sturm an, der an den Haaren und Kleidern zerrte und die Eiseskälte bis in die 199
Herzen trieb. Die Schreie gingen unter im Tosen der Gewalten. Nichts war mehr zu sehen als Wasser und Schaum, eine gleißende, heulende Hölle, in der das winzige Boot hoffnungslos verloren schien. Mythor kämpfte. Er wußte, daß er lebte, solange Kraft in seinen Armen war. Wie ein Besessener schöpfte er Wasser, rutschte auf den nassen Planken aus und klammerte sich verzweifelt an den Brettern fest. Hinter sich sah er schemenhaft den Steinmann, wie er neben der Ruderstange lag und den Kopf in den Armen verbarg. Noch klirrender wurde die Kälte, und rüttelte an seinem bebenden Körper. Plötzlich riß der Himmel auf. Blitze zuckten herab und spalteten das nachtdunkle Firmament. Der Sturm heulte eine schaurige Melodie. Donner rollte schwer über die See. Mythor preßte die Hände an die Ohren, lag auf dem Rücken unter einer der schmalen Sitzbänke und hörte sein Schreien nicht. Irgendwann traf das Verhängnis das Boot, schnell und unerwartet. Eine Woge schob sich unter den Kiel und schien es den Sternen entgegenschieben zu wollen. Zu beiden Seiten wichen die Wasser zurück, sammelten sich in neuen Strudeln, türmten sich auf und begruben das Boot unter sich, als es, haltlos geworden, in den schäumenden Abgrund fiel und auseinanderbrach. Mythor erlebte das Ende nicht mehr bei Bewußtsein. An eine Planke geklammert, riß es ihn fort, spülte ihn an die Oberfläche und wirbelte ihn herum wie eine Puppe.
Als er das Bewußtsein wiedererlangte, brannte eine heiße Sonne auf ihn herab. Irgend etwas fühlte er zwischen den Armen, die noch taub waren, ganz ohne Gefühl bis auf… Eine Planke, ein Stück aus den Trümmern des Bootes. Er lag 200
darauf, ein Bein darübergeschoben und beide Arme fest darum geschlungen. Mythor hob den Kopf. In kleinen Bächen rann ihm das Wasser aus dem Haar, das über den Augen und im Nacken klebte. Er mußte husten und spucken. Er sah Meer, nichts als Meer bis hin zum Horizont. Kleine Wellen umspülten ihn, Millionen tanzender Lichter erwiderten den Gruß der Sonne. Und ein Gruß war es, den das Gestirn zu ihm herabschickte und ihn willkommen hieß unter den Lebenden. Er schrie auf, als die Erinnerung in ihm erwachte und die Benommenheit verdrängte. Er rutschte ab und schlug um sich wie ein Ertrinkender, wobei allmählich das Gefühl in seine Glieder zurückkehrte. Ausgelaugt war er und hungrig, furchtbar hungrig! Wie lange schon trieb er hier, in einem ruhigen Meer, weitab von Sarmara und dem Strudel? Wo waren die anderen? Wie viele hatten gleich ihm das Unglück überlebt? Mythor schob sich wieder auf das Brett und kniff die Augen zusammen. Es fiel schwer, auf den lichtergekrönten Wellen überhaupt etwas zu erkennen. Seine Augen schmerzten, so wie sein ganzer Körper. Er fühlte sich geschunden und gemartert, doch der Schmerz seines Körpers war nichts gegen die Verzweiflung, die ihn erfaßte, als ihm klar wurde, daß er allein war. Dennoch weigerte er sich, dies zu akzeptieren. Er rief nach Sadagar und den anderen Männern, mit denen er die Insel verlassen hatte. Er kannte sie nicht einmal alle beim Namen. Nur der schwache Wind antwortete und das leise Plätschern der Wellen, die an das Brett schlugen. Sie wollten ihn in einen neuen, tiefen Schlaf wiegen, und etwas in ihm war nur zu gerne bereit, ihnen zu folgen. Mythors Kehle war trocken und kratzte. Sein Magen knurrte, doch er hatte weder Nahrungsvorräte noch Trinkwasser. Hier herrschte nur eine 201
gelinde Strömung, und die Sonne mochte ein dutzendmal im Westen versinken, ehe er eine fremde Küste vor sich sah. Hoffnungslosigkeit machte sich in ihm breit, während er so dahinglitt, leicht geschaukelt wurde und Meeresluft atmete. Hatten sie das Wagnis auf sich genommen, nur um hier, mitten im feuchten Nirgendwo, qualvoll zugrunde zu gehen? Hatte ein grausames Schicksal ihn nur vor dem schnellen Ertrinken bewahrt, damit er seine letzten Stunden mit Selbstzweifeln und in der Erkenntnis seiner eigenen Bedeutungslosigkeit erlebte? Mythor bäumte sich dagegen auf. Nein, solange noch ein Funke Leben in ihm war, solange er atmen und denken konnte, wollte er sich nicht geschlagen geben! Zorn stieg in ihm auf. Mit einer Hand riß er sich das Wams auf und sah Fronjas verzerrtes Spiegelbild auf dem Wasser. Und ihr Mund schien sich zu öffnen, schien ihm zuzurufen: Gib nicht auf, Mythor! Kämpfe, Bruder des Lichtes! Kämpfe für dich und jene, deren Hoffnungen auf dir ruhen! Schaumperlen spritzten auf und regneten auf das Gesicht im Wasser herab, das nun wie ein Mosaik war, dessen Steine einer nach dem anderen erloschen. Mythors Hand fuhr hinein. »Bleib!« schrie er. Doch sie war bei ihm, durch unbegreifliche Bande auf ewig mit ihm verbunden. Sie gab ihm Kraft und neue Hoffnung, auch, als die Sonne versank und der Mantel der Nacht sich über ihn breitete. Ruhig trieb er weiter, und einige Male sah er andere Trümmerstücke in der Nähe treiben. Um Kraft zu sparen, blieb er mit gespreizten Beinen auf seinem Brett liegen und ruderte mit den Armen, bis er sie erreichte. Aber niemand klammerte sich an sie. Der zweite Tag auf See dämmerte herauf, und die Sonne verbrannte Mythors Gesicht und ließ seine Lippen aufplatzen. Der Hunger raste in seinen Eingeweiden, und er fühlte seine 202
Zunge anschwellen. Wie oft er Wrackteile in der Ferne sah, wußte er am Abend nicht mehr zu sagen. In Gedanken klammerte er sich an Fronja. Doch wann sah er endlich die Lichter einer Hafenstadt? War ein Schiff auf dem Weg über die Strudelsee? Abermals färbten die Strahlen der untergehenden Sonne das Firmament in der Farbe des Blutes. Abermals erschienen die Sterne, bedeckte das neblige Band den Himmel im Süden. Mythor konnte sich nicht länger wach halten. Er schlief ein, und böse Träume plagten ihn. Er sah sich selbst, wie er nach Süden trieb, immer weiter, immer näher heran an dieses neblige Band, das heller und strahlender wurde. Glühende Himmelssteine zogen ihre Bahnen am Firmament und schlugen zischend und rauchend neben ihm ins Wasser. Und er war nicht länger allein. Sadagar schwamm neben ihm. Er brauchte nur die Hand nach dem Steinmann auszustrecken, um ihn zu berühren. Er konnte die Stimme des Freundes hören. »Mythor…« Die Stimme rüttelte an ihm, schob sich immer mehr ins Zentrum seiner Träume, wurde lauter… lauter… Mythor riß die Augen auf, doch da waren keine Himmelssteine mehr über ihm, kein glühendes Band. »Mythor! Bei Erain, so höre doch!« Und das war keine Traumstimme! Der Sohn des Kometen drehte unter Schmerzen sein Haupt und sah den Steinmann, wie er sich gleich ihm an ein Trümmerstück des Bootes klammerte und eine Hand nach ihm ausstreckte. Mythor lachte wie einer, dessen Geist von Finsternis umnebelt war, und griff nach ihr. Seine Finger fuhren nicht hindurch. »Sadagar!« flüsterte er heiser. »Bei Quyl, du bist es wirklich.« »Wir sind gerettet, Mythor!« hörte er wie aus weiter Ferne. »Sieh doch die Lichter! Das ist ein Schiff!« Ungläubig starrte Mythor den Gefährten an. Dann folgte sein 203
Blick Sadagars ausgestreckter Hand, und er sah den riesigen Schatten in der anbrechenden Morgendämmerung. »Schrei, Sadagar«, flüsterte er. »Schrei, wie du es noch nie im Leben getan hast!« Das Boot erreichte die Schiffbrüchigen, als die Sonne ihre Strahlen schon über das endlos erscheinende Meer schickte. Mythor, dessen Lungen brannten und dessen Stimme kaum mehr als ein Krächzen war, erblickte ein halbes Dutzend kräftiger Männer an den Rudern. Wenig später ergriff er eine ausgestreckte Hand und ließ sich völlig erschöpft an Bord ziehen. Sadagar folgte ihm auf die gleiche Weise. Die Seefahrer waren schweigsam. Nur ihre Blicke schienen Mythor und Sadagar durchdringen zu wollen. Einer der Männer kam heran und flößte ihnen Trinkwasser ein. Mythor schluckte es gierig hinab, lächelte schwach zum Dank und verzichtete darauf, jetzt irgendwelche Fragen zu stellen. Früh genug würde er erfahren, welches Schiff ihren Weg gekreuzt und ihre verzweifelten Hilferufe gehört hatte. Sie waren gerettet, nur das zählte. Und doch berührte ihn der Anblick des mächtigen Schiffsleibs seltsam, als das Boot es erreicht hatte und andere Männer lange Seile herabwarfen – Männer, wie Mythor sie zu kennen glaubte, ebenso wie die an beiden Seiten des Schiffes angebrachten langen Ruderbänke und das Knallen von Peitschen. Eines der Seile wurde ihm um den Leib gebunden, ein zweites dem Steinmann. Nacheinander fühlten sie sich emporgerissen und hochgehievt. Mythors Sinne klärten sich. Allein die Stimmen anderer Menschen gaben ihm neue Kraft und bannten das schreckliche Gefühl der Verlorenheit. Auf der Ruderbank griffen starke Arme nach den Schiffbrüchigen, halfen ihnen, sich aufzurichten, und befreiten sie von den Seilen. Noch schwach auf den Beinen, folgten 204
Mythor und Sadagar den Seefahrern an Deck, während hinter ihnen das Boot hochgezogen wurde. Mythor blieb stehen und schüttelte ungläubig den Kopf, als er den Kapitän vor dem Decksaufbau stehen sah, einen Hünen mit blauschwarzer Haut und enganliegender, gepanzerter Kleidung aus Echsenleder, die grünlich schillerte. »Jejed!« entfuhr es dem Sohn des Kometen. »Aber das ist… Jejed ist tot…« Der Morone lachte dröhnend, sah zu seinen Leuten hinüber und nickte heftig, beide Fäuste in die Hüften gestemmt. »Jejed ist tot, mein unbekannter Freund«, sagte er. »Aber wie es scheint, überlebten eine Menge anderer den Untergang der Gasihara.« »Woher weißt du…?« Der Kapitän winkte ab und bedeutete Mythor und dem Steinmann, ihm in seine Unterkunft zu folgen. Als sie um einen breiten Tisch herum auf roh gezimmerten Hockern saßen, schob er ihnen zwei Schüsseln mit Brei herüber. Es war der gleiche unappetitliche Brei, wie er den Legionären auf der Gasihara verabreicht worden war, doch Mythor verschlang ihn wie eine große Köstlichkeit. »Ihr beide seid nicht die ersten, die wir aus diesem verdammten Gewässer fischten«, berichtete der Kapitän, während er Mythor und Sadagar beim Löffeln zusah. »Mit euch sind’s nun fünf, die wir fanden. Sie haben viel geredet. Ihr wolltet nach Logghard, und genau dorthin werde ich euch bringen.« Er machte eine Pause. »Sagt, was ist aus eurem Magier geworden? Stimmen die Geschichten, die mir erzählt wurden? Natürlich nicht der Unsinn von einer Insel inmitten des Sarmara-Strudels. Daß sich das Böse an Bord schlich und euren Seemagier in den Wahnsinn trieb, meine ich. Ihr müßt wissen, Rachamon galt als einer der Besten unter seinesgleichen.« 205
Mythor setzte die Schüssel ab und fuhr sich mit der Hand über die gesprungenen Lippen. »Es ist so«, flüsterte er. »Doch allein Rachamon verdanken wir unsere Rettung.« Mehr war er nicht bereit zu sagen. Sollte dieser Morone ruhig glauben, es gäbe keine Insel im Strudel. Mythor war inzwischen längst klar, daß er und Sadagar sich wieder auf einer Lichtfähre befanden. Der Kapitän starrte sie eine Weile lang abwechselnd an. Dann schlug er mit der mächtigen Faust auf den Tisch. »Unsinn! Ich rettete euch vor dem Ersaufen! Und sobald ihr wieder bei Kräften seid, werdet ihr mir den Dank dafür auf den Ruderbänken abstatten. Ihr seid auf der Halmash und mit ihr auf dem Weg nach Logghard. Man wird über fünf weitere Legionäre erfreut sein.« Damit gab der Kapitän seinen wartenden Männern einen Wink, Mythor und Sadagar unter Deck zu bringen. Sie waren wieder da, wo sie angefangen hatten. Doch das berührte Mythor jetzt nicht. Er wollte schlafen, nur schlafen…
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Ernst Vlcek
SCHATTENJAGD Deddeth Was aus dem Dunkeln kommt und das Licht kennengelernt hat, seine unzähligen Farben und Formen, das kann sich nicht mehr mit einem Schattendasein zufriedengeben. Und etwas, das einen Geschmack von der Vielgestaltigkeit des Lebens bekommen hat, muß seine eigene Körperlosigkeit als Verdammnis empfinden. Dieses Etwas hatte seine Geburtsstunde im Hochmoor von Dhuannin erlebt, als die Heere des Dunkels und des Lichts aufeinanderprallten. Es mochte bloß eine glückliche Fügung gewesen sein, daß zum Zeitpunkt des großen Sterbens ein Stein vom Himmel fiel, worin Etwas als unfertiges Schattending eingeschlossen war. Möglich aber auch, daß höhere Mächte dahintersteckten und einen bestimmten Plan damit verfolgten. Etwas wußte es nicht, es kam überhaupt erst nach und nach dahinter, daß im Hochmoor von Dhuannin eine große Schlacht im Gange war, als der Himmelsstein einschlug und aufbrach -und es freigab. Etwas erkannte erst allmählich, daß es die Lebenskräfte der sterbenden Krieger aus beiden Lagern waren, die auf es einströmten und es stärkten. Etwas sog gierig so viel von dieser Kraft in sich auf, bis es selbst zu etwas Lebendigem wurde, dem zur Fertigkeit nur noch ein Körper fehlte. Und aus Etwas wurde ein Deddeth. 207
Der Deddeth hielt Umschau in der Galerie des Lebens, aber je mehr Körper er schaute, desto wählerischer wurde er. Der Körper, den er zu seinem machen wollte, mußte ohne Fehl und Makel sein, ohne Schwächen und Gebrechen. Der Deddeth wollte nur das Beste vom Besten. Endlich entdeckte er in Mythor solch einen Körper, und er sah es von nun an als seine Bestimmung an, diese vollendete Lebenshülle als Sitz seines dunklen Geistes zu erwählen. Der Deddeth stürzte sich in blinder Gier auf sein Opfer, jagte ihm nach, als es ihm entfliehen wollte, und focht gegen den Geist einen erbitterten Kampf, als dieser sich als überaus widerspenstig erwies. Endlich, an einem Ort, weit vom Hochmoor entfernt, gewann der Deddeth die Oberhand und glaubte, den begehrten Körper fest in seiner Gewalt zu haben. Gewiß war es von tieferer Bedeutung, daß der Ort seines Triumphs ebenfalls von einem aufgebrochenen Himmelsstein gekennzeichnet war, von einem Stein, der eine lähmende Wirkung auf sein Opfer hatte, so daß der Deddeth leicht in dessen Körper schlüpfen konnte. Er war nun in Mythor, konnte aber weder seinen Körper steuern noch seinen Geist unterdrücken. Und bevor der Deddeth Mythors Widerstand endgültig brechen konnte, wurde er durch Einflüsse von außen wiederum verjagt und mußte aus Mythors Körper fliehen. Doch der Deddeth gab sich nicht geschlagen. Nachdem er das Gefühl kennengelernt hatte, einen Körper zu besitzen, lechzte er mehr denn je danach. Und er setzte die Jagd auf Mythor fort, hetzte ihn durch die unendlichen Weiten dieses Landes, das so ganz anders war als das Schattenreich, stellte ihm nach und wartete auf seine Gelegenheit. Es war unstillbare Begierde, Raserei geradezu, die den Deddeth vorantrieb. Auf seiner Wanderung, dabei von 208
Schatten zu Schatten springend, die das Leben der Lichtwelt abwarf, hatte er oft genug Gelegenheit, sich irgendeinen beliebigen Körper zu beschaffen. Doch solche Zufallsbegegnungen nutzte er nur dazu, sich von diesen Opfern jene Energie zu holen, die er zum Leben brauchte. Dadurch wurde er stark und mächtiger und seiner Bestimmung immer mehr gewachsen, die da lautete: Hol dir Mythors Körper – er ist dein! Für den Deddeth machte es keinen Unterschied, ob übergeordnete Mächte der Schwarzen Magie ihn lenkten. Er ging nie in sich, um sich zu fragen, ob er sich diese Aufgabe selbst gestellt hatte oder ob er in fremdem Auftrag handelte. Es zählte nur, daß er sein Ziel erreichte. Dafür wagte er alles, nutzte alle seine Möglichkeiten aus und setzte seine stärker werdenden Fähigkeiten in vollem Umfang ein. Seine Bindung an Mythor war bereits so stark, daß er ihn selbst über große Entfernungen der Lichtwelt wahrnehmen konnte. Und so war es ihm ein leichtes, seinem auserwählten Opfer zu folgen, als dieses sich in einem großen, bauchigen Ding auf die wirbelnden Wasser der Strudelsee hinauswagte. Dieses Wassergefährt, Lichtfähre genannt, war mit vielen anderen von Mythors Art besetzt, deren sich der Deddeth bedienen konnte, um sich an sein Opfer heranzumachen. Endlich bekam der Deddeth eine neue Chance, als er erreichte, daß Mythor, in eine Lederblase eingenäht, in die Fluten geworfen wurde. Aber da mischte sich auf einmal wieder eine fremde Kraft von außen ein, die ihm die Beute entriß und an unbekannte und unerreichbare Gestade spülte. Noch immer fühlte sich der Deddeth durch die unsichtbaren Bande mit Mythor verbunden, doch konnte er ihm nicht zu der Insel folgen, weil dort eine Macht herrschte, die ihm den Weg versperrte. Der Deddeth lauerte in der Ferne, enttäuscht und verbittert; 209
voll Zorn und Haß mußte er zusehen, wie die Inselmacht Mythor in ihr Netz verstrickte. Er wurde von wechselnden Empfindungen hin und her gerissen, war einmal nahe daran, einen anderen Menschenkörper als Sitz zu erwählen, und wäre dann wiederum beinahe in das Schattenreich zurückgekehrt, aus dem er stammte. Aber er war unfähig, sich zu irgendeiner Entscheidung durchzuringen. Und dann geschah das Unglaubliche: Mythor kam aus eigener Kraft wieder frei, besiegte die Inselmacht und glitt auf einer der Strömungen erneut hinaus in die Strudelsee. Das Warten hatte sich gelohnt. Der Deddeth durfte wieder hoffen, seine Bestimmung zu finden und in dem begehrten Körper ein Jemand zu werden. Diese dritte Chance wollte sich der Deddeth nicht entgehen lassen, denn vielleicht war es die letzte. Die Schatten der Wasserlebewesen nutzend, eilte er den Weg voraus, den auch sein Opfer nehmen mußte, und erreichte schließlich wieder festes Land. Dieses neue, fremde Land war ein Ort des pulsierenden Lebens. Hier sprudelte der Quell der Lebenskraft in solchem Übermaß, daß der Deddeth förmlich davon berauscht wurde. Er mußte stark an sich halten, um nicht wahllos hineinzugreifen in die Lebensflut. Er konnte aber seine Begierde zügeln und fand allmählich seine innere Ruhe wieder. Nun hielt er erst einmal Umschau, damit er seinen Standort bestimmen konnte. Zu diesem Zweck drang er in den Schatten eines menschlichen Lebensträgers ein und schlich sich in dessen Geist. Was für ein herrliches Gefühl das war, die Lichtwelt durch die Augen eines ihrer Bewohner zu betrachten. Es war immer aufs neue ein unbeschreibliches Erlebnis, diese Fülle von Farben und Formen zu schauen, anstatt sie durch die Deutung von Schattenbildern zu erahnen. Die Erbärmlichkeit 210
seines Daseins wurde ihm auf diese Weise deutlich, und er mußte an sich halten, um nicht tiefer in den Geist seines Wirtes einzudringen und sich nicht in seinem Körper niederzulassen. Deine Bestimmung ist es, Mythors Körper in Besitz zu nehmen! Er brauchte sich dies nur fest genug einzuhämmern, dann fiel es ihm leichter, von diesem Körper abzulassen und zu seinem Wirt auf Abstand zu bleiben. Er hieß Behlem und war ein hellhäutiger Basakoter von mittelgroßer Gestalt. Die dunkelhäutigen Menschen dieses Landes, das Moro-Basako hieß, waren die Moronen. Früher, bis vor einem halben Menschenalter, hatten diese beiden Völker gegeneinander um die Vorherrschaft gekämpft. Aber dann hatte Shallad Rhiad sie dazu gezwungen, Frieden zu schließen, und hatte gleichzeitig ihr Land in sein großes Reich eingegliedert. Behlem war nun schon über einen Mond in dieser Stadt, die Tambuk hieß. Tambuk war die Hauptstadt von Moro-Basako, lag in einer Bucht der Strudelsee und wurde von den vier Armen des Stromes Ghalin umschlossen. Dieses Wissen holte sich der Deddeth aus Behlems Geist, während dieser dem bunten Treiben im Hafen zusah, wo die Galeeren ankerten. Es waren fast durchwegs Händlerschiffe, die die Strudelsee befuhren und hier ihre Ladungen löschten, die sie aus dem Norden mitgebracht hatten. Zwei Schiffe liefen gerade aus, ein anderes fuhr in das Hafenbecken ein. Ein viertes Schiff fuhr weit draußen stromaufwärts. An den seltsamen Decksaufbauten und dem bauchigen Rumpf war es als Lichtfähre zu erkennen, die Legionäre für Logghard brachte. Behlem dachte kurz daran, daß die Lichtfähre den Ghalin bis zum See Nehred hinauffahren würde, um in der Stadt Nebruk die Legionäre an die Yarl-Führer zu übergeben. Aber diese Dinge beschäftigten ihn eigentlich nicht. Er hatte kein Auge 211
für das hektische Hafenleben, er nahm die wogenden Menschenmassen, den Lärm und die Gerüche kaum wahr. Ihm stand der Sinn nach etwas ganz anderem, seine Augen suchten in der Menge etwas ganz Bestimmtes. Es zog ihn wieder hinaus ins weite Land, zu den Bergen von Rafhers Rücken, wo sein Stamm seine Zelte aufgeschlagen hatte. Behlem war mit drei jungen Orhaken nach Tambuk gekommen, die wild eingefangen worden und noch nicht gezähmt waren. Er hatte sie zu einem guten Preis verkaufen können und war so lange geblieben, bis sich die jungen Wildtiere an ihre neuen Besitzer gewöhnt hatten. Nun war seine Arbeit getan, es hielt ihn nichts mehr in der Stadt, er wollte zu seinem Stamm zurück. Ihn gelüstete jedoch danach, noch ein letztes Mal die Freuden von Tambuk auszukosten. »Isga!« rief er, als er in der Menge endlich die Frau entdeckte, nach der er die ganze Zeit über Ausschau gehalten hatte. »Isga, daß ich dich endlich finde!« Sie blieb stehen und drehte sich lächelnd nach ihm um, winkte ihm zu und wollte mit wiegenden Hüften weitergehen. Aber Behlem holte sie ein und erklärte ihr, daß er aus Tambuk nicht fortgehen wolle, ohne ein Stündchen in ihrer Gesellschaft verbracht zu haben. Sie aber lachte ihn aus und rief: »Du stinkst mir heute zu sehr nach Vogelmist. Was soll ich mit einem, der unter den Schwanzfedern von Orhaken herumkriecht? Ich will einen ganzen Kerl, einen richtigen Mann!« »Wenn du Ganif suchst, dann kommst du zu spät«, sagte Behlem. »Ich war dabei, als er sich Legionäre von Bord einer Lichtfähre holte und daraufhin sagte, daß er nun keine Leute mehr benötige, um des Shallads Willen zu erfüllen. Er hat Tambuk inzwischen verlassen und wird bereits in seinem Lager sein. Willst du nicht doch mit mir vorliebnehmen?« »Was ist das für ein seltsamer Ausdruck in deinen Augen?« 212
fragte Isga und betrachtete ihn mißtrauisch. Der Deddeth zog sich schnell tiefer in Behlem zurück, um sich nicht zu verraten. Sofort schwand das Mißtrauen aus dem Gesicht der Frau wieder; Isga gab seinem Drängen nach, ohne zu wissen, daß er sie schamlos belog. Es war wohl richtig, daß Ganif eine Lichtfähre angehalten hatte, um an die zwanzig Legionäre für seinen Feldzug gegen die Ungläubigen von Bord zu holen. Aber er war daraufhin nicht sogleich in sein Heerlager außerhalb der Stadt zurückgekehrt, sondern hatte eine Schenke drei Straßen weiter aufgesucht. Dort feierte er vermutlich immer noch mit einigen seiner Krieger. Das verschwieg Behlem wohlweislich, um sich seinen Wunsch erfüllen zu können. Doch was für den Orhako-Händler ein Vergnügen gewesen wäre, war für den Deddeth nur Zeitverschwendung. Er wartete, bis die beiden in eine stille, menschenleere Seitengasse einbogen, dann zehrte er seinen Wirt auf. Das ging so schnell, daß Isga nicht mehr die Zeit hatte, auch nur einen Laut von sich zu geben, als sie sah, wie sich Behlem vor ihren Augen von einem lebenden Wesen in ein runzeliges, vertrocknetes Etwas verwandelte. Isga war vor Entsetzen so gelähmt, daß sie dem Deddeth keinerlei Widerstand bot, als er in sie einschlug und ihr seinen Willen aufzwang. Sie wirkte nur ein wenig benommen, als sie in die belebte Hafenstraße zurückkehrte. Doch das merkte niemand, und noch vor Erreichen der Schenke, in der Ganif Labsal und Entspannung suchte, war ihr Schritt wieder locker und der Schwung ihrer Hüften so verführerisch und herausfordernd wie ehedem. Auf Ganif jedenfalls verfehlte sie ihre Wirkung nicht. Er war ein großer, kräftiger Morone mit beinahe blauschwarzer Haut. Seine Rüstung aus schön gezeichnetem, edlem Echsenleder gab seiner stattlichen Erscheinung 213
zusätzlich etwas Würdevolles, auch wenn er nicht mehr ganz sicher auf den Beinen war. Bei Isgas Anblick stieß er die anderen Weiber, die seinen Tisch belagerten, fort und zog sich unter dem Gegröle seiner vier Tischgenossen, alles Krieger des Shallads wie er, mit Isga in einen Nebenraum zurück. Der Deddeth ließ Isga schnell die Tür schließen und sich von Ganif in die Arme nehmen. Schon bei der ersten Berührung wechselte der Deddeth von der Frau in den Krieger über. Isga brauchte dabei nicht zu sterben, denn sosehr der Schatten auch nach der Lebenskraft ihres Körpers gierte, so unterdrückte er diesmal seine Begierde. Er hatte gelernt, daß es manchmal besser war, zu verzichten und keine verräterischen Spuren zu hinterlassen. So erwachte die Frau nur wie aus einem bösen Traum, an den sie sich kaum erinnern konnte. Ihr Gesicht drückte Verwirrung und eine heimliche Angst aus, die sich allmählich in Entsetzen verwandelte, als sie Ganifs Blick kreuzte. Wahrscheinlich fand sie in seinen Augen das Unheimliche wieder, das gerade sie selbst beherrscht hatte, ohne es jedoch benennen zu können. Mit einem Aufschrei stieß sie den dunkelhäutigen Hünen von sich und floh. Der Deddeth ließ sie gewähren und kehrte in den Schankraum zurück, wo sich Ganif einige anzügliche Bemerkungen seiner Freunde darüber gefallen lassen mußte, daß Isga vor ihm Reißaus genommen hatte. Der Deddeth sah sie der Reihe nach mit Ganifs Augen an und erfuhr dabei gleichzeitig ihre Namen aus seinem Gedächtnis. Sie hießen Janshar, Aburd, Fanhaj und Madahim und standen in einem niedrigeren Rang als Ganif. Auch trugen sie keine Echsenrüstungen. »Was ist denn in dich gefahren, daß du auf einmal so ernst wirkst?« erkundigte sich Janshar. 214
Der Deddeth geriet für einen Moment in Aufruhr, weil er dachte, daß der Krieger sein Spiel durchschaute. Doch dann erkannte er, daß Janshar das nur so dahersagte. »Wir warten noch das Eintreffen der nächsten Lichtfähre ab«, ließ er Ganif sagen. »Es kann nichts schaden, wenn wir uns noch mit einigen Legionären verstärken, bevor wir in den Kampf ziehen.« Seine Männer waren über diese Entscheidung verblüfft, aber keiner wagte es, sich dagegenzustellen.
Ganif hatte sich mit seinen Männern zu dem Pferch begeben, wo ihre Reitvögel untergebracht waren. Jedes der fünf Orhaken hatte eine eigene Koppel, und sie trugen zusätzlich ihre Hauben, damit sie sich nicht gegenseitig zur Raserei brachten. Daneben standen noch zwei Diromen zur Verfügung, von denen jedes gut ein Dutzend Männer tragen konnte. Als sich Ganif seinem Orhako Federdorn näherte, wurde es trotz der Haube unruhig und hieb mit dem mörderischen Schnabel blind in seine Richtung. »Du hast zuviel getrunken, Ganif, darum mag dich dein Liebling nicht«, stichelte der Vogelhüter Amharun. Der Deddeth zog sich tiefer in Ganif zurück, woraufhin sich das Orhako sofort wieder beruhigte. Es hatte die Nähe des Schattens gespürt und gemerkt, daß mit seinem Herrn irgend etwas nicht stimmte. Der Deddeth nahm sich vor, in Gegenwart des Laufvogels zurückhaltender zu sein und Ganifs Zügel so weit zu lockern, daß er ihn gerade noch in seiner Gewalt hatte. »Brav, Federdorn«, raunte Ganif seinem Orhako zu und kraulte es am hellen Halsflaum. Das Tier senkte seinen behaubten Kopf, rieb seinen grell bemalten Schnabel an Ganifs 215
Gesicht und ließ die Zunge vorschnellen. Ganif griff lachend danach und hielt die zuckende Zunge in der Faust fest. Der Laufvogel gab einige krächzende Laute von sich und sträubte unter der Haube die Kopffedern. Das war das Zeichen für Ganif, von ihm abzulassen. Der Deddeth hielt sich im Hintergrund und beobachtete die Verhaltensweise des Vogelreiters, um sie später übernehmen zu können. Es war wichtig, daß Ganif sich durch nichts verriet. »Eine Lichtfähre kommt!« Ganif wandte sich um und sah den Boten in die Koppel kommen, den er zum Hafen geschickt hatte. Es war ein ärmlich gekleideter Junge, den Ganif von früher kannte und den er schon öfter mit kleineren Aufgaben betraut hatte. »Weißt du, um welche Lichtfähre es sich handelt?« fragte Ganif wie nebenbei. »Es ist die Halmash«, behauptete der Junge. »Woher willst du das wissen, Bengel?« erkundigte sich Madahim. »Du kannst doch nicht einmal lesen.« »Ich kenne alle Lichtfähren und kann sie an bestimmten Kleinigkeiten voneinander unterscheiden«, erklärte der Junge stolz. »Ich weiß, daß die Halmash in den Hafen einfährt. Der Kapitän heißt Gonned.« Die Halmash! Der Deddeth erschauerte in seinem Wirtskörper, als er seine unsichtbaren Schattenfühler ausstreckte und die Nähe seines Opfers fühlte. Er konnte die Ausstrahlung von Mythors Körper ganz deutlich spüren. »Aufsitzen!« befahl Ganif und sprang auf den Rücken seines Laufvogels. Federdorn hatte die Beine eingeknickt, so daß sein Herr mühelos aufsitzen konnte. Ganif schnippte dem Jungen noch eine Münze zu, dann nahm er Federdorn die Haube ab und ritt an der Spitze seiner Leute aus der Koppel. Aburd und Fanhaj führten die beiden Diromen an den Zügeln mit; die Lastenvögel mit ihren 216
Rückentragen, auf denen je sechs Reiter bequem Platz hatten, setzten sich behäbig in Bewegung. Die Menge schrie auf, als die Vogelreiter herangeprescht kamen, und wich panikartig auseinander, so daß sich eine breite Gasse bildete. Sie erreichten den Hafen gerade, als die bauchige Lichtfähre mit ihnen auf gleicher Höhe war. Ganif lenkte Federdom bis zum Ende eines weit in das Hafenbecken reichenden Steges hinaus und zügelte ihn erst im letzten Moment. Die Lichtfähre war nun nur noch einen Steinwurf entfernt, so daß Ganif Einzelheiten erkennen konnte. An den Bugaufbauten stand eine hoch aufgerichtete, mantelverhüllte Gestalt – das mußte der Seemagier sein. Etwas dahinter, vor dem verwinkelten Gestell mit den Schlafsäcken für die Mannschaft, lehnte ein dunkelhäutiger Mann in einer Echsenrüstung an der Reling und blickte herüber. Ganif winkte ihm und rief: »Im Namen Shallads, legt an!« Der Mann, ohne Zweifel Kapitän Gonned, hob die Hände zu einem Trichter an den Mund und rief zurück: »Wir haben Legionäre für Logghard an Bord und fahren bis zum See Nehred durch. Was wollt ihr von uns?« »Im Namen Shallads!« rief Ganif wieder und gab seinen Männern ein Zeichen. Janshar und Madahim waren von ihren Orhaken gestiegen. Jeder von ihnen schwang eine der Fahnen mit der roten Sonne. Damit signalisierten sie dem Kapitän der Lichtfähre, daß Ganif eine Sondervollmacht des Shallad Hadamur habe, die es ihm erlaube, eine beliebige Zahl von Legionären und Kriegern unter sein Kommando zu stellen. »Zu den Dämonen mit euch!« rief Gonned wütend herüber. »Wir legen an!« Gleich darauf hallten Befehle von der Lichtfähre herüber. Die Ruder wurden aus dem Wasser gehoben und hochgestellt, das 217
Steuerruder hart an Backbord geschwenkt – und die Halmash drehte in scharfem Winkel bei. Es dauerte noch seine Zeit, bis sie längsseits der Anlegestelle stand und die Haltetaue herüberflogen. Kaum waren die Planken ausgelegt, da kam der Kapitän wütend über sie getrampelt. Er schimpfte und fluchte und verstummte auch nicht, als Ganif ihm wortlos die Vollmacht mit dem Siegel des Shallads überreichte. Gonned überflog das Pergament, dann blickte er zu Ganif auf und sagte: »Was kümmert mich dein Feldzug gegen ungläubige Bergstämme? Bei mir kannst du dich nicht verstärken, ich habe fast nur Dämonenfutter an Bord. Außerdem habe ich mich verspätet, weil ich fünf Schiffbrüchige aufgelesen habe.« »Vielleicht wären das Kämpfer für mich«, sagte Ganif. »Ich möchte sie sehen.« »Komm an Bord!« Ganif folgte dem Kapitän über die Planken aufs Schiff. Überall zwischen den Aufbauten kauerten ausgemergelte Gestalten, in der Mehrzahl Frauen und betagte Männer. Aber auch die Ruderer auf den Galeerenbänken befanden sich in keinem viel besseren körperlichen Zustand. »In Logghard findet jeder Verwendung«, erklärte Gonned fast entschuldigend. »Und wenn er nicht kämpfen kann, dann ist er immer noch als Dämonenfutter gut.« Eine hohlwangige Frau, die seine Worte gehört hatte, blickte ängstlich auf und preßte sich zitternd an ihren Nebenmann. Aber sie fand nicht viel Trost bei ihm, denn er war selbst völlig verängstigt und schluchzte trocken auf. »Elendes Pack! Wie sollen wir mit euch gegen die Dunklen Mächte aus der Schattenzone siegen?« schimpfte Gonned. An Ganif gewandt fügte er hinzu: »Nimm dir so viele Männer, wie du brauchst. Aber mach schnell. In spätestens vier Tagen muß ich am See Nehred sein.« 218
Ganif schritt durch die Reihen der Legionäre, und wo er einen halbwegs kräftigen Mann entdeckte, deutete er auf ihn und ließ ihn von seinen Begleitern von Bord schaffen. Er war nicht besonders wählerisch, denn er suchte nach einem ganz bestimmten Opfer… Und der Deddeth wies ihm den Weg zu Mythor, dessen immer stärker werdende Ausstrahlung ihn leitete. Endlich stand Ganif vor ihm. Der Deddeth in ihm verfiel bei seinem Anblick beinahe in Raserei. Mythor war zerschunden, seine Lippen waren gesprungen, sein Gesicht noch leicht aufgequollen. Er saß auf einer Ruderbank, die er mit einem alten Mann und einem Halbwüchsigen teilte. »Der hier und der!« sagte Ganif, während er bestimmend auf Mythor und dann ungewiß irgendwohin deutete. Dann wandte er sich abrupt ab – der Deddeth nötigte ihn dazu, denn er fürchtete, daß das Zucken in Ganifs Gesicht Mythor mißtrauisch machen könnte. Ganif wartete nicht erst, bis Mythor von der Ruderbank geholt wurde, sondern ging schnell von Bord und schwang sich auf Federdorn. Vom Rücken seines Reitvogels aus beobachtete er die weiteren Geschehnisse, um sich davon zu überzeugen, daß Mythor wirklich unter den Legionären war, die er zu seiner Kampftruppe abkommandiert hatte. Alle anderen waren ihm egal – der Deddeth in seinem Körper fieberte danach, endlich Mythors Körper zu übernehmen. Aber er gemahnte sich zur Vorsicht. Dies war nicht der richtige Ort, es gab zu viele Zeugen. Es würde sich später noch eine bessere Gelegenheit bieten. Der Deddeth hatte Zeit; jetzt, da sich Mythor in seiner Gewalt befand, brauchte er nichts mehr zu überstürzen. Keine Macht dieser Welt konnte ihm mehr den begehrten Körper streitig machen. Ganif schreckte hoch, als auf den Planken ein Tumult entstand. Der Deddeth in ihm geriet in Aufruhr, als er 219
erkannte, daß Mythor darin verwickelt war. »He, du Vogelscheuche, dich kann Ganif nicht gemeint haben«, rief Madahim und hielt den alten Mann zurück, der neben Mythor die Ruderbank gedrückt hatte und ihm nun wie ein Schatten folgte. »Aber gewiß hat er mich gemeint!« rief der Alte mit keifender Stimme. »Er hat ein gutes Auge, dein Ganif, das ihm sofort sagte, daß in mir eine Kriegernatur steckt. Wenn es darauf ankommt, dann kämpfe ich für zwei.« Ganif gab Madahim einen Wink, denn er wollte endlich ins Lager zurückkehren und so rasch wie möglich aufbrechen. Der Deddeth drängte ihn dazu. »Na, wenn du unbedingt willst, Alter«, sagte Madahim. »Aber glaube mir, du wirst dich noch nach der Ruderbank zurücksehnen.« »Ich bin ein Steinmann und habe mein Leben Shallad Hadamur verschrieben«, behauptete der Alte würdevoll. »Mir ist es gleich, wo ich für ihn kämpfe.« Es waren insgesamt zwölf Legionäre, die auf die Tragegestelle der Diromen verteilt wurden. Es entging Ganif nicht, daß der Alte, der den Mund so voll nahm, es geschickt so einrichtete, daß er dem gleichen Diromo wie Mythor zugeteilt wurde. Aber der Deddeth schenkte dem keine besondere Beachtung. Von einem Greis würde er sich gewiß nicht daran hindern lassen, sein Ziel zu erreichen. Bald schon würde er Mythors Körper in Besitz nehmen. Ganif feuerte Federdom zu größerer Eile an, und das Diromo flog förmlich durch die Straßen Tambuks, erschrockene Menschen in panikartiger Flucht vor sich hertreibend, und überquerte endlich die Brücke über den Ghalin, an dessen anderem Ufer das Heerlager errichtet worden war. Dort erfuhr Ganif, daß sie während des Rittes einen Legionär verloren hatten. 220
»Du mußt dich vor diesem Ganif in acht nehmen«, raunte Steinmann Sadagar Mythor ins Ohr. »Der Morone scheint es auf dich abgesehen zu haben.« Mythor nickte nur. Sadagar saß hinter ihm auf dem Rücken des Diromos. In dem Tragegestell auf der linken Flanke des bulligen Laufvogels saßen zwei bis auf die Knochen abgemagerte Jünglinge, die nicht so wirkten, als könnten sie eine Waffe handhaben. Die beiden Männer auf der rechten Flanke waren älter, der eine von dunklerer Hautfarbe, der andere hellhäutig wie ein Nordländer. Letzterer wirkte füllig, als habe er ein geruhsames Leben hinter sich. Der andere machte einen kränklichen Eindruck, sein Gesicht war hohlwangig, die Augen lagen tief in den Höhlen, und es sah fast so aus, als habe die Reise auf der Lichtfähre seinen Lebenswillen gebrochen. Sahen so die Kämpfer der Lichtwelt aus, die Logghard gegen die Dämonen aus der Schattenzone verteidigen sollten? »Ganif suchte kräftige Männer, und da mußtest du ihm ins Auge stechen«, sagte Sadagar wieder. »Aber ich bin sicher, daß sein Interesse an dir noch einen tieferen Grund hat. Stimmst du mir zu, Mythor?« »Ich hatte auch diesen Eindruck«, antwortete Mythor. Vier der Vogelreiter, mit Ganif an der Spitze, ritten voran. Dann kamen die beiden Diromen, und den Abschluß bildete wieder ein Vogelreiter. Plötzlich verfiel Ganifs Orhako in rasenden Lauf, und die anderen paßten sich seiner Geschwindigkeit an. Auch die beiden Diromen wurden schneller und versuchten, mit den schnelleren Laufvögeln mitzuhalten. Mythor sah, wie die Menschen, die durch die Straßen dieser Stadt unterwegs waren, entsetzt vor dem Reitertrupp die Flucht ergriffen. Aber trotzdem hatte er den Eindruck, daß 221
dies ein alltägliches Ereignis sei. Wahrscheinlich kam es überall und jederzeit im Shalladad zu Übergriffen der überheblichen Vogelreiter auf die Bevölkerung. Mythor hielt sich am Knauf des Doppelsattels fest und spürte gleich darauf, wie sich Sadagar von hinten an ihn klammerte. »Du mußt schon verzeihen, Mythor, aber bei einem Sturz würde ich mir alle Knochen im Leibe brechen«, entschuldigte sich der Steinmann; er mußte schreien, damit Mythor ihn verstehen konnte. »Wenn ich das gewußt hätte, wäre ich lieber auf der Halmash geblieben. Aber die hätten uns glatt getrennt! Zum Glück bin ich nicht auf den Mund gefallen.« »Das kann dir noch passieren, wenn du dich nicht festhältst«, ermahnte ihn Mythor. Daraufhin schlang Sadagar beide Arme um seinen Körper und preßte sich fest gegen ihn. Mythor konnte dabei die Wurfmesser spüren, die der Steinmann im Gurt unter seiner Jacke trug. Er wandte halb den Kopf und sagte: »Wenn du nicht willst, daß man dir deine Waffen abnimmt, wirst du sie verstecken müssen.« »Sicher«, stimmte Sadagar zu. »Aber wenn ich an Ganif denke, wird mir klar, daß ich sie auch griffbereit halten muß. Was kann er nur gegen dich haben?« Mythor hob die Schultern. Er wollte sich einstweilen noch nicht den Kopf darüber zerbrechen. »Was wird aus uns?« schrie plötzlich einer der beiden jungen Männer auf der linken Seite. »Sag mir einer, was man mit uns vorhat!« »Die wissen es auch nicht, Bruder«, sagte der andere junge Mann, der mit ihm das Tragegestell teilte, während er sich verzweifelt an einer Schlaufe festhielt und den Kopf zum Körper des Diromos abwandte. »Aber ist es nicht egal, wo wir sterben? Du hast es gehört, wir sind für diese Sklavenhalter nichts anderes als Dämonenfutter.« 222
»Ich habe einen Schwur geleistet«, sagte der andere. »Ich habe mich verpflichtet, in Logghard für die Lichtwelt zu kämpfen. Nur darum habe ich mich in Sarphand freiwillig den Wilden Fängern gestellt.« »Beruhige dich«, rief Sadagar zu ihm hinunter. »Wir haben schwerwiegendere Gründe, um nach Logghard zu gehen, und hadern auch nicht mit unserem Schicksal. Stehen wir dies hier einmal durch, dann werden wir schon einen Weg finden.« Sie kamen auf eine Brücke, die über einen Nebenarm des Stromes führte. Obwohl die Brücke von Kolonnen von Reitern, Karren und Fußvolk benutzt wurde, mäßigten die Vogelreiter ihre Geschwindigkeit nicht, sondern bahnten sich rücksichtslos ihren Weg. Plötzlich ertönte ein gellender Ruf. »Logghard!« Mythor sah, wie der junge Mann aus Sarphand, der geschworen hatte, sein Leben der Verteidigung der Ewigen Stadt zu widmen, sich erhob und von dem Tragegestell abstieß. Er wollte noch nach ihm greifen, um ihn von dem selbstmörderischen Sprung abzuhalten, aber seine Hand fuhr ins Leere. Der Körper des jungen Mannes wirbelte durch die Luft, prallte gegen einen Karren und wurde von diesem zurück und gegen das Geländer der Brücke geschleudert. Von dort fiel er in den Strom. »Dummkopf!« sagte Sadagar. »Jetzt wirst du Logghard nie sehen.« Ohne weiteren Zwischenfall erreichten sie das Zeltlager der Vogelreiter.
Das Heerlager bestand aus etwa fünfzig Zelten, von denen die meisten zehn Mann und mehr faßten. Etwas außerhalb davon waren die Gehege für die Laufvögel, von denen jeder eine eigene Koppel hatte. 223
Mythor schätzte die Zahl der Orhaken auf etwa zweihundert, Diromen gab es an die dreißig, aber von den pfeilschnellen Diatren entdeckte er nur vier. Die meisten Orhaken standen bewegungslos da, als schliefen sie im Stehen; ihre Köpfe waren mit den Hauben bedeckt. Die viel stämmigeren Diromen, die so kräftig waren, daß sie ihre Schnäbel wie Rammböcke gebrauchen und damit Tore einrennen konnten, waren nur angepflockt, denn sie waren lange nicht so wild wie die Orhaken. Unter den Kriegern, die die Zeltstadt bevölkerten, entdeckte Mythor nur ausschließlich dunkelhäutige Moronen, von denen jedoch nur wenige echsenlederne Harnische trugen. Jejed, der Kapitän der Gasihara, mit der Mythor und Sadagar von Sarphand aufgebrochen waren, hatte auch einen Brustpanzer und einen Waffenrock aus einem solchen Echsenleder gehabt, und Mythor vermutete, daß nur höhergestellte Krieger und Schiffskapitäne sie tragen durften. Selbst Ganifs vier Begleiter trugen nur einfache, sandfarbene Burnusse, die sie jedoch mit den Federn ihrer Orhaken schmückten. Mythor wurde unwillkürlich an den Vogelreiter Hrobon erinnert, der ihm beim Orakel von Theran ewige Todfeindschaft geschworen hatte, weil er sich ihm gegenüber als Sohn des Kometen bezeichnet hatte – oder zumindest angedeutet hatte, dieser zu sein. Für Hrobon war das Frevel genug gewesen, weil er seinen Gottkönig, den Shallad Hadamur, für die Fleischwerdung des Lichtboten hielt. War es möglich, daß Ganif von Hrobon eine Beschreibung seiner Person bekommen hatte und ihn darum aufs Korn nahm? Oder stand Ganif mit den Großen im Bunde und hatte von ihnen den Auftrag bekommen, sich um ihn zu kümmern? Aber das erschien Mythor denn doch zu weit hergeholt, denn die Vogelreiter im Dienst des Shallads und die Großen paßten nicht zusammen. Wahrscheinlicher war es da schon, 224
daß Ganif von den drei Todesreitern Drudins auf ihn gehetzt worden war. Doch auch diese Möglichkeit verwarf Mythor wieder, denn Ganif war alles andere als dämonisiert, wie seltsam der Blick auch gewesen war, mit dem er Mythor zum erstenmal bedacht hatte. Seitdem hatte er ihn allerdings nicht mehr beachtet, und auch jetzt, als er vom Rücken seines Orhakos sprang und es daraufhin am Zügel in eine Koppel führte, würdigte er ihn keines Blickes. »Vielleicht habe ich mir da nur etwas eingebildet«, murmelte Mythor wie zu sich selbst. »Nicht in bezug auf Ganif«, sagte Sadagar, der seine Worte gehört hatte. Er starrte versonnen dem dunkelhäutigen Hünen nach und fügte hinzu: »Mein erster Eindruck täuscht mich nie. Du wirst noch von ihm hören, Mythor.« »Mund halten und herhören!« erscholl da eine barsche Stimme. Einer von Ganifs Begleitern tauchte vor ihnen auf und stellte sich mit in die Hüften gestemmten Fäusten vor sie hin. Die Kapuze seines Burnusses war tief ins Gesicht gerückt, und der Rest wurde von einem dichten Vollbart verdeckt. Nur seine dunklen Augen funkelten unter dem Kapuzenrand hervor. »Ich bin Madahim und werde eure Betreuung übernehmen«, fuhr er fort. »Ihr wurdet dazu auserwählt, zum Ruhm unseres Shallads und für die Reinheit der Lichtwelt zu kämpfen, und ihr müßt euch darüber klarwerden, daß es egal ist, ob ihr dies in Logghard tut oder in den Schluchten von Rafhers Rücken. Ihr habt zu gehorchen und euer Leben wegzuwerfen, wenn es von euch verlangt wird. Noch seid ihr ein verhungerter, erbärmlicher Haufen, und wenn ich euch so betrachte, könnte mir übel werden. Aber ich werde halbwegs taugliche Krieger aus euch machen. Das erste, was ihr lernen müßt, ist, mit eurem Diromo umzugehen. Du da, wie heißt du?« 225
Mythor fühlte sich angesprochen und nannte seinen Namen. »Als Kräftigster deiner Gruppe übernimmst du das Kommando über euer Diromo, Mythor«, erklärte Madahim. »Sein Name ist Kor-Yle, weil er so launenhaft ist wie einer dieser Flußgeister. Es ist ein männliches Tier. Ihr werdet lernen, wie man das Reitgestell abnimmt und wie man es wieder anbringt. Damit seid ihr den Rest des Tages beschäftigt, und Kor-Yle hat Gelegenheit, sich an euch zu gewöhnen. Aber seid vorsichtig, dieser Flußgeist ist gar widerspenstig.« Mythor, Sadagar und die anderen stiegen ab. Madahim rief einen Krieger herbei, der sie zu einer Koppel führte, während er sich selbst um die Gruppe auf dem zweiten Diromo kümmerte. »Mit euch kann man höchstens betteln gehen, aber nicht in einen Feldzug gegen das Volk der gespaltenen Gesichter«, sagte der Krieger in dem sandfarbenen Burnus. Er schüttelte den Kopf und fügte bekümmert hinzu: »Es ist eine Schande, was für erbärmliche Gestalten man nach Logghard verschifft.« »Ich weiß, wir sind nur besseres Dämonenfutter«, sagte Sadagar. »Hast du besseres gesagt?« meinte der Krieger, und die beiden grinsten einander an. In freundschaftlicherem Ton fügte der Morone hinzu: »Ich will euch nicht beleidigen. Mein Name ist Harmod. Wenn ihr euch ein bißchen anstrengt, werden wir schon miteinander auskommen. Ihr könnt mir gleich zur Hand gehen, wenn ich euch zeige, wie man den sechsfachen Sattel abnimmt.« Während sich Harmod auf der einen Seite des Sattelgestells zu schaffen machte, begaben sich Mythor und Sadagar auf die andere. Der Steinmann versuchte aber erst gar nicht, sich mit dem Zaumzeug zurechtzufinden, sondern entledigte sich unbemerkt seines Messergurts und verstaute ihn geschickt 226
unter dem Rückensattel. Danach ließ er seinen Geldbeutel folgen, den er trotz aller Wirrnisse auf wundersame Weise vor fremdem Zugriff gerettet hatte. »Geschafft!« sagte er dann erleichtert und zwinkerte Mythor zu. »Was hast du geschafft?« rief Harmod zornig. »Du hast noch nicht einmal einen Riemen gelöst.« »Das ist eine Kleinigkeit, denn der Kleine Nadomir wird mir beistehen«, behauptete Sadagar. »Wer?« fragte Harmod. »Mein Schutzgeist«, antwortete Sadagar freimütig. »Ich brauche ihn nur zu rufen, damit er mir in allen schwierigen Belangen des Lebens beisteht. Mit seiner Hilfe kann ich sogar in die Zukunft blicken.« Mythor seufzte, denn er wußte, was nun folgen würde. Harmod tat ihm geradezu leid, denn seinem Gesichtsausdruck konnte man ansehen, daß er Sadagars Köder geschluckt hatte.
Die Sonne brannte heiß vom Himmel, obwohl sie schon ihren höchsten Punkt überschritten hatte. Über den südlichen Horizont spannte sich ein dunkles, drohend wirkendes Gebilde, das nach der Sonne zu greifen schien. Mythor war so ins Schwitzen gekommen, daß er sein Wams ablegen mußte. Da sie mit der Handhabung des Zaumzeugs gute Fortschritte machten, gönnte ihnen Harmod eine Pause und führte sie zu einer Wasserstelle, an der sie sich laben konnten. Auf dem Weg dorthin fragte Mythor den Moronen: »Ist das die Schattenzone?« »Beim Shallad, nein!« stieß Harmod hervor. »Das sind Gewitterwolken, die aufziehen. Sie schieben sich vor die Schattenzone, so daß uns der Anblick erspart bleibt, wie diese die Sonne verschlingt. Eines Morgens, vielleicht an jenem Tag, 227
da sich die Belagerung Logghards durch die Dunklen Mächte zum zweihundertfünfzigsten Male jährt, wird die Schattenzone die Sonne nicht wieder freigeben, und dann beginnt die ewige Nacht.« Mythor sagte nichts dazu. Er wollte sich den Moronen nicht zum Feind machen, indem er seinen Glauben anzweifelte. »Ich habe noch keinen Vogelreiter wie dich kennengelernt«, sagte er statt dessen zu Harmod, während sie durch das Heerlager schritten. »Alle, denen ich bisher begegnet bin, halten sich für bessere Menschen und behandeln andere wie ihre Sklaven. Du aber behandelst uns wie deinesgleichen.« »Du kannst mich nicht verlegen machen«, erwiderte Harmod. »Eines Tages magst du einem Dämon begegnen und mußt feststellen, daß er manchem Menschen an Bösartigkeit nicht das Wasser reichen kann.« »Das klingt sehr weise«, meinte Mythor. »Aber glaubst du wirklich daran, daß es selbst unter den Dämonen solche und solche gibt?« Harmod hob die Schultern. Plötzlich hielt er an und blickte zu einem freien Platz zwischen den Zelten. Mythor folgte seinem Blick und blieb ebenfalls unwillkürlich stehen. Dort war ein Pfahl in den Boden gerammt, und an diesen war ein halbnackter Mann gekettet. Bei genauerem Hinsehen erkannte Mythor jedoch, daß er fast noch ein Kind war, bestimmt nicht älter als siebzehn Sommer. Der Junge war nur mit einem schmutziggrauen Lendentuch bekleidet, das er zwischen den Beinen hindurchgeschlungen und auf der linken Seite verknotet hatte. Er war groß, schlank und sehnig und hatte einen schmalen, langen Schädel, der hinten ziemlich ausladend war, was jedoch auf seine wuschelige Haartracht zurückzuführen war. Er hatte eine breite Nase und aufgeworfene, fast wulstige Lippen. Eine Besonderheit stach Mythor jedoch mehr als alles andere 228
ins Auge. Während sein übriger Körper dunkelhäutig, von erdbrauner Farbe war, zeigte sich seine linke Gesichtshälfte heller. Die Haut auf dieser Seite des Gesichts wäre vermutlich sogar blaß gewesen, hätte das Sonnenlicht sie nicht gerötet. Die Grenze zwischen hell und dunkel zog sich in gerader Linie über Kinn, den Nasenrücken und die Mitte der Stirn, und sie fand ihre Verlängerung in einem zwei Finger dicken Streifen, auf dem das Wuschelhaar bis in den Nacken geschoren war. »Wer ist der Gefangene?« erkundigte sich Mythor. Harmod schreckte hoch und ging rasch weiter. »Kommt! Das geht euch nichts an«, sagte er. Erst als sie den Platz mit dem Pranger hinter sich gelassen hatten, erklärte er Mythor: »Das ist ein Kundschafter der Rafher, des Volkes der gespaltenen Gesichter, gegen das wir im Namen Shallads zu Felde ziehen müssen. Dieser Rafher ist ein Ungläubiger, der den Shallad nicht als fleischgewordenen Lichtboten anerkennt. Ich müßte ihn darum hassen, aber ich kann nur Mitleid mit ihm empfinden. Trotzdem werde ich gegen sein Volk kämpfen und meinen Beitrag dazu leisten, daß es bekehrt wird – oder ausgerottet. Und jetzt, Mythor, sage mir, wo die Grenze zwischen Gut und Böse liegt.« Sie legten den Rest des Weges zur Wasserstelle schweigend zurück. Dort angekommen, mußten sie warten, bis zwei Echsengerüstete ihre Orhaken getränkt hatten; erst dann durften sie selbst ihren Durst stillen. Mythor dachte über Harmods Worte nach und überlegte sich, ob er den Moronen ins Vertrauen ziehen konnte. Aber dafür war es sicherlich noch zu früh. »Warum läßt man den Gefangenen schmachten?« erkundigte er sich, während er sich das Wasser über das Gesicht schöpfte und das kühle Naß als angenehmes Prickeln auf der Haut genoß. »Er schweigt«, antwortete der Morone. »Er soll leiden, um 229
zum Sprechen gebracht zu werden.« »Es ist unmenschlich«, sagte Mythor. »So grausam darf man nicht einmal mit seinen Gegnern verfahren.« »Du kannst die Welt und die Menschen nicht ändern, Mythor.« »Das sagst du.« Mythor faßte plötzlich einen Entschluß, ohne sich über die möglichen Folgen den Kopf zu zerbrechen. »Aber wenn ich mir vorgenommen habe, für eine bessere Welt zu kämpfen, dann darf ich dieses Unrecht nicht zulassen.« Er sah auf einem Trog eine Schöpfkelle liegen, daneben war ein Tuch ausgebreitet, mit dem die Vogelreiter das Gefieder ihrer Orhaken abrieben. Ohne lange zu überlegen, sprang Mythor auf und nahm beides an sich. Er füllte die Kelle mit Wasser und machte sich damit auf den Weg zu dem Schandpfahl. »Mythor, bist du von Sinnen?« rief ihm Sadagar nach. »Kleiner Nadomir, gib diesem Einfaltspinsel seinen Verstand zurück, bevor er ins Unglück rennen kann.« Mythor hörte nicht auf ihn. Als Harmod auf seiner Seite auftauchte, um ihn gewaltsam an seinem Tun zu hindern, stellte ihm Mythor einfach ein Bein und eilte weiter. Niemand sonst schien zu bemerken, was er vorhatte, und so erreichte er ungehindert den Platz mit dem Pfahl. Er ging zu dem angeketteten Jüngling und kniete vor ihm nieder. Mythor sah erst aus der Nähe, daß seine linke Gesichtshälfte von Brandblasen bedeckt war, die Augen so verquollen, daß sie ganz schmale Schlitze bildeten. »Ich bringe dir etwas zu trinken«, sagte Mythor und setzte die Kelle an die geschwollenen Lippen des Gefangenen. Mit der freien Hand breitete er das feuchte Tuch über seine obere Gesichtshälfte. »Das wird deine Schmerzen etwas lindern.« Der Gefangene bewegte die Lippen und versuchte zu trinken, aber er war so schwach, daß er das meiste Wasser 230
verschüttete. Als der Schöpfer leer war, murmelte er irgend etwas Unverständliches, was Mythor nicht verstehen konnte. »Ich hole mehr Wasser«, sagte Mythor und wollte sich erheben. Aber da traf ihn ein furchtbarer Schlag ins Genick, der ihn zu Boden fällte. Er war davon ganz benommen, zu keiner Bewegung fähig. Als er auf den Rücken gedreht wurde, tauchte über ihm das Oval eines Gesichts auf, das er undeutlich als das Ganifs erkannte. »Wenn du dich so stark zu diesem Wilden hingezogen fühlst, dann wirst du ihm Gesellschaft leisten«, sagte er zu Mythor. Dann erhob er sich und befahl: »Schlagt einen zweiten Pfahl ein und kettet den Verräter daran!« Der Gefangene begann auf einmal wie von Sinnen zu schreien und verstummte erst, als man ihn knebelte. Deddeth Da war nun der Körper, dem er so lange bereits nachjagte, greifbar nahe für ihn. Er brauchte nur mit Ganifs Augen aus dem Zelt zu blicken und sah ihn vor sich. Aber er konnte ihn sich nicht nehmen. Mehr noch, er mußte diesen Körper sogar schinden. Die widrigen Umstände verlangten es, daß er als Kommandant des Heerlagers die Verfehlung Mythors ahnden mußte. Ganif hätte seine Würde verloren, wäre er nicht darangegangen, Mythor zu bestrafen. Und so ließ er einen Pfahl errichten, Mythor Ketten anlegen und ihn daran festbinden. Um die Strafe abzurunden, wären auch noch einige Dutzend Peitschenhiebe angebracht gewesen. Aber davon ließ der Deddeth Ganif Abstand nehmen. Der Deddeth konnte diesen Anblick nicht mehr länger ertragen, er zerfleischte sich förmlich und hätte dabei beinahe 231
auch seinen Wirtskörper aufgezehrt. Entsetzt erkannte er, wie Ganif auf einmal wankte. Sein Wirt rang nach Atem, versuchte sich abzustützen, riß einen Hocker mit sich und fiel zu Boden. Sofort eilte die Wache herbei, die vor dem Zelt Posten stand und die beiden Gefangenen beaufsichtigte. Schick ihn fort! befahl der Deddeth. Für das, was in dieser Nacht geschehen soll, kann ich keine Zeugen brauchen. Statt die Hilfsdienste des Wachtpostens zu lohnen, wies Ganif ihn unter Strafandrohung aus dem Zelt und enthob ihn seiner Dienste. Ganif atmete noch immer schwer, seine Glieder zitterten, aber er erholte sich allmählich wieder. Der Deddeth nahm sich vor, sich nicht wieder so gehenzulassen, ehe er den Körper wechselte – ehe er seinen Körper übernehmen konnte. Heute nacht, wenn alles im Lager schlief, sollte es geschehen. Ganif würde auf den Vorplatz schleichen, Mythor von den Ketten befreien und dann… Eine Störung. Fanhaj und Madahim wünschten ihn zu sprechen. Der Deddeth zog sich tiefer in den Geist seines Wirtes zurück. »Wir haben vernommen, daß du einen Schwächeanfall hattest, Ganif«, sagte Madahim. »Der Wachtposten hat uns berichtet, daß du dich in einem überaus besorgniserregenden Zustand befunden hast. Darum sind wir sofort herbeigeeilt, um…« »Ich werde den Mann auspeitschen lassen«, sagte Ganif wütend. »Ich habe mich noch nie besser gefühlt. Morgen früh, wenn die Sonne von der Schattenzone freigegeben wird, brechen wir auf. Und zwar unter meinem Kommando!« »Es freut uns zu hören, daß du wohlauf bist«, meinte Fanhaj. »Da ist aber noch etwas, über das wir mit dir sprechen wollten.« 232
»Und das wäre?« Der Deddeth wollte die beiden Störenfriede so rasch wie möglich loswerden. Die Dunkelheit senkte sich bereits über das Lager, und er wollte sich auf seinen großen Augenblick vorbereiten. »Es geht um den gefangenen Rafher«, sagte Fanhaj betreten. »Noch hat er uns nicht verraten, wo sich sein Volk versteckt. Wir müssen also alles tun, damit er am Leben bleibt, sonst erfahren wir nie, wo die Verbotene Stadt Lo-Nunga liegt, und können den Willen des Shallads nicht ausführen. Ich möchte darum vorschlagen, daß du den Rafher vom Pfahl binden läßt und ihm etwas Ruhe gönnst.« Der Deddeth überlegte. Es käme ihm für sein Vorhaben recht gelegen, wenn es keinen Augenzeugen dafür gab. Der Wilde war ohnehin nur störend. »Ich glaube, du hast recht, Fanhaj«, sagte Ganif. »Bringt ihn in ein Zelt, aber bewacht ihn gut.« »Wäre es nicht gut, auch Mythor zu bewachen?« schlug Madahim vor. »Ich hatte mit diesem Burschen schon zu tun und warne davor, ihn zu unterschätzen. Er ist ein Aufwiegler und versteht es sogar, sich unter deinen Kriegern Verbündete zu verschaffen.« »Was sagst du da?« rief Ganif barsch. »Wie soll ich das verstehen? Hetzt Mythor gegen den Shallad? Oder wiegelt er die Legionäre und andere gegen mich auf?« »Das nicht«, meinte Madahim. »Harmod, der mit Mythor zu tun hatte, war aber gerade bei mir und hat darum gebeten, Mythor die Strafe zu erlassen. Es erscheint mir bedenklich, wenn ein Krieger des Shallads für einen räudigen Legionär eintritt.« »Findest du?« sagte Ganif überlegend. »Vielleicht hat Harmod aber auch recht. Wäre es nicht ungerecht, dem Wilden Vergünstigung zu gewähren und einem Kämpfer der 233
Lichtwelt, egal, ob Krieger oder Legionär des Shallads, dafür zu bestrafen, weil er sie gewähren wollte?« »Ist das nicht eine etwas widersinnige Begründung?« fragte Fanhaj verwirrt. »Mythor hat gegen deine Befehle verstoßen, er hat Verrat begangen. Ich an deiner Stelle würde ihn eher von einem Orhako schleifen lassen, als ihn zu begnadigen.« »Noch habe ich zu bestimmen«, sagte Ganif eisig. »Schickt Harmod zu mir, damit ich ihn selbst hören kann. Und jetzt geht.« Die beiden Unterführer zogen sich zurück. Madahim blieb noch einmal im Zelteingang stehen und sagte besorgt: »Ein Wort unter Freunden, Ganif. Ist mit dir bestimmt alles in Ordnung?« Der Deddeth ließ Ganif lächeln und sprach dann durch seinen Mund: »Mir geht es bestens, Madahim. Es läuft für mich alles nach Wunsch. Vergiß du nur nicht, Harmod zu mir zu schicken. Und noch etwas: Bindet diesen Mythor gleich los und bringt ihn in ein Zelt.« Der Deddeth hatte einen Plan gefaßt, wie er sich in den Besitz des begehrten Körpers bringen konnte, ohne dabei ein großes Wagnis einzugehen. Er hatte alles bedacht. Wenn er Ganif aufgab, um in Mythor überzuwechseln, dann würde von der verwaisten Lebenshülle des Moronen nicht mehr viel übrigbleiben. Sein Verschwinden würde auffallen, und wenn sein Tod gar bekannt würde, dann stünde Mythor zweifellos in dem Verdacht, ihn auf dem Gewissen zu haben. Es galt also, Mythor zuerst in Sicherheit zu bringen, um ihn vor Strafe zu bewahren. Denn was hatte der Deddeth davon, wenn er seinen Körper bekam und ihn bald darauf durch des Henkers Beil verlor? Durch die besonderen Umstände bot sich eine für den Deddeth zufriedenstellende Lösung an. Die Zeltplane tat sich auf, und Harmod trat ein. 234
»Du siehst, ich habe deine Bitte erhört und Mythor begnadigt«, sagte Ganif. »Irgendwie hat mich deine Anteilnahme am Schicksal dieses Legionärs gerührt. Darum möchte ich dir auftragen, dich auch weiterhin um ihn zu kümmern und für seine Sicherheit zu sorgen.« Die rund sechzig Legionäre waren zusammen in einem Zelt untergebracht. Sadagar und die drei anderen, die mit ihm und Mythor das Diromo Kor-Yle teilen sollten, hatten gleich neben dem Zelteingang einen Platz gefunden. Hier war es zwar zugig und ziemlich frisch, aber es stank wenigstens nicht. Sadagar hatte sich mit den drei anderen Leidensgefährten unterhalten und einiges über sie erfahren. Der dicke Nordländer hieß Verence Blon und war ein Ugalier, den es vor etwa fünfzehn Sommern nach Sarphand verschlagen hatte. Früher war er Waffenschmied gewesen, doch in der Stadt an der Saphirbucht hatte er auf Goldschmiedekunst umgesattelt. Es war ihm gutgegangen, bis einer seiner Neider ihn den Wilden Fängern ins Netz spielte. Der kränkliche ältere Mann namens Modesh war ein Morone aus Tambuk. Wegen angeblicher Lästerung des Shallads hatte er fliehen müssen und war in die Heymalländer gelangt, wo er jedoch wieder gefangengenommen und auf eine Lichtfähre verfrachtet wurde. Der abgemagerte Jüngling war der Bruder des anderen, der sich von dem galoppierenden Diromo in den Tod gestürzt hatte. Er hieß Arodo und hatte sich aus Abenteuerlust seinem Bruder angeschlossen. Nun gab es nichts mehr für ihn, wofür er leben wollte. Bevor Sadagar einige Schwanke aus seinem Leben zum besten geben konnte, um den Jüngling aufzuheitern, kamen fünf Krieger in Burnussen ins Zelt. Da es bereits dunkel war, beleuchteten sie sich ihren Weg mit Öllampen. »Alles herhören!« rief einer von ihnen. »Wir brauchen ein 235
paar Männer, die gute Mägen haben und keine empfindlichen Nasen. Es ist Zeit, die Koppeln auszumisten. Was, keine Freiwilligen?« Die Krieger bestimmten schließlich zehn Männer und drängten sie aus dem Zelt. Sadagar hatte sich ganz klein gemacht, um ja keine Aufmerksamkeit zu erregen, und glaubte, die brenzlige Situation überstanden zu haben. Doch da legte sich ihm ein schwerer Arm auf die Schulter, und eine Stimme sagte: »Du kommst auch noch mit.« Sadagar wollte schon mit seinem Schicksal hadern, als er in dem Krieger Harmod erkannte. Der Morone raunte ihm zu: »Ich habe gute Nachricht. Mythor ist begnadigt worden und ist zusammen mit dem Rafher in einem Zelt untergebracht.« »Dann ist auch Mythor ein Gefangener?« entfuhr es Sadagar. »Was soll an dieser Nachricht Gutes sein?« »Beruhige dich«, erwiderte Harmod. »Mythors Situation ist sogar noch schlimmer, dennoch hat die Sache auch eine erfreuliche Seite. Ich erkläre es dir, wenn wir bei den Koppeln sind.« »Muß ich denn wirklich Vogelmist kehren?« maulte Sadagar. »Nicht unbedingt, aber zumindest müssen wir so tun, als ob.« Im Lager brannten noch einige Lagerfeuer. Um sie saßen die Vogelreiter, waren mit der Überprüfung ihrer Ausrüstung und dem Reinigen der Waffen beschäftigt. Dabei aßen und tranken sie und unterhielten sich über den bevorstehenden Feldzug gegen die Rafher. »Es hat keinen Sinn, diese Wilden bekehren zu wollen«, hörte Sadagar einen von ihnen sagen. »Sie werden nie von ihrem Götzenglauben ablassen und sich dem Shallad unterwerfen.« »Dann wird es bald keine Rafher mehr geben«, sagte ein 236
anderer. Als sie an dem Lagerfeuer vorbei waren, erkundigte sich Sadagar bei Harmod: »Warum haben die Rafher diesen seltsamen Beinamen? Hängt das mit ihrem Glauben zusammen?« »Es hat mit Magie zu tun«, antwortete Harmod einsilbig. »Aber das ist jetzt nicht so wichtig. Dir geht es doch darum, daß deinem Freund nichts zustößt, oder?« »Bis jetzt hast du immer nur Andeutungen gemacht«, erwiderte Sadagar. »Nun sage mir endlich, was wirklich dahintersteckt.« Sie erreichten die Gehege mit den Laufvögeln, und der Morone fand zielsicher den Weg zu dem Diromo, das nach den Flußgeistern dieses Landes benannt war. Obwohl der Schein der Lagerfeuer nicht bis hierher fiel, hatte Harmod seine Öllampe ausgeblasen. Es gab rings um sie genügend Lichter, und die Geräusche verrieten, daß die zum Ausmisten der Koppeln abgestellten Legionäre bereits emsig an der Arbeit waren. »Red endlich, Harmod!« verlangte Sadagar ungeduldig. »Nimm dir nicht zuviel heraus, Alter«, warnte der Morone. »Ich habe zwar für dich etwas übrig, aber das besagt noch lange nicht, daß ich dich als gleichgestellt betrachte.« »Muß ich mich entschuldigen?« »Es genügt, wenn du deine Zunge im Zaume hältst. Aber genug davon.« Harmod machte eine kurze Pause, und Sadagar sah, wie er sich verstohlen umblickte, bevor er fortfuhr: »Ganif hat mich zu sich rufen lassen, um mir mitzuteilen, daß er Mythors Strafe erlassen habe. Gleichzeitig hat er mich damit beauftragt, für Mythors Wohl zu sorgen. Es könnte ein Akt der Menschlichkeit sein, aber das paßt nicht zu Ganif. Er ist in Wirklichkeit ein Leuteschinder. Du hast gesehen, wie er den Gefangenen behandelte. Auch ihn hat er 237
nicht aus Gnade vom Pfahl gebunden, sondern weil er ihn nicht umbringen will, bevor er von ihm erfahren hat, wo sich die Verbotene Stadt Lo-Nunga befindet. Mit Mythor wird die Sache ähnlich liegen. Ich fürchte, daß er irgendeine Gemeinheit vorhat.« Sadagar nickte besorgt. Er hatte von Anfang an gemerkt, daß es Ganif aus irgendeinem Grund auf Mythor abgesehen hatte. »Was, befürchtest du, könnte Ganif vorhaben?« erkundigte er sich. »Ich habe keine Ahnung, ich weiß nur, daß irgend etwas passieren wird«, sagte Harmod. »Und ich weiß, daß ich es nicht zulassen darf.« »Was könnte man dagegen tun?« fragte Sadagar hoffnungsvoll. »Hast du einen Vorschlag?« Harmod kaute schweigend an seinen Lippen, bis er schließlich sagte: »Eigentlich habe ich erwartet, daß von dir ein Vorschlag kommt.« Sadagar mußte grinsen, und er schlug dem Moronen auf die Schulter. »Ich hätte da schon eine Idee, und ich bin schamlos genug, sie dir zu unterbreiten«, erklärte er. »Wenn mir ein Diromo zur Verfügung stehen würde, etwa Flußgeist, und jemand, der es führen kann, dann würde ich nicht zögern, Mythor zu befreien und mit ihm zu fliehen. Würdest du mir dabei helfen, Harmod?« »Seltsam, daß ich diese Frage erwartet und mir bereits in allen Einzelheiten einen Fluchtplan zurechtgelegt habe«, meinte Harmod schmunzelnd. »Er ist so einfach, daß er nicht schiefgehen kann. Wir müssen nur erst einmal Kor-Yle in sein Versteck außerhalb des Lagers bringen und dann…«
Wenn Mythor die Augen schloß, glaubte er immer noch, in der Strömung der Strudelsee zu treiben und von den Wellen hin 238
und her geschaukelt zu werden. Dabei lag das alles schon einige Tage zurück. Dazwischen lag die Fahrt auf der Lichtfähre Halmash, wo er sich einigermaßen erholen konnte, bevor Gonned ihn an die Ruderbank kettete. Und wie weit es auch zurücklag, manchmal träumte er noch davon, in einen Ledersack eingenäht in der Strudelsee zu treiben und von einem dämonischen Schatten bedrängt zu werden. Von einem Schatten, den der Schutzgeist Sadagars, der Kleine Nadomir, einen Deddeth genannt hatte. Wie wenig hatte es ihn dagegen beeindruckt, daß man ihn an einen Pfahl kettete, weil er dem Gefangenen Wasser und Schatten gespendet hatte. »Wie ist dein Name?« fragte Mythor in die Dunkelheit des Zeltes hinein, in die Richtung, in der er den Rafher wußte. Es raschelte, als sich der dunkelhäutige Jüngling mit der helleren und von der Sonne geröteten Gesichtshälfte auf die andere Seite herumdrehte. »Geht es dir besser?« erkundigte sich Mythor. Er bekam keine Antwort, und er hatte auch keine erwartet. Er durfte nicht glauben, daß der Rafher sofort Vertrauen zu ihm hatte, nur weil er ihm Wasser gereicht hatte. In seiner Lage konnte er dies leicht für arglistige Täuschung halten – überhaupt jetzt, da man es ihm ersparte, weiterhin am Pfahl schmachten zu müssen. »Du brauchst mir nicht zu antworten«, sprach Mythor wieder, »wenn dir nicht danach ist. Aber du sollst wissen, daß ich keine Hintergedanken hatte, als ich…« Mythor verstummte, als am Eingang des Zeltes ein Geräusch erklang. Gleich darauf wurde die Zeltplane zurückgeschlagen, und eine Gestalt in einem Burnus erschien in der Öffnung. Im Hintergrund war der flackernde Schein der Lagerfeuer zu sehen. Mythor mußte den Mann für einen der Wachtposten halten, der sich davon überzeugen wollte, daß mit den 239
Gefangenen alles in Ordnung sei. Ihm lag eine ätzende Bemerkung auf der Zunge, doch bevor er sie loswerden konnte, erklang eine bekannte Stimme. »Still! Ich bin es!« »Sadagar!« entfuhr es Mythor. »Reitet dich ein Dämon, daß du hier eindringst? Das kann dich Kopf und Kragen kosten.« »Harmod hat die Wache abgelenkt«, erklärte Sadagar flüsternd und warf Mythor ein Bündel zu. »Da, zieh den Burnus an. Wir fliehen.« »Harmod?« wunderte sich Mythor. »Wie kommt er dazu, uns zu helfen?« »Stell jetzt keine Fragen!« sagte Sadagar hastig. »Wir haben ein Diromo und Harmod, der mit diesem Schnabelungeheuer umgehen kann. Alles andere zählt im Augenblick nicht. Beeile dich!« Mythor schlüpfte in den Burnus und stülpte sich die Kapuze über den Kopf. Dann zögerte er. »Wir können nicht ohne den Rafher gehen«, sagte er bestimmt. »Ganif würde ihn früher oder später töten. Wenn wir fliehen, nehmen wir ihn mit.« Sadagar seufzte. »Ich habe mir so etwas Ähnliches gedacht und Harmod gegenüber eine Andeutung gemacht. Er war nicht begeistert davon, den halbtoten Rafher mitzunehmen. Andererseits kennt er vermutlich das Land besser als jeder andere und… Aber was rede ich da.« Er wandte sich dem Rafher zu und fragte: »Freundchen, kannst du laufen?« »Er ist zu schwach dazu«, erklärte Mythor. »Wir werden ihn tragen müssen.« »Das auch noch!« stöhnte Sadagar. »Was ich auf meine alten Tage alles auf mich nehmen muß! Da! Ich habe eine Decke mitgebracht.« Sadagar breitete die Decke auf dem Boden aus, und Mythor rollte den Rafher darauf. Dieser stöhnte und schlug schwach mit den Armen um sich, aber seine Gegenwehr erstarb sofort, 240
als Mythor zu ihm sagte: »Halte still, wir wollen nur dein Bestes. Wir fliehen und nehmen dich mit. Vielleicht wirst du schon bald zu deinem Volk zurückkehren können.« Nachdem sie den Rafher in die Decke gehüllt hatten, packte Sadagar das Bündel am unteren Ende und Mythor am anderen. Der Rafher erschien Mythor so leicht wie eine Feder, aber Sadagar ächzte und stöhnte, als müsse er einen Felsblock vom Titanenpfad schleppen. Der Steinmann ging als erster aus dem Zelt. »Die Luft ist rein«, sagte er, und Mythor folgte. Draußen wurden sie von Harmod erwartet. Sein Gesicht lag halb im Schatten der Kapuze, und es wirkte angespannt, als er erklärte: »Ich habe die Wachen abgelöst, wie es mir Ganif aufgetragen hat. Mit etwas Glück wird man unsere Flucht erst im Morgengrauen entdecken. Das sollte uns einen genügend großen Vorsprung geben. Folgt mir!« Harmod hatte sich noch während des Sprechens in Bewegung gesetzt. Mythor und Sadagar schlossen mit ihrer Last zu ihm auf. Harmod blieb den Lagerfeuern tunlichst fern, und so erreichten sie ohne Zwischenfälle das Ende des Zeltlagers. Als sie unbeobachtet waren, lud sich Mythor den in die Decke eingewickelten Rafher einfach auf die Schulter, was ihm einen erleichterten Dankspruch Sadagars einbrachte. Sie hielten sich entlang den Laufvogelgehegen und kamen schließlich auf freies Feld. Der Himmel war schwarz wie der Samt von Sadagars Jacke. Dennoch war die Nacht nicht stockfinster, sondern wurde vom fernen Schein der Lagerfeuer etwas erhellt, so daß sich Mythor seinen Weg über den unebenen Boden ohne größere Schwierigkeiten suchen konnte. »Wir sind da!« sagte Harmod, als vor ihnen die Umrisse einer Mauer auftauchten. Es war die Ruine einer Lehmhütte. Dahinter war ein Diromo an einen Balken gebunden. »Ruhig, Kor-Yle«, sprach Harmod zu dem Laufvogel, nahm 241
ihn am Zügel und zwang ihn, die stämmigen Beine abzuwinkein und Kauerstellung einzunehmen. Mythor sah, daß das Tier gezäumt war. Er brachte den Rafher in einem seitlichen Tragegestell unter und befreite seinen Kopf von der Decke. Der Rafher gab keinen Laut von sich, aber sein Atem ging rasselnd. »Mythor und Sadagar, ihr nehmt die Trage auf der anderen Seite!« befahl Harmod. »Wir müssen zusehen, daß wir fortkommen, und werden ohne Rast durchreiten.« »Wie steht es mit Verpflegung und Ausrüstung?« erkundigte sich Mythor. »Ich habe Vorräte für ein paar Tage eingepackt«, antwortete Harmod. »Das Diromo ist einigermaßen ausgeruht und kann gut zwei Tage und zwei Nächte durchhalten, so daß wir keine Rast einzulegen brauchen.« »Es fragt sich nur, ob das der Rafher durchhält«, meinte Mythor, während er mit Sadagar auf dem rechten Reitgestell Platz nahm. »Und wie steht es mit Waffen?« »Genauso wie mit den Tänzerinnen«, antwortete Harmod. »Ich konnte nur meine eigenen Waffen, Pfeil und Bogen und Schwert, mitnehmen, ohne mich zu verraten. Seid ihr soweit?« Das Diromo erhob sich und setzte sich in Bewegung, zuerst langsam, dann immer schneller werdend, und bald schlugen seine schweren Krallen einen raschen, regelmäßigen Wirbel auf dem trockenen Boden. »Was ist unser Ziel?« erkundigte sich Mythor. »Rafhers Rücken«, antwortete Harmod. »Wenn wir irgendwo in diesem Land sicher vor Verfolgern sind, dann in diesem zerklüfteten Bergrücken, von dem unser stummer Freund herstammt.« Als habe sich der junge Rafher angesprochen gefühlt, begann er laut zu stöhnen. Mythor war sich jedoch nicht sicher, ob es Schmerzenslaute waren oder ob er versuchte, sich ihnen 242
mitzuteilen. »Jemand sollte sich um ihn kümmern«, rief Mythor zu Harmod hinauf. »Bleibt, wo ihr seid!« befahl der Morone. »Der Wilde ist nur geschwächt, sonst fehlt ihm nichts. Er soll schlafen, und wenn er ausgeruht ist, werden wir ihn füttern, damit er zu Kräften kommt. Ihr solltet jetzt besser auch schlafen.« »Und was ist mit dir?« erkundigte sich Sadagar. »Willst du nicht einem von uns zeigen, wie man das Diromo führt? Was passiert, wenn du einschläfst?« »Dann wird Kor-Yle die eingeschlagene Richtung beibehalten«, antwortete Harmod. »Ihr könnt mir vertrauen. Und jetzt schlaft!«
Die Nacht war pechschwarz. Die Lichter des Heerlagers waren schon längst hinter ihnen in der Ferne verschwunden. Mythor konnte selbst die nächste Umgebung nur mehr ahnen, als daß er sie sah. Er fragte sich, wie lange sie schon unterwegs waren. Er war müde. Das gleichmäßige Trommeln der Diromokrallen wirkte einschläfernd, aber Mythor hielt sich gewaltsam wach. Er versuchte das, indem er über die letzten Geschehnisse nachdachte. War es Zufall, daß Ganif ihn von der Lichtfähre geholt hatte? Oder stimmte Sadagars Verdacht, daß der moronische Heerführer irgend etwas gegen ihn im Schilde führte? Ganifs seltsames Verhalten war dazu angetan, Mythor mißtrauisch zu machen. Ganif war gewiß alles andere als sein Gönner, aber konnte man deshalb gleich einen persönlichen Feind in ihm sehen? Nach dieser Flucht waren sie auf jeden Fall Gegner. Ob Harmod sich darüber klar war, worauf er sich durch seine Beihilfe zur Flucht eingelassen hatte? Er war fahnenflüchtig 243
geworden, hatte Verrat begangen. Aber am schwersten wog wohl, daß er auch dem Rafher zur Freiheit verholfen hatte. Ein schrecklicher Gedanke kam Mythor. War es möglich, daß alles nur ein Trick war und daß Ganif der Flucht des Rafhers Vorschub geleistet hatte, damit er ihn zu seinem Volk führte? Aber zu so einer schändlichen Tat würde sich Harmod nie hergeben. Mythor verwarf diesen Gedanken sofort wieder. Er blickte hoch und sah den burnusverhüllten Rücken des Moronen undeutlich über sich. Der machte eine Bewegung und wandte den Kopf, als habe er Mythors Blick gespürt. »Du schläfst nicht?« fragte er. Dann kam ein erstickter Laut aus seiner Kehle, und er rief: »Deine Augen! Sie leuchten! Was bedeutet das?« Mythor schloß die Augen sofort wieder. Früher war es ihm öfter passiert, daß das gelbliche Schimmern seiner Augen Leute erschreckte, und einmal, damals auf der Ebene der CaerKrieger, hätte es ihn beinahe verraten. Dieser gelbliche Schein seiner Augen war nicht immer vorhanden gewesen, sondern war nur unter gewissen Lichtverhältnissen zu erkennen, vornehmlich bei Dämmerlicht. Doch da er in jüngster Zeit nicht mehr darauf angesprochen wurde, hatte er angenommen, daß seine Augen diesen Schimmer verloren hätten, worauf auch immer er zurückzuführen war. Und nun wollte ihn Harmod gesehen haben! »Du mußt dich geirrt haben«, sagte Mythor. »Meine Augen waren geschlossen, ich habe geschlafen. Du hast mich geweckt, und jetzt bin ich durstig.« Mythor tastete mit geschlossenen Augen nach dem Wasserschlauch über sich und setzte ihn an die Lippen. Aber da legte sich eine Hand auf die Trinköffnung, und eine zweite verschloß Mythors Hand. Dann drängte sich Sadagar an ihn heran und flüsterte ihm ins Ohr: »Ich habe kein Leuchten in deinen Augen bemerkt. 244
Warum also konnte Harmod es sehen?« Mythor dachte über diese Frage nach, konnte jedoch keine Antwort finden und wollte sie mit einem Achselzucken abtun. »Es kann nur so sein, daß Harmod dich mit anderen Augen sieht«, raunte Sadagar wieder. »Vielleicht mit nichtmenschlichen Augen… mit einem magischen Blick. Trink nicht von dem Wasser!« Mythor zuckte zusammen. Sadagars Verhalten war dazu angetan, ihm angst zu machen und die unsinnigsten Befürchtungen in ihm zu wecken. »Ich habe mir bloß die Lippen benetzt und bin daraufhin eingeschlafen«, fuhr Sadagar in Mythors Ohr flüsternd fort. »Das Wasser ist vergiftet. Vielleicht hat Harmod keine Ahnung davon und ist selbst nur ein Opfer Ganifs. Wie auch immer, denke daran, daß unter dem hinteren Rückensattel mein Messergurt steckt…« Der Morone zügelte das Diromo völlig unerwartet und so heftig, daß der seitliche Doppelsattel nach vorne geschleudert wurde und Mythor und Sadagar zusammenprallten. Mythor war für einen Moment wie benommen. Der Rafher schrie schrill auf und rüttelte wie wild an dem Sattelgestell. Vom Rücken des Diromos erklang ein kehliger Laut, dem das Geräusch einer ungestümen Bewegung folgte. Mythor schien es, als ob sich Harmod aus dem Sattel schwinge und die Flanke des Laufvogels hinuntergleite. Er wußte nicht, was das zu bedeuten hatte, aber er dachte sofort an eine Falle. Harmods Schweigen, die Tatsache, daß er das Diromo so unvermittelt und ohne Vorwarnung anhielt, und nun seine Flucht, das alles ließ keinen anderen Schluß zu. »Harmod! Hiergeblieben!« schrie Sadagar und streckte sich. Das konnte nur bedeuten, daß er seine Messer hervorholte. Aus der Richtung, in die Harmod floh, erklang ein wütendes 245
Fauchen, das unmenschlich und tierhaft klang. Sadagar machte eine heftige Bewegung, etwas durchschnitt pfeifend die Luft, und dann folgte ein Schrei. Irgendwo aus der Dunkelheit erklang das wütende Krächzen eines Orhakos. Mythor kletterte aus dem Gestell des Flankensattels hoch und schwang sich auf den Rücken des Diromos. Mit voller Kraft schlug er die flache Hand gegen den kräftigen Hals des Tieres, daß es gequält aufschrie. Aber es bewegte sich nur zögernd. Mythor bildete sich ein, daß sie von Vogelreitern umzingelt seien. Er verstand den Sinn dieser Aktion nicht. Warum ließ man sie fliehen, nur um sie in eine Falle zu locken und zu stellen? »Achtung! Feuer!« rief Sadagar da von unten. Er hatte den Schutz des Diromos verlassen! »Komm zurück, Sadagar!« rief Mythor, und der Rafher schrie wieder gequält. Plötzlich wurde die Dunkelheit von einem Feuerregen durchbrochen, der so hell war, daß Mythor für einen Augenblick geblendet die Augen schließen mußte. Als er sie wieder öffnete, meinte er, daß mitten in finsterer Nacht ein Glutball der Sonne brenne. Aber dann sah er, daß es sich um einen funkensprühenden Feuerball über Sadagars Kopf handelte. Und er brannte am Ende eines Stabes, den der Steinmann hochhielt. Er lief auf eine am Boden liegende Gestalt zu, aus deren Rücken der Griff eines Messers ragte. Sadagar zog das Messer aus dem Toten und schrie auf. Mit dem blanken Messer in der Hand taumelte er zurück. Mythor ließ sich nur für einen Moment ablenken, und er sah noch rechtzeitig, wie aus dem dunklen Hintergrund ein Vogelreiter hervorbrach. Es war nur ein einzelner Vogelreiter, aber etwas Dunkles, Schattenhaftes war bei ihm. 246
»Sadagar! Achtung!« Als Mythor die Warnung schrie, versuchte er gleichzeitig, Harmods Bogen aus der Halterung zu ziehen. Aber er wußte, daß er nicht mehr die Zeit gehabt hätte, einen Pfeil einzulegen und den Bogen zu spannen. Der Vogelreiter war schon zu nahe. Es war Ganif! Sein Gesicht war zu einer dämonischen Fratze verzerrt. Mythor glaubte, darin einen wallenden Schatten zu erkennen. Sadagar hatte die Gefahr erkannt und schleuderte den Stab mit dem funkensprühenden Licht gegen den Vogelreiter. Das Orhako schrie auf und scheute. Ganif begann verzweifelt am Zügel des Tieres zu zerren, um es zu bändigen. Aber das Feuer brachte es zur Raserei. Ganif wurde auf dem springenden, bockenden Tier hin und her geschüttelt. Dabei starrte er Mythor unentwegt aus glühenden Augen an. Mythor war dieser Ausdruck bekannt; er stammte von der dämonischen Macht, die Ganif beherrschte. Und ihm war nun auch klar, um welche Macht es sich handelte. Es war der Schatten – der Deddeth, der ihm nachstellte. Das war also Ganifs Geheimnis! Mythor wurde durchgeschüttelt, als das Diromo plötzlich einen Satz nach vorne machte. Er rief verzweifelt Sadagars Namen und sah, wie der Steinmann herangerannt kam und die Arme nach dem Flankensattel ausstreckte. Er hätte es fast nicht geschafft und konnte sich gerade noch mit einer Hand daran festklammern. Mythor umschlang den Sattelknauf mit den Beinen, beugte sich tiefer hinunter und bekam Sadagar am Handgelenk zu fassen. Er zog ihn hinauf und ließ ihn erst los, nachdem er sicheren Halt gefunden hatte. Während hinter ihnen die Schreie des tobenden Orhakos verklangen, preschte das Diromo mit ihnen in die Nacht hinein. Mythors Versuche, es mittels des Zügels zu beeinflussen, schlugen fehl. 247
»Wie gut war es doch, daß ich diesen Feuerstab in Luxons Croesus-Palast an mich genommen habe«, sagte Sadagar frohlockend. Ernster fügte er hinzu: »Ich habe Harmod nicht getötet. Er starb nicht durch mein Messer, sondern…« »Ich kann mir denken, was mit ihm passiert ist«, sagte Mythor. »Er stand im Bann des Deddeth, in dessen Gewalt sich auch Ganif befindet. Aber in Wirklichkeit hat es dieser Schatten auf mich abgesehen. Das ist des Rätsels Lösung.« »Vorerst sind wir in Sicherheit«, meinte Sadagar mit erhobener Stimme, um das Trommeln der Diromoklauen zu übertönen. »Es fragt sich nur, wie lange dieser Vogel so weitermacht.« »Ein geschrecktes Diromo läuft so lange, bis es vor Erschöpfung zusammenbricht. Wenn es bis zu Rafhers Rückkehr durchhält, dann können wir unseren Verfolgern entkommen. Denn dort kenne ich mich aus.« Für einen Moment waren Mythor und Sadagar so verblüfft, daß es ihnen die Sprache verschlug. Keiner von beiden hatte damit gerechnet, daß der Rafher von sich aus das Wort an sie richten würde. »Es freut mich, daß du endlich mit uns sprechen willst«, sagte Mythor, nachdem er sich von seiner Überraschung erholt hatte. »Kann ich das als Zeichen dafür werten, daß du uns vertraust?« Der Rafher gab keine Antwort. »Willst du uns nicht wenigstens deinen Namen nennen?« fragte Sadagar. »Ango.« Der Rafher sagte es in einem verbitterten Tonfall, so als verachte er sich wegen seines Namens und schäme sich dafür. Danach verfiel er wieder in Schweigen und ließ sich nicht dazu bringen, sich auch nur mit einem Wort zu äußern.
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Deddeth »Federdorn, he! Federdorn, brav!« Gerade als es seinem Wirt gelungen war, das Orhako zu beruhigen und er wieder die Verfolgung aufnehmen wollte, da tauchte hinter den östlichen Hügeln Fackelschein auf. Bald darauf war das Trampeln von vielen Laufkrallen zu hören, und von den Flanken kommend, tauchten die ersten Vogelreiter auf. Der Deddeth hätte toben mögen wegen dieses neuerlichen Zwischenfalls. Er sah den eben verlorenen Kampf gegen Mythor um dessen Körper nicht als Niederlage an, und Harmods Tod war für ihn kein Verlust, hatte er sich doch dessen Lebensenergie genommen und sich damit gestärkt. Was zählten verlorene Scharmützel gegen eine gewonnene Schlacht? Er hätte die Verfolgung wiederaufgenommen und mit dem viel schnelleren Federdorn das Diromo bald wieder eingeholt. Dann hätte ihn nichts und niemand daran hindern können, sich endlich zu nehmen, was für ihn bestimmt war. Aber da tauchte auf einmal Madahim mit einer Schar von zwanzig Vogelreitern auf und machte seinen Plan vorerst zunichte. Zumindest in dieser Nacht würde er sein Vorhaben nicht mehr verwirklichen können. Alle seine Anstrengungen, die er unternommen hatte, um Mythor in Sicherheit zu wiegen und ihm die Flucht zu ermöglichen, nur damit er ihm an einem geeigneten Ort auflauern konnte, das alles war umsonst gewesen. Und das hatte er Madahim zu verdanken. »Was hat das zu bedeuten?« herrschte Ganif seinen Unterführer an, als er mit seinem Orhako an Federdorns Seite hielt. »Wer hat dir den Befehl gegeben, mir zu folgen?« »Dazu bedurfte es keines Befehls«, antwortete Madahim betroffen. »Als mir dein Verschwinden gemeldet wurde und 249
ich feststellte, daß auch die Gefangenen geflohen sind, da mußte ich annehmen, daß sie dich als Geisel genommen haben. Es war meine Pflicht, augenblicklich die Verfolgung aufzunehmen. Ich konnte nicht wissen, wie es sich wirklich verhielt… und ich weiß es noch immer nicht.« »Ich entdeckte das Verschwinden der Gefangenen und Harmods schon bald und habe mich allein an die Verfolgung gemacht«, erklärte Ganif, und um einem Vorwurf Madahims zuvorzukommen, fügte er hinzu: »Ich sah keinen Grund, Alarm zu schlagen, denn ich traute mir ohne weiteres zu, mit diesem Verräter und seinen Kumpanen allein fertig zu werden. Das hat er nun davon!« Madahim folgte mit den Augen Ganifs ausgestrecktem Arm, der auf das am Boden liegende Bündel wies. Es sah aus wie ein leerer Burnus, der auf einem knorrigen, wurzelartigen Ding aufgepflanzt war, das zufällig annähernd menschliche Form aufwies. »Beim Shallad!« rief Madahim entsetzt aus. »Was ist mit ihm passiert?« »Als ich die Flüchtenden stellte und Harmod sich seiner Zugehörigkeit bewußt wurde, da hat ihn der Rafher mit seiner Magie geschlagen«, erklärte Ganif. »Es wird Zeit, daß wir gegen diese Dämonendiener vorgehen«, stieß Madahim zornig hervor. »Wir sollten die Verfolgung wiederaufnehmen, bevor sie die Berge erreichen. Wir sind viel schneller und können sie bald einholen.« »Nicht so hastig«, unterbrach Ganif ihn. »Sie können uns nicht entkommen. Es genügt also, daß wir ihnen auf den Fersen bleiben und ihnen unbemerkt folgen. Wenn sich der Rafher in Sicherheit wiegt, führt er uns vielleicht in die Verbotene Stadt.« »Dieser Plan gefällt mir nicht sonderlich«, sagte Madahim. »Es wäre klüger, den Rafher einzufangen und ihn unter der 250
Folter zum Sprechen zu bringen.« »Soso«, sagte Ganif. »Du hältst dich also für klüger als mich.« »Das habe ich nicht gesagt.« »Aber gemeint hast du es!« Der Deddeth erfuhr aus Ganifs Geist, daß Madahim schon immer aufsässig gewesen war und Entscheidungen seines Anführers angezweifelt hatte. Bei jeder Gelegenheit hatte er hinter seinem Rücken gegen ihn Stimmung gemacht. Es wurde jetzt wiederum offenbar, daß er die Fähigkeiten seines Vorgesetzten in Frage stellte. Der Deddeth nahm sich vor, dieses Problem aus der Welt zu schaffen. Er wollte nicht, daß ihm Madahim noch einmal im entscheidenden Moment in die Quere kam. »Ich kann unsinnige Befehle und Entscheidungen nicht gutheißen«, sagte Madahim fest. »Darüber sollten wir uns unter vier Augen unterhalten«, schlug Ganif vor und ritt voran in die Nacht hinaus. Als er weit außerhalb des Fackelscheins war, zügelte er Federdorn und erwartete Madahim. »Willst du mir anbieten, mit dir um die Befehlsgewalt zu kämpfen?« fragte Madahim, als er heran war. »Nein, ich mache das anders.« Der Deddeth machte keine großen Umstände, sondern griff auf Madahims Geist über und setzte sich darin fest. Madahim wurde augenblicklich zu seinem willenlosen Sklaven, so wie zuvor auch schon Harmod – und viele andere. Wenige Atemzüge später kehrte Ganif mit seinem Unterführer zur Reiterschar zurück. Einige der Vogelreiter, die Madahim offenbar schon auf seine Seite gebracht hatte, wunderten sich sehr darüber, daß ihr Favorit so rasch klein beigegeben hatte und sich nun Ganifs Befehl völlig unterordnete. 251
Wäre es lichter Tag gewesen, dann wäre ihnen vermutlich nicht entgangen, daß es in Madahims Gesicht zuckte und in seinen Augen ein nebeliges Wallen war, in dem es gelegentlich aufblitzte. Aber in dunkler Nacht konnten sie das nicht sehen, und bis der Tag graute, würde Madahims Widerstand längst erloschen sein. Ganif brauchte sich von seinem Unterführer die Lage nun nicht mehr erklären zu lassen – der Deddeth bezog alles Wissen geradewegs aus seinem Geist. Bevor Madahim mit den zwanzig Reitern aufgebrochen war, hatte er mit den anderen drei Unterführern Janshar, Aburd und Fanhaj vereinbart, daß sie bei Tagesanbruch mit den restlichen dreißig Reitern und den sechzig Legionären nachkommen sollten. Die Orhaken würden der Spur mühelos folgen können. Falls die beiden Gruppen nicht schon früher zusammentrafen, wollten sie sich in den Ausläufern von Rafhers Rücken, am Wadi En-Ogh, treffen. In dem Gebiet westlich von diesem Wadi wurde auch die Verbotene Stadt Lo-Nunga vermutet. Das Volk der Rafher kümmerte den Deddeth nicht im mindesten. Aber aus Ganifs Geist hatte er genug erfahren, um behaupten zu können, daß der Tod Harmods auf die Magie des Gefangenen zurückzuführen war. Um die Rafher rankten sich viele Geschichten. Die meisten besagten, daß sie sich mit dem Unsichtbaren beschäftigten, mit Geisterwelten und körperlosen Wesen, mit den Geschöpfen der Schattenwelt und der Düsterzone – und mit Schwarzer Magie ganz allgemein. Der Deddeth wußte es besser. Der Rafher, den er kennengelernt hatte, als er in Harmod anwesend war, mochte sich mit allem möglichen befassen, aber nicht mit Schwarzer Magie. Andererseits wollte er nicht ausschließen, daß er einen besonderen Sinn für die Dunkelmächte hatte – ähnlich den Orhaken – und seine Nähe gespürt hatte. 252
Es wäre besser gewesen, auch diesen Rafher zu beseitigen. Doch das machte jetzt nichts mehr aus. Mythor mußte inzwischen ohnehin erkannt haben, mit wem er es zu tun hatte. Er würde sich jetzt nicht mehr so leicht täuschen und um seinen Körper bringen lassen. Aber auch das war nicht weiter schlimm, es verlieh der ganzen Sache sogar einen besonderen Reiz. Bald nachdem sie aufgebrochen waren, dämmerte der neue Tag. Der Himmel war bewölkt, und den ganzen folgenden Tag brach kein einziges Mal die Sonne durch. Aber das Gewitter, das in der Luft hing, blieb aus. Zwei Kundschafter wurden ausgeschickt, die die Flüchtlinge aus der Ferne beobachten sollten. Einer von ihnen kam in gewissen Abständen zurück, um Bericht zu erstatten, und wurde dann von einem anderen abgelöst. Die Beobachtungen ergaben, daß das Diromo der Flüchtenden ohne Unterbrechung in gerader Linie nach Westen galoppierte. Daran erkannten die Vogelreiter, daß sich das Diromo selbständig gemacht hatte und von seinen Reitern nicht gelenkt werden konnte. Es würde ohne Unterlaß so lange laufen, bis es vor Erschöpfung zusammenbrach. Das konnte noch Tage dauern. Die nächste Nacht kam und wich dem neuen Tag, und noch immer war das Dach der Welt von dunklen Wolken verhüllt, die ihre Schleusen nicht öffneten. Es herrschte ein düsteres Zwielicht, das das Land bedrückend erscheinen ließ. Gelegentlich tauchten in der Ferne Herden wilder Laufvögel auf, die, einmal aufgeschreckt, alles niederstampften, was ihnen in den Weg kam. An diesem Tag wurden die Vogelreiter Zeugen eines solchen Vorfalls. Der Deddeth genoß dieses Schauspiel auf seine besondere Art. Er entdeckte die Nomadenkarawane schon früher als alle anderen, und als er Staubwolken am Horizont sah, die die 253
wildgewordenen Laufvögel aufwirbelten, da war. ihm klar, daß sie den Weg der Karawane kreuzen würden. Und er kehrte halb ins Schattenreich zurück, dem er entstammte, und schnellte sich an den Ort des bevorstehenden Geschehens. Dort prallte gerade die Herde der wilden Laufvögel mit der Nomadenkarawane zusammen. Die Nomaden versuchten verzweifelt, die Laufvögel – es waren Diromen von geradezu unheimlicher Größe – mit aufgepflanzten Spießen und mit Wurfgeschossen abzudrängen. Sie schrien und schwangen bunte Tücher… bis die entfesselten Tiere über sie hinweggetrampelt waren. Und der Deddeth stürzte sich auf den Schauplatz dieser Tragödie, war mitten im Chaos und sog gierig die freiwerdende Lebenskraft in sich auf. Als alles vorbei war, kehrte er in seinen Wirtskörper Ganif und in seinen Handlanger Madahim zurück. Er war wieder stärker geworden. Er steckte voll geballter Lebenskraft und war bereit, gegen Mythor um dessen Körper zu kämpfen. Doch er wartete, bis sich die Gelegenheit dazu von selbst ergab. Sie bot sich am Morgen des nächsten Tages. Schon am Abend waren sie in hügeligeres Gelände gekommen und hatten am Horizont die schemenhaften Erhebungen von Rafhers Rücken gesehen. In der Dämmerung des neuen Morgens fanden sie sich inmitten einer zerklüfteten Karstlandschaft wieder. Die dunklen Wolken, selbst wie von oben nach unten ragende Gebirge anmutend, hingen wie zum Greifen tief. Nun fielen auch die ersten Tropfen. Windböen kamen auf, wirbelten zuerst Wolken von Sand vor sich her, bis der Boden sich mit Nässe gesättigt hatte. Ein Reiter aus der Vorhut tauchte auf; er trieb sein Orhako durch Zurufe und hektische Armbewegungen an. Er preschte 254
geradewegs auf Ganif zu und zügelte sein Tier erst knapp vor ihm. »Das Diromo der Geflohenen ist am Ende«, berichtete er atemlos. »Es ist am Wadi En-Ogh, unweit von hier, zusammengebrochen.« Endlich war es soweit! Der Deddeth mußte an sich halten, um seine Erregung zu unterdrücken, als er Ganif sagen ließ: »Jetzt werden Madahim und ich uns des Rafhers und seiner Freunde annehmen. Federdorn wird sie seinen Schnabel und seine Krallen spüren lassen. Federdorn wird den Rafher zum Sprechen bringen. Ihr anderen behaltet Abstand und wartet auf die Nachhut.« Niemand von den Vogelreitern hatte etwas dagegen einzuwenden, obwohl sie bei sich vielleicht zweifeln mochten, ob diese Taten dazu angetan waren, von dem Rafher zu erfahren, wo die Verbotene Stadt lag. Den Deddeth kümmerte es nicht. Er wollte Mythors Körper haben. Und dieses unwegsame Gelände war dafür wie geschaffen, mit diesem Körper auch zu entfliehen. Vielleicht würde er mit Hilfe des Rafhers sogar in die Verbotene Stadt gelangen – Lo-Nunga wäre ein ausgezeichnetes Versteck!
Ohne langsamer zu werden, war das Diromo auf einmal mitten im Laufen tot zusammengebrochen. Es kippte einfach nach vorne, stieß mit dem mächtigen Schädel gegen den Boden und rollte zur Seite. Dabei platzten die Riemen des Sattelgestells, und Mythor wurde durch die Luft geschleudert. Bevor er am Boden aufschlug, krümmte er sich zusammen und ließ sich abrollen. Sadagar lag ein paar Mannslängen weiter, beschwerte sich, daß ihm alle Knochen im Leibe schmerzten, aber es stellte sich heraus, daß er unverletzt war. 255
Von dem Rafher fehlte zunächst jede Spur. Sie fanden ihn kurz darauf hinter einem Felsen. Er kauerte mit dem Rücken zu ihnen und wühlte im Boden. »Was tust du da, Ango?« fragte Mythor. »Wäre es nicht besser, zu Fuß zu fliehen? Die Verfolger müssen uns dicht auf den Fersen sein.« »Noch nicht«, sagte der Rafher. Es war erst zum zweitenmal, daß er sein Schweigen brach. »Laßt mich allein.« Es klang so bestimmt, daß Mythor Sadagar ein Zeichen gab und sie sich auf die andere Seite des Felsens zurückzogen. »Vielleicht gräbt er nach eßbaren Wurzeln«, vermutete Sadagar hoffnungsvoll. Sie durchsuchten alle Satteltaschen, aber außer den von Harmod mitgeführten Vorräten fanden sie nichts. Während des Rittes hatten sie davon gegessen – und waren in der Folge auch eingeschlafen. Das hatten sie sich jedoch nur erlauben können, weil sie Angos Versicherung glaubten, daß das Diromo noch einige Zeit durchhalten werde. Auf diese Weise hatten Mythor und Sadagar fast den ganzen Ritt verschlafen und waren erst letzte Nacht wieder zu sich gekommen. Sie waren ausgeruht und satt, aber Mythor wunderte sich, wie der Rafher die ganze Zeit durchgehalten hatte, ohne irgendeine Nahrung zu sich zu nehmen. Sadagar schnallte seinen Messergurt um und verstaute seinen Geldbeutel unter dem Gürtel. Mythor beobachtete ihn, wie er daraufhin mit den drei Halsringen hantierte, die ein Geschenk des Kleinen Nadomir waren. Offenbar spielte der Steinmann mit dem Gedanken, den Troll anzurufen und um Hilfe zu bitten. Darum sagte Mythor: »Du solltest das lieber bleibenlassen. Du weißt, daß der Schöne Nadomir sehr giftig werden kann, wenn man seine Ruhe aus nichtigen Gründen stört. Im Moment sollten wir uns mehr auf Ango verlassen, auch wenn 256
er…« »No-Ango!« sagte da der Rafher hinter ihm, und seine Stimme klang auf einmal fest. Mythor hatte ihm den Rücken zugedreht, aber an Sadagars verblüfftem Gesichtsausdruck erkannte er, daß mit dem Rafher irgend etwas geschehen sein mußte. Er drehte sich um, und beim Anblick des Rafhers blieb ihm der Mund offen. Ango hatte seine linke Gesichtshälfte, jene, die blaß und von der Sonne gerötet gewesen war, mit Sand bestäubt. Auch den kahlrasierten Streifen auf seinem Schädel hatte er damit bedeckt. Über die Gesichtsbemalung hatte er mit einer lehmartigen Masse, nach der er offenbar im Boden gegraben hatte, seltsame Symbole geschmiert. Es waren Striche und Doppelstriche, halbe und volle Kreise und Zeichen, die entfernt an eine fremde Schrift erinnerten. »Was soll diese Maskerade?« erkundigte sich Sadagar. »Willst du uns damit schrecken?« »Nicht euch, sondern Dämonen und böse Geister«, sagte Ango. »Ihr habt gehört, daß man uns auch das Volk der gespaltenen Gesichter nennt. Jetzt wißt ihr, warum. Wir spalten unsere Gesichter auf diese Weise, um die Mächte des Bösen zu täuschen und von unserem wahren Ich abzulenken. Mein Schutz ist leider nicht vollkommen, weil mir nicht die richtigen Farben zur Verfügung stehen. Aber ich hoffe, daß er genügt. Jetzt bin ich wieder No-Ango, jetzt kann ich glücklich sein. Ihr solltet euch ebenfalls auf diese Weise schützen.« Ango, der sich nun No-Ango nannte, hielt erschrocken inne, als die ersten Tropfen fielen. Mythor erkannte den Grund, denn der Regen zeigte Spuren in seiner Gesichtsbemalung und wusch sie fort. »Du kannst meinen Burnus haben, um dein Gesicht unter der Kapuze zu schützen«, bot ihm Mythor an. No-Angos Gesicht verhärtete sich. Er blickte zwischen 257
Mythor und Sadagar hindurch zum Ende der Schlucht und sagte: »Zu spät. Da kommt er schon.« Mythor drehte sich um. Unten waren zwei Vogelreiter aufgetaucht, die sich nun über den steil hinaufführenden Felseinschnitt näherten. Es waren zwei – obwohl No-Ango nur von einem gesprochen hatte. Wie meinte er das? Er erklärte es sofort, ohne danach gefragt zu werden. »Es ist ein einzelner in zwei Körpern. Ich verzichte auf ein Schreckgesicht. Der Regen könnte für uns segensreich sein, wenn wir nur lange genug aushalten. Kommt! Klettert mir nach, so schnell ihr könnt.« No-Ango setzte sich in Bewegung. Er kletterte so schnell das breite Rinnsal zwischen den hoch aufragenden Felswänden hinan, daß ihm Mythor kaum folgen konnte, geschweige denn Sadagar. »Komm, Steinmann!« sagte Mythor und reichte dem Freund die Hand. Dabei blickte er hinunter zu den beiden Vogelreitern. Der eine war Ganif, der Träger des Deddeth. Bei dem anderen handelte es sich um einen der vier Begleiter Ganifs, die dabeigewesen waren, als sie und die anderen Legionäre von Bord der Halmash geholt worden waren. Und auf einmal glaubte er zu wissen, wie No-Ango es gemeint hatte, als er nur von einem gesprochen hatte: Ein einzelner in zwei Körpern – der Deddeth, der beide Vogelreiter beherrschte. Das setzte jedoch voraus, daß No-Ango über dieses dämonische Schattenwesen Bescheid wußte. In diesem Fall wußte er vielleicht auch, wie man einen Deddeth besiegen konnte. »Mythor!« gellte es die schluchtähnliche Rinne herauf. »Ich komme mir nun deinen Körper holen. Diesmal entwischst du mir nicht!« Mythor drehte sich um und sah, daß die Vogelreiter näher 258
gekommen waren. Sie waren keine siebzig Mannslängen mehr entfernt. Ihre Orhaken überwanden mit ihren langen Beinen die Unebenheiten viel rascher. Jeder Schritt brachte sie fast zwei Mannslängen weiter. »Komm, Sadagar! Schneller!« feuerte Mythor den Steinmann an und zog ihn weiter. »Es hat keinen Sinn, Mythor«, sagte Sadagar atemlos und entwand sich seinem Griff. »Ich kann nicht mehr. Laß mich hier zurück. Ich werde den Deddeth aufhalten. Mit meinen Messern oder den bloßen Händen. Ich werde ihn aus Ganif herausschütteln…« Er brach schluchzend ab und ließ sich erschöpft gegen einen Felsen fallen. Mythor sprang zu ihm und stieß ihn weiter. »Wenn hier einer kämpft, bin ich es!« herrschte er den Steinmann an und zog ihm zwei Messer aus dem Gurt. »Mich will der Deddeth haben, nicht dich vertrocknete Mumie.« »Mythor! Sadagar!« rief No-Ango von oben. Die Steilwand hinauf. »Dort seid ihr sicher!« Mythor sah, wie der Rafher die Rinne verließ und die seitliche Felswand bestieg. Ohne lange zu überlegen, hob er Sadagar hoch und setzte ihn am nächsten Felsvorsprung ab. »Es ist sinnlos«, jammerte der Steinmann. »Muß ich dich tragen?« herrschte ihn Mythor an. Er hielt beim Klettern beide Messer in der Hand. Das behinderte ihn, aber er steckte die Messer nicht weg. Er wollte kampfbereit sein. Er würde kämpfen, mit allen Mitteln. Wenn der Deddeth ihn haben wollte, dann mußte er schon aus sich herausgehen. Es hatte stärker zu regnen begonnen, es goß bereits in Strömen. Das Wasser floß über die Felsen herunter, sammelte sich in den Rinnsalen, bildete Bäche und stürzte in die Tiefe. Sadagar glitt am glitschigen Fels ab, und Mythor konnte ihn gerade noch auffangen und vor einem Absturz bewahren. No259
Ango war quer über die Felswand zurück zu ihnen geklettert und befand sich nun über ihnen. Er reichte Sadagar die Hand und half ihm hinauf. »Ihr müßt noch höher klettern, sonst seid ihr auch verloren«, sagte er eindringlich. Von unten erklang das schaurige Krächzen der Orhaken. Mythor brauchte sich nicht umzudrehen, er wußte auch so, daß die beiden Vogelreiter schon ganz nahe der Stelle waren, wo sie mit dem Aufstieg begonnen hatten. Und mit ihnen der Deddeth. Er spürte bereits seine Nähe. Das Unheimliche griff nach ihm, versuchte, ihn in die Tiefe zu zerren. Von oben faßte NoAngos Hand nach ihm und packte ihn mit schwächlichem Griff. »Höher! Höher!« drängte der Rafher. Mythor… Mythor… Das war der Deddeth in der Tiefe. Eine Schwärze wallte zu Mythor hoch; sie raubte ihm die Sicht und machte ihm das Denken schwer. Es war wieder so wie damals bei jenem Himmelsstein, der die Stelle kennzeichnete, wo die Marn ihn aufgegriffen hatten. Narr, du einfältiger, eingebildeter Narr, der du warst, als du glaubtest, in diesem Meteor auf die Welt gefallen zu sein! In Wirklichkeit war es ein Markstein des Bösen. Und es griff wieder nach ihm… Wie erst vor wenigen Tagen – war es zwei oder drei Mondphasen her? –, als er hilflos in der Strudelsee trieb und der Deddeth in dämonischer Wildheit Einlaß in die Lederblase begehrte. So auch jetzt, in dieser steilen Felswand. Ein wütendes Fauchen wie von einem Ungeheuer erklang, das vor Hunger raste und mit seinem Rachen nach ihm schnappte. Mythor sah es in der Schwärze. Es war noch dunkler als die Finsternis. Ein fast formloses körperloses Ding, 260
dessen Umrisse zitterten und ineinander verflossen, sich dauernd veränderten. Krallen schlugen aus der Schwärze nach ihm, wollten sich in seinen Körper bohren. Mythor kletterte blind weiter, er wußte nicht, wohin. Er sah weder Sadagar noch No-Ango. Aber er hörte den Steinmann schreien. Sein Schrei ging jedoch in einem grollenden Donner unter. Es hörte sich an, als falle der ganze Gebirgszug von Rafhers Rücken in sich zusammen. Auf einmal wich die Dunkelheit. Mythor konnte sehen. Der Regen prasselte auf seinen Körper hernieder, jeder wuchtig geschleuderte Tropfen schmerzte wie ein Pfeilstich. Sadagar zerrte an ihm, deutete aufgeregt in die Tiefe und rief ihm irgend etwas zu. Doch der Donner schluckte alles. Mythor drehte sich um. Ihm stockte der Atem. Die steile Schlucht stürzte eine graue Masse aus Wasser und Nebel herunter. Ihr voraus eilte ein Windstoß, der so heftig an Mythor zerrte, daß er ihn beinahe aus der Felswand gerissen hätte. Es war eine wahre Sturzflut, die alles mit sich riß, was nicht seit dem Anbeginn der Welt tief in ihrem Schoß verwurzelt war. Die Gischt sprühte heran, dann ergoß sich der Wall des nassen Elements wie ein Berg über die beiden Vogelreiter, schwemmte sie mit sich fort. Noch einmal tauchte der Schädel eines Orhakos mit seinem fächerförmigen Gefieder auf, dann hatten die reißenden Wassermassen alles fortgerissen. Es ging so schnell, daß es Mythor wie ein Traum vorkam. Aber es war kein Traum. Die Schwärze war fort, weggespült vom alles reinigenden Wasser. Mythor gab einen glucksenden Laut von sich. Er war den Schattenlos! Sadagar fiel ihm in die Arme und blieb so mit bebendem Körper an ihn gelehnt. Er löste sich erst, als No-Ango an ihm zupfte. Er deutete in die Höhe, die Felswand hinauf. Mythor 261
verstand, sie mußten weiter. Sie setzten den Aufstieg fort. Jetzt fiel alles viel leichter, sie mußten sich nicht abhetzen, denn hinter ihnen jagte kein Schatten her. Unter ihnen war das Tosen der fallenden Wasser. Aber die mörderische, reißende Strömung stellte für Mythor keine Bedrohung dar. Sie hatte ihn von seinem Schatten befreit. Mythor kam hinter Sadagar und No-Ango auf einen schmalen Pfad. Unweit vor ihnen war eine Höhle. Er sah den Steinmann und den Rafher darin verschwinden. Als er ihnen folgen wollte, richtete sich aus einer Felsspalte plötzlich ein Schwert auf ihn. Sein erster Gedanke war: Kampf. Er hielt immer noch Sadagars zwei Wurfmesser in Händen. Ein schneller Ruck, und er hätte sich mit den beiden Klingen des drohenden Schwertes entledigen können. Aber dann sah er, daß seine Begleiter in der Höhle ebenfalls bedroht wurden. Da ergab er sich. Er ließ die Messer fallen. Verhüllte Gestalten tauchten aus der Höhle auf, flinke Hände nahmen seine Messer auf, und drängten ihn daraufhin in das Dunkel des Felsgangs hinein. Sie wurden in eine große Höhle geführt, die von einigen Öllampen erhellt wurde. Auf dem Weg dorthin waren sie an kleineren Nebenhöhlen vorbeigekommen. In diesen waren schafsähnliche Tiere zusammengepfercht, die Mythor an die Gromme aus Südsalamos erinnerten, nur daß sie kleiner waren, dafür aber einen dichteren Wollpelz hatten. In der großen Höhle war es warm, obwohl kein Feuer brannte. Die Luft war von einem Duftgemisch aus Schweiß, Mist und Rauch, der durch einen Gang hereinwehte, durchsetzt. Über den Boden verteilt kauerten die verhüllten Gestalten und waren in verschiedene Arbeiten vertieft. Da sie auch Gesichtstücher trugen, die nur schmale Schlitze für die 262
Augen frei ließen, konnte man Frauen und Männer nicht voneinander unterscheiden. Die meisten waren damit beschäftigt, aus großen Knäueln flaumiger Wolle Fäden zu ziehen und auf Spindeln zu wickeln, die sie zwischen ihre Knie geklemmt hatten. Nur wenige von ihnen waren mit Krummschwertern oder Dolchen bewaffnet. Dafür sah Mythor überall an den Wänden lange, schwere Stöcke mit keulenartigen Verdickungen lehnen; die Keulenenden waren mit Dornen gespickt. Mythor und Sadagar wurden von zwei Schwertträgern bewacht. Sie hatten sich kaum in dem ihnen zugewiesenen Winkel niedergelassen, als No-Ango zurückkam. Sein Gesicht war unbemalt, so daß die hellere Hälfte sich deutlich von der anderen abhob. Er lächelte ihnen entgegen und sagte: »Ihr habt nichts mehr zu befürchten. Die Rafher-Ayna, wie sich diese Bergnomaden nennen, haben euch anfangs für Krieger des Shallads gehalten. Auf die sind sie nämlich nicht gut zu sprechen. Aber ich konnte sie eines anderen überzeugen.« »Dann sind wir keine Gefangenen mehr, No-Ango?« fragte Mythor und deutete auf die beiden Wachen. »Ich bin nun wieder nur mehr Ango, denn mein Gesicht ist nicht gespalten«, berichtigte ihn der Rafher. An die beiden Wachen gewandt, sagte er: »Ihr könnt gehen, das sind Freunde.« Die beiden Rafher-Ayna steckten die Krummschwerter in die Scheiden und zogen sich lautlos zurück. »Wir können hier bis morgen bleiben«, sagte Ango. »Dann müssen wir weiter. Die Ayna sind zwar nicht ungastlich, aber sie sehen Fremde nicht gerne in ihren Lagerhöhlen.« Ango erzählte einiges über die Bergnomaden, die nicht gewillt waren, sich dem Shallad zu unterwerfen. Obwohl Rafhers Rücken zu Moro-Basako gehörte, waren die hier 263
lebenden Bergvölker auf ihre Eigenständigkeit bedacht. Es gab überall in den Bergen solche Höhlen wie diese, die das Wasser vor Urzeiten gegraben hatte. Die Bergnomaden ließen sich von Zeit zu Zeit in ihnen nieder, bis die umliegenden Weidegründe unergiebig wurden, dann zogen sie weiter. Die meisten der Nomaden waren früher Bewohner des Flachlands gewesen, doch die ewigen Kämpfe zwischen Moronen und Basakotern hatten sie nach und nach in die Berge vertrieben. Hier führten sie ein einfaches, aber unabhängiges Leben. Sie haßten Shallad Hadamurs Vogelreiter. Ganz allgemein waren sie fremdenscheu und in ihrer Art stolz und selbstbewußt. Sie brauchten nichts, was höherstehende Kulturen zu bieten hatten, und waren sich selbst genug. »Ich genieße den Vorzug, daß auch ich ein Sohn der Berge bin«, schloß Ango. »Für die Nomaden bin ich fast so etwas wie ein Heiliger, weil ich zum Volk der gespaltenen Gesichter gehöre. Es geschieht selten, daß sie einen von uns zu sehen bekommen. Ihre Verehrung hat jedoch Grenzen.« Zwei der Verhüllten kamen mit trippelnden Schritten heran. Sie trugen zwischen sich ein Gestell mit drei großen Schüsseln, denen Dampf und ein verführerischer Duft entstiegen. »Greift zu und trinkt!« forderte Ango auf. »Dieses Gebräu sieht nach nichts aus, aber es ist überaus nahrhaft und schmeckt auch noch gut.« Mythor und Sadagar nahmen jeder eine der Schüsseln an sich und schlürften die dickflüssige, dampfende Flüssigkeit. »Schmeckt wirklich ausgezeichnet!« lobte Sadagar. »Aber sage, Ango, wie kommt es, daß dein Gorgan wie das der Moronen klingt, obwohl dein Volk in der Abgeschiedenheit dieser Bergwelt wohnt?« »Ich bin so etwas wie ein Kundschafter«, antwortete Ango. »Ich wurde, wie einige andere meines Volkes auch, 264
ausgeschickt, um die Lage zu erkunden und manchmal, wenn es sein mußte, auch falsche Fährten zu legen. Das alles hat eine tiefere Bedeutung, über die ich noch nicht sprechen möchte. Bei einem dieser Vorstöße ins Flachland wurde ich von Vogelreitern aufgegriffen. Ich hatte mein Gesicht natürlich verhüllt, doch das nützte mir nichts. Als sie mir das Gesichtstuch abnahmen und meine Gesichtsspaltung sahen, wußten sie sofort, welchen Fang sie gemacht hatten. Alles Weitere könnt ihr euch denken. Ich wurde zu Ganif gebracht, der sich durch einen Kurier vom Shallad alle Vollmachten geben ließ, unser Volk zu vernichten. Natürlich nannte er es >bekehren<, aber es kommt auf dasselbe hinaus. Mein Volk würde sich nie unterwerfen.« »Was habt ihr gegen den Shallad?« fragte Mythor. »Im ganzen Shalladad herrscht der Glaube, daß er die Fleischwerdung des Lichtboten ist. Glaubt ihr nicht an die Macht des Lichtboten?« »Doch«, sagte Ango fest. »Wir… Aber das würde zu weit gehen. Wir erkennen bloß nicht den Shallad als seinen Vertreter an. Wenn du wüßtest, wieviel Leid Hadamur über die Völker des Shalladad gebracht hat, dann würdest du unsere Abneigung verstehen. Sein Vorgänger Rhiad war lange nicht so grausam, aber auch er konnte mein Volk nicht davon überzeugen, daß er berufen ist.« »Und was hältst du von der Legende vom Sohn des Kometen?« platzte Sadagar heraus. Mythor stieß ihn versteckt an, doch Ango schien es bemerkt zu haben. »Sprechen wir über andere, näherliegende Dinge«, sagte der Rafher. »Ich bin erst siebzehn Sommer und noch zu jung, solche Fragen zu erörtern. Es gibt auch wichtigere Probleme, die vor allem dich persönlich betreffen, Mythor.« Mythor erwiderte den Blick des jungen Rafhers. Er setzte die Schüssel ab und sagte dann: »Du hast erkannt, daß ich von 265
einem Schatten bedroht wurde, Ango. Ich muß mich noch dafür bedanken, daß du mich vor ihm gerettet und ihn vernichtet hast. Weißt du auch, daß dieser Schatten ein Deddeth war?« Als Ango ernst nickte, fragte Mythor: »Woher hast du dieses Wissen?« »Mein Volk hat sich viel mit Geistern und Dämonen beschäftigt, wie du dir denken kannst«, antwortete Ango. »Dadurch haben wir einen Sinn für Schattenwesen entwickelt, können sie erkennen und ihre Maske durchschauen. Wir kennen auch einige Mittel, sie zu besiegen. Aber am Wadi EnOgh habe ich keines dieser Mittel anwenden können. Die Sturzflut hat bloß Ganif und den anderen Schattenträger ertränkt. Der Deddeth aber wurde nicht vernichtet, das mußt du wissen, Mythor!« Mythor fröstelte unwillkürlich, als er fragte: »Du meinst, der Deddeth kann mich jederzeit wieder bedrohen? Ist die Gefahr immer noch nicht gebannt?« Ango schüttelte den Kopf. »Durch Ganifs Tod bist du den Schatten nicht losgeworden, du hast nur einen Aufschub bekommen. Aber der Deddeth kann dir jederzeit in jedem beliebigen anderen Wesen gegenübertreten. Auch in mir. Darum werde ich mein Gesicht spalten – um dich und mich selbst vor ihm zu schützen.« Mythor beschlich wieder das seltsame Gefühl der Furcht, das er schon einige Male kennengelernt hatte. Es war die Angst vor einem Feind, den er nicht sehen und nicht fassen konnte und den zu bekämpfen ihm die Waffen fehlten. Ja, wenn er die Waffen des Lichtboten bei sich gehabt hätte… Verfluchter Luxon! Der Schatten konnte überall sein. Vielleicht war er in einen der Verhüllten geschlüpft, die gerade ihre Spindeln weglegten und sich aus der Höhle zurückzogen. Oder er lauerte in einem dunklen Winkel, bereit, sich auf irgendein anderes Opfer zu 266
stürzen, auf einen Menschen, dem Mythor vertraute. Oder auf ihn selbst! Wo lauerte die Gefahr? Mythor blickte von Ango zu Sadagar. Er schluckte. Wie weit trieb ihn der Schatten, daß er nicht einmal mehr den engsten Freunden trauen konnte? »Mach dich nicht verrückt, Mythor«, sagte Sadagar lachend. »Die Sturzflut hat den Deddeth fortgespült. Er wird einige Zeit brauchen, um sich von diesem Schlag zu erholen.« »Danke, Steinmann«, sagte Mythor, aber der Trost des Freundes hatte ihn nicht überzeugt. Angos Mahnungen klangen da schon einleuchtender. Mythor schüttelte diese Gedanken ab. Er blickte sich um, sah, wie die verhüllten Rafher-Ayno nacheinander ihre Arbeit liegenließen und aus der Höhle verschwanden. Er fragte: »Was geschieht jetzt?« »Es ist Schlafenszeit«, sagte Ango. »Der Älteste hat mir gezeigt, wo unser Ruheplatz ist. Wir sollten ihn aufsuchen. In wenigen Augenblicken werden sich alle Ayno zur Ruhe begeben haben. Wir dürfen uns nicht ausschließen.« Schlafen! dachte Mythor verbittert. Wie sollte er an Schlaf denken können, da er in jedem sich bewegenden Schatten den Deddeth sah. Sie erhoben sich und folgten Ango durch die Gänge zu einer kleinen Höhle, die mit Stroh ausgelegt war. »Warum können wir nicht aufbrechen?« fragte Mythor. »Ich möchte nicht, daß die Nomaden durch mich gefährdet werden.« »Alles zu seiner Zeit«, sagte Ango. »Wir können nicht einfach fortgehen. Die Ayno würden das als Beleidigung und Verstoß gegen ihre Gastfreundschaft empfinden. Und glaube mir, Mythor, du kannst dem Deddeth nicht entfliehen. Du wirst ihn nur los, wenn du ihn besiegst.« »Du bist jung an Jahren, Ango«, sagte Mythor beeindruckt, »aber aus dir spricht die Reife eines erfahrenen Mannes.« 267
»Ruhen wir uns aus«, sagte Ango nur. Er wandte Mythor und Sadagar den Rücken zu und kauerte sich neben dem Eingang nieder, wo einige kleine Gefäße mit Farben bereitstanden. Vom Höhlengang fiel der fahle Schein einer Öllampe herein, und Ango begann damit, seine linke Gesichtshälfte zu bemalen. Mythor streckte sich auf dem Strohlager aus. Als er zu Sadagar blickte, der rechts von ihm lag, rührte sich der Steinmann nicht mehr. Er mußte sofort eingeschlafen sein. Im Schlaf, das wußte Mythor, hatte der Deddeth besonders leichtes Spiel mit seinen Opfern. Er würde wach bleiben.
Mythor schreckte hoch, als etwas über seinen Mund strich. Über ihm schwebte eine feuerrote Dämonenfratze, die mit seltsamen Zeichen durchsetzt war. Aber es war nur ein halbes Gesicht! »Ich bin es, No-Ango«, sagte eine vertraute Stimme. »Gib keinen Laut von dir, damit wir die Ayno nicht wecken. Wir werden fliehen.« »Wohin?« fragte Mythor, der noch ganz schlaftrunken war. Obwohl er gegen seine Müdigkeit angekämpft hatte, mußte er irgendwann doch eingeschlafen sein. Er blickte neben sich. Da lag der Steinmann und schnarchte leise vor sich hin. »Ich muß unbedingt zu meinem Volk«, sagte No-Ango. »Und ich muß mich beeilen, um nach Lo-Nunga zu kommen, will ich verhindern, daß mein Volk den Endgültigen Weg geht. Wenn du willst, kannst du mitkommen.« »Dein Vertrauen ehrt mich«, sagte Mythor. »Aber wenn der Deddeth hinter mir her ist, würde ich durch meine Anwesenheit auch dein Volk in Gefahr bringen.« »Das befürchte ich nicht, aber dir könnte geholfen werden«, sagte No-Ango. »Kommst du?« 268
Mythor entging nicht, daß das Angebot des Rafhers ihm allein galt und er Sadagar nicht darin mit einbezog. Doch er dachte nicht daran, den Steinmann hier zurückzulassen, und er wollte darüber auch nicht lange palavern. Kurz entschlossen ergriff er Sadagar am Arm und rüttelte ihn. »Aufwachen, Sadagar!« raunte er ihm zu. »Wir verschwinden von hier.« Als Mythor No-Angos Blick kreuzte, wirkte der Rafher sehr ernst, wenn nicht gar besorgt, aber er sagte nichts. »Was fällt dir ein, einen Mann um seinen gerechten Schlaf zu bringen«, maulte Sadagar und rieb sich die Augen. Als er NoAngos bemaltes Gesicht sah, gab er einen erschrockenen Laut von sich. »Beim Kleinen Nadomir, du siehst ja zum Fürchten aus.« »Ich will mit dem gespaltenen Gesicht nur Dämonen und Schattenwesen schrecken«, erwiderte No-Ango doppelsinnig. »Seid ihr bereit?« Sadagar tastete seinen Körper ab und rief erschrocken: »Meine Messer! Ich gehe nicht ohne sie.« No-Ango hatte sich einen der Keulenstöcke beschafft, wie sie die Ayno benützten. Er wühlte damit das Stroh auf, bis darunter Sadagars Messergurt zum Vorschein kam. Der Steinmann atmete auf und band sich den Gurt unter dem Burnus um den Leib. »Gibt es keine Wachen?« erkundigte sich Mythor, als er NoAngo durch den Höhlengang folgte. Ein frischer Luftzug zeigte an, daß sie dem Ausgang schon sehr nahe sein mußten. »Laß mich nur machen«, sagte No-Ango. Als sie den Ausgang der Höhle erreichten, sah Mythor vor dem helleren Hintergrund des Nachthimmels eine einzelne Gestalt stehen. Es hatte aufgehört zu regnen, und an einigen Stellen war die Wolkendecke aufgebrochen. No-Ango hob die Hand zum Zeichen, daß Mythor und 269
Sadagar stehenbleiben sollten, dann ging er allein weiter. Er bewegte sich lautlos. Doch als er ins Freie kam, stieß er gegen einen Stein. Der Wachtposten wirbelte sofort herum und zog sein Schwert, doch No-Ango schlug es ihm mit der Keule aus der Hand. Dann stürzte er sich auf ihn. Die beiden rangen eine Weile miteinander; nur ihr keuchender Atem war zu hören. Plötzlich sah Mythor, wie No-Ango mit beiden Daumen gegen die Stirn seines Gegners drückte. Einen Atemzug später sank der Ayno lautlos in sich zusammen. »Kommt!« Mythor und Sadagar eilten ins Freie und folgten No-Ango über einen steilen Pfad hinauf, bis sie eine Anhöhe erreichten. Dort drehte sich No-Ango um und zeigte ihnen das Gesicht. Es wirkte in dem schwachen Schein der wenigen Sterne unheimlich und erschreckend. Sadagar gab einen gurgelnden Laut von sich und stürzte wie schutzsuchend zu Mythor. »Was hast du?« fragte No-Ango mißtrauisch. »Wisch dir die Bemalung aus dem Gesicht!« verlangte Sadagar. »Ich kann mich nicht daran gewöhnen, sie erschreckt mich jedesmal aufs neue.« »Du brauchst nicht mit mir zu kommen«, sagte No-Ango kalt und maß Sadagar mit einem durchdringenden Blick. »Ich habe dich nicht darum gebeten.« »Ich hätte wohl bei den Nomaden zurückbleiben sollen«, beschwerte sich Sadagar, »um die Suppe allein auszulöffeln, wenn sie deine Flucht bemerkt hätten. Nein, danke, da ertrage ich lieber deine Gegenwart. Aber bleib mir vom Leibe! Du trägst einen Dämon im Gesicht.« No-Ango bedachte Sadagar mit einem langen Blick und sah dann kurz zu Mythor hinüber. Aber er sagte nichts, wandte sich um und ging fort. 270
»Was ist nur in dich gefahren, Sadagar?« sagte Mythor. »Du weißt, welche Bedeutung die Gesichtsbemalung für den Rafher hat.« »Ha, er hat dich belogen«, sagte Sadagar feindselig. »Er hat dich belogen und getäuscht. In Wirklichkeit trägt er einen Dämon im Gesicht. Du kannst mir glauben, Mythor, denn ich kenne mich in diesen Dingen aus.« »Du redest dir nur etwas ein«, knurrte Mythor und schritt schneller aus, um No-Ango nicht aus den Augen zu verlieren. Der Rafher drehte sich nicht nach ihnen um, so als kümmere es ihn wenig, ob sie ihm folgten oder nicht. »Nicht so schnell, Mythor, ein alter Mann ist kein Orhako«, beschwerte sich Sadagar, während er keuchend mit Mythor Schritt zu halten versuchte. »Ich traue diesem Wilden nicht.« »No-Ango ist kein Wilder«, berichtigte ihn Mythor. »Du solltest endlich mit dem Keifen aufhören.« »Wie du meinst«, sagte Sadagar beleidigt. Mythor ging schneller und schloß bis auf zehn Mannslängen zu No-Ango auf. Er wurde erst wieder langsamer, als Sadagar ihn am Arm zurückhielt. Mythor drehte den Kopf zu ihm, aber der Steinmann stieß ihn von sich und wandte das Gesicht ab. Für einen Moment war Mythor, als sehe er es in seinen Augen aufblitzen und als gleite ein wallender Schatten über sein Gesicht. Aber das mußte Einbildung gewesen sein. Sadagar war schon immer ein Nörgler gewesen, dem nichts und niemand paßte, der nicht aus demselben Holz wie er geschnitzt war. Wahrscheinlich war es auf die Anstrengungen der letzten Tage zurückzuführen, daß er noch unausstehlicher geworden war. Mehr steckte gewiß nicht dahinter – es konnte, es durfte nicht anders sein. No-Ango entschwand für einen Moment Mythors Blicken, tauchte wieder kurz als dunkler Schemen auf einem Felsen auf 271
und wurde gleich darauf erneut von der Dunkelheit verschluckt. »Wir müssen uns beeilen, um No-Ango nicht aus den Augen zu verlieren«, drängte Mythor und beschleunigte den Schritt. »Sei vorsichtig«, ermahnte Sadagar. »Es kann eine Falle sein. Er wird dich am Schimmer deiner Augen erkennen.« Mythor zuckte zusammen. Er erinnerte sich daran, daß auch Harmod ein Leuchten in seinen Augen gesehen hatte, als er bereits von dem Deddeth besessen gewesen war. War dies nicht ein untrügliches Zeichen dafür, daß auch Sadagar… »Wo siehst du ein Leuchten in meinen Augen?« erkundigte sich Mythor argwöhnisch und blickte Sadagar an. Der Steinmann kicherte und erwiderte seinen Blick – es war wiederum so dunkel, daß Mythor nicht viel von seinem Gesicht erkennen konnte, aber da war nicht die Spur eines Schattens. »Ich?« wunderte sich Sadagar. »Ich doch nicht. Aber dieser Rafher, wenn er besessen ist.« »Jetzt ist es aber genug, Sadagar«, wies ihn Mythor zurecht, der doch einigermaßen erleichtert war über Sadagars Erklärung. »No-Ango trägt die Gesichtsbemalung zum Schutz gegen Dämonen. Er ist ungefährdet.« »Sagt er!« meinte Sadagar hintergründig. »Aber kann es nicht genausogut umgekehrt sein, nämlich, daß diese Bemalung Schatten anlockt? Warum glaubst du einem dahergelaufenen Wilden mehr als einem alten Freund?« »No-Ango hat uns am Wadi En-Ogh schließlich vor dem Deddeth gerettet«, erklärte Mythor. Er blickte nach vorne und sah eine schattenhafte Gestalt zwischen den Felsen warten. Als sie näher kamen, setzte sie sich wieder in Bewegung. »Das hat No-Ango so dargestellt«, hielt Sadagar entgegen. »Aber es kann sich auch so verhalten haben, daß er mit seiner lehmigen Gesichtsmaske den Deddeth angelockt hat. Es paßt 272
doch alles zusammen, Mythor! Warum willst du die Wahrheit nicht erkennen?« Mythor schwieg dazu. Sadagar mochte recht haben, daß er sich der Wahrheit verschloß. Das traf aber in noch stärkerem Maß auf den Steinmann zu. Der Gedanke, daß der Gefährte aus vielen Kämpfen nicht mehr er selbst sein mochte, war einfach zu schrecklich. »Hör auf mich, Mythor«, sagte Sadagar eindringlich. »Glaubst du wirklich, der Rafher würde uns zu seinem Volk führen, das sich seit so langer Zeit in den Bergen versteckt und keine Fremden zu sich läßt… ja, diese vermutlich tötet, wenn sie eine Spur finden? Gebrauche deinen Verstand, dann wirst du dahinterkommen, daß uns No-Ango einfach nicht nach LoNunga führen kann. Es ist eine Verbotene Stadt!« »Das klingt einleuchtend, aber unter den gegebenen Umständen…«, begann Mythor, wurde aber von Sadagar unterbrochen. »Die sogenannten Umstände beruhen alle auf No-Angos Wort. Aber ich durchschaue seine Absicht. Er will uns nur in die Berge locken, wo er sich auskennt. Dort wird er uns entweder töten oder uns verlassen, was auf dasselbe hinauskommt. Das heißt, mich wird er töten. Dir aber wird er ein gespaltenes Gesicht verpassen, damit der Deddeth…« »Hör auf!« herrschte Mythor den Freund an. »Wie soll ich einen vernünftigen Gedanken fassen können, wenn du mich dauernd beschwatzt?« »Gut, ich halte den Mund«, sagte Sadagar gekränkt. »Aber eines muß ich noch loswerden: Ich habe eine Idee, wie man den Rafher auf die Probe stellen könnte. Du weißt, daß ich beim Sterndeuter Thonensen einige bescheidene magische Praktiken gelernt habe. Dazu gehört auch eine Beschwörungsformel, mit der man einen Dämon zwingen kann, sich zu erkennen zu geben.« 273
»Und die willst du bei No-Ango anwenden?« fragte Mythor zweifelnd. »Mit deiner Zustimmung und Hilfe«, antwortete Sadagar. »Aber es sind einige Vorbereitungen notwendig. Darum schlage ich vor, daß wir eine kleine Rast machen. Ich spüre meine alten Glieder ohnehin nicht mehr. Einverstanden?« Mythor stimmte zu.
No-Ango hatte eine Felsplattform mit karger Grasnarbe als Lagerplatz erwählt. Der neue Tag graute bereits, und es wurde rasch hell, denn die Wolken verflüchtigten sich allmählich und gaben einen strahlend blauen Himmel frei. Es war bereits so warm, daß sich Mythors des Burnusses entledigte. Rings um sie waren nur Berge und zerklüftete Schluchten, so weit das Auge reichte. Nur selten zeigte sich ein Flecken Grün zwischen dem schroffen Fels, der von rötlicher bis violetter Farbe war. Nirgendwo eine Spur von Leben. Und doch gab es irgendwo in einer versteckten Schlucht ein Volk, das sich von der übrigen Welt abgesondert hatte. Was waren das für Menschen? No-Ango war nicht der Maßstab für die Rafher, denn er verbrachte seine meiste Zeit in dem fruchtbaren Umland und war von der Kultur der anderen Völker beeinflußt. Mythor mochte den Jungen, der kaum mehr etwas Kindliches an sich hatte. Aber er stand zwischen ihm und Sadagar. Der Steinmann suchte die Gegend ab und sammelte Steine, die er dann auf der Plattform auslegte. Mythor wußte, was er damit bezweckte oder angeblich bezweckte, aber er schwieg dazu. »Wir können nicht lange rasten«, sagte No-Ango, dessen Gesichtsbemalung bereits etwas verwischt war. Im Licht des Tages bot er einen noch fremdartigeren Anblick, aber die 274
Bemalung wirkte weder unheimlich noch erschreckend. »Ich muß dringend zu meinem Volk.« »Du sagtest bereits, daß du es davor bewahren möchtest, den Endgültigen Weg zu gehen«, sagte Mythor. »Was meintest du damit?« »Als ich in die Gefangenschaft der Vogelreiter geriet, hatte ich einen Begleiter«, erklärte No-Ango. »Er konnte fliehen und wird meinem Volk berichtet haben. Da ich so lange ausblieb, wird man mit dem Schlimmsten rechnen. Damit ist nicht gemeint, daß ich den Tod gefunden habe. Vielmehr wird man meinen, daß ich unter der Folter allen Widerstand aufgegeben habe und unsere Feinde zur Verbotenen Stadt führen werde. Mein Volk hat keine Chance, gegen die Vogelreiter zu bestehen, es wäre ein aussichtsloser Kampf. Da es sich aber auch nicht unterwerfen wird, muß es einen anderen Weg gehen… den Endgültigen!« »Du meinst damit doch nicht den Freitod?« fragte Mythor entsetzt. »Das wäre Wahnsinn!« »Es kommt darauf an, von welcher Warte man es sieht«, erwiderte No-Ango, und er konnte dabei lächeln. »Jedes Ding hat zwei Seiten. Was macht der Steinmann da?« Sadagar war wieder mit einem Berg von Steinen gekommen und warf sie ins Gras. »Ich will den Versuch machen, diese Steine unsere Geschichte erzählen zu lassen«, sagte er, ohne den Rafher anzusehen. Er deutete auf den Steinkreis, den er um Mythor gelegt hatte, und fuhr fort: »Angenommen, da ist die Welt, dann sind wir im Augenblick dort, wo Mythor sitzt. Dieser Stein hier ist Tambuk.« Er deutete auf einen Stein bei Mythors linkem Fuß und legte nördlich davon einen kleineren Steinkreis aus dreizehn Steinen. Er ging dabei überaus sorgsam vor und verwendete nur ganz bestimmte Steine, die alle glatt wie geschliffen waren. Als er damit fertig war, sagte 275
er: »Das ist die Strudelsee, die wir überqueren mußten, um in den Süden zu gelangen. An diesem Punkt der Strudelsee«, er setzte einen großen Stein, der gezackt war und glitzernde Pünktchen aufwies, »wurde Mythor von seinem Schatten attackiert.« Sadagar legte weitere Steine aus, die markante Punkte auf Mythors Reise in den Süden darstellten: die LichtsplitterInseln mit dem Koloß von Tillorn, die Stelle, wo der riesige Drache Ghorogh abgestürzt war… Yarman-Rash, die Speicherburg der Schurketen und der Meteorstein an der Straße des Bösen, wo Mythor in die Gewalt des Deddeth geraten war… der Baum des Lebens, der Lilienhügel der Salamiter… und schließlich das Hochmoor von Dhuannin, wo die größte Schlacht der neueren Lichtwelt stattgefunden hatte und wo die Geburtsstätte des Schattens lag. Sadagar erzählte Mythors Geschichte so, als habe er sie miterlebt, dabei war er erst an den Splittern des Lichts wieder zu ihm gestoßen. Mythor hatte den Steinmann zwar über seine Abenteuer informiert, aber letztlich doch nicht so eingehend. Das betraf zum Beispiel die Schlacht im Hochmoor von Dhuannin, die er durch einen dunklen, fast schwarzen Stein darstellte. Sadagar erzählte vom Sterben und Leiden der Krieger, als sei er über dem Schauplatz gewesen und habe das ganze Schlachtfeld einsehen können. Ähnlich war es mit der Begebenheit am Meteorstein, wo Mythor sich schon aufgegeben hatte und erst durch das Können der Großen wieder Herr über sich selbst geworden war. Sadagar schilderte die Vorgänge so wirklichkeitsnah, als sei er dabeigewesen – wie mit den Augen des Deddeth! Zuerst war Mythor deswegen nicht beunruhigt, denn es war vereinbart, daß Sadagar durch das magische Ritual des Steinelegens und des Blendens durch Worte den Schatten aus No-Ango herauslockte. Gleichzeitig sollte der große, die Welt 276
symbolisierende Steinkreis in Wirklichkeit ein Schutzwall gegen den Dämon sein. Doch No-Ango zeigte überhaupt keine Reaktion. Dafür geriet Sadagar immer mehr aus sich heraus, er steigerte sich förmlich in einen Rausch, lebte sich in die Rolle des Deddeth hinein. Mythor blickte auf die scheinbar verstreut herumliegenden Steine und erkannte auf einmal, daß sie ein ganz seltsames Muster ergaben. Er verstand sich nicht gut aufs Kartenlesen – die Marn hatten keine besessen, und zum erstenmal war er auf Prinz Nigomirs Goldener Galeere mit solchen Darstellungen bekannt geworden –, aber er hatte das Gefühl, daß Sadagar die Länder und Orte nicht nach der Wirklichkeit, sondern nach einem eigenen Plan markiert habe. »Zweimal ist Mythor seinem Schicksal entgangen, beim drittenmal wird ihm die Stunde schlagen!« schrie Sadagar auf einmal mit gellender Stimme. »Vogelreiter!« rief No-Ango da und sprang zu dem Steinkreis. Er beförderte die nächstliegenden Steine mit einigen Tritten auf Sadagar zu. Dieser heulte auf. Mythor sah, wie sich des Steinmanns Gesicht verzerrte, als tobe ein Schatten darin. Und das war der Beweis für ihn, daß nicht der Rafher betroffen war, sondern daß sein Freund sich in fremder Gewalt befand. Die ganze Zeit hatte er wie gelähmt dagesessen und wurde sich nun erst, als die Lähmung von ihm abfiel, dessen bewußt. Er sprang auf und stand kaum auf den Beinen, als Sadagar ihn anfiel. Er war in diesem Augenblick kein Mensch, sondern ein Dämon; Mythor erkannte ihn nicht wieder. Er fühlte auch sogleich, wie etwas Dunkles, Böses nach ihm griff, wich zurück und versuchte gleichzeitig, die gierig nach ihm gereckten Hände abzuwehren. 277
Sadagar schlug wie mit Klauen nach ihm; der Deddeth in ihm verlieh ihm übermenschliche Kräfte. Er selbst dagegen war nicht in der Lage, voll aus sich herauszugehen. Er sah in Sadagar nicht einen Gegner, sondern ein Opfer. Er hätte ihn nicht schlagen können, geschweige denn töten, denn er sagte sich immer wieder, daß er dadurch den Deddeth nicht vernichtete, sondern nur den Freund. »Sadagar!« schrie er, als könne er den Freund dadurch wachrütteln. »Bei unserer Freundschaft, bei allem, was uns verbindet… weiche zurück!« Aber der Steinmann tobte wie ein Besessener – und das war er auch. Der Schatten in ihm mußte erkannt haben, daß Mythor außerstande war, sich nach Kräften zur Wehr zu setzen, darum stürzte er sich mit letzter, wütender Anstrengung auf ihn. Mythor stolperte, fiel hin. Seine haltsuchende Hand bekam einen Stein zu fassen. Verblüfft erkannte er, daß es jener schwarze Felsbrocken war, mit dem Sadagar das Hochmoor von Dhuannin dargestellt hatte. Ein Omen? Er hob den Stein und schlug zu. Mit einem tierhaften Aufschrei wurde Sadagar zurückgeschleudert. Er war an der linken Schulter getroffen, sein Arm pendelte wie gebrochen herunter. Sofort wollte Mythor Mitleid mit dem Freund überkommen. Aber da war No-Ango zur Stelle und baute sich vor dem Steinmann auf. Noch immer wie ein Tier schreiend, wich Sadagar zurück, als blende oder schrecke ihn No-Angos gespaltenes Gesicht. »Du hast den magischen Kreis aufgebaut, um Mythor zu lähmen und mich auszusperren«, sagte der Rafher zu ihm. »Aber ich habe deinen Plan durchschaut, Deddeth! Du hast ausgespielt, jetzt werde ich dein Schattenleben auslöschen!« Sadagar schrie schrill, als No-Ango den Keulenstock zum 278
Schlag hob. Als Mythor das sah, sprang er den Rafher an und rang ihn zu Boden. Diese Gelegenheit nutzte Sadagar zur Flucht. »Tut mir leid«, sagte Mythor. »Aber ich konnte nicht zulassen, daß du meinen Freund erschlägst.« »Solange es den Deddeth gibt; hast du keine Freunde, Mythor«, erwiderte der Rafher ohne Groll, und Mythor fühlte sich ihm in diesem Moment hoffnungslos unterlegen. NoAngo ergriff ihn am Arm und zog ihn mit sich. Dabei sagte er: »Wir müssen fort. Der Kampflärm wird die Vogelreiter anlocken.« »Es kommen tatsächlich Vogelreiter?« wunderte sich Mythor. »Ich dachte, daß sei nur eine Finte von dir.« »Sadagar wird ihnen geradewegs in die Arme laufen. Damit erhalten wir einen Vorsprung. Wir müssen zu meinem Volk. Nur dort kannst du dich für den letzten, entscheidenden Kampf wappnen.« Mythor, von dem Kampf gegen den entfesselten Steinmann noch geschwächt, stolperte hinter dem Rafher nach. Er wußte nicht, wie lange sie unterwegs waren, sich immer im Schutz der Felsen haltend, als er plötzlich erkannte, daß er allein war. Allein in einem unbekannten Bergland und von seinem schlimmsten Todfeind bedroht.
Die Sonne wanderte entlang einer drohend erhobenen schwarzen Wand über den Himmel. War das die Schattenzone? Obwohl es am Tag zuvor heftig geregnet hatte, war der Fels trocken und strahlte die Glut der Sonne doppelt zurück. Mythors Kehle war wie ausgedörrt, sein Atem ging rasselnd, in seinen Beinen war kaum mehr Kraft. Er blickte zur Sonne hoch und fragte sich, wann sie endlich von der Schattenzone 279
verschluckt wurde. Sie brannte ihn aus. Die Sonne, die Lebensspenderin, würde ihn noch töten. Wenn ihr nicht der Deddeth zuvorkam. Mythor zuckte bei jedem Geräusch erschrocken zusammen, nur um dann festzustellen, daß er es selbst verursacht hatte. Er ging über einen schmalen Grat entlang einer Schlucht und versuchte krampfhaft, das Gleichgewicht zu halten. Einige Male rutschte er ab und sah den Steinen zu, wie sie in die Tiefe fielen. Die Geräusche, wenn sie auf Fels prallten und zersplitterten, hallten laut zu ihm herauf, und ihr Echo brach sich vielfach an den steilen Felswänden. Es gab aber auch andere Geräusche. Einmal erschreckte ihn eine Schlange, die zischend von einem Felsbrocken glitt, auf den er seinen Fuß setzte. Zwischendurch vernahm er das heisere Krächzen von Orhaken. Dieses Geräusch war ihm bekannt, er würde es nie vergessen. Irgendwann fand er sich am Grund einer Schlucht wieder. Er stolperte durch ein ausgetrocknetes Flußbett, und das erinnerte an den Vorfall im Wadi En-Ogh. Wenn es jetzt zu regnen begann, würde auch er von einer Sturzflut hinweggeschwemmt werden. Aber es wäre ihm lieber, zu ertrinken, als zu verdursten. Die Schatten wurden länger, und dann wurde die Sonne von der Dunkelzone verschluckt. Ein langer, beschwerlicher Tag ging zu Ende. Die Nacht kam. Die Nacht mit all ihrer Finsternis! »Wo bist du, Deddeth?« schrie Mythor und lauschte seinem Echo. »Ich bin hier! Stelle dich zum Kampf!« Er blickte die düstere Schlucht hoch, und da erfaßte ihn ein Schwindel, und er stürzte. Eine Weile blieb er liegen, raffte sich dann aber auf und stolperte weiter. »No-Ango!« Das Echo verspottete ihn. 280
»Ich kann dir nicht böse sein, No-Ango«, murmelte er vor sich hin. »Du konntest mich nicht mit in die Verbotene Stadt nehmen, um nicht dein Volk zu gefährden.« Der Deddeth war unersättlich. Warum hatte er es ausgerechnet auf ihn abgesehen? Welche Verbindung bestand zwischen ihnen? War sie damals – vor wie vielen Monden eigentlich? – im Hochmoor von Dhuannin entstanden? Aber warum hatte sich der Schatten unter den vielen tausend Kriegern ausgerechnet ihn ausgesucht? Weil er sich für den Sohn des Kometen hielt? Logghard, die Ewige Stadt, der siebte Fixpunkt des Lichtboten – er würde ihn nie erreichen. Fronja… Er griff sich ans Herz, in das das Bildnis der Tochter des Kometen gleichsam eingebrannt war. Er würde sie nie wirklich sehen, ihr nie in Fleisch und Blut gegenüberstehen. Aber er hätte schon viel gegeben, wenigstens noch einmal ihr Bildnis schauen zu können, das er unsichtbar auf seiner Brust trug und das nur in der Welt der Spiegel zu sehen war. Seine Fingernägel gruben sich tief in seine Brust, bis er vor Schmerz aufschrie. Ein Licht. Es wurde heller. Schon wieder Tag. Und schon wieder schleuderte die angebliche Lebensspenderin sengende Blitze gegen ihn. Er konnte nicht mehr gehen, er schwebte, ließ sich dahintreiben. Er war leicht und übergab sich dem Wind und den Wellen der Strudelsee und ließ sich vom Salz und den Strahlen der Sonne versengen. Es brannte! Und er war so weit, daß er sagte: »Deddeth, komm und erlöse mich!« Und der Deddeth hob ihn hoch und trug ihn fort, an einen Platz, wo es schattig und kühl war. Und dann beugte sich der Deddeth über ihn und sagte: »Ich durfte dir diese Prüfung 281
nicht ersparen. Ich war stets in deiner Nähe und habe daraufgewartet, ob der Schatten sich zeigt. Erst als ich sicher war, daß er dir nicht folgte, konnte ich dich in die Verbotene Stadt bringen.« Der Deddeth hatte ein gespaltenes Gesicht. Die linke Hälfte war rot, geschmückt mit hellen Zeichen in Weiß und Gelb. Eine dicke weiße Trennlinie zog sich über Kinn, Nase, Stirn und die Kahlstelle des Schädels bis in den Nacken. Der Deddeth war gar nicht der Deddeth. Der Deddeth war No-Ango. »Jetzt bist du in Lo-Nunga«, sagte No-Ango. »Aber ich bin zu spät gekommen. Hu-Gona hat entschieden, daß mein Volk den Endgültigen Weg geht.« Deddeth Was für ein schwächlicher, unnützer Körper. Ohne Mark, ohne Saft und mit nur wenig von jener Kraft, von der er sich ernährte. Steinmann Sadagar hatte versagt. Der Deddeth war nahe daran, ihn auszusaugen und seine nutzlose Hülle wegzuwerfen. Sadagar konnte sich nicht mehr auf den Beinen halten und kollerte einen Hang hinunter. Als er sich mühsam erhob, sah er zuerst die riesigen Krallen, die unruhig im Staub des Bodens zuckten. Er blickte die Beine hoch, sah über sich einen gewaltigen gefiederten Körper, einen Vogelkopf mit erwartungsvoll geöffnetem Schnabel und dahinter ein erbarmungsloses Gesicht. Lanzenspitzen, mit Orhakofedern verziert, senkten sich auf ihn herab, drohten ihn aufzuspießen. Vogelreiter. »Sieh an, da haben wir ja einen der hinterhältigen Mörder, die Ganif und Madahim auf dem Gewissen haben«, sagte einer von ihnen und setzte Sadagar die Lanzenspitze an die Kehle. 282
Es war Janshar, einer von Ganifs Unterführern. »Ich hätte gute Lust, dich auf der Stelle aufzuspießen.« »Das wäre die einfachste Todesart«, wandte Aburd ein. »Wir werden ihn mit unseren Orhaken zu Tode hetzen.« Der Deddeth hätte mühelos in einen von ihnen überwechseln können oder in mehrere von ihnen zugleich. Aber nun war die Ruhe in ihn zurückgekehrt, die Wut über die neuerliche Schlappe verflogen. Und auf einmal hing er an diesem verbrauchten, ausgemergelten Körper. Er war doch nicht ganz wertlos, die Anwesenheit der Vogelreiter ließ ihn als ganz brauchbar erscheinen. »Nicht!« bettelte Sadagar mit erhobenen Händen. »Ich bin unschuldig. Ich hatte nichts mit dem Hinterhalt zu tun und wäre selbst beinahe ertrunken. Der Wilde ist an allem schuld. Wie ich ihn hasse – mehr noch als ihr!« Es war die Wahrheit, die der Deddeth da durch Sadagars Mund äußerte. »Das kannst du uns erzählen, wenn die Orhaken dich jagen«, sagte Fanhaj. »Menschenblut macht sie ganz rasend.« »Ich sage die Wahrheit«, beteuerte Sadagar. »Und ich kann es euch beweisen.« »Wie denn?« Janshar beugte sich spöttisch aus dem Sattel. »Der Rafher hat mich gezwungen, ihn in die Verbotene Stadt zu begleiten«, erklärte Sadagar. »Dort sollte ich einem Götzen geopfert werden. Aber ich konnte fliehen. Gerade als mich meine Verfolger stellten und zurückbringen wollten, da seid ihr erschienen. Ihr habt mir das Leben gerettet.« »Du warst in Lo-Nunga?« fragte Aburd ungläubig. »Ist das die Wahrheit?« »Aber gewiß. Beim Kleinen Nadomir, ich lüge nicht!« »Und würdest du den Weg dorthin wiederfinden?« erkundigte sich Janshar. »Kannst du uns hinführen?« »Mit dem größten Vergnügen«, sagte Sadagar haßerfüllt. 283
»Ich wünsche mir nichts lieber, als daß diese verfluchte Stadt ausgeräuchert wird. Beim Kleinen Nadomir, ich werde euch hinführen.« Die Vogelreiter berieten sich kurz miteinander. Sie waren nicht überzeugt, daß ihnen Sadagar die Wahrheit sagte, aber andererseits war er ihre einzige Chance, die Verbotene Stadt zu finden. »Also gut«, sagte Janshar. »Aber glaube nicht, daß du uns hinters Licht führen kannst. Du würdest den Orhaken nicht entgehen.« Sadagar mußte bei Janshar aufsitzen, der ihm sofort den Gurt mit den Messern abnahm und an seinem Sattel befestigte. »In welche Richtung, Alter?« erkundigte sich der Vogelreiter. Der Deddeth hatte keine Ahnung, wo Lo-Nunga lag, aber er spürte Mythors Ausstrahlung, und an ihr orientierte er sich. Wie er No-Ango einschätzte, würde er Mythor bedenkenlos zu seinem Volk mitnehmen – und somit auch ihm, dem Schatten, den Weg weisen. Sie ritten den ganzen Tag über, und als die Nacht hereinbrach und die Vogelreiter ein Lager aufschlagen mußten, begannen sie ungeduldig zu werden. Sie verhörten Sadagar wieder und drohten ihm mit den Orhaken und grausamer Folter. »Beim Kleinen Nadomir, ich meine es ehrlich«, beteuerte der Steinmann. »Ich werde euch in die Verbotene Stadt führen!« Bei dieser Gelegenheit erfuhr der Deddeth aus Sadagars Geist, daß der Kleine Nadomir ein Troll aus den Karsh-Bergen war – und mit jener Macht identisch, die Mythor in der Strudelsee vor ihm beschützt hatte. Nexapottl hieß er mit wahrem Namen. Der Deddeth wollte ihn sich merken. Fast war er versucht, Sadagars drei Ringe gegeneinander zu drehen, um den Troll herbeizurufen und ihn zur Rechenschaft zu ziehen. Aber das wollte er sich für einen späteren Zeitpunkt 284
aufheben. Zuerst brauchte er seinen eigenen Körper. Der neue Tag brach an, die Kriegerkarawane brach auf. Sadagar mit Janshar an der Spitze. Der Deddeth spürte, wie er Mythor näher kam, immer näher. Und auf einmal entfernte sich Mythor überhaupt nicht mehr. Da wußte der Deddeth, daß er in der Verbotenen Stadt angelangt war. »Es ist nicht mehr weit«, versicherte er dem Vogelreiter voll Genugtuung. »Wir sind bald da.« Der Deddeth fieberte mit jedem Stäubchen seines Schattenkörpers dem großen Augenblick entgegen.
Mythor war von zarten Mädchenhänden gelabt worden. Man hatte ihm zu essen und zu trinken gegeben, und jetzt fühlte er sich wieder frisch und gestärkt. »Danke. Danke für alles, Ra-Mina«, sagte er zu dem RafherMädchen, dessen weiche und doch kräftige Finger wie Schmeichelgeister über seinen Körper wanderten. Als sie seine Brust erreichten, hielten sie jedoch inne. »Was hast du?« »Ich weiß nicht…« Als Mythor die Augen öffnete, sah er im Schein der Öllampe, daß Ra-Mina sich versteift hatte. Sie war schön, obwohl ihr Gesicht durch Bemalung gespalten war – oder vielleicht gerade deswegen; Mythor war sich da nicht sicher. Jetzt schwebten ihre Hände unentschlossen über seiner Brust, die Finger zitterten. »Irgend etwas ist an dir, was mich wegstößt«, sagte das Mädchen. »Was mir nicht erlaubt, mich deinem Herzen zu nähern. Kann es sein, daß es die Macht der Liebe ist?« »Vielleicht«, sagte Mythor versonnen. Er überlegte sich, ob er Ra-Mina von Fronja erzählen sollte, dessen Bildnis er unsichtbar über dem Herzen trug. 285
Aber da erklangen Schritte, und das Mädchen zog sich schnell in den anderen Raum zurück. Mythor richtete sich auf und erblickte No-Ango, der gerade eintrat. »Es freut mich, daß du wieder wohlauf bist«, sagte der junge Rafher und ließ sich neben Mythor auf dem Rand des Feilagers nieder. »Jetzt kannst du wieder auf eigenen Beinen stehen und wirst unserer Betreuung nicht mehr bedürfen.« Mythor stellte fest, daß No-Angos Gesicht eine andere Bemalung aufwies, als er sie in Erinnerung hatte. Von Ra-Mina wußte er, daß die Rafher ihre Gesichtsspaltungen den Stimmungen anpaßten, denen sie gerade unterworfen waren. Im Kampf trugen sie eine andere Bemalung als zu Zeiten der Trauer. »Wie heißt deine Gesichtsspaltung?« erkundigte sich Mythor. »Abschied.« »Dann ist es wahr«, stieß Mythor hervor. »Ich habe nicht nur geträumt, daß dein Volk sich dazu entschlossen hat, den Endgültigen Weg zu gehen. Aber warum, No-Ango? Welchen Grund haben die Rafher, gemeinsam in den Tod zu gehen? Das ist so unsinnig, daß ich keine Worte dafür finde.« »O nein, es steckt ein tieferer Sinn dahinter«, antwortete NoAngo ruhig. »Und es verhält sich ganz anders, als du denkst.« »Dann erkläre es mir.« »Dazu bin ich nicht berechtigt. Hu-Gona, unser Ältester, wird es dir erklären. Aber bevor es soweit ist, möchte ich mich mit dir über den Deddeth unterhalten, der dich bedroht. Du bist dir darüber im klaren, daß er dich weiterhin jagen wird… so lange, bis du ihn besiegt hast oder er sein Ziel erreicht hat?« »Ich fühle mich nun stark genug, den Kampf gegen ihn aufzunehmen«, sagte Mythor. »Weißt du denn genug über die Deddeth, um dich mit einem solchen Schattenwesen einlassen zu können?« fragte No-Ango. 286
Er erwartete offenbar keine Antwort, denn er fuhr fort: »Was weißt du über deinen Deddeth? In welchem Verhältnis stehst du zu ihm? Wie und wodurch ist er entstanden? Und warum hat er ausgerechnet dich als Opfer auserkoren?« »Ich weiß es nicht«, gestand Mythor. »Ich könnte Vermutungen anstellen, aber ich traue mir nicht zu, gültige Antworten zu finden.« »Vielleicht kann ich dir helfen«, sagte No-Ango. »Du hast im Schlaf geredet und einiges über dich erzählt. Wir wissen, daß du an sechs Fixpunkten des Lichtboten warst, um dort die Prüfungen abzulegen, die vom Sohn des Kometen verlangt werden. Die Legende ist uns bekannt, und der Glaube an das Vermächtnis des Lichtboten ist ein Teil unseres Lebens. Du hast auch über eine große Schlacht gesprochen, die zwischen den Kämpfern der Lichtwelt und den Dunklen Mächten stattgefunden hat.« »Die Schlacht im Hochmoor von Dhuannin«, sagte Mythor bestätigend. »Bald nach diesem Ereignis wurde ich zum erstenmal von diesem Schatten bedroht.« »Du erkennst die Zusammenhänge«, sagte No-Ango. »Du weißt inzwischen, daß sich mein Volk sehr viel mit Schattenwesen und den Dämonen allgemein befaßt. Vor allem aber widmen sich unsere Weisen dem Studium der Geisterwelten und besonders der Schattenzone. Darum wissen wir genau über die Deddeth Bescheid. Das sind körperlose Wesen, die nur aus Schatten bestehen. Ihre Entstehung ist nicht genau erklärt, aber es ist gewiß, daß sie sich aus Seelen Verstorbener bilden. Man könnte sagen, daß es die Grundvoraussetzung für die Geburt eines Deddeth ist, daß viele Menschen an einem Ort zur gleichen Zeit sterben.« No-Ango machte eine kurze Pause, bevor er fortfuhr: »Normalerweise entstehen solche Schattenwesen nur im Bereich der Schattenzone, etwa in der Düsterzone, weil dort 287
die magischen Kräfte am wirksamsten sind. Aber unter besonderen Bedingungen können sich die Deddeth überall auf der Welt bilden. Das hängt von den magischen Kräften ab, die eingesetzt werden.« »Wie etwa während der Schlacht im Hochmoor von Dhuannin«, bestätigte Mythor. »Dort haben die Dämonenpriester der Caer all ihre Magie ausgespielt. Sie haben Runengabel-Scheuchen aufgestellt, die die Krieger der Lichtwelt bekämpften. Sie weckten die Moortoten und haben sie in die Schlacht geworfen. Und sie haben über Tausende den Spiegeltod gebracht… Die Seelen all derer, die im Zeichen der Schwarzen Magie gestorben sind, werden sich zu einem Dhuannin-Deddeth vereinigt haben.« »So muß es gewesen sein«, bestätigte No-Ango. »Aber glaube nicht, daß alle Deddeth Werkzeuge des Bösen sein müssen. Auch mittels der Weißen Magie lassen sich solche Wesen erschaffen, die den Menschen durchaus wohlgesinnt sein können. Der Dhuannin-Deddeth gehört jedoch ganz gewiß nicht zu dieser Gruppe. Und wenn du dich fragst, warum er ausgerechnet dich jagt, kann ich dir eine mögliche Antwort nennen: weil du den Dunkelmächten gefährlich werden könntest.« »Vielleicht ist es so«, meinte Mythor nachdenklich und nickte bekräftigend. »Es wird schon so sein. Aber welche Chance habe ich ohne meine Ausrüstung gegen den Dhuannin-Deddeth?« »Es gibt auch Waffen des Geistes«, antwortete No-Ango. »Du hast nun deinen Feind erkannt, kennst seinen Ursprung und sein Bestreben. Das ist schon viel wert. Zu deiner Verteidigung solltest du nun dein Gesicht spalten. Es gibt keine bessere Abwehr gegen einen Dämon. Ra-Mina wird dir dabei behilflich sein. Wenn dies getan ist, werde ich dich zu unserem Ältesten führen.« 288
No-Ango erhob sich und wollte gehen. Aber Mythor hielt ihn am Arm zurück. »Ist es wirklich unabänderlich, daß euer ganzes Volk in den Freitod geht?« fragte er. »Es ist eine beschlossene Sache«, antwortete der junge Rafher. »Hu-Gona wird es dir erklären.« No-Ango ging. Gleich darauf erschien Ra-Mina mit einer Palette aus mehr als einem Dutzend Farbtiegeln und einem ovalen metallenen Spiegel. Sie stellte den Spiegel vor ihn hin und überreichte ihm die Farben. »Soll ich dich allein lassen?« bot sie ihm an. »Ich fürchte, ich werde es ohne deine Hilfe nicht schaffen«, antwortete Mythor. Sie erwiderte sein Lächeln. Es war freundlich und warm, und Mythor konnte sich nicht vorstellen, daß ein Mensch, der bald freiwillig aus dem Leben scheiden würde, so lächeln konnte. Das verstand er nicht, es verwirrte ihn. Er ließ es mit sich geschehen, daß sie ihm aus dem Wams half und dann hinter ihm niederkniete und ihm über die Schulter blickte. Dabei kreuzten sich ihre Blicke im Spiegel. Auf einmal verdüsterte sich Ra-Minas Gesicht. Ihre Augen wanderten im Spiegel hinunter, bis sie auf das Spiegelbild seiner Brust fielen. »Du hast ein gespaltenes Herz!« rief sie aus, sprang auf und rannte davon. Mythor wußte sofort, was sie damit meinte. Im Spiegel sah er auf seiner Brust Fronjas Bildnis. Sie lächelte sanft, das weizenblonde Haar umspielte ihr Gesicht, verschleierte ihre Augen, die ihn aus geheimnisvollen Tiefen anblickten. Fronja… Geräusche schreckten ihn aus seiner Betrachtung. Er blickte hoch und sah No-Ango über sich. Er war etwas außer sich und funkelte Mythor an. »Warum hast du mir nicht gesagt, daß du eine Herzspaltung 289
hast?« sagte er vorwurfsvoll. »Unter diesen Umständen können wir auf die Spaltung deines Gesichtes verzichten. Willst du mir nun zu Hu-Gona folgen?«
Als Mythor ins Freie trat, mußte er für einen Moment geblendet die Augen schließen, bis er sich an das grelle Tageslicht gewöhnt hatte. Ihm bot sich ein phantastischer, einmaliger Anblick. LoNunga lag am Ende eines langgestreckten, grünenden Tales, das von schroffen, fast senkrechten Felswänden umgeben war. Die Felsen am Ende des Tales waren am steilsten, fast überhängend und bestimmt zweihundert Mannslängen hoch. Hier bildeten sie einen Halbkreis, und an ihrem Fuß stand die Verbotene Stadt. Die Gebäude rankten sich wie Kletterpflanzen die Felswände bis in schwindelnde Höhen hoch. Manche von ihnen klebten wie Schwalbennester an den unzugänglichsten Stellen der überhängenden Felsen. Die Häuser waren alle aus dem rötlichen Stein gebaut, aus dem die Steilwände bestanden. Manche von ihnen waren ganz oder teilweise aus dem Fels gehauen. Sie waren von unterschiedlicher Größe, aber alle von einfacher, kubischer Form, übereinandergebaut und ineinander verschachtelt. Dazwischen gab es winkelige Stege und Treppen, und man konnte die meisten der niedrigen, halbkreisförmigen Eingänge nur zu Fuß erreichen. Die Stadt fiel terrassenförmig ins Tal herab, wo sich die Bauten um einen freien Platz gruppierten. Der Platz war kreisförmig, und die Rafher strömten von allen Seiten hin und sammelten sich dort. Mythor stand auf halber Höhe und hatte einen phantastischen Überblick. Rafher gingen an ihm vorbei, ohne ihn zu beachten. Es waren Frauen und Kinder und Männer 290
jeden Alters, und alle hatten sie ihre Gesichter gespalten. Sie stiegen über die Treppen und Rampen ins Tal hinunter, um sich auf dem Versammlungsplatz einzufinden. »Komm!« sagte No-Ango, und sie gliederten sich in die Menschenschlange ein. Mythor brauchte nicht zu fragen, was das alles zu bedeuten hatte. Er konnte sich denken, daß sich die Rafher alle zu einem gemeinsamen Zeremoniell einfanden, bevor sie zusammen in den Freitod gingen. Er verstand es noch immer nicht, und egal welche Begründungen man noch für diese Tat vorbringen würde, er würde sie nie verstehen. Nichts konnte diesen Massenselbstmord rechtfertigen. Mythor erreichte mit No-Ango den freien Platz. Die Rafher wichen zur Seite, um ihnen den Weg freizugeben. Er versuchte, in ihren gespaltenen Gesichtern zu lesen, aber er entdeckte nirgends Verbitterung oder gar Angst, nicht einmal eine Spur von Wehmut. Er blickte nur in gefaßte, ernste, manchmal auch in glückliche Gesichter. Er erreichte die Mitte des Platzes. Hier saßen etwa vierzig Männer im Kreis, deren ausgemergelte, verbrauchte Körper und runzeligen Gesichter von hohem Alter zeugten. Im Mittelpunkt des Kreises saß ein einzelner Mann, dessen linke Gesichtshälfte fast in reinem Weiß erstrahlte. Er hatte nur über dem Auge einen roten Punkt, der in einen gelben Kreis eingeschlossen war. Er winkte Mythor zu sich, und No-Ango gab durch ein Zeichen zu verstehen, daß er der Aufforderung folgen solle. Mythor trat in den Kreis und ging zu dem Alten, der kein anderer als Hu-Gona sein konnte, der Älteste der Rafher. Mit einer Handbewegung bedeutete dieser ihm, sich ihm gegenüber auf den Boden zu setzen. »Du verstehst den Sinn unseres Tuns nicht, Mythor«, eröffnete der Alte das Gespräch. Er sprach mit leiser, rauher 291
Stimme, und Mythor erkannte, daß sein Mund zahnlos war, die Lippen eingefallen. Wenn es stimmte, daß jede Falte im Gesicht eines Menschen für aus Erfahrung gewonnene Weisheit stand, war Hu-Gona der weiseste und erfahrenste Mann, den er je kennengelernt hatte. »Dabei ist alles so einfach«, sagte Hu-Gona wieder. Er machte nach jedem Satz eine Pause, bevor er langsam weitersprach. Mythor wagte nicht, ihn zu unterbrechen. »So einfach… denn Entleibung muß nicht gleichbedeutend mit Tod sein. Es gibt auch eine andere Art des Weiterlebens. NoAngo hat es dir erklärt. Du hättest die Wahrheit erkennen müssen. Wir tun nichts anderes als das, was in Dhuannin geschehen ist, nur unter umgekehrten Vorzeichen. Wir setzen unsere Seelen frei, um daraus einen Deddeth zu bilden.« »Für mich ist das wie eine Flucht«, erwiderte Mythor. »Es mutet wie Feigheit vor dem Leben an.« »Du tust uns unrecht, und es schmerzt, daß diese Worte ausgerechnet von dir kommen… dem Sohn des Kometen«, sagte Hu-Gona. »Vielleicht bin ich gar nicht der Sohn des Kometen«, hielt Mythor dagegen. Hu-Gona winkte ab. »Unser Volk hat lange auf diesen Augenblick gewartet. Seit vielen Menschenaltern warten wir darauf, daß der Lichtbote uns abberuft. Wir sind seine Diener. Wir hielten nach Zeichen Ausschau, mit denen uns der Lichtbote verständigte, daß er unsere Dienste braucht. Wir wußten, daß es nicht mehr lange dauern konnte. Denn das Böse griff und greift immer rascher um sich. Darum haben wir uns von den Menschen abgesondert und Lo-Nunga zur Verbotenen Stadt erklärt. Wir haben alle Zugänge, bis auf einen, versperrt, alle Straßen verschüttet, die nach Lo-Nunga führten. Und dann haben wir auf ein Zeichen gewartet. Wir wußten schon immer, daß wir eines Tages unsere Körper 292
würden aufgeben müssen, um als Deddeth eine Wiedergeburt zu erleben. Denn nur in dieser Form können wir erfolgreich den Kampf gegen die Dunklen Mächte aufnehmen. Nun haben wir das Zeichen bekommen. Ist es nicht deutlich genug, daß der Lichtbote uns den Sohn des Kometen geschickt hat?« Diese Eröffnung entsetzte und verblüffte Mythor so sehr, daß er im ersten Moment keinen Ton hervorbrachte. »Ich… Das lasse ich nicht auf mir sitzen«, brachte er schließlich hervor. »Ihr könnt mir nicht die Verantwortung für euer wahnwitziges Vorhaben zuschieben. Ich will damit nichts zu tun haben. Ich lehne es ab!« »Das steht dir frei, nur wird deine Meinung nichts ändern.« »Wenn ihr mich als Grund für euren Massenselbstmord nennt, müßt ihr auch auf mich hören!« rief Mythor zornig aus. »Ich, als Sohn des Kometen, befehle euch, von diesem Wahnsinn abzulassen.« »Es ist nicht meine Absicht, Schuld auf dich zu laden«, sagte Hu-Gona leidenschaftslos. »Wir haben diesen endgültigen Schritt schon beschlossen, bevor wir von deinem Kommen wußten. Es ist gar nicht ausschlaggebend, ob du der Sohn des Kometen bist oder nicht.« »Was hat dann den Ausschlag gegeben?« fragte Mythor. »Das Zusammenspiel vieler Kräfte, Omen und Zeichen«, antwortete Hu-Gona. »Letztlich war entscheidend, daß die Schergen des Shallads uns auf der Spur sind. Der Shallad ist ein böser Mensch, der die Werte der Lichtwelt mit Füßen tritt, anstatt sie hochzuhalten. Durch unsere Tat können wir ihm entgehen.« »Was ist nun, wenn Hadamurs Krieger Lo-Nunga nicht finden?« fragte Mythor. Er wollte nicht lockerlassen und alles versuchen, um dieses Volk zu retten. Er suchte nach Argumenten, die gegen ein körperloses Dasein sprachen, und es gab deren tatsächlich so viele, daß er nicht wußte, welches 293
er zuerst vorbringen sollte. Von Flucht und Feigheit hatte er schon gesprochen. Als Mensch für die Rechte der Menschen zu kämpfen, das war eine Pflicht, der sich kein Gerechter entziehen durfte – er sagte es. Zu seiner Meinung zu stehen, für menschliche Werte einzutreten, dafür zu leiden und zu sterben, wenn es sein mußte – auch das stellte er als ehrenvolle Haltung hin. Aber in den Tod zu gehen, in der Hoffnung auf ein schöneres Dasein, das verdammte er. »Darum geht es uns nicht, und das weißt du, Mythor«, sagte Hu-Gona. »Wir besitzen die Reife, um als Deddeth weiterzuleben und in Logghard die Dunklen Mächte mit ihren eigenen Waffen zu bekämpfen.« Mythor versuchte ein letztes Mal, den Ältesten der Rafher umzustimmen. Er sagte: »Ihr müßt noch einmal in euch gehen und nach einem anderen Weg suchen. Wartet zumindest so lange, bis feststeht, ob die Vogelreiter Lo-Nunga finden oder nicht!« »Das brauchen wir nicht, sie sind schon hier«, sagte HuGona. »Der Dhuannin-Deddeth hat ihnen den Weg gezeigt.« Wie als Bestätigung seiner Worte erklangen in diesem Moment vom anderen Ende des Tales Kriegsgeschrei und das Trommeln der Vogelklauen. Hu-Gona erhob sich und streckte die Arme aus. Wie auf Kommando zerstreuten sich die versammelten Rafher und zogen sich in die umliegenden Gebäude zurück. Sie schlossen die Tore und verbarrikadierten sie. Mythor stand wie benommen da, bis nur noch No-Ango und er übrigblieben. »Warum nur kämpfen sie nicht?« schrie Mythor anklagend. »Das ist nicht unsere Art, der Lichtwelt zu dienen«, sagte No-Ango. »Du wirst jedoch gegen den Deddeth kämpfen müssen, wenn du deinen Körper behalten willst. Es sei denn, 294
du willst uns auf den Endgültigen Weg begleiten!« »Zu den Dämonen mit dir!« rief Mythor wütend. »Nicht ehe ich dir noch einen letzten Dienst erwiesen habe«, erwiderte No-Ango ruhig. »Komm mit mir.« Und während das Kriegsgeschrei näher kam und die ersten Vogelreiter in die Verbotene Stadt einritten, lief Mythor hinter dem jungen Rafher über den verwaisten Platz zu einem Gebäude, dessen Tor unverschlossen war. Als Mythor es betrat, stellte er fest, daß es sich um ein Waffenlager handelte. Ihn schwindelte fast beim Anblick der vielen Schwerter, Lanzen, Kampfbeile, Bogen und Köcher und all der ihm unbekannten Kriegsgeräte. Mit dieser Ausrüstung hätten sich die Rafher spielend gegen die Vogelreiter behaupten können. »Das meiste sind Beutewaffen«, sagte No-Ango. »Bediene dich! Aber gegen den Deddeth wirst du damit nichts ausrichten. Du mußt ihn überlisten. Du könntest versuchen, ihn zu bannen, wenn er sich in deinem Schatten festsetzt. Oder aber du täuschst ihn mit deinem Spiegelbild. Und wenn du ihn in den Spiegel gelockt hast, dann… Aber du hörst mir gar nicht zu. Leb wohl, Mythor. Vielleicht sehen wir uns in Logghard wieder, denn dort wird sich unser Volk einfinden, wenn es zum Deddeth geworden ist.« Mythor hatte sich einen Gürtel umgebunden, an dem ein Krummschwert in einer Scheide hing, dazu noch zwei Dolche. Dann wählte er einen vollen Köcher und einen Langbogen aus, wie sie die Vogelreiter verwendeten. Als er sich umdrehte, war No-Ango verschwunden. Draußen ritten die ersten Vogelreiter vorbei.
Mit gespanntem Bogen trat Mythor durch das Tor. Ein Vogelreiter entdeckte ihn und schwenkte mit dem Orhako in 295
seine Richtung. Mythor ließ den Pfeil von der Sehne schnellen. Während er sah, wie der Vogelreiter die Arme in die Luft warf und aus dem Sattel geschleudert wurde, legte er bereits den nächsten Pfeil auf. Er lief dabei entlang dem Gebäude, bis er zu einer der Seitenstraßen kam, die zum höher gelegenen Stadtteil führten. Wenn er vor den Vogelreitern sicher sein wollte, mußte er die winkeligen Treppen erreichen, wohin die Orhaken nicht gelangen konnten. Links von sich vernahm Mythor ein Krachen und Bersten. Als er in die Richtung sah, erblickte er eines der Diromen, wie es mit vorgestrecktem Schädel ein verbarrikadiertes Tor einrammte. Durch die Wucht des Aufpralls wurden die Legionäre aus dem Sattel geschleudert und landeten unsanft auf der Straße. »Tötet sie ohne Gnade!« erklang es. »Macht sie nieder!« Mythor eilte die Seitenstraße hinan. Als er die letzte Querstraße vor der ersten Treppe erreichte, tauchte von rechts ein Diromo auf. Es kam in vollem Lauf heran. Mythor schoß seinen Pfeil ab und sah, wie er sich in den offenen Schnabel des Laufvogels bohrte. Dann brachte er sich mit einem Satz in Sicherheit. Das Diromo schrie krächzend auf und warf seinen Kopf hin und her. Dabei verlor es die Orientierung und raste in vollem Lauf gegen eines der Gebäude. Es durchbrach die Mauer und wurde von den herabstürzenden Trümmern erschlagen. Mythor hastete weiter und erreichte die Treppe. Die Häuser, an denen er vorbeikam, waren verschlossen, kein Laut drang aus ihnen. Er widerstand der Versuchung, in eines von ihnen einzudringen. Es war besser, sich in die höher gelegenen Viertel der Stadt abzusetzen, wo er sich besser verteidigen konnte. Die Treppe, die er hinaufhastete, wurde steiler und enger. Er 296
hatte es nicht mehr weit bis zum letzten Absatz, von wo ab sich die Häuser stufenförmig und schließlich übereinander die Felswand hochrankten. Von unten erklang immer noch der Lärm der Vogelreiter, die wie die Besessenen wüteten. Immer wieder war das Krachen und Splittern von Holz zu hören, wenn die Diromen mit ihren mörderischen Schnäbeln Tore einrannten. Und jedesmal folgten wütende und enttäuschte Flüche der Vogelreiter. Mythor ahnte, worauf ihre zornige Enttäuschung zurückzuführen war, aber er wollte nicht daran denken. Wenige Schritte vor dem letzten Absatz vernahm er hinter sich plötzlich ein bekanntes Geräusch. Und als er sich umdrehte, sah er, daß er von einem Orhako mit zwei Reitern verfolgt wurde. Das Orhako stieß ein heiseres Krächzen aus und begann, die Treppe schneller heraufzustelzen. Mythor zielte kurz und schickte den gefiederten Tod auf den Weg. Der Pfeil bohrte sich dem vorne sitzenden Vogelreiter in die Brust. Mit einem Aufschrei glitt er seitlich aus dem Sattel. Und da sah Mythor ihn – Sadagar. Steinmann Sadagar, Träger des Dhuannin-Deddeth! Mythor zielte erneut mit dem Pfeil. Aber er brachte es nicht über sich, auf Sadagar zu schießen. Ein schauriges Lachen erklang, höhnisch und triumphierend. Es kam aus Sadagars Kehle, aber es gehörte dem Deddeth. Er hatte Mythors Schwäche erkannt und baute vermutlich darauf, daß er es nicht über sich brachte, Hand an Sadagar zu legen. Der Pfeil verließ singend die Sehne und bohrte sich dem Orhako in den Leib. Es torkelte, lief aber mit unverminderter Geschwindigkeit weiter. Sadagar lachte wieder, so fremd und unheimlich, daß es Mythor fröstelte. Er durfte jetzt nicht an das Schicksal des Freundes denken, sondern mußte der bevorstehenden 297
Auseinandersetzung gefaßt entgegenblicken. Als er den letzten Treppenabsatz erreichte, drehte er sich noch einmal um. Er sah gerade noch, wie sich der SadagarDddeth vom Rücken des zusammenbrechenden Orhakos auf das Dach des nächsten Gebäudes schwang und dort in Deckung ging. Mythor wandte sich der linken Treppe zu, die steil hinaufführte. Von hier hatte er einen guten Überblick über die Stadt, aber er bot auch ein leichtes Ziel. Etwas zischte an ihm vorbei und bohrte sich zitternd in die Tür hinter ihm. Er erkannte eines von Sadagars Wurfmessern. Durch den Aufprall war die Tür ein Stück nach innen geschwenkt. »Keine Angst, ich will dich nicht töten!« erklang Sadagars verzerrte Stimme über die Dächer von Lo-Nunga. »Das gehört nur zu dem Spiel mit dir. Ich habe dich in die Enge getrieben. Bald bist du mein!« Mythor stieß die Tür auf und drang in den dahinterliegenden Raum ein. Nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte, legte er den Riegel vor. Seine Augen gewöhnten sich allmählich an das herrschende Dämmerlicht. Durch Luftscharten in den Wänden fiel Sonnenlicht in Streifen. Eines der hellen Vierecke lag auf einem entspannten Frauenantlitz. Die bemalte Gesichtshälfte war abgewandt, und es sah so aus, als ob die Frau friedlich schlafe. Aber Mythor wußte, daß sie für immer entschlummert war. Nun sah er auch die beiden anderen Gestalten, und erkannte, daß alle drei einander im Tode umschlangen. Sie hatten es also wahr gemacht! Er hatte bis zum letzten Moment gehofft… Geräusche von draußen ließen ihn zusammenfahren und erinnerten ihn an seine eigenen Probleme. Er stieg vorsichtig über die drei reglosen Gestalten hinweg 298
und drang in den dahinterliegenden Raum vor. Hier war eine Treppe, die in die höher gelegenen Räume führte. Daneben gab es einen Verbindungsgang in die Räume der angrenzenden Gebäude. Mythor wählte den Weg nach oben, ohne sich davon einen wirklichen Vorteil zu versprechen. In dem oberen Raum angekommen, bot sich ihm ein ähnliches Bild. Nur daß es hier vier Rafher waren, die eng umschlungen dalagen. Zwei davon waren Kinder. Sie alle waren friedlich entschlafen. Bei ihrem Anblick war man beinahe versucht, sie anzustoßen und zu wecken und ihnen von der drohenden Gefahr zu berichten, die ihre Verbotene Stadt heimgesucht hatte. Mythor entledigte sich des Bogens und des Köchers, weil sie ihm in den engen Gängen und Stiegenhäusern hinderlich waren. Statt dessen nahm er in jede Hand einen Dolch. Er wandte sich mal in diese, dann wieder in jene Richtung, und wohin er kam, überall bot sich ihm der gleiche erschütternde Anblick. Er konnte sich nicht daran gewöhnen, es war kein Trost für ihn, daß er sich sagte, daß die Rafher in eine andere Daseinsform übergewechselt waren. Denn er glaubte nicht daran, daß sie ihr Ziel erreicht und sich zu einem körperlosen Deddeth wiedervereinigt hatten. Ein Geräusch! Irgendwo quietschte eine Tür, schleichende Schritte näherten sich. Über ihm knarrte der Boden. Mythor packte die Dolche fester. Also war es soweit? Er würde kämpfen, wenn er auch noch nicht wußte, wie. Denn der Deddeth kam in der Gestalt eines Freundes. »Mythor…«, raunte es. Die Schritte erreichten die Treppe, kamen sie herab. Mythor preßte sich gegen die Wand. »Mythor, ich habe dich gehört. Ich weiß, daß du da bist.« Nackte Beine erschienen auf der Treppe, lange dünne Beine, 299
dunkelhäutig und mit glatter Haut. »Mythor, ich bin es, No-Ango.« Mythor sprang aus seinem Versteck, die Dolche stoßbereit. Er prallte ungläubig vor der schlaksigen Gestalt zurück. Es war wirklich und wahrhaftig No-Ango, der junge Rafher! Sein Gesicht trug noch die Spaltung des Abschieds. »Ich bin zu spät gekommen«, sagte er. »Ich habe mein Volk nicht mehr erreicht.« Mythor wußte nicht, ob er sich freuen oder No-Ango bedauern sollte. Er fand auch keine Worte des Trostes. Er sagte nur: »Bring dich in Sicherheit, No-Ango! Der Deddeth ist hinter mir her.« »Ich weiß, darum bin ich hier. Ich habe eine Falle für ihn vorbereitet. Folge mir!«
Der Raum befand sich in einem der höchsten Gebäude der Stadt. Es war wie ein Adlerhorst auf einen vorspringenden Fels gebaut und über eine Leiter zu erreichen. No-Ango kletterte vor Mythor hinauf. Er hatte sich mit zwei verschieden langen Stöcken bewaffnet, die er beim Klettern nicht losließ. Das eine war ein mannslanger Gehstock, dessen obere Verdickung aus Stein bestand und dem Kopf eines Rafhers nachgebildet war. Der andere Stock war ellenlang, und NoAngo bezeichnete ihn als seine Pfeilschleuder. Diese besaß an dem einen Ende eine knorpelige Verdickung, die ausgehöhlt war. In die Aushöhlung legte No-Ango Obsidiansplitter, die er gegen seine Feinde schleuderte. Diese fingerlangen Obsidianpfeile hatte er in dem Knoten seines Lendenschurzes stecken. Sie erreichten das Ende der Leiter und drangen in das einzelne Gebäude ein. Mythor warf einen letzten Blick in die Tiefe. Der Aufruhr der Vogelreiter hatte sich gelegt, sie 300
mußten einsehen, daß es in Lo-Nunga keine Ungläubigen mehr gab, die sie bekehren konnten. Von Sadagar war nichts zu sehen. »Der Deddeth wird kommen, und wir werden ihn empfangen«, kündigte No-Ango an. »Es wird sich nicht vermeiden lassen, daß wir deinen Freund töten, wenn mein Plan nicht klappt. Sieh her!« Mythor blickte sich in dem Raum staunend um. Er war völlig leer bis auf einen großen Metallspiegel an der einen Wand. Davor stand eine Öllampe. »Dies ist die Stätte der Reinigung«, erläuterte No-Ango. »Wir suchen sie auf, wenn wir Zweifel oder Ängste in uns spüren oder uns von den Mächten des Bösen bedroht fühlen. Wir laden dann alles in die Welt des Spiegels ab, wo es für immer verbannt bleibt. Dasselbe sollst du mit dem Deddeth tun. Ich werde im Hintergrund wachen und versuchen, mein Volk anzurufen.« »Dein Volk anrufen?« fragte Mythor ungläubig. »Ich weiß, du glaubst nicht, daß es zu einem Deddeth geworden ist«, sagte No-Ango. »Aber ich weiß es, und ich werde es dir beweisen.« Mythor setzte sich vor den großen Metallspiegel, der über die ganze Höhe der Wand ging. »Vertiefe dich in dein Bildnis. Dringe ganz tief ein und versuche, dein Ich in diesen magischen Spiegel zu versetzen…«, drang No-Angos Stimme wie aus weiter Ferne zu ihm. Dann herrschte Stille. Mythor betrachtete sein Spiegelbild, nahm es ganz genau in sich auf und glaubte, darin zu versinken. Auf einmal war ihm, als sehe er sich aus dem Spiegel heraus an. Und dann war er verschwunden – vor ihm war Fronjas Gesicht in einem leeren Raum. Sie schwebte über der Flamme der Öllampe. In einem Winkel kauerte No-Ango. Seine Augen waren geschlossen, er 301
schien zu schlafen. Mythor stand immer noch im Spiegel, als die Tür aufging und Sadagar eintrat. Er brachte eine Woge des Hasses und des Bösen mit sich, tiefste Schwärze, die das Öllicht ausblies. Ein Sturm erfaßte Mythor und zerrte an ihm. Er wankte, aber er fiel nicht. Er fühlte sich stark, unglaublich stark, und er war in der Welt des Spiegels verwurzelt wie ein Baum. Sadagar wurde erschüttert, als schlage ein Blitz in ihn ein. Er war auch ein Baum, aber er wurde gefällt. Doch der Blitz schlug nicht in ihn, sondern aus ihm. Ein schwarzer Blitz, der die Luft durchteilte – und aus ihm trat eine schaurige Gestalt, die nur aus Schwärze bestand: der Deddeth! Er kam näher. Der Sturm begann stärker an Mythor zu zerren. Er brachte eisige Kälte mit sich und ließ alles zur Bewegungslosigkeit erstarren. Selbst Fronjas Bildnis, das immer noch im Raum zwischen Mythor und dem drohenden Schatten schwebte, wurde zu Eis. Der Deddeth blähte sich auf, bis er den ganzen Raum ausfüllte und alles zu verschlingen drohte: Mythor mitsamt dem Spiegel, Fronja, No-Ango, den Rafher-Deddeth… Auf einmal kam ein frischer Wind auf. Er blies Mythor in den Rücken und erschütterte ihn. Mythor fiel nach vorne und versuchte, sich an der Innenseite der Spiegelfläche abzustützen. Aber er glitt durch sie hindurch und fiel in den Raum hinein. Sofort war der Schatten über ihm und krallte sich in seiner Brust fest. Ein furchtbarer Schrei durchbrach die Stille, und als habe dieser Schrei ein Loch in die Mauer des Schweigens gerissen, folgte ein Schwall von Geräuschen, die den Schrei übertönten. Ein Licht glomm auf und barst in einem hellen Blitz, der die Schwärze zerriß. Das Böse wurde hinweggefegt und verschwand in irgendwelchen unergründlichen Tiefen. Etwas 302
platzte, ein Riß tat sich auf. Ein Knall, als werde die Welt in Stücke gerissen, erschütterte den Raum, ebbte langsam ab, und das Geräusch verlor sich in der Ferne. Mythor schrie noch immer und versuchte, sich das schmerzhafte Brennen aus der Brust zu reißen. Es gelang ihm irgendwie, aber der Schmerz blieb. Er hatte das Gefühl, mit glühenden Zangen gepeinigt zu werden. Aber als er danach schlug, fuhren seine Hände ins Leere. »Mythor! Mythor! Es ist vorbei. Du hast gewonnen. Der Deddeth ist besiegt.« No-Angos Stimme klang von ferne an sein Gehör und kam in dem Maß näher, wie Mythor in seine Welt zurückfand. Seine Brust schmerzte immer noch, aber das rasende Feuer war erloschen und in ein beständiges Pochen übergegangen. »Was ist mit deiner Brust passiert?« rief No-Ango entsetzt. Mythor blickte an sich hinunter und sah, daß seine Brust von schwarzen Wunden bedeckt war. Eisiger Schreck durchzuckte ihn. So schwach er sich auch fühlte, stemmte er sich hoch und schleppte sich zu dem metallenen Spiegel, der zerbeult war, als hätte ein Riese in Raserei mit seiner Faust dagegen getrommelt. Aber das Metall spiegelte immer noch, wenn auch verzerrt. Mythor sah sich darin – und seine verbrannte Brust. Aber Fronjas Bildnis fehlte. Mit einem trockenen Schluchzen wandte er sich ab.
»Was habe ich nur angerichtet?« sagte Sadagar entsetzt. Er kauerte zusammengesunken da und zitterte am ganzen Leib. Er war stark abgemagert und bestand nur noch aus Haut und Knochen. Sein Gesicht war ein Totenschädel. Er fuhr fort: »Ich hätte dich, meinen besten und einzigen Freund unter den Menschen, zum Sklaven eines Dämons gemacht. Und ich habe 303
über ein ganzes Volk Unglück gebracht.« »Unsinn!« sagte Mythor, der immer noch ein schmerzhaftes Pochen in der Brust spürte, das nur allmählich nachließ. »Die Rafher sind ihren vorbestimmten Weg gegangen. Sie haben nur dafür gelebt, eines Tages in einem Wesen aus reinem Geist aufzugehen. Ich weiß jetzt, daß es den Rafher-Deddeth gibt, denn ich habe ihn gegen den Schatten aus Dhuannin kämpfen sehen. Ich verdanke ihm meine Freiheit. Der DhuanninDeddeth konnte mir nicht mehr nehmen als Fronjas Bildnis.« »Trotzdem.« Sadagar schüttelte immer wieder ungläubig den Kopf. »Es war schrecklich. Ich werde dieses Erlebnis nie vergessen.« Die Tür ging auf, und No-Ango trat ein. »Die Vogelreiter belagern die Stadt immer noch«, sagte er. »Ich konnte nur wenige Vorräte zusammentragen, gerade genug für ein paar Tage.« Er legte einen Wasserschlauch und zwei Lederbeutel auf den Boden, dann stützte er sich auf seinen langen Stock und betrachtete Sadagar. Als der Steinmann den Kopf hob und ihn bekümmert ansah, sagte No-Ango: »Du hast dir keine Vorwürfe zu machen, Sadagar. Niemand wird dich für die Bösartigkeit des Schattens verantwortlich machen, der dich geritten hat.« »Ha!« rief Sadagar voller Selbstvorwürfe. »Jetzt ist es genug«, sagte Mythor. »No-Ango hat selbst genug Kummer, als daß er dir noch Trost spenden soll. Reiß dich endlich zusammen, Steinmann! So übel haben wir es nicht erwischt. Wir brauchen nur zu warten, bis die Vogelreiter abziehen, dann können wir uns auf den Weg nach Logghard machen.« »Das ist gar nicht nötig«, sagte No-Ango. Er deutete auf den verbeulten Metallspiegel. »Das ist eine Tür, und dahinter führt eine Höhle zur Anhöhe hinauf.« 304
»Willst du uns nicht begleiten, No-Ango?« fragte Mythor. »Das muß ich wohl«, antwortete der Letzte der Rafher. »Ihr würdet euch in den Schluchten von Rafhers Rücken hoffnungslos verirren und umkommen. Ich werde euch den Weg zeigen.« »Ich meinte eigentlich, ob du uns nicht nach Logghard begleiten willst«, sagte Mythor. »Es war dir nicht möglich, mit deinem Volk zu gehen. Aber du könntest auf unsere Art, gemeinsam mit Sadagar und mir, für eine bessere Lichtwelt kämpfen.« »Ich habe erwartet, daß du das sagst, Mythor«, meinte NoAngo. »Logghard war auch für uns Rafher schon immer der wichtigste Stützpunkt der Lichtwelt. Auch mein Volk wird sich dort einfinden. Vielleicht wird es mir möglich sein, mit Hu-Gona Verbindung aufzunehmen, denn ich fühle, daß ich ihm trotz meines Körpers sehr nahe bin… Ja, ich komme gerne mit euch.« »Dann sollten wir sofort aufbrechen, bevor die Moronen auf den Gedanken kommen, dieses Gebäude zu durchsuchen«, sagte Mythor. Er nahm die Vorräte auf, die No-Ango mitgebracht hatte. Sadagar erhob sich schwerfällig. Als er stand, zwinkerte er Mythor zu. No-Ango hatte einige Mühe, die verbeulte Spiegeltür aufzubekommen, aber schließlich schaffte er es. Er entzündete mit zwei Feuersteinen die Öllampe, hob sie auf und betrat die Höhle hinter dem Spiegel. Mythor folgte ihm nicht sogleich. Er trat noch einmal vor den Spiegel hin, vergeblich darauf hoffend, daß sich Fronjas Bildnis auf seiner schwarz verbrannten Brust zeigen würde. »Bist du jetzt statt des Deddeth eine Gefangene der Spiegelwelt?« fragte er. Er hoffte, darauf einmal eine Antwort zu bekommen. 305
Deddeth Er war seinem Triumph so nahe gewesen, seines Sieges so gewiß wie nie zuvor, und da traf ihn die vernichtende Niederlage. Es war so blitzartig über ihn gekommen, daß er kaum zu einer Gegenwehr fähig war. Etwas aus reinem Licht war in ihn eingedrungen, hatte ihn von innen her ausgehöhlt und hätte ihn fast zerrissen. Er versuchte, sich die Geschehnisse nachträglich in Erinnerung zu rufen, doch hatte er keine klare Erinnerung daran. Da war Mythor! Der Deddeth fuhr aus seinem Gastkörper aus und sprang auf Mythor über. Im letzten Augenblick erkannte er, daß es nur ein Köder war: ein erbärmliches Spiegelbild. Er durchschaute das Ablenkungsmanöver gerade noch rechtzeitig und versuchte, das Tor zur Spiegelwelt zu zerstören. Dann erst wandte er sich seinem Opfer zu – und da passierte es, daß der blendende Blitz über ihn kam. Es war ein Wesen wie er und doch ganz anders. Nicht Schwärze war sein Element, sondern Licht. Ein Deddeth aus vielen Seelen wie er. Und doch gegensätzlich. Dieser Orkan aus Licht hatte ihn hinweggefegt, war nahe daran, ihn zur Auflösung zu bringen, ihn in seine Einzelteile aufzusplittern. Beinahe hätte ihn die Schwärze der Schattenwelt verschluckt. Doch da fand er in höchster Not auf einmal Halt an einem Körper. Es war nicht der Mythors, auch nicht der irgendeines der ihm nächsten Vogelreiter oder der seines Wirtes Sadagar. Diese waren ihm auf einmal so fern, daß sie unerreichbar für ihn blieben. In diesem Moment vor der Auflösung konnte er nicht wählerisch sein. Er griff zu, froh, irgendeinen Rettungsanker 306
gefunden zu haben, nicht vergehen zu müssen. Und nun erkannte er allmählich, daß der Zufall ihm so übel nicht mitgespielt hatte. Er konnte zufrieden sein und war es sogar über alle Maßen. Denn der Körper, in dem er sich wiederfand, war schön und jung und ohne jeden Makel – und er konnte auch in ihm seine Bestimmung finden. Der Deddeth breitete sich in all seiner Schwärze in diesem Körper aus. Er würde der Welt noch zeigen, wozu er fähig war. ENDE
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Der nächste MYTHOR-Band Erneut ist Mythor mit seinen Gefährten auf dem Weg zur Ewigen Stadt Logghard. Sein Weg führt ihn immer tiefer ins Reich des Shallads, der sich selbst für den legitimen Nachfolger des Lichtboten hält. Ausgerechnet im Namen des Lichtes führt der Shallad mit seinen Vogelreitern ein grausames Regime. Am Marktort Horai, einem Kreuzungspunkt vieler Karawanenstraßen, wird Mythor in eine Entführung verwickelt. Er kann den Weg nach Logghard nicht fortsetzen, muß sich statt dessen in die große Salzwüste hineinwagen, die von Piraten auf ihren Wüstenseglern beherrscht wird. Inzwischen geraten Mythors Freunde auf der Suche nach dem verschollenen Sohn des Kometen in ein geheimnisvolles Heerlager der Dunklen Mächte inmitten eines Eisbergs! Im Kampf gegen die Eiskrieger müssen sie versuchen, diese neue Gefahr lange genug aufzuhalten, bis Mythor sein Lichtheer gesammelt hat. Doch wird ihm das überhaupt jemals gelingen? Mehr darüber erfahren Sie im nächsten spannenden Band der MYTHOR-Serie:
AM KREUZWEG DER LICHTWELT
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