KLEINE
BIBLIOTHEK
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-UND KULTURKUNDLICHE HEFTE
MAX E Y T H
ZWISCHEN TRAUM UND TAT AU...
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KLEINE
BIBLIOTHEK
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-UND KULTURKUNDLICHE HEFTE
MAX E Y T H
ZWISCHEN TRAUM UND TAT AUS DER JUGEND EINES GROSSEN INGENIEURS
VERLAG SEBASTIAN
LUX
MURNAU•MÜNCHEN • INNSBRUCK • BASEL
Einleitung In dem Leben und Werk des Ingenieur-Schriftstellers Max Eyth spiegelt sich das große Abenteuer der industriellen Entwicklung des 19. Jahrhunderts, des Zeitalters der Maschine. Ein Jahr vor seiner Gehurt fuhr die erste Eisenbahn von Nürnberg nach Fürth; als sich sein Leben im Jahre 1906 dem Ende zuneigte, brausten Kraftwagen mit hoher Geschwindigkeit über die Straßen, dröhnten die Hallen der Fabriken vom Lärm der Maschinen. Max Eyth war von seinem Vater, dem Pfarrer und Professor für Sprachen und Geschichte in Kirchheim unter Teck, für die humanistische Gelehrtenlaufbahn bestimmt worden. Aber den Jungen zog es mehr zu den Schmiedewerkstätten und Eisenhämmern seiner j schwäbischen Heimat als zum Cicero und Cornelius Nepos. Er setzte :j seinen Willen durch und begann im Alter von fünfzehn Jahren mit j dem technischen Studium auf dem Stuttgarter Polytechnikum, das I er, mit drei Preisen ausgezeichnet, verließ. Der Schule mit ihrer I Theorie folgte die praktische Arbeit an Amboß und Schraubstock, I bis der lang ersehnte Sprung in die Welt gelang. In England, dem damals klassischen Land des Fortschritts, fand Max Eyth ein reiches Tätigkeitsfeld in der führenden Maschinenfabrik von Fowler zu Leeds. Er verbesserte mit wesentlichen Patenten den Dampfpflug, der damals eine wahre Revolution auf dem Gebiet der Landwirtschaft herbeiführte. In fruchtbarer Pioniertätigkeit zog der Deutsche im Auftrag Fowlers durch die ganze Welt, um das Dampfpflügen populär zu machen. Als reicher Mann in die Heimat zurückgekehrt, gründete Max Eyth nach dem Vorbild der englischen „Agricultural Society" die Deutsche LandwirtschaftsGesellschaft, „eine Vereinigung von Landwirten und der Landwirtschaft nahestehenden Kreisen, die die Aufgabe hat, die Technik in der Landwirtschaft zu fördern" und die noch heute die grpße Pionierin des technischen Fortschritts auf dem Lande ist. Als er das Werk gesichert wußte, zog Max Eyth sich in das Haus ; der Mutter in Ulm zurück und begann in immer neuen und immer farbigeren Büchern von dem zu erzählen, was er in zwanzig Ländern gesehen und was er gearbeitet hatte. Es sind die Erinnerun- | gen eines lebensheiteren und lauteren Mannes, der sich das Glück und den Erfolg selber schmiedete und der auch nicht zu verschweigen brauchte, daß sein Weg in die große Welt gar nicht so beiden- i haft begann, wie er sich das bei seinem Auszug aus dem Elternhause erträumt hatte — damals im Jahre 1861, als er aus dem ( Schwabenland ins Ruhrrevier und von dort ins belgische Industrie2
gebiet wanderte, bis in die große Hafenstadt Antwerpen. Lassen wir Max Eyth in seiner launigen Art selber erzählen, wie es ihm gegangen ist bei dieser Arbeitsuche und wie er fast verzagt wäre, als er das große Wasser vor sich sah, über das er hinüber mußte, wollte er wirklich ein Globetrotter in des Wortes wahrster Bedeutung werden.
Im „Schwarzen Anker" Der „Schwarze Anker" in Antwerpen war kein- Hotel erster Klasse, auch keins der zweiten. Aber seine Lage benagte mir, seine Preislage hatte selbst für mich nichts Erschreckendes, wenigstens im zweiten und letzten Stock. Seit zwei Tagen bewohnte ich dort ein Stübchen von holländischer Größe und Sauberkeit. Die runde flämische Kellnerin zeigte bereits die ersten Spuren mütterlicher Zuneigung, wenn sie mir ein frisches, schneeweißes Handtuch brachte. Mein Fensterchen sah nach der Scheide auf eins der großen Wassertore des Kontinents, die in die weite Welt hinausführen. Als ich vorgestern zum erstenmal die glänzende Fläche im Licht der untergehenden Sonne schimmern sah, mit ihren Masten und Segeln, ihren behaglich rauchenden Dampfschiffen, den plätschernden, hin und her schießenden Schleppbooten, die in der größten Eile schienen, heute noch fortzukommen, und immer wieder da waren, klopfte mir das Herz fühlbar. Ich selbst — soll ich oder soll ich nicht? Etwas müde und nicht so hoffnungsfroh wie gestern und vorgestern war ich nach Hause zurückgekehrt. Das Wetter hatte sich geändert. Ein schwerer Aprilhimmel hing in schwarzen Wolkenfetzen über der Stadt. Bleigrau starrte die Scheide zu ihm empor. Von Zeit zu Zeit fegte ein Windstoß über den Strom und kräuselte ein silbernes Band in die tote Fläche. Die Masten der Schiffe wackelten nachdenklich hin und her, scheinbar ohne Ursache: doch schien es ihnen mit jeder Viertelstunde unbehaglicher zu werden. Jetzt, als ich eintrat, klatschten sogar schwere Regentropfen an die Fensterscheiben. In einer solchen Nacht hinaus in die weite, nasse, fremde Welt? Keines der Schiffe entlang dem dämmerigen Kai, das nicht den Kopf schüttelte! Ein höflicher, unermüdlich schwatzhafter kleiner Zeichner aus Lüttich hatte mir den ganzen Nachmittag lang die Antwerpener Werft gezeigt. Es war die erste Schiffswerft, die ich als rassenreine schwäbische Landratte zu sehen bekam. Sie war im Jahre 1861 nicht sehr groß; aber für den Maßstab, mit dem ich mich auf die Wanderschaft gemacht hatte, doch gewaltig genug. Ein halbes Dutzend gro3
ßer Schleppkähne für die Wolga und ein kleiner Küstendampfer waren im Bau begriffen. Vor einer Woche hatte man angefangen, den Kiel für ein Dampfschiff zu legen. Alles rohe Arbeit, wie mir schien. Und niederdrückend war es, daß es so viel rohe Arbeit in der Welt gab, von der man nichts verstand, trotz eines Bildungsganges, an dem die alten Griechen und Römer nicht ohne Anstrengung mitgeholfen hatten. Diese Werft zu sehen, war der eine, unwesentliche Zweck meines Hierherkommens gewesen, auf einen Brief zu warten der andre. Der Brief sollte mein Schicksal für die nächste Zeit entscheiden. Ich hatte in den letzten Wochen mehrmals ähnlichen Schreiben entgegengesehen, in Köln, in Essen, in Brüssel, und fing an, mich an die Spannung zu gewöhnen, die einer milden Neugier — wie es wohl weitergehen werde? — Platz gemacht hatte. Doch heute handelte es sich um das letzte Wort aus Belgien. Klang es wie alle andern, so stand ich ziemlich ratlos vor einer ernsten Lebensfrage. In der Mauer von Schiffen, die den Kai entlang lagen, war die helle Lücke, die quer über die Straße gestern einen herrlichen Blick auf den munteren Strom gestattet hatte, plötzlich verschwunden. Ein schwarzes Ungetüm von Dampfer, der „Nordische Walfisch", füllte sie aus, stieß träge Wolken Rauchs in die tiefhängenden Regenwolken und rasselte an vier Stellen zugleich mit Ketten und Dampfwinden, von denen jede ihre eigene schnarrende Tonart aufdringlich zur Geltung brachte. Unten im feuchten Halbdunkel verwirrte sich ein Dutzend Wagen und Karren, die Waren aller Art herbeischleppten. Fässer, Kisten und Ballen flogen zuckend in die Luft, um mit einem behaglichen Grunzen im Bauch des Schiffs zu versinken. Peitschenknallen und Fluchen kam stoßweise zu mir herüber. Immer neue Karren kamen angerumpelt. Das Schiffsungeheuer fraß mit Appetit, schwarz und schweigend. Frißt es wohl auch Menschen?
Drei Briefe Ich fragte die runde Kellnerin, die in diesem Augenblick eintrat, wann es abfahre. „Erst morgen nachmittag, gegen vier Uhr", antwortete sie in ihrem pausbackigen Flämisch und hielt mir Briefe entgegen, die ich ihr mit befremdender Lebhaftigkeit entriß. Nicht bloß den einen, den ich erwartete; es waren drei. Mein zwei Wochen altes Flämisch sprudelte stürmisch über meine Lippen. Kein Sprächlehrer der besten deutschen Gymnasien hat je ähnliche Erfolge erzielt. In zwei Minuten stand ein Petroleumlämpchen auf dem 4
runden Tisch, ich saß auf dem krachenden Sofa und riß meine Briefe auf. Der erste war in der Tat aus Seraing bei Lüttich, wo ich vor einigen Tagen eine Stelle als Zeichner gesucht hatte. „Mein Herr! Wir bedauern aufs lebhafteste, daß die gegenwärtige Besetzung unsers Zeichenbüros uns der Möglichkeit beraubt, von Ihren Talenten Gebrauch zu machen, für die uns ebensosehr Ihre vortrefflichen Zeugnisse (die wir dankend beilegen) als die Empfehlung unsers sehr verehrten Mitglieds des Verwaltungsrats, Dr. Orban, bürgen. Wir sind überzeugt, daß andre Etablissements, nament-
Landauf, landab arbeiteten in den Sechziger Jahren noch die „Eisenhämmer", kleinere Eisenwerke mit Wasser- oder Dampfantrieb. lieh in Ihrem eignen Vaterlandc, mit Ungeduld den Augenblick erwarten, in dem sie von Ihren vielseitigen Fähigkeiten Gebrauch zu machen Gelegenheit finden werden, und wünschen denselben Glück zu den ihnen hieraus erwachsenden außerordentlichen Vorteilen. Genehmigen Sie den Ausdruck unserer sehr distinguierten Hochachtung. Die Administration der Societe anonyme de Seraing", würdig vertreten von zwei unlesbaren Namen. 5
Es bleibt etwas Schönes um Stil und Höflichkeit. Ich faltete das Schreiben liebevoll zusammen und legte es auf ein Häuflein zumeist minder gut stilisierter Briefe, die sich in den letzten Wochen angesammelt hatten und fast als Tagebuch einer Forschungsreise von Mainz bis Antwerpen dienen konnten, mit Kreuz- und Querzügen in allen Seitentälern des Rheins und der Maas, in denen Gott Eisen wachsen ließ. Vorgestern noch hatte mich ein Schreiben aus dem Ruhrgebiet erreicht, das mir von Stadt zu Stadt, von Gasthof zu Gasthof nachgelaufen war. Ein alter Spartaner schien es mit Streichhölzchen, mit denen er noch nicht umzugehen wußte, angefertigt zu haben. Mühsam entziffert lautete es: „Unser Büro ist besetzt. Wir können Sie nicht brauchen. Hochachtend R. R." Mit Belgien also war es auch aus. Die Maschinenfabriken von Seraing waren meine letzte Hoffnung gewesen. Die kleineren Fabriken hatte ich schon von Brüssel aus durchgekostet. Verzweiflung gibt Mut. Ich hatte als letzte Möglichkeit die größte, die ersehnteste versucht: die weltberühmten Werke, die John Cockerill in Seraing gegründet hatte. Nun sah ich durch die trüben Scheiben in die Dämmerung hinaus. Das Schiffsungetüm fraß noch immer an seinem Abendbrot; etwas langsamer, mit widerwärtigem Räuspern. Eben schien ein besonders fetter Bissen an die Reihe zu kommen: ein Riesensarkophag dem Aussehen nach, in Wirklichkeit ein Eisenbahnwagen. Er hing schwarz und viereckig gegen den schmutzigroten Abendhimmel und drehte sich langsam an der Kette des Schiffskranes in der Luft. Dann versank er plötzlich mit wütendem Gerassel in dem nicht zu füllenden Bauch. Der dicke kurze Schornstein machte eine ganz kleine, behagliche Bewegung. Diesmal hatte es dem Ungetüm sichtlich geschmeckt. Und morgen, um vier Uhr, frißt es auch Menschen! Ich wandte mich meinem Tischchen zu. Die beiden andern Briefe waren mir von meinem Brüsseler Gasthof nachgesandt worden. Der eine kam von England, von einem Freund und Schulkameraden, der schon ein halbes Jahr vor mir den Sprung in die Welt gewagt hatte. „Lieber Eyth", schrieb er unter manchem andern, das nicht hierher und kaum in seinen Brief gehörte, „wenn Dich meine Epistel noch zeitig trifft und Dir Dein Leben lieb ist, namentlich Dein Seelenleben, so bleibe dort. Dein tägliches Brot findest du in den ersten sechs Monaten schwerlich. Solltest Du jedoch unheilbar verrückt und dies Deinem Fortkommen in Belgien und am Rhein hinderlich gewesen sein, so komme immerhin. Ich habe seit vier Wochen zwanzig Schilling die Woche und ein Reißbrett in der ersten Fabrik der Welt. Ein Hundeloch und Hundelöcher rings umher. Whitworth. Aber 6
es soll jetzt alles neu gebaut werden, und geleistet wird Gewaltiges, und interessant ist es. Es ist noch ein Deutscher hier, oder vielmehr ein Schweizer, dem dies saurer fällt als mir. Wir zwei pausen zu Hause die ganze Nacht Bohrmaschinen und Drehbänke, Hobel- und Fräsmaschinen . . . " Und nun zum dritten Brief. Er kam aus der Heimat von meinem lieben Zeichen- und Leidensgenossen Braun, der jetzt, an meinem Arbeitstisch, das alte Leben fortsetzte. „Lieber Eyth! Zwei Dinge rate ich Dir, von denen Du das eine tun, das andre bleibenlassen sollst, und zwar sobald als möglich. Komm ohne Verzug wieder zurück. Dein alter Zeichentisch ist mir um drei Zentimeter zu hoch, und Dein Reißbrett hat zwei Astlöcher, die mir das Leben zur Last machen. Oder, zum zweiten, mache, daß Du so schnell und so weit als möglich fortkommst; denn der Alte (in dieser vertraulichen Weise sprachen wir von unserm hochgeachteten Herrn und Meister hinter seinem Rücken) ist noch immer wütend über Deine Desertion: ,Da erzieht man die jungen Leute, die völlig unbrauchbar aus ihren polytechnischen Kindergärten kommen, zahlt ihnen noch glänzende sechsunddreißig Kreuzer täglich dafür, und kaum sind sie imstande, sich einigermaßen nützlich zu machen, so laufen sie einem davon, der Kuckuck weiß, weshalb und wohin; bloß um zu laufen.' Er ist in der tiefsten Seele, soweit er eine solche hat, überzeugt, daß Du ein Scheusal von Undankbarkeit bist, und läßt es uns fühlen. Wir suchen uns dadurch einigermaßen schadlos zu halten, daß, wenn irgend etwas unten in den Werkstätten schiefgeht, eine Welle zu kurz oder zu lang, ein Zapfen zu dick oder zu dünn geraten ist, wir einstimmig versichern: Das hat Herr Eyth noch gemacht. Die Bemerkung ist ein Sprichwort geworden, das uns vielfach tröstet; auch über Deinen Abgang, den ich anfänglich für ein Unglück hielt, denn wir waren in der ersten Woche wirklich verdrießlich. Jetzt geht es schon wieder. — Daß Du am Rhein nichts gefunden hast, freut uns. Hoffentlich geht Dir's in Belgien ebenso gut. Dann wirst Du wohl an die Heimkehr denken und an die Fleischtöpfe im ,Waldhorn', und wir werden vielleicht wieder zu Ehren kommen. Mit Blechmusik sollst Du empfangen werden. Der Alte wird Dir sicher auch etwas blasen, glaube ich. Aber er wird Dich wieder aufnehmen, wie den verlorenen Sohn, wenn auch ohne eine Kalbsschlächterei zu veranstalten; darauf darfst Du bauen." Jetzt klatschte der Regen ans Fenster, und ein kalter Aprilwind fing ordentlich zu blasen an. Man hörte draußen Rahen und Stangen ächzend aneinander schlagen, und das Kettengerassel der 7
Dampfwinden hörte trotz allem immer noch nicht auf. Die drei Briefe waren gelesen; zweifelnd, schwankend starrte ich in die dunkle Zukunft. Mein alter Freund Braun hatte die richtige Saite angeschlagen, ohne es zu wissen. „Und es sieht das Hüttlein trauern, Das ihn hegte mit den Seinen, Hört davor die Linde schauern Und den Bach vorüberweinen."
Heimkehrgedanken unter der Petroleumlampe In der Tat, warum sollte ich nicht umkehren? Alle vernünftigen Leute schienen dieser Ansicht zu sein, gleichgültige und teilnehmende. Leer käme ich ja nicht nach Hause. Ich hatte seit zwei Monaten alles mögliche gesehen und einiges gelernt. Meine Notizbücher strotzten vor halbfertigen Skizzen. Warum sollte ich nicht einen Strich unter meine Studienreise machen, wenn man mir die Tinte dazu förmlich nachspritzt. Es kostet wohl einige Überwindung nach den hoffnungsvollen Plänen, mit denen ich auszog; aber man muß sich auch überwinden können. Die größten Geister fanden dies am schwierigsten und achtbarsten. Und zur Stärkung und Belohnung meines heldenhaften Entschlusses der Selbstüberwindung muß etwas geschehen. Ich werde in dieser wilden Welt mit ihrem ewigen Kettengerassel, wenn irgend möglich, zum Abend- und Abschiedsmahl eine gute deutsche Schützenwurst bestellen! Marie!! Die Zimmerglocken im zweiten Stock des „Schwarzen Ankers" waren nämlich nicht immer in Tätigkeit zu sehen. Man war deshalb gezwungen, dem Zimmermädchen bei jeder wichtigeren Veranlassung menschlich näherzutreten. Freilich nicht immer mit Erfolg. Sie ließ mir auch diesmal Zeit, meinen halblauten Monolog fortzusetzen, den die wachsende Erregung wohl entschuldigt. Man hat nicht alle Tage einen Entschluß zu fassen, der das ganze Leben in eine neue Bahn drängt. Eins aber will ich nicht unterlassen, fuhr ich, noch immer auf meine Belohnung bedacht, eifrig fort: So nahe an England, für das ich seit Jahren als Mensch und Techniker eine stille, beklommene Verehrung pflegte, will ich wenigstens etwas von seinem insularen, weltumspannenden Leben kennenlernen, ehe ich ihm den Rücken kehre! Eine Flas.che britisches Ale-Bier zu meiner schwäbischen Wurst! Vielleicht sauge ich in dieser Weise kurzerhand englische Lebenskraft in mich ein. Ale hatte ich bis heute nur dem Namen nach kennengelernt. Das wenigstens muß anders werden. Ich kann dann 8
Als Max Eyth sich in der „Schmiede des Ruhrgebietes", in Essen, umsah, war gerade der Tausend-Zentner-Hammer „Fritz" in Dienst gestellt. Der vielbestaunte Riesenhammer tat am 4. März 1911 seinen letzten Schlag, als Eyth vier Jahre tot war. jedenfalls die erste Frage, die Braun, wenn wir uns in Bälde wiedersehen, an mich richten wird, prompt beantworten. Eine Flasche Ale unter dem Herzen und den fernen Salzgeruch der See in der Nase, wie ihn in einer solchen Sturmnacht jeder Windstoß bringt: Wozu braucht man eigentlich dann noch nach England zu gehen? Marie! — Sie geruhte zu erscheinen; ohne Übereilung, mit jener flämischen gemessenen Würde, die dem Süddeutschen Achtung einflößt und gelegentlich ein Donnerwetter auspreßt. Nicht ohne kleine sprachliche Schwierigkeiten erklärten wir uns: „Schützenwurst?" — „Nein!" — „Wurst im allgemeinen?" — „Ja!" — „Das englische Gebräu?" — „Jawohl, Mijnheer!" — Nach zehn Minuten erschien alles auf einem Puppenstubenkaffeebrettchen; nur die große, wohlversiegelte Flasche machte eine imponierende Ausnahme. ,Man mag sagen, was man will, es ist doch etwas an den Engländern; ein großer Zug 9
in allem, was sie berührt', dachte ich und streckte mich auf dem kleinen Sofa aus, den Kopf auf der einen, die Beine auf der andern Lehne, um wenigstens eine Stunde lang die englischen Illusionen möglichst aufrechtzuerhalten. Draußen heulte der Sturm. Segel und Rahen klatschten; das Kettengerassel dagegen hatte endlich aufgehört. Und mein Petroleumlämpchen brannte traulich und zutunlich. Ein schweres, goldgelbes N a ß winkte mir aus dem Gläschen entgegen, das schlecht zur Flasche paßte. Ich begann; nicht ohne Wehmut.
So fing es an . . . So wäre denn mein Wanderleben zu Ende! Warum auch nicht? Das Leben in der Heimat hatte doch wahrhaftig auch sein Schönes, wenn man es im rechten Licht besah; namentlich im Abendsonnenschein oder noch besser: in der Dämmerung. Die Kinderzeit in dem Waldkloster, in dem ich aufgewachsen bin, mit ihrer unverstandenen Sehnsucht nach der großen Welt, die zwei Stunden hinter dem Wald mit einem Eisenhammer anfing. Und nun hatte ich mir die große Welt schon ziemlich gründlich angesehen; was war sie anders? Tatsächlich Eisenhämmer, einer hinter dem andern! Sind sie all die Sehnsucht des kleinen, klopfenden Herzens wert gewesen? — Dann die lustige Schulzeit mit ihren Freundschaften für eine vierjährige Ewigkeit und der ungeduldigen Ahnung von all dem Großen und Schönen, das der nächste Schritt im Leben unfehlbar bringen mußte, wenn man endlich den Staub und Moder der fürchterlichen Klassiker abschütteln durfte. Darauf die Kneip- und Arbeitsfreudigkeit des jungen Polytechnikers in Stuttgart, der mit ganzem Herzen bei der Sache ist, durchdrungen von der Weisheit seiner verehrten Lehrer und der Höhe seines eignen Wissens und jederzeit bereit, mit einer liebenden Gattin von fünfzehn Jahren die Rosenpfade des Daseins zu durchwandeln. Nun aber plötzlich aus all diesen Herrlichkeiten der zermalmende Sturz in das Werkstättenleben, die Vernichtung aller Träume, die zerklopften Finger, die schwarze Nase. Und die ersten selbstverdienten Groschen, die ersten, mit selbstverdientem Geld gekauften Stiefel, in denen man mit bisher ungekannter Vorsicht auftritt. Und dann, trotzig und halb gebrochen, aus der Tiefe der Vernichtung langsam wieder emporsteigend. — Übrigens ist dieses Ale-Bier ein wunderbares Getränk! Süffig wie das kostbarste Olivenöl — darüber habe ich keinen Zweifel mehr; stark wie zwei Männer — aber kaum bitter genug — so ganz anders als ehrliches schwäbisches Bier! 10
Ja — man ist an dem Sturz in die unerwarteten Tiefen des praktischen Lebens allerdings nicht gestorben, wenn auch beinahe. Mir wurde es vielleicht doppelt sauer, denn in der Schulzeit hatte ich im Träumen eine ganz besondere Fertigkeit erlangt und öfter versucht, die etwas dunstigen Luftgebilde in Reimen festzunageln, so daß ich, sobald es mir wieder etwas besser ging, anhub, meinen Schraubstock zu besingen, und den Fabrikschornstein in Verse brachte. Es schadete niemand. Doch das harte Jahr ging vorüber. Aus meiner ersten Fabrik hatte man mich zwar zu meiner unaussprechlichen Verblüffung hinausgeworfen; sechs Wochen nachdem mir vom Polytechnikum der erste Preis in höherer Mathematik und praktischem Maschinenzeichnen zugesprochen worden war! In der zweiten Fabrik stieg ich jedoch aus den tiefsten Tiefen mit zusammengebissenen Zähnen und verschmierter als der schmierigste Lehrjunge langsam empor und wurde sechsunddreißig Kreuzer, achtundvierzig, ja schließlich einen Gulden täglich wert. Dann holte mich ein Engel vom Himmel — er hieß Wolf und war Bürochef und erster Konstrukteur — ins Zeichenbüro. Die Wurst war nicht schlecht, wenn auch himmelweit entfernt von den Idealen, die meine teure schwäbische Heimat erzeugt. Es fehlte ihr die schlichte Treuherzigkeit, die man am Neckar auch in einer Knackwurst findet. Aber das Ale — wie man ein solches Getränk Bier nennen kann! C'est magnifique! — und stark! — es lebe old England! Das Pausen im Zeichenbüro machte nicht überglücklich, aber man war wieder gewaschen wie ein Mensch und ahnte die kommenden Freuden, wenn man nach Tisch in dem noch leeren Zeichensaal neugierig an den Reißbrettern der gewiegten Herren Zeichner vorüberschlich: ernster, bärtiger Männer, denen man die harmlosen Dummheiten nicht ansah, deren sie nach längerem tiefem Nachdenken oder schneidigem Winkel- und Reißschienengeklapper fähig waren. Welch erhebendes Gefühl, den ersten selbstkonstruierten Lagerbock aus dem Nichts entstehen zu sehen. Von den Sonnenblicken, die Liebe und Freundschaft wieder auf meinen Lebenspfad zu werfen begannen, will ich gar nicht reden. Es war wie ein zweiter Frühling in sprossendem Ackerfeld nach dem ersten im kindlichen Heidekraut, der schon weit hinter mir lag. — Ein tüchtiger Schluck von solchem Bier war damals nicht nötig, um mir den Lebensmut zu heben, und dies war ein weiteres Glück. Denn das Bier im „Waldhorn" war um ein beträchtliches schwächer. Die Tage folgten sich und glichen sich nicht mehr. Schritt für Schritt ging's höher hinauf. Es kamen die kleinen Geschäftsreisen: hier 11
die Aufnahme einer alten Sägemühle, dort der Besuch eines verkehrt aufgebauten Fundaments. Man hatte das fröhliche Gefühl des Entchens, das zum erstenmal halb verwundert, halb selbstbewußt in seiner Pfütze plätschert. Man fühlte die Bedeutung des neunzehnten Jahrhunderts und daß man am Webstuhl einer großen Zeit das eigne Schiffchen hin und her warf. Abends am Wirtstisch predigte man dem Pfarrer des Städtchens und wurde vom Bürgermeister den Gemeinderäten als der Herr Ingenieur aus Stuttgart vorgestellt, der uns alles über die Gasfabrik mitzuteilen in der Lage sei, deren Anlage möglicherweise doch in nicht allzuferner Zeit in Erwägung zu ziehen wäre. Wenn es dann gar gelang, die Bestellung eines unerwarteten Seifenkessels mit nach Hause zu bringen, zu der sich der Herr Gemeinderat Angele in plötzlich erwachtem Vertrauen entschlossen hatte! Aber auch Lieblicheres als Seifenkessel sproßte frühlingsartig in allen Ecken und Enden des Ländchens, kleine Blumenbeete der Freundschaft und Liebe in buntwechselnder Farbenpracht. Fiducit, du alte Jugendzeit! Prosit, ihr fernen Herzensbrüder, desgleichen ihr Schwestern! Ist das Neckartal nicht ein halbes Paradies und das Waldhorn-Minele eine kleine Eva, ohne Falsch, wie die meisten Schwabenmädchen, an denen wahrhaftig kein Mangel war? Der erste Versuch, all diesen teuern Banden zu entschlüpfen, hatte verdientermaßen kläglich geendet. Zu Immendingen im Schwarzwald war die Stelle eines Zeichenbürochefs ausgeschrieben. Wer nichts wagt, gewinnt nichts! Ich meldete mich trotz des Jammers meiner guten Mutter: Immendingen sei gar nicht so weit entfernt! Wenn es wenigstens nicht im Ausland läge! Es ist nämlich badisch, und wir schrieben 1859. Und wahrscheinlich hätte ich die Stelle bekommen —, ja wenn mein wackerer Vater, stets auf mein Wohl bedacht, mich nicht unterstützt hätte! Er war ein Mann des Fortschritts, trotz der hervorragenden philologischen Stellung, die er in seiner Welt einnahm. Um meine Bewerbung zu fördern und um mich .zugleich später freudig zu überraschen, schickte er hinter mei-'j nem Rücken an die Direktion von Immendingen eine Abschrift meiner sechs besten „Lieder am Schraubstock", überzeugt, wie er beifügte, daß die in den kurzen Gedichten hervortretende ideale Auffassung des praktischen Lebens und die nicht unbeträchtliche sprachliche Gewandtheit, die sich namentlich in dem fünften Gedicht: „Der Schornstein" zeigte, einige Berücksichtigung finden dürfte. Erst zwei Jahre später erfuhr ich von der Sache durch einen Schreiber, der den „Schornstein" und die andern fünf Lieder aus dem Papierkorb des Direktors gerettet hatte. Denn der junge Herr war zufällig beim Empfang des Schreibens im Zimmer gewesen. „Sehen Sie mal!" 12
hatte der Direktor zu seinem Prokuristen gesagt, der ihm gegenübersaß, „solches Zeug schickt mir ein alter Professor! Glaubt der Mann, wir machen Gedichte in Immendingen. Muß eine intelligente Familie sein, das!" Prosit, prosit, liebevollster und besorgtester aller Väter! Ich weiß, du hast es herzlich gut gemeint, wenn wir auch in diesem Falle hereinfielen. Es tat nicht allzu weh; der Papierkorb war geräumig genug für uns beide. — Übrigens ist dieses Bier das Bier aller Biere! Wenn bei den Engländern alles so ist wie ihr Ale — wer weiß, ob es nicht doch meine Pflicht wäre, diesem Volke näherzutreten. Nur zu stark, wirklich zu stark! Ich glaube, drei Flaschen könnte ich beim besten Willen nicht auf mich nehmen. Das hat auch seine Nachteile. Aber meine Ruh war hin. Der Blick über den Schwarzwald hinaus hatte den Zauber der Heimat vernichtet. Eine geheime Sehnsucht nagte an meinem Herzen. Dazu kam eine kurze Geschäftsreise nach Paris, mit dem Auftrag, Lenoirs Gasmotoren zu studieren, von wo ich verwirrten Kopfes nach Hause kam. Aber ich ahnte mehr und mehr, wie weit die Welt ist, wie sich's draußen regt, wie die Zeit, unsre Zeit, an ihrem großen Webstuhl die Schiffchen hin und her wirft. Liebe und Freundschaft und die komplizierteste Schiebersteuerung, an der ich viel und emsig herumklügelte, wollten mir den Seelenfrieden nicht wiedergeben. Ich mußte hinaus. Es lebe der Fortschritt; es lebe die Freiheit! Unbedenklich kann man das Ale das Bier der Befreiung, den Trunk der Freiheit nennen: wie ja schon unserm wackeren Schiller England als das gelobte Land der Freiheit erschien, weil und obgleich er der beste Deutsche war. Daher wird wohl auch der Unterschied im Geschmack rühren. Man muß sich an das Beste gewöhnen. Es lebe die Freiheit! Ich hatte mir ein paar hundert Gulden erspart und besaß eine Großmutter, die mir fünfhundert lieh. Dann — Ehre, dem Ehre gebührt — gibt die Württembergische Zentralstelle für Handel und Gewerbe ihren hoffnungsvolleren jungen Schwaben gelegentlich ein paar hundert auf den Weg für Studienzwecke oder um sie mit Ehren loszuwerden. Das machte zusammen etwas über tausend Gulden; damit kann man bequem eine Strecke gleich der Erdbahn durchreisen! Und als sich die ersten Spuren des Frühlings von 1861 zeigten, zog ich den Neckar hinunter in die weite Welt hinaus. Es lebe die Freiheit! Und nun sollte ich wieder umkehren, weil die Rheinländer nicht merkten, wer vor ihren Türen stand, und die Belgier — konnte man's ihnen verargen? — ebenso blind sind? Unsinn! Ich gehe nach England! Natürlich gehe ich nach England. Vor der Quelle eines solch guten Bieres darf eine deutsche Studienreise 13
nicht haltmachen. Ich könnte mir's wahrhaftig in meinen alten Tagen nie verzeihen. Soll ich beschämt vor meinen Enkeln stehen, wenn sie die Jugendgeschichte ihres Großvaters ausgraben? Der Mann muß hinaus ins feindliche Leben. Ich begreife nicht, wie ich, noch mit sechshundert Gulden in der Tasche, auch nur einen Augenblick daran zweifeln konnte. Es war eine schmähliche Schwäche. Alles, was mich zu Hause liebt, soll leben. Aber ich gehe. Mit jedem Augenblick fühle ich einen neuen Zuwachs von Kraft und Mut in mir lebendig werden. Lebendige Kraft von der harten Art, mit der etwas zu machen ist. Lebe wohl, Kinderzeit! Ernst muß es werden, und das Ungetüm draußen mag mich verschlingen, sobald es Lust hat. Es soll mich als Mann wieder ausspeien an dem fremden Strande. Das ist beschlossene Sache. Der Mann will hinaus! — Jetzt aber zum letztenmal — und ganz gewiß zum letztenmal! Ich riß ein Blatt auf meinem Skizzenbuch und schrieb auf die Rückseite einer Kesselschmiede zu Aachen Abschiedsworte an meine armen zurückgebliebenen Freunde und meine ganze Jugendzeit, die ich unbarmherzig im Meer versenkte. Dann folgten etliche trotzige Strophen an die Stürme der Zukunft und ein fragwürdiges Schiff, das ich mit großer Zuversicht um brandungsumtoste Klippen zu steuern vorgab. Die Reime flogen mir zu. Dagegen weiß ich heute noch nicht genau, wie ich in den Wandschrank kam, in dem sich nach holländischer Weise mein Bett befand. Es ging alles in schönster Ordnung. Aber ein gütiger Himmel mußte mich auch damals geleitet haben, wie später mannigfach, wenn ich, in Freud und Leid, das Steuer nicht mehr allzu fest in der Hand hielt.
Auf dem „Nordischen Walfisch" Ein sonniger Morgen weckte mich aus wogenden Träumen. Draußen rasselten die Dampfwinden mit einer Lebenslust und Arbeitswut, die fast wehe tat. Der „Nordische Walfisch" mit seinem unerschöpflichen Appetit war schon am ersten Frühstück. Er verspeiste soeben zehntausend Bretter. Dazu Geschrei und Peitschenknallen, Pfeifen und zischendes Abblasen von Dampf in allen Richtungen. Auf meinem Tischchen lag mein Gedicht und die Flasche von gestern. Etwas beschämt wendete ich mich von beiden nach dem Bild lebendiger Arbeit, das draußen in der Sonne schimmerte. Wie die Wellen der Scheide im frischen Morgenwind den Strom heraufjagten! Und mir war fast ebenso wohl. Es war trotz allem ein in jeder Beziehung famoses Getränk, dieses merkwürdige Ale, nur ein wenig 14
zu stark. Es dichtet und bringt unentschlossene Menschen zur Vernunft, zwei Eigenschaften, die man selten in einer Flasche beisammen findet. Denn mein Entschluß stand fest. Ein kleines Schwanken ging mir nur noch zwei- oder dreimal durch den Sinn wie das Nachzittern einer großen, stürmischen Bewegung; aber es hatte keine Gefahr mehr, selbst wenn ich mich mit zusammengebissenen Zähnen für immer vom Liebsten hätte losreißen müssen, das ein junger Mensch auf dieser Erde besitzen — möchte. Mein letzter Tag auf dem alten Kontinent war angebrochen. Ich rief stürmisch nach Marie und meinem Kaffee. Diesen letzten Tag aber wollte ich noch in vollen Zügen und nach deutscher Art genießen. Bis Marie mit ihrer flämischen Gewandtheit sich aufgeschwungen hatte, mit dem Kaffee zu erscheinen, durfte ich wohl nachsehen, was ich gestern gedichtet hatte. Das sollte in Zukunft ja aufhören; das vor allem andern! Ich las: Leb wohl, du sonnige Jugendzeit, Ihr Berge und Burgen am Rheine! Mir ist so wohl, mir ist so weit, Leb wohl für immer, du Eine! Es reimt sich zwar ganz hübsch; aber wer — wer ist die Eine? Ihr habt mich umsponnen, doch nicht gebannt Mit euerm lieblichen Scheine: Leb wohl, mein schlummerndes Heimatland, Leb wohl für immer, du Eine! Das Gedicht war sehr viel länger; aber die folgenden — schätzungsweise — sieben Strophen konnte kein sterbliches Auge mehr entziffern. Der Gott, wie die alten Griechen es nannten, hatte mir in einer Weise die Hand geführt, daß seine geheiligten Hieroglyphen mit menschlichen Schriftzügen nicht mehr verwechselt werden konnten. Auch schien mir, was irgend noch zu entziffern war, gestern unverhältnismäßig tiefer und wärmer gelautet zu haben. Etwas verdrießlich warf ich das Blatt unter den Tisch, hob es aber wieder auf, als sich im Fluge auf seiner Rückseite die Aachener Kesselschmiede zeigte, die ich nicht verlieren wollte. Es kennte nichts schaden, das alles mußte ja aufhören. Noch acht Stunden; dann, um vier Uhr, wird ein neues Leben angefangen. Ich hatte in den letzten zwei Tagen nur Werkstätten und Werften der geschäftigen Seestadt Belgiens gesehen. Nun wollte ich noch einmal das alte niederländische Antwerpen durchpilgern und mir's sechs Stunden lang in einem anderen Jahrhundert wohl sein lassen. Es war ein Genuß, den ich heute nicht mehr wiederzugeben 15-
vermöchte, selbst wenn ich den alten Baedeker von 1861 zu Hilfe nähme: die Kathedrale mit ihrem wundervollen Spitzenwerk aus Stein, die unsterblichen Niederländer im Museum, die alten Häuser aus der Zeit der Hansa und der ganze versteinerte Reichtum eines stolzen freien Bürgertums, das uns die Spanier halb zertreten haben und das wir selbst mitzertraten in unserem Dreißigjährigen Kriec. Als ich im Halbdunkel einer der abgelegensten Kirchen der Stadt nach der Uhr sah, war es halb vier — höchste Zeit, mein deutsches Leben und Träumen abzuschließen. Im Sturmschritt verirrte ich mich zweimal; im Galopp langte ich im „Schwarzen Anker" an. — Der „Northern Whale", der „Nordische Walfisch", pfiff schon zum erstenmal, während ich in mein Zimmer trat, und spie Dampf und Wasser aus, als ob er es keinen Augenblick länger in der Scheide aushalten könne. Mein kleiner Koffer wurde in wilder Eile gepackt. Marie und das ganze Haus arbeiteten an meiner noch kleineren Rechnung, die ich unter der niederen Gasthoftür unter Zurücklassung mehrerer Franken bezahlte, da der Herr Oberkellner vergeblich das erforderliche Kleingeld in den Mansarden des Hotels suchte. „Wo bekommt man die Fahrkarten für den Dampfer?" fragte ich im letzten Augenblick, schon auf dem Weg nach dem Schiff. Marie, deren flämische Ruhe durch meine damals noch ungebändigte süddeutsche Hast aus der Fassung gebracht worden war, schrie laut, um mir dadurch ihre Muttersprache etwas verständlicher zu machen, jedoch völlig ohne Erfolg. Ich glaubte, noch etwas von der nächsten Straßenecke zu hören, als der „Walfisch" zum zweitenmal einen heulen den Pfiff ausstieß. ,Es müßte doch des Kuckucks sein', dachte ich, ,wenn sie mein gutes Geld nicht auch an Bord nehmen wollten, wie auf dem Bodensee!' „Adieu, Marie! Meine Londoner Adresse liegt auf dem Tisch in Nummer fünf, wenn Briefe kommen sollten! Adieu, Schwabenland. Anders geht es jetzt nicht mehr. Adieu!" Es waren allerdings nur ein paar Schritte; aber die mächtigen Rä der des „Walfisches" drehten sich schon, schläfrig, ein wenig vorwärts, ein wenig rückwärts, wie wenn das Ungetüm am Erwachen wäre und sich gähnend besänne, was vorn und was hinten sei. Ein jäher Schreck durchfuhr meine Glieder. Wenn es sich plötzlich aufmachte ohne mich. Ich war die steile Landungstreppe hinauf wie ein Blitz, trotz Koffer, Reisetasche, Plaid und Schirm. Ein Ma trose, der am oberen Ende stand, vermutlich der Kontrolleur der heraufkommenden Reisenden, erhielt von meinen Koffer einen unabsichtlichen schweren Stoß in die Magengegend und sah mir mit einem „Dam these Germans" ärgerlich nach. Es mußte ihm genü16
gend deutlich geworden sein, daß ich mitfahren wolle. Und damit war ich auf englischem Boden und hatte den ersten englischen Gruß gehört. Ich hätte mich nicht so beeilen brauchen. Erst eine halbe Stunde später wurde die Verbindungsbrücke eingezogen, gerade als auf dem ruhiger gewordenen Kai in feierlichem Zuge ein wuchtiger Engländer mit fünf flachsblonden Töchtern sich dem Schiff näherte, ohne sich im geringsten zu überstürzen. Man schob die Landungsbrücke wieder hinaus. Die Töchter erstiegen das Deck. Der Vater schien sie sorgfältig zu zählen. Dann sprach er über fünf Minuten lang mit einem Kommissionär, der ihn unter lebhaften Dankesbezeigungen die Treppe hinaufzukomplimentieren suchte. Wieder wurde sie zurückgezogen, denn auch die Matrosen fanden die Unterredung etwas lang. Ein fünfstimmiges „Papa! Papa!" ertönte vom Schiff. Der Engländer winkte. Die Treppe wurde ihm abermals zugeschoben. Er stellte sich jetzt auf das untere Ende derselben und setzte seine Unterhaltung mit dem Kommissionär fort. So hatte er den Dampfer in seiner Gewalt, ihn sozusagen verankert, zog seinen Murray — den englischen Baedeker — aus der Tasche, entfaltete einen Stadtplan und schien sich noch über den Namen einer Kirche aufklären
Max Eyth war der Pionier des landwirtschaftlichen Treckers: Das Bild zeigt einen von ihm geförderten Dampfpflug, der sechzehn Furchen auf einmal zieht. 17
zu lassen. Als auch dies bereinigt war, drehte er sich langsam um, kam feierlich die Treppe herauf und begrüßte den Kapitän, der ungeduldig an ihrem oberen Ende gestanden hatte, mit Händeschütteln und einem wohlwollenden „AU right, captain!", als ob das alles völlig in Ordnung wäre. Zu eignem Gebrauch zitierte ich damals zum erstenmal Goethes inhaltsschwere Worte: „Dem Phlegma gehört die Welt." Wie oft ich sie in den nächsten dreißig Jahren zitiert habe, weiß ich nicht. Es ist ein nützlicher Satz des großen alten Herrn für jeden kleinen jungen, der in die weite Welt hinausströmt, ohne zu wissen, wohin. Mit dem Gefühl behaglicher Geborgenheit hatte ich jetzt Zeit, mich umzusehen. Zunächst, bescheiden, wie ich war, suchte ich nach der zweiten Kajüte, fand ihren Geruch nicht nach meinem Geschmack, verbarg aber trotzdem, wie ich es andre tun sah, meinen Koffer vorläufig in einer der schmalen Bettstellen, die, zwei Stockwerke hoch, entlang den Kajütenwänden liefen. Hierauf fragte ich ohne Erfolg nach dem Kassier. Daß ein Schiffskassier Purser heißt, wußte ich damals noch nicht. Auch ohne dieses Hindernis verstand man mein bestes, seit vier Jahren wohlabgelagertes Schulenglisch sichtlich höchst mangelhaft und ließ mich stehen. Dann lief ich natürlich nach den Maschinen und versuchte, voll Wissensdrang in den Maschinenraum hinabzuklettern. Ein mürrisches Gebrüll aus der schwarzen Tiefe veranlaßte mich zu beschleunigtem Rückzug. Aber es war auch von oben ein erhebender Anblick: die mächtigen Kurbeln und Kurbelstangen, die blinkenden Lager, die kurzen, trutzigen Zylinder, die wuchtigen Gelenke der übrigens sehr unwissenschaftlichen Steuerung. Steuerungen waren von der Schule her mein Steckenpferd: je komplizierter, um so besser. Und als sich das alles zu regen anfing, die riesigen Massen lautlos hin und her schaukelten, das ganze mächtige Schiff zitternd zu leben begann und es draußen rauschte und sprudelte, da vergaß ich, daß jetzt der Augenblick gekommen war, in dem ich dem Lande meiner Väter, wer weiß auf wie lange, wer weiß ob für immer, den Rücken kehrte. In der geistigen Welt, die eine große Maschine umgibt, kann man, wie in jeder andern, versinken. Als ich wieder auftauchte, waren wir in der Mitte der Scheide und schwammen feierlich den großen Strom hinunter dem Meere zu. Ich hatte keine Lust, Schiffsfreundschaften anzuknüpfen. Alles um mich her war so neu, so interessant, daß es mich völlig gefangennahm: der schimmernde, sonnige Strom, der frische Nordwest, der uns von der fernen See entgegenbläst; jetzt ein Dreimaster mit ausgespannten Segeln, der aus Westindien kommt und zierlich wie ein 18
Schwan an uns vorübergleitet, ein Dampfer, schwärzer als der unsre, mit Kohlen aus Cardiff; kleine Schoner und Fischerboote, die wir hinter uns lassen, andre, die in gefährlicher Nähe an uns vorübersegeln. Dann die flachen grünen Ufer, hinter deren Dämmen die roten Hausdächer und Turmspitzen holländischer Städtchen kaum hervorragen. Auf den Dächern erscheint hier und da eine Herde schwarzweißer Holländer Rinder, die neugierig nach unserm Dampfer sehen. Über all dem spannt sich der glänzende Himmel mit fliegenden Wölkchen, ein riesiger Dom in diesem flachen Land voll eignen, sonnigen Lebens, das sich in seiner Frühlingsfreude regt und bewegt wie das plätschernde Wasser um uns her und die stillvergnügte Erde hinter den Dämmen. Und da draußen muß es ja bald kommen, das große, ersehnte Meer, das ich heute zum erstenmal sehen soll. Drum bleibt es wahr: Wem Gott will rechte Gnad' erweisen, den schickt er in die weite Welt! Doch es wollte Abend werden. Ein purpurner Sonnenuntergang spiegelte sich in der gewaltigen Wasserfläche, deren Ufer rechts und links kaum mehr als dünne violette Streifen erschienen, die Himmel und Erde trennten. Ein Kellner, unempfänglich für das weltentrückende Bild und seine einsame Pracht, benachrichtigte mich, daß das Abendessen in der Kajüte bereitstehe. Ich dankte ihm; ich zöge es vor, den wundervollen Abend zu genießen. Auch ein handlungsbeflissener Landsmann hatte mich entdeckt, der schon zweimal in England gewesen war und deshalb ein unwiderstehliches Bedürfnis empfand, seine Landsleute zu belehren. „Sagen Sie nicht Kellner; das nimmt der Mann übel", mahnte er. „Die Kellner auf den Schiffen, selbst auf deutschen, heißen Stewards. Nicht zu verwechseln mit der schottischen Königsfamilie, die längst verstorben ist. Man schreibt sie auch anders." Ich wiederholte meine Erklärung, daß mich der Sonnenuntergang genügend sättigte. Mein wackerer Lehrmeister zog mich jedoch gewaltsam nach der Kajütentreppe. „Genießen Sie etwas. Sie werden es wahrscheinlich heute nacht brauchen können", sagte er mit einem vielsagenden, nicht harmlosen Lächeln. „Übrigens sagen Sie nicht ,TreppeV Ich hatte überhaupt nichts gesagt und suchte dies festzustellen. „Sagen Sie nicht Treppe!" fuhr mein Mentor sehr entschieden fort. „Eine Schiffstreppe heißt Campanion. Wir blamieren uns sonst." In dem niederen, düsteren Raum standen auf einer langen Tafel, die mit einem nicht übermäßig reinen Tischtuch gedeckt war, zwei mächtige Keulen kalten Fleisches, würdige Vertreterinnen der unübertroffenen englischen Rinder- und Schafzucht, Brote, Salzbutter, Senf, alles, was ein einfaches Herz begehren konnte in jeder Menge. 19
Jedermann griff zu, die meisten mit einer scheuen, unruhigen Hast, wie wenn es die höchste Zeit wäre. Ein Steward schenkte den Leuten in mächtigen Tassen Tee ein. „Trinken wir eine Flasche Ale!" rief mein Landsmann. „Das verlangt schon die Höflichkeit; diese Bretter sind englischer Boden!" Eine eigentümliche Bewegung des Schiffes unterbrach ihn. Die Hängelampen neigten sich höflich nach links zu mir herüber. Die Beefkeule machte eine kaum merkliche, gespenstische Bewegung auf ihrer Platte. Die Teelöffel zitterten hörbar, und der Tee in jeder Tasse kam nachdenklich an den Rand. Dann war alles wieder wie zuvor; nur statt des dumpfen Gemurmels der Gäste war eine plötzliche Stille eingetreten. „Ich denke, wir sind draußen auf dem Meer!" sagte mein Landsmann. „Nehmen Sie nicht noch einen Kognak? Brandy heißt man das an Bord." Nein, ich wollte keinen Brandy. Aber ich mußte sehen, wie es aussieht, wenn man „draußen" ist, und brauchte Luft. Die Atmosphäre in der Kajüte konnte jedes weitere Nachtessen ersetzen. Und jetzt machte alles um uns her eine zweite Bewegung, die Lampen, die Teetassen, selbst die Schafskeule; alles noch voller Höflichkeit. „Ich denke, wir sind draußen", sagten zwei weitere Herren gleichzeitig, wie auf einem guten Theater; „und eine glatte Überfahrt gibt's heute nicht", fügte der eine kleinlaut hinzu. „Ich habe immer das Glück!" jammerte ein vierter, ohne eine Spur von Fassung zu verraten, stand auf, kroch in die nächste Bettstelle, drückte den Kopf in die Kissen, die er verzweiflungsvoll über die Ohren stülpte, und zeigte der Gesellschaft rücksichtslos den breiten Rücken, über den von Zeit zu Zeit ein sichtbares Zucken lief. Ich hatte glücklich die Kajütentreppe erreicht, ehe die Lampen ihre nachgerade zudringlichen Höflichkeitsbezeigungen wiederholen konnten, und arbeitete mich am Geländer hinauf an die frische Luft. Ich war oben. Ein scharfer Wind blies mir ins Gesicht. Die Sonne war untergegangen. Einsam und schwarz lag die weite Meeresfläche vor uns, besät mit weißen Flöckchen: den Wellenkämmen, die uns die dumpfbrausende Nacht rastlos entgegenjagte. An der Spitze des Schiffes tauchte das kurze Bugspriet auf und nieder, halb über die dunkle Horizontlinie sich in den lichteren Himmel hinaufbäumend, bald unter derselben in tiefem Dunkel versinkend. Manchmal hörte man von dort einen schweren, dumpfen Schlag, wenn das Schiff eine große Welle spaltete. Dann spritzte das Wasser über die Brüstung, weiß, in lustigem Aufbrausen, als ob drunten in dem schwarzen Gischt der Meeresgott seinen Witz mit uns treiben wollte. Zuweilen aber kam es auch ernsthafter, wenn der Kobold 20
Für Dampfpflüge verschiedener Bauart warb Max Eyth in aller Welt. Oben: Pflügen mit einer Lokomobile, mit „Balancierpflug" und Ankerwagen; unten: Pflügen mit zwei Lokomobilen und „Balancierpflug". ein paar Tonnen soliden Wassers über die ächzenden Geländer warf, die dann mit rasender Geschwindigkeit auf dem Deckboden hinjagten, so daß achtbare ältere Herren erster Klasse, die sich zu uns herübergewagt hatten, in unziemlichen Sprüngen Rettung suchten. Doch sah das Ganze eher ernstlich und feierlich als wild und gefährlich aus. Wir hätten keinen Sturm — weit entfernt! lachte ein deutscher Matrose, bei dem ich mich erkundigte. Nur eine steife Brise, die uns in die Zähne blies. ,So also zieht man in die Welt hinaus', dachte ich und klammerte mich an die Brüstung auf der weniger feuchten Seite des Schiffs. In Gottes Namen! Etwas bedenklich darf es den Würmchen doch vorkommen, hoffe ich, die der Trockenheit bedürfen und fast hilf— 21
los in diesem Urweltselement herumplätschern. Aber bang machen gilt nicht. Es sieht nur so scheußlich aus. Sind wir doch dazu da, die Erde zu beherrschen und die Meere zu zähmen, und tun es mit leidlichem Erfolg. Jeder in dem Schiffchen, in das ihn der Herr der Welt gesetzt hat. Und das herrliche Bild bekommen wir noch drein in den Kauf: die blauschwarze Nacht, die grauschwarze, weißgefleckte See mit ihrem gespenstischen Leben, das einförmige Brausen der Räder, die dumpfen Wasserschläge am Bug, das fühlbare Zittern, das durch den Riesenleib des Schiffes läuft in seinem rastlosen Kampf mit den Elementen. Es war herrlich; aber es dauerte nicht allzulange. Auf und ab, auf und ab stieg und senkte sich das brave Schiff, emsig seinen Weg durch die entgegenstürzenden Wogen brechend, ohne sich aufzuregen, ohne zu stocken, gleichgültig für alles, was hinter uns lag; vorwärts! Auf und ab, auf und ab.
Das war also England . . . Als ich anderntags erwachte, dämmerte eine neblige, fröstelnde Helle um mich her. Ruhig und gemessen rauschten draußen die Räder des Dampfers. Hier innen herrschte tiefe, feierliche Stille. Alles schlief. Ein friedlicher Morgen drückte seine segnende Hand auf die Finsternis, die hinter uns lag. Wir waren in der Themse. Die Stewards räumten ab und deckten die Tische für das Frühstück. Stillvergnügt, mit halbgeschlossenen Augen sah ich die Rindskeule von gestern und den kalten Hammelbraten aufmarschieren und die lange Reihe der Teetassen ihre Löffelchen präsentieren. Dann sprang ich aus dem obersten Stockwerk, in dem ich gehaust hatte, und nahm beinahe den Kopf meines Untermannes mit, der sich eben erkundigen wollte, ob er denn noch lebe. In der Erwartung baldiger Trinkgelder fragten die Stewards aufmunternd nach unserm Befinden und brachten den schwächeren Leidensbrüdern die dampfenden Teetassen nach den Betten. Es war ein köstliches Getränk unter obwaltenden Umständen. Das war also England, der Hort der Freiheit, der Kern der größten Weltmacht unsrer Zeit, das Ideal der jungen Maschinentechniker aller Welt. Es war ein herrlicher Morgen nach englischen Begriffen, wie ich sie später kennenlernte. Es schneite nicht, es regnete nicht, und man sah nichts. Grau in grau lagen Wasser und Land vor uns: stahlgrau, silbergrau, blau-, grün- und braungrau, alles merkwürdig fern und groß und wunderbar zart, das gespenstische Bild einer kaum irdischen Welt, über der eine verschwommene rundliche Licht22
quelle zu schweben schien, an der Stelle, wo in andern Ländern zu dieser Tages- und Jahreszeit die Sonne steht. Glatt und munter schwammen wir mit der steigenden Flut die Themse hinauf. Dampfer plätscherten in weiter Ferne, ehe sie aus dem Nehel heraustraten und, selbst Nebelbilder, an uns vorüberglitten. Himmelhohe Segelschiffe, alle Segel ausgespannt, traten plötzlich still und feierlich wie Gespenster aus dem Silbergrau heraus, schwebten lautlos vorüber und waren verschwunden, ehe man sich zweimal umsah. Am Ufer zeigten sich jetzt nackte Masten wie entnadelte Tannenwälder, formlose Wesen mit Sparren und Stangen nach allen Richtungen. Dann hörte man ein leises dumpfes Brausen, das langsam anschwoll und alles in geheimnisvoller Weise durchdrang, selbst das laute Rauschen unsrer Räder; dazwischen manchmal ein scharfer Knall, ein Pfiff, ein lautes Gepolter, weitschallende Rufe von Schiffern aus unsichtbaren Fischerbooten. Alles kühl und feucht und fröstelnd. Bald aber kamen deutlichere Umrisse von Häusern, riesige, schwerfällige Vierecke, himmelhohe Schornsteine. Das Brausen wurde lauter und schwoll zum dumpfen, unablässigen Brüllen der erwachenden Millionenstadt. Jetzt zeigte sich eine bekannte Form über den zackigen Umrissen unzähliger Schornsteine wie ein alter guter Freund: der Tower mit seinen vier Ecktürmchen. Den kannte und liebte ich ja schon seit meinem sechsten Jahre, in einem übel zerrissenen Bilderbuch der Welt. Und gleich darauf sperrte uns in dem immer glänzender werdenden Nebel eine gewaltige Geisterbrücke den Weg, welche die glasartig spiegelnde Wasserfläche begrenzte: London-Bridge. Unser Dampfer macht jetzt unruhige, stockende Bewegungen. Mächtige Schiffe wimmeln um uns her, durch die er sich durcharbeiten muß. Scharfe Kommandoworte, Pfeifen und Schreien scheint hierzu nötig zu sein. Alles drängt sich aufs Deck: Koffer und Mantelsäcke, Kinder und Frauen. Der Kampf ums Dasein erwacht rücksichtslos unter Menschen und Dingen. Ein halbes Dutzend Matrosen drängt sich nach dem einen Radkasten durch. Sie schieben die Landungsbrücke zurecht. Das dröhnende Brausen der Riesenstadt lastet betäubend auf den Ohren. Erdrückende, wirre Häusermassen hängen über uns herein, feindlich, drohend. Jetzt heult unsre Dampfpfeife ein ohrzerreißendes Geheul. Jemand, der halb verrückt sein muß, läutet auf einem benachbarten Schiff eine Glocke, als wollte er den Jüngsten Tag einläuten. Unsre Maschine hält still. Zischend und speiend fährt der überschüssige Dampf durch das Rohr am Schornstein, das zitternd wie eine Orgelpfeife im tiefsten Baß in den Lärm einstimmt. Die Landungsbrücke fällt ans Ufer. Wie Schafe, 23
die den Kopf verloren, drängt sich alles zwischen die Geländer des engen Stegs. Wehe dem Regenschirm, der quer zwischen die aufgeregten Beine der sich bildenden Seeschlange aus Menschenleibern gerät. Ich selbst stak mitten in dem sich langsam durchtrichternden Knäuel und riß an meinem Koffer. So ging's über die Brücke. „Aber um Himmels willen, wo bezahlt man denn?" rief ich in wirklicher Seelennot. „Ich habe ja noch nicht bezahlt!" Die Leute starrten mich an, große Fragezeichen in den Gesichtern. Niemand verstand mich. Ich spürte jetzt festen Boden unter den Füßen. Alles rannte durch die finsteren Gebäude und schwarzen Höfe der Katharinendocks in die Lower-Thames-Straße hinaus, nach Fiakern schreiend, nach Gepäckträgern, nach Gepäck, nach Weib und Kind. Einen Augenblick lang lag mein Koffer auf einem Tisch, der das Zollamt vorstellte; ich suchte nach meinen Schlüsseln. Im nächsten Augenblick hatte ihn ein Mann ergriffen, auf die Schultern geschleudert und rannte davon. Das ging denn doch über den Spaß: mein ganzes Hab und Gut! Ich rannte ihm nach; natürlich. Draußen im Getümmel einer engen, düsteren Straße stand mein Mann neben einer Droschke, auf deren Dach sich bereits mein Koffer befand, als ob er dort zu Hause wäre. Es blieb keine Zeit, mich zu besinnen. Das Maul eines Pferdes stieß mir an den Hinterkopf. Der Mann streckte mir eine riesige Hand entgegen. Ich legte einen Franken hinein in der bangen Erwartung einer schwer durchzuführenden Diskussion über die fremde Münze und von etwas Kleingeld englischen Gepräges. Aber ich wurde angenehm enttäuscht. Mit einem gutmütigen Nicken, halb Herablassung, halb Zufriedenheit andeutend, war der Mann verschwunden, ohne seine Ruhe, ohne eine Sekunde seiner Zeit zu verlieren. Einige Augenblicke später sah ich ihn noch einmal unter einer riesigen schwarzen Kiste, von zwei Damen verfolgt, die laut schreiend ihre Regenschirme in der Luft schwangen. Staunend nahm ich in der Droschke Platz, wie ich sie noch nie in meinem Leben gesehen hatte. Eine wunderbare Maschine, deren sinnige Konstruktion mir erst nach Wochen ganz einleuchtete. Durch ein Loch in der Decke schien mein Kutscher herunterzuschreien: wo ich hin wolle. Kaum hatte ich Zeit, in meinem besten Gymnasialenglisch „Middleton Square, Islington" zu rufen, als der Deckel, mit dem das Loch geschlossen werden kann, wieder zuflog und sich mein Pferd, scheinbar führerlos — denn der Führer sitzt hinter mir, in einem Kistchen auf dem Dach des Fahrzeugs — ruhig trabend in dem reißenden Strom von Karren und Wagen, Pferden 24
und Menschen verlor. Seitdem die Landungsbrücke des Dampfers ausgeworfen worden war, konnten kaum fünf Minuten vergangen sein. Welcher Reichtum an Erlebnissen und Eindrücken in dieser Spanne Zeit; welches Volk mit seinem „Zeit ist Geld!" Die Straßen wurden etwas freier, das Getümmel etwas weniger betäubend. Ich war in England, mitten im Lande, dem Norden zutreibend, als verstehe sich all das ganz von selbst. Aber — gütiger Himmel! Ich wollte ja meine Überfahrt erst bezahlen! „Cabman — Cabman! Kutscher! Fiaker!" — Ich stieß den Deckel in meinem Dach wieder auf und begann zu explizieren.
Nach einem ereignis- und erfolgreichen Leben schrieb Max von Eyth an Hand seines Tagebuches die vorliegenden Erinnerungen an den Beginn seiner Wanderjahre nieder. 25
Der Mann schüttelte seine ziegelrote Nase herein — das einzige, was ich von ihm sehen konnte, und fuhr ruhig weiter nach Norden, immer nach Norden, endlose Straßen hinter sich lassend, die nach und nach immer stiller wurden. Es war gut, daß ich einen Kompaß bei mir hatte. Jetzt bogen wir um die dreißigste Ecke, ungefähr. Anfänglich hatte ich im Gewirr der unteren City die Ecken gezählt, aber auch diesen schwachen Faden bald verloren. Eine grüne, viereckige Oase öffnete sich jetzt vor uns, mit einer kleinen gotischen Kirche in der Mitte, ernst, still, vielleicht ein klein wenig langweilig dreinsehend, aber sauber und sonnig, umgeben von vier Mauern, Häuser vorstellend, die sich glichen, wie ein Ei dem andern gleicht. Der Cabman sprang von seinem luftigen Sitz herunter und schlug drei donnernde Schläge gegen ein sorgfältig verschlossenes Tor. Keine fünf Sekunden vergingen, ehe ein liebliches blondes Wesen mit einem wahren Engelskopf und einen kleinen flachen Spitzenteller darauf vorsichtig öffnete und mich mit einem ermutigenden Lächeln begrüßte. Sie sah sofort, daß dies besser war, als mich in ein englisches Zwiegespräch zu verwickeln, nahm meinen Koffer, bezahlte den Cabman, der etwas brummte, denn er hätte sich lieber mit mir direkt verständigt, schob mich durch die Haustüre, klappte sie scharf zu und legte eine Kette davor. „Missis Bitters Boardinghouse?" sagte ich endlich mit einem Fragezeichen. Es ging mir doch fast etwas zu sehr wie meinem Koffer in den Katharinendocks. „Yes, Sir!" sagte der Engel mit dem Spitzenteller. Missis Bitters Adresse hatte mir mein Schwager gegeben, der vor zehn Jahren in diesem Hause gewohnt hatte, um die kirchlichen Verhältnisse Englands zu studieren. Er hatte seiner alten, verehrten Freundin gleichzeitig geschrieben, daß ich möglicherweise eines Tages eintreffen werde. Sie selbst stand jetzt unter der Salontüre, den Fremdling freudig, wenn auch etwas gemessen begrüßend: eine würdige, muntere fünfzigjährige Dame, wie mir schien. Sie war zweiundsiebzig, und ich war vorläufig geborgen.
Ehrlich währt am längsten Ein unbeschreiblich stiller Sonntag brachte meine erregten Nerven zur Ruhe, wenigstens äußerlich. Im Innern brauste noch immer die See, die Häuser im Square schwankten ein wenig, wenn ich sie scharf ansah, und ein nagender Gedanke wollte sich nicht verscheuchen lassen. Ich hatte meine Überfahrt noch immer nicht bezahlt! Die Entfernung des stillen Middleton-Square vom Meer, vom „Nordischen Walfisch", von dem tollen Treiben an der Themse schien 26
mit jeder Stunde um hundert Meilen zu wachsen und damit die Möglichkeit, mein schuldbeladenes Gewissen von seinem Alp zu befreien. Wenn es mir nun recht schlecht ginge in diesem unbegreiflichen Land, mußte ich nicht fortwährend denken: .Geschieht dir ganz recht! Ein Mensch, der nicht einmal seine Überfahrt bezahlt hat!' Nachmittags ging ich sechs- bis achtmal um die gotische Kirche herum spazieren und besah mir die vier Spitzen des gotischen Turmes von allen Seiten. Das englische Glockengeläute, ein regelmäßiges Anschlagen von drei glockenhellen Tönen — Prim, Quint, Terz, Prim, Quint, Terz — das dreißig Minuten lang fortdauert und dann wieder von neuem beginnt, kann den hartgesottensten Sünder mürbe machen. Es wurde gegen Abend auch mit mir schlimmer. Ich schüttete endlich der mütterlichen Freundin meines Schwagers das ganze Herz aus; sie richtete mich mit heiteren Trostesworten auf, soweit ich sie verstand. Das sei ganz einfach! Ich könne ja morgen meinen ersten Ausflug nach der unteren Themsestraße machen, das Büro der Antwerpener Dampfer aufsuchen und alles regeln. Als wackerer jünger Deutscher kaufte ich mir am frühen Morgen einen Stadtplan und machte mich zu Fuß auf den Weg nach den Katharinendocks. Solange ich niemand zu fragen brauchte, ging alles vortrefflich. Die end- und zahllosen Straßen wurden wieder enger, der Lärm lauter, das Gedränge dichter. Gegen zehn Uhr erreichte ich den Platz vor der „Bank von England". Hier, wenn irgendwo, ist der Mittelpunkt der Welt dieses Jahrhunderts. Man spürt es ordentlich. Staunend, halb betäubt betrachtete ich das wirre Bild: ein Kaleidoskop, von einer Riesenmaschine gedreht, mit rennenden Menschen aus allen Weltteilen statt der übereinander stürzenden farbigen Steinchen. Und jeder schien genau zu wissen, was er wollte, und rücksichtslos draufloszugehen. Aber auch ich durfte mich nicht aufhalten. Es waren wohl genug Taschendiebe und sicher auch andre Spitzbuben in diesem Gedränge. Ich mußte mich beeilen. Jetzt wurde das Gedränge schmutziger. Die Themsenebel hingen hier noch in den Straßen, und die riesigen Warenhäuser mit ihren Schätzen aus Ceylon und Kuba, aus Hongkong und Callao neigten sich schwarz und schwermütig gegeneinander. Nun war's mit dem Stadtplan zu Ende. Dort gähnte mir das schwarze Loch entgegen, durch das ich gestern meinen Einzug in England gehalten hatte. Ich mußte fragen. Ein hastig vorbeirennender Handlungsgehilfe hatte keine Zeit zu antworten. Ein vierschrötiger, gutartiger Packträger rief zwei andre herbei. Zu dritt berieten sie, in welcher Sprache ich mit ihnen zu verkehren suche. Und es war mein bestes Gymnasialenglisch, „made in Germany", 27
eine allerdings damals noch nicht übliche Bezeichnung! Die Verhältnisse wurden mehr und mehr hoffnungslos, bis uns ein deutscher Farben-Agent mit einem riesigen Notizbuch und prächtig blauen Fingern aus einem Kellerloch heraus zu Hilfe kam. Es ergab sich, daß ich nur drei Häuser von dem Büro entfernt war, das ich suchte. Das schwarzbraune Haus, dessen blauschwarze Fenster nie einen Lichtstrahl aufgefangen zu haben schienen, war ein Labyrinth von Gängen und engen Treppen. Überall brannte Gas; es wäre sonst nicht bewohnbar gewesen. Zahllose Türen und Türchen gingen auf die Gänge und waren in alle Winkel eingebaut. Auf jeder stand auf Milchglas, in schwarzen, schmucklosen Buchstaben, der Name einer Firma, einer Gesellschaft, eines Unternehmers in fernen Ländern — Nevada, Singapore, Neufundland, Mexiko, Sidney, Kairo, Valparaiso •— alles, was die glühende Sonne beschien, schien in dem schwarzen Loch zu hausen. In einer Ecke des ersten Stocks fand ich meine Antwerpener Freunde. Es war mir, als fände ich alte, liebe Bekannte. Ich trat ohne weiteres ein, da die Türe fortwährend auf und zu ging. Eine mit Schaltern versehene Glaswand trennte einen langen schmalen Streifen des niederen Saales ab und schied die Besucher von den Beamten, die hinter den Glasscheiben hausten. Aus dem ersten offenen Schiebfenster winkte mir jemand. Was ich wolle? Ich begann zu erklären. Nach ein paar Worten, die ich mutig und erfolgreich zusammengestellt hatte, unterbrach er mich. „Sie brauchen den Kassier! Dritter Schalter rechts!" Wie der Mensch das wissen konnte? Ich war ja noch gar nicht soweit in meiner Erklärung. Ich trat also an den dritten Schalter rechts. „Ich komme", begann ich, „ich tue kommen, bezahlen wollend ein Billett Antwerpen-London, dasselbige nicht bezahlt habend für das Oberfahrt am Samstag." Dies schien mir ziemlich gut, namentlich hatte ich das Gefühl, gewisse charakteristische Sprachfeinheiten mit großem Erfolg angebracht zu haben. „Was wünschen Sie?" fragte der Kassier brüsk, wie wenn er keine Zeit hätte, Sprachfeinheiten zu würdigen. „Ich tue wünschen, bezahlt zu haben ein Billett Antwerpen-London, dasselbige nicht habend gekauft zu rechter Zeit und dennoch mich befindend in England, unbezahlt. Samstag — ,Nordischer Walfisch' —" fügte ich noch erklärend bei, ohne weitere Satzbildungen zu versuchen. Dies war doch, sollte ich meinen, deutlich. Aber anstatt mich zu verstehen, fing der alte Herr an, die Geduld zu verlieren. Wahrscheinlich war er kein Engländer. 28
„Antwerpen-London — Billett bezahlen!" rief ich meinerseits laut und etwas ärgerlich. Es war unangenehm, wenn man sein möglichstes tat, als ehrlicher Mensch zu handeln, auf solch erschwerende Hindernisse zu stoßen. „Aha", rief der Kassier jetzt erfreut. „Welche Klasse?" „Zweite Klasse!" antwortete ich, ebenfalls zur Versöhnung die Hand bietend. „Sechzehn Schilling sechs Pence!" sagte er in geschäftsmäßigem Singsang, stempelte mit einem Knall ein Billett und warf es durch den Schalter. In großgedruckten Lettern stand auf dem Papierstreifen: London nach Antwerpen. Zweite Klasse. „Nein, nein, nein!" rief ich entsetzt. „Ich wollen nicht London nach Antwerpen, ich wollen bezahlen Antwerpen nach London. Ich wollen nur bezahlen, ich wollen nicht reisen; habend schon gereist vom Kontinent nach England. Bezahlen! Antwerpen nach London. Verstehen Sie?" „Aber der Kuckuck, Sie sind ja in London!" Er sah mich besorgt an. Es ging ihm ein Licht auf: mit mir war es offenbar nicht ganz richtig. „Das der Fehler, mein Herr!" sagte ich, mich innerlich zur Ruhe ermahnend. „Ich in London, habend nichts bezahlt am andern Ende, und wünschen zu bezahlen Passage, Überfahrt. Verstehen Sie? Antwerpen-London!" Er streckte jetzt den Kopf aus dem Schalter, um mich deutlicher zu sehen. Solche Leute waren ihm noch nie vorgekommen. Er hatte sichtlich begriffen und wurde freundlich. „Nanu!" sagte ich fast schmeichelnd, indem ich einundzwanzig Franken auf das Zahlbrett legte. „Ja, lieber Freund", sagte er nach einer langen Pause, bemüht, verstanden zu werden. „Wir verkaufen hier keine Billette für die Fahrt von Antwerpen nach London. Da müssen Sie wieder nach Antwerpen fahren, und ich glaube, es wäre für Sie das beste. Oder wenn Sie mit dem Kapitän des Schiffes sprechen wollten; vielleicht nimmt der Ihr Geld. Hier können wir's nicht brauchen." „Aber der Teufel! Wo finde ich den Kapitän in dieser großen Stadt?" rief ich erregt. „Sie brauchen nicht zu fluchen, wackerer junger Mann", antwortete der Kassier, sanft.den Kopf schüttelnd; „Sie sind eine Merkwürdigkeit. Wenn ich Zeit hätte, würde ich Ihnen suchen helfen. Jack, wo ist Kapitän Brown?" „Er sitzt drüben im ,Goldenen Drachen'!" piepste eine dünne Jungenstimme aus einer Ecke des Büros. 29
„Haben Sie's gehört? Haben Sie verstanden? Drüben über der Straße! Unmittelbar über der Straße! Im ,Goldenen Drachen'. Brown wird Ihr Geld schon nehmen, wenn Sie ihm zusprechen. Adieu!" Ich dankte dem braven Herrn in unartikulierten Lauten und fand mich erfolgreich über die Straße in die düstere Schenkstube des „Goldenen Drachens". Ich stellte mich an den Schenktisch, sah mich um, wie wenn ich die ganze Gesellschaft freihalten wollte, und rief laut: „Kapitän Brown! Kapitän Brown!" Mein Nachbar, ein kleiner, dicker Mann mit Riesenknöpfen an seiner Jacke, die aus dem Fell eines unbekannten wilden Tieres gemacht zu sein schien, drehte sich langsam um. „Ich bin Kapitän Brown. Was wollen Sie von mir?" Viktoria! Aber jetzt galt es wieder, sprachlich zu glänzen. Die ganze Schenke lauschte gespannt. „Ich bezahlen wollen Billett Antwerpen-London; sechzehn Schilling sechs Pence!" begann ich entschlossen. „Zweite Klasse. Verstehen Sie?" „Ich bin nicht der Purser!" sagte der kleine Mann mit düster werdender Miene. „Da müssen Sie ins Büro hinauf. Dort sitzt das Federvolk. Der dritte Schalter rechts! Fragen Sie nach Mister Whitley." „Aber ich tue kommen von Mister Whitley", erklärte ich. „Ich tue wünschen sprechen mit Sie, Kapitän Brown, nicht habend bezahlt meine Passage." Nach einer Viertelstunde harter Arbeit, an der sich der größere Teil der Gesellschaft beteiligte, verstanden wir uns; aber der Schweiß stand mir auf der Stirn. „Well", sagte der Kapitän, „Sie sind eine Kuriosität. Wenn Sie mit Gewalt wollen: her mit dem Geld! Man muß die Ehrlichkeit bei diesen Ausländern ermutigen." Er steckte meine einundzwanzig Franken mit wohlwollendem Lachen und unbesehen in die offene Tasche und schüttelte mir die Hand. „Was wollen Sie nehmen? Ein Glas Ale? Einen Sherry? Hallo, Jungen!" — Der Kapitän schien plötzlich von Freunden umringt zu sein. — „Was wollt ihr nehmen? Brandy? Whisky? Ale, Porter, Stout? Jeder nach Belieben: ich bezahle. Wir trinken auf die Gesundheit dieses Gentleman, meines Freundes. Mister Dingsda. Wie heißen Sie?" Sie begrüßten mich alle freudig. Der Kapitän erzählte sechsmal hintereinander — eine prächtige sprachliche Übung mit kostenlosen Repetitionen für mich —, wie er seinen neuen Freund gewonnen habe. Sie begrüßten mich aufs neue mit allen Zeichen wohlwollen30
<Jer Herablassung und erzählten sich untereinander, wie Kapitän Brown zu seinem neuen Freund gekommen war. Die feinste der f amen hinter dem Schenktisch wechselte das Zwanzigtrankenstuck m ehrliches englisches Geld um. Wer beim ersten Umtrunk Bier genommen hatte, nahm beim zweiten ein Glas Whisky und umgekehrt. Ich selbst' wollte heute nicht schon wieder und so früh am Tag Ale trinken. Es war mir von Antwerpen her noch zu wohl in Erinnerung. Ich wählte Sherry. Es war jedenfalls ein nationales Getränk der Engländer, und die kleinen Weingläschen, die hierfür üblich sind, ließen ein Experiment leichter ausführen und gefahrloser erscheinen. Der Kapitän zahlte alles aus der Tasche, in der sich mein Überfahrtsgeld befand. Er duldete keine Einrede. „Also nochmals und zum Schluß, meine Herren", rief er, „auf die Gesundheit dieses Gentleman. Ein ehrlicher, rarer Dutchman oder was er sonst sein mag! Hipp hipp hurra!" Sie wollten mir offenbar alle Ehre antun. Wir tranken, wir schüttelten uns die Hände; es wurde fast eine Völkerverbrüderung daraus; selbst ein Chinese beteiligte sich schmunzelnd. Warum sollte ich mich sträuben? Sie meinten es sichtlich alle herzlich gut. Mein Sherry hatte eine auffallende Ähnlichkeit mit dem Ale, das mir noch von Antwerpen her in freundlicher Erinnerung lag. Es war nicht ganz dasselbe, aber merkwürdig ähnlich. Dann trennten wir uns. Der Kapitän begleitete mich bis unter die Türe und versicherte mich wiederholt seiner unbegrenzten Hochachtung. Ich hatte in dieser Stunde einen Freund fürs Leben gewonnen, was ich erst zwölf Jahre später an der Küste von Peru erfahren sollte. Vergnügt steuerte ich wieder dem stillen Middleton-Square zu. Meine erste englische Expedition war glänzend gelungen und erfüllte mich mit freudiger Hoffnung für die Zukunft. Auch hatte ich jetzt einen Lebensplan für die nächsten Wochen festgelegt. Ich wollte ruhig in der grünen Oase sitzenbleiben und zunächst mein Englisch etwas mehr den Verhältnissen anpassen, die mich hier umgaben. Drei Wochen konnten hierbei nicht wohl nutzlos vergeudet werden. Dann aber hinaus, in bitterem Ernst! Als ich in mein Zimmer trat, fand ich einen soeben angekommenen Brief auf dem Tisch. Von Belgien. Hat am Ende Cockerill in Seraing seinen Irrtum eingesehen und will mich nun mit Gewalt zurückholen? Zu spät, Verehrtester! Trop tard! um mich Ihnen verständlicher zu machen. Ich zerbrach den etwas schmutzigen Umschlag. Keine kaufmännische Handschrift, wie sie die Leute von Seraing schreiben: auch kein ganz musterhaftes Französisch. Aber leserlich 31
und deutlich genug. Es war ein Schreiben des „Schwarzen Ankers" aus Antwerpen. „Monsieur! Verzeihen Sie, daß wir uns beehren, Sie zu benachrichtigen. Sie haben am 4. April 1861 eine Flasche English Ale bestellt und eine Flasche Sherry vertrunken. Vom feinsten Sherry, zu zehn Franken fünfzig Centimes die Flasche. Unsre Marie hat eine Verwechslung gemacht, und Sie haben den Irrtum getrunken. Dann sind Sie so schnell abgereist, ehe wir es bemerkt haben. Da Sie nicht wollen unglücklich machen unsre Marie, die die Flasche ersetzen muß, bitte ich den Herrn Baron, zu schicken la difference, nämlich neun Franken dreißig Centimes. Um ferneren Zuspruch bittend Agreez, Monsieur, l'assurance de nos sentiments les plus distingues. Jean Pumperlaken garcon et chef de cuisine de l'Ancre Noire ä Anvers." Nun war mir manches klar: mein wachsender Mut, mein kühner Entschluß, mein stürmisches Abschiedslied, das bis zum heutigen Tage kein Mensch zu lesen vermochte. Und wenn ich heute, nach bald vierzig Jahren, zurückdenke an den Anfang meines Wanderlebens, an das wunderbare englische Bier „und an den blinden Passagier von damals", so kann ich mich nicht enthalten — und will's nicht —, noch eines andern Versleins zu gedenken, aus einer Zeit, die weiter zurückliegt, fast an der Schwelle meiner Kindheit. Es fängt mit den Worten an: „Weg' hast du allerwege" und ist wahr geblieben, bis ich wieder einlief im alten Hafen.
Umschlaggestaltung: Karlheinz Dobsky Bilder: Verlagsarchiv und Ullstein-Bilderdienst
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Holzschnitt vom Titelbild des „StundenBuches" von Rainer Maria Rilke.
Die Heimatstadt Prag P J S gibt Städte, deren Ausstrahlung von einem geheimen Zauber herzurühren scheint, einem Zauber, der ihre Menschen erfüllt und sie leitet und ihnen zeitlebens ein besonderes Gepräge gibt: So eine Stadt ist das alte, sagenumwobene Prag. Von jeher hat diese Stadt bedeutende Menschen hervorgebracht oder doch beherbergt: Kaiser und Könige, die dem Glauben an die Sterne huldigten und ihr Schicksal aus ihnen zu lesen versuchten, Gelehrte und Ärzte mit geheimnisvollen Praktiken, Grübler und Forscher, die den Stein der Weisen finden wollten und sich hinter Retorten und Phiolen in den Zauberküchen der Alchimie um die Herstellung des Goldes bemühten, Denker und religiöse Genies, die den Schatz ihres begnadeten Wissens in Symbole und Legenden kleideten, um das Unaussprechliche verständlich zu machen, und schließlich, ihnen sehr verwandt, die Dichter, an denen Prag deshalb so reich zu sein scheint, weil seine zauberhafte Atmosphäre ihnen stets neue Ge2
heimnisse zuflüstert und in recht eigentlichem Sinne die Lebensluft bildet, in denen ihre Kunst gedeiht. In dieser merkwürdigen Stadt an der Moldau mit der prächtigen Karlsbrücke, den Brückenheiligen und dem imposanten Hradschin, der alten Hofburg, ihren Barockpalästen, Türmen, Kirchen und Plätzen, ihren tausendjährigen Friedhöfen und altersgrauen Synagogen, ihren verwinkelten Gassen und düsteren Spelunken, uralten Häusern und zwielichtigen Höfen, Altanen und Loggien, die alle vom Hauch der Jahrhunderte dunkel geworden sind, in dieser geheimnisvollen Stadt, die im letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts so viele Dichter hervorgebracht hat, ist am 4. Dezember 1875 auch Rainer Maria Rilke geboren worden. In der kleinen Kirche von St. Heinrich, deren alte Mauern von bemoosten Grabplatten mit Wappen geharnischter Ritter übersät ist, unweit des Prager Stadtparks, ist der Dichter auf den Namen Rene Karl Wilhelm Josef Maria Rilke sechs Tage vor dem Weihnachtsfest des Jahres 1875 getauft worden. Von der Taufkirche ist es nicht weit zur Heinrichsgasse, wo Rilkes Eltern wohnten. Es war ein „gutes" Viertel der Stadt, wenngleich der gesellschaftliche Ehrgeiz von Rilkes Mutter, der Tochter eines Ratsherrn, damit nicht recht zufrieden war. Sie hätte viel lieber in dem noch vornehmeren Bezirk direkt am Stadtpark gewohnt. Dort lagen die prächtigen Villen der böhmischen Industriellen, darunter auch die des Handschuhfabrikanten Werfel, des Vaters des Dichters Franz Werfel. Trotzdem war die Heinrichsgasse viel vornehmer als etwa die meisten Gassen der Prager Altstadt, die man auf dem Wege durch winkelige Bazare, Durchgangshäuser mit verwitterten Innenhofbalkonen und vorbei an kleinen Biergärten erreichte. Hier lag irgendwo das Geburtshaus Franz Kafkas.
Frühes Leid Den Zauber dieser alten Stadt in seiner Vielschichtigkeit ungetrübt als Einheit in sich aufnehmen zu können, war Rilke nicht beschieden. Bald schon zerfiel ihm das kindliche Glück, das im Gefühl des Verbundenseins aller Dinge zum Ausdruck kommt, der Verbundenheit von Ich und Welt, Arm und Reich, Vornehm und Gering. Es zerfiel ihm in alle diese häßlichen Gegensätze, die die Erwachsenen durch ihre Nüchternheit und ihren Ehrgeiz immer erst schaffen. 3
Rilkes Mutter zeigte dem heranwachsenden Rene immer und immer wieder das Barockpalais in der eleganten Herrengasse, das einst Adelsbesitz gewesen und nun von ihren Eltern bewohnt war, und sie tat das jedesmal mit Stolz auf diese ihre Herkunft und mit Bitterkeit auf ihr jetziges Zuhause. Sie konnte den eleganten Lebensstil dort nicht vergessen und auch nicht den prunkvollen Rahmen, in dem er sich in den hohen, stuckverzierten Räumen, den weiten, hallenden Gängen und den prächtigen Treppen dieses Hauses abspielte. Als sie Josef Rilke, den ehemaligen k. u. k. Artillerieunteroffizier und nunmehrigen Eisenbahnangestellten, geheiratet hatte, dachte sie nicht daran, daß ihr Gatte zeitlebens in so bescheidener Stellung verbleiben würde. Denn dieser Josef Rilke war einmal ein sehr forscher Soldat gewesen, der sich zu den höchsten militärischen Hoffnungen berechtigt sah, die sich dann leider nicht erfüllten. In ihren Erwartungen enttäuscht, fühlte Rilkes Mutter sich bald in der Rolle einer Frau, der vom Schicksal übel mitgespielt wurde. Durch ihren gesellschaftlichen Ehrgeiz kam es zu Spannungen in der Ehe, die eine Quelle frühen Leides für den kleinen Rene Maria bildeten. Er litt sehr unter den unguten Familienverhältnissen und wurde von seiner Mutter in einer ihm selbst oft unangenehmen Weise verzärtelt. Fünf Jahre vor seiner Geburt hatten die Eltern ein Mädchen verloren, und die Mutter glaubte nun, den Sohn als Ersatz für diesen Verlust betrachten zu müssen. Sie kleidete Rene als Mädchen und ließ ihm das gelockte Haar mädchenhaft bis auf die Schulter fallend wachsen. Fünf Jahre lang, bis zum Beginn der Volksschulzeit, mußte sich Rilke diese Verkleidung gefallen lassen, zu der als Spielzeug nicht Trommel und Trompete, Burg und Zinnfiguren kamen, sondern Puppenstube und Puppen. Im elfenbeinernen Turm dieser Erziehung wurde er behütet und bewacht wie ein zerbrechliches Stück Glas. Das wurde nicht viel besser, als er in die Schule kam. Natürlich mußte es die vornehmste Anstalt sein, die damals für die Söhne bürgerlicher Familien gerade in Mode war: das Institut der Piaristen, drunten am Graben bei der Herrengasse. Von den Prager Gassenjungen wurden die Piaristenschüler auf ihrem Schulweg immer verspottet. Auch Rene riefen sie den Vers nach: „Piaristen, schlechte Christen!" Aber Rene traf nicht einmal dieser Spott4
vers allein. Auf dem Weg zur Schule wurde er stets* von seiner Mutter begleitet, die immer ganz in feierliches Schwarz gekleidet war und mit Rene fast nur französisch sprach, weil es ihr vornehmer dünkte. Täglich wurde er von der ängstlich besorgten .Frau vor das Schultor des klösterlichen Baues gebracht und dort auch wieder abgeholt. Das ungezwungene freie Spiel mit Kameraden war ihm verwehrt. Es gab für ihn keine Lausbubenstreiche, kein Indianerspiel mit Siegestrophäen und Freudengeheul. Dafür versuchte Rene sich bereits acht Jahren an seinen ersten Verschen, sehr zum Ärger seines Vaters, dessen eigentliche Heimat noch immer die Kasernenhöfe waren und der in den Versuchen seines Sohnes nichts als ungesunde Schwärmereien sah. Fremd unter Fremden wuchs Rene auf. Dabei hätte er gern mit den anderen Kindern gespielt, wäre wie sie gewesen, ein einfacher, fröhlicher Junge unter Jungen. Das Erlebnis erzwungenen Andersseins hat sich tief in die Seele Rilkes gesenkt. Die Erinnerung an seine Kindheit machte ihn hellhörig für die Nöte der Kinder, deren eigene Welt von den Erwachsenen so selten wirklich verstanden wird. Noch als Siebenundzwanzigjähriger schrieb er das Gedicht seiner eigenen „Kindheit", in dem das Fremdsein und die Einsamkeit des kleinen Rene inmitten der lebensprühenden Welt, ihrer Straßen, Plätze und Brunnen noch einmal Gestalt geworden ist. Er beschwört in diesem Gedicht die lange Zeit der Schule, die Trauer über die Ferne, durch die er von der Welt der Erwachsenen, aber auch von der der anderen Kinder getrennt ist. Wenn er durch sie alle hindurch „im kleinen Kleid" gehen muß und abends nach dem einsamen, selbstvergessenen Spiel im Garten gleich wieder „fest angefaßt" nach Hause geführt wird, neuen Ängsten entgegen, so grübelt er immer wieder schmerzlich über sich selber nach und beim Spiel mit seinem Segelschiff überprüft er sein kleines Gesicht im Spiegel des Teiches: Da rinnt der Schule lange Angst und Zeit mit Warten hin, mit lauter dumpfen Dingen. O Einsamkeit, o schweres Zeitverbringen . .. Und dann hinaus: die Straßen sprühn und klingen, und auf den Plätzen die Fontänen springen, und in den Gärten wird die Welt so weit. — 5
Und durch das alles gehn im kleinen Kleid, ganz anders als die andern gehn und gingen —i O wunderliche Zeit, o Zeitverbringen, O Einsamkeit. Und in das alles fern hinauszuschauen: Männer und Frauen; Männer, Männer, Frauen und Kinder, welche anders sind und bunt; und da ejn Haus und dann und wann ein Hund und Schrecken lautlos wechselnd mit Vertrauen —: O Trauer ohne Sinn, o Traum, o Grauen, O Tiefe ohne Grund. Und so zu spielen: Ball und Ring und Reifen in einem Garten, welcher sanft verblaßt, und manchmal die Erwachsenen zu streifen, blind und verwildert in des Haschens Hast, aber am Abend still, mit kleinen steifen Schritten nach Haus zu gehn, fest angefaßt —: O immer mehr entweichendes Begreifen, O Angst, o Last. Und stundenlang am großen grauen Teiche mit einem kleinen Segelschiff zu knien; es zu vergessen, weil noch andre, gleiche und schönere Segel durch die Ringe ziehn, und denken müssen an das kleine bleiche Gesicht, das sinkend aus dem Teiche schien —: O Kindheit, o entgleitende Vergleiche, wohin? Wohin? Das frühe Leid der Kindheit und die ratlose Frage nach dem Wohin steigerten sich noch. Als Rilke neun Jahre alt war, ließen die Eltern sich scheiden. Rene blieb zunächst bei der Mutter. Ein Jahr später mußte die Entscheidung über Renes künftigen Beruf getroffen werden. In der österreichischen Monarchie, zu der Prag damals gehörte, war es für die Söhne verarmter bürgerlicher Familien stets ein sicherer Weg, die Militärkarriere einzuschlagen. Diese Laufbahn entsprach auch den Vorstellungen von Rilkes Vater, 6
der immer noch hoffte, in seinem Sohn einmal jene Militärgröße zu sehen, die zu erreichen ihm selber versagt geblieben war. Hinzu kam noch der nicht minder ausschlaggebende Grund für eine solche Berufswahl, daß damit auch die Kosten für das Gymnasium gespart werden konnten, die von den Eltern nicht mehr aufzubringen waren, nachdem Rilkes Mutter ihre Mitgift aufgebraucht hatte. Renes Onkel, dem Landesadvokaten Jaroslav Rilke, gelang es, für seinen Neffen einen Freiplatz, einen sogenannten „Landesstiftungsplatz", an der Militärunterrealschule in St. Polten in Niederösterreich zu bekommen. Im September 1885 schritt der zehnjährige Rene Rilke durch das Tor der Schulkaserne, die ihn die nächsten fünf Jahre festhielt. Obwohl er zu den besten Schülern der Militäranstalt gehörte, erschien sie ihm doch wie ein „Totenhaus". Wenn es ihm auch gestattet wurde, seine Gedichte vor der Klasse zu rezitieren, blieb er trotzdem inmitten der verständnislosen Kameraden ein Einsamer und Fremder. Bald zog er sich von ihren Spielen zurück. Die kleine Friedhofsecke im Garten der Anstalt wurde sein Lieblingsaufenthalt. Hier konnte er ungestört seinen Träumen nachhängen und seine Sehnsucht nach einem glanzvollen Leben in seine oft noch recht holprigen Verse gießen. Mit gutem Erfolg absolvierte Rene im Sommer 1890 die Militärschule in St. Polten. Noch im September desselben Jahres trat er in die Militäroberrealschule in Mährisch-Weißkirchen ein. Aber schon am 6. Dezember 1890 wurde er „krankheitshalber" wieder beurlaubt und dann ganz entlassen. Rene war endlich den Mauern der Kaserne entronnen. Trotzdem fühlte er sich nicht glücklich dabei. Genau genommen, war er eben doch ein gescheiterter Militärschüler. Er kehrte im Juli 1891 nach Prag zurück. Die Mutter lebte längst in anderen Städten und überließ den Sechzehnjährigen der Obhut seines Vaters und der Verwandten. Sie schoben ihn nach Linz ab, an die dortige Handelsakademie. Rene interessierte sich wenig für Wirtschaftswissenschaften und Bilanz, kaufmännische Kalkulation und buchhalterische Praktiken. Er sann viel lieber neuen Versen nach, veröffentlichte auch schon ein erstes Gedicht und ließ seine Phantasie durch die Aufführungen des Linzer Stadttheaters befeuern. 7
Wieder kehrte er im Mai 1892 in die Heimatstadt zurück. Onkel Jaroslav zahlte ihm jetzt monatlich zweihundert Gulden aus, damit er sich privat auf das Abitur vorbereiten konnte. Der kinderlose Landesadvokat hoffte, daß Rene einmal die Rechtswissenschaften studieren und dann seine Advokaturkanzlei übernehmen würde. Rene aber blieb heimatlos fn seiner Heimatstadt.
Erste Liebe — Erste Erwartung Rene wohnte jetzt bei seiner Tante, der Witwe Gabriele von Kutschera-Woborsky, in der Wassergasse. Mit zäher Energie bereitete er sich auf die Prüfung am Prager Neustädter Gymnasium vor. Die Zeit seiner Privatstudien, in der er das Pensum des Gymnasiasten nachholte, dauerte vom September 1892 bis zum Sommer 1895. Es war eine Zeit ernster Arbeit an sich selbst. Jeden Morgen stand Rene um sechs Uhr auf und arbeitete bis Mittag durch. Mit gutem Erfolg bestand er schließlich am 6. Juni 1895 seine Reifeprüfung. Aber schon während der Zeit seiner Privatstudien benutzte er jede freie Stunde, um aus der abgestandenen Luft seiner Umgebung zu fliehen. Es zog ihn hinaus in eine lichtere Welt, hinaus zu den Weinbergen. Aber nicht nur die Sonne und die weichen Rebenhügel waren es, die ihn lockten. Durch eine seiner Cousinen hatte er Valeria David-Rhonfeld kennengelernt, die dort draußen wohnte. Sie war ein hübsches, munteres Mädchen, das selbst Novellen schrieb und für Renes literarische Pläne volles Verständnis hatte. Während sie seidene Bänder und Porzellan bemalte, las Rene ihr seine frühen Verse vor. Ihr, seiner ersten Liebe, „Vally", widmete er seinen ersten Gedichtband „Leben und Lieder". Valeria hatte eine der Broschen aus dem kostbaren Familienschmuck, den sie geerbt hatte, zum Juwelier gebracht und finanzierte aus dem Erlös den Druck des Bändchens. Bei diesem Mädchen fand Rene Heimat und Verständnis, Geborgenheit und Liebe. Sie war nicht nur die gütige Muse seines frühen Schaffens und seiner ehrgeizigen Pläne. Sie leitete ihn auch mit milder Hand aus dem engen Kreis seiner ererbten Vorstellungen heraus zu einem selbständigeren und umfassenderen Denken. Durch Valeria wurde Rene gewahr, daß nicht nur das Deutschtum in Böhmen eine kulturelle Höhe einnahm, sondern ebenso auch das Tschechentum. Sie wurde die Mittlerin zwischen Rene und den Tschechen in einer Zeit, in der der Nationalismus wie Unkraut im böh8
Alchimistengäßchen der Prager Altstadt. mischen Garten aufschoß, den Deutsche und Tschechen einst gemeinsam bestellt hatten. Bereits vor dreißig Jahren hatte Adalbert Stifter in seinem Roman „Witiko" noch einmal die Einheit von Deutschtum und Tschechentum innerhalb der beide umfassenden böhmischen Heimat und Geschichte beschworen. Aber es war nur noch der Traum einer Friedensordnung zweier Völker, der längst zerbrochen war. Der zwanzigjährige Rilke wurde zu einem neuen Herold der Völkersympathie, indem er, entgegen den Meinungen vieler seiner bekannteren und älteren Zeitgenossen, tschechische Themen aufgriff und sie in seinen Gedichten gestaltete. Begeistert feierte er den Feuertod des Jan Hus in Konstanz als den Sieg eines Märtyrers, vor dessen Genius er sich in Ehrfurcht neigte, denn: Der, den das Gericht verdammte, war im Herzen, tief und rein, überzeugt von seinem Amte, — und der hohe Holzstoß flammte seines Ruhmes Strahlenschein. 9
Er gedachte des tschechischen Dramatikers Josef Kajetan Tyl in seinen Versen, besuchte eine Prager Ausstellung, in der die Entwicklung der slawischen Völker dargestellt wurde, weshalb deutsche Nationalisten sie boykottierten, und er beschwor die sagenumwobene Gestalt des tschechischen Ritters Dalibor, der in Kerkerhaft einst aus Sehnsucht das Geigenspiel erlernte und mit seiner Musik seine Wächter bezauberte. Dem Ritter Dalibor fühlte der junge Rilke sich verwandt. Auch für ihn war die Musik Abglanz des eigenen Wesens. Nicht nur in der Schmiegsamkeit und dem melodischen Wohlklang seiner Sprache kommt das zum Ausdruck. Musik ist für Rilke stets der Zauberschlüssel gewesen, mit dem er in die geheimsten Kammern seiner Selbst eindrang, sie öffnete und aus der Einsamkeit, die ihn zuweilen wie eine Kerkerhaft umschloß, das Lied erstehen ließ, das den Schmerz auflöste und verwandelte. So schrieb Rilke jetzt die Verse, die zugleich erste Erwartung künftigen Dichtertums sind: . . . in Kerkereinsamkeiten weck ich meiner Seele Saiten, glücklich wie einst Dalibor. Immer wieder ersteht in Renes Versen seine Heimatstadt, sein „Mütterchen Prag". 1896 wird die Gedichtsammlung „Larenopfer" veröffentlicht, deren Gedichte einem poetischen Spaziergang durch die Sagenreiche alte Stadt gleichen. Sie beschwören die eiligen Moldauwellen und die alte Hofburg, die Brücken und ihre bewegten Heiligenfiguren, die Prager „Kleinseite" und die Wenzelskapelle, den Altstädter Ring und das gotische Rathaus mit seiner alten Uhr. Bürgerhäuser und Paläste, Türme und Kirchen, die ganze Geschichte der Stadt mit ihren Menschen werden lebendig. Da tritt der Wunderrabbi Low auf, der sich einen Golem, einen künstlichen Menschen, als Diener erschuf; Hofmusikanten und slowakische Drahtbinder, der Sternengläubige Kaiser Rudolph und der Magister Hus erscheinen in buntem Reigen. Und dann ist es wieder, als zögen die dunklen Gassen und engen Höfe, die Winkel und das alte Gemäuer der Stadt den Dichter in einen Bann der Trauer. Denn immer wieder wehen Allerseelentagsstimmung und Friedhofstille durch die Verse. Immer noch sind 10
die Friedhöfe magische Orte für Rene, wie schon während seiner St. Pöltener Kadettenzeit, wo er in seiner Friedhofsecke wie Peer Gynt oder Hamlet über das Rätsel seines Daseins sann. Er besucht jetzt den Landfriedhof in Königsaal bei Prag und läßt sich- ganz von der Todesstille umfangen: Aufschloß das Erztor der Kustode. Du sahst vor Blüten keine Gruft. Der Lenz verschleierte dem Tode das Angesicht mit Blust und Duft; da stieg wie eine Todesode ein Trauermantel in die Luft. Dann aber vermag er Einsamkeit und Schwermut auch plötzlich wieder abzustreifen, um sich im vorgeahnten Glanz späteren Dichterruhmes zu sonnen, der ihn als Künstler einst zum König adeln wird. Sehr von sich überzeugt, schreibt er die Verse: Ob dir der Stirne göttliches Schweigen auch kein rotgoldener Reif unterbrach, — Kinder werden sich vor dir neigen, selige Schwärmer staunen dir nach. Es ist ein weiter Weg, den der Dichter von diesem selbstgefälligen Wort bis zu seinem ausgewogenen und reifen Spätwerk gehen mußte. Als Zwanzigjähriger ist Rilke manchmal so sehr von sich eingenommen, steigert er sich in ein derart überhitztes Lebensgefühl hinein, daß er einmal ein Gedicht mit „Rene Cäsar Rilke" unterschrieb. Es war dies die Zeit, in der Rilke sein Abitur bestand. Ein großer Druck war von ihm genommen. Da konnten Begeisterung und Selbstgefühl schon auch einmal die Zügel schießen lassen. In diesem Sommer 1895 macht Rilke auch einige Erholungsreisen. In vollen Zügen genießt er einen Aufenthalt an der Ostsee und die Natur, von der er in Prag so abgesperrt war. Eine Skizze über einen Sonntag an der Ostsee entsteht: „Dann stand ich am Meer. Das Meer war wie violblauer, schwerer Atlas", heißt es darin. „Ich staunte hinaus in die flimmernde Pracht. Wie ein Kind, das ein sdiönes Spielzeug erhalten hat, hätte ich alle rufen mögen, die mir lieb sind: ,Kommt und seht, ist das nicht — herrlich?'" 11
Neue Kräfte wachsen ihm zu aus der Natur. Er fühlt sich ungebundener und stärker als je zuvor. In dieser Stimmung wird er sich bewußt, daß noch viel Arbeit auf ihn wartet und er sich dafür ganz frei halten muß. So kommt es, daß er sich innerlich von seiner Bindung an das geliebte Mädchen löst. „Ich glaube halt", sagt er zu Valeria, „wir dürfen uns nicht zu sehr aneinander gewöhnen — das tut nicht gut." Das Mädchen wußte, daß das der Abschied war. Doch sie verstand ihn und war ihm nicht böse. „Dank für das Geschenk der Freiheit", schrieb ihr Rene, „Du hast Dich groß und edel erwiesen, auch in diesem schweren Augenblick, besser als ich." An der Prager Karl-Ferdinands-Universität, an der zehn Jahre später der Dichter Franz Kafka seinen juristischen Doktorgrad erwarb, belegte Rilke im Wintersemester 1895/96 Philosophie. Aber das Studium paßte nicht für ihn. Viel zu sehr war er mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt.
Selbstversunkenheit Das „göttliche Schweigen" seiner Stirn, von der Rene in so selbstbewußtem Jugendpathos sprach, wurde nicht nur von „seligen Schwärmern", sondern bald auch von Frauen wie Katharina Kippenberg, der Gattin von Rilkes späterem Verleger, wirklich an ihm bemerkt. Das Gesicht des jungen Rilke war von einer sehr eigenartigen Selbstversunkenheit geprägt, die sich dann auch in seiner frühen Dichtung äußerte. Katharina Kippenberg hatte den etwa einundzwanzigjährigen Rilke einmal nach einer Shakespeare-Aufführung in irgendeinem Freilichttheater gesehen und in dem ihr damals noch Unbekannten, der schweigsam inmitten einer fröhlichen Gesellschaft saß, sogleich den bedeutenden Menschen erkannt. Sie sah, so berichtet sie selbst: „Ein Gesicht, so beladen mit Bedeutung, so überschüttet mit Gefühl, so gesegnet mit Sendung und über dem allem von einer so unsagbaren Demut und Stille, daß mir der Atem stockte. Die Augen sah ich nicht, sie waren niedergeschlagen, und die Stirn war leicht geneigt, und so inmitten der Lachenden und Schwatzenden ringsum, dem Gewimmel der Farben, der Stimme und des flimmernden Lichtes war es, als wäre man plötzlich von einer lärmenden Straße 12
an das offene Portal einer Kathedrale getreten. Das Erstaunlichste war die Stirn dieses Kopfes, sie schimmerte, und es umwehte sie ein Gewölk, auf und ab zog etwas Schwebendes, ähnlich den kleinen ernsthaften Engeln, die die versonnenen Häupter der Madonnen auf alten frommen Bildern bisweilen umfliegen." Rilke war in dieser Zeit immer noch von einer Schwermut erfüllt, die ihre Wurzeln in den noch nicht überwundenen traurigen Erlebnissen der Kindheit und frühen Jugend hatte. Nicht nur in dem Gedichtband „Larenopfer", sondern auch in dem Bändchen „Traumgekrönt" kommt diese Stimmung zum Ausdruck. Noch Jahre danach ist Rilkes Blick nach rückwärts gerichtet. In durchwachten Nächten grübelt er über das Rätsel des Daseins, über den Sinn des Leidens in der Welt, über sein eigenes Leben, seine Herkunft und Zukunft. Immer wieder neigt er sich über sein eigenes Bild, kommt über frühe Kindheitserlebnisse nicht hinweg, kann nicht verstehen, warum er ein Leben so am Rande, abgetrennt und fremd von all den anderen, den Fröhlichen, führen muß, ein so in sich gekehrtes, einsames Leben. Wieder sieht er sich, zwei Jahrzehnte zurückversetzt, im kurzen Mädchenkleid und langen Haar, an der Hand seiner Mutter und Tanten, und er möchte sich losreißen von dieser Erinnerung. Er versucht es, indem er sie teils beschwörend zu bannen und dadurch zu überwinden beginnt, teils aber auch, indem er seine eigene Existenz in ein erdichtetes Leben von Adel, Abenteuer und Heldentum verwandelt. So entsteht „Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke", eine kleine Erzählung in Prosa, die 1899 erscheint. Mit ihr erringt der noch nicht Vierundzwanzigjährige seinen ersten Ruhm. Die ganze Sehnsucht nach lebensvoller Ferne und nach dem Abenteuer, die Melancholie langer Märsche auf unendlichen Straßen und im fremden Land, Abschiedsstimmung und Liebeserinnerung sind in die rhythmisierte und lyrisch durchwebte Sprache gebannt, in der schon die ersten Sätze beginnen: Reiten, reiten, reiten, durch den Tag, durch die Nacht, durch den Tag. Reiten, reiten, reiten. Und der Mut ist so müde geworden und die Sehn13
sucht so groß. Es gibt keine Berge mehr, kaum einen Baum. Nichts wagt aufzustehen. Fremde Hütten hocken durstig an versumpften Brunnen. Nirgends ein Turm. Und immer das gleiche Bild. Man hat zwei Augen zuviel. Nur in der Nacht manchmal glaubt man den Weg zu erkennen. Vielleicht kehren wir nächstens immer wieder das Stück zurück, das wir in der fremden Sonne mühsam gewonnen haben? Es kann sein. Die Sonne ist schwer, wie bei uns tief im Sommer. Aber wir haben im Sommer Abschied genommen. Die Kleider der Frauen leuchteten lang aus dem Grün. Und nun reiten wir lang. Es muß also Herbst sein. Wenigstens dort, wo traurige Frauen von uns wissen. Der Dichter, der sich nicht mehr wie früher Rene, sondern Rainer Maria Rilke nennt, verwandelt sich in dieser Erzählung in die Gestalt eines Cornets, eines Fähnrichs, der im 17. Jahrhundert in einem kaiserlich-österreichischen Reiterregiment gegen die Türken zieht und nach dem Erlebnis des Feldlagers und des Krieges eine kurze Zeit der Liebe und gleich darauf den Tod unter den Säbeln der Türken erfährt. Sehr verspielt noch nimmt Rilke in dieser Dichtung zu den Lebensmächten Stellung, deren unwiderruflichen Ernst er gleichsam mit dem starken Duft seiner Sprache betäubt. Fern der fürchterlichen Wirklichkeit beschreibt er den Soldatentod als „ein Fest" und die zuspringenden tödlichen Säbel der Gegner als eine „lachende Wasserkunst". Und doch klingt bereits etwas von der späteren Lebenserfahrung des Dichters in diesem Werke an: sein Wissen um die geheimnisvollen Zusammenhänge des Daseins, durch die die scheinbar größten Gegensätze einander verbunden sind, wie eben im „Cornet" die Gegensätze von Liebe und Tod. Als Wunschbild einer abenteuerlichen Ferne ist diese Dichtung aber auch Vorahnung eines großen Erlebens, das Rilke noch im gleichen Jahre 1899 zuteil werden sollte: das Erlebnis Rußlands und seiner religiösen Welt. 14
Rußland und das religiöse Erlebnis In München, wo Rilke schon 1896 einmal für kurze Zeit gewesen war, lernte er die Schriftstellerin Lou Andreas-Salome kennen. Lou war die Tochter eines russischen Generals und bald verband ihn eine tiefe Freundschaft mit ihr. Er folgte dieser klugen und faszinierenden Frau, die mit fast allen bedeutenden Geistern ihrer Zeit befreundet war, mit Friedrich Nietzsche und Sigmund Freud, mit Gerhart Hauptmann, Frank Wedekind, Max Halbe und vielen anderen, nach Berlin und nach Wolfratshausen bei München. Im Frühjahr 1899 und im folgenden Jahre begleitete er sie nach Rußland. Das Erlebnis dieses Landes mit seinen schwermütigen Weiten, seinen gutmütigen, tief religiösen Menschen der Vorkriegszeit, die Demut in den Gesichtern dieses leidgewohnten Volkes, überhaupt der ganze Zauber des alten Rußland mit seinen Gebräuchen und Lebensformen, alles das wühlte die verborgensten Schichten seiner Seele auf. Seine Ergebenheit vor dem Leben und sein noch unbestimmtes religiöses Suchen trafen in Rußland auf etwas Verwandtes. Es war, als hätte er sein wahres Wesen erst dort erkannt und erst in diesem Lande das Echo gefunden, das er bisher vergeblich erhoffte. So sehr liebte er Rußland, daß er glaubte, schon von jeher dort beheimatet gewesen zu sein. „Als ich nach Moskau kam", schrieb er, „war mir alles bekannt und vertraut. Zu Ostern wars. Da rührte es mich an wie meine Ostern, mein Frühling, meine Glocken. Es war die Stadt meiner ältesten und tiefsten Erinnerungen, es war ein fortwährendes Wiedersehen und Winken, es war Heimat." Aus der Begegnung mit diesem Lande und seinen Menschen reifte Rilke dem ersten Höhepunkt seines Schaffens entgegen. Auf seiner zweiten Rußlandreise besuchte er den zweiundsiebzigjährigen Dichter Leo Tolstoi, der ihn in seiner freiwilligen Armut und dem Versuch, ein Leben nach dem Evangelium der Nächstenliebe zu führen, tief beeindruckte. Kunst erschien Rilke jetzt in einer ganz neuen Beleuchtung: Kunst war Anrufung Gottes, war Gebet. In Rußland erfuhr Rilke ein religiöses Erleben, nachdem er unbewußt schon längst auf dem Wege war. „Er bog", so berichtete Lou Andreas-Salome, „in Rußlands Geschichte und Gotteslehre seine eigensten Nöte und Andachten ineinander, bis es in Notschrei und 15
Lobpreis sich ihm als ein Stammeln entriß, das zum Wort ward wie noch nie — das Gebet ward." Die Frucht dieses Erlebens ist das „Stunden-Buch". Von 1899 bis 1903 schrieb Rilke daran. Seine Verse beschwören das neue, mystische Gotteserlebnis, das ihm nun zuteil geworden war. Mystik kommt vom griechischen „myain", das so viel wie „die Augen schließen" oder „ein Geheimnis bewahren" bedeutet. Das Geheimnis der Mystiker ist das Erlebnis der Einheit von Gott und Ich, eine Verbindung, die so innig sein kann, daß alle Grenzen dazwischen fallen. Nicht nur der Mensch wird nach Rilkes Glauben in dieser Art religiösen Erlebens des Gottes bedürftig, sondern auch Gott bedarf der Liebe des Menschen. In immer neuen Bildern und Symbolen beschwört Rilke jetzt diesen Gott. Er ist ihm im „Stunden-Buch", das seinen Titel von den geregelten Gebetsstunden der Mönche hat, einmal „der uralte Turm", um den er kreist, dann „der dunkle Unbewußte", der „Leiseste", der „Stein". Und er schreibt diese Verse: Du, Nachbar Gott, wenn ich dich manches Mal in langer Nacht mit hartem Klopfen störe, — so ists, weil ich dich selten atmen höre und weiß, du bist allein im Saal. Und wenn du etwas brauchst, ist keiner da, um deinem Tasten einen Trank zu reichen: Ich horche immer. Gib ein kleines Zeichen. Ich bin ganz nah. Nur eine schmale Wand ist zwischen uns, durch Zufall; denn es könnte sein: ein Rufen deines oder meines Munds — und sie bricht ein ganz ohne Lärm und Laut. Ganz stille muß man sein und nach innen hinein hören, um Gott zu begegnen. In glühenden Stunden des Schaffens gießt Rilke sein ganzes religiöses Erleben, sein Suchen und Finden, sein Zweifeln und Hoffen in die Verse dieser Dichtung, die er in drei Bücher gliedert: „Das Buch vom mönchischen Leben", „Das Buch von der Pilgerfahrt" und „Das Buch von der Armut und vom Tode". 16
Bisweilen fühlt er sich so eins mit Gott, daß er ihn von der eigenen Existenz nicht mehr zu trennen vermag und die Bedürftigkeit Gottes nach der Liebe des Menschen zu spüren glaubt. Dann stellt er die kühne Frage: Was wirst du tun, Gott, wenn ich sterbe? Ich bin dein Krug (wenn ich zerscherbe?) Ich bin dein Trank (wenn ich verderbe?) Bin dein Gewand und dein Gewerbe, mit mir verlierst du deinen Sinn. So tief ist er in diese eigenwillige Gottesauffassung versunken, daß er sich die Ideen jener russischen Dichter zu eigen macht, die wie einst Maxim Gorki Gott nicht nur suchten, sondern aus überschwenglicher Seele heraus selber erschaffen oder „bauen" wollten. Manchmal ergreift ihn ein rauschhaftes Gefühl der Einheit mit allen Gott suchenden Menschen. „Wir bauen an Gott, an dem uralten Turm, und wir bauen Jahrhunderte lang . . . " schreibt er dann. Aber er weiß, daß das Werk Gottes nie voilendbar ist, denn: Wir bauen an dir mit zitternden Händen Und wir türmen Atom auf Atom. Aber wer kann dich vollenden, du Dom. Rilke teilte in dieser Zeit die Hoffnung vieler Künstler, die im damaligen Rußland das Heil und die Rettung der Welt sahen, weil dieses Land von der Mechanisierung und Entseelung durch die moderne Technik noch nicht ergriffen war. Drei Jahre nach seinem zweiten Rußlandaufenthalt schrieb Rilke noch an Lou Andreas-Salome: „Vielleicht ist der Russe gemacht, die Menschen-Geschichte vorbeigehen zu lassen, um später in die Harmonie der Dinge einzugreifen mit seinem singenden Herzen. Nur zu dauern hat er, auszuhalten und wie der Geigenspieler, dem noch kein Zeichen gegeben ist, im Orchester zu sitzen, vorsichtig sein Instrument haltend, damit ihm nichts widerfahre." Ein Jahrzehnt später aber wurde offenbar, daß diesem russischen Menschen, den Rilke kennen und lieben gelernt hatte, sehr viel widerfuhr und daß die Hoffnung auf ihn trügerisch war. Im Jahre 1913 nämlich, am Vorabend der ersten russischen Revolution, ver17
faßte Lenin an Maxim Gorki einen Brief, in dem er den Dichter gerade jener religiösen Vorstellungen wegen zurechtwies, die Rilke damals so verwandt erschienen. „Das ,Gottsuchen'", so schrieb Lenin an Gorki, „unterscheidet sich von dem ,Bauen eines Gottes' oder dem ,Erschaffen eines Gottes' oder von dem ,Schaffen eines Gottes' nicht mehr, als sich ein gelber Teufel von einem blauen Teufel unterscheidet." Die russische Revolution brauchte nur Gläubige ihrer eigenen Idee, nicht Gläubige Gottes, wie sie Rilke einst in diesem Lande begegnet waren.
Der Weg nach Paris Das ganze Rußlanderlebnis klang noch in Rilke nach, als er bald darauf nach Worpswede ging, einer Künstlerkolonie in der Nähe von Hamburg. Dort waren junge Menschen versammelt, vor allem Malerinnen und Bildhauerinnen, die sich in der norddeutschen Landschaft einer herben und satten Farbigkeit, umgeben vom dunklen Moor, dem Wehen hoher Birken und von der salzigen Meerluft getränkt, zu beschwingter Arbeit und freundschaftlichem Gespräch zusammengefunden hatten. In dem weißen Saal des Hauses, das Rilke bewohnte, trafen sich an den Sonntagen die Künstler. Da gab es lange und leidenschaftliche Diskussionen über die Kunst, ihren Weg und ihr Ziel. Der Dichter lernte jetzt von den Malern und Bildhauern das genauere Erfassen der Natur, das Erkennen innerer Lebensvorgänge im äußeren Kleid und im Wandel der Gestalt. Die Maler und Bildhauer wiederum lernten vom Dichter den Mut zur eigenen Ausdrucksweise auf dem Instrument der Sprache, und sie nahmen teil an seinem Bemühen, „aus jedem Wort ein Kleinod zu machen". Worpswede ist für Rilke eine Zeit des Glück, der jugendlichen Begeisterung und des Zuwachsens von Kraft. Trotzdem weiß er, daß er bei aller Liebe zu diesem naturnahen, ungebundenen Leben, zu dieser Landschaft und zu diesen Menschen nicht seßhaft werden darf. Seßhaftigkeit kann leicht zur Trägheit führen, kann von dem Werk, das erst noch zu leisten ist, ablenken. „Ich darf noch kein Häuschen haben. Werden und warten ist meines", notiert er. „Es ist, als wäre mir eine Mission vorbehalten", schreibt er in sein Tagebuch, „welche es notwendig macht, daß ich jede Schönheit umfassen lerne und die Schönheit in jedem". IX
Da lernt er unter den Worpsweder Künstlern ein Mädchen kennen, das unter allen anderen hervorragt: Clara Westhoff, eine Schülerin des berühmten französischen Bildhauers Auguste Rodin. Diese Begegnung wird schicksalhaft für beide. Aus der gegenseitigen Bewunderung wird bald persönliche Zuneigung und Liebe. Im Frühjahr 1901 heiraten die beiden. Rilke versucht sich nun doch in der Seßhaftigkeit. Das junge Künstlerehepaar zieht hinaus nach Westerwede, einem kleinen Ort in der Nähe von Worpswede, und richtet sich dort in einem Bauernhaus in recht romantischer Weise ein. Es scheint zunächst wirklich, als ob sich hier Rilkes Wunsch nach Sammlung und grenzenloser, ungestörter Arbeit erfüllen könnte. Bald aber stellt sich heraus, daß ein solches Dasein in der Idylle doch nicht das dem Dichter gemäße und ihm bestimmte Leben ist. Dazu kommen wirtschaftliche Schwierigkeiten. Bald reichen die Mittel zur Aufrechterhaltung des Hausstandes nicht mehr aus. Rilke schreibt Briefe nach Berlin, Hamburg, Bremen und Wien, um schriftstellerische Aufträge zu bekommen. Aber er hat kein Glück. Es zeigt sich nun auch, daß Rilke und Clara Westhoff so sehr in ihren eigenen Welten als Künstler lebten, daß für sie auf die Dauer ein häusliches Leben sowieso nicht geeignet ist. So entschließen sie sich nach zwei Jahren, Westerwede zu verlassen, nach Paris zu gehen und sich dort auf die billigste Weise einzurichten, um ganz ihrer Kunst zu leben. Die inzwischen geborene Tochter wurde den Großeltern anvertraut. Rilke bezog zuerst ein kleines möbliertes Zimmer, Clara Westhoff ein kleines Atelier. Die Bildhauerin machte Rilke jetzt mit ihrem Lehrer Rodin bekannt. Diese Begegnung ist für den Dichtet von gleicher Tragweite, wie es die mit Rußland und Tolstoi gewesen war. Rodin nahm Rilke von 1905 bis 1906 ganz in sein tägliches Leben auf, indem er ihn als Privatsekretär verpflichtete. Dieser Bildhauer, der in seinem Atelier, dem früheren Kloster von Sacre Coeur, Skulptur um Skulptur schafft, dem Stein mit männlicher, fast gewalttätiger Sicherheit alle Formen abverlangt, die sein leidenschaftlicher Geist fordert, der einen ganz neuen Stil von gewaltiger Ausdruckskraft entwickelt und unter der steinernen Welt seines Arbeitsplatzes mit seiner gedrungenen Gestalt, dem stierhaften Nacken und dem charakteristisch modellierten Kopf selbst wie 19
eine seiner Figuren wirkt, dieser Künstler des Schlegels und des Meißels wirkt auf den immer noch sehr in sich versponnenen Dichter wie ein Gewittersturm. Jetzt erst, durch Rodin und das Beispiel seines Schaffens, gewinnt Rilke ein wirkliches Verhältnis zur Welt der
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Erinnerung an die Hungerzeit nach dem ersten Weltkrieg: Rilke dankt dem Dichter Hans Carossa für seine erfolgreiche Vermittlung beim Amt für Lebensmittelzuteilung. 20
seiner liebenswürdigen, bescheidenen Frau führt, die gemeinsamen Fahrten in die Stadt, Ausflüge nach Versailles und Reisen nach Chartres bereichern ihn mehr von Tag zu Tag. „Rodin hat mich alles gelehrt, was ich vorher noch nicht wußte", ruft er aus, „geöffnet durch sein stilles, in unendlicher Tiefe vor sich gehendes Dasein, durch seine sichere, durch nichts erschütterte Einsamkeit, durch sein großes Versammeltsein um sich selbst und sein wachsendes Altern, in dem alle Dinge zuammengeschlossen sind." Durch die Begegnung mit Rodin kommt Rilke zu einem ganz neuen Stil. Er gewinnt nun in seiner Sprache eine Buntheit und einen Reichtum wie nie zuvor. Durch eine ganz neue Verdeutlichung der sprachlichen Gestaltung wird er selbst zum Beherrscher der Dingwelt. Jetzt vermag er mit dem dichterischen Wort die Dinge wirklich zu erschaffen. Es ist, als wäre er jetzt erst sehend geworden. Ein starkes Verlangen nach den Erscheinungsformen der Welt, nach ihren Bewegungen und Gesetzen erfaßt ihn. Nichts mehr ist jetzt unwichtig. Ein Stück Holz, eine Mauer, ein Baum, ein Stein, alles hat seine Bedeutung tutd sein eigenes Leben, das es von innen her, aus dem Wesen der Dinge heraus, zu erkennen gilt. Stundenlang streicht Rilke durch die Straßen von Paris. Mit immer neuen Eindrücken füllt er sich an. Sein Auge wird unersättlich. Was er jetzt nachgerade gierig in sich aufnimmt, das verarbeitet sein Geist zu der neuen dichterischen Form. Oft sieht man den schmalen, etwas nach vorn gebeugten Mann im grauen Anzug, mit den grauen Gamaschen, dem weichen Filzhut und dem unter den Arm geschobenen Spazierstock in den Pariser Straßen, wo er Menschen und Dinge genau registriert, Glanz und Elend, Kinderfreude und Altersleid. Der Garten des LuxembourgPalais gehört zu den Lieblingszielen seiner Spaziergänge. Dort beobachtet er die bunte Pracht der Karussells und die aufgeregte Freude der Kinder. Das alles vermag er jetzt, bis in die Bewegung hinein, in Versen auszudrücken. Eines seiner berühmten Gedichte, „Das Karussell •— Jardin du Luxembourg", entsteht: Mit einem Dach und seinem Schatten dreht sich eine kleine Weile der Bestand von bunten Pferden, alle aus dem Land, 22
das lange zögert, eh es untergeht. Zwar manche sind an Wagen angespannt, doch alle haben Mut in ihren Mienen; ein böser roter Löwe geht mit ihnen und dann und wann ein weißer Elefant. Sogar ein Hirsch ist da ganz wie im Wald, nur daß er einen Sattel trägt und drüber ein kleines blaues Mädchen aufgeschnallt. Und auf dem Löwen reitet weiß ein Junge und hält sich mit der kleinen heißen Hand, dieweil der Löwe Zähne zeigt und Zunge. Und dann und wann ein weißer Elefant. Und auf den Pferden kommen sie vorüber, auch Mädchen, helle, diesem Pferdesprunge fast schon entwachsen; mitten in dem schauen sie auf, irgendwohin, herüber —
Schwünge
Und dann und wann ein weißer Elefant. Und das geht hin und eilt sich, daß es endet, und kreist und dreht sich nur und hat kein Ziel. Ein Rot, ein Grün, ein Grau vorbeigesendet, ein kleines, kaum begonnenes Profil —. Und manchesmal ein Lächeln, hergewendet, ein seliges, das blendet und verschwendet an dieses atemlose blinde Spiel . . . Der Einfluß des Bildhauers auf den Dichter findet in den „Neuen Gedichten", die 1907/08 entstanden, in der klar umrissenen Hinwendung zur Welt der Dinge, seinen stärksten Niederschlag. Wie Rodin am Stein, so meißelt Rilke an der Sprache. Seine Figuren werden gleich denen des Bildhauers greifbar lebendig. In voller Wirklichkeit erschafft er sie durch das verdichtete Wort. Meisterwerke wie „Der Panther" entstehen. In nur zwölf Versen vermag Rilke seinem Panther ein Leben einzuhauchen, in dem alle dumpfe Kraft 23
und Verzweiflung des gefangenen Raubtiers atmet, dessen Blick vom Vdrübergleiten der Stäbe seines Käfigs müd geworden ist und dem sich nur manchmal noch lautlos der „Vorhang seiner Pupille" aufschiebt um ein Bild in sich einzulassen, das im Herzen des Tieres gleich wieder erlischt. „Ä mon grand ami Auguste Rodin", Meinem großen Freund Auguste Rodin, lautete die Zuneigung des ersten Teiles dieser Pariser Gedichte. „A mon grand ami Maria Rilke" schrieb Rodin auf eine seiner schönsten Zeichnungen, die er für den Dichter auswählte und ihm als Gegengabe schenkte. Immer noch näher will Rilke an die Dinge heran. Er will die Welt in ihrer Fülle fassen. Alles verlangt er sich selbst und der neu zu schaffenden Sprache ab. Er geht sogar in die Bibliotheken und schlägt in alten Wörterbüchern nach, um neue, vergessene Worte zu finden, die er wie Bausteine zu seinem Werk benutzt. Manchmal beklagt er sich über das unzulängliche Material, das ihm in der abstrakten Sprache als Dichter zur Verfügung stehe: „Rodin empfingen jeden Morgen die großen Blöcke, an denen er seine Arbeit beginnen konnte, bei mir lag ein kleiner Bleistift auf dem Tisch." Gelegentlich unterbrach Rilke seinen Paris-Aufenthalt zu längeren Reisen oder Gastaufenthalten bei Freunden. Doch immer wieder kehrte er in den Jahren von 1903 bis 1914 in die Stadt an der Seine zurück, auch nachdem die Bindung an Rodin sich gelöst hatte. Daß zwei so ausgeprägte Künstlernaturen auf die Dauer nicht nebeneinander leben konnten, ist nur allzu verständlich. Jeder von ihnen folgte seinem eigenen Lebensgesetz. Dieses Gesetz führte Rainer Maria Rilke, nach der Erfahrung der äußeren Welt und ihrer künstlerischen Beherrschung, wieder in das Innere der Welt zurück. Er suchte hinter den Dingen die beseelende Kraft. Von Anfang an war Paris für Rilke nicht nur das Erlebnis Rodin, nicht nur der prickelnde Reiz französischen Lebens und französischen Geistes, auch nicht nur die Freude des Beobachtens kindlicher Spiele in den schattigen Parks. In Paris sah Rilke von Anfang an auch die Großstadt, die wie jede dieser steinernen Burgen des technischen Fortschritts auch eine Anhäufung von Leid und Elend war. Er beobachtete und beschrieb nicht nur das Karussell im Jardin du Luxembourg. Er sah dort auch den blinden Zeitungsverkäufer, „der 24
Auf dem Friedhof der Kirche von Raron über dem Rhonetal liegt Rilke begraben. Der Grabstein trägt die auf dem Umschlag dieses Lesebogens wiedergegebene Inschrift. am Gitter des Luxembourg-Gartens sich langsam hin- und zurückschiebt den ganzen Abend lang . . .", und Mitleid und Verzweiflung über das Elend der Welt überfielen ihn. Auch in seiner düsteren Seite fand das Großstadterlebnis in Rilke seinen Widerhall. Der Dichter spürte alle Not, der er begegnete, in sich selbst, und allmählich wurde ihm die moderne Großstadt zum Symbol der Naturferne und der Ferne von Gott. Die Tage der Begeisterung wurden abgelöst von Tagen der Verzweiflung und Niedergeschlagenheit. Eine neue 25
Dichtung entstand: der „Malte Laurids Brigge". Bis 1910 arbeitete Rilke an diesem Prosawerk, das Ausdruck seiner düsteren Stimmungen ist. Es ist das Elend der Armen der Stadt, die Malte Laurids Brigge, in den Rilke seine eigenen Erlebnisse legt, sich zu Herzen nimmt. Die „Fortgeworfenen", denen ihr Schicksal schon zur Selbstverständlichkeit geworden ist, die wie Verworfene durch die Straßen schleichen oder frierend auf den zugigen Plätzen stehen, schmutzig und verbraucht, mit einer schäbigen Bettstatt und einem Eßnapf als einzigem Eigentum, sie sind es, denen er sich in Mitleid zuwendet und die ihn erneut zur Frage nach Gott veranlassen. Dicht tritt Rilke dem Elend gegenüber. Er stellt die Frage in ihrem ganzen Ernst: ob durch Mitleid und völlige Einfühlung das Elend der Welt gemildert werden könnte. Und wieder taucht der blinde Zeitungsverkäufer vor dem Jardin du Luxembourg vor Malte Laurids Brigge auf, der über ihn sagt: „Die durch keine Vorsicht oder Verstellung eingeschränkte Hingebung seines Elends übertraf meine Mittel. Ich hatte weder den Neigungswinkel seiner Haltung begriffen gehabt, noch das Entsetzen, mit dem die Innenseite seiner Lider ihn fortwährend zu erfüllen schienen. Ich hatte nie an seinen Mund gedacht, der eingezogen war wie die Öffnung eines Ablaufs." Es ist aber nötig, an alles das zu denken! In der Hast und dem Geflirr der Großstadt, ihren Attraktionen und Verführungen, dem mechanischen Ablauf ihres scheinbar so harmonischen Lebens liegt die unmenschliche Gefahr des Vergessens des Elends. Erst wenn wir das Elend der andern in uns aufnehmen, mitleidend daran teilnehhien, erst dann werden wir zu Menschen. Erst dann wird es uns auch möglich sein, das Leben in seiner Ganzheit zu fassen. Als Belohnung unseres Mutes gleichsam, dabei auszuhalten, so meint der Dichter, werden wir dann auch die Stufen vom Schrecklichen zum Seligen des Daseins emporfinden. Rilke glaubt an die läuternde Kraft des Leidens. Er glaubt, daß die Seele des Menschen so unausschöpfbar reich ist, daß in ihr alle Möglichkeiten beschlossen sind. Es kommt auf die Anstrengung des Menschen an, was er aus seinem Leben macht. Wenn er allen Mut und alle Kraft in sich zusammennimmt, das ist die Botschaft des Dichters, dann ist es ihm möglich, den Schrecken in sein Gegenteil zu ver26
wandeln. „Erst dem", sagt Rilke, „dem auch der Abgrund ein Wohnort war, kehren die vorausgeschickten Himmel u m . . . " — So ist auch der „Malte Laurids Brigge" gemeint. Über diese Dichtung schrieb Rilke, nachdem er sie unter Anwendung größter innerer Anstrengung vollendet hatte: „Der arme Malte fängt so tief im Elend an und reicht, wenn mans genau nimmt, bis an die ewige Seligkeit; er ist ein Herz, das eine ganze Oktave greift: nach ihm sind alle Lieder möglich." Gott, das Gute und das Heil sind nur durch Anstrengung, Opfer und Arbeit zu erreichen. „Alle Lieder" bedeuten für den Dichter Lieder der Trauer und Lieder der Freude, das Leben in seiner ganzen Mannigfaltigkeit. Der Weg nach Paris war ein Weg innerer Wandlung und Reife für Rilke gewesen.
Im Strom der Zeit im Januar 1910 kam Rilke mit den Niederschriften des „Malte Laurids Brigge" im Koffer nach Leipzig, wo er als Gast im Hause seines Verlegers Kippenberg wohnte. Im Turmzimmer, über den Baumwipfeln des Gartens, diktierte er die Reinschrift dieser Dichtung für das Druckmanuskript. Nach einem Jahrzehnt sah nun auch Katharina Kippenberg den Dichter wieder, der ein anderer geworden war. „Er sah anders aus", berichtet sie. „Der Hauch, der seine Stirn umgeben hatte wie ein Kranz Rosen, war verschwunden, sie war klarer und freier geworden, die Züge stärker modelliert. Rilke war nicht groß, sehr feingliedrig, mit einem schmal in die Höhe gehenden Kopf. Sein dunkelbraunes Haar stand hoch darüber und war wellig. Das Auge sah ich nun zum ersten Mal und war erstaunt, daß ich es nicht so sehr als den Mittelpunkt des Gesichtes empfinden konnte. Es war groß, von einem mittelhellen Blau, wie Kinderaugen manchmal sind, und es schien als ein Vorhang zu dienen, um Verborgenes zu schirmen. Den Mund umgaben senkrecht fallende spärliche blonde Haare, scherzend hat man von einem Chinesenbart gesprochen. Die Nase war außerordentlich geistreich, und den Nasenflügeln traute man eine so feine Witterung zu, wie ein edler Jagdhund sie besitzt. Sehr bald fiel auf, wie er mit Farbe und Aussehen wediselte . . ." Seit Paris und dem „Malte Laurids Brigge" hatte Rilke in M>27
gründe zu sehen gelernt. Sein Gesicht war zum Ausdruck seiner Feinfühligkeit geworden. Er fühlte ihre Bedrohung durch das heraufziehende Zeitalter totaler Technisierung. Und während allgemein die Stimmung der Bürger in dem Jahrzehnt nach der Jahrhundertwende fortschrittsgläubig und unbeschwert war, gab er in seiner Dichtung der Sorge um die Zukunft Ausdruck. Es ist die Zeit scheinbarer Geborgenheit und scheinbar wohlgeordneter Verhältnisse, indes die Dämonen der Zerstörung bereits ihr Werk im Verborgenen betreiben. Bald wird der Erste Weltkrieg den Auftakt zur Katastrophe geben. Ein neues Zeitalter ist im Anbruch. Soeben entsteht in Amerika die erste Traumfabrik, die Filmstadt Hollywood, zwei Jahre darauf, 1912, führt Henry Ford das Fließband ein, Viktor Heß entdeckt die kosmischen Strahlen, und die Relativitätstheorie Einsteins kommt zu immer bedeutenderer Ausweitung. Der Fortschritt der Wissenschaften erzeugt zugleich ein Gefühl der Unsicherheit in den Menschen, die ihren festen Standort im Gefüge der Welt zu verlieren glauben. Es gibt kein festes Bezugssystem mehr, das standhielte, seitdem selbst die Atome, die „Urbausteine" der Materie, sich in Teile auflösen. Die Maschine wird zum Symbol der neuen Welt. Durch die Technik begünstigt, wachsen die Städte riesengroß empor. Das freie, natürliche Leben droht unter ihrer Asphaltdecke zu ersticken. Wie viele Dichter seiner Zeit, Georg Heym, Bert Brecht, Franz Kafka, Oskar Loerke, Franz . Werfet, Klabund, nimmt auch Rilke das Schicksal der Städte vorweg, das ihnen Jahrzehnte später erst im Feuerschein der Bombennächte und in der seelenlosen Automatisierung ihres Lebens bestimmt war. Er wendet sich gegen die Zerstückelung der Zeit, gegen die „kleine Zeit", wie sie durch den modernen Arbeitsprozeß in den großstädtischen Fabriken mit seiner Zersplitterung in lauter nicht mehr übersehbare, zusammenhanglose Einzelvorgänge und seiner Schichtarbeit sich ankündigt. Schon im „Stunden-Buch" schrieb er: Denn, Herr, die großen Städte sind verlorene und aufgelöste; wie Flucht vor Flammen ist die größte, — und ist kein Trost, daß er sie tröste, und ihre kleine Zeit verrinnt. Er beschwört die Gefahren eines glaubenslosen Materialismus, wie 28
er in den Städten wächst und sich in lautem Gebaren, in Betäubung und Selbsttäuschung und einem kritiklosen Fanatismus des Fortschritts äußert: Die Städte aber wollen nur das Ihre und reißen alles mit in ihren Lauf. Wie hohles Holz zerbrechen sie die Tiere und brauchen viele Völker brennend auf. Und ihre Menschen dienen in Kulturen und fallen tief aus Gleichgewicht und Maß, und nennen Fortschritt ihre Schneckenspuren und fahren rascher, wie sie langsam fuhren, und fühlen sich und funkeln wie die Huren und lärmen lauter mit Metall und Glas. Es ist, als ob ein Trug sie täglich äffte, sie können gar nicht mehr sie selber sein; das Geld wächst an, hat alle ihre Kräfte und ist wie Ostwind groß, und sie sind klein und ausgehöhlt und warten, daß der Wein und alles Gift der Tier- und Menschensäfte sie reize zu vergänglichem Geschäfte. Als dann der Erste Weltkrieg ausbrach, dessen Leid für Rilke unbegreiflich war, wenngleich er, durch die Begeisterung der ausziehenden Soldaten ergriffen, im August 1914 seine Kriegsgesänge schrieb, begann für Rilke eine Zeit schmerzlicher Krisis. Er lebte in München, war gesundheitlich sehr schwach und wurde deshalb für den Felddienst für untauglich erklärt. Im November 1915 kam er aber in das k. k. österreichische Kriegsarchiv nach Wien. Er litt unter dieser Arbeit, die ihn täglich mit den kriegerischen Ereignissen in Verbindung brachte. Auf eine Eingabe seines Verlages, die von einer Anzahl bekannter und führender Persönlichkeiten des literarischen und geistigen Deutschland unterzeichnet war, wurde er aus dem Militärdienst entlassen und kehrte im Juli 1916 nach München zurück, wo er eine eigene Wohnung gemietet hatte. Aber er war ein Gebrochener. Das Leid des Krieges drang tief in ihn ein. Schon 1912 hatte er auf Schloß Duino an der Adria bei Triest die 29
ersten drei seiner berühmten „Duineser Elegien" mit dem Klageruf begonnen: Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel Ordnungen? und gesetzt selbst, es nähme einer mich plötzlich ans Herz: ich verginge vor seinem stärkeren Dasein. Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen, und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht, uns zu zerstören. Ausbruch tiefster Verzweiflung waren diese Verse. Aufschreie letzter Einsamkeit des leidenden Menschen, der verlassen dem Schmerz der Welt gegenübersteht. Die Ordnungen der Engel scheinen dem Dasein des Menschen so sehr entrückt, daß dieser sich mit seinem Schrei nicht an sie wenden kann. Doch selbst wenn die Engel des Menschen Stimme vernähmen, müßte er an ihrem Herzen und an ihrem stärkeren Dasein vergehen; denn die Schönheit dieser höheren Wesen ist so groß, daß sie das Wesen des Menschen überfordert und so zum Schmerz wird, gleich der Sonne, in die das Auge nicht ungeblendet schauen kann. Jetzt, mit dem Kriege, gewannen die Stimmen der Klage über Rilke noch größere Gewalt. So sehr wurde der Dichter vom Schicksal der Welt übermannt, daß ihm darüber die Stimme versagte. Fast während der ganzen Zeit des Krieges verstummte er. Bald flüsterte man sich unter Rilkes Freunden und Bekannten in München zu: „Rilke wird nicht eine Zeile mehr schreiben." Tatsächlich sollte es bis 1921 dauern, bis der Dichter wieder im Vollbesitz seiner künstlerischen Kraft war.
Die letzten Jahre — Vollendung Nach dem Kriege ging Rilke in die Schweiz. Von innerer Unruhe geplagt, zog er von Hotel zu Hotel, von Stadt zu Stadt, immer im Aufbruch, ohne Rast, hielt Vorträge und machte Besuche. Erst im Winter 1921 fand er Ruhe". In der strengen Einsamkeit des kleinen Schlosses Muzot bei Sierre an der Rhone, in dem bergigen Schweizer Wallis, das sein Freund für ihn mietete, reifte sein Werk der Vollendung entgegen. Hier wachsen Weinreben in südlicher Heiterkeit und mildem 30
Glanz, uralte Tannen ragen wie aus einem Märchenwald der Urzeit, bemoost und mit weiten, hängenden Ästen aus den grünen Matten der Hänge und Täler, und der Walnußbaum reift, von dem der Kanton seinen Namen hat. In dieser Landschaft mit ihren glühenden Sonnenuntergängen hinter den großen Bergen, ihrem Wolkentheater auf dem südlich blauen Grund des Himmels, ihren Quellen und Bächen, Taltreppen und klassisch klaren Umrissen der Hügel und Häuser, fernab dem Getriebe der Städte, vollendet Rilke die „Duineser Elegien", die er als sein Vermächtnis betrachtet. Gleichzeitig aber, und das ist das Wunder dieser großen schöpferischen Zeit, schreibt er an den „Sonetten an Orpheus". Er stellt der Elegie — der Klage — den freudigen Klang der orphischen Sonette gegenüber. Das ganze Dasein will er gestalten. Nicht nur den Schmerz, sondern auch die Freude. Orpheus ist der alte griechische Gott und König der Lieder, der große Zauberer der Töne, Sohn des Apollon und seiner Muse. Von solcher Zauberkraft war sein Gesang, daß er wilde Tiere damit zähmte und selbst Bäume und ganze Wälder, von seinem Liede gebannt, ihm folgten. Er ist eine Rilke tief verwandte Gestalt, die klassische Vollendung dessen, was schon an der Prager Sage vom Sänger Dalibor den Zwanzigjährigen ergriffen hatte. Ihn, Orpheus, beschwört Rilke nun, und er setzt seinen Gesang dem Klageruf der Elegie entgegen, damit das Gleichgewicht der Welt wieder hergestellt werde. Neben dem Aufschrei über das Leid steht jetzt auch das Rühmen der Welt. Über das Entstehen der Elegien berichtete er der befreundeten Fürstin von Thurn und Taxis: „Alles in ein paar Tagen, es war ein namenloser Sturm, ein Orkan im Geist (wie damals auf Duino), alles, was Faser in mir ist und Geweb, hat gekracht, — an Essen war nie zu denken, Gott weiß, wer mich genährt hat." Rilkes Dichtung, die aus der ganzen inneren Fülle seiner Lebenserfahrung genährt ist, zehrte am Leben des Dichters selbst. Der Weg seines Lebens und seiner Kunst war ein einziger Weg in die verborgenen Tiefen des Daseins und aller Dinge, ein Weg in das Innere der Welt und in sein eigenes Innere. Es war ein für den Dichter erschöpfender Weg. „Ich kann nicht 31
mehr, ich kann nicht mehr", klagte er einmal, als er sein Werk bereits vollendet hatte. Zu Beginn des Jahres 1926 fühlte er sich krank, müde, verbraucht. Er ging in das Sanatorium nach Val-Mont, bei Montreux am Genfer See, im Sommer dann nach Ragaz, wo er Bäder nahm. Aber schon im Dezember mußte er wieder nach Val-Mont. Die Ärzte stellten eine unheilbare Blutkrankheit fest. Rilke verfiel schnell. Er litt unmenschliche Schmerzen. „O Herr, gib jedem seinen eignen Tod", hatte er vor dreiundzwanzig Jahren einmal geschrieben. Jetzt machte er selbst mit dieser Bitte ernst. Er wollte seinen eigenen Tod sterben, bei vollem Bewußtsein. So wies er alle inneren Medikamente zurück, die ihm die Ärzte geben wollten. Selbst unter Qualen verzichtete er auf das falsche Glück des schmerzlindernden Morphiums. Er wollte den Tod auf sich nehmen. Am Morgen des 29. Dezember 1926, kurz vor fünf Uhr, hatte er, einundfünfzigjährig, seinen letzten Kampf bestanden. Hoch auf einem Hügel zu Raron, auf dem kleinen Friedhof über dem Rhonetal, wurde Rainer Maria Rilke am 2. Januar 1927 zur letzten Ruhe bestattet. Den Wanderer, der diesen Ort im Sommer besucht, empfängt der Duft unzähliger Rosen. Immer waren die Rosen Rilkes Lieblinge gewesen. In zahlreichen Versen hatte er ihr stilles Blühen gefeiert. Unter ihren Blütenblättern, die ihm wie Augenlider sind, bewunderte er das geheimnisvolle Leben, das Rätsel und den Widerspruch, daß diese Lider sich über einer Blumenruhe schließen, die dennoch kein Schlaf, sondern Leben ist. Vielleicht dachte er an den eigenen Todesschlaf als einen Schlaf zu neuem Leben, als er diese, seine letzten Verse schrieb, die auf dem Grabstein im Bergfriedhof zu Raron stehen: Rose, o reiner Widerspruch, Lust, Niemandes Schlaf zu sein unter so viel Lidern. Umschlaggestaltung: Karlheinz Dobsky Bilder: Verlags-Archiv und Ulistein-Bilderdienst L u x - L e s e b o g e n 3 2 7 (Geschichte) H e f t p r e i s 2 5 P f g . Natur- und kulturkundliche Hefte - Bestellungen (vierteljährl 6 Hefte DM 1.50) durch jede Buchhandlung und jede Postanstalt. — Alle früher erschienenen Lux-Lesebogen sind in jeder guten Buchhandlung vorrätig. — Druck: Hieronymus Mühlberger, Augsburg. — Verlag: Sebastian Lux, Murnau vor München. — Herausgeber: Antonius Lux.
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