Dies ist die Geschichte des Tagelöhners Robert Grainier, der irgendwann im Jahr 1886 geboren wurde, entweder in Utah od...
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Dies ist die Geschichte des Tagelöhners Robert Grainier, der irgendwann im Jahr 1886 geboren wurde, entweder in Utah oder in Kanada, und der nie erfuhr, wer seine Eltern waren. Robert Grainier war in seinem Leben niemals betrunken, hat nie eine Waffe besessen und hat kein einziges Mal in einen Telefonhörer gesprochen. Er ist mit zahllosen Zügen gefahren, saß in vielen Automobilen und ist einmal, 1927, sogar in einem Flugzeug gereist. Dabei hat sich Robert Grainier in den über 80 Jahren seines Lebens bis auf wenige Meilen dem Pazifik genähert. Gesehen hat er den Ozean nie.
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Denis Johnson, geboren 1949 in München als Sohn eines amerikanischen Offiziers, verbrachte seine Kindheit in Tokio und auf den Philippinen. Er zählt zur «Elite der US-Literatur» (Die Welt) und gilt als einer der größten Erzähler der Gegenwart. Zuletzt erschien von ihm Fiskadoro (2003) bei Rowohlt. Denis Johnson lebt heute in Arizona. Bettina Abarbanell wurde 1961 geboren. Sie hat Jonathan Franzens Korrekturen sowie Denis Johnsons Romane Engel und Schon tot ins Deutsche übertragen. Bettina Abarbanell lebt in Potsdam.
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Denis Johnson
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TRAIN DREAMS Novelle
Aus dem Amerikanischen von Bettina Abarbanell marebuchverlag
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marebibliothek Autoren erzählen ihre Geschichte vom Meer Herausgegeben von Denis Scheck Band 16
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Im Sommer 1917 beteiligte sich Robert Grainier an dem Versuch, einen chinesischen Arbeiter ums Leben zu bringen, der in den Lagern der Spokane International Railway im Idaho Panhandle beim Diebstahl erwischt worden war oder jedenfalls des Diebstahls bezichtigt wurde. Drei der Eisenbahner setzten den Banditen fest und zerrten ihn den langen Damm bis zu der im Bau befindlichen Brücke zwanzig Meter über dem Moyea hinauf. Ein endloser, volltönender Singsang entströmte dem Chinesen. Er zappelte und wand sich wie ein Wiesel im Sack und schlug mit der freien Faust rückwärtig nach dem Mann aus, der ihn am Hals hinter sich herschleifte. Als dieser Trupp an Grainier vorbeikam und er sah, dass die Männer in einiger Bedrängnis waren, sprang er ihnen bei und hatte alsbald einen der bloßen Füße des Missetäters in der Hand. Der Mann ihm gegenüber, Mr. Sears von der Geschäftsleitung der Spokane International, hielt den Gefangenen freilich fast wirkungslos unter der Achsel fest und war außer dem Chinesen, den niemand verstand,
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der Einzige, der während der ärgsten Schinderei etwas sagte: «Hol mich der Teufel, wenn wir je oben auf diesem Haufen ankommen, Jungs!» Heißt das, wir schleppen ihn ganz da hoch?, hätte Grainier gerne gefragt, doch es schien ihm besser, seinen Atem für den Kraftakt zu sparen. Sears lachte kurz auf, das Gesicht bleich vor Erschöpfung und Entsetzen. Sie fielen allesamt in den Staub, kamen hoch und fielen wieder, während der Chinese in Zungen redete und die vier dermaßen in Angst und Schrecken versetzte, dass er nun, was immer sie ursprünglich vorgehabt haben mochten, ein toter Mann war. Es blieb nichts mehr, als ihn von der Eisenbahnbrücke zu werfen. Jetzt waren sie auf gleicher Höhe mit den anderen, einer Gruppe von zwölf Männern, die, auf ihre Werkzeuge gestützt, in der Sonne standen und sich den Schweiß abwischten und den Fall beobachteten. Grainier hielt krampfhaft den schwieligen Fuß des Chinesen fest, verwundert über sich selbst, während der Mann, der den anderen Fuß hatte, auf einmal losließ, sich keuchend in den Dreck setzte und einen Tritt ins Auge kassierte, bevor Grainier die wild rudernde Gliedmaße zu fassen bekam. «Es war doch bloß Spaß. Bloß Spaß», sagte der am Boden sitzende Mann, und an seinen Kumpel gewandt: «He, Jel Toomis, geben wir᾿s auf.» – «Ich kann nicht», erwiderte nämlicher Mr. Toomis, «schließlich bin ich es, der ihn am Hals hat!», und lachte, während ein Ausdruck der Bestürzung über seine Züge huschte. «Also,
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ich hab ihn!», sagte Grainier und klammerte seine Arme noch fester um beide Füße des kleinen Teufels. «Ich hab den Mistkerl, ich bin euer Mann!» Das Hinrichtungskommando war jetzt in der Mitte des letzten fertig gestellten Brückenabschnitts angelangt, gut zwanzig Meter über den Stromschnellen, und die Männer gaben sich alle Mühe, den Chinesen hinunterzustoßen. Doch der überlistete sie, indem er sich unter ständigem Gejammer an ihre Arme und Beine krallte und urplötzlich losließ, um mit einer Hand den Balken unter sich zu packen. Er kam leicht von ihnen frei, weil sie ihn ohnehin loswerden wollten, schwang sich seitlich hinunter, bis er über der Schlucht hing, und hangelte sich am Skelett des nächsten Brückenabschnitts über den Fluss. Jetzt eilte der Kumpan von Mr. Toomis herbei und trat, auf einem Balken balancierend, nach den Fingern des Kerls. Der ließ sich wie ein Zirkusartist von Balken zu Balken der kreuzlagigen Konstruktion abwärts fallen. Einige der Arbeiter johlten und applaudierten ihm, während andere riefen, man solle den Bösewicht halten, auch wenn sie nicht genau wussten, weswegen er gejagt wurde. Mr. Sears zog einen großen alten Schwarzpulver-Revolver aus dem Halfter an seinem Gürtel und gab alle vier Schuss ab, doch vergebens. Der Chinese war verschwunden. ■■■
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Nach diesem Zwischenfall ging Grainier nicht direkt nach Hause, sondern machte einen Umweg von zwei Meilen, um im kleinen Laden des Eisenbahnstädtchens Meadow Creek eine Flasche Hood᾿s Sarsaparille-Extrakt für seine Frau Gladys und für seine kleine Tochter Kate zu kaufen. Es war heiß, als er durch den Wald und den Hügel hinauf lief, und bevor er sich die letzte Meile vornahm, machte er Halt, um im Moyea, an einer tiefen Stelle etwas stromaufwärts des Ortes, zu baden. Es war später Samstagnachmittag, und zur Vorbereitung auf den Abend planschten ein paar Eisenbahner aus Meadow Creek an dem Badeplatz. Sie gingen in voller Montur ins Wasser und setzten sich dann zum Trocknen auf die Steine, ehe der letzte Rest Tageslicht den Canyon verließ. Schuhe und Stiefel stellten sie beiseite und wateten, johlend und um sich spritzend, langsam bis zu den Schultern in die Flut. Viele der Männer, die nach ihren Waschungen fröstelnd auf den Steinen saßen, tranken Whiskey aus kleinen Flaschen. Hier und da ragten ein Arm und eine Hand mit einem schäbigen Hut aus dem Wasser, wenn einer sich den Kopf nass machte. Grainier sah niemanden, den er kannte. Er blieb für sich und behielt seine Stiefel und die Flasche Sarsaparille im Auge. Während er durch die Dämmerung nach Hause wanderte, begegnete Grainier dem Chinesen beinahe überall. Chinese auf der Straße. Chinese im Wald. Chinese auf leisen Sohlen, die Arme wie Taue, an denen Hände
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baumelten. Chinese im Bach, aus dem Wasser hervortänzelnd wie eine Spinne. ■■■
Er gab Gladys die Flasche Hood᾿s. Sie hatte einen Katarrh und saß mit dem Baby an der Brust im Bett neben dem Holzofen. Sie hätte ohne weiteres aufstehen und die Wäsche waschen und Kartoffeln und Forelle für das Abendessen klein schneiden können, aber sie hielten es lieber so, dass sie mit einer Flasche oder zwei des süß schmeckenden Hood᾿s-Tonikums im Bett liegen bleiben und sich von derartigen Arbeiten ausruhen durfte, wenn ihr der Kopf wehtat und der Schnupfen sie quälte. Auch Grainiers kleine Tochter sah verschnupft aus. Ihre Augen waren ein bisschen verkrustet, und Schleimbläschen blubberten unter ihren Nasenlöchern, während sie an der Brust ihrer Mutter saugte und schnaubte. Kate war vier Monate alt und immer noch ganz kahl. Sie schien ihn nicht zu erkennen. Das bisschen Geschniefe würde ihr nicht schaden, solange sie keinen Husten bekam. Grainier stand am Tisch in der Ein-Zimmer-Hütte und machte sich Sorgen. Er war beunruhigt. Der Chinese, da war er ganz sicher, hatte sie mit machtvollen Flüchen belegt, während sie ihn den Damm hinaufzerrten, und alles mögliche Böse konnte dabei herauskommen. Zwar staunte er rückblickend über die Raserei des Nachmittags, wunderte sich über die rohe Gewalt, die ihn mit
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sich fortgetragen hatte, als wäre er ein Samenkorn im Wind, und doch wünschte der junge Grainier, sie hätten es geschafft, den Chinesen einfach umzubringen, bevor er seine Flüche ausstieß. Er setzte sich auf die Bettkante. «Danke, Bob», sagte seine Frau. «Schmeckt dir deine Sarsaparille?» «Ja. Danke, Bob.» «Glaubst du, Katie kann sie rausschmecken, wenn sie bei dir trinkt?» «Klar kann sie das.» ■■■
In vielen Nächten hörten sie den Spokane International, wenn er zwei Meilen talabwärts auf seinem Weg nach Norden durch Meadow Creek fuhr. Auch heute wachte er von dem fernen Pfeifen auf und merkte, dass er allein in ihrem Strohbett lag. Gladys saß mit Kate auf der Ofenbank, kratzte kalte gekochte Haferflocken von den Topfrändern und ließ das Baby diesen Brei von ihren Fingerkuppen saugen. «Was glaubst du, Gladys, wie viel weiß sie wohl? Glaubst du, sie weiß so viel wie ein Hundewelpe?» «Ein Hundewelpe kommt allein zurecht, sobald die Hündin ihn nicht mehr säugt», sagte Gladys. Er wartete, dass sie ihm erklären würde, was das bedeutete. Sie dachte oft schneller als er.
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«Ein Menschenkind nicht», sagte sie. «Es kann nicht einfach losgehen und für sich sorgen, wenn es abgestillt ist. Ein kleiner Hund weiß mehr als ein Baby, bis das Baby Wörter lernt. Aber nicht nur zwei, drei. Ein Hund, der bei Menschen aufwächst, kennt ja auch ein paar Wörter – genauso viele wie ein Baby.» «Wie viele denn, Gladys?» «Du weißt schon», sagte sie, «die Wörter für seine Kunststücke und die Sachen, die man ihm befiehlt.» «Sag mir ein paar von den Wörtern, Glad.» Es war dunkel, und er wollte ihre Stimme hören. «Na ja, so was wie bring und komm her und sitz und Platz und bei Fuß. Für alles, was er kann, kennt er auch die Wörter.» In der Dunkelheit spürte er die Augen seiner Tochter auf sich gerichtet wie die eines in die Enge getriebenen Tiers. Es waren bloß seine Gedanken, die ihm einen Streich spielten, und doch fuhr ihm etwas Kaltes das Rückgrat hinunter. Er zitterte und zog sich die Steppdecke bis unters Kinn. Sein ganzes Leben lang konnte Robert Grainier sich an diesen einen Augenblick in dieser einen Nacht erinnern.
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Einundvierzig Tage später sahen Grainier und die anderen Männer seines Trupps dabei zu, wie die erste Eisenbahn den vierzig Meter breiten und zwanzig Meter tiefen Luftraum auf der von ihnen gebauten Brücke überquerte. Mr. Sears stand neben dem Zug, einer einzelnen Lok, hob seinen Vier-Schuss-Revolver und gab das Startsignal. Daraufhin löste der Lokführer die Bremse und sprang von der Maschine, und die Männer feuerten sie an, während sie gemächlich über den Moyea hinweg auf die andere Seite zuckelte, wo ein zweiter Mann wartete, um an Bord zu springen und sie zum Stehen zu bringen, bevor sie entgleiste. Die Männer johlten und grölten. Grainier war traurig zumute. Er konnte sich nicht erklären, warum. Er johlte und brüllte mit. Das Bauwerk sollte «Elf-Meilen-Abkürzungs-Brücke» heißen, weil es die weite Fahrt im Bogen um die Schlucht herum und über einen angrenzenden Pass überflüssig machte und der Spokane International die Wartung von elf Meilen Schienen und Schwellen ersparte.
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Was Grainier beim Bau der Elf-Meilen-Abkürzung erlebt hatte, weckte in ihm das Verlangen, bei anderen, ähnlich gewaltigen Unternehmungen dabei zu sein, wo Scharen von Männern ganze Waldstücke rodeten und Gebilde von ungekannten Ausmaßen zusammenmontierten, um gewaltige hölzerne Gerüste in die Luft unpassierbarer Abgründe hineinzuwirken, immer größer und länger und tiefer. 1920 zog er hinauf in den Nordwesten Washingtons, um bei Reparaturen an der Brücke über die Robinson-Schlucht, dem bis dahin großartigsten von allen Bauwerken dieser Art, zu helfen. Den Architekten war es gelungen, einen fünfundsechzig Meter tiefen und zweihundertsechzig Meter breiten Raum mit einer Eisenbahntrasse zu überbrücken, die eine Lokomotive und zwei mit Baumstämmen voll beladene Güterwagen zu tragen vermochte. Jetzt war die Robinson-Brücke an die dreißig Jahre alt, wacklig und besorgniserregend – niemand, nicht einmal der Lokführer, fuhr den Zug jemals selbst hinüber. Der Bremser fing die Bahn auf der anderen Seite ab. Als die Reparaturen fertig waren, zog Grainier mit der Simpson-Gesellschaft tiefer in den Wald hinein, um beim Holzschlagen zu helfen. Ein System kurzer Knüppeldämme durchzog die gesamte Gegend. Sie dienten zu nichts anderem, als Stämme aus dem Wald zu schaffen; Aufgabe der gut vierzig Mann, denen Grainier sich angeschlossen hatte, war es, die Baumriesen mit Hilfe von je sechs Pferden in Drahtseilreichweite der Polter zu befördern.
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An dem Polter kauerte eine gigantische Maschine, die der Vorarbeiter als Esel bezeichnete, ein Koloss mit zwei gewaltigen Eisentrommeln. Eine davon fierte Drahtseil aus, und die andere wickelte Drahtseil auf, sodass die Stämme zum Polter gezogen wurden, während gleichzeitig die Eisenhaken zum Verlader wanderten, der sie im richtigen Moment in die Drahtschlinge am nächsten Stamm einhakte. Die Maschine war ein altes, holzbefeuertes Ungetüm, das bebte und dröhnte und ächzte und dessen unentwegt entweichende Dämpfe wie ein Wasserfall röhrten, während die Pferde drüben auf dem Knüppeldamm gewissermaßen geräuschlos mächtige Bewegungen vollführten, weil der Tumult aus Dampf und Maschinenlärm alles andere übertönte. An dem Polter kam das Holz auf Güterwaggons und gelangte dann über die wundersame, leere Tiefe der Robinson-Schlucht hinweg und den Berg hinab zu jener Trasse, die verbunden war mit sämtlichen Bahnlinien des amerikanischen Kontinents. Inzwischen hatte Robert Grainier seinen fünfunddreißigsten Geburtstag gefeiert. Er vermisste Gladys und Kate, sein Mädelchen und sein kleines Mädelchen, doch er war zweiunddreißig Jahre lang Junggeselle gewesen, ehe er eine Frau gefunden hatte, und darum gewöhnte er sich leicht wieder an eine Einsamkeit, die ihm Halt gab, hier draußen zwischen den ungezählten Fichten. Grainier selbst arbeitete als Verlader – nicht an dem Polter, sondern unten im Wald, wo je zwei Säger die
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Fichten fällten, Entaster sie mit ihren Äxten säuberten und Holzhauer sie in sechs Meter lange Schäfte zerlegten, bevor die Verlader sie mit Drahtschlingen versahen, damit sie von den Pferden abtransportiert werden konnten. Grainier liebte seine Arbeit: die Anstrengung, die berauschende Erschöpfung, den tiefen Schlaf am Ende des Tages. Ihm gefiel das große Maß der Dinge im Wald, das Gefühl, fern und verloren zu sein, und die Vorstellung, dass ihm, mit so vielen Bäumen als Beschützern, nichts geschehen konnte. Einer seiner Kollegen allerdings, Arn Peeples, der als jüngerer Mann ein besonders zünftiger Säger gewesen war, behauptete, die Bäume selber seien Mörder und ein guter Säger könne wohl in neunundneunzig von hundert Fällen korrekt einschätzen, wo ein Baum landete, ja sogar durch das richtige Setzen von Keilen und Schneiden von Kerben einen Fünfzigtonner dazu bewegen, bergaufwärts zu schwenken und flink wie eine Nadel hinter ihm zu Boden zu fallen; und doch sei es möglich, dass es ihn beim hundertsten Mal mitten ins Gesicht traf und er mir nichts, dir nichts toter dalag als ein Stein. Er habe einmal beobachtet, sagte Arn Peeples, wie ein fünf Tonnen schwerer Baumstamm erschreckt aufgesprungen, vom Wagen geflogen und über sechs Pferde hinweggepoltert sei, und er habe alle sechs getötet. Nur den, der ihn in Frieden lasse, behandle ein Baum als Freund. Sobald die Sägezähne griffen, herrsche Krieg. Abgeschnitten von allem, was sie sonst hätte stören können, kämpfte der Trupp, mitunter über vierzig, nie
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jedoch weniger als fünfunddreißig Mann, von Sonnenaufgang bis zur Abendbrotzeit mit dem Wald. Sie fällten die riesigen Fichten und hackten sie in eben noch handhabbare Teile, und was sie leisteten, dachte Grainier bisweilen, konnte sich mit dem Bau der Pyramiden messen, veränderten sie doch das Antlitz der Berghänge; sie sprachen wenig, riefen einander das Nötigste zu, lebten stets mit dem klebrigen Gefühl von Pech in ihren Bärten, und der Schweiß wusch den Staub aus ihren langen Unterhosen und verkrustete ihre Hals- und Gelenkfalten, während der Pechgeruch so stechend war, dass er ihnen die Kehlen wund schabte und in ihren Augen brannte und sogar den Gestank nach wilden Tieren und Pferdemist überdeckte. Am Ende des Tages schliefen die Männer dort ein, wo sie sich fallen ließen. Einige wenige durften in Holzhütten übernachten. Die Mehrzahl wohnte in Zelten: alten mit Juteflicken übersäten Exemplaren; Arn Peeples behauptete, das Leintuch stamme ursprünglich von Infanterie-Zelten des Sezessionskriegs, aus den Beständen der Unionsstaaten. Er verwies auf Blutflecken im Stoff. Manche dieser Zelte hätten anschließend in den Indianerkämpfen die amerikanische Kavallerie beherbergt und sicher länger gedient, mutmaßte Arn Peeples, als alle, denen sie je Unterschlupf geboten hätten. «Lasst mich mal ran, Jungs», sagte er gern. «Wenn ich mit dem Hacken anfange, kommt ihr morgens zur Arbeit, und die Späne von gestern fliegen immer noch durch die Luft ...»
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«Ich bin für die Sommer-Holzhauerei geboren», sagte Arn Peeples. «Ihr Minnesota-Jungs beklagt euch über die Hitze. Ich dagegen kriege mein Räderwerk überhaupt erst in Gang, wenn᾿s draußen über fünfzig sind. Ich hab mal auf einem Gipfel in der Nähe von Bisbee, Arizona, gearbeitet, da waren wir bloß elf oder zwölf Meilen von der Sonne entfernt. Das Thermometer zeigte 116 Grad Fahrenheit an, und jeder Grad war einen halben Meter lang. Und zwar im Schatten. Und dabei gab᾿s da nirgendwo Schatten.» Er nannte seine Holzhauer-Kollegen durchweg «Minnesota-Jungs». Auch wenn, soweit sich ermitteln ließ, keiner aus dem Trupp Minnesota je zu Gesicht bekommen hatte. Arn Peeples war aus dem Südwesten zu ihnen gestoßen und behauptete, in Tombstone die Earp-Brüder gesehen und sogar mit ihnen gesprochen zu haben; «Letzter Dreck» nannte er die berühmten Sheriffs. In seiner Jugend hatte er in den Bergwerken Arizonas gearbeitet, dann jahrzehntelang überall im Holzfällerland Baumstämme zersägt, und nun trieb er sich ziellos herum, war gebrechlich und ausgemergelt, einer, der unablässig jammerte und harter Arbeit aus dem Weg ging, der älteste Mann im Wald. Wirklich gebraucht wurde er nur gelegentlich. Wenn ein Tunnel gegraben werden musste, war er der Pulverjunge, der die Ladungen setzte und sich seinen Weg in den Fels hineinsprengte, tiefer und tiefer, bis er auf der anderen Seite herauskam – ein paar Männer räumten
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nach jeder Explosion das Geröll für ihn beiseite. Er war abergläubisch und machte alles genau so, wie er es im Süden Arizonas, in den Kupferminen der Mule Mountains, gelernt hatte. «Ich war dabei, als Mr. John Jacob Warren sein gesamtes Vermögen verlor. War sturzbetrunken und protzte rum, er könnte schneller laufen als ein Gaul.» Das mochte die Wahrheit sein. Arn Peeples neigte nicht zum Schwindeln, jedenfalls behauptete er nicht, alle möglichen berühmten Leute zu kennen, mit Ausnahme der Earp-Brüder; aber von John Jacob Warren hatte noch nie jemand gehört. «Sagt, er kann schneller rennen als ein dreijähriger Hengst! Stand da auf der Straße und schwankte hin und her und schielte, so betrunken war er – der reichste Mann von ganz Arizona! –, und dann rennt er los, und über die ganze Strecke glotzt er dem Hengst auf den Arsch. Hat seine gesamte Copper-Queen-Mine gewettet. Und verloren! Mit dem würd ich gern mal ᾿n Spielchen wagen! Aber jetzt ist er blank bis auf den Hosenboden und als Wettpartner nicht mehr zu gebrauchen.» Manchmal setzte Peeples die Sprengladung, drückte den Hebel, um sie zu zünden, und es geschah gar nichts. Dann ergriff eine allgemeine Stille und Anspannung den Wald. Die Männer, die eine halbe Meile weiter unten zu tun hatten, bekamen irgendwie mit, dass es einen Blindgänger zu entschärfen gab, und ließen von ihrer Arbeit ab. Peeples kramte seine paar Habseligkeiten aus den Taschen – eine Messinguhr, einen Zinnkamm, einen silber-
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nen Zahnstocher –, legte sie auf einen Baumstumpf und verschwand im Tunnel, ohne sich noch einmal umzuschauen. Wenn er wieder herauskam und erneut den Hebel drückte und das Dynamit mit einem Rums losging, johlten die Männer, eine Staubwolke schoss aus dem Tunnel, und pulverisiertes Gestein regnete auf alle herab. Es schien ausgemacht, dass Arn Peeples mit Donnergetöse und in Rauchschwaden gehüllt aus der Welt scheiden würde, doch er ging ganz anders fort: Ein toter Lärchenast, der aus großer Höhe auf ihn herabfiel, traf ihn am Hinterkopf – jene Art unseliger Knorren, die aus gutem Grund «Witwenmacher» genannt wurden. Der Schlag haute ihn dusslig, doch er kam rasch wieder zu sich und schien der Alte zu sein, beklagte sich bloß, seine Wirbelsäule fühle sich ganz «knotig zwischen den Knöcheln» an und er müsse «irgendwie so krumm gebückt laufen». In den Tagen danach erlitt er eine Reihe von Schwindelanfällen, wurde verträumt und vergesslich und blieb, von Schüttelfrost und Fieber geplagt, den ganzen Sonntag liegen, und am Montagmorgen fand man ihn tot in seinem Bett, die Decken bis unters Kinn hochgezogen und «ein dermaßen tröstlicher Anblick», wie der Vorarbeiter sagte, «dass man ihn gar nicht stören mochte, sondern ihn am liebsten gleich so, mit seinem Bett und allem, in ein großes, langes, breites Grab hinabgelassen hätte». Ein stehender Baum könne ein Freund sein, hatte Arn Peeples gesagt, doch von ebensolch einem Baum war sein Tod auf ihn herabgekommen.
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Arns bester Freund, Billy, ein alter Mann wie er, im Allgemeinen aber stumm, rang sich am Grab ein paar Sätze ab: «Arn Peeples hat nie in seinem Leben irgendwen betrogen», sagte er. «Er hat nie was geklaut, nicht mal ein Zuckerstängel als ganz, ganz kleiner Junge, und er ist ziemlich alt geworden. Ich glaub wohl, wir können alle daraus lernen, dass es sich lohnt, ehrlich zu sein, dann kommen wir auch alle miteinander aus. Im Namen Jesu, amen.» – «Amen», sagten die anderen. «Ich wünschte, ich könnte uns allen einen Tag freigeben», sagte der Vorarbeiter. «Aber wir müssen an die Firma denken, und an den Krieg.» Wegen des Kriegs in Europa war die Nachfrage nach Fichtenholz groß. Zwar war achtzehn Monate zuvor ein Waffenstillstand vereinbart worden, doch der Vorarbeiter glaubte, ein Waffenstillstand sei etwas Vorübergehendes und dauere bloß so lange, bis der Kampf wieder aufgenommen und eine Seite die andere bis auf den letzten Mann niedermetzeln würde. Am Abend diskutierten die Männer Arns Vorzüge und Schwächen und gingen die Einzelheiten seiner letzten Stunden durch. Hatte seine Kopfverletzung ihm die Sinne verwirrt, oder war es das Fieber, das so plötzlich über ihn gekommen war? In seinem Wahn hatte er irres Zeug geredet – «HOCHWÜRDEN HÖHER WERDENDE ROCKIES!», hatte er geschrien – «Vordermann pack Räuber-Schurke! Vorsicht! Vorsicht!» – und die Geister seiner Vergangenheit angerufen und gesagt, seine Schwester und ihr Mann hätten ihm einen Besuch
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abgestattet, dabei waren sie beide, wie Billy mit Sicherheit wusste, seit vielen Jahren tot. Billy selber hatte darauf zu achten, dass der Motor der Doppeltrommel stets gut bewässert und geölt blieb und dass die Drahtseile intakt waren. Das war leichte Arbeit, Alt-Männer-Arbeit. Der eigentliche Schmierer ihres Trupps war Harold, der zwölfjährige Sohn des Vorarbeiters, der mit einem Eimer Haifischöl vor den Pferden herlief und das Öl mit einem Lappen aus Juteleinen auf die Holzschienen schmierte, damit die gewaltigen Stämme besser glitten. Eines Morgens, es war ein Mittwochmorgen, gerade mal zwei Tage nach Arn Peeples᾿ Tod und Begräbnis, erlitt der kleine Harold selber einen Schwindelanfall und fiel vornüber auf seine Arbeit, und die Pferde scheuten und kippten beinahe die Ladung um in dem Bemühen, ihn nicht niederzutrampeln. Der Junge wäre gewiss verstümmelt und getötet worden, wäre nicht dank eines glücklichen Zufalls Grainier zur Stelle gewesen, der gerade auf die andere Seite der Holzrutsche hinüber wollte und den Jungen an den Hosenbeinen aus dem Weg zerrte. Der Vorarbeiter kümmerte sich den ganzen Nachmittag um seinen Sohn und badete dessen Stirn mit Quellwasser. Der Junge fieberte und war nicht bei Sinnen, und ebendas war es wohl, was ihn vor den großen Gäulen zu Fall gebracht hatte. Am selben Abend bekam auch Billy Schüttelfrost, warf sich auf seinem Feldbett von einer Seite auf die andere und redete irre bis weit nach Mitternacht. Abgesehen
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von den paar Sätzen am Grab seines Freundes hatte er, solange die Männer ihn kannten, wohl kaum zwei oder drei Worte von sich gegeben, doch jetzt hielt er seine nächsten Bettnachbarn wach, und die, deren Schlafplätze weiter entfernt lagen, berichteten später, sie hätten ihn nachts in ihren Träumen rufen hören, seinen eigenen Namen zumeist – «Wer da? Wer da?», hatte er gerufen. Billy? Billy? Bist du das, Billy?» Harolds Fieber sank, doch Billys blieb unverändert hoch. Der Vorarbeiter benahm sich, als würde er von Furien gejagt; er lief im Lager umher und verfolgte die Männer, griff sich jeden, den er zu fassen bekam, bohrte ihm einen Finger in die Gelenke, schob ihm mit dem Daumen die Augenlider zurück und drückte ihm die Kiefer auseinander wie ein Händler beim Viehkauf. «Für diesen Sommer sind wir fertig», teilte er den Männern mit, als sie sich am Freitag zum Abendessen anstellten. Er rechnete jedem vor, wie viel Lohn ihm zustand – Grainier hatte den ganzen Sommer Geld nach Hause geschickt und immer noch vierhundert Dollar gut. Am Sonntagabend, als sie alles aufgeräumt und die letzten Stämme zu Tal befördert hatten, lagen sechs weitere Männer mit Schüttelfrost danieder. Am Montagmorgen gab der Vorarbeiter jedem seiner Leute einen VierDollar-Bonus und sagte: «Verzieht euch von hier, Jungs.» Inzwischen hatte auch Billy das schwerste Stadium der Krankheit überstanden. Doch der Vorarbeiter sagte, er fürchte eine Grippe-Epidemie wie die von 1897. Damals
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sei er selber zur Vollwaise geworden, innerhalb einer einzigen Woche habe er seine gesamte Familie mit dreizehn Geschwistern sterben sehen. Grainier empfand Mitleid mit ihm. Der Vorarbeiter, ein blauäugiger Mann mittleren Alters, der außer mit seinem Sohn Harold mit niemandem viel verkehrte, war ein starker und fairer Boss gewesen, und er hatte keinem je erzählt, dass er ohne Familie aufwachsen musste. Dies war Grainiers erster Sommer im Wald, und die Robinson-Brücke war die erste von mehreren Eisenbahnbrücken, an deren Bau oder Reparatur er sich beteiligte. Jahre später, Jahrzehnte vielmehr, 1962 oder 1963, beobachtete er junge Monteure auf einer Brücke, die den U.S. Highway 2 über die tiefste Schlucht des Moyea führte, keinen Deut weniger breit und tief als die RobinsonSchlucht. Der alte Highway machte einen großen Umweg und querte den Fluss an einer seichten Stelle; der neue schoss in gut hundert Metern Höhe geradewegs über den Abgrund. Grainier bestaunte die jungen Leute, wie sie einander die Schutzhelme vom Kopf fegten und ins Sicherheitsnetz fallen ließen, zehn oder fünfzehn Meter unter ihnen, um dann selbst hinterherzuspringen, wie toll in den Netzstricken auf und nieder zu hüpfen und an den Strängen wieder zur hölzernen Laufplanke hinaufzuklettern. Früher war er selber ein wahrer Schimpanse im Brückengebälk gewesen, doch inzwischen konnte er sich nicht mal mehr auf einen Barhocker setzen, ohne dass ihm ein kleines bisschen mulmig wurde. Während er die
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Burschen beobachtete, besann er sich darauf, dass er seit beinahe achtzig Jahren auf der Welt war und erlebt hatte, wie sie sich weiter- und weiterdrehte. Ein paar Jahre zuvor, Mitte der Fünfziger, hatte Grainier einmal zehn Cent bezahlt, um den Dicksten Mann der Welt zu betrachten. Der Dickste Mann der Welt saß auf einem Diwan in einem Wohnwagen, in dem er von Stadt zu Stadt zog. Um ihn auf diesen Diwan zu hieven, hatte man das Dach des Wohnwagens abnehmen und ihn mit einem Kran herunterlassen müssen. Er brachte fast fünfhundert Kilo auf die Waage. Kolossal und schweißtriefend, mit Schnurrbart und Spitzbart und einem einzelnen goldenen Ring im Ohr wie ein Pirat, saß er da, mit nichts als goldglänzenden kurzen Hosen bekleidet, und sein Fleisch quoll von einem Ende des Diwans zum anderen auf beiden Seiten hervor, schwappte über und hing fast bis auf den Boden herab wie ein angehaltener Wasserfall, und irgendwo aus diesem phänomenalen Haufen seiner selbst ragten Kopf und Arme und Beine. Die Menschen standen Schlange, um einmal kurz im Türrahmen zu stehen und hineinzuschauen. Er sagte jedem von ihnen, sie sollten für zehn Cent ein Bild von ihm kaufen, von dem Stapel neben dem Fenster dort. Später in seinem langen Leben brachte Grainier die Chronologie der vergangenen Ereignisse durcheinander und war sicher, dass er am selben Tag – oder vielmehr Abend –, an dem er den Dicksten Mann der Welt gesehen hatte, auch an der Fourth Street in Troy, Montana,
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sechsundzwanzig Meilen östlich der Brücke, gestanden und einen Waggon beobachtet hatte, in dem der seltsame junge Hillbilly-Entertainer Elvis Presley saß. Presleys Privatzug hatte aus irgendeinem Grund, vielleicht weil etwas repariert werden musste, in dieser kleinen Stadt angehalten, die nicht einmal einen eigenen Bahnhof wert war. Der berühmte junge Mann war kurz in einem Fenster erschienen und hatte grüßend die Hand gehoben, doch Grainier war zu spät aus dem Friseurgeschäft auf der anderen Straßenseite herausgekommen, um es mit eigenen Augen zu sehen. Er hatte es sich nur von den anderen erzählen lassen, die im späten Dämmerlicht neben dem tiefen Bass der leer laufenden Diesellok aufgereiht standen und kaum oder nur ganz leise sprachen, in Ehrfurcht erstarrt vor dem Geheimnis und der Erhabenheit eines so großen und so einsamen Jünglings. Grainier hatte auch einmal ein Wunderpferd gesehen und einen Wolfsjungen, und er war 1927 in einem Doppeldecker durch die Luft geflogen. Seine Lebensgeschichte hatte mit einer Eisenbahnfahrt begonnen, an die er sich nicht erinnerte, und sie endete damit, dass er vor einem Eisenbahnzug herumstand, in dem Elvis Presley saß.
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Als Kind war Grainier ganz allein nach Idaho geschickt worden. Von wo genau man ihn losgeschickt hatte, wusste er nicht, denn seine Cousine sagte das eine und der ältere seiner beiden Vettern etwas anderes, und er selbst konnte sich nicht erinnern. Der ältere seiner Vettern behauptete obendrein, sie seien gar keine Vettern, während seine Cousine sagte, doch, doch – ihre Mutter, die Grainier als seine so gut wie ihre Mutter ansah, sei seine Tante, die Schwester seines Vaters. Einig waren sich alle drei darin, dass Grainier mit der Eisenbahn gekommen war. Aber wie hatte er seine ursprünglichen Eltern verloren? Das erzählte ihm keiner. Als er in dem Städtchen Fry in Idaho aus dem Zug stieg, war er sechs, vielleicht aber auch sieben Jahre alt, denn sein letzter Geburtstag schien ihm lange her zu sein, und es war möglich, dass er den Tag verpasst hatte, zumal er ohnehin nicht sagen konnte, auf welches Datum er fiel. Er wusste sein Lebtag nur so viel, dass er irgendwann im Jahre 1886 entweder in Utah oder in Kanada
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geboren worden und mit einem Zug der 1892 fertig gestellten Great Northern Railroad zu seiner neuen Familie gekommen war. Er hatte mehrere Tage im Zug verbracht, mit einem umgedrehten Kassenzettel an der Brust, auf dem der Name seines Reiseziels stand. Seinen Proviant hatte er gleich am ersten Tag aufgegessen, doch alle möglichen Schaffner fütterten ihn bis ans Ende seiner Reise durch. Das ganze Abenteuer ließ ihn die Dinge vergessen, sobald sie geschehen waren, und schon kurze Zeit später konnte er sich an den frühesten Teil seines Lebens nicht mehr im Geringsten erinnern. Seine Cousine sagte, er sei aus dem Nordwesten Kanadas gekommen und habe, als sie ihn kennen lernten, nur Französisch gesprochen, und sie hätten das Französisch erst aus ihm herauspeitschen müssen, um Platz für die englische Sprache zu schaffen. Ihre beiden jüngeren Brüder, seine Vettern, behaupteten, er sei ein Mormone aus Utah. Klein, wie er damals war, kam er nie auf die Idee, sich von seiner Tante und seinem Onkel erzählen zu lassen, wer er sei. Als es ihm schließlich einfiel, waren viele Jahre vergangen, und sie waren beide längst gestorben. In seiner frühesten Erinnerung sah er sich in Fry neben seinem Onkel Robert Grainier dem Ersten stehen, den er schnell Vater zu nennen gelernt hatte, sah sich gemeinsam mit dem nach Rauch riechenden Mann, dem er nur bis zum Ellbogen reichte, auf der ungepflasterten Straße in Sichtweite des Kootenai River stehen und die Massendeportation von einhundert oder mehr chine-
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sischen Familien aus der Stadt beobachten. Weiter unten, am Ende der Straße, beim Verschiebebahnhof der Bonner Lumber Company, waren Männer mit Äxten, Pistolen und Gewehren in den Händen postiert, die kaum ein Wort sagten, während die fremden Menschen wie eine Vogelschar ununterbrochen schnatterten, derweil sie auf drei Plattformwagen kletterten und die Kinder in ihre Mitte trieben, fort von den Rändern der offenen Wagen. Die kleinen, flachgesichtigen Männer saßen bei Abfahrt des Zuges mit angezogenen Knien und vor den Schienbeinen verschränkten Händen an der Außenseite, und erst Jahrzehnte später, als er bereits ein erwachsener Mann war und um ein Haar einen Chinesen umgebracht hatte – ihn hatte umbringen wollen –, machte Grainier sich Gedanken darüber, wohin der Zug sie verfrachtet hatte. Die meisten waren etwa dreißig Meilen weiter westlich zwischen den Städtchen Troy und Libby in Montana gelandet, auf einem Stück Land am Ufer des Kootenai, das später Chinesisches Becken genannt wurde. Als Grainier anfing, beim Brückenbau zu arbeiten, hatte sich die Gemeinschaft bereits aufgelöst; nur einige wenige lebten noch in der Gegend verstreut, und niemand fürchtete sich mehr vor ihnen. Der Kootenai floss auch an Fry vorbei. Grainier hatte lückenhafte Erinnerungen an eine Woche, in der das Wasser über die Ufer trat und den niedriger gelegenen Teil von Fry überflutete. Ein paar der wackligsten Häuser schwammen davon und brachen, stromabwärts treibend,
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auseinander. Das Postamt wurde unterspült und fortgetragen, und Grainier erinnerte sich, dass er von irgendjemandem, vielleicht seinem Vater, hochgehoben wurde, über den Köpfen einer großen Menge von Leuten wieder auftauchte und zusah, wie das Gebäude auf den Fluten davonsegelte. Später fanden Kanadier das Postamt hundert Meilen flussabwärts in British Columbia, wo es in flachem Wasser gestrandet war. Robert und seine neue Familie wohnten in der Stadt. Nur zwei Türen weiter führte ein kahlköpfiger Mann, stets im Drillichkittel, stets ohne Hut – ein großer Mann mit sehr kleinen, kräftigen Händen –, einen Laden, in dem er Stiefel flickte. Manchmal, wenn er nirgends zu sehen war, machte eins der Kinder sich den Spaß, rasch hineinzuschlüpfen und einen Klacks Bienenwachs aus dem Weckglas auf seiner Werkbank zu kratzen. Der Flickschuster benutzte es dazu, seinen Faden zu wachsen, wenn er zähes Leder nähte, doch die Kinder lutschten es wie Bonbons. Der Schuster für sein Teil kaute Tabak wie viele andere auch. Eines Tages erwischte er die Nachbarskinder, als sie gerade an seiner Tür vorbeiwollten. «Schaut her», sagte er. Er beugte sich vor und spuckte einen halben Mund voll in eine Konservenbüchse, die dicht neben einem der Tischbeine zu seinen Füßen stand. Er nahm sie hoch und wirbelte die paar Fingerbreit trüben Speichels darin im Kreis herum. «Na, Kinder, wollt ihr hiervon mal probieren?»
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Sie antworteten nicht. «Kommt schon, trinkt! – falls ihr Lust habt», sagte er. Sie antworteten nicht. Er goss die scheußliche Flüssigkeit in sein Bienenwachsglas und modderte sie mit einem Finger um und um, hielt ihnen den Finger vor die Nasen und brüllte: «Nehmt ruhig, wann immer euch danach ist!» Er lachte und lachte. Dabei schaukelte er in seinem Stuhl vor und zurück und wischte sich die kleinen Finger an seinem Drillichschoß ab. Leise Enttäuschung schimmerte in seinen Augen, als er sich umschaute und niemanden sah, dem er von seiner List erzählen konnte. 1899 wurden die Städte Fry und Eatonville unter dem Namen Bonners Ferry vereint. Im Schulhaus von Bonners Ferry brachte man Grainier Lesen und Rechnen bei. Er war nie ein begeisterter Schüler, aber er lernte, auf Papier gedrucktes zu entziffern, und das half ihm, sich in der Welt zurechtzufinden. Nach dem Tod seiner Tante und seines Onkels Helen und Robert Grainier lebte er bei seiner Cousine Suzanne, die inzwischen eine eigene Familie hatte. Von seinem dreizehnten oder vierzehnten Lebensjahr an ging er nicht mehr zur Schule und wurde – ohne Eltern, die ihm dreinreden konnten – zum Tagedieb. Eines Morgens, als er nicht weit von der Stadt, eine knappe Meile flussaufwärts, im Kootenai fischte, sprach ihn ein Landstreicher an, ein «Stromer», wie seinesgleichen genannt wurde, der zwischen ein paar Birken versteckt
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mit verletztem Bein auf einer schmuddeligen Lagerstatt hockte. «Komm mal her, junger Freund», rief der Stromer. «Bitte – bitte! Mein Knie ist kaputt, die Sehnen sind durch – und ich muss ein paar Dinge loswerden.» Der junge Robert zog seine Angel ein und legte die Rute beiseite. Er kletterte die Böschung hinauf und blieb drei Meter von dem Mann entfernt stehen, der mit ausgestreckten Beinen an einen Baum gelehnt dasaß. Er war barfuß und hatte das linke Bein auf eine Unterlage aus immergrünen Zweigen gebettet. Seine alten Schuhe standen links und rechts von ihm. Er war bärtig und staubgemasert, und überall klebten kleine Teile des Waldes an ihm. «Ja, schau nur hin. So sieht einer aus, der ermordet wurde», sagte er. «Ich bitte dich nicht mal, mir einen Schluck Wasser zu holen», sagte der Mann. «Meine Kehle ist zwar trocken wie ᾿n Stiefel, aber ich sterbe sowieso, da braucht mir keiner mehr irgendeinen Gefallen zu tun.» Robert war wie gelähmt. Er hatte den Eindruck, als bewege sich eine Mundhöhle in einem Haufen aus Blättern und Lumpen und verfilztem braunem Haar. «Da wär᾿n bloß noch ein, zwei Dinge zu sagen, die ich sonst mit ins Grab nehmen müsste ...» «Also», sagte er. «Dieser Kerl, sie nennen ihn Big-Ear Al, hat mir die Kniekehle aufgeschlitzt. Und das muss ich unbedingt loswerden: Ich weiß, dass er es war, der mich umgebracht hat. Das ist das Erste. Das sag mal deinem Sheriff weiter, mein Sohn. William Coswell Haley, aus
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St. Louis, Missouri, wurde ausgeraubt und umgebracht, und zwar von keinem anderen als dem Stromer Big-Ear Al, der ihm das Knie aufgeschlitzt hat. Hat sich mein Vierzehn-Dollar-Bündel geschnappt, als ich grade schlief, und die Sehnen in meiner Kniekehle durchgeschnitten, dass ich nicht hinter ihm herrennen kann. Mein Bein stinkt», sagte er. «Ich lieg schon so lange hier fest, dass die Fäulnis eingesetzt hat. Du weißt, wie das geht. Die Fäulnis wandert, und irgendwann bin ich tot bis unter die Augen. Eine Leiche, die sehen kann. Und denken. Und um den vierten Tag rum werd ich ganz und gar tot sein. Ich weiß nicht, was dann mit uns geschieht – ob wir im Grab weiter denken können oder zum Himmel fliegen oder zum Teufel fahren. Aber eins möchte ich noch loswerden, denn man kann ja nie wissen: Ich heiße William Coswell Haley und bin zweiundvierzig Jahre alt. Bis vor gut vier Jahren war ich ᾿n anständiger Mann, mit ᾿ner Arbeit und ᾿ner Zukunft in St. Louis, Missouri. Meine Nichte Susan Haley war damals ungefähr zwölf Jahre alt, und da ich in jenen Tagen bei meinem Bruder im Haus lebte, fing ich an, in der Nacht zu ihr ans Bett zu gehen. Ich konnte nicht mehr schlafen – mein Herz raste nur so, wenn ich auf meiner Pritsche lag –, bis ich aufstand und mich ins Zimmer des Mädchens stahl und an ihr Bett trat. Bloß dastand, ganz still. Sie wachte nie auf. Nicht mal in jener Nacht, als ich über ihre Bettdecke strich. Ich berührte ihr Gesicht, und sie wachte nicht auf, ich griff nach ihrem Fuß, und sie regte
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sich nicht. In einer anderen Nacht zog ich an ihrer Decke, und sie lag da wie tot. Ich berührte sie und hob ihr Nachthemd an
und erlaubte mir jede kleine Freiheit mit ihr. Jede kleine Freiheit. Und nie wachte sie auf. Und so wurde es zu meiner Gewohnheit. Nacht für Nacht. Jede kleine Freiheit. Sie wachte nie auf. Eines Tages kam ich nach Hause – ich hab in der Kerzenfabrik gearbeitet, da kriegte man leicht einen Job, wenn man sonst keinen hatte. Fast nur alte Muttchen arbeiteten dort, aber sie hätten jeden genommen. Ich kam also nach Hause, es war ein nasser Wintertag, und meine Schwägerin Alice Haley hockte im Hof auf dem glitschigen Gras. Hockte da einfach so am Boden. Und brüllte wie ein Baby. ‹Was ist passiert, Alice?› ‹Mein Mann hat unsere kleine Tochter Susan verprügelt! Mit einem Stock! Er hat sie mit einem Stock verprügelt!› ‹Guter Gott, ist sie verletzt›, fragte ich, ‹oder sind᾿s nur ihre Gefühle ?› ‹Verletzt? Verletzt?›, schreit sie mich an – ‹Tot ist sie – mein kleines Mädchen ist tot!› Ich bin nicht mal mehr ins Haus gegangen. Hab alles, was mir gehörte, dagelassen, bin zur Eisenbahn gelaufen, hab mich auf einen Plattformwagen gesetzt und mich von Stund an nie weiter als hundert Meter von den Gleisen wegbewegt. Überall im ganzen Land bin ich gewesen. In Kanada auch. Nie weiter als hundert Meter von den Schienen und Schwellen weg.
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Die kleine Susan hatte ein Kind im Leib, das war᾿s. Ihre Mutter hat es mir selbst erzählt. Und ihr Vater hat auf sie eingeprügelt, um ihr das arme Kind auszutreiben. Hat so lange auf sie eingeprügelt, bis er sie umgebracht hatte.» Ein paar Minuten lang sagte der sterbende Mann nichts. Er schnappte nach Luft, stützte seine Hände links und rechts von sich auf den Boden, als wolle er sich anders hinsetzen, fände aber nicht die Kraft dazu. So wie er keuchte und schnaufte, schien er einfach nicht genügend Luft in seine Lungen zu bekommen. «Ich brauch jetzt doch mal einen Schluck Wasser.» Er schloss die Augen und hörte auf, nach Atem zu ringen. Als Robert näher trat, überzeugt, dassder Mann tot war, sagte William Haley, ohne die Augen zu öffnen: «Bring᾿s mir einfach in dem alten Schuh da.»
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Der Junge erzählte niemandem von William Coswell Haley. Dem Sheriff nicht, seiner Cousine Suzanne nicht, und auch sonst keinem. Er brachte dem Mann einen Schluck Wasser in dessen eigenem Stiefel und ließ William Haley in seiner Sterbestunde allein. Von den vielen Versäumnissen, die ihm in seinen jungen Jahren hätten vorgehalten werden können, war dieses das eigensüchtigste und feigste. Aber vielleicht hatte der Vorfall seine Wirkung auf ihn, auch wenn niemand ihr auf den Grund gekommen wäre, denn Robert Grainier fügte sich und zählte für den Rest seiner Jugend zu den angestammten Arbeitskräften der Stadt, die sich bei der Eisenbahn oder den Unternehmerfamilien der Gegend, den Eatons, Frys oder Bonners, verdingten, und er fand fast immer Arbeit, wenn er welche suchte, denn er blieb dem Alkohol und allem, was unziemlich war, fern und galt als ein zuverlässiger Mann. Sein ganzes drittes Lebensjahrzehnt hindurch arbeitete er im Umkreis der Stadt, und man hätte ihm nachsa-
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gen können (aber niemand sagte ihm je etwas nach), dass er sich für wenige Dinge interessierte. Auch mit einunddreißig hackte er noch Feuerholz, belud Lastwagen und schloss sich wechselnden Arbeitstrupps an, die aus zupackenderen Männern bestanden als ihm. Dann begegnete er Gladys Olding. Einer seiner Vettern, er wusste später nicht mehr, welchem von ihnen er zu danken hatte, nahm ihn mit in den Gottesdienst der Methodisten, und da saß sie, gleich auf der anderen Seite des Mittelgangs, ein zierliches junges Mädchen, das mit einer sanften Stimme, die er mühelos heraushörte, alle Lieder mitsang. Hinterher gab es auf dem Kirchhof Limonade und Gebäck, und dort stellte sie sich ihm einfach vor, mit einem unbefangenen Lächeln, als täten junge Mädchen so etwas jeden Tag, und vielleicht taten sie das auch – Robert Grainier wusste es nicht, denn Robert Grainier blieb Mädchen für gewöhnlich fern. Gladys sah um einige Jahre älter aus, als sie es war, weil sie, wie sie ihm erklärte, in einem Haus auf sonnigem Weideland aufgewachsen sei und zu viel Zeit im Sommerlicht verbracht habe. Ihre Hände waren rau wie die eines fünfzigjährigen Mannes. Sie sahen einander häufig, obwohl Grainier, so wie ihre Freundschaft beschaffen war, sich fast nur bei den sonntäglichen Gottesdiensten und der Gebetsrunde am Mittwochabend mit ihr treffen konnte. Als der Sommer in voller Blüte stand, lud er sie zu einem Spaziergang entlang der River Road ein, um ihr sein eben erworbe-
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nes Grundstück auf dem kurzen Steilufer oberhalb des Moyea zu zeigen. Er hatte es dem jungen Glenwood Fry abgekauft, der von einem Automobil träumte und sich schließlich eins zulegen konnte, indem er anderen jungen Leuten viele kleine Stücke Land verkaufte. Grainier erzählte ihr, dass er versuchen wolle, hier etwas anzubauen. Der beste Platz für ein Haus liege gleich unterhalb eines spärlich bewachsenen Hügels und sei über einen kleinen Pfad zu erreichen; ihn einzuebnen werde ein Leichtes sein, er brauche nur die Steine, aus denen er bestehe, fortzuschaffen. Er werde mehr Platz gewinnen, wenn er Bäume für den Bau einer Hütte schlage, und die Stümpfe müsse er nicht unbedingt herausgraben, denn er könne seinen Garten fürs Erste um sie herum anlegen. Ein Weg von ungefähr einer halben Meile führe durch dichten Wald auf eine Wiese, die der inzwischen verstorbene Willis Grossling einige Jahre zuvor freigeholzt habe. Solange er keine ganze Herde über die Wiese schicke, habe Grosslings Tochter gesagt, könne Grainier getrost seine Tiere dort weiden lassen. Aber er wolle ohnehin nicht mehr als ein paar Schafe und Ziegen halten. Vielleicht noch eine Milchkuh. All dies erklärte Grainier Gladys, ohne ihr zu erklären, warum er es ihr erklärte. Er hoffte, sie wusste es auch so. Ja, er war sich eigentlich recht sicher, denn sie hatte für diesen Ausflug das gleiche Kleid angezogen, das sie sonst in der Kirche trug. Das war an einem heißen Junitag. Sie hatten sich von
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Gladys᾿ Vater einen Handwagen geliehen und ein Picknick in zwei Körben eingepackt. Sie wanderten zu Grosslings Wiese und wateten durch Gänseblümchen, die ihnen bis zu den Knien reichten. Neben einem kleinen Frühlingsbach, der durch das Gras rieselte, breiteten sie eine Decke aus und legten sich rücklings darauf. Grainier fand, dass die Weide ein wunderschöner Ort war. Jemand sollte sie malen, sagte er zu Gladys. Die Butterblumen nickten im Wind, und die Blüten der Gänseblümchen zitterten. Weiter hinten, am anderen Ende der Wiese, schienen sie sich nicht zu regen. «Im Augenblick könnte ich so ungefähr alles, was es gibt, verstehen», sagte Gladys. Grainier wusste, wie ernst sie ihren Glauben und die Bibel nahm, und dachte, dass sie vielleicht etwas aus diesem Bereich meinte. «Jedenfalls siehst du hier, was mir gefällt», sagte er. «Ja, das sehe ich.» «Und ich sehe etwas, das mir sehr, sehr gut gefällt», sagte er und küsste ihre Lippen. «Au», sagte sie. «Du hast mir meinen Mund gegen die Zähne gedrückt.» «Bereust du᾿s?» «Nein. Tu᾿s noch mal. Aber nicht so doll.»
Der erste Kuss stürzte ihn in ein Loch und schleuderte ihn in eine Welt hinaus, in der er glaubte zurechtkommen zu können – als hätte er mit aller Kraft in die falsche Richtung gezogen und schnelle nun, mit dem Kopf voran, stromabwärts. Sie blieben den ganzen Nachmittag dort zwischen den Gänseblümchen und küssten sich. Er
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fühlte sich herrlich, so als habe er mehr Blut in den Adern als eigentlich vorgesehen. Als die Sonne zu heiß wurde, setzten sie sich unter eine einsame Strauchkiefer auf der Süßgras-Weide, er mit dem Rücken an der Borke, sie mit der Wange an seiner Schulter. Die weißen Gänseblümchen sprenkelten die Wiese so verschwenderisch, dass sie zu schäumen schien. Er wollte gleich hier und jetzt um ihre Hand anhalten. Er hatte Angst, sie zu fragen. Dabei wünschte sie sich bestimmt, dass er es täte, sonst hätte sie doch nicht so nah bei ihm gelegen, dass er ihren Atem an seinem Arm spürte und sein Gesicht ihr Haar berührte – ihr Haar, das ganz schwach nach Schweiß und Seife roch ... «Möchtest du meine Frau werden, Gladys?», hörte er sich zu seinem eigenen Erstaunen fragen. «Ja, Bob, ich glaube, das möchte ich», sagte sie und schien eine Minute lang den Atem anzuhalten; dann seufzte sie, und beide lachten. ■■■ Als er im Sommer 1920 mit vierhundert Dollar in der Tasche von der Arbeit in der Robinson-Schlucht heimkehrte, zuerst im Personenwagen bis C᾿ouer d᾿Alene, Idaho, und dann den Panhandle hinauf im offenen Güterzug, wütete ein Feuer im Moyea-Tal. Er fuhr durch immer dichter werdende Rauchschwaden bis Bonners Ferry, wo es von Menschen wimmelte, die an den Ufern des Moyea gewohnt und nun keine Bleibe mehr hatten.
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Grainier suchte unter den Leuten, die sich in die Stadt geflüchtet hatten, nach seiner Frau und seiner Tochter. All ihrer Habseligkeiten beraubt, blieb vielen nichts anderes übrig, als weiterzuziehen. Niemand wusste etwas über seine Familie. Er suchte sie in einer Menge von einhundert oder mehr Menschen, die zwischen den Überresten ihrer irdischen Güter, kleinen Sammelsurien von Dingen wie Puppen und Spiegeln und Zaumzeug, die alle von Wasser trieften, auf dem Marktplatz kampierten. Diese Leute hatten es geschafft, durch den Fluss und mitten durch das Feuer hindurch und an dessen Südrand wieder an Land zu waten. Von anderen, die gen Norden geflohen waren und versucht hatten, vor den Flammen davonzulaufen, hatte es seither kein Lebenszeichen mehr gegeben. Grainier befragte jeden, doch keiner konnte ihm etwas über seine Frau und seine Tochter sagen, und ihm wurde bang und bänger, als er die befremdliche Freude derer gewahrte, die mit dem Leben davongekommen waren und sich keinen Deut für das Schicksal anderer zu interessieren schienen, die womöglich nicht solches Glück gehabt hatten. Der Spokane International wurde in Bonners angehalten und sollte in nördlicher Richtung erst wieder fahren, wenn das Feuer niedergebrannt war und ein ordentlicher Regen den Panhandle durchtränkt hatte. Auf dem Fußmarsch zu seinem Haus, rund zwanzig Meilen immer die Moyea River Road entlang, trug Grainier ein
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Taschentuch vor Mund und Nase gebunden, um den Rauch zu filtern, und er befeuchtete es immer wieder im Fluss. Er wanderte durch silbrigen Ascheschnee. Hier brannte nichts. Das Feuer war am Ostufer des Flusses, nicht weit oberhalb von Meadow Creek, ausgebrochen und hatte sich gen Norden vorgearbeitet, um an einer engen Schlucht, wo umgestürzte Mammutfichten brennende Brücken gebildet hatten, den Fluss zu überqueren und schließlich das ganze Tal zu verschlingen. Meadow Creek war menschenleer. Grainier machte auf dem Bahnsteig Halt, trank Wasser aus der Regentonne dort und ging, ohne sich auszuruhen, rasch weiter. Bald kam er durch einen Wald aus verkohlten, gigantischen Spießen, die wenige Tage zuvor noch immergrüne Bäume gewesen waren. Die Welt war grau, weiß, schwarz und stickig, ohne lebende Tiere und Pflanzen, eine Welt, die nicht mehr brannte und doch noch von der Wärme und dem Leben des Feuers erfüllt war. So viel Asche, so viel atemraubender Rauch – schon Meilen bevor er sein Zuhause erreicht hatte, wusste er, dass nichts davon geblieben sein konnte, und ging dennoch weiter, weinte um seine Frau und seine Tochter und rief wieder und wieder «Kate! Gladys!». Er bog von der Straße ab, um nach dem Grundstück der Andersens zu schauen, dem ersten außerhalb von Meadow Creek. Anfangs konnte er nicht einmal erkennen, wo ihr Haus gestanden hatte. Alles war wie im übrigen Tal: verbrannt, und still, abgesehen von dem kollektiven Zischen der allerletzten Reste des Feu-
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ers. Er entdeckte ihren Kochherd, der sich mit seinen von der Hitze verbogenen Eisenfüßen unter einer hohen Ascheverwehung hervorwölbte. In der Nähe lagen einige der größten Schornsteinziegel verstreut auf dem Boden herum. Asche hatte alles andere unter sich begraben. Je weiter er nach Norden kam, desto lauter drangen das Knacken der Stämme und das Zischen der Glut an sein Ohr, bis er schließlich zwischen verkohlten Bäumen einherlief, die alle noch rauchten. Hinter einer Straßenbiegung hörte er das Gebrüll des Feuers und sah die Flammen eine halbe Meile voraus wie einen vom Nachthimmel herabgelassenen schwarz-roten Vorhang. Selbst aus dieser Entfernung zwang ihn die Hitze, stehen zu bleiben. Er fiel auf die Knie, kauerte in der warmen Asche, durch die er bis hierher gewatet war, und weinte. Zehn Tage später, als der Spokane International wieder verkehrte, fuhr Grainier durch das Tal, das seme Heimat gewesen war, hinauf nach Creston, B.C., und am gleichen Abend wieder zurück gen Süden. Die Flammen waren auf beiden Seiten die Berghänge hinaufgeklettert und, nach den Berichten, die Grainier sich aufmerksam an-hörte, jenseits der Kammlinien auf halbem Wege stecken geblieben. Wie ein Lagerfeuer in einem Graben hatten sie sich durch das gesamte Tal ausgebreitet. Robert Grainier würde sich sein Leben lang an das verbrannte Tal bei Sonnenuntergang erinnern; nie zuvor hatte er im wachen Zustand etwas Traumgleicheres gesehen – die
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leuchtenden Pastelltöne des letzten Lichts über ihm, ein paar Wolken, hoch und weiß, die das Tageslicht von der anderen Seite des Tals auffingen, andere, geriffelt und grau und tiefrosa, deren niedrigste die Gipfel des Bussard und des Queen Mountains streiften, und unter diesem wundersamen Himmel das schwarze Tal, so totenstill, dass auch der Zug mit seinem gewaltigen Lärm es nicht zum Leben zu erwecken vermochte. Was er in Creston erfuhr, war entsetzlich. Von denen, die vor dem Feuer im Moyea-Tal Reißaus genommen hatten, war kein Einziger dort aufgetaucht. Grainier wohnte ein paar Wochen bei seiner Cousine und war, krank vor Trauer und völlig verwirrt, zu kaum etwas nütze. Er begriff, dass er seine Frau und sein kleines Mädchen verloren hatte, doch manchmal überwältigte ihn der Gedanke, ja überrollte er ihn regelrecht wie eine unbezwingbare Armee, dass Gladys und Kate dem Feuer entkommen waren und er überall auf der ganzen Welt nach ihnen suchen musste, bis er sie gefunden hatte. Albträume weckten ihn Nacht für Nacht: In rauchende Lumpen gehüllt, ihre Tochter auf dem Arm, kam Gladys aus der schwarzen Landschaft dorthin, wo sie zu Hause gewesen waren, und fand dort nichts mehr und stand weinend in der Ödnis. Im September, dreißig Tage nach dem Brand, mietete Grainier sich zwei Pferde und einen Karren und machte sich, einen Haufen Vorräte im Gepäck, entlang der River Road auf den Weg, um sich auf seinem Grundstück nie-
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derzulassen und den Winter über auf die Rückkehr seiner Familie zu warten. Manch einer hätte das vielleicht für keine so kluge Idee gehalten, doch immerhin ließ das Experiment ihn wieder zur Besinnung kommen. Sobald er das Brandgebiet erreicht hatte, fühlte er die Traurigkeit seines Herzens schwärzer und reiner werden, als wäre sie selbst ein Stück Materie, aus dem alle hoffnungsvollen, verrückten Gedanken nach und nach wegbrannten. Er fuhr durch eine Ascheschicht, die so tief war, dass er an manchen Stellen die Straßenbettung nicht besser erkannte, als hätte er seinen Wagen durch winterlichen Schnee gelenkt. Nur die schnellsten Tiere und solche, die Flügel hatten, konnten diesem unersättlichen Feuer entronnen sein. Nachdem er ein paar Meilen durch die Ödnis gefahren war und kaum hatte atmen können vor lauter Qualm, gab er auf und machte kehrt, um in der Stadt zu leben. Kurz nach Herbstanfang errichteten Geschäftsleute aus Spokane ein Hotel in dem kleinen EisenbahnerCamp von Meadow Creek. Als es Frühling wurde, waren ein paar von den Familien, die alles verloren hatten, ins Moyea-Tal zurückgekehrt, um noch einmal von vorn zu beginnen. Grainier hatte nicht geglaubt, dass auch er es versuchen würde, doch im Mai schlug er sein Lager am Ufer des Flusses auf, angelte gesprenkelte Forellen und suchte im Wald nach der kanadischen Morchel, einem seltenen und sehr schmackhaften Pilz, der besonders gut auf von Feuer versehrtem Boden gedieh. Einige Tage lang
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zog er immer weiter gen Norden, bis er sich schließlich in Rufweite seines alten Grundstücks befand und den Steilhang erklomm, über den er und Gladys früher zum Wasser und zurück gelangt waren. Er staunte, wie viele Triebe und Blumen bereits wieder aus der Brandwüste gesprossen waren. Er kletterte bis zu dem Platz hinauf, wo ihre Hütte gestanden hatte, und entdeckte keine Spur, kein einziges Zeichen seines früheren Lebens, nur einen Flecken dunklen Bodens, der von schwarzen Fichtenholzbolzen umgeben war. Die Hütte war so vollständig abgebrannt, dass ihre Asche sich allenthalben mit der übrigen Bodenschicht vermischt hatte, um dann vom Schnee festgestampft und von der Schmelze durchweicht und aufgelöst zu werden. Schließlich fand er ihren Holzofen; er lag auf der Seite, die Beine gekrümmt wie ein Käfer. Er richtete ihn auf und rüttelte am Griff. Die Angeln brachen, und die Tür fiel heraus. Drinnen lag ein Birkenholzscheit, kaum verkohlt. «Gladys!», rief er laut. Alles, was er geliebt hatte, war Asche um ihn her, und hier nun dieses Ding, das sie berührt und in der Hand gehalten hatte. Er stocherte in dem fest gewordenen Matsch auf dem Gelände herum und fand so gut wie nichts, was er wiedererkennen konnte. Er scharrte mit den Füßen im Ascheboden und förderte einen der Nägel zutage, die er beim Bau der Hüttenwände benutzt hatte, doch mehr als den einen fand er nicht.
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Er sah auch keine Spur von ihrer Bibel. Wenn Gott der Herr nicht einmal das Buch seines eigenen Wortes zu schützen vermocht hatte, bewies das in Gramiers Augen, dass hier ein Feuer gewesen sein musste, das stärker war als Gott. Bis zum Juni oder Juli würde diese Lichtung grasbedeckt und grün sein. Schon jetzt sprossen Dutzende wadenhoher Kiefern aus der Asche. Er dachte an die arme kleine Kate und sprach erneut mit sich selbst: «Nicht mal so ein kleiner Sprössling ist sie geworden.» Grainier dachte, er müsse wohl so ungefähr das einzige lebende Wesen in dieser unfruchtbaren Gegend sein. Doch als er dort auf seinem alten Grundstück stand und redete, hörte er, wie ihm in der Ferne auf den Berggipfeln die Wölfe antworteten und ihrerseits Antwort von anderen bekamen, bis das ganze Tal zu singen schien. Auch Vögel waren da, vielleicht nicht auf Futtersuche, aber immerhin ließen sie sich zu einer kurzen Rast hier nieder, bevor sie weiter über das verbrannte Land flogen. Gladys, oder ihr Geist, war zum Greifen nah. Er hatte plötzlich das Gefühl, als läge irgendetwas, das ihr und dem Baby, ihnen beiden, gehört hatte, ganz in der Nähe herum und er müsse es an sich nehmen. Aber was? Vielleicht die Schokoladenpralinen in der roten Schachtel, die Gladys sich gekauft hatte, Pralinen in kleinen weißen Papierförmchen. Ein verrückter Gedanke, aber er mochte ihn nicht verwerfen. Einmal in der Woche hatten sie und der Wurm jeder eine solche Praline gelutscht.
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Plötzlich konnte er die weißen Förmchen überall verstreut liegen sehen. Wenn er eines davon direkt anschaute, verschwand es. Gegen Einbruch der Nacht, als Grainier in eine Decke gehüllt am Flussufer lag und in den Himmel schaute, blieb sein Auge an etwas Schnellem hängen, das den Fluss entlangflog. Er schaute genauer hin und sah den weißen Hut seiner Frau Gladys durch die Luft segeln. Einfach so vorbeisegeln. Er blieb viele Wochen dort in seinem Lager, wartete ab und wünschte sich noch mehr Visionen wie die von dem Hut und der Schokolade – so viele, wie nur irgend zu ihm kommen mochten; und solange er an diesem Ort unmögliche Dinge sah, die ihm gefielen, dachte er bei sich, so lange konnte er auch getrost weiter mit sich selbst reden. Etliche Male am Tag stieß er einen gewaltigen Seufzer aus, der ihm die Luft abließ, und sagte: «Eine ziemlich scheußliche Lage!» Er überlegte, ob es vielleicht besser wäre, aufzustehen und etwas zu tun, damit er nicht gar so viel seufzte. Manchmal dachte er an Kate, den hübschen kleinen Wurm, aber nicht sehr häufig. Ihre Geschichte war nicht so traurig. Sie war ja kaum wach gewesen, geschweige denn lebendig. Er ernährte sich den ganzen Sommer von getrockneten Pilzen und frischer Forelle, zusammen in Butter gebraten, die er in dem Laden von Meadow Creek kaufte. Nach einer Weile lief ihm ein Hund zu, eine kleine rot-
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haarige Hündin. Die Hündin blieb bei ihm, und er hörte auf, mit sich selbst zu reden, weil er sich schämte, wenn das Tier ihn dabei ertappte. Er kaufte sich in Meadow Creek eine Persenning und ein Seil, um sich so etwas wie ein Zelt aufzubauen, und später eine Ziege, die er an einem Strick zu seiner Lagerstatt zurückführte; die Hündin war argwöhnisch und folgte diesem Neuzugang in einigem Abstand. Er pflockte die Ziege in der Nähe seines Unterschlupfs an. Eine Reihe von Tagen brachte er in den Schluchten entlang des Moyea zu, die nur geringe Brandschäden aufwiesen, und sammelte dort Weidengerten, aus denen er eine Kiste flocht, zwei Meter lang wie breit und etwa halb so hoch. Dann wanderten er und die Hündin erneut nach Meadow Creek, und er kaufte vier Hennen, dazu einen Hahn, der sie auf Trab halten sollte, und schleppte sie allesamt in einem Getreidesack nach Hause und sperrte sie in die Weidenkiste. Dann und wann ließ er sie für einen oder zwei Tage heraus, aber meistens blieben sie eingepfercht, damit die Hennen ihre Eier nicht an verborgenen Orten legten; nicht dass es inmitten all der Zerstörung viele Orte gab, wo man auch nur ein einziges Ei hätte verstecken können. Die kleine rote Hündin lebte von Ziegenmilch und Fischköpfen und allem Möglichen, vermutete Grainier, was sie selber fangen konnte. Wenn sie wollte, war sie eine recht annehmbare Gefährtin, doch oft streunte sie tagelang allein durch die Gegend.
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Da der Boden zum Grasen zu karg war, gab er seiner Ziege dasselbe Mengfutter wie den Hühnern. Das wurde mit der Zeit teuer. Als im September der erste Frost kam, schlachtete er die Ziege und dörrte den größten Teil ihres Fleisches an der Luft. Nach dem zweiten Frost wanderten die Hühner, eins nach dem anderen, in den Kochtopf, bis er und die Hündin sie innerhalb weniger Wochen alle aufgegessen hatten, selbst den Hahn. Dann beschloss Grainier, nach Meadow Creek zu ziehen. Er hatte keinen Garten angelegt und sich kein richtiges Haus gebaut. Bevor er fortging, erörterte er mit seiner Hündin die Zukunft. «Einen Hund in der Stadt halten ist nicht meine Art», erklärte er dem Tier. «Aber du kommst mir ein bisschen ältlich vor, und ich glaub nicht, dass ein ältlicher Hund wie du in den Hügeln hier so ganz allein überwintern kann.» Er erklärte ihr, er werde einen Nickel extra bezahlen, damit sie die zwölf Meilen bis nach Bonners Ferry im Zug mit ihm fahren könne. Doch das schien ihr nicht geheuer gewesen zu sein – an dem Tag jedenfalls, als er seine paar Habseligkeiten zusammenpackte, um zum Bahnsteig von Meadow Creek hinunterzulaufen, war die kleine rote Hündin nirgends zu sehen, und er brach ohne sie auf. Von dem Geld, das er ein Jahr zuvor in der RobinsonSchlucht verdient hatte, konnte er in Bonners Ferry überwintern, doch damit es noch länger reichte, arbeitete er für zwanzig Cent die Stunde bei einem Mann namens
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Williams, der die Great Northern mit eintausend Klaftern Feuerholz, das Klafter zu zwei Dollar und fünfundsiebzig, beliefern sollte. Die stetige Anstrengung hielt ihn und sieben andere Männer den ganzen Tag lang warm, selbst als der Winter sich zum kältesten seit vielen Jahren entwickelte. Von dem Platz aus, wo fuhrenweise das Birken- und Lärchenholz ankam, damit sie es spalteten und zersägten, konnten sie eines Tages beobachten, wie eine Herde von ungefähr zweihundert Kühen auf dem Eis über den Fluss getrieben wurde – so fest war der Kootenai zugefroren. Die Tiere trabten auf die unberührte weiße Fläche und wühlten einen Schneenebel auf, der zuerst sie selbst in sich verbarg, dann die ganze Welt nördlich des Flussufers verschluckte und schließlich hoch genug aufstieg, um Sonne und Himmel zu verhüllen. Gegen Ende März kehrte Grainier auf sein Stück Land im Moyea-Tal zurück; diesmal hatte er eine ganze Wagenladung Vorräte dabei. Inzwischen waren Tiere dorthin zurückgekommen, wo einmal der Wald gewesen war. Als Grainier auf seinem Wagen hinter der breiten, langsamen, sandfarbenen Stute dahin fuhr, stoben Schwärme orangefarbener Schmetterlinge von den schwärzlich violetten Bärenkothaufen und flatterten zauberkräftig wie Blätter ohne einen Baum. Of-
fenbar waren mehr Bären als Menschen auf der morastigen Straße unterwegs gewesen und hatten dort, her wie hin, ihre Spuren hinterlassen. Später, im Sommer, würden sie sich von den Heidelbeersträuchern ernähren, die
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Grainier an den schwarz gebrannten Hängen schon jetzt überall nachwachsen sah. Auf seinem alten Lagerplatz am Flussufer errichtete er seinen Persenning-Unterschlupf und machte sich daran, fünf Dutzend verbrannte Fichten abzuholzen, keine davon im Durchmesser größer als sein Hut, denn er hielt sich an die landläufige Theorie, dass ein einzelner Mann mit einem Baumstamm fertig wurde, der höchstens den Umfang seines eigenen Kopfes hatte. Nachdem er die Stämme mit Hilfe der geliehenen Stute auf seiner Lichtung gestapelt hatte, lieferte er Pferd und Wagen in Bonners Ferry ab und sprang in den Zug, der ihn nach Meadow Creek brachte. Erst als er ein paar Tage später wieder zu seinem alten – jetzt neuen – Heim zurückkehrte, bemerkte er, was ihm bei all seiner Plackerei bisher entgangen war: Der Frühling war da, sonnig und schön, und das Moyea-Tal ließ eine Menge Grün vor dem Dunkel seiner Verbrennungen sehen. Der Boden rundherum heilte allmählich. Feuerkraut und Kiefern standen schenkelhoch. Ein senftoniger Nebel von Kiefernpollen schwebte durch das Tal, sobald Wind aufkam. Wenn er die jungen Triebe nicht zog, würde seine Lichtung bald wieder zu Wald werden. Seine Hütte sollte etwa sechs mal sechs Meter messen. Er legte eine Umrandung aus, baute ein Fundament aus Steinen in einem knietiefen Graben, um unter die Frostgrenze zu gelangen, hobelte und behaute die Stämme, bis jeder sich glatt an den nächsten schmiegte, schnitt Ker-
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ben hinein, stemmte die höheren mit seinem Rücken an ihren Platz. Nach einem Monat hatte er vier beinahe drei Meter hohe Wände errichtet. Den Bau der Fenster und des Dachs verschob er auf später, wenn er sich bearbeitetes Holz beschaffen konnte. An der Ostseite hängte er die Persenning auf, um den Regen abzuhalten. Immerhin hatte er die Stämme nicht entrinden müssen – diese Arbeit hatte ihm das Feuer abgenommen. Er hatte gehört, dass feuergegerbte Bäume die robustesten seien, doch dafür stank seine Hütte. Er verbrannte Haufen von Kiefernnadeln auf dem nackten Lehmboden, um den Charakter des Geruchs zu verändern, und nach einer Weile hatte er den Eindruck, als sei es ihm gelungen. Anfang Juni tauchte die rote Hündin wieder auf, ließ sich in einer Ecke der Hütte nieder und warf vier Welpen, die ziemlich wölfisch aussahen. Unten im Laden von Meadow Creek besprach er diese Wendung der Dinge mit einem Kootenai-Indianer namens Bob. Kootenai-Bob war ein zuverlässiger Mann, der sich stets vom Alkohol fern gehalten hatte und, genau wie Grainier, häufig in der Stadt arbeitete, und sie kannten einander seit etlichen Jahren. Kootenai-Bob sagte, wenn die Welpen der Hündin wölfisch aussähen, sei das sehr merkwürdig. Nach kootenaiischer Überlieferung zeuge in einem Wolfsbau immer nur ein einziges Paar Junge – außer einem, dem Anführer des Rudels, sei keiner der männlichen Wölfe zur Paarung zu bewegen. Und die Wölfin, die er dazu auserwähle, seine Jungen zu tra-
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gen, sei die einzige im ganzen Rudel, die je läufig werde. «Und deshalb sag ich dir», schloss Bob, «dass deine streunende Hündin keine Wolfsjungen werfen kann.» Aber was, wollte Grainier wissen, wenn sie gerade in dem Augenblick auf das Wolfsrudel gestoßen war, als sie läufig wurde – konnte der Königswolf sie dann nicht womöglich doch bestiegen haben, bloß um der neuen Erfahrung willen? «Dann vielleicht, vielleicht», sagte Bob. «Kann sein. Kann sein, dass dir da so was wie ein Hundswolf zugelaufen ist. Kann sein, dass du jetzt dein eigenes Rudel hast, Robert.» Drei der Welpen gingen ihrer Wege, sobald die kleine Hündin sie entwöhnt hatte, doch einer, ein tollpatschiger Rüde, blieb und wurde von seiner Mutter geduldet. Grainier war sicher, dass dieser Hund von einem Wolf gezeugt worden war, obwohl er nicht das leiseste Winseln von sich gab, wenn bei Abenddämmerung in der Ferne die Wolfsrudel sangen, manche weit weg in den SelkirkBergen in British Columbia. Diesem Tier musste man seine Natur wohl erst beibringen, dachte Grainier. Eines Abends hockte er sich neben den Hund und heulte. Der Welpe saß auf seinem Hinterteil und ließ einfältig ein kleines Stück rosa Zunge aus seiner geschlossenen Schnauze gucken. «Du kommst nicht nach deiner eigenen Natur, sonst würdest du nämlich heulen, wenn die andern heulen», erklärte er dem Bastard. Er richtete sich zu seiner vollen Größe auf und heulte lange und klagend über die Schlucht und den seichten ruhigen Fluss hinweg,
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dessen anderes Ufer er, so kurz vor Einbruch der Dunkelheit, kaum noch erkennen konnte ... Kein Ton von dem Welpen. Doch fortan legte Grainier, wenn er die Wölfe in der Dämmerung hörte, häufig den Kopf in den Nacken und heulte, was das Zeug hielt, denn das tat ihm gut. Es spülte etwas Schweres aus seinem Herzen, das sich sonst dort festgesetzt hätte, und nach einem abendfüllenden Programm mit dem Chor seiner BritishColumbia-Wölfe fühlte er sich gewärmt und beschwingt. Er versuchte Kootenai-Bob auch diese Wendung zu erklären. «So, du heulst also?», sagte der Indianer. «Tja, da hast du᾿s. Genau das ist es, genau das erzählt man sich: Es gibt keinen Wolf auf der Welt, der einen Menschen nicht zu zähmen verstünde.» Der Welpe verschwand, bevor es Herbst geworden war, und Grainier hoffte, dass er es über die Grenze geschafft hatte, bis zu seinen Brüdern in Kanada, doch er musste vom Schlimmsten ausgehen – leichte Beute für einen Bussard oder die Kojoten. Etliche Jahre später – 1930 – sah Grainier KootenaiBob genau an dem Tag, als der Indianer starb. Zum ersten Mal in seinem Leben war Kootenai-Bob betrunken. Ein paar Rancharbeiter aus British Columbia, die auf einen Besuch über die Grenze gekommen waren, hatten ihn mit einem Krug Shandy, einem Gemisch aus Limonade und Bier, zum Trinken verleitet. Sie hatten ihm weisgemacht, es könne ihm nicht schaden, weil die Limonade jeden etwaigen Effekt des Biers neutralisiere, und Koo-
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tenai-Bob hatte ihnen geglaubt, denn in den Vereinigten Staaten war seit über einem Jahrzehnt die Prohibition in Kraft, und die Leute aus Kanada, wo Spirituosen weiterhin erlaubt waren, galten als Experten in Sachen Alkohol. Grainier sah Bob vor dem Hotel in Meadow Creek auf einer Bank sitzen, die Beine fest um einen Acht-LiterBottich voll Bier – keine Spur von Limonade mehr – geklammert, aus dem er wie ein durstiger Köter schlürfte. Der Indianer hatte den ganzen Nachmittag über gebechert und sich mehrfach in die Hosen gepinkelt und war des Sprechens nicht mehr fähig. Irgendwann nach Einbruch der Dunkelheit marschierte er los, immer an den Gleisen entlang, und kam etwa eine Meile weit; dann fiel er bewusstlos quer über die Schienen und wurde nacheinander von mehreren Zügen überfahren. Vier oder fünf waren schon über ihn hinweggerollt, als endlich, am späten Nachmittag des nächsten Tages, die stetig wachsende Schar Krähen jemanden veranlasste, nach dem Rechten zu sehen. Da war Kootenai-Bob bereits über eine Viertelmeile entlang der Eisenbahntrasse verstreut. In den folgenden Tagen konnte man seine Angehörigen auf dem Streifen bloßer Erde neben den Gleisen hin und her laufen sehen, wo sie Ausschau nach jedem noch so kleinen Andenken aus Fleisch und Knochen und Kleidung hielten, das den Krähen entgangen sein mochte, und ihre Fundstücke in farbenfrohen, wunderhübsch bemalten Lederbeuteln sammelten, die sie später vermutlich mit einer angemessenen Zeremonie irgendwo bestatteten.
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Ungefähr um dieselbe Zeit merkte Grainier, dass seine Jahreszeiten einen Rhythmus hatten – die Sommer in Washington, Frühling und Herbst in seiner Hütte, die Winter zur Untermiete in Bonners Ferry –, und er begann einzusehen, dass er ihn nicht mehr lange aufrechterhalten konnte. Das war etwa vier Jahre nach dem Einzug in seine zweite Hütte. Zwar reichte das Geld, das er im Sommer verdiente, für das ganze Jahr, aber er war nicht für die Holzfällerei gebaut. Zuerst stellte er fest, wie sehr er den Winter brauchte, um sich auszuruhen und zu gesunden; dann kam ihm der Verdacht, dass der Winter nicht lang genug war, ihn gesunden zu lassen. Beide Knie taten ihm weh. Seine Ellbogen knackten laut, sobald er die Arme ausstreckte, und irgendetwas hakte und knirschte in seiner rechten Schulter, wenn er sie falsch bewegte; eine allgemeine Steifheit löste sich zwar im Laufe der meisten Vormittage erst aus der einen, dann aus der anderen Körperhälfte, und den ganzen Nachmittag hindurch arbeitete
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er hart wie eine Maschine, doch er zählte jetzt weit über fünfunddreißig Jahre, ging eher schon auf die vierzig zu, und war eigentlich im Wald zu nicht mehr viel nütze. 1925 brach er, als es April wurde, nicht nach Washington auf. Damals gab es für jeden, der auf Arbeit aus war, eine Menge in der Stadt zu tun. Er wollte lieber in der Gegend bleiben und war überdies in den Besitz zweier Pferde und eines Wagens gelangt – wenn auch durch einen traurigen Umstand. Der Wagen hatte vorher Mr. und Mrs. Pinkham gehört, die eine Maschinenwerkstatt am Highway 2 betrieben. Grainier hatte sich bereit gefunden, zusammen mit ihrem Enkel Henry, genannt Hank, einem Riesenkerl von vielleicht achtzehn, bestimmt aber nicht mehr als zwanzig Jahren, Maismehlsäcke auf den Pinkham᾿schen Wagen zu laden – eine Gefälligkeit, die sich aus einem kurzen Aufenthalt in ihrer Werkstatt ergab, wo er ein paar Schrauben für einen Sägengriff gekauft hatte. Sie hatten kaum die ersten beiden Säcke auf den Wagen gewuchtet, als Hank den dritten von seiner Schulter auf den Lehmboden der Scheune fallen ließ und sagte: «Mir ist heut so schwindlig wie nur was», sich auf den Haufen Säcke setzte, seinen Hut abnahm, seitüberfiel und starb. Der Großvater des Jungen kam sofort aus dem Haus geeilt, als Grainier nach ihm rief. «Oh. Oh. Oh», sagte er, und der Mund blieb ihm vor lauter Ungläubigkeit offen stehen. «Er ist doch nicht tot, oder?» «Ich weiß nicht, Sir. Ich hab wirklich keine Ahnung. Er hat sich hingesetzt und ist umgefallen. Ich glaub, er
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hat nicht mal mehr über irgendwas geklagt», berichtete Grainier. «Wir müssen Sie losschicken, Hilfe holen», sagte Mr. Pinkham. «Wo soll ich hin?» «Ich muss Mutter Bescheid geben», sagte Pinkham und schaute Grainier voller Entsetzen an. «Sie ist drinnen im Haus.» Grainier blieb bei dem toten Jungen, aber er sah ihn, solange sie allein waren, nicht an. Die alte Mrs. Pinkham kam mit flatternden Händen in die Scheune gelaufen und sagte: «Hank? Hank?», und beugte sich zu ihrem Enkel hinab, um sein Gesicht in die Hände zu nehmen. «Bist du tot?» «Er ist tot, oder?», sagte ihr Mann. «Er ist tot! Er ist tot!» «Er ist tot, Pearl.» «Nun ist er beim Herrn», sagte Mrs. Pinkham. «Gütiger Gott, nimm diesen Jungen zu Dir ...» «Ich hab᾿s immer kommen sehen!», schluchzte die alte Frau. «Sein Herz war nicht stark», erklärte Mr. Pinkham. «Das konnte man ihm ansehen. Das haben wir immer gewusst.» «Sein Herz war sein Schicksal», sagte Mrs. Pinkham. «Man hätt ihn bloß jederzeit genau angucken müssen und hätt᾿s gleich gesehn.» «Ja», pflichtete Mr. Pinkham ihr bei.
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«Er war so lieb und gut», sagte Mrs. Pinkham. «Und noch so jung. So jung!» Sie stand zornig auf, marschierte aus der Scheune und zum Straßenrand – U. S. Highway 2 – und blieb dort stehen. Grainier hatte schon ein paar Tote gesehen, aber er hatte noch nie gesehen, wie jemand starb. Er wusste nicht, was er sagen oder tun sollte. Er meinte, es wäre besser, zu gehen, und er meinte, es wäre besser, nicht zu gehen. Während die Frau unter einem wilden Gemisch aus Wolken und Sonne auf dem Hof stand – aus der Entfernung sah sie verwundert aus, jung wie ein Kind und auch sehr schön, fand Grainier –, bat Mr. Pinkham ihn im Schatten des Hauses um einen Gefallen. «Würden Sie ihn zu Helmer runterbringen?» Helmer war für den Friedhof zuständig und richtete, gemeinsam mit dem Friseur Smithson, häufig die Leichen her, bevor sie unter die Erde kamen. «Wir schaffen den armen Hank in den Wagen. Wir schaffen ihn in den Wagen, und Sie fahren los und bringen ihn runter, einverstanden? Dann kann ich mich um Mutter kümmern. Die ist ganz von Sinnen.» Gemeinsam wuchteten sie den schweren toten Jungen auf den Wagen, wozu sie, nach beträchtlichem Kampf, zwei lange Bretter zu Hilfe nahmen. Sie lehnten sie schräg gegen das Fahrgestell und wippten den Leichnam hoch und seit, hoch und seit, bis er im Wagen landete. «Oh – oh – oh – oh –», rief der Großvater bei jedem einzelnen Stoß. Grainier selbst hatte seit einigen Jahren keinen anderen Menschen mehr berührt, und schon des-
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wegen war diese eigentümliche Situation für ihn ein besonderes und denkwürdiges Erlebnis. Mit Hü und Hott trieb er Pinkhams zwei alte Mähren an, und sie zogen den jungen toten Hank Pinkham zu Helmers Friedhof. Auch Helmer bat Grainier, kaum dass er ihm den Leichnam abgenommen hatte, um einen Gefallen. «Wenn Sie den Sarg hier für mich zum Gefängnis in Troy bringen», sagte er, «und dann eine Ladung Holz vom Bauhof an der Main abholen und nach Leona schaffen, zahl ich Ihnen was für jede Fahrt einzeln. Zwei für den Preis von einer. Oder besser gesagt: eine für den Preis von zweien. So wird eher ᾿n Schuh draus, was, Sir?» «Von mir aus», sagte Grainier. «Ich geb Ihnen einen Nickel für jede Meile.» «Da müsst ich erst bei den Pinkhams vorbeifahren und mit denen verhandeln. Ich brauch zwanzig Cent die Meile, bevor ich irgendeinen Gewinn seh.» «Na schön. Zehn Cent, und die Sache ist klar.» «Bisschen mehr brauch ich schon.» «Sechs Dollar alles zusammen.» «Da brauch ich mal ᾿nen Stift und ᾿n Stück Papier. Ich kann nicht gut rechnen ohne Stift und ᾿n Stück Papier.» Der kleine Unternehmer brachte ihm, was er brauchte, und gemeinsam kamen sie zu dem Schluss, dass sechseinhalb Dollar ein fairer Preis waren. Für den Rest des Herbsts und bis in den Winter hinein mietete Grainier Gespann und Wagen von den Pinkhams, die die Pferde weiterhin versorgten, und betätigte sich als
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eine Art Fuhrunternehmer. Meistens war er, westwärts wie ostwärts, auf dem Highway 2 unterwegs zwischen den kleinen Dörfern, die nicht nah genug an der Eisenbahn lagen. Manche seiner Aufträge führten ihn zum Kootenai hinunter, und jedes Mal, wenn er an dessen Ufern entlangfuhr, tauchte vor seinem inneren Auge das Bild des sterbenden Stromers William Coswell Haley auf. Die Reue, die er empfand, weil er dem Mann nicht beigestanden hatte, war, anstatt zu schwinden, mit den Jahren nur noch heftiger geworden. Mitunter dachte er auch an den chinesischen Eisenbahnarbeiter zurück, den er beinahe umzubringen geholfen hatte. Der Gedanke lähmte sein Herz. Er war sicher, dass der Mann sich an ihm gerächt hatte, indem er einen Fluch auf ihn herabrief, der Kate und Gladys verbrennen ließ. Er fand, dass die Strafe allzu gewaltig war. Aber die Tätigkeit als Fuhrmann sagte ihm mehr zu als jede andere, die er je verrichtet hatte, sie war die Eintrittskarte zu einer Art Show, zu einer Vorstellung, die aus den Torheiten und Bestrebungen seiner Nachbarn bestand. Er hatte sich noch nie so gut amüsiert und einigte sich mit den Pinkhams, dass er ihnen die Pferde und den Wagen für dreihundert Dollar in Raten abkaufen würde. Als er diesen Entschluss gefasst hatte, waren in der Gegend schon mehr als dreißig Zentimeter Schnee gefallen, doch er hielt noch ein paar Wochen länger im Fuhrgeschäft aus. Der Winter schien unten im Tal nicht
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besonders hart zu sein, aber die höher gelegenen Gebiete waren durch und durch gefroren, und einer von Grainiers letzten Aufträgen führte ihn die Yahk River Road zur Kneipe im kleinen Holzfällerdorf Sylvanite hinauf, wo ein Mann der Länge nach auf dem Tresen ausgestreckt lag, ein einsamer Goldsucher, der sich in seiner Hütte in den Bergen selber in die Luft gesprengt hatte, als er versuchte, gefrorenes Dynamit auf seinem Herd aufzutauen. Jetzt wirkte er ganz lebendig, schlürfte den Whiskey, den man ihm ausgegeben hatte, und pries seinen Hund. Der Hund hatte Hilfe geholt und ihm damit das Leben gerettet. Einen halben Tag lang war das Tier allen in der Kneipe derart lästig gefallen, dass einer der Wirte es schließlich an die Leine genommen und nach Hause gezerrt und dort, in den Trümmern seiner Hütte, dessen Herrchen gefunden hatte, beträchtlich ramponiert und vor Unterkühlung delirierend. Man erzählte sich allerhand Erstaunliches von den Hunden im Panhandle und entlang des Kootenai, Geschichten von Rettungen, Kunststücken, Beispielen überhündischer Intelligenz und menschengleichen Begriffsvermögens. Grainiers letzter Auftrag des Jahres war es, einen Mann von Meadow Creek nach Bonners zu transportieren, der von seinem eigenen Hund angeschossen worden war. Der vom Hund Angeschossene war ein flüchtiger Bekannter Grainiers, ein Inspektor der Spokane International, der sporadisch in der Gegend zu tun hatte. Er hieß
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Peterson und stammte ursprünglich aus Virginia. Sein Chef und seine Kameraden hätten auch abwarten und ihn am nächsten Morgen in den Zug nach Bonners setzen können, doch sie fürchteten, dass er bis dahin womöglich schon das Zeitliche gesegnet hätte, also karrte Grainier ihn, in eine Decke gewickelt und halb aufrecht auf einem halben Dutzend Säcken mit Holzspänen sitzend, die Grainier eigens gefüllt hatte, um es ihm bequemer zu machen, die Moyea River Road hinunter. «Und wie ist Ihnen – brauchen Sie wohl noch irgendwas?», fragte Grainier, als sie losfuhren. Er dachte schon, Peterson sei eingeschlafen. Oder Schlim-meres. Doch nach einer Minute antwortete der Verletzte: «Nein, Sir. Alles bestens.» Früher im Monat hatte es längere Zeit getaut. Der Schnee war aus den Spurrillen geschmolzen, und in den Wäldern kam die bloße Erde zum Vorschein. Doch jetzt war es wieder eiskalt geworden, und Grainier hoffte, er würde am Ende keinen Leichnam abliefern, der hinten im Wagen erfroren war. Auf den ersten paar Meilen redete er nicht viel mit seinem Passagier, denn Peterson hatte einen eingedellten Kopf und ein wanderndes Auge, Resultat irgendeines Vorfalls in seiner Jugend, und war kaum anzuschauen. Grainier überwand sich dann und wann, einen Blick in seine Richtung zu werfen, bloß um sicherzugehen, dass er noch lebte. Als die Sonne aus dem Tal schwand, wurde erst Petersons Auge und dann sein ganzer Kopf
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unsichtbar. Wäre er jetzt gestorben, hätte Grainier es wahrscheinlich gar nicht bemerkt, ehe sie den Lichtschein der zwei Gaslaternen links und rechts vor dem Haus des Arztes erreicht hätten. Nachdem sie fast eine Stunde gefahren waren, ohne ein Wort miteinander zu wechseln, nur das Quietschen des Wagens und die Geräusche des nahen Flusses und das Pferdegetrappel im Ohr, wurde es ganz und gar dunkel. Grainier missfielen die Schatten, die spindeldürren Silhouetten der Birken und die am gelben Halbmond aufgehängten Wolken. Sie schienen bloß dazu da, dem Kind in ihm Angst einzuflößen. «Sir, sind Sie tot?», fragte er Peterson. «Wer? Ich? Nein, Sir. Quicklebendig», sagte Peterson. «Na ja, ich dachte nur – ist Ihnen so, als ob Sie vielleicht gleich gehen müssten?» «Sie meinen, als ob ich vielleicht gleich sterbe?» «Ja», sagte Grainier. «Nein, Sir. Ich sterb heute Nacht nicht.» «Gut.» «Noch viel besser für mich, würd ich sagen.» Nun fand Grainier, dass sie genug geplaudert hatten und er auf eine Angelegenheit zu sprechen kommen konnte, die seine Neugier nicht unerheblich reizte. «Diese Mrs. Stout, die Frau Ihres Chefs, hat mir gesagt, Ihr Hund hätte Sie angeschossen.»
«Ja, ja, eine sehr rechtschaffene Frau – soweit ich das
beurteilen kann jedenfalls.»
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«Denselben Eindruck hab ich auch von ihr, rundrum», sagte Grainier, «und sie hat mir erzählt, Ihr Hund hätte Sie angeschossen.» Peterson schwieg eine Minute. Dann hustete er und sagte: «Haben Sie auch eben eine kleine warme Stelle in der Luft gespürt? Als hätte das warme Wetter von letzter Woche kehrtgemacht und kam jetzt wieder her?» «War mir nicht so», sagte Grainier. «Hier steht bloß noch die Wärme des Tages, das ist immer so, bevor᾿s um den Kamm herumgeht.» Sie fuhren weiter, unter dem aufgehenden Mond. «Und?», sagte Grainier. Peterson antwortete nicht. Hatte vielleicht nicht gehört. «Hat Ihr Hund Sie wirklich angeschossen?» «Ja, hat er. Mein eigener Hund, mit meinem eigenen Gewehr. Autsch!», sagte Peterson und verlagerte vorsichtig sein Gewicht. «Könnten Sie Ihr Gespann vielleicht ᾿n kleines bisschen gemächlicher durch die Furchen hier lenken, Mister?» «Von mir aus», sagte Grainier. «Aber Sie müssen schnell in ärztliche Behandlung, sonst kann Ihnen alles Mögliche passieren.» «Na schön. Dann fahren Sie drauflos wie der PonyExpress, wenn Sie unbedingt wollen.» «Ich begreif nicht, wie ein Hund schießen kann.» «Tja, hat er aber getan.» «Mit einem Gewehr?»
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«Es war keine Kanone. Es war keine Pistole. Es war ein Gewehr.» «Das ist ja nun reichlich rätselhaft, Mr. Peterson. Wie ging denn das zu?» «Es war Notwehr.» Grainier wartete. Eine volle Minute verstrich, doch Peterson blieb stumm. «So, jetzt reicht᾿s», sagte Grainier aufgebracht. «Ich halt gleich die Pferde an, und dann können Sie von mir aus zu Fuß gehen, wenn Sie bloß weiter und weiter drumrum reden wollen. Ich kutschier Sie hier mit Ihrem Loch im Korpus in die Stadt und stell Ihnen eine einfache Frage, ich will bloß wissen, wie Ihr Hund Sie angeschossen hat, aber Sie müssen sich wie ᾿n Hüttenrüpel aufführen, der die Antwort nicht weiß.» «Na schön!», lachte Peterson und stöhnte gleich darauf vor Schmerzen. «Mein Hund hat aus Notwehr auf mich geschossen. Eigentlich wollt ich ihn nämlich erschießen, wegen dem, was der Indianer Kootenai-Bob über ihn gesagt hat, aber dann hat er sich losgerissen. Ich hatte ihn für unser gemein-sames Vorhaben angebunden.» Peterson hustete und schwieg ein paar Sekunden lang. «Diesmal halt ich Sie nicht hin! Ich muss bloß mal eben über diesen Schmerz weg.» «Schon gut. Aber wieso haben Sie Kootenai-Bob angebunden, und was hat Kootenai-Bob überhaupt mit der Sache zu tun?» «Doch nicht Kootenai-Bob! Den Hund hab ich ange-
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bunden! Kootenai-Bob war nicht mal in der Nähe der Szene, von der ich grade erzähle. Der kam davor.» «Aber was war nun mit dem Hund?» «Von dem red ich ja. Den hab ich angebunden, und dann reißt er sich los und lässt mich nicht mehr an sich ran – ich einen Schritt vor, er einen zurück. Er hat gewusst, dass ich ihm ans Leder wollte, wozu ich auch entschlossen war nach allem, was Kootenai-Bob mir über ihn erzählt hatte. Der Hund wusste was – und zwar genau wegen seinem Erlebnis, genau wegen dem, was der Indianer Kootenai-Bob mir von ihm erzählt hatte –, das Tier wusste auf einmal irgendwas. Also schwing ich das Gewehr und zieh dem alten Köter das hintere Ende über, damit er den Unfug sein lässt, und rums! sitz ich plötzlich auf meinem eigenen hinteren Ende, und dann lieg ich auch schon auf dem Rücken, und der Himmel rast in der falschen Richtung von mir weg. Tja, Mr. Grainier, da hatte ich einen Schuss abgekriegt! Hier!» Peterson zeigte auf den Verband um seine linke Schulter und Brusthälfte. «Von meinem eigenen Hund!» Peterson fuhr fort: «Ich glaube, er hat das gemacht, weil er mit diesem Wolfsmädchen angebändelt hatte. Wenn sie ein Mädchen ist. Sonst weiß ich auch nicht. Ein Geschöpf könnt man sie vielleicht nennen, wenn sie denn je geschaffen wurde. Aber es gibt wohl ein paar Geschöpfe auf dieser Erde, die Gott nicht geschaffen hat.» «Angebändelt ? » «Ja. Letzten Sommer hab ich den Köter eines Nachts
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ins Haus geholt, weil er so kläfferig war und gar nicht mehr aufhören wollte. Ich wollt ihn direkt neben mir haben, wo ich ihm ein Holzscheit überziehen konnte, falls er mich noch ein einziges Mal störte. Tja, und am nächsten Morgen geht er die Wand hoch und zum Fenster raus, wie ein Bär, der einen Baumstamm raufklettert, und rennt da draußen auf der Veranda hin und her. Immer hin und her. Und dann auf dem Platz vorm Haus, hin und her und hin und her, und mit einem Mal gibt er Fersengeld und verschwindet im Wald, und ich hab ihn dreizehn Tage nicht wieder gesehen. Na schön. Schön – irgendwann nicht lange danach kam Kootenai-Bob vorbei. Kennen Sie den? Sein voller Name ist Bobcat Sowieso, Bobcat Der-einen-Berg-verschlang oder einer von diesen indianischen Sumpfwurz-Namen. Er will ein bisschen Geld, eine Prise Schnupftabak, einen kleinen Schluck Wasser; kommt so ungefähr zweimal pro Jahreszeit vorbei. Und der erzählt mir nun – na, Sie können sich᾿s schon denken: Er erzählt mir, dass das Wolfsmädchen in der Gegend gesehen worden sei. Ich hab ihm meinen Hund gezeigt und gesagt, das Tier war dreizehn Tage weg und ist praktisch wild zurückgekommen, hat mich kaum noch wiedererkannt. Bob guckt ihm ins Gesicht, geht ganz dicht zu ihm runter, und sagt: ‹Ich will gottverdammt sein, wenn Sie den Hund hier nicht besser abknallen sollten. Ich seh das Bild von dem Mädchen auf dem Schwarzen seiner Augen. Der Hund hier war bei den Wölfen, Mr. Peterson. Im Ernst, Sie sollten ihn besser erschießen, bevor᾿s wie-
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der Vollmond ist, sonst ruft er Ihnen das WolfsmädchenGeschöpf direkt in Ihr Haus, und Sie sind Fleisch für die Wölfe, und Ihr Blut werden sie trinken wie Whiskey.› Glauben Sie wohl, dass ich᾿s da mit der Angst zu tun bekam? Na, und ob. ‹Es wird bluttrunken sein und die Straßen entlanglaufen und mit Ihrer Stimme sprechen, Mr. Peterson›, sagt er zu mir. ‹Es wird von Fenster zu Fenster gehen und jedem, dem Sie mal irgendeine Schurkerei angetan haben, mit Ihrer Stimme davon erzählen.› Ja, ich weiß Bescheid über das Wolfsmädchen. Es wurde vor etlichen Jahren zum ersten Mal gesehen – da führte es ein Rudel an. Stouts Vetter aus Seattle hat sie letzte Weihnachten gesehen, als er hier war, und hat erzählt, dass ein blutiger Schlamassel zwischen ihren Beinen hing.» «Ein blutiger Schlamassel?», fragte Grainier, in tiefster Seele erschrocken. «Fragen Sie mich nicht, was das war. Ein blutiger Schlamassel eben. Aber Bob, der Kootenansche, hat gesagt, ein paar von ihnen wollten glauben, dass es die Nachgeburt oder ein Teil von einem aus ihrem Schoß gerissenen Wolfskind war. Sie wissen ja, dass sie an Jesus glauben.» «Was? Wer?» «Die Kootenais – an Jesus, und an Engel und Teufel und Geschöpfe, die Gott nicht geschaffen hat, wie Halbwölfe. Sie glauben an fast alles Kosmische und Religiöse und Magische, von dem sie hören. In der Kootenai-Sprache heißen Tiere wie Menschen. ‹Kojoten-Junge› und ‹Bären-Frau› und dergleichen.»
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Grainier schaute in die Dunkelheit auf dem Weg vor sich und hatte Angst, das Wolfsmädchen zu sehen. «Gütiger Gott», sagte er. «Ich weiß nicht, wo ich in Zukunft die Kraft hernehmen soll, nachts hier entlangzufahren.» «Ja, was glauben Sie denn? – Ich kann selber nachts nicht mehr schlafen», sagte Peterson. «Gott wird mir wohl die Kraft dazu geben.» Peterson schnaubte verächtlich. «Das Wolfsmädchen ist ems von den Geschöpfen, die Gott nicht geschaffen hat. Sie wurde von Wölfen und einem Mann mit unnatürlichen Begierden gemacht. Haben Sie sich nie mit ᾿n paar Jungs zusammengetan und ᾿ne Kuh gepimpert?» «Was!» «Als Sie noch ᾿n Junge waren – sind Sie da nicht mal auf einen Baumstumpf rauf und haben ᾿ne Kuh geliebt? Wo ich herkomme, haben das alle gemacht. In der Gegend da unten ist das nichts Unnatürliches.» «Wollen Sie etwa sagen, man könnte auf die Art ein Baby machen – mit einer Kuh, oder mit einem Wolf? Sie? Ich? Ein Mensch?» Petersons Stimme klang feucht vor Angst und Leidenschaft. «Ich will sagen, es wird dunkel, und der Mond wird voll, und da draußen sind Geschöpfe, die Gott nicht geschaffen hat.» Er machte ein würgendes Geräusch. «Herrgott! Das Loch hier drin tut weh, wenn ich huste. Aber wenigstens brauch ich gar nicht erst zu versuchen, die Nacht durchzuschlafen, während ich doch bloß die ganze Zeit warte, dass das Wolfsmädchen und Rudel zu mir kommen. »
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«Aber haben Sie nun getan, was der Indianer gesagt hatte? Haben Sie Ihren Hund erschossen?» «Nein! Er hat mich fast erschossen!» «Oh», sagte Grainier. Er war so verwirrt und ängstlich, dass er diesen Teil der Geschichte völlig vergessen hatte. Er behielt den Wald auf beiden Seiten im Auge, doch in dieser Nacht trat kein Gezücht unnatürlicher Begierden in Erschei-nung. Eine Weile lang kursierten die Gerüchte. Der Sheriff hatte die wenigen Zeugen, die behaupteten, das Geschöpf gesehen zu haben, befragt und sie für ehrliche und vernünftige Männer befunden. Aufgrund ihrer Beschreibungen ging er davon aus, dass das Geschöpf weiblich war. Die Leute fürchteten, es werde noch weitere Bastard-Welpen werfen, noch mehr Wolfsmenschen, noch mehr Monster, die am Ende zwangs-läufig die Begierde des Teufels selbst erregen und alle erdenklichen Arten von bösem Einfluss auf die Gegend herabbringen würden. Die Kootenais, die bekanntermaßen heidnischen und abergläubischen Praktiken anhingen, würden dem Satan vollständig verfallen. Schließlich würden nur noch Feuer und Blut das Tal reinigen können. Doch das waren die boshaften Spekulationen müßiger Seelen, und als die Wahlsaison begann, beanspruchten die Dämonen der Silberwährung und des EisenbahnLandraubs ihre Aufmerksamkeit, und die Geheimnisse in den Bergen rund um das Moyea-Tal gerieten für eine Weile in Vergessenheit.
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Kaum vier Jahre verheiratet und schon verwitwet, lebte Grainier in seinem Unterschlupf am Fluss, nahe dem Stückchen Land, auf dem seine Hütte gestanden hatte. Er hielt sein Lagerfeuer bis tief in die Nacht am Brennen, so lange wie irgend möglich, und schlief oft erst im Morgengrauen ein. Er fürchtete seine Träume. Zuerst träumte er von Gladys und Kate. Dann nur noch von Gladys. Und schließlich, nachdem er ein paar Monate in einsamem Schweigen verbracht hatte, träumte Grainier nur noch von seinem Lagerfeuer, davon, wie er es schürte, bevor er sich schlafen legte – von der Silhouette seiner Hand und dem verkohlten Scheit, mit dem er in der Glut stocherte –, und war überrascht, wenn er am Morgen graue Asche und Holzreste vorfand, denn in seinen Träumen hatte er das Feuer die ganze Nacht brennen sehen. Nach weiteren drei Jahren lebte er in seiner zweiten Hütte, genau an der Stelle, wo die alte gestanden hatte. Nun schlief er jede Nacht tief und träumte oft von Zügen, und oft von einem bestimmten Zug: Er saß selber darin;
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er konnte den Kohlenrauch riechen; eine Welt zog vorbei. Und dann stand er selber in dieser Welt, während das Geräusch des Zuges verebbte. Etwas entfernt Vertrautes in diesen Szenen ließ ihn ahnen, dass sie aus semer Kindheit stammten. Manchmal hörte er, wenn er aufwachte, das Geräusch des Spokane International talaufwärts leiser werden und begriff, dass er die Lokomotive gehört hatte, während er träumte. Ebensolch ein Traum weckte ihn in einer Dezembernacht während seines zweiten Winters in der neuen Hütte. Der Zug war gen Norden vorbeigefahren, und alles war wieder ruhig. Noch einmal ein Kind in jener anderen Welt zu sein hatte ihn in Angst versetzt, und er konnte nicht mehr einschlafen. Er blickte mit weit geöffneten Augen in der Dunkelheit der Hütte umher. Inzwischen hatte er sie mit einem ordentlichen Dach gedeckt und zwei Bänke, einen Tisch und einen Holzofen hineingestellt. Er und die rote Hündin schliefen auf einem Strohlager am Boden, aber im Ganzen hatte er sich hier kein schlechteres Heim geschaffen, als er und Gladys und die kleine Kate es einst geteilt hatten. Vielleicht war es diese Erkenntnis, gerade jetzt, in der Dunkelheit nach seinem Albtraum, die Gladys in Geistgestalt zu ihm kommen ließ. Schon viele Minuten bevor sie sich zeigte, spürte er, wie sie sich durch den Raum bewegte. Er nahm ihre Anwesenheit so deutlich wahr, wie er die Umrisse einer plötzlich im Fensterlicht stehenden Person gesehen hätte, selbst mit geschlossenen Augen.
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Er legte seine rechte Hand auf den kleinen Hund, der neben ihm ausgestreckt lag. Der Hund bellte und knurrte nicht, doch Grainier spürte, wie das Fell auf seinem Rücken sich sträubte und borstig wurde, als die Erscheinung sich sichtbar im Raum zu manifestieren begann, zuerst nur als ein zuckendes Leuchten, wie von einer tropfenden Kerze, dann als weibliche Gestalt. Sie schimmerte, und ihr Licht bebte. Um sie herum zitterten die Schatten. Und dann war es Gladys – niemand sonst –, flimmernd und unecht, wie eine Figur in einem Film. Gladys redete nicht, aber sie gab ihm zu verstehen, was sie fühlte: Sie trauerte um ihre Tochter, die ihr verloren gegangen war. Ohne ihr Baby konnte sie nicht bei Jesus schlafen und fand keine Ruhe in Abrahams Schoß. Ihre Tochter war nicht zu den Geistern herübergekommen, sondern war hier geblieben, in der Welt des Lebens, ein Kind allein im brennenden Wald. Aber der Wald brennt doch gar nicht, sagte er zu ihr. Gladys konnte ihn nicht hören. Vor seinen Augen durchlebte sie noch einmal ihre letzten Momente: Der Wald brannte, und sie hatte nur eine Minute, um ein paar Sachen zusammenzuraffen und ihr Baby zu nehmen und aus der Hütte zu rennen, während das Feuer talwärts rauchte. Weniger und weniger von dem, was sie in der Eile ergriffen hatte, schien ihr wert gerettet zu werden, und so warf sie nach und nach alle Kleider und kostbaren Gegenstände weg, während die Hitze sie zum Fluss hinuntertrieb. Als sie den Rand des Steilufers erreicht hatte, waren nur noch
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die Bibel und die rote Pralinenschachtel übrig. Sie presste sie mit je einem Ellbogen gegen ihren Leib, die Hände vor der Brust fest um das Baby geklammert. Nach einer Weile beugte sie sich vor, ließ die Schokolade und das schwere Buch fallen, um das Baby in ihre Schürze einzuknüpfen, und nahm beides wieder auf. Doch sie brauchte eine Hand, um beim Abstieg von der felsigen Klippe hier und da Halt zu suchen, und da warf sie die Bibel weg – nicht die Pralinen. Und das, dieses Offenbarwerden ihrer Gleichgültigkeit gegenüber Gott, dem Vater aller Dinge, war ihr Verderben. Sieben Meter über dem Wasser trat sie einen Stein los, und kaum einen Herzschlag später hatte sie sich auf den unteren Felsen das Rückgrat gebrochen. Ihre Beine verloren alles Gefühl und wollten sich nicht mehr bewegen. Sie zerrte an dem Knoten vor ihrer Brust, damit das Kind frei war und davonkrabbeln und sich, wenigstens für eine Weile, am Ufer entlang durchschlagen konnte. Das Wasser streichelte Gladys, bis es sie, anscheinend durch die bloße Kraft seiner Zärtlichkeit, zu sich geholt hatte und sie ertrank. Eine nach der anderen klaubte das Baby die Pralinen aus den Lachen und zwischen den Steinen heraus. Dreißig Meter lange Kiefern, die über das Wasser hinausragten, brannten durch und stürzten in die Schlucht, ihre grünen Nadelbüschel loderten und zogen Rauchfahnen hinter sich her wie pyrotechnische Schlangen, und ihre
flammenden Kronen zischten, als sie auf den Fluss trafen. Gladys war da schon nicht mehr im
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Wasser, sondern hoch droben, und sie sah alles, was auf der Welt geschah. Das Moos auf den Dachschindeln ihrer Hütte wellte sich und begann sacht zu rauchen. Die Balken in den Wänden bogen sich und krachten wie großkalibrige Patronen. Eine Zeitschrift auf dem Tisch neben dem Ofen rollte sich ein, wurde dunkler, fing Feuer, stieg spiralförmig auf und flog Seite für Seite davon. Die einzige Fensterscheibe der Hütte zersprang, die Vorhänge begannen an den Säumen schwarz zu werden, das Wachs schmolz von den Gläsern mit eingemachten Tomaten, Bohnen und kanadischen Kirschen, die auf einem Regal über dem dampfenden Küchenspülbecken standen. Plötzlich gingen alle Lichter in der Hütte an. Auf dem Tisch explodierte ein Salzfass mit Metalldeckel; dann entzündete sich das ganze Haus wie ein Streichholzkopf. Gladys hatte all dies gesehen, und sie wollte es ihm anvertrauen. Sie hatte ihre Zukunft an den Tod verloren und ihr Kind an das Leben. Kate war dem Feuer entkommen. Entkommen? Grainier begriff diese Nachricht nicht. Hatte irgendeine Familie weiter unten am Fluss seine kleine Tochter gerettet? «Aber ich verstehe nicht, wie das möglich gewesen sein soll, nicht ohne dass irgendjemand davon weiß. Eine so seltsame und glückliche Wendung war doch eine große Sache für die Zeitungen gewesen – so wie Moses᾿ Schicksal für die Bibel.» Er redete laut. Doch wo war Gladys? Hörte sie ihn? Er spürte ihre Anwesenheit nicht mehr. Die Hütte war dunkel. Der Hund hatte aufgehört zu zittern.
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Von da an lebte Grainier fortwährend in der Hütte, auch den ganzen Winter über. Im Januar, wenn der Schnee tiefer geworden war, schien das Tal meist in einer andauernden Stille zu verharren, obwohl es in Wirklichkeit oft vom Rattern der Züge und von dem Chor ferner Wölfe und dem näheren, verrückten Gejieper der Kojoten erfüllt war. Und von seinem eigenen Geheul, denn das war für ihn inzwischen eine Art Sport geworden. Die Geistgestalt seiner toten Frau erschien ihm nie wieder. Zuweilen träumte er von ihr und träumte auch von den lauten Flammen, in denen sie umgekommen war. Oft wachte er mitten in diesem ohrenbetäubenden Traum auf und war vom Donner des Spokane International umgeben, der in der Nacht das Tal hinauffuhr. Doch er war nicht nur ein einsamer, verschrobener Junggeselle, der in den Wäldern lebte und mit den Wölfen heulte. Nach seinen eigenen Maßstäben hatte er es zu etwas gebracht: Er hatte ein Fuhrunternehmen. Er war froh, dass er keine zweite Frau geheiratet hatte – nicht, dass es leicht gewesen wäre, eine zu fin-
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den, aber eine Kootenai-Witwe hätte ihn vielleicht genommen. Dass er ein Stück Land und ein Haus besaß, verdankte er Gladys. Der Verantwortung, die ein Pferdegespann und ein Wagen bedeuteten, hatte er sich nur gewachsen gefühlt, weil Gladys noch in seinem Herzen und in seinen Gedanken war. Im Winter brachte er die Pferde in der Stadt unter – zwei ältere Holzfällerstuten in ungefähr der gleichen Verfassung und Lage wie er selbst, aber geschickt mit dem Wagen und allemal kräftig genug. Um für seine Ausrüstung aufzukommen, arbeitete er einen letzten Sommer in den Wäldern Washingtons, heilfroh, dass es der letzte war. Gleich zu Beginn der Saison hieb ihm ein ungebärdiger Ast den Unterkiefer schief, und die linke Hälfte renkte sich nie wieder richtig ein. Das Kauen bereitete ihm Schmerzen, und mehr als alles andere war das der Grund, warum er sein Leben lang so dürr blieb. Seine Gelenke gingen kaputt. Wenn er den Arm im falschen Winkel nach hinten ausstreckte, klemmte seine rechte Schulter wie eine fest verschlossene Stahltresortür, bis jemand sie löste, indem er einen Fuß gegen seine Rippen stemmte und an seinem Arm zog. «Man muss tüchtig ziehen», erklärte er demjenigen, der ihm half, um gleich darauf in eine Finsternis der Knochenqualen zu tauchen, «mehr – tüchtig – ganz fest ziehen, fester, fester, richtig ziehen –», bis das große Gelenk mit einem grässlichen Schnapp- und Glucksgeräusch nachgab. Sein rechtes Knie neigte neuerdings dazu, seitlich unter ihm weg-
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zurutschen, sodass es zunehmend gefährlich wurde, ihm das andere Ende einer Last anzuvertrauen. «Ich glaub, ich bin wohl allmählich zu wacklig montiert, um noch Geld zu verlangen», sagte er eines Tages zu seinem Boss. Er hielt bis zum Ende durch, half aber nur noch, alte Tagelöhnerhütten abzureißen und das bessere Holz auszusortieren, und als das vollbracht war, ging er zurück nach Bonners Ferry. Seine Zeit als Waldarbeiter war vorbei. Er setzte sich in den Great Northern und fuhr nach Spokane. Mit beinahe fünfhundert Dollar in der Tasche, mehr als genug, um seine Pferde und den Wagen zu bezahlen, nahm er sich ein Zimmer im Riverside Hotel und ging zum Jahrmarkt, ein Vergnügen, das nur eine halbe Stunde währte, weil gleich die erste Entscheidung, die er dort traf, falsch war. Zwei Männer aus Alberta hatten ein Flugzeug mitten auf einem Feld geparkt und boten für vier Dollar pro Passagier Fahrten am Himmel an – ein ziemlich deftiger Preis, und nicht allzu viele wollten ihn zahlen. Doch Grainier musste es ausprobieren. Der junge Pilot – ein Kind noch, allerhöchstem zwanzig, ein blonder Junge in einem braunen Mantel mit Metallknöpfen – gab ihm eine Schutzbrille und hievte ihn an Bord. «Klettern Sie da rüber. Und suchen Sie sich was für Ihren Hintern», sagte der Junge. Grainier setzte sich auf die Bank hinter der des Piloten. Er befand sich jetzt zwei Meter über dem Boden,
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und schon das kam ihm hoch genug vor. Die Flügel auf beiden Seiten dieser Apparatur schienen aus äußerst zerbrechlichem Material gemacht. Wie konnte das Ding fliegen, wenn seine Flügel reglos blieben? Offenbar, indem es seinen eigenen Wind erzeugte, die Luft mit seinem Propeller aufwirbelte, den der andere Albertaner, der grimmige Vater des Jungen, mit den Händen drehte, bis er zu kreisen begann. Grainier nahm nur noch ein großes Erstaunen wahr, und dann war er hoch oben am Himmel, sein Magen dagegen irgendwo anders. Er holte ihn nicht wieder ein. Grainier schaute auf den Jahrmarkt hinab wie von einer Wolke. Die Erdoberfläche kippte seitwärts, und er verlor jedes Gefühl für oben und unten. Das Flugzeug richtete sich wieder auf und setzte zu einem trägen, taumelnden Aufstieg an, wie ein Wagen, der sich einen Berg hinaufschlängelt. Von dem Aufruhr in seinen Eingeweiden abgesehen, hatte Grainier das Gefühl, als könne er sich womöglich an all dies gewöhnen. Im selben Moment wandte sich der Pilot, mit seiner Kappe und seiner Schutzbrille einem Waschbären ähnelnd, zu ihm um und rief ihm etwas zu, bleckte die Zähne und schaute wieder nach vorn. Schon stieß das Flugzeug wie ein Falke hinab, steiler und immer steiler, mit nahezu geräuschlosem Motor, und Grainiers Organe wurden gegen seine Wirbelsäule gepresst. Er sah die Szene mit seiner Frau und seinem Kind vor sich, wie sie an jenem Sommerabend in ihrer kleinen Holzhütte Hood᾿s Sarsa-
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parille tranken, dann eine andere Hütte, an die er sich noch nie zuvor erinnert hatte, die Stätten seiner verborgenen Kindheit, ein weites goldenes Weizenfeld, über einer Straße flimmernde Hitze, Arme, die ihn umfingen, dazu der leise Singsang einer Frauenstimme, und alle Rätsel seines Lebens waren gelöst. Die gegenwärtige Welt nahm vor seinen Augen Gestalt an, als der Motor aufjaulte und das Flugzeug sich abfing, einmal den Rummelplatz umrundete und mit einer so abrupten Landung zur Erde zurückkehrte, dass Grainier beinahe die Gurgel aus dem Hals sprang. Der junge Pilot half ihm von Bord. Grainier rollte sich über die Seite und rutschte am Flugzeugrumpf hinunter. Er suchte mit einer Hand Halt am Flügel, doch der Flügel war selber wackelig. «Was hatte das verdammte Gebrüll zu bedeuten?», fragte er. «Ich hab gesagt, ‹Jetzt kommt ein Sturzflug!›» Grainier schüttelte dem Burschen die Hand, sagte: «Vielen Dank», und marschierte vom Feld. Er saß den ganzen Nachmittag auf der großen Veranda vor dem Riverside Hotel, bis er einen Vorwand gefunden hatte, den Panhandle wieder hinaufzufahren – einen Vorwand in Gestalt Eddie Sauers, den er seit seiner Kindheit in Bonners Ferry kannte und der, nachdem er seinen gesamten Sommerlohn in Kneipen und unzüchtigen Etablissements losgeworden war, gerade beschlossen hatte, reumütig nach Hause zurückzukehren. «Eine Hure hat mir den Garaus gemacht», sagte er.
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»Den Garaus! Ich dachte immer, das heißt so viel wie jemanden abmurksen!» «Nein, heißt es nicht. Ich bin jedenfalls nicht tot. Ich wünschte bloß, ich wär᾿s.» Grainier meinte, Eddie und er müssten ungefähr gleich alt sein, aber das lockere Leben hatte Eddie einige Jährchen zusätzlich aufgesackt. Sein Schnauzer war weiß, und seine Lippen kräuselten sich über den vermutlich fast zahnlosen Kiefern. Grainier bezahlte die Fahrt für sie beide, und sie stiegen in den Zug nach Meadow Creek, wo Eddie Arbeit in einem Trupp zu finden hoffte. Nach einem Monat beim Gleis-und-Schwellen-Trupp von Meadow Creek verkündete Eddie, sie müssten Claire Thompson, deren Ehemann im Sommer zuvor das Zeitliche gesegnet habe, beim Umzug von Noxon, Montana, nach Sandpoint helfen, und er könne Grainier fünfundzwanzig Dollar dafür bieten. Claire selber würde nichts bezahlen. Eddies Motive, der Witwe zu helfen, waren leicht herzuleiten, und er buchstabierte sie nicht aus. «Wir nehmen die Road 200», sagte er zu Grainier, als gäbe es irgendeine andere. Grainier hatte seine Stuten und den Wagen, Eddie den Ford – ein T-Modell –, der dem Mann seiner Schwester gehörte. Sein Schwager hatte den Notsitz herausgesägt und eine flache Frachtwanne darauf gezimmert, die sehr umsichtig würde beladen werden müssen, damit die ganze Angelegenheit nicht aus dem Gleichgewicht geriet. Grainier traf sich mit Eddie am frühen Morgen
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in Troy, Montana, und lenkte sein Gespann gen Osten zur Bullhead Lake Road, die sie in südlicher Richtung nach Noxon führen würde. Grainier fuhr immer eine halbe Meile voraus, weil seinen Pferden das Automobil nicht geheuer war, und Eddie schienen sie auch nicht zu mögen. Ein kleiner Deutscher namens Heinz betrieb auf dem Hügel östlich von Troy eine Automobil-Tankstelle, doch auch er hatte etwas gegen Eddie und weigerte sich, ihm Benzin zu verkaufen. Grainier bemerkte nichts davon, bis Eddie mit kreischender Hupe hinter ihm angebraust kam und beinahe die Pferde in die Flucht gejagt hätte. «He, pass mal auf, die Mädels haben schon allen möglichen Rabatz erlebt», sagte Grainier gereizt, nachdem sie beide am Rand der staubigen Straße angehalten hatten und er zum Ford zurückgelaufen war. «Sie sind an vieles gewöhnt, aber so ᾿ne Hupe mögen sie nicht. Also lass das Gehupe sein, wenn du in der Nähe meiner Stuten bist.» «Du musst noch mal zurück und zwei oder drei Büchsen Benzin kaufen», sagte Eddie. «Das alte SchnitzelKraut will nicht mal mit mir sprechen.» «Was hast du ihm denn getan?» «Nichts, gar nichts! Ich schwör᾿s! Er sucht sich bloß ᾿n paar aus, die er hassen kann, und ich gehör dazu.» Der alte Mann hatte selber ein T-Modell vor seiner Tankstelle stehen. Er hatte die Motorhaube hochgeklappt und war halb im Rachen des Wagens verschwunden, so schien es Grainier, der nie viel mit diesen explosiven Ma-
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schinen am Hut gehabt hatte. «Wissen Sie wirklich, wie der Motor da drinnen funktioniert?», fragte er ihn. «Ich weiß alles.» Heinz stotterte und rauchte selbst ein bisschen wie ein Automobil. «Ich bin Gott!», sagte er. Grainier überlegte, was er darauf antworten sollte. Dieses Gespräch konnte eigentlich nicht mehr weitergehen. «Dann müssten Sie auch wissen, was ich sagen will.» «Sie wollen Benzin für Ihren Freund. Er ist der Teufel. Glauben Sie etwa, ich verkauf dem Teufel Benzin?» «Ich bin der, der᾿s kauft. Ich brauche sechzig Liter, und Kanister dazu.» «Das kostet Sie aber fünf Dollar.» «Von mir aus.» «Sie sind ᾿n anständiger Kerl», sagte der Deutsche. Er war ein ziemlich kleiner Mann. Er zerrte eine niedrige Kiste heran und stellte sich darauf, sodass er Grainier direkt in die Augen schauen konnte. «Gut. Vier Dollar.» «Kannst froh sein, dass der Kerl dich hasst», sagte Grainier zu Eddie, als er mit drei vollen olivfarbenen Benzinkanistern neben dem Ford anhielt. «Er hasst mich, weil seine Tochter mal vom Friseurladen in Troy aus gehurt hat», sagte Eddie, «und ich einer ihrer glücklichsten Kunden war. Jetzt führt sie ᾿n anständiges Leben in Seattle», fügte er hinzu, «wozu grollt er mir also immer noch?» Sie schlugen ihr Nachtlager in den Wäldern nördlich von Noxon auf. Grainier, behaglich in seinem leeren
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Wagen ausgestreckt, schlief lange, bis Eddie ihn mit der jodelnden Hupe seines T-Modells auf die Beine brachte. Eddie hatte im Bach gebadet. Es war das erste Mal, dass Grainier ihn je ohne Hut sah. Sein Haar war wirr, meistenteils grau und an ein paar Stellen blond. Er hatte sich das Gesicht rasiert und Pflaster auf mehrere Schnitte geklebt. Obwohl er keinen Kragen trug, hatte er sich eine rot-weiße Krawatte um den Hals gebunden, die ihm bis zwischen die Beine herabhing. Sein Hemd war das alte, vom Samstagsbasar oder vom Trödel der Lutherkirche, aber er hatte seine hässlichen Arbeitsstiefel geschrubbt, und seine sauberen schwarzen Hosen waren derart steif gestärkt, dass sein Gang gestelzt wirkte. Die plötzliche Aufmerksamkeit, die so lange vernachlässigtem Terrain zuteil wurde, schien geeignet, die natürliche Welt aus den Angeln zu heben, gerade so als hätte der Allmächtige selbst einen Schlag auf den Kopf bekommen, und Eddie wusste es wohl. Er legte eine kühle, beherrschte Hysterie an den Tag. «Terrence Naples hat sich an die Frau Witwe rangemacht», sagte er. Er stand in Habachtstellung vor Grainier und sprach sonderbar, nur die Lippen bewegend, damit die Pflastertupfen auf seinen Gesichtswunden nicht verrutschten, «aber ich hab dem alten Terrence gesagt, dass ich jetzt an der Reihe war bei der Lady, sonst würd ich ihn quer durchs ganze County scheuchen, und zwar vierundzwanzig Stunden am Tag. Ja, genau, ich hab ihm gedroht. Und das war nicht bloß eitles Geschwätz. Den
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verbürst ich, bis ihm die Taschen platzen. Den Jüngeren graut᾿s vor mir, und sie ist meine einzige Chance – es sei denn, ich nehm mir ᾿n Kootenai-Mädel oder zieh nach Spokane oder krauch rüber nach Wallace.» Wallace, Idaho, war berühmt für seine Bordelle und für seine Huren, von denen manchmal eine bereit war, nach getaner Lebensarbeit Tisch und Bett mit einem Freier zu teilen. «Außerdem hab ich die alte Ciaire als Erster gekannt, vor Terrence», sagte er. «Ich hatte als Junge mal ᾿ne kurze, unglückliche fromme Phase, da hab ich vorm Gottesdienst mit den Knirpsen Bibelkunde gemacht, und sie war einer von den Knirpsen. Glaub ich jedenfalls. Mein ich mich jedenfalls zu erinnern.» Grainier hatte Claire Thompson schon gekannt, als sie noch Claire Shook hieß und ein paar Klassen unter ihm in Bonners Ferry zur Schule ging. Sie war ein hübsches junges Fräulein gewesen, und ihr Aussehen hatte durch ein paar zusätzliche Pfunde und allmählich ergrauendes Haar kein bisschen gelitten. Claire war im Ersten Weltkrieg als Krankenschwester in Europa gewesen. Sie hatte recht spät geheiratet und war binnen weniger Jahre Witwe geworden. Jetzt hatte sie ihr Haus verkauft und in Sandpoint, an der Straße, die den Idaho Panhandle hinauf- und hinabführte, ein neues gemietet. Die kleine Stadt Noxon lag auf der südlichen Seite des Clark Fork River und das Haus der Witwe auf der nördlichen, sodass sie nicht einmal Gelegenheit hatten, sich im Laden etwas zu trinken zu kaufen, sondern gleich
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bei Claire vorfuhren und das Haus ausräumten und so viele ihrer irdischen Güter auf den Wagen luden, wie die Pferde ziehen konnten, hauptsächlich schwere verriegelte Schrankkoffer, Werkzeug und Küchenutensilien, und den ganzen Rest häuften sie auf das T-Modell, bis ein so hoher Berg entstanden war, dass sie mit einer Hacke gerade noch oben ankamen, wo auf zwei Matratzen zwei Kinder und ein kleiner Hund thronten. Als Grainier sie bemerkte, waren die Kinder schon viel zu hoch über ihm, als dass er ihr Alter oder Geschlecht hätte bestimmen können. Die Arbeit ging schnell. Um zwölf brachte Claire ihnen Eistee und Wildbret- und Käsesandwiches, und gegen eins waren sie wieder unterwegs. Die Witwe selbst saß vorne neben Eddie und hatte sich bei ihm eingehakt. Sie trug einen weißen Schal um den Kopf und ein schwarzes Kleid, das sie vor knapp einem Jahr für die Zeit der Trauer gekauft haben musste, und lachte und plauderte, während ihr Galan mit einer Hand zu lenken versuchte. Grainier ließ ihnen einen guten Vorsprung, doch auf den langen Anstiegen holte er sie häufig ein, weil das Auto sich schwer tat und der Motor kochte und Eddie ihm Wasser aus Kanistern geben musste, die die Kinder – dem Anschein nach Jungen – im Fluss wieder auffüllten. Die Karawane bewegte sich so langsam vorwärts, dass der kleine Hund von seinem Ausguck oben auf der Fracht herunterspringen konnte, um Ziesel zu jagen und an ihren Erdlöchern zu schnüffeln, dann den Damm neben der Straße hinaufkletterte und von dort
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wieder zwischen die Kinder hopste, die sich steifarmig, die Füße in der Luft, links und rechts an der Verschnürung festhielten. Ein paar Wegstunden weiter machten sie bei einem Nachbarn Halt, um noch einen Gegenstand abzuholen – ein zweiläufiges Gewehr, das Claire Thompsons Mann ihnen als Faustpfand für einen Kredit gegeben hatte. Anscheinend hatte Thompson den Kredit nicht abbezahlt, doch dem Toten zu Ehren hatte die Frau des Nachbarn ihren Mann überredet, die alte 12-mm-Büchse zurückzugeben. Dies erfuhr Grainier, als er die Stuten an den Straßenrand geführt hatte, wo sie Gras rupfen und aus der Regentonne des Nachbarn trinken konnten. Obwohl Grainier dicht bei ihnen stand, wählte Eddie diesen Moment, um vertraulich mit der Witwe zu reden. Sie saß neben ihm im Auto und schüttelte den grauen Staub aus ihrem Kopftuch und wischte sich über das Gesicht. «Ich wollte sagen», begann er, fand aber offenbar, dass es so nicht ging. Er öffnete jählings seine Tür und stieg hastig aus dem Wagen, so aufgeregt, als sei das Auto drauf und dran, im Morast zu versinken. Dann sauste er auf die andere Seite, sodass er neben der Witwe stand. «Der selige Mr. Thompson war ᾿n anständiger Kerl», erklärte er ihr. Er druckste eine Minute lang herum, bis er genügend Dampf aufgemacht hatte, um fortzufahren: «Der selige Mr. Thompson war ᾿n anständiger Kerl. Ja.» «Ja?», sagte Claire. «Ja. Jeder, der ihn gekannt hat, sagt mir, er war ᾿n famo-
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ser Kerl und auch ein ganz ... famoser Kerl, könnte man sagen. Sagen alle. Die ihn so gekannt haben.» «Und haben Sie ihn denn gekannt, Mr. Sauer?» «Nie ein Wort mit ihm gewechselt. Nee. Er hat mir mal auf eine übel gemeine Art mitgespielt ... Aber er war ᾿n anständiger Kerl, wie ich schon gesagt hab.» «Eine übel gemeine Art, Mr. Sauer?» «Über den Strick von meiner Ziege ist er gefahren und hat ihr das Genick gebrochen mit seiner Karre! Ein Dreckskerl war er, der lieber geklaut als gearbeitet hat, oder etwa nicht? Aber was ich sagen wollte! Würden Sie ᾿n Mannsbild heiraten?» «Von welchem Mannbild sprechen Sie?» Eddie hatte Schwierigkeiten, eine Antwort zuwege zu bringen. Unterdessen öffnete Claire ihre Tür, stieg aus und schob ihn beiseite. Sie wandte ihm den Rücken zu und betrachtete eingehend Grainiers Pferde. Eddie ging zu Grainier hinüber und sagte: «Von welchem Mannsbild glaubt sie denn wohl? Von diesem Mannsbild hier! Von mir!» Grainier konnte nur mit den Schultern zucken, lachen, den Kopf schütteln. Eddie blieb drei Schritte hinter der Witwe stehen und sprach ihren Rücken an: «Von dem Mannsbild, das vor Ihnen steht! Dem Mannsbild zum Heiraten! Ich bin derjenige!» Sie drehte sich um, nahm Eddie beim Arm und führte ihn zum Ford zurück. «Ich glaube nicht, dass Sie das
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sind», sagte sie. «Jedenfalls nicht für mich.» Sie wirkte nicht mehr verärgert. Als sie weiterfuhren, stieg sie zu Grainier auf den Wagen und setzte sich neben ihn. Grainier geriet in entsetzliche Verlegenheit, weil er der Nase einer so feinen Frau wie Claire Shook, jetzt Claire Thompson, nicht zu nahe kommen wollte – seine Kleider stanken. Er hätte sich gern dafür entschuldigt, wusste aber nicht recht, wie. Die Witwe schwieg. Er fühlte sich gezwungen, sie zu unterhalten. «Also», sagte er. «Also was?» «Also», sagte er, «da haben Sie ihn, Ihren Eddie.» «Nein, nicht meinen Eddie», sagte sie. «Wohl nicht», sagte er. «An einem zivilisierten Ort haben Witwen nicht groß die Wahl, wenn sie noch mal heiraten wollen. Da laufen zu viele von uns ohne Ehemänner rum. Aber hier draußen stehen wir hoch im Kurs. Da können wir uns aussuchen, wen wir haben wollen, bloß ist das auch nicht unbedingt das Wahre. Ihr Männer seid ja leider alle schon so früh im Leben verbraucht. Werden Sie noch mal heiraten?» «Nein», sagte er. «Nein. Sie wollen nicht noch härter arbeiten als jetzt, nicht wahr?» «Nein, will ich nicht.» «Dann werden Sie auch nicht wieder heiraten, nie mehr.»
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«Ich war mal verheiratet», sagte er, beinahe in dem Gefühl, er müsse sich verteidigen. «Und bin mehr als zufrieden mit allem, was mir davon geblieben ist.» Er hatte wirklich das Gefühl, dass er sich verteidigte. Aber warum sollte das jemand von ihm verlangen? Warum fuchtelte diese Frau mit ihrem Heiratsthema vor seinem Gesicht herum wie mit einem großen Stecken? «Wenn Sie auf Männerfang sind», sagte er, «kann ich mir keinen größeren Fehler denken, als ausgerechnet mir nachzustellen.» «Da bin ich ganz Ihrer Meinung», sagte sie und schien weder besonders glücklich noch besonders traurig darüber. «Ich wollte nur wissen, ob sich Ihr eigener Eindruck von sich mit meinem deckt, Robert, das ist alles.» «So. Na schön.» «Gott braucht den Eremiten in den Wäldern, wie Er den Mann auf der Kanzel braucht. Haben Sie darüber schon mal nachgedacht?» «Ich glaube nicht, dass ich ein Eremit bin», antwortete Grainier, doch als der Tag vorüber war und er seiner Wege ging, dachte er: Bin ich ein Eremit? Bin ich das, was man einen Eremiten nennt? Eddie befreundete sich mit einer Kootenai-Frau, die ihr Haar in einem Wust trug wie ein Kino-Vamp und ihre Lippen schlampig-rot anmalte. Als Grainier die beiden zum ersten Mal zusammen sah, hätte er nicht sagen können, wie alt sie war, aber sie hatte braune, faltige Haut. Irgendwo hatte sie eine Sonnenbrille mit sechseckigen Gläsern aufgetrieben, so tiefblau getönt, dass ihre Augen
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dahinter unsichtbar waren, und es schien keineswegs sicher, dass sie selbst irgendetwas sah, außer vielleicht im allergrellsten Licht. Es konnte nicht schwer sein, mit ihr auszukommen, weil sie nie etwas sagte. Wann immer jedoch Eddie zu reden anfing, murmelte sie in einem fort und seufzte und brummte, ja pfiff sogar, leise und unmelodisch, vor sich hin. Grainier hätte sie für verrückt angesehen, wäre sie weiß gewesen. «Wahrscheinlich spricht sie nicht mal Englisch», sagte er laut und merkte, dass außer ihm niemand da war. Er war ganz allein in seiner Hütte im Wald, sprach mit sich selbst und erschrak vor seiner eigenen Stimme. Sogar sein Hund lief irgendwo draußen herum und war zum Schlafen nicht heimgekommen. Grainier starrte in das durch die Ritzen im Ofen flackernde Feuer und auf den leise wehenden Vorhang finsterster Nacht.
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Selbst in seinen letzten Jahren, als seine Arthritis und sein Rheumatismus ihm bisweilen die einfachsten täglichen Verrichtungen fast unmöglich machten und zwei Winterwochen in der Hütte ihm den Rest gegeben hätten, verbrachte Grainier weiterhin jeden Sommer und Herbst in seinem einsamen Zuhause. Inzwischen hatte er begriffen – und wunderte sich nicht mehr –, dass das Tal nicht nach einer Weile, irgendwann, wieder genauso beschaffen sein würde wie vor dem großen Feuer. Obwohl die Spuren der Zerstörung nach und nach verblassten, war es jetzt ein ganz anderer Ort, mit anderen Pflanzen und deshalb auch mit anderen Tieren. Die prächtigen Fichten waren fort. Stattdessen kamen nun fast ausschließlich Kiefern nach, die zu dürrem und armseligem Wuchs neigten. Er hatte die Wölfe seltener und seltener gehört, aus weiterer und weiterer Ferne. Kojoten gab es mehr als vorher, Kaninchen nur noch wenige.Aus dem Moyea waren, dort, wo es gebrannt hatte, auf viele Meilen die Forellen verschwunden.
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Vielleicht fragte sich der eine oder andere, was Grainier noch immer an diesen entlegenen Flecken Erde zog, doch er erzählte es keinem. Die Wahrheit war, dass er geschworen hatte, dort zu bleiben, und dass er diesen Schwur unter dem Schock eines Ereignisses geleistet hatte, das sich ungefähr zehn Jahre nach dem Brand zutrug. Das war, nachdem Kootenai-Bob überfahren worden war, in den zwei oder drei Tagen, als seine Stammesbrüder an den Gleisen entlangliefen, um ihn sich Stück für Stück zusammenzusuchen. An diesen drei oder auch vier kühlen Herbstabenden ließ der Great Northern eine Reihe lang gezogener Pfiffe ertönen, den ersten gleich hinter der Bahnschranke von Meadow Creek, und er fuhr, bis er ein gutes Stück weiter nördlich war, sehr langsam. Damit folgte er einer Anweisung des Managements, das den Kootenai-Indianern die Chance geben wollte, ohne weitere Zwischenfälle so viel wie möglich von ihrem Bruder aufzusammeln. Es war Mitte November, aber geschneit hatte es noch nicht. Der Mond ging gegen Mitternacht auf und hing bis zehn Uhr morgens über dem Queen Mountain. Die Tage waren kurz und hell, die Nächte klar und kalt. Doch waren diese Nächte von einer rauen Hysterie erfüllt. Durch das Pfeifsignal des Zuges aufgescheucht, schlugen die Kojoten an, und dann die Wölfe. Seine Kameradin, die rote Hündin, war auch irgendwo da draußen – Grainier hatte sie tagelang nicht gesehen. Der Chor
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schien stets in jener Nacht am vollsten, wenn der Mond voll ᾿wurde. Schien dann am irrsten. Am erbärmlichsten. Die Wölfe und Kojoten heulten ohne Unterlass die ganze Nacht; es klang, als wären es Hunderte, mehr, als Grainier jemals gehört hatte, und vielleicht mischten sich noch andere Geschöpfe darunter – Eulen, Adler, was genau, vermochte er nicht zu sagen –, vermutlich jedes mit einer Stimme begabte Wesen auf den Gipfeln und Bergkämmen oberhalb des Moyea, so als gäbe es nichts, was auch nur ein einziges von Gottes Tieren besänftigen könnte. Grainier wagte nicht zu schlafen. Ihm war, als sei all dies eine Art ungeheuerlicher Verkündigung, die Warnung vielleicht vor dem Ende der Welt. Er legte Holz nach, stellte sich halb bekleidet in den Türrahmen seiner Hütte und betrachtete den Himmel. Die Nacht war wolkenlos und der Mond so weiß und brennend, dass er die Sterne auslöschte und die Berge in graue Silhouetten verwandelte. Ein Rudel von Heulern schien ganz nah zu sein, ja immer näher zu kommen, vielleicht im Laufen weiter jaulend. Und plötzlich strömten sie auf die Lichtung und waren überall, etliche Formen und Schatten, gellende Stimmen, und manche fegten an ihm vorbei, streiften ihn, dort in seinem Türrahmen, und er hörte den dumpfen Aufschlag ihrer Pfoten auf dem Erdboden. Noch ehe sein Kopf ihm sagen konnte, «da sind Wölfe auf meinem Grundstück», waren sie ᾿wieder fort. Alle außer einem. Und das war das Wolfsmädchen. Grainier meinte, er würde in Ohnmacht fallen. Er um-
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klammerte den Türpfosten, um auf den Füßen zu bleiben. Die Kreatur rührte sich nicht und schien verletzt zu sein. Gleich sein allererster Eindruck von ihr sagte ihm, dass dies ein Mensch war – ein weiblicher – ein Kind. Sie lag auf der Seite und keuchte, ein eindeutig menschliches Geschöpf mit dem zarten Körperbau eines kleinen Mädchens, doch jetzt, da er diese verschwommene Gestalt im Mondlicht besser erkennen konnte, schien ihm, dass ihre Arme und Beine abgewinkelt waren. Mit jedem Ein- und Ausatmen kam ein Pfeifen aus ihren Lungen, ein Fiepen wie von einem verängstigten Welpen. Grainier drehte sich krampfartig um und ging zum Tisch und suchte – was? Er wusste es nicht. Eine Waffe? Er hatte nie ein Gewehr besessen. Vielleicht ein Holzscheit, um dem Ding damit auf den Kopf zu schlagen. Er wühlte in dem Durcheinander auf dem Tisch herum, bis er die Streichhölzer in seiner Hand fühlte, zündete eine Sturmlaterne an, fand ein geeignetes Scheit und ging wieder hinaus, in seinen langen Unterhosen, barfuß, die Lampe hoch erhoben und den Knüppel vor der Brust, verfolgt und bedrängt von seinem eigenen monströsen Schatten, der die ganze Lichtung hinter ihm ausfüllte. Frost hatte sich auf dem toten Gras gebildet und knisperte unter seinen Füßen. Sonst hätte er geglaubt, er sei mit einem Schlag taub geworden, so gewaltig war die Stille um ihn her. Alle Geräusche der Nacht waren verstummt. Das ganze Tal schien sein Entsetzen zu reflektieren. Er hörte nichts als seine Schritte und das keuchende Klagen des Wolfsmädchen.
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Das Wimmern hörte auf, als er sich ihm behutsam näherte, Schritt für Schritt, um weder dieses Geschöpf noch sich selbst zu erschrecken. Das Wolfsmädchen verharrte in der panischen Angst eines Tiers, starr bis auf die Augen, die jeder seiner Regungen folgten, ohne doch seinem Blick zu begegnen, und bis auf den Atem, der vor seinen Nüstern rauchte. Die Augen des Kindes funkelten im Licht der Lampe grün, wie die eines jeden Wolfs. Sein Gesicht war das eines Wolfs, nur ohne Haare. «Kate?», sagte er. «Bist du das?» Aber sie war es. Nichts Bestimmtes an ihr verriet ihm das. Er wusste es einfach. Dies war seine Tochter. Sie blieb stockstarr, auch als er noch näher kam. Er hoffte, dass irgendein Zeichen des Wiedererkennens aufblitzen und ihm beweisen würde, dass es Kate war. Doch ihre Augen blickten nur in blanker Furcht, wie die eines Wolfs. Starr. Starr und stumm. Es war Kate, aber nicht mehr Kate. Nicht-mehr-Kate lag auf der Seite, das linke Bein an die Hüfte gepresst; zersplitterter, blutiger Knochen ragte unterhalb des Knies heraus – ein erschöpftes Kind, das auf nur drei Beinen herumgekrochen war, weil es das vierte, zertrümmerte nachschleifen musste. Er hatte manchmal über Kates Haar nachgedacht, wie es wohl ausgesehen hätte, wenn sie am Leben geblieben wäre; doch sie hatte sich selbst fast völlig kahl gerupft. An ein paar Stellen wuchs etwas nach.
Jetzt hatte er sich ihr bis auf Armeslänge genähert. Nicht-mehr-Kate knurrte, bellte, schnappte, als ihr Vater
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sich zu ihr hinunterbeugte, dann wurde ihr Blick glasig, und sie entfernte sich so weit von sich selber, dass er glaubte, sie wäre durch sein Näherkommen aus der Welt geschieden. Aber sie lebte – und beobachtete ihn. «Kate. Kate. Was ist mit dir geschehen?» Er stellte die Lampe ab, legte den Knüppel weg, schob seine Arme unter sie und richtete sich auf. Ihr Atem ging schnell, schwach und ganz flach. Sie wimmerte kurz in sein Ohr und schnappte mit dem Kiefer, doch sonst wehrte sie sich nicht. Er drehte sich mit ihr um und ging zur Hütte, fort vom Licht seiner Lampe und auf seinen eigenen monströsen Schatten zu, der sein Haus verschlang und mit jedem seiner Schritte wie durch Zauberkraft schrumpfte. Drinnen legte er sie auf sein Strohlager. «Ich hole die Lampe», sagte er zu ihr. Als er wieder in die Hütte kam, war sie noch da. Er stellte die Lampe auf den Tisch, sodass er sehen konnte, was er tat, und traf Vorbereitungen, das gebrochene Bein mit einem Stück Holz zu schienen, indem er den Bund seiner langen Unterhosen rundherum abschnitt, über den Kopf zog und in Streifen riss. Als er mit einer Hand den Knöchel des Kindes ergriff und seine andere auf den Schenkel legte, um zu ziehen, stieß es einen furchtbaren Seufzer aus. Dann verlangsamte sich sein Atem. Es hatte die Besinnung verloren. Er streckte das Bein, so gut es ging, und da er meinte, dass er sich jetzt ruhig Zeit lassen konnte, schnitzte er ein Holzscheit so zurecht, dass es sich glatt an das Schienbein schmiegte. Er zog eine Bank
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an das Strohlager heran und setzte sich darauf, um den Fuß des Mädchens auf sein Knie zu betten, während er die Schiene anlegte und am Bein festband. «Ich bin kein Arzt», sagte er zu ihr. «Ich bin nur derjenige, der da ist.» Er öffnete das Fenster auf der anderen Seite des Raums, damit sie Luft bekam. Sie lag dort und schlief und schien nur noch halb am Leben. Er betrachtete sie lange. Sie sah ledrig aus wie ein alter Mann. Ihre Hände waren einwärts gedreht, die Rückseiten ihrer Handgelenke schwielige Stümpfe, ihre Füße missgestaltet und so hart und knorrig wie die Knoten an einem Baumstamm. Was war es, das ihr Gesicht so wölfisch wirken ließ, so tierisch, selbst im Schlaf? Er wusste es nicht. Es schien einfach kein Leben hinter dem Gesicht zu sein, wenn die Augen geschlossen waren. Als könne dieses Geschöpf nichts anderes denken, als was es sah. Er rückte die Bank an die Wand, lehnte sich zurück und döste. Ein Zug, der durch das Tal fuhr, weckte ihn nicht, sondern drang nur in seinen Traum. Später, kurz vor Tagesanbruch, brachte ihn ein viel leiseres Geräusch wieder zu sich. Das Wolfsmädchen hatte sich geregt. Es wollte fort. Es sprang aus dem Fenster. Er stellte sich ans Fenster und beobachtete im Glanz der Morgendämmerung, wie es auf allen vieren davonkroch und dann und wann innehielt, um sich zu sich selbst umzudrehen und nach den Verbänden an seinem
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Bein zu schnappen, wie es jeder Wolf oder Hund getan hätte. Das Wolfsmädchen legte kein großes Tempo vor und blieb auf dem Weg, der zum Fluss führte. Er wollte ihm nachlaufen und es zurückholen, aber er tat es nicht.
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Im heißen, regenlosen Sommer des Jahres 1935 wurde Grainier eine kurze Saison sinnlicher Lust zuteil, wie er sie in jüngeren Jahren nie kennen gelernt hatte. Mitte August hatte es den Anschein, als würde die sechswöchige Dürre endlich brechen; enorme Gewitterwolken ballten sich über dem gesamten Panhandle zusammen und schlössen die Hitze darunter ein, während die Atmosphäre immer feuchter und schwüler wurde; doch der Regen wollte nicht kommen. Grainier fühlte sich wie aus Blei – schwer und wertlos. Und einsam. Sein kleiner roter Hund war seit Jahren fort, war alt und krank geworden und in den Wäldern verschwunden, um dort allein zu sterben, und Grainier hatte sich nie einen neuen gekauft. An einem Sonntag ging er zu Fuß nach Meadow Creek und stieg in den Zug nach Bonners Ferry. Die Passagiere in dem schwankenden Wagen hatten die Fenster aufgeklappt, und wer das Glück hatte, in ihrer Nähe zu sitzen, hielt sein Gesicht in die feuchtwarme Brise. Die wenigen, die in Bonners ausstiegen, gingen wortlos, wie
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geprügelte Sträflinge, auseinander. Grainier begab sich zum Marktplatz, wo ein paar Leute auch sonntags Handel trieben und er vielleicht einen Hund finden würde. Drüben an der Second Street sang die Methodistengemeinde. Ansonsten machte die Stadt Bonners kein Geräusch. Grainier ging noch manches seltene Mal, wenn er zufällig gerade in der Stadt war, in den Gottesdienst. Die Leute kannten ihn dort aus den Tagen, als er und Gladys fast regelmäßig gekommen waren, und sprachen freundlich mit ihm, doch meist bereute er diese Besuche hinterher. Er weinte sehr oft in der Kirche. Oben am Moyea, wo viele kleine Aufgaben ihn zerstreuten, vergaß er, dass er ein trauriger Mann war. Wenn die Kirchenlieder erklangen, fiel es ihm wieder ein. Auf dem Marktplatz sprach er mit zwei Kootenais – einer mittelalten Squaw und einem beinahe erwachsenen Mädchen. Sie waren eindrucksvoll gekleidet, zwei Halbblut-Zauberinnen mit fransigen blauen Buckskinkleidern und Stirnbändern, an denen Krähen-, Habichtund Adlerfedern hingen. Sie hatten ein Rudel sehr wölfischer Welpen in einem Futtersack dabei, außerdem einen Rotluchs in einem Weidenkäfig, und sie holten die Welpen einen nach dem anderen zur Begutachtung hervor. Ein Mann, der sie sich gerade angeschaut hatte, sagte im Gehen: «Dieser Wolfshund wird nie zum Christentum bekehrt werden.» «Warum ist das Ding da ganz blau?», fragte Grainier. «Welches Ding?»
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«Der Käfig hier, wo ihr den alten Luchs eingesperrt habt.» Eine von ihnen, das Mädchen, hatte eine ganze Menge Weiß in sich und dazu Sommersprossen und sandfarbenes Haar. Beim Anblick der beiden Frauen wurden ihm die edlen Teile schwer vor Sehnsucht und Angst. «Das ist bloß alte Farbe, damit er sich nicht rausnagt. Dem alten Rotluchs wird schlecht davon», sagte das Mädchen. Der Luchs hatte große Tatzen mit fedrigen Büscheln, so als trüge er die gleiche Art von Stiefeln wie seine Gefängniswärterinnen. Die ältere Frau hatte ihr Bein so gestellt, dass Grainier ihre Wade sehen konnte. Sie kratzte daran und hinterließ lange weiße Striemen auf dem Fleisch. Der Anblick umwölkte seinen Verstand derart, dass er, ehe er wieder klar denken konnte, ein paar hundert Meter vom Marktplatz entfernt war, ohne einen Welpen, und mehrere lange Minuten nichts als diese weißen Spuren auf ihrer dunklen Haut gesehen hatte. Er wusste, dass irgend etwas Schlimmes in ihm geschehen war. Als hätten seine lüsternen Halb-Gedanken den Boden unter seinen Füßen weggesprengt und ihn in eine Grube universalen sexuellen Wahns hinabgeworfen, entdeckte er jetzt, dass auch das Rex-Theater auf der Main Street den Verstand verloren hatte. Draußen vor der Tür war ein großes, von der Lokalzeitung gedrucktes Plakat angeschlagen, das vor Lust schrie:
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Nur für einen Tag – Donnerstag, den 22. August Der gewagteste Film des Jahres
«Liebessünden» Das gab es noch nie!
SEHEN SIE • Eine natürliche Geburt • Eine Bluttransfusion
• Eine Abtreibung • Einen echten Kaiserschnitt
WENN SIE LEICHT OHNMÄCHTIG WERDEN – BLEIBEN SIE DRAUSSEN! AUSGEBILDETE KRANKENSCHWESTERN BEI JEDER VORSTELLUNG ANWESEND Auf offener Bühne – Lebende Personen – Und als Ehrengast: Miss Calveston Gewinnerin des berühmten Wettbewerbs der Wollüstigkeit in Galveston, Texas Kein Einlass unter 16 Jahren Matinee Nur Damen Abendvorstellung Nur Herren
Persönlich anwesend Professor Howard Young mit seinem dynamischen Vortrag über Sex. • Enthüllt gewagte Tatsachen • Die Wahrheit über die Liebe • Klare Tatsachen über heimliche Sünden • Kein Gerede um den heißen Brei!
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Grainier las die Ankündigung mehrmals. Die Kehle schnürte sich ihm zu, und seine Eingeweide begannen zu flattern und jagten einen Tremor durch seine Gliedmaßen, der, so leicht er auch war, in ihm das Gefühl erweckte, die ganze Straße würde schaukeln wie ein Ruderboot. Er fragte sich, ob er verrückt geworden war und vielleicht zu einem Nervenarzt in Behandlung gehen sollte. Wollüstigkeit! Durch einen Nebel der Begierde, der ihm fast die Orientierung nahm, tastete er sich zum nahen Bahnsteig. Die Liebessünden kamen am 22. August, Donnerstag. Neben den Schiebetüren des Waggons, in dem er aus der Stadt hinausfuhr, hing ein Kalender, der ihn darüber aufklärte, dass heute Sonntag, der 11. August war. Zu Hause in den Wäldern wurde er von den widerwärtigsten Dämonen heimgesucht. Im Traum kam Miss Galveston zu ihm. Beim Aufwachen streichelte er sich selbst. Er führte keinen Kalender, doch in seinen Lenden vermerkte er jeden einzelnen Augenblick bis zum Donnerstag, dem 22. August. Bei Tag tauchte er beinahe stündlich in den eiskalten Fluss, doch die Nächte führten ihn wieder und wieder nach Galveston. Die dunkle Wolke über dem Nordwesten brodelte wie ein auf den Kopf gedrehter Ozean und verdeckte Sonne und Mond und Sterne. Es war zu heiß und zu dumpfig, um in der Hütte zu schlafen. Er bereitete sich ein Strohlager im Freien und lag dort die Nächte über nackt, in einer unerlösten Finsternis.
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Nach vielen solchen Nächten brach die Wolke am Morgen des 22. August ohne Regen auf, der Himmel wurde klar, die Sonne zeigte sich. Er erwachte taufeucht auf dem Boden vor seiner Hütte, das Knochenmark eiskalt gefroren – doch als ihm einfiel, welcher Tag gekommen war, entflammte sein Mark wie Kerosin, und er errötete so stark, dass ihm die Augen tränten und ihm der Rotz aus der Nase lief. Er begann auf der Stelle, Richtung Straße zu marschieren, zwang sich jedoch, wieder umzukehren, und lief, außer sich, auf seinem Grundstück hin und her. Ihm fehlte der Mumm, sich an diesem Tag in der Stadt zu zeigen – ja, auch nur auf der Straße zur Stadt, wo ihn jedermann sehen konnte, triefend vor Lüsternheit auf die Königin von Galveston, danach lechzend, in ihre Atmosphäre einzutauchen, die Dämpfe von Sex und Sünde und Wollüstigkeit einzuatmen. Es wäre sein Tod! Sein Tod, all das zu sehen, sein Tod, gesehen zu werden! Dort, in dem dunklen Saal voll entkörperter Stimmen, die klare Tatsachen über heimliche Sünden ausposaunten, würde er sterben, würde in die Hölle hinabgezerrt und in alle Ewigkeit vor den Augen des ekligen und stinkenden Wächters der Wollüstigkeit an seinen empfindlichen Teilen gefoltert werden. Nackt, und schwankend, stand er in seinem Garten. Seine Gelüste waren gewiss ganz und gar unnatürlich; er war die Sorte Mann, die es mit wilden Tieren trieb oder – wie er vor Jahren einmal jemanden hatte sagen hören – eine Kuh pimperte.
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Hinter seiner Hütte fiel er aufs Gesicht und krallte die Hände in das braune Gras. Er verlor den Kontakt zur Welt und fand erst wieder zurück, als die Sonne über das Haus kam und die Hitze in seinem Haar zu jucken begann. Er dachte, dass ein Fußmarsch sein Blut vielleicht beruhigen würde, also zog er sich an, machte sich auf den Weg zur Straße und lief Meile um Meile, ohne anzuhalten, bis nach Placer Creek. Er erklomm den Deer Ridge und stieg auf der anderen Seite hinab und wieder hinauf zur Canuck-Ebene, wanderte stundenlang ohne Pause weiter und dachte dabei immer nur: Wollüstigkeit! Wollüstigkeit! – Wollüstigkeit wird mein Verderben sein, ich werde sie noch anfletschen wie der Hund den Kadaver, mich in ihr suhlen wie ein Hund, werde am Ende ganz beschmutzt und ekelerregend sein vor Wollüstigkeit. Ach, dass Galveston eine Parade solchen Drecks erlaubte – dass Galveston diese Hure der Wollüstigkeit in den Stand einer Königin erhob! Bei Einbruch der Dämmerung ging es nicht mehr weiter. Er stand auf einer Klippe. Er hatte einen Geheimweg in eine Art Arena gefunden, die den Spruce Lake umschloss, einen vielleicht hundert Meter unter ihm liegenden See, dessen glatte Oberfläche so still und schwarz war wie Obsidian, überflutet von den Schatten der umliegenden Klippen und eingefasst in einen doppelten Ring echten und gespiegelten Immergrüns. Dahinter, hundert Meilen weit entfernt, sah er die kanadischen Rockies, noch sonnenbeschienen und schneegekrönt, als befände
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die Erde sich mitten in ihrer Erschaffung und die Berge nähmen sich ihre Substanz von den Wolken. Noch nie hatte er eine derart grandiose Aussicht vor sich gehabt. Die Wälder, die sein Leben ausfüllten, waren so dicht und hoch, dass er für gewöhnlich gar nicht sah, wie weit die Welt entfernt war, doch in diesem Moment schien es Berge genug für alle zu geben. Der Fluch war von ihm gewichen, und der verderbliche Einfluss seiner Lust hatte sich verzogen und in einem jener fernen Täler abgelagert. Er kletterte vorsichtig zwischen den Felsen der Klippe hinab, erreichte in der Dunkelheit das Seeufer, machte sich ein Fichtenbett und schlief, unter einer Decke aus Fichtenzweigen eingerollt, erschöpft und zufrieden ein. Er versäumte den Wettbewerb der Wollüstigkeit im Rex am selben Abend und erfuhr nie, ob das seine Rettung oder sein Schaden war. ■■■ Nach diesem Erlebnis blieb Grainier zwei Wochen lang zu Hause. Dann erst ging er in die Stadt und schaffte sich schließlich doch noch einen Hund an, einen großen Rüden, der einem nordischen Schlittenhund ähnelte und für viele Jahre sein Gefährte war. Grainier selber lebte bis weit in die 1960er hinein und wurde über achtzig Jahre alt. Er war im Laufe seines langen Lebens in westlicher Richtung bis auf ein paar Dut-
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zend Meilen an den Pazifik herangekommen, ohne den Ozean selbst je zu sehen, und in östlicher Richtung bis nach Libby, vierzig Meilen hinter der Westgrenze Montanas. Er hatte eine Geliebte gehabt – seine Frau Gladys –, hatte ein Stück Land, zwei Pferde und einen Wagen besessen. Er war nie betrunken gewesen. Er hatte sich nie eine Schusswaffe gekauft oder ein Telefon benutzt. Er war regelmäßig mit der Eisenbahn gefahren, etliche Male mit dem Automobil, und einmal war er in einem Flugzeug geflogen. Im letzten Jahrzehnt seines Lebens schaute er Fernsehen, wann immer er in der Stadt war. Er hatte keine Vorstellung, wer seine Eltern gewesen sein mochten, und er hinterließ keine Nachkommen. So ziemlich jeder in der Gegend kannte Robert Grainier, doch als er, irgendwann im November 1968, im Schlaf aus dem Leben schied, lag er für den Rest des Herbstes und den ganzen Winter hindurch tot in seiner Hütte, und niemand vermisste ihn. Im Frühjahr fanden zwei Wanderer seine Leiche. Am nächsten Tag kehrten sie in Begleitung eines Arztes zurück, der den Totenschein ausstellte. Mit einem Spaten, den sie an die Hütte gelehnt fanden, gruben die drei, einander abwechselnd, ein Grab auf dem Grundstück, und dort liegt Robert Grainier. ■■■
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An dem Tag, als er nach Bonners Ferry ging und den Schlittenhund kaufte, übernachtete Grainier im Haus des Tierarzts Dr. Sims, dessen Frau Zimmer vermietete. Dr. Sims hatte für die laufende Veranstaltung im RexTheater, in der die Talente des Wunderpferds Theodore zur Schau gestellt wurden, ein paar Eintrittskarten bekommen, weil er in professioneller Eigenschaft den Star der Show – also das Pferd Theodore – untersucht hatte. Theodores Pferdeäpfel seien blutig, hatte sein Cowboy und Meister gesagt. Das war ein schlechtes Zeichen. «Nehmen Sie lieber dieses Billet und bewundern Sie seine Wunder», sagte der Arzt zu Grainier und drängte seinem Gast eine der Freikarten auf, «denn ich würde mich nicht wundern, wenn er in einem halben Jahr an die Hunde verfüttert und dann zu Kompost wird.» Am Abend saß Grainier im verdunkelten Saal des RexTheaters, mitten in einer Menge von Menschen, die nicht sehr anders waren als er selbst – seine Landsleute, das zähe Volk der nordwestlichen Berge, und die meisten von ihnen beeindruckten der glitzernde Aufzug und das Zauberlasso von Theodores Meister um einiges mehr als Theodore selbst, der mit den Hufen auf die Bühne klopfte, um zu zeigen, dass er addieren und subtrahieren konnte, auf den Hinterbeinen stand und herumwirbelte und andere Dinge tat, die jeder von ihnen einem Pferd hätte beibringen können. In der Wunderpferd-Show an jenem Abend des Jahres 1935 trat auch ein Wolfsjunge auf. Er trug eine Fell-
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maske und einen Anzug, der wie Fell wirkte, tatsächlich aber keines war. Im elektrischen Licht leuchtend, silbern und blau, tollte und hopste der Wolfsjunge derart auf der Bühne herum, dass das Publikum nicht sicher sein konnte, ob es über ihn lachen sollte oder nicht. Dabei hätten die Leute bereitwillig gelacht, nur um zu zeigen, dass sie ihm nicht auf den Leim gegangen waren. Sie hatten schon über den Magnet-Jungen und über den Hühner-Jungen gelacht, über den Dummen Professor und die Jongleure, die sich indianische Kegel über den Kopf hauten, die natürlich nicht aus Holz waren. Sie hatten ihr Geld Priestern gegeben, die erst ihre Herzen erhoben und Dutzende von ihnen getauft hatten, um später betrunken durch das Kootenai-Dorf zu torkeln und mit Squaws zu huren. Heute Abend, beim Anblick dieses Möchtegernmonsters, blieben sie zunächst still. Dann machten ein paar von ihnen Bemerkungen, die wie Fragen klangen, und ein Mann schrie aus der Dunkelheit wie eine Wildgans,und der eine oder andere erlaubte sich, über den Wolfsjungen zu lachen. Doch sie verstummten, alle gleichzeitig und ziemlich abrupt, als er, die Arme in Schulterhöhe seitlich ausgestreckt, vollkommen reglos in der Mitte der Bühne stehen blieb, erstarrte und mit enormer innerer Kraft zu zittern begann. Niemand der Anwesenden hatte je zuvor jemanden gesehen, der so still und zugleich so seltsam in Bewegung war. Er legte den Kopf in den Nacken, bis er mit seinem Scheitel die Wirbelsäule berührte – so weit –,
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und öffnete den Schlund, und im Zuschauerraum erhob sich ein Geräusch wie ein Wind, der aus allen vier Himmelsrichtungen kam, tief und furchterregend, er grollte von der Erde unterhalb des Fußbodens herauf und steigerte sich zu einem Tosen, das am Gehörsinn selber saugte, verschmolz zu einer Stimme, die in die Nebenhöhlen und schließlich in die Köpfe derer drang, die sie hörten, schraubte sich höher und höher, immer schrecklicher und schöner, das ursprüngliche Ideal aller solcher Geräusche, die jemals gemacht wurden, vom Nebelhorn und Schiffshorn über das einsame Pfeifen der Lokomotive, den Operngesang und die Flötenmusik bis hin zum fortwährenden Lamento des Dudelsacks. Und auf einmal wurde alles schwarz. Und jene Zeit war für immer vorbei.
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Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.ddb.de abrufbar.
Train Dreams wurde erstmals veröffentlicht in der Zeitschrift The Paris Review. 1. Auflage 2004 © 2004 by marebuchverlag, Hamburg © 2004 by Denis Johnson Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung der Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg © 2004 der deutschsprachigen Rechte beim Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg Alle Rechte vorbehalten, auch das der fotomechanischen Wiedergabe Umschlaggestaltung (?) sans serif, Berlin Typografie und Einband Farnschläder & Mahlstedt Typografie, Hamburg Schrift Stempel Garamond und Linotype Syntax Druck und Bindung Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 3-936384-15-0 Von mare gibt es mehr als Bücher: www.mare.de
Zentaur 2005-01-11 Ver. 1 1.
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