Totenplatz
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 164 von Jason Dark, erschienen am 29.11.1994, Titelbild: Nigel Chamberla...
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Totenplatz
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 164 von Jason Dark, erschienen am 29.11.1994, Titelbild: Nigel Chamberlain
Es war ein Ort des Grauens, denn vor einigen hundert Jahren war genau an dieser Stelle eine Familie geköpft worden. Vater, Mutter und zwei Kinder. Aber ihr Henker irrte sich. Die Familie war zwar tot, doch sie lebte trotzdem. Sie hatte im Jenseits keine Ruhe finden können, ebenso wie der Henker. Beide Parteien kehrten zurück. Generationen danach sollte die Hinrichtung noch einmal stattfinden. Und wieder auf dem Totenplatz, wo ein Verein zu einem Grillfest eingeladen hatte. Allerdings mit zwei besonderen Ehrengästen. Suko und mich...
Den Henker störte das Wimmern der Todgeweihten nicht! Es war seine Arbeit, gnadenlos zu sein und das Richtbeil zielgenau zu führen. Die Zeiten waren schlimm. Es gab zu viele Aufrührer, Rebellen und Menschen, die die Ordnung störten. Da mußte schon hart durchgegriffen werden, was die Obrigkeit auch tat. Über sie zerbrach sich der Henker nicht den Kopf. Es oblag ihm, den Urteilsspruch der Richter in die Tat umzusetzen. Auch bei den vier Mitgliedern der Familie Ashford. Sie sollten der Reihe nach die Köpfe verlieren. Derek Ashford, der Vater, war gefaßt. Hochaufgerichtet stand er vor dem Richtklotz. Die Bewacher in seinem Rücken achteten bei ihm auf jede Regung. Neben ihrem Mann hielt sich Madelaine Ashford auf. Eine schöne schlanke Frau, deren Wiege in der Heimat der Gallier gestanden hatte. Von Frankreich aus war sie nach England verheiratet worden. Erst später war es zwischen ihr und ihrem Mann zur großen Liebe gekommen, und aus dieser Ehe stammten zwei Kinder. William, der dreizehnjährige Sohn. Er versuchte, sich ebenso tapfer zu verhalten wie sein Vater. Doch die Tränen ließen sich nicht stoppen. Sie rannen über sein Gesicht und hinterließen nasse Streifen auf der Haut. Cynthia, die elfjährige Tochter, hielt sich bei ihrer Mutter auf. Sie weinte und wimmerte leise. So eng wie möglich hatte sie sich gegen Madelaine Ashford gepreßt. Hin und wieder streichelte die Frau über das blonde Haar des Kindes. Es war kühl in dieser Morgenstunde. Der Nebel lag dünn über den Feldern und Wäldern. Wind wehte kaum und schaffte es auch nicht, den Dunst zu vertreiben. Die Hinrichtung sollte zu keinem Spektakel werden. Sie fand auch nicht in der Öffentlichkeit statt. Der Totenplatz inmitten des Ortes war noch von der Stille der allmählich abklingenden Nacht umgeben. Die Mauern der wenigen Häuser sahen hinter dem dünnen Dunst aus, als würden sie in der Luft schweben. Niemand sollte, niemand durfte zuschauen. Wer sich trotzdem heranwagte, mußte mit drakonischen Strafen rechnen. Die Bewohner hielten sich daran, obwohl jeder wußte, was sich bald hier abspielen würde. Cynthia trug eine kleine Puppe in der rechten Hand. Sie spielte damit. Wie sie selbst von ihrer Mutter gestreichelt wurde, so streichelte sie die Puppe und vermied es, einen Blick auf den Henker zu werfen, der sein Gesicht durch eine schwarze Kapuze verhüllt hatte. Er schaute durch die Schlitze der Augen und auch immer wieder auf die vier bereitgestellten Körbe, in die die Köpfe der Verurteilten hineinfallen würden. Das Urteil brauchte nicht mehr vorgelesen zu werden. Die Ashfords hatten auch auf geistlichen Beistand verzichtet. Sie wußten, daß es einer
Farce gleichkam, denn die hohe Geistlichkeit steckte mit den weltlichen Mächten oft genug unter einer Decke. Auch in diesem Fall war es kaum anders. Die Kirche hatte sich eingeschaltet, und ihre Vertreter hätten die Ashfords auch retten können, wenn die den Mund aufgemacht und geredet hätten. Aber sie hatten geschwiegen. Lieber tot, als ein Verräter an der gerechten Sache zu sein. So hatten sie es sich auf ihre Fahnen geschrieben, und so würden sie auch in den Tod gehen. Zumindest Derek Ashford würde sein Wissen um die Templer mit in die andere Welt nehmen. Zwei Trommler hatte man ebenfalls geholt. Junge Burschen, die in der Nacht getrunken hatten und nebeneinander standen, als würden sie sich gegenseitig festhalten. Der Vertreter des Königs, wie sich der Offizielle großspurig nannte, trat vor und schaute sich die vier Verurteilten noch einmal an. Er war ein widerlicher Mensch. Freundlichverschlagen. Nach oben buckeln, nach unten treten. Als der Name Ashford noch etwas gegolten hatte, da hatte dieser Mann zu den Schleimern gehört. »Ihr hättet es euch ersparen können«, sagte er. »Jetzt ist es zu spät. Für jeden von euch.« »Gehen Sie mir aus den Augen!« Der Mann lachte. »Immer noch nicht das große Maul voll, Ashford?« »Ich hasse Schmeißfliegen wie Sie!« Der Angesprochene spie aus. Abrupt drehte er sich um und nickte dem Henker zu. William Ashford wollte etwas sagen, doch die Worte erstickten bereits in seiner Kehle, denn er sah, wie sich der Henker in Bewegung setzte. Gleichzeitig lösten sich auch zwei Soldaten aus der Reihe hinter den Verurteilten. Der Henker trat neben den Richtklotz, während sich die Soldaten zuerst um Derek Ashford kümmerten. Sie umklammerten ihn an den Schultern und schoben ihn auf den Richtklotz zu. Madelaine verkrampfte sich. Sie streckte ihre Hand aus, um ihren Mann festzuhalten, doch der Griff glitt ins Leere. Noch einmal wandte Derek den Kopf. Er schaute seine Frau an. Es war ein letzter Blick, und er war prall gefüllt mit den Gefühlen, die Derek Ashford seiner Frau entgegenbrachte. Dieser Blick sagte ihr, daß sie für immer zusammenbleiben würden, daß die irdische Gerichtsbarkeit sie nicht trennen konnte. Auch den beiden Kindern war klar, was da geschehen würde. Sie konnten nicht hinschauen. Sie weinten lauter und klammerten sich an ihrer Mutter fest. Derek Ashford war vor dem Richtklotz stehengeblieben. Hochaufgerichtet, keine Spur von Demut in seinen Augen. Er schaffte es
sogar, den Kopf zu drehen und gegen die Augenschitze der Kapuze zu schauen. Der Henker schrak zusammen, als er den Blick des Delinquenten auf sich gerichtet sah. So etwas hatte er noch nicht erlebt. Die meisten wimmerten oder schrien, dieser Mann aber ging aufrecht in den Tod. Selbst der abgebrühte Henker verspürte ein leichtes Schaudern, das er aber durch Ruppigkeit überspielte und Derek Ashford anherrschte, sich niederzuknien und den Kopf in die Kerbe zu legen. Ashford nickte nur. Dann kam er dem Befehl nach. Stille trat ein. Selbst die allmählich erwachende Natur hielt den Atem 3n. Nichts war zu hören. Kein Vogel schrie oder zwitscherte mehr. Der Eishauch des Todes lag über diesem unheimlichen Richtplatz. Der Henker hatte Erfahrung. Er trat seitlich an den Delinquenten heran. Probehalber hob er sein Richtbeil an und ließ es mit halber Kraft nach unten sausen. Er nickte nach diesem Schlag und war zufrieden. Es würde keine Schwierigkeiten geben, er war ebenso in Ordnung wie die Waffe, deren Klinge er extra gereinigt hatte. Es gab kein Zeremoniell mehr. Das Urteil wurde nicht mehr verlesen. Dafür holte der Henker aus – und schlug zu. Ein dumpfes Geräusch unterbrach die Stille. Der Kopf fiel in den Korb. Schreie der beiden Kinder und der Frau waren zu hören. Die drei Menschen hatten sich abgewendet. Sie konnten das Schreckliche nicht mit ansehen. Madelaine Ashford hatte bis zu diesem Zeitpunkt nicht daran geglaubt, jetzt war es für ihren Mann vorbei, und sie würde diesen Tod ebenfalls erleben. Man holte sie als nächste. Anschließend den Jungen, zuletzt das Mädchen. Man kannte keine Gnade. Die Trommler waren bleich geworden. Sie mußten sich später übergeben, und nur der Henker schaute auf die vier Köpfe in den Körben. Er sah das Blut, er nahm seine Kapuze ab, und auf seinen etwas bläulich schimmernden Lippen erschien ein kaltes Lächeln. Gute Arbeit, das gestand er sich selbst zu. Die Hölle hatte wieder einmal gewonnen… *** An diesem frühen Morgen war Garry McBain unterwegs, um letzte Vorbereitungen zu treffen. Er haßte diese Arbeit, doch als Förster war er dafür verantwortlich, daß die Regeln eingehalten wurden und alles vorbereitet war, damit sich die Jagdgesellschaft wohl fühlte. Man wollte ja nicht schießen, man wollte nur feiern, ein Frühlingsfest mit Freunden und das mitten in seinem Wald. Der Förster ärgerte sich darüber. Er kannte diese Feste. Da wurde gegessen, getrunken, gelärmt, und man ließ oft genug viel Unrat zurück,
um den er und seine Leute sich kümmern mußten, als hätten sie nichts anderes zu tun, denn der Umweltschutz verlangte von ihnen sehr viel. In den letzten Jahren waren die Aufgaben für einen Förster vielfältiger geworden. Er würde auch noch weiterlernen müssen, aber das störte den vierzigjährigen Mann nicht. Mehr ärgerte er sich über diese Gesellschaften, die seiner Ansicht nach nicht in den Wald paßten. Er hatte heimlich gebetet, daß das Wetter sich ändern würde. Leider war ihm dies nicht gegönnt gewesen. Es würde ein schöner Tag werden, sommerlich warm, und ideal für einen Ausflug. Garry lenkte seinen kleinen Geländewagen mit der offenen Ladefläche über den schmalen Feldweg. Er führte direkt am Rand des Waldes entlang. Auf der linken Seite war das Gelände frei. Dort konnte der Blick über ein großes Wiesenstück wandern, über dem zu dieser Tageszeit allerdings eine graue Dunstglocke hing. Die Wiese grenzte an einen kleinen Bach. Danach stieg das Gelände wieder an, bis hin zu einem Waldstück, wo auch mehrere kleine Teiche lagen. McBain war nicht allein gefahren. Auf der Ladefläche hatte es sich Willy bequem gemacht. Willy war ein Rauhhaardackel, ein wilder Geselle, wenn es darauf ankam und der Förster ihn ließ. Ansonsten gehörte Willy eher zu den ruhigen Tieren, der seinem Herrn gehorchte und froh war, wenn er seine Ruhe hatte. Willy sah aus, als hätte er sich zum Schlafen niedergestreckt. Nur manchmal, wenn der Wagen durch eine zu tiefe Furche schaukelte, öffnete er die Augen und schielte in die Höhe. Der Untergrund war eingefurcht. Immer wieder hinterließen die breiten Reifen der Holztransporter ihre Spuren, aber es war der einzige zum Ziel führende Weg. Und das lag dort, wo sich der große Platz ausbreitete. Ein Parkplatz, ein Ort zum Grillen, wo auch die Hütte stand, die an den Seiten offen war, wohl aber gegen Regen schützte, und deren Mittelpunkt, die Grillstelle, von Bänken umsäumt wurde. Dort würde das große Fest am Nachmittag starten, und der Förster bekam ein kantiges Gesicht, als er daran dachte. Er rollte auf den Platz vor der Hütte und stoppte den Wagen. Als das Geräusch des Motors erstarb, blieb Garry zunächst sitzen, um sich an die Stille des Morgens zu gewöhnen. Er mochte sie. Er liebte die Ruhe des Waldes, wo er als Mensch seine Seele baumeln lassen konnte und von keinem anderen Menschen in seiner Meditation gestört wurde. Manche Menschen verglichen die morgendliche Stille des Waldes mit der in einer Kirche. Den Leuten gab der Förster recht. Der Wald hatte etwas von einer Kirche an sich, etwas, das einem Menschen Respekt einflößen konnte, das sehr erhaben war und selbst Garry McBain zu einer gewissen Andacht verleitete.
Sein Hund dachte da anders. Als er gegen die hintere Scheibe kratzte, drehte sich Garry um. Zwei treue Augen schauten ihn vorwurfsvoll an. Garry wußte Bescheid. Willy hatte keine Lust mehr, auf der Ladefläche zu bleiben. Er wollte sich bewegen, tat dies aber nur, wenn auch sein Herr ausstieg. Seufzend löste der Förster den Gurt, und ebenso seufzend verließ er sein Fahrzeug. Darauf hatte Willy nur gewartet. Er setzte mit einem Sprung von der Ladefläche, blieb hechelnd und mit wackelndem Schwanz vor Garry stehen und wartete auf die Worte: »Ja, lauf, aber bleib hier!« Willy bellte kurz, es war mehr ein Wuff-Wuff, dann rannte er weg. Aber er hielt sich an die Befehle des Mannes, denn er blieb stets in Blickweite. McBain stemmte die Hände in die Hüften. Noch einmal schaute er sich um, dann drehte er sich der Ladefläche zu und fing damit an, sie zu entladen. Er hätte das auch seinen Mitarbeitern überlassen können, die aber hatten genug mit ihrem eigenen Job zu tun, und so lud er die Grillkohle selbst ab. Getränke und Verpflegung wurde noch gebracht. Er mußte sich nur darum kümmern, daß auch äußerlich alles in Ordnung war. Mit einem Reisigbesen fegte er das Innere der Hütte sauber, er reinigte auch die Bänke von Vogelkot, und er überprüfte auch den gemauerten Abzug über der eigentlichen Grillstelle. Er hätte zufrieden sein können, aber er war es trotzdem nicht. Erst nach einer Weile, als er alles einigermaßen in Ordnung gebracht hatte, fiel ihm die Stille auf. Es war eine für diese Tageszeit ungewöhnliche Stille. McBain mußte selbst überlegen, was ihn denn so mißtrauisch gemacht hatte. Er verließ das pilzförmige Dach der Grillhütte, stand im Freien und runzelte die Stirn. Plötzlich wußte der Förster Bescheid. Er vermißte sehr deutlich das Singen oder Zwitschern der Vögel. Ihre schrille Musik war ihm so vertraut, aber an diesem Morgen waren sie still. Der Förster konnte sich keinen Reim darauf machen. Weiter entfernt hörte er das Singen oder Zwitschern, aber warum schwiegen die Tiere gerade an diesem Ort? Eine heftige Bewegung irritierte ihn. Als er nach rechts schaute, sah er eine Dohle, die von einem Zweig zum anderen in die Höhe geflattert war, auf ihrem Platz hockenblieb und den einsamen Mann direkt anschaute. Der einzige Vogel in der Nähe. Das war schon seltsam, und McBain wunderte sich ferner, daß Willy noch nicht erschienen war. Er sah ihn auch nicht. Normalerweise hielt er sich immer am Rand der Lichtung auf, manchmal versteckte er sich auch, aber heute war von ihm nichts zu sehen.
Der Förster spitzte den Mund und stieß einen bestimmten Pfiff aus. Es war das Signal für seinen Hund, das kannte er, und der Rauhhaardackel würde in den nächsten Sekunden ankommen. So zumindest war es immer gewesen. Nur an diesem Morgen nicht. Da blieb Willy verschwunden. Und McBain wunderte sich über die kühle Gänsehaut, die plötzlich auf seinem Körper lag. Er wollte sie nicht als Reaktion auf eine gewisse Furcht ansehen, komisch aber war es schon, denn bisher war Willy auf den Pfiff hin immer erschienen. Warum heute nicht? Der Förster rief den Namen seines Hundes zweimal. Ziemlich scharf sogar, aber Willy kam nicht. Er hörte auch keine fremden Geräusche, es war kein Bellen zu vernehmen, mit dem sich Willy immer dann meldete, wenn er etwas Bestimmtes entdeckt hatte. Hier blieb alles still. Der Förster atmete durch die Nase ein. In seinem Magen lag plötzlich ein Klumpen. Bis zu dieser Minute hatte er seinen Wald immer geliebt, mit einem Mal aber mochte er ihn nicht mehr. Er hatte den Eindruck, daß sich dieser Wald gegen ihn stemmen wollte, daß aus seinem Freund ein Feind geworden war. Garry McBain ging einige Schritte vor und schaute hoch zum grünen Dach der Laubbäume. Sie umgaben den Platz zumindest an drei Seiten und setzten sich auch tiefer im Wald fort, der in den letzten Jahrhunderten gewachsen war. In alter Zeit hatten hier in der Nähe einmal Häuser gestanden, ein kleiner Ort nur, kaum der Rede wert. In irgendeinem Krieg war er dann niedergebrannt worden, und man hatte ihn auch vergessen. Selbst der Förster konnte sich nicht mehr an den Namen erinnern, obwohl sich noch einige Legenden über das Geschehen hier gehalten hatten. Es war nicht sein Problem. Garry wollte Willy finden. Verdammt noch mal, dachte er, der Hund ist nie weggelaufen, so etwas tat er nicht. Willy war zu gut erzogen. Er hörte auch kein Bellen oder Jaulen, ein Zeichen dafür, daß Willy etwas passiert war und er sich verletzt hatte. In dieser Umgebung war einfach nichts zu hören. Die Stille lag über dem Wald wieein Tuch. Er löste sich aus der unmittelbaren Nähe der Hütte, um tiefer in den Wald hineinzugehen. Er wollte in die Richtung laufen, in der Willy verschwunden war. Vielleicht war ihm doch etwas passiert. McBain sah seinen Hund bereits im Geist im Gras liegen, verletzt durch irgendeine Waffe, wie auch immer. »Willy!«
Seine Stimme hallte in den schweigenden Wald hinein. Sie versickerte schließlich als Echo zwischen den Bäumen, aber eine Antwort erhielt der Mann nicht. Der Förster wurde allmählich nervös. Die Furcht nahm zu. Er bewegte sich sehr langsam, denn auf keinen Fall wollte er irgend etwas übersehen. Je mehr Zeit verstrich, um so heller wurde es in seiner Umgebung. Die Strahlen der Sonne schafften es, den Dunst verschwinden zu lassen. Sie beleuchteten jetzt den Wald, und Teile des Lichts wurden gefiltert, so daß es auf dem Boden tatsächlich nur einen hellen Flickenteppich hinterließ. Zwar bildeten Gras und Unkraut eine Schicht auf dem Boden, aber er war auch von Laub bedeckt, das unter den Füßen des Försters leicht knirschte. Das Laub zeigte sich in unterschiedlichen Farben. Mal war es dunkler, dann wieder hell. Brauntöne überwogen. Der Förster kannte hier jeden Fußbreit Boden, an diesem Tag aber kam er sich vor, als wäre er ein Fremder, der den Wald zum erstenmal betreten hatte. Die Umgebung war die gleiche geblieben. Dennoch wollte sie ihm nicht gefallen. Jeder Baum stellte plötzlich eine Bedrohung dar. Er kannte die ja, er hatte sie gezeichnet. Er hatte die Bäume bisher als seine Freunde empfunden, und er hatte hin und wieder sogar mit ihnen gesprochen, was den meisten Menschen lächerlich vorkam, nicht aber einem Mann wie McBain, der sich selbst als ein Stück Natur ansah. Heute war alles anders. Da sah er den Wald nicht mehr als seinen Freund oder Verbündeten an, er war für ihn zu einem Feind geworden mit einem mächtigen Maul, das seinen Hund Willy verschluckt hatte. Für ihn war es schlimm. Je tiefer er in den Wald hineinschritt und sich immer mehr dem Rand der Lichtung näherte, um so mehr verstärkte sich der Eindruck einer drohenden Gefahr. McBain fragte sich, ob er sich noch allein hier im Wald befand. Vielleicht lauerte jemand in der Nähe, der ihn beobachtete und auch Willy gefangen hielt. Blitzartig drehte sich Garry um und schaute zurück. Er sah nichts Fremdes. Die Grillhütte stand vor ihm. Auch unter dem Dach entdeckte er keine Bewegung. Wahrscheinlich hatte er sich gewisse Dinge eben nur eingebildet. Aber Willys Verschwinden blieb. Es war unerklärlich. So hatte sein Hund noch nie reagiert. Zudem ärgerte McBain sich, daß er sein Gewehr im Wagen liegengelassen hatte. Lieber wäre es ihm gewesen, wenn er es bei sich getragen hätte.
Das war nicht zu ändern. Zudem wollte er auch nicht mehr zurücklaufen. Er würde einen Teil des Waldes durchsuchen und… Mit der linken Fußspitze stieß Garry gegen einen auf dem Boden liegenden Gegenstand. Natürlich dachte er an einen Stein, bückte sich – und bekam große Augen. Nein, das war kein Stein. Das war eine Puppe! Garry wollte lachen, denn er wunderte sich, daß ihn ein dermaßen harmloser Gegenstand so stark erschreckt hatte. Die Puppe hatte jemand verloren, ein Spaziergänger, ein Mädchen, ein… Seine Gedanken brachen ab, als er sich bückte und diese Puppe genauer anschaute. Sie war schon seltsam. Er würde sagen, daß sie einfach nicht in die moderne Zeit hineinpaßte. Diese Puppe war ein Relikt aus alter Zeit. Sie mußte seiner ersten Schätzung nach einige hundert Jahre auf dem Buckel haben, und sie war auch so angezogen. Das war auch Unsinn. Wenn sie schon so alt war, hätte sie nicht so gut ausgesehen. Es war eine neue Puppe auf alt getrimmt. Mit dieser Folgerung kam der Mann besser zurecht. Ohne sie berührt zu haben, hatte er gesehen, daß sie nicht aus Horn oder Porzellan bestand, sondern aus Holz. Der Kopf war flach und bestand aus Stoff. Dunkles Haar schmiegte sich an den flachen Schädel. Eine gelbliche Haube verdeckte den größten Teil der Haare, und das Gesicht zeigte nicht viel mehr als Punkte, die einen Mund, die Augen und auch die Nase andeuten sollten. Die Kleidung bestand aus einem grünen, langen Rock, mit zwei gelben Borden über dem Saum, und ein buntes gesticktes Oberteil reichte bis zum Hals der Puppe. Der Förster wunderte sich noch immer über diesen Fund. Er schaffte es nicht, ihn einfach wegzutun. Irgendwie hatte ihn das dumpfe Gefühl überfallen, daß die Puppe eine bestimmte Bedeutung hatte. Seltsamerweise brachte er sie sogar in einen Zusammenhang mit dem Verschwinden seines Hundes, obwohl das Unsinn war. Jedenfalls wollte McBain die Puppe nicht einfach hier liegenlassen. Er hob sie auf. Eine Sekunde später erschrak er. McBain ließ die Puppe los, als wäre sie heiß geworden. Dabei war nicht einmal viel passiert. Sie hatte nur den Kopf verloren. Der Förster hustete, weil er ein Kratzen im Hals verspürte. Er ging einen kleinen Schritt zurück, richtete sich auf und strich über seine Stirn, die schweißfeucht geworden war. Meine Güte, dachte er, das ist ein Ding. Dabei hat sie so kompakt ausgesehen. Wie war es möglich, daß sie...daß sie..., ja, daß sie den Kopf verloren hatte?
Es wollte ihm nicht in den Sinn, und er mußte sich überwinden, um noch einmal nachzuschauen. Wieder bückte er sich. Diesmal umfaßte er mit spitzen Fingern den Kopf und hob ihn vorsichtig an. Geirrt hatte er sich auch zuvor nicht, denn der Puppenkopf bestand aus Holz. Er war der Fachmann und wußte, daß man ihn aus Lindenholz geschnitzt hatte. Ein kaltes Kribbeln durchdrang seine Fingerspitzen. Es lag sicherlich nicht an der Puppe, sondern mehr an ihm und seiner inneren Einstellung. Er hätte den kleinen Kopf am liebsten fortgeworfen, das wiederum brachte er nicht fertig. Statt dessen schaute er sich den Hals an, weil er wissen wollte, wie der Kopf vom Körper getrennt worden war. Der Förster hatte damit gerechnet, Spuren einer Säge zu finden, aber das war nicht der Fall. Dieser Puppenkopf war mit einem glatten Schnitt vom Körper abgetrennt worden. Als hätte jemand eine Axt oder ein Schwert genommen, dachte McBain und wunderte sich. Er war ein Mensch, der immer Gründe wissen wollte, so auch hier, und er dachte analytisch genug, um zu dem Ergebnis zu gelangen, daß die Puppe noch nicht lange hier liegen konnte. Sonst hätte die Schnittstelle anders ausgesehen. Was hatte das zu bedeuten? Wer hatte sich hier im Wald aufgehalten und den Kopf der Puppe vom Körper getrennt? Diese Fragen beschäftigten ihn zwar, wichtiger aber waren für ihn ganz andere Dinge. Er wollte und mußte endlich herausfinden, was mit seinem Hund Willy geschehen war. Seltsamerweise glaubte er, wo er jetzt die Puppe gefunden hatte, fest daran, daß er auch seinen Hund entdecken würde. Bei diesem Gedanken wurde ihm nicht gerade besser. Etwas stieg in seiner Vorstellung hoch, an das er lieber nicht denken wollte. Der Förster blieb in der Nähe des Waldrands. Er rechnete fest damit, Willy hier zu finden. Ein unbestimmtes Gefühl gab ihm diese Gewißheit. Sein Herz klopfte schneller, der Magen drückte sich immer mehr zusammen, er spürte auch sein Zittern, als er den Namen des Hundes immer und immer wieder flüsterte, ohne allerdings eine Antwort zu bekommen. Er sah sie statt dessen! Willy lag in einer kleinen Mulde auf der Seite. Aus dieser Entfernung sah es aus, als würde er schlafen, aber das tat er bestimmt nicht, und da war auch noch etwas Dunkles in der unmittelbaren Nähe seines Kopfes. Garry McBain blieb stehen. Er wollte plötzlich nicht mehr weitergehen, um eine endgültige Gewißheit zu erhalten. In seinem Körper hatte sich alles zusammengekrampft, der
Speichel schmeckte undefinierbar, aber er ging trotzdem auf Willy zu. Aus dem offenen Mund strömte der Atem in kleinen Intervallen. Sein Kopf kam ihm so ungewöhnlich schwer vor. Die Gedanken schienen von innen her gegen die Knochen zu hämmern. Am Rand der kleinen Mulde blieb er stehen. Ein bekannter Geruch drang in seine Nase. *** So roch Blut… Der Förster bückte sich. Er sah das dunkle Blut auf dem Boden. In der Nähe des Hundekopfes hatte es sich verteilt. Garry hob den Kopf an – und hielt ihn plötzlich in der Hand! Der Mann erstarrte in dieser Haltung. Er wollte es nicht glauben, er starrte gegen den Schädel, er sah die weit geöffneten Augen, die so leer waren. Man hatte Willy mit einem glatten Hieb den Kopf vom Körper getrennt. Ihm war das gleiche widerfahren wie der Puppe, aber Willy war ein Lebewesen und kein Stück Holz. Etwas sehr Wertvolles war Garry genommen worden, und er schämte sich seiner Tränen nicht. Er hatte an Willy gehangen, die beiden waren richtige Freunde gewesen, und jetzt das hier. Mein Gott! Wer tut so etwas! Garry konnte es nicht fassen. Hätte er jetzt etwas sagen sollen, er hätte keinen Ton hervorbekommen. So blieb er wie eingefroren vor der Mulde hocken, starrte den Kopf seines Hundes an und bekam nicht mit, daß noch Blut aus der Wunde rann und den Weg auch über seinen Arm fand. Sein Gesicht wirkte wie mit Eis bedeckt. Die Haut war bleich geworden, und es dauerte ziemlich lange, bis der Förster wieder in der Lage war, einen klaren Gedanken zu fassen. Willy war tot, daran gab es nichts zu rütteln. Er war weggelaufen – in die Falle des Mörders! Er mußte ihn zudem gespürt haben, sonst hätte er den Schutz seines Herrn nicht verlassen. Aber wen oder was hatte er gespürt? Garry McBain kam damit nicht zurecht. Dabei wußte er sehr genau, daß er an etwas Bestimmtes denken mußte. Es war sehr wichtig für ihn, sich darum zu kümmern. Er konnte von einem logischen Gedankengang sprechen. Ja, die Logik. Im Wagen habe ich einen Spaten, dachte er. Damit werde ich Willy ein Grab schaufeln. Nein, ich nehme ihn mit zurück zum Haus. Er soll dort begraben werden. Alles Unsinn.
Diese Gedanken paßten nicht in die Realität. Andere Dinge waren wichtiger. Er kreiste sie bereits ein, ohne aber zu einem Resultat zu gelangen. Willy war tot. Willy war noch nicht lange tot. Schließlich fühlte er seinen warmen Körper. Genau das war der springende Punkt. Man hatte seinen Hund vor vielleicht einer Viertelstunde getötet. Also hielt sich der verfluchte Killer womöglich noch in der Nähe auf. Der Förster schnellte in die Höhe, als ihm dieser Gedanke gekommen war. Die einzig logische Folge, über die er so lange nachgedacht hatte. Er lauerte sicherlich noch in der Tiefe des Waldes, und als der erste Schwindel verschwunden war, konzentrierte sich Garry McBain auf die Lücken zwischen den Bäumen, in denen das grelle Sonnenlicht wie ein Schleier lag. Blätter und Baumstämme leuchteten in diesen Lichtinseln. Ein Fremder war jedoch nicht zu erkennen. »Du Schwein!« keuchte der Mann. »Du verdammtes Schwein! Wo steckst du?« Er schrie den letzten Satz hinaus, aber seine Stimme verhallte im Wald. Keine Antwort. Nur die Totenstille kehrte an diesen verfluchten Totenplatz zurück. Garry drehte sich langsam um. Er sah die Grillhütte, er sah auch seinen abgestellten Wagen in der Nähe, wo sich ebenfalls nichts bewegte. Es war alles so normal, in nichts unterschied es sich von anderen Tagen, und doch war es anders. Garry stöhnte auf. Er fühlte sich umzingelt, beobachtet aus kalten Mörderaugen, die nur darauf warteten, daß er einen Fehler beging. Und seine Waffe lag im Wagen. Nicht mehr lange, das nahm er sich vor. Aber er wollte auch den Hund nicht einfach liegenlassen, deshalb zog er seine Jacke aus und legte die beiden Teile hinein. Zuerst den Körper, anschließend den Kopf. Sein Gesicht glich einer Maske, als er die Jacke zusammen mit dem Inhalt vorsichtig den Weg zurück zum Wagen trug und beides auf die Ladefläche legte. Das Gewehr befand sich im Fahrerhaus. Der Förster zog die Tür auf und nahm es an sich. Er hängte die Waffe nicht um seine Schulter, sondern hielt sie schußbereit und mit nach vorn gerichteter Mündung fest. Wenn jemand erschien, der ihm Böses wollte, würde er sich blitzschnell zu wehren wissen. Etwas schreckte ihn auf. Er schaute schräg nach rechts in die Höhe. Die Dohle flog dicht über seinen Kopf und auch über den Wagen hinweg, um sich in der Nähe auf einem Ast niederzulassen. Von dort aus beobachtete das Tier den Förster. In der Nähe seines Wagens fühlte er sich auch nicht sicher. Es gab überhaupt keine Stelle hier im Wald, wo ihn dieses Gefühl überkommen
wäre. Hier war einfach alles anders, so düster geworden, so unheimlich, als wäre die Vergangenheit zurückgekehrt, um sich in die Gegenwart hineinzuschieben. Noch immer klopfte sein Herz stärker. Der Schweiß bedeckte seine Stirn. Er kannte den Grund für die Veränderung der letzten Sekunden nicht, aber etwas hatte sich verändert. Hier bahnten sich Dinge an, die für ihn noch nicht zu überblicken waren. Das Licht der Sonne verteilte sich über den Bäumen, als wären sie eine Grenze, die es nicht bis auf den Boden fallen lassen wollten. Warum nicht? Was war anders geworden? Er wollte zur Grillhütte schauen, mußte aber erst um seinen Wagen herumgehen. Der freie Blick. Da sah er ihn! Der Mann stand vor der Hütte, und er sah aus, als wäre er einem Horrorfilm entsprungen. *** Es war ein Henker! Der Förster wollte es kaum glauben, aber es stimmte. Diese Gestalt sah nicht nur so aus wie ein mittelalterlicher Henker, sie war es auch. Über dem Kopf des Mannes hing eine flattrig wirkende Stoffkapuze, in der nur zwei Löcher für die Augen freigelassen worden waren. Die Kleidung des Henkers war dunkel, sie lag eng am Körper an. Sogar einen Wams konnte der Förster erkennen. Und er sah die Waffe des Henkers! Ein gewaltiges Beil mit einem langen Holzgriff. Die Schneide dieser Mordwaffe war sehr breit, damit konnte man schon Hälse durchtrennen. Der Henker stand da. Er tat nichts. Er schaute den Förster nur an, dessen Brustkorb sich unter den schweren Atemzügen hob und senkte. McBain hatte Mühe, noch klar zu sehen. Manchmal verschwand die Gestalt für Sekunden vor seinen Augen. Er hatte Willy getötet! Für McBain gab es keinen Zweifel. Und dieser Henker hatte auch die Puppe gekillt. Hier kamen zwei Dinge zusammen, und eine dritte Tat würde womöglich folgen. Dann bin ich das dritte Opfer! Es schüttelte den Mann durch, als er daran dachte. Von der Gestalt wehten ihm eine Düsternis und Drohung entgegen, mit denen er nicht zurechtkam. Als hätte man ihm einen Gruß aus der Vergangenheit geschickt, und er kam sich noch immer vor wie ein Statist, der an der eigentlichen Handlung nicht teilnahm.
Erst als der Henker sein Beil bewegte, riß dieser Zustand. Die Realität hatte ihn zurückgeholt, und er verfolgte den Schwung der Mordwaffe sehr genau. Sie schwang in seine Richtung, schlug wieder zurück und bewegte sich wie ein Pendel über den Boden. Der Förster wußte nicht, was er tun sollte. Schießen? Auf einen Menschen schießen? Das hatte er noch nie getan, doch er fragte sich auch, ob diese Gestalt überhaupt ein Mensch war oder nur ein Teufel? Er wußte es nicht. In seinen Hosentaschen spürte er den Druck der beiden Puppenteile, er hörte das schon wütende Schreien der Dohle, dann flatterte der Vogel plötzlich hoch. Das Signal für den Henker. Er setzte sich in Bewegung. McBain war so erstarrt und auch gleichzeitig fasziniert, daß er ihn genau beobachtete. Er sah, wie schwerfällig die Gestalt ihr rechtes Bein anhob und den Fuß dann mit einem harten Stampfen auf den Boden zurücksetzte. Das gleiche geschah wenig später mit dem linken Bein, und für den Mann gab es keinen Zweifel, daß er das dritte und nächste Ziel dieser unheimlichen Mordgestalt war. Schießen? Noch immer zögerte der Förster. Der Henker war weniger rücksichtsvoll. Er ging weiter, und bei jedem Schritt schwang auch sein gewaltiges Beil wie ein Pendel nach vom und wieder zurück. Ich muß es tun. Ich muß es tun! Gott verzeih mir! McBains Gedanken rasten durch den Kopf, und das Gehirn gab diese Befehle an seinen rechten Zeigefinger weiter. Er schoß. Der Knall sprengte die Stille. Irgendwo in der Tiefe des Waldes, in die das Echo des Schusses hineinrollte, wurden Vögel gestört, verließen ihre Ruheplätze und flatterten kreischend in die Höhe. Schießen konnte McBain. Einmal im Monat ging er in den Verein, um zu üben, und er hatte’den Henker auch getroffen. Er hatte die Kugel relativ hoch gehalten. Sie war der Gestalt in die Schulter gedrungen und hatte ihn gestoppt. Für einen Moment sah es so aus, als schien er nach rechts zu kippen, doch er blieb stehen. Es sah sogar so aus, als würde er nur kurz seinen Kopf schütteln, um sich so zu erholen. Dann ging er weiter. Das konnte der Förster im ersten Moment nicht fassen. Dieser Henker lief, als wäre nichts geschehen. Als hätte ihn keine Kugel erwischt, sondern nur eine Erbse.
»Verdammt noch mal, das ist nicht wahr!« keuchte der Mann. »Das...das...das darf nicht wahr sein!« Wieder riß er sein Gewehr hoch. Ein kurzes Zielen, dann der nächste Schuß. Abermals war es ein Treffer! Diesmal wuchtete die Kugel nicht in die Schulter, sie durchschlug dicht unterhalb der Kapuze die Brust. Der Schütze konnte sogar das Licht erkennen, das die Kugel hinterlassen hatte, aber der Henker war nicht tot. Er wurde nur kurz in seinem Lauf gestoppt. Der Körper bekam einen Drall nach hinten, dann sackte er zur rechten Seite weg und stützte sich auf der Klinge ab. Er hielt sich. Er schrie und stöhnte nicht. Wenn er litt, dann stumm, aber daran wollte McBain nicht mehr glauben. Diese Gestalt war so nicht zu töten, sie war kein Mensch, man mußte sie schon als übermenschlich ansehen. Und sie setzte ihren Weg fort. Nach dem zweiten Schritt handelte der Förster endlich. Er drehte sich um, riß die Tür seines Autos auf und schleuderte das Gewehr auf die Sitzbank. Dann stieg er selbst ein und startete. Er knirschte mit den Zähnen, als er den ersten Gang einlegte und dann Gas gab. Der Wagen sprang nach vorn. Die Reifen drehten für einen Moment kurz durch, aber er kam von der Stelle, und McBain kurbelte das Lenkrad nach links. Der Henker ging noch immer. Seine Schritte waren länger geworden. Es sah so aus, als würde er bei den Gehbewegungen die Beine stets nach vorn schleudern. Dabei bewegte er auch sein Beil, und die Klinge wirbelte in McBains Richtung. Der war schneller, dennoch kratzte bei einem Schlag das Beil hinten an der Ladefläche entlang. Mehr aber geschah nicht. Im Gegenteil, der Wagen gewann an Tempo, und so konnte McBain zum erstenmal seit einiger Zeit aufatmen. Er warf einen Blick in den Außenspiegel. Noch einmal Glück gehabt. Die Gestalt blieb hinter ihm zurück. Sie nahm die Verfolgung nicht auf. Am Rand der Lichtung war der von zwei Kugeln getroffene Henker stehengeblieben. Noch einmal schwang er sein Beil hoch und ließ es auch senkrecht stehen, als wollte er mit dieser Waffe einen letzten Gruß nachschicken oder dem Flüchtling erklären, daß es zwischen ihnen noch zu weiteren Begegnungen kommen würde. McBain aber war froh, die erste überlebt zu haben…. ***
Schon auf der Fahrt in unser Büro hatte mich Suko einige Male angesprochen und immer wieder davon berichtet, daß es ihm stinken würde, wenn er so etwas tragen würde wie ich. »Wieso?« »Na ja, eine Jacke aus rotem Wildleder?« »Die ist modern.« »Auch gut?« »Sie war preisgünstig. Um die Hälfte gesenkt. Das war ein sogenanntes Schnäppchen.« »Ach so.« Ich warf ihm einen schiefen Blick zu. »Für deine Größe hatten sie nichts, mein Lieber. Da wird erst gar nichts hergestellt, denn die Fabrikanten wissen von vornherein, daß sie diese Kleidung nicht loswerden.« »Dafür mußt du sie ja tragen«, sagte Suko grinsend. »Ich bin gespannt, wie Glenda darauf reagiert.« »Sie wird sich wundern und mir gratulieren.« »Zum letzten Versuch?« »Nein, zum vorletzten.« Zunächst einmal staunten die Kollegen, die wir in der Halle des Yard Building sahen. Sie starrten mich an wie einen Fremden, manche grinsten, andere tuschelten. Ich übersah und überhörte es, stieg in den Lift, wo auch eine Mitarbeiterin mit uns hochfuhr, die sich allerdings mehr für ihren Schnupfen interessierte. Dann betraten wir das Vorzimmer. Ich hatte gehofft, daß sich Glende an diesem Morgen verspätete, doch sie war bereits da. Von Suko nahm sie keine Notiz, obwohl er sie auch begrüßt hatte, sie starrte nur mich an, kam schließlich mit ausgestreckter Hand auf mich zu und schüttelte meine Rechte. »Was ist los?« »Gestatten? Perkins, Glenda Perkins. Ich bin hier als Sekretärin eingestellt und...« »Wieso? Spinn ich…?« »Überhaupt nicht.« »Aber du?« Glenda lachte laut. Suko, der sich im Hintergrund gehalten hatte, prustete. »Toll, John, deine Jacke ist einfach irre. Das ist wirklich eine Schau am frühen Morgen. Ich werde dich nur noch als Dressman ansehen. Laß mal fühlen.« Sie strich mit den Fingerkuppen am Leder entlang, nickte und meinte anerkennend: »Ist ja ein edles Material. Das muß man dir schon lassen.« »Er hat den Fetzen reduziert bekommen«, meldete sich Suko. »Der Verkäufer hat vor Freude geweint, als er die Jacke los wurde. Die Dankesschreiben werden ihn noch erreichen.«
Ich trat einen Schritt zurück, damit ich Glenda und Suko vor mir stehen hatte. »Wißt ihr, was ihr mich könnt?« »Sag es nicht!« rief Glenda. »Ihr könnt mich nicht leiden. Und ich fühle mich in der Jacke wohl.« »Das ist auch am wichtigsten«, erklärte Glenda. »Richtig. Ich werde jetzt in mein Büro verschwinden, einen Kaffee trinken und darüber nachdenken, was ich getan habe, um mit derartigen Kollegen bestraft zu sein.« Glenda lächelte mich hinterlistig an. »Das wirst du nicht, John Sinclair.« Sie sang die Antwort beinahe. »Was sollte mich davon abhalten?« »Sir James.« »Ach.« Sie nickte mir zu und auch Suko. »Er hat bereits nach euch gefragt. Kann sein, daß es wieder Ärger gibt.« »Weiß du weshalb?« »Nein.« »Dann laß lieber die Jacke hier hängen«, meinte Suko. »Vielleicht ist Sir James schon geschockt worden. Nicht daß er nachher noch vom Stuhl kippt.« »Wie besorgt du wieder um mich bist«, sagte ich und war schon auf dem Weg zur Tür Das Grinsen der beiden kriegte ich nicht mit. Ich ging über den Flur und war auch als erster am Büro unseres Chefs, das ich nach dem Anklopfen betrat. Sir James saß hinter dem Schreibtisch. Er telefonierte mit seinem Bekannten oder Freund, denn er duzte ihn. Ich bekam noch mit, daß er sich mit ihm für den Nachmittag verabredet hatte, dann legte er auf und schaute mich an. Ich hatte mich noch nicht gesetzt und lauerte auf einen Kommentar, der meine Jacke betraf, aber Sir James wußte, was sich gehörte. Er hob nur kurz die Augenbraue, um mich anschließend freundlich zu begrüßen und nach Suko zu fragen. »Der kommt.« Ich hatte den Satz kaum ausgesprochen, als der Inspektor das Büro betrat, den spöttischen Blick auf meine Jacke gerichtet, aber er hielt sich mit einer Bemerkung zurück. »Gut, daß Sie beide so schnell gekommen sind, denn ich habe mit Ihnen zu reden.« »Um was geht es, Sir?« »Das ist schwer zu sagen. Es geht um einen Fall, den ich nicht als offiziell angeben kann, der mir allerdings rätselhaft erscheint.« »Handelt es sich um eine private Angelegenheit?« fragte Suko. »Genau.« »Mit einem Hintergrund, der uns interessieren könnte?« »Auch das.«
Wir merkten, daß sich Sir James nicht wohl in seiner Haut fühlte, er überlegte auch, wie er uns gewisse Dinge näherbringen sollte, und er begann damit, daß er nicht nur gewisse Verpflichtungen in seinem Club nachgehen mußte, sondern sich in seinem Leben auch noch anderen Dingen ergeben hatten. So war es üblich, daß er einmal im Jahr, im Herbst, an einer großen Jagd teilnahm. »Bis dahin ist es noch einige Zeit hin«, sagte ich. »Das stimmt genau, aber diese Jagdgesellschaft trifft sich im Frühjahr stets zu einem kleinen Grillfest. Es beginnt am späten Nachmittag und hört in der Nacht auf. Dieses Grillfest findet in einem Wald nordöstlich von London statt. Man kommt zusammen, man ißt, trinkt, man feiert, man unterhält sich.« »Da sollen wir mit hingehen?« fragte ich. »Das wäre nicht schlecht.« Suko und ich schauten uns nur an. Zu sagen hatten wir nichts, und der Superintendent hatte uns beobachtet. Er hatte auch aus unseren Blicken gelesen und erkannt, daß wir vor Begeisterung nicht eben sprühten. »Ich weiß, was Sie denken, aber ich hätte Sie nicht darauf angesprochen, wäre es nicht zu einigen Unregelmäßigkeiten gekommen, die mich sehr nachdenklich gemacht haben.« »Aha«, sagte ich. Sir James ging auf meine Bemerkung nicht ein, sondern sprach zunächst über die Zusammensetzung dieser Jagdgesellschaft, in der sich Männer gefunden hatten, die ihrer Jobs wegen nichteben zu der Masse der Bevölkerung zählten. Es war eine ziemlich elitäre Gesellschaft aus Wirtschaftsleuten, Staatsbeamten und auch Politikern. »Sie feiern also ein Fest im Wdd.« »Richtig, John.« »Was sollen wir dort?« fragte Suko. »Etwas aufklären. Eine Sache, die lächerlich ausgehen kann, bei der möglicherweise auch das Gegenteil eintrifft, denn ich habe hier die Aussagen des mir bekannten Försters Garry McBain vorliegen, dem genau an dem Platz, an dem wii uns versammeln werden, etwas Schreckliches widerfahren ist, über das ich nicht lachen kann, weil ich McBain eben als einen sehr ehrlichen und realistischen Menschen kenne. Ich habe hier das Protokoll vorliegen und möchte es Ihnen zu lesen geben.« Suko bekam ein Blatt gereicht, ich ebenfalls, und wir lasen in den folgenden Sekunden den Text durch. Es ging um eine geköpfte Puppe, um einen ebenfalls geköpften Rauhhaardackel und um einen Henker. Was wir da zu lesen bekamen, konnte man glauben oder nicht. Wenn allerdings Sir James der Ansicht war, keinen Spinner vor sich zu haben, mußte man schon aufpassen.
Wir legten die Blätter fast zur gleichen Zeit wieder zurück und schauten unseren Chef an. Dessen Augen bewegten sich hinter den Brillengläsern. »Sie haben keinen Kommentar abzugeben?« Suko hob die Schultern. »Du, John?« »Nein, im Moment auch nicht. Da ist jemand erschienen, der mit einer Axt tötet.« »Richtig.« »Einen Menschen hat er noch nicht umgebracht. Es ist zwar eine Schweinerei, einem Hund den Kopf abzuschlagen, das aber rechtfertigt unser Eingreifen noch nicht. Vielleicht sollten einige Kollegen das Gebiet durchkämmen und versuchen, diesen komischen Henker zu stellen.« Sir James nickte, wobei er sich noch räusperte. »Daran habe ich auch gedacht, aber diese Männer würden dann nach einer Person suchen müssen, die von zwei Kugeln getroffen worden ist, ohne daß ihr die Schüsse etwas ausgemacht hätten. Sie ging weiter. Sie ließ sich nicht aufhalten. Sie blieb auf den Beinen. Ich hätte Sie auch nicht gebeten, wenn nicht ausgerechnet heute dieses Grillfest stattfinden würde. Es ist der ideale Tag. Fast Wochenende, die Urlaubszeit hat noch nicht begonnen, das Wetter spielt zudem mit, was will man mehr?« »Sie befürchten also, daß dieser Henker dort wieder auftauchen könnte, Sir James?« »Richtig, Suko.« »Dann wären wir so etwas wie Leibwächter.« »Bei einer nicht offiziellen Aktion. Ich weiß, es ist etwas viel verlangt, aber ich möchte auf Nummer Sicher gehen. Sollte etwas Ungewöhnliches passieren, will ich jemand in der Nähe haben, der sich mit gewissen Dingen auskennt.« Ich breitete die Arme aus und fragte Suko. »Was sagst du dazu?« »Na ja, ich habe schon immer gern gegrillt. Allerdings würde ich Shao gern mitnehmen. Ich hatte ihr versprochen, den Abend freizuhalten und...« »Kein Problem«, sagte Sir James. »Wunderbar.« »Wollen Sie auch jemand mitnehmen, John?« »Nein, nein, das lasse ich lieber. Es reicht mir, wenn ich auf Shao und Suko achten muß.« Sir James lächelte, enthielt sich ansonsten eines Kommentars und reichte uns wieder zwei Kopien. Es war die Wegbeschreibung zum Grillplatz, der mit einem Kreuz markiert worden war. Ein zweites Kreuz entdeckten wir nicht weit entfernt. Auf unsere Frage wurde uns geantwortet, daß dort der Förster Garry McBain wohnte, mit dem wir uns unterhalten sollten. »Geht in Ordnung, Sir«, sagte ich. »Weiß der Mann Bescheid?« »Ich werde ihn anrufen.«
»Gut. Dann sehen wir uns heute nachmittag auf dem kleinen Fest.« Ich stand auf. »Ach so, John, da wäre noch etwas.« »Ja, Sir...« »Haben Sie sich eine neue Jacke gekauft?« Ich stand da und wußte nicht, was ich sagen sollte. Es war plötzlich still geworden. Vielleicht hörte ich auch deshalb Sukos Prusten, das wohl ein Lachen sein sollte, und auch in den Augen meines Chefs blitzte der Schalk. »Nein, Sir, die habe ich nicht gekauft. So etwas bekommt man nachgeworfen, wenn man sich Schuhe holt.« »Ich dachte es mir schon. Hätte mich auch gewundert, wenn Sie dafür Geld ausgegeben hätten, John.« Das war wirklich die Härte. Eine derartige Bemerkung hätte ich dem Alten gar nicht zugetraut. Aber ich nahm mir vor, mich nicht beirren zu lassen. Ich würde die Jacke behalten, und ich beruhigte Sir James. »Zur Grillfete werde ich etwas anderes anziehen. Dann komme ich in Tracht.« Bevor Sir James auf diese Bemerkung noch eine Antwort geben konnte, hatte ich das Büro bereits verlassen. Suko folgte mir. Als ich sein Grinsen sah, ballte ich die rechte Hand nur zur Faust. »Denk daran, die Linke ist tödlich. Die Rechte aber ist unerforscht.« »Klar, ich zittere jetzt schon...« *** Uns empfing ein Mann, den man mit gutem Gewissen als einen Naturburschen hätte ansehen können. Die gesunde Gesichtsfarbe paßte zu dem braunen Haar, der offene Blick seiner grauen Augen, der kräftige Händedruck und auch die Country-Kleidung, die er trug, lag voll im Trend. Das Haus im Blockhüttenstil paßte ebenfalls zu ihm, der Wald war nicht weit, die Wiesen und Weiden ebenfalls nicht, und im Wasser eines kleinen Teichs schwammen Goldfische. Suko und ich waren nur zu zweit gekommen. Wir hatten Shao das Angebot zwar unterbreitet, sie aber hatte abgelehnt, denn sie hätte sich in dieser Gesellschaft nicht wohl gefühlt, was durchaus verständlich war. Auch ich hatte meine Schwierigkeiten mit den oft blasierten Typen, bei denen einer den anderen immer wieder übertreffen wollte. Der Tag hatte sich wunderbar entwickelt. Von einem blauen Himmel lachte die Sonne, aber auch sie konnte den ängstlichen Eindruck des Försters nicht vertreiben. Wir nahmen auf der Terrasse Platz, und McBain hatte uns etwas zu trinken angeboten. Seine Frau war nicht da, sie war unterwegs, um
einzukaufen, was ihm auch ganz lieb war, denn so konnten wir ungestört reden. »Was wissen Sie?« fragte er uns. »Wir kennen das Protokoll.« »Das ist nicht viel.« »Stimmt.« »Glauben Sie mir denn?« Suko übernahm die Antwort. »Sonst wären wir nicht hier bei Ihnen.« »Ja, das stimmt«, murmelte er. »Und ich hatte ja etwas Zeit, um über gewisse Dinge nachzudenken.« Er strich über sein Gesicht. »Ich weiß nicht, ob ich mich richtig verhalten habe. Ich wandte mich einfach an Scotland Yard, denn ich habe Ihren Chef kennengelernt und schätze ihn auch sehr. Jemand hat mir bei einer Jagd erzählt, mit welchen Fällen sich Sir James beschäftigt, und das alles fiel mir wieder ein. Deshalb hoffe ich, das Richtige getan zu haben.« »Da brauchen Sie sich wohl keine Sorgen zu machen«, sagte ich und fuhr fort. »Sie sind sicher, daß Sie diesen Henker gesehen haben, ebenso wie die Puppe und Ihren toten Hund?« »Natürlich.« Er nickte. »Ich kann Ihnen den Beweis zeigen. Meinen Hund leider nicht, dafür die Puppe. Willy habe ich begraben, aber die Puppe befindet sich hier.« Er stand auf und ging bis zu einer Fensterbank. Dort saß die Puppe in einem Winkel. Wir hatten sie bisher noch nicht entdeckt. Er nahm sie an sich und trug sie sehr vorsichtig zu uns. Dann legte er sie auf den Tisch. In diesem Augenblick löste sich der Kopf, der nur locker am Rumpf befestigt war. Er rutschte noch ein Stück über die Tischplatte und blieb mit dem Gesicht nach oben liegen. »Das ist sie!« Zuerst schaute sich Suko die beiden Teile an. Den Kopf, auch den Körper, er nickte und reichte mir beides. »Du wirst es sehen, John, das ist glatt durchtrennt worden. Als hätte jemand zugehackt.« »Ja, der Henker!« flüsterte McBain. Ich nahm die Puppe in die Hand. Leicht war sie nicht. Sie bestand aus massivem Holz, und ich konnte mir vorstellen, daß sie auch einige Jahre auf dem Buckel hatte, vielleicht sogar Jahrhunderte. »Und sie haben die Puppe nie zuvor gesehen?« erkundigte ich mich bei dem Förster. »Nein, nie. Sie ist neu für mich.« »Kennen Sie denn ein Kind, das sie verloren haben könnte?« erkundigte sich Suko. McBain schüttelte den Kopf. »Auch nicht. Welches Kind spielt heute noch mit einer derartigen Puppe? Schauen Sie sich dieses kleine Kunstwerk doch an. Ich würde sagen, daß sie ein Relikt aus der Vergangenheit ist. Nicht aus der heutigen Zeit und auch nicht
nachgemacht. Ich habe mich mit Holz beschäftigt und kann das in etwa beurteilen.« Er legte die Puppe wieder auf den Tisch. Suko tippte sie an. »Es ist also die einzige Spur, die wir haben.« »Ja.« »Ihr Hund ist ebenfalls gestorben. Man hat ihm also den Kopf abgehackt«, sagte ich. Der Förster schluckte. »Mit einem glatten Schnitt.« Er schüttelte sich. »Wie bei der Puppe.« Wir standen vor einem Rätsel. Ob es aber in unser Gebiet hineinreichte, das wußten wir nicht. Eine kopflose Puppe ist nicht unbedingt eine Spur, die auf schwarzmagische Kräfte hindeutet. Dazu zählte natürlich auch der geköpfte Hund. »Bleibt der Henker«, sagte ich. »Genau.« »Und sie haben ihn an der Grillhütte gesehen?« »Erst auf der Lichtung, dann an der Hütte. Er hat mich ja verfolgt.« Garry McBain schwitzte wieder. »Himmel, ich habe zweimal auf ihn geschossen, und er lief trotzdem weiter.« »Auch getroffen?« fragte ich. »Natürlich, auch das. Ich habe sogar gesehen, wie die Kugeln einschlugen.« »Kann er nicht verletzt gewesen sein und sich verkrochen haben? Ich meine, ein Jagdgewehr ist nicht unbedingt eine Waffe für den Krieg, und die Aufprallwucht der Kugeln...« Der Förser winkte mit beiden Händen ab. »Das ist nicht der richtige Weg, Mr. Sinclair. Sie müssen mir schon glauben. Dieses Gewehr, also wenn die Kugeln zielgenau sitzen, haben Tiere und Menschen keine Chance. Dieser Henker ging trotzdem weiter, nachdem er die Geschosse geschluckt hatte. Eine andere Formulierung fällt mir dazu wirklich nicht ein.« Wir schwiegen. Ich ließ meinen Blick über das Gelände streifen. Wir saßen auf den wuchtigen Holzstühlen im Garten. Zum Schutz gegen die Sonne war kein Schirm aufgespannt worden. Schatten spendeten die ausladenden Äste einer herrlichen Buche. »Die Grillfete beginnt am Nachmittag – oder?« fragte Suko. »Ja.« »Wann müssen Sie hin?« McBain hob die Schultern. »Ich werde als einer der ersten dort sein. Es kommt eine Firma, die sich auf Grillfeste spezialisiert hat. Die Leute bringen alles mit. Essen und Getränke. Um diese Dinge brauche ich mich nicht zu kümmern.« »Haben wir Zeit genug, um zuvor noch einmal hinzufahren?« wollte ich wissen. »Immer.«
»Dann sollten wir uns den Platz einmal anschauen.« »Ja«, murmelte McBain, »schauen wir uns den Totenplatz gemeinsam an. Mir fiel kein anderer Name für die Lichtung ein.« Mein Freund schob seinen Stuhl wieder näher an den Tisch heran. »Wir fahren mit meinem Wagen. Der ist für dieses Gelände geeigneter«, schlug McBain vor. Dagegen hatten wir nichts. Suko und ich aber blieben jäh stehen, denn beide hatten wir die dünne Kinderstimme gehört. »Ich will meine Puppe...« *** Zuerst taten wir nichts. Ohne uns abgesprochen zu haben, reagierten wir gleichzeitig, spitzten die Ohren, schauten in die Höhe, dann in die Runde, und McBain, dem unser Verhalten aufgefallen war und der sich soeben umgedreht hatte, schüttelte den Kopf. »Was ist denn mit Ihnen los?« Ich legte als Antwort einen Finger auf meine Lippen. Sekunden verstrichen, in denen sich auch McBain zurückhielt. Schließlich hob ich die Schultern. »Da scheine ich mich doch getäuscht zu haben.« »Wir beide?« fragte Suko. Genau das war es. Wir hatten die dünne Kinderstimme gehört, die nach ihrer Puppe verlangte. Der Förster kam auf uns zu. »Irgend etwas stimmt doch nicht mit Ihnen. Sie hätten sich mal sehen müssen. Sie wirkten wie eingefroren, als sie hier neben den Stühlen standen.« Ich hob die Schultern. »Das mag schon hinkommen, und es gab auch einen Grund.« »Welchen denn?« »Wir hörten die Stimme eines Kindes, das seine Puppe zurückverlangte. Eben diese Puppe.« Ich deutete auf den geköpften Gegenstand. »Wie?« McBain stierte ebenfalls hin. Er kriegte plötzlich eine Gänsehaut. »Die Stimme eines Kindes?« »So ist es.« »Hier gibt es kein Kind. Wir haben keine eigenen.« »Genau das ist das Problem.« »Dann haben Sie sich geirrt.« »Haben Sie sich auch geirrt, als Sie den Henker sahen?« fragte Suko leise. McBain verdrehte die Augen. »Verdammt, da habe ich mich nicht geirrt.« »Wir auch nicht.« Der Förster schaute in die Luft. Er deutete noch mit den Händen in die verschiedenen Richtungen. »Hier ist doch nichts. Niemand hält sich
versteckt. Auch im Baum nicht.« Jetzt wußten wir wenigstens, was er uns andeuten wollte. »Sichtbar nicht«, sagte Suko. Die Arme des Försters sanken wieder nach unten. Er staunte dabei. »Was soll das denn heißen, Inspektor? Denken Sie vielleicht an etwas Unsichtbares?« »Es ist möglich.« McBain überlegte. Er sah dabei aus wie jemand, der nicht wußte, ob er lachen oder weinen sollte. Schließlich entschied er sich dafür, die Schultern zu heben. »Zwei gegen einen. Aber ich glaube Ihnen nicht nur deshalb, sage ich mal.« »Das ist nett.« Ich lächelte. »Sollen wir fahren? Bleibst es dabei?« »Ja, es bleibt dabei«, erklärte ich. »Zeigen Sie uns mal diesen berühmten Totenplatz.« Diesmal hielt uns keine Stimme auf, als wir gingen. Ich machte den Schluß dieser Dreierreihe und schaute noch einmal zurück in den Garten. Ich sah den Baum, unter dem wir gesessen hatten, ich sah auch die Sitzgruppe und den Tisch ebenfalls. Auf ihm lag die kopflose Puppe. Ich stutzte. Bewegte sie sich? Stieg sie hoch? Bewegte sich auch der Kopf? Wurde er auf den Körper zugeführt – wie von nicht sichtbaren Händen geleitet? Für einen sehr langen Augenblick hatte ich zumindest den Eindruck. Oder bildete es mir ein. Jedenfalls blieben die Puppe und der Kopf schließlich dort liegen, wo sie auch ihre Plätze gefunden hatten. So richtig überzeugt aber war ich nicht. Ich stieg als letzter in den Geländewagen und sah Sukos fragenden Blick auf mich gerichtet. »Es war nichts«, murmelte ich und schloß die Tür. Mein Freund glaubte mir nicht. *** Helen McBain fühlte sich fast wie immer, als sie die Stadt verlassen hatten. Nämlich richtig wohl, denn das Gedränge und Geschiebe, die Suche nach einem Parkplatz, die Hetze beim Einkauf, all das war nichts für die zweiunddreißigjährige Frau, die früher einmal als Gärtnerin gearbeitet hatte, dann ihren späteren Mann kennenlernte, als er sein Praktikum in der Gärtnerei absolvierte und besonders glücklich darüber gewesen war, daß er auch einen Job als Förster gefunden hatte. Zudem hatte man ihnen noch ein Haus zugeteilt, daß Helens Geschmack nach ideal lag.
Sehr einsam, aber nicht zu versteckt. Man konnte aus dem Fenster schauen, und der Blick fiel über das flache Land, bis hin zu den ersten Vororten der Millionenstadt London, die relativ nah war, aber trotzdem so weit entfernt lag. Wie gesagt, sie fühlte sich fast wie immer. Dieses eine Wort fast hatte seine besondere Bedeutung für die Frau bekommen, denn seit dem gestrigen Tag hatte sich bei ihnen einiges verändert. Ihr Mann war nach Hause gekommen und hatte eine schier unglaubliche Geschichte erzählt, über die Helen zuerst hatte lachen wollen, später aber seht ernst geworden war, weil sie ihren Mann kannte. Der erzählte viel und gern, aber er blieb stets auf dem Boden der Tatsachen. Was er jedoch erlebt hatte, das grenzte schon an Spuk und Magie. Das war einfach unheimlich und unerklärlich. Dabei hatte Willy sein Leben verloren. Auch Helen hatte um den Hund getrauert, denn er war ihrer beider Liebling gewesen. Sie würden sich einen neuen Hund besorgen müssen, aber erst später, nach diesem verdammten Grillfest, das Helen schon mehr als einmal verflucht hatte. Sie mochte einige der sogenannten einflußreichen Persönlichkeiten nicht, die daran teilnahmen. Es würde vorbeigehen, aber es würde zumindest für sie und ihren Mann unter anderen Vorzeichen ablaufen. Sie war nur froh gewesen, daß man Garry nicht ausgelacht hatte, als er sich mit seinen Problemen an die Polizei gewandt hatte. So etwas konnte auch leicht passieren. Man hatte ihm geglaubt, und ein gewisser Sir James hatte versprochen, etwas in die Wege zu leiten, das sie beruhigen sollte. Zwei Spezialisten waren angesagt. Helen rechnete damit, daß sie schon da waren, wenn sie zurückkam. Das Gedränge und die Menschen lagen hinter ihr. Der frische Sommerwind wehte durch den Wagen und fing sich auch in ihren blonden Haaren, die sie vorn mit einem Stirnband gebändigt hatte. Im Nacken waren sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, der bei jedem Windstoß in die Höhe flatterte. Sie fuhr den Golf auch deshalb gern, weil er ihr persönlicher Wagen war. Er machte sie unabhängig, denn ihr Mann war oft genug unterwegs. Überhaupt war es Helen in den letzten Monaten ziemlich einsam in dem Haus vorgekommen. Es konnte mit dem stärker gewordenen Wunsch nach Kindern zusammenhängen. Bisher hatten sie und ihr Mann davon abgesehen, aber allmählich wurde es Zeit. Schließlich lief die Zeit immer weiter, und beide wurden nicht jünger. Das Haus lag an einer schmalen Straße. Allerdings versetzt. Zwischen Straße und Haus befand sich ein leerer Platz, auf dem ein dunkler BMW parkte. Helen stoppte ihren Golf neben dem Flitzer. Der Besuch aus London war also eingetroffen. Ihr Mann würde froh sein, und sie atmete ebenfalls auf,
denn was Garry durchgemacht hatte, das mußte einfach aufgeklärt werden. Das Haus war aus Stein und Holz gebaut worden. Die untere Hälfte bestand aus roten Ziegelsteinen, zu denen die braunen Balken gut paßten. Helen holte den Korb aus dem Wagen, in dem die Flaschen mit Orangensaft und Milch standen, und schloß die dicke Bohlentür nicht auf, weil sie davon ausging, daß ihr Mann mit seinen Besuchern im Garten auf der Terrasse saß. Dort ließ es sich besser plaudern. Stutzig wurde Helen allerdings, als der Geländewagen nicht mehr auf seinem Platz stand. Sie ging trotzdem um das Haus herum. Über den kleinen Plattenweg und vorbei an zahlreichen Obststräuchern erreichte sie den Garten, wo sie sofort stehenblieb, denn auf der Terrasse standen zwar die Sitzmöbel, ansonsten aber war sie leer. Keine Menschen. Helen ging hin. Sie sah die benutzten Gläser noch auf dem Tisch stehen, und sie entdeckte auch die Puppe dazwischen, deren Kopf eine Fingerlänge vom Körper entfernt lag. Der Anblick ließ Helen schaudern, denn sie brachte ihn in Verbindung mit ihrem toten Hund. Im Korb war noch Platz, um die benutzten Gläser einzuladen. Während sie das tat, überlegte sie, wo ihr Mann mit seinen Besuchern wohl stecken könnte. Möglicherweise waren sie zum Grillplatz gefahren. Natürlich, das mußte es sein, schließlich wollten sich die Polizisten einen Eindruck vom Tatort verschaffen. Helen ging ins Haus. Sie nahm den Seiteneingang, schloß die Tür nicht auf, denn ihr Mann hatte vergessen, die Tür abzuschließen, was Helen ärgerte. Auch in dieser Gegend war man vor lichtscheuem Gesindel nicht sicher. Einmal hatten sie böse Erfahrungen mit zwei jugendlichen Ausbrechern gemacht, die Garry glücklicherweise mit seiner Waffe in Schach hatte halten können, während Helen die Polizei alarmiert hatte. Im Haus selbst war es still. Die Frau runzelte die Stirn, als sie in die Küche ging. Nicht etwa, weil ihr die Stille seltsam vorgekommen wäre, sie war immer vorhanden, wenn ihr Mann unterwegs war, aber diese Stille empfand Helen als anders. Beklemmend möglicherweise, und das änderte sich auch nicht, als sie die Küche betrat. In ihr hatte sie viel Platz. Sie paßte wegen ihrer Rustikalität in dieses Landhaus. Ansonsten war sie sehr modern eingerichtet. Der Frau fehlte es an nichts. Helen öffnete die Tür des großen Kühlschranks und begann damit, die Milchflaschen hineinzustellen, räumte noch andere Dinge um, schuf so
Platz für den Orangensaft und wollte die Tür wieder schließen, als sie das Gefühl hatte, nicht mehr allein zu sein. Da war jemand… Sie wartete, doch es war niemand zu hören, der auf leisen Sohlen durch das Haus schlich. Die Stille hatte sich nicht verändert. Dafür aber ihr Gefühl. Sie holte tief Luft, schloß die Kühlschranktür und drehte sich langsam um. Aus dieser Position hervor konnte sie einen Blick auf die offenstehende Küchentür werfen. Da war niemand. Helen atmete tief durch. Ich will mich nicht verrückt machen lassen, dachte sie. Es ist alles in Ordnung, nur ich bin es nicht. Keiner außer mir hält sich im Haus auf. Nur beruhigten sie die Worte nicht. Der Schweiß auf ihrer Stirn war trotz allem dichter geworden. Auch ihr Herz klopfte schneller. Sie befand sich an einem Punkt, wo es ihr kaum noch Spaß machte, sich in diesem Haus aufzuhalten. Darüber ärgerte sie sich. In der Küche war niemand, das stand fest. Hier unten waren noch der Wohnraum, das kleine Bad, und es gab den Durchgang zum Anbau, der auch als Stall verwendet werden konnte und schon Tieren Unterschlupf geboten hatte, die im Winter verletzt vor der Kälte Zuflucht gesucht hatten. Das alles gehörte zu einem Försterhaus, das alles war normal, aber nicht die zarte Mädchenstimme. »Ich will meine Puppe zurück...« Helen McBain hatte sich schon zwei Schritte von ihrem Kühlschrank fortbewegt, als sie die Stimme hörte, und diesmal hatte sie sich nicht getäuscht. Sehr deutlich, beinahe von allen Seiten kommend hatten die Worte ihre Ohren erreicht. Und sie hatten sehr traurig geklungen, als hätte die Sprecherin etwas verloren, an dem sie mit großer Sehnsucht hing. Die Puppe… Und zwar die Puppe, die draußen auf dem Tisch der Tenasse lag und geköpft worden war. Helen erschrak über ihre eigenen Gedanken, während ihre Blicke durch die Küche streiften, ohne allerdings die geheimnisvolle Sprecherin entdecken zu können. »Ich will meine Puppe...« Da – wieder! Helen schloß für einen Moment die Augen. Sie spürte den Kloß im Hals. Gleichzeitig blockierte etwas ihre Gedanken, als wären diese ein Strom, der durch ein Stauwehr aufgehalten wurde. Eine Kinderstimme bat um eine Puppe. Es gab kein Kind in der Nähe. Sie
lebten sehr einsam. Die nächsten Nachbarn waren weit entfernt. Sie hätten lange laufen müssen, um das Haus zu erreichen, und Kinder hatten die auch keine. Helen wollte sich auch nicht vorstellen, daß sich ein fremdes Kind verlaufen hatte, obwohl es nicht ausgeschlossen war, denn diese Gegend war auch bei Spaziergängern beliebt. Die Frau hatte einen Fuß nach vorn geschoben. Sie achtete auf jedes fremde Geräusch, aber sie hörte nur den eigenen Schlag ihres Herzens und ärgerte sich dann darüber, daß beim nächsten Schritt der Stoff ihrer Jeans in Oberschenkelhöhe gegeneinander rieb und so ein schabendes Geräusch entstand, das zumindest ihr laut vorkam. Ein Blick zum Fenster. Dort war auch nichts. Nein, das Kind mußte sich im Haus aufhalten. Irgendwo in den unteren Räumen, wenn überhaupt. Sie dachte auch an die Stereoanlage, die vielleicht eingeschaltet war. Nein, das war nicht möglich. Dann hätte sie auch jetzt Musik oder Stimmen vernommen, denn niemand war da, der die Anlage hätte ausschalten können. Und sie fragte sich auch, weshalb sie keine Angst verspürte, sondern eher das Gefühl der Spannung und Neugierde. Sie selbst konnte es kaum beschreiben. Da war eine Wand vor ihr, in die sie aber hineingehen konnte, und sie würde sich öffnen. Mit leisen Schritten bewegte sich die Frau auf die Tür zu. Sie hatte sich endlich überwunden, der Wohnraum öffnete sich. Sie schaute nach rechts zum großen Fenster. Der Garten dahinter, der Tisch mit der Puppe, die Möbel, der Steinfußboden, auf dem sich die Teppiche verteilten, dann die Treppe, die vom Wohnzimmer aus in die obere Etage führte, denn dieses Haus bildete eine Einheit. Alles das kam bei ihr zusammen, alles war vertraut, sie konnte darüber lächeln, die Augen schimmerten, als sie den Mund bewegte und ein leises »Hallo...« rief. Wo blieb die Antwort? Noch hörte sie nichts. Sie hatte auch nichts gesehen. Aber irgendwo mußte das Kind doch sein. Es war da. Die Bewegung auf der oberen Hälfte der Treppe glich mehr einem Huschen. Da war ein heller Schatten, gleichzeitig auch dunkel. Helen kam mit der eigenen Beschreibung nicht zurecht. Ein Phänomen, an das sie bisher nicht einmal zu träumen gewagt hatte. Aber es war da. Auf der Treppe stand jemand und ging nicht mehr weiter. Es sah aus, als wollte die Gestalt abgeholt werden. Helen McBain tat auch keinen Schritt mehr. Sie stand einfach nur da und staunte. Etwas hatte sich verändert. Da war eine Kraft, die sie regelrecht umfloß, umspielte, und diese Kraft konnte von ihr nicht erklärt werden. Sie mußte hingenommen werden, sie war einfach wunderbar, klar, rein
und anders. Helen war fasziniert und trotzdem durcheinander. So dauerte es eine Weile, bis sie sich zurechtfand und endlich in der Lage war, auch Einzelheiten aufzunehmen. Geist oder Mensch? Ein Kind stand auf der Treppe ein Mädchen, aber bei ihm floß beides zusammen, so daß es Helen schwerfiel, sich zu entscheiden. Andererseits war es auch nicht wichtig. Ein nettes Mädchen. Es trug ein dunkles Kleid mit einem Blumenmuster. Von der Schnittform her hatte das Kleid Ähnlichkeit mit lern der Puppe, ansonsten gab es zwischen den beiden keine Gemeinsamkeiten. Aber die Gestalt war da, sie lächelte auch. Der kleine Mund paßte zu dem runden Gesicht mit den blonden Haaren. Helen räusperte sich. Sie hatte sich selbst innerlich auf Vordermann gebracht. Das mußte sie auch tun, um eine Frage stellen zu können. »Wer bist du…?« Drei Worte, die versickerten. Helen wartete gespannt auf die Antwort. Noch war sie nicht sicher, ob sie ihr gegeben würde, aber das Mädchen sprach tatsächlich. »Ich bin Cynthia...« Helen McBain schloß für einen Moment die Augen. Cynthia – der Name klang in ihrem Kopf nach. Sie konnte damit nichts anfangen, und sie wußte auch nicht, ob sie einen Menschen oder einen Geist vor sich hatte. Jedenfalls war alles so anders und fremd geworden. »Cynthia?« wiederholte Helen. »Ja.« »Mehr nicht…?« »Doch!« wisperte es. »Doch...« »Was denn noch?« »Ich bin tot...« *** Es war wirklich nicht viel Zeit vergangen, bis wir unser Ziel erreicht hatten. Da ich nicht zu fahren brauchte, hatte ich Muße gehabt, mich umzuschauen, und ich mußte mir eingestehen, daß es sich in dieser Gegend wunderbar leben ließ, falls man die Einsamkeit liebte. Hier war die Natur äußerlich perfekt. Sie umgab den Menschen wie ein Rahmen, in dem er wunderbar den Wechsel der Jahreszeiten erleben konnte, und auch für einen Weekend-Trip eignete sich die Umgebung wunderbar. Die Grillhütte lag ideal. Im Wald, auf einer großen Lichtung, von der Straße her gut zu erreichen, leider auch für Autos, denn die Lichtung bot genügend Parkplätze. Hier würde also die Jagdgesellschaft erscheinen und die Ruhe des Waldes stören, was mir überhaupt nicht gefiel.
Das sah auch der Förster. Ihm gefiel wohl mein Gesichtsausdruck nicht. Er hatte das Fahrzeug gestoppt und noch beide Hände auf dem Lenkrad liegen. »Was haben Sie, Mr. Sinclair?« »Nicht viel. Ich habe nur nachgedacht. Dabei ist mir eingefallen, daß es wohl nicht gut sein kann, wenn hier einige Typen herumtoben und der Geruch von Gegrilltem die Lichtung überzieht.« »Danke.« Er schlug mir auf die Schulter. »Sie haben mir aus der Seele gesprochen.« Wir stiegen aus. Es war das Eintauchen in eine warme Frühsommerwelt. Die Sonne hatte sich hoch an den Himmel gereckt. Das frische Grün der Bäume bildete über unseren Köpfen ein Dach, und auf dem Waldboden sahen wir den Fleckenteppich aus Licht und Schatten. Auch Suko hatte den Wagen verlassen. Leider drückte er die Tür zu. Wir kamen uns vor wie Eindringlinge, die eine natürliche Ruhe gestört hatten. »Hier also haben Sie den Henker gesehen, Garry.« »Ja.« »Wo genau?« Er winkte, und wir gingen hinter ihm her. Es war eigentümlich still. Mir fehlte das Zwitschern der Vögel. Das sah ich nicht als normal an. Erst als der Förster einen bestimmten Platz erreicht hatte, blieb er stehen. Er bewegte einen Arm im Halbkreis. »Hier genau«, sagte er, »hier hat er gestanden.« Zu sehen war nichts. Die Gestalt hatte nichts hinterlassen. Auch in der Nähe entdeckten wir keine Spuren. »Wie ging es dann weiter?« fragte ich. Der Förster nahm sich Zeit für die Antwort. »Ich habe Ihnen ja berichtet, welch ein Schrecken mich überfiel. Ich sah ihn, und er sah mich. Dann wollte er mich töten. Ich habe geschossen, ich habe ihn auch zweimal getroffen, ohne ihn allerdings aufhalten zu können. Schließlich mußte ich fliehen.« »Ja, danke.« Suko und McBain schauten zu, wie ich mit kleinen Schritten mehrere Kreise ging, den Blick gesenkt. Manchmal konnte man noch sehen, wo etwas oder jemand erschienen war. Da zeigte der Boden dann verbrannte Stellen, das war hier nicht der Fall. »Ich habe mal von einem Geisterjäger gelesen, Mr. Sinclair, der kam an den Ort des Geschehens oder an den Tatort und hat da seine Instrumente aufgebaut.« »Wie meinen Sie das?« »Wie soll ich sagen?« McBain hob die Schultern und kam auf mich zu. »So Meßgeräte. Ampere- oder Voltmeter. Oszillographen, was weiß ich nicht alles. Auch einen Computer. Sie haben nichts, gar nichts. Wie wollen Sie dann feststellen, daß hier etwas geschehen ist?«
Ich konnte verstehen, wenn er so redete und gab eine lockere Antwort. »So etwas kann ich nicht aufbauen. Es fehlt ja eine Steckdose, um die Geräte anzuschließen.« Zuerst war McBain erstaunt, dann aber mußte er lachen und sprach davon, daß es ihn freute, daß auch wir einen entsprechenden Humor hatten. Ich wollte mir die Lichtung anschauen, die eigentlich keine war, denn zum Feldweg hin hatte sie sich geöffnet. Unter dem Pilzdach der Grillhütte blieb ich stehen. Sie war ziemlich groß. Hier hatten zahlreiche Personen Platz. In der Mitte stand der große Grill, das heißt die Feuerstelle. Der Grill selbst schwebte darüber, denn wer hier sein Fleisch briet, der legte es auf einen Schwenkgrill. Ich verließ die Grillhütte an der gegenüberliegenden Seite und schaute zum Rand der Lichtung, wo die Laubbäume ziemlich dicht standen und auch Unterholz in den freien Räumen zwischen ihnen wuchs. Dichter Farn, Gestrüpp, all das gehörte zu einem gesunden Wald. Das akzeptierte ich auch, nur die Stille gefiel mir nicht, und auf die sprach mich Suko an. Er brauchte nicht einmal laut zu reden, seine Stimme hallte auch so über die Lichtung. »Keine Vögel singen, John...« »Ich weiß.« »Dann ist es noch hier...« Als ich mich umdrehte, ging ich gleichzeitig von der Grillhütte weg. Der Förster hatte kurz zuvor von einem Geisterjäger erzählt, der seine Instrumente aufgebaut hatte, um übersinnliche Wesen aufzuspüren. Mit den Dingen konnte ich nicht dienen, ich mußte mich mehr auf einen bestimmten Indikator verlassen, auf mein Kreuz. Das zog ich hervor. Es hatte sich leicht erwärmt, und ich wußte, daß es nicht an den Strahlen der Sonne lag. Die Erwärmung des Kreuzes hatte einen anderen Grund. Zudem kam sie von innen. Meine Sinne schalteten auf Alarm. Nicht einmal im negativen Sinne. Ich freute mich darauf, der Lösung des Rätsels möglicherweise einen Schritt näher zu kommen. Als ich die Hand mit dem Kreuz bewegte, fiel ein Sonnenstrahl auf das Metall und ließ es schimmern. Der Blitz verfing sich im Geäst eines Baumes, er war mir vorgekommen wie geleitet. »John, was ist?« Ich winkte ab, als ich Sukos Frage hörte. Diese Geste kannte er, und er wußte, daß ich nicht mehr gestört werden wollte. Ich hörte ihn mit dem Förster flüstern. Wahrscheinlich gab er dem Mann eine Erklärung. Ich aber ging weiter. Dabei bewegte ich mich am Rand der Lichtung entlang. Ich wollte mein Kreuz nicht unbedingt mit einer Wünschelrute vergleichen, so ähnlich aber kam es mir schon vor, denn ich hatte die
rechte Hand ausgestreckt, das Kreuz lag flach auf den Fingern, wobei ich hin und wieder mit dem Daumen über das Metall rieb, um herauszufinden, ob es sich an gewissen Stellen noch mehr erwärmte. Das war nicht der Fall. Es blieb aber leicht temperiert. Hier war etwas. Ich mußte nur herausfinden, wo es sich verborgen hielt. Ich konnte auch jetzt nicht einordnen, ob die Kraft positiv oder negativ war. Hier kam einiges zusammen. Aus Erfahrung wußte ich, daß sich hier eine bestimmte Macht konzentriert hatte. Ich blieb stehen. Den Grund kannte ich selbst nicht. Ich war einfach meinem Gefühl nachgegangen, sah vor mir die Lichtung, entdeckte auch Suko neben dem Förster stehend und hatte plötzlich den Eindruck, als wären die Perspektiven um einiges verschoben oder verzerrt. Sie waren da, aber sie sahen nicht mehr so aus, wie ich sie gern gehabt hätte. Nah und weit. Wie zwischen Scherben stehend, zwischen Prismen oder Linsen. Ich wußte nicht, ob auch sie etwas gemerkt hatten, ich für meinen Teil spürte die Veränderung auch anhand des Kreuzes, denn nun sandte es mir die Signale. Auf einmal waren Stimmen da. Sie schwebten über die Lichtung. Ein geheimnisvolles Flüstern, als wären Laubblätter dabei, gegeneinander zu reiben. Und das Rascheln erwischte meine Ohren wie eine geheimnisvolle Botschaft. Ich legte den Kopf zurück, um gegen den Himmel zu schauen. Durch das Filigran der Zweige schaute ich in die Höhe. Da hatte sich nichts verändert, es erschien kein Geist, kein Engel, aber aus dem Augenwinkel bekam ich links von mir eine Bewegung mit. Mein Kopf zuckte herum! Da sah ich die Gestalten! Für einen Moment blieb mir die Luft weg. Damit hatte ich nicht gerechnet. Eine Frau, ein Mann und ein Junge, beinahe noch ein Kind. Sie schauten mich an und sahen aus, als wären sie einer fernen Vergangenheit entsprungen… *** Genau in diesem Augenblick dachte ich an den Henker! Er war der springende Punkt gewesen. Seinetwegen waren wir hier erschienen. Ich hatte gehofft, ihn hier auf der Lichtung zu treffen. Das aber war nicht geschehen. Statt des Henkers mit der Kapuze standen hier drei andere Gestalten, die feinstofflich sein mußten, es aber
irgendwie nicht waren, denn sie wirkten so, als wären sie angezogen worden, wie für diesen Auftritt geschaffen. Der Mann trug eine enge rlose, die an den Knien endete. Strümpfe verdeckten seine Waden. Auf dem Kopf saß eine flache Mütze etwas zur rechten Seite geneigt. Über die Schulter hatte er sich noch einen Mantel gehängt, dessen Saum etwa in Hüfthöhe endete. Sein Gesicht war scharf geschnitten, auf der Oberlippe wuchs der schmale Bart wie ein dunkler Streifen. Die Frau neben ihm hielt seine Hand fest. Ihr Gesicht wies eine große Ähnlichkeit mit dem des Jungen auf; Die gleichen Lippen, der fast identische Ausdruck der Augen, das alles traf zusammen, und so kamen mir die drei Personen vor wie eine Familie aus dem Geisterreich. Sie wollten etwas. Ich war ihre Kontaktperson. Über mich oder mein Kreuz waren sie angelockt worden, und als ich sie jetzt länger sah, da stieg seltsamerweise in mir nicht mal das Gefühl der Angst hoch. Nein, ich brachte ihnen eine gewisse Neugierde entgegen, denn ich war gespannt darauf, in welchem Kessel ich da gerührt hatte. Ich mußte etwas vermengt und sie geholt haben, eine andere Möglichkeit gab es nicht. Noch sprachen sie nicht. Sie schauten mich an. Ich blickte zurück in ihre blassen Gesichter, die zwar zu ihnen paßten, die mich trotzdem störten, vielleicht deshalb, weil sie wegen ihrer Kleidung so echt wirkten. Das hier waren keine feinstofflichen Nebelgestalten, sie mußten in einem anderen Reich existiert haben, in einer Region zwischen den Welten. Waren sie so existent, daß ich sie auch anfassen konnte? Es kam auf einen Versuch an. Während ich auf sie zuging, erinnerte ich mich daran, daß der Henker durchaus vorgehabt hatte, den Förster umzubringen. Als war er auch in einer gewissen Art und Weise stofflich gewesen. Hier kam vieles zusammen, für das ich noch keine genaue Erklärung fand. Die aber würde ich mir holen. Sie bewegten sich nicht und ließen mich kommen. Hinter ihnen baute sich der Wald auf. Für mich glich er mehr einer Theaterkulisse. Wahrscheinlich deshalb, weil dieses Fremde in die normale Natur seinen Einzug gehalten hatte. Ich lächelte. Eine Reaktion sah ich auf den Gesichtern nicht. Sie wirkten wie gepudert und schauten mich nur an. In den Augen lag ein unbestimmter Ausdruck, den ich nicht deuten konnte. War es Mißtrauen, war es Abwarten? Kam dort noch mehr zusammen? Ich wußte es nicht, das Rätsel blieb, und ich ging einen weiteren Schritt nach vorn. »Stop...«
Das war die Stimme. Das Flüstern, der durch ein geheimnisvolles Wispern ausgesprochene Befehl, und er schaffte es tatsächlich, mich zu stoppen. Sie hatten die Initiative übernommen. Sie wollten in diesem Fall etwas von mir, und ich wartete ab. Wer sprach, fand ich nicht heraus. Jedenfalls überraschten mich die folgenden Worte. Ich hatte sogar den Eindruck, für einen Moment den Boden unter den Füßen zu verlieren. »Du hast das Kreuz. Ich sehe, ich spüre es. Du hast das Kreuz des Hector de Valouis...« *** Auch im Haus des Försters hielt sich jemand auf, der von der letzten Erklärung überrascht worden war. Helen McBain hatte den Namen des Mädchens verstanden, aber sie hatte auch die anschließende Erklärung nicht vergessen. Ich bin tot! Sie war also tot, und doch stand sie vor ihr. Das bedeutete für Helen, daß sie Besuch aus dem Totenreich bekommen hatte. Als sie dies überriß, da war ihr plötzlich klar, was sie hier erlebte, und das ging über ihr >Fassungsvermögen<. Sie schaffte es nicht mehr, normal stehen zu bleiben. Plötzlich schwankte sie, und das gesamte Zimmer kam ihr vor wie eine Schiffskabine auf hoher See, wobei der Kahn selbst in einen mittelprächtigen Sturm geraten war. Helen streckte ihren rechten Arm aus, um sich irgendwo abzustützen, aber sie verfehlte die Wand, griff ins Leere, rutschte noch mit dem Handballen über das nicht tapezierte Mauerwerk hinweg und schaffte es kurz vor einem Fall, sich am Türpfosten abzustemmen. Dort blieb sie stehen. Sie atmete schwer. Der Schweiß lief über ihr Gesicht. Auf der Treppe stand noch immer das blonde Mädchen, dessen letzte Worte sich permanent in ihrem Kopf wiederholten. Ich bin tot! Helen McBain konnte es nicht fassen. So etwas war einfach zu viel für sie. Man hatte ihr keine Zeit gegeben, sich auf gewisse Dinge vorzubereiten, und das kleine Mädchen setzte auch zu keiner Erklärung mehr an. Es ging kurzerhand die Stufen hinab, ohne daß dabei ein Geräusch entstand. Es war für Helen nicht zu erkennen, ob sie die Stufen überhaupt berührte oder einfach nur darüber hinwegschwebte. Ohne sich um die Frau zu kümmern, ließ sie die Treppe hinter sich. Vor der ersten Stufe blieb sie stehen. Sehr langsam bewegte sie den Kopf. Zuerst schaute sie nach links, dann nach rechts. Dabei bewegte sich auch die Haut in ihrem Gesicht, und auf der Stirn erschien eine Falte, als
wäre sie dabei, über gewisse Dinge nachzudenken und sie erst mal in die Reihe zu bekommen. Mit einer etwas theatralisch anmutenden Geste hob die kleine Gestalt ihre Arme an, ließ sie wieder sinken und sah dabei aus wie jemand, der keinen Erfolg gehabt hatte. Sie sucht etwas. Die Puppe! Sie will die Puppe! Zum erstenmal gelang es Helen, wieder einen klaren Gedanken zu fassen. Es ging um die Puppe. Mit diesen Worten war Helen begrüßt worden, ohne die Person überhaupt gesehen zu haben. Die Puppe, deren Kopf man vom Körper abgeschlagen hatte. Beide Teile lagen draußen im Garten auf dem Tisch. Helen konnte sich vorstellen, daß genau diese Puppe das Spielzeug des kleinen Mädchens gewesen war. Mein Gott, dachte sie. Ich muß reden. Ich muß mich ausdrücken können! Ich muß sprechen. Ich kann hier nicht stehenbleiben und einfach nur starren. Ich muß mich reinhängen. Sie wunderte sich über die eigene Kraft. Denn ihre Gedanken sagten ihr gleichzeitig, daß sie diese Person bereits akzeptiert hatte. Eine Tote in meinem Haus… Nein, nur nicht darüber nachdenken. Sich einfach nur mit der Gegenwart befassen, und die folgenden Worte stieß sie keuchend aus. »Du bist gekommen, weil du die Puppe willst.« »Ja...« »Sie gehört dir?« »Ich habe sie geliebt.« »Auch ohne Kopf?« Die Worte waren der Frau einfach herausgerutscht, sie hatte ihren Gefühlen nachgegeben und schämte sich dafür. Sie wünschte, die andere Person nicht erschreckt zu haben, auch daß sie ihr nicht böse war, aber Cynthia sagte nichts. Sie fing plötzlich an zu weinen. Ein Geist, der weinte. Das war auch für Helen neu. Sie wußte sowieso nicht, was sie tun sollte, was sie richtig, was sie falsch machte. Diese Situation zu überreißen, war so gut wie unmöglich. »Komm, Cynthia. Ich werde dir deine Puppe geben. Du...du...mußt mit mir kommen.« »Ja, gern.« Auch diesmal hatte Helen die Antwort überrascht. Diese Person brachte ihr ein Vertrauen entgegen, das sonst nur bei Verwandten üblich war. Aber Helen wehrte sich ebensowenig dagegen, wie es auch Cynthia tat, und zwischen beiden war ein Band des Vertrauens entstanden, das sich noch mehr verdichtete, als Cynthia direkt auf Helen McBain zukam und ihren linken Arm ausstreckte. Diese Geste war bekannt. So reagierten Kinder auch heute noch, wenn sie etwas Bestimmtes wollten.
Helen lächelte. Noch zögerte sie, die kleine Gestalt anzufassen. »Soll ich mit dir gehen?« »Ja...« Es lag keine Falschheit in dieser Antwort, und Helen wagte den für sie großen, nächsten Schritt. Auch sie streckte Cynthia ihren Arm entgegen und faßte nach der Hand. Bei der ersten Berührung hielt sie den Atem an. Als ihre Großmutter damals gestorben war, hatte sie zum erstenmal eine Tote angefaßt. Da hatten ihre Fingerkuppen die Wangen gestreichelt. Noch heute erinnerte sie sich daran. Es war ein ungewöhnliches und so fremdartiges Gefühl für sie gewesen, und sie hatte lange nach einem Vergleich gesucht, bis ihr der Begriff weiches Eis eingefallen war. So ähnlich war es damals gewesen, und so würde es sicherlich auch in diesem Fall sein. Die Haut der Lebenden berührte die Haut der Toten! Helen McBain hielt den Atem an. Sie fror wirklich für einen Moment ein, sie wartete auf irgend etwas, auf einen Blitzschlag oder was auch immer sie treffen würde. Das passierte nicht. Sie wurde auch nicht hineingezogen in das Reich des Todes, in eine Welt der Finsternis und der Kälte, sie blieb in ihrer eigenen zurück, in der sich nichts verändert hatte. Die Möbel waren da, die Wände, das Dach, und niemand hatte sie hinein in das Reich der Toten gezogen. Sogar an Cynthias Stimme hatte sie sich gewöhnt, als sie fragte: »Gehen wir?« »Ja, ja!« stieß die Frau hervor. »Wir gehen...« Nach diesen Worten schenkte ihr Cynthia ein Lächeln. Es war voller Vertrauen, und plötzlich fühlte sich Helen besser. Trotzdem kam sie nicht mit der Situation zurecht. Das bin ich nicht, die das hier erlebt, dachte sie. Das...das...kann ich nicht sein. Das ist eine andere. Ich...ich...gehe selbst neben mir her. Ich bin eine Fremde und nicht mehr ich. Die Tatsachen sprachen dagegen. Sie spürte auch den Druck der anderen Hand an der ihren, und sie merkte dabei nichts von einem warmen, durchbluteten Fleisch. Die Hand war da, und das war alles. Sie war auch keine Klaue, sie bestand aus einem kühlen Stück Fleisch, ohne Gefühl und Leben. Vielleicht war sie wie ein Haken, an dem man sich festhalten konnte. Natürlich war Helen den Weg in den Garten, zur Terrasse unter den Bäumen, schon oft gegangen. Es war ihr zur Gewohnheit geworden, aber heute hatte sich alles verändert. Da kam ihr die Umgebung vor wie eine fremde Landschaft, und als sie das Haus verlassen hatte und
warme Sonnenstrahlen gegen sie schienen, hatte die Frau den Eindruck, geradewegs in die Kälte zu gehen. Alles war wie immer. Trotzdem war nichts mehr wie sonst. Neben ihr und noch von ihr festgehalten, ging eine Tote. Ein vielleicht zehnjähriges Mädchen, das, obwohl es nicht mehr unter den Lebenden weilte, sie besucht hatte. Auf dem Weg zur Terrasse kenzentrierte sich Helen auf fremde Geräusche. Es gab keine. Cynthia schwebte neben ihr, auch wenn sie die Beine bewegte, aber die Füße fanden kaum einen Kontakt. Der Untergrund war wie eine Eisfläche, über die sie hinwegglitt. Blumenbeete wischten ebenso vorbei wie Sträucher. Licht und Schatten verschmolzen zu einem Gemälde, die Bäume bewegten sich ebenfalls, aber es waren nur die Blätter, die zitterten, wenn der laue Sommerwind an ihnen vorbeistrich. Die Stühle waren nicht an den Tisch herangerückt worden. Sie standen noch so, wie sie verlassen worden waren. Und auf dem Tisch lag die zerstörte Puppe. Der Kopf war vom Körper abgetrennt worden. Helen blieb stehen. Sie war so dicht an das Balkenholz der Tischkante herangetreten, daß sie die Ränder mit den Oberschenkeln berührte. Wenn sie den Blick senkte, schaute sie direkt auf den Körper der Puppe. Aber sie drehte auch den Kopf ein wenig nach rechts, um Cynthias Reaktion mitzukriegen. Die reagierte nicht. Sie schaute nur auf die Puppe. Die Sekunden dehnten sich. In diesem Fall wurden sie für Helen zu kleinen Ewigkeiten. Auch im Gesicht des Mädchens regte sich nichts. Dann aber zog sie ihre kleine Hand weg. Nur ein leichtes Zucken, mehr nicht. Die Hand rutschte heraus, sie streckte sich für einen Moment, dann hob Cynthia den linken Arm an. »Meine Puppe...«, flüsterte sie. »Es ist meine Puppe. Ich habe sie gefunden.« In diesen Worten lag eine unwahrscheinlich starke Sehnsucht, gleichzeitig verbunden mit einer Erlösung. Plötzlich wirkte das geisterhafte Mädchen nicht mehr verkrampft. Es stöhnte positiv auf. Die neben ihm stehende Helen spürte eine seltsame Kraft oder Magie auf sich zuströmen. Wahrscheinlich nur dadurch zu erklären, daß sich Cynthia ihren Gefühlen hingab und die linke Hand über die Tischkante geschoben hatte, wobei sie sich kriechend dem Körper der Puppe näherte. Alles lief sehr langsam ab. Als wäre das Kind noch nicht richtig in der Lage, es zu schaffen. Es drehte noch einmal den Kopf nach links. In den Höhlen bewegten sich die Augen. Wächsern und glasig sahen sie aus. Ohne normales Leben und trotzdem mit einem anderen erfüllt. Helen
kam damit nicht zurecht, aber Antworten auf Fragen wurden ihr nicht gegeben. Die Finger des Geisterkindes umfaßten die Puppe. Sie hoben sie an. Ohne Kopf! Cynthia starrte auf den Körper. In diesem Moment wirkte sie wie ein normales Kind, das nach einem Spielzeug gegriffen hatte, es aber nicht überwinden konnte, daß dieses so wichtige Spielzeug einfach zerstört worden war. In dem kreidigen Gesicht zuckte es. Helen schaute zu, es war ihr alles bekannt. Nicht nur Kinder reagierten so, wenn sie dicht vor dem Weinen standen. Erwachsene taten es auch, und Cynthia hatte Mühe, die nächsten Worte über die kalten Totenlippen zu kriegen. »Sie ist nicht mehr so...sie ist nicht mehr so...sie ist nicht mehr so...sie ist ganz anders. Man hat ihr den Kopf abgehackt. Man hat se totgemacht! Tot...tot...tot!« Sie hob die Hand an und schlug in den folgenden Sekunden die hölzerne Puppe einige Male auf den Tisch. Helen hörte ein Lachen. Es klang wie ein schauriger Gruß, und es war in ihrem Rücken entstanden. Gelacht hatte ein Mann. Aber nicht ihr Mann, das wußte sie sofort. Blitzartig fuhr sie herum. Cynthia schaute nach wie vor auf ihre Puppe. Nicht so Helen McBain. Denn sie sah die massige Gestalt des Henkers dicht vor sich… *** Hector de Valois! Ein Name war gefallen. Ein wichtiger Name. Ein Mensch, der Geschichte geschrieben hatte. Ein Templer, den ich nicht kannte, aber trotzdem kannte, denn ich hatte in der Vergangenheit einmal als Hector de Valois gelebt und dort auch das Kreuz in meinem Besitz gehabt. Da ich es jetzt auch wieder besaß, hatte sich durch diese letzte Wiedergeburt der Kreislauf so ziemlich geschlossen. Es mußte mir gelingen, mich von den Erinnerungen der Vergangenheit zu befreien. Wichtig war die Gegenwart, denn ich wollte natürlich wissen, was diese drei Personen mit Hector de Valois zu tun hatten. Ich kannte sie nicht, ich wußte nicht mal die Namen. Sie waren wie Spukgestalten aus der fernen Vergangenheit erschienen, standen nun vor mir und schauten mich an. Angesprochen hatten sie mich. Jetzt war ich an der Reihe, um ihnen zu antworten.
»Ich bin nicht der, für den ihr mich vielleicht haltet. Ich bin nicht Hector...« »Aber du besitzt sein Kreuz!« Wieder hatte ich nicht herausfinden können, wer da gesprochen hatte. Ich wollte es auch nicht abstreiten, nickte und hörte, daß sie mich wieder ansprachen. »Wer das Kreuz des Templers besitzt, wer es bekommen hat, der kann nicht schlecht sein.« Es war gut, daß sie diese Meinung von mir hatten, und ich sagte ihnen, wer ich war. »Mein Name ist John Sinclair. Ich lebe in einer anderen Zeit als mein Ahnherr.« »Ja, das wissen wir. Die Feinde haben es nicht geschafft, obwohl man uns jagte.« »Wer wurde von wem gejagt?« »Die katholische Kirche jagte die Templer in Europa. Sie wollte den Orden vernichten, und sie hat es immer wieder versucht. Aber sie hat nicht alle töten können, auch wenn uns die Flucht leider nicht gelang.« »Dann seid ihr Templer?« »Ja, wir gehörten zu ihnen.« »Wie sind eure Namen?« Ich erfuhr, daß sie Ashford hießen. Derek, Madelaine und William Ashford, eine Familie, bei der noch die Tochter fehlte, die aber auch in den Tod gegangen war. »Man hat uns geköpft. Der Henker erschien und brachte uns der Reihe nach um. Genau an dieser Stelle ist es damals passiert. Das hier ist der Totenplatz...« Ich nickte, bevor ich sprach. »Ja, so etwas Ähnliches habe ich mir schon gedacht. Nur seid ihr nicht tot, auch der Henker ist es nicht. Warum? Was ist geschehen? Warum konntet ihr keine Ruhe finden? Was hat man euch angetan?« »Wir wissen es noch nicht.« »Aber ihr seid erschienen.« »Die Kraft holte uns her.« »Welche?« »Die Macht des Bösen, die sich hier festgesetzt hat. Dieser Ort ist ein Platz des Todes, der ist verflucht. Hier lebt das Grauen, und es muß irgendwann einmal gestoppt werden, sonst wird es bis in alle Ewigkeiten weiter seine Opfer fordern. Der Tod ist allgegenwärtig, auch wenn man ihn nicht sieht. Vieles wird sich wiederholen, vieles ist auch unklar. Wir kommen nicht zur Ruhe, denn auch der Henker ist nicht zur Ruhe gekommen. Etwas Furchtbares hat von diesem Ort Besitz ergriffen. Es ist so schrecklich, daß selbst wir im Tod keine Ruhe finden. Und das Böse steigert sich immer weiter. Der Totenplatz verlangt nach Blut und weiteren Opfern. Menschen werden sterben, viele Menschen. Und es wird immer weitergehen, solange der Geist noch vorhanden ist. Erde mit
dem Blut der Menschen durchnäßt und getränkt. So etwas ist schrecklich, denn selbst die Toten finden dabei keine Ruhe mehr. Das Böse aus dem Diesseits hat sich mit dem aus dem Jenseits verbündet. Wir spüren, daß es zu einem Treffpunkt besonderer Art geworden ist. Hier werden sich Menschen versammeln, die keine sind. Sie haben gesucht, und es befindet sich einer unter ihnen, der ihnen diesen Ort des Grauens freihält.« Ich schüttelte den Kopf. »Entschuldigung, aber ihr sprecht in Rätseln. Für wen wird der Ort freigehalten? Was soll hier alles denn noch passieren? Sagt es mir!« »Wir wissen es nicht genau, aber wir haben es schon damals gespürt. Ihr müßt den Henker fangen. Er ist wichtig, er gehört zu den anderen, denn er weiß mehr.« Ich wollte so schnell nicht aufgeben. »Denkt noch mal nach, bitte. Es muß euch etwas einfallen.« »Nein, das geht nicht. Wir kommen damit nicht zurecht. Wir sind zu schwach. Du kannst es schaffen. Es ist etwas Urböses, der Henker weiß es, denn er ist der Mann, der sein Gesicht nie zeigt. Es muß an ihm liegen. Er ist durch das Land gezogen und hat den Menschen die Köpfe abgeschlagen. Wo er erschien, hinterließ er Blut und Tränen. Der Tod ist sein Begleiter, und er ist nicht allein auf dieser Welt. Er ist nahe, sogar hier und jetzt, wir spüren es. Nur wenn er nicht mehr ist, können viele wieder ihren Frieden finden...« Die Worte hatten mich fasziniert und erregt zugleich. Ich hatte vieles verstanden, aber nur wenig begriffen, und die Ashfords taten mir leider nicht den Gefallen, mir weitere Erklärungen zu geben. Ihre Stimmen waren dünner geworden und zugleich mit ihrem Wegsacken lösten sich auch ihre Gestalten allmählich auf. Sie waren mir nicht feinstofflich erschienen, sie hatten die normale Kleidung ihrer Zeit getragen, nun aber zogen sie sich zurück. Es war so, als würden sie von einem Zeitkanal verschluckt, der sie an sich zog, und als ich meine Hand mit dem Kreuz ausstreckte, war dies eine vergebene Liebesmüh. Ich konnte sie nicht halten. Sie tauchten ein in die Lücken zwischen den Bäumen, und es war die fleckige Dämmerung des Waldes, die sie aufsaugte. Es gab sie nicht mehr. Es gab nur mich. Ich stand da, starrte auf die Stelle, wo ich sie zuletzt gesehen hatte. Mit einer etwas müden Bewegung strich ich über die Stirn. Mein Kopf war gefüllt mit zahlreichen Gedanken, da überschlugen sich die brandneuen Informationen, aber ich war noch nicht in der Lage, sie zu ordnen. Der springende Punkt mußte tief in der Vergangenheit begraben liegen. Genau dort würde ich die Lösung finden, aber wer konnte mir mehr darüber sagen? Abgesehen von dieser Familie Ashford! Auf der Stelle drehte ich mich um.
Suko und der Förster standen noch immer da. Sie schauten zu mir hin, sie sahen auch, wie ich die Schultern hob, und ich empfand sie wieder als normal. Ihre Gestalten waren nicht mehr verzerrt, sie wirkten auch nicht wie Gefangene, aber sie ließen mich in Ruhe und kamen nicht zu mir. Ich warf noch einen letzten Blick auf den Wald. Da war wieder alles normal geworden. Nur ein dunkler Vogel, eine Dohle, flatterte aus ihrem Versteck in die Höhe und wischte dicht über meinen Kopf hinweg, dabei Schreie ausstoßend, als wollte sie mich auslachen. Sie verschwand in irgendeinem anderen Baum. Suko und McBain erwarteten mich. Ich sah ihren Gesichtern an, daß sie auf eine Erklärung warteten, aber sie würden sie so einfach nicht bekommen können. Mit der Schulter lehnte ich mich gegen einen Pfosten der Grillhütte und fragte: »Ihr habt sie gesehen?« »Wen sollten wir gesehen haben?« »Die drei Gestalten.« Suko schüttelte den Kopf. »Nein, John, so ist das nicht. Wir haben etwas gesehen, aber wir haben nicht erkennen können, was es gewesen ist. Da mußt du uns schon aufklären.« Als wollte McBain Sukos Worte unterstützen, so nickte er. »Es war eine Familie Ashford«, sagte ich. »Oder die Totengeister der Familie, die verlorenen Seelen, die vor einigen Jahrhunderten in diesen Zustand hineingetrieben worden sind, denn genau an dieser Steile wurden die Eltern und ihre beiden Kinder geköpft.« Ich deutete schräg zu Boden. »Das hier ist der Totenplatz.« »Ashford, sagtest du?« »Ja.« »Damit kann ich nichts anfangen, John. Tut mir leid. Ich bin da echt überfragt.« »Was ist mit Ihnen, Mr. McBain?« Der Förster hob die Schultern. »Tut mir leid, auch ich komme damit nicht zurecht.« »Aber den Henker haben Sie gesehen.« »Natürlich.« »Er hat hier gewütet.« Garry McBain bekam große Augen. Er wirkte auf einmal nervös. »Soll das heißen, daß es ihn in dieser Zeit gar nicht gibt, Mr. Sinclair? Daß er ein Relikt, eine Gestalt aus einer fernen Vergangenheit ist? Haben Sie das damit gemeint?« »Ja, das und nichts anderes.« »O Gott, das ist doch nicht zu begreifen...« Ich hob die Schultern. »Zumindest ist es schwer. Aber es gibt eine Lösung. Sie liegt in der Vergangenheit. Die drei Ashfords sprachen von
etwas ungemein Bösen, das sich hier manifestiert haben soll. Dieser Platz war zugleich ein Treffpunkt...« »Für wen?« unterbrach mich Suko. »Das ist die Frage. Ich weiß es nicht. Die Totengeister haben sich nicht richtig ausdrücken können. Sie finden jedenfalls keine Ruhe, solange sich das Grauen hier noch hält. Ich weiß ebenfalls zuwenig, aber mir ist klargeworden, daß die alten Zeiten wohl wieder auferstehen sollen, in welcher Form auch immer. Für uns ist es wichtig, daß wir es nicht so weit kommen lassen dürfen.« »Gehst du davon aus, daß dieser Henker wieder zuschlagen wird, um alles so einzurichten, wie es vor langer Zeit einmal gewesen ist?« »Das dachte ich mir.« Suko hakte noch mal nach. »Der Treffpunkt?« »Ja.« »Für das Grauen, für die unheimlichen Gestalten. Für die Mächte des Bösen, was auch immer.« »Genau.« »Aber nicht für ein Grillfest!« Da hatte Suko den schwachen Punkt erwischt. Es ging um dieses verdammte Grillfest. Die Zeit drängte, die Menschen hielten sich bereit, und ich wußte nicht, ob diese Versammlung noch abgesagt werden konnte. Sicherlich waren einige der Gäste nicht mehr zu erreichen, weil sie sich schon so gut wie auf dem Weg befanden. Auch der Party-Service hatte sich darauf eingestellt, und mir wurde mehr als komisch zumute, als ich daran dachte. Suko hatte den gleichen Gedanken verfolgt. »John, das kann zu einer Katastrophe kommen. Ich will es nicht beschwören, ich möchte es auch nicht von der Hand weisen.« »Richtig.« »Abblasen?« Ich schaute auf die Uhr. »Das werden wir kaum noch schaffen. Es ist früher Nachmittag. Ich denke, wir sitzen fest.« »Wir sollten trotzdem mit Sir James sprechen. Vielleicht kann er noch etwas verhindern.« »Zumindest muß er gewarnt sein.« Ich wandte mich an den Förster. »Sie haben doch Telefon im Wagen, wenn ich mich nicht irre.« »Das stimmt. Ich brauche es für meinen Job. Ich muß einfach erreichbar sein, wenn ich auf Tour bin.« »Darf ich es mal benutzen?« »Sicher.« Bis zum Fahrzeug waren es nur wenige Schritte. Was mir in dieser Zeit alles durch den Kopf ging, damit kam ich nicht zurecht. Ich malte mir die furchtbarsten Dinge aus. Sah den Henker inmitten der Grillgesellschaft sein Beil schwingen und die Köpfe abhacken. Ich sah diesen Totenplatz
von einer gewaltigen Blutwelle überschwemmt und schüttelte den Kopf, um diese Bilder zu vertreiben. In der Scheibe des Wagens malte sich mein Gesicht ab. Trotz der dunklen Tönung war die Blässe meiner Haut zu sehen. Ich stieg in den Geländewagen und blieb auf dem Beifahrersitz hocken. Hoffentlich erreichte ich Sir James noch in seinem Büro. Um diese Zeit war er eigentlich immer da. Da würde das Grillfest hoffentlich auch keine Ausnahme machen. Den Hörer hielt ich schon in der Hand, als etwas von oben herab in die Nähe der Windschutzscheibe flatterte, für einen Moment auf der Kühlerhaube hockenblieb und mich durch die Scheibe hinweg anstarrte. Es war ein Vogel – die Dohle! Ich gab den Blick zurück und stellte fest, daß dieser Vogel sehr kalte Augen hatte. Todesaugen. Dieser Blick war wie eine Botschaft. Nur kam ich nicht lange in den >Genuß<, denn als ich mich bewegte, irritierte ich auch damit den Vogel. Mit flattrigen Flügelbewegungen stieg die Dohle wieder auf und entschwand meinen Blicken. Mir fiel ein, daß es der einzige Vogel gewesen war, den wir hier gesehen hatten. Die anderen waren verschwunden oder hielten sich versteckt. Hatte dies etwas zu bedeuten? War der Vogel eine Spur in die Vergangenheit? Ich wußte die Antwort nicht und wollte mich von den eigentlichen Problemen auch nicht durch derart trübe Gedanken ablenken lassen. Statt dessen wählte ich Sir James’ Nummer. Er war noch im Büro, und er freute sich sogar, meine Stimme zu hören. »Nun, Sie wissen jetzt Bescheid, John?« »Worüber?« »Ob das Grillfest wie geplant starten kann.« Ich runzelte die Stirn, und meine Antwort klang ein wenig gequält. »Sir, es wäre wohl besser, wenn man auf dieses Fest einfach verzichtet.« Er ließ mich nicht ausreden. »Wieso?« »Wenn ich ehrlich sein soll, dann kann ich für die Sicherheit der Gäste nicht garantieren.« »Ach.« Schweigen. Dann das Räuspern. So verhielt sich ein Mensch, der wirklich überrascht worden war. »Ich denke, daß Sie mir einiges zu erzählen haben, John.« »In der Tat. Zuvor eines, Sir. Es war gut, daß wir an diesen Platz gefahren sind, denn Sie haben sich für das Fest ausgerechnet einen verfluchten Ort ausgesucht, einen Totenplatz.« »Können Sie das genauer erklären?« »Noch nicht, Sir. Ich will mal sagen, daß sich hier ein Stück verfluchter Geschichte konzentriert. Auf diesem Boden sind Menschen gestorben. Ein Henker hat sie geköpft, und diesen Henker gibt es immer noch, wie sie von Garry McBain wissen. Aber es gibt noch mehr. Mir sind die
Geister einer Familie begegnet, die ebenfalls von diesem Henker geköpft worden sind. Ich möchte nicht behaupten, daß mich diese geisterhaften Gestalten kannten, aber ihnen war der Name Hector de Valois ein Begriff. Sie waren also mit der Templer-Materie vertraut, und sie sind hingerichtet worden, die Eltern und zwei Kinder, weil sie entweder zu den Templern gehörten oder diesen nahestanden. Sie starben an einem verfluchten Ort, der auch damals schon verflucht gewesen ist und jetzt in die Lage versetzt werden soll, diesen Fluch wieder aufleben zu lassen. Es klingt ein wenig kompliziert, ich weiß, aber Details kann ich Ihnen nicht mitteilen, Sir, weil man mich auch nicht informiert hat. Ich kenne nur den Namen der getöteten Familie. Es sind die Ashfords gewesen.« Der Superintendent schwieg zunächst. Dann wiederholte er den Namen und meinte: »Ich weiß auch nicht, wo ich ihn hinstecken soll. Aber ich werde Nachforschungen anstellen, John, und hoffe, daß ich Ihnen bei meinem Eintreffen schon Näheres sagen kann.« »Dann wird das Fest stattfinden, denke ich.« »Selbstverständlich. Ich kann es auf keinen Fall abblasen. Das geht nicht mehr.« »Es wäre aber besser.« Ich sah ihn förmlich vor mir, wie er hinter den Brillengläsern die Augen verdrehte, und er hätte es auch gern getan, aber er machte mir klar, daß es nicht möglich war. »Ich könnte nicht mal alle erreichen. Zu diesem kleinen Grillfest sind die Gäste mit ihren Damen geladen. Es findet jedes Jahr statt. Nie ist etwas passiert. Es wird auch in diesem Gebiet gejagt. Können Sie mir erklären, wie ich den Leuten die Absage beibringen soll?« »Da muß ich passen, Sir.« »Eben, ich auch.« »Also werden wir uns noch sehen?« »Das denke ich doch.« »Es wird schwer werden, Sir...« »Ich weiß es, John. Ich kann auch nachempfinden, wie Sie sich fühlen, aber es geht einfach nicht.« »Wissen Sie, was ich befürchte, Sir?« »Nicht direkt. Sie werden es mir aber sagen.« »Genau. Ich befürchte, daß aus dem Grillfest leicht ein Blutfest werden kann.« Der Superintendent schwieg. Irgendwann räusperte er sich. »Es tut mir leid, John, aber sorgen Sie und Suko bitte dafür, daß es nicht soweit kommt.« »Versuchen werden wir es.« »Danke.« Das Gespräch war beendet. Ich blieb trotzdem noch im Wagen sitzen, die Augen halb geschlossen. Sonnenlicht fiel durch die Scheiben. Die
Beifahrertür stand offen. Der frische Geruch des herrlichen Sommerwalds drang in meine Nase. Ich aber riatte den Eindruck, als würde er sich mit dem Blutgench getöteter Kreaturen vermischen. Ich wischte über meine Augen, als könnte ich schon Bilder vertreiben, die es noch nicht gab. »He, träumst du?« Ich schaute nach links und sah Suko vor mir stehen. »Nein, ich träume nicht. Und wenn, dann wären es schlimme Träume.« »Es bleibt also dabei, denke ich.« »Ja, es ist nichts mehr zu änd?rn, Alter. Das Grillfest wird stattfinden.« Sukos Mund verhärtete sich. »Keine Chance?« »Nein.« »Das ist natürlich schlecht.« »Du sagst es. Alles läuft so ab, wie es besprochen worden ist. Sir James hat es mir gesagt. Er kann es nicht mehr abblasen. Er weiß auch nicht, wie er all die Gäste erreichen soll. Jubeln können wir nicht. Es wird ein verflucht harter Nachmittag und ebenfalls ein verdammt harter Abend werden. Hoffentlich kein blutiger.« Auch der Gär:ner war gekommen. Sein Blick wurde traurig, als er mein Nicken sah. »Und ich dachte, Ihr Chef hätte dieses Fest noch abblasen können Verdammt noch mal.« »Nein, keine Chance.« »Wir müssen trotzdem zu mir zurück.« »Warum?« »Weil ich den Party-Service erwarte. Ich habe mich mit den Leuten bei mir verabredet. Es gibt zwischen uns noch einiges zu besprechen, das war so abgemacht.« »Gut, dann laßt uns starten.« Wieder fuhr der Förster. Er lenkte den Wagen in eine Kurve. Ich gönnte dem Platz noch einen letzten Blick. Er sah so harmlos aus. Er war wunderbar, ideal gelegen für eine Ruhepause und auch, um ein Fest zu arrangieren. Aber er war auch ein Ort des Bösen, über dessen Mitte die dunkle Dohle flog und sich auf dem Dach der Grillhütte niederließ. Sie bewegte ihren Schnabel. Ich hatte das Gefühl, von ihrem Lachen verfolgt zu werden… *** Erst das tote Kind, nun der Henker! Helen McBain konnte es nicht fassen. Sie waren von einem Schock in den nächsten gefallen, aber der erste hielt mit diesem zweiten keinen Vergleich stand. Diesmal stand ein Monster vor ihr!
Eine massige, unheimliche Gestalt, von deren Kopf oder Gesicht nichts zu sehen war. Beides wurde durch eine dunkle Kapuze verdeckt. Zwei Schlitze für die Augen waren vorhanden, und darin sah die Frau des Försters ein gefährliches Funkeln. Hinzu kam der gewaltige Körper. Er war stark, sehr muskulös, mit breiten Schultern und mächtigen Oberschenkeln, alles eng umhüllt von der schwarzen Kleidung. Noch stärker allerdings erschreckte die Frau die Waffe. Das Henkersbeil mit dem langen Griff und der sehr breiten, scharf geschliffenen Klinge. Allein dieses Beil in die Höhe zu schwingen, bedeutete schon einen immensen Kraftaufwand, aber diese Gestalt sah so aus, als würde sie es mühelos schaffen. Zuschlagen und töten! Ob Puppen oder Menschen, bei einem derartigen Wesen spielte es keine Rolle, und die zitternde Frau dachte plötzlich daran, daß ihr Leben auf einer ähnlich dünnen Schneide stand, wie die Klinge des Beils es war. Sie war nicht in der Lage,auch nur ein Wort zu sagen. Ihr Mund stand zwar offen, doch es drang kein Wort daraus hervor. Sie war zu Eis geworden, im Gegensatz zu Cynthia, die den Körper ihrer Puppe aufgenommen hatte, ihn anschaute, noch immer weinte und zusätzlich den Kopf schüttelte, als könnte sie es nicht fassen. Die Luft hatte sich abgekühlt, obwohl die Sonne weiterhin schien. Es war diese von dem Henker aus seiner Welt mitgebrachte Eiseskälte, die auch Helen überschwemmte und dafür sorgte, daß sie nicht mehr reagierte und die Gestalt nun anstarrte. Cynthia tat so, als wäre sie allein. Sie wischte sogar ihre nassen Augen ab, dann warf sie den Puppenkörper auf den Tisch, und dieses Geräusch des Aufpralls riß auch die Frau aus ihrer Erstarrung. Plötzlich fiel ihr das Kind wieder ein. Sie drehte sich zur Seite, um Cynthia zu fassen. »Du mußt weg! Der Mann hier...« Die Kleine ging zurück. Helen hatte ins Leere gefaßt. Sie konzentrierte sich auf das Gesicht des Mädchens, das seltsamerweise keine Angst zeigte. Es war nach wie vor ohne Ausdruck geblieben. Cynthia kümmerte sich nur um die Puppe, und sie wollte auch nicht mehr angefaßt werden, denn nach dem zweiten Zufassen entwischte sie ebenfalls. Sie lief über die Terrasse auf den Stamm der Linde zu, blieb dort stehen und drehte sich wieder um, die Hände auf dem Rücken verborgen. Dort stand sie wie ein unartiges kleines Mädchen, das von seiner Mutter Schimpfe erwartete. Helen McBain wußte nicht, was sie richtig und was sie falsch machte. Sie kam mit der neuen Situation einfach nicht zurecht und wollte zudem den Henker nicht aus den Augen lassen. Deshalb drehte sie sich um. Er
hatte sich bis zu diesem Augenblick noch nicht von der Stelle bewegt, das tat er auch jetzt nicht, aber er hob mit einer locker anmutenden Bewegung das Richtbeil an. Die Waffe berührte nicht mehr den Boden. Sie diente ihm nicht als Stütze, sie war zu dem geworden, wozu sie eigentlich geschaffen war, zu einem Instrument des Todes. Und er hatte ein Opfer im Visier – Cynthia! Das blonde Mädchen stand noch immer am Baumstamm. Es hielt den Kopf gesenkt, es trauerte um seine Puppe, bald aber würde es noch mehr trauern, denn der Henker schwang bereits sein Beil vor, als wollte er die Gelenke des rechten Arms geschmeidig machen. Wie ein schweres Pendel glitt die Waffe in die Höhe, dann wieder zurück, so nahe an Helen McBain vorbei, daß sie sogar den Luftzug spürte. Ihre Haare sträubten sich, auf dem Rücken entstand eine Gänsehaut, und sie rieselte ebenfalls über ihren Nacken. Ein Mord! Ein Mord in ihrem Garten! Ein Mädchen, das schon tot war, sollte noch einmal ermordet werden. Sie konnte es nicht fassen und schüttelte den Kopf. Und plötzlich schrie sie. Da war der Damm gebrochen, der ihre Gefühle bisher zurückgehalten hatte. Ja, sie mußte einfach schreien und ihre Not loswerden. Egal, was auch passierte. Der Henker reagierte. Für einen Moment blieb er stehen. Dann drehte er sich nach links. Helen sah die knochige Faust. Sie flog auf sie zu, als wäre sie vom Arm abgelöst worden. Den Kopf konnte sie nicht mehr zur Seite drehen. Die Faust erwischte ihr Gesicht, zum Glück nicht voll, es war mehr ein Streifen, aber der Druck reichte aus, um sie zurückzuschaudern, und so segelte sie auf den Tisch, während sie zugleich spürte, wie das warme Blut aus ihren Nasenlöchern strömte. Der Henker aber bewegte siel weiter! Sein Ziel war der Baum. Und vor allen Dingen das Mädchen, das vor dem Stamm stand. Cynthia nahm die Gestalt überhaupt nicht zur Kenntnis. Sie hielt die Augen gesenkt, sie trauerte noch immer um ihre Puppe. Daß sie selbst in einer mörderischen Gefahr schwebte, bekam sie nicht mit. Aber Helen sah es. Trotz der Schmerzen in ihrer Nase hatte sie es geschafft, sich wieder aufzurichten. Sie lag nicht mehr, diesmal saß sie auf dem Tisch, den Kopf nach links gedreht, und sie sah, daß der Henker nicht mal den Kopf senkte, als die Zweige über seinen Schädel hinwegkratzten. »Nicht...«
Es hatte ein Schrei werden sollen, eine Aufforderung, das Grauen zu stoppen, tatsächlich aber war nur ein jammernder Laut aus dem Mund der Zeugin gedrungen. Der Henker ließ sich nicht beirren, nicht aufhalten, er würde seine Tat umsetzen. Da schaute die Kleine hoch. Sie sah den Töter. Er stand vor ihr. Er schaute auf sie nieder. Und er hob sein Beil. Lässig sah es aus, getragen von einer kraftvollen Leichtigkeit. Helen McBain glaubte, daß jemand sie in einen Alptraum gedrückt hatte. Die Realität konnte doch nicht so brutal sein. Helen glaubte auch nicht mehr daran, daß sie mit einem toten Kind an der Hand durch den Garten gegangen war. Sie hatte einen Punkt erreicht, wo der Verstand sich weigerte, all die Realitäten aufzunehmen und sie zu verarbeiten. Helen wußte auch, daß sie für das Kind nichts mehr tun konnte. Dieser Henker war einfach da, er war zu stark, er wollte töten. Die Frau war ein Nervenbündel, völlig durcheinander, und sie tat das, was Kinder tun, wenn sie sich vor grausamen Szenen schützen wollen. Sie riß die Hände vor das Gesicht, spreizte jedoch die Finger. Etwas bekam sie mit. Das schwere Beil durchschnitt die Luft. Sie hörte sogar das pfeifende Geräusch, in diesem Fall eine Todesmelodie, denn Cynthia wich nicht aus. Sie wurde getroffen. Kein Schrei, kein Blut. Dafür eine ferne Stimme, die wie aus dem Jenseits stammend klang, wobei die Sprecherin noch zusätzlich in eine sehr lange Röhre hineinredete. »Meine Puppe...« Dann war es vorbei! Es gab keinen Henker mehr, es gab das Kind nicht, aber es war auch kein Traum gewesen, denn als Helen die Hände von ihrem Gesicht wegnahm und gegen die Innenflächen schaute, da sah sie auch die dunklen Blutflecken auf der Haut. Blut, das aus ihrer Nase geronnen war. Sie dachte an den Faustschlag, und sie schüttelte sich noch im nachhinein. Ihre Kehle saß zu, in Höhe der Kniekehlen spürte sie den Druck der Tischkante. Er sorgte dafür, daß sie sich wieder in der Realität zurechtfinden konnte, was gar nicht so einfach war. Helen stellte sich hin. Für sie war es wie das Stehen eines kleinen Kindes, das erst noch richtig laufen lernen mußte. Ihre Beine zitterten, die Muskeln und Sehnen waren angespannt, und der gesamte Garten schwankte vor ihren Augen wie ein Schiff auf hoher See. Sie starrte dorthin, wo das Mädchen gestanden hatte. Es war weg, aber es hatte etwas hinterlassen. Keinen Kopf, auch kein Blut, sondern den kopflosen Körper der kleinen Puppe.
Es war also wirklich so gewesen Kein Traum. Verrückt. Ich habe es erlebt! Die Gedancen schössen durch Helens Kopf. Mit einem Taschentuch tupfte sie das Blut von ihren Wangen. Sie ging dorthin, wo das Mädchen gestanden hatte und bückte sich zu der Puppe hinunter. Dabei fiel ihr Blick auf die Rinde. Helen zuckte zusammen. Sehr deutlich war die Einkerbung im Stamm zu sehen, weil die Schneide die Haut des Baumes genau an dieser Stelle erwischt hatte. Wieder ein Beweis mehr, daß sich Helen die schaurigen Vorgänge nicht eingebildet hatte. Sie hob die Puppe hoch. Der kopflose Körper kam ihr plötzlich vor, als wäre er von Leben erfüllt. Sie mußte schlucken. Allein die Berührung der Puppe hatte sie wieder an Cynthia denken lassen. Wo steckte sie jetzt? War sie tatsächlich völlig tot? Hatte es dieser verfluchte Henker geschafft, oder würde sie noch einmal zurückkehren, um das zu holen, was sie vergessen hatte? Helen schaute in das Gesicht der Puppe. Darin regte sich nichts. Kein Lächeln, kein Blinzeln, kein Funken Hoffnung für sie oder auch für das Kind. Die zweigeteilte Puppe hatte auf dem Tisch gelegen. Der Körper neben dem Kopf, und diesen Platz nahm sie auch wieder ein. Falls Cynthia zurückkehrte, sollte sie sofort erkennen können, daß sich auch nichts verändert hatte. Bisher hatte sich Helen McBain gut gehalten, und darüber wunderte sie sich selbst. Urplötzlich aber merkte sie, wie sehr sie doch Mensch war. Da gaben ihre Knie nach, der Garten drehte sich vor ihren Augen, und sie war froh, einen Stuhl in der Nähe zu haben, in den sie sich setzen konnte. Schwer fiel sie hinein. Die Ellenbogen der angewinkelten Arme prallten gegen die Lehnen. Helens Blick war ins Leere gerichtet. Hätte sie sich selbst im Spiegel sehen können, dann hätte sie sich wahrscheinlich über ihre eigenen Augen gewundert, denn sie sahen aus wie die einer fremden Person. Sie nahm sich vor, an etwas zu denken, aber das schaffte sie nicht. Immer wieder vertrieb die aufsteigende Angst ihre eigenen Gedanken, und sie wunderte sich zudem im nachhinein darüber, daß man sie noch am Leben gelassen hatte. Der Henker hätte auch sie töten können. Dann lägen jetzt ihr Kopf und ihr Körper verstreut im Garten. Helen schauderte, als ihr diese Gedanken kamen. Sie beugte sich vor, hob die Arme an und preßte beide Hände vor ihr Gesicht. Nichts sehen, nichts hören, auch nicht denken, einfach nur dasitzen, bis jemand kam, der sie aus diesem Loch hervorholte. Irgendwann kam ihr auch der Gedanke an ihren Mann. Er war mit den beiden Besuchern weggefahren und mußte unbedingt zurückkehren.
Helen fiel ein, daß sie ihren Mann über das Autotelefon würde erreichen können. Es war jetzt das Wichtigste, was sie tun konnte. Da hörte sie den Wagen. Er fuhr vor dem Haus an. Schon am Klang des Motors war für sie zu erkennen, daß es nicht Garry war, der da zurückkehrte. Es mußte ein anderer Besucher sein. Der Motor war schon erstorben, als sie sich endlich erhob. Wer immer auch gekommen war, er stand an der Haustür, und Helen hörte das Geräusch der Klingel. Sie ging langsam durch den Garten. Als der Mann zum drittenmal geschellt hatte, da hatte auch Helen McBain den Garten verlassen und stand vor dem Haus. Sie sah einen hellen Lieferwagen mit der knallroten Aufschrift Party Service. Die Schrift tanzte auf einem Tablett, das von einem Stichmännchen gehalten wurde. »Sie wollen zu uns?« Der Mann an der Tür dreht sich um. Er trug einen weißen Kittel. Dadurch hob sich sein rostroter Vollbart noch deutlicher ab. »Ich bin doch bei den McBains – oder?« »Ja.« »Startet denn hier die große Grillfete?« »Nein, im Wald, an der Grillhütte.« Ein Kollege, der aus dem offenen Seitenfenster schaute, rief: »Aber man hat uns diese Anschrift gegeben.« »Ja, das ist richtig«, erwiderte Helen McBain müde und schaute dabei nach rechts. Auf dem Weg rollte der dunkle Wagen ihres Mannes. »Sie klären am besten alles mit dem Förster«, murmelte sie, drehte sich um und ging wieder in den Garten. Helen wollte allein sein. *** Der Totenplatz! Verlassen lag er in der mittäglichen Ruhe. Die Sonne bedeckte ihn mit ihrem Schleier. Sie sorgte auch dafür, daß selbst das Holz der alten Grillhütte heller wirkte. Nur an den waldreichen Rändern der Lichtung zeichneten sich Schatten ab, als wollten sie die zahlreichen Geheimnisse des Waldes verdecken. Es war still. Selbst der Wind hatte sich gelegt und schickte kaum einen Hauch über die Lichtung. Er blieb oberhalb und spielte mit den noch frischen Blättern in den Kronen der Bäume. Er bewegte sie und gab dem herrlichen Grün ein ständig neues Muster. Irgendwo raschelte etwas. Ein Geräusch, das selbst die Blätter zu stören schien, denn sie bewegten sich plötzlich schneller. Aus ihrem dichten
Grün löste sich etwas hervor, als hätte eine Hand einen Klumpen weggeworfen. Der Klumpen segelte dem Erdboden entgegen, prallte aber nicht auf, denn auf der Hälfte der Strecke breitete er seine Hügel aus und verwandelte sich in eine schwarze Dohle. Sie zuckte mit ihrem Hals, auch mit dem Kopf, sie gab Laute von sich, die schon an Gelächter erinnerten, dann flatterte sie an den Rand der Lichtung, blieb aber sichtbar und tauchte nicht ein in das Dämmern des Waldes. Sie zog ihre Kreise am Waldrand entlang wie ein Pferd in der Manege. Runde für Runde drehte der Vogel, als wollte er durch seine Kreise auf sich aufmerksam machen. Kein anderer begleitete seinen Flug. Er blieb allein, und seine Schreie hallten über die Lichtung. Irgendwann war die Dohle es leid. Sie visierte das Dach der Grillhütte an und ließ sich auf dem Pilz nieder. Dort blieb das Tier hocken. Zwar auf einer Stelle, sich dabei hüpfend drehend, weil es in die verschiedenen Richtungen schauen wollte, als würde es von irgendwoher jemand erwarten. Noch aber schwieg der Wald. Trotzdem hätte ein sensibles Wesen durchaus die veränderte Atmosphäre bemerkt, die von der Lichtung Besitz ergriffen hatte. Sie war düster, geheimnisvoll, lauernd, und selbst das Licht der Sonne traf den Boden nicht mehr so klar. Dieser Totenplatz begann damit, seinem Namen alle Ehre zu machen. Er zog die Düsternis an und ließ das andere draußen. Nur wer selbst zu den Geschöpfen der Finsternis zählte, konnte sich an einem derartigen Ort wohl fühlen, wie auch der unheimliche Henker, der sich aus dem Wald löste und die Lichtung betrat. Auch die Dohle hatte ihn gesehen. Sie begrüßte ihn mit Schreien und flatternden Flügelbewegungen, ohne allerdings ihren Platz auf dem Dach zu verlassen. Der Henker ließ sich nicht stören. Mit genau abgemessenen Schritten ging er weiter, und er schleifte dabei etwas hinter sich her, was zuvor noch nicht auf der Lichtung gestanden hatte. Es war ein mächtiger Richtklotz. Die Einkerbung für den Kopf war zu sehen, und das Holz hatte durch das aufgesaugte Blut ebenfalls seine Farbe verändert. An vielen Stellen sah es dunkel aus, ein fleckiges, makabres Muster. Es fiel dem Henker leicht, den Richtkopf hinter sich herzuziehen. Mit ungeheurer Wucht hatte er sein Richtbeil in das Holz geschlagen und die Klinge so tief in die Masse hineingetrieben, daß sie nicht mehr herausglitt, als er den Klotz hinter sich herzog. Er ging so wei t vor, bis er die Grillhütte erreicht hatte. Erst dann ließ er den Griff des Beils los und betrat die Hütte. Gelassen schaute er sich
um, ohne dabei seine Kapuze vom Kopf zu nehmen. Was er sehen wollte, das sah er auch. Schließlich trat er wieder nach draußen, faßte den Griff mit einer Hand an und zerrte den Klotz weiter. Er schaffte ihn an einen schattigen Ort, wo aber noch genügend Platz vorhanden war, um das blutige Werk vollenden zu können. Er freute sich. Er freute sich auf die Menschen… *** »Es tut mir ja in der Seele weh, aber ich kann einfach nicht bleiben.« Mit diesen Worten hatte sich Garry McBain von seiner Frau und den beiden Polizisten aus London verabschiedet und sie allein gelassen. Er wußte, daß Helen Schreckliches hinter sich hatte, daß sie eigentlich die Betreuung einer ihr bekannten Person gebraucht hätte, aber es ging nicht. Nichts durfte den Ablauf stören. Alles mußte so laufen wie immer. Niemand sollte merken, wo dieses Grillfest stattfand. Niemand sollte erfahren, daß dieser Ort womöglich verflucht war. Zudem drängte die Zeit. Es war noch ein zweiter Wagen erschienen, der die Getränke gebracht hatte und gleichzeitig als Verkaufswagen benutzt werden konnte. Das entsprechende Personal war ebenfalls vorhanden. Der Förster war mit seinem Wagen vorgefahren. Immer wieder fragte er sich, wie er die Lichtung wohl vorfinden würde, und er war beinahe enttäuscht, als er sie leer sah. Sie sah nicht anders aus als immer zu dieser Zeit. Sie lag wie eingebettet in der Nachmittagssonne, die noch nicht zu warm schien. Nach einem ersten Inspektionsgang erklärte er den Leuten vom Partyservice, wo sie den Getränkewagen hinstellen konnten. Er gehörte zu dem modernsten, was es auf dem Markt gab. Ein eigenes MiniKraftwerk sorgte für die nötige Energie, damit alle Getränke gekühlt serviert werden konnten. Zwei Personen arbeiteten dort. Ein junger Mann und eine junge Frau. Sie waren ein eingespieltes Team, das auch den Überblick hatte, denn die Frau beschwerte sich bei Garry, daß keine Toilettenwagen aufgestellt worden waren. »Die sollen in den Wald gehen.« »Auch die Frauen?« »Ja, die auch.« Der junge Mann lachte. Er nannte sich Big, was auch auf seiner weißen Schirmmütze stand. »Dazu fallen mir direkt einige Witze ein. Ich meine mit den Frauen, die mal müssen.« »Behalten Sie Ihre Witze für sich, Big.« »Keinen Humor, wie?«
»Nicht in dieser Richtung. Kümmern Sie sich um Ihre Arbeit. Ihr Chef fragt mich immer, wie es gelaufen ist. Ihren Job können auch andere machen.« Big drehte sich um und schüttelte den Kopf. Garry ärgerte sich über sich selbst, daß er diesen Mann derartig über den Mund gefahren war. Es lag einfach an seiner Stimmung. An allem hier. Er wußte nicht, wie es weiterging. Es sah alles so harmlos aus, aber über dieser verfluchten Lichtung lag der Schatten des Todes, den man nicht sehen, aber fühlen konnte. Er blickte auf die Uhr. In einer Stunde würden die ersten Gäste eintreffen. Bis dahin mußte alles top sein, und die Kohle mußte bereits kokein. Die Männer des ersten Wagens waren dabei, den Grill zu reinigen. Sie fluchten über die Arbeit und wurden auch nicht freundlicher, als Garry sie noch mehr zur Eile antrieb. »Ja, ja, Meister, wir schaffen das schon. Wir sind die besten Griller aus dem Großraum London.« »Wie schön für euch. Mit den zweitbesten hätte ich mich auch nicht zufrieden gegeben.« »Danke, wir haben verstanden.« Der Förster schaute in den Kühlwagen. Das Fleisch lag in den Regalen. Auch die entsprechenden Soßen und Gewürze standen bereit, selbst der Salat war schon angerichtet. Er befand sich in großen Schüsseln, und es fehlte nur noch das Dressing. Garry wollte ebenfalls nicht untätig sein. Er half einem der Männer beim Aufstellen des Geschirrs. Als Unterlage benutzte sie einen langen Klapptisch, der ebenfalls zur Ausrüstung gehörte. Als eine Viertelstunde vergangen war, zeigte sich Garry friedlicher. Die Männer vom Party-Service verstanden ihr Handwerk. Der Typ mit den fast gelb gefärbten Haaren trug jetzt dicke Handschuhe und verteilte die Kohlestücke unter dem Rost. Man sah ihm den Fachmann an. Sein Kollege hatte bereits erste Fleischportionen bereitgelegt. Grillwürste, Steaks, Rippchen. Hinzu gesellten sich Maiskolben, frisches Mett, sogar in Alufolie umwickelte Fische waren mitgebracht worden. Da konnte man schon Hunger kriegen. Nicht aber der Förster. Er würde wohl keinen Bissen runterkriegen. »Hier werde ich nicht mehr gebraucht, denke ich.« »Sehr richtig«, sagte der Mann mit den gelben Haaren. »Ich schaue mal bei den Getränken nach.« »Ja, gut Schluck.« »Keine Sorge, ich werde nichts trinken.« Der Förster drehte sich abrupt um. Er verließ den Grill und damit auch die ersten Rauchschwaden, die sich über der Kohle ausbreiteten. Einmal im Jahr konnte die Natur so etwas verkraften, jeden Monat wäre es fatal gewesen.
Die Stille war geblieben. Der Förster wunderte sich darüber, daß kein Vogel sang, aber er entdeckte wieder die schwarze Dohle oben auf dem Dach der Hütte. Sie saß dort wie ein Wächter, der mit bösen Augen in die Runde schaute und seine kalten Glotzer jetzt auf den Förster gerichtet hatte, als wollte er ihn hypnotisieren. Plötzlich haßte Garry den Vogel. Er haßte ihn so sehr, daß er am liebsten das Gewehr aus dem Wagen geholt und die Dohle abgeschossen hätte. Er beherrschte sich und traktierte ihn nur mit drohenden Worten. »Irgendwann, wenn hier alles vorbei ist, drehe ich dir den Hals um. Darauf kannst du dich verlassen.« Der Vogel öffnete sein Maul, als wollte er dem Menschen eine Antwort geben. Es drang auch so etwas hervor, und es klang wie ein selbstherrliches Lachen. Garry ging davon, die Dohle blieb auf ihrem Platz hocken. Der Förster kam sich dabei vor wie ein Verlierer, und er erstickte beinahe an seiner eigenen Wut. Am Getränkewagen hatte er sich wieder beruhigt. Er blieb davor stehen und schaute für eine Weile zu, wie die junge Frau kunstvoll die schmalen Champagnergläser aufbaute. Sie ließ sich bei ihrer Arbeit nicht stören und schaute erst auf, als sie fertig war. »Alles klar?« fragte Garry. »Bei mir immer.« Auch sie trug eine Mütze. Er schaute hin und las ihren Namen. Sie hieß Kelly, war ungefähr zwanzig, hatte ein trotz ihrer dunklen Haare blasses Gesicht und nur wenig Figur. Den Pony hatte sie sich hennarot einfärben lassen. Im Gegensatz zu Big trug sie keine weiße, sondern eine rote Jacke mit einem etwas tieferen Ausschnitt, in dem doch kaum etwas zu sehen war, das erkannte der Förster, als sich Kelly vorbeugte. »Ist alles in Ordnung?« fragte sie. »Ja, warum nicht?« »Sie schauen so komisch.« »Das täuscht. Ich bin nur in Gedanken.« Sie lächelte und stemmte ihre Handflächen rechts und links der Gläser auf die Theke. »An was denken Sie denn?« »Ich frage mich, ob alles klappt?« »Immer!« lautete die knappe Antwort. Der Förster hob die Schultern, was Kelly erstaunte. »Oder sind die Gäste so komische, blasierte Typen?« »Das kann ich Ihnen nicht sagen.« Garry berichtete, wer erwartet wurde. Namentlich kannte er nur wenige. Einige Gesichter waren hin und wieder in den Gazetten abgebildete oder auf den Bildschirmen zu sehen, aber davon ließ sich Kelly keinesfalls beeindrucken. Sie hob nur die Schultern und putzte Wasserflecken von der Theke. Das gefiel McBain auch nicht. Er wußte selbst nicht genau, was er herausfinden wollte. Vielleicht eine
Bestätigung seiner Vorahnungen. Er stellte deshalb eine möglichst unverfängliche Frage. »Bemerkt haben Sie nichts, Kelly?« Sie legte den Lappen zur Seite. »Was soll ich denn bemerkt haben, Mr. McBain?« »Eine gute Frage«, murmelte er und überlegte, wie er ihr die Atmosphäre oder sein Feeling näherbringen konnte. »Wissen Sie, Sie waren ja schon öfter hier.« »Nein, heute ist es das zweite Mal.« »Gut. Können Sie sich an das letzte Jahr erinnern?« »Sicher.« »Haben Sie auch einen Unterschied zu dem heutigen Besuch festgestellt? Liegen die Dinge anders? Spüren Sie etwas? Kann es sein, daß Sie ein anderes Gefühl haben, während Sie hier stehen? Ich meine, im Vergleich zum letzten Jahr.« Kelly lächelte ihn an. »Komisch, Sie können vielleicht Fragen stellen, Mr. McBain. Macht Ihnen das Spaß?« »Bestimmt nicht.« »Dann haben Sie also einen Grund.« Sie beugte sich vor und lachte. Dabei blitzten ihre Augen. »Jetzt haben Sie mich aber neugierig gemacht. Reden Sie und...« Jemand in ihrer Nähe räusperte sich. Kelly verstummte, und der Förster drehte sich um. Big war aufgetaucht. Er hatte sich hinter dem Getränkewagen aufgehalten und dort noch einiges überprüft. McBain brauchte ihn nur anzusehen, um zu wissen, daß etwas nicht in Ordnung war. Bigs Gesicht zeigte eine leichte Verwunderung. »Na, was ist?« »Haben Sie das Ding da hinten hingestellt, Mr. McBain?« Big deutete über seine Schulter. »Welches Ding?« »Kommen Sie mit.« »Das muß ich mir auch anschauen.« Kelly bewegte sich schnell hinter ihrer Theke hervor. Sie erreichte die beiden Männer, als Big bereits dabei war, über einen schmalen Trampelpfad in die Dichte des Unterholzes zu gehen. Nach dem dritten Schritt schon blieb er stehen. »Da, schauen Sie sich das Ding mal an.« Garry McBain wußte sofort, was damit gemeint war. Er schluckte, denn dieser mächtige Klotz paßte einfach nicht an diesen Ort. Er sah aus wie ein Baumstumpf, aber das war er beileibe nicht. Es gab dafür einen bestimmten Namen. »Na, was sagen Sie?« Ohne den Kopf zu drehen, gab der Förster die Antwort. Und sie klang bestimmt nicht fröhlich. »Ein Richtklotz«, flüsterte er. »Das ist ein
verfluchter Richtklotz, auf dem Menschen früher die Köpfe abgeschlagen wurden...« *** Suko kam aus der Küche und brachte die bestellten Getränke. Helen McBain hatte nicht gehen wollen. Sie saß mit mir zusammen auf der Terrasse und schaute ins Leere. Ihr Mann und die bei den Mitarbeiter vom Party-Service waren verschwunden. Auch der Förster würde so bald nicht zurückkehrein, erst wenn das Treffen gelaufen war, fand er wieder den Weg in sein Zuhause. Der Inspektor stellte das Tablett ab. Er hatte den Fruchtsaft in drei Gläsern verteilt. Durch die Kälte war das Glas an der Außenseite feucht geworden. »Trinken Sie, Mrs. McBain, es wird Ihnen guttun.« »Ja.« Auch wir tranken. Es hätte alles wunderbar sein können, aber das war es nicht. Die gesamte Atmosphäre hatte sich verändert. Zwischen uns stand eine unsichtbare Wand, und sie setzte sich aus den Molekülen des Erlebten zusammen, über das uns die Frau des Försters stockend informiert hatte. Nicht das Erscheinen der Cynthia Ashford hatte bei ihr den Schock hinterlassen, es war einzig und allein der Henker gewesen, mit dem sie nicht zurechtgekommen war. Da war etwas in ihre heile Welt eingebrochen. Noch schlimmer, als wären zwei, drei Typen hier erschienen, um das Ehepaar auszurauben. Diebe oder Räuber hätten von der Ratio noch erklärt werden können, aber nicht das Kind, und erst recht nicht die Gestalt des Henkers. Beide waren irreal, nicht zu fassen, aber beide hatten im Beisein der Frau agiert. Das Kind hatte unbedingt seine Puppe haben wollen, doch der Henker hatte es nicht dazu kommen lassen und Cynthia schließlich geköpft. Es war kein Blut geflossen. Die Zeugin hatte auch keine Angstschreie vernommen, nichts war geschehen, das etwas zurückgelassen hätte, und trotzdem war es so grauenhaft gewesen. Natürlich wußten auch wir, was die Frau durchgemacht hatte. Und wir gingen davon aus, daß sie sich nicht eben in einer hundertprozentigen Sicherheit befand, deshalb wollten wir zunächst auch bei ihr bleiben. Später jedoch würden wir zu diesem Grillfest fahren müssen. Wir waren uns sicher, daß dort die >Musik< spielte. Zuvor aber konnten wir vielleicht Informationen sammeln. Bisher hatte die Frau geschwiegen. Plötzlich aber sagte die: »Es war ein so grausiger Abschied.« »Wie meinen Sie das?«
Sie schaute mich nicht an. »Wissen Sie – dieser Henker schlug zu. Einfach so. Er schlug ihr den Kopf ab. Sie hat nicht mal etwas sagen können, und dann waren sie einfach verschwunden, als hätte es sie nie zuvor gegeben.« »Aber sie waren hier«, sagte ich. »Waren sie das wirklich, Mr. Sinclair? Manchmal wünsche ich mir, ich hätte alles nur geträumt, aber ich weiß leider sehr genau, daß ich es nicht geträumt habe. Dieses Kind wollte seine Puppe zurück. Das hat es nicht geschafft. Warum wollte ihm der Henker die Puppe nicht überlassen? Und warum ist es überhaupt hier erschienen?« »Das wissen wir auch nicht, Mrs. McBain«, sagte Suko. »Aber die Stimme haben auch wir gehört. So unwahrscheinlich es auch klingen mag, Sie und wir haben Besuch aus dem Geisterreich bekommen. Nennen Sie es auch Reich der Toten, aber finden Sie sich bitte damit ab, daß es so etwas auch gibt.« »Natürlich«, murmelte Helen, »ich habe es ja selbst erlebt. Dennoch komme ich damit nicht zurecht.« Sie strich über ihr Gesicht und schaute in die Baumkrone über uns. »Ich frage mich, ob es das Ende gewesen ist.« »Welches Ende?« »Erlebe ich eine Wiederholung?« »Sie meinen, das Kind würde noch einmal zurückkehren, um die Puppe zu holen?« »Ja, Inspektor.« Das war nicht mal schlecht gedacht, denn damit rechneten auch wir. Wenn ich ehrlich sein sollte, hielten wir uns auch deshalb im Haus des Försters auf, um dies bestätigt zu bekommen. So warteten wir quasi auf die Rückkehr des Kindes, denn nur Cynthia konnte uns Informationen geben. Ich glaubte nicht daran, daß sie nur allein ihre Puppe zurückhaben wollte. Da steckte sicherlich mehr dahinter. Suko schaute Mrs. McBain traurig an. »Das steht leider nicht in unserer Macht.« Damit gab sich Helen nicht zufrieden. Sie überlegte, ihre Hände drückte sie dabei zusammen, und die Stirn legte sie in Falten. »Wir sind ja wohl alle nicht darüber informiert, was uns noch erwartet. Keiner kann in die Zukunft schauen, aber sollte Cynthia noch einmal zurückkehren wollen, wäre es Ihnen nicht möglich, ihre Rückkehr zu beschleunigen? Ich meine, könnten Sie das Kind nicht locken, herbeirufen, wie auch immer? Ginge das nicht?« Das hatte ich vor. Auch Suko schien ähnlich zu denken, als er mir zunickte. Und Helen McBain lächelte plötzlich. »Nun, Mr. Sinclair, worüber denken Sie nach?« »Über genau das Problem?« »Dann liege ich nicht so schrecklich falsch mit meinem Wunsch.«
»Überhaupt nicht. Es wird nur sehr schwer werden. Wir müssen davon ausgehen, daß dieses Kind, wie immer es auch sein mag, einen eigenen Willen hat. Ich glaube nicht, daß es erscheint, wenn wir einfach nur seinen Namen rufen. Nein, nein, das wird uns kaum gelingen. Es ist deshalb wichtig für uns, eine Möglichkeit zu finden, den Kontakt aufzunehmen. Wir müssen gewissermaßen einen Kanal aufbauen, eine Strecke, die in die andere Welt führt.« »In das Reich der Geister, meinen Sie?« »So ungefähr.« Wir sahen, daß sich die Haut am Hals bewegte. Helen schluckte. Was sie und wir so locker dahingesprochen hatten, bedeutete in Wirklichkeit sehr viel für sie. Bisher mochte sie von den Kontaktaufnahmen gehört und gelesen haben, nun aber wurde sie selbst damit konfrontiert, und das war immer etwas anderes. Sie würde sich diesen Problemen stellen müssen, was bestimmt nicht einfach war. »Bisher habe ich nie so recht daran geglaubt. Ich ahne wohl, daß es gewisse Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, die...nun ja, Sie kennen den Spruch. Ich habe zudem Bücher gelesen, die dieses Thema am Rande streiften. Bei mir ist da einiges zusammengekommen, aber ich hätte nie gedacht, daß ich persönlich mit diesen Dingen einmal konfrontiert werden würde. Der Ruf in die Geisterwelt.« Sie schlug gegen ihre Stirn. »Das ist ja der reine Wahnsinn. Da...da...komme ich nicht mit, aber ich will es probieren, weil ich einfach den Eindruck habe, daß es ungemein wichtig ist.« »Da haben Sie recht.« »Hier bei mir bleiben können Sie auch nicht, denke ich. Sie müssen ja zu meinem Mann.« »Ja, wir werden Gäste bei der Party sein. Deshalb bleibt uns auch nicht viel Zeit.« »Wird der Henker ebenfalls dort erscheinen?« Auf diese Frage gaben ihr weder Suko noch ich eine Antwort. Dafür griff ich nach der Puppe. Ich nahm den Körper in die Hand, den flachen Kopf ließ ich liegen. Der Puppenkörper bestand aus Holz. Ich fühlte ihn unter dem Kleiderstoff, der ebenfalls noch aus alter Zeit stammte. Mir kam er temperiert vor, handwarm, was durchaus an den Strahlen der Sonne liegen konnte, die den Körper getroffen hatten. Vier Augen beobachteten mich. Suko schaute gelassen zu, Helen mit einer Mischung aus Skepsis, Neugierde und Abwehr. »Können Sie sich vorstellen, weshalb Cynthia immer wieder nach ihrer Puppe gerufen hat?« flüsterte sie. »Nein, nicht genau.« »Sie muß sie sehr geliebt haben.« »Stimmt. Aber reicht das?« »Wie meinen Sie das?«
»Ganz einfach. Es kann durchaus sein, daß es noch eine andere Verbindung gibt, als eben diese ungewöhnliche Liebe zwischen den beiden. Oder liege ich da falsch?« »Ich weiß es nicht.« »Das möchte ich herausfinden. Vielleicht gelingt es uns ja, daß die Puppe und Cynthia miteinander Kontakt bekommen und die eine dafür sorgt, daß die andere hier erscheint.« Um Helens Lippen huschte ein Lächeln. »Das wäre ein Wahnsinn«, sagte sie. Ich schaute in die Puppe hinein. Da der Kopf mit einem glatten Schnitt vom Körper getrennt worden war, saß die Hälfte des Halses noch auf dem Körper und die andere am Kopf. Innen steckte eine Mischung aus Lumpen und Stroh; nichts Ungewöhnliches. Ich schaute mir den Kopf an. Das Gesicht war bemalt. Auf dem hellen Holz zeichnete sich der rote Mund besonders gut ab. Ich sah auch die Augen und die Nase. Der Maler hatte es geschafft, mit wenigen Punkten und Strichen dieser Puppe ein nettes Gesicht zu geben. Das machte keine Angst, das flößte dem Besitzer Vertrauen ein. Ich tat dann etwas, das zumindest Helen McBain verwunderte. Sie bekam große Augen, als sie sah, wie ich die Kette über den Hals streifte und das Kreuz freilegte. Sie war von diesem Kreuz fasziniert und holte tief Luft. »Kennen Sie das?« fragte ich sie. »Nein, ich habe es nie gesehen.« »Es ist für mich wichtig«, sagte ich. »Möglicherweise kann es uns den Weg zeigen.« »Wohin?« »Zur Lösung. Sie kennen das Mädchen, wir kennen die Eltern des Mädchens und dessen Bruder. Und diese Familie Ashford kennt auch das Kreuz. Deshalb ist es möglich, daß dieses Kreuz auch Cynthia bekannt ist. Ich kann Ihnen jetzt keine genaue Erklärungen geben, Sie und wir müssen dem Kreuz vertrauen, das auch der Familie Ashford gewesen ist, wenn auch durch einen anderen Träger.« Helen nickte. Dennoch lagen ihr zahlreiche Fragen auf der Zunge, aber sie beherrschte sich. Ich legte das Kreuz auf den Gartentisch. Für einen Moment schien es zu explodieren, sich aufzulösen im Licht der Sonne. Das aber war ein Irrtum. Es sah nur so aus, weil es von einem Sonnenstrahl erwischt worden war, der seinen Weg durch das Laub gefunden hatte. Vier Augen schauten mir gespannt zu. Ich faßte zuerst den Kopf mit zwei Fingern an und schob es auf den oberen, kurzen Balken des Kreuzes zu. Als es zur Berührung kam, nahm ich die rechte Hand wieder zurück und
griff mit der linken zum Puppenkörper. Ihn brachte ich bis an die Unterseite des Kreuzes heran. Der Kopf lag oben, der Körper unten. Das Kreuz bildete ein neues Mittelteil. Sollte die Puppe in einer sehr starken Verbindung zu ihrer Besitzerin stehen, so war es durchaus möglich, daß diese Verbindung durch das Kreuz noch aktiviert wurde. Dann mußte sie die Kraft spüren, die positiven Wellen, für die Grenzen keinen Bestand hatten. Wir warteten. Auch ich mußte zugeben, daß mich ein Gefühl der Spannung umklammert hielt. Obwohl äußerlich nicht viel passierte, war dieser Vorgang ungemein wichtig für den Fortgang des Falles. Die Verbindung zwischen den beiden Zeitebenen existierte. Ich mußte sie nur so stärken, daß auch wir mit einbezogen werden konnten. Und darauf warteten wir. Noch geschah nichts. Ich hörte Suko atmen, dann sprach er mich leise über den Tisch hinweg an. »Was hältst du davon, wenn du es aktivierst?« »Nicht viel.« »Warum nicht?« Ich hob leicht die Schultern. »Es könnte sein, daß die Kraft dann zu stark wird.« Er schwieg. Auch die Frau des Försters sagte kein Wort. Sie stand unter Druck, wir sahen es ihr an. Immer wieder bewegte sich ihr Hals, als sie schluckte. Ich ließ das Kreuz nicht aus den Augen. Auch schaute ich auf den Kopf der Puppe. Weder er noch der Körper strahlten auf, zum Zeichen, daß etwas geschehen war. Sollte ich mich so geirrt haben? »Sie ist da!« Helen McBain schrak zusammen, als sie den Satz sagte. »Ja, sie ist da. Ich spüre es. Sie befindet sich in unserer Nähe, aber sie traut sich nicht aus dem Unsichtbaren hervor. Sie lauert, sie wartet, sie will uns erscheinen und dann zuschlagen.« Helen stand auf. Es kratzte, als sie den schweren Stuhl zurückschob. Sie strich mit einer gedankenverlorenen Bewegung über ihre Stirn, dann über das Haar, schluckte einige Male und schaute an uns vorbei, schräg gegen den Himmel, als würde sie dort eine Erscheinung erkennen. Ich drehte mich nicht um, stellte allerdings fest, daß mein Freund Suko die Stirn gerunzelt hatte und ebenfalls dorthin schaute. Da mußte sich etwas tun. »Sie ist da...« Helen bekam die Worte kaum hervor. Sie schüttelte sich dabei, preßte die Hand auf die Brust, und bevor ich das Mädchen noch sah, hörte ich seine Stimme. »Ihr habt meine Puppe...« Da erst wußte ich, daß ich Erfolg gehabt hatte. Cynthia kam…
*** Für einen Moment blieb ich noch sitzen. Dann drehte ich mich auf dem Stuhl sehr langsam nach links, denn aus dieser Richtung hatte ich die Stimme gehört. Cynthia hatte nicht laut gesprochen, die Botschaft war nicht mehr als ein Flüstern gewesen, und dies setzte sich irgendwie auch optisch um, denn wir sahen sie nicht wie einen normalen Menschen mit einem normalen Körper, sondern irgendwie anders. Durchscheinend, als wäre sie ein Geist. Im Garten malte sich der schwache Umriß eines Mädchens ab. Es war ein hübsches Kind mit einem runden Gesicht. Es sah nicht einmal altertümlich aus, es wirkte auf mich zeitlos, denn auch heute zog man den Kindern oft lange Kleider an. Nur waren die Kinder, die normal lebten, nicht so blaß wie diese kleine Person. Das runde Gesicht zeigte eben die leichenhafte Blässe, als wäre die Haut mit einem dünnen Kreidestab eingerieben worden, der sich überall verteilte. Selbst die Lippen wiesen kaum einen roten Farbton auf, sie blieben blaß, und ich konzentrierte mich auf die Augen. Sie waren aus der Distanz nicht genau zu erkennen. Zudem hielt sich die Kleine im Licht der Sonne auf. Sie wirkte dort wie ein heller, körperloser Schatten. Kam sie, kam sie nicht? Sie zögerte, denn sie war durcheinander. Etwas paßte ihr nicht. Kopf und Körper der Puppe waren voneinander getrennt. Zwischen beiden lag das Kreuz. Die Puppe hatte jetzt eine völlig neue Verbindung bekommen, die zugleich so etwas wie einen Kanal darstellte, der zwei Ebenen miteinander verband. Cynthia wollte die Puppe. Ich ging davon aus, daß ich sie nicht aufhalten konnte. Zusätzlich wurde sie noch von den Kräften meines Kreuzes angezogen. Ihre Eltern kannten meinen Talismann. Ich fragte mich, ob er auch dem Mädchen bekannt war. Wir warteten. Drei Augenpaare richteten sich auf die Erscheinung, die immer noch zögerte, abwartete und dabei ihren Körper nie so richtig unter Kontrolle bekam. Er bewegte sich in seinem Innern. Mal nahm er besser erkennbare Umrisse an, dann verwischten sie wieder, als wollten sie sich mit den hellen Sonnenstrahlen vereinigen. Ich hoffte auf mein K)reuz. Dessen Kraft mußte einfach reichen, den Drang des Geisterkindes noch zu verstärken. Cynthia bewegte sich. Ich atmete auf, als sie auf die Terrasse zulief. Dabei nahmen wir es hin, daß kein einziger Laut zu hören war. Wenn wir jemals einen Geist erlebt hatten, so war das Nähergleiten dieses Kindes dafür der beste Beweis.
Helen McBain konnte ihren Blick ebenfalls nicht von dem Kind abwenden. Site war von diesem Anblick fasziniert. Was sich in ihrem Kopf abspielte, war sicherlich ungeheuerlich. Die Gedanken mußten sich dort überschlagen, denn sie erlebte etwas, das allen Naturgesetzen widersprach. Und doch dachte sie an den Henker, denn sie flüsterte: »Er ist nicht da. Cynthia hat auch noch ihren Kopf. Er sitzt wieder auf dem Körper. Mein Gott, das ist unbegreiflich.« Im Prinzip war es das auch. Aber wir wollten es auch nicht begreifen, vorerst nicht. Wir nahmen einfach hin, daß dieses kleine Wesen auf uns zukam. Die Puppe lag noch immer auf dem Tisch. Am schmaleren Rand blieb Cynthia stehen. Wir sahen sie deutlich, aber wir konnten sie auch >riechen<. Der Geistkörper strahlte keinen Leichengeruch ab, hier war etwas anderes, das auf uns zufloß. Es war der Geruch einer anderen Welt. Etwas Kaltes, sehr Dichtes wehte auf uns zu. Mir fiel der Vergleich mit einem dichten Nebel ein, doch es war keiner zu sehen. Nur Cynthia war von diesem unsichtbaren Hauch umgeben. Für uns hatte sie keinen Blick. Sie stand noch immer am Rand des Tisches, starrte einzig und allein ihre Puppe an und streckte plötzlich die Hand danach aus, ohne sich um das Kreuz zu kümmern, das Kopf und Körper verband. Cynthia wollte die Puppe an sich nehmen, doch ich war schneller. Ich legte meine Hand auf das Kreuz und auf einen Teil der Puppe, und das Geisterkind verstand. Cynthias Finger zuckten zurück. »Okay«, flüsterte ich. »Du kannst deine Puppe bekommen. Zuvor aber wollen wir wissen, warum du dich hier immer zeigst und auch ohne deine Eltern und deinen Bruder bist. Was ist mit dir geschehen? Was hat man mit euch gemacht?« Das Mädchen blickte mich an, und ich konzentrierte mich zum erstenmal auf seine Augen, die so einen traurigen und auch verlorenen Ausdruck angenommen hatten. »Mit uns?« Sie hatten gesprochen, und wir hatten sie auch verstanden, trotzdem lauschten wir der Stimme nach, die zwar etwas Menschliches an sich hatte, doch als solche nicht angesehen werden konnte. Sie war irgendwie anders. Flirrend und sehr hoch. Bei ihr hörte es sich an, als hätte noch eine zweite Person gesprochen, die irgendwo im unsichtbaren Hintergrund verborgen war. »Ja, mit euch.« »Wir sind tot.« »Nein, Cynthia, ihr seid nicht tot. Nicht so tot, wie man es im allgemeinen ist.«
»Der Henker hat uns geköpft.« »Deine Eltern…?« »Ja!« zischte es. »Sie, meinen Bruder William und auch meine Eltern. Wir haben nichts Unrechtes getan, aber wir mußten sterben, weil es andere so wollten, weil wir den falschen Glauben hatten. Mein Vater war ein stolzer und mutiger Mann. Seine Vorfahren haben an den Kreuzzügen teilgenommen. Sie sind in Jerusalem gewesen, sie waren Templer, sie haben das Heilige Grab verteidigt, aber man hat es ihnen nie gedankt. Die Kirche wollte die Templer nicht mehr. Man hat Jagd auf sie gemacht, aber nicht alle gefunden. Uns fand man zuerst nicht. Doch der Henker stellte uns eine Falle. Er war der Templer-Jäger. Ihm gehörte der Totenplatz, wo man uns richtete. Damals hat es dort einmal ein Dorf gegeben, da haben wir auch gelebt und viele Freunde empfangen. Das aber hat man uns geneidet. Man fand heraus, daß mein Vater noch immer Verbindungen zu seinen alten Freunden hatte. Deshalb schickte man uns den Henker. Niemand hat sein Gesicht gesehen. Er muß ein furchtbarer Mensch gewesen sein mit besonderen Kräften. Wenn er kam, war das Grauen groß, er verbreitete Todesangst, und auch wir konnten ihm nicht entfliehen. Ich erinnere mich daran, als mein Vater uns eines Tages offenbarte, daß der Henker auch uns besuchen würde.« »Und warum seid ihr nicht geflohen?« Das Geisterkind hob die Schultern. Es reagierte hier wirklich sehr menschlich. »Wir haben mit dem Gedanken gespielt. Aber wir wußten nicht, wohin wir sollten. Viele unserer Freunde waren schon tot, andere lebten in der Welt verstreut, und so sind wir dann geblieben. Mein Vater vertraute auf die Kraft, die in ihm steckte. Er war immer ein gläubiger Mensch, und er hat gesagt, daß man uns zwar töten, aber nicht vernichten könnte. Wir würden erst unsere Ruhe finden, wenn auch der Henker nicht mehr war. Das habe ich noch in Erinnerung.« »Und woher wußte dein Vater das?« fragte ich leise. »Er war ein mächtiger Mann. Er hatte viele Freunde.« »Auch Hector de Valois?« fragte ich. Bei der Erwähnung dieses Namens schrak Cynthia zusammen. Für einen Moment sah ihre Gestalt aus, als wollte sie sich auflösen. Ich hatte schon Angst, das Falsche gesagt zu haben, aber sie fing sich wieder und nickte mir zu. »Du kanntest ihn also?« »Ja.« »Gut?« »Er war ein Freund meines Vaters.« »Hat er euch auch besucht?« »Er kam nicht oft, aber er blieb immer recht lange und brachte Botschaften mit.«
Ich nahm meine Hand wieder hoch. »Wenn du Hector de Valois kanntest, dann mußt du auch dieses Kreuz an ihm gesehen haben. Oder nicht?« Cynthia senkte den Blick. Ich konzentrierte mich auf ihre Augen, in denen sich trotz ihres Zustandes so etwas wie Leben abzeichnete. Auch mich hatten ihre Erklärungen nicht kaltgelassen. Ich spürte den Schauer auf meinem Rücken sehr deutlich. Er hatte sich dort als eine zweite Haut festgesetzt. »Kennst du es?« »Ja...« Ich atmete tief durch. Auch Suko blieb nicht so cool. Er schloß für einen Moment die Augen, und auf seinem Gesicht lag ebenfalls ein Schauer. Ich fragte weiter. »Hat Hector de Valois es dir gezeigt?« »Nein, nicht mir.« »Deinem Vater.« »Sie haben oft darüber gesprochen.« Meine Erregung nahm zu. »Uhd was haben sie gesagt? Kannst du dich daran erinnern?« »Sie redeten über den Tod.« »Mehr nicht?« »Es ist so schwer«, sagte sie leifce. »Ich...ich...war ja nicht immer mit dabei, doch ich habe gemerkt, daß mein Vater seinem Freund großes Vertrauen entgegenbrachte. Sie müssen auch über unseren Tod gesprochen haben, denn unser Vate1 r hat einmal gesagt, kurz bevor der Henker kam, daß wir keine Furcht vor dem Tod zu haben brauchten. Jetzt nicht mehr, daran erinnere ich mich.« »War das nach einem Besuch des Hector de Valois?« »Nach einem langen sogar.« »Und warum solltet ihr keine Furcht vor dem Tod haben? Jeder Mensch fürchtet sieb davor. Ob er nun erwachsen ist oder ein Kind. Für al e ist der Tod gleich schrecklich.« »Das stimmt auch.« »Aber...« »Mein Vater wußte, daß wir s:erben würden. Er sprach aber davon, daß wir die Kraft hätten, den Tod zu überwinden. Wir würden uns wiederfinden und erst unsere Ruhe bekommen, wenn es den Henker nicht mehr gibt. Wir würden ihn auch als Tote verfolgen, wir würden beobachten und den Platz, an dem wir gestorben sind, nicht aus den Augen lassen. Es ist der Totenplatz im Wald, die furchtbare Richtstätte, wo der Boden mit dem Blut Unschuldiger getränkt wurde. Ich habe...ich habe immer Angst gehabt. Er war so grausam, er hat sogar meine Puppe geköpft und dabei gelacht. Alles ist wieder da, ich spüre es. Die Zeit ist reif. Mein Vater hat recht gehabt, glaube ich.« Ich nickte Cynthia zu. »Was weißt du noch?«
»Nichts mehr. Man tötete uns. Wir wurden auf den Richtklotz gelegt, und es schauten Soldaten zu. Der Henker hat kein Gesicht gehabt. Wir sahen nur seinen Körper und auch die Kapuze...« Das Geisterkind senkte den Kopf. Ich wußte nicht, ob feinstoffliche Wesen weinen können, aber bei Cynthia sah es so aus. Das merkte auch Helen McBain. In ihr waren bei dieser Reaktion die mütterlichen Gefühle erwacht. Sie stand plötzlich auf und ging auf das Geisterkind zu. Cynthia tat nichts, um der Frau auszuweichen, und Helen faßte dieses Wesen an. Für Suko und mich war es faszinierend, zuzuschauen. Da standen sich zwei Lebens- oder Daseinsformen gegenüber, und keine stieß die andere ab. Cynthia Ashford ließ es zu, daß Helen sie berührte und schließlich ihren Arm um sie legte. Dabei drehte die Frau des Försters uns ihr Gesicht zu, und wir warteten auf eine Erklärung. »Sie ist so anders«, flüsterte Helen. »So ganz anders. Ich kann sie fühlen, aber trotzdem ist sie nicht da. Ich weiß nicht, wie ich das erklären soll. Ich spüre ihre Psyche wie einen Körper. Sie ist nur Geist, ist aber gleichzeitig auch Körper, als hätte sich der Geist darin gefestigt. Ich weiß nicht, warum und wieso dies geschehen ist, aber es führt kein Weg daran vorbei. Ich halte hier etwas Besonderes und auch Unerklärliches fest, und ich merke, wie sich Cynthia quält. Mein Gott, ich fasse es nicht...« Die Frau konnte nicht mehr reden, wahrscheinlich wurde ihr jetzt erst richtig bewußt, mit welch einem Phänomen sie umging. Ich stand auf. Gleichzeitig nahm ich das Kreuz weg. Puppe und Kopf lagen wieder getrennt. Ich befürchtete, daß sich die Gestalt des Kindes auflösen würde, aber sie blieb. »Du wirst deine Puppe bekommen«, sagte ich, »aber wir alle möchten hier wissen, warum der Henker erschienen ist und dich noch einmal geköpft hat.« Nach dieser Frage löste sich Helen von der Erscheinung. Cynthia wußte die Antwort. »Er ist verflucht worden. Es geht ihm wie uns. Er hat uns nicht richtig töten können. Immer wenn wir erscheinen, wird er kommen, um es noch einmal zu versuchen. Dieser Totenplatz zieht ihn an. Er hat alle getötet, richtig getötet, nur uns nicht. Das läßt ihn nicht ruhen, deshalb versucht er es immer wieder.« »Nur bei euch?« »Ja. Vielleicht auch bei denjenigen, die uns beschützen wollen. Aber das kann ich nicht sagen.« Damit waren wir gemeint und möglicherweise auch die Personen, die sich sehr bald auf dem Grillplatz aufhalten würden. Ich merkte, wie mir die Kehle etwas enger wurde. Allmählich blickte ich durch. Suko erging es ebenso, wie ich ihm ansah.
Der Henker würde immer kommen und töten. Er kannte kein Pardon, er war verflucht durch höllische Mächte. Nur wenn er tatsächlich vernichtet wurde, wie auch immer, dann würde auch die Familie Ashford ihren Frieden bekommen. Die Ashfords waren zwar durch diesen Henker geköpft worden, aber sie hatten sich vorbereiten können, nicht zuletzt durch einen gewissen Hector de Valois. Meiner Ansicht nach trug er indirekt die Schuld an diesem Zwischenzustand des Henkers und auch der Familie. »Die Puppe...« Ich lächelte, als ich die Worte hörte. Sie war für das Mädchen das ein und alles. Deshalb nickte ich. »Du kannst sie an dich nehmen. Sie ist auch zurückgeblieben, aber auch sie wird den Henker anlocken, so wie deine Eltern und dein Bruder.« »Das weiß ich.« »Dann wirst du jetzt gehen?« »Ja, das werde ich.« »Wohin?« »Ich muß zu ihnen. Sie warten auf mich. Sie haben mich nicht gern gehen lassen. Ich will auch zu meinem Bruder. Es wird immer und immer wieder geschehen. Er kann nicht endgültig sterben. Der Druck auf ihn ist zu groß. Er hat versagt, und er muß dieses Versagen wieder...wieder...« Wir hörten sie zwar noch, aber wir verstanden nicht mehr was Cynthia sagte. Ihr Körper löste sich vor unseren Augen auf. Für einen Moment kam uns die Sonne noch stärker vor, als hätten ihre Strahlen das Kind zerstört. Dann war Cynthia verschwunden. Wir aber blieben zurück. Sprachlos und verwirrt… *** Es war Mrs. McBain, die sich als erste gefangen hatte. Kopfschüttelnd und sich beinahe wie eine Betrunkene bewegend kam sie auf ihren Platz zu und ließ sich nieder. Ihr Gesiebt war beinahe so bleich wie das des verschwundenen Mädchens. Sie schüttelte immer wieder den Kopf, bis sie uns anschaute. »Warum sagen Sie denn nichts?« »Was sollte es zu sagen geben?« fragte Suko zurück. »Eine Lösung!« »Die werden wir hier nicht finden.« Die Frau trank einen Schluck Saft. Dabei dachte sie über Sukos Worte nach. Insekten umsummten uns. Bienen waren auf der Suche nach Blüten, von denen es genügend hier gab. Die Tiere mußten sich in diesem Garten fühlen wie in einem Paradies.
»Nun ja, hier werden wir sie wohl nicht finden. Das heißt, wir müssen zu diesem Totenplatz.« »Wir müssen hin!« Helen begriff schnell. »Moment mal, Suko, Sie meinen, daß ich hier allein zurückbleiben soll?« »Das denke ich mir.« »Nein!« sagte sie und sprang dabei heftig auf. »Nein, das kann niemand von mir verlangen. Nicht daß ich mich zu Tode ängstigen würde, aber können Sie denn nicht begreifen, daß ich mich unter all den Menschen sicherer fühle, als allein in diesem Haus?« »Das schon«, gab Suko zu. Es war ihr nicht genug, denn Helen wandte sich an mich. »Was sagen Sie dazu, Mr. Sinclair?« Ich hob die Schultern. »Begreifen kann ich Sie schon, aber wir müssen damit rechnen, daß es verdammt gefährlich werden kann. Wir wissen jetzt, daß es einen immerwährenden Kampf gibt. Um ihn zu stoppen, müssen wir es zu einer Entscheidung kommen lassen, und ich kann nicht garantieren, daß kein Blut fließt.« Helen war durcheinander und schnappte nach Luft. »Himmel, wie können Sie das nur sagen?« »Es sind leider Erfahrungswerte. Wir können nichts daran ändern, Mrs. McBain.« »Trotzdem. Ich möchte in der Nähe meines Mannes bleiben. Schließlich ist auch er ein Mittelpunkt in diesem Fall. Das könnten Sie nicht abstreiten.« »Stimmt.« »Wenn ihm etwas passiert, würde ich für den Rest meines Lebens nicht mehr froh werden.« Wir konnten es drehen und wenden, im Prinzip hatte sie schon recht. Deshalb stimmte ich auch zu. »Gut, dann werden wir sie mitnehmen. Aber ich möchte, daß Sie sich zurückhalten. Versuchen Sie bitte nicht, die Heldin zu spielen.« Sie zeigte mit der Fingerspitze auf sich. »Im Emst, Mr. Sinclair, sehe ich so aus?« »Ich weiß nicht, wie Helden aussehen. Ich zumindest sehe mich nicht als einen Helden.« »Kann sein, aber es ändert nichts an meinem Entschluß.« Suko hatte einen besorgten Blick auf seine Uhr geworfen. »Ich denke, wir sollten fahren, John.« »Damit war ich einverstanden.« Plötzlich erwachte Helen McBain zu einer fieberhaften Aktivität. »Ich werde noch die Türen abschließen, dann bin ich sofort bei Ihnen. Außerdem sollte ich kommen, hat Ihnen mein Mann das denn nicht gesagt?«
»Nein, das hat er nicht. Darf ich fragen, was Sie bei diesem Grillfest für eine Funktion haben?« »Als Helferin, Mr. Sinclair, bin ich eingesetzt. Wie auch mein Mann, denn die hohen Herrschaften müssen ja bedient werden.« Die letzten Worte klangen bitter, was ich durchaus verstehen konnte. Dann drehte sich Helen ab und lief ins Haus. Suko und ich aber gingen zum Wagen, der auf der Vorderseite des Hauses seinen Parkplatz gefunden hatte. Dort schien die Sonne auf die Karosserie. Suko öffnete die vier Türen und sorgte für einen entsprechenden Durchzug. »Was denkst du?« fragte er mich. »Lieber nichts«, erwiderte ich… *** Es war wie immer, und der Förster kannte sich aus. Als die ersten Wagen eintrafen, spielte er den Parkplatzwärter und wies die Fahrer ein. Er wollte nicht, daß jeder sein Fahrzeug so abstellte, wie es ihm gerade in den Sinn kam, eine gewisse Ordnung mußte schon eingehalten werden, sonst kam es am Ende des Festes zu einem Chaos, wenn alle gleichzeitig abfahren wollten. Seine Gedanken aber drehte sich um andere Dinge. Ihm ging der Richtklotz nicht aus dem Kopf. Für den Förster war es der Beweis, daß der Henker noch längst nicht aufgegeben hatte. Er lauerte im Verborgenen, um aus ihm hervor zuschlagen zu können. McBain ertappte sich dabei, daß er sich immer wieder drehte und über die Lichtung hin zu den Rändern des Waldes schaute, aber dort tat sich nichts. Sie sahen aus wie immer. Die Sonne verlor sich an diesen Stellen mit der natürlichen Dunkelheit des Waldes. Sie wurde von ihm verschluckt. Zurück blieb nur ein weicher Schein aus Düsternis und fleckiger Helligkeit. Immer mehr Wagen rollten an. Er wurde von seinen Gedanken abgelenkt, gab darauf acht, daß jeder den ihm zugewiesenen Parkplatz auch einhielt, und Garry erkannte einige der Gäste aus dem letzten Jahr wieder. Man trug legere Kleidung. Ein leichter Bieranzug wäre der richtige Ausdruck gewesen, obwohl einige stockkonservative Typen auch jetzt auf eine Krawatte nicht verzichten wollten. Nur eben einem gewissen Freizeitlook angepaßt. Sir James Powell hatte er noch nicht gesehen. Dabei hatte sich der Superintendent früher stets unter den ersten Gästen befunden, an diesem Tag ließ er sich Zeit. Dafür sah er des öfteren die Dohle. Der Stimmenwirrwarr der Gäste kümmerte ihn nicht. Außerdem waren sie beschäftigt, denn Kelly servierte jedem Ankömmling ein Glas Champagner.
Die Dohle kreiste über der Lichtung. Sie glich einem unheimlichen Beobachter, der alles, was er sah, sofort an gewisse Personen weitermeldete. Garry konnte sich vorstellen, daß eine dieser Personen durchaus der Henker war. Er hatte alles vorbereitet, denn der Richtklotz war sicherlich nicht vom Himmel gefallen. Wieder dachte Carry an die Flecken auf dem Holz. Sie waren dunkel und auch in die Maserung eingedrungen, aber er wußte auch, daß sie einmal rot gewesen waren. Rot wie das Blut der Geköpften… Er bekam einen Schauer. Für einen Moment drehte sich die Welt vor seinen Augen. Beinahe wäre er noch gegen einen anfahrenden Wagen gelaufen. Im letzten Augenblick hatte der Fahrer seinen Rolls Royce gestoppt. Die rechte hintere Tür schwang auf, und ein gewisser Sir James Powell verließ die Nobel-Karosse. Der Förster trat zur Seite. Der Fahrer lenkte den Rolls in eine Kurve und rollte wieder davon. Sir James aber kam auf Garry zu. »Das war knapp, Mr. McBain.« »Ja, Sir.« »Was ist geschehen?« »Ich war mit meinen Gedanken woanders.« »Dafür habe ich Verständnis. Mr. Sinclair hat mich bereits darüber informiert, daß es hier«, er warf einen schnellen Blick über den Grillplatz, »nicht mit rechten Dingen zugehen soll.« »Das können Sie laut sagen, Sir.« »Ist denn in der Zwischenzeit wieder etwas geschehen?« »Ich weiß nicht, wie weit Sie informiert worden sind, Sir.« Der Superintendent erklärte es ihm. Garry hatte sehr genau zugehört und mußte zugeben, daß es keine Vorfälle gegeben hat. Sir James war zufrieden. »Das ist natürlich gut«, sagte er nickend, bevor er sich wieder umschaute. »Wissen Sie, viele Gäste sind bereits erschienen. Wenn ich allerdings ehrlich sein soll, vermisse ich John Sinclair und Suko.« »Sie sind auch noch nicht hier, Sir!« »So?« Die Augenbrauen hoben sich, was Ärger, aber auch Verwunderung ausdrücken konnte. »Sie werden sicher bald eintreffen. Das haben Sie mir versprochen. Noch sind Sie bei mir im Haus. Ich weiß auch nicht, was sie aufgehalten hat. Ich habe hier zu tun gehabt...ach ja, da fällt mir noch etwas ein.« Er sagte es hastig, denn Garry hatte gesehen, daß Sir James von einigen Gästen angesprochen werden sollte. »Reden Sie!«
»Ich habe einen Richtklotz gefunden. Einen sehr alten, denke ich, und ich gehe davon aus, daß es der Richtklotz dieses verfluchten Henkers gewesen ist.« Der Superintendent schwieg für einen Moment. Dann sagte er: »Sie; fanden ihn hier auf der Lichtung?« »Ja.« »Früher haben Sie ihn nie gesehen?« »Nein, Sir.« »Sicher«, murmelte der Superintendent, »sicher. Man könnte daraus schließen, daß dieser Richtklotz erst heute auf diesen Totenplatz gebracht worden ist – oder?« »Sir, das befürchte ich auch. Ich will nicht schwarzmalen, aber das Fest könnte möglicherweise anders ablaufen, als es geplant worden ist, denke ich mir.« »Das steht zu befürchten, Mr. McBain.« Der Förster war durch die Zustimmung überrascht. »Und was sollen Wir dagegen tun?« Sir James gestattete sich ein leichtes Lächeln. »Tun? Wir können nichts! dagegen tun. Wir werden abwarten müssen, wobei ich hoffe, daß sich John Sinclair und Suko bald hier blicken lassen werden. Tut mir leid, ich muß mich um die Gäste kümmern. Sollte Ihnen irgend etwas auffaller, Mr. McBain, ich bin immer für Sie zu sprechen, auch wenn ich mich gerade mit anderen Gästen unterhalten.« »Danke, Sir.« Ein Wagen fuhr an, und der Förster mußte ihn wieder einweisen. Er schaute noch einmal kurz zurück und sah Sir James in einer Gruppe von Männern und Frauen, als sie gemeinsam der Grillhütte entgegenschlenderten, wo das Fleisch bereits auf dem Rost briet. Alles war so normal, der Geruch, die Stimme, die Laune der Gäste. Ein neutraler Beobachter wäre nie auf den Gedanken gekommen, was hinter dieser Fassade lauerte. Auch Garry wartete auf Sinclair und Suko. Allein fühlte er sich überfordert. Die Leute vom Party-Service würden ihm nicht helfen können, das stand fest, er mußte mit den Problemen allein fertig werden, solange die anderen noch nicht hier waren. Allerdings fragte er sich immer stärker nach den Gründen, die zu einer derartigen Verspätung führten. Das ging sicherlich nicht mit rechten Dingen zu. Seiner Ansicht nach waren so gut wie alle Gäste erschienen. Auf dem Platz wurde bereits eine Rede gehalten. Ein weißhaariger Mann hatte sich auf eine Bierkiste gestellt und sprach einige Worte des Dankes. McBain kümmerte sich nicht um ihn, er schritt den Parkplatz ab, um zu schauen, ob alles okay war. Fehler fand er nicht. Er hatte die Fahrer gut eingewiesen, und die Wagen parkten optimal. Hier hatte er nichts mehr zu tun. Aber er würde auch
weiterhin die Augen offenhalten. So schaute er noch einmal den Weg entlang, den auch John Sinclair und Suko nehmen mußten, wenn sie von seinem Haus zum Grillplatz fuhren. Er war leer. Nur letzte, von den Reifen aufgewirbelte Staubwolken senkten sich noch dem Boden entgegen. Die Sorgen des Försters wuchsen. Er drehte sich um – und erschrak. Nur wenige Schritte von ihm entfernt hockte die schwarze Dohle mitten auf dem Weg. Den Schnabel leicht geöffnet starrte sie ihn an. Ihr Blick war frech und böse zugleich. Sie schien ihm eine Botschaft bringen zu wollen, die dem Mann Furcht einjagte. Im ersten Moment hatte er sich auch erschreckt, das aber war vorbei. Er ging einen Schritt auf den Vogel zu, der so abgebrüht war und sich nicht von der Stelle rührte. Das wunderte Garry. Er klatschte in die Hände. Ein derartiges Geräusch, das selbst abgebrühte Großstadttauben erschreckte, machte der Dohle nichts aus. Sie räumte den Platz nicht, zuckte nur mit dem Kopf und hob ihn leicht an, als wollte sie dem Feind direkt in die Augen schauen. Für den Förster stand längst fest, daß er es bei diesem Tier mit keinem normalen Vogel zu tun hatte. Diese Dohle war ein abgestumpftes und abgebrühtes Biest, zudem von einer Kraft besessen, über die er als Mensch nur den Kopf schütteln konnte, vor der er sich aber auch fürchtete. Sie wollte die Auseinandersetzung, den Kampf, und Garry sagte sich, daß sie ihn haben konnte. Er startete sehr schnell und urplötzlich. Selbst durch die Bewegung ließ sich die Dohle nicht verscheuchen. Für einen Moment breitete sie die Flügel aus und flatterte dann im richtigen Moment hoch, bevor der Tritt des Mannes sie erwischen konnte. Die Hacke ratschte über den Boden hinweg und hinterließ dort eine schmale Furche. Den Vogel erwischte Garry nicht, der aber tanzte plötzlich vor seinem Gesicht, und mit einer instinktiven Reaktion riß der Förster beide Arme hoch. Zielsicher hackte der Schnabel zu. Die beiden Hälften erwischten mit ihren Spitzen die rechte Handfläche ies Mannes. Sie rissen dort eine Wunde, die augenblicklich zu bluten begann, aber die Dohle gab nicht auf. Plötzlich flatterte sie über Garrys Kopf. Die Krallen verhakten sich in seinem Haar, während der Schnabel im selben Augenblick zweimal zuhackte und mit seiner Kraft die dünne Kopfhaut zerstörte. Der Förster fluchte und sank in die Knie. Mit den Armen schlug er um sich, erwischte die Dohle auch, die plötzlich aufschrie, was ihm wie ein Lachen vorkam. Dann flatterte sie weg und ließ sich auf einem Baum in der Nähe nieder.
McBain fluchte leise. Er tastete seinen Kopf ab. Zwischen den Haaren klebte Blut, und das Blut rann ebenfalls über seinen Handrücken hinweg, bevor es zu Boden tropfte und dort ein dunkles Muster hinterließ. Das war kein Spaß mehr gewesen. Dieser verfluchte Vogel hatte genau gewußt, was er tat. Er stand unter einem fremden Einfluß, denn Garry glaubte nicht daran, daß er aus eigenem Antrieb gehandelt hatte. Er holte ein Taschentuch hervor. Damit tupfte er sich den Handrücken ab, ohne die Blutung allerdings stillen zu können. Dafür brauchte er ein Pflaster. Er selbst besaß keines. Vielleicht hatte Kelly, die Bedienung am Getränkestand, eines. Er ging zu ihr. Sie war zu beschäftigt, um die Wünsche der Gäste zu erfüllen, die vor dem Stand standen, Bier tranken oder sich an Fruchtsäften festhielten. Es kam immer darauf an, wer fahren mußte und wer nicht. Garry McBain öffnete die Hintertür. Er blieb in deren Ausschnitt stehen und zischelte Kelly etwas zu. Die drehte sich nur kurz um. Ihre Frage klang ärgerlich. »Was ist denn?« »Hast du ein Pflaster, Mädchen?« Er zeigte ihr die Wunde. »Scheiße, wie hast du…?« »Hast du eines?« »Ja, in meiner Tasche. Sie liegt dort unten.« Es war ein großer, brauner Beutel, der seinen Platz neben einer mit Ersatzgläserh gefüllten Kiste gefunden hatte. Garry hockte sich nieder, öffnete den Beutel und wühlte mit der gesunden Hand darin herum. Es schmerzte nicht nur seine Hapd, auch der Kopf tat höllisch weh. Das Pflaster hatte er nach einigem Suchen gefunden. Die kleinen Streifen befanden sich noch in der Kunststoffschachtel, die er aufklappte. Wenig später hatte er die Wunde auf dem Handgelenk verpflastert, den Kopf ließ er so. Kelly hatte kaum Zeit, um ihm zuzuschauen. Nur einmal warf sie einen knappen Blick auf die hockende Gestalt, und sie sah auch die blutende Kopfwunde. »Himmel, was ist denn mit Ihnen geschehen! Sie sind ja auch auf dem Kopf verletzt.« »Ich weiß.« »Und?« »Das ist nicht weiter schlimm. Ich bin gefallen und dabei mit dem Schädel über tiefhängende Äste hinweggeratscht. Danke für das Pflaster, Kelly.« »Das soll ich Ihnen glauben?« Er winkte ihr noch einmal Zu und verschwand. Auch Kelly hatte weiterhin alle Hände voll zu tun. Zudem wollte er sie nicht mehr als nötjig in den Fall einweihen.
Sein nächster Weg führte ihn dorthin, wo er den Richtklotz entdeck hatte. Wieder mußte er einige Zweige zur Seite drücken, um das Ziel zu erreichen. Da sah er ihn. Er hatte seinen Platz nicht Verlassen, und doch hatte sich etwas verändert. Auf dem vorderen Rand des Richtklotzes hockt die Dohle und glotzte den Förster an. McBain erschrak Mit diesem Anblick hatte er nicht gerechnet, aber es kam noch etwas hinzu, das sein Erschrecken weiter vertiefte. Die Dohle schaffte es, mit ihm Kontakt aufzunehmen, und dies auf eine mehr als ungewöhnliche Art. Als sie den Schnabel öffnete, da drang nicht etwa ein vogeltypisches Krächzen oder Kreischen aus ihrem Maul, sondern eine menschliche Stimme, was den Förster vor Überraschung fast auf den Boden nagelte. Er hatte das Gefühl, in einem Loch zu versinken. Alle anderen Geräusche vom Grillplatz her waren für ihn plötzlich uninteressant geworden, es gab nur mehr die verfluchte menschliche Vogelstimme. »Ich kriege dich, McBain. Ich kriege alle, die ich haben will. Verlasse dich darauf...« Wer hatte gesprochen? Sein Herz schlug rasend schnell. Kannte er die Stimme? Kannte er sie nicht? Er wußte es nicht, aber durch seinen Kopf rasten die Vermutungen. Trotz seines Zustandes kam er zu einem Ergebnis. Es gab für ihn nur eine Person oder Unperson, die eine derartige Drohung gegen ihn ausstoßen konnte. Dieser Henker! Er oder sein Geist mußte sich in den Körper des Vogels geflüchtet haben, zudem hockte die Dohle auf einem für einen Henker typischen Platz, diesem Richtklotz. McBain wußte nicht, was er dazu noch sagen sollte. Er konnte diesen Vorgang nicht einmal geistig kommentieren. Er nahm ihn hin und fand auch eine Erklärung. Für ihn war die Ouvertüre zu diesem mörderischen Drama soeben eingeläutet worden. Er zog sich zurück. Plötzlich hatte er das Gefühl, erdrückt zu werden, und als er über den Grillplatz lief, da kam es ihm vor wie eine Flucht… Die Lady gehörte schon zum älteren Semester, und auch die dick aufgetragene Schminke konnte die zahlreichen Falten nicht mehr überdecken, aber die Lady hatte sich an Sir James herangemacht und sich sogar bei ihm eingehakt, was ihn beim Trinken störte. »James, es ist wunderbar. Sie haben es wieder einmal geschafft, uns die Vergnügen des Volkes näherzubringen.« »Meinen Sie, Margret?«
»Aber sicher.« Sie lachte, ließ ihre dritten Zähne blitzen und den Schmuck klimpern. Sir James war zu sehr Gentleman, um die Lady von sich zu weisen. Zudem gehörte ihr Mann zu seinen besten Freunden, und mit ihm wollte er es sich nicht verderben. »Wenn Sie meinen...« »Es ist mein Emst. Haben Sie schon etwas gegessen?« Sie schaute Sir James an. Die abstehenden Nasenflügel zitterten dabei. »Nein, Margret, man ließ mich nicht dazu kommen.« Sie bewegte sich geziert. »Damit bin ich doch nicht gemeint – oder?« »Sie natürlich nicht.« »Das wußte ich doch.« Sie zog die Krempe ihres lilafarbenen Sommerhutes ein wenig tiefer. »Wenn ich Ihnen etwas empfehlen kann, James, dann sind es die Scampis. Nicht so gut wie bei unserem EdelItaliener, aber durchaus eßbar.« »Und was ist mit der Soße?« »Delikat, James, äußerst delikat. Mit nur einem Hauch von Knoblauch. Sie brauchen später vor sich selbst nicht die Flucht zu ergreifen.« Nach diesem Witz kicherte sie wie ein kleines Mädchen, ließ ihren Begleiter dabei los, was Sir James sofort ausnützte und mit raschen Schritten auf die Grillhütte zuging. Er hatte wirklich nichts gegen Frauen, aber diese Margret konnte noch lästiger als lästig werden. Er würde dafür sorgen, daß sie ihm in Zukunft nicht mehr so leicht über den Weg lief. Tief atmete er aus. Der Griller schwitzte, aber er lächelte. Er wußte, was er seinem hungrigen Publikum schuldig war. Hin und wieder versuchte er es mit einem Witz, der auch bei den Frauen gut ankam. Sir James dachte nicht daran, dem Vorschlag der Lady zu folgen und irgendwelche Scampis zu essen. Eine Bratwurst gefiel ihm da besser, zudem würde er sich später eines der kleinen Steaks vornehmen. Er bekam die Bratwurst auf einem Teller serviert. Senf und Besteck nahm er sich selbst und suchte sich dann einen Sitzplatz, weit weg von dieser Margret. Dazu kam es nicht mehr, denn Sir James sah den Förster auf der Lichtung stehen. Der Mann winkte ihm zu und machte einen nicht eben glücklichen Eindruck. Daß ihn drei Personen ansprachen, darum kümmerte sich Sir James nicht. Schließlich war er nicht zum Vergnügen hier auf dem Grillfest. Er biß in die Bratwurst und fragte, als er den Förster erreicht hatte: »Was ist geschehen?« »Können wir reden?« »Natürlich.« McBain drehte ihm seinen Handrücken zu und lauerte auf eine Reaktion, die auch nicht lange auf sich warten ließ. »Sie haben sich verletzt?«
»Nein, Sir. Ich habe mich nicht verletzt.« Nur mühsam unterdrückte der Förster ein Zittern in seiner Stimme. »Man hat mich verletzt. Man hat mich angegriffen.« »Wer?« »Ein Vogel!« Sir James war so überrascht, daß er beinahe mit dem Stück Bratwurst den Mund verfehlt hätte. Er aß es schnell auf und staunte mit Worten. »Ein Vogel, sagten Sie?« »Ja, Sir, eine Dohle.« Der Superintendant überlegte. »Ich glaube, daß ich die gesehen habe. Es ist sowieso komisch gewesen. Ich habe hier immer nur einen Vogel umherfliegen sehen.« »Das ist er.« »Und er griff Sie an!« »Ja, am Parkplatz, aber das ist nicht alles. Ich habe ihn ein zweites Mal gesehen.« McBain legte eine Pause ein, was Sir James nicht gefiel. »Bitte reden Sie.« »Ich habe Ihnen doch von diesem Richtklotz berichtet.« »Das haben Sie.« »Dort saß die Dohle!« flüsterte der Förster und schüttelte sich. »Sie saß dort und redete mit mir.« »Was tat sie?« »Sprechen, Sir. Sie sagte: Ich...ich...kriege dich, McBain. Ich kriege alle, die ich haben will. – Sir, das war eine Drohung.« Es machte Sir James nichts aus, daß seine Bratwurst kalt wurde. Sie war uninteressant geworden. Die Worte des Mannes hatten ihn wie ein Tiefschlag erwischt. »Sir, ich habe nicht gelogen. Ich habe es mir auch nicht eingebildet. Es stimmt alles. Wenn ich ehrlich sein soll, dann muß ich sagen, daß ich hier meines Lebens nicht mehr sicher bin. Da kann ich auch für andere Gäste hier sprechen.« »Wo ist die Dohle jetzt?« »Ich habe keine Ahnung. Vielleicht sitzt sie noch auf dem Richtklotz, vielleicht auch nicht.« »Und meine beiden Männer sind noch immer nicht eingetroffen?« »Leider nicht, Sir.« Der Superintendent nickte. »Ich gebe Ihnen noch zehn Minuten. Sind Sie dann nicht hier, werden wir von einem der Fahrzeuge aus anrufen. Und sollten sie eintreffen, erzählen Sie ihnen sofort alles. Sie sollen sich um die Dohle kümmern.« »Wie denn?« Hinter den Gläsern funkelten die Augen. »Am besten sollen sie ihr den Hals umdrehen.« »Sir, das täte ich selbst gern!«
*** Wir hatten den Platz erreicht und staunten zunächst einmal über die zahlreichen Wagen. Für Sukos BMW fanden wir noch eine Lücke, auch wenn dünne Zweige über das Dach kratzten. Wir waren kaum ausgestiegen, als uns der Wirrwarr der Stimmen entgegenwehte. Die Lichtung war überflutet, selbst aus dem Wald drangen sie als Echos zurück, und ich konnte nur die Schultern heben und daran denken, daß ein derartiges Grillfest nicht im Sinne der Natur war und sich ein Förster vergewaltigt fühlen mußte. Auch die Frau eines Försters, was ich an Helens Gesicht sah, denn sie schüttelte nur den Kopf, hob aber die Schultern zum Zeichen, daß sie nichts machen konnte. Wir stürzten uns noch nicht sofort in die Trubel. Am Rand der Lichtung blieben wir stehen. Helen zwischen uns, und drei Augenpaare suchten auch die nähere Umgebung ab. Hinweise auf ein magisches Geschehen fanden wir nicht. Helen war nervös. Sie vermißte ihren Mann. »Wo kann er nur stecken?« flüsterte sie. »Hoffentlich ist ihm nichts passiert.« »Dann wäre man hier nicht so fröhlich«, sagte Suko. Ich war dafür, daß wir uns den Trubel mal aus der Nähe anschauten, und es hatten weder Suko noch Helen etwas dagegen. Allerdings die Gäste, denn die meisten von ihnen schauten uns etwas indigniert und auch überheblich an. Es war ihnen anzusehen, daß wir ihrer Meinung nach nicht zu diesem erlauchten Kreis paßten, was uns allerdings nichts ausmachte. Da standen wir drüber. Dabei waren wir es, die erwartet wurden, denn jemand winkte mi: beiden Armen und rannte auf uns zu. Es war Garry McSain, und seine Frau atmete so heftig aus wie jemand, lern ein großer Stein vom Herzen gefallen war. Beide fielen sich in die Arme, allerdings nur für einen Moment, denn der Fröster sprudelte mit seinem Bericht hervor, so schnell, daß sich die Worte überschlugen und wir ihn stoppen mußten. »Mal langsam und von vorn«, sagte ich. Er schaffte es, in weniger als zwei Minuten. Dann waren wir eingeweiht. Als Beweis seiner Erklärungen zeigte er uns seine Verletzungen, die er sich bestimmt nicht selbst zugefügt hatte. »Es war der Vogel!« behauptete er flüsternd. »Ich weiß nicht welcher, aber in ihm steckt ein unheimlicher Geist. Oder haben Sie schon mal einen Vogel erlebt, der sprechen kann wie ein Mensch?« »Nur bei Wilhem Busch«, murmelte ich. Darüber konnte keiner der anderen lachen.
»Sie müssen ihn holen. Sie müssen ihn vernichten!« drängte er uns. »Es ist die einzige Chance. Ich bin nicht dazu gekommen, und ich hätte ihm gern den Hals umgedreht.« »Das kann ich verstehen«, sagte Suko. »Wo haben Sie ihn zuletzt gesehen?« »Kommen Sie mit!« Auch Helen blieb an unserer Seite, und ihr Mann führte uns in das Gebüsch hinter dem Getränkewagen. »Es ist ein alter Richtklotz. Es ist genau der, der auch damals genommen worden war, als man die Familie hinrichtete. Ich weiß nicht, wie es passieren konnte, wie sie alles überstanden haben, ich weiß nur, daß ich, daß ich...« Er verstummte, und wir hörten aus seinem Mund nur mehr ein leichtes Heulen. Suko und ich drängten den Förster zur Seite. Endlich hatten wir Platz genug, freie Sicht, und wir schauten dorthin, wo der Richtblock eigentlich hätte stehen sollen. Er stand nicht mehr da. Nur noch der Abdruck im weichen Boden war zu sehen. So hatte ihn sich der Förster auch nicht eingebildet. Von der verzauberten Dohle sahen wir ebenfalls nichts. Ich drehte mich um. Der Förster hielt seine Frau fest. Sein Gesicht war weiß geworden. »Ich weiß es nicht, Mr. Sinclair. Es tut mir leid, ich weiß überhaupt nichts.« Ich lächelte. »Lassen Sie sich da mal keine grauen Haare wachsen, mein Lieber.« »Glauben Sie mir denn?« »Natürlich.« McBain konnte sich noch immer nicht beruhigen. »Hier hat er gestanden, verdammt noch mal! Er hat tatsächlich an diesem Fleck gestanden. Und auf ihm hat die Dohle gehockt.« »Davon mal abgesehen, Mr. McBain«, sagte Suko. »Ist Ihnen noch etwas anderes aufgefallen?« »Was denn noch?« »Ist noch etwas passiert?« »Nur mit mir, nicht mit den anderen. Sie essen, sie trinken, sie ahnen bis auf Ihren Chef von nichts. Aber ich bin überzeugt, daß noch etwas passieren wird.« »Ja, da könnten sie recht haben.« »Was wollen Sie jetzt tun?« Eine gute Frage. Die Antwort lag an Suko und mir. »Wir werden auf jeden Fall nicht zusammenbleiben«, sagte ich und schaute dabei meinen Freund an. Er nickte. »Also Trennung.« »Und wo wollen Sie hin?« fragte Helen.
Ich lächelte ihr knapp zu. »Am besten ist es für Sie und Ihren Mann, wenn Sie der Arbeit nachgehen, die Sie hier vereichten wollten, wie Sie uns auf der Fahrt hierher erzählten. Halten Sie nur die Augen offen, aber lassen Sie sich nichts anmerken. Ich könnte mir vorstellen, daß wir unter Kontrolle stehen, und mir wäre es lieb, wenn ich den Henker anlocken könnte.« »Ja, das war* wohl nicht schlecht.« Ich drängte mich an ihm vorbei. Mit Suko brauchte ich mich nicht abzusprechen, wir waren aufeinander eingespielt. Wenn Not am Mann war, würde der andere schon Bescheid bekommen. Garry hatte den Arm um die Schultern seiner Frau gelegt. Es war gut, daß er ihr Schutz gab. Sie wollte nach etwas sagen, aber Garry drehte sich mit ihr zusammen ab. »Komm, Helen...« Suko und ich blieben zurück. »Wo willst du hin?« fragte mein Freund. »Hier lang.« Ich zeigte auf den Weg. »Okay, dam nehme ich die andere Richtung.« »Und gib au die Dohle acht.« »Klar, sie war schon immer mein Lieblingsvogel. Davon habe ich mich früher ernährt. Was meinst du, wie gut eine gigrillte Dohle schmeckt, mein Lieber!« Ich sagte nichts und ging. *** Der Wald war ziemlich dicht. Man hatte ihn hier wirklich wachsen lassen und wirklich nur das Nötigste getan. Da war der Förster schon ein guter Hüter gewesen. Was für die Natur positiv sein mochte, bereitete mir Schwierigkeiten, denn ich hatte Mühe, meinen Weg zu finden. Immer wieder hielt mich das Unterholz auf. Manchmal waren die Zweige wie Gummi. Wenn ich sie zurückgebogen hatte, schnellten sie sofort wieder in ihre ursprüngliche Richtung und peitschten gegen mich. Uber mir wuchs das frische, dichte Laub wie ein Himmel, der den eigentlichen fast verdeckte. Die Sonne hatte auch die Welt unter den Bäumen aufgeheizt, so daß es im Wald ziemlich schwül war. Die Insekten waren alle geschlüpft und zu dieser Zeit immer wieder auf Nahrungssuche. Da kam ihnen meine Haut gerade recht. Die Mücken umschwirrten mich wie winzige Tänzer, die hin und wieder zustießen, um sich Beute zu holen. Der Wald diente zugleich auch als schallhemmende Schutzwand. Ich hörte die Stimmen der Grillfest-Gäste zwar, aber sie waren nicht mehr als eine murmelnde Kulisse, deren Gleichförmigkeit nicht verging, je tiefer ich mich auch in das Gelände hineinbewegte.
Hatte ich Suko den Rat gegeben, auf eine Dohle zu achten, so tat ich das gleiche. Nur hatte ich Pech. Ich entdeckte weder diesen schwarzen Vogel, noch einen anderen. Wer immer als gefiederter Freund in diesem Wald lebte, er hatte die Flucht ergriffen. Die Vögel waren nicht so dumm wie die Menschen, sie hatten die Gefährlichkeit des Totenplatzes erkannt. Zu tief wollte ich nicht in das Gelände eindringen. Sollte sich der Henker tatsächlich hier aufhalten, dann sicherlich nahe der Lichtung, von wo aus er die Gäste beobachten konnte. Die amüsierten sich prächtig, und auf dem Grill brutzelte das Fleisch. Der Wind trieb den Geruch bis in den Wald hinein und versaute meiner Ansicht nach die Luft. Ich blieb plötzlich stehen. Den genauen Grund konnte ich selbst nicht nennen, ich hatte nur den Eindruck, in ein anderes Gebiet gelangt zu sein. Es hatte sich etwas verändert, allerdings nicht sichtbar, sondern mehr vom Gefühl ausgebend. War es kühler geworden? Ich strich über mein Gesicht, wo sich der kalte Schweiß an die Haut Geklammert hatte. Dann schaute ich mich um. Hinter mir schien sich der Wald geschlossen zu haben, vor mir, wo die Bäume nicht so dicht standen, gab es genügend Lücken, durch die das Sonnenlicht schien. Es fiel in den Wald hinein wie heller Schleier, und es breitete sich zwischen den Bäumen aus wie ein dünner Vorhang, in dem auf einmal eine Bewegung zu sehen war. Unwillkürlich hielt ich den Atem an. Natürlich dachte ich an den Henker, weil sich um ihn alles drehte. Da aber irrte ich mich, denn in den Sonnenschleier erschienen gleich vier Personen. Ein Mann, eine Frau und zwei Kinder – die Templer-Familie. Vier Geköpfte, deren Körper längst vermodert waren, die aber trotzdem in einem anderen Zustand überlebt hatten. Cynthia hatte die Puppe unter ihren linken Arm geklemmt. Die rechte Hand hatte sie in die ihrer Mutter geschoben, als könnte diese Frau ihr einen besonderen Schutz geben. Ich konzentrierte mich auf Derek Ashford, und er schaute nur mich an. In diesem Augenblick wurde mir klar, daß ich dicht vor der Lösung des Falles stand. Das Erscheinen dieser geisterhaften Familie kam mir endgültig vor, wobei nur einer fehlte, der Henker. Und ihn vermißte ich nicht. Außerdem wollte Derek Ashford mit mir Kontakt aufnehmen, denn er löste sich plötzlich und blieb wie ein Gespenst im Unterholz zwischen den Bäumen hängen. Ich wartete und holte sicherheitshalber mein Kreuz aus der Tasche. Für mich sollte das Kreuz eine Templer-Brücke bauen, denn diese Familie, die so Schreckliches hatte durchleiden müssen, war mir sympathisch.
Es war still zwischen uns. Der Lärm des Grillplatzes lag weit zurück, es gab nur uns vier und die ersten Worte Derek Ashfords, die geisterhaft zischelnd auf mich zuschwangen. »Das ist der Tag der Rache, denn heute wird das Versprechen des großen Hector de Valois endlich eingelöst...« *** Es war Lady Margret egal, daß sie sich nicht mehr so sicher auf ihren Beinen bewegte, was beileibe nicht an den Scampis lag, sondern an dem genossenen Champagner und auch an der Wärme, die selbst der Sonnenhut nicht hatte abhalten können. Ihr Durst war noch längst nicht gelöscht. Mochten viele der männlichen Grillgäste auch Bier trinken, sie hielt sich an Champagner. Ein teures Getränk, fürwahr. Da ihr Gatte in der letzten Zeit an der Börse etwas Pech gehabt hatte, mußten sie sich ein wenig einschränken. Zwei Häuser hatten sie bereits verkauft, die Schulden drückten trotzdem, und in Lady Margrets Keller neigte sich der Vorrat an edlem Champagner allmählich dem Ende entgegen. Heute fühlte sie sich beschwingt. Von der Grillhütte bis zum Getränkewagen hatte sie einige Yards zu laufen. So einfach legte sie die Strecke nicht zurück. Immer öfter blieb sie stehen, sprach mit den Gästen, lachte viel zu laut, und es machte ihr auch nichts mehr aus, daß der Hut nicht mehr so ordentlich auf ihrem Kopf saß, wie sie es sonst von sich gewohnt war. Sie wollte das Leben noch einmal genießen. Wer konnte schon sagen, wann alles wieder normal lief? Lady Margret fiel gegen den Getränkewagen, stützte sich ab und lachte dabei. Ihr Mund war breit wie eine Wunde, und die Schminke war an den Rändern verlaufen. Ihre Augen hatten längst die Klarheit verloren, aber sie konnte die Champagnerflaschen noch erkennen, deren Hälse aus dem großen Eiskübel hervorragten. »Davon«, sagte sie und deutete auf den Kübel. »Champagner oder Sekt?« »He«, drohte sie. »Was soll das denn heißen? Sehe ich so aus, als würde ich Sekt trinken?« »Pardon, Madam, natürlich nicht!« Kelly bemühte sich um Freundlichkeit. »Aber es gibt einige Gäste, die auch Sekt trinken.« »Zu dieser Schicht gehöre ich nicht.« »Natürlich, Madam.« Kelly lächelte sie an und dachte das Gegenteil Für sie war diese Tante nicht mehr als eine widerliche Tücke, die hier die große Frau markierte, wobei sicherlich nicht viel dahintersteckte. Sie bekam ihr Glas, und als Margret danach schnappte, schwappte etwas Champagner über. Er rann eiskalt über ihre Hand. »Passen Sie doch auf, Sie...Sie...«
»Sorry.« »Schon gut. Margret wandte sich ab. Wieder zu heftig, denn abermals perlte das Zeug über. Sicherheitshalber nahm sie einen Schluck, noch einen zweiten, um verwundert totzustellen, daß ihr Glas bereits leer war. Sie ließ es erneut füllen. »Ja, das tut gut.« Diesmal trank Margret nur einen kleinen Schluck. Mit dem Glas in der Hand wanderte sie weiter in Richtung Grillhütte. Eigentlich hätte sie noch gern von den Scampis gegessen, aber sie war so satt, daß sie kaum noch einen Bissen runterkriegen würde. Sie nahm sich vor, das wenige, das sie essen wollte, einfach flüssig zu sich zu nehmen. Einige Gäste gingen ihr bewußt aus dem Weg, als sie Margret ankommen sahen. Mit dem lilafarbenen Hut und dem strohgelben Kleid dazu machte sie auch einen zu komischen Eindruck. Einen bunten Vogel gab es auf jeder Fete. Ihr Mann hielt sich vornehm zurück. Geriet Margret in sein Blickfeld, tauchte er lieber weg. Man kannte ihn, man kannte seine Gattin und würde ihm keine Schuld geben. Die gab er sich selbst. Schließlich war er so blöd gewesen, sie zu heiraten. Selbst der leicht benebelten Lady fiel auf, daß kaum jemand bereit war, mit ihr zu sprechen. Immer wenn sie einen Gast anredete, drehte der sich ab. Die einen lächelten noch, die anderen verzogen keinen Gesichtsmuskel und taten so, als gäbe es sie nicht. Sie wurde wütend. Die haben genau gemerkt, daß wir Pech an der Börse hatten. Die mögen uns nicht mehr, weil wir ein paar Pfund verloren haben. Diese verdammten Geier. Vor Monaten noch drängelten sie sich, wenn wir eine Einladung aussprachen. Jetzt aber tun sie so, als würde es mich und meinen Mann nicht mehr geben. Die sollten sich wundern. Es würden auch noch andere Zeiten kommen, ganz bestimmt, ganz bestimmt… Ihre Gedanken schwammen, und so ähnlich sahen auch ihre Füße aus, wenn sie lief. Die Sonne leuchtete kraftvoll die Lichtung aus. Schattiger war es da schon an den Rändern, dort wollte Margret auch hin, sich niedersetzen und sich erst mal ausruhen. Abrupt und trotzdem schwankend blieb sie stehen. »Huch, was ist das denn?« Sie hatte das mächtige Hindernis vor sich im letzten Augenblick erkannt und auch festgestellt, daß sie beinahe gegen einen dicken Baumstumpf gelaufen wäre. Daß es ein alter Richtklotz war, konnte sie nicht wissen. Für die Frau war es ein Platz zum Ausruhen. Sie ging einen Schritt zurück, bevor sie sich
behutsam drehte und auch darauf achtete, nicht zuviel von ihrem Getränk zu verschütten. Dann ließ sie sich vorsichtig nieder und stöhnte zufrieden auf, als sie sich setzte. Himmel, das tat gut. Es war herrlich. Margret streckte die Beine weit von sich und stemmte die Hacken gegen den Boden. Das Glas hielt sie mit beiden Händen fest. Für einen Moment schloß sie die Augen und wunderte sich darüber, daß sich ihr kleine Welt plötzlich drehte. Margret kam sich vor, als würde sie wegschwimmen. Es dauerte eine Weile, bis sie sich wieder gefangen hatte und die Augen öffnete. Ihr Blick glitt dorthin, wo die Grillgesellschaft stand. Sie amüsierten sich, sie redeten miteinander. Die Frauen lachten, die Männer hatten auch ihren Spaß. »Sollen sie...sollen sie doch...«, murmelte sie. »Mich können Sie alle mal kreuzweise.« Ihr Kopf sank nach vorn, und wieder sah sie so aus, als wollte sie einschlafen. Soweit kam es nicht. Etwas störte sie. Zuerst hatte sie nicht darauf geachtet, weil ihr das Geräusch einfach zu fremd klang. Als es nicht verschwinden wollte, hob sie den Kopf und öffnete mühsam die Augen. In ihrer Nähe flatterte etwas! Margret verzog wütend das Gesicht. Sie mochte dieses Geräusch nicht. Es störte sie. Die Frau wollte ihre Ruhe, aber der Wunsch wurde nicht erhört. In das Flattern mischten sich andere Laute. Schrill, kurz, kräftig und schreiend. Plötzlich erwischte ein Schlag den Hutrand. Der Hut selbst verlor seinen Halt und flog ihr vom Kopf. Margret schnappte nach der Kopfbedeckung, griff jedoch ins Leere und wurde sauer. Die Motorik ihrer Bewegungen stimmte einfach nicht. Die Macht des Alkohols über den Menschen behinderte sie schon. Sie war zu langsam, ärgerte sich auch darüber. Das Glas, das sie neben sich auf den Klotz gestellt hatte, war umgekippt. Der Inhalt hatte sich auf dem Boden verteilt. Sie wäre am liebsten aufgestanden und fortgelaufen. Das wiederum brachte Margret nicht fertig. Da lag das Blei in den Beinen, das sie müde gemacht hatte. So schaffte sie nur, den Kopf zu heben und nach vorn zu schauen. Da erst sah sie den Störenfried. Es war ein Vogel! Pechschwarz und wegen der ausgebreiteten und sich bewegenden Flügel noch mächtiger wirkend. Sie sah auch den langen, sehr kräftigen, etwas nach vorn gebogenen und spitzen Schnabel, der aussah, als
lägen zwei Messerspitzen aufeinander. Für einen winzigen Moment starrte sie in die Augen, die ihr vorkamen wie die Augen eines Mörders. Er war groß, er war häßlich, er tanzte vor ihr in der Luft und nahm Margrets gesamtes Blickfeld ein. Für sie war er ein Monstrum, und die Frau riß im Sitzen die Arme hoch. Auch diese Bewegung war nicht so schnell wie im nüchternen Zustand, bei ihr ging eben alles langsamer. Im Gegensatz zu den Reaktionen des Vogels. Er biß zu! Margret spürte etwas an ihrem rechten Zeigefinger. Da war plötzlich alles taub. Gleichzeitig flog der Vogel weg, er schrie dabei seinen Triumph hinaus, und die Frau senkte die Arme. Natürlich auch den rechten. Sie schaute dorthin, wo sich ihr Finger befand oder befunden hatte, denn von ihm sah sie nur mehr die Hälfte. Die andere war weg. Abgebissen. Sie klemmte im Schnabel des Vogels. Mit diesem Wissen erwischten sie der Schmerz und der Schock. Beides traf gleichzeitig zusammen, und sie sah auch das Blut, das aus dem halben Finger spritzte. Wie gebannt blieb die Frau sitzen. Und dann schrie sie, schrie und schrie… *** Was hatte Hector de Valois >versprochen<, Rache? Vor oder nach dem Ende der Familie? Ich konnte es drehen und wenden, ohne zu einem Ergebnis zu gelangen. Diese Templer-Familie war nicht tot, zumindest nicht richtig, sie lebte in einer Scheinwelt weiter, die sie nun verlassen hatte, um es zur endgültigen Abrechnung mit dem Henker kommen zu lassen, der sich selbst nicht gezeigt hatte. Dafür sah i:h die Eltern und die Kinder, die in den Strahlen der Sonne wie neblige Gestalten standen, als wären sie von Himmel herabgefallen. Ich schaute sie an und spürte keine Fremdheit. Sie waren mir veitraut, als hätte ich schon immer mit ihnen zu tun gehabt. Der Begriff einer gewissen Verwandtschaft kam mi in den Sinn, gepaart mit einer Hilflosigkeit, die mir von ihnen entgegenströmte. Sie hatten sich auf Hector de Valois verlassen. Ihm allerdings war es nicht mehr ermöglicht worden, sein Versprechen in die Tat umzusetzen, und nun stand – Jahrhunderte später – jemand vor ihnen, den sie mit de Valois identifizierten, weil er eben das Kreuz besaß. Der Gedanke daran zwang mich dazu, wieder einen Blick auf mein Kreuz zu werfen. Es gleißte noch immer. Aber nicht weil ich es aktiviert hatte, es lag allein an den Strahlen der Sonne, die für diese Reflexe sorgten.
Durch die Sonne und auch durch die Strahlen des Kreuzes fühlte ich mich geschützt oder wohl, und ich wartete voller Spannung darauf, was mir diese vier zu sagen hatten. Sie standen da und wirkten beinahe wie Heiligenfiguren, die sich vom Licht der Sonne bescheinen ließen, um mir zu zeigen, in welch einer Helligkeit sie sich aufhielten. »Ich bin nicht Hector de Valois«, sagte ich. »Ich bin es nicht. Ihr habt euch geirrt. Hector ist seit einigen Jahrhunderten nicht mehr am Leben. Ich kann es deshalb nicht sein.« »Er hat etwas versprochen!« wisperte sie mir zu. »Ja, er hat etwas versprochen. Er war ein Templer, ebenso wie ich.« Jetzt wußte ich, daß Derek Ashford sprach. »Wir haben uns einige Male getroffen. Es waren immer heimliche Treffen, bei denen wir uns verhalten mußten wie Verschwörer. Hector bekämpfte das Böse, er war immer auf der Suche nach Baphometh, der viele seiner Freunde auf den falschen Weg geführt hat. Und er mußte sich auch vor anderen Häschern in acht nehmen, die versuchten, auch die restlichen Templer zu vernichten. Viele Orden hielten zusammen, es ging um Macht und Geld, aber Hector de Valois und viele andere Getreue hatten den echten Glauben nicht verloren. Er war etwas Besonderes. Er hat zu uns immer davon gesprochen, daß er, auch wenn er einmal nicht mehr war, immer präsent sein würde. Aber anders. Begraben, versteckt und trotzdem vorhanden. Tot und lebendig zugleich, in einer Form, wie sie von der Mehrzahl der Menschen nicht unterstützt werden konnte...« Mir rann es bei diesen Worten kalt über den Rücken, denn ich wußte sehr gut, worüber dieser Derek Ashford gesprochen hatte. Ich hatte erlebt, daß Hector de Valois sein Versprechen eingelöst hatte. Denn ich wußte, daß er als silbernes Skelett in der Kathedrale der Angst lag und sein schützendes Fluidum über meine Templer-Freunde in Alet-les-Bains ausgebreitet hatte. Mein Nicken irritierte Derek Ashford, und er wisperte mir zu. »Du bist mit mir einer Meinung?« »Ja, weil ich ihn kenne. Deshalb brauchst du mir nicht zuviel von ihm zu berichten. Ich bin nicht Hector des Valois, aber ich bin es irgendwo trotzdem, denn er ist in mir wiedergeboren worden, und ich befinde mich im Besitz seines Kreuzes, das vor noch längerer Zeit einmal einem Richard Löwenherz gehört hat. Aber das tut hier nichts zur Sache. Ich will, daß ihr eure Totenruhe bekommt, deshalb bin ich hier, und ich möchte mehr über euch erfahren.« »Das kannst du. Wir sind aufrecht in den Tod gegangen, denn wir wußten, daß das wahre Leben erst danach beginnt. Aber wir wußten auch, daß unser Tod etwas Besonderes sein würde, allein bedingt durch die Macht des Hector de Valois. Er hat mich in große Geheimnisse eingeweiht. Er hat mir erklärt, daß das Böse nicht über das Gute siegen kann. Daß es irgendwann einmal zu einer Abrechnung kommen wird.
Wir wurden geköpft, aber unsere Geister lebten weiter. Unsere feinstofflichen Körper haben nichts vergessen. In ihnen war all das gespeichert, was man uns als Lebende mit auf den Weg gegeben hatte. Wir waren Gerechte, wir sind wegen der ungerechten Sache gestarben, aber wir haben uns vorbereiten können. Wir wußten viel später, daß es auch der Henker nicht geschafft hatte...« »Kam er auch aus dem Totenreich zurück?« Ich stellte die Frage, obwohl die Antwort eigentlich auf der Hand lag. Die Überraschung erlebte ich bei der Antwort. »Nein, er ist nicht gestorben.« »Wie?« Ich kam mir dumm vor. »Er überlebte.« »All die Zeiten?« »Ja.« Scharf atmete ich ein. »Das möchte ich gern erklärt haben. Das will ich wissen.« Derek Ashford nickte mir zu. »Du sollst es erfahren. Er hat überlebt, er hielt sich versteckt, und er wird erst sterben können, wenn auch wir in das Reich eingehen, in das wir schon so lange gehören.« »Also wenn er nicht mehr ist, werdet ihr eurer wahren Bestimmung zugeleitet.« »So sieht es aus. Noch warten wir auf das Versprechen des Hector de Valois, und wir waren sicher, daß wir irgendwann einmal den Weg zum Ziel finden würden. Wir haben dich getroffen, du hast uns getroffen, jetzt stehen wir hier an diesem blutigen Ort, der sehr wichtig für uns ist und auch für den Henker.« »Warum?« »Der Totenplatz hat eine besondere Bedeutung. Der Henker hat seine Opfer gern hierher gebracht, denn dieser Ort war schon seit Urzeiten verflucht, was die meisten Menschen nicht wußten. Er gehörte zu den höllischen Plätzen auf der Erde, und auch wenn in der Nähe Häuser standen, so haben sie ihm nichts von seiner bösen Macht nehmen können. In einem großen Krieg sind die Häuser zerstört worden. Alles brannte nieder, aber der Totenplatz blieb, und es wuchsen im Laufe der Zeit die Bäume zu einem dichten Wald zusammen. Von dem Dorf ist nichts mehr zurückgeblieben. Vielleicht wirst du Ruinen finden, wenn du tief gräbst, aber zwischen den Bäumen findest du keine Reste mehr. Nur ist die Magie des Platzes geblieben. Sie hat kein Feuer zerstören können.« Ich schluckte. Das hörte sich wahnsinnig interessant an, und die Gänsehaut auf meinem Körper hatte sich verstärkt. Mit einer Hand fuhr ich über mein Haar. In der anderen lag noch immer offen mein Kreuz – der große Beschützer.
»Er ist also nicht tot. Er ist an diesen Platz gefesselt. Er hat sich kaum von ihm lösen können. Warum? Was hat diesen Totenplatz zu dem gemacht, was er heute ist?« »Eine schreckliche Magie.« »Das ist mir zuwenig.« »Die Magie ist uralt, so alt wie die Zeiten, als es diese Welt noch nicht so gab. Man hat nur flüsternd darüber gesprochen, nur wenige wußten Bescheid, und mein Freund Hector de Vilois gehört zu den Wissenden. Ihm war es bewußt, er hat die riesigen Gefahren erkannt, ohne sie allerdings stoppen zu können. Der Platz war älter, viel älter, als wir damals annehmen konnten. Er ist schon immer ein Treffpunkt gewesen.« »Von wem?« »Ein Treffpunkt für eine bestimmte Gruppe von Dämonen. Vielleicht für die gefährlichste von allen...« Mir kam ein bestimmter Verdacht, den ich allerdings nicht aussprach, weil ich Derek Ashford reden lassen wollte. Und er enttauschte mich auch nicht, denn er sagte: »Er war ein Treffpunkt für die Kreaturen der Finsternis...« Die Dohle hatte den Finger! Er klemmte als wertvolles Beutestück zwischen den beiden Schnabelhälften, und sie war mit ihm hoch in die Luft gestiegen, als wollte sie noch einmal triumphieren. Vom Schnabel tropfte das Blut. Es klatschte in die Tiefe und erwischte auch den einen oder anderen Grillgast, der diesen schaurigen Regen erst gar nicht wahrnahm. Man war mit sich selbst beschäftigt, man sprach, man aß, trank und lachte, denn das Grillfest lief allmählich seinem Höhepunkt entgegen. Es waren doch noch mobile Toiletten herangeschafft worden, und alles wies darauf hin, daß sich dieses Fest bis in die Dunkelheit hineinziehen würde. Das störte die Dohle nicht. Hoch über der Grillhütte zog sie ihre Kreise, die Beute im Schnabel. Aus ihren kalten Augen schaute sie auf die Lichtung nieder, als suchte sie nach einem bestimmten Ort, wo sie sich mit ihrem makabren Beutestück niederlassen konnte. Die Menschen näherten sich, wuchsen. Der Vogel hörte die Stimmen, der Vogel sah die Bewegungen, und er roch auch den Rauch, der vom Grillfeuer in die Höhe stieg. Durch einen Kamin auf dem Dach der Grillhütte konnte er sich drücken, und er legte sich wie ein Schleier über den alten Totenplatz zwischen den Bäumen. Alles paßte, bis auf die Schreie.
Kein Tier gab sie ab, niemand, der sich im Geräusch versteckt hielt. Der Vogel hörte sie sehr genau, denn es waren die gellenden Schreie einer verletzten Frau. Ob sie auch von den Gästen wahrgenommen wurden, störte die ungewöhnliche Dohle nicht. Sie war bereit, den Schrecken zu verbreiten, und sie tauchte plötzlich dem Boden der Lichtung entgegen. Blitzschnell war sie. Fast wie ein Stein fiel der Vogel nach unten, und einen Moment später jagte er in Kopfhöhe und in genau abgezirkelten Kurven zwischen den Menschen hinweg, um dann in das Innere der Grillhütte zu tauchen. Da erst wurde er wahrgenommen. »Wo kommt der Vogel her?« schrie ein Mann, schlug um sich und hatte sein Fleisch vergessen, das auf dem Teller lag. Es rutschte zu Boden, er selbst wandte sich vom Schwenkgrill ab, hinter dem ein Mann stand, der Nachschub auf den Rost legte. Die Arbeit vergaß er. Plötzlich erschien vor ihm und über dem Grill ein flatterndes Etwas. Der Vogel wußte sehr genau, was er zu tun hatte, denn er blieb für einen Moment an derselben Stelle, dann öffnete er seinen Schnabel, und einen Augenblick später rutschte die Beute hervor. Die blutige Fingerhälfte landete mitten auf dem Grill. *** Garry McBain hatte seinen Auftrag nicht vergessen. Immer wieder unterbrach er seine Arbeiten, um sich umzuschauen. Hin und wieder trafen sich seine und die Blicke des Superintendenten. Dann nickte er jedesmal, zum Zeichen, daß alles in Ordnung war. War es das wirklich? Der Förster fühlte sich unwohl, und seine Frau ebenfalls, die an seiner Seite war, so oft sie konnte. Sie räumte Gläser ab, spülte auch oder füllte die Kühlung auf. In einer kurzen lause ging sie zu ihrem Mann, der sich mit einem älteren Herrn unterhielt. »Ein schönes und gelungenes lest, Mr. McBain, ich gratuliere Ihnen.« »Danke sehr.« »Es wird noch länger dauern, denke ich mir. Hoffentlich haben Sie genügend Nachschub.« Der weißhaarige Mann lachte und hob sein Bierglas an, bevor er sich abwandte. Helen sah, wie ihr Mann die Augen verdrehte, dann sprach sie ihn an. »Nun, was hast du?« Er hob die Schultern. »Was soll ich haben?« »Du bist nervös.« »Du nicht?« »Und wie.«
Garry nickte. »Ich habe mich umgeschaut, aber keine Spur von Sinclair und Suko.« »Die sind doch im Wald.« »Schon sehr lange.« Helen hob die Schultern. »Was willst du tun? Ihnen doch nicht nachgehen, denke ich.« »Nein, nein, dazu wird es nicht kommen.« Er räusperte sich. »Trotzdem ist es komisch.« »Das stimmt.« Der Förster schaute in die Höhe. Er hatte für einen Moment an den Vogel gedacht, und als er den Kopf hob, sah er die Dohle plötzlich über den Platz hinwegsegeln. Sie war dabei, zur Landung anzusetzen, er konnte den Flug gut verfolgen, und er stellte fest, daß sich an dem Tier etwas verändert hatte. Zuerst wußte es nicht, was es war. Als die Dohle die Höhe der Grillhütte erreicht hatte, sah er, daß dieses Tier etwas im Schnabel hielt. Genaueres erkannte er nicht. Dafür hörten die beiden McBains einen schrillen Frauenschrei aus dem Hintergrund. Bevor sie sich darum kümmern konnten, geschah etwas anderes. Der Vogel huschte mit seiner Beute in die Grillhütte hinein. Was er dort tat, war für die McBains nicht zu sehen, aber Garry hatte einen bösen Verdacht. Er rannte los. Schon nach dem dritten Schritt drangen ihm die gellenden Schreie aus der Grillhütte entgegen… *** Auch Suko war unterwegs. Er hatte die entgegengesetzte Richtung zu seinem Freund John Sinclair eingeschlagen und bahnte sich ebenfalls seinen Weg durch den Wald. Er versprach sich nicht viel davon und konnte deshalb auch nicht enttäuscht werden. Er glaubte auch nicht, daß diese Templer-Familie gerade bei ihm erscheinen würde,dazu war die Verbindung zu seinem Freund zu dicht. Aber dieser Wald kam ihm nicht geheuer vor. Dabei war er völlig normal, denn die hohen Bäume standen dicht an dicht, sie bildeten ein großes Dach, denn ihr Geäst krallte sich zusammen, und es sah beim ersten Hinsehen so aus, als klebten selbst die Blätter aneinander. Der Lärm des Grillplatzes hatte sich hinter ihm verflüchtigt. Suko kannte diese Gegend nicht, er wunderte sich schon jetzt, wie groß sich dieses Waldstück hinzog. Es war ein idealer Unterschlupf auch für einen Killer wie diesen verfluchten Henker.
Der Boden war noch nicht trocken. Vor drei Tagen hatte es die letzten Regengüsse gegeben. An manchen Stellen erinnerten Pfützen daran. Von einer normalen Wärme war hier nicht viel zu spüren. Zwar hatte sie sich auch hier verfangen, aber nur für eine dumpfe, leicht stickige Feuchtigkeit gesorgt. An manchen Stellen stiegen sogar Nebelfahnen hoch. Zu weit wollte Suko nicht gehen. Er konnte sich denken, daß es auch den Henker nicht so weit in den Wald zog. Er mußte immer einen Ort haben, von dem er aus beobachten konnte. Suko blieb stehen. Unter seinen Füßen breitete sich noch altes, weiches Laub aus, das den Boden zu einem Teppich machte. Bäume warfen Schatten, die sich wiederum mit anderen verfingen. Reste des blauen, sonnigen Himmels lugten durch Lücken im dunklen Dach. Kein Vogel zwitscherte. Es herrschte eine seltsame Stille. Er schaute sich um. Kein Tier bewegte sich in seiner Nähe. Er hätte im Prinzip beruhigt sein können, das aber war er nicht. Er hatte das Gefühl, als wäre jemand dabei, sich ihm zu nähern. Er konnte dieses Jemand nicht in Worte fassen und erfand deshalb den neutralen Begriff ES. Ja, ein ES. Etwas Hinterlistiges, Grausames und Böses zog allmählich seinen Kreis um den Platz, an dem sich Suko aufhielt. Der Inspektor blieb cool. Er wußte genau, was er zu tun hatte und griff zur Dämonenpeitsche. Er holte sie hervor und schlug einmal den berühmten Kreis. Drei Riemen rutschten aus der Öffnung. Für einen Moment klatschten sie auf den Boden, wirbelten Laub hoch, dann zog Suko seine Peitsche wieder zurück und steckte sie ausgefahren in den Gürtel. Er wollte beide Hände frei haben. In den letzten Sekunden war ihm der Gedanke an die Nähe des Henkers immer stärker gekommen. So stark, daß für ihn die Begegnung dicht bevorstand. Wer so sensibel war wie Suko, der spürte die andere Kraft deutlich, auch wenn er selbst nicht angegriffen wurde. Er suchte sich einen anderen Platz, wo er eine bessere Deckung hatte. Die Baumstämme luden ihn ein, und so lautlos wie möglich huschte Suko auf einen zu. Er ging daneben in die Hocke. Er schaffte es, sich zu konzentrieren. Alle normalen oder üblichen Gedanken aus seinem Gedächtnis zu verbannen. Ihm kam es einzig und allein auf diesen Feind an. Das Böse näherte sich. Suko hörte noch kein Geräusch, aber die Atmosphäre hatte sich verdichtet. Ein Dämon, wie auch immer, verbreitete stets eine gewisse Aura um sich herum, und genau die war von Suko zu spüren.
War der Henker schon da? Plötzlich stieß Suko die Frage bitter auf, denn er rechnete auch damit, daß ihn diese Gestalt passiert haben konnte. Der Wald war eben dicht, er konnte nicht überall hinschauen, und das plötzliche Knacken, das sich mehrmals wiederholte, drang aus einer Richtung, die ihm gar nicht gefiel. Es war vor ihm angeklungen. Also war der Henker schon vorbei. Suko ärgerte sich, daß er so unaufmerksam gewesen war. Er wollte dies allerdings ändern. Er schob sich in die Höhe und wußte jetzt, in welche Richtung er zu gehen hatte. Nach vom. Wieder der Lichtung zu, wo die Menschen auf dem Totenplatz ihr Grillfest feierten und noch fröhlich waren, was sich bestimmt bald ändern würde, wenn der Henker erschiet. Er huschte weiter, bewegte sich möglichst lautlos, denn ein Dämon wie diese Gestalt war sicherlich mit Ohren ausgerüstet die schon modernen Sensoren glichen. Er hatte auch die Schreie einer Frau gehört. Zuerst sehr laut und schrill, dann leiser werdend, aber das war nicht das eigentliche Problem. Die Schreie waren ausgerechnet aus der Richtung gekommen, in die sich der Henker und jetzt auch er gewandt hatten. Da braute sich etwas zusammen. Noch sah Suko nichts. Er ging den Geräuschen nach. Mal ein Schleifen, dann das Rascheln von altem Laub hier und da ein Knacken, wenn ein Zweig umgebogen wurde. Er verließ auch die Dichte des eigentlichen Waldes, und seine Umgebung wurde lichter. Die Sonne hatte mehr Platz. Sie schickte ihre Strahlen durch das dünner gewordene Blätterdach, sie hinterließ auf dem Waldboden helle Tupfen, und auch die Geräusche des Grillplatzes erlebte Suko jetzt lauter. Das alles war ihm plötzlich egal, als er nicht weit vor sich, aber trotzdem zu weit entfernt, den Schatten sah. Einen Umriß, der aussah wie der eines Menschen. Trotz der relativen Nähe war er von Suko kaum zu erreichen. Zu viele Hindernisse befanden sich zwischen ihnen. Er würde auch nicht lautlos an ihn herankommen. So beschränkte sich der Inspektor zunächst auf ein möglichst lautloses Verfolgen. Und er hörte etwas. Diese Geräusche gefielen ihm überhaupt nicht. Das Stöhnen und Wimmern drang zwar nur leise an seine Ohren, aber es war nicht zu überhören, und wenn ihn nicht alles täuschte, wurde es von einer Frau abgegeben. Hatte diese Frau nicht auch geschrien?
Er machte sich keine Gedanken darüber, denn er dachte an den Henker und an die Frau. War sie nicht ein ideales Opfer? Suko bewegte sich schneller. Er sah die Gestalt plötzlich vor sich. Sie drehte ihm noch den Rücken zu und war dabei, mit dem linken Arm ein im Weg stehendes Hindernis zur Seite zu schieben. Suko hörte das Knacken der Zweige, dann das dumpf klingende Auftreten eines Fußes, und durch die Seitwärtsbewegung der Zweige hatte er ein besseres Sichtfeld bekommen. Suko schaute auf den breiten Rücken des Henkers! Für einen winzigen Moment stockte ihm der Atem. Auch wenn er damit gerechnet hatte, so war er doch von dieser plötzlichen Konfrontation überrascht worden. Vom Kopf dieser Gestalt sah er nichts, denn er wurde von einer dunklen Kapuze verhüllt, die bis auf die Schultern reichte. Die Zweige schnellten hinter dem Henker wieder zusammen. Gerade noch rechtzeitig hatte Suko erkannt, wie sich der rechte Arm der Gestalt in die Höhe bewegte, und mit ihm war das mächtige Beil halbhoch gefahren. Die Klinge war so gewaltig, wie Suko noch nie zuvor eine gesehen hatte. Damit konnten Baumstämme durchgehackt werden. Das hatte der Henker nicht vor, fr wollte die auf einem Holzklotz sitzende Frau, ging noch näher heran und hob seine Waffe. Suko konnte selbst nicht eingreifen. Er war einfach zu weit entfernt. Die Frau war schon jetzt tot, wenn...ja wenn Suko nicht seinen Stab besessen hätte. Er holte ihn heirar, und dann brauchte er nur noch ein Wort zu rufen, um die Veränderung herbeizuführen. »Topar!« *** Die Kreaturen der Finsternis! Endlich hatte ich die Lösung, die mich eigentlich gar nicht so überraschte. Ich hätte es mir denken können, als von dem uralten Bösen gesprochen worden war, und ich wußte auch, wie dieser Henker all die Jahrhunderte hatte überleben können. Eben als Kreatur der Finsternis, sein wahres Aussehen unter einer Maske verborgen und in diesem Fall sogar doppelt, denn der Henker trug die Kapuze. Auch Ashford erkannte, daß er mich überrascht hatte, und seine hohe Stimme erreichte mich wieder. »Du hast von den Kreaturen der Finsternis gehört?« »Ja«, murmelte ich. »Leider kenne ich sie.« »Auch Héctor kannte sie.« »Das kann ich mir denken.«
»Aber er hat es nicht geschafft, den Henker zu vernichten. Er wollte es immer, aber er ist nie so dicht an ihn herangekommen, denn auch andere schützten ihn.« »Wie heißt er?« »Der Henker?« »Ja.« Derek Ashford schüttelte den Kopf. Es sah so aus, als würde sich das Gesicht dabei in den Sonnenstrahlen verlieren. »Wie er heißt, weiß ich nicht. Es wußte wohl niemand, er war einfach nur der namenlose Henker, der tötend durch das Land zog und hier auf dem Totenplatz seine eigentliche Heimat gefunden hatte. Er starb nicht, aber der Mord an uns ist zu einem Fluch für ihn geworden. Er sieht uns oft, er köpft uns immer wieder, aber er kann uns damit nicht treffen, denn wir sind keine Menschen mehr. Er aber muß seine Niederlage jedesmal erleben. Er ist verflucht, stets zuzuschlagen, aber er sieht auch, daß er damit keinen Erfolg erreichen kann. Wir existieren noch immer, wenn auch in einer anderen Form, und so wird es noch bis zum Ende der Tage dauern, wenn nicht etwas geschieht und ein Ereignis eintritt, von dem schon Héctor de Valois zu mir gesprochen hat, als wir uns in dunklen Nächten trafen. Er hat voraussehen können. Er muß gewußt haben, daß wir einmal aufeinander treffen werden und diesem Totenplatz seinen Schrecken nehmen.« »Ja, das will ich gern tun. Nur brauche ich dazu den namenlosen Henker. Ich will ihn tot sehen. Als Kreatur der Finsternis darf er einfach nicht leben.« »Er ist da. Und ei weiß auch, daß zwei Feinde gekommen sind, die ihn aufspüren wollen.« »Woher?« Ashford bewegte seinen Kopf, als wollte er zum Himmel schauen. »Der Henker hatte einen Freund, einen Beobachter, der ihm vieles mitteilt. Es ist ein Vogel, eine dunkle Dohle, die alle anderen Tiere vertrieben hat und immer wieder über diesen Wald und diese Lichtung fliegt, um alles unter Kontrolle zu haben. Er und der Vogel sind Partner. Der eine kann ohne den anderen nicht existieren. Sie stehen miteinander in Verbindung, so daß der Henker die Botschaften der Dohle empfängt. Er wird dich und deinen Freund längst gesehen haben.« Ich nickte, denn es stimmte. Der Vogel war auch mir einige Male aufgefallen, aber ich hatte ihn nicht in einem direkten Zusammenhang mit dem Henker gebracht. Wichtig war einzig und allein er. Ihn mußte ich haben. Er mußte vernichtet werden, denn eine Kreatur der Finsternis war so gut wie nicht zu töten. »Wo kann ich ihn finden?«
Derek Ashford hatte die Frage sehr genau verstanden. Nur mit der Antwort ließ er sich Zeit. Er bewegte sich leicht und schien in die Natur hineinhorchen zu wollen, als könnte sie ihm und auch mir eine Erklärung geben. »Weißt du es nicht?« »Wir spüren ihn nur...« »Dann ist er hier in der Nähe?« »Ja, im Wald.« »Und der ist groß.« »Das wissen wir. Du sollst ihn auch nicht im Wald suchen. Es war gut, daß wir uns trafen, aber es ist schlecht, wenn du den Henker stellen willst. Er muß seine grausamen Taten fortführen, er muß dorthin gehen, wo auch die Menschen sind.« »Auf den Grillplatz!« »Ja!« Für einen Moment noch schaute ich die Ashfords an, dann hatte ich mich entschlossen. Ich konzentrierte mich weniger auf sie, vielmehr auf meine Umgebung. Und ich hatte den Eindruck, als hätte sich auf dem Platz etwas verändert. Nicht äußerlich, es lag am Klang der Stimmen, die lauter, schriller und auch ängstlicher meine Ohren erreichten. Dort schien irgend etwas passiert zu sein. »Heh!« drängte Derek Ashford. »Es ist wirklich besser, wenn du bei den Menschen bist.« »Und ihr?« fragt ich. Sie lächelten gemeinsam. »Wir wollen endlich unseren immerwährenden Frieden bekommen.« Das konnte ich verstehen. Es tat mir irgendwo leid, von ihnen Abschied nehmen zu müssen. Sie hätten mir noch viel über Hector de Valois erzählen können, der ein aufregendes Leben in einer Zeit großer Umbrüche geführt hatte. Der Henker war wichtiger. Deshalb zog ich mich zurück, und es sah für mich so aus, als würden die vier Ashfords mit den Strahlen der Sonne verschmelzen… *** Die Beilklinge sauste nach unten! Sie war auf dem Weg, der Frau den Kopf abzuhacken, aber sie traf nicht. Auf halber Strecke erreichte auch die Ohren des Henkers Sukos Ruf, der nur aus einem Wort bestand. Damit stand die Zeit still! Für fünf Sekunden war sie angehalten worden. In dieser Spanne konnte sich nur derjenige bewegen, der den Stab besaß. Alle anderen Personen, die das Wort gehört hatten, erstarrten mitten in der Bewegung und wurden gelähmt. Fünf Sekunden!
Mal sehr lang, mal sehr kurz! Für Suko waren sie kurz, denn er mußte eine relativ lange Distanz überwinden und dies nicht eben auf einem glatten Boden, auf dessen Härte er sich abstemmen konnte. Er versuchte es trotzdem. Und er hatte Pech. Suko wußte nicht, was ihn da behindert hatte. Wurzeln konnten schnell zu Stolperfallen werden. Er verlor das Gleichgewicht, er rutschte noch nach vorn, fing sich auch, doch dabei verlor er wertvolle Zeit. Nur noch der dürre Busch befand sich vor ihm und die hohe Blumenwiese. Dann war die Zeit um. Suko schrie, dann schloß er die Augen, denn er hatte das Blitzen der Klinge gesehen, als sie ihre Bewegung fortsetzte. Diesmal traf sie. Suko hielt die Augen noch immer geschlossen. Aber seine Ohren waren nicht zu, deshalb vernahm er auch das dumpfe, widerlich klingende Geräusch und wenig später noch den Aufprall. Er fror ein! Der Inspektor hatte das Gefühl, Stunden auf diesem einen Fleck verbracht zu haben, dabei waren es nur Sekunden, aber in dieser kurzen Zeitspanne flossen Ströme von Bildern durch sein Hirn, und sie alle hatten etwas mit seinem Versagen zu tun. Ja, er hatte versagt! Dann schaute er wieder hin. Der Henker war zufrieden. Mit der Gegenbewegung hob er das Beil an, und Suko sah, daß sich die Klinge verändert hatte. Sie war nicht mehr nur blank, denn an ihrer Schneide zeigte sie die rote Färbung des Menschenbluts. Er konnte auch den Richtklotz sehen, der jetzt leer war, denn auch der Torso war von seinem Platz zur Seit gekippt und mußte irgendwo auf dem Boden liegen. Der Henker drehte sich um. Er tat es mit einer lässigen und kraftvollen Bewegung zugleich, und er hielt sein Beil halb hoch. Suko sah ihn zum erstenmal von vorn, aber viel war nicht zu erkennen. Die zwei Schlitze im Stoff, in denen die Augen so seltsam schimmerten, als würde sich in ihnen eine Flüssigkeit bewegen. Nur das dürre Gestrüpp trennte die beiden, und Suko wußte sehr genau, daß er als nächster an der Reihe war. Er ging trotzdem weiter.
Mit der rechten Hand zog er seine Beretta. Vom Totenplatz her wehte Geschrei zu ihm herüber, um das der Henker sich nicht kümmerte. Er glotzte Suko an, der ging vor und schoß. Der trockene Knall der Beretta ging unter in den Schreien der Menschen. Suko sah, daß die geweihte Silberkugel die Brust des Henkers durchschlagen hatte. Der Stoff hatte dort ein Loch bekommen, die Kugel steckte im Körper, und Suko rechnete damit, daß dieses dämonische Wesen durch die Kraft des Silbers vernichtet wurde. Er verrechnete sich. Der Henker ging zwar einige Schritte zurück, das aber lag an der Aufprallwucht des Geschosses. Ansonsten blieb er auf den Beinen, wobei unter dem schwarzen Stoff der Kapuze ein Knurren hervorklang, als säße dort ein wildes Tier. Mehr war er auch nicht. Ein wildes, dämonisches Tier, das nur eines kannte, das verfluchte Töten. Suko war kein Mensch, der so leicht aufgab. Auch gegen die Gestalt nicht. Er wollte und er mußte sich zum Kampf stellen, und er trat durch das dürre Gestrüpp, um an die Gestalt heranzukommen. Zuvor erwischte ihn das Grauen. Er sah den Richtklotz, mit dem Blut der getöteten Frau. Ihr Kopf lag links davon, der Körper rechts. In Suko rastete etwas aus. Er stand dicht davor, sich auf den Henker zu stürzen wie ein wütender Stier, der ein rotes Tuch sieht. Dann aber siegte die Vernunft. Wenn er etwas erreichen wollte, mußte er innerlich eiskalt sein. Das war der Henker auch. Eine gefühllose Mordmaschine. Eine Person, die es in dieser Welt nicht geben durfte, ein schreckliches Neutrum, entstanden im Reich der Finsternis. Er ging zurück. Aber nicht, weil er Furcht vor dem Chinesen hatte, er brauchte den nötigen Platz, um auszuholen und sich auf einen weiteren Mord vorzubereiten. Für ihn war Suko schon so gut wie tot. Die geweihte Silberkugel hatte er weggesteckt. Auch Suko dachte gar nicht erst darüber nach, wie das geschehen konnte, er wollte sich nicht ablenken lassen. Für einen winzigen Moment schaute er an dem Henker vorbei. Nahe der Grillhütte hatten sich auf dem Totenplatz die Menschen versammelt. Dort war etwas passiert, was Suko nicht weiter kümmern konnte, denn er war es, der angriff. Wieder schoß er! Diesmal hatte er auf den rechten Arm des Henkers gezielt. Es war zwar nur ein verzweifelter Versuch, dennoch hoffte Suko, ihn so weit zu
behindern, daß er die Waffe fallen ließ und Suko es vielleicht schaffte, sie an sich zu reißen. In einer Lage wie dieser griff man nach jedem Strohhalm, aber der Inspektor hatte Pech. Zwar traf er gut, aber der Henker ließ sein mächtiges Beil nicht fallen. Die Einschlagswucht schleuderte ihn nur zur Seite, sein Arm sackte auch nach unten, er stützte sich noch mit der Klinge ab, aber los ließ er sie nicht. Als er sich abgestemmt hatte, wirbelte er in die entgegengesetzte Richtung, schwang sein mörderisches Beil in die Höhe und ließ es wieder fallen, wobei er es in Kopfhöhe waagerecht über den Boden hinwegschlug, um Sukos Hals zu erwischen. Der Inspektor wich zurück. Das mächtige Beil sauste an ihm vorbei. Aber der Henker hatte noch längst nicht genug. Er holte abermals aus, diesmal hielt er den Griff mit beiden Händen fest. Er wollte von oben nach unten schlagen und dabei den Körper seines Gegners in zwei Hälften teilen. Der aber stand nicht mehr auf seinem Fleck. Er war blitzschnell gestartet und hatte den Henker gerammt. Suko wußte, welches Risiko er damit einging, auch beim Aufprall gegen diesen harten Körper war er noch nicht sicher, ob er es überhaupt schaffte. Etwas verspätet geriet die Gestalt des Henkers ins Schwanken, und sie konnte dem Druck auch nicht mehr standhalten. Der Mörder fiel auf den Rücken. Für einen Moment war er wehrlos, was er nicht so empfand, denn Suko hörte hinter dem Stoff der Kapuze das böse klingende Lachen dieser widerlichen Gestalt. Auf ihn stürzen konnte er sich auch nicht, denn der Henker wußte, wie er sich verteidigte. Sein verdammtes Beil hatte er nicht verloren. Er wuchtete es über seinem Körper hoch und die blutbefleckte Klinge wies auf Suko. Der sprang zur Seite. Der Henker rollte sich herum, bevor er wieder auf die Beine kam, um sich erneut zu stellen. Suko hatte sich gebückt und einen Stein aufgehoben. Er hatte das untere Drittel aus dem Erdboden hervorgezogen, und er schleuderte den Stein wuchtig auf den Hinterkopf des aufstehenden Henkers zu. Treffer. Verbunden mit einem dumpfen, häßlich klingenden Laut, als wären dort alle Knochen zusammengebrochen. Darauf jedoch hoffte Suko vergeblich, denn der Henker kam wieder hoch. Und er bekam Hilfe. Plötzlich war der Vogel da.
Wie der berühmte Blitz aus heiterem Himmel fiel er über den Inspektor her. Die Dohle hatte es geschafft, lautlos anzufliegen und Suko deshalb zu überraschen. Als er das Tier bemerkte, war es schon zu spät. Da hackte der messerscharfe Schnabel gegen seine Kopfplatte, rutschte aber ab, weil sich Suko zu schnell bewegt hatte, und erwischte deshalb nur das Ohr des Mannes. Auch das reichte aus, um Suko den Schmerz spüren zu lassen. Der Vogel war wie von Sinnen. Trotzdem wäre er für Suko kein Gegner gewesen, in diesem Fall aber sah es anders aus, denn die Dohle lenkte ihn von seinem eigentlicher Problem, dem Henker, ab. Das war der Sinn des Eingreifens gewesen, denn der Henker konnte sich wieder erheben und in relativer Ruhe eine neue Angriffsposition suchen. Suko kämpfte noch mit dem Vogel. Die Dohle war schnell und raffiniert. Mit einer Kugel hätte er sie treffen können, aber Suko kriegte sie leider nicht vor die Mündung. Immer wieder flatterte sie weg, blieb in seiner unmittelbaren Nähe, so daß Suko seine Hände und Arme einsetzen mußte, um sie abzuwehren. Vom Grillplatz her gesehen mußte seine Aktion wie ein skuriller Tanz wirken. Daß es dabei um sein Leben ging, ahnte wohl niemand, selbst sein Freund John Sinclair nicht. Wieder schnappte die Dohle zu. Sie hatte sich auf Sukos Gesicht konzentriert. An der linken Hand blutete er bereits, diesmal aber rammte er sie hoch, denn der Vogel war in die Höhe geflattert, um einer Kugel zu entwischen. Die Faust traf das Tier voll. Es krächzte schreiend auf, schlug zwar mit den Flügeln, war aber für einen Moment betäubt und landete auf dem Boden. Das war die Chance. Suko richtete die Mündung der Waffe nach unten. Er zielte kurz, wollte abdrücken und hörte dicht hinter sich den irren Schrei des Henkers. Er kam. Er hatte sein Beil hochgerissen, um es auf Suko niedersausen zu lassen. Vom Boden her schrie der Vogel triumphierend auf… *** Der erste Gast, der mir praktisch über den Weg lief, war mein Chef, Sir James Powell. »John, verdammt, was ist mit Ihnen?« »Was soll sein?« »Wie sehen Sie aus?« »Erschöpft?«
»Nein, durcheinander.« Ich nickte. »Sie haben recht, Sir. Ich bin auch durcheinander, aber ich weiß endlich Bescheid.« Sehr ernst schaute er mich an, und wurde unter der Kontrolle dieses Blicks sehr gelassen. »Sir, was ist hier passiert?« »Kommen Sie mit!« Bevor ich noch etwas sagen konnte, hatte er kehrtgemacht und lief auf die Mitte des Totenplatzes zu, wo die Grillhütte stand. Um sie herum hatten sich die Gäste versammelt. Ich brauchte nur in ihre Gesichter zu schauen, um zu wissen, daß etwas Schlimmes vorgefallen sein mußte. Die Gäste hatten sich verändert. Sie sahen aus wie Gespenster. Sie unterhielten sich mit lauten Stimmen, doch niemand bekam so richtig mit, was der andere sagte. Alle redeten durcheinander. Die Gesichter der Männer waren ebenso bleich wie die der Frauen. Einige Gäste hatten ihre Hände vor die Lippen gepreßt, als müßten sie ein Würgen unterdrücken. Im Laufen bekam ich auch Worte oder Satzfetzen mit, und ich hörte des öfteren etwas von einem Finger, ohne mir darauf allerdings einen Reim machen zu können. Wir drängten uns unter das Dach der Hütte, wo auch die Sitzbänke standen. Keiner hielt dort seinen Platz. Die Menschen waren aufgestanden. Aus bleichen Gesichtern und großen Augen schauten sie in eine bestimmte Richtung, ohne jedoch freiwillig hinsehen zu wollen. Es war mehr ein Zwang, der sie so reagieren ließ. Sir James umfaßte meinen Arm. Daß auch wir angesprachen wurden, kriegte ich nur am Rande mit. Der Superintendent zog mich auf das eigentliche Ziel zu. Es war ein heller Teller. Und darauf lag ein menschlicher Finger! *** Auch ich mußte schlucken, als ich mit disem schrecklichen Anblick konfrontiert wurde. Sogar ein schmaler Ring glitzerte noch daran, und die Haut sah aus, als wäre sie angebrannt. Als ich Sir James darauf ansprach, gab er mir die Antwort. »Dieser Finger ist aus dem Schnabel einer Dohle auf den Grill geworfen worden...« »Mein Gott. Wem gehört er? Wissen Sie das?« »Ja, einer gewissen Lady Margret. Ihr Gatte hat den Finger identifiziert.« Ich konnte nicht viel sagen und murmelte nur: »Einem Vogel ist er also aus dem Schnabel gefallen.« »Die Dohle, John.« »Wo ist sie?«
Sir James hob die Schultern. »Wenn wir das wüßten, wären wir der Lösung wohl nahe, denke ich.« »Stimmt, Sir. Diese Dohle und der Henker bilden praktisch ein Team, so unwahrscheinlich es sich anhört.« »Mich kann nichts mehr aus der Fassung bringen.« Ich schaute auf den Finger, ohne ihn richtig zu sehen. »Verdammt noch mal, ich muß den Vogel finden, dann habe ich auch den Henker und den verdammten Richtklotz.« »Wie meinen Sie das, John?« »Ich werde es Ihnen später erklären, Sir. Jetzt ist es erst einmal wichtig, den Henker zu fangen und natürlich den Vogel. Alles andere können wir später erledigen.« Er hielt mich nicht auf. Seitlich drängte ich mich unter dem Grillstand hervor. Die meisten Gespräche waren versiegt. Einige Gäste sprachen davon, nach Hause zu fahren. Es war das Beste, was sie tun konnten, denn hier würde es bald zum Finale kommen. Das Gefühl hatte ich. Der Henker hatte indirekt bewiesen, wer hier auf dem Totenplatz das Sagen hatte, und es würde nicht nur bei den abgehackten Fingern bleiben, davon konnte ich schon ausgehen. Zum Glück war der Grillplatz so gebaut worden, daß ich von ihm aus den größten Teil der Lichtung überblicken konnte. Es war mittlerweile hoher Nachmittag geworden. Die Sonne schien noch immer, und sie stand günstig, so daß der größte Teil des Platzes unter ihrem Schein lag. Wo steckte die Dohle? Die Frage war plötzlich uninteressant geworden, denn ich hörte einen Schuß. Obwohl er weiter von mir entfernt aufgeklungen war, hörte ich den Klang einer Beretta heraus. Die Stimmen, die mich umgaben, waren plötzlich wie weggewischt. Ich wußte die Richtung, ich wußte auch, daß sich Suko in einer Auseinandersetzung befand und wollte meinen Freund deshalb nicht allein lassen. Der Henker wir stark und grausam. Es stand noch längst nicht fest, daß Suko den Kampf gegen ihn auch gewann. Deshalb startete ich wie ein Olympia-Sprinter! *** Wieder fiel ein Schuß! Suko hatte den Eindruck, selbst von der Kugel getroffen zu werden. Der Schuß war in seiner Nähe abgefeuert worden, und er rechnete damit, daß die Kugel den Weg in den Körper des Henkers gefunden hatte, aber das war nicht der Fall. Das Geschoß war in den Körper der Dohle gedrungen. Es hatte sie beim Abflug in die Höhe getroffen und war mit einer so großen Kraft
ausgestattet, daß die Dohle wieder zu Boden geschmettert wurde, wo sie zappelnd liegenblieb. Der Henker schlug nicht zu. Er stand da, die Axt erhoben, und er hatte in seinem Lauf gestoppt, den Kopf nach links gedreht, so daß er durch die Augenschlitze gegen seinen Vogel schauen konnte. Mit dem geschah Ungeheuerliches und auch Unerklärliches. Er war tot, aber er reagierte anders als ein normaler Vogel. Vor den Augen des zuschauenden Inspektors löste er sich auf. Er quoll zu einer gelbbraunen Masse hoch, wobei er einen Rauchstreifen oder was immer es sein mochte, absonderte. Dieser Streifen wehte auf den Henker zu. Er glitt in Kopfhöhe an seine Kapuze heran, um auch den Weg durch die Löcher zu seinem Gesicht zu finden. Die Arme des Henkers sanken zusammen mit der Axt nach unten. Unter der Kapuze tat sich etwas. Dort mußte sich das Gesicht bewegen, und diese Bewegungen übertrugen sich auf den Stoff, denn er wollte von einer Seite zur anderen. Suko, der sich noch immer in einem wie gelähmten Zustand befand, schaute endlich an dem Henker vorbei und sah nur Schritte entfernt eine leichenblasse Gestalt stehen. Es war sein Freund John! *** Ja, es stimmte, ich war leichenblaß geworden, und ich hatte den Vogel vernichtet. Ich hatte nicht auf den Henker gehalten. Möglicherweise von der Vorahnung betroffen, daß es keinen Sinn hatte, zudem mußte ich auch an den Finger denken, den sich der Vogel geholt hatte, deswegen aber war ich nicht so blaß geworden. Das hatte einen anderen Grund. Neben dem Richtklotz lag auf der einen Seite der Kopf einer Frau und auf der anderen der Körper. Ein Arm war ausgestreckt, eine Hand ebenfalls, und bei ihr fehlte der halbe Zeigefinger. Diese Margret hatte es nicht geschafft. Sie war zu einem Opfer des Henkers geworden, der einfach nur dastand und mich überhaupt nicht zur Kenntnis nahm. Er kam mir vor wie jemand, der unter einem Schock litt. Es mußte einfach an der Vernichtung der Dohle liegen. Sie und er gehörten zusammen, denn ich sah, wie dieser Nebel auf ihn zutrieb und unter den Rand der Kapuze gelangte, wo sie auf den Schultern auflag. Das Beil hielt er noch immer fest. Nur berührte es jetzt den Boden. Nichts wies darauf hin, daß er es im nächsten Augenblick wieder anheben und damit zuschlagen könnte. Es war die Stille, die man nicht beschreiben konnte. In der sich vielleicht alles entschied. Auch ich war nicht gekommen, um nur den Zuschauer
zu spielen, ich wollte endlich herausfinden, wer dieser verfluchte Henker war und trat deshalb dicht an seinen Rücken heran. Er rührte sich ebensowenig wie Suko, der mir allerdings zuschaute und mit der Beretta auf die Gestalt zielte. In Griffweite befand sich der Rand seiner Kapuze vor mir. Ich streckte zuerst den linken Arm aus, bekam den Stoff zwischen de Finger, dann nahm ich auch den rechten, die Beretta hatte ich mir in den Hosenbund geschoben. Unter dieser Kapuze würde ein Kopf mit einem Gesicht zum Vorschein kommen, und ich war gespannt wie selten, was mich da wohl erwartete. Der Henker rührte sich nicht. Er ließ alles mit sich geschehen. Ich drückte den Stoff in die Höhe, er kräuselte sich zusammen. Ich schaute gegen einen Nacken, dick, knotig und muskulös, dabei von der Hautfarbe weiß und bläulich schimmernd, aber ich sah nicht ein einziges Haar, das diesen Nacken bedeckte. Wahrscheinlich war auch der gesamte Schädel kahl, das würde ich noch zu sehen bekommen. Zudem besaß der Kopf – das konnte ich schon jetzt sehen – eine ungewöhnliche Form. Da gab es kaum einen Unterschied zwischen Hals und Kopf. Beides ging beinahe nahtlos ineinander über. Wenn die Lage nicht so ernst gewesen wäre, so könnte ich den Kopf mit einer Trickfigur aus der deutschen TV-Werbung vergleichen, die für eine große Sauberkeit in der Küche sorgte. Mit einem letzten Ruck schleuderte ich die Kapuze vom Schädel weg, warf sie zu Boden und huschte selbst um die Gestalt herum, um sie von vorn sehen zu können. Suko erschrak, ich erschrak. Mit diesem Anblick hatten wir nicht gerechnet. Vor uns stand eine Person ohne Gesicht! *** Wie glattgebügelt, bis auf zwei Ausnahmen. In diesem glatten Gesicht schimmerten zwei kleine Augen, in denen sich eine Flüssigkeit bewegte, und im letzten Drittel des Schädels sah es so aus, als hätte jemand mit dem Messer einen Querstrich hineingeschnitten, nur um einen spaltartigen Mund einzuzeichnen. Das also war der Henker. Das war der Dämon. Da war auch die Kreatur der Finsternis! Ich konnte es kaum glauben. Er stand vor uns wie eine starr gewordene Leiche, die darauf wartet, gekippt zu werden, um waagerecht Platz im Sarg zu bekommen. »John, wer ist das?«
»Eine Kreatur der Finsternis.« »Glaubst du es?« »Ja.« »Und du wirst sie vernichten wollen. Ich habe es versucht. Nimm keine Kugel.« »Nein, das Kreuz. Kreaturen der Finsternis hassen es, das weißt du selbst. Es ist doch, einfach. Ich gehe hin und bringe ihn mit meinem Kreuz in Kontakt. Wie gehabt – oder?« »Ich denke mehr an das Oder.« »Warum?« »Die Dohle hat sich aufgelöst. Aber etwas ist in ihn hineingekrochen Wir haben es doch gesehen.« »Stimmt.« Ich hatte das Wort noch nicht ganz ausgesprochen, als sich tatsächlich etwas tat. Plötzlich bewegte sich das Gesicht des Henkers. Ein Zucken durchlief die weißblaue Starre, und es sah für uns aus, als hätte jemand gegen eine Puddingmasse gestoßen. Plötzlich veränderte sich das Gericht, es blähte sich auf. Falten erschienen, doch all dies hatte seinen Ursprung im Innern des Kopfes, in den wir leider nicht hineinschauen konnten. Dort tat sich etwas. Da zeichnete sich etwas ab, und ich wartete auf einen bestimmter! Moment. Ich wußte sehr genau, daß die Kreaturen der Finsternis nur deshalb solange überlebt hatten, weil sie es verstanden, ihr wahres Gesicht zu verbergen. Das wahre Gesicht war zumeist eine schreckliche Tierfratze, die aber nicht normalwar, sondern pervertiert. Da konnten auch einige Gesichter zusammenkommen. So hatte ich schon Mischungen aus Schweinen und Hunden erlebt, und ich war gespannt, wie er sich in seiner Urform zeigen würde. Waren es seine Augen oder die neuen und doch uralten, die sich plötzlich zeigten? Wir sahen sie als starre, schimmernde Kugeln, aber sie wiesen eine direkte Ähnlichkeit mit den Augen der Dohle auf, wie Suko mir zuflüsterte. »Alles klar?« »Und ob, John. Er ist die Dohle.« »Genau.« Und in die verwandelte er sich auch. Sein zweites, nein, sein echtes und eigentlich einziges Gesicht erschien, und es war die verzerrte Fratze einer Dohle. Aber wie verändert, größer, mit einem langen, nach vom gekrümmten Schnabel und Augen darüber, die hell und trotzdem dunkel aussahen. Sie glotzten mich starr an, sie waren nicht in Bewegung, aber sie schickten mir eine tödliche Drohung entgegen.
Hin und her bewegte sich die Haut. Die normale Glätte verschwand immer mehr, um dem wahren Vogelgesicht Platz zu schaffen. Groß, übergroß, mit einem mörderischen Schnabel, der weit vorstand. Überhaupt deutete nichts mehr auf die andere Glätte seines Schädels hin. Der Kreatur war es gelungen, sich in seine ursprüngliche Form zurück zu verwandeln. Bis zum Hals sah er aus wie ein Mensch. Auf dem Kopf aber saß übergroß die gräßliche Vogelfratze. Der Schnabel öffnete sich urplötzlich, und es kam uns so vor, als wären die Backen einer scharfen Schere auseinandergefahren. Wir konnten in das Maul hineinschauen, sahen etwas langes, klebriges, die Zunge. »Ich denke, es wird Zeit, John.« »Okay.« Auch der Henker hatte Sukos Worte vernommen. Oder war es nur Zufall, daß er sein Richtbeil in die Höhe schwang? Ich warf ihm mein Kreuz entgegen. Es ging alles so schnell, daß er nicht mehr reagieren konnte. Die Kette wickelte sich plötzlich um den Schnabel, und gleichzeitig berührten sich zwei völlig unterschiedliche Welten. Zwei Urmagien, das Licht und die Dunkelheit. Schon einmal, zu Beginn der Zeiten, hatte das Licht die Finsternis besiegt, was mit dem Sturz Luzifers in die Tiefen der Verdammnis besiegelt worden war. Hier geschah ähnliches, wenn auch im kleineren Rahmen, denn mein Kreuz hatte die Macht, die Kreaturen der Finsternis endgültig zu vernichten. Weißes Feuer! So sah es aus. Eine Explosion aus Licht erfaßte die Henker. Wir hörten nicht mal einen Schrei, als ihn diese weißmagischen Kräfte vor unseren Augen und eingehüllt in diese grelle Lichtglocke zerrissen. Selbst das Metall des Henkerbeils zischte auf und verglühte ebenso wie der Griff. Wir schauten zu. Ich dachte daran, wie leicht es doch letztendlich gewesen war. Wir hatten eben nur den Weg finden müssen. Wo der Henker einmal gestanden hatte, war die Erde trocken, verbrannt, wie vom grünen Wuchs befreit. Nur das Kreuz lag dort, leicht strahlend und unbeschädigt. Ich bückte mich, hob es auf, und während ich mich wieder hinstellte, sah ich plötzlich vier Gestalten auf der Lichtung stehen. Es waren die Aschfords. Sie lächelten mir zu. Sie nahmen Kontakt auf und bedankten sich gemeinsam für ihre Erlösung. Dann wehten sie fort, und ich war sicher, daß sie nie mehr zurückkehren würden. Auch sie hatten endlich ihre verdiente Totenruhe gefunden…
*** Es dauerte etwas, bis wir wieder die Sprache zurückgefunden hatten. Suko ergriff das Wort. »Soll ich dir ehrlich etwas sagen, John? So ein Grillfest möchte ich nicht noch einmal erleben.« Er drehte sich um und schaute auf die tote Frau. »Ich...ich...« Er räusperte sich. »Verdammt, ich habe alles gegeben, aber ich habe es nicht geschafft. Er...er...war einfach schneller.« »Auch wenn es sich dumm anhört, Suko, aber man kann nicht immer gewinnen.« »Sprüche...« »Die manchmal zutreffen.« »Das stimmt.« Er hob die Schultern. »Ich muß darüber hinwegkommen und werde es auch.« Es kam noch jemand über die Lichtung, die den Namen Totenplatz nun nicht mehr verdiente. Sir James Powell hatte es an der Grillhütte nicht mehr gehalten. Er ging noch einige Schritte, bis wir sein Gesicht besser erkennen konnten. Die Frage brauchte er nicht zu stellen, wir lasen sie in seinen Augen. »Der Henker ist vernichtet, Sir, aber die Frau haben wir nicht mehr retten können. Es war nicht möglich.« Während ich das sagte, zeigte ich auf den Leichnam. »Ich weiß. Danke, trotzdem. Bleiben Sie bitte noch hier. Ich werde es Lady Margrets Mann sagen und auch die Kollegen informieren.« Sir James drehte sich um und ging mit gesenktem Kopf zurück zur Grillhütte…
ENDE