Totem des Bösen � von Timothy Stahl / Adrian Doyle
New Orleans, Mitternacht Hier unten stank es durchdringend nach Sch...
16 downloads
650 Views
1MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Totem des Bösen � von Timothy Stahl / Adrian Doyle
New Orleans, Mitternacht Hier unten stank es durchdringend nach Schweiß, Tod und Verwesung. Schwarze Kerzen warfen mehr Schatten als Licht. Über den Boden verstreut lagen Tieropfer auf blutrot leuchtenden Fetischen. Zwei Gruppen von Musikern wechselten sich im Spiel ihrer Trommeln, Glocken und mit Glasperlen besetzten Stöcke ab. Ein Kinderchor sang. Frauen tanzten aufgeputscht. Ihre rituell bemalten Oberkörper waren entblößt, ihre schweren Brüste und drallen Bäuche wogten. Alles war in Bewegung, trieb dem Höhepunkt dieser teuflischen Zeremonie entgegen …
Was bisher geschah � Alle Vampiroberhäupter rund um den Globus werden von einer schrecklichen Seuche befallen, die sie auf ihre Sippen übertragen. Die infizierten Vampire – bis auf die Anführer selbst – können ihren Durst nach Blut nicht mehr stillen und altern rapide. Gleichzeitig wird in einem Kloster in Maine, USA, ein Knabe geboren, der sich der Kraft und Erfahrung der todgeweihten Vampire bedient, um schnell heranzuwachsen. Sowohl die Seuche als auch die Geburt des Kindes erschüttern das Weltgefüge auf einer spirituellen Ebene. Rund um den Erdball reagieren para-sensible Menschen, träumen von unerklärlichen Dingen und möglichen Zukünften. Die »Illuminati«, ein Geheimbund in Diensten des Vatikans, rekrutiert diese Träumer. Inzwischen trifft Lilith auf einen Vampir in der Kutte eines Mönchs. Er gehörte vor gut 500 Jahren dem Illuminati-Orden an, der nahe Rom in einem unzugänglichen Kloster ein Tor bewachte (und es noch heute tut). Eines Tages wurde er von jenseits des Tores in Bann geschlagen. Zwar konnte er die Pforte nicht öffnen, lebte fortan aber als Vampir weiter. Lilith stellt sich ihm. Dabei hört sie erstmals von dem geheimnisvollen Tor … In Al’Thera, einer Stadt der Vampire, die zwischen den Dimensionen der Menschen und des Bösen liegt, herrschen die Vampirin Salea und ein gestaltwandlerisches Wesen namens Rank’Nor. Als der Seuchenimpuls auch Al’Thera erreicht, siecht die Bevölkerung innerhalb von Stunden dahin. Rank’Nor »friert« die Vampire mitten in ihrem Todeskampf ein, macht sie zu Zombies. Salea will das Leiden ihrer Untertanen beenden und holt mit einem Zauber Lilith Eden, die größte Feindin aller Vampire, nach Al’Thera. Doch Lilith ist viel mehr daran interessiert, wie sie zurück auf die Erde gelangen kann. Sie erfährt, daß auch Rank’Nors Volk an einem solchen Weg arbeitet, um »das Tor zu umgehen«. In Al’Thera befindet sich ein
Dimensionsriß, den sie in den letzten tausend Jahren so geweitet haben, daß bald eine Passage möglich sein wird. Doch dazu brauchen sie Salea – denn Al’Thera kann nur so lange bestehen wie seine Herrscherin. Als Salea durch Liliths Hand stirbt, vergeht die Stadt; Lilith kehrt in ihre Dimension zurück. Die Gefahr durch den Riß ist damit abgewendet … In New Orleans beginnen die Arbeiten für die Trockenlegung eines Sumpfgebietes. Was man nicht weiß: Hier versanken im Jahre 1863 Hunderte von Soldaten und Zivilisten – und einer davon war ein Vampir, der zuvor noch reiche Beute machte. Der Sumpf konservierte ihn und seine Dienerkreaturen. Bis heute. Als der Vampir »befreit« wird, erwacht er wieder zu unheiligem Leben, und auch seine Kreaturen drängen aus dem Sumpf. Lilith Eden streitet einen schier aussichtslosen Kampf. Ihr einziger Vorteil: Die Blutsauger müssen immer wieder in den Morast zurück, da ihre mumifizierte Haut an der Luft sonst schnell austrocknen und zerfallen würde. Als es ihr gelingt, den Vampir und seine Dienerkreaturen vom Wasser abzuschneiden, ist der Grundstein für ihren Sieg gelegt …
Isaak Germain, der Großmeister, war zufrieden, doch solche Gefühle ließ er sich nicht anmerken. Sein Gesicht unter der weißen Kappe strahlte nichts anderes aus als patriarchalische Autorität. Kühl blickte er auf den Körper hinab, der festgebunden auf dem Altarstein lag, die nackte Haut mit Kerzenwachs beträufelt. Beschwörungsmuster. Der Grand Commandeur des Kults kannte die schön gewachsene Gestalt, der neben der Kopf- und Schambehaarung auch die Brauen entfernt worden waren, seit ihrer Geburt. Einst hatte er Aimee getauft, wie es in ihren Kreisen üblich war – und heute würde er ihr das Leben nehmen, um die Geister des Wahnsinns zu besänftigen. Um dem die Stirn zu bieten, was Germain in seinen Gesichtern der letzten Tage und Nächte gesehen hatte … Der Voodoo-Meister sog die Angst des Mädchens förmlich in sich ein. Weit aufgerissene Pupillen starrten ihn flehentlich an – wissend, daß keine Gnade zu erwarten war. Als ein gurgelnder Schrei aus der zerschnittenen Kehle eines Hahns ertönte, versuchte der blutverschmierte Mädchenmund die Nähte aus Tiergedärm zu sprengen, die ihn geschlossen hielten. Es mißlang, und der Schmerz der vergeblichen Anstrengung ließ weitere Äderchen im unschuldigen Weiß der Augen platzen. Salzige Tränen rannen über glatte, bleiche Wangen, drangen in die gestochenen Wunden und entfachten neue Qual. Die Gehilfen des Großmeisters standen auf der anderen Seite des Altars. Im Gegensatz zu Isaak Germain weideten sie sich ungeniert an den Leiden des menschlichen Wesens, dessen Blut den Schutzzauber des Kults erneuern sollte. Gesang und Tanz der Voodoosi wurde immer aggressiver, immer fordernder. Der Grand Commandeur kannte diesen Effekt von vielen anderen Zusammenkünften und betrachtete sich selbst nur als Katalysator, an dem sich die Emotionen ihrer geheimen Allianz entzündeten. Nicht er war das Monster, das bereit war, ein junges Menschenleben zu zerstören … Die Summe aller Begierden, die in den
Augen der hier Versammelten loderte, war monströs! Sie alle kannten Aimee seit ihrer Geburt – und sie alle wußten, daß sie selbst das nächste Opfer der nächsten Zeremonie sein konnten … … doch damit lebten sie. Weil ihnen nichts anderes übrig blieb. Weil sie vor vielen Jahren unwissentlich erweckt hatten, was seither ihre Namen, ihre Gesichter, den Abdruck ihrer Seelen kannte und sie dadurch überall finden konnte. Nur die Gemeinschaft bot Schutz. Die Talismane. Die Rituale. Die Opfer … Isaak Germain kannte das Aussehen dessen, was sie fürchteten, so wenig wie seine Jünger. Dennoch zweifelte er keine Sekunde an seiner Existenz. Generationen zuvor waren seine Vorfahren von gewinnsüchtigen Sklavenhändlern aus Schwarzafrika hierher verschleppt worden. Billige, rechtlose, vogelfreie Arbeitskräfte. Und das einzige, was ihnen nicht genommen worden war, weil es ihnen nicht genommen werden konnte, das einzige, was sie aus ihrer nie vergessenen Heimat mit in die Fremde gebracht hatten, war ihr Glaube gewesen. Ihre unersättlichen Götter. Legba, Kokou, Egungun, Sango … Isaak Germains Blick schweifte vom Gesicht des Opfers hin zu der noch leeren Kalebasse, die bald mit Aimees Blut gefüllt sein würde. Blut, das durch die Kehle eines jeden Voodoosi rinnen sollte. Ein einziger Tropfen genügte zur Erneuerung des Schutzes. Und wie stets in den vergangenen Monaten und Jahren würde der Leib des Opfers am Ende der Feier verschwunden sein. Und dort, wo man ihn gefesselt und zu duldsamem Schweigen verurteilt hatte, würde nur noch ein kleiner Haufen amorphen Staubs liegen. Asche?
Selbst der Grand Commandeur wußte es bis heute nicht. Vielleicht gab es unter seiner Gemeinde den einen oder anderen Zweifler – Isaak Germain selbst jedoch war felsenfest überzeugt, daß die Magie, derer sie Zeugen wurden, echt war. Daß etwas von jenseits der normalen Wahrnehmungen zu ihnen kam, seine Sinne prüfend über jeden einzelnen der Anwesenden schweifen ließ und dann entschied, ob es das Opfer … oder die ganze Gemeinde mit sich reißen sollte ins Reich der Schatten. In die Welt hinter der Welt … Wieder krähte ein Hahn, und sein Blut sprühte über den Chor der Kinder. Kinder, die ihre Unschuld längst verloren hatten – nicht erst in dieser Stunde. Wie Aimee. Isaak Germains Augen fanden zu ihr zurück. Die Wachsmuster auf ihrem gertenschlanken Körper bewirkten mehr als nur spirituelle Stimulation. Er bekam eine Erektion, die allerdings unter der weiten, weißen Kutte verborgen blieb. Wie seine eigenen Narben, die sein Vater – auch einmal Hohepriester ihres Bundes – ihm bereits in frühester Kindheit zugefügt hatte. Wunden, die sich bis in Germains Seele gegraben hatten und nie verheilen würden. Es mußte so sein. Ohne diese wertvolle Erfahrung hätte Isaak Germain die Qualen, die er anderen zufügte, nicht so virtuos steuern können, wie er es in dieser versteckten Kirche seit so vielen Jahren tat. Um der Bedrohung aus dem Jenseits zu entrinnen, hätte es nicht genügt, einfach den Ort ihres Wirkens zu wechseln. Für das Unaussprechliche schien es Raum und Entfernung gar nicht zu geben – vielleicht nicht einmal den Faktor Zeit. ES kannte sie. ES hatte sich jedes einzelne Muster ihrer Gedanken gemerkt. Und ES verfolgte die Frevler von einst bis in jede folgende Genera-
tion hinein. Wir sind genetisch verflucht, dachte Isaak Germain vage. Deshalb wird Aimee ES besänftigen. Aimee ist ein so wunderbares Opfer … Zwischen den durch die Fesselung gespreizten Beinen lag der Dolch auf dem schwarzpolierten Stein. Die Gesänge der Gemeinde peitschten durch das Gewölbe. Peitschten auch Isaak Germain nach vorn. Drängten ihn zu tun, was getan werden mußte. Ein Leben für viele. Das war der zur Normalität verkommene Preis, den jeder gelehrt worden war zu akzeptieren. Die Augen des Grand Commandeurs glommen finster, als er den Oberkörper nach vorn neigte und den linken, vom Herzen kommenden Arm ausstreckte. Doch bevor er aber die Hand um den Schaft der Klinge schließen konnte, geschah das Unerwartete. Das Unmögliche. NEIN! Isaak Germain hatte das Gefühl, in flüssigen Stickstoff getaucht zu werden. Eiseskälte fraß sich wie ein lähmender Schock durch seinen Körper. Für eine Sekunde, die sich wie eine Ewigkeit anfühlte, war er außerstande, auch nur einen Finger zu krümmen. In dieser Sekunde ähnelten seine Augen denen von Aimee, die immer weiter aus den Höhlen quollen. Übelkeit verdrehte Germains Magen. In seinem Bauch schien ein schrecklicher Kobold zu sitzen, der sich einen Spaß daraus machte, Säure aus einem Flakon in immer neue Richtungen zu sprühen. Oder glühende Nadeln in alles zu stechen, was in seiner Reichweite lag. Voodoo? Versuchte ein anderer Voodoosi, vielleicht ein anderer Großmeister, ihn zu attackieren? Isaak Germain fühlte etwas wie einen Schwall Erbrochenes im
Mund. Er schluckte hart. Niemand sollte bemerken, was für einen Kampf er ausfocht. Kampf? Es gab keine Fehde mit einem anderen Clan. Wer sollte also …? In diesem Moment empfing er den nächsten lautlosen Schrei. Niemand sonst schien ihn zu hören. Isaak Germain richtete sich ruckartig auf. Sein Rückgrat knirschte. Aber vielleicht bildete er sich auch das nur ein … Um ihn herum entstand Unruhe, geboren aus Unverständnis. Sein Verhalten fiel auf. Nur noch in Aimees Augen flackerte die Hoffnung wie ein trübes Licht – die restliche Gemeinde geriet in Aufruhr. Der Chor verstummte, die Musikanten stellten ihr enervierendes Spiel ein. »Was ist …?« flüsterte einer seiner Gehilfen Germain zu. »Geht es Euch … nicht gut?« Germain zögerte. »Doch«, antwortete er schließlich gepreßt. »Wartet auf mich. Ich bin gleich wieder da …« »Warten?« kam es ungläubig zurück. Der Grand Commandeur achtete nicht mehr darauf. Er kehrte Altar und Gemeinde den Rücken und stakste hölzern davon. Dorthin, woher er Minuten zuvor gekommen war. In seine Kammer. Den Raum, den niemand außer ihm betreten durfte. Und wo er … erwartet wurde!
* Bis zuletzt glaubte Lilith nicht, es schaffen zu können. Der dunkelhäutige Priester widersetzte sich ihrem magischen Einfluß mit aller Vehemenz. Er war stark. Dies hier war kein fauler Zauber irgendwelcher geis-
tig Verwirrter, die ihre Beschwörungen und Verschwörungen zelebrierten. Es war Religion. Und mehr … »Schließ die Tür!« Er gehorchte. Im Gegensatz zu Lilith war auf seinem Gesicht kein einziger Schweißtropfen zu erkennen. Hart, wie aus dunklem Granit gemeißelt wirkten die negroiden Züge, die zwischen dem Weiß des kapuzenlosen, kuttenartigen Gewands und dem ebensolchen Weiß der schlichten Kappe zu schweben schienen. »Verriegele sie!« Auch diesem mündlichen Befehl kam er nach. Dann lehnte er sich gegen das dicke Holz der Tür. Nicht nur mental, auch von seiner Physis her war er ein Koloß. Lilith spürte die Vibrationen, die von ihm ausgingen und ihr seinen Willen aufzuzwingen versuchten. Er wehrte sich. Er war längst nicht besiegt. »Bist du ein Vampir?« fragte sie. Er lachte heiser. Und allein, daß er dazu fähig war, verriet, wie fragwürdig die Kontrolle war, die Liliths Geist ihm aufzwang und unter der die Halbvampirin ihn sich wünschte. Um ein Leben zu retten. »Nein«, sagte er. »Nein?« Sie war auf der Suche nach Vampiren, die das Massaker der vorletzten Nacht überlebt haben mochten. Den Sippenführer und seinen Kontrahenten hatte sie bereits unschädlich gemacht, ebenso wie die gut drei Dutzend untoten Dienerkreaturen, die sich aus den trockengelegten Sümpfen erhoben hatten*. Aber bevor sie nicht sicher war, daß wirklich alle Vampire hier in New Orleans ausgerottet waren, wollte sie der Stadt nicht den Rücken kehren. Im Grunde war es keine Frage des Wollens, sondern ein Muß. Das Tattoo in ihrer Hand ließ ihr keine Wahl. Es erinnerte sie stets an
*siehe VAMPIRA T11: »Die Verlorenen«
den Auftrag, den sie am Anbeginn der Zeit, im Zentrum der Schöpfung, erhalten hatte. Doch inzwischen gab es auch Momente, in denen sie sich fragte, ob sie den Lohn, den Gott ihr versprochen hatte, falls sie ihn nicht enttäuschte, überhaupt anstrebte. Ob der Verlust ihres vampirischen Anteils – und der damit verbundenen Durchsetzungskraft – denn wirklich erstrebenswert war. Konnte jemand wie sie, der sich so lange Zeit dem Kampf gegen übernatürliche Gefahren gewidmet hatte, überhaupt noch auf ein normales Leben umschalten? Würde ihr Verstand es eines Tages verkraften, ohne die mit diesen Gefahren verbundene Herausforderung zu leben …? Aber jedesmal, wenn sie ihre Zähne ins Fleisch eines Vampirs senkte, wenn sie dessen übelschmeckendes Blut trank, um zu überleben, schob sie solche Zweifel beiseite. Dann wollte sie dieses Los um jeden Preis abstreifen. Aber ein Trunk aus menschlichem Blut …? Zu genau erinnerte sie sich noch an den Geschmack, den sie so sehr vermißte. Und sie war drauf und dran – »Wer … bist … du?« Schwerfällig rann die Frage über die aufgeworfenen Lippen des Priesters. Lilith hatte die Zeremonie minutenlang verfolgt, ehe sie eingeschritten war. Die pure Logik in ihr hatte längst begriffen, daß sie keinen Unterschlupf von Vampiren entdeckt hatte, sondern einem Akt pseudoreligiösen Wahns beiwohnte. Die Südstaaten der USA waren schon seit der Ankunft der ersten Siedler ein Nährboden, auf dem abstruse Ideen, Rassismus und Fanatismus gediehen. Der Süden, das war Ku-Klux-Klan, gesetzlich überwachte Prüderie und eine im Sommer mitunter unerträgliche Schwüle, die Farmer und Städter gleichermaßen kirre machte … »Wer ich bin?« Die Frage bewies endgültig, daß ihr der dunkelhäutige Zeremonienmeister nicht willenlos ausgeliefert war, und Lilith hoffte nur, daß er ihrem Ruf nicht nur deshalb gefolgt war, um
die Quelle zu finden. Und zuzuschütten. Nicht nur Vampire, auch einige Menschen widerstanden Liliths Hypnosemagie. Das hatte sie im Laufe der Zeit immer wieder erfahren müssen, ohne daß es offensichtliche Gründe für diese Immunität gab. Aber seit ihr Keim keine Diener mehr schuf, hatte er sich in eine Droge verwandelt, die jeden Vampir in dem Moment, da Lilith ihre Augzähne in seine Ader bohrte, zu bedingungsloser Unterwürfigkeit verurteilte. Dieser Keim war ihre Trumpfkarte im Kampf gegen ihre Feinde – und natürlich durfte sie auch auf die Stärke vertrauen, die ihr im Zustand der vampirischer Metamorphose zur Verfügung stand. Ein Gedanke genügte zur Verwandlung … »Ich bin dein Schicksal«, sagte Lilith. »Und vielleicht bist du mein Schicksal. Wer weiß …« Sie rechnete immer damit, zu unterliegen. Selbstüberschätzung war kein guter Verbündeter. Jeder Vampir war stark – und verfügte über einen Wissensschatz, der Liliths Erfahrung – allein an Lebensjahren – überlegen sein mußte. Denn keines der heute noch existierenden Kelchkinder war jünger als 270 Jahre. Damals hatte Felidae den Lilienkelch aus dem Dunklen Dom des Berges Ararat entwendet und dem Vampirgeschlecht entzogen. »Warum bist du hier?« fragte der Priester. »Ich kenne dich nicht. Ich sah dich nie zuvor.« Lilith zögerte. Dann sagte sie: »Selbst wenn du nicht bist, was ich suche, werde ich dich nicht eher aus diesem Raum lassen, bis ich sicher bin, daß das Mädchen draußen am Leben bleibt.« In seinen Augen stoben Funken. »Du scheinst nicht zu wissen, was du verlangst – und was du riskierst.« Lilith war nicht sicher, aber sie hoffte, daß er bluffte. »Du drohst mir?«
Seine nächste Erwiderung verblüffte sie noch mehr. »Nein. Nicht ich stelle die Gefahr dar. Und auch nicht meine Gemeinde. Was wir tun, entspringt keiner Bosheit. Du verstehst nicht … Wie solltest du auch?« »Wer seid ihr? Wer bist du?« Er nannte seinen Namen. Sie sagte ihm den ihren. Es hatte nichts mit Floskeln zu tun. Irgendwie schien Germain davon überzeugt, daß sie mit seinem Namen etwas anfangen konnte – und seltsamerweise hatte sie umgekehrt das Empfinden, daß auch er schon von ihr gehört haben müßte. Aber sie irrten sich, auch das wurde deutlich, beide. »Von welcher Gefahr redest du, Isaak?« fragte sie nach Momenten beiderseitigen Schweigens. Von draußen drangen Stimmen zu ihnen vor. Einige Leute riefen nach Germain, aber er reagierte nicht darauf. Schwer und unbewegt wie ein Denkmal stand er zwei Schritte von der Tür entfernt. Lilith war ihm so nahe, daß sie ihn mit ausgestreckten Armen hätte berühren können. Nein, befand sie. Ein Vampir ist er nicht. Es sei denn, er ist ein Meister der Verstellung und spielt Katz und Maus mit mir. Ansonsten hätte er mir längst die Zähne gezeigt … Und sie ihm. »So billig kommst du nicht davon!« »Niemand kommt davon.« Seine Grabesstimme entlockte ihr einen verächtlichen Seufzer. Trotzdem ließ sie ihn fortfahren: »Wenn ich nicht schnell zum Altar zurückkehre und vollende, was begonnen wurde, hält der Tod reiche Ernte – nein, Schlimmeres als der Tod. Ein Leben ist nichts dagegen. Wir haben SEINE Ruhe gestört. ES war bereits unterwegs zu uns, als du … als du mich riefst.« »Es? – Wer soll das sein?« In diesem Augenblick veränderte sich die Geräuschkulisse draußen.
Isaak Germain stöhnte leise auf. Lilith glaubte einen dünnen Blutfaden aus seinem Mundwinkel treten zu sehen. Aber vielleicht war es auch nur speichelartiger Auswurf. Der weißgekleidete Schwarze wankte. Seine bislang eng am Körper herabhängenden Arme bogen sich nach hinten, als versuchte er sich mit den Handflächen an der Tür zu stützen. Von einem Herzschlag zum anderen setzte draußen der unterbrochene Gesang aus Kinderkehlen wieder ein – ebenso das Stakkatospiel der Musikanten. Lilith las die Fassungslosigkeit in Germains Blick, und es mißfiel ihr, daß nicht einmal er eine Erklärung dafür hatte, warum man die Zeremonie allem Anschein nach ohne ihn weiterführte. »Aimee …«, mahlte seine Zunge. Lilith wußte intuitiv, daß er von dem Mädchen auf dem Altar sprach. Ohne zu überlegen ging sie auf Germain zu und stieß ihn zur Seite, damit er die Tür freigab. Er unternahm nicht einmal den Versuch einer Gegenwehr und kam zu Fall. Lilith beachtete ihn nicht weiter, sondern drehte den Schlüssel im Schloß. Knarrend gab die Tür in ihren Scharnieren nach, als sie langsam aufgezogen wurde. Durch einen solchen Spalt hatte Lilith die von Germain geleitete Feier beobachtet – nun wanderte ihr Blick erneut suchend durch das Gewölbe, das Ähnlichkeit mit einem Kirchenschiff besaß, aber frei war von wahrer christlicher Symbolik. Hie und da standen Schalen mit undefinierbarem Gebräu zwischen den Fetischen, die den Boden rings um den etwas erhöht auf einem Podest stehenden Altar bedeckten. Aber weder den singenden, tanzenden Voodoosi, noch dem Mädchen Aimee auf dem Opferstein zollte Lilith vergleichbare Aufmerksamkeit wie … … der Gestalt, die dort den kunstvoll geschmückten Dolch erhoben hatte, um zu vollenden, was Isaak Germain unterbrochen hatte. Daß das Entsetzen wie kalter Nebel durch Lilith Gehirn kroch, lag
daran, daß sie den Mann am Altar kannte. Oder zu kennen glaubte. Immerhin war sein Aussehen identisch mit dem Mann, der ein paar Schritte hinter ihr auf dem Boden der Kammer kauerte und damit beschäftigt war, nicht an dem Blut, das in immer heftigeren Eruptionen aus seinem Mund quoll, zu ersticken … Sie fuhr zu ihm herum. »Was geht hier vor? Hast du etwa einen Zwillingsbruder?« Isaak Germain starrte aus tränenverschleierten Augen zu der Frau auf, die keine Kleidung im eigentlichen Sinn trug. Das anthrazitfarbene Etwas, das ihre weiblichen Rundungen umfloß, erinnerte viel mehr an gekonntes body painting. Hauchdünn wie getrocknete, aber elastisch gebliebene Farbe wirkte der Stoff, der sich um ihre Haut spannte. Der Grand Commandeur stoppte den Flug seiner Gedanken. Er starb! Zumindest fühlte er sich, als hauchte er sein Leben unter Qualen aus. Wie Gift aus einer tödlichen Frucht, die ihre Schale in ihm geöffnet hatte, breiteten sich Krämpfe und unlöschbare Feuer in seinem Innersten aus. Halb von Sinnen starrte Germain auf das Sekret, das er in schnell aufeinanderfolgenden Schüben erbrach. Zunächst glaubte er nicht daran, daß es Blut sein könnte. Es sah aus wie der geleeartige Schleim, der aus Kauri-Muscheln troff, wenn man sie gewaltsam öffnete … »Antworte!« Sie erwartete wirklich eine Antwort. Sie mußte verrückt sein! Was meinte sie mit Zwillingsbruder? Als Isaak Germain nicht darauf einging, überwand Lilith die Distanz zu ihm mit ein paar schnellen Schritten, packte ihn am Kragen seiner Robe und riß ihn vom Boden empor. Auch als er stand, das Kinn auf die Brust gestützt und immer noch sabbernd, ließ sie ihn nicht los. Gut so, dachte er, denn aus eigener Kraft hätte er sich kaum noch aufrecht halten können. Ein teuflischer Chirurg schien das Korsett
des Rückgrats aus Germains Körper entfernt zu haben. Schlapp und haltlos, als besäße er kaum Gewicht, zitterte der massige Priester im Griff der absonderlichen Besucherin. Er wußte immer noch nicht, was sie von ihm wollte. Oder wie sie ihn dazu gebracht hatte, die Zeremonie zu unterbrechen, um zu ihr zu gehen. Daran, daß normalerweise niemand in die Intimsphäre dieses ihm allein vorbehaltenen Raumes hätte eindringen dürfen, verschwendete der Großmeister der Voodoosi kaum noch einen Gedanken. Es spielte wirklich keine Rolle mehr im Angesicht des Todes.
* Ungläubig blickte Lilith auf die Gestalt, um deren Kragen sich ihre Faust gekrampft hatte. Ihr Griff bewahrte Isaak Germain davor, sich der Schwerkraft zu ergeben und sofort wieder zu Boden zu sinken. Er ließ es sich gefallen, als wäre er ihr Spielzeug. Eine Marionette, deren Fäden jemand blutig durchtrennt hatte. Jemand … ETWAS! Lilith rief sich Germains Andeutungen in Erinnerungen. Die mysteriöse Gefahr, von der er gesprochen hatte. Eine Gefahr, die allen hier in dieser Stätte der Zusammenkunft drohte! Aber von wem? Lilith brauchte Germain nur anzuschauen, um ihm zuzugestehen, daß kein Bluff der Welt soweit gegangen wäre. Das Gewand, an dem sie ihn hielt, begann wie elektrisch aufgeladen zu knistern. Das war der Anfang. Dann verlor es seine Helligkeit, weil das Weiß von abgrundtiefem Schwarz verschlungen wurde, als saugte sich der Stoff mit Tinte voll. Oder als … Lilith blinzelte.
Nur kurz hatte sie den Blick von den Geschehnissen im Gewölbe gelöst, um sich ein Bild von Germains Zustand zu machen. Nun erhielt sie den letzten Beweis, daß eine starke übernatürliche Kraft ins Geschehen eingegriffen hatte – eine Macht, die mit Isaak Germain nach Belieben verfuhr! Im selben Maße, wie sich seine Kleidung verdüsterte, hellte sich die Haut des Priesters auf! Bleichte! Und schälte sich von seinem faulenden Fleisch …! Germain riß den Mund auf, als stünde er auf einem Scheiterhaufen, der ihm – wie Aimee drüben auf dem Altarstein – jedes Härchen vom Körper sengte. Aber kein Laut drang über seine verdorrenden, Blasen werfenden Lippen. Er sah aus wie eine ins Riesenhafte mutierte Laborratte mit deutlichen albinoiden Merkmalen. Wer ihn in diesem Moment sah, kahl, pigmentlos und aus unzähligen kleinen Wunden blutend, hätte ihm die Fähigkeiten abgesprochen, die er noch Minuten zuvor eindrucksvoll bewiesen hatte: die Fähigkeit, Massen zu führen, sie mitzureißen … Ein anderer tat es nun für ihn. Jemand, der aussah wie zuvor er. Auch wenn es Lilith wie Minuten vorkam, so liefen die Dinge, auf die es wirklich ankam, doch binnen Sekunden aus dem Ruder. Plötzlich bäumte sich Germain auf – aber nur, um sich übergangslos wieder zu entspannen und vollkommene Ruhe zu verbreiten. Stoische Ruhe, wie sie nur Toten zueigen ist, die keine Ambitionen haben, aus dem Jenseits zurückzukehren. Und die Chancen, daß Isaak Germain zum Widergänger werden könnte, standen miserabel. Unter Liliths Fingern verwandelte er sich in dieselbe amorphe Substanz, zu der auch die Tierleichen auf den Fetischen zerfielen – als gäbe es zwischen ihnen und Germain mehr als nur eine flüchtige Verwandtschaft. In diesem Augenblick begriff Lilith, daß sie in ein Wespennest gestochen hatte. Auch wenn die Fährte, der sie gefolgt war, nicht im Unterschlupf von Vampiren geendet hatte – was sich hier manifestierte, war mindestens ebenso gefährlich! Weil es auf dieser Seite der
Welt eigentlich nichts zu suchen hatte. Lilith erkannte es in dem Moment, als das Wesen mit dem Aussehen Isaak Germains ihr das Gesicht zudrehte, die Dolchklinge grimassenhaft lächelnd bis zum Schaft in Aimees Nabel trieb und gleichzeitig seine Maske fallen ließ. Sich zeigte, wie es darunter aussah. Und Lilith mit einem Blick zu sich befahl – wie sie es bei Isaak Germain getan hatte, der jetzt nur noch von winzigen schwarzen Blitzen umsponnene Asche war. Kalt verzehrt von dem, was nun nach Lilith griff …
* Die Wände des Gewölbe zerliefen wie Wachs in der Sonne. Und bei jedem Schritt, den Lilith auf den Altar zumachte, versank sie bis zu den Knöcheln in morastigem Stein … Es ist nicht wahr, dachte sie. Er betrügt mich! ES. Das Ding auf dem Podest! Das dämonische Gewächs, das mit nichts Ähnlichkeit hatte, was Lilith je gesehen hatte. Das schemenhaft blieb, weil ihre Sinne es nicht benennen konnten … Unwillkürlich mußte sie an die Geschehnisse im Garten Eden denken, wo das erste von Gott erschaffene Menschenpaar bestimmt worden war, den Tieren und Pflanzen Namen zu geben – um ihnen auf diese Weise erst Wirklichkeit zu verleihen. In diesem einsamen Moment im Angesicht einer unbenamten Kreatur bildete sich Lilith ein, daß sie verstand, welcher immensen Gefahr Gott dadurch für spätere Generationen hatte vorbeugen wollen. Für dies hier gab es keine passenden Begriffe – und Lilith war nicht in der Lage, welche zu erfinden. ES blieb ES. Schattenhaft, gewaltig … und ganz nah! Nicht nur Lilith saß in der Falle. Nicht nur Aimee war sein Opfer.
ES würde keinen schonen. Nicht den Chor der Kinder, nicht die immer mehr außer Rand und Band geratenden Musikanten – und auch die anderen Voodoosi nicht! Lilith konnte nur ahnen, daß die Menschen hier an Kräften gerührt hatten, die sie nicht zu beherrschen vermochten – die vielleicht niemand beherrschen konnte. Das Fremde war zu stark, zu anders. Hohl hallte das Echo seiner Rufe in Lilith wider. Abstrakte Gedankenmuster, die ihr eigenes Denken umzuprogrammieren drohten. Es empfänglich machten für … die Idee, in dem Namenlosen aufzugehen. Die eigene Identität aufzugeben und künftigen Terror mitzubetreiben. Hier, in dieser Welt, oder anderswo, in einer Umgebung so fremd wie das Wesen, das Ding, das in diese Realität eingebrochen war … Lilith erreichte das Podest, wo auf dem Altarstein Aimee lag, der Blut aus Mund, Nase und Ohren quoll. Sie zuckte und wand sich in den Fesseln, die ihre Arme und Beine banden. Ihre Haut war fast durchscheinend vor Blässe geworden. In ihren Augen waberte die Schwärze, als hätte jemand Sternenlosen Weltraum hineingepackt. Sie war nicht mehr bei Sinnen. Vielleicht spürte Aimee gar nicht mehr, was das Abscheuliche in Gestalt Isaak Germains ihr antat – obwohl Lilith dies bezweifelte. Viel wahrscheinlicher war, daß das Leid, der Mißbrauch und alle Gewalt, die dieser gräßliche Dämon seinen Opfern antat, auch über den Tod hinaus dauerte … Der Altar war zum Greifen nah. Er stand zwischen ihr und dem … Namenlosen. Aimee war verloren. Isaak Germains ganze Gemeinde war verloren. Und sie wußten es – jeder einzelne von ihnen. Jedes Kind und jeder alte Mann. Sie sangen, tanzten und schrien lustvoll ihre Ängste hinaus. Musikanten spielten mit blutigen Fingern. Die ersten Voodoosi fielen übereinander her … Nein, dachte Lilith. O nein! Sie konzentrierte sich.
Sie wollte etwas tun. Sich wehren. Aber die Einflußnahme auf Isaak Germain hatte Kraft gekostet. Kraft, die jetzt fehlte. Das Wesen sah sie an. Ohne Augen. Und es gierte nach ihr. Ohne Mund. »Wer bist du?« keuchte Lilith. Sie erhielt keine Antwort. Aber das Unaussprechliche hörte und verstand sie, dessen war sie sicher. Jetzt zog ES den Dolch aus Aimees Körper und stieß ihn in den eigenen, als wollte ES zeigen, wie wenig IHM eine solche Klinge anzuhaben vermochte. ES schien unbesiegbar. Die, die es gerufen – oder provoziert – hatten, waren nichts anderes als Futter. Oder, noch schlimmer, Zeitvertreib. »Woher – kommst du?« Lilith hörte sich selbst beim Reden zu. Dabei versuchte sie mit aller Macht, den Bann, den Willen unter dem sie handelte, zu zerbrechen oder wenigstens zu schwächen. Einen Erfolg spürte sie nicht. Ihre eigene Magie verpuffte wie ein laues Lüftchen, das es mit einem Sturm aufnehmen wollte. Für einen Augenblick lang schienen die Zeit und jede Bewegung um sie herum zu gerinnen. ICH KOMME VON JENSEITS DER GRENZE, wisperte es in ihrem Verstand. UND DU? WOHER KOMMST DU? DU BIST NICHT WIE DIE ANDEREN. DU BIST … ZWEI. ICH VERSTEHE NICHT … Lilith verstand sehr wohl. Der Symbiont, ihr Mimikrykleid stellte den Dämon vor Probleme; der Hautfetzen der Ur-Lilith, der in Heraks Genlabor zur selben Größe gewuchert war wie der ursprüngliche Symbiont, den Lilith einst in ihrem Geburtshaus in Sydney erhalten hatte, um einen Verbündeten im Kampf gegen ihre Feinde zu haben. Aber von all den grandiosen Fähigkeiten des lebenden Gewebes waren diesem aufgepäppelten Fragment nur zwei geblieben: die Gabe der Verwandlung und die Resistenz gegen Feuer. Lilith konnte
allein über ihre Vorstellung jedes Kleidungsstück damit erzeugen. Aber Eigeninitiative wie früher vermochte der Symbiont nur noch unter höchster Gefahr zu entwickeln; wie ein Reservoir letzter Kräfte, die erst dann freigesetzt wurden, wenn es ums eigene Leben ging. Als Waffe war der Symbiont nicht mehr zu gebrauchen. Und selbst das Wenige, was er noch leistete, ließ er sich teuer bezahlen. Mit Blut. Ihrem Blut. Anders als das Original ernährte sich dieses Fragment nicht mehr von schwarzem Vampirblut, sondern von rotem Blut, wie es in Liliths Adern zirkulierte. Und obwohl Lilith noch keine Indizien dafür gefunden hatte, daß sie von dem Symbionten »angezapft« wurde, machte sie sich keine gegenteiligen Illusionen. Der Pakt zwischen ihr und dem Mimikrykleid hatte Bestand. Aber er würde sie aus dieser Misere nicht retten … DU BIST ZWEI, schob sich das Fremde erneut zwischen ihre eigenen Gedanken. KOMM ZU MIR. KOMM IN MICH! Lilith versuchte sich in ihre Metamorphose zu flüchten. Aber der Impuls, der normalerweise genügte, um sie die Gestalt und Eigenheiten einer Fledermaus annehmen zu lassen, zuckte ins Leere. Dieser und jeder andere, den sie folgen ließ. Nur noch der Altar trennte sie von IHM. Und statt ihr fing jetzt Aimee (die tote Aimee!) an, sich auf dem schwarzen Stein zu verformen – ihre Fesseln abzustreifen. Aimee wurde zu einer Fledermaus! Die matten Bewegungen der Schwingen wirkten wie pure Reflexe, zu kraftlos, um den toten Körper vom Stein zu erheben. »Hör auf!« fauchte Lilith. »Hör auf, sie zu verhöhnen!« Das geballte Fremde jenseits des Altars schien selbst den Gefallen an dem Kunststück zu verlieren. Die Fledermaus schrumpfte zu einem kläglichen, faustgroßen Etwas, das Ähnlichkeit mit versteinerten Exkrementen hatte. So werde auch ich enden, dachte Lilith. Gleich.
Jetzt! Sie versuchte ein letztes Mal, den Zwang, der sie beherrschte, abzustreifen. Sinnlos … KOMM, lockte das Unbeschreibliche. Sein Arm erreichte sie über den Altar hinweg. Die Berührung war wie ein schwarzer Blitz, der nicht aufhören wollte, in ihren Körper einzuschlagen. Lilith hatte das Gefühl, zwischen einen Hammer und einen Amboß geraten zu sein. Es war aus. Aber war es auch vorbei?
* Zur gleichen Zeit am oberen Missourilauf, South Dakota Makootemanes Atem schien über dem Feuer zu gefrieren. Von jenseits der knisternden Flammen beobachtete ihn das Auge des Adlers. Das Totemtier der Arapaho saß regungslos auf dem Pflock, den Makootemane vor Jahrhunderten in die Erde geschlagen hatte. Zum ersten Mal seit seiner Rückkehr vom Heiligen Berg wurde das Stammesoberhaupt wieder von düsteren Vorahnungen heimgesucht. Visionen, die das in Frage stellten, was seinen starken, ewig jungen Körper in ein Wrack verwandelt hatte: Seinen Sieg über das Böse … Wo bist du, Wyando? dachte der vergreiste Vampir. Warum antwortest du meinen irrenden Gedanken nicht? Was hindert dich, in den Schoß deines Stammes zurückzukehren …? Wyando, das letzte von Makootemanes Kindern im Blute, war fortgegangen. Mit jener Wolfsfrau, die dreihundert Jahre zuvor in die vom Weißen Mann unberührte Wildnis des nordamerikanischen
Kontinents gekommen war, um zusammen mit ihrem Begleiter vampirisches Leben zu säen. Makootemane hatte Gnade unter den Augen des Kelchhüters gefunden und war – damals noch ein Kind von neun Jahren – zum Begründer eines Stammes Unsterblicher geworden. Andere Kinder waren seinem Beispiel gefolgt und hatten sein Blut aus dem Lilienkelch getrunken.* Um zu sterben. Um aufzuerstehen. Durchdrungen von … Nun, zunächst hatte sie nur die von dem Fremden geschenkte Macht interessiert. Erst nach und nach – und unter Einflüssen, mit denen der Kelchhüter nicht gerechnet hatte – war aus Wesen, die einen Pakt mit der Finsternis geschlossen hatten, das geworden, was die Klauen des Bösen abgestreift und einen eigenen Weg beschritten hatte. Einen Weg im Einklang mit der Natur. Und mit den Menschen, von deren Blut sich die Unsterblichen nähren mußten … Makootemane seufzte. Er hatte stets den Tag gefürchtet, da der Hüter des Kelchs zu ihnen zurückkehren und erkennen würde, was aus ihnen geworden war. Doch statt des Hüters war der Drache zu ihnen gekommen – ein Unheil, das Makootemane rechtzeitig gedeutet und dem er die Stirn geboten hatte. Etwas Unaussprechliches war über die Welt der Vampire hereingebrochen. Etwas, das von ihren Stammvätern, die einst ihr Blut in den Lilienkelch gegeben hatten, auf die Kelchkinder, die davon getrunken hatten, übersprang. Die Begründer der Sippen wurden zu Boten des Untergangs. Jeder Vampir, der seinem Oberhaupt nahe kam, wurde von einem tödlichen Funken befallen, der sich wie purpurner Staub auf ihn niedersenkte und ihn zu jämmerlichem Siechtum und Sterben verurteilte! Keines Menschen Blut vermochte einen
*siehe VAMPIRA T06: »Der Atem Manitous«
Befallenen länger mit dem zu versorgen, was sie das Alter hatte betrügen lassen – Jahrhunderte lang. Zynischerweise verschont vom Tod blieben allein die Überträger dieser seuchenartigen Heimsuchung: die Stammväter! Auf welche Weise Makootemane rechtzeitig Kenntnis von dieser Bedrohung erhalten hatte, vermochte er nicht zu sagen. Manchmal glaubte er, Manitou selbst habe Mitleid mit seinen Kindern bekommen. Mitleid mit einem Splitter seiner Schöpfung, der sich ihm erst entfremdet, dann aber auf wunderbare Weise wieder angenähert hatte … Etwas kaum Wahrnehmbares riß Makootemane aus seiner Nachdenklichkeit. Vielleicht war es nur der eigene Lidschlag, der die Luft kurz zum Erzittern gebracht – und sich weiter in die ganze Welt fortgepflanzt hatte. So wie der Flügelschlag eines Schmetterlings tausende Meilen entfernt einen Taifun gebären konnte … Als er nun erneut den Blick des lebenden Totems kreuzte, das seinen Stamm durch die Jahrhunderte begleitet und geschützt hatte, glaubte Makootemane einen stummen Schrei in dem ihm zugewandten Auge des Adlers zu lesen. Einen Schrei um Hilfe. Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Aber als er genauer hinsah, fand er nichts mehr von dem, was er gesehen zu haben meinte. Still und stoisch thronte der stolze Vogel auf dem Pflock, schloß seine Augen. Er hatte geholfen, den Drachen zu besiegen – in einem Kampf, der Makootemanes Körper für immer ruiniert hatte. Und den des Totems auch …
* Zwei Tage später Chelana erwachte, weil in ihrer Brust etwas hart gegen den Rhyth-
mus ihres eigenen Herzens zu pochen begonnen hatte. Es fühlte sich an wie – ein zweites Herz, und es machte ihr angst. Angst! Sie hätte am liebsten aufgelacht, denn sie konnte sich nicht erinnern, je eine solche Regung verspürt zu haben – nicht einmal, als ihr Blutsvater Makootemane sich in den Heiligen Berg geflüchtet hatte, um seine Kinder vor dem drohenden Untergang zu bewahren. Vor einem zornigen, purpurnen Drachen, der allen vampirischen Geschöpfen nachstellte und also auch Chelana nach dem Leben trachtete … Wie still dieser Tag war! Der lange Winter hatte sich verabschiedet. In den letzten Tagen war der Frühling mit Macht zurückgekehrt. Die Natur erwachte aus frostigem Schlaf, und selbst die Menschen in der nahegelegenen Stadt fanden allmählich wieder zu einem Leben zurück, das frei war von lähmender Düsternis. Die Indianerin stand eine ganze Weile regungslos im Eingang ihres Zelts, dessen zurückgeschlagene Büffelhaut in all den Jahrhunderten nichts von ihrer Geschmeidigkeit eingebüßt hatte. Die anderen Arapaho schliefen. Tagsüber war die beste Zeit für Geschöpfe ihrer Art, um sich niederzulegen und auszuruhen. Sie machte einen unentschlossenen Schritt ins Freie. Das Gefühl, von dem sie aufgeschreckt worden war – die Angst, die keinen Namen hatte –, war immer noch präsent. Vor ihr lag der Dorfplatz mit dem kunstvoll geschnitzten Totempfahl, dessen Holz von einer Alterspatina überzogen war. Auf magische Weise kündete er von den Ruhmestaten derer, die sie einst errichtet hatten. Auf der Spitze des Pfahls thronte die hölzerne Nachbildung jenes Ur-Adlers, dessen reine Tierseele dereinst alle Kelchkinder des Stammes geläutert hatte. Während ihr eigener Adler sie mit einem heiseren Schrei aus einem der das Dorf umgebenden Bäume begrüßte, wandte sich Chelanas Blick dem Häuptlingszelt zu.
Makootemane war der erste gewesen, der von den Schwächen seines Menschseins erlöst worden war. Das Blut eines bleichgesichtigen Besuchers hatte ihn getauft – und Makootemanes Blut hatte danach dreizehn weitere Kinder des Stammes ihrer Bestimmung zugeführt. All das war unendlich lange her. Und doch konnte Chelana sich noch an jede Einzelheit erinnern, als wäre es gestern gewesen. Sie trat vor den Totempfahl hin, zitternd – als würde sie von den unerklärlichen Beben in ihrer Brust erschüttert. Makootemane … War es ein Fehler gewesen, seinem Ruf zu folgen? Nachdem die Prophezeiung vom Sturz des Adlers gesprochen und ihr Häuptling sich in den Heiligen Berg zurückgezogen hatte, war der Stamm in alle Winde zerstreut worden. Dieser Ort schien nicht mehr sicher. Er schien das Unheil anzuziehen. Wochen später hatte sie dann Makootemanes Nachricht erreicht, daß der Dämon, der sie bedroht hatte, von ihm besiegt worden sei – und vertrauensvoll waren sie hierher zurückgekehrt. Alle. Bis auf einen … Hidden Moon, dachte Chelana mit zwiespältigen Gefühlen. Hidden Moon ist dem Ruf unseres Vaters als einziger noch nicht gefolgt. Und die Ungewißheit, was aus ihm geworden ist, nagt an Makootemane. Hidden Moon war immer sein Liebling … Eifersucht schwang in dieser Feststellung nicht mit. Chelana lenkte ihre Schritte zum Häuptlingszelt. In manchen Momenten fand sie es selbst befremdlich, welches Leben sie hier führten. Daß sie die Zelte einer festen, modern eingerichteten und mit allen Bequemlichkeiten ausgestatteten Behausung vorzogen, obwohl sie die Macht besaßen, unbehelligt in Palästen zu wohnen. Verrückt. Und doch … Nur hier konnten sie den engen Kontakt zur Natur pflegen, mit der sie in vollkommener Harmonie lebten. Makootemanes Stimme wurde von den ledernen Wänden, die ihn
umgaben, kaum gedämpft oder verfälscht. Chelana konnte deutlich hören, wie er die Rückkehr des verschollenen Sohnes beschwor. Wie er nach ihm rief. Sie war überzeugt, daß er keine Aufmerksamkeit für sie und ihr Problem erübrigen konnte – nicht jetzt. Unglücklich wandte sie sich ab. Als sie erneut den Dorfplatz überquerte, erstarb der unerklärliche zweite Pulsschlag abrupt, und im ersten Augenblick erschien ihr die betäubende Rückkehr der Normalität fast unerträglicher als jener andere Zustand. Sie bemerkte, daß sie genau neben dem Totem stand. Und daß eine merkwürdige Aura von dem uralten Holz auszugehen schien, so ganz anders als alles, was sie bislang gefühlt hatte – und doch auf merkwürdige Weise vertraut. Wie ein Echo aus längst vergangener Zeit … Chelana streckte die Hand aus und strich über den rauhen Stamm. Und zuckte zusammen, als ein Holzsplitter in ihr Fleisch drang. In diesem Moment verlor die Sonne im Zenit ihren Glanz – und etwas stahl der Welt ihre Farben …
* Einige Meilen entfernt, New Jericho Die fremde Hand strich über den Nacken des Mannes, dort wo ebenholzschwarzes Haar auf die Schultern herabfiel und den zarten Gefiederflaum verbarg. »Was ist das?« fragte die Frau, während ihre Finger unbewußt die Stelle zu liebkosen begannen. »Nichts«, log er. »Nichts von Bedeutung … für dich.« Tatsächlich war dieser Flaum beinahe so alt wie der Vampir selbst, auf dessen Haut er sproß. Und ein fühlbares Symbol für die schier
unglaubliche Nähe, die jeden der unsterblichen Arapaho-Indianer seit dem magischen Sommer 1688 mit den Totemtieren des Stammes verband … Nicht auf den Schwingen des Adlers, sondern im Wagen einer Frau, die er in der Nähe von Pierre, dem nächstgelegenen Flughafen, kennengelernt hatte, war Wyando in die waldreiche Landschaft des Cedar Buttes – des zweitausend Fuß hohen heiligen Bergs der Arapaho – zurückgekehrt. Was ihn hier erwartete, wußte er nicht. New Jericho war von den sterblichen Arapaho gegründet worden. Wyando hingegen hatte mehr als dreihundert Jahre seines Lebens in dem Dorf verbracht, in dem er auch aufgewachsen war – so als wäre die Zeit dort zwischen den einfachen Zelten aus Büffelhaut stehengeblieben. Für seinen und die Körper der anderen Kelchkinder war sie das tatsächlich. Beinahe jedenfalls … Wyando – oder Hidden Moon, wie sein zweiter Name in der Sprache der Weißen lautete – schmiegte sich fester an die fremde Haut, die ihn durch ihre Wärme faszinierte. Sein eigenes Fleisch erschien ihm manchmal fischkalt. Dieses Gefühl entsprang nicht nur purer Einbildung, denn immerhin hatte der Tod das Rot seines Blutes getilgt, und sein Herz schlug seit jenen Tagen deutlich träger – wenngleich jener kurze Moment vollkommenen Stillstands den Körper zugleich auf absurde Weise gestählt hatte. Was Kraft und Ausdauer betraf, konnte nichts und niemand den Arapaho, die mit Makootemanes Blut getauft worden waren, die Stirn bieten. Wirklich nichts? Wyando verkrampfte, als das geschah, was er hatte vermeiden wollen: Die Erinnerung holte ihn ein. Das Bewußtsein, daß er – abgesehen von Makootemane – der letzte bluttrinkende Arapaho war, der seine Heimaterde nicht mied. Und Makootemanes Schicksal war schon ungewiß gewesen war, als Wyando vor Wochen in die ferne Stadt Bangor aufgebrochen war. In Begleitung der Wolfsfrau, die geglaubt hatte, in ihm einen mächtigen Verbündeten gefunden zu ha-
ben … »Warum hörst du auf?« Wyando blickte in Augen, die ihm gehört hätten – wenn er es nur gewollt hätte. Aber dann hätte er auch auf die Genugtuung verzichten müssen, um seiner selbst willen begehrt zu werden. »Ich war in Gedanken, entschuldige.« »Du hast Sorgen?« Die Frau, in die er vor Minuten ungestüm eingedrungen war, kauerte über ihm. Ihre Brüste hingen so nah vor seinem Gesicht, daß Wyando sie ohne Mühe mit Lippen und Zähnen hätte erreichen können. Doch er lag nur da. Matt umschlossen seine Hände ihre schmale Taille, und seine Erektion, das begriff er, existierte kaum noch. Sein Glied wurde von kaum mehr als Margeaus gutem Willen in ihrem Schoß gehalten. »Es ist schon wieder vorbei. Gib mir noch eine Chance.« Ein undefinierbarer Zug prägte sich um den Mund der Frau und ließ ihre Sinnlichkeit explodieren. »Ich glaube nicht, daß ich dir überhaupt etwas abschlagen könnte …« Nicht, wenn mir wirklich daran läge, stimmte Wyando ihr unhörbar zu. Sie beugte sich zu ihm hinab, um ihn leidenschaftlich zu küssen. Ihre Zungen kämpften miteinander. Es war ein unblutiges Gerangel, und dennoch lenkte es Wyandos Sehnsucht auf den kostbarsten aller Schätze, der unter bleicher Haut verborgen war und zu dem er Zugang zu erhalten hoffte … Er stöhnte, weil sie mit der Hand nach dem erschlafften Muskel griff und ihn kundig zu neuer Größe stimulierte. Margeau verabschiedete sich aus seinem Mund. Ihre sinnlichen Lippen zeichneten eine feuchte Spur über Wyandos Brust und Bauch, bis hinab zum Ziel ihrer eigentlichen Begierde. »Ich werde dich aussaugen!« versprach sie mit blitzenden Augen. Obwohl Wyando eine ganz ähnliche Idee verfolgte, ließ er ihr den
Vortritt. Schon nach wenigen Minuten, in denen sie ihn auf die angekündigte Weise verwöhnte, fühlte er, wie sich das Unaussprechliche in ihm aufbaute – – aufbaute und verschlang! Für Sekunden verlor er jede Bindung zu dem Zimmer, das sie im LAKE SUPERIOR angemietet hatten, und zu Zeit und Raum generell. Margeaus kehliges Lachen hörte er wie durch Wände aus Watte. Er ließ sich vollkommen treiben, während sie immer lauter stöhnte und kleine hohe Schreie ausstieß, als würde auch sie von einer dunklen Woge zu einem Höhepunkt nie erlebter Stärke getragen werden. Schließlich glitt sie über ihn hinweg und preßte ihren festen Busen gegen seine breite Brust. »Das war die Vorspeise«, hauchte sie, während sie mit den Fingernägeln dünne, schnell verblassende Linien auf seiner rötlich braunen Haut zog. »Glaubst du, du schaffst den Hauptgang noch?« Wyando wollte nicken – aber da etwas schrie in ihm auf. Aus seinen Augen lösten sich zwei schwarze Tränen. Margeau starrte ihn an, sprachlos vor Entsetzen. Eine Gänsehaut überzog ihren kompletten Körper. »Was –?« Er antwortete nicht, sondern lauschte dem Echo des zerfasernden, lautlosen Schreies. »Vater«, flüsterte er. »Vater?« Wahrscheinlich hätte sie in diesem Moment geschworen, daß er den Verstand verloren hatte. Aber das hätte immer noch nicht die Schwärze seiner Tränen erklärt … Er hob einen Arm, um sie zum Schweigen zu bringen. Sie rückte von ihm ab. Plötzlich schien sie ihre Nacktheit mit Verletzlichkeit gleichzusetzen, denn sie raffte ihre Kleider zusammen und floh regelrecht zur Tür des Motelzimmers.
Wyando sah ihr nach, ohne sie zu sehen. Dann ging er ihr nach, ohne daß er das, was er tat, für mehr als eine Idee hielt, die nicht in die Tat umgesetzt werden mußte … Sie schaffte es nicht aus der Tür hinaus. Er holte sie ein, stoppte sie brutal, und als sie zu schreien begann, schlug er ihr ansatzlos mit der Faust gegen die Schläfe, so daß sie ihm bewußtlos entgegenfiel. Er schleifte sie zum Bett zurück, und erst lange nachdem sich seine Zähne in ihre pralle Ader gegraben hatten und das Elixier seines ewigen Lebens bereits unter seinen Lippen erkaltete, kam er langsam wieder zu sich. Viel zu langsam. Sie war nicht mehr zu retten. Das einzige, was er noch für sie tun konnte, war, ihr ein ewiges, aber geknechtetes Dasein zu ersparen. Und er scheute sich nicht, es zu tun.
* New Orleans … oder wo? Nur ein Traum: Ich rede mit den Toten. Ich bitte um Vergebung. Nachts schrecke ich auf, in Schweiß gebadet, und ich sehe ihre Grimassen vor mir. Die anklagenden Augen derer, die ich verraten habe, oder – noch schlimmer – die von der dunkle Seiten meines Ichs umgebracht wurden. Sie werden es mir nie verzeihen. Ich würde es auch nicht tun … »Was ist das?« fragt Freud und zeigte auf meine Hand. »Ein … Symbol.« »Wofür?« Mit der Kuppe des Zeigefingers fahre ich darüber. Die Fledermaus ist unfühlbar. Daß es einmal eine Tätowierung war, läßt sich nicht mehr erkennen. Man könnte meinen, ich sei mit dieser aberwitzigen
Pigmentierung geboren worden. »Für meine Bestimmung«, sage ich. »Meinen Auftrag.« Leder knarrt, als ich mich unbehaglich zurechtrücke. »Wie lautet dieser Auftrag?« Der Raum spiegelt sich in Freuds Brillengläsern – aber darin ist die Couch, auf der ich ausgestreckt liege, leer. »Töte die Vampire!« bricht es aus mir hervor. »Töte sie alle! – Nur wenn mir dies gelingt … werde ich vielleicht eines Tages …« »Wirst du was?« »Werde ich dereinst sein, was ich immer sein wollte!« »Was?« »Mensch«, antworte ich erstickt. »Ein Mensch …« Er schweigt und legt die Stirn in Falten, als müßte er nachdenken. Mich verlangt es, ihm die Brille vom Gesicht zu reißen. Sie verhöhnt mich. Aber dahinter schimmert bereits eine andere verlassene Couch in einem anderen Spiegel, und um diesen zu zerstören, müßte ich Freuds Augäpfel mit den Nägeln meiner Klauen verheeren … Ich bin vor Durst wie von Sinnen. Durst, der nicht nur meine Kehle ausdörrt, sondern meinen ganzen Körper. Es ist, als läge ich nackt unter glühendem Wüstensand begraben. Aber jene Wüste ist in mir – jenseits meiner geschlossenen Lider –, und ebenso die Sonne, die mich aushöhlt, mich auffrißt und ihre Krebsblumen in mir erblühen läßt. Metastasen, die sich wie … … unzählige winzige, mit Widerhaken besetzte Zähne in meine Haut, mein Fleisch beißen …! Widerhaken? Ich öffne nicht einfach nur die Augen – sie quellen mir aus den Höhlen! Mein ganzer Körper revoltiert unter schlimmstem Entzug! Ich Närrin brauche Blut! Vampirisches Blut …! Brauche es wie die Luft zum Atmen! Es ist so lange her, daß sich meine Lippen dem zähen, ekelerregenden und doch unersetzlichen Strom geöffnet haben. Zu lange. Und
jetzt … schnappt die von Gott gestellte Falle zu! WAS ICH ÄNDERN WERDE UND WAS DICH STETS AN DEINE AUFGABE ERMAHNEN WIRD, IST DIE FARBE DES BLUTES, WELCHES DICH FORTAN AM LEBEN ERHÄLT! ES WIRD NICHT MEHR ROT SEIN, SO DASS DU DICH NICHT WEITER AN MENSCHEN VERGEHEN MUSST, SONDERN SCHWARZ. KEINES MENSCHEN BLUT WIRD DICH JE WIEDER NÄHREN! ES WÜRDE NICHT MEHR VITALITÄT IN DIR ENTFACHEN ALS DAS BLUT VON TIEREN! SO WIRST DU ALSO VERDAMMT SEIN, DIEJENIGEN ZU JAGEN, DIE MEINER STRAFE ENTGANGEN SIND. UND SOLLTEST DU STERBEN, OHNE DEINE BESTIMMUNG ERFÜLLT ZU HABEN, WIRD DEINE SEELE NIE MEHR RUHE FINDEN – NICHT EINMAL NACH DEM JÜNGSTEN GERICHT! VOLLENDEST DU ES ABER, WIRST DU IN DEN STAND ERHOBEN, DEN DU DIR ERSEHNST! WIRST DU EINE STERBLICHE UNTER STERBLICHEN! Wie das Echo jenseitiger Hammerschläge hallen die Worte in ihr nach. Worte vom Anfang der Zeit. Lilith erwachte.
* South Dakota Fassungslos starrte Wyando auf die Frau, deren Gesicht ihn, auf den Rücken gedreht, anstarrte. Am meisten erschütterte ihn, daß Margeaus Liebreiz selbst im Tod unverdorben geblieben war. Wie in einer Momentaufnahme eingefroren hatten ihre weichen Züge einen Glanz bewahrt, der selbst dem Grauen trotzte, das Wyandos Angriff hinterlassen hatte. Was habe ich getan? Er konnte nicht fassen, wozu er sich im Wahn hatte hinreißen lassen. Im Wahn?
Ja, denn etwas hatte sich bei ihm gemeldet. Auf eine Weise, wie sich nur der große alte Häuptling den Kindern seines Stammes mitzuteilen vermochte. Es war keine in Worte gefaßte Botschaft gewesen, dennoch beinhaltete sie eine von tiefer Melancholie getragene Sehnsucht, die Wyando als Empfänger akzeptiert – und Schreckliches in ihm bewegt hatte. Er hatte getötet! In grauer Vergangenheit hatten die Angehörigen vom Stamm der Arapaho-Vampire ihre Opfer gemordet – aus purer Lust oder um die Spuren, die zu ihnen geführt hätten, zu verwischen. Aber das war geschehen, bevor das Stammes-Totem – der von Makootemane mit Kelchblut getaufte Adler – ihre Seelen vom Bösen befreit, reingewaschen und die Narben darin geheilt hatte …! Was war geschehen, daß die alten Greuel wieder aufleben ließ? Wyando durfte keine Zeit mehr verlieren …
* Es dämmerte bereits, als der Adler das Dorf erreichte, das er für verlassen hielt, aufgegeben von den seinen. Aber obwohl Wyando schon von weitem seinen Irrtum erkannte, war er zunächst unfähig, wirkliche Erleichterung oder gar Freude darüber zu empfinden, als der Wind ihm vertraute Stimmen zutrug. Stimmen seiner Brüder und Schwestern. In geringer Entfernung der Zelte verwandelte sich Wyando in seine wahre Gestalt zurück. Wenige Atemzüge genügten, sich wieder darin zurechtzufinden und dem Makel zu fügen, nicht länger des Fliegens mächtig zu sein. Den ganzen Weg hierher hatte er herauszufinden versucht, ob es tatsächlich sein Vater war, dessen Gedanken ihn in dem schäbigen Motelzimmer von New Jericho erreicht hatten und diese Kurzschlußhandlung in ihm ausgelöst hatten. Er hatte keine Antwort
darauf gefunden. Ein abgemagerter Greis wankte Wyando entgegen, kaum daß die ersten, chamäleonartig in die Waldlandschaft eingepaßten Zelte sichtbar wurden. »Endlich, mein Sohn …!« Er blieb wie vom Donner gerührt stehen. »Vater«, rann es spröde über seine Lippen. Seine Stimme klang zerbrechlich wie Glas – oder wie die morschen Knochen desjenigen, der jetzt mühsam die Arme ausbreitete. Zweifellos war es Makootemane, aber was war aus ihm geworden? »Nein!« keuchte Wyando, und daß er zögerte, sich in die Arme dieses Greises zu begeben, lag einmal an der irrationalen Angst, ihn zu zerbrechen – und zum anderen daran, daß Makootemane sich in einen Spiegel verwandelt hatte, in dem Wyando sehen konnte, wie er selbst ausgesehen hätte, wenn die Natur nicht über so lange Zeit betrogen worden wäre. »Wer hat dir das angetan … Vater?« Auf Makootemanes Zügen erschien der Schatten eines Lächelns. »Der Drache. Der Drache war es – aber nun ist er besiegt! Die Gefahr ist vorbei. Nun sehe ich zwar aus wie der Tod, aber ich bringe keinem meiner Kinder mehr Siechtum und Sterben … Wo bist du so lange gewesen? Warum hast du meine Rufe nicht erhört?« Ehe Wyando etwas darauf erwidern konnte, ertönte über seinem Kopf ein heiserer Schrei, in dem soviel Seelenqual lag, daß das Herz des Arapaho-Kriegers sich verkrampfte. Er schaute nach oben und entdeckte einen über den Baumwipfeln kreisenden Adler. Der Vogel sah aschgrau, zerrupft und alterszerfressen aus und ähnelte damit Makootemane, aus dessen Hand das Kelchblut einst in seinen Schnabel geflossen war, um auch dort ewiges Leben zu verbreiten. Das Totemtier, so alt wie die ArapahoVampire, war nur noch ein Schatten seiner selbst … Makootemane war dem Blick des Heimkehrers gefolgt und sagte: »Wir haben beide gegen den Drachen gekämpft – und beide einen hohen Preis dafür bezahlen müssen.«
Mit knappen Sätzen erklärte er Wyando, was in der Höhle im Berg geschehen war. Auf welcher spirituellen Ebene sich die Schlacht gegen das Böse abgespielt hatte. »Manitou hat seinen Kindern verziehen«, schloß er, und Wyando wußte nicht genau, warum er dieser Ansicht mißtraute. Vielleicht, weil die Werwölfin Nona ihm zu vieles über die Krankheit berichtet hatte, die die Mehrzahl der Kelchkinder rund um den Globus befallen hatte. Obwohl – Krankheit war vermutlich nicht das richtige Wort dafür war. Es war eine Strafe, die ihnen der Weltenschöpfer selbst geschickt zu haben schien. Nona hatte Wyando den Namen jenes Vampirs verraten, der die Arapaho vor mehr als dreihundert Jahren besucht und dem Kelchritual unterzogen hatte: Landru. Das Leben dieses Kelchhüters reichte Jahrtausende weit in die Vergangenheit zurück und entzog sich damit jedem wirklichen Verstehen. Wyando fühlte sich tief in seinem Kern manchmal steinalt – aber sich in die Gedankengänge und Beweggründe eines Wesens hineinzuversetzen, das um ein Vielfaches länger lebte und jeden fernen Winkel der Erde gesehen hatte, war schlicht … unmöglich. »Du glaubst mir nicht?« fragte Makootemane. Wyando wollte abwiegeln und nach einer Ausflucht suchen – doch ein Blick in die Augen des Greises weckte den Verdacht, daß Makootemane geradezu auf eine Bestätigung wartete. »Was geht dort vor?« fragte Wyando. Er streckte den Arm aus und zeigte in die Richtung, aus der Makootemane gekommen war. Die Züge des Oberhaupts schienen noch sichtbarer zu zerfallen. »Du wirst es erfahren, wenn du mich begleitest …« Makootemane seufzte abgrundtief. »Nein, das ist nicht wahr«, berichtigte er sich dann. »Du wirst es sehen – zu begreifen ist es ohnehin nicht.« Mit diesen Worten drehte er sich um und stelzte davon. Auch Wyandos Glieder waren bleischwer, als er Makootemane folgte. Er hatte noch nicht über seine schwarzen Tränen sprechen können. Und auch nicht über den gespenstischen Wahn, der seinen
Geist umnachtet und den Tod einer unschuldigen Frau verursacht hatte. Aber möglicherweise – diese Ahnung beschlich ihn unvermittelt, während er hinter Makootemane auf den Versammlungsplatz des Dorfes zuschritt – war dies alles ein unbedeutendes Nichts gegen das, was hier geschehen war – oder im Begriff war zu geschehen …
* Hinter Wyandos Kehle bildete sich ein würgendes Gefühl, als er in den Kreis seiner Brüder und Schwestern trat und gewahr wurde, was im Staub zwischen dem Totempfahl lag. Drei Adler, die sich nicht mehr rührten. Adler, die sich nie wieder rühren würden … »Was – ist passiert?« »Ich weiß es nicht«, sagte Makootemane mit brüchiger Stimme. »Niemand weiß es. Niemand hörte einen Schrei oder verräterische Laute eines Kampfes. Niemand sah, wie es geschah …« Zwei, drei andere Arapaho wichen vor Wyando zurück, der nähertrat und neben einem der übel zugerichteten Kadaver niederkniete. Fröstelnd senkte er seinen Blick in die toten Augen des Vogels. Dann hob er die Hand und legte einen Finger gegen das verkrustete Gefieder eines der Adler, dort wo die schrecklichste Wunde überhaupt klaffte. Die Verletzung, die tödlich gewesen war. Einen Moment lang glaubte Wyando, einen stromführenden Draht zu berühren. Aus dem Kadaver schien etwas auf ihn überzuspringen. Etwas, das ihn … … an seine unbegreifliche, noch frische Tat erinnerte. An Tränen, zäh und schwer wie Teer. Elektrisiert fuhr er zurück. »Wer sollte so etwas tun …?« Es war keine Frage, nur Ausdruck
der schockierenden Erkenntnis, was letztlich zum Tod des Adlers geführt hatte. »Kein Blut am Boden … Nirgends … Wie ist das –?« Makootemanes Stimme brachte ihn zum Schweigen. »Ich muß mit dir reden. Sofort.« Wyando löste mühsam den Blick von den toten Tieren. Das Schicksal jedes anderen Stammesmitglieds hätte ihn in ähnlichen Aufruhr versetzt. Und die Gesichter der anderen verrieten, daß es in ihnen nicht anders aussah. Während er aufstand, hörte er, wie Makootemane Anweisungen gab, um die Kadaver dem reinigenden Feuer zu übergeben. »Zu reinigen? Wovon?« fragte Wyando später in Makootemanes Zelt. Die Antwort des Stammesführers übertraf Wyandos schlimmste Befürchtungen. »Es ist offensichtlich«, sagte Makootemane. »Ich habe mich geirrt und damit schwere Schuld auf mich geladen!« »Wovon redest du?« Nur die weiße Glut einer Feuerstelle trennte Vater und Sohn, die auf bizarre Weise fast gleichaltrig waren. Wenig Tageslicht sickerte ins Innere des Zeltes. Aber Wyando sah die vergreisten Züge des Stammesoberhaupts klarer als zuvor, und er hatte das Gefühl, daß es Makootemane umgekehrt ebenso erging. »Warum bist du nicht früher gekommen?« fragte Makootemane seufzend. »Vielleicht hätten wir es gemeinsam verhindern können. Vielleicht hättest du die Anzeichen eher bemerkt als ich. Ich bin nicht objektiv. Nach dem, was auf dem Berg geschah, kann ich das nicht sein … Aber ich hatte gehofft. Ich hatte so sehr gehofft, den Feind besiegt zu haben …« Ein krächzender Laut unterbrach ihn. Erst jetzt bemerkte Wyando das lebende Totem im Hintergrund des Zeltes. Es hockte nicht auf dem Holzpflock, sondern am Boden zwischen Lumpen. So still und regungslos, wie der uralte Adler sich verhalten hatte, war er Wyando zunächst nicht aufgefallen, aber nun überkam ihn das dringende Gefühl, von ihm belauert zu werden.
Außerdem war ihm nicht ganz klar, wie es der Adler geschafft hatte, ins Zelt zu gelangen, nachdem er ihn noch kurz zuvor hoch über den Bäumen hatte kreisen sehen … Ohne den Blick von dem Totem zu lösen, sagte Wyando an Makootemane gerichtet: »Den Vorwurf, der aus deinen Worten spricht, verstehe ich nicht. Ich war es, der bis zuletzt hier aushielt, als alle anderen schon fortgegangen waren – aus Furcht vor der Gefahr, die du uns geweissagt hattest. Bevor ich in die ferne Stadt ging, teilte ich dir mit, was mich dazu trieb, die Wolfsfrau zu begleiten. Sie behauptete, die Verursacherin der tödlichen Gefahr zu kennen, die uns Unsterblichen droht. Ich folgte ihr, weil ich hoffte, meinen Teil dazu beizutragen, die Gefahr zu bannen. Zu diesem Zeitpunkt wußte ich noch nicht, daß mein Vater das Unheil selbst bannen würde …« Makootemane sah mit gesenktem Haupt in die Reste des Feuers. »Ich fürchte, genau das ist der Irrtum, dem ich erlegen bin«, sagte er. »Und der meinen vermeintlichen Sieg nicht nur wertlos macht, sondern …« »Sondern? Wovor hast du Angst? Und was hat dich auf diese Weise … zugerichtet? Was ist in der Höhle im Berg geschehen? – Und warum ist er …«, Wyandos Geste galt dem Stammestotem, »… so verändert? Ich spüre seinen Segen nicht mehr. Das, was uns Halt gab in finsterer Zeit …« »Worauf willst du hinaus?« Makootemane blickte auf. Er schien tatsächlich nichts von der Fremdheit spüren zu können, die verhinderte, daß Wyando den früher ganz selbstverständlichen Zugang zu ihrem Totem fand; zu der reinen Tierseele, die ihnen im Laufe so vieler Jahre die Abkehr von den Zwängen ermöglicht hatte, die einen Vampir tagein, tagaus beherrschten und über das Stillen seines Durstes hinaus wüten ließen … … zumindest hatte er bis zu dem Vorfall im Motel geglaubt, die lange, dunkle, eisige Nacht ihrer Existenz überwunden zu haben und trotz der Kelchtaufe weiter in Einklang und Harmonie mit der Natur leben zu können …
Wyando hatte Margeaus Leichnam auf dem Zimmer zurückgelassen und darauf verzichtet, den Beweis seines Versagens zu beseitigen. Es würde nicht lange dauern, bis Joseph »Dark Cloud« Reno, der Sheriff von New Jericho, bei Makootemane vorstellig werden und ihn über die Geschehnisse informieren würde. Wyando wollte dem unbedingt zuvorzukommen. »Ich muß dir etwas gestehen«, sagte er. »Du machst mir Sorgen«, erwiderte Makootemane und schloß die Augen, als meinte er das, was nun kommen würde, nur blind ertragen zu können. »Ich fürchte, du hast recht …« Wyando schilderte, was sich in New Jericho, nur einen Adlerflug von hier, zugetragen hatte. Makootemane hörte mit steinernem Gesicht zu und versagte sich jeden Zwischenkommentar. Erst als Wyando alles, was es aus seiner Sicht dazu zu sagen gab, berichtet hatte, löste Makootemane die Fessel um seine Zunge: »Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Würde ich dich nicht besser kennen, müßte ich annehmen, du wolltest mich einer Mitschuld an dem unnötigen Mord bezichtigen … Aber mein Ruf nach dir kann nicht der Auslöser dafür gewesen sein, denn ich rief dich nicht nur einmal und gewiß auch nicht erst jetzt. Schon vor Wochen haben alle anderen, die unser Dorf verlassen sich in alle Winde verstreut hatten, auf den Ruf reagiert. Einige verschlug es sehr viel weiter als dich, und doch erreichte ich sie, wo immer sie sich befanden. Und wo immer sie waren, folgten sie dem Ruf ohne Zögern. Nur du … du kamst nicht. Obwohl ich keinen Tag verstreichen ließ, dich wieder und wieder aufs neue zu ermahnen …« »Ich empfing keinen einzigen Ruf – bis heute«, versicherte Wyando. »Ich würde dich nicht belügen, das weißt du!« »Ja.« Makootemane wiegte bedächtig das Haupt, das in den letzten Wochen um Jahrzehnte gealtert war. Es ähnelte einem mit brauner Haut umspannten Totenschädel; einem knöchernen Verlies, aus dem es für den darin eingesperrten Geist kein Entkommen geben
würde. Makootemanes Kampf gegen die Vampirseuche, die ihn zum Mörder an den mit seinem Blut getauften Kindern hatte machen wollen, war für ihn selbst längst zum Desaster geworden. Vor diesen Ereignissen war er ein stolzer Krieger mit dem äußeren Erscheinungsbild eines Dreißigjährigen gewesen. Nun ähnelte er einer ausgegrabenen Indianermumie, deren Zerfall von geschickten Schamanenhänden hinausgezögert, aber nicht verhindert worden war … Der Gedanke versetzte Wyando Stiche ins Herz. Makootemane hatte ein solches Schicksal nicht verdient. Was immer er dort oben in der Unzugänglichkeit des Heiligen Bergs geleistet hatte – er hatte es für andere getan. Denn er selbst – daran hatte Nona keine Zweifel gelassen – wäre wie jedes Oberhaupt eines Stammes oder einer Sippe gegen den purpurnen Tod immun gewesen. Er hätte jedes seiner Kinder überlebt. Hätte zusehen können, wie sie, in Fässern voller Blut schwimmend, verdurstet wären … Nona, die Werwölfin, hatte behauptet, den Schuldigen an diesem Fluch zu kennen. Aber in Bangor hatte Wyando erkennen müssen, daß sie seine Hilfe nur ausnutzen wollte, um Rache an einer seltsamen, einzigartigen Frau zu nehmen. Lilith … Dieser Name brachte eine Saite in Wyando zum Klingen, von deren Existenz er bis vor kurzem nicht einmal geahnt hatte. Er konnte sie sich nicht als Todfeindin vorstellen, obwohl Nona nichts unversucht gelassen hatte, ihn vom Gegenteil zu überzeugen. »Sie tötet Vampire!« hatte die Werwölfin haßsprühend erklärt. »Nur sie kann den Lilienkelch mit dem Todeskeim geimpft und das Verderben in die Welt gesetzt haben …!« Nona, das hatte Wyando aus ihrem eigenen Mund erfahren, machte die Halbvampirin Lilith dafür verantwortlich, daß sie nie wieder ihrem Geliebten Landru gegenübertreten durfte. Denn auch sie hatte vor einem halben Jahrtausend das Geschenk der Unsterblichkeit aus der Hand des Hüters erhalten, der mit seinem magischen Blut eine
Abart des Kelchrituals praktiziert hatte, ohne sie zur Vampirin zu machen. Und nun fürchtete sie, der tödliche Funke würde auch auf sie überspringen, wenn sie ihm je wieder zu nahe käme … … doch gleichzeitig verzehrte sie sich nach genau dieser Nähe! Makootemanes Stimme riß ihn aus seinen Gedanken: »Nach dem Tod der Adler halte es für möglich, daß etwas deine Rückkehr verhindern wollte.« »Etwas?« Makootemane ging nicht auf die Zwischenfrage ein. »Vielleicht half ihm erst das Echo, das mein heutiger Ruf in dir verursachte, dich ausfindig zu machen – und verriet ihm, wie nahe du bereits warst. Ich konnte dich nicht fühlen. Als würde ich vom Gipfel eines hohen Berges in die unendliche Prärie hinabschreien, ohne eine Antwort zu erhalten.« »Wen meinst du damit? Die Kraft, die du besiegt zu haben glaubtest?« »Kraft?« Makootemane schüttelte müde den Kopf. Seine eingefallenen Wangen blähten sich unter erregten Atemstößen. »Im Rückblick erscheint mir das, wogegen wir kämpften«, seine Augen suchten erneut das Totemtier zwischen den Lumpen, »gar nicht mehr so stark. Seine vermeintliche Überlegenheit, die es lange Zeit gegen uns ausspielte, beruhte in der Hauptsache auf die Leere, die es in sich trägt. Es ist frei von Motiven. Es macht sich keine Gedanken über sein Tun. Es tötet, ohne den Grund dafür zu kennen. Es wurde geschickt – aber es weiß nicht, von wem – und will es auch gar nicht wissen. Es handelt wie ein Pfeil, der die Sehne eines Bogens verlassen hat – oder wie eine Million Pfeile, wenn man dem Ausmaß der Bedrohung gerechter werden will …« »Die drei Adler, die draußen auf dem Dorfplatz liegen«, sagte Wyando, »wurden ausgesaugt. Ihnen wurde das Blut gestohlen, das hast auch du gesehen!« »Alle haben es gesehen – und gefühlt«, erwiderte Makootemane. »Die Verletzungen stammen von Zähnen, wie sie nur …«
»… Geschöpfe unserer Art besitzen«, bestätigte Makootemane. Der Ur-Adler im Hintergrund des Zeltes schlug ein paarmal kräftig mit den Flügeln. Federn stoben durch die Luft. »Wem waren die Vögel zugeordnet?« fragte Wyando nach einer Weile. Jeder Arapaho-Vampir – auch er – pflegte eine enge, monogame Nähe zu jeweils einem bestimmten Artgenossen des Ur-Adlers. Diese Vögel begleiteten die Arapaho durch die Zeiten, aber immer nur kurze Etappen, denn sie waren sterblich. Wenn ein Adler starb, wählte sich der Vampir einen neuen Gefährten, den er mit seinen magischen Kräften an sich band. Was er im Gegenzug von ihm erhielt, darüber redete kein Arapaho. Es war ein Austausch auf einer Ebene, die man mit Worten nicht erklären konnte. Die reinen Seelen der Adler nahmen das Böse, das den Herzen der Arapaho seit der Kelchtaufe innewohnte, auf und läuterten es wie eine Art spiritueller Filter, bevor es in die Indianer zurückfloß. Denn darüber waren sich die Arapaho im klaren: Der Vampirkeim in ihnen ließ sich nicht tilgen, nur unterdrücken. Ohne die Adler würde er auf Dauer an Stärke gewinnen und wieder die Kontrolle über ihr Tun erlangen. Dabei war es aber nicht notwendig, ständig mit den Tieren zusammen zu sein. Die Adler lebten in Freiheit, und wenn sich die meisten auch in der Nähe des Dorfes aufhielten, so waren andere weit entfernt unterwegs – so wie zur Zeit Wyandos gefiederter »Bruder«. Makootemane antwortete auf die ihm gestellte Frage und nannte die Namen jener drei Stammesmitglieder, deren Wegbegleiter dem Anschlag zum Opfer gefallen waren. »Wer oder was sich auch immer an den heiligen Vögeln vergangen hat«, schloß der vergreiste Vater des Stammes, »wir müssen ausschließen, daß mögliches Unheil von ihnen auf andere überspringt – daß die Saat böser Geister auch noch in anderen aufgeht …« »Hast du deshalb befohlen, sie zu verbrennen?« fragte Wyando.
»Befürchtest du, sie könnten den Keim dessen tragen, der sie getötet hat?« »Getötet und ausgesaugt.« Makootemane nickte. »Komm«, sagte er dann, »wohnen wir dem Akt bei. Ehe …« »Ehe?« Makootemanes tiefliegende Augen glommen unheimlich aus den Höhlen heraus. »Ehe sie sich vielleicht wieder erheben.«
* Metseeh lag unter Büffelfellen und schlotterte vor Kälte. Zumindest wünschte sie sich, Kälte wäre die Ursache ihres Befindens. Aber sie wußte, daß sie sich selbst belog. Das Gewölbe des Zeltes verjüngte sich nach oben hin wie ein Kegel, und Metseehs Blicke endeten an der engsten Stelle, wo der Rauchabzug lag, durch den sie den Himmel als hellen Fleck erkennen konnte. Den Himmel … Sie war ihm nie so fern gewesen wie heute. Augenblicklich erschien es ihr unvorstellbar, daß sie sich überhaupt jemals wieder auf Adlerschwingen in die Freiheit der Lüfte erheben könnte. Augenblicklich tobte der Verlust wie die Myriaden Hagelkörner eines Blizzards in ihr … Was war geschehen? Wer hatte ihr das angetan? Zur Mittagszeit hatte es begonnen. Mitten im Schlaf waren Metseehs Traumbilder von Rauhreif umkrustet worden und abgestürzt! Wie ihr persönliches Totem. Aber das hatte sie erst später von Makootemane erfahren, der sie in ihrem Zelt besucht hatte, um ihr die Nachricht von der Ermor-
dung ihres Adlers zu überbringen … Metseeh hatte es nicht glauben wollen. Und auch jetzt versperrte sich ihr Bewußtsein der Wahrheit. Ich träume auch dies, dachte sie. Gleich werde ich erwachen und – Die Zelthaut raschelte. Geschmeidig trat eine Gestalt ein, kam ganz nah und legte ihre Hand auf Metseehs heißkalte Stirn. »Ich wollte sehen, wie es dir geht … Du mußt völlig am Ende sein …« Ende, echote es in Metseeh. Sie war unfähig, auch nur ein einziges Wort zu sagen. Und sie leistete auch keinen Widerstand, als die Felldecke angehoben wurde und der andere Körper zu ihr schlüpfte. Haut an Haut. Lahm kam lediglich der Wunsch über ihre Lippen: »Ich möchte allein sein. Bitte …« »Du wirst nie mehr allein sein. Ich habe dir etwas mitgebracht. Hier, nimm … und entspann dich.« Metseeh spürte einen jähen, nicht sehr heftigen und kaum einen Lidschlag lang anhaltenden Schmerz in ihrem Nacken, wohin die Hand ihrer Schwester geglitten war. Der Gefiederflaum konnte Metseeh vor dem Holzsplitter, was in sie eindrang, nicht schützen. Nichts bot ihr Schutz. Sie war dem, was passierte, in ihrer Verwirrung völlig ausgeliefert. Und die Besucherin machte es sich zunutze. Metseehs Körper erschlaffte. Die Explosion ihrer Sinne erweiterte ihr Bewußtsein in maßloser Weise. »Was geht … mit mir vor …?« stammelte sie. Die fremde Hand spannte sich um ihr Genick. »Ich bin da. Ich werde immer für dich da sein … Zumindest solange wir beide gebraucht werden …« »Gebraucht?« Die Besucherin antwortete nicht, zog Metseeh nur noch enger an sich.
Deren Kälte tat gut. Sie harmonierte mit der eigenen. »Kannst du noch die Farben sehen?« fragte Chelana rauh. »Es ist das einzige, was ich vermisse …« Von der Waldlichtung, auf der das Dorf der Arapaho vor ungezählten Wintern erbaut worden war, stieg fetter Rauch auf. Kumuluswolken zogen rasch am dämmrigen Blau des Himmels dahin. Leichter Wind trieb die Hitze des Feuers in die angespannten Gesichter der Vampire, die sich um es herum gruppiert hatten. Das nahe beim Totempfahl aufgeschichtete Holz brannte lichterloh, aber noch lagen die Kadaver der drei Adler nicht in den Flammen, sondern dicht daneben. Stumm starrten die Indianer zu ihrem Häuptling – und auch Wyando fühlte forschende Blicke auf sich. Er hatte noch keine Gelegenheit gefunden, sich mit seinen Brüdern und Schwestern ins Einvernehmen zu setzen, und jetzt stellte er fest, daß drei von ihnen fehlten. Drei Adler, drei Arapaho, dachte er. Natürlich. Es muß sie wie ein Schock getroffen haben … Er nahm sich vor, sie aufzusuchen und ihnen seinen Beistand anzubieten. Selbst wenn Makootemane ihm die Namen nicht genannt hätte – spätestens jetzt hätte Wyando selbst begriffen, wessen Vögel dem Anschlag zum Opfer gefallen waren. Und wieder fragte er sich, wer einer solchen Untat überhaupt fähig war. Die Umstände, unter denen die toten Vögel gefunden worden waren, sprachen dafür, daß der Killer ein Vampir gewesen war. Aber Wyando sperrte sich gegen den Gedanken, eines seiner Geschwister hätte sich zu einer solchen Tat hinreißen lassen … Gleichzeitig jedoch entsann er sich des eigenen verwerflichen Handelns in New Jericho, und sein Herz wurde eng. Klamme Abscheu vor sich selbst durchkroch sein Gedärm, in dem noch immer Margeaus Blut zirkulierte.
»Fangt an!« Makootemanes brüchige Stimme veranlaßte Charkas, Nelos und Joacin, aus der Gruppe zu treten. Ein jeder von ihnen hob unter dem Wehklagen der eigenen, in den Bäumen hockenden Adler einen der Kadaver auf und schleuderte ihn nach einer Sekunde der Andacht in die brausenden Flammen. Nun rannen Klagetöne auch über die Lippen der indianischen Vampire. Ohne diesen Ritus einstudiert zu haben, fanden ihre Stimmen die Melodie, die dieser Feuerbestattung gebührte. Auch Wyando fiel in das Gebet ein. Sein Blick hing an den drei leblosen, entehrten Körpern, deren Gefieder zuerst von der übergroßen Hitze verzehrt wurden. Federn kräuselten sich, flammten auf und erloschen fast in derselben Sekunde wieder, während sich Gerüche ausbreiteten, die Augen und Nasen reizten. All dies rief den Versammelten noch einmal drastisch ins Bewußtsein, welche Ungeheuerlichkeit vorgefallen war. In Hunderten von Jahren hatte es dergleichen nicht gegeben. Noch niemals. Und jetzt waren gleich drei der heiligen Vögel Opfer eines unbekannten Vollstreckers geworden! Wyando löste den Blick von den verbrennenden Kadavern und sah sich um. Die Vertrautheit, die er schon bei Makootemanes unsterblichem Adler vermißt hatte, verschwand nun auch hier, auf dem Platz zwischen den Zelten. Statt dessen streiften ihn Eiseskälte und jenseitige Strenge wie ein Hauch. Der Atem des Feuers erreichte ihn nicht mehr. Er schaute zu Makootemane, der sein Gebet mit geschlossenen Augen intonierte und dabei noch verhärmter, noch erschöpfter wirkte als bei ihrem Wiedersehen. Auch Wyando betete – aber seine Gedanken beteiligten sich kaum an der Zeremonie. Der Hauch, den er zu spüren meinte, erschien ihm wie der Vorbote eines Sturms. Steckte in den Vogelleichen wirklich die Saat dessen, der gegen
ungeschriebene Gesetze verstoßen hatte? Und hätte man anhand dieser Signatur nicht herausfinden können, wer …? Die Stimmen der Arapaho verstummten bis auf Makootemanes monotonen Sprechgesang. Er als einziger hatte noch nicht gesehen, was Wyando und all den anderen die Lippen versiegelte. Aber dann fühlte er es offenbar. Oder wurde durch die jähe Stille aus seiner Trance gerissen. Als er die Augen öffnete, hatte sich der Rauch, der aus den brennenden Vögeln stieg, bereits zu einem Schemen über dem Feuer geformt, der sich unübersehbar vom Qualm des Holzfeuers abhob. Schon seine Farbe war anders. Nicht grau, nicht schwarzflockig wie Ruß, sondern purpur – und auch wenn die zum Himmel hinauftreibenden Gestalt weniger greifbar erschien wie eine der vorüberziehenden Wolken, so begriffen doch auch jene, die den Drachen noch nie zuvor selbst zu Gesicht bekommen hatten, worum es sich handelte. Die Arapaho – ausgenommen Makootemane und Wyando – warfen sich zu Boden und preßten ihre Gesichter in den rötlichen Staub der Heimaterde. Sie ertrugen das Menetekel am Himmel nicht. Wyando wußte nicht, was ihn aushalten ließ. Er starrte nur auf den geflügelten Drachen, der einer purpurnen Wolke gleich über dem Lager schwebte und sich jeden Moment herabstürzen konnte. Herab auf jenen Mann, der so inbrünstig gehofft – wenn auch längst nicht mehr geglaubt – hatte, ihn in der Höhle im Heiligen Berg besiegt zu haben … Wir werden ausgerottet, dachte Wyando. Wenn es in unseren Vater fährt, sterben wir alle. Der Durst wird uns wahnsinnig machen. Wir werden New Jericho in einen Friedhof verwandeln. Wir werden von Sonnenaufgang bis Sonnenaufgang trinken … aber keines Menschen Blut wird uns je wieder sättigen. Und nichts wird uns mehr am Morden hindern. Unsere Körper werden sich binnen Tagen die Jahrhunderte zurückerobern,
um die wir sie betrogen haben! � Hoffentlich … finden wir vorher die Kraft, uns gegenseitig zu erlösen … �
* Pacahee hörte den Klagegesang ihres Volkes. Sie spürte die Anteilnahme der anderen – aber sie selbst war außerstande, ihrer Trauer in einer Weise Ausdruck zu verleihen, daß sie ihr inneres Gleichgewicht wiederfinden ließ. Sie hatte ihren Totemvogel verloren, jenes dem Ur-Adler verwandten Geschöpf, mit dem sie bereits vor Jahren eine Verbindung eingegangen war, die ähnlich eng, ähnlich intim gewesen war wie die zu ihren unsterblichen Brüdern und Schwestern. Vorbei! Drei dieser gefiederten Symbole des Guten hatten wie nach einer Hinrichtung im Staub des Dorfplatzes gelegen. Und niemand hatte den Aufschrei ihrer Qual gehört. Am hellen Tag – der Zeit also, zu der die Arapaho-Vampire traditionell schliefen – waren sie von einem blutdurstigen Mörder zerfetzt worden. Kein Arapaho trank das Blut eines Tieres. Und schon gar nicht das eine heiligen Vogels! Pacahee schauderte. Mein Adler, dachte sie aufgewühlt. Sie wußte nicht, was sie tun würde, wenn sie herausfand, wer hinter dieser Schandtat steckte … Plötzlich änderte sich die Lautkulisse, die von draußen in ihr Zelt drang. Furcht erstickte die Stimmen, knebelte die Kehlen derer, die sich Makootemanes Befehl gebeugt und den Scheiterhaufen für die toten Vögel errichtet hatten. Pacahee hatte es nicht mitansehen wollen. Pacahee stand auf. Selbst eine simple Bewegung wie diese fiel ihr schwer. Mit bleischweren Gliedern ging sie zum Ausgang, um nachzusehen, was
die Feierlichkeit der rituellen Verbrennung gestört hatte. In dem Moment, da sie die Plane aus gegerbter Büffelhaut zurückschlug, verstellte ihr jemand den Weg nach draußen – und damit nicht genug, traf Pacahee auch noch ein überraschend grober Stoß, der sie zurück in die Mitte des Zeltes taumeln ließ. Ein fauchender Ton entwich ihren Lippen. Dann erkannte sie die Besucherin, und ihr aufflackernder Zorn verrauchte. »Metseeh!« wandte sie sich an ihre Schicksalsgenossin. »Weißt du, was da draußen vorgeht?« »Ich weiß es.« Metseeh war hereingeglitten und sorgte nun akribisch dafür, daß die Plane den Ausgang wieder vollständig verschloß. »Sie rösten die Kadaver …« Erschüttert suchte Pacahee nach Halt, den sie schließlich über sich an einer Lederschlaufe fand, die um einen der Zeltstützen gebunden war und an der sie sommers duftende Gräser zum Trocknen aufhängte. »Wie kannst du …?« Metseeh ließ sie nicht aussprechen. »Was erwartest du von mir? Daß ich mich meinem Schmerz ergebe? O nein, das werde ich nicht tun. Damit helfe ich nur dem, der uns das antat!« Pacahee starrte sie an. »Hast du etwa einen Verdacht?« Metseeh nickte düster. Dann winkte sie ihre Schwester zu sich und öffnete ihre rechte, zur Faust geschlossene Hand. »Was ist das?« »Wofür würdest du es halten?« »Für einen … Splitter. Aber ich verstehe nicht …« »Ich verstand es auch nicht. Anfangs … Aber du brauchst ihn nur zu berühren, um zu erkennen, wer unsere heiligen Verbündeten tötete.« In Pacahees Augen schienen Sturmwolken vorüberzuziehen. »Du redest wirr.« Aber obwohl Metseehs sonderbares Verhalten sie ab-
schreckte, streckte sie die Hand aus und nahm den Splitter zwischen Daumen und Zeigefinger. Zumindest wollte sie ihn auf diese vorsichtige Weise untersuchen. Doch im Zugreifen richtete sich der schlanke, an beiden Enden spitze Splitter ohne erkennbare äußere Einwirkung senkrecht in Chelanas Handfläche auf – und Pacahee rammte ihn ungewollt sich selbst und ihrer Schwester unter die Haut. Der winzige Stift berührte ihr schwarzes Blut. Und Pacahee lernte das kennen, was ihr viel mehr nehmen sollte als nur ihren gefiederten Freund …
* Wyando glaubte den Himmel einstürzen – oder in ein Meer von Scherben zerspringen zu sehen, die kaleidoskopartige Muster schufen. Aber das, wovor er sich am meisten gefürchtet hatte, geschah zur Erleichterung aller nicht. Der höllische Bote in Gestalt eines Purpurdrachen fuhr nicht in Makootemane ein. Und er bemächtigte sich auch nicht der gebannt dastehenden Stammesangehörigen. Der Schemen über ihren Köpfen verflüchtigte sich, anstatt sich zu verdichten, und doch hatte es noch lange den Anschein, als wäre der Himmel über dem Wald in apokalyptisches Feuer gebadet. »Es hilft nichts, die Augen vor dem Offensichtlichen zu verschließen«, klang Makootemanes Stimme auf. »Ich habe mich geirrt – und mein Irrtum hat fatale Folgen. Ich kann nicht sagen, wie erschüttert ich bin, wie leid es mir tut, die Gefahr unterschätzt zu haben …« Ein Raunen ging durch die Reihen der Arapaho, nachdem sie einen Moment wie zu düsteren Ikonen erstarrt ausgesehen hatten. Angst und Hilflosigkeit hatten sich in die Züge eines jeden gemeißelt, während sie an Makootemanes Lippen hingen. Sie erhofften sich eine Lösung für das wiedererstandene Problem.
Von ihm, ihrem Anführer. Und Makootemane sagte: »Es bleibt mir nichts anderes übrig: Ich wähle die Abgeschiedenheit ein zweites Mal. Zusammen mit dem Adler, der so alt ist wie wir, werde ich mich erneut zum Kampf stellen. Ich überlasse es jedem selbst, ob er den Ausgang dieses Kampfes abwarten und das damit verbundene Risiko eingehen will – oder ob er sich der Gefahr durch abermalige Flucht zu entziehen versucht …« Mit diesen Worten wandte sich Makootemane gesenkten Hauptes ab und schritt wankend auf sein Zelt zu. Der Scheiterhaufen, in dem die toten Vögel sich in die Fratze des Feindes verwandelt hatten, war nahezu heruntergebrannt. Wyando blieb zwischen den ratlosen Geschwistern zurück. Für sich selbst hatte er in diesen Sekunden bereits einen Entschluß gefaßt. Die anderen aber, das spürte er deutlich, schienen den Gedanken, auszuharren, ebenso zu hassen wie die Vorstellung eines erneuten Aufbruchs in die Fremde. Erstaunlicherweise berieten sie sich auch nicht untereinander. Stumm gingen die Männer und Frauen zu ihren Tipis und verschwanden darin. Bald war Wyando der einzige, der noch im schwindenden Tageslicht unter einem surreal verfärbten Himmel auf dem Platz aushielt, während aus den umliegenden Bäumen die krächzenden Schreie verstörter Vögel klangen. Nachdem er eine Weile mit geschlossenen Augen dagestanden hatte, näherte sich Wyando dem Totempfahl, der einst von Makootemane mit Geschick und Magie geformt worden war. Der Baum, aus dessen Stamm er den Pfahl geschnitzt hatte, war unter Protest gestorben … Wyando lächelte düster, und irgendwie scheute er sich, in das eigene, lange verwaiste Tipi zurückzukehren. Schließlich lenkte er seine Schritte hin zu Chelanas Zelt. Sie und die beiden anderen Frauen wollte er fragen, ob er etwas für sie tun konnte. Gleichzeitig fragte er
sich, ob es eine Bewandtnis haben könnte, daß ausschließlich die Adler der einzigen weiblichen Vampire attackiert und getötet worden waren. Er verwarf den Gedanken, weil es ihm mehr als unsinnig erschien, daß das Geschlecht eine Rolle gespielt haben sollte. Leise rief er Chelanas Namen. Als er nach mehrmaligen Versuchen keine Antwort erhielt, wuchs seine Besorgnis, und er schlug das Fell am Eingang zurück. Chelanas Tipi war verlassen, worauf sich Wyando Metseehs Unterkunft zuwandte. Doch auch ihr Zelt war leer, und die einzige Erklärung, die Wyando fand, war, daß sich die Frauen in Pacahees Tipi gegenseitig Trost spendeten. Tatsächlich reagierte dort eine kehlige Stimme auf sein leises Rufen. »Wer ist da?« »Ich bin es, Hidden Moon.« »Hidden Moon?« Die Stille, die sich wie eine zweite Zeltwand zwischen ihm und Pacahee errichtete – ihre Stimme hatte er sofort erkannt –, wirkte auf Wyando, als wäre er nicht willkommen. Doch dann bat ihn die Stimme einer anderen Frau, einzutreten. Chelana? Sie war es. Sie, Metseeh und Pacahee saßen gemeinsam um ein erloschenes Feuer in der Mitte des Zeltes, und bevor Wyando ihnen den Grund seines Kommens nennen konnte, richtete bereits eine der Frauen das Wort an ihn. Wiederum war es Chelana. »Wie schön, dich wiederzusehen.« Wyando nickte ihr und den beiden anderen zu, ein wenig verwundert, wie aktiv und extrovertiert Chelana wirkte, die eigentlich als zurückhaltend und in sich gekehrt galt. »Ich habe gehört, was euch zugestoßen ist …« »Komm näher.« Chelanas Augen schimmerten feucht, ihr Blick war verklärt.
Wyando stutzte. Mit keiner dieser Frauen hatte ihn je mehr verbunden als mit jedem männlichen Angehörigen des Stammes. Und doch starrte ihn nicht nur Chelana, sondern sahen ihnen auch Metseeh und Pacahee wie einen heimgekehrten … Geliebten an. Unsinn! Wyando schrieb es ihrer psychischen Belastung zu. Bestimmt deutete er die Anzeichen falsch … Er trat zu ihnen. Chelana schürzte ihre Lippen. Sie saß mit überkreuzten Beinen da, und eine ihrer Hände war im Lendenbereich unter der Kleidung verschwunden. Unruhig rutschte sie hin und her. Alle drei Frauen trugen die Trauergewänder der Arapaho. Aber so sehr sich Wyando auch bemühte, Trauer war das wenigste, was er in den schmalen Züge mit den hoch angesetzten Wangenknochen, den rehgroßen braunen Augen und den sinnlichen Mündern entdeckte. Die Lippenumrisse und Augen aller drei Frauen waren mit dunklen Linien hervorgehoben. Von beidem – Auge und Mund – fühlte sich Wyando auf abgründige Weise stimuliert. Unwillkürlich dachte er an den Sex, den er mit Margeau genossen hatte, bevor … Nein, er wollte nur an den Sex denken! (Was ist los mit mir? Wie kann ich –?) »Ich werde alles tun, um den Täter zu finden und seiner gerechten Strafe zuzuführen!« hörte er sich sagen. Dabei hatte er das Gefühl, hinter einem Vorhang zu stehen, der ihn von allen Seiten umschloß, und diese Versicherung von einem anderen zu hören, der irgendwo hinter dieser Trennhaut stand. Plötzlich fühlte er sich wieder einsam und verloren – auf keinen Fall heimgekehrt in den Schoß seines Stammes. Zu denen, die ihm gleich waren und Verständnis für ihn hatten. Ich war nie wie sie, dachte er – und erschrak.
Erschrak, weil er sich gerade die Erkenntnis offen eingestanden hatte, die er schon all die Jahrhunderte in sich verborgen getragen, aber nie auszusprechen gewagt hatte. Wie ein Streiflicht durchzuckte ihn die Erinnerung an seine Kelchtaufe, die anders verlaufen war als die Taufen seiner Brüder und Schwestern. Ein klein wenig später – und just in dem Moment, als der Mond sich am Himmel im Erdschatten verfinstert hatte. Dieser Finsternis, diesem Schlund aus Schwärze glaubte Wyando seither in seinen Träumen immer wieder zu begegnen. Es war ein angstmachender Moment, wenn er glaubte, in die Tiefe des Himmels zu stürzen und auf der Oberfläche des dunklen Mondes zu zerschellen. »Das ist nett von dir«, sagte Chelana rauchig. Rauch wogte auch in ihren Augen. »Setz dich zu uns«, ergänzte Pacahee. »Du mußt müde sein von der Reise.« »Ja, leg dich hin und schließe die Augen. Wir wachen über deinen Schlaf«, hauchte Metseeh. Einen Moment lang hatte er das Gefühl, in ihnen zu versinken. In jeder von ihnen. In ihrem Angebot von Frieden, Ruhe und Geborgenheit. Er setzte bereits an, sich zwischen Pacahee und Chelana niederzulassen … aber dann, wie ein Blitz, kam die Erinnerung, daß er auch mit Makootemane sprechen wollte. Sofort straffte er sich, was Enttäuschung in ihren Blicken hinterließ. Chelanas Zunge, die sich die ganze Zeit wie eine feuchte Schlange über ihre Lippen wand, verschwand. »Was hast du?« »Ich muß gehen«, sagte er. »Ich habe mich überzeugt, daß es euch den Umständen entsprechend wohl ergeht.« »Kommst du wieder?« fragte Pacahee. Sie war bemüht, sich ihre Enttäuschung, die an Wut grenzte, nicht anmerken zu lassen.
Wyando fühlte sich vom Verhalten der drei Frauen mehr und mehr irritiert. »Vielleicht«, sagte er – obwohl er in diesem Moment wünschte, sie nie mehr wiederzusehen. Hastig floh er nach draußen.
* Natürlich wäre es niemals »Inzest« gewesen, hätte Wyando sich mit einer seiner »Schwestern« – oder auch mit allen dreien – eingelassen. Kelchkinder verband nur der Kelch, nicht jedoch die Gene identischer Mütter oder Väter. Und selbst wenn: Im Denken Unsterblicher gab es keine solch banalen Tabus … Im Nachhinein bewertete Wyando seinen brüsken Abschied als zu kraß, und er fragte sich, ob er nicht dabei war, sich allmählich in einem Netz eigener Neurosen zu verstricken. War es nicht lächerlich, den drei Frauen schlichte Begierden zu unterstellen, wo sie gerade etwas verloren hatten, was ihnen so schnell niemand ersetzen konnte? Die Beziehung zu den Totemtieren aufzubauen, die das Leben des Stammes prägten, dauerte lange, manchmal Monate … Dunkelheit ballte sich über dem Dorf. Wyandos Augen stellten sich mühelos darauf ein. Auch die Nacht enthielt Licht. Das menschliche Sehvermögen war zu degeneriert, um es ohne technische Hilfsmittel nutzbar zu machen, doch die Sinne der Alten Rasse verwerteten es optimal. Sicher bewegte sich Wyando zum Häuptlingszelt. Lähmende Stille hatte das Dorf zwischen den Zederbäumen erobert. Vor Wyandos Geist tauchte ein Bild auf, das seine Artgenossen einsam und von einem Gebirge aus Angst erdrückt in ihren Zelten kauernd zeigte – Pacahee, Chelana und Metseeh ausgenommen, die es offenbar verstanden, ihren Schmerz zu teilen … Wyando blieb kurz stehen und fuhr sich über den Nacken. Als er
den Gefiederansatz berührte, überkam ihn das machtvolle Verlangen, sich in einen Adler zu verwandeln und weit, weit weg zu fliegen. Oder hoch – so hoch, bis die Luft zu dünn wurde, seinen Flügeln Halt zu bieten … Kopfschüttelnd setzte er seinen Weg fort, überquerte den Platz mit dem Totempfahl. Wollte ihn überqueren. Aber in diesem Moment fiel ihm ein eigentümliches Leuchten am Stamm des Pfahles auf. Ohne Zögern ging er darauf zu. Und noch bevor er wußte, was das Glühen bedeutete, erfaßte ihn warnendes Unbehagen. Vor dem kunstvoll verzierten Stamm, auf dessen Spitze die Adlernachbildung thronte, blieb er stehen. Er hätte nur die Hand ausstrecken müssen, um das zu berühren, was wie eine kleine, schwärende Wunde aussah – eine eitrig leuchtende Verletzung, die jemand oder etwas dem Totempfahl zugefügt hatte – vergleichbar in etwa mit der entzündeten Verfärbung von Fleisch, in das ein Holzsplitter eingedrungen war, nur sehr viel intensiver! Kopfschüttelnd starrte Wyando darauf. Er hatte derartiges nie zuvor bemerkt, und wahrscheinlich war es nur ein Pilz, der sich hier eingenistet hatte, um sein kalt phosphoreszierendes Licht zu verströmen. Eine ungewohnte Scheu hielt Wyando davon ab, die glänzende Stelle näher zu untersuchen. Statt dessen ging er um den Pfahl herum. Er fand zwei weitere »Verletzungen«. Und wie schon bei seiner Ankunft im Dorf registrierte er feindselige Schwingungen, deren genauer Ursprung nicht zu lokalisieren war. Was hatte er hier gefunden? Existierte eine bislang unbekannte Wechselwirkung zwischen den Adlern und dem Totempfahl? Reagierte das vermeintlich leblose Holz auf den Tod der Tiere? Wyando ließ den Dorfplatz hinter sich. Eiligen Schrittes begab er
sich zu Makootemane, seinem Vater. Dem einsamsten Mann in einem Dorf von Einsamen, über dem der purpurne Schatten des Untergangs schwebte …
* Umgang mit Zwergen krümmt das Rückgrat. Stanislaw J. Lee In Wyandos Bauch schien sich ein Knoten zusammenzuziehen, als er Makootemane Zelt betrat und seinen Häuptlingsvater vor dem Ur-Adler stehen sah. Beide schienen Wyandos Eintreten nicht zu bemerken, sondern in tiefer Meditation versunken zu sein. In stummer Zwiesprache. Wyando stolperte fast über ein dicht beim Ausgang liegendes, eng geschnürtes Bündel, in dem er Proviant und sonstige Notwendigkeiten vermutete. Offenbar war Makootemane schon marschbereit. »Vater …?« Seine Stimme zerbrach die Verbindung zwischen Adler und Arapaho. Makootemane drehte sich um. »Ich wußte, daß du kommen würdest«, sagte er. »Ich wußte, daß du der einzige sein würdest, der kommt …« »Wie meinst du das?« Es sah aus, als würden Makootemane Züge versteinern. »Wären alle wie du – alle so gefestigt in ihrer Persönlichkeit –, könnten wir dem Feind gemeinsam entgegentreten«, sagte er mit einer Bedächtigkeit, als müßte er jedes einzelne Wort vorher gut überdenken. »Und ihn gemeinsam schlagen! Leider ist dem nicht so, und so muß ich mich der Bedrohung in derselben Weise stellen, wie ich es das erste Mal tat. Vielleicht ist uns Manitou diesmal gnädiger … Und vielleicht tragen nicht einmal diejenigen, die heute unfähig
sind, sich der Gefahr zu stellen, die Schuld am Mangel ihrer Einstellung. Vielleicht ist ganz einfach die Tatsache, daß wir über Jahrhunderte nie einen ernsthaften Widerstand zu brechen hatten. Vielleicht haben wir einfach verlernt, mit der Macht umzugehen, die uns gegeben wurde …« Wyando machte eine Geste, die Widerspruch einlegte. »Du irrst dich Vater. Ich fühle mich alles andere als ›gefestigt‹ – im Gegenteil. Nie habe ich mehr an mir gezweifelt als –« »Selbstzweifel sind kein Zeichen von Schwäche. Sie zeugen von Größe«, unterbrach ihn Makootemane. »Wer sich selbst für perfekt hält, entlarvt seine Schwäche selbst. Wenn ich dir aber sage, daß du der Stolz meines Herzens bist, dann magst du es als wahr hinnehmen. – Aber das ist nicht das Grund für dein Hiersein.« »Nein«, sagte Wyando, der, wie er gerade erfahren hatte, mit Kritik besser umgehen konnte als mit einem Lob. »Der Grund ist dein geplanter Alleingang. Ich habe mich entschieden: Ich werde dich zum Berg begleiten.« Ein warmes Lächeln erschien auf Makootemane Gesicht. »Ich hatte es gehofft – aber es mußte von dir selbst kommen.« Wyando ließ die Stille in sich fallen, dann fragte er: »Wann brechen wir auf?« »Sofort.« Wyando nickte. Sein Blick wanderte zu dem zerzausten Vogel hinter Makootemane. »Wird er uns wieder begleiten?« »Ohne ihn bin ich nichts.« »Das ist nicht wahr!« »Vielleicht stimmte es vor dem ersten Kampf nicht – aber inzwischen kann keiner von uns mehr ohne den anderen auskommen. Schon gar nicht im Krieg.« Im Krieg … Wyando zögerte, dann berichtete er Makootemane von seiner Entdeckung an dem Totempfahl. Sein Vater wirkte betroffen, aber eine
Erklärung für das Phänomen hatte auch er nicht. »Ich glaube nicht, daß wir uns damit aufhalten dürfen«, sagte er nur. »Brechen wir auf. Die Nacht ist eine gute Zeit zu reisen …« Über die Art ihrer Fortbewegung brauchten sie sich nicht zu verständigen. Sie war klar. Makootemane hob den Ur-Adler auf seine Faust und trug ihn hinaus. Als er auch noch nach dem bereitgelegten Bündel greifen wollte, kam Wyando ihm zuvor. »Darum kümmere ich mich!« Makootemane akzeptierte es. »Wollen wir noch einmal mit den anderen sprechen?« fragte Wyando. Der Greis schwang den Arm mit dem apathisch ins Leere starrende Vogel in die Höhe, und der Adler breitete seine Flügel aus, die gelitten hatten wie alles an ihm. Trotzdem trugen sie ihn noch, und ohne zu zögern – als wüßte er genau, welches Ziel es zu erreichen galt – entfernte er sich in Richtung des Cedar Buttes, des heiligen Bergs der Arapaho. »Nein«, sagte Makootemane. »Alles, was zu sagen war, wurde gesagt. Sie können nun selbst entscheiden, ob sie hier ausharren – oder der Gefahr entfliehen.« »Was, meinst du, werden sie tun.« Makootemane schwieg. Und schweigend verwandelte er sich vor Wyandos Augen in das Totemtier des Stammes. Sekunden später entfernten sie sich beide über den Wipfeln der Zederbäume – im Sog des vorausgeeilten Adlers, der kaum noch mehr war als ein Gespenst …
*
Die mittägliche Hitze lag wie ein Tuch über den Tipis. Nichts regte sich, und es hatte den Anschein, als wäre das Zeltdorf tatsächlich erneut von seinen Bewohnern aufgegeben worden – diesmal für immer. Plötzlich aber entstand Bewegung. Drei Gestalten lösten sich aus einer der spartanischen Behausungen und strebten dem Platz mit den Totems entgegen. Drei Frauen in grauen Kleidern. Grau wie die Welt, die sie sahen. Grau wie die Tristesse ihrer Absichten … Lautlos erreichten sie die Mitte des Platzes, wo am hellen Mittag unhörbare Blitze zwischen ihnen und dem Totempfahl zu zucken begannen. Energien so finster wie die Gedanken, die sich durch die Gehirne der Besessenen wälzten. Nur kurz fand dieser »Austausch« statt. Dann erlosch das unheilige Feuer. Die drei Frauen reckten ihre Arme zum Himmel und schickten ihre Gedanken auf die Reise. Gedanken, die in fremden Revieren wilderten. In den Köpfen derer, die sich im Blätterkleid der Bäume verborgen hielten. Kurz darauf rauschte die Luft. Flügel peitschten. Adler, die glaubten, von ihren indianischen Partnern gerufen zu werden, kamen herbei. Ahnungslos auf ihrem allerletzten Flug …
* Die Höhle war in sattes Licht getaucht … und so finster wie ein Schacht, der steil in den Mittelpunkt der Erde hinabführte! Die Höhle war riesig … und so klein wie der Bau eines Dachses! Wyando stöhnte. Seine Eindrücke wechselten in aberwitziger Geschwindigkeit. In dem einen Moment fühlte er sich winzig und verloren inmitten eines himmelhohen Gewölbes – und im nächsten meinte er, lebendig
begraben unter Unmassen von Gestein und Erde zu liegen. Klaustrophische Anwandlungen wechselten sich mit der Illusion grenzenloser Freiheit ab. Weder das eine, noch das andere war eine Tatsache. Die Wirklichkeit war ein dehnbarer Begriff geworden. Bis zu einem gewissen Grad manipulierbar. Aber würde das reichen, um eine reale Gefahr zu bannen? In Wyandos Nase strömten Gerüche, die Makootemane mit verschiedenen Pulvern entfacht hatte. In der Glut des Feuers entwickelten sie bewußtseinserweiternde Dämpfe. Wyando vertraute Makootemanes Tun. Wäre es nicht so gewesen, hätte er sich diesem Wagnis niemals stellen dürfen. Atemlos wartete er auf das Erscheinen des DRACHEN, den sie aus seinem Versteck zu locken versuchten. Warum die Heimsuchung der Vampire ausgerechnet in dieser Gestalt erschienen war, darüber konnte Wyando nur spekulieren. Im Grunde hatte ein Drache nichts mit Mythologie und Ursprung seines Volkes gemein. Oder hatte er gerade deshalb diese Form gewählt? Seit ihrer Ankunft in der Nacht hatten Makootemane, Wyando und der Adler ihre Seelen zusammengeschlossen, um dem Drachen zu trotzen – und ebenso lange spürte Wyando bereits die Beschränktheit der Macht, die sie zu entfesseln imstande waren. Makootemane und das Stammestotem waren nur noch Schatten ihrer selbst. Der einzige, dessen Kraft noch ungebrochen schien, war er. Doch auch auf ihm lastete etwas, was ihn zweifeln ließ, ob er im richtigen Moment in der Lage sein würde, alles zu geben. Noch immer nagte der Verlust der Selbstkontrolle an ihm, den er im Motel von New Jericho erlebt hatte. Als er alle Werte verriet, an die er bis dahin geglaubt hatte. Margeau … Hier in der Höhle war sie nur noch ein gesichtloser Schemen. Und trotzdem führte der Gedanke an sie Wyando auf absonderlichen Irr-
wegen zu einer anderen Frau, deren Aussehen immer noch in jedem Detail vor seinem geistigen Auge stand. Eine Frau, die ihm mit unversöhnlichen Grundsätzen gegenübergetreten war und die er trotzdem gegen die Rachsucht einer anderen Frau verteidigt hatte. Eine Frau, die Vampire jagte und umbrachte, wo immer sie ihnen begegnete – und die auch ihn vernichtet hätte, wären ihr Mittel und Gelegenheit an die Hand gegeben worden … Er stockte. Sein Geist erbebte wie zum letzten Mal bei dem Ritual seiner Vampirwerdung, als Makootemanes Blut über den Rand des Lilienkelchs hinweg in seinen Mund geschwappt war und die Chemie des Körpers auf den Kopf gestellt, verdreht und vergewaltigt hatte! Das Epizentrum der Beben, die sich der Allianz zweier Arapaho und eines Vogels näherten, war unbestimmbar – aber Wyando hätte nicht ausgeschlossen, daß es in ihnen selbst steckte. Tief im Kern dessen, was ihre Persönlichkeit ausmachte … »Endlich«, hörte er sich flüstern. Du Narr, dachte er. Freut sich ein Delinquent auf das Beil der Guillotine? Sie hatten es aufgeschreckt. Den Köder ausgeworfen, der ihr eigenes Verhängnis werden konnte. Wyando spürte das Böse in seiner nackten, ungeschönten Natur. Es kam. Es folgte der Fährte, die sie ihm gelegt hatten. Der Spur ihrer Gedanken … Aber bevor der Drache Feuer speiend über sie hereinbrechen konnte, tat Makootemane etwas Unerwartetes. Sein markerschütternder Schrei gellte durch die Höhle. »Neeeiiinn …!« Wyando begriff nichts. Außer, daß es vorbei war, bevor es begonnen hatte.
* � »Warum hast du das getan?« Wyando blickte, während er die Frage stellte, nicht zu Makootemane, sondern auf seine Hände. Sie schienen ihm wichtig. Wichtig, um zu erkennen, ob der Herzschlag des Grauens, das Sekunden zuvor wie eine spukhafte Stampede auf sie zu gewalzt war, ihn nicht doch erreicht und in etwas verwandelt hatte, was Makootemane und dem Ur-Adler ähnlich sah. Aber seine rötliche Haut war glatt … »Weil ich deine Zweifel spürte«, sagte die Gestalt, die zusammengesunken auf der anderen Seite des Feuers saß. Und als Wyando Einspruch erheben wollte, kam Makootemane ihm zuvor: »Berechtigte Zweifel!« Wyando versuchte mehr als diese Andeutung aus den kantigen Zügen des Greises herauszulesen. Zu frisch war die Erinnerung an den Vorwurf, den Makootemane gegen die anderen Angehörigen des Stammes erhoben hatte. Auch ihnen hatte er ein zu schwaches Vertrauen auf die eigene Stärke bescheinigt. Und nun … »Es wäre Selbstmord«, sagte Makootemane. »Du hast es auch gespürt: Wir können es nicht besiegen! Nicht einmal, wenn wir unsere Leben für die anderen opferten. Es würde sie nehmen – und sich dann dem Dorf zuwenden …« Wyando senkte den Blick. »Du willst aufgeben? Aber das wäre ebenfalls Selbstmord! Der Drache weiß, wo er dich finden kann. Und er wird sich nicht mit dir begnügen …« Makootemane lachte. Er lachte! Wyando war gezwungen, ihn anzusehen. Hatte der von ihm so geachtete Mann den Verstand verloren?
Aus dem gebogenen Schnabel des Adlers löste sich ein Laut, der wie der letzte Atemzug eines Verendenden klang. Auch ohne hinzusehen wußte Wyando, daß dies nicht der Grund war. Noch nicht. »Für eine unbestimmbare Zeit waren wir eins, Wyando«, sagte Makootemane und überzeugte ihn, daß sein Lachen nichts mit Heiterkeit zu tun hatte. »Ich konnte an deinen Gedanken teilhaben. An jedem Gedanken.« Daran zweifelte Wyando nicht, obwohl ihm selbst die Abgründe Makootemanes verborgen geblieben waren. »Und?« fragte er. »Du hältst große Stücke von dieser Squaw.« Wyandos Pupillen schienen sich explosionsartig zu vergrößern. »Ich habe sie dir nicht verschwiegen …«, setzte er ebenso verständnislos wie irritiert zu einer Rechtfertigung an. »Darum geht es auch gar nicht.« »Worum dann?« Makootemanes Mund schloß sich, als hätte er im letzten Moment entschieden, doch nicht darüber zu sprechen. Aber nach einer Weile sagte er: »Wenn sie dem, was du ihr zutraust, auch nur annähernd gerecht würde …« »Wovon redest du?« »Kurz vor dem Abbruch unserer Herausforderung hatte ich eine kurze, aber unglaublich starke Vision«, sagte Makooternane. »Ich sah eine Zukunft darin. Eine mögliche Zukunft.« Wyando biß die Zähne aufeinander, daß seine Backenmuskulatur hervortrat. »Was für eine Zukunft war das? Eine Zeit … ohne den Stamm?« »Nein«, erwiderte Makootemane. »Eine Zukunft, in der sie geholfen hatte, die Gefahr zu bannen. Mit einem kleinen Schönheitsfehler allerdings, wie ich einräumen muß.« Er lächelte leiser, aber auch abseitiger als zuvor.
»Du verschweigst mir etwas«, erriet Wyando, noch bevor er eine Chance hatte, sich über die eigentliche Bedeutung der Worte klarzuwerden. Er würde Lilith Eden wiedersehen … »Nur eines«, sagte Makootemane, und in seiner Stimme schwang eine deprimierende Gelassenheit. »In der Zukunft, in die ich schauen durfte … kam ich selbst nicht mehr vor …«
* Wyando sah den Rauch schon aus großer Entfernung. Er stieg wie eine Säule dort zum Himmel, wo das Dorf lag. Und noch ehe er die Zelte erreichte, formierte sich dieser Rauch zu einem Abbild des Feindes, vor dem Makootemane und er im letzten Moment doch zurückgeschreckt waren … Über dem Zedernwald bildete sich ein gigantischer, purpurfarbener Drache – deutlich schärfer wahrnehmbar und auf beängstigende Weise substanzieller als am Tag zuvor! Wyando ahnte sofort, was dies bedeutete. Und er fand seine schlimmste Befürchtung bestätigt … Noch bevor er den Boden vor dem Totempfahl berührte, verwandelte er sich in seine wahre Gestalt zurück, so daß er auf federnden Beinen zum Stehen kam. Sofort wurde er von seinen Geschwistern, die um den neuerlichen Scheiterhaufen versammelt waren, bestürmt. Er erfuhr, daß erneut drei Adler blutleer und bestialisch verstümmelt aufgefunden worden waren – und wieder war niemand auf die Tat aufmerksam geworden, ehe sie geschehen war. Wyando zeigte seine Erschütterung nicht. Und auf die Frage, wo er gewesen sei, antwortete er wahrheitsgetreu, daß er sich Makootemane angeschlossen und versucht hatte, mit ihm gemeinsam gegen die Bedrohung anzugehen.
»Viel Erfolg hattet ihr nicht«, urteilte Lololma mit einer Stimme, in der die Hysterie unverhohlen wilderte. »Nein«, gestand Wyando freimütig ein. Sein Blick fand die verkohlten Kadaver inmitten der Flammen. Sie sahen aus wie kleine Menschen, die ihre verbrannten Flügel wie Skelettarme zum Himmel erhoben hatten. Zu einem Ort, den sie nie mehr erreichen würden. Wyando gab sich einen Ruck. Dieser Moment war so gut oder schlecht wie jeder andere in absehbarer Zukunft. Kurzentschlossen berichtete er seinen Brüdern und Schwestern, was sich in der Höhle zugetragen – und mit welchem Auftrag ihn Makootemane fortgeschickt hatte. »Eine fremde Frau?« rief jemand, als er auf Lilith zu sprechen kam. »Ein Bastard, der Vampire tötet, soll uns helfen?« »Sind wir nicht auch anders?« entgegnete Wyando. »Unterscheidet uns nicht ebenso viel von der Alten Rasse?« »Und wie willst du sie finden?« klang die nächste Frage auf. »Makootemane hatte eine Vision. Er wies mir den Weg zu ihr …« »Reicht ein Monster, das uns vernichten will, nicht aus?« »Sie ist kein Monster!« Noch während er es sagte, fröstelte Wyando. Die Möglichkeit, daß er sich irrte, wurde ihm wie ein Schlag in den Magen bewußt. »Versprecht mir etwas«, sagte er, und sein Blick schweifte von den Kadavern, die das Feuer nicht länger nährten, hinauf zu dem purpurnen Schreckgespenst, das dort oben hing, als würde es jedem seiner Worte lauschen – und sie verspotten. »Etwas versprechen? Was?« »Bleibt«, sagte Wyando eindringlich. »Bleibt wenigstens, bis ich in ein paar Tagen zurück bin! Falls ich Erfolg habe, wird Lilith Eden mich begleiten – und ihr könnt euch selbst ein Urteil über sie bilden.« »In ein paar Tagen«, sagte wiederum Lololma, »wird keiner unse-
rer Adler mehr am Leben sein. Verlangst du nicht zuviel …?« Wyando schüttelte den Kopf. Er suchte und fand die Blicke derer, die mit ihm die Zeit durchwandert hatten. Bis heute. Und vielleicht war es das, woran auch sie in diesem Moment dachten …
* New Orleans, nach Mitternacht Der Schatten über den Dächern der Stadt am Mississippi war kaum mehr als eine fast unsichtbar kreisende Bewegung im Ozean der Nacht. Sinnverwirrend waren die Echos des pulsierenden Lebens, von dem die Straßen und Gassen tief unter dem dahinziehenden Schatten noch zu dieser späten Stunde schier überquollen. Der Versuch, das eine Echo, das eine Muster herauszufiltern aus dem Konglomerat, das einer gewaltigen Wolke gleich in die Nacht emporbrodelte, bedurfte aller Konzentration, derer Wyando fähig war. Jenes Muster, das sich ihm unauslöschlich eingeprägt hatte, obwohl ihre Begegnung – setzte man sie in Relation zu seinem ganzen Leben – nicht länger gewährt hatte als ein träger Schlag seines Herzens. Seines Herzens … Es schien sich verändert zu haben seit jenem ersten Zusammentreffen. Und der müde Rhythmus selbst schien sich jedesmal dann zu verändern, wenn er an sie dachte – schien ein klein wenig schneller zu werden und ein bißchen schmerzhafter … Der Schrei eines Adlers wehte durch die Nacht über New Orleans … Und dann war es doch ganz leicht, sie zu finden. Denn der Widerhall ihres Seins, das er nie vergessen hatte, stieg
auf von einem Ort, der bar all dessen war, was den Rest der Stadt durchströmte und die Straßen und Gassen flutete. Von einem Ort, an dem der Tod auf ewig zu Hause war. Das Muster kam aus einer Stadt der Toten … Doch es erreichte den Schatten über New Orleans nicht allein. Es war eines von unzähligen anderen, die ihm fremd waren und deren Gemeinsamkeit er doch erkannte: Angst; mehr noch – Todesangst. Doch der Widerhall ihres Wesens drohte nicht nur in jenen anderen Echos unterzugehen; er wurde schwächer mit jedem Gedanken, den er ihr widmete. Als würde er von etwas Gefräßigem und so unvorstellbar Fremdartigem verschlungen, daß er es nicht einmal ansatzweise zu erfassen vermochte. Nur eines erkannte Wyando in der Panik der anderen, die förmlich in die Nacht emporgischtete: Das Unfaßbare war fleisch- oder geistgewordener Schrecken, der nichts anderes kannte als Tod – und der nichts anderes als Tod hinterlassen würde, wenn er verschwand. Der Adler legte die Schwingen an, stürzte der Quelle jener Wahrnehmungen entgegen. Noch ehe er auf dem Boden aufsetzte, streckte sich sein Körper, verschwand das Gefieder. Wyando fand sich vor einer hohen, weißen Mauer wieder, nackt, weil er sich seiner Kleidung entledigen mußte, wenn er die Gestalt des Adlers wählte. Was ihm mit seinen Echos die Spur hierher gewiesen hatte, schlug mit der Gewalt von Brechern in sturmgepeitschter See über ihm zusammen und riß ihn beinahe von den Beinen, nun, da er in unmittelbarer Nähe stand! Wyando ging unweigerlich in die Knie, um die nicht faßbare Wucht auszugleichen. Eine ewigkeitslange Sekunde brauchte er noch, um seinen Geist soweit abzuschotten, daß die Panik der anderen nicht zu seiner eigenen werden konnte. Der Arapaho verschloß sich dem Chaos und ließ es zu einer bloßen »Fährte« werden, der er folgen konnte. Nur der Angst um sie wurde er nicht vollends Herr. Sie nagte in seiner Brust, und er hätte schon alles andere daraus vertreiben müs-
sen, um sie abzustreifen – selbst sein Leben … Wyando nahm Witterung auf. Er senkte den Blick. Von dort unten kamen die stummen Schreie, dort unten wütete das Fremde – und dort unten war sie. Der Indianer spürte es als Beben unter seinen nackten Fußsohlen. Nicht wie das Zittern des Bodens bei einem natürlichen Erdstoß, sondern anders … und schlimmer. Denn das Beben barg etwas, das ihm verriet, daß es die Welt in ihren Grundfesten erzittern lassen konnte – wenn es nur wollte. Und wenn man es ließ … Wyando öffnete die eiserne Pforte in der Mauer. Quietschend schwang sie auf. Dahinter erstreckte sich ein alter Friedhof, auf dem die Verstorbenen zu früherer Zeit nicht in der Tiefe versenkt worden waren. Statt dessen hatte man die Särge zu ebener Erde ummauert, so daß tatsächlich eine »Stadt der Toten« entstanden war. Wyando schlüpfte durch das Tor, blieb stehen, lauschte von neuem. Ganz nah war die Quelle nun, spürbar nah. Linkerhand ragte die bekritzelnden Mauern eines verfallenden Mausoleums auf. Davor standen Kerzen, lagen Muscheln, Stoffpuppen und Perlenkränze. Obwohl es ansonsten schmucklos war und im Vergleich zu manch anderen, prunkvoll verzierten Grabmälern geradezu unscheinbar wirkte, konnte niemand daran vorübergehen, ohne hinzusehen. Weil das Bauwerk die Blicke auf eine Weise anzog, die sich jedem Begreifen entzogen. Und jemand, dessen Sinne so sensibel waren wie Wyandos, konnte nicht einmal vorübergehen … Etwas von der Aura der Person, die hier im Jahre 1881 bestattet worden war, hing noch jetzt wie unsichtbarer Nebel um die schäbigen Mauern. Marie Laveau, die bekannteste Queen des Voodoo, schien mit ihrem Tod nicht ganz von dieser Welt gegangen zu sein. Und tief unterhalb ihres Leichnams lebte der Kult fort.
Oder etwas, das unter dem Deckmantel jenes Glaubensgebräus praktiziert wurde. Der unsterbliche Arapaho spürte, daß unter dem uralten Mausoleum sein Ziel lag. Es galt nur noch, einen Weg dorthin zu finden. Nur noch …
* Lilith erwachte … … in einer fremden Welt. Das Fremde selbst war ihre Welt geworden. ES hatte die alte ausgelöscht, mit seiner Präsenz verschlungen – oder wenigstens doch Barrieren zwischen Lilith und allem anderen errichtet. Unüberwindliche Barrieren aus purer Macht, zwischen denen nichts als Wahnsinn war – oder etwas Schlimmeres, für das Lilith jeder Begriff fehlte. Und doch war es noch nicht zu Ende; war das, worin sie gefangen war, nichts anderes als eine Zwischenstation auf einer Reise, die vielleicht nie enden würde, die immer tiefer hineinführen würde in etwas, an dem ihr Geist schon ob der Fremdartigkeit zerschellen mußte – ohne indes zu vergehen. Denn es würde immer und immer wieder eine weitere Steigerung des Unvorstellbaren geben – bis in alle Ewigkeit und darüber hinaus. Der Name dieser ersten Station war Schmerz. Und obwohl die Qualen, die Lilith zugefügt wurden, längst die Grenze des Erträglichen hinter sich gelassen hatten, gestattete ES nicht, daß ihr Geist sich in Bewußtlosigkeit retten konnte. Etwas wie Normalität existierte nicht in dem Fremden. Nicht einmal eine Abart davon, die anderen Gesetzen gehorchen mochte. Lilith hatte sich selten so klar gefühlt wie in dieser Nicht-Zeit, die nicht zu messen noch zu schätzen war. Sie war einfach nur – war immer und würde immer sein.
Der Geist der Halbvampirin brannte, ohne zu verbrennen, und doch verging er in jedem Augenblick zur Gänze, um es schon im nächsten von neuem zu tun. Ihr Körper veränderte sich unentwegt, wurde zerrissen in Teile, so klein, daß keines Menschen Auge sie mehr hätte erkennen können. Und doch blieb er unversehrt. Lilith starb. Und war im endlosen Tode zu ewig währendem Leben verdammt. Dennoch war all dies nicht mehr als der Anfang. Der Anfang – wovon? KOMM GANZ IN MICH, schmetterte das Fremde zwischen ihre Gedanken, SIEH MEINE MACHT – UND ERFAHRE SIE! Lilith wollte sich dem Befehl verweigern, doch ihr blieb dazu nicht mehr als die Kraft eines Gedanken. Lächerlich und verschwindend gering im Vergleich zu der des Fremden. Und völlig nutzlos.
* Wyando fand einen Weg. Der Tod bewachte ihn. Er begann in einem Grabmal, so klein und unscheinbar, daß es im Schatten des Mausoleums von Marie Laveau fast unsichtbar war. Nicht jedoch, wenn man genau hinsah und danach suchte, und schon gar nicht für den Arapaho, dessen nachtsichtige Augen die Finsternis kaum kannten. Der Zugang befand sich in dem Winkel, den Grab- und Friedhofsmauer bildeten, und er lag verborgen hinter dichtem Buschwerk und Gestrüpp. Das wenige Licht, das durch die schmale Maueröffnung sickerte, reichte Wyando, um sehen zu können. Rote Schatten formten sich zum Bild der kahlen Grabkammer, in deren Mitte die verrotteten
Reste eines Sarges lagen, und darin wiederum ein fast zur Gänze skelettierter Leichnam. In der gegenüberliegenden Ecke gähnte ein Loch im Boden, das in den Augen des Vampirs wie bis zum Rand mit Blut gefüllt aussah. Der Arapaho tauchte hinein. Stufen führten hinab, in schwindligmachenden Kehren und unterschiedlich breit, so daß das Hinablaufen zu unsicherem Taumeln wurde. Immer tiefer führte die Treppe in die Welt unter der Stadt der Toten. In eine Welt, die mit irrsinnig machendem Lärm zum Bersten angefüllt war, in der der Geruch des Todes die Atemluft ersetzte und in der wogendes Entsetzen das Regiment führte und alles andere neben sich erstickte. Trotzdem spürte Wyando noch immer das Gedankenmuster derer, wegen der er nach New Orleans gekommen war, in dem sinnbetäubenden Chaos. Er spürte es so lange, bis er den Zugang zu dem gewaltigen unterirdischen Gewölbe erreichte. Kerzenschein erhellte den riesigen Raum. Halbnackte, rituell bemalte Menschen tanzten zu arhythmischer Musik und grauenhaften Gesängen, die von Schrecken dirigiert wurden. All das nahm der Arapaho wie am Rande war, und er brauchte dafür nur den Bruchteil einer Sekunde. Gebannt starrte er zur Mitte des Gewölbes hin, wo ein Altar zwei Personen voneinander trennte, die sich über den Stein hinweg an den Händen berührten und – Personen? Nein! Wyando sah Lilith Eden unverändert, doch plötzlich war ihm, als würde eine unsichtbare Kraft den anderen demaskieren, der sich bisher hinter negroiden Zügen verschanzt hatte. Es gab keinen Namen, nicht einmal ein Wort für das, was dort jenseits des Altars nicht einfach nur stand, sondern wucherte, wogte
und sich auf unmögliche Weise bewegte, ohne von der Stelle zu weichen. Wyando fühlte sich von der fremden Präsenz angestarrt, höhnisch verlacht, obwohl es nichts daran gab, das zum Starren, zum Lachen oder sonst einer Regung geeignet gewesen wäre. Dann verschwand Lilith. Nicht ihr Körper, sondern nur das, was den Arapaho auf ihre Spur geführt hatte – ihr Sein, ihr Wesen. In dem Moment, da sie eins wurde mit dem Fremden. Ein Laut klang auf, der jenseits des Hörbaren lag und doch mächtig genug war, das Gewölbe erbeben zu lassen, so daß sich Sprünge wie verästelnde Blitze über Decke und Wände zogen. Wyando erstarrte … … und sank zu Boden.
* Daß es Dinge gab, die ungleich schlimmer waren als der Tod, wußte Lilith. Daß jedoch auch ewige Verdammnis noch steigerungsfähig war, war ihr neu. Bis jetzt zumindest. Und dabei hatte sie die unschöne Vorahnung, daß ES noch weit davon entfernt war, wirklich ernst zu machen. Lilith war nie prüde gewesen, und es hatte nur wenig gegeben, dem sie sich im Zusammensein mit Mann oder Frau verweigert hatte, ohne es wenigstens zu probieren. Was das Fremde aber mit ihr tat, war mehr als eine Summierung aller Abartigkeit der Welt. Denn es waren Dinge darunter, die kein Mensch und nicht der kränkeste Geist ersinnen konnte. Lilith lernte all diese Dinge kennen. Alle zugleich! Sie schrie in dem Fremden, in dem sie mehr als nur aufgegangen
war, und ihre Schreie wurden beantwortet – von all jenen, die vor ihr eins geworden waren mit dem IHM. Ihrer unermeßlichen Zahl zufolge mußte ES schon vor Urzeiten damit begonnen haben. Und es würde nie aufhören. Lilith wußte, daß sie nur ein winziges Glied in einer Kette ohne Anfang und Ende war, die wachsen würde bis zum Jüngsten Gericht, und auch dann würde es nicht vorbei sein. Und dieses Wissen war noch schlimmer als das, was ihr physisch (?) angetan wurde – und immer angetan werden würde. Ewigkeit … Der Begriff erlangte für Lilith eine neue, nicht faßbare, aber zutiefst erschreckende Bedeutung … Was ihr hier zuteil wurde, war nichts anderes als die Strafe, die der Schöpfer ihr angedroht hatte, sollte sie in ihrem Auftrag versagen. Aber sie war noch weit davon entfernt, das gestellte Ziel erreicht zu haben. Es war die Tragik ihres Lebens. Von Beginn an war sie nicht mehr als eine Figur gewesen, mit der die Mächte jenseits der Welt gespielt hatten … und der sie nun überdrüssig geworden waren. Lilith hörte etwas, das ihr Geist als Lachen des Fremden übersetzte, weil er nur so dem Wahnsinn entkommen könnte. Lilith hätte alles dafür gegeben, wenn ihr Verstand sich nur in die zerklüftete Welt des Irrsinns geflüchtet hätte. Doch er gehorchte längst nicht mehr ihrem Willen, sondern war zu etwas Eigenständigem geworden, das vor ihr floh, ohne sie jedoch wirklich zu verlassen. Und dann veränderte sich das Geräusch. Aus Gelächter wurden Laute des Erstaunens. Dann des Zornes. Und schließlich – – des Schmerzes?
*
Wyando sank nieder und kam mit gekreuzten Beinen auf dem kalten Boden zu sitzen. Noch in der Bewegung seines Körpers hatte sein Geist sich Raum verschafft, der den des Leibes sprengte. Eine Arena, in der er tun konnte, was getan werden mußte – was rasch getan werden mußte. Niemand nahm Notiz von ihm. Auch das Fremde nahm ihn nicht bewußt zur Kenntnis, weil von ihm nicht mehr Gefahr ausging als von allen anderen, die ihm nur Zeitvertreib oder allenfalls Futter waren. Das würde sich schnell ändern. Wyando mußte schneller sein, wenn er etwas erreichen wollte. Wenn er … Der Gedanke verwehte unter dem Hauch einer Macht, die aus verborgenen Winkeln seines Seins emporstieg. Er hatte die imaginären Tore, hinter denen sie lauerte, geöffnet, griff nun nach ihr, kaum daß sie aus ihrem Kerker hervorkroch, und lenkte sie in jenen Raum, den er dafür mit der Kraft eines Gedankens vorbereitet hatte. Wie durch Wasser hindurch sah Wyando mit einem Teil seines Bewußtseins hinüber zu dem Fremden, dem gegenüber Liliths seelenlose Hülle – ihr Leichnam! – stand, gehalten vielleicht nur von der fehlenden Erkenntnis des eigenen Todes. Er war nicht in der Lage, ES zu erkennen. Weil sein Sehen sich weigerte, es zu tun. Weil nichts daran Anhaltspunkt war, an dem ein Blick haften konnte. ES war ein Schatten – und doch ganz anders. Und es gab keinen Namen für ES … Nur eine erkannte Gefahr ist zu überwinden … Die Worte waren ohne sein Zutun aus Wyandos Unterbewußtsein hervorgebrochen, und sie wurden getragen von der Stimme des Mannes, der sie ihm einst gesagt hatte – der seinen liebsten Sohn alles gelehrt hatte, was in unsterblichem Leben von Belang sein konnte … Makootemane verstummte, doch Wyando wußte, was zu tun war. Er ließ die Macht fließen, hinausgreifen – nicht nur aus sich, sondern aus Raum und Zeit. So wie Makootemane es getan hatte, als er
dem Purpurdrachen gegenübertrat – und doch anders. Denn Wyando betrat nicht selbst den Kampfplatz. Der Ursprung des Zaubers lag in einem indianischen Ritual, das es ermöglichen sollte, den Geistern der Natur zu begegnen. Aber es ließ sich auch als Waffe verwenden. Vor allem gegen jene, die dem Bösen verhaftet waren. Die Macht wurde fündig. Sie kehrte unter dem Zug der unsichtbaren Bande, an denen Wyando sie kontrollierte, zurück, und sie brachte etwas mit. Wyando tat den nächsten Schritt. Er erweckte die Aufmerksamkeit des Fremden, lockte es, provozierte es auf eine Art und Weise, die ihm selbst fremd war. Mit Staunen und schließlich Zorn reagierte ES. Und ES kam, betrat die Arena, die Wyando geschaffen hatte. Der Arapaho vermochte es nicht zu sehen, doch er spürte, wie das Fremde auf unbeschreibliche Weise zu einem Schlag ausholte, der mächtig genug sein würde, ihn zu vernichten. Eine unerwartete Gnade, denn Wyando spürte auch den Willen des Fremden, ihn, den Frevler, wirklich und wahrhaftig zu töten. Er wußte, daß es der richtige Moment war. Wyando dachte einen Gedanken, der laut wie Donner durch die imaginäre Arena rollte – und das Fremde nicht einfach nur erreichte, sondern traf! Worte, die ihm selbst Schmerzen bereiteten, so fremdartig klangen sie. Keine menschliche Zunge hätte sie wirklich hervorgebracht. Es waren die Namen der Naturseelen, die Wyando zu Hilfe rief. Der Geist des Waldes, wo er am dichtesten und dunkelsten war. Der Geist des Windes, wo er sich zum Orkan auswuchs. Der Geist des Wassers, wo es über die Stromschnellen sprang, alles mit sich reißend in brachialer Gewalt. Wyando sammelte all diese Macht – und entfesselt sie, als er selbst fürchten mußte, unter der Spannung schlicht zu bersten.
Die Geister, die er gerufen hatte, schlugen dem Fremden entgegen, stürzten sich mit fast hörbarem Brüllen (das Rauschen der Tannen, das Heulen des Sturms, das Tosen des Wassers) auf seinen stofflich gewordenen Körper und begruben ihn unter sich. Ließen ihn schrumpfen, verzehrten ihn – – und konnten ihn doch nicht vernichten. Nichts, was wahrlich ewig war, konnte vernichtet werden. Nur vertrieben. Etwas wie ein Riß spaltete Wyandos mental erschaffene Welt. Für eine nicht meßbare Zeitspanne tat er sich auf und ließ einen winzigen Abglanz dessen, was dahinter lag, hindurch. Wyando schrie auf vor Grauen. Dann wurde der Leib des Fremden durch den Riß gesogen, und im gleichen Augenblick schloß sich das Loch in der Irrealität – mit einem Laut, der Wyando an das Zuschlagen eines haushohen Tores denken ließ … Das Echo pflanzte sich fort bis in die Wirklichkeit. Und es verebbte nicht. Risse und Sprünge in Decke, Boden und Wänden des Gewölbes weiteten sich unter dem Ausbruch jener Gewalten, die eben noch hier getobt hatten. Erste Brocken lösten sich, trafen einige der Voodoosi und ließen sie zu Boden gehen. An Flucht indes dachte niemand. Was geschehen war, die bloße Gegenwart des Fremden, hatte ihren Geist zerstört. Sie wußten nicht, wer sie waren noch wo sie waren, und sie mochten den Tod willkommenheißen. Wyandos Blick irrte durch das Gewölbe. Er brauchte Sekunden, um seinen Gedanken die Herrschaft über seinen Körper zu befehlen, und er war auch dann noch weit davon entfernt, wirklich wieder er selbst zu sein. Was er getan hatte, hatte nicht nur an seinen Kräften gezehrt, sondern sie fast verschlungen. Trotzdem lenkte er die Reste davon in die notwendigen Bahnen, und er schöpfte neue Kraft aus versiegelten Reservoirs seines Geistes.
Etwas flirrte umher, nicht sichtbar, nicht hörbar, nur zu spüren, wenn man es zu deuten wußte. Jeder andere hätte es für einen eisigen Hauch gehalten, der aus dem Nichts heranwehte. Wyando aber wußte, was es tatsächlich war. Mit geistigen Fingern griff er danach und fing es ein, zwang es dorthin zurück, von wo es mit fremdartiger Gewalt herausgerissen worden war. Als hätte ein Puppenspieler zu hastig an den Fäden seiner Marionette gezogen, schlenkerte Lilith ihre Glieder und wäre gestürzt, hätte Wyando sie nicht gerade noch aufgefangen. Ihre Blicke begegneten sich, doch die Schleier über Liliths meergrünen Augen hatten sich noch lange nicht weit genug gehoben, als daß sie ihn erkannt hätte. Der Arapaho zog die Halbvampirin mit sich, zerrte sie über sich im Wahnsinn windende Menschen und Leichen hinweg, wich herabstürzenden Deckentrümmern aus. Erst als sie schließlich die Treppe hinauftaumelten, gewann das Rumoren weit hinter ihnen an Gewalt. Als sie die Stadt der Toten erreichten, wurde sie wie von einem Erdbeben erschüttert, das länger währte als nur ein paar Sekunden. Im Schatten des Grabmals von Marie Laveau ließ Wyando die Halbvampirin zu Boden sinken und blickte sich um. Er sah die Risse im Gemäuer des Mausoleums. Als hätte etwas dagegen gedroschen. Von innen.
* Lilith erinnerte sich an nichts. Nun, an fast nichts. Nur an den Moment des Sterbens, dem nicht der Tod gefolgt war. Das Fremde hatte ihre Seele – oder das vampirische Äquivalent dessen, was einem Menschen die Seele war – aus ihrem Leib heraus-
gerissen und verschlungen. Was danach passiert war, darüber hatte ihr Geist Vergessen gebreitet. Liliths Erinnerung setzte erst in dem Moment wieder ein, da sie am Fuße dieses schmucklosen Mausoleums inmitten von Perlenkränzen, Puppen, Muscheln und Kerzen wieder zu sich gekommen war. Aber dieses »Zusichkommen« war anders gewesen als jedes vorherige Erwachen aus Bewußtlosigkeit. Es war vielmehr gewesen wie – geboren zu werden. Das Leben als solches ein zweites Mal geschenkt zu bekommen. Sie wußte, wem sie dieses Geschenk zu verdanken hatte. Er hockte ihr gegenüber, und wie bei ihrer ersten Begegnung war er nackt. Und wie damals zog sein Gesicht sie in Bann. Weil es von einer Schönheit war, die sich dem Beschreiben entzog, die nur mit Blicken zu erfahren war – und mit dem, was diese Blicke tief in ihrer Brust auslösten … »Wer bist du?« fragte Lilith kaum verständlich. »Nenn mich Hidden Moon«, sagte er. »Hidden Moon …« Die Worte glitten wie Samt über ihre Zunge und Lippen, die der Nachhall des Todes noch lähmte. Doch der Klang seines Namens und vor allem das, was er tief in ihr bewirkte, drängten die dunklen Schatten zurück. »Was …?« setzte die Halbvampirin an. Der Arapaho bedeutete ihr mit einer kleinen Geste zu schweigen. Dann erzählte er und beantwortete alle ihre Fragen, ohne daß sie eine einzige davon stellen mußte. Nur eine ließ er sie aussprechen. »Und nun erwartest du, daß ich dir im Kampf gegen diesen … Purpurdrachen helfe?« Lilith hatte vieles von dem, was er gesagt hatte, nicht verstanden. Nicht wirklich jedenfalls. Zu fremd – ja, zu ungeheuerlich klang manches, und es ließ sich nicht in Einklang bringen mit dem, was sie in ihrem bisherigen Leben erfahren und kennengelernt hatte.
»Ich kann dich nur darum bitten«, sagte er. »Ob du es willst, mußt du selbst entscheiden.« Ob du es willst … Etwas in seiner Stimme nahm ihr die Entscheidung beinahe ab. Etwas, das ein Kribbeln unter ihrer Haut verursachte, ein angenehmes Kribbeln, dem sie sich jedoch zu verweigern zwang. Es durfte nicht sein! Er war ein VAMPIR! Sie mußte ihn TÖTEN! Unbewußt rieb sie mit den Fingern über das Tattoo in ihrer Handfläche, das zwar nicht zu fühlen, aber ebensowenig zu verleugnen war. Ihr Stigma, das sie zwang, nie zu vergessen, weshalb sie lebte. Noch leben durfte. Oder mußte, wie ihr einmal mehr bewußt wurde; so schmerzlich, daß sie ungewollt seufzte. »Bedeutet das ein Ja?« fragte Wyando lächelnd. Sie erwiderte seinen Blick schweigend. Sie wollte. Aber sie durfte es nicht. Oder? War er nicht anders? Lebten er und sein Stamm nicht viel mehr im Einklang mit der Schöpfung, als es Evas Kinder taten? Mußte das nicht ein Grund sein, ihm beizustehen, ihn und seinesgleichen – zu schonen? Und überdies: War sie es ihm nicht schuldig? Zweimal waren sie einander begegnet. Und zweimal hatten diese Zusammentreffen darin gegipfelt, daß Hidden Moon ihr Leben gerettet hatte. War es da nicht schon ihre Pflicht, ihm seine Bitte zu gewähren – und sei es nur, um ihre Schuld abzutragen? »Nun?« fragte er nach einer Weile, in der Liliths Blick unverwandt auf seinem Gesicht geruht hatte. »Laß uns gehen«, erwiderte sie.
*
South Dakota � Schatten lasteten schwer und drückend über dem Dorf der Arapaho, obwohl der Himmel wolkenlos war. Es waren unsichtbare Schatten, die nur jemand spüren konnte, der um das Wesen der hier Lebenden wußten. Lilith spürte es, noch ehe sie, selbst in Fledermausgestalt, auf dem Rücken des Adlers dort unten zwischen den Büffelhaut-Tipis anlangte. Und im Grunde war nicht sie selbst es, die es wahrnahm. Sie hatte vielmehr teil an Wyandos Empfindungen. Als bestünde etwas zwischen ihnen, das tiefer ging als die bloße Berührung ihrer transformierten Körper. Der weite Weg aus dem Süden herauf und die Reglosigkeit, zu der sie auf dem Rücken des Adlers verurteilt gewesen war, hatten Liliths Kräfte eingeschläfert. So reagierte sie zu spät, als Hidden Moon unter ihr seine Gestalt veränderte und sie ihres Haltes beraubt wurde. Sie stürzte als Fledermaus in den Staub, überschlug sich zweimal und verwandelte sich noch in der Bewegung, so daß sie schließlich als Mensch liegenblieb. Der Symbiont floß wie flüssige Schwärze über ihre Blößen und kleidete sie in jenen löchrigen Catsuit, den er aus unerfindlichen Gründen am liebsten nachbildete. Die flapsige Bemerkung ob der unsanften Landung gerann ihr auf der Zunge, als ihr Blick auf das fiel, was auch Hidden Moon die Sprache verschlug. Kadaver. Tote Adler, deren Gefieder zerrupft und deren Fleisch von mörderischen Zähnen zerrissen war. Doch es war kein Blut zu sehen, bis auf ein paar verkrustete Reste um die gräßlichen Wunden herum. Andere Arapaho standen dazwischen, reglos, und das Entsetzen lähmte nicht nur sie, sondern alles um sie her. Kein Windhauch
strich durch die Wälder ringsum, kein Tier ließ sich vernehmen. Die Natur selbst schien den Atem anzuhalten. Nackt kniete Hidden Moon im Staub zwischen den Kadavern nieder. Sein Mund war trocken, seine Stimme klang rauh, als er sagte: »Was ist geschehen?« »Niemand weiß es«, wurde ihm aus der Runde geantwortet. »Es war wie beim vorigen Mal – niemand hörte, sah oder spürte etwas …« Wyando hob den Blick – und erstarrte von neuem. »Was …?« Seine Hand wies zwischen zweien seiner Brüder hindurch, zu einer Stelle, an der Lilith nichts sah. Doch gerade diese Leere war es, die den Arapaho erschreckte. »Verschwunden«, sagte eine seiner Schwestern. »Das sehe ich«, erwiderte Hidden Moon. »Aber warum?« »Er war heute morgen einfach weg«, sagte ein anderer. Lilith trat neben Hidden Moon. »Wovon sprecht ihr?« wollte sie wissen. »Vom Totempfahl unseres Stammes«, antwortete der Indianer und wies dorthin, wo nur noch ein Loch im Boden gähnte. »Jemand hat ihn gestohlen … Aber wer sollte das tun …?« »Derselbe, der hierfür verantwortlich ist?« Liliths Blick wanderte über die toten Tiere, doch sie verspürte nicht nur Ekel angesichts der übel zugerichteten Kadaver, sondern auch eine Trauer, deren Grund ihr fremd blieb. Als wäre es nicht ihr eigenes Empfinden … Noch während sie auf die Adler hinabsah, merkte sie, daß sich der Kreis um sie herum enger zog. Hätten die Arapaho Schatten geworfen, wären sie schwarzen Pflöcken gleich auf sie gerichtet gewesen. »Sie ist also jene, von der du Hilfe erhoffst?« sagte einer, und der Blick seiner dunklen Augen hing an Hidden Moon, der sich jetzt erhob und wie zum Schutz neben Lilith stellte. Er nickte.
»Wer bist du?« fragte der andere. »Mein Name ist Lilith Eden. Wer bist du?« erwiderte sie hart. »Man nennt mich Lololma. Dein Name beantwortet meine Frage nicht«, sagte der andere. In seinen Augen schimmerte etwas wie Metall. »Hat Hidden Moon euch nicht gesagt, wer ich bin?« »Ich möchte es von dir hören«, verlangte Lololma. Wyando trat zwischen Lilith und seinen Bruder. »Sie kann dir nicht mehr sagen, als du schon weißt«, erklärte er. »Vielleicht ist die Macht, die sie anders als die anderen unserer Rasse sein läßt, verantwortlich für all das«, faßte Lololma den Grund seines Mißtrauens in Worte und wies in die Runde. Die anderen Arapaho nickten mit düsterer Miene. Hidden Moon schüttelte den Kopf. Die Überzeugung, die in der Bewegung lag, schien seine Brüder und Schwestern auf seltsame Weise zu besänftigen. Als hätte er etwas hineinfließen lassen, dem sie sich nicht verweigern konnten. »Ich weiß, daß es nicht so ist«, sagte er ruhig, dann wandte er sich an Lilith: »Spürst du etwas?« Lilith lächelte verunglückt. »Nein. Weil ich nicht weiß, wonach ich suchen muß.« Sie ging in die Knie, berührte das krustige Gefieder eines Adlerkadavers – und zuckte zurück! Für einen winzigen Moment hatte sie etwas zu spüren geglaubt, schwache Energie, die in ihre Finger gebissen hatte … Doch als sie die Berührung wiederholte, geschah nichts mehr. Achselzuckend erhob sie sich. »Ich fühle mich erschöpft. Vielleicht kann ich euch helfen, wenn ich mich ein wenig ausgeruht habe«, meinte sie. Sie war sich keineswegs sicher, ob sie das überhaupt konnte. Weil sie sich nicht einmal ganz im klaren war, was Hidden Moon sich von ihr erhoffte. Ihr Begleiter nickte. Er berührte sie am Arm und führte sie aus
dem Kreis der anderen Vampire hinaus. Während er mit Lilith auf eines der Tipis zuging, wandte er den Kopf und sagte: »Verbrennt sie, wie Makootemane es getan hat.« Dabei wies er mit dem Kinn auf die Kadaver der Adler. Er schlug die Büffelhaut vor dem Eingang des Tipis zurück und wies mit einer einladenden Geste hinein. »Tritt ein. Hier wirst du Ruhe finden.« Lilith lächelte schüchtern und schlüpfte ins Zelt. Das Rund zwischen schräg aufragenden Lederwänden war erstaunlich groß, größer, als es von außen den Anschein hatte. Ein großer Teil des Bodens war mit Fellen ausgelegt, deren bloßer Anblick genügte, Liliths Müdigkeit übermächtig werden zu lassen. Trotzdem blieb ihr noch genug Kraft für einen Gedanken, als Hidden Moon nach einem letzten Blick den Eingang verschloß und seine Schritte sich entfernten: Sie wünschte sich, er wäre nicht gegangen, sondern hätte sich zu ihr gelegt. Und sie dachte dabei nicht an das schwarze Blut, das unter seiner rotbraunen Haut floß. Nicht nur …
* Die Schwärze um Lilith war nur für die Dauer eines Lidschlages von Bestand. Dann wich sie blutroten Schatten, die die Konturen ihrer Umgebung füllten. Erst dann besann Lilith sich dessen, was ihren Schlaf gestört und schließlich beendet hatte. Sie lauschte in die Nacht. Wieder fiel ihr auf, daß kein natürliches Geräusch zu hören war. Aber auch jenes, das im Schlaf zu ihr vorgedrungen war, hörte sie nicht mehr. Was war es überhaupt gewesen? Lilith versuchte sich daran zu erinnern, doch es fiel ihr erst ein, als
sie es wieder vernahm. Es klang wie ein Stöhnen. Und doch anders. Es war kein Schmerz darin. Dafür etwas – Lockendes. Etwas, dem Lilith sich nicht widersetzen konnte. Was sie ohnehin nicht wirklich versuchte. Vielmehr wollte sie herausfinden, woher es kam. Sie kroch in Richtung der Öffnung in der Zeltwand und schlüpfte hinaus. Es war nicht schwer, dem Geräusch zu folgen, denn Lilith mußte es nicht richtig orten. Es kam ihr vor, als würde das seltsame Stöhnen vor ihr her durch die Nacht wehen. Als würde es sie leiten. Wohin? Es gab nur eine Möglichkeit, es herauszufinden. Während sie über die freie Fläche zwischen den Tipis lief, versuchte sie auch auf andere Geräusche zu horchen. Nach Lauten, die auf die Anwesenheit der Arapaho hinwiesen. Doch sie hörte nichts. Vermutlich waren die Vampire unterwegs, um ihren Durst zu stillen – auf jene »sanfte Weise«, die Hidden Moon ihr beschrieben hatte und die sie trotzdem nicht nachvollziehen konnte. Weil sie sich so grundlegend von all dem unterschied, was sie über ihr Stiefvolk wußte. Das Stöhnen verstummte abrupt, als sie vor dem Tipi anlangte, durch dessen dünne Lederhäute es gedrungen war. Gleichzeitig zuckte ein vertrautes – verhaßtes! – Gefühl durch Liliths Gedanken. So wie es in diesem Moment sämtliche Vampire des Dorfes erreichen mußte. Ein Todesimpuls! Ein Vampir starb! Hastig schlug Lilith die Büffelhaut vor dem Eingang zurück. Doch bis auf eine Gestalt, die reglos, wie schlafend vor ihr lag, war das Tipi leer. Der Impuls war nicht genau zu lokalisieren gewesen. War es möglich, daß er gar nicht dieses Zelt betraf? Lilith kroch zu dem reglosen Körper hin, drehte ihn auf den Rücken – und erkannte, daß der Ge-
danke falsch gewesen war. Ihre Hände tauchten in klebrige Feuchtigkeit, und der Geruch, der davon aufstieg, ekelte sie im gleichen Maße, in dem er etwas völlig Gegensätzliches in ihr weckte. Durst. Lust auf schwarzes Blut … Sie sah in das Gesicht des Toten und erkannte Lololma. Seine nackte Brust glänzte naß und dunkel vor Blut, das träge aus einer Wunde in Herzhöhe rann. Als hätte jemand den Vampir gepfählt und den Pflock wieder hervorgezogen, bevor er sich aus dem Staub gemacht hatte. War er deshalb nicht sofort gestorben …? Weiter kamen Liliths Gedanken nicht. Ein Geräusch vom Eingang her lenkte sie ab. Sie wandte den Blick – und begegnete dem einer Vampirin, die vor dem Eingang stand, die Plane noch in der Hand. Das schon zuvor nicht schöne Gesicht der anderen verzerrte sich. Doch Lilith hatte den unbestimmten Eindruck, daß es nicht Entsetzen, nicht einmal wirkliches Erschrecken war, das ihre Züge veränderte, sondern – Triumph? Lilith verstand nicht … … zumal das Heulen, das Chelana in der nächsten Sekunde anstimmte, eindeutig von Schmerz und Trauer kündete. Ebenso wie von Wut und Haß, die allein ihr, Lilith, galten. Lololmas Mörderin!
* Sie kamen scheinbar aus dem Nichts, vom Todesimpuls alarmiert, und stürzten sich wie eine Horde blutrünstiger Raubtiere auf Lilith, kaum daß sie das Tipi des toten Lololma verlassen hatte. In diesen Momenten bewiesen sie, daß sie das wahre Wesen der Alten Rasse nicht wirklich abgestreift hatten. Sie konnten es noch immer nutzen, wenn sie es wollten – oder mußten.
Wie Bestien rissen sie Lilith zu Boden. Die Halbvampirin stand gegen die Übermacht auf verlorenem Posten. Allein die Tatsache, daß die Arapaho solche Art zu kämpfen nicht mehr gewöhnt waren, gereichte ihr zum Vorteil. Zwei oder drei der Angreifer vermochte sie abzuschütteln und zurückzustoßen, doch dann rissen rasiermesserscharfe Klauen ihr Fleisch auf, und dunkelrotes Blut floß, dessen Anblick die Wildheit der Arapaho noch anfachte … Etwas fuhr in den Pulk von Leibern, der sich über Lilith türmte, und ließ ihn auseinanderplatzen. Hidden Moon stieß die Angreifer zurück. Erst dann erhob die Stimme, laut und durchdringend, beseelt von etwas, das ihn von seinen Brüdern und Schwestern unterscheiden mochte. »Hört auf! Laßt sie!« »Sie hat Lololma getötet!« schrie jemand. »Sie trägt die Schuld an allem!« keifte jene, die Lilith im Tipi des Toten vorgefunden hatte. Wieder fühlte sich die Halbvampirin auf unbestimmte Weise irritiert. Etwas in der Stimme der anderen … »Warum sollte sie das tun? Und wie, frage ich euch?« erwiderte Wyando. »Sie ist erst heute mit mir ins Dorf gekommen. Wie soll sie die Verantwortung tragen für das, was vor ihrer Ankunft geschehen ist?« »Wer weiß, über welche Mächte sie gebietet?« gab Chelana fauchend zurück. »Du sagtest selbst, sie wäre anders als wir und anders als die anderen der Alten Rasse …« Hidden Moon wandte sich nach Lilith um, die noch immer am Boden lag. In seinen Augen sah sie etwas aufglimmen, ganz schwach nur – noch ganz schwach … Mißtrauen, das Chelanas Worte gesät hatten … Es war, als könnte sie seine Gedanken lesen. Was wußte er wirklich von ihr? Nicht mehr, als Nona ihm erzählt hatte. Die Hoffnung, die er in sie gesetzt hatte, entsproß nur diesem
Wissen – und dem, was er ihr insgeheim entgegenbrachte. Doch das konnte nicht genug sein, um ihr zu vertrauen, nicht vorbehaltlos zumindest. »Wir sollten die Gefahr beseitigen, bevor sie ein weiteres Mal zuschlägt«, sagte einer der Vampire. Als wären seine Worte das Startsignal gewesen, rückten sie gemeinsam vor. Doch Hidden Moon wich um keinen Deut zur Seite. »Nein!« »Willst du, daß sie uns ins Verderben stürzt?« fragte einer seiner Brüder. »Nein, das will ich nicht.« »Dann laß uns tun, was getan werden muß.« »Es ist nicht an uns, ein solches Urteil zu fällen. Das war es nie und darf es auch jetzt nicht sein«, erklärte Wyando hart. Die anderen wußten, worauf ihr Bruder hinauswollte. »Makootemane ist nicht hier. Er befindet sich auf dem Heiligen Berg«, entgegnete einer aus dem Kreis. »Dann sollte Wyando ihn herholen, damit er entscheiden kann, was mit ihr zu tun ist. Vielleicht vermag er ihr wahres Wesen zu erkennen«, meinte Chelana. Hidden Moon nickte. Der Blick, mit dem er Lilith maß, war noch lange nicht frei von Mißtrauen, aber es war wenigstens ein Abglanz jener Hoffnung und jenes Vertrauens darin, mit denen er ihr zuvor begegnet war. »So sei es«, sagte er, und die Erleichterung in seinen Worten mochte nur Lilith allein auffallen. »Fesselt und bewacht sie.« Chelana trat vor. »Ich werde mich darum kümmern«, bot sie an. »Metseeh, Pacahee, helft mir.« Sie winkte die beiden Schwestern zu sich. »Gut«, sagte Hidden Moon. »Ich werde mich beeilen.« Er streifte seine Kleider ab und schwang sich Sekunden später auf Adlers Schwingen in den nächtlichen Himmel empor. Einmal sah
Lilith seine majestätische Silhouette noch im Gegenlicht des Mondes, dann war er verschwunden. Und mit ihm verschwand auch die Hoffnung. Chelana und ihre Schwestern beugten sich zu ihr herab und packten sie. Was Lilith in ihren Blicken las, ließ sich nicht in Einklang bringen mit dem, was Hidden Moon ihr über die Friedfertigkeit des Stammes berichtet hatte. Im Gegenteil – was Lilith da sah, schien ihr schlimmer noch als das wahre, das ursprüngliche Wesen der Alten Rasse …
* Lilith wußte noch immer nicht, woraus die Bänder bestanden, mit denen die Vampirinnen ihr Hände und Füße gefesselt hatten. Sie wußte nur längst, daß ihre Kraft, die der eines Menschen weit überlegen war, nicht genügte, sie zu zerreißen. Im Grunde war es auch nicht wichtig. Ihre Befreiungsversuche waren eher Reflexe gewesen. Sie hatte nicht wirklich vor zu fliehen. Zumal es mit dem Abstreifen der Fesseln nicht getan gewesen wäre … Ihr Vertrauen in Hidden Moon war unerschüttert, ohne daß sie den Grund dafür benennen konnte. Zu neu, zu fremd war das, worin es gründete. Denn was es zu sein schien, konnte es, durfte es nicht sein. Sie, deren Aufgabe es war, die Vampire vom Antlitz der Welt zu tilgen, konnte einem Blutsauger doch kein Gefühl entgegenbringen, das nicht Haß war … Und doch … Lilith verbot sich, den Gedanken weiterzuverfolgen. Statt dessen befaßte sie sich mit dem, was geschehen war. Mit dem Tod Lololmas. Für den nicht sie verantwortlich war, obwohl es – und das gestand sie ihnen ohne Bitternis zu – für die Arapaho so aussehen mußte.
Zumal es ihre Aufgabe gewesen wäre, Lololma zu töten. Ihn und alle anderen … Lilith vollzog die Ereignisse der vergangenen Nacht noch einmal nach. Es waren nicht viele gewesen. Ein Geräusch hatte sie aus dem Schlaf gerissen – ein Stöhnen, dem sie gefolgt war und das sie letztlich zu Lololmas Tipi geführt – oder gelockt hatte … Im Nachhinein gewannen die Dinge für Lilith an Klarheit. Jemand hatte ihr eine Falle gestellt, und sie war wie blind hineingetappt. Wer steckte dahinter? Lololmas Mörder, natürlich. Und wer immer es war, er mußte auch den Tod der Adler verschuldet haben. Nur – war die Frage nach dem Wer überhaupt richtig? überlegte Lilith. Mußte man nicht vielleicht eher nach dem Was fragen? Die Antwort erfolgte von unerwarteter Seite. Drei schattenlose Gestalten schlüpften durch den Eingang ins Tipi und bauten sich im Halbkreis vor der Gefangenen auf. Lilith erkannte sie als Chelana, Metseeh und Pacahee, die drei Vampirinnen, die sie in der Nacht hierher gebracht und gefesselt hatten. Sie hatte mit ihnen zu reden versucht, doch kein Wort war über die Lippen der drei gekommen. Nun jedoch zeigten sie sich gesprächiger. Und was sie zu sagen hatten, ließ Lilith schaudern – zusammen mit dem, was sie in ihren Blicken las: Haß und etwas tausendfach Schlimmeres, das über blanke Bösartigkeit hinausging. »Was wollt ihr?« fragte Lilith mit einem Trotz, von dem sie nicht wußte, woher sie ihn nahm. »Dich«, antwortete Chelana. »Ihr habt mich doch schon«, meinte die Halbvampirin, auf ihre Fesseln blickend. Chelana lächelte abseitig. »Wir wollen dich ganz. Du sollst werden wie wir«, erklärte sie. »Was ist mit euch geschehen?« fragte Lilith. »Die wahre Macht ist in uns, hat alles vertrieben, was uns seit Jahr-
hunderten blind machte für unser wirkliches Sein.« »Ihr habt Lololma getötet und mich zu seiner Leiche gelockt«, stellte Lilith das Offensichtliche fest. »Und ihr seid auch schuld am Tod der Adler … Ihr seid zu Verrätern an eurem Stamm geworden.« »Nicht mehr lange, und du wirst ganz anders reden«, grinste Chelana. »Du wirst sehen, daß wir das einzig Richtige tun. Weil du uns dann dabei unterstützen wirst.« Lilith lachte verächtlich. »Verrate mir, warum ich das tun sollte? Was sollte mich daran hindern, einfach nach euren schlafenden Brüdern und Schwestern zu rufen, um ihnen zu zeigen, wer ihr wahrer Feind ist?« »Das.« Etwas Dunkles raste auf Lilith zu. Sie wollte den Kopf noch zur Seite nehmen, doch ihre Fesseln ließen ihr nicht genügend Spielraum. Chelanas Faust traf ihre Schläfe. Und für Lilith wurde der Tag übergangslos zur Nacht.
* Die Dunkelheit wich nur zögernd, als Lilith nach einer Weile die Augen wieder öffnete. Schatten wogten rings um sie her, und sie war nicht sicher, ob es sich dabei nur um Nachwirkungen der Ohnmacht handelte. Schließlich wichen die tanzenden Schatten zurück, ballten sich in Winkeln und Nischen zu wattiger Schwärze, und Liliths Augen nutzten das kaum vorhandene Licht. Sie erkannte rissige Felswände, feuchtglänzend und … Felswände? durchfuhr es sie. Und nahtlos schloß der nächste Gedanke daran an: Wo bin ich? Erst jetzt bemerkte sie, daß sie sich voranbewegte, ohne selbst etwas zu tun. Ihre Füße schleiften über steinigen Boden, weil harte
Fäuste sie an den Armen gepackt hielten und vorwärtszogen. Lilith wandte den Kopf. Sie sah Metseeh und Pacahee zu ihren Seiten, während Chelana zwei Schritte vorausging, tiefer in die Höhle, deren Decke in Finsternis verschwand, hinein … »Wo sind wir …?« fragte Lilith krächzend. Die Folgen des Fausthiebes waren noch nicht ganz abgeklungen. Chelana blieb stehen und trat im Herumdrehen einen Schritt zur Seite. »Am Ziel«, sagte sie nur, und Lilith wußte, was sie meinte. Nur ein paar Meter entfernt ragte etwas aus dem Boden – etwas, das seiner Schlichtheit zum Trotz auf eigentümliche Weise furchterregend und abstoßend wirkte. Irgendwann mochte das Ding einmal aus Holz bestanden haben. Jetzt wirkte seine Substanz wie faulendes Fleisch, war dunkel geworden, fast schwarz. Schief und knorrig stak der Pfahl im Boden, wie der Stamm eines Baumes, den Witterung und Zeit zu einer grotesken Figur verkrüppelt hatten. Lilith hatte ihn nie zuvor gesehen, und doch wußte sie ohne jeden Zweifel, worum es sich handelte: Dies war der Totempfahl, der aus dem Dorf der Arapaho verschwunden war. Doch Lilith war sicher, daß er ursprünglich nicht so ausgesehen hatte. Sie hatte den Eindruck, als wäre etwas in den Pfahl gefahren, das seine Form verändert und versucht hatte, ihn zu sprengen, ohne es zur Gänze zu schaffen. Die Totemfigur, die irgendwann einmal auf seiner Spitze gethront haben mochte, war verschwunden; abgebrochen worden, wie die zackige Bruchstelle deutlich bewies. Und trotz der seltsamen Form des Pfahls war noch etwas nicht zu übersehen: Aus dem Holz – oder dem, was daraus geworden war – hatte jemand Splitter herausgeschnitten, mehr als handlang und von der Stärke kleiner Pflöcke … Die Vampirinnen führten ihre Gefangene näher an den Stamm heran. Jetzt sah Lilith, woher der Eindruck nässenden Fleisches
rührte: Der Pfahl harzte! Zäh wie dickes Blut trat die Flüssigkeit aus »Wunden«, die von unten bis oben im Holz klafften, und rann wie bernsteinfarbener Schleim zu Boden, wo es sich nicht zu einer Lache sammelte, sondern vom Holz wieder aufgesogen wurde. Lilith schauderte. Nicht nur des grotesken Anblicks wegen. Sondern weil etwas von dem gräßlich veränderten Pfahl ausging. Wie eine Wolke, stinkend und angstbringend, und mit jedem Atemzug nahm Lilith etwas davon in sich auf. Etwas, das ihr Blut kalt werden ließ und ihr Herz mit Frost umhüllte. Mit jedem Schritt, den sie näher an den Pfahl herangeführt wurde, wuchs dieses Gefühl. Bis ihr nur noch ein Begriff dafür einfiel. In dem Pfahl steckte das Böse! Und wer mit dem harzigen Holz in Berührung kam, auf den mußte es unweigerlich nicht nur übergehen – er mußte davon regelrecht besessen werden! Wie die drei Vampirinnen? Lilith zweifelte nicht daran. Ebensowenig wie sie daran zweifelte zu wissen, was die Blutsaugerinnen mit ihr vorhatten. »Bindet sie fest«, befahl Chelana und bestätigte damit Liliths furchtbare Ahnung. Noch ehe Lilith etwas dagegen sagen oder geschweige denn tun konnte, wirbelten Metseeh und Pacahee sie herum und drängten sie gegen den Pfahl! Blitzschnell legten sie der Halbvampirin Fesseln an. Lilith schrie auf – vor Schreck und weil sie spürte, wie tausend eisige Nadeln in ihren Rücken stachen. Ihre Haut klebte förmlich an der harzigen Substanz fest, und der Eindruck, etwas Eiskaltes würde in sie fließen, verstärkte sie noch – als sie plötzlich nackt war! Der Symbiont – er wollte fliehen! Wie schwarzer Teer floß er an ihrem Körper hinab. Doch auch er entkam nicht. Der Pfahl begann heftiger zu »bluten«, als würde etwas das Harz mit Hochdruck herauspressen.
Lilith spürte die klebrige Kälte über sich rinnen, und auch den Symbionten erwischte die Substanz, bannte ihn, nahm ihm erst seine Beweglichkeit und dann den Willen zur Flucht – und zu jeder anderen Regung. Wie auch seiner Herrin …
* Die Adler kehrten heim. Die Nacht hatte den Tag beinahe vom Himmel verdrängt. Nur einen Streifen blutigen Rots ließ sie ihm noch im Westen über den Bergen, um Abschied zu nehmen. Aus diesem »Blut« tauchten sie auf. Drei Scherenschnitten gleich zeichneten sich ihre Silhouetten ab, doch nur eine vermochte jene Majestät zu entfalten, die jeder Mensch empfand, der eines fliegenden Adlers ansichtig wurde. Hidden Moon flog mit spürbar kraftvollen Schwingenschlägen voraus, während Makootemane und das Totemtier des Stammes wie in seinem Windschatten folgten, als müßten sie jede noch so geringe Möglichkeit ergreifen, Kräfte zu sparen. Sie rührten die Schwingen kaum, nutzten jeden Schlag bis zur Neige aus. Als die Nacht auch jenes letzte Stück des Himmels eroberte, landeten die Adler im Dorf. Vater und Sohn streiften ihr Federkleid ab und wuchsen zu menschlicher Gestalt – seinem wahren Alter entsprechend gebrechlich der eine, kräftig und stolz der andere. Schweigend wurden sie empfangen. »Begleitet Makootemane in sein Tipi«, ordnete Wyando an. Zwei Arapaho traten vor, nahmen den uralten Stammeshäuptling in ihre Mitte und geleiteten ihn aus der Dorfmitte. Wyando wandte sich wortlos ab und ging schnellen Schrittes auf jenes Tipi zu, in dem er die Gefangene wußte. An Händen und Füßen gefesselt fand er sie vor. Chelana, Metseeh
und Pacahee saßen um sie herum, ihre Blicke starr auf Lilith gerichtet, als könnten sie sie damit bannen. Mit einer knappen Handbewegung wies Wyando seine Schwestern aus dem Zelt. Sie gehorchten, ohne ein Wort zu verlieren. Als er mit Lilith allein war, ließ er sich ihr gegenüber in die Hocke sinken. »Makootemane ist zurück«, sagte er ruhig. »Er wird darüber entscheiden, was mit dir geschehen soll.« »Ich soll für etwas bestraft werden, das ich nicht getan habe«, erwiderte Lilith leise. Und dann, nach einer kurzen Pause: »Glaubst du denn, ich wäre schuld am Tode Lololmas?« Wyando antwortete nicht, doch sein Schweigen war von jener Art, die mehr als jedes Wort zu sagen vermochte. Tief in sich war er überzeugt, daß Lilith nichts mit alledem zu tun hatte. Dennoch – es gab Dinge, denen sich ein jeder ihres Stammes unterzuordnen und Folge zu leisten hatte. Und diese Angelegenheit gehörte dazu. Davon durfte auch er sich nicht ausnehmen. Und er wollte es auch nicht. Makootemane würde ein gerechtes Urteil fällen, dessen war Wyando sich gewiß. Er griff nach Liliths Arm. »Komm, ich helfe dir auf«, sagte er. »Binde mich los«, sagte Lilith. »Es ist so – unwürdig. Bitte.« Es hätte ihm selbst widerstrebt, Lilith gefesselt vorzuführen. Er löste die Bänder, die tief in ihre weiche Haut schnitten, und er berührte diese Haut länger, als es notwendig gewesen wäre … Dann brachte er die Halbvampirin unter den kalten Blicken seiner Brüder und Schwester zu Makootemanes Tipi. Der Alte erwartete sie. Er saß mit untergeschlagenen Beinen in der Mitte des Zeltes. Der Stammesadler hockte hinter ihm auf einem Pfahl. Wie oft hatte Wyando sie beide schon so vorgefunden, wenn er sie aufgesucht hatte? Und doch war es seit kurzem ganz anders. Denn dies war nicht mehr wirklich ihr Vater, und der Adler in seinem
Rücken war kaum mehr als ein zum Leben erwachter Schatten … Der Anblick schmerzte Wyando, mehr vielleicht als jeden seiner Brüder und Schwestern … »Setzt euch«, bat Makootemane heiser. Die Falten seines Gesichtes bewegten sich seltsam asynchron zu seinen Worten. Wyando nahm Platz und bedeutete Lilith, sich neben ihn zu setzen. Gehorsam ließ sie sich nieder. Makootemane sah nur kurz zu seinem Sohn hin, dann wandte er sichtlich angestrengt den Kopf und musterte Lilith. Lange und ohne jegliche Regung. Daran änderte sich auch nichts, als er sagte: »Ich spüre …« Doch dann änderte sich alles! Lilith explodierte! So jedenfalls kam es Wyando vor. Die Halbvampirin versetzte ihm einen Stoß, der ihn zum Ausgang rollen ließ, während sie sich wie von einer Feder geschnellt auf Makootemane stürzte. Der Alte riß abwehrend die Hände empor – eine lächerliche Bewegung ob des jämmerlichen Anblicks, den er bot. Doch die Bewegung schien nicht mehr als ein Reflex gewesen zu sein. Denn noch bevor Liliths Hände sich um sein runzliges Gesicht schlossen, erschlaffte sein Körper. Als hätte jeder Muskel seine Spannung verloren, jedes Organ seinen Dienst eingestellt. Völlig reglos, wie in Trance, hing er im Griff der Halbvampirin. Und das blieb auch dann, als Lilith ihm das Gesicht mit einem Ruck auf den Rücken drehte!
* Durch den Sturz war Wyando in eine Position gekommen, in der er sowohl zum Tipi hinaussehen als auch beobachten konnte, was Lilith tat. Er schrie auf! Mehr konnte er nicht tun. Die Halbvampirin brach
Makootemane so rasch den Hals, daß Wyando nicht mehr reagieren konnte. Das morsche Knacken hallte noch in seinen Ohren nach, als draußen seine Brüder und Schwestern in Agonie aufbrüllten und wie vom Blitz gefällt zu Boden gingen. Der Todesimpuls hatte sie erreicht. Doch diesmal war er ungleich stärker als bei Lololma. Wenn der Tod den Vater einer Sippe ereilte, wurde der Impuls für seine Kinder selbst zu einem kleinen Sterben. Wyando war davon nicht ausgenommen. Er wand sich in Schmerzen, die ihm stark genug schienen, sein Fleisch zu verbrennen. Und er sah, daß es den Arapaho draußen nicht anders erging. Sie wälzten sich am Boden, schrien – alle, bis auf drei. Chelana, Metseeh und Pacahee. Sie standen da, als wäre nichts geschehen. Doch sie blieben nicht tatenlos. Die drei Schwestern holten etwas aus ihren Gewändern, das Wyando erst in dem Moment identifizierte, da sie es benutzten. Als sie die handlangen Holzsplitter in die Herzen ihrer gepeinigten Brüder und Schwestern stießen – sie pfählten! Die Schreie der Arapaho gellten durch die Nacht. Und schwanden in dem Maße, da das Leben aus ihnen floh … Wyando hatte starr vor Schrecken beobachtet. Nun regte sich sein Körper wieder, getrieben von Verzweiflung. Aber er sollte keine Gelegenheit finden, das Unfaßbare zu verhindern. Lilith packte ihn an der Schulter, riß ihn herum. Hoch hatte sie die rechte Faust erhoben, aus der die Spitze eines hölzernen Splitters hervorstach. Dann sauste die Faust herab, genau auf sein Herz zu.
* Wyando rang den Schmerz, der sein Handeln lähmte, nieder. Gera-
de noch rechtzeitig. Sein Arm kam hoch, fing Liliths Hieb ab. Er nutzte ihren Schwung, um sie über sich hinweg zu schleudern. Rasch kam er selbst auf die Füße, schlüpfte aus dem Tipi. Einen kurzen Blick warf er noch auf die Asche, die sich dort gesammelt hatte, wo eben noch Makootemane gesessen hatte … Der Anblick weckte Kräfte in Wyando, die ihn an den Rand der Raserei trieben. Für Sekunden nur. Denn was er draußen sah, lähmte ihn von neuem. Seine Brüder und Schwester, die eben von ihresgleichen getötet worden waren, regten sich – – und erstanden von den Toten! � Alle bis auf vier, die reglos liegenblieben. � Doch um sich darüber Gedanken zu machen, reichte die Zeit nicht. � Chelana, Metseeh und Pacahee kamen auf Wyando zu. Lilith stand abwartend da, den Splitter in der Hand, doch er spürte, daß sie sich gleich auf ihn stürzen würde. Und die Auferstandenen nahmen ebenfalls Kurs auf Wyando. Wyando straffte sich, war bereit, den Kampf aufzunehmen. Er würde ihn nicht gewinnen können. Aber wenn es sein Schicksal war, heute Nacht mit seinem Stamm unterzugehen, dann würde er es hinnehmen. Ein Adler schrie. Und Wyando erstarrte. Denn es war nur in den Ohren der anderen der Schrei eines Adlers. Wyando erkannte die Stimme seines Totemtiers, das sich im Schutze der Nacht verbarg – und er erkannte den Schrei. Creeaa! Wyandos Seelenname, den nur der Adler wußte. Nicht einmal Makootemane hatte die geheimen Seelennamen seiner Kinder gekannt. Sie waren es, was die Arapaho untrennbar mit den Seelen der Tiere verband.
Wyando reagierte ohne Zögern. Sein Körper wurde der eines Adlers, und er stieg so schnell in die Nacht empor, daß niemand ihm zu folgen vermochte. Wyando wurde erwartet von einem mächtigen Schatten, der über dem Dorf kreiste und, kaum daß sein »Herr« in seiner Nähe war, davonjagte. Wyando folgte seinem Tier, darauf vertrauend, daß es wohl wußte, wohin es ihn leiten mußte.
* Der Weg war nicht weit. Sie hatten eben erst begonnen, das nachtschwarze Meer der Wälder zu überfliegen, da ging das vorausfliegende Tier schon wieder tiefer, und Wyando folgte ihm. Vor einem Felsspalt setzte der Adler auf. Der Arapaho verwandelte sich noch im Landen, kam sicher zu stehen. Das Tier sah zuerst ihn an, wandte dann ruckartig den Kopf und starrte in die Schwärze der Felsenkluft, um schließlich wieder zu seinem »Herrn« aufzuschauen – unübersehbar auffordernd, wie Wyando registrierte. »Du meinst, ich soll da hinein?« fragte er trotzdem. Der Adler schrie. Creeaa! Wyando tat den ersten Schritt in die Finsternis, in der selbst seine Augen Mühe hatten zu sehen. Doch von irgendwoher sickerte schwaches Licht herein, das er nutzen konnte. Und so schritt er durch eine Welt aus blutroten Schatten, während seine Gedanken zurückeilten zu den Vorgängen im Dorf. Er verstand nichts davon. Was war nur geschehen? Welche Macht hatte ihre Finger nach seinem Stamm ausgestreckt, um ihn in den Untergang zu treiben – und weshalb? Wyando dachte an den Purpurdrachen, den Makootemane besiegt zu haben glaubte. Das alte Sippenoberhaupt hatte sich geirrt, doch
die Gefahr übertraf alles, womit Makootemane je gerechnet hatte. Und nun war der Vater des Stammes selbst ein Opfer jenes Drachen geworden. Wer sollte ihm jetzt noch gegenübertreten – und vor allem im Kampf bestehen? Wyando kannte die Antwort; es gab nur diese eine. Doch die bloße Vorstellung einer solchen Auseinandersetzung drohte ihn zu Boden stürzen zu lassen … Der Gang, durch den Wyando lief, weitete sich zu einer Höhle, deren Wände in Schwärze versanken, die sein Blick nicht zu durchdringen vermochte. Doch das war auch nicht nötig. Denn er sah, was er sehen mußte. Und er erkannte es, obwohl es seine Form, sein Wesen verändert hatte. Wyando ahnte, unter welchem Einfluß der Totempfahl seines Stammes zu jenem grauenhaften Gebilde mutiert war, das vor ihm aufragte. Der Purpurdrache hatte sich des Heiligtums der Arapaho bemächtigt, nachdem er sie auf andere Weise nicht hatte bezwingen können. Wyando trat näher. Seine Hand streckte sich wie von selbst nach dem schwärenden Holz aus, wollte das bernsteinfarbene Blut, das daraus hervorquoll, berühren, als flüsterte ihm eine Stimme ein, es doch zu tun. Creeaa! Er zuckte zurück. NEIN! schrien seine Gedanken, aufgeschreckt aus der Lethargie, in die etwas Fremdes sie gewoben hatte. Er wandte sich kurz um, sah die Silhouette des Adlers in der Röte hinter sich. Das Tier war ihm gefolgt, hatte gespürt, daß Gefahr drohte, die sein »Herr« nicht selbst erkennen würde. »Ich danke dir, mein Freund«, flüsterte der Arapaho. Dann drehte er sich wieder dem Pfahl zu, musterte ihn wie einen Kontrahenten, den es zum Zweikampf zu fordern galt.
Und er war willens, sich dem Purpurdrachen zu stellen. Ob er auch bereit war, würde sich weisen. Der ursprüngliche Plan war grausam gescheitert. Zu dritt hatten sie sich der Bedrohung stellen sollen: Makootemane, Lilith und er. Nun waren sein Vater tot und die Halbvampirin im Bann der fremden Macht. Und Wyando allein blieb nicht der Hauch einer Chance. Trotzdem blieb ihm keine Wahl …
* Makootemane hatte Wyando vieles gelehrt. Mehr als seine anderen Kinder. Vielleicht, weil er gespürt hatte, daß allein Wyando es sein konnte, der seinen Platz einnehmen konnte, wenn irgendwann einmal die Notwendigkeit bestehen sollte. Wyando war ein gelehriger Schüler gewesen. Viele Tage, oft sogar Wochen hatte er mit dem Alten auf dem Heiligen Berg zugebracht. Dennoch war er weit davon entfernt, Makootemanes ganzes Wissen zu kennen oder gar nutzen zu können. Starr, als wäre er aus Holz geschnitzt, saß Wyando auf dem Höhlenboden, dem Pfahl gegenüber und etwa vier Schritte davon entfernt. Weit genug, um ihn nicht unversehens zu berühren. Doch der Schein trog. Wyando selbst weilte nicht mehr auf dieser Welt. Sein Geist hatte den Körper verlassen, war hinübergetreten in eine andere Welt. Eine, der allein Gedankenkraft Wirklichkeit verlieh. Wyandos eigene Welt. Sie gehorchte ihm, und sie war sein Verbündeter. Der einzige in einem Kampf, der aussichtslos … Wyando kappte den Gedanken kraft seines Geistes. Wenn er nur den geringsten Zweifel am Erfolg hegte, konnte er sich dem Purpurdrachen gleich zum Fraße vorwerfen … Als Adler kreiste er über seiner Welt, die öd und kahl war, auf das
Wesentliche reduziert. Nichts durfte unnütz Kraft binden, jedes Quentchen würde er brauchen. Und doch war etwas an seiner spirituellen Welt anders, als Wyando es kannte. Sie war – tot. Bar allen Lebens. Seine eigene Welt war ihm fremd, und er erkannte im nächsten Moment der Zeitlosigkeit den Grund dafür. Tote »lebten« in seiner Welt. Hatten sich Zutritt verschafft, um seiner doch noch habhaft zu werden, nachdem er ihnen in der wirklichen Welt entkommen war. Nicht der Purpurdrache stellte sich Wyando zum Kampf. Er schickte jene vor, derer er schon habhaft geworden war. Wyandos Brüder und Schwestern.
* Das Wesen dort unten war auf ähnliche Weise entstellt wie der Totempfahl des Stammes. Weil die gleiche Kraft ihn verheert hatte. Wyando erkannte die Gestalt trotzdem. Chelana … Ihr Körper war gewachsen, als hätte ihn die unselige Kraft des Drachen aufgebläht. Muskeln waren gewuchert, hatten die Haut aufschnappen lassen wie die einer überreifen Frucht, und der Gestank ihres schwarzen Fleisches erreichte Wyando selbst in der Höhe. Jetzt wandte sie ihr Gesicht nach oben; eine Fratze, hinter der noch ein schwacher Abglanz der herben Schönheit Chelanas zu erahnen war. Als wollte der Drache Wyando verhöhnen mit dem, was er den Seinen antat. Der Blick ihrer stieren Augen war eine einzige Herausforderung. Und Wyando nahm sie an. Im Sturzflug stieß er nieder. Ehe er Chelana erreichte, mußte er etwas wie ein unsichtbares Hindernis überwinden. Eine Hürde, die
aus seinen Skrupel wuchs, die eigene Schwester anzugreifen, mit nichts anderem als der Absicht, sie zu töten. Nein! rief er sich selbst zu. Du tötest sie nicht! Der Drache hat sie längst getötet! Du – erlöst sie! Die Gedanken halfen. Ein bißchen wenigstens. Seine Krallen fuhren über Chelanas entstelltes Gesicht, rissen Furchen hinein, die sich mit schwarzem Blut füllten. Kreischend schlug die Vampirin nach dem Adler, traf ihn und schmetterte ihn zu Boden. Wyando verwandelte sich. In menschlicher Gestalt erwartete er Chelanas Angriff. Er ließ sie kommen, wich im letzten Moment zur Seite, griff nach ihr und – – brach ihr das Genick. � Chelana stürzte … �
* … hier wie in der Wirklichkeit. Auch im Dorf der Arapaho sank die Vampirin zu Boden, ein Seufzen auf den Lippen, mit dem etwas aus ihr wich …
* Pacahee war die nächste Gegnerin, auf die Wyando traf. Sie erschien wie aus dem Nichts, in den Kampf geschickt von einer Macht, die ihren Widersacher zu zermürben trachtete, ehe sie sich ihm selbst stellte. Wenn seine Kräfte aufgezehrt waren in einem Kampf, der nicht allein an der Physis fraß, dann erst würde der Drache hervorkommen – um ihm den Rest zu geben. Doch bis dahin hatte er noch eine ganze Reihe von Figuren zur
Verfügung, mit denen er spielen konnte. Pacahee verging in der Traumwelt unter den Händen ihres Bruders. Metseeh nahm ihren Platz ein und stürzte sich fauchend auf Wyando …
* Die beiden Adler hatten den Wahrnehmungsbereich der Fledermaus schon bald verlassen. Doch die Richtung zu wissen, in die sie geflogen waren, hatte Lilith genügt. Sie war selbst erst am Nachmittag von dort zurückgekehrt. Aus der Höhle, in der das Böse sich niedergelassen hatte und seiner Opfer harrte … Auf ihren ledrigen Schwingen brauchte Lilith nur wenig länger als die kraftstrotzenden Adler, um die Felsenkluft zu erreichen und in die Schwärze des Spaltes einzutauchen, der wie von einer Riesenaxt geschlagen im Berg klaffte. Liliths Gestalt wuchs in der Finsternis empor, als sie sich verwandelte. Sie lauschte. Stille umfing sie. Und doch – war da etwas. Etwas, das wie die Echos eines Kampfes klang, der in unendlicher Ferne vonstatten ging – und doch ganz in der Nähe … Die Halbvampirin schlich voran, getrieben von einer Kraft, vor der sie sich längst nicht mehr fürchtete. Ihre Art zu sehen hatte sich den herrschenden Verhältnissen längst angepaßt, und so entdeckte sie nach gar nicht langer Zeit jenen, dessentwegen sie hierhergekommen war. Wyando saß unweit des veränderten Totempfahls, dieser Welt entrückt, reglos, wie tot. Aber er lebte. Noch … Lilith wollte das ändern. Schnell, aber nicht schmerzlos … � Sie ging weiter. Und traf auf einen Gegner, mit dem sie nicht ge-
rechnet hatte. �
* Der Schatten des Adlers verschlang die Welt um Lilith. So jedenfalls schien es ihr, als das Tier sich ihr entgegenstürzte, mit ausgebreiteten Schwingen und vorgereckten Krallen, die auf ihr Gesicht zielten. Die Halbvampirin duckte sich. Wie die Ausläufer eines Sturmes spürte sie den Luftzug, in dem der Adler über sie hinwegschoß. Sofort machte das Tier kehrt, und diesmal schaffte Lilith es nicht mehr, auszuweichen. Die Klauen senkten sich wie Dornen tief in das Fleisch ihres Nackens und ihrer Schultern. Das Gewicht des Tieres drückte sie zu Boden. Irgendwie erahnte sie die Bewegung, als der Adler den Kopf zurücknahm und vorschnellen ließ. Sein Schnabel schlug dumpf gegen ihren Hinterkopf, riß die Haut auf. Der Schmerz entfesselte die Bestie in Lilith, die auch jetzt, unter dem fremden Einfluß, noch in ihr war, nur allzu bereit, aus dunklen Seelenkerkern aufzusteigen. Fauchend und brüllend in einem warf die Vampirin sich herum, mit gefletschten Fängen und monströs entstellten Zügen. Der Adler ließ von ihr ab, aber nur, um sich gleich wieder auf sie zu stürzen. Lilith stieß ihm ihrerseits die Klauen entgegen. Das Tier warf sich im Angriff förmlich hinein. Tief drangen die scharfen Nägel in seinen Körper, durchtrennten mühelos Fleisch und Knochen. Warmes Blut strömte über Liliths Arme. Creeaa! Sie hielt es für den Todesschrei des Adlers … Ihr Blick begegnete dem des Tieres. Was sie darin las, verwirrte sie selbst in ihrem jetzigen Zustand. Verzeihen …?
Aber da war noch etwas anderes. Etwas, das nicht im Moment des Geschehens verging. Etwas, das in Lilith blieb. Auch dann noch, als sie von nichtstofflichen Händen gepackt und zu Boden geschmettert wurde …
* Tawak sank nieder und hätte Wyando fast mit zu Boden gerissen, weil dieser vor Erschöpfung beinahe vergaß, den Kopf des erlösten Bruders loszulassen. Tawak war der letzte gewesen. Nein, nicht der letzte, verbesserte er sich. Vier seiner Brüder waren ihm nicht entgegengetreten. Jene vier, die sich nicht mehr als Untote erhoben hatten? Alle anderen hatte Wyando bezwungen; in Kämpfen, die seine Kräfte aufgefressen hatten. Doch das war das kleinere Übel. Das Wissen um die Einsamkeit, die mit dem Untergang seines Stammes auf ihn wartete, wog schwerer. Schwerer noch als das Wissen um jenen Kampf, der ihm noch bevorstand … Creeaa! Der Adler schrie seinen Seelennamen. Und der Ruf erreichte Wyando selbst in dieser Welt. Er wandte den Blick und sah – – seinen Adler sterben. Aufgespießt von den Klauen eines monströsen Wesens, dessen Zauber ihn selbst jetzt noch in seinen Bann schlug, da ihre Schönheit unsichtbar war – und nachdem sie Makootemane getötet hatte! Das Leben wich aus dem Adler. Sein Kadaver sackte tot in Liliths Griff zusammen. Da war Wyando schon über ihr. Er riß ihr das tote Tier von den Krallen und stürzte sich auf sie. Auch sie durfte er nicht verschonen, und einen Gedanken lang wunderte er sich darüber, daß ihm noch schwerer fiel, sie zu richten, als seine Brüder und Schwestern, deren Leben er geteilt hatte.
Mit seinem Gewicht hielt er Lilith am Boden, mit seinen Händen ihr grausam verzerrtes Gesicht. In dem Moment, da er den Druck verstärkte, um es nach hinten zu drehen, veränderte es sich. Als wollte die Macht, von der sie besessen war, ihn noch mehr quälen, wurde es wieder strahlend schön. Für den Bruchteil einer Sekunde. Im nächsten flog es mit widerlichem Geräusch zur Seite. Knack.
* Wie die anderen auch, so wurde auch Liliths Körper in dieser Welt jenseits der Wirklichkeit nicht zu Staub und Asche. Er löste sich auf – in Nichts. »Nein«, knirschte Wyando. Die anderen hatte er gehen lassen. Diesen Leib wollte er nicht verlieren. Noch nicht. Er wollte seine Schönheit noch schauen, sich daran berauschen, daran denken, was hätte sein können, wenn nicht alles dagegen gewesen wäre … Wyando ließ Liliths Leichnam nicht los. Und der Körper, der durchscheinend zu werden begonnen hatte, gewann wieder an Substanz. Bis Wyando Liliths Gewicht in seinen Armen spürte, ihr noch im Tode faszinierendes Gesicht dem seinem entgegenhob … … und dann zuckte er zurück, als Lilith plötzlich die Augen öffnete. Augen, die leer waren – im wahrsten Sinne des Wortes einen Augenblick lang. Dann füllten sie sich. Und Wyando sah, daß nichts mehr darin war von dem, was Lilith vorhin noch zu all den Greueln getrieben hatte … »Was …«, begann sie. Ihre Stimme war nicht mehr als ein Hauch, der fast noch verwehte, ehe er Wyandos Ohr erreichte. Er schüttelte den Kopf. Lächelte. Das Leben kehrte zurück, ihr Le-
ben. Er fühlte es unter seinen Händen, wie ihre Muskeln sich unter der neugewonnenen Kraft strafften. Und das bloße Gefühl genügte, auch die seinen zu regenerieren. In einer Zeitspanne, die ebenso Sekunden wie Ewigkeiten währen konnte … Dann löste Lilith sich aus seinem Griff. So plötzlich und ungestüm und mit einem Entsetzen im Blick, daß er erschrak. Stumm wies sie nach oben. Er folgte der Richtung ihres Deutens – und sah den Drachen! Wie eine gewaltige purpurfarbene Wolke, die eine Laune des Wetters in diese eigentümliche Form gedrückt hatte, schwebte er am farblosen Himmel von Wyandos Traumwelt. Doch er schreckte den Arapaho nicht. Nicht mehr, nun, da er wußte, daß er sich ihm nicht allein stellen mußte. Denn das Entsetzen in Liliths Blick war etwas anderem gewichen. Eisige Entschlossenheit glitzerte nun im Grün ihrer Augen. Nichts von dem wurde ausgesprochen. Doch es lag in der Luft dieser Welt, die nur aus Gedanken bestand … Die Schwingen des Drachen peitschten die Luft und entfachten einen Sturm, in dem allein schon Tod und Verderben spürbar waren. Doch Lilith und Wyando trotzten ihm. Wieder waren Worte nicht vonnöten. Ihre Gedanken verbanden sich, und so wußte Lilith, daß alles nach Plan lief, als der Arapaho dem Sturm plötzlich nachgab, sich davonwirbeln ließ – um einen Lidschlag später in anderer Gestalt gegen den Drachen anzugehen. Als Adler schoß er auf das mächtige Haupt des Drachen zu, wich einem Schwall purpurfarbenen Feuers aus und riß mit seinen Krallen den Schuppenpanzer des Ungetüms auf. Leuchtendes Blut schoß daraus hervor. Der Drache brüllte, spie wieder Feuer. Lilith sah die Flammenwalze auf sich zu rasen. Ein Gedanke genügte, um den Symbionten dazu zu veranlassen, sie zur Gänze einzuhüllen. Die Schwärze schützte sie vor dem Feuer, und als die Woge vorüber war, öffnete sich der hautenge Kokon so weit, daß sie sehen konnte, was weiter geschah.
Der Adler ging den Drachen mit blanker Todesverachtung an, konzentrierte seine Attacken auf den Schädel des Ungeheuers. Und doch war es ein Kampf wie die Auseinandersetzung zwischen David und Goliath. Diesen hier jedoch drohte »David« zu verlieren … Lilith handelte, als ein neuerlicher Feuerstoß den Adler streifte und taumeln ließ. Als Fledermaus stieg sie auf, schwirrte auf den Kopf des Drachen zu. Der Symbiont umhüllte ihren Tierkörper gerade so weit, daß sie noch fliegen konnte. Lilith hatte eine Idee – so selbstmörderisch, daß der Drache nicht damit rechnen würde. Und vielleicht lag darin ja seine Schwäche. Für einen Augenblick sah es so aus, als wollte sie sich auf eines seiner Augen stürzen – jenes, das entlang einer tiefen Narbe milchig weiß geworden war. Doch dann drehte die Fledermaus im letzten Augenblick ab – und verschwand im Maul des Ungeheuers! Wie ein Stein raste Lilith den Schlund des Drachen hinab. Nichts im Innern des Monstrums war von organischer Substanz, nichts, was irgendwie an die Eingeweide eines wirklichen Lebewesens erinnert hätte. Und doch herrschte keine Leere hier drin. Dinge, deren Präsenz allein genügte, den Geist zu zermürben, waren überall, stinkend und in sich lebend. Lilith wußte, daß sie nicht länger als Sekunden hier verweilen durfte, ohne selbst daran zugrunde zu gehen. Sie transformierte in menschliche Gestalt, entließ die Bestie aus den Kerkern ihrer Seele und gewährte ihrer Zerstörungswut freien Lauf!
* Wyandos Welt zerbrach. Lilith konnte ihren Niedergang mitansehen.
Die Schlacht war geschlagen. Der Drache hatte sich zurückgezogen, brüllend in Agonie, die sie ihm beschert hatte – sie oder jene Vampirin, die in ihr war und deren Gewalt sie selbst schaudern ließ. Denn nie zuvor hatte sie sich mit solcher Grausamkeit gezeigt. Lilith erwachte in der Höhle. Wo der Pfahl gestanden hatte, war nichts mehr. Nur das Loch, in dem er gesteckt hatte, gähnte im felsigen Boden. Ein Blick berührte Lilith. Warm, zärtlich, wohltuend. Sie erwiderte ihn. Hidden Moons Lippen lächelten, doch seine Augen lagen im Schatten von Trauer und Schmerz, der auf eigenartige Weise ihr eigener wurde. Zu seinen Füßen ruhte der Kadaver seines Adlers. Wortlos nahm er Liliths Hand, zog sie hoch. Seite an Seite verließen sie die Höhle. Adler und Fledermaus schwangen sich auf in das blutrote Licht des beginnenden Morgens.
* Der Tod hatte das Dorf der Arapaho verlassen. Doch das Leben war nicht vollends zurückgekehrt. Schmerz und Trauer, tiefe Verwirrung und Zweifel herrschten vor. Makootemane, ihrer aller Vater, war nicht mehr. Die Adler des Stammes waren tot – bis auf jene vier, die in den Weiten des Landes unterwegs gewesen waren. Und nun wurde auch klar, was es mit den vier Arapaho auf sich hatte, die vom Bösen verschont geblieben waren. Über sie, die geistigen Brüder jener überlebenden Adler, hatte der Purpurdrache keine Gewalt gehabt. Aber »verschont« bedeutete nicht, daß der Drache Gnade hätte walten lassen. Die vier Brüder waren tot. Was das Böse nicht vereinnahmen konnte, das vernichtete es. Nichts war mehr wie so, wie es Jahrhunderte lang gewesen war.
Und vielleicht empfanden die Arapaho dieses Los als schlimmer als den endgültigen Tod. Dieser Eindruck drängte sich ihr auf, als Lilith an Wyandos Seite im Kreis seiner Brüder und Schwestern saß. »Also habt ihr den Drachen besiegt, gegen den der große Makootemane vergebens kämpfte?« fragte Tawak. Er gab sich keine Mühe, seine Zweifel zu verhehlen. Wyando schüttelte den Kopf. »Nicht besiegt. Nur geschlagen. Ich selbst mag fortan gegen ihn gefeit sein, ihr seid es nicht. Meidet ihn also, und meidet jene, die sein Feuer in sich tragen.« Metseeh, die Vampirin mit dem vielleicht kindlichsten Gesicht von allen, sah ihren Bruder an. »Du beharrst also auf deiner Meinung, daß wir das Dorf aufgeben und unsere Heimat verlassen sollten?« Wyando hob eine Handvoll Staub vom Boden und ließ ihn durch seine Finger rieseln. »Dieser Boden ist nicht mehr der, auf dem wir seit der Kelchtaufe lebten. Warum sollten wir hierbleiben? Außerdem müssen wir neue Adler finden, wenn wir das Böse in uns dauerhaft bekämpfen wollen.« Schweigend löste sich das Rund der Arapaho auf. Stumm, aber gebückt wie unter schwerer Last gingen die Vampire davon, einem neuen Leben entgegen. »Creeaa …« Wyando wandte fast erschrocken den Kopf, sah Lilith an. »Was hast du gesagt?« fragte er unsicher. Sie blickte den Arapaho an, doch sie sah den Schädel eines Adlers, den erlöschenden Glanz seiner Augen … Sie wiederholte den Laut, ohne es bewußt zu wollen, und ihre Stimme klang fremd in ihren eigenen Ohren. Wie der Schrei eines Adlers … Wyando lächelte, und diesmal erreichte es auch seine Augen. Er nahm ihre Hand.
»Laß uns gehen«, sagte er. »Wohin auch immer …«, erwiderte Lilith. … und laß uns alles teilen, fügte sie hinzu, nur in Gedanken. Doch Hidden Moon verstand es. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch Lilith erfuhr nicht, was. Weil sie selbst ihm die Lippen mit den ihren verschloß.
EPILOG � Er lebte auf der anderen Seite der Welt. Und war zu Hause in vielen Welten. In Chiydoas Brust schlug das Herz eines gezähmten Wolfes. Einer Bestie, die Chiyoda gebändigt hatte – seit so vielen Jahren. Dennoch versuchte der volle Mond zwölf Mal in jedem Jahr, ihn wieder in dieses Monstrum zu verwandeln, mit dem er sich nie hatte abfinden können … … bis er Wege gefunden hatte, es im Zaum zu halten. Es hatte sich herumgesprochen. Seither war das abgeschiedene Kloster in der Mandschurai ein Wallfahrtsort für Werwölfe geworden, die von ihm erlernen wollten, wie sie der blutrünstigen Bestie in ihrem Kopf Herr werden konnten. Wenige schafften es, seinem Vorbild zu folgen. Und niemand hatte es je fertig gebracht, einem anderen, erst hier entdeckten und gereiften Talent nachzueifern. Chiyoda war ein Wanderer zwischen den Wirklichkeiten geworden. Mit derselben Leichtigkeit, wie andere aus einem Haus hinaus in einen Garten traten, überwand er die Schwellen zu Welten, die neben der seinen existierten. Unverwirklichte, verworfene Ideen eines Gottes … Zumindest war dies Chiyodas persönliche Interpretation der Dinge. Amüsiert verließ er einen warmen Sommertag und tauchte hinein in stürmischen Herbst. Unter seinen Füßen knisterte Präriegras. Der Himmel hing tief. Erstaunt blieb der dürre kleine Chinese stehen, als sein Blick auf einen selbst im Sitzen stolz wirkenden Indianer fiel, nur wenige Schritte entfernt. Uralte, in faltige, rötliche Haut gebettete Augen sahen ihn an, und eine brüchige Stimme fragte: »Bist du hier zu Hause?«
Chiyoda nickte seltsam berührt. »Bisweilen«, sagte er. � »Dann mußt du mir sagen, wo ich hier bin«, bat Makootemane … � ENDE
Junges Blut Leserstory � von Sven Später � Er saß auf der hölzernen Bank, deren Farbe verblaßt und an einigen Stellen längst abgeblättert war, und wartete geduldig, bis die letzte U-Bahn in dem dunklen Schacht verschwand. Seine Armbanduhr, die er im Grunde nicht brauchte, weil er die Zeit rein instinktiv erfaßte, zeigte in leuchtenden Ziffern 2:15 Uhr an. Oben auf den Straßen mochte nun gerade der niemals enden wollende Verkehrsfluß langsam verebben, und wie erwartet war hier unten nicht mehr viel los. An einer Säule im westlichen Teil des U-Bahnhofs kauerte ein Betrunkener und schlief seinen Rausch aus. Er konnte die widerlichen Ausdünstungen des Körpers deutlich riechen und ekelte sich vor ihm. Am liebsten hätte er diesen stinkenden Säufer vom Antlitz der Erde getilgt, aber das paßte nicht zu ihm. Wo blieb denn da der Spaß, wo das kribbelnde Gefühl, etwas Schlechtes zu tun? Nein, der Typ an der Säule war eigentlich schon längst tot, wußte es nur noch nicht. Polizisten waren zu dieser späten Stunde nicht mehr im Untergrund zu sehen. Sie machten sich oben eine gemütliche Nacht mit Donuts und Kaffee und jagten hin und wieder einen Verkehrssünder oder ein paar Kinder, die eine Tankstelle überfielen. Die U-Bahnstation lag wie ausgestorben da. Außer ihm selbst, dem Säufer und einem jungen Mädchen, das vor dem Glaskasten stand, in dem der Fahrplan aushing, war hier unten keine Menschenseele mehr. Die restlichen Fahrgäste waren gleich zur Treppe gestürmt, die sie hinauf und in eine weniger unheimliche Umgebung führte. Er hatte gehofft, das es so sein würde, denn er brauchte Ruhe und Einsamkeit für seine Arbeit.
Das Mädchen stand da, studierte den Plan und hielt ihre Reisetasche fest in ihrer rechten Hand. Es war schlank und gut gebaut. Ihr Haar glich der Farbe frischen Grases, auf das die Sommersonne herabschien, so wie er es schon auf Gemälden gesehen hatte. Einzelne Strähnen waren blau gefärbt und sie trug seitlich einen langen, grell gelben Zopf. Ihre Kleidung bestand aus einer schreiend bunten Bluse, einem neonroten Mini und Turnschuhen. An beiden Armen trug sie kleine Bänder in allen möglichen Farben und einige Armreifen. Ihre Finger waren bestückt mit Ringen aus Bronze und Plastik. Sie war schätzungsweise sechzehn oder siebzehn Jahre alt und offensichtlich darauf bedacht, mit ihrem Äußeren zu provozieren, die Blicke der Leute auf sich zu ziehen, was ihr auch sicherlich mühelos gelang. Dabei hätte sie diesen Zierrat gar nicht gebraucht. Ihr Gesicht war schön, glatt, mit einer perfekten Nase und ebenmäßigen Wangenknochen. Die Augen tief blau und groß, die Lippen leicht geschwungen, voll und so rot wie Schattenmorellen. Ein Wesen, das Anmut und Grazie im bizarren Sinn verkörpert hätte, wäre da nicht die Untugend gewesen, laut schmatzend einen Kaugummi zu kauen. Das Geräusch störte das Bild. Nun, dachte er, man kann eben nicht alles haben. Nichts ist perfekt. Der Duft ihres Parfüms vermischte sich mit dem Gestank des Betrunkenen, und er beschloß, zu ihr hinüberzugehen und sie anzusprechen, bevor ihm übel wurde. Zuerst bemerkte sie den jungen Mann gar nicht, der sich lässig auf sie zubewegte. Ein kurzer Blick aus den Augenwinkeln genügte. Er sah recht gut aus, hatte schwarze, hüftlange Haare, trug einen schwarzen Ledermantel, der bis zu den Knöcheln reichte, Motorradstiefel, schwarze Jeans und ein schwarzes Hemd. Wahrscheinlich gehörte er zu den farblosen Grufties, die ihr Leben so schrecklich fanden und deshalb als finstere Schatten auftraten, um sich in Szene zu setzen. Ein für ihren Geschmack viel zu trostloser Verein. Rebecca liebte
das Leben, die Farbenpracht der Welt, den Sonnenschein und die Freude an sich. Sie war ein Mädchen voller Tatendrang und Energie – wenn da nicht dieses kleine Problem gewesen wäre, das ihr arg zu schaffen machte. »Hallo«, hörte sie seine tiefe Stimme neben sich. Sie drehte dem Jungen den Kopf zu und erwiderte seinen Gruß. Jetzt, da sie ihn richtig ansah, stellte sie fest, daß er tatsächlich in gewisser Weise ihrem Geschmack entsprach. Sein Blick war nicht traurig, und der Typ machte auch sonst einen mehr zufriedenen Eindruck. Vielleicht gehörte er nicht zu den Grufties, sondern war einfach nur ein wenig anders. Ein Geheimnis umgab ihn, ein finsteres, aber romantisches Geheimnis, dem sie gerne auf die Spur kommen würde. Sie beschloß, sich ihm vorzustellen. »Hi, ich war noch nie hier in der Stadt. Kannst du mir ein gutes Hotel empfehlen? Nicht so teuer, wenn es sich machen ließe.« Der Fremde lächelte. Es war ein mysteriöses, vielversprechendes Lächeln, das ihr Herz zum Schmelzen brachte. »In dieser Stadt gibt es zu viele billige Absteigen, die für eine Prinzessin zu schade sind«, sagte er und schaute ihr direkt in die Augen. Na toll, dachte Rebecca, das ist ja wohl eine der billigsten Anmachen überhaupt. Schon hatte er ein wenig von seinem Reiz eingebüßt. Sie glaubte tief in seinem Blick lodernde Flammen zu erkennen, dann ein Sternenmeer, als wäre er ein Wesen aus einer anderen Welt, das sich auf der Erde verirrt hatte. Ein Fremdling auf der Suche nach etwas, das ihm gleichen könnte und nicht so war wie die übrigen Menschen. Da hast du mit mir voll ins Schwarze getroffen, überlegte sie still. Ich bin genau das, wonach du suchst, ganz anders als die übrigen Menschen. Ein Hauch bitterer Ironie mischte sich unter ihre Gedanken. Wenn er doch wüßte, wie anders sie war. »Glaubst du nicht, daß es für ein solches Angebot noch ein wenig zu früh ist?« antwortete Rebecca und senkte den Blick. Sie entschied sich für die Rolle der schüchternen, unnahbaren Schönheit, um
eventuelle Peinlichkeiten gleich im Keim zu ersticken. »Ich kenne ja nicht mal deinen Namen.« »Was bedeuten Namen? Die Nacht hat viele Schatten, und keiner davon hat einen Namen. Aber gut: Ich heiße Abraham. Und mir liegt es fern, dich in irgendeine dunkle Ecke zu zerren.« »Gut zu wissen«, meinte Rebecca und legte die Maskerade der Zurückhaltung genauso schnell wieder ab, wie sie sie hervorgeholt hatte. Sie hatte ein instinktives Verlangen danach, seinen Körper zu spüren, ihn zu küssen, zu umarmen. Etwas an diesem Jungen mit dem altmodischen Namen erregte Rebecca, brachte ihr Blut zum Kochen. Obwohl sie erst siebzehn war, befand sich Rebecca schon seit zwei Jahren auf der Wanderschaft von einer Stadt zur nächsten, immer auf der Suche nach einem Ort, an dem sie ihr Problem endlich bewältigen könnte. Trotz ihrer Jugend hatte sie schon viele Männer gehabt, aber keiner von denen war der Richtige gewesen. Keiner von ihnen hatte ihren Hunger gestillt. Abraham war anders. Seine seltsame Art, wie er sie anschaute: durchdringend, jedoch ohne ihr das Gefühl zu vermitteln, er wäre nur an Sex interessiert. Dieser Blick ging tief in ihr Innerstes, in ihre Seele, benebelte ihre Sinne. Rebecca wußte, daß sie ihm verfallen würde. »Du bist wunderschön«, sagte er. Bei allen anderen Männern hätte sie nun sofort den Rückzug angetreten oder sie für immer zum Schweigen gebracht, doch Abrahams tatsächliche Worte kamen nicht aus seinem Mund. Sie kamen aus seinem Geist und drangen in den ihren ein. Und dort hörte es sich nicht wie eine abgedroschene Phrase an, mehr wie ein Befehl, oder nein, eher wie eine Bitte, ein Flehen: Küß mich! Rebecca konnte nicht anders. Sie ließ ihre Tasche zu Boden fallen, legte ihm beide Arme um den Hals und berührte mit ihren Lippen seinen Mund. Der junge Mann erwiderte ihre Geste der plötzlichen Zuneigung, als hätte er nur darauf gewartet. Er strich ihr mit seinen
Händen sanft durchs Haar, über ihren Rücken. Seine Zunge berührte ihre Wange, dann den Hals. Rebecca gab sich ihren Gefühlen hin, obwohl sie wußte, was das bedeutete. Sie konnte die Kraft in ihrem Inneren nicht mehr unter Kontrolle bringen, und bald würde es wieder geschehen … Abraham nahm den Geschmack ihrer Haut auf, roch den Duft ihres jungen, frischen und reinen Blutes. Jetzt war der Moment gekommen. Sie würde seinen Durst stillen, und später wurde er sie in Stücke reißen, so wie er es immer mit den einfältigen Mädchen tat, die nicht stark genug waren, sich seiner Macht zu widersetzen. Er küßte ihren Hals, wiegte sie in Sicherheit und machte sich bereit, den roten, lebensspendenden Saft in sich aufzunehmen. Sein Mund verzog sich zu einem absurden Grinsen, entblößte gewaltige Fangzähne. Dann biß er zu. Anstatt jedoch in die weiche und warme Haut des zarten Geschöpfes einzudringen, stießen seine Hauer … auf dichten Pelz! Abraham wich hastig einige Schritte zurück. Vor ihm war nicht länger die kleine, liebliche Prinzessin, sondern ein riesiger, aufrecht stehender Wolf! Das Biest hatte scharfe Krallen und fletschte die spitzen Zähne. Sein Fell war weiß, auf dem Kopf jedoch grün, blau und gelb gefärbt. Es sah beinahe komisch aus, doch das vor Geifer triefende Maul erstickte jede Heiterkeit im Ansatz. Abraham wußte aus den Legenden, daß Vampire einem Wolfsmenschen nicht gewachsen waren. Er konzentrierte sich, wollte sich verwandeln, um zumindest einen ebenbürtigen Gegner abzugeben, aber das Ungetüm ließ ihm keine Zeit. Mit einem markerschütternden Brüllen, das sowohl tierisch als auch menschlich klang, stürzte es sich auf den Vampir. Menschen auf der Straße hörten das qualvolle Schreien eines Mannes und das Knurren eines wilden Tieres tief unten in der U-Bahn. Die Polizei wurde alarmiert. Als die Beamten eintrafen, fanden sie nichts als eine halb verzehrte große Fledermaus auf dem leeren
Bahnsteig und einen Säufer, der mit panisch aufgerissenen Augen vor sich hinstarrte. »Ein Wolf! Da war ein … ein riesiger Wolf!« brabbelte er, offenbar im Delirium. »Er … er ist in den Tunnel gerannt!« Der Alte wollte sich gar nicht mehr beruhigen. »Es war ein Wolf! Ein riesiger Wolf!« Die Beamten wechselten vielsagende Blicke. Doch dann versteinerten ihre Mienen. Und sie mußten erkennen, daß der Betrunkene keineswegs phantasiert hatte. Als nämlich die nächste U-Bahn in rasendem Tempo aus der Dunkelheit des Tunnels in die Station einfuhr und mit kreischenden Bremsen zum Stehen kam. Das blutige Etwas auf der Frontseite der Bahn war kaum mehr zu erkennen. Aber es war groß und haarig, und zwischen den Überresten ragten scharfe Zähne und lange Krallen hervor. Ja, es mochte tatsächlich ein Wolf gewesen sein. Vermutlich aus einem Zoo entkommen. Aber mit dem würde sich kein Scharfschütze mehr befassen müssen. Nur noch die Reinigungsmannschaft der Fahrbetriebe … © 1997 Sven Später, Kuseler Str. 19, 66871 Pfeffelbach
Glossar � Hidden Moon (Wyando) – Eines von Makootemanes (>) Vampirkindern und sein Schüler. Sein Name rührt daher, daß während seiner Kelchtaufe eine Mondfinsternis herrschte – was ihn vor Nonas Zorn bewahrte, denn die Werwölfin holte den fliehenden Wyando damals in Landrus Auftrag zurück und hätte ihn getötet, wenn ihre Kräfte durch die Eclipse nicht geschwunden wären. Jahrhunderte später suchte Nona die Indianer erneut auf, um Hilfe bei der Jagd nach Lilith Eden zu erbitten. Hidden Moon begleitete sie, ohne daß Nona ihn erkannte, und offenbarte sich ihr erst, als sie Lilith fanden und Nona die Halbvampirin töten wollte. So rettete er Liliths Leben. Hidden Moon ist ein hochgewachsener, stolzer Krieger, der – wie alle Mitglieder des Stammes – Federflaum am Nacken trägt und sich in einen Adler statt in eine Fledermaus verwandeln kann. Makootemane – Das durch den Kampf mit dem Purpurdrachen (>) greise Oberhaupt der Arapaho – eines Indianerstamms, dessen Kinder vor 309 Jahren von Landru zu Vampiren gemacht wurden. Die Erwachsenen des Stammes spalteten sich ab und erbauten in der Nähe ein neues Dorf. Von ihnen ernähren sich die Vampir-Indianer, ohne mit ihrem Biß zu töten und sie zu Dienerkreaturen zu machen. Die Arapaho (auch Hitanivo’iv, Wolkenmänner genannt) sind nicht böse, denn Makootemane hinterging Landru bei der Kelchtaufe und initiierte damit eine ganz neue Vampir-Art: Indem er seinem Adler von dem Kelchblut zu trinken gab, verband er sich mit der Seele des Tieres und konnte dadurch das Böse überwinden. Seinem Beispiel folgend nahm sich jeder Vampir seines Stammes einen Adler als Totemtier (>). Purpurdrache, Der – Die Traum-Manifestation der Vampirseuche,
die alle Sippenoberhäupter befiel. Als Makootemane (>) auf spiritueller Ebene gegen die Seuche anging, wählte er dafür den Körper seines Totemtiers (>), des Adlers. Die Seuche erschien ihm als purpurfarbener Drache: übermächtig, doch zu plump, um gegen den flinken Adler zu bestehen. So konnte Makootemane den todbringenden Keim zurückdrängen und war seitdem keine Gefahr mehr für die Mitglieder seiner Sippe. Totemtier – Jeder Indianer vom Stamm der Arapaho ist auf spiritueller Ebene mit einem Adler verbunden, der das Böse in ihm neutralisiert. Solange die Adler leben, hat die Dunkelheit keine Macht über die Arapaho. Bis auf Makootemanes Tier, das vom Kelchblut trank, handelt es sich um normale Adler.
Der Hüter und das Kind � von Timothy Stahl Für tausend Jahre war er der Hüter des Lilienkelchs. Mit dem Unheiligtum der Vampire besuchte er die Sippen in aller Welt, auf daß Menschenkinder die Ewigkeit daraus tranken und die Alte Rasse mehrten. Dann wurde Landru der Kelch geraubt. Fast dreihundert Jahre lang währte seine Jagd nach dem Artefakt – Jahre, in denen seinem Volk der Niedergang drohte. Doch auch in dieser Zeit der Verzweiflung gab es die Hoffnung auf einen Neubeginn: die Legende, daß den Vampiren, wie dereinst den Menschen, ein Kind geboren würde, das ihre Kräfte einte und sie zu neuer Blüte führte … Nun, da dem Kelch nur noch Tod und ewige Verdammnis entspringt, entsinnt sich Landru jener alten Prophezeiung. Und die Zeichen mehren sich, daß der Alten Rasse längst ein Kind geboren wurde …