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Todesruf der Geisterfrau Teil 1 von 2 Im Sommer hatte sich Eric Caine diesen Platz ausgesucht und jetzt - im F...
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Todesruf der Geisterfrau Teil 1 von 2 Im Sommer hatte sich Eric Caine diesen Platz ausgesucht und jetzt - im Frühherbst - wollte er darauf nicht mehr verzichten. Es war die Bank bei den Toten! Der perfekte Schlafplatz auf dem Friedhof. Vor ihm die Gräber, hinter ihm die Büsche, dicht wie eine Wand, ansonsten Ruhe. Er würde diesen Platz so lange wie nötig benutzen, auch wenn die Nächte allmählich kühler wurden. Wie es danach weitergehen sollte, wusste Eric Caine noch nicht. Es würde sein erster Winter werden, den er obdachlos verbrachte ... Vor zwei Jahren hatte das noch ganz anders ausgesehen. Da hatte er verdammt weit oben gestanden. Als einer, der in die New Economy eingestiegen und raketengleich in die Höhe geschossen war. Da hatte er am Himmel kratzen können, da war kein Gipfel hoch genug für ihn gewesen, doch nun der Absturz. Krass, hart und brutal! Caine hatte alles verloren. Seine Frau schon vorher. Nun auch sein Vermögen und natürlich die Freunde von damals, die dann keine mehr waren, als er Pleite ging. Jetzt war er 35 und auf dem Friedhof gelandet. Hier hatte er seinen Frieden bekommen. Hier haute ihn keiner an. Die Bank war zu seiner Heimat geworden, und in der Nacht hatte er seine Ruhe und konnte vergessen, denn die Toten störten nicht. Die Bank war nicht so leicht zu entdecken. Man musste den Weg zu ihr schon kennen, und bisher hatte Eric sie auch nie besetzt vorgefunden. Bis zu diesem Abend. Caine blieb plötzlich stehen. Er wollte es nicht glauben. Aber es war keine Täuschung. Sein Blick glitt über das kleine Gräberfeld hinweg, der Mund klaffte auf. Er zwinkerte mit den Augen, und der Rucksack auf dem Rücken fühlte sich doppelt so schwer an. Der Typ saß auf seiner Bank. Er hatte die Beine ausgestreckt, die Arme über die Rückenlehne gelegt, als wollte er damit andeuten, dass dieser Platz einzig und allein ihm gehörte. Die Haltung seines Kopfs ließ darauf schließen, dass er sogar die Augen geschlossen hatte und irgendwelchen Träumen nachhing. "Das ist irre. Das ist mein Platz!", flüsterte Caine und schüttelte den Kopf. Er wusste natürlich, dass es nicht stimmte, die Bank gehörte zum Allgemeingut, aber Caine dachte an ein gewisses Gewohnheitsrecht, und er war richtig sauer, weil jemand seinen Platz besetzt hielt. Ein schmaler Spazierweg führte an der Außenseite des kleinen Gräberfeldes entlang auf die Bank zu. Es war mehr ein Pfad, mit Gras bewachsen und mit hellen Kieselsteinen bestückt. Caine sprach den Mann nicht an. Er wollte erst mit ihm reden, wenn er die Bank erreicht hatte. Und er bemühte sich auch nicht, leise zu sein. Der Typ sollte ihn hören und sehen. Aber er reagierte nicht. Er genoss die Wärme des schwindenden Tages, der noch letzte Sonnenstrahlen durch die Lücken im Geäst der Bäume schickte, um den Friedhof zu wärmen. Eric Caine erreichte die Bank und blieb dicht davor stehen. Er nickte dem dort sitzenden Mann zu, der sich darum nicht kümmerte und weiterhin lächelte. "He, Bruder, ist hier noch frei?"
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Erst jetzt zog der andere seine Arme zurück. "Klar, hier ist immer frei. Du kannst dich setzen." "Danke, wie großzügig." Caine legte seinen Rucksack ab. Er bewegte sich bewusst langsam, um den Fremden zu beobachten. Er sah wirklich nicht aus wie jemand, der sich keine Wohnung leisten konnte. Bekleidet war er mit einer braunen Lederjacke. Darunter ein weißes Hemd, und eine schwarze Hose aus Cord bedeckte seine Beine. Die Schuhe sahen auch nicht eben aus wie gestohlen. Er schien sich wirklich nur auszuruhen und würde sicherlich bald verschwinden, denn Caine sah nicht aus, wie man sich einen Banknachbarn vorstellte. Empfindliche Nasen würden sich auch an seinem Geruch stören. Das machte dem Neuen nichts aus. Er nahm wieder seine bequeme Haltung ein und schlug ein Bein über das andere, wobei er nicht auf Eric schaute, sondern nach vorn und sogar vor sich hinlächelte. Das wunderte Caine schon. Aber der Mann schien in sich selbst zu ruhen. So etwas sollte es ja auch geben. Wahrscheinlich würde er noch länger hier hocken bleiben. Caine überlegte. Arm sah der Typ nicht aus. Ein paar Scheine konnten möglicherweise abfallen. Er überlegte noch den richtigen Anfang, ohne dass er zu stark als Bettler auftrat, doch der Mann neben ihm kam ihm zuvor. Er sprach von allein. "Sie ist wunderbar ..." "Hä?" "Ja, sie ist wunderbar." Caine überlegte. "Von wem sprichst du eigentlich, Bruder?" "Von ihr." "Wer ist sie denn?" Diesmal musste er länger auf die Antwort warten. "Ich habe sie gesehen. Sie war einfach fantastisch. So rein und schön. Irgendwie unschuldig. Ich würde alles für sie tun, das können Sie mir glauben. Ich habe sie gesehen, und schon war es um mich geschehen." Caine musste schlucken. "Das hört sich ja verdammt scharf an. Aber wer ist die Frau?" “Ich kenne ihren Namen nicht." “Aha." Eric räusperte sich und schaute über die Gräber hinweg. Sie sahen sehr gepflegt aus. Die Angehörigen der Toten hielten sie in Schuss. Der Grabschmuck war gewechselt worden. Jetzt leuchteten auf vielen Gräbern die hellen Sonnenblumen, denn sie hatten den eigentlichen Sommerbewuchs abgelöst. Es gab kein Unkraut, das auf den Gräbern wuchs, und auch die Wege dazwischen sahen gepflegt aus, denn hier wurde der Kies immer wieder geharkt. “Aber du bist scharf auf sie - oder?" "Nein, so kann man es nicht ausdrücken. Ich möchte sie wiedersehen, das ist alles. Und das werde ich auch schaffen", flüsterte der Mann. "Ich sehe sie wieder. Sie hat mich so fasziniert, dass ich nicht anders kann. Und ich kenne auch schon den Ort." Eric Caine hatte sein eigentliches Vorhaben vergessen. Was er hörte, das klang wirklich spannend und hatte ihn auch neugierig gemacht. "Die Frau kommt hierher, wie?" "Nein, das glaube ich nicht." "Aber du wartest auf sie?" "Nicht direkt." "Das verstehe ich nicht."
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Der Fremde neben Eric stöhnte wohlig auf. "Viele werden mich nicht begreifen. Oder alle nicht. Sie können es nicht fassen. Das kann sich nur derjenige erklären, der sie selbst gesehen hat. Nur wer sie gesehen hat, gerät in ihren Bann." "Ich aber nicht." "Du hast sie auch nicht gesehen." "Und wo hast du. sie getroffen?", fragte Caine. "Etwa hier auf dem Friedhof?" “Auf keinen Fall. Ich fand sie in der Stadt. Nur ist hier der richtige Ort, um ihr nahe zu sein und um sie später dann wiederzusehen. Darauf freue ich mich." "Aha. Dann kommt sie also doch her?" "Das stimmt nicht, mein Freund. Ich gehe zu ihr. Ja, ich werde jetzt zu ihr gehen." Eric Caine war nicht begriffsstutzig. In diesem Fall allerdings hatte er seine Probleme. Er wusste nicht, was er unternehmen und was er überhaupt fragen sollte. Alles lief ihm quer. So was hatte er noch nie in seinem Leben erlebt. Er beschloss, auf den Mann einzugehen. "Und du wirst sie also noch an diesem Abend besuchen gehen." "Ich werde sie sehen." "Dann würde ich mich auch beeilen", schlug Caine aus eigenem Interesse vor. "Das werde ich auch." "Weißt du, Kumpel, diese Bank hier gehört nämlich mir. Das heißt nicht so richtig, aber sie ist mein Schlafplatz. Sie habe ich über den Sommer hinweg gepachtet, und du siehst aus wie jemand, der sich durchaus eine Wohnung oder ein Haus leisten kann." Der Bankbesetzer ging nicht auf die Worte des Mannes ein. "Sie sieht wirklich wunderschön aus. Sie ist überhaupt das Schönste, was es gibt. So lieb, so strahlend, so hell und rein. Sie ist das Geschöpf, nein, sie ist der Engel, auf den ich immer schon gewartet habe. Nun bin ich hier und werde ihr bald sehr nahe sein." "Aha, dann muss sie ja gleich auftauchen." Caine war jetzt gespannt darauf, wie diese Frau wohl aussehen mochte. Das musste ja eine wahre Wunderfrau sein. Er hatte noch nie einen Menschen so von einem anderen schwärmen hören. Da traf sich die Liebe mit der Leidenschaft, das war schon nicht mehr menschlich zu nennen. "Sie kommt nicht, mein Freund." "Oh. Das ist schade. Du hast mich direkt neugierig gemacht." "Vielleicht siehst du sie auch mal." "Kann sein. Aber kaum auf dem Friedhof." Caine schluckte. "Nochmal von vorn. Wenn du sie nicht triffst und sie nicht zu dir kommt, willst du also zu ihr hingehen?" "So ist es." "Aber warum sitzt du noch hier?" Der Mann lächelte. "Weil es ein anderer Weg ist, verstehst du? Ein ganz anderer." "Nein, das ist mir zu hoch", erwiderte Caine und hatte damit nicht gelogen. "Nun ja, wir werden es ...", der Mann unterbrach sich und schaute Caine mit seinen hellen Augen an. "Sie müssen nicht bei mir bleiben, wenn ich zu ihr gehe." "O doch. Ich bleibe gern hier. Ich freue mich darauf. Wirklich. Sie können es ruhig ... " "Gut." Der Mann ließ Caine nicht aussprechen. Er veränderte jetzt seine Sitzhaltung. Die rechte Hand verschwand unter der Lederjacke, und als sie einen Moment später wieder erschien, hielt er einen kleinen Revolver fest.
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In Caine schrillten die Alarmsirenen. Irgendwie habe ich es geahnt!, dachte er. Das konnte ja nicht gut gehen. Der Kerl hat so komisch und so irre gesprochen. Das ist einfach nicht möglich. Da muss ich ... Er hob die Hände, weil er sich plötzlich bedroht fühlte und daran dachte, dass sein letztes Stündlein geschlagen hatte. Das Blut stieg ihm in den Kopf und rötete das Gesicht. Sein Herz schlug schneller, und er merkte plötzlich, was es heißt, Angst zu haben. "Keine Sorge", sagte der Mann leichthin, bevor er seine Waffe anhob und die Mündung gegen seine rechte Stirnseite drückte. Eric Caine bewegte sich nicht. Ich spinne!, dachte er. Ich bin total nicht mehr in der Welt. Der ist ja wahnsinnig! Der hat nicht mehr alle Tassen im Schrank! Er wollte etwas sagen. Den anderen zurückhalten. Seinen Arm packen, um die Mündung von seinem Kopf zu reißen, aber er schaffte es nicht, war wie gelähmt. "Ich komme zu dir, Helena. Ich will nur dich. Ich weiß den Weg. Ich freue mich auf das Wiedersehen ..." Dann drückte er ab und schoss sich in den Kopf! Eric Caine hatte sich immer alles anders vorgestellt. Diese schrecklich Szene war für ihn eine Premiere. Er kannte solche Taten nur aus irgendwelchen Filmen. Da war immer der halbe Kopf weggepustet worden. Damit rechnete er auch hier, aber das war hier nicht der Fall. Den Kopf gab es noch, er war nur nach links gesackt, lag an der rechten Seite frei, sodass Caine das Einschussloch sah, das nicht mal sehr groß war. An den Rändern zeigte es eine rote Umrandung, und es rann auch etwas Blut nach. Der rechte Arm des Mannes war nach unten gesunken. Die Hand mit der Waffe lag jetzt auf der Bank. Und nur sehr langsam bewegte sich der Körper, der in einem Zeitlupentempo nach links wegkippte, um auf die Bank aufzuschlagen. Dort blieb er liegen. Allmählich nur erwachte Eric Caine aus seiner Erstarrung. Und ebenso langsam bekam er seine Umgebung mit, die in den letzten Sekunden für ihn gestorben war. Er glaubte auch, das Echo des Schusses zu hören, das über den Friedhof rollte und sich nur sehr langsam entfernte. Mehr bekam er nicht mit, aber es war auch egal. Der Mann hatte sich in den Kopf geschossen und lag jetzt als Toter neben ihm auf der Bank. Es war so irreal, so verrückt. Das ... das ... sah man nicht mal im Kino. Es war auch kein Traum. Es gab ihn wirklich. Eric brauchte nur den Arm auszustrecken, um ihn zu berühren, doch das traute er sich nicht. Er fürchtete sich davor, und er spürte, wie er eine Gänsehaut bekam. Er blieb so steif neben dem Toten sitzen, dass er glatt als zweite Leiche hätte durchgehen können. Sein Puls allerdings raste. Im Kopf spürte er die Stiche. Er hörte sogar Stimmen, aber das alles nahm er nur am Rande wahr. Wichtig war der Tote, den er anschaute. Er hatte vor nicht mal einer Minute noch mit ihm gesprochen, und nun lag der Mann tot vor ihm. Er hatte sich selbst erschossen. Aus eigener Hand eine Kugel in den Kopf gejagt. Warum? Caine hatte etwas gehört. Nur war er kaum in der Lage, dies nachzuvollziehen. Die Frau. Die Schöne. Diese Helena. Ja, das hatte ihm der Mann gesagt, und er hatte von einer wahnsinnigen Sehnsucht gesprochen, die ihn zu dieser Person hintrieb. Sie musste wirklich etwas Besonderes sein, etwas ganz Außergewöhnliches, wenn man eine Waffe nahm und sich ihretwegen umbrachte. Eric Caine rückte von dem Toten ab und blieb auf der Kante der Bank sitzen. Es war nicht mehr seine Bank. Das konnte er nicht hinnehmen. Aber er brauchte sie noch.
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Sein Blick fiel wieder über das kleine Gräberfeld. Wieder dachte er über die Worte des Mannes nach, dessen Namen er nicht mal kannte. Nur der Name der Frau war ihm bekannt, die jetzt auf ihn wartete. Wo? "Das ist doch irre", flüsterte er. "Wenn, dann kann sie nur im Jenseits auf ihn warten. Ja, so ist das. Der hat sich umgebracht, weil er im Jenseits seine Helena treffen will." Eric Caine hatte so einiges in seinem Leben durchgemacht. Da gab es Höhen, da gab es Tiefen. Was er jetzt allerdings überwinden musste, war etwas, mit dem er sich nicht anfreunden konnte. Das war einfach zu verrückt. Das konnte man auch keinem erklären, und trotzdem musste er es melden. Vielleicht hatte ihn jemand gesehen. Möglicherweise hatte man auch den Schuss gehört und konnte entsprechende Schlüsse ziehen, die nicht stimmten. Eric Caine dachte nicht mehr wie ein Ausgestoßener der Gesellschaft, sondern wie ein Mensch, der noch integriert war. Da gab es für ihn nur eine Alternative. Er packte seinen Rucksack, warf noch einen letzten Blick auf den Toten und rannte weg. Sein Ziel kannte er auch. Es war die Polizei!
Glenda, die an diesem Morgen wieder mal ihr neues brombeerfarbenes Kostüm trug, schaute Suko und mich an, wobei sie gleichzeitig den Weg in unser Büro versperrte. Auf der ausgestreckten Hand lag eine Münze. "Ihr müsst euch entscheiden, Freunde. "Warum? Wofür?", fragte Suko. "Kopf oder Zahl." Suko schüttelte den Kopf. Ich fragte leise und vorsichtig: "Ist alles in Ordnung mit dir, Glenda? Bist du noch gesund?" "Darauf kannst du dich verlassen, John Sinclair. Also: Kopf oder Zahl?" Ich war noch nicht zufrieden. "Um was geht es denn?" "Einer von euch soll im Büro bleiben. Hat Sir James zumindest gesagt. Der andere kann fahren." "Bestimmt nicht in Urlaub." Glenda lächelte mich maliziös an. "Nein, das nicht. Derjenige bleibt schon in London." "Sag schon!", forderte ich sie auf. "Kopf oder Zahl?" Sie würde keine Ruhe lassen, ich kannte sie genau, und deshalb gab ich ihr auch die Antwort. "Zahl!" "Gut." Sie warf die Münze in die Luft. Suko und ich schauten dem Geldstück automatisch nach, wie es sich um die eigene Achse drehte und dann auf Glendas Handfläche zurückfiel. Die Zahl lag oben! "Gewonnen, John." "Danke." Erfreut hatte ich das Wort nicht ausgesprochen. Der Klang meiner Stimme entsprach auch dem Verlauf des vergangenen Morgens, der für Suko und mich alles andere als erfreulich vergangen war, denn wir hatten noch mit den Nachwirkungen des letzten Falls zu tun gehabt.
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Da hatten wir eine menschliche Tragödie erlebt. Ein kranker Mann, der sich für den Nachfolger eines Dr. van Helsing gehalten hatte, war aus der Klinik ausgebrochen, um sich als Vampirjäger zu betätigen. Er hatte tatsächlich einen Blutsauger erledigt, doch in seinem Wahn hatte er in fast jedem Menschen einen Vampir gesehen, und so waren auch unschuldige Menschen ums Leben gekommen. Schließlich war René Urcan dann von seiner eigenen Mutter gepfählt worden. Das hatten wir noch aufzuarbeiten gehabt, und auch der Chef der Klinik hatte sich indirekt mitschuldig gemacht, weil er die Flucht des Patienten zu spät gemeldet hatte. Die Mutter des Vampirhassers hatte sich in ärztliche Behandlung begeben. Ob sie je über ihre Tat hinwegkommen würde, stand in den Sternen. Zu tief war sie verletzt worden. Jetzt hatten wir Mittag und eine Kleinigkeit gegessen. Den Rest des Tages hätten wir im Büro verbringen sollen, doch zumindest bei mir sah es nicht so aus. "Dann sag endlich, was Sache ist", forderte ich Glenda auf. “Jemand möchte mit dir sprechen." "Wer denn?" Glenda ging zu ihrem Schreibtisch. "Den Namen habe ich mir notiert. Der Mann heißt Eric Caine." Ich überlegte hin und her, ob ich ihn schon mal gehört hatte. Nein, er fiel mir nicht ein. Zumindest war er mir nicht in der letzten Zeit begegnet. Da Suko bei mir stand, fragte ich ihn. "Sorry, aber einen Eric Caine kenne ich auch nicht." "Was ist denn mit ihm los?" "Das musst du mich nicht fragen, John. Du musst nur zur Metropolitan Police fahren. Abteilung sechs. Dort hat man sich um ihn gekümmert. Ich könnte mir vorstellen, dass er sich in einer Zelle befindet. Aber das wirst du ja selbst sehen." Suko grinste breit und meinte: "Dann wünsche ich dir noch viel Spaß, Geisterjäger." "Ja, du mich auch." Begeistert war ich nicht. Aber Job ist Job. Und manchmal muss man eben einer noch so dümmlich anmutenden Spur nachgehen, um sich später keine Vorwürfe machen zu müssen ...
Bei der Metropolitan Police fand ich zumindest einen Parkplatz auf einem abgetrennten Gelände. Das sah ich schon mal als kleinen Vorteil an. Zur entsprechenden Abteilung musste ich mich durchfragen. Der Bau glich wie immer einem Bienenhaus. Hier gab es nie Ruhe, und da die Verbrechensquote in der letzten Zeit leider in London stark gestiegen war, hatten die Kollegen immer noch mehr zu tun, ohne dass die Mannschaften personell aufgestockt wurden. Es war zwar viel versprochen worden, aber eingehalten wurde nur wenig. Man hatte mich angemeldet. Der Portier unten kannte mich. Sein süßsaures Lächeln wirkte nicht eben begeistert. In der Abteilung, deren Mitarbeiter sich in einem Großraum-Büro verteilten, herrschte ebenfalls Hektik. So etwas sah man oft in irgendwelchen TV-Krimis, wenn die Mitarbeiter vor den Computern saßen oder hektisch telefonierten und zwischendurch noch Verdächtige verhörten. Ein Mann mit olivfarbener Haut und glatten schwarzen Haaren hatte schließlich Zeit für mich.
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"Sie wünschen?" "Mein Name ist John Sinclair und ..." Er ließ mich nicht ausreden. “Ja, der Geisterjäger. Klar, ich weiß Bescheid. Eric Caine wollte sie zwar nicht sprechen, aber Ihre Anwesenheit erschien uns ratsam zu sein." "Da machen Sie mich neugierig." "Hören Sie sich erst mal an, was er zu sagen hat." Der Kollege streckte mir die Hand entgegen. "Ich heiße Neil Montero.“ "Okay.“ "Dann kommen Sie bitte mit." "Haben Sie hier ... " “Ja, ich bin informiert. Ich habe auch dafür gesorgt, dass Sie angerufen wurden. Man muss ja heutzutage alles bedenken." Er ging vor mir her. Sein blütenweißes Hemd leuchtete, als wäre es soeben frisch aus der Waschmaschine gekommen. Aber ich sah auch das Gehänge des Halfters auf seinem Rücken. Die Waffe ragte aus der Tasche hervor. Seine Jacke ließ der Mann hängen, und ich stellte meine Frage gegen seinen Rücken. "Worum geht es eigentlich?" Neil Montero blieb stehen. Er drehte sich allerdings nicht um. Bei seiner Antwort winkte er nur lässig ab. "Eigentlich um einen Selbstmord. Aber das werden Sie schon erfahren." Er führte mich in den Zellentrakt, in dem es so gemütlich war wie auf einer treibenden Eisscholle. In einer schmalen Einzelzelle wartete der Mann, der für mich wichtig sein sollte. Als wir eintraten, ließ er die Tasse sinken, aus der er Kaffee getrunken hatte. "Aha, hoher Besuch." "Das ist Oberinspektor Sinclair von Scotland Yard. Er wird sich deine Geschichte anhören, Caine." "Bin ich denn so wichtig?" "Das werden wir sehen", sagte ich und ging auf einen zweiten Stuhl zu, auf den ich mich setzte. Montero blieb wie ein Wachhund nahe der Tür stehen. Die Arme hielt er vor der Brust verschränkt. Eric Caine war nicht das, was man einen eleganten Menschen nennt. Bei ihm traf eher das Gegenteil zu. Man konnte ihn einen Stadtstreicher, einen Berber nennen, der mit der Gesellschaft nicht mehr zurechtkam und von ihr ausgestoßen war. Die Kleidung, der Rucksack mit den Habseligkeiten, all das war sein gesamter Besitz. Aber er selbst war sauber. Man hatte ihn hier wohl duschen oder baden lassen, und Kaffee hatte er auch trinken können. "Was denken Sie jetzt?", fragte er mich. "Nicht viel." "Sie denken über mich nach?" "Genau." "Lassen Sie das, Sinclair, es hat keinen Sinn. Mich hat die Gesellschaft zerstört. Ich bin hoch gestiegen und noch tiefer gefallen. Wenn du pleite machst, ist plötzlich niemand mehr da, der noch etwas mit dir zu tun haben will.“ "Das ist leider so", sagte ich. "Ändern können wir es auch nicht. Nicht der Einzelne jedenfalls." "Stimmt.“ "Wie ich hörte, geht es um einen Selbstmord, Mr. Caine."
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Er verzog die Lippen. Sein noch junges Gesicht, das von fahlen Haaren umrahmt wurde, bekam einen ebenso nachdenklichen Ausdruck wie seine blauen Augen. “Ja, es dreht sich alles um einen Selbstmord, den ich als Zeuge miterlebt habe. Denn wir beide saßen auf der gleichen Friedhofsbank." "Hört sich ungewöhnlich an." "Das ist es auch." "Dann wäre es besser, wenn Sie von vorn beginnen. Erzählen Sie alles, ich habe Zeit." Das passte Caine nicht so recht. Er schlug vor, dass ich mir das Protokoll anschauen sollte. Genau das lehnte ich wiederum ab. "Nein, nein, es ist besser, wenn Sie berichten. Da kann ich mir ein besseres Bild machen und auch nachfragen." Eric Caine goss frischen Kaffee aus der Kanne in die Tasse. Ich beobachtete ihn und gelangte zu dem Schluss, dass der Mann kein Aufschneider, Spinner oder Wichtigtuer war. Er roch auch nicht nach Alkohol und machte sich schon seine Gedanken. Sein Bericht interessierte mich stark. Er sprach ruhig, auch wenn seine Stimme hin und wieder leicht zitterte. Ich konnte seine Erregung verstehen. Nicht jeder erlebt in seiner unmittelbaren Nähe einen Selbstmord. Er ließ wohl wirklich nichts aus, und schließlich war die Tasse leer, als er endete. "Mehr habe ich nicht zu berichten." "Danke sehr." Neil Montero sprach mich an. "Etwas anderes haben wir von ihm auch nicht gehört, Kollege." "Das hatte ich auch nicht angenommen." "Was meinen Sie?", fragte Montero. "Was wollen Sie hören?" Montero lachte. "Sie sind der Fachmann, Sinclair.“ "Schon gut." "Glauben Sie mir überhaupt?", fragte Caine. "Ich denke nicht, dass Sie sich so etwas ausgedacht haben. Und ein wenig Menschenkenntnis besitze ich auch." "Danke, Sir." Er salutierte scherzhaft im Sitzen und lachte. Dann wandte er sich an Montero. "Ihr wolltet mich ja gleich einbuchten, was ihr auch getan habt. Ich hätte mich auch verdrücken können, aber so habe ich eine angenehme Nacht verbracht und konnte mich sogar duschen." "Man hat schon oft versucht, uns etwas unter die Weste zu jubeln. Unsere Reaktion war ganz natürlich." "Lassen wir das mal", sagte ich und konzentrierte mich auf Eric Caine. "Sie haben diese Frau, von der die Rede war, nie gesehen?" "Nein, der Typ hat nur davon gesprochen, wie einmalig sie sein soll. Helena hat sie geheißen." "Und wie hieß der Tote?" Die Antwort gab mir Montero. "Cole Jackson." Auch der Name des Selbstmörders war mir nicht bekannt. Aber Jacksons Tod warf natürlich Rätsel auf. Er musste unter einem wahnsinnigen Druck gestanden haben, sonst hätte er sich nicht selbst getötet. Und dieser Druck konnte nur von der geheimnisvollen Helena ausgegangen sein, einer Frau, die mir Rätsel aufgab. "Hat Jackson sie Ihnen nicht beschrieben?", erkundigte ich mich.
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"Nein, Mr. Sinclair. Er sprach nur von dieser wunderschönen Person, die er getroffen hat und zu der er nun gehen wollte. Wer hätte denn ahnen können, dass er es auf diese Art und Weise tun würde? Ich nicht. Sie hätten es auch nicht getan." "Das stimmt." "Er machte auch keinen deprimierten Eindruck, bevor er sich umbrachte. Er war fröhlich. Er freute sich darauf, in den Tod gehen zu können. Da muss er in seinem Innern einen Knacks bekommen haben. Anders kann ich mir das nicht erklären." "Der perfekte Selbstmord also." "Ja.“ "Und nicht der einzige", meldete sich Montero. Ich horchte auf und musste innerlich lächeln. Man hatte mich nicht nur kommen lassen, weil Eric Caine ein Zeuge war. Hier ging es noch um andere Taten. "Wie viele denn noch?" "Jackson ist der vierte." Ich atmete die Luft tief ein. "Das sagen Sie erst jetzt, Mr. Montero?" Er hob. die kantigen Schultern. "Es war ja bisher unsere Sache. Was sollten Sie da mitmischen? Drei Selbstmorde auf einem Friedhof ... " "Es war nie ein anderer Tatort?" "So ist es." Montero räusperte sich. "Die Leichen wurden in den letzten zwei Wochen gefunden. Es stand auch in der Presse, und wir standen vor einem Rätsel. Außerdem gab es keinen Mörder zu suchen. Die Männer haben ausnahmslos Selbstmord begangen. Das ist zwar unangenehm, aber wir als Polizei können diese Fälle schnell abhaken." "Bis auf diesen einen hier, nicht wahr?" “Ja, bis auf ihn." Montero schabte mit dem Fuß über den Boden. "Jetzt haben wir zumindest so etwas wie eine Spur gefunden, Mr. Sinclair. Ihr müssen wir nachgehen. Oder Sie. Der schwarze Peter liegt jetzt bei Ihnen. Wenn es diese rätselhafte Helena gibt, dann muss sie ja auch zu finden sein, denke ich." "Das hoffe ich." "Aber ich kann Ihnen nicht helfen, Mr. Sinclair", meldete sich Eric Caine. "Tut mir Leid. Er hat mir nicht erklärt, wo genau er sie kennen gelernt hat. Das liegt für mich alles im Dunkeln. Ich weiß nur, dass er von dieser Frau regelrecht begeistert war, und dass sie ihn auf den Friedhof gelockt hat, auf dem ich meinen Schlafplatz hatte." "Haben Sie denn nichts von den drei anderen Selbstmorden mitbekommen, die auf dem Gelände begangen wurden?" "Nein, Mr. Sinclair, das habe ich nicht. Die Männer haben sich an anderen Stellen umgebracht." "Zwei vergifteten sich und einer hat sich erhängt", erklärte der Kollege Montero. Das war für mich irgendwie nicht nachzuvollziehen. Aber bei näherem Nachdenken kristallisierten sich schon einige Punkte hervor, und auf die kam ich zu sprechen.
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"Niemand hat diese schöne Helena gesehen. Abgesehen von den Männern, die sich später umbrachten. Und das haben sie auf einem Friedhof getan. Es war praktisch immer der gleiche Ort. Ich glaube nicht, dass man dies als Zufall betrachten kann. Da steckt mehr dahinter. Da denke ich sogar an ein Motiv. Ja, ich kann mir vorstellen, dass diese seltsame Helena die Männer auf den Friedhof gelockt hat, damit sie sich umbringen. Wie sie das schaffte, ist mir ein Rätsel. Aber ich werde mich darum bemühen, es aufzulösen. Das verspreche ich. Da muss etwas getan werden." Ich hustete gegen meinen Handballen. “Ferner gehe ich davon aus, dass die schöne Helena etwas mit dem Friedhof zu tun gehabt hat. Sonst hätte sie ihn nicht als Ort des Todes gewählt." "Da ist was dran", sagte Montero. "Haben Sie schon in diese Richtung hin recherchiert?" "Nein, nicht direkt. Wie ich schon sagte, es waren keine Morde. Wir haben die Toten untersucht und sind zu dem Schluss gekommen, dass sie sich selbst umbrachten. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen. Es ist auch nicht unsere Aufgabe, nach Motiven für ihre Tat zu suchen. Das müssen Sie bitte verstehen. Jetzt, wo wir so etwas wie eine Spur haben, sind Sie natürlich dabei. Rätselhafte Geisterfrauen sind doch Ihr Metier." "Nicht unbedingt", schwächte ich ab. "Aber sie gehören dazu, da haben Sie Recht." "Das war es auch, was ich meinte." Montero löste sich von der Wand und kam einen Schritt auf mich zu. "Aber Sie werden sich darum kümmern, denke ich." "Das schon." "Sehr gut." Er konnte sein Lächeln nicht zurückhalten. Meine Antwort hatte ihn zufrieden gestellt. Er war nur noch nicht fertig und fragte mit leiser Stimme: "Haben Sie denn schon einen Plan, Mr. Sinclair, wie Sie vorgehen wollen?" Ich dachte nicht lange nach. "Es liegt auf der Hand, dass ich mir den Friedhof und den Tatort mal genauer anschauen werde. Allerdings würde ich Mr. Caine gern mitnehmen, falls Sie nichts dagegen haben." "Nein, nein, er ist kein Verdächtiger." "Danke." Es war zu hören, wie Eric Caine nach Luft schnappte. "He, he, Sie wollen, dass ich mit Ihnen gehe?" “Ja." "Das ist Mist, verdammt." "Wieso das denn?" Er drehte und wand sich. "Nun ja, das ist nicht eben ein Spaß, dahin zu gehen, wo man etwas erlebt hat, das einen Menschen wohl kaum mehr loslassen wird." "Das verstehe ich, Mr. Caine. Ich möchte Sie da auch nur um einen Gefallen bitten. Sie können natürlich ablehnen, das ist keine Frage. Aber Sie sollten auch daran denken, dass Sie nicht allein sind." "Stimmt." Er räusperte sich. "Und was, bitte schön, hoffen Sie dort zu finden?" Ich war ehrlich und sagte: "Das weiß ich noch nicht. " "Die schöne Helena?" "Nun ja, so ähnlich. Ich denke mir, dass es dort einen Hinweis auf sie gibt. Nicht grundlos hat sie ihre Liebhaber auf den Friedhof bestellt. Oder haben Sie eine andere Idee?" "Nein, nein." Er hob abwehrend die Hände. "Ich habe überhaupt keine Idee, Mr. Sinclair. Ich möchte mir darüber auch nicht den Kopf zerbrechen, wenn Sie verstehen. Ich bin nur froh, wenn alles glatt über die Bühne läuft und ich weiterleben kann, auch wenn mein Leben verdammt beschissen ist. Allerdings habe ich auch erlebt, dass es noch schlechter ist, wenn man es einfach so wegwirft."
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"Da haben Sie ein wahres Wort gesprochen." Er fragte: "Wann sollen wir denn starten?" "Sofort, denke ich." "Oh ..." "Probleme?" "Eigentlich habe ich Hunger." "Wir werden unterwegs anhalten. Keine Sorge, ich bekomme Sie schon satt." "Das ist ein Wort", sagte Eric Caine und stand mit einer ruckartigen Bewegung auf. Auch ich erhob mich und sah, dass Montero mir zunickte. "So habe ich mir das auch vorgestellt. Handeln, nicht reden." "Und Sie sind aus dem Schneider." Er zeigte ein breites Grinsen und lachte danach. "Zumindest vorläufig. Man weiß ja nie, was noch passiert, und ich habe da schon die verrücktesten Dinge erlebt. Auch das hier ist nur ein Anfang, schätze ich." Mein Blick, mit dem ich ihn bedachte, war nicht eben fröhlich. "Ich befürchte, dass Sie damit leider Recht behalten, Kollege ..."
Kopfschmerzen, verfluchte Kopfschmerzen! Die Säge im Schädel, die die Knochen malträtierte. Dazu die völlig ausgetrocknete Kehle. Das Gefühl, nicht richtig zu leben, aber trotzdem auch nicht sterben zu können. Platt zu sein und sich zu wünschen, wieder tief einzuschlafen und darauf hoffen, dass alles nur ein böser Traum war. Dem Reporter Bill Conolly ging es schlecht! Das war noch etwas untertrieben. Es ging ihm sogar sauschlecht, aber das lag nicht an irgendwelchen schlimmen Umständen, die ihm andere Menschen beigebracht hatten, sondern an ihm selbst, denn es war eine verdammt lange Nacht gewesen. Er hatte sich mit ehemaligen Kollegen in einer Cocktail-Bar getroffen, und genau das war sein Fehler gewesen. Nicht die Cocktails und das Treffen, er hätte eigentlich wissen müssen, dass die so harmlos aussehenden Drinks auch die stärksten Männer umhauten, denn die oft wilden Farben verbargen, was in ihnen steckte. Mindestens fünf Cocktails hatte er getrunken. Oder waren es sechs gewesen? Bill konnte sich nicht so genau daran erinnern, aber den Namen des Cocktails hatte er behalten. Zombie! Die Hölle, der perfekte Name für den Drink, der aus mehreren Sorten Rum bestand. Hinzu kam noch Orangensaft, Maracuja, Limettensaft und etwas Süßes, das den Trinker in Sicherheit wiegen sollte. Das war bei Bill auch einigermaßen gut gegangen. Er hatte zwischendurch ja auch etwas gegessen, doch nach Mitternacht hätte er davon Abstand nehmen sollen. Er hatte es nicht getan, und es musste etwa gegen vier Uhr am Morgen gewesen sein, als er in das Taxi gestiegen war.
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Es war ihm verdammt schwer gefallen, dem Fahrer seine Adresse zu nennen, daran konnte er sich zumindest noch erinnern. Danach hatte er den berühmten Filmriss gehabt und wunderte sich schon, in seinem eigenen Bett zu liegen. Nur etwas war anders als sonst. Zwar fehlten ihm die Schuhe, aber normalerweise schlief er nicht in voller Montur. Hier lag er in Hemd und Hose im Bett. Die Lederjacke trug er nicht mehr. Entweder hatte er sie verloren, oder sie war ihm ausgezogen worden. Alles lief falsch. Auch jetzt noch. Der Kopf schien sich in eine Schreinerei verwandelt zu haben, in der gesägt und gehämmert wurde. "Nie mehr", flüsterte Bill mit einer Stimme, die er im nüchternen Zustand wohl nie als seine eigene identifiziert hätte, "nie mehr gebe ich mir so die Kante ... " Auch das Sprechen hatte ihn angestrengt. Er griff zur Seite, wo seine Frau Sheila normalerweise lag. Die Hälfte des Betts war leer. Damit nicht genug. Er fühlte nicht mal das Oberbett unter seinen Fingern, sondern nur das Laken. Für ihn war es ein Beweis, dass seine Frau ausgezogen war, um ihn nicht zu ertragen. Das galt auch für die Luft. Er hatte den Geruch der Bar mit ins Schlafzimmer gebracht, was Bill allmählich peinlich wurde. Dunkel war es auch nicht im Raum. Das Rollo zeigte Lücken, durch die das Tageslicht dringen konnte, und diese Helle tat ihm ebenfalls nicht gut. Da war es besser, wenn er die Augen schloss und einfach weiterschlief. Wenn Sheila dann kam und nachschaute, würde er so tun, als wäre er noch in Tiefschlaf versunken. Schlimm war auch der Nachdurst, aber es stand leider keine Wasserflasche an seinem Bett, die ihm ein guter Engel gebracht hatte. Er stellte sich schon Sheilas Gesicht vor, wenn sie auf der Türschwelle stand, und er konnte sich auch ihre Kommentare denken. Bill wollte gar nicht erst wissen, wie spät es war. Am liebsten weiterschlafen, bis es wieder dunkel wurde und sich langsam die Säufersonne - der Mond - zeigte. Augen schließen. Die Schmerzen vergessen, das wäre am besten gewesen, und genau das versuchte Bill auch. Bis er plötzlich mit einem Schrei auf den Lippen in die Höhe fuhr und das Gefühl hatte, sein Schädel würde in mehrere Teile zerhackt werden. Jemand hatte hart an die Tür geklopft. Diese Geräusche waren Gift für seinen Zustand. Er begann zu jammern. Das nutzte ihn auch nichts, denn jemand riss die Tür mit einer harten Bewegung auf, und eine Sekunde später stand sie auf der Schwelle. Sheila! Die Rachegöttin. Die Frau mit dem eiskalten Blick, die so weich lächeln konnte, wobei dieses Lächeln ihm wie ein Nadelstich unter die Haut drang. Bill drehte behutsam den Kopf. "Nichts sagen", flüsterte er, "und auch nichts tun – bitte ...“ "Wieso?" "Nicht so laut sprechen." "Das mache ich auch nicht. Ich wollte nur nachschauen, ob du noch lebst und wollte dich außerdem fragen, ob ich dir einen Eimer bringen soll. Wäre ja möglich ..." "Ich kann nicht brechen", flüsterte Bill. "Das würde ich gerne, aber ich schaffe das leider nicht. Ich ... ich ... oh mein Kopf." "Dann wird es am besten sein, wenn du aufstehst. Schließlich ist der Mittag schon vorbei." "Ich gebe mir heute frei." "Komm, steh auf." "Hast du denn kein Mitleid?", jammerte Bill und verzog das Gesicht. "Kein bisschen?"
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"Das habe ich nicht, mein Lieber. Wer sich die Kante geben kann, der sollte auch in der Lage sein, am anderen Tag aufzustehen." “a, schon ... aber nicht sofort." "Los, hoch mit dir." Sheila betrat das Zimmer. Sie brachte ihr Oberbett gleich mit und warf es auf das Bett. Dann zog sie das Rollo ganz hoch und öffnete das Fenster. "Der verdammte Kneipengeruch muss endlich mal raus hier." Bill wollte protestieren und ließ es besser bleiben. Wenn Sheila sich einmal was in den Kopf gesetzt hatte, führte sie das auch durch. Da kannte sie kein Pardon. "Du weißt ja, wo die Dusche ist", sagte sie lächelnd und schwebte locker am Fußende des Betts vorbei in Richtung Tür. "Danach kannst du zu mir in die Küche kommen. Dort habe ich schon alles für dich bereitgestellt." "Was denn?" "Einen Cocktail." Bill wunderte sich, dass er noch schreien konnte. "Nur das nicht, nein, um Himmels willen. Ich ... " Lachend verschwand Sheila aus dem Schlafzimmer und ließ ihren Mann allein zurück, der sich herumwälzte und gegen das offene Fenster schaute. Natürlich war es längst heller Tag geworden, aber so hell war der Tag nun auch wieder nicht. Der Himmel zeigte eine Schicht aus Wolken, die allerdings nicht so tief lag, dass es unbedingt nach Regen aussah. Um wieder alles dunkel zu machen, hätte Bill aufstehen müssen. Wenn er das geschafft hatte, konnte er auch gleich auf den Beinen bleiben und nach nebenan ins Bad gehen. Durch eine Tür war es mit dem Schlafzimmer verbunden. Bill zog sich aus. Er saß auf dem Bett und musste jede seiner Bewegungen kontrollieren. Alles ging sehr langsam. Es dauerte seine Zeit. Er zitterte leicht, stöhnte zwischendurch immer wieder auf, bedauerte sich selbst und hatte es schließlich geschafft, sich auch des Unterzeugs zu entledigen. Die ersten Schritte waren auch schlimm. Er schlurfte über den Boden. Die Augen hielt er halb geschlossen. Er wollte nicht unbedingt in die Helligkeit schauen. Er atmete tief durch, sprach dabei einige Male mit sich selbst und war schließlich froh, das Bad erreicht zu haben. Danach gab es die Dusche! Und die genoss der Reporter ausgiebig. Er duschte heiß, er duschte kalt, und so versuchte er, die Folgen der getrunkenen Zombies aus dem Körper zu bekommen. Es klappte nicht ganz, doch Bill stellte fest, dass er mittlerweile wieder mehr zu einem normalen Menschen geworden war und sich nicht mehr fühlen musste wie ein Toter. Er konnte sich auch einigermaßen schwindelfrei bewegen. Sheila hatte ihm alles zurechtgelegt. So streifte er die frische Unterwäsche nach dem Abtrocknen über, trat ans Fenster und holte tief Luft. Alles klappte bisher gut. Er war sehr zufrieden mit sich. Der Kopf allerdings litt noch immer unter den Nachwirkungen. So schnell würde er die Stiche auch nicht wegbekommen, aber darüber machte er sich auch keine Gedanken. Zwei Kopfschmerztabletten, etwas essen, mal sehen, ob es dann mit dem Rest des Tages klappte. Schwindlig war ihm nicht, als Bill den Weg in die Küche einschlug. Sheila war damit beschäftigt, den Filter der Dunstabzugshaube zu wechseln, was sie bequem schaffte. Nach dem Umdrehen sah sie Bill an. "Ah, da ist ja der große Held der vergangenen Nacht." Müde winkte der Reporter ab. "Hör nur ja auf. Ich bin froh, dass ich wieder lebe." "Das glaube ich dir sogar. Du hast auch verdammt leidend ausgesehen. Aber das kommt davon."
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"Klar, immer auf die Kleinen." "Was war es denn?" Bill verzog das Gesicht, als hätte er mit Zitronensaft gegurgelt. "Zombies ..." “Auch das noch. Gab es denn kein Bier?" "Das war eine Cocktail-Bar. Ist ja heute in. Findest du fast an jeder vierten Ecke." "Klar, die haben es in sich." "Und wie!", flüsterte Bill, der sich langsam auf den gedeckten Tisch zubewegte und sich ebenso langsam auf einem Stuhl niederließ. Aspirin, Wasser, Kaffee, ein leichtes Müsli aus Haferflocken, etwas Zucker und Milch standen bereit, und Bill schaute auf die Post, die Sheila ebenfalls auf den Tisch gelegt hatte. Es waren vier Briefe, wobei Bill nur einer interessierte, denn er zeigte einen schwarzen Trauerrand. "Wer ist denn da gestorben?" "Öffne ihn, dann wirst du es wissen.“ "Ja, gleich", stöhnte Bill, der zwei Löffel Müsli aß, den Mund verzog, weil es ihm nicht schmeckte, aber tapfer die kleine Schale leer aß, bevor er die Tablette in das Wasserglas fallen ließ und zuschaute, wie sie sich sprudelnd auflöste. Er trank das Glas fast leer. Sheila hatte sich zu ihrem Mann gesetzt. Sie trug eine weiße Bluse und hellblaue Jeans. In diesem Outfit sah sie frisch wie der junge Frühling aus. "Möchtest du noch etwas essen?" "Nein, nein, nichts. Ich bin ja froh, dass es mir allmählich besser geht. Die Nacht war schlimm", flüsterte er, "aber ich bin nicht der Einzige gewesen, der leicht abgestürzt ist. Weißt du", er konnte wieder grinsen. "Da kam ich doch ganz ruhig aus der Kneipe und irgendjemand hat mir doch tatsächlich auf die Hände getreten." Den Humor hatte Bill nicht verloren. Er brachte Sheila zum Lachen. “Ja, mein Lieber, das kann ich mir sogar vorstellen. Du hättest dich sehen müssen, wie du ..." "Bitte keine Einzelheiten, Sheila. Das ist vorbei und bald auch vergessen." "Dann schau dir die Post an." "Werde ich auch." Bill griff zuerst zu der Todesanzeige. Er schlitzte den Umschlag mit dem Messer auf und holte das Schreiben hervor. Er las, seine Hände fingen an zu zittern, und er wurde wieder blass. "Was hast du denn?" "Weißt du, wer tot ist?" "Bestimmt nicht." "Ray Patton." Sheila hob die Schultern. "Müsste ich den kennen?" “Ja, das müsstest du. Wir nannten ihn Grabstein-Patton. Du hast ihn mal kennen gelernt." Bill schüttelte leicht den Kopf, obwohl die Stiche wieder zunahmen. "Das verstehe ich nicht." "Warum nicht?" Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. "Irgendetwas ist da faul, denn hier im Brief steht, dass sich der gute Ray Patton selbst umgebracht hat ...“ "Ein Suizid also", sagte Sheila. "Genau das."
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"Und was, bitte, ist daran so ungewöhnlich? Abgesehen davon, dass es schlimm genug ist. Es ist noch nicht lange her, da habe ich gelesen, dass die Selbstmorde zunehmen und ... " "Nein, Sheila, nicht Ray Patton." "Ach. Und was macht dich so sicher?" Bill drehte langsam den Kopf. "Weil ich ihn kenne. Ray war in meinem Alter. Er war ein Typ, der das Leben genoss. Er war auch nicht verheiratet, er hat sich so durchgeschlagen und war mit seinem Job verwachsen. Jetzt ist er tot, das begreife ich nicht ... " Sheila sah, dass das Ableben des Mannes Bill sehr nahe ging. Sie schwieg fast eine Minute lang und wandte sich dann mit leiser Stimme an ihn. "Du hast vorhin einen Begriff genannt. Grabstein-Patton, wenn ich mich nicht verhört habe." "Das ist richtig." "Wieso habt ihr ihn so genannt?" "Ray war jemand, der Berichte über Friedhöfe geschrieben hat. Er war ein guter Fotograf und hat sich auf Grabsteine konzentriert. Er hat sogar ein Buch darüber herausgebracht. Die Texte schrieb seine Schwester Gilda, die Schriftstellerin ist. Da war es natürlich leicht, einen Spitznamen für ihn zu finden. Du hörst, es ist also nichts Geisterhaftes oder Unheimliches dabei." "Das stimmt." Sheila reckte ihr Kinn vor. "Wer hat denn den Brief geschrieben? Eine normale Todesanzeige ist das wohl nicht - oder?" "Das ist wohl wahr. Seine Schwester Gilda schrieb ihn." "Darf ich ihn lesen?" "Bitte." Sheila nahm ihn an sich. Bill hatte ihn nicht mal ganz gelesen, und so las sie, was Gilda Patton schrieb. Sie machte aus ihrem Herzen keine Mördergrube und ging davon aus, dass ihr Bruder indirekt zu dieser Tat gezwungen worden war. Langsam legte sie ihn zur Seite und wandte sich wieder an Bill, der stumm am Tisch saß und sich auch nicht bewegte. "Du hast ihn irgendwie gemocht - oder?" "Ja." "Dann solltest du dir den Brief bitte genau durchlesen." "Danke." Bill hatte noch einige Schwierigkeiten wegen seiner Kopfschmerzen. Da fiel ihm das Konzentrieren nicht so leicht, aber auch er wunderte sich darüber, was Gilda Patton geschrieben hatte. Als er den Brief auf den Tisch legte und einen Schluck Kaffee getrunken hatte, war sein Gesichtsausdruck sehr nachdenklich. "Ich glaube auch, dass mehr hinter seinem Tod steckt. Ich kenne seine Schwester zwar nur flüchtig, habe sie mal kurz gesehen, aber wenn sie das schreibt, hat sie auch einen Verdacht." "Dann sollten wir uns darum kümmern." "Wie meinst du das denn?" "Ruf sie an." “Ja, Sheila, das wird wohl am besten sein. Ich werde mir die Telefonnummer heraussuchen und ... " Sie schlug ihm leicht auf die Schulter. "Lass mal, Bill, das erledige ich." "Danke." Sheila verschwand aus der Küche und ließ ihren Mann allein zurück, der sehr nachdenklich am Tisch saß.
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Bill ging so einiges durch den Kopf. Er dachte an Ray Patton, den Mann, der immer etwas verrückt gewesen war. Er hatte sich nie so ganz fügen wollen. Schon vor Jahren hatte er Ringe an beiden Ohren getragen und sich auch piercen lassen. Er hatte Spaß am Leben gehabt und die Zeit genossen. Er hatte feiern, aber auch arbeiten können. Sein Markenzeichen waren außerdem die selbstgedrehten Zigaretten gewesen, deren Tabak er immer mit einem Hauch von Haschisch vermischt hatte, um ständig gut drauf zu sein. Und jetzt war er tot! Selbstmord! "Nein", flüsterte Bill vor sich hin. "Da stimmt was nicht. Es muss etwas anderes dahinter stecken. Sonst hätte Gilda Patton mir nicht diese Nachricht geschickt." Sheila kehrte zurück und drückte Bill das Telefon in die Hand. "Gewählt habe ich bereits." Der Reporter hörte das Freizeichen. Es dauerte nur Sekunden, dann vernahm er eine Frauenstimme, die sich mit einem neutralen "Ja bitte" meldete. "Bill Conolly hier." "Ho!" Der Ruf glich beinahe einem Schrei. "Du ... du ... hast meinen Brief bekommen?" “Ja, an diesem Morgen." Er hörte sie ein paar Mal tief atmen. "Nun ja, dann weißt du ja, welche Meinung ich vertrete." "Stimmt, Gilda. Zunächst möchte ich dir mein Beileid aussprechen. Es tut mir so verdammt Leid. Ich kann mir nicht vorstellen, was Ray dazu getrieben haben könnte, selbst in den Tod zu gehen. Das will mir einfach nicht in den Kopf." "Mir auch nicht." "Dann hast du einen Verdacht, dass es nicht mit rechten Dingen zugegangen sein könnte?" Die Antwort enttäuschte den Reporter etwas. "Das kann man so nicht sagen, Bill. Es war einwandfrei Selbstmord, das ist festgestellt worden. Mich interessiert etwas anderes. Ich frage mich nämlich, wie es dazu kommen konnte." "Das ist wohl das Problem." "Da sollte man nachhaken." "Hast du einen Verdacht?", fragte Bill. Gilda Patton lachte etwas rau. "Ich frage mal anders. Hast du Zeit für mich?" "Jetzt?" “Genau.“ “Klar." "Dann komme ich zu euch. Es ist nicht weit. Und ich glaube, du wirst mir Recht geben müssen. Bis gleich ... " Gilda Patton legte auf, und Bill lehnte sich zurück. Er blies die Luft aus und merkte, dass sich auf sein Gesicht ein leichter Schweißfilm gelegt hatte. "War ein kurzes Gespräch", sagte Sheila. "Ich weiß. Es ist auch nicht beendet. Es fängt gerade erst an. Gilda wird herkommen." "Das hatte ich mir gedacht. Und du scheinst sie ja doch ganz gut zu kennen." "Meinst du?" "Klar. Ihr duzt euch."
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Bill winkte ab. "Das haben wir mal auf einer Party getan. Viel wichtiger ist etwas anderes." Er schaute ins Leere. "Was könnte Ray Patton in den Selbstmord getrieben haben? Seine Grabsteine sicherlich nicht. Ich tendiere dahin, dass er etwas Unheimliches auf seinen Friedhöfen entdeckt hat, mit dem er nicht fertig geworden ist, und dass er zu stolz gewesen ist, sich helfen zu lassen oder sich zumindest einen Rat einzuholen. So sehe ich das." "Du wirst es bald erfahren." Sheila erhob sich. "Die andere Post kannst du vergessen. Nur Reklame. Ich werde noch frischen Kaffee kochen, denn ich denke, dass wir ihn gebrauchen können." "Ja, tu das bitte, Sheila ...“
Gilda Patton traf ziemlich schnell ein. Es waren nicht mal zwanzig Minuten nach dem Anruf vergangen, da klingelte es. Sheila ging hin, um zu öffnen. Bill wartete in seinem Arbeitszimmer auf die beiden Frauen. Er saß am Schreibtisch und war froh, dass es ihm wieder besser ging. Ihre Stimmen hörte er schon vor dem Eintreten. Dann war es Gilda Patton, die als Erste das Zimmer betrat. Bill wollte sich erheben, um sie zu begrüßen, aber dagegen hatte sie etwas. "Bleib sitzen, Bill, deine Frau hat mir schon erzählt, dass es dir ziemlich schlecht geht." "Nun ja, manchmal hat man schlechte Tage." "Vor allen Dingen nach harten Nächten." "So ist es." Gilda Patton war älter als ihr Bruder. Sie musste jetzt so um die 40 sein und gehörte zu den Frauen, die man als flotte Jeanstypen einsortierte. Auch jetzt trug sie eine helle Jeanshose mit Strass an den Seiten, aber die Jacke bestand nicht aus diesem Stoff, sondern aus Cord, der eine Farbe wie Rosenholz besaß. Ein neutrales T-Shirt in weißer Farbe machte ihr Outfit komplett. Das Haar hatte sie rötlich gefärbt, und es wuchs auf ihrem Kopf wie lange Stacheln. Sheila schenkte Kaffee ein, bevor auch sie Platz nahm. So rahmten die beiden Frauen den Reporter praktisch ein, der Gilda noch mal sein Beileid aussprach, was sie mit einem Nicken zur Kenntnis nahm und dabei die Lippen zusammenpresste, sodass sie noch schmaler wirkten. Sie passten zu dem schmalen Gesicht mit den Sommersprossen. "Du hast mich ja am Telefon schon neugierig gemacht, Gilda. Was also denkst du über den Tod deines Bruders?" "Es war einwandfrei ein Selbstmord." "Okay, das habe ich verstanden. Aber es ist nicht alles. Du hast deine Bedenken.“ "Ja." "Welcher Art?" Gilda schluckte, und sie bewegte sich dabei unruhig auf ihrem Platz hin und her. "Es geht mir nicht um diesen reinen Selbstmord, sondern um das, was dazu geführt hat. Du kennst meinen Bruder. Er war nicht der Typ, der so etwas macht, obwohl man einem Menschen ja immer nur vor die Stirn schaut und nicht dahinter. Aber bei Ray bin ich mir sicher." "Was könnte denn passiert sein?", wollte Bill wissen. "Frage lieber, was passiert ist." "Gut."
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"Ihm muss etwas passiert sein, das ihn dazu getrieben hat. Und es ist ihm auch etwas passiert. Ich habe es von ihm selbst gehört, Bill. Mein Bruder hat eine Frau getroffen. Die Frau seines Lebens. Sie muss ein irres Weib gewesen sein, wenn jemand wie Ray ganz hin und weg war. Er war von ihr fasziniert. Er hat über sie nur schwärmerisch gesprochen, was ich nicht begreifen konnte, aber so ist es nun mal gewesen. Diese Person hat ihn voll und ganz in ihren Bann gezogen, und deshalb hat er so überzogen reagiert." Sheila räusperte sich. "Moment mal, Gilda, glauben Sie wirklich, dass ein Mensch, der sich so intensiv verknallt hat, Selbstmord begeht?" "Nein, das glaube ich eigentlich nicht." Sie blickte Sheila scharf an. "Aber bei meinem Bruder ist es so gewesen. Er hat sich auf einem Friedhof erhängt." Sie sprach jetzt leiser weiter. "Am starken Ast eines Baumes, und es ist Selbstmord gewesen, das steht fest. Ich bin zudem der Überzeugung, dass es nur etwas mit dieser Frau zu tun gehabt haben kann, die übrigens Helena heißt. Den Nachnamen kenne ich nicht. Sie ist auch jetzt für mich ein Phantom." Die Conollys schauten sich an. Weder Sheila noch Bill fanden die richtige Antwort. “Aber ich will mich damit nicht abfinden", fuhr Gilda Patton fort. "Ich will wissen, ob mehr dahinter steckt. Und ich frage mich und euch, warum hat sich mein Bruder ausgerechnet auf einem Friedhof das Leben genommen?" "Das kann ich dir sagen." Gilda schaute Bill an. "Tatsächlich?" "Denk daran, wie man deinen Bruder genannt. Grabstein-Patton. Er war der perfekte Fotograf für Grabsteine. Der Friedhof war praktisch sein zweites Zuhause. Das weißt du. Er hat sich eben dort umgebracht, wo er sich oft aufhielt." Gilda nickte, bevor sie einen Schluck Kaffee trank. "Das alles stimmt, Bill. Nur habe ich noch ein Problem, von dem du vielleicht nichts weißt, mein Lieber." "Ich bin ganz Ohr." "Mein Bruder war nicht der einzige Mann, der sich auf diesem Friedhof umgebracht hat." Mehr sagte Gilda Patton nicht, obwohl Bill noch gern etwas gehört hätte'. "Ich habe dich doch richtig verstanden - oder nicht?" "Hast du!" "Dann gab es noch mehr Selbstmorde?" "Insgesamt vier. Der letzte ist gestern passiert." Ihre Augen weiteten sich. Der Blick bekam eine gewisse Starre, und bei ihrer nächsten Frage senkte sie die Stimme. "Jetzt bin ich gespannt, ob du das für einen Zufall hältst, Bill?" Er brauchte nicht lange zu überlegen. "Nein, Gilda, ein Zufall ist das wohl nicht." "Dann sind wir uns ja einig. Dahinter steckt eine Methode, und die möchte ich gern herausfinden." Bill Conolly wusste im Augenblick nicht, was er sagen sollte, so überrascht war er. Er suchte Hilfe bei seiner Frau, aber auch Sheila hatte die Sprache verloren. "Vier Selbstmörder", sagte Gilda Patton in die Stille hinein. "Da stimmt was nicht." Sheila hatte ihre Sprache wiedergefunden. "Gab es denn Gemeinsamkeiten zwischen den Toten?", fragte sie. "Nein. Nicht, dass ich wüsste. Die gab es wohl nicht. Die Männer waren sich alle fremd." "Und doch haben sie den gleichen Friedhof für ihr Ableben ausgesucht", sagte Bill mit schneidender Stimme. "Daran kann man doch riechen, verdammt."
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"Und wer, bitte schön, sondert den Geruch ab?", fragte Sheila. "Ich weiß es nicht." "Aber ich kann es mir denken", mischte sich Gilda Patton in den Dialog. Beide schauten die Frau an. Sie atmete jetzt schwer und wischte immer wieder über die Stirn hinweg und auch die Wangen entlang. "Es gibt nur eine Möglichkeit", flüsterte sie, "die Frau, diese verdammte Helena. Ich kann mir keine andere Möglichkeit vorstellen. Sie ist der Joker. Sie muss die Hände mit im Spiel gehabt haben, und zwar bei allen vier Toten." Sheila und Bill gaben ihr eine gewisse Zeit, um wieder zu sich selbst zu finden. Schließlich war es Sheila, die die Frage stellte. "Wenn Sie so von dieser Helena sprechen, Gilda, dann denke ich, dass Sie diese Person besser gekannt haben." "Nein, das habe ich nicht." "Aber Ihr Bruder!" Gilda Patton hob den Kopf. Sie schaute die beiden Conollys mit einem fast flammenden Blick an. "Und ob es mein Bruder tat. Diese verdammte Person war wie eine Raupe, die einen Kokon um meinen Bruder gesponnen hat." Jetzt spürten die Zuhörer den gesamten Hass, den Gilda empfand. "Er war völlig verändert. Gut, man kann über seine Moral denken, wie man will. Er hat es nie genau mit der Treue genommen." Sie lachte schrill und warf den Kopf zurück. "Warum auch hätte er das tun sollen, frage ich Sie? Er war ledig. Er ging einem interessanten Beruf nach. Obwohl er am liebsten alte Grabsteine fotografierte, waren die Frauen hinter ihm her, wenn sie hörten, was er von Beruf war. Da wollten sie alle von ihm abgelichtet werden. Sie können sich vorstellen, dass die Bilder nicht eben in eine Klosterbibliothek gepasst hätten. Aber ..." "... dann kam Helena", sagte Bill. Gilda Patton schrak kurz zusammen. "Genau, Bill, dann kam sie. Und wie sie kam. Ich weiß nicht, was sie an sich hatte, aber sie hat es geschafft, meinen Bruder zu einem anderen Menschen zu machen. Das muss ich leider noch einmal sagen." Die nächste Frage stellte Sheila. "Kannten Sie diese Person?" "Nein, ich habe sie nie gesehen." "Hat Ihr Bruder sie Ihnen beschrieben?" "Nicht direkt." "Was heißt das?" Gilda Patton winkte ab. "Er hat von ihrer Schönheit gesprochen. Wenn man ihn gehört hat, dann muss sie die schönste und perfekteste Frau der Welt gewesen sein. Ich weiß nicht, ob sie blond-, schwarzoder rothaarig gewesen ist. Aber er hat sich unsterblich in sie verliebt. Mehr dürfen Sie mich nicht fragen." "Und jetzt ist er tot", flüsterte Bill. "Ja, tot", erklärte sie ächzend. Es war zu sehen, dass ihr das Gespräch unter die Haut gegangen war, denn sie kämpfte gegen Tränen an. Sheila hatte noch immer gewisse Zweifel. "Und er hat sich wirklich selbst umgebracht?" "Ja, ja", erklärte Gilda Patton. "Das hat die Polizei auch festgestellt." "Glaubst du daran?", fragte Bill.
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Gilda verdrehte die Augen. "Nicht das Thema schon wieder", erklärte sie. "Bitte nicht. Ich glaube daran und habe trotzdem meine Probleme. Niemand würde sich meine Argumente überhaupt anhören. Deshalb seid ihr meine letzte Chance gewesen. Ray hat einfach zu oft über euch gesprochen. Für mich jedenfalls ist es ungemein wichtig, dass wir diese Helena finden. Sie allein kann darüber Auskunft geben, warum mein Bruder sich umgebracht hat. Alles andere können Sie vergessen." Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen, als sie die Stirn krauste. "Ich habe Probleme mit dem Tod meines Bruders und mit dessen Umfeld. Das ist nicht mit rechten Dingen zugegangen. Hinzu kommen noch die anderen Selbstmorde. Ich habe nicht mit den Angehörigen dieser Menschen gesprochen, doch ich kann mir gut vorstellen, dass sich vor ihrem Suizid Ähnliches ereignet hat wie bei meinem Bruder." “Helena also." "Das will ich nicht behaupten, Bill. Es kann durchaus sein. Um mehr zu wissen, müsste man die Angehörigen befragen, denke ich mal. Das habe ich mich nicht getraut." Der Reporter zuckte mit den Schultern. "Wenn ich mir das alles durch den Kopf gehen lasse, gibt es nur eine Chance für uns. Wir müssen diese Helena finden." "Und wie willst du das anstellen?", fragte Sheila. "Das weiß ich eben nicht. Ich kenne nichts. Ich weiß nichts über sie. Ich habe keine Ahnung, wo sie wohnt oder wo sie sich aufhält. Sie kann überall und nirgends sein ... " "Aber Ray Patton hat sie auch getroffen", sagte Sheila. "Ja. Kennst du den Platz?" "Das nicht, doch ich habe nachgedacht, Bill. Der Fotograf trug ja nicht grundlos diesen Spitznamen Grabstein-Patton. Er hat sich zumeist auf Friedhöfen herumgetrieben, um die entsprechenden Objekte zu finden. Ist es zu weit hergeholt, wenn ich in Erwägung ziehe, dass er diese Helena eventuell auf einem Friedhof getroffen hat?" Nach dieser Frage schaute Sheila die Schwester des Toten an, und Gilda fühlte sich leicht unter Druck gesetzt. "Ich weiß es nicht", erklärte sie flüsternd. "Er hat zumindest mit mir darüber kaum gesprochen. Da bin ich ehrlich. Ich weiß es nicht, aber es könnte natürlich stimmen. In unserer Lage greift man eben zu jedem Strohhalm." Bill wandte sich ihr zu. "Bist du schon auf dem Friedhof gewesen, auf dem dein Bruder ums Leben gekommen ist?" "Nein, nein", erklärte sie heftig. "Ich habe ihn dort auch nicht hängen sehen. Später musste ich ihn identifizieren, das war alles. Den Ort selbst kenne ich nicht. Außerdem will ich ihn auch gar nicht kennen. Ich fürchte mich davor. Zudem habe ich unter zu vielen Erinnerungen zu leiden. Das muss man verstehen." "Aber der, Friedhof bleibt als zentraler Punkt", erklärte Bill und nickte vor sich hin. "Und ich habe mir da schon etwas ausgedacht." Er sprach weiter, obwohl Sheila schon die Augenbrauen warnend anhob. "Ich denke, dass ich mir den Friedhof einmal anschaue, und zwar so schnell wie möglich. Es kann sein, dass ich etwas finde, was andere übersehen haben. Vier Selbstmorde, das ist einfach nicht mehr normal. Vier auf diesem Friedhof. Die Polizei ist misstrauisch geworden, das weiß ich. Dafür kenne ich sie zu gut. Aber sie forscht natürlich nicht in unsere Richtung, bei der es dann um diese geheimnisvolle Helena geht. Ich kann mir gut vorstellen, dass die Beamten über sie gar nichts wissen, und deshalb müssen wir den anderen Weg gehen." "Du allein?", fragte Sheila. “Ja, warum nicht?" "Denkst du an die Gefahren?"
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Der Reporter musste lachen. "Ich bitte dich, Sheila. Was soll mir denn passieren, wenn ich allein über den Friedhof laufe? Und das noch bei Tageslicht." “Ja, ja, das ist alles gut und schön, Bill, aber du könntest jemanden mitnehmen. John Sinclair ... " Bill winkte ab. "Du hast Recht, das könnte ich. Aber John hat damit nichts zu tun. Es geht um vier Selbstmorde. Der wird mir sagen, dass ich mich an die Kollegen wenden soll. Und die würden abwinken. Für sie ist das mal wieder eine Zeiterscheinung. Die Suizide haben zugenommen, daran gibt es nichts zu rütteln. Früher haben sich viele von irgendwelchen Dächern gestürzt oder sich vor fahrende Züge geworfen. Heute ist das anders. Da hat man sich eben einen Friedhof als Szene ausgesucht. Ist auch viel schauriger, sich dort das Leben zu nehmen.“ "Einer hat sich erschossen. Zwei andere haben sich vergiftet", sagte Gilda Patton. "Nur mein Bruder hat sich aufgehängt." Sie sprach mit leiser Stimme weiter. "Ich denke schon, dass dieser verdammte Friedhof damit in einem Zusammenhang steht. Es ist ein ideales Gelände." "Werden dort noch Menschen beerdigt?", erkundigte sich Bill. “Ja. Nur nicht so oft. Man muss schon den Wunsch äußern. Und dann ist es nicht preiswert. Man zahlt ziemlich viel Geld für ein Grab und muss sich verpflichten, es zu pflegen." "Das habe ich nicht vor. Aber anschauen möchte ich mir das Gelände schon." "Ich gehe nicht mit", flüsterte Gilda. "Das habe ich auch nicht erwartet. Du brauchst keine Angst zu haben, Gilda, ich komme schon allein zurecht. Oder möchtest du mit, Sheila?" "Nein, danke, darauf kann ich verzichten. Friedhöfe haben mir noch nie besonders gut gefallen." "Okay, dann schaue ich mal ...“ “In deinem Zustand, Bill?" "Wieso?" "Denk mal an die letzte Nacht." Der Reporter winkte ab. "Die war nicht erquicklich, das stimmt. Aber ich bin hart im Nehmen und fühle mich wieder fit. Außerdem tut mir ein Spaziergang an der frischen Luft gut." “Falls es dabei bleibt", sagte Sheila nur ...
Der Friedhof war an einigen Stellen dicht wie ein Dschungel. Das würde sich erst ändern, wenn die Bäume ihr grünes Kleid verloren hatten. Noch war es nicht so weit. Im Frühherbst lagen nur wenige Blätter am Boden, ansonsten bildeten sie ein Dach. Eric Caine war mit mir gefahren. Und er hatte sich gefreut, mit jemandem reden zu können. So hatte ich seine Lebensgeschichte erfahren, die wirklich tragisch war. Caine gehörte zu den Opfern der New Economy. Er war in den Abwärtsstrudel hineingeraten und hatte die Folgen nicht mehr überblicken können, weil eben alles zu schnell gegangen war. Was ihm blieb, war die Platte. Zum Glück hatte er es verstanden, sich vom Alkohol fern zu halten, und er hatte auch die Hoffnung nicht ganz aufgegeben, es irgendwann mal wieder zu schaffen, doch ein großer Optimismus steckte nicht in ihm.
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"Wenn man mal unten ist, dann lassen sie einen nicht mehr hoch kommen. Das ist Tatsache." Tatsache waren auch die vier Toten, die es auf diesem Friedhof gegeben hatte. Natürlich hatten sich auch die Kollegen darüber Gedanken gemacht, aber sie hatten einwandfrei festgestellt, dass es Selbstmorde waren, und in Caine hatten sie einen perfekten Zeugen. Während wir über einen breiten, von Baumkronen beschatteten Weg gingen, sprach er mit mir über die Kollegen. Er regte sich zwar auf, seine Stimme blieb aber trotzdem recht leise. "Sie haben mir ja nichts geglaubt. Sie wollten gar nichts über die Motive wissen. Ihr Kollege Montero war die Arroganz in Person. Ich hätte ihm am liebsten in seine geschniegelte Fresse geschlagen. Cole Jackson, der Mann neben mir auf der Bank, der hat wirklich von einer Frau gesprochen, in die er sich verliebt hatte. Die schöne Helena. Der war ganz hin und weg. Der wollte zu ihr. Er wollte sie wiedersehen und hat sich erschossen." Ich blieb stehen, weil mein Begleiter in den letzten Sekunden langsamer gegangen war und jetzt stoppte. Er stand da und breitete die Arme aus. "Haben Sie ihn für unzurechnungsfähig gehalten?", fragte ich. “Auf keinen Fall. Der wusste genau, was er tat, Sinclair, ganz genau. Der war verliebt, aber nicht verrückt, wobei die Grenzen manchmal sehr fließend sind." "Ich habe schon verstanden", sagte ich. "Aber ich verstehe nicht, warum er sich umgebracht hat." "Weil er zu ihr wollte!", wiederholte Eric. "Zu einer Toten?" Er lachte laut auf. "Klar. Oder haben Sie eine andere Lösung? Ich nicht. Ich habe seine Worte genau behalten. Er wollte zu seiner Helena." "Dann hat er eine Tote geliebt", sagte ich. “Toll. Wie das? Eine Tote lieben? Es gibt Typen. Ich habe da mal den Film Psycho gesehen. Da ist das vorgekommen. Da hat jemand seine Mutter geliebt, die schon lange tot gewesen ist, und die er als halbes Skelett im Keller aufbewahrt hat. Aber das war in einem Film. So etwas passiert nicht in Wirklichkeit. Er hat von der Schönheit einer Frau geschwärmt und nicht von der einer Toten." “Ja, ja, das ist schon richtig. Ich weiß auch nicht, wie die Dinge gelaufen sind. Es kann sein, dass wir es nie herausbekommen und dass wir vergebens über den Friedhof wandern." Ich hatte die Antwort gegen meine Überzeugung gesprochen. Eric Caine war nicht mit meinem Job verbunden. Er wusste nichts von den Dingen, die mir bekannt waren, und da machte ich mir schon meine Gedanken. Ich kannte Personen, die tatsächlich aus dem Totenreich zurückgekehrt waren oder Lebende hineinlockten. So ähnlich konnte es auch hier gelaufen sein. Die Liebe des Mannes zu dieser Helena musste so stark gewesen sein, dass sie über den Tod hinwegging. Was mit den drei anderen Männern passiert war, die sich hier auf dem düsteren Areal umgebracht hatten, wusste ich nicht. Möglicherweise hatten sie Ähnliches erlebt. "Wir müssen die Treppe hoch", erklärte Caine. Der Friedhof lag nicht nur auf einer Ebene. Man konnte über ansteigende Wege gehen, aber auch Treppen nehmen, und eine solche lag jetzt vor uns. Sie war sehr breit, und die alten Steinstufen sahen sehr ausgetreten aus. Der Wind hatte altes Laub gegen die Seiten der Stufen gefegt und auch dicht an die beiden Mauern heran, die die Treppe stützten. An ihrem Ende sahen wir die dichten Laubbäume, die nicht viel Tageslicht durchließen. Es musste Stellen auf dem Friedhof geben, wo so gut wie kein Sonnenlicht hinschien. Da wurde der Boden dann auch nie richtig trocken. Er blieb feucht und klebrig. Ein Paradies für Pilze und Moose.
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"Den Weg kenne ich verdammt gut", erklärte Eric Caine und lachte dabei. "Er ist so etwas wie mein Heimatkurs. " "Heimat?" “Ja, die Bank." “Ach so." Er blieb auf der drittletzten Stufe stehen. "Sinclair, Sie glauben gar nicht, wie toll das sein kann, die Nächte auf einer Friedhofsbank zu verbringen. Da haben Sie Ruhe. Da ist alles super. Da gibt es keine Störungen." "Bis auf den Regen." Caine grinste mich an. "Sie können einem auch alles mies machen", erklärte er. "Ich bin Realist." "Okay, dann gehen wir weiter." Es war kein Problem, auch die letzten Stufen zu überwinden, und als wir auf der höheren Ebene des Friedhofs standen, da kam ich mir trotzdem ziemlich allein vor. Zudem hatte ich nicht unbedingt den Eindruck, auf einem Friedhof zu stehen, denn hier hatte der Bewuchs tatsächlich schon dschungelähnliche Ausmaße angenommen. Sehr hohe Bäume, dichte Büsche und Bodendecker. Überall, wo ich auch hinschaute, sah ich den dichten Efeu mit seinen dunkelgrünen Blättern. Er rankte auch an den großen Grabsteinen in die Höhe. Hier waren die Gräber keine normalen Gräber mehr, sondern Gruften, die auf ihrem Areal teilweise einen besonderen Schmuck aus Stein trugen. So schaute ich auf die verschiedensten Figuren, zumeist Darstellungen von Engeln. Manche standen einfach nur da und schauten über die Gräber hinweg auf den Betrachter. Es gab auch welche in anderen Positionen, die entweder geduckt auf irgendetwas lauerten oder ein Arm erhoben hatten und zum Himmel wiesen. Ich hatte Eric Caine stehen lassen und schlenderte an diesen Grabstätten entlang. Meine Blicke glitten über die Figuren und über die Steine hinweg, an denen die Zeiten auch nicht spurlos vorübergegangen waren. Keine Engel oder kein Kreuz, auch kein Grabstein war mehr glatt. Moos und Gräser hatten sich in die Spalten geklemmt und die Inschriften verwischen lassen. Wenn Jahreszahlen zu erkennen waren, dann lagen die Geburts- und Sterbedaten weit zurück. In der Regel lagen sie im vorletzten Jahrhundert. Mir war auch aufgefallen, dass uns kein Mensch begegnet war. Auch jetzt gab es außer uns niemanden, der sich auf dem Friedhof aufhielt, was schon seltsam war. Schließlich hatten wir Tag und keine Nacht, obwohl das Gelände an nicht wenigen Stellen so aussah, als hätte die Nacht bereits Besitz von ihm ergriffen. Da gab es viel Schatten und dunkle Stellen. Oft unpassierbar, weil der Weg durch starre Büsche versperrt wurde. "He, Sinclair!" Ich drehte mich um. Eric Caine winkte mit beiden Händen. "Sie gehen falsch." "Wo müssen wir hin?" "In die andere Richtung." "Und dann?" "Noch etwas höher. Da finden wir meine Bank. Ich habe immer wandern müssen." "Okay." Ich schlenderte auf ihn zu, schaute allerdings an ihm vorbei und sah einen sehr großen Bau, der beinahe schon die Ausmaße eines kleinen Mausoleums aufwies. Er sah aus wie ein klobiger Kirchturm und besaß ein spitzes Dach. Über dem hohen Eingang baute sich ein Rundbogenfenster auf, das in der Mitte von zwei Säulen gestützt wurde. Stufen mussten überwunden werden, um an die Tür zu gelangen. "Wo schauen Sie denn hin, Sinclair?"
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"Dorthin." Ich streckte für einen Moment meinen rechten Arm aus. Die Geste sorgte dafür, dass Caine sich umdrehte. "Ach, den Bau meinen Sie. Was ist damit?" "Kennen Sie ihn näher, Eric? Wissen Sie, wer dort seine letzte Ruhestätte gefunden hat?" Eric schüttelte den Kopf. "Nein, das weiß ich nicht. Dafür habe ich mich auch nie interessiert. Wer so begraben wird, der scheint im Leben viel Kohle gehabt zu haben. Bestimmt nicht durch den Neuen Markt." Er musste selbst lachen. "Das glaube ich auch." "Wollen Sie denn hin?" "Klar", sagte ich, "denn besondere Grabstätten haben mich schon immer interessiert." Ich wollte schon an Eric Caine vorbeigehen, als mir auffiel, dass er sehr nachdenklich geworden war. Er hielt den Kopf leicht gesenkt und schaute zu Boden. "Probleme?", fragte ich. "Nein, nicht wirklich. Ich denke nur nach." Er hob den Kopf an und drehte sich nach links. Schließlich machte auch sein linker Arm die Bewegung mit, und der ausgestreckte Finger fand ein neues Ziel. "Da vorn steht eine alte Eiche, Sinclair. Sie sieht ziemlich krumm aus." "Die sehe ich." “An dem dicken Stamm da unten hat sich jemand aufgehängt. Einer der vier Selbstmörder." Die Aussage überraschte mich. "Woher wissen Sie das?" "Ihre Kollegen haben darüber gesprochen. Sie erwähnten auch dieses große Grabmal und sprachen von einer Eiche, an der sich der Tote erhängt hat. So ist das." "Danke, dass Sie es gesagt haben, Eric." Er lachte leise. "Läuft Ihnen da nicht ein Schauer über den Rücken, Sinclair, wenn Sie so etwas hören? Ein Friedhof, auf dem sich vier Menschen umgebracht haben. Da muss man doch irgendwie Furcht bekommen, denke ich." "Es hält sich in Grenzen." "Aber andere haben die Angst." "Woher wissen Sie das?" "Das liegt auf der Hand. Schauen Sie sich mal um. Wo gibt es noch andere Besucher? Nirgendwo. Wir sind die Einzigen und werden das auch bleiben. Es hat sich herumgesprochen, was hier abgelaufen ist. Da bleiben die Menschen fern. Keiner traut sich mehr auf den Friedhof, wo Leute sich das Leben genommen haben. Die Leute sind abergläubisch. Da hat sich wirklich nichts geändert." Ich ging auf die Eiche zu. Der Ast war nicht abgebrochen, dazu war er einfach zu stark gewesen. Aber dort, wo das Seil ihn berührt hatte, war die Rinde abgeschabt. "Wissen Sie auch, wo man die anderen Toten gefunden hat?", fragte ich Eric. "Auf den Gräbern. Sie lagen dort wie hingegossen, kann ich mir vorstellen. Und dann habe ich noch etwas von Ihren Kollegen gehört." Er deutete jetzt mit seinem rechten Zeigefinger gegen sein Gesicht. "Sie haben alle gelächelt. Als hätte es ihnen Spaß gemacht, in den Tod zu gehen. Ja, gelächelt." "Möglicherweise hat es das." "Und was ist der Grund?" Auch ich lächelte jetzt. "Was ist denn mit diesem Cole Jackson gewesen, der neben Ihnen auf der Bank saß? Er war doch auch locker - oder nicht?"
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"Stimmt.“ "Und dann hat er sich erschossen." Caine riss seine Augen weit auf. "Sogar lächelnd, glaube ich. Zudem hat er auch von seiner wunderschönen Helena gesprochen, die ich nicht kenne, die ich auch nicht gesehen habe, denn sie ist für mich nach wie vor eine Geisterfrau." "Okay, dann lassen Sie uns dabei bleiben." "Ist mir auch recht." Wir entfernten uns wieder von der Eiche. Ich fühlte mich von diesem ungewöhnlich großen Grabstein angezogen. Dabei wusste ich nicht, ob es die reine Neugierde war oder etwas anderes. Jedenfalls wollte ich mir den Bau anschauen, denn so etwas hatte auch ich noch nicht gesehen. Es gab zwei Wege, um ihn zu erreichen. Wir mussten ein mit Pflanzen bestücktes Rondell umgehen und konnten erst dann auf das Grabmal zuschreiten. Es gab wirklich diesen Turm, der schon fast aussah wie eine Pagode, was an den Abstufungen lag, denn er wirkte wie eine Treppe, deren lange Steine man umgekippt hatte. Ein wirklich ungewöhnlicher Bau, und ich war gespannt darauf, wer hier seine letzte Ruhestätte bekommen hatte. Sehr langsam schritt ich auf das neue Ziel zu. Bisher war ich ziemlich locker und cool gewesen, nun aber spürte ich schon die neue Unruhe in mir hochsteigen. Es konnte auch eine Spannung oder eine Erwartung sein, die mich erfasst hatte, ein Gefühl, etwas Besonderes entdecken zu können, und ich merkte, dass mein Begleiter zurückgeblieben war. Er spürte, dass ich nicht gestört werden wollte. Zwei breite, alte, rissige und ausgetretene Steine bildeten eine Minitreppe. Ich blieb auf der untersten Stufe stehen und war rechts und links von sperrigen Sträuchern umgeben. Die Tür lag direkt vor mir. Sie lud mich praktisch dazu ein, das Innere zu betreten, denn sie besaß einen Ring, der fest im Stein verankert war. Natürlich sah die Tür sehr stabil aus. Auch schwer. Sie würde nicht so leicht zu öffnen sein. Aber das war für mich zweitrangig geworden, denn bei in einem genauen Hinsehen und Abtasten war mir etwas aufgefallen. Auf der Tür befand sich eine Inschrift. Sie war dort eingraviert worden. Da setzte sich Buchstabe neben Buchstabe, aber ich hatte Probleme, daraus den Namen zu lesen. Ich blickte noch schärfer hin und beugte mich dabei auch vor. Dreck und Pflanzenreste verklebten die Buchstaben. Ich musste sie von dieser Schicht befreien. Ich musste schlucken, als ich einen Teil des Namens der Person frei gelegt hatte, die hier begraben war. Nur den Vornamen. Aber der reichte aus. "Was ist denn?", hörte ich hinter mir die Frage. "Ich habe sie gefunden, Eric.“ "Ach ja. Wen denn?" "Helena ..." Eric ging jetzt schneller, das hörte ich an seinen Schritten. Dann stand er neben mir, atmete heftig, lachte, als wollte er es nicht glauben, aber er folgte schon der Richtung meines ausgestreckten Zeigefingers. "Da, lesen Sie selbst." Er bückte sich. Er schluckte. Er schüttelte den Kopf. "Mann, Sie haben Recht."
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Ich hob die Schultern. Eric trat etwas von der Tür zurück, als wäre sie ihm plötzlich unheimlich geworden. Er hatte sich eine Lösung oder Ausrede zurechtgelegt und damit hielt er auch nicht hinter dem Berg. "Das ... das ... habe ich gelesen, aber das kann Zufall sein." "Glauben Sie das?" Sein Nicken wirkte wenig überzeugend. "Ich glaube es nicht." Jetzt hatte ich Eric Caine durcheinander gebracht. Er wusste nicht so recht, was er mir antworten sollte. Seine Gedanken jagten sich, und schließlich hatte er sich zu einigen Worten durchgerungen. "Das ... das ... würde ja bedeuten, wenn man es weiterdenkt, dass Cole Jackson sich in eine ... ach, verdammt ... in eine Tote verliebt hat. Oder was meinen Sie?" Ich sagte dazu nichts. Das gefiel Eric auch nicht. "Verdammt Sinclair, haben Sie denn keine Meinung?" "Doch, die habe ich. Und ich möchte Ihnen nicht widersprechen, Eric. Ich hätte es gern getan, nur kann ich es nicht." Caine war wirklich von der Rolle. Er konnte nichts sagen. Er räusperte sich. Er schaute ins Leere, aber seine Gedanken jagten sich. Es war auch schwer vorstellbar, das zu akzeptieren, was er von mir gehört hatte. "Man ... man ... kann sich doch nicht in eine Tote verlieben", flüsterte er. "In der Regel nicht." "Hören Sie doch auf, Sinclair. So etwas ist unmöglich. Ich glaube nicht daran. Er hat zwar von einer Helena gesprochen, aber das ist reiner Zufall mit der Namensgleichheit." Er nickte jetzt heftiger. "Wirklich. Ich glaube das nicht." Dann fragte er: "Haben Sie denn keinen Zunamen auf der Tür entdecken können?" "So viel habe ich noch nicht frei gekratzt. " "Wollen Sie das denn?" "Sicher. Nur nicht mehr mit den Fingern. Ich werde mein Taschenmesser nehmen." "Das ist gut." Einen weiteren Kommentar gab er nicht ab, hielt allerdings einen bestimmten Abstand von der Tür ein, als fürchtete er sich davor, dass sie jeden Augenblick aufbrechen könnte, um schreckliche Zombies zu entlassen, die ihn töteten. Ich klappte das Messer auf und machte mich an die Arbeit. Mit der Spitze kratzte ich über das Gestein hinweg und auch in die Rillen hinein, wo der Bewuchs beinahe so hart wie Beton geworden war und ich meine Mühe hatte, die entsprechenden Stellen frei zu bekommen. Das Zeug krümelte zu Boden und blieb vor meinen Füßen liegen. Ich kratzte weiter und legte tatsächlich Buchstaben so weit frei, dass ich auch den Nachnamen lesen konnte. Erst jetzt kam Eric wieder näher. "Und wie heißt sie?", fragte er. "Helena Ascot." "Ha, die kenne ich nicht. Nein, den Namen hab ich noch nie gehört. Den hat auch Jackson nicht erwähnt. Er hat ausschließlich von einer Helena gesprochen." "Was wiederum nichts beweist." Ich klappte das Taschenmesser zu und steckte es ein. "Weitergekommen sind wir auch nicht", kommentierte Eric Caine. "Ich wüsste nicht, was wir jetzt noch tun sollten. Außer zu meiner Bank zu gehen, denn da wollten Sie ja hin."
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"Das werden wir auch. Nur später." Caine war nicht schwer von Begriff. Er hatte sofort erfasst, was ich vorhatte. "Jetzt sagen Sie nicht, dass Sie in das verdammte Ding reingehen wollen." "Genau das hatte ich vor." "Das ist Grabräuberei. Das können Sie nicht tun. Da machen Sie sich sogar als Bulle strafbar." "Das denke ich nicht, Eric. Die Tür könnte offen sein, und ich hoffe, dass sie sich bewegen lässt. Wenn das der Fall ist, können wir die Gruft betreten." "Ah ... wir?" "Warum nicht?" "Nein, ich denke, dass ich hier draußen besser aufgehoben bin. Ich habe zwar auf einem Friedhof übernachtet, aber das ist auch alles. Mir hat dieser Selbstmord verdammt gereicht, wenn Sie verstehen." "Kann ich. Aber ich werde mich umschauen, wenn möglich." "Bitte." Er trat wieder zurück. Irgendwie verstand ich ihn. Aber ich hatte eine Spur aufgenommen und wollte sie nicht wieder aus den Fingern lassen. Der Name Helena hatte mich elektrisiert. Auch ohne die entsprechenden Beweise zu haben, vermutete ich, dass es in dieser Gruft irgendwie weiterging und die Spur dichter wurde. Mit beiden Händen umfasste ich den Ring, der Rost angesetzt hatte. Ich suchte nach Spuren, die darauf hindeuteten, dass jemand die Tür in der letzten Zeit geöffnet hatte. Leider gab es keine, und so war ich wohl der Erste, der sich daran machte. Mit beiden Händen zog ich. Dabei stemmte ich meine Hacken gegen den Boden. Die Kraft war da, der Wille ebenfalls. Gegen beides stemmte sich das Gewicht der Tür. Sie saß fest, sie saß zu, wie auch immer. Ich machte trotzdem weiter, auch wenn mir das Blut in den Kopf gestiegen war und sich mein Gesicht gerötet hatte. Das leise Knirschen klang wie Musik in meinen Ohren. Einen ersten kleinen Erfolg hatte ich erreicht, und er spornte mich an, weiterzumachen. Ich gab nicht auf. Ich kämpfte, ich keuchte, und meine Bemühungen zeigten einen ersten Erfolg. Die Tür bewegte sich zu mir hin. Sie kratzte mit hässlich klingenden Geräuschen über den Boden hinweg, und das blieb auch Eric Caine nicht verborgen. Er kam sich komisch vor, einfach nur zuzuschauen. Deshalb kam er zu mir und half mir bei der Arbeit. Zu zweit klappte es besser. Auch wenn die Tür die Haftung zum Boden nicht verlor und sogar bei der Bewegung zu zittern begann, sie brach nicht auseinander, der alte Stein hielt, und ich atmete auf. "Es reicht“, sagte ich keuchend. Eric ließ den Ring los und beugte sich keuchend nach vorn. Er musste auch husten und rang dabei nach Luft. Ich besaß eine bessere Kondition als mein Helfer und warf schon einen ersten Blick in dieses Grabhaus hinein. Dass es dunkel war, konnte mich nicht überraschen, und so holte ich meine Lampe hervor und ließ den Lichtstrahl durch das Innere wandern. Vorgestellt hatte ich mir eigentlich nichts. Trotzdem war ich über die Leere hinter der Tür ein wenig enttäuscht. Dort stand kein Sarkophag, auch kein schlichter Sarg, sondern gar nichts. Es gab nur die kahlen Wände und den ebenso kahlen Boden. "Sehen Sie was?"
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"Nein, Eric." Als er jetzt lachte, klang es erleichtert. "Das habe ich mir doch gedacht. Da ist die ganze Mühe umsonst gewesen. Ich weiß schon Bescheid. Ich kenne den Friedhof. Die Toten sind hier ..." Meine Frage unterbrach ihn. "Warum legt man wohl eine solche Gruft an?" "Um jemanden dort zu begraben." "Genau. Und ich sage Ihnen, dass dort jemand liegt. Nicht hier vor uns, sondern woanders." "Und wo kann das sein?" Ich hatte ihm bisher noch nichts von meiner zweiten Entdeckung gesagt. Auch jetzt blieb ich noch schweigsam, aber der Strahl meiner Lampe wanderte wieder über den Boden hinweg, und ich erlebte, dass ich mich beim ersten Mal nicht getäuscht hatte. Die Platte mochte sich früher mal deutlicher vom Boden abgezeichnet haben. Im Laufe der Zeit allerdings hatte sie sich der Umgebung angeglichen, aber sie war in ihren Umrissen noch zu sehen, und die zeichnete ich mit dem Lichtkegel der Lampe nach. Eric war dicht hinter mich getreten und schaute über meine Schulter hinweg. Er roch noch immer nach der Gefängnisseife und blies seinen warmen Atem aus. "Das meinen Sie ...“ "Genau." "Ja, das gehört zu einer Gruft." Ich drückte mich durch den Spalt, der breit genug war. "Dabei bin ich sicher, dass wir unter dieser Platte etwas finden. Irgendwo muss die Person ja liegen." "Das denke ich auch." Ich leuchtete die Umrisse der Platte noch mal ab und sah auch den flach auf ihr liegenden Ring. Er war der Helfer, um sie anheben zu können, was natürlich wieder eine gewisse Anstrengung bedeutete. Eric Caine war mir gefolgt. Er stand aber wie auf dem Sprung und leicht geduckt. "Sie müssten mir noch mal helfen, Eric." “Ja, ja", stöhnte er. "Mitgefangen mitgehangen. Das kann ich leider nicht ändern." Auch er quetschte sich durch den Spalt und blieb direkt neben mir stehen. Ich bückte mich. Die Lampe hatte ich wieder eingesteckt. Durch die Tür fiel genügend Helligkeit, damit wir uns orientieren konnten. Der Ring war nicht in der Mitte der Platte angebracht, sondern am Ende oder am Anfang. Ich rechnete mit dem Kopfteil, ging in die Hocke, umfasste ihn mit beiden Händen - und zog daran. Diesmal klappte es! Wieder knirschte es an den Rändern. Etwas Staub quoll in die Höhe. Im Gegensatz zur Tür ließ sich diese Klappe nahezu leicht öffnen. Sie schwang hoch, sie ließ sich sogar kippen, wobei die Scharniere quietschten, und dann fiel sie auf der anderen Seite zu Boden. Geschafft! Ich stand auf. Caine war näher herangetreten. Er schaute bereits in das viereckige Loch hinein, aber es war zu dunkel, um irgendwelche Einzelheiten zu erkennen. "He, da sieht man nichts." "Abwarten."
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Ich blieb weiterhin in meiner Haltung, und im nächsten Moment trat wieder die Lampe in Aktion. Den Strahl hatte ich sehr breit gestellt, sodass er zu einem Fächer wurde, der die Finsternis aufriss und tatsächlich ein Ziel erwischte. "Das ist ein Sarg!", flüsterte Caine. "Genau, ein Sarg. Haben Sie mit etwas anderem gerechnet?" "Ich habe an nichts gedacht. Aber jetzt bin ich irgendwie beruhigt, dass diese Helena Ascot dort liegt." "Mal sehen." "Wieso? Glauben Sie das nicht?" Ich schaute zu ihm hoch. Er stand an der anderen Schmalseite der Öffnung. "In diesem Fall habe ich mir das Glauben eben abgewöhnt. Ich brauche Beweise." Caine begriff und war zunächst still. Dann hatte er sich wieder gefangen. "Nein, Sie meinen doch nicht, dass Sie in die Tiefe steigen und dort den Sarg öffnen wollen?" "Genau das habe ich vor." Caine schloss für einen Moment die Augen. Ich konnte mir vorstellen, was er jetzt über mich dachte. Das war mir egal. Ich wollte nicht schon nach dem ersten Schritt stoppen. Noch mal leuchtete ich in die Tiefe, um sie ungefähr abzuschätzen. Ich würde ohne Hilfe wieder hinein- und auch hinausklettem können. Das war kein Problem. Caine unternahm nicht den Versuch, mich aufzuhalten. Er wusste, wann es Zeit war, sich zurückzuziehen. Ob unter mir nur ein Sarg stand oder ob es mehrere waren, das sah ich nicht. Ich hatte auch nicht die Größe sehen können. Ich stemmte mich an den Seiten des Einstiegs ab und ließ mich langsam in die Tiefe gleiten. Nur für einen kurzen Zeitpunkt pendelte ich mit den Füßen über den Boden hinweg, dann ließ ich los und fiel nach unten. Dicht neben dem Sarg prallte ich auf, federte noch kurz in den Knien nach und stand in einem kleinen Gewölbe, in dem es muffig nach Feuchtigkeit und nach Erde roch. Ich bewegte die Lampe und wunderte mich schon, dass es nur diesen einen Sarg gab. Und den schaute ich mir genauer an. Er bestand aus Holz, aber er war mit einer Schicht überzogen, die mich zuerst an Lack erinnerte, weil sie so glänzte. Ich klopfte dagegen und strich anschließend mit den Fingerkuppen darüber hinweg. Lack war es nicht, ich ging jetzt von einer metallischen Glasur aus. Warum das Holz damit bedeckt worden war, wusste ich nicht genau. Ich konnte mir nur vorstellen, dass er vor einem zu schnellen Verfall geschützt werden sollte. Bevor ich mich um den Sarg kümmerte, leuchtete ich noch mal um mich herum alles aus. Es war schon eine seltsame Umgebung für einen Sarg. Sehr glatte Wände, die zwar aus Steinen bestanden, aber trotzdem wie poliert aussahen. Nein, ich hatte mich geirrt. Sie waren nicht nur glatt. Ich entdeckte bei genauerem Hinschauen Zeichen oder Einkerbungen und ging auf die entsprechende Wand zu. Schon beim Näherkommen erkannte ich, dass es keine Schriftzeichen oder Buchstaben waren, die ich in der Schule gelernt hatte. Bei diesen Beschriftungen handelte es sich um Hieroglyphen, die meiner Ansicht nach aus dem alten Ägypten stammten. Es waren keine Bilder zu sehen. Keine Abbildungen von Göttern wie Horus oder Osiris, sondern nur Zeichen, die ein Ägyptologe sicherlich deuten konnte. Ich war da überfragt. Von oben her meldete sich Caine. "He, hast du was gesehen?"
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“Ja, aber nicht der Rede wert." Das glaubte ich zwar selbst nicht, aber ich wollte mit Caine nicht darüber sprechen. Meine Gedanken machte ich mir schon, und ich dachte an den Bau dieser ungewöhnlichen Gruft. Der Turm sah tatsächlich aus wie eine Pyramide, da passten ja die Zeichen. Zudem fiel mir ein, dass ich erst vor kurzem in Deutschland in einem Hotel übernachtet hatte, das ebenfalls als Pyramide gebaut worden war. Da hatte ich dann die Rückkehr einer altägyptischen Prinzessin erlebt, und das war nicht eben ein Spaß gewesen. Sollte hier etwas Ähnliches stattfinden? Ich war immer mehr der Überzeugung, dass mir der Sarg eine gewisse Aufklärung geben würde. Deshalb ging ich wieder zu ihm und schaute nach, wie ich ihn öffnen konnte. Es gab keine sichtbaren Verschlüsse. Deckel und Unterteil waren fest zusammengepresst. Um sie auseinander zu bekommen, musste ich sicherlich Kraft aufwenden. Ich legte meine Hände auf den Deckel und hatte mir ungefähr die Mitte ausgesucht. Von oben her schaute mir Eric Caine zu. Ich sah ihn zwar nicht, aber ich hörte sein angestrengtes Atmen. Noch mal holte ich Luft, griff wieder härter zu - und zog den Deckel in die Höhe. Fast wäre ich nach hinten gefallen und ausgerutscht. Der Widerstand war dahin, nein, es hatte ihn gar nicht gegeben. Ich hatte den Deckel wirklich normal anheben können. Da gab es keinen Verschluss, da hatte auch nichts geklemmt, ich hielt ihn plötzlich fest, aber so hoch, dass er mir die Sicht auf das Unterteil verwehrte. Caine hatte einen besseren Blick. "Sinclair, das ist verrückt. Ehrlich. Das glaubt keiner!" Ich stellte den nicht besonders schweren Deckel zur Seite und hatte freies Sichtfeld. Der Sarg war leer! Sollte ich das als eine Überraschung ansehen? Ja, irgendwie schon. Normalerweise waren Gruften nicht leer. Man begrub dort die Toten, die in ihren Särgen irgendwann zerfielen und verwesten. Hier war der Sarg einfach nur leer. Doch ich fragte mich sofort, ob das schon immer der Fall gewesen war oder erst nur seit kurzer Zeit, in der dann die Selbstmorde hier auf dem Friedhof passiert waren. So einfach wollte ich es mir nicht machen. Ich trat wieder an den offenen Sarg heran und leuchtete ihn aus. Beim ersten Hinschauen wies nichts darauf hin, dass hier jemand gelegen hatte. Ich bückte mich tiefer und verfolgte den Weg des Lichtkegels genauer. Ich ließ ihn nur sehr langsam weitergleiten, und mir stockte der Atem. Haare schimmerten im Licht. Sie lagen auf dem Boden, der mit nichts ausgekleidet war. Da war nur das nackte Material zu sehen, bis auf die schwarzen Haare. Ich pickte sie mit den Fingern auf und sah, dass sie nicht lang und glatt waren, sondern gekrümmt. Das deutete auf Menschenhaar hin, und zwar auf das Haar einer Frau. Helena ... Ich richtete mich wieder auf. Die Umgebung war die gleiche geblieben, und trotzdem kam es mir vor, als hätte sich etwas verändert. Eine andere Stille hatte von dieser Gruft Besitz genommen, und auch Eric Caine hörte ich nicht mehr.
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Irgendwie sah ich mich gezwungen, in die Stille hineinzulauschen. Ich wartete förmlich auf Geräusche, aber ich bekam keine mit. Es blieb einfach nur still. Bis ich das Flüstern vernahm! Es war ein schon merkwürdiges Geräusch, das ich durchaus hörte, aber nicht herausfand, aus welcher Richtung es mich erreichte. Es war einfach da, denn es klang von links, von rechts, von oben und von unten. Aber es setzte sich nicht aus mehreren unterschiedlichen Stimmen zusammen. Es wurde nur von einer Person abgegeben, doch in dieser kahlen Gruft mit den glatten Wänden hinterließ es ungewöhnliche Echos, sodass ich schon den Eindruck haben konnte, von mehreren Stimmen umgeben zu sein, die mich aus irgendeinem Geisterreich erreichten. Jetzt wäre es eigentlich an der Zeit gewesen, dass sich mein Kreuz gemeldet hätte. Leider war das nicht der Fall. Ich bekam keine Warnung geschickt, wollte es genau wissen und fasste den Talisman unter meinem Hemd kurz an. Nein, da war kein Wärmestoß zu spüren, trotz der geheimnisvollen Stimme, die nicht aufhörte zu wispern. Sie war wirklich überall. Ich drehte mich auf der Stelle, um zu erleben, dass ihre Lautstärke blieb. Keine Veränderung. Allmählich wurde ich unruhig. Jetzt ging ich vom Sarg weg, durchschritt den unterirdischen Raum und rief sogar mit leiser Stimme den Namen der hier Begrabenen. Helena gab keine Antwort! Aber sie war hier. Sie beobachtete. Sie sah mich, nur sah ich sie nicht. Aus irgendeiner anderen Dimension schaute sie mir zu, und ihre Worte blieben auch weiterhin geflüstert. Ich wollte Gewissheit haben, ob auch mein Begleiter etwas gehört hatte und schaute zu ihm hoch. Im ersten Moment schüttelte ich den Kopf, weil ich mich über seine Haltung wunderte. Es war klar, dass er mir zuschauen wollte, nur wie er das tat, das war mir suspekt. Er lag flach auf dem Boden. Sein Kopf schaute über den Rand hinweg. Das Gesicht zeigte nach unten. Sein Mund war nicht geschlossen. Das sah ich, obwohl ich ihn noch nicht anleuchtete. Einen Moment später änderte sich dies. Der Strahl erwischte das Gesicht, dessen Starre mir Angst einjagte. Hinzu kam noch etwas. Sein Mund füllte sich plötzlich mit einer dunklen Flüssigkeit, die sich Platz schaffen musste und in einem Schwall nach unten floss. Ich zog den Kopf ein und trat zur Seite, um nicht getroffen zu werden. Vor mir klatschte der Schwall auf den Boden. Eine helle und eine dunkelrote Farbe vermischten sich darin. Genau so sah das Blut eines Menschen aus! Obwohl ich mich noch nicht restlos davon überzeugt hatte, stand für mich fest, dass Eric Caine nicht mehr lebte. Das Gesicht, die Starre darin, die gesamte Haltung, genau das trug dazu bei, diese Meinung in mir zu verdichten. Es blieb bei dem einen Schwall. Was jetzt noch nach unten fiel, waren nur noch Tropfen, die sich von der Unterlippe gelöst hatten, weil sie zu schwer geworden waren. Eric Caine hatte es tödlich erwischt. Mich eiskalt. Ich stand auf der Stelle und rührte mich nicht vom Fleck. Der schlimme Vorgang hatte mich zu einer Statue werden lassen, und durch meinen Kopf rasten die Gedanken wie Blitze. Erst jetzt wurde mir richtig bewusst, dass ich nicht allein war, aber den Feind nicht sah. Ebenso musste es Eric ergangen sein. Sein Mörder oder seine Mörderin hatte sich an ihn herangeschlichen und ihn dann getötet.
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Aber wie war das möglich? Ich hatte nichts gehört. Okay, die Tür zur Gruft hatte ich nicht wieder geschlossen, aber Eric hätte die Schritte einer anschleichenden Person hören müssen. Es konnte auch sein, dass er durch mich zu stark abgelenkt worden war und deshalb nicht reagiert hatte. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich die Stimme nicht mehr hörte. Es war so still um mich herum geworden wie es sich für eine Gruft gehörte, in der der Tod seine Schwingen ausgebreitet hatte, um damit alles zu bedecken. Ein Gegner war aus dem Weg geschafft worden. Es gab also nur noch mich. Nur hatte ich nicht vor, länger hier in der Gruft zu bleiben. Ich wollte den Mörder stellen, und das würde mir hier nicht gelingen. Ein kurzer Sprung in die Höhe reichte aus, um Halt an den Kanten der Öffnung zu finden. Danach folgte der kurze Klimmzug, dann war es kein Problem mehr, aus der Gruft zu klettern. Neben dem Toten schob ich mich in die Höhe. Noch in der Bewegung sah ich entsetzt, was mit ihm passiert war. Man hatte ihn heimtückisch ermordet und ihm ein Jagdmesser in den Rücken gestoßen. Für einen Moment war ich geschockt, aber ich wusste jetzt, mit welch einem Feind ich es zu tun hatte. Das war jemand, der über Leichen ging und kein Pardon kannte. Ich richtete mich wieder auf und spürte dabei ein schlechtes Gewissen. Durch mich war Eric Caine indirekt zu Tode gekommen. Hätte ich ihn bei den Kollegen gelassen, dann wäre er noch am Leben. Leider konnte ich nicht in die Zukunft schauen, was oft genug von Vorteil war, hier allerdings nicht. Ich wollte es allerdings genau wissen. Fühlte nach Puls- und Herzschlag, aber da war nichts zu spüren. Der Stich mit der Waffe hatte Eric Caine umgebracht. Aber wo steckte sein Mörder oder seine Mörderin? Ich drehte mich dem Eingang zu. Jemand war dort, aber ich sah ihn nicht, weil er draußen stand. Dafür bekam ich etwas anderes mit. Von außen her wurde langsam die Tür zugezogen, und der Spalt verkleinerte sich immer mehr. Mir war klar, was die unbekannte Person vorhatte. Sie wollte mich lebendig begraben!
Bill stoppte den Wagen auf dem Parkplatz ab, der ebenfalls hinter Hecken versteckt lag. Er war in Schweiß gebadet und stöhnte leise auf. Dann sank er nach vom und drückte die Stirn gegen den oberen Lenkradring, um sich auszuruhen. Die verdammte Nacht steckte doch tiefer in seinen Knochen, als er gedacht hatte. Das war einfach schlimm gewesen, und noch schlimmer war es für ihn, dass er sich selbst überschätzt hatte. Das musste Bill so sehen, das sah er auch, aber er war froh, eine Pause einlegen zu können. Auf dem Parkplatz standen keine anderen Wagen. Nur Bills Porsche mit dem Insassen darin, und der wollte noch nicht aussteigen und sich erst ausruhen. Er schloss die Augen. In seinem Kopf tuckerte es. Die Fahrt mit dem Wagen war schon anstrengend gewesen und bis an seine Grenzen gegangen, da es ihm schwer gefallen war, sich zu konzentrieren. Er hatte keine Tabletten eingesteckt und würde zusehen müssen, wie er mit seinem Zustand zurechtkam.
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Sheila hatte den Namen seines ältesten Freundes John Sinclair erwähnt. Jetzt dachte Bill wieder daran, und er überlegte auch, ob er John anrufen sollte. Auf der anderen Seite wollte er sich nicht lächerlich machen, denn es war nichts passiert, was ein Eingreifen des Geisterjägers erforderlich gemacht hätte. Es ging nur um einen Selbstmord, der an einem ungewöhnlichen Ort geschehen war, und es ging um eine geheimnisvolle Frau, in die sich der Fotograf verliebt hatte. Genau die wollte Bill finden. Ob er dabei den richtigen Weg eingeschlagen hatte, darüber konnte man geteilter Meinung sein, doch irgendwo hatte er anfangen müssen, das war er seinem Kollegen einfach schuldig. Ihm fiel ein, dass er Sheila noch versprochen hatte, sie anzurufen, und genau das wollte er jetzt tun. Sie sollte wissen, dass er sein Ziel erreicht hatte. Bill setzte sich wieder normal hin und holte das Handy hervor. Er sah sein Gesicht kurz im Innenspiegel, und die Farbe gefiel ihm gar nicht. Er war blass, und auf der Stirn lag Schweiß. Noch herrschte das helle Tageslicht vor. Die Wolkendecke am Himmel war an zahlreichen Stellen aufgerissen, und die helle Bläue brachte auch frisches Licht. So warfen die Büsche Schatten, die sich wie groteske Kunstwerke über den Porsche und dessen Scheiben gelegt hatten. Die Nummer war einprogrammiert, und Sheila hatte wirklich parat gesessen und auf den Anruf gewartet, denn sie meldete sich sofort. "Ich bin es nur." "Gut, Bill, gut. Wo bist du denn jetzt?" "Auf einem Parkplatz am Friedhof, und ich kann dir sagen, dass hier alles friedlich ist. Ich parke hier als Einziger, und um mich herum gibt es nur die Natur." "Soll ich mich jetzt darüber freuen?" "Das bleibt dir überlassen." "Aber diese Helena hast du noch nicht gesehen?" "Das auf keinen Fall." "Und wie stellst du dir den Fortlauf des Geschehens vor?", fragte Sheila. Bill atmete tief aus. "Ich schaue mich auf dem Friedhof mal um. Ich drehe eine Runde. Kann ja sein, dass ich etwas finde. Anschließend setze ich mich wieder in meinen Wagen und fahre zu dir zurück. So war es ja auch abgesprochen." "Das ist gut, Bill. Daran solltest du dich auch halten. Was mir nur nicht gefällt, ist deine Stimme." Der Reporter horchte auf. "Wieso das denn nicht? Was ist mit der Stimme?" "Sie klingt so müde." "Ha, das bin ich etwas." "Oder bist du nicht nur müde?" Sie merkt auch alles!, dachte Bill. Trotzdem fragte er: "Wie meinst du das denn?" "Ganz einfach. Du hast dich ziemlich erschöpft angehört. So kenne ich dich nicht. Die letzte Nacht scheint doch härter gewesen zu sein, als du angenommen hast." Bill wollte nicht widersprechen, aber auch nicht direkt zustimmen. Er suchte sich die Mitte aus. "So super wie sonst geht es mir nicht, da hast du schon Recht. Aber ich werde es überleben." "Bill ...“ "Was ist denn?" "Komm zurück!“ "Mache ich auch. Aber zuvor schaue ich mich kurz auf dem Friedhof um. Frische Luft tut mir gut, und der Friedhof ist stark bewaldet und wirkt wie eine grüne Lunge."
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"Du hättest wirklich nicht fahren sollen.“ "Das bin ich nun mal, Sheila, und jetzt ziehe ich die Sache auch durch." "Aber gib auf dich Acht." "Sicher." Das Gespräch wurde beendet, und Bill lächelte vor sich hin. Sheila würde nie damit aufhören, ihn zu bemuttern. Das war manchmal okay, aber dann gab es wieder Momente, in denen Bill sich etwas zu sehr eingeschränkt fühlte. Heute hatte Sheila nicht Unrecht. Der Frischeste war er nun wirklich nicht. Er stieg aus dem Wagen. Die Kopfschmerzen hatten etwas nachgelassen. Er fühlte sich wieder besser und reckte sich zunächst, wobei er tief die gute Luft einatmete. Dabei blickte er sich um und entdeckte einen Weg, der zu einem Tor führte. Es war zugezogen, aber Bill bezweifelte, dass man es auch abgeschlossen hatte. Wenn ja, würde er es überklettern, was auch kein Problem darstellte. Die ersten Bewegungen an der frischen Luft hatten ihm schon gut getan. Er spürte keine Stiche mehr im Kopf. Es ging alles wieder fast normal. Auch seine Aufmerksamkeit ließ nicht nach, und als er das Tor erreichte, schaute er zunächst durch die Lücken zwischen den Gitterstäben auf den Friedhof, der wirklich so dicht bewachsen war, dass die Gräber mit ihren Steinen erst beim zweiten Hinschauen richtig auffielen. Zum größten Teil waren es schon imposante Gebilde. Wer hier begraben lag, der hatte sich auch seine Grabstätte etwas kosten lassen. Bill war sicher, dass er auf den Grabsteinen einige prominente Namen aus der Vergangenheit lesen würde. Die interessierten ihn nicht besonders. Er wollte den Grund für den Selbstmord des Fotografen herausfinden und konnte sich vorstellen, dass er ihn hier auf dem alten Friedhof fand. Ob das Gelände direkt etwas damit zu tun hatte, wusste er nicht. Es konnte durchaus sein, dass es auf eine bestimmte Art und Weise "verseucht" war. Dass eine schlimme Aura hier vorherrschte und von den Menschen Besitz ergriff, sodass sie praktisch zu anderen Personen wurden. Alles war möglich, aber im Prinzip ging es um eine geheimnisvolle Frau mit dem Namen Helena. Bill freute sich darüber, dass das schmale Tor nicht abgeschlossen war. Er konnte es aufziehen und das Gelände dahinter betreten. Der schwere Duft, der von irgendwelchen Blüten oder Pflanzen ausging, wehte in seine Nase. Er sah über sich die hohen Kronen der Bäume, und es kam ihm vor, als wollten sie dem Besucher den Blick auf den Himmel nehmen, denn er war nur in Ausschnitten zu sehen. Das Licht über den Wegen und Gräbern war dämmrig geworden und schimmerte öfter in verschiedenen Grüntönen. Bill befand sich plötzlich mitten auf dem Friedhof, ohne dass es ihm richtig bewusst geworden wäre. Jemand schien ihn an diese Stelle hingeschoben zu haben, er konnte sich nicht erinnern, welchen Weg er genommen hatte. Das war schon ungewöhnlich, und so blieb Bill zunächst mal stehen und drehte sich dabei um. Er schaute zurück, doch auch jetzt blieb die Erinnerung außen vor. Er war einfach gegangen und immer der Nase nach, wie man so schön sagt, aber es fehlte die Erinnerung. Welchen Weg er genau zurücklegen musste, wusste er nicht. Selbst bei intensivem Nachdenken nicht, und das störte ihn. Lag es wirklich nur an den Ausschweifungen der vergangenen Nacht oder an der Atmosphäre, die hier auf dem Gelände herrschte? Bill war kein Laie, wenn es um Friedhöfe ging. Er hatte schon die unterschiedlichsten erlebt. Normale Friedhöfe, aber auch welche, auf denen sich die Gräber geöffnet hatten, um lebende Tote zu entlassen. Er hatte einen Totenacker mit ewigen Schreien durchleiden müssen, und nun stand er auf einem Gelände, dessen Stille ihm plötzlich unheimlich war. Bill wusste genau, dass es sich hier nicht um die normale Ruhe handelte, es war etwas anderes. Er hatte das starke Gefühl, belauert zu werden, ohne den Feind zu sehen. Wohin gehen?
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Zum ersten Mal seit Betreten des Friedhofs kam ihm dieser Gedanke. Die Antwort hatte Bill rasch parat. Im Prinzip spielte es keine Rolle, abgesehen von der alten Eiche, an der sich Ray Patton erhängt hatte. Der Weg war ihm von Gilda gut beschrieben worden. Ob er das Ziel jedoch fand, bezweifelte Bill, denn er musste zugeben, dass er nicht alles behalten hatte. Bei dem Begriff Eiche war ihm in den Sinn gekommen, sich umzublicken. Er legte den Kopf in den Nacken, schaute schräg in die Höhe und sah sich die Bäume in seiner Nähe genauer an. Eichen, Kastanien, die bereits ihre dicken, grünen und stacheligen Früchte trugen. Einige lagen bereits am Boden. Da war die Schale aufgeplatzt und hatte den rotbraunen Inhalt entlassen. Er senkte den Kopf wieder - und sah plötzlich die schattenhafte Gestalt in seiner Nähe. Sofort vereiste Bill. Etwas Kaltes rann über seinen Rücken. Er hatte leider nicht genau gesehen, was da passiert war. Es war auch alles zu schnell abgelaufen, er hatte das Wesen nicht mal identifizieren können und wusste auch nicht, ob es ein großes Tier oder ein Mensch gewesen war. Nur getäuscht hatte er sich nicht. Da hatten ihm seine Nerven auch keinen Streich gespielt. Da, wo die Bewegung zu sehen gewesen war, tat sich jetzt nichts. Bis auf das Wippen einiger Buscharme. Genau an ihnen musste die Person vorbeigestreift sein. An seinen eigenen Zustand dachte Bill Conolly nicht mehr. Diese neue Entdeckung hatte ihm auch so etwas wie einen Push gegeben, und jetzt wollte er wissen, wer sich hier noch auf dem Friedhof befand und ihn beobachtete. Mit wenigen langen Schritten hatte Bill die Stelle erreicht, an der die Person verschwunden war. Die Zweige wippten nicht mehr, aber Bill hörte aus dem Busch ein Rascheln und glaubte auch, Schritte zu vernehmen, die sich entfernten. Er bog die Zweige zur Seite, die ihn behinderten und entdeckte tatsächlich einen schmalen Pfad, der so etwas wie ein Wildwechsel im Wald hätte sein können. Hier war es ein Querweg, der zwei breitere miteinander verband und inzwischen zugewachsen war. Es gab in diesem kurzen Stück Wildnis auch keine Gräber mit Steinen. Als Bill sich vorarbeitete, kam er sich wirklich wie in der Wildnis vor. Von der Gestalt sah er nichts. Aber vor ihm bewegten sich ebenfalls Zweige. Zu lange konnte sie dort noch nicht hergelaufen sein, und Bill ging jetzt schneller. Wie nebenbei nahm er wahr, dass er auch in Pfützen trat, deren Wasser hier nicht verdunsten konnte. Er räumte hinderliche Zweige zur Seite, die wieder zurückpeitschten, und entdeckte durch die Lücken einen helleren Fleck. Das war sein neues Ziel. Sekunden später hatte er den Pfad verlassen. Seine Sicht war wieder frei, und er stand tatsächlich am Rand einer Lichtung, die von zwei hohen, auf Sockeln stehenden Engeln bewacht wurde. Beide Figuren hielten jeweils die rechten Arme wie schützend über die Lichtung ausgestreckt. Von ihren Gesichtern war nicht viel zu sehen. Wind und Wetter hatten sie glatt geschabt. Die Figuren waren nicht interessant für ihn. Viel wichtiger war die Person, die dazwischen stand und im Vergleich zu den beiden großen Engeln kleiner wirkte als sie in Wirklichkeit war. Mit ihrem wie blutig roten Mund, der in dem ansonsten totenbleichen Gesicht besonders auffiel, lächelte sie Bill an. Der Reporter wusste sofort, wen er vor sich hatte. Das musste Helena sein! Sie sprach ihn nicht an, und Bill Conolly sagte ebenfalls nichts. Zwischen ihnen war eine gewisse Spannung entstanden, bedingt durch das gegenseitige Belauern. Jeder wartete darauf, dass der andere reagierte, doch zunächst passierte nichts.
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Bill dachte über die Erscheinung nach, und er versuchte dabei herauszufinden, wieso sie so plötzlich hier auf dem Weg hatte stehen können. Er hätte sie sehen müssen, sehen können, aber sie kam ihm jetzt vor, als wäre sie vom Himmel gefallen. Die Frau bewegte sich nicht. Trotzdem strahlte sie etwas ab, das den Reporter erwischte und das er sich nicht erklären konnte. Es war die Aura, die er genau spürte, aber nicht erklärt bekam. Er empfand sie nicht als unübel. Ganz im Gegenteil, diese Aura sorgte bei ihm für eine Öffnung. Er war nicht mehr verkrampft, der Schock hatte sich zurückgezogen. Er konnte mit der Situation besser umgehen. Auch die Starre wich, und der Reporter spürte, wie es durch seine Adern rieselte, was er als das gute Gefühl bezeichnete. Die Spannung wich von ihm. Es ging ihm besser, er wurde lockerer, und er sah die Person jetzt mit den Augen eines Mannes, dem die Attraktivität nicht verborgen bleiben konnte. Helena war eine Schönheit! Man hätte sie auch als Vollweib bezeichnen können. Als eine der Diven, wie es sie im Hollywood der vierziger Jahre des letzten Jahrhunderts gegeben hatte. Dazu passte auch ihr Outfit. Das rote Samtkleid reichte ihr fast bis zu den Knöcheln. Der Ausschnitt ließ nur den Hals und kleine Teile der Schultern frei. Dreiviertellange Ärmel, ein schwarzer Gürtel in der Mitte, der zeigte, wie schmal die Taille war. Der weit geschwungene Rock, das gut sitzende Oberteil, unter dem sich die Brüste abzeichneten. Nichts an dieser Kleidung wirkte obszön. Allein ihr Erscheinen reichte aus, um einem Mann den Atem zu rauben. Im direkten Kontrast standen Haare und Haut. Das Haar war sehr schwarz, die Haut hell, schon bleich, und die Lippen gaben das Rot des Kleides wider. Dunkle Augen, dunkle Brauen, eine schmale Nase und hoch stehende Wangenknochen. In diesem Gesicht gab es keine Bewegung. Die Frau wirkte wie eine Lady aus einer vergangenen Zeit, aber ihr fehlte die Aura der Hochnäsigkeit, sie strahlte einfach nur eine Faszination aus, der sich auch Bill Conolly nicht entziehen konnte. Bill merkte, dass sein Herz schneller schlug. Er hatte eine trockene Kehle bekommen. Er wusste, dass er sein Ziel erreicht hatte, doch er war nicht in der Lage, das zu tun, was er sich vorgenommen hatte. Er hätte ihr die entsprechenden Fragen stellen müssen. Noch vor wenigen Minuten war er bereit gewesen, ihr die Schuld an den Morden zuzuschreiben. Er hätte ihr das auch ins Gesicht geschrien, doch das tat er jetzt nicht. Er dachte nicht mal im Traum daran. So stand er auf der Stelle und hatte alles vergessen, weil der Bann dieser außergewöhnlichen Frau einfach zu stark war. Es interessierte Bill auch nicht mehr, wo sie hergekommen war und was er selbst von ihr gewollt hatte, er schaffte es nicht, sich diesem Bann zu entziehen. Schließlich regte sie sich doch. Ihre Lippen bewegten sich. Sie verzogen sich zu einem Lächeln. Es war eine erste Kontaktaufnahme, die das Eis zwischen ihnen brach. Auch Bill verlor seine starre Haltung. Er war wieder in der Lage, durchzuatmen, und seine Augen bewegten sich. Der Mund verzog sich ebenfalls zu einem Lächeln. Er war auch bereit, ihr eine Frage zu stellen, aber sie kam ihm zuvor. "Hast du mich gesucht?" Das hatte er. Das hatte er sogar aus bestimmten Gründen getan. Er wollte es ihr sagen, ihr die Gründe aufzählen und sie mit den Selbstmorden verbinden, doch Bill brachte kein Wort heraus. Er konnte nur nicken, das war alles. Ansonsten war er nicht mal in der Lage, seinen Mund zu schließen. "Das ist schön. Das ist wunderbar. Darf ich deinen Namen erfahren?" "Bill Conolly heiße ich." "Gut, Bill. Ich bin Helena."
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Er wollte sagen "das weiß ich", doch diese Worte kamen ihm nicht über die Lippen. Hätte er sie gesagt, wäre er sich wie ein Verräter vorgekommen, denn sie wollte ihm ja nicht ans Leben. Sie stand da, als hätte sie auf ihn gewartet. Sie war einfach fantastisch und wirkte allein nur durch ihre Anwesenheit. "Hast du mich gesucht, Bill?" Der Reporter überlegte, was er ihr antworten sollte. Die Wahrheit verschwand bei ihm immer mehr. Er war jetzt sicher, dass er sie Helena nicht sagen konnte. An die Selbstmorde dachte er auch nicht. Die Faszination dieser Person hatte alles andere weit in den Hintergrund gedrängt. "Keine Antwort?" Bill zuckte mit den Schultern. "Dann will ich sie dir geben. Alle suchen mich irgendwie. Alle Männer oder viele sind auf der Suche nach dem Glück, verstehst du? Wer mich einmal gesehen hat, der kann einfach nicht anders als zu mir zu stehen. Er muss immer an mich denken, denn ich bin sein Schicksal. Er würde alles tun, um mich wieder zu treffen." "Ich glaube dir." Sie lächelte wieder und nickte. "Das ist wunderbar, Bill. Da bin ich voll zufrieden. Ich sage dir auch, dass dieser Friedhof ein wunderbarer Ort für mich ist. Ich liebe ihn, ich habe ihn schon immer sehr gemocht, denn hier habe ich viel erlebt. Hier treffen das Diesseits und das Jenseits zusammen. Hier wird gestorben und trotzdem intensiv gelebt, mein Lieber." "Ich verstehe dich." "Das ist gut. Du magst mich, nicht?" "Ja", gab Bill flüsternd zurück. "Es ist wirklich einmalig. Ich habe dich gesehen und jetzt ... " "Willst du mich besitzen." Bill überlegte. Er wusste nicht, ob er Helena seine Wünsche so direkt mitteilen konnte, aber im Prinzip hatte sie Recht. Er hatte sie gesehen, und alles andere war vergessen. Jetzt zählte für ihn nur diese attraktive Frau. "Warum gibst du es nicht zu, Bill?" "Keine Ahnung. Es kam mir nicht so ...“ "Du kannst ruhig ehrlich sein, Bill. Du bist ein Mann, ich bin eine Frau. Männer und Frauen gehören einfach zusammen, das solltest du doch wissen, mein Lieber. Und jeder sollte dem anderen gegenüber ehrlich genug sein, um dies zuzugeben. Ich spüre es. Ich sehe es an deinem Blick, dass du mich besitzen willst. Das ist nun mal so. Daran kann man nichts ändern. Aber das ist nicht nur einseitig, sondern auch bei mir ist es ähnlich. Ich will dich ebenfalls besitzen, Bill. Du sollst der Mann sein, der mich bekommt. Ich will dir gehören, und zwar ganz. Nur dir allein, Bill, verstehst du?" "Ich habe dich gehört." "Willst du mich wiedersehen?" Die Frage kam etwas überraschend für ihn. Er hob die Schultern, wobei er in Wirklichkeit nur nicken wollte. "Trau dich, Bill!" “Ja, Helena, ich will dich sehen. Ich muss dich einfach sehen." "Das ist wunderbar. Es ehrt mich, wenn ein Mann so spricht. Du kannst mich oft sehen. Du kannst mich überall treffen. Du kannst mir folgen, und ich würde mich freuen, wenn du es tust. Es ist einfach wunderbar, wenn zwei Menschen zu einem Paar zusammenwachsen. Hier ist unser Treffpunkt, Bill. Hier wird einiges zusammenkommen, und an diesen Ort werden wir uns immer wieder erinnern." "Sicher."
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"Dann möchte ich dich bitten, zu mir zu kommen, Bill. Komm her. Ich möchte dich berühren. Ich will dich in meine Arme schließen. Du sollst mich spüren, du darfst mich spüren. Überall sogar." Bill hatte alles gehört. Er konnte es nur nicht glauben. Er wunderte sich über sich selbst, dass er innerhalb der letzten Minuten zu einem völlig anderen Menschen geworden war, der alles andere vergessen hatte. Seine Familie, seinen Beruf - all die Basis, auf die er sein Leben bisher gestellt hatte. Er begriff es nicht, aber er war auch nicht in der Lage, darüber nachzudenken, weil sich etwas in seinem Kopf festgesetzt hatte, das alle normalen Gedanken zurückdrückte. Bill hatte nur Augen für diese Frau, die für ihn so anziehend wirkte. Er konnte nicht anders. Im nächsten Augenblick verlor er seine Starre und ging auf Helena zu. "Ja, so ist es richtig", flüsterte sie ihm entgegen. "Komm nur her, mein Lieber. Umarme mich. Ich habe auf dich gewartet, denn du bist der Mann, den ich suchte." Dass sie die gleichen Worte auch anderen gesagt haben könnte, interessierte Bill nicht. Er dachte nicht mal daran, und der Wunsch, sie in den Armen zu halten, wurde übermächtig in ihm. Deshalb ging er auch schneller. Die Umgebung verschwamm vor seinen Augen. Er sah nichts anderes mehr als nur die Person mit dem bleichen Gesicht. Seine Augen hielt er weit offen, und Helena hob mit einer bedächtigen Bewegung beide Arme an, um ihm zu zeigen, wie willkommen er war. Dann war er bei ihr! Endlich! Viel zu lange hatte er gewartet. Arme umschlangen Bill. Er umschlang sie, und aus dem Mund des Reporters löste sich ein seufzendes Geräusch. Er spürte sie. Er genoss den Druck ihres weichen Körpers. Er klammerte sich fest, wie ein Ertrinkender an den Balken. Er strich über ihren Rücken hinweg, und seine Hände liebkosten jede Stelle. Das Blut rauschte in seinen Ohren. Einige Male kam Bill sich vor, als würde er davongetragen. Er schien den Kontakt mit dem Boden verloren zu haben und über den Friedhof hinwegzuschweben. Helena genoss diese Umarmung ebenfalls. Sie bewegte sich leicht. Sie drückte ihren Körper mit bestimmten Bewegungen gegen Bill Conolly. Es sah schon ein wenig obszön aus, aber es war genau das, was der Reporter jetzt brauchte. "Wir beide halten zusammen", flüsterte sie ihm ins Ohr. "Die Ewigkeit wartet auf uns, Bill, verstehst du?" “Ja, ich habe es gehört." Helena drückte ihn von sich weg, um ihm ins Gesicht schauen zu können. "Du bist bereit, mir überallhin zu folgen?", fragte sie ihn und schaute ihm dabei in die Augen, als wollte sie prüfen, ob er es ehrlich meinte. "Das bin ich." "Überallhin?" "Ja." "Auch in die Ewigkeit?" “Für dich ja." "Küss mich!" Bill hatte darauf gewartet. Er hatte sich nicht getraut, doch jetzt gab es kein Halten mehr für ihn. Er drückte seine Lippen auf ihre. Er war wie ein Mensch, der schon lange danach gehungert hatte und dies nun endlich in die Tat umsetzen konnte. Bill saugte sich an diesen Lippen fest, während er seine rechte Hand über den Körper der Frau gleiten ließ. Er fühlte alles, und er stellte fest, dass sie unter dem Kleid nichts trug. Die weichen Schenkel, die Hüften, die Brüste, ihm blieb nichts verborgen, und Helena genoss es ebenfalls. Er raffte ihren Rock hoch, und sie bewegte den Kopf, sodass ihre Lippen abrutschten.
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"Nicht jetzt, Bill, nicht jetzt. Du wirst alles von mir bekommen, aber später. Ich werde dich rufen. Du wirst mich hören und auch sehen können, und ich werde dich dann an das Versprechen erinnern, das du mir gegeben hast." Bill drückte seinen Oberkörper zurück, ohne Helena loszulassen. "Was meinst du damit?" "Hast du es wirklich vergessen?" Bill ärgerte sich über sich selbst. Er wischte über sein Gesicht. Er zog die Nase hoch. Er räusperte sich und quälte sich mit seinen Gedanken ab. Aber ihr Lachen beruhigte ihn. Es klang so wunderbar hell und vertrauensvoll. "Ich weiß, dass viel auf dich eingestürmt ist. Da kann man nicht alles behalten. Aber manches ist auch sehr wichtig, und daran möchte ich dich erinnern." "Bitte, tu es." "Gut, Bill. Du hast versprochen, mich überallhin zu begleiten. Erinnerst du dich?" “Ja, schon." "Darauf setze ich, wenn wir uns wiedersehen." Sie hauchte ihm einen flüchtigen Kuss auf die Lippen, lächelte noch einmal, bevor sie sich drehte und davon ging. Mit hängenden Schritten stand der Reporter auf der Stelle und schaute ihr hinterher. Er konnte sich nicht bewegen. Er stand noch gefangen in diesem Traum, schaute auf den Rücken der Frau und sah, dass sie zwar noch auf dem Weg blieb, doch dorthin ging, wo er nicht mehr vorhanden war. "He, du musst ... " Es war nicht mehr nötig, dass er Helena etwas nachrief, denn sie war plötzlich weg. Abgetaucht. Verschwunden. Aufgelöst. Zwischen zwei Baumstämmen und einem dichten Busch. Bill blieb wie ein begossener Pudel auf der Stelle stehen und schaute ins Leere. Allmählich kehrte die Wirklichkeit zurück, und er fragte sich, ob er einen Traum oder die Wahrheit erlebt hatte. Er drehte sich um. Bill fühlte sich matt und zugleich aufgewühlt. Er brauchte jetzt Ruhe, um nachdenken zu können und um wieder zu sich selbst zu finden.. Bevor er ging, schaute er sich in der Umgebung noch genauer um, ohne Helena allerdings zu sehen. Und wieder stellte er sich die Frage, ob er alles geträumt hatte. Bill wusste es nicht. Aber die Zeit arbeitete für ihn. Irgendwann in den folgenden Minuten erinnerte er sich wieder daran, weshalb er überhaupt auf den Friedhof gekommen war, und wusste jetzt auch, dass er seinen Wagen genommen hatte. Er hatte sich den Ort anschauen wollen, an dem Ray Patton sich umgebracht hatte. Und nun? Bill wusste keine Antwort. Es war alles dicht. Er war fremd. Er konnte niemanden fragen, und die Natur umgab ihn wie eine dichte Mauer aus Schweigen. Dass er zu seinem Wagen ging, bekam er kaum mit. Er war so in Gedanken versunken, dass er fast gegen den Porsche geprallt wäre. Bill erwachte wie aus einem tiefen Schlaf, drehte den Zündschlüssel unschlüssig in der Hand, als wollte er es sich noch mal überlegen, wieder nach Hause zu fahren. Schließlich hatte er den Entschluss gefasst. Er stieg in den Renner und fuhr los. Zu Hause warteten Sheila und Gilda auf ihn. Sie hatten ein Recht darauf, zu erfahren, was er entdeckt hatte. Nichts ... Die Begegnung mit Helena war aus seinem Gedächtnis verschwunden ...
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Lebendig begraben! Diese Horrorvorstellung schoss mir durch den Kopf, und sie würde zutreffen, wenn die Tür zufiel, noch bevor ich sie erreichte. Ich wusste nicht, ob sie von innen zu öffnen war. Einen Griff hatte ich nicht gesehen, und wenn sie bündig mit der Wand abschloss, gab es nichts, an dem ich sie aufziehen konnte. Noch war sie nicht zu. Noch hatte ich eine Chance. Es war mir auch egal, wer sich dafür verantwortlich zeigte, ich wollte nur raus und das so schnell wie möglich. Wie ein Wiesel hetzte ich durch die Gruft. Nur nicht ausrutschen, dann war alles verloren. Ich musste die verdammte Tür erreichen, bevor sie endgültig zufiel. Es war bei mir kein normales Laufen, es waren gewaltige Sprünge, die mich voranbrachten, und ich sah, dass sich meine Chancen verringerten. Das war nicht mehr zu schaffen. Die Tür würde zufallen, bevor ich sie erreichte. Da sah ich den Sargdeckel! Innerhalb eines Sekundenbruchteils schoss mir die Idee durch den Kopf. Ich hoffte, dass es die rettende war. Wie ich es schaffte, den Deckel in die Höhe zu bekommen, wusste ich nicht, aber ich hatte es vollbracht und ließ ihn über den Boden rutschen, und zwar genau auf den Spalt zu. Packte er es? Ich lief ihm nach. Er prallte gegen die Wand, drehte sich und rutschte tatsächlich in den noch vorhandenen Spalt hinein, wo er sich festkantete und dem ersten Druck der zufallenden Tür widerstand. Ich brauchte nur Sekunden, und die hatte ich bekommen, denn wenig später war ich an der Tür und konnte sie festhalten. Der Spalt war nicht groß genug, um mich durchzulassen. Ich nahm beide Hände zu Hilfe und erweiterte ihn. Dann verließ ich die Gruft! Die Freude darüber, dass ich es geschafft hatte, ließ mich im Moment vergessen, dass es ja jemanden gab, der die Tür zugedrückt hatte. Ich wusste nicht, wer es gewesen war. Nach Atem ringend ging ich einige Schritte vor und schaute mich in der Gegend um. Natürlich. Die unbekannte Person hatte das Weite gesucht. Oder befand sich in der Nähe in guter Deckung, von der aus sie mich beobachten konnte. Ich fühlte mich an der Nase herumgeführt, aber ich wusste jetzt, dass dieser verdammte Friedhof ein Geheimnis verbarg, und dass dieses Geheimnis möglicherweise auf den Namen Helena hörte, denn es konnte durchaus sein, dass sie es gewesen war, die die Tür von außen zugedrückt hatte. Allerdings verhielt sie sich sehr schlau und wartete zunächst ab. Ich hoffte, dass sie einen zweiten Angriff versuchen würde, doch da hatte ich mich geirrt. Es vergingen drei, vier Minuten, und ich blieb allein. Niemand zeigte sich, niemand sprach mich an, und das würde auch so bleiben. Die unbekannte Person hatte eine Niederlage erlitten. Sie würde sich zurückziehen und abwarten. Luft holen. Wieder zu sich selbst finden, um dann einen neuen Angriff zu versuchen.
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Dass es sie gab, war keine Einbildung, denn die Tür war nicht von allein zugefallen. Ich hatte sie ja gesehen, auch wenn es nur ein Huschen gewesen war. Die Ruhe hier auf dem Friedhof würde sehr bald vorbei sein. Ich konnte den Toten nicht in der Gruft liegen lassen und rief deshalb die Kollegen von der Mordkommission an. Was danach passierte, das stand in den Sternen ...
"Mein Gott", sagte Sheila, als sie die Tür öffnete, "wir haben uns wirklich Sorgen um dich gemacht." Bill lächelte seine Frau an. "Warum?" "Du hast dich nicht gemeldet." "Doch, ich habe angerufen." "Zu wenig, Bill." “Tut mir Leid, Sheila. Es wird auch nicht mehr vorkommen, aber jetzt lass mich durch." Das tat sie noch nicht. "Deiner Miene entnehme ich, dass du keinen Erfolg erreicht hast." Er hob nur die Schultern. "Was willst du denn Gilda Patton sagen?" Bill runzelte die Stirn. "Ist sie denn noch bei uns?" “Ja, sie ist noch hier." "Ich weiß es auch nicht. Ich ... ich ... kann sie leider nicht trösten. Es war ein Flopp." "Dann sag ihr das selbst." Der Reporter betrat das Haus. Er gab sich gelassen. Er hatte sich gut unter Kontrolle, und er dachte auch nicht mehr an die Begegnung mit der schönen Helena. Sie war aus seinem Denken getilgt worden. Die Frauen hatten es sich im Wohnzimmer bequem gemacht. Als Bill eintrat, drehte ihm Gilda das Gesicht zu. Aus großen Augen schaute sie ihn an. Die Frage brauchte sie erst gar nicht zu stellen, denn Bill fiel direkt mit der Tür ins Haus. "Tut mir Leid, Gilda, aber ..." "Du hast es nicht geschafft!" Bill ließ sich in einen Sessel fallen. "Ich weiß nicht, was du dir erhofft hast, Gilda, aber ich sage mal nein." "Das ist schlecht." Der Kommentar stammte von Sheila, die den Raum betrat. "Sogar sehr schlecht." Auch sie nahm Platz und trank einen Schluck Kaffee. Gilda senkte den Kopf. Sie kämpfte plötzlich mit den Tränen. "Und dabei bin ich mir so sicher gewesen", flüsterte sie, "so verdammt sicher. Ich habe wirklich Hoffnungen auf dich gesetzt, und jetzt stehe ich dort, wo ich immer schon gestanden habe. Es gibt keine Beweise, die wir der Polizei präsentieren können. Es bleibt also bei dem Selbstmord." "Hattest du denn etwas anderes gedacht?", erkundigte sich Bill.
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"Zumindest hatte ich herausfinden wollen, ob man Ray in den Selbstmord getrieben hat. Das wäre doch ein Erfolg gewesen. Und Ray ist ja nicht der einzige Tote gewesen. Es gab vier Menschen, die auf dem Friedhof ihrem Leben ein Ende bereitet haben. Auch jetzt bin ich noch sicher, dass dahinter Methode steckt." "Das mag sein, Gilda, aber ich habe leider nichts anderes herausfinden können." Sie schaute ihn an. "Bist du dort gewesen, wo sich Ray umgebracht hat?" "Ja ...“ "Hinweise? Spuren?" "Leider nicht." "Danke." Sie hatte leise gesprochen, schluckte wieder und schaute ins Leere. "Dann wird der Tod meines Bruders wohl für immer ein Rätsel bleiben. Ebenso wie diese geheimnisvolle Helena." Sie zuckte die Achseln. "Es kann auch sein, dass sie nur eine Traumfigur gewesen ist. Davon gehe ich inzwischen aus. Es gibt sie nicht. Sie war ein Wunschbild, dem Männer nachjagten, um sich umzubringen." "Glaubst du daran wirklich?" "Ja, Bill." Gilda Patton lächelte verkrampft. "Jedenfalls möchte ich mich bei dir bedanken, weil du dir die Mühe gemacht hast und zum Friedhof gefahren bist. Aber ich gehe davon aus, dass es nicht der letzte Selbstmord gewesen ist, der dort passierte. Es wird weitergehen, daran glaube ich fest." Sheila mischte sich ein. "Man kann den Friedhof auch nicht von der Polizei überwachen lassen, Gilda. Das bekommen wir nicht durch. Da müsste selbst unser Freund John Sinclair passen." "Kann sein", flüsterte sie. "Aber wie wäre es, wenn ihr ihm Bescheid geben würdet?" Sheila wollte schon zustimmen, doch Bill kam seiner Frau zuvor. "Nein, dafür bin ich nicht. Wir haben wirklich nichts in der Hand. Dass sich vier Menschen auf einem Friedhof das Leben genommen haben, das ist zwar tragisch, aber kein Fall für Scotland Yard. Da müssen wir schon mit Beweisen kommen." Gilda hatte die Antwort gehört. Es fiel ihr allerdings schwer, sie zu akzeptieren, und sie blickte Sheila an, weil sie sich von ihr Unterstützung erhoffte. Doch Sheila schüttelte den Kopf und meinte dann: "Ich fürchte, dass Bill Recht hat. Es ist einfach zu wenig. Und auch diese geheimnisvolle Helena ist nichts anderes als eine Spukerscheinung." "Aber sie ist keine Einbildung!", rief Gilda Patton. "Ich kenne meinen Bruder. Er lügt nicht. Er ... er ... war ein Mensch, der verdammt unterscheiden kann. Das müsst ihr verstehen. Es gibt diese Person, Bill, davon bin ich überzeugt, auch wenn du sie nicht zu Gesicht bekommen hast. Aber der Friedhof ist groß. Da muss man sich nicht unbedingt begegnen. So sehe ich das jedenfalls." Sheila wartete, ob Gilda noch etwas hinzufügen wollte. Als sie das nicht tat, stellte sie ihre Frage. "Willst du dich denn auch weiterhin noch engagieren?" “Ja, Sheila. Das lasse ich nicht auf sich beruhen. Ich muss einfach etwas tun. Nicht heute, vielleicht morgen oder übermorgen. Ich habe den Druck im Magen. Der Druck ist verdammt groß, und ich werde damit nicht immer leben können." "Bitte nichts überstürzen, Gilda. Nicht alles klappt beim ersten Anlauf." Sie schaute ihren Mann an, der schwieg: "Es ist möglicherweise doch besser, wenn wir John in den Fall mit einbeziehen." Bill war einverstanden. "Wenn du das meinst, soll er sich den Friedhof morgen früh mal anschauen." "Warum erst morgen?" "Das kann ich dir sagen. Heute ist es schon zu spät. Ich möchte ihn nicht im Dunkeln auf den Friedhof schicken, verstehst du?"
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"Schon", gab Sheila zu. "Obwohl ich immer an diese geheimnisvolle Helena denken muss. Es kann doch sein, dass dein Bruder sich mit ihr auch in der Nacht getroffen hat. Oder nicht?" Sie sah Gilda fragend an. Gilda war überfragt. "Darüber hat er mir nichts gesagt. Ob in der Nacht oder am Tag. Sie haben sich jedenfalls getroffen, und irgendwann hat Ray sich erhängt. So sieht es nun mal leider aus. Ich kann ja auch nicht mehr sagen, als ich weiß. Aber dieser John Sinclair, über den wir ja gesprochen haben, Sheila, ist er wirklich so etwas wie die letzte Rettung?" Sheila musste lächeln. "Nein", sagte sie dann, "das ist er natürlich nicht. Aber er ist ein Mann, der sich mit schon unerklärlichen Phänomen beschäftigt, und er hat auch viele Erfolge erringen können, das muss ich schon zugeben." “Ja, ja", sagte Gilda Patton und nickte, "wenn mich nicht alles täuscht, hat mein Bruder den Namen mal erwähnt, aber das war mehr nebenbei gewesen." "Dann sind wir uns ja einig", meinte Sheila. Gilda Patton nickte. Dabei schaute sie auf ihre Uhr. "Dann werde ich jetzt gehen, und ich möchte mich noch einmal für die Hilfe und das Verständnis bedanken. Die meisten Menschen hätten mich ausgelacht und mich als Spinnerin abgewiesen. So ist es mir ja auch bei der Polizei ergangen. Nach wie vor bin ich davon überzeugt, dass diese geheimnisvolle Helena existiert, auch wenn sie so etwas wie eine Geisterfrau ist." "Wir werden es herausfinden." Die Conollys brachten ihre Besucherin noch bis zur Tür und winkten ihr nach, als sie durch den großen Vorgarten auf das offene Tor des Grundstücks fuhr. Als Sheila sich umdrehte und ins Haus ging, sagte sie mit leiser Stimme: "Gilda Patton tut mir Leid, Bill, das muss ich sagen. Ich habe das Gefühl, dass wir erst am Anfang eines Falls stehen, der schon lange abläuft und nur nicht bemerkt wurde." Der Reporter schloss die Haustür. "Kann sein. Ich jedenfalls habe sie nicht gesehen." Die Conollys gingen wieder zurück in das geräumige Wohnzimmer. "Was hast du überhaupt gesehen, Bill?" Vor der Scheibe war er stehen geblieben. Er schaute nach draußen und sah schon die ersten Blätter, die von den Bäumen gefallen waren und auf dem Rasen lagen oder auf der Oberfläche des Pools schwammen. Er dachte daran, das Wasser rauszulassen, denn bei diesen Temperaturen kam es keinem Menschen in den Sinn, ein Bad zu nehmen. "Zu wenig, Sheila.“ "Damit kann ich nichts anfangen." "Nichts." "Genauer.“ "Keinen Menschen. Ich befand mich allein auf dem Friedhof. Mir ist niemand über den Weg gelaufen." “Findest du das nicht seltsam?", fragte sie. "Normalerweise wird ein Friedhof von Spaziergängern benutzt. Gerade bei einem solchen Wetter wie heute, wo man wirklich gehen kann und keine Angst haben muss, von Regenschauern überrascht zu werden." Bill drehte sich wieder um. "Es ist aber so, wie ich es dir gesagt habe." "Kein Problem, das glaube ich dir. Trotzdem ist es mir komisch." Ihre Lippen kräuselten sich. "Ich habe dabei wirklich ein komisches Gefühl, das muss ich schon sagen." "Wenn du meinst." "Du nicht."
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"Nein, Sheila. Du hättest dabei sein müssen. Ich habe mich auch über die Leere auf dem Friedhof gewundert, aber das ist nun mal so, und ich kann es auch nicht ändern." "Aber wir bleiben dran." Bill musste lachen und sagte danach: "He, so kenne ich dich ja gar nicht. Sonst bist du dagegen, wenn ich mich um einen Fall kümmere." "Das weiß ich. Aber hier ist es anders. Irgendwie fühle ich mich persönlich betroffen." "Warum?" "Ich hasse diese Helena. Verstehst du? Ich hasse sie. Sie muss schlimm sein, wenn sie wirklich dafür gesorgt hat, dass Männer sich ihretwegen umbrachten. Und dass sie durch den Tod der Menschen Leid über deren Freunde und Verwandte gebracht hat, das kommt noch hinzu. Für mich ist sie keine normale Frau." "Was ist sie dann?" "Das weiß ich nicht. Dir muss ich doch nicht extra sagen, was es für Gestalten gibt. Und wenn ich ehrlich bin, verstehe ich dich auch nicht so recht, Bill.“ "Oh, was habe ich denn jetzt schon wieder getan?" Sheila hatte einen misstrauischen Blick bekommen. "Es geht mir um dein Engagement.“ "Na und?" Sie wirkte etwas verlegen. "Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll. Aber du kommst mir in diesem Fall so wenig engagiert vor. Das ist sonst immer anders gewesen. Da konntest du nicht schnell genug auf den Zug aufspringen." "Die Antwort ist ganz einfach." "Ich höre." "Sonst gab es mehr Fakten." "Hör auf, wir haben vier Tote ...“ "Selbstmörder, Sheila ", erklärte Bill und schüttelte den Kopf. "Es sind Menschen, die freiwillig aus dem Leben geschieden sind. Du weißt selbst, dass deren Zahl zunimmt. Sollen wir uns um jeden Selbstmörder kümmern? Das kannst du nicht im Ernst verlangen." Sie hob einen Finger wie eine Lehrerin, die einem Schüler etwas erklären will. "Du hast nicht hundertprozentig Recht, Bill. Ich gehe davon aus, dass die Männer in den Selbstmord getrieben worden sind. Und zwar von ein- und derselben Frau." "Die allerdings niemand von uns bisher gesehen hat", warf Bill ein." Sie ist nach wie vor ein Phantom." Sheila sagte nichts. Sie schaute ihren Mann nur länger als gewöhnlich an. "Ich habe das Gefühl, Bill, dass du mich nicht begreifen willst. Ich weiß nicht, was auf dem Friedhof passiert ist, aber als du von hier abgefahren bist, da lagen die Dinge anders. Da bist du wesentlich engagierter gewesen." "Stimmt. Nur bin ich jetzt schlauer geworden, und das darfst du nicht vergessen. Aber wie dem auch sei, wir werden uns morgen früh mit John Sinclair in Verbindung setzen, und ich bin gespannt, wie er den Fall angehen wird." "Mir wäre zwar heute Abend lieber, aber was soll's? Ich werde dir den Gefallen tun." "Danke." Sheila schüttelte nur den Kopf.
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Ich war am späten Nachmittag wieder nach Hause gefahren und dachte darüber nach, dass der Tag verdammt frustrierend verlaufen war. Die Kollegen der Mordkommission hatten den toten Eric Caine weggeschafft, ich hatte meine Aussage gemacht und auch ein Protokoll unterschrieben. Man war auch froh darüber gewesen, dass der Fall in meinen Händen blieb. Und diese Rückendeckung hatte ich mir durch einen Anruf bei meinem Chef, Sir James, geholt. Suko war ebenfalls zu Hause. Ich ging zu ihm rüber, und er grinste mich an. "Schönen Tag gehabt?" “Ja, auf dem Friedhof." "Setz dich. Du siehst frustriert aus." "Gutes Auge." "Und jetzt willst du deine Probleme loswerden." "Nicht so eilig. Sie könnten auch zu deinen werden, wenn man es genau nimmt." "Okay, ich bin ganz Ohr." Das war er auch, hörte zu und schüttelte einige Male den Kopf. Erst als ich berichtete, dass mich die Gruft fast verschluckt hätte und ich mit dem toten Eric Caine allein geblieben wäre, funkelte es in seinen Augen. Er sagte: "Also doch." "Was meinst du?" "Es gibt diese geheimnisvolle Frau." “Ja und nein. Ob es wirklich eine Frau ist, kann ich dir nicht mit Bestimmtheit sagen, aber ich gehe mal davon aus, wenn ich Caines Aussagen Glauben schenken darf. Sie ist eine Person, die mich hat töten wollen." "Warum?" "Ganz einfach. Sie wollte nicht, dass man ihr auf den Fersen bleibt. Und wenn du dir das Grabmal dieser Helena Ascot anschaust, dann wirst du staunen, denn das Dach gleicht einer Pyramide." "Weißt du mehr über die Person?" "Nein. Registriert ist sie nicht. Außerdem scheint sie lange tot zu sein, und ich hatte bisher auch keine Zeit, mich um den Namen Ascot zu kümmern. Nur kann sie nicht zu den ärmsten Menschen gezählt haben, Suko, sonst hätte man ihr nicht dieses Grabmal geschaffen. Sie hatte bestimmt ihre interessante Geschichte." "Wer könnte da helfen?" "Ich dachte an Lady Sarah." “Ja, versuch es." Für uns war die Horror-Oma ein Lexikon auf zwei Beinen. Alles, was nicht in den normalen Rahmen des Lebens hineinpasste, war für sie mächtig interessant. Danach hatte sie geforscht, gesucht und auch vieles gesammelt. Magie, Okkultismus, Esoterik, sanfter und starker Schrecken. Geschichte, Frühgeschichte, Sagen und Legenden, es gab kaum etwas, über das Lady Sarah nicht das entsprechende Material besaß. Dazu zählten auch Namen von Menschen, die aufgefallen waren. Ich rief sie an. Es war wie immer. Zuerst hörte ich mir ihre Beschwerden an, weil ich so lange nichts mehr von mir hatte hören lassen, dann schimpfte sie darüber, dass ich sie in meine Arbeit so wenig einweihte, und schließlich konnte sie ihre Neugierde nicht mehr bremsen. "Du kommst mal wieder nicht weiter, John. Was also kann ich für dich tun?" "Das siehst du genau richtig." "Sag schon." "Es geht um eine Frau, von der ich nicht weiß, wie sie aussieht. Wobei ich davon ausgehe, dass sie trotzdem mal existiert hat, jetzt aber tot ist, denn ich habe ihr Grabmal gefunden. Die Frau heißt Helena Ascot, und es kann sein, dass sie in ihrem Leben irgendetwas mit dem Land Ägypten zu tun gehabt hat."
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"Sonst noch was?" "Nein, das ist alles." "Dann werde ich mal nachschauen." "Danke, das ist lieb." Inzwischen war auch Shao erschienen. Sie brachte frischen Tee mit. Suko erzählte ihr, in was ich da hineingerutscht war, und dass er beim Münzwurf verloren hatte. "Muss auch mal sein", sagte Shao. "He, rede nicht so. Das Dableiben hat mich schon geärgert, denn ich habe einige Stunden damit verbracht, Sir James zuzuhören. Er musste eine Statistik über unsere Fälle erarbeiten. Du glaubst gar nicht, welch eine Laune er hatte.“ "Warum musste er das denn tun?" "Anordnung von oben. Es geht mal wieder um das Geld. Angeblich soll London endlich mehr Polizisten bekommen, und da müssen so einige Fakten auf den Tisch kommen." Ich winkte ab. "Da möchte ich nicht in der Haut von Sir James stecken. Die schauen ja auf jeden Cent." "Worauf du dich verlassen kannst. Sogar die Spesenabrechnungen werden überprüft. Man will irgendwo einsparen, um andere Dinge damit zu finanzieren. Aber das alles dauert noch Wochen, wenn nicht Monate. Jedenfalls haben die Beschwerden über zu wenig Polizisten zugenommen, ebenso wie die Raubüberfälle. Da nicht nur Touristen, sondern auch einige Promis davon betroffen sind, hat man sich endlich zu Gegenmaßnahmen entschlossen. So läuft es." "Mal sehen, wo es endet." Das Telefon meldete sich. Ich hob ab und musste erst gar nichts sagen, denn ich hörte Sarahs Stimme. "Wenn du mich nicht hättest, John, dann sähe es böse aus." "Aber das weiß ich doch." "Gut, mein Lieber. Es gibt tatsächlich diese seltsame Frau, namens Helena Ascot." "Super." "Warte erst mal ab. Sie war eine Person, die sich schon im neunzehnten Jahrhundert emanzipierte und ihren eigenen Weg ging. Als Wissenschaftlerin, denn sie war tatsächlich jemand, der in Ägypten forschte und dort auch Erfolge erzielte. Sie hat Expeditionen begleitet. Sie hat Pyramiden und andere Gräber untersucht, und sie ist schließlich nach England zurückgekehrt, wo sie ihre Erlebnisse als Tagebücher aufgeschrieben hat. Besonders die ägyptische Magie hat sie beschäftigt, und angeblich soll es ihr gelungen sein, Wissen über den Tod zu bekommen und auch über die Wege ins Jenseits. Ob man ihr geglaubt hatte, weiß ich nicht, aber man hat ihr einen letzten Wunsch erfüllt und ein Grabmal errichtet, dessen Dach die Form einer Pyramide besitzt." "Das habe ich gesehen." "Sehr gut." "Gibt es noch etwas, was du zu sagen hast?" Da lachte die Horror-Oma. "Diese Helena Ascot muss eine sehr schöne Frau gewesen sein, und sie hat ihre Schönheit auch eingesetzt. Die Männer lagen ihr zu Füßen. Das nutzte sie aus. Sie war wirklich eine Femme fatale, und man sagte ihr nach, dass sie die Kraft der Männer dazu benutzt hat, um ihr Leben zu verlängern. Einige, die mit ihr Kontakt gehabt hatten, sind gestorben.“ "Weiß man, wie?" "Nichts Genaues wurde überliefert. Aber man hat es nie geschafft, Helena zur Rechenschaft zu ziehen. Da ist sie schon schlau gewesen und hat sich aus der Affäre gezogen." "Stark."
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"Was meinst du damit?" "Nun ja, heute ist es nicht anders gewesen." "Ach", staunte Lady Sarah. "Es gibt sie noch?" "Ich hoffe nicht, aber ich kann es leider nicht ausschließen. Damit müssen wir leben." "Das ist natürlich interessant, John. Wenn du weitere Hilfe brauchst, sag es. Wir könnten gemeinsam ... " "Nein, nein, auf keinen Fall, Sarah. Ich bin dir dankbar, weil du mir sehr geholfen hast. Das geht schon in Ordnung, wirklich. Lass dir mal keine grauen Haare wachsen." "Die habe ich schon." "Nochmals vielen Dank. Ich melde mich dann bei dir, wenn ich mehr erfahren habe." Rasch legte ich auf, sonst fand Sarah nie ein Ende. Shao und Suko waren recht ernst geworden. Sie hatten das Gespräch über Lautsprecher mitgehört. "Dumme Frage, John, was unternehmen wir?" Ich blickte Suko an und runzelte die Stirn. "Auf dem Friedhof bin ich gewesen. Ich habe sie auch irgendwie gesehen, denn wer sonst hätte mich einsperren sollen? Aber ich glaube nicht, dass es viel Sinn hat, wenn wir den Friedhof jetzt besuchen. Ich würde bis morgen damit warten." "Und dann?" "Durchkämmen wir das Gelände und untersuchen das Grabmal. Wobei ich kaum glaube, dass sie es als Versteck benutzt, jetzt, wo man sie entdeckt hat." "Du denkst falsch!“ "Wieso?" "Ich würde an deiner Stelle jetzt hinfahren. Und zwar mit mir zusammen. Oder mitten in der Nacht starten, denn sie wird sich bei Dunkelheit sicherer fühlen." Ich senkte den Kopf, was Suko zum Lachen brachte und auch zu einer Frage. "Habe ich Recht!" "Dann stimmst du also zu?" "Bleibt mir was anderes übrig?" "Doch. Du kannst mir das Ding überlassen." "Genau das werde ich nicht tun", sagte ich und stand auf. "Zuvor allerdings möchte ich mich etwas aufs Ohr legen, denn die Nacht kann verdammt lang werden ...
Es war ein Abend gewesen, der Bill und auch Sheila nicht gefallen hatte. Beide waren einfach zu unterschiedlicher Meinung gewesen. Sheila war der Ansicht, dass Bill den Fall irgendwie als zu harmlos ansah. Sie jedenfalls traute der Frau nicht und wollte auch den Begriff Frau nicht akzeptieren. Für sie war diese Person keine Frau, sondern eher ein gefährliches Phantom. Bill hatte immer wieder abgewiegelt und davon gesprochen, dass nichts bewiesen war. "Verdammt, warum verteidigst du sie denn?" "Das tue ich nicht."
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"Doch, Bill, und das kommt mir schon seltsam vor. Irgendetwas verschweigst du mir." "Was sollte ich dir denn verschweigen?" "Das musst du doch wissen." Er schüttelte den Kopf. "Ich kann dir wirklich keine Erklärung geben, Sheila." "Gut, wie du meinst. Dann werde ich auf jeden Fall morgen früh mit dir zu diesem Friedhof fahren. Mittlerweile bin ich verdammt neugierig geworden." "Das kannst du gern." Nach diesem Vorsatz war Sheila zu Bett gegangen. Bill hatte sich noch in sein Arbeitszimmer zurückgezogen und einen doppelten Whisky getrunken. Danach war er ebenfalls zu Bett gegangen, aber er hatte auch feststellen müssen, dass seine innere Unruhe nicht verschwunden war. Sheila schlief schon, und Bill legte sich neben sie. Ein fast voller Mond schickte seinen Schein gegen das nicht durch ein Rollo verdeckte Fenster und verteilte Lichtstreifen noch fast bis zum Bett. Bill lag auf dem Rücken. Neben ihm atmete Sheila ruhig und regelmäßig. Das hätte er sich auch für sich gewünscht, aber er musste sehr schnell feststellen, dass es nicht möglich war. Er konnte keinen Schlaf finden. Die Gedanken drehten sich zu stark in seinem Kopf, und sie beschäftigten sich nur mit einer Person, die wieder zurückkehrte in Bills Erinnerung. Es ging um Helena! Ihr Bild verschwand einfach nicht vor seinen Augen. Er sah es immer wieder vor sich. Er erlebte die Umarmung mit ihr und hatte das Gefühl, ihre Brüste unter dem roten Kleiderstoff in seinen Handflächen zu spüren. Er wollte sich von diesen Gedanken trennen, doch sie steckten einfach zu tief in ihm. Er musste zugeben, dass eine andere Person es geschafft hatte, ihn zu manipulieren. Helena! Plötzlich war diese Frau die Größte für ihn. Er konnte sich nicht von ihr lösen. Immer wieder erlebte er die Szene auf dem Friedhof, und seine eigene Frau hatte er vergessen. Bill wollte einfach zu ihr. Die Sehnsucht nagte an ihm wie die Zähne einer Ratte am Käse. Er konnte sich nicht von ihr lösen, und er wusste zugleich, dass sie auf ihn wartete. Da gab es nur einen bestimmten Ort, zu dem er gehen konnte. Er blieb auch nicht ruhig liegen. Immer wieder zog er die Beine an und streckte sie wieder aus. Der Kopf wurde wie fremdbestimmt in eine Richtung gedreht, sodass er immer wieder auf das Fenster schaute, in dem das Mondlicht zu finden war. Es musste eine helle Nacht sein. Eine Nacht wie geschaffen, um jemanden zu treffen. Bill merkte, dass man ihn lockte. Er wehrte sich auch nicht mehr dagegen, denn die Sehnsucht verstärkte sich immer mehr. So drehte er sich dann zur Seite, streckte die Beine über die Bettkante und stand sehr leise auf. Bill ging nicht zum Kühlschrank und setzte sich auch nicht vor den Fernseher, um sich abzulenken. Er hatte etwas ganz anderes vor. Mit kaum hörbaren Schritten betrat er das Bad, wo er seine Kleidung abgelegt hatte. Die war wichtig, denn in den kurzen Hosen des Schlafanzugs wollte er das Haus nicht verlassen. Für Bill zählte nur, dass seine Frau nicht erwachte. Den Rest würde er schon erledigen.
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Er warf einen letzten Blick zurück in das Schlafzimmer und war beruhigt. Sheila lag noch immer auf dem Rücken und atmete so wunderbar gleichmäßig. Da gab es keine Anzeichen dafür, dass sie sehr bald erwachen würde. Im Bad zog er sich an. Er brauchte kein Licht dazu. Das Mondlicht schien hier schräg durch das Fenster und verteilte sich als blasser Schein auf den Fliesen. Der Druck in ihm verstärkte sich zusehends. Das heißt, Bill empfand es nicht zu stark als Druck. Es war vielmehr eine Lockung und zugleich eine tiefe Sehnsucht, die ihn erfasst hatte. Er sah nur die schöne Frau. Sie hatte ihn innerhalb dieser kurzen Zeit völlig geblendet und aus dem inneren Gleichgewicht gebracht. Er würde sie wiedersehen, schon in dieser Nacht und an der gleichen Stelle. Bill verließ das Bad durch den zweiten Ausgang. Im Flur blieb er für einen Moment stehen und dachte an Johnny, seinen Sohn. Er war zum Glück nicht im Haus und übernachtete bei Freunden. So brauchte er sich nicht um irgendwelche Störungen zu kümmern. Ebenso leise wie er sich in der Wohnung bewegt hatte, schlich Bill auch durch das Haus. Draußen atmete er zum ersten Mal nach langer Zeit wieder durch. Auf seine Lippen legte sich ein Lächeln, und seine Augen funkelten. Er hatte jetzt freie Bahn. Endlich. Er konnte vergessen, was hinter ihm lag, und an die nahe Zukunft denken, die einen einzigen Namen hatte - Helena! Diese Frau, dieses Prachtstück. Dieses Wunder der Natur. Das enge Kleid, das ihre Figur umschnürte und ihre prallen Formen nicht verdeckte. Er war ihr hörig geworden, und dafür hatten nur wenige Minuten ausgereicht. Ein Wunder. Ein Blitzstrahl der Leidenschaft, und Bills Hände zitterten, als er die Tür zu seinem Porsche aufschloss. Jetzt war es ihm egal, ob Sheila nun erwachte oder nicht. Er würde weg sein. Er würde zu ihr gehen und nicht mehr zurückkehren. Bill wollte bei Helena bleiben. Er würde ihr überallhin folgen, um dann mit ihr richtig zu leben. Hineinfallen in einen Taumel, aus dem es so leicht kein Entrinnen mehr gab. Das Geräusch des Motors hörte sich in der Nacht viel lauter an als sonst. Egal, es war nicht zu ändern. Bill drehte auf dem geräumigen Platz vor der Garage und rollte den Weg hinab durch den Vorgarten auf das Tor zu, das er mittels der Fernbedienung öffnete. Wie starre Geister stachen die Lichter der Scheinwerfer in die Nacht, als der Reporter mit quietschenden Reifen die Kurve nahm und davonraste. Einfach weg aus seinem bisherigen Leben...
Das Raubtier war da. Es setzte zum Sprung an, und sein gewaltiges Brüllen erreichte ihre Ohren. Sheila Conolly schreckte hoch! Es war ein schlimmer Traum, der sie erwischt hatte, und das Brüllen klang ihr jetzt noch in den Ohren nach. Zwar war sie schlaftrunken, aber zugleich war sie hellwach, und ihr Wahrnehmungsvermögen arbeitete wieder auf Hochtouren. Da brüllte kein Raubtier. Das war ein ganz anderes Geräusch. Und es war ihr nicht unbekannt. So hörte sich Bills Porsche an, wenn er gestartet wurde. Himmel, Bill!
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Da schrien die Gedanken in ihr. Sie machte Licht, wälzte sich zur Seite und sah ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Das Bett neben ihr war leer. Für einen Moment hatte Sheila das Gefühl, in ein bodenloses Loch zu fallen. Alles um sie herum rückte weg. Panik stieg in ihr auf. Aber sie bekam das Gefühl in den Griff, und sie wusste jetzt glasklar, dass es um Bill ging. Während sie aus dem Bett sprang und sich mit dem Ankleiden beeilte, schossen ihr weitere Gedanken durch den Kopf. Sie hatte geahnt, dass mit Bill etwas nicht stimmte. Er musste auf dem Friedhof etwas erlebt haben, was zu dieser Veränderung geführt hatte. Die Frau - Helena! Es war klar, was sie zu tun hatte. Es ging um ihren Mann, und sie wollte nicht, dass noch ein fünfter Selbstmord geschah. Mit langen Schritten eilte sie wenig später aus dem Haus zu ihrem Wagen und hatte nur ein Ziel den Friedhof ...
Suko schüttelte den Kopf, als er aus dem Wagen stieg. “In dieser Düsternis willst du dich zurechtfinden?" Ich schloss den Wagen ab. "Klar. Außerdem scheint der Vollmond, und ich bin schon mal hier gewesen, das darfst du nicht vergessen." "Okay, versuchen wir es." Unsere Stimmen waren die einzigen Laute, die die Stille unterbrachen. Ansonsten umgab uns wirklich eine Totenruhe. Es bewegte sich nichts in unserer näheren Umgebung. Das Gelände schwieg. Die Tiere hielten sich versteckt und ruhten sich ebenfalls bis zum Sonnenaufgang aus. Wolken wanderten träge über den Himmel. Manchmal verdeckten sie den. Mondkreis, dann wiederum ließen sie ihn frei oder gaben ihm ein zerfranstes Aussehen. Die Dunkelheit drückte auf die Stimmung. Für eine Weile überkam mich ein Gefühl des Schwermuts, als ich daran dachte, in welch einer Umgebung ich mich bewegte. Auch wenn ich öfter damit zu tun hatte, so ganz lösen konnte ich mich davon nicht. Der Tod war stets präsent, auch wenn man ihn nicht zu sehen bekam. Es dauerte nicht lange, dann hatten wir die breite Treppe erreicht, vor der wir anhielten. Ich deutete mit dem ausgestreckten Arm über die Stufen hinweg. "Dahinter liegt unser Ziel." "Das seltsame Grab?" "Ja." Bei Sukos nächster Frage klang seine Stimme skeptisch. "Glaubst du denn, dass diese komische Person dort auf uns wartet?" "Ob sie wartet, das weiß ich nicht. Ich gehe davon aus, dass wir sie dort finden." Ich lachte leise. "Eines allerdings sage ich dir. Diesmal wird sie es nicht schaffen, mir die Tür vor der Nase zuzuschlagen. Da wird nämlich jemand an der Tür Wache halten. Ich hoffe natürlich, dass sich diese Geisterfrau wieder in ihren Sarg zurückgezogen hat. Da können wir sie dann überraschen." "Hätte nichts dagegen." Wir machten uns auf den Weg. Eine menschliche Stimme erreichte uns nicht. Wir hörten immer nur unsere eigenen Geräusche. Dann und wann segelte ein schon faul gewordenes Blatt zu Boden. Kastanien lagen noch in ihrem dicken Stachelmantel, und als wir die letzte Stufe hinter uns gelassen hatten, da öffnete sich der Himmel, als wäre dort eine Tür geöffnet worden.
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Das bleiche Mondlicht sah kalt aus und verteilte keine Spur von Wärme. Aber es gab den Blick frei für das Wesentliche, und das war das seltsame Grabmal. Suko blieb zuerst stehen. Ich hatte ihm das Grab zwar beschrieben, doch nun, als er es aus der Nähe sah, da staunte er schon. Das Mondlicht hatte einen kalten Glanz auf dem Pyramidendach hinterlassen, während der untere Teil mehr von der Dunkelheit umschlungen wurde. "Da muss sie schon etwas Besonderes gewesen sein, wenn sie ein derartiges Grab bekommt", bemerkt Suko. "Das kannst du laut sagen." Ich ging zwei Schritte weiter. "Sie war jemand, die sich der Herrschaft der Männer entzogen hat und ihren eigenen Weg ging. Ihr Interesse galt der Wissenschaft und der Magie. Da hat sie wohl auch einige Erfolge errungen." "Das glaube ich dir unbesehen, John. Ich frage mich nur, warum sie töten will." "Will oder muss?" "Du meinst, dass sie töten muss?" "Daran denke ich. Sie muss töten. Sie muss sich die Männer holen. Es gibt ihr etwas. Nur dann ist sie in der Lage, auch normal zu existieren. So etwas glaube ich fest. Sie hat auf ihre Weise den Tod überwunden, und sie hat sich dabei Methoden bedient, die sie der Magie der alten Ägypter abgeschaut hat. Aber das ist alles Theorie. Ich möchte nur, dass wir sie stellen." "Ich auch. Andere Frage, John. Sollen wir uns trennen?" "Warum?" "Falls sie uns beobachtet, wird sie denken, dass sie es leichter hat, wenn nur ein Gegner vor ihr steht." "Das Grab schauen wir uns gemeinsam an." "Wie du willst." Wir brauchten nur eine kurze Strecke zu gehen, bis wir vor der Tür des Grabmals standen. Bisher war nichts vorgefallen. Niemand hatte sich gezeigt, aber in mir zog sich schon der Magen zusammen, als ich nach dem Griff fasste und die schwere Tür aufzog. Suko sah, dass er mir nicht zu helfen brauchte. Er kümmerte sich inzwischen um etwas anderes. In der Nähe hatte er einen schweren Stein entdeckt, den er jetzt herbeischleppte. Wenn Suko sich anstrengte, dann musste der Stein wirklich sein Gewicht haben, und das war auch Sinn der Sache. "Halte die Tür auf!", keuchte er und legte ihn auf den Boden. Wenn der Eingang jetzt wieder zufiel, würde die Tür von dem Stein gehalten werden. "Gut!", lobte ich. Der Spalt war so breit, dass wir das Innere des Grabmals ohne Probleme betreten konnten. Beide hatten wir die kleinen Lampen hervorgeholt und leuchteten in die Runde. Beide hielten wir die Luft an. Mir war die Umgebung weniger fremd als Suko, der auch einen entsprechenden Kommentar abgab. "Hallo, so viel Platz als Tote hat nicht jede Gestorbene." Kriechtiere huschten aus dem Licht weg und zogen sich in Verstecke zurück. Wir brauchten die Lichtlanzen nicht noch weiter kreisen zu lassen, das Innere des Grabes war leer. Dafür gingen wir auf die Öffnung im Boden zu und blieben vor ihr stehen. Wir leuchteten nach unten, und Suko sah zum ersten Mal den offenen Sarg. Der tote Eric Caine lag nicht mehr hier. Doch der Fundort der Leiche vor dem Zugang war mit Kreide nachgezeichnet worden. Beim Anschauen rann mir ein Schauer über den Rücken. "Willst du noch mal runter, John?"
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Das hatte ich eigentlich nicht vor. Aber ich kniete mich neben die Öffnung, leuchtete hinein und bewegte meinen Arm leicht im Kreis, sodass ich so viel wie möglich von dem normalen Grab anleuchten konnte. "Nichts zu sehen!" Suko lachte leise. "Das kann ich mir denken. Wäre ich sie, würde ich auch nicht dort unten liegen bleiben." Wir waren etwas ratlos, darauf deutete auch unser Schweigen hin. Was sollten wir jetzt unternehmen? Den großen Friedhof Meter für Meter absuchen? "Das Gelände ist zu groß", sagte Suko, der den gleichen Gedanken gehabt hatte wie ich. "Es gibt tausend und mehr Verstecke. Da suchen wir uns tot.“ "Stimmt. Aber wir werden etwas anderes tun." "Und was, bitte?" "Wir warten.“ "Aha." Das gefiel Suko auch nicht. Es war an seiner Antwort zu hören gewesen. Ich hingegen ging davon aus, dass sie irgendwann noch in der Nacht zurückkehren würde, um sich wieder in ihrer Gruft zu verstecken. Dann konnten wir sie abfangen. Der Inspektor hob die Schultern. “Ja, ja, John, machen wir es. Es ist die einzige Möglichkeit. Ich sehe auch keine bessere, wenn ich ehrlich bin." "Gut. Nur habe ich keine Lust, hier in der Gruft zu warten." "Gut. Und was mache ich mit dem Stein?" "Lass ihn liegen." "Okay, wie du willst." Beide atmeten wir auf, als wir uns wieder nach draußen schoben. Eine Gruft ist etwas für Tote, aber nicht für lebende Menschen. Vor dem Eingang hatte sich nichts verändert. Wir schauten uns genau um, aber uns fiel nichts weiter auf. Es gab keine glühenden Augen, die uns aus den Büschen her beobachteten, um bei einer günstigen Gelegenheit über uns herzufallen. Die Totenruhe blieb bestehen. Wir suchten beide nach einem Platz, von dem aus wir den besten Überblick hatten. Wir fanden ihn an der rechten Seite. Dort drückten sich zwar auch Büsche in die Höhe, doch sie standen nicht so dicht, als dass sie eine Mauer gebildet hätten. Es gab noch Lücken, in die wir eintauchen konnten. Die Blätter eines Rhododendronbusches bewegten sich zur Seite, als wir uns den Weg bahnten. Natürlich war er sehr dicht, aber dahinter gab es eine Lücke. Und er wuchs nicht zu hoch. So konnten wir über ihn hinwegschauen. "Dann auf eine schöne Wartezeit", sagte Suko und schüttelte den Kopf. "Hätte ich das gewusst, hätte ich mir von Shao einen Tee kochen lassen." "Stell dir einfach einen vor." "Sadist." Ich hatte meinen Platz gefunden. Der Überblick war gut. Auch der Eingang lag in meinem Blickfeld. Darauf wetten wollte ich nicht, doch ich ging einfach davon aus, dass dieses Wesen zurückkehren würde. Die Geisterfrau hatte dort ihre Heimat, und nichts anderes zählte. Helena Ascot! Ich dachte über den Namen nach. Sie musste wirklich in der damaligen Zeit eine ungewöhnliche Frau gewesen sein. Obwohl sie mich hatte töten wollen, war es mir nicht möglich gewesen, sie richtig anzusehen. Der Kampf war im Düstern des Grabmals geschehen, und danach hatte der Friedhof die Person verschluckt.
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Ein leises Zischen erreichte meine Ohren. Das stammte nicht von der Geisterfrau, sondern von meinem Freund Suko. Bevor ich eine Frage stellen konnte, meldete er sich. "Da kommt jemand. Ich habe Stimmen gehört." "Stimmen?" "Ja, die eines Mannes und einer Frau!" Von nun an standen wir unter Hochspannung!
Bill Conolly hatte den Porsche nicht mal abgeschlossen, so sehr saß ihm die Eile im Nacken. Sie trieb ihn voran wie eine Peitsche. Er konnte es kaum erwarten, den Friedhof zu erreichen, und schon während der Fahrt hatte er sich aufgeregt. Der Schweiß war ihm aus den Poren getreten und benetzte sein Gesicht. Er hatte alles vergessen. Seine Frau, seinen Sohn, das bisherige Leben mit seinen vielen Unebenheiten. Jetzt gab es nur noch die schöne Helena für ihn. Sein Herz hatte sich ihr gegenüber geöffnet. Das Gefühl genau zu definieren, wäre ihm schwer gefallen. Es schwankte zwischen Liebe und Leidenschaft. Vom Wagen aus lief er mit langen Schritten über den Friedhof. Sein Sinnen und Trachten galt einzig und allein dieser Frau mit den pechschwarzen Haaren und dem wahnsinnigen Körper. Bill kürzte auch ab. Er lief über Gräber hinweg, wobei es ihm nichts ausmachte, dass seine Schuhe auf dem weichen Boden tiefe Eindrücke hinterließen. Das Ziel war wichtig, und das musste er so schnell wie möglich erreichen. Manchmal verwandelte sich das Hämmern in seinem Kopf in Botschaften, die von einer geheimnisvollen Stimme abgegeben wurden. Er hörte Helena sprechen. Sie war in der Lage, mit ihm auf einer anderen Ebene Kontakt aufzunehmen. Grabsteine und Statuen belauerten seinen Weg über den Friedhof. Manchmal stützte er sich an ihnen ab und gab sich den nötigen Schwung, um sie zu umrunden. Er wusste bereits mit einer tödlichen Sicherheit, wohin er zu laufen hatte, und in seinem Kopf rauschte das Blut, aber es rauschte so, dass es auch einen Namen formte, und der hieß einfach nur Helena. "Ich komme! Ich komme! Ich finde dich! Darauf kannst du dich verlassen. Ich werde dich finden ... " Der Mond schickte sein kaltes Licht auf den Friedhof. Manche Baumwipfel sahen aus wie ein gespenstisches Gespinst. Aber es hockten dort keine Totenvögel, die ihre Köpfe gesenkt hatten und nach unten glotzten. "Hallo, Bill!" Der Reporter erschrak. Die Stimme war so verdammt nahe gewesen. Fast zu nahe. Er lief noch zwei Schritte weiter und war froh, sich an einem mächtigen und kantigen Grabstein festklammern zu können. Er wollte nicht mehr weiterlaufen. Zu deutlich war die Stimme gewesen. Helena musste in der Nähe sein. "Komm her, Bill ... " Der Reporter wusste genau, aus welcher Richtung ihn die Aufforderung erreicht hatte.
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Er bewegte sich jetzt mit sehr langsamen Schritten, schaute nach rechts und links, sah sie jedoch nicht, bis er plötzlich das Rascheln dicht vor sich vernahm. Da bewegten sich Zweige. Sie wurden zur Seite und zugleich nach unten gedrückt. So konnte eine Lücke geschaffen werden, durch die sich ein Körper schob. Ja, das war sie. Das war Helena, und sie war kein Spuk oder Geist, sondern eine normale Frau. Bill blieb stehen und breitete die Arme aus. Er wollte etwas sagen. Sein Herz quoll über. Er sehnte sich nach dieser Frau. Er wollte sie in die Arme schließen und an sich drücken. Sie war einfach perfekt. Sie war ein Wunder, denn so etwas wie Helena hatte er noch nie in seinem Leben gesehen. Das dunkle Kleid, das wunderbare Gesicht. Die weichen Züge, das schwarze Haar, die herrlichen Lippen, all das war für ihn das Größte überhaupt. Sie besaß einen Zauber, dem sich Bill nicht entziehen konnte, und voller Hingabe flüsterte er ihren Namen. Sie lachte ihn leise an. "Du hast mich nicht vergessen, wie ich höre." "Nein, wie könnte ich das." "Und du bist gekommen." "Ich musste es", flüsterte der Reporter. "Es gab keinen anderen Weg für mich. Ich ... ich ... kann dich nicht vergessen. Ich musste dich einfach sehen. Es ging nicht anders." "Das weiß ich ..." Bill atmete schwer. Der Wunsch, diese Frau an sich zu reißen, wurde übermächtig, doch er traute sich nicht. Er konnte nur stehen und vor Verlangen zittern. Das sah auch Helena. Sie war berechnend, eiskalt, was Bill natürlich nicht merkte. Für ihn war ihr Lächeln voller Verheißung. Er stand auf der Stelle, er hatte seine Arme in einer flehenden Geste nach vorn gedrückt, aber Helena erhörte ihn noch nicht. Sie ließ ihn schmoren und stellte noch eine Frage. "Du willst mich?" "Ja ..." "Du würdest alles für mich tun?" "Alles! Alles in der Welt, Helena." "So will ich das haben, aber ich werde dich auf die Probe stellen müssen." "Bitte, tu das. Ich mach, was du willst. Du kannst mich auf die Probe stellen. Jetzt und hier. Du machst mich damit zum glücklichsten Menschen auf der Welt." "Das wird sich zeigen." "Bitte, bitte", flehte Bill, der nicht mehr der Mensch war wie früher. "Bitte, du musst nur den Versuch starten. Dann wirst du es sehen, und du wirst nicht enttäuscht sein." Sie nickte, was Bill schon als weiteres Plus für sich ansah. Er wartete voller Spannung darauf, dass sie fortfuhr, und sie ließ sich auch nicht zu lange Zeit. "Gut, Bill, sehr gut. Wenn du alles für mich tun willst, dann möchte ich dir eine Frage stellen. Glaubst du, dass es noch andere Welten gibt, in denen wir uns wiedertreffen können?" Wäre der Reporter bei klarem Verstand gewesen, wäre er misstrauisch geworden. So aber war er nicht in der Lage, eigene Gedanken zu fassen. Er nickte. Er keuchte dabei, er bat mit seinem Blick darum, dass sie ihm endlich ihre Forderungen preisgab. "Es gibt andere Welten, in denen wir uns wiedertreffen können, Bill." "Sag mir, wo die sind."
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"Nicht hier und trotzdem um uns herum. Man kann sie als Lebender nicht betreten. Das geht nur, wenn man tot ist. Erst dann wirst du alle die Freuden mit mir erleben, die du dir vorstellst. Erst dann darfst du mich wieder in deinen Armen halten. Hast du alles genau verstanden, was ich dir gesagt habe?" “Jedes Wort!“ Helena stellte die entscheidende Frage. "Und bist du bereit dazu?" Der Reporter zögerte keine Sekunde. "Ja, ich bin bereit. Ich werde es für dich tun!" "Versprochen?" Er nickte heftig. "Dann werden wir uns darum kümmern. Komm, ich kenne einen besonders schönen Ort, Bill ... " Es trat etwas ein, auf das der Reporter schon lange gewartet hatte. Sie kam auf ihn zu und streckte ihm ihre Hand entgegen, und so war er endlich in der Lage, sie zu berühren. Seine Hand legte sich in die der geheimnisvollen Frau. Als der Kontakt zu Stande kam, fühlte er den elektrischen Schlag, der durch seinen Körper rieselte. Ein derartiges Gefühl hatte er niemals zuvor erlebt. Zumindest konnte er sich daran nicht erinnern. Er schwebte in den Wolken. Er hatte die Bodenhaftung verloren. Wenn es einen siebten Himmel gab, über den die Romantiker immer geschrieben hatten, dann war Bill jetzt in ihn geglitten. "Gib mir deine andere Hand auch noch ..." Nichts, was Bill lieber getan hätte. "Und jetzt komm mit!" Er tat alles, was sie wollte. Wieder hatte er das Gefühl, nicht mehr auf dieser Welt zu sein. Alles war entrückt. Der Friedhof, sein bisheriges Leben. Die neue Zukunft hielt ihn fest umkrallt, und sie hatte einen Namen - Helena. Hand in Hand gingen sie davon. Wie ein Liebespaar. Kein Beobachter hätte gedacht, dass einer von ihnen bald sein Leben aushauchen würde ...
"Und?", flüsterte ich. Suko zuckte mit den Schultern. Selbst bei dieser schlechten Sicht sah ich, dass er sein Gesicht verzog. Für mich ein Zeichen, dass er sich geärgert hatte oder enttäuscht war. "Ich höre nichts mehr." Als ich die Bestätigung erhalten hatte, atmete ich tief aus, denn bisher hatte ich vor Spannung die Luft angehalten. Besser ging es mir trotzdem nicht. Ich verließ meinen Platz und blieb neben Suko stehen, der noch immer ein zerknirschtes Gesicht zog. "Hast du dich auch nicht getäuscht?" "Nein, John, das habe ich nicht", flüsterte er. "Ich habe Stimmen gehört. Und zwar die einer Frau und die eines Mannes." "Und du hast keine davon erkannt?"
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"Leider nicht. Sie haben zu leise gesprochen. Aber sie können nicht zu weit von hier entfernt gewesen sein. Obwohl man sich bei dieser Stille auch täuschen kann." Er hob die Schultern an. "Ich weiß auch nicht, wie es jetzt weitergehen soll." "Warten?" "Worauf? Dass wir die Stimmen wieder hören?" “Ja, das wäre nicht schlecht." Ich dachte anders darüber. "Ich bezweifle, dass wir das Glück haben werden.“ "Dann bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als diesen ungastlichen Ort hier zu verlassen und eine kleine Runde über den Friedhof zu drehen. Irgendwann müssen wir ja mal Glück haben." "Das sehe ich auch so." Suko sagte nichts. Stattdessen senkte er den Kopf. "Was ist los?" "Ich weiß nicht, wie ich es loswerden soll, John, aber ich habe einfach das Gefühl, dass wir hier einen Fall erleben, der uns noch manche Überraschung bereiten kann. Alles sieht so einfach aus. Nur will ich daran nicht glauben. Es ist kompliziert und ... " So kannte ich ihn nicht. Aufmunternd klopfte ich gegen seinen Rücken. "Wenn wir hier stehen und weiterhin darüber sinnieren, bringt uns das auch nichts. Wir müssen schon etwas tun." "Du hast Recht, John!“
Beinahe wäre es passiert! Im letzten Moment hatte Sheila Conolly dem Motorradfahrer ausweichen können. Er war plötzlich da gewesen wie ein bleiches Gespenst, aber sie hatte es geschafft, ihm auszuweichen, war über den Gehsteig gefahren und hatte im letzten Moment das Lenkrad nach rechts drehen können, um nicht gegen einen Laternenmast zu fahren. Es war geschafft. Sie fuhr wieder auf der Straße. Der Albtraum der letzten Sekunden verschwand, nur das Zittern blieb, weil die Nerven wieder verrückt spielten. Im Nachhinein wusste Sheila, dass es ihre Schuld gewesen war. Sie war einfach zu schnell gefahren und war dabei noch auf die falsche Seite geraten. Das darf dir nicht mehr passieren!, hämmerte sie sich ein. Du musst dich zusammenreißen! Es war leichter gesagt als getan, denn die Angst um Bill machte sie fast verrückt. Sie wusste nicht viel, aber das Wenige, das ihr auch durch die Aussagen einer Gilda bekannt war, ließ das Schlimmste befürchten. Gildas Bruder war in den Bann einer unheimlichen Frau geraten. Da konnte ein Mann noch so stark sein, wenn andere Kräfte mit im Spiel waren, konnte der Mensch sich nicht dagegen wehren. So war es auch Bill ergangen. Der Bann dieser Frau war zu stark gewesen, so stark, dass er alles andere vergessen hatte. Seine Familie, sein bisheriges Leben, einfach alles. Sheila kannte die Strecke. Auch jetzt fuhr sie schnell. Hin und wieder schaltete sie das Fernlicht ein, wenn es möglich war. Der Mini kam ihr jetzt vor wie ein Käfig, den sie so leicht nicht verlassen konnte. Das Gefühl, gefangen zu sein, würde erst weichen, wenn sie Bill wieder heil und gesund vor sich sah.
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Und sie würde um ihn kämpfen. Ja, sie würde alles einsetzen, um Bill wieder zurückzubekommen. Noch etwas schoss ihr durch den Kopf. Sie sah es als einen Fehler an, den sie jetzt nicht mehr zurechtbiegen konnte. Es ging natürlich um ihren Mann, doch sie hätte sich nicht allein auf den Weg machen sollen, sondern seine Freunde John und Suko alarmieren müssen. Jetzt war es zu spät. Nun musste sie den beschwerlichen Weg allein gehen. Der Friedhof war ziemlich groß. Es gab auch nicht nur einen Eingang. Sheila lenkte den nächsten an. Davor gab es sicherlich einen Parkplatz, den sie auch erreichte. Er war völlig finster. Nur die Scheinwerfer des Minis schufen geisterhafte Bahnen, und die erwischten nach einer Kurve auch ein Ziel. Da stand der Porsche! Sheila wusste nicht, ob sie sich darüber freuen sollte oder nicht. Sie sah es als positiv an, denn jetzt wusste sie, dass ihr Mann zum Friedhof gefahren war. In den letzten Minuten hatte sie sich wieder einigermaßen fangen können. Damit war es nun vorbei. Wieder begann sie zu zittern, und das Blut rauschte durch ihren Kopf. Sie stieg aus und merkte, wie wackelig sie auf den Beinen war. Der Friedhof lockte sie, auch wenn er ein düsteres Gelände umgab, über das hin und wieder bleiches Mondlicht strich, das sich in den Kronen der Bäume verfing. Zuerst wollte sie im Porsche nachschauen. Sie merkte sofort, dass der Wagen nicht verschlossen war. So etwas gefiel ihr nicht, denn es war nicht Bills Art. Einiges war hier faul. Aber sie dachte auch an Helena und zugleich an ihren Mann. Wahrscheinlich hatte er es nicht mehr erwarten können, zu ihr zu kommen, und deshalb hatte er alles über Bord geworfen, was ihm einst wichtig gewesen war. "Mein Gott", flüsterte Sheila unter Tränen, "was machst du nur, Bill? Was ist los?" Sie stand mit zitternden Knie auf der Stelle, doch der dunkle Friedhof um sie herum gab ihr keine Antwort. Er war ihr Ziel, und sie hatte dabei das Gefühl, in die Hölle zu gehen ...
Bill spürte den Druck der Hand. Willig ließ er sich weiterziehen. Er dachte überhaupt nicht an Widerstand. Die andere Welt hielt ihn umschlossen, und sie wurde von einer Person zusammengehalten, von Helena, der Frau, die für ihn alles im Leben war. Die er liebte, die er mehr liebte als sein eigenes Leben. Er nahm seine Umgebung gar nicht wahr. Er spürte auch nichts. Er ging wie im Traum weiter und hoffte nur, dass ihn Helena nicht losließ und er an ihrer Seite bleiben konnte. Über schmale Pfade führte der Weg. Dann ging es eine Böschung hoch, in deren Erde Bills Füße tief einsanken. Er rutschte auch zwei Mal nach hinten, doch Helenas Griff war fest genug, um ihn zu halten, und das war für ihn die große Freude. Schließlich ging es besser. Kein Anstieg mehr, auch kein Abrutschen. Ein recht breiter Weg öffnete sich vor ihnen, und als Bill nach vorn schaute, sah er einen bleichen und unheimlichen Schein auf und über dem Weg liegen, der auch einen Teil der Bäume aus dem tiefen Schatten der Nacht riss und dieses Stück in einen Geisterwald verwandelte, zu dem auch die Grabsteine gehörten. Helena zog ihn weiter. Bill blieb hinter ihr. Er atmete durch den offenen Mund. Rechts und links des Weges bauten sich die Gräber auf. Breite Totenstätten mit den entsprechenden Grabsteinen.
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In diesen Gruften lagen zahlreiche Tote. Zumeist Mitglieder großer Familien, denn auf den Steinen waren zahlreiche Namen zu lesen und mit den entsprechenden Daten versehen. Helena verlangsamte ihre Schritte und blieb neben einem besonders großen Totendenkmal stehen. Es lag auf der rechten Seite und wurde von zwei Engeln bewacht, die ihre Köpfe gesenkt hielten, als wären sie dabei, um die Verstorbenen zu trauern. Es gab sogar eine Bank auf dem Grab. Ein plattierter Weg führte zu ihr. Sie war aus Steinen gebaut und sah sehr klobig aus. Helena führte Bill hin. "Setz dich!", sagte sie. Der Reporter gehorchte. Die schöne Frau setzte sich nicht. Sie schaute von oben her auf ihn herab. Bill wollte unbedingt in die Augen seiner großen Leidenschaft sehen. Dafür musste er den Kopf anheben. In der Dunkelheit hatte ihr Gesicht Schatten bekommen. Dennoch war es in diesem Augenblick für ihn das schönste Gesicht der Welt. "Erinnerst du dich noch an dein Versprechen, Bill?" “Ja, natürlich." "Du willst also alles für mich tun?" "Alles. Ich will dich nur haben. Richtig besitzen, verstehst du das?" “Ja, ich weiß. Das wollten viele." Sie lächelte. "Es schmeichelt mir. Jeder Mann will mich besitzen, aber ich bin nicht von dieser Welt. Nicht mehr. Wer mich haben will, der muss mir dorthin folgen, wohin ich gehen werde. Bist du noch immer dazu bereit?" "Ich schwöre es", flüsterte Bill. Durch ein Nicken deutete Helena ihre Zufriedenheit an. Sofort danach griff sie in die Tasche ihres Kleides und holte ein Messer hervor, von dessen Klinge sie einen Schutz abnahm. Der Stahl schimmerte für einen Moment hell wie ein Spiegel. Bill wusste, was er zu tun hatte. Er streckte seine rechte Hand aus, um das Messer in Empfang zu nehmen. Vorsichtig legte es die schöne Frau auf seine Handfläche. Dann befahl sie mit scharfer Flüsterstimme: "Und jetzt, Bill Conolly, schneide dir die Kehle durch ... "
Ende des ersten Teils
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