Scan & Korrektur: Keulebernd
Schwerterträger des Heeres
Karl Decker Decker, am 30.11.1897 in Borntin (Pommern) gebore...
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Scan & Korrektur: Keulebernd
Schwerterträger des Heeres
Karl Decker Decker, am 30.11.1897 in Borntin (Pommern) geboren, trat 1914 als Kriegsfreiwilliger in das Infanterieregiment 54 ein. 1936 übernahm er als Major die Panzerabwehrabteilung 36. Zu Beginn des II. Weltkrieges führte er die Panzerabwehrabteilung 38, im Westen als Oberstleutnant die 1. Abteilung des Panzerregiments (PR) 3 und erhielt am 13.6.1941 das Ritterkreuz. Als Oberst befehligte er das PR 3, danach die 21. Panzerbrigade und seit 7.9.1943 die 5. Panzerdivision. Als deren Kommandeur am 4.5.1944 mit dem 466. Eichenlaub ausgezeichnet, wurde er im Oktober 1944 Chef des XXXIX. Panzerkorps (Rußland). Für besondere Führungsleistungen bei den Abwehrschlachten in Mitteldeutschland wurden D. am 28.4.1945 posthum die 145. Schwerter verliehen, nachdem er vier Tage zuvor in Brunsrode gefallen war. Durch den langen zeitlichen Abstand von den Geschehnissen ist es nicht immer möglich, exakte Daten z. B. hinsichtlich der Einheits-Zugehörigkeit etc. der hier gewürdigten Persönlichkeiten auszuarbeiten. Auch die Zeitpunkte der Ordensverleihung können differieren. Für dokumentarisch belegte Berichtigungen in solchen Fällen sind wir immer dankbar und selbstverständlich bereit, dieselben im »LANDSER« zu veröffentlichen.
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Todesreigen über der Normandie Deutsche Jäger in der Anfangsphase der InvasionsSchlacht
Am Morgen des 6. Juni 1944 begann an der Küste Nordfrankreichs die Invasion der Alliierten. Über diese größte Landeoperation in der Geschichte des Krieges ist innerhalb der LANDSER-Serie schon des öfteren berichtet worden. Daneben darf der Verlauf dieser Schlacht in ihren hauptsächlichen Zusammenhängen als weithin bekannt vorausgesetzt werden. Maßgebend für den Ausgang des Unternehmens »Overlord« (bis zum 12. Juni hatten die Alliierten 320.000 Mann gelandet, über 6.000 Kriegsschiffe, Frachter und Landungsfahrzeuge wurden eingesetzt) war die immense Luftstreitmacht, die von alliierter Seite zusammengezogen worden war: 12.837 Flugzeuge, davon rund 5.000 Jagdmaschinen. Gegen diesen undurchdringlichen Luftschirm über den Landeköpfen standen die deutschen Jäger von vornherein auf verlorenem Posten. Am 3
6. Juni 1944 waren es lediglich zwei Focke-Wulf 190, die im Landeraum auftauchten, gesteuert von Oberstleutnant Josef »Pips« Priller und seinem Katschmarek. Durch eine Verzögerung in der Stichwortausgabe kam ein größerer deutscher Jagdverband erst am 8. Juni zum Einsatz. Es waren etwa 70 Maschinen, die schon bei ihrem ersten Frontflug zum Landeraum völlig dezimiert wurden. Was in den folgenden Tagen bis Mitte Juni geschah, wie sich die wenigen noch übriggebliebenen deutschen Jagdflieger gegen die gewaltige feindliche Übermacht zu behaupten versuchten, darüber wird in diesem Band berichtet. Der Autor kennt die dramatischen Geschehnisse, das verzweifelte Ringen gegen einen überlegenen Feind und die unvorstellbaren Zustände auf den Frontflugplätzen aus eigener Erfahrung. Die Redaktion
Als die Focke-Wulf 190 aus den Wolken herausbrummte und der Erdoberfläche Nordfrankreichs entgegenraste, gab sich Oberfeldwebel Jakobs keinen Illusionen über sein bevorstehendes Schicksal hin. Er wußte nicht, wo er die drei anderen Maschinen seines Schwarmes (4 Maschinen) zum letztenmal gesehen hatte. Vielleicht war es südlich von Caen gewesen, möglicherweise auch ein Stück im Norden von Falaise, bei Potigny vielleicht. Es wäre aber auch ohne die vielen alliierten Jagdhunde auf ihrer Fährte nicht auszumachen gewesen, da sich eine ziemlich geschlossene Wolkendecke über das von Tausenden von Bombern und Granaten umgepflügte Land breitete; über jenes Stück Erde, das früher nur wenigen von ihnen bekannt gewesen sein mochte, das sicherlich Touristen begeisterte, jetzt aber ein einziger Totenacker geworden war: der alliierte Landekopf in 4
Frankreichs Normandie. Für den Mann in der Focke-Wulf wäre es allerdings gleichgültig gewesen, ob sich diese Hatz auf ihn in Afrika, Rußland oder gar über England abgespielt hätte. Denn bei rund fünf Thunderbolts und einigen Spitfires hinter dem Leitwerk spielt es wahrhaftig keine Rolle mehr, welcher Landstrich unter einem und welcher Himmel über der Kabine ist. Unten, wo die Hölle seit Tagen ihre Pforten aufgetan hat, schießt niemand mehr auf die Flugzeuge, die vor geraumer Zeit ihre Balkenkreuze auf Flächen und Rümpfen dicht unter der Wolkendecke gezeigt hatten. Und fast hat Oberfeldwebel Jakobs das Gefühl, als ob dort drunten jetzt überhaupt die Waffen ruhten, auf beiden Seiten, und daß es für die Soldaten in den Erdlöchern nur noch eines gebe: die Luftschlacht an dem wolkenverhangenen Himmel, das Blitzen der Zerlegergeschosse, das tödliche Kurvenspiel der vielen Jagdflugzeuge, das Heulen brennend abstürzender Maschinen und möglicherweise sogar Wetten darüber, wie lange der einzelne Deutsche in der Focke-Wulf es wohl noch aushalten werde. Jakobs sieht zu den Wolken hinauf und weiß im gleichen Moment, daß es sinnlos wäre, das Katz-und-Mausspiel von vorhin noch einmal wiederholen zu wollen. Denn am Armaturenbrett leuchtete die rote Warnlampe der Treibstoff anzeige, und ihre Aussage ist so eindeutig und klar wie sonst etwas: Du hast noch für zwanzig Minuten Sprit, mehr nicht! Die Thunderbolts hinter ihm haben sich in eine lange Schlange formiert, deren Ende noch in die Wolken hineinreicht. Jakobs beobachtet sie fast teilnahmslos, schon seit jenem Moment übrigens, als er aufhörte, sich noch Hoffnungen zu machen. Die Spitzenmaschine mit der bulligen Motorschnauze dürfte noch etwa achthundert Meter entfernt sein, vielleicht auch noch weniger. Ihr Pilot wechselt dauernd die Kurvenlage, und es sieht fast so aus, als ob die Maschine angesichts des bevorstehenden todsicheren Luftsieges bereits 5
mit dem Freudentanz begonnen hätte. In Jakobs steigt plötzlich eine eiskalte Wut hoch. Von einer Sekunde zur anderen verwandelt er sich in einen Menschen, der nichts mehr zu verlieren hat und gesonnen ist, seine Haut so teuer wie möglich zu verkaufen. Die Stationen der letzten Viertelstunde ziehen wieder einmal an seiner Erinnerung vorüber. Da war der Patrouillenflug zur Front, dieses vorsichtige Anschleichen über der Wolkendecke. Jeder von ihnen hatte gewußt, was ihnen blühen würde, wenn eines der vielen Jägerrudel mit den zebragestreiften Tragflächen (Kennzeichenbemalung alliierter Jäger) sie erwischen würde. Immerhin war es auf den wenigen deutschen Feldflugplätzen bei Alencon, Le Mans, Rennes oder Guyancourt nur zu gut bekannt, daß die Alliierten tagsüber immer einige hundert Maschinen über dem Landekopf in der Luft hatten. Zuweilen noch beträchtlich mehr. Aber das zählte insofern nicht, da es schließlich gleichgültig ist, ob man mit vier Maschinen auf hundert feindliche stößt oder auf tausend. Jakobs war mit den drei neuen Flugzeugführern, die er bei sich hatte, etwa auf fünfzig von ihnen gestoßen. Schon nach wenigen Minuten Kurbelei über und unter den Wolken hatten die Thunderbolt-Leute gezeigt, wer hier der Herr im Hause ist. Es war ihnen nicht einmal schwergefallen, da die Neuen trotz aller Beschwörungen von seiten Jakobs über Funk solange wie hypnotisiert in ihren Kabinen saßen und kaum eine Abwehrbewegung machten, bis zwei von ihnen lichterloh brennend nach unten weggingen. Der dritte hatte sich bei diesem Anblick offenbar dermaßen entsetzt, daß er ihnen freiwillig oder unbewußt gefolgt war, und es blieb nur zu hoffen, daß er etwas vom Tiefflug verstand und ein klein wenig von den Unterschieden zwischen Nord und Süd. Die Gedankenkette des Oberfeldwebels wird jäh gestoppt, als die an der Spitze der Verfolgerschlange fliegende Thunderbolt aus ihren Tragflächen Blitze zu spucken beginnt. 6
Die kleinen, zuckenden Lichtpünktchen der Bordwaffenabschüsse verwandeln sich in Sekundenbruchteilen zu züngelnden Feuerschlangen. Die erste Leuchtspurgarbe zischt einige Meter von Jakobs’ rechter Tragfläche vorbei, und die nächste Geschoßserie wandert hoch über die Kabine, da die Focke-Wulf jetzt nach einer ruckartigen Steuerbewegung der Erde entgegenheult. Der Oberfeldwebel zieht sie in kaum hundert Meter Höhe wieder ebenso jäh in die Höhe, und der röhrende BMW-801Motor schleudert ihn mit Hunderten von Stundenkilometern erneut der Wolkendecke entgegen. Ein grimmiges, armseliges Grinsen erscheint für Augenblicke auf dem verkrampften, schweißüberströmten Gesicht des Oberfeldwebels, als er die wütende Steuerreaktion des amerikanischen Verbandsführers erkennt. Kurz vor dem Eintauchen in die Wolkenschicht sieht er noch, daß die nachfolgenden Maschinen blitzschnell ihre Formation aufgeben und auseinanderfächern. Die Wolkendecke ist nicht sehr dick. Schon nach Sekunden liegt die blaue Himmelsglocke wieder vor der Kabine der Focke-Wulf, gesprenkelt mit unzähligen hellen Kreuzchen: den Silhouetten feindlicher Jägerschwärme, die nahezu überall herumturnen. Die Jagdmaschine dreht bereits wieder. Es ist ein Manöver, das Jakobs fast instinktiv eingeleitet hatte. Er jagt jetzt aus der Rückenlage heraus der Wolkendecke entgegen. Mit einem reaktionsschnellen, verzweifelten Tritt ins linke Seitenruder bringt er die Focke-Wulf aus der Flugbahn einer Thunderbolt, die in starkem Seitenflug direkt auf ihn zuraste. Kurz darauf ist der weiße Schleier wieder um die Kabine, das trübe Zwielicht und Sekunden später das bunte Relief der Erdoberfläche. Davor ist aber noch etwas anderes: eine Thunderbolt (P 47) am Ende des langen Schwanzes aus zebragestreiften, dickbäuchigen Jagdmaschinen mit den weißblauen amerikanischen 7
Sternen auf den Rümpfen. Ihr Pilot scheint nur Augen für seinen Vordermann zu haben. Sicher blickt er auch dann noch auf die vorausfliegende Thunderbolt, als Jakobs ihm aus einer engen Aufwärtsschleife heraus eine kurze Kanonengarbe ins Leitwerk setzt. Die getroffene P-47 bricht sofort zur Seite aus, torkelt kurz und wird dann in eine halbe Rolle gedreht. Jakobs sieht es nicht mehr. Er liegt bereits in einer scharfen Messerkurve. Als er wieder nach oben sieht, erkennt er, daß der Amerikaner in der Thunderbolt im Augenblick noch weniger Chancen hat, als er selbst. Seine Maschine brennt bereits und zischt in flachem Sturz der Erde entgegen. Das Kabinendach löst sich, und ein dunkles Gebilde wird vom Fahrtwind nach hinten weggerissen. Die Focke-Wulf des Oberfeldwebels liegt bereits im Tiefstflug, Er zieht sie jetzt über eine Baumreihe und blickt dabei nach oben. Was er sieht, ist für ihn so unbegreiflich, daß er sekundenlang vergißt, den Knüppel wieder nach vorn zu drücken. Die P 47 fegen wie aufgescheuchte Hühner unter der Wolke herum, und auf einmal kommt Jakobs zu der Überzeugung, daß sie zu diesem Zeitpunkt vielleicht gar nach weiteren deutschen Jagdmaschinen suchen. Denn sicher war es nur von wenigen oder möglicherweise sogar überhaupt nicht beobachtet worden, daß der von ihnen gehetzte Deutsche innerhalb einer Sekundenspanne das Schlußlicht des Verbandes abgeschossen haben könnte. Also war es sozusagen eine klare Sache, daß von irgendwoher noch andere aufgetaucht sein mußten. Die Verwirrung hält aber nur wenige Sekunden an, dann rollt der vorherige Akt noch einmal über die Bühne. Aus gekonnten Turns heraus stoßen die ersten US-Jäger nach unten. Jakobs sieht die Bugpartien auf sich einschwenken. Aber auch jetzt ist die Angst vor dem sicheren Ende noch nicht in ihm existent. Noch fliegt er, und noch gibt es Möglichkeiten, etwas zu tun – 8
wenigstens so lange, wie noch Treibstoff in den Tanks ist. Er donnert über die Steinwälle zwischen den Feldern, rast an Dörfern vorbei, schert aus dem Kurs, als die Leuchtspurbahnen wieder nach ihm greifen, und prescht im Messerflug (Steilkurve, eine Tragflächenspitze der Erde zugewendet) zwischen zwei Bäumen hindurch. Immer wieder wendet er den Kopf und beobachtet die Meute der Verfolger, die jetzt wieder ein völlig klares Konzept zu haben scheinen. Die Spitzenmaschine kommt immer näher heran. Erneut züngeln die Blitze der Mündungsflammen vor den Tragflächen. Jakobs schert zur Seite, geht in einer Steilkurve nach Nordosten, und sein Blick huscht über die Erdoberfläche. Plötzlich sieht er ein längeres Feld. Da reißt er die Focke-Wulf auf Gegenkurs zu den anderen hinter ihm, jagt unter den Thunderbolts des amerikanischen Verbandsführers hindurch und drückt die Motorpartie der schnell näherkommenden Feldfläche entgegen. Er ist schon dicht vor dem letzten Steinwall, als die Spitzenmaschine des P-47-Pulks einschwenkt. Geschoßbahnen huschen über die Kabine. Jakobs hat bereits das Gas herausgerissen. Ein furchtbarer Schlag läßt die Zelle ächzen. Erdklumpen werden hochgewirbelt und prasseln über die Kabine. Durch den Regen der dunklen Grasstücke zischen Feuerstriche. Der Oberfeldwebel hat sich vor der Panzerplatte (hinter dem Flugzeugführersitz) zusammengeduckt. Über seinem Kopf zersplittert das Kabinenglas. Sekunden später erfolgt ein gewaltiger Donnerknall. Ein Riesenschatten verdunkelt das Licht in der Kabine. Dann noch einmal und noch einmal. Der Deutsche registriert die Tatsache, daß die Thunderbolts jetzt über ihn hinwegpreschen, nur noch im Unterbewußtsein. Sein Körper wird pausenlos in den Gurten hin und her geschüttelt. Er spürt, daß die Vorwärtsbewegung sich verlangsamt, und dann bleibt die Maschine nach einem letzten, 9
schlenkernden Ruck stehen. Oberfeldwebel Jakobs läßt die Arme hängen, sekundenlang. Aber das Brodeln und Zischen im Motor erinnert ihn sofort wieder daran, daß er möglicherweise auf einem Vulkan sitzt. Außerdem sind die Amerikaner noch in der Luft. Ihre Stimmung ist ungewiß. Vielleicht genügte es ihnen nicht, den Deutschen vom Himmel geholt zu haben. Denn immerhin steht noch eine Rechnung offen zwischen ihnen und ihm, und möglicherweise haben sie es übel vermerkt, daß er sich erlaubte, einen von ihnen so unvermittelt zur Erde zu schicken. Das Kabinendach läßt sich noch zurückkurbeln. Es ist wie ein Wunder. Keuchend zwängt sich Jakobs hinaus. Er hat dabei nicht das Gefühl, sich bei der Bruchlandung irgendeine Beschädigung zugezogen zu haben. Alles funktioniert noch, auch das, was man einen sechsten Sinn nennen mag. Dieses Gespür für die Gefahr, in vielen Frontflügen und Luftkämpfen stetig mehr entwickelt, erweist sich auch jetzt wieder als eine geradezu lebensfördernde Eigenschaft. Denn die Amerikaner kommen tatsächlich noch einmal an, hintereinander, in einer leicht gebogenen Schlange. Jakobs braucht nur eine Sekunde, um sich zu entscheiden. Er schnellt zur Seite, hastet auf einen der Steinwälle zu und hechtet darüber hinweg. Er ist praktisch noch in der Luft, als er bereits das vertraute Hämmern von Bordkanonen und das Zirpen von Kugeln oder Splittern hört. Dicht hinter dem Wall zerfetzen die Geschosse die Erde, wandern zu der demolierten Focke-Wulf hinüber und verwandeln sie in Sekundenschnelle in einen lodernden Metallhaufen. Der Oberfeldwebel hat sich hinter dem Steinhügel zusammengekrümmt. Er hört die Amerikaner nacheinander im Tiefflug vorüberheulen und erlaubt sich sogar, ihnen nachzusehen. Und dann geschieht das, worauf er eine Wette abgeschlossen hätte: Sie fliegen jetzt von der anderen Seite an, 10
und die Rechnung, die zwischen ihnen und Jakobs noch offensteht, scheint für sie von beträchtlichem Wert. Als die Spitzenmaschine die dicke Schnauze dem Steinwall entgegensenkt, zwängt sich Jakobs bereits wieder über die sonnenwarmen Gesteinsbrocken. Schon in den nächsten Sekunden klingelt es jenseits der spärlichen Deckung. Es trommelt, scheppert, kreischt und zwitschert. Die erste Thunderbolt donnert mit zornigem Gebrüll vorüber, dann die zweite, und Jakobs sieht ihnen wieder nach. Er denkt daran, daß sie sich nun vielleicht teilen könnten, um ihn von zwei Seiten in die Klemme zu nehmen, aber sie tun es nicht. Sie bleiben in der gleichen Richtung, ziehen hoch und verschwinden irgendwo in den hellen Wolkenteppichen. Nach Atem ringend, bleibt Jakobs liegen und starrt in den Himmel hinein. In der Nähe sinkt die Focke-Wulf zu einem Aschenhaufen zusammen. Jakobs duckt sich, als die Munition explodiert und bunte Fontänen in die Luft gestoßen werden. Als nur noch das leise Knistern von Flammen zu hören ist, richtet er sich langsam auf. Sein Blick gleitet zu dem weißen Brandfleck hinüber, aus dem noch kleine Flämmchen herauslecken. Dann sieht er über das Feld. Er sucht nach Anzeichen von Soldaten, nach Stellungen oder etwas ähnlichem, aber er kann nichts entdecken. Das pausenlose Donnergrollen der Artillerie, das Hämmern von MG-Garben und die anderen Geräusche der Schlacht scheinen wie aus weiter Ferne heranzuklingen. Der Gedanke, der plötzlich aufkeimt, hat zunächst etwas wie Erleichterung im Gefolge, denn offenbar ist er diesseits der Front gelandet; zumindest aber in einer Gegend, die man möglicherweise noch als Niemandsland bezeichnen könnte. Ächzend steht Jakobs auf und hebt vorsichtig den Kopf über den Steinwall. Im nächsten Moment hört er im Norden ein leises Rauschen, das immer mehr anschwillt, in ein drohendes Orgeln übergeht und dann den ganzen Himmel anzufüllen 11
scheint. Kurz darauf hat der Oberfeldwebel das Gefühl, sich im Zentrum eines riesigen Erdbebens zu befinden. Der Boden unter ihm wankt. Er wird hochgeworfen und wieder zurückgeschleudert. Riesige, dunkle Erdbrocken huschen heran und fallen rings um ihn herab, Blitze zucken, und ein infernalisches Pfeifen und Jaulen erfüllt die Luft. Ehe Jakobs sich über die Ursache dieses höllischen Ereignisses klar geworden ist, geht es weiter. Das Geräusch in der Ferne ist wieder zu hören, und dann faucht die nächste schwere Granate heran … * Der Flugplatz gleicht eher einer Mondlandschaft als der Basis einer im Fronteinsatz befindlichen Jägergruppe. Hallen und Unterkunftsgebäude sind zerstört, auf dem Rollfeld zeichnen sich große braune Flecke im verdorrten Gras ab: Bombentrichter, die erst im Morgengrauen von Männern einer Baukompanie wieder aufgefüllt worden waren. Die flimmernden Hitzewellen steigen vor einer Kulisse des Grauens in die Höhe, und die wenigen Focke-Wulf 190 in den hohen Ringwällen der Splitterboxen scheinen auf eine wundersame Weise erhalten geblieben zu sein. Mechaniker mit gehetzten Blicken laufen zwischen den zerstörten Hallen herum. Nirgendwo ein Fahrzeug. In Splitterlöchern hocken Posten, Stahlhelme auf den Köpfen, die schweißnassen Gesichter dem Himmel zugewendet, aus dem jeden Augenblick neues Verhängnis herabrauschen kann. Hinter einem halb eingestürzten Unterkunftsgebäude stehen zwei Gestalten mit braunen Lederjacken, die Mützen schief auf den Köpfen. Sie zucken wie auf ein Kommando zusammen, als aus nördlicher Richtung das Dröhnen eines Flugmotors zu hören ist. »Eine Maschine!« sagt Hauptmann Kempa, der Chef des 12
zusammengewürfelten Haufens, der einmal eine Jägergruppe dargestellt hatte. Er richtet die Worte an einen langen Leutnant mit einem hageren Gesicht, in dem einige »FliegererinnerungsAbzeichen« (Brandnarben) zu sehen sind. »Ob das eine von Jakobs’ Verein ist?« Leutnant Gerstner schüttelt den Kopf. Er zieht nervös an einer Zigarette und wirft sie dann über die Schulter auf einen Haufen von Ziegelbrocken. »Da!« Der Hauptmann streckt die Hand aus. »Tatsächlich eine Focke-Wulf!« Ein grimmiges Lächeln huscht über Gerstners Gesicht, als er das maßlose Erstaunen aus den Worten des Kommandeurs heraushört. Und er denkt daran, daß es wirklich einer Sensation gleichkommt, wenn in diesen Tagen und hier auf diesem verfluchten Platz wenigstens einer von einem Feindflug ungeschoren zurückkommt. Die einzelne Maschine fegt heran, heult über die Gebäudetrümmer, schwenkt ein und zeigt ihre Rumpfnummer. »Ich werd’ verrückt!« murmelt der Hauptmann. »Das ist doch – einer von den Neuen!« »Ja«, nickt Ferstner, »der Gefreite Rhomas!« »Lieber Himmel!« seufzt der Hauptmann. »Der krebst hier herum, als ob ihm die ganze Gegend allein gehören würde. Wenn dieser Kerl sich nicht bald nach unten begibt, sehe ich schwarz.« Er löst den Blick von der kreisenden Maschine und sieht nach Norden. Aufatmend stellt er fest, daß die »190« offenbar ohne amerikanischen oder englischen »Jagdschutz« angekommen ist. Der Pilot fährt jetzt endlich das Fahrwerk aus, dreht auf das Landekreuz ein und torkelt mit reichlich unsicheren Flugbewegungen der Erde entgegen. Kempas Hände ballen sich. Er löst die Finger erst wieder, als die Focke-Wulf bereits rollt. Schon nach kurzer Landestrecke schwenkt der Flugzeugführer auf die Ruinengegend ein. 13
Kempa und der Leutnant gehen auf die Jagdmaschine zu, die in etwa hundert Meter Entfernung zum Stillstand gekommen ist. Der Flugzeugführer ist bereits draußen und steht neben einigen Warten, die jetzt eine Zugstange am Sporn der »190« befestigen. Bei ihnen ist der Fahrer eines kleinen Traktors, der lautstarke Flüche ausstößt und es offenbar sehr eilig hat, mit dem Flugzeug von der freien Fläche wegzukommen. Der Gefreite hat die Offiziere inzwischen entdeckt und läuft auf sie zu. Er bleibt einige Schritte vor ihnen stehen und beginnt mit seiner Meldung. Kempas Blick ruht auf seinem verzerrten Gesicht, das dem eines Menschen gleicht, der Furchtbares hinter sich hat. »Vom Feindflug zurück, Herr Hauptmann!« hört Kempa den Jungen sagen. Er verstummt, wischt sich über das schweißverkrustete Gesicht und sucht offenbar nach Worten. Seine Schultern sind schmal und knabenhaft. Er mag vielleicht 19 Jahre alt sein, ist von hohem Wuchs und hat weißblonde Haarsträhnen in der Stirn kleben. Nun ist er anscheinend wieder soweit. Der Hauptmann hilft ihm. »Wo ist Jakobs, und wo sind die anderen?« »Bobby – ich meine, der Gefreite Krüger, ist – er ist abgeschossen worden. Ich – war hinter ihm, und auf einmal…« »… warst du auch unten, wie, und bist im Tiefflug ab, oder nicht?« Der Gefreite nickt und senkt den Kopf. Er zittert, man merkt es ganz deutlich. Kempa wechselt einen schnellen Blick mit Gerstner. Man sieht ihm fast an, was er denkt. Etwa dieses: Ist es nicht eine Schande, diesen Buben das alles zuzumuten? Was können sie dafür, wenn sie die Nerven verlieren, wenn sie einfach nicht mitkommen mit ihrer Kurzausbildung? »Schon gut, mein Junge«, hört Gerstner ihn jetzt sagen. »Also, du weißt nicht, was mit den anderen ist?« »Nein, Herr Hauptmann!« »Schön, dann…« 14
Die nächsten Worte bleiben Kempa im Hals stecken. Er wirbelt auf dem Absatz herum und blickt nach Norden. Irgendwo hämmert eine Flak. Eine Alarmsirene wimmert. Und dann kommen sie an, ein ganzes Rudel von Mustangs (P 51, US-Jäger). Sie preschen im Tiefflug auf den Platz zu und feuern aus allen Waffen. Kempa, der Junge und Gerstner schnellen hinter eine Hausruine. Aufatmend stellt der Hauptmann fest, daß die Zugmaschine mit der Focke-Wulf nicht mehr zu sehen ist. Anscheinend hatte der Stabsgefreite Mörmann den schützenden Wald noch rechtzeitig erreicht… * Die Erde scheint sich in eine Zentrifuge verwandelt zu haben, die nicht mehr zum Stillstand kommen will. Oberfeldwebel Jakobs ist es schon so, daß er das Rauschen in der Luft gar nicht mehr in sich aufnimmt. Er liegt in einem der mächtigen Trichter, auf dessen Sohle noch warme Dämpfe hochsteigen, und wartet auf den Tod. Vor Sekunden, bevor er in den Krater gesprungen war, hatte er noch daran gedacht, daß sich offenbar eine schwere feindliche Batterie auf ihn einzuschießen versuchte. Man mußte seine Notlandung beobachtet haben, oder aber die Piloten in den Thunderbolts hatten darüber etwas verlauten lassen. Es ist jetzt gleichgültig, wie das grausige Bombardement zustandegekommen war. Eines aber steht fest: Sie schießen immer noch, und es sieht nicht so aus, als ob sie bald aufhören würden. Wieder heult es heran, und mächtige Geysire aus Erdbrocken, Grasbüscheln, Splittern und Steinen regnen über den Trichterrand. Jakobs war schon durch viele Höllen gegangen, aber eine solche Marter war ihm bisher erspart geblieben. 15
Fast wundert er sich, daß sein Verstand noch funktioniert und ihm jetzt eine Eingebung vermittelt, eine Erinnerung mehr an eine Faustregel, die er einmal von Infanteristen gehört hatte: Es ist nahezu unmöglich, daß eine weitere Granate in einem frisch aufgewühlten Trichter einschlägt. So stemmt er sich hoch, als das Prasseln der Erdstücke verstummt ist. Durch den Pulverrauch sieht er vom Trichterrand aus die verstreut herumliegenden Wrackteile seiner einstigen Maschine. Wahrscheinlich war sie durch einen Volltreffer auseinandergerissen worden. Jakobs hastet über die mit unzähligen Erdbrocken bedeckte Wiese. Der Rauch der Explosionsgase brennt in seinen Lungen. Keuchend stolpert er weiter, auf das Heulen in der Luft lauschend, das er jetzt wieder hört. Voraus gähnt der Rand eines großen Sprengloches. Noch einige Schritte, dann rutscht er hinein. Er fällt in das Trichterrund, preßt die Hände über den Kopf und wird schon im nächsten Moment erneut wie von einer Riesenfaust geschüttelt. Durch die Luft rauscht wiederum eine Wolke aus hochgeschleuderten Erdklumpen. Ein schwerer Schlag trifft den Rücken des Oberfeldwebels. In Sekundenschnelle ist er zugeschüttet und ringt verzweifelt nach Atem. Der Schock weicht nur langsam. Er rudert verzweifelt mit den Armen herum, bringt den Kopf über die Erdschicht, rappelt sich mit jagenden Lungen hoch und hastet wie von Sinnen den Trichterrand hinauf. Eine panische Angst jagt ihn weiter über die Wiese. Er klettert über einen Steinwall, und dann hört er das höllische Rauschen wieder. Sekunden darauf hat er das Gefühl, als ob seine Lungen zerfetzt würden. Er sieht noch den grellen Lichtblitz der Detonation, wird zur Seite geschleudert und spürt einen brennenden Stich an der linken Schulter. Er sieht den Boden auf sich zukommen und einen großen Stein dicht vor seinem 16
Gesicht. Ein neuer Schmerz an der Stirn, tanzende Funken vor den Augen, ein polterndes Dröhnen im Kopf, dann wird es dunkel um ihn. Er hätte nie sagen können, wie lange er dagelegen hatte, als das dumpfe Brausen im Schädel wieder in sein Bewußtsein dringt und er die seltsame Stille wahrnimmt, die sich ringsum ausgebreitet hat. Sekunden vergehen, bis er den Schmerz an der Schulter wieder spürt und langsam an sich hinuntersieht. Er ist weder entsetzt noch erstaunt, als er das Blut unter dem Riß in der zerfetzten Ärmelhälfte erkennt, und die einzelnen Geschehnisse der letzten Augenblicke ziehen jetzt nacheinander an seiner Erinnerung vorüber. Eine lächerliche Erleichterung will in ihm hochglimmen, Freude, daß er noch lebt, die Glieder bewegen kann und den Himmel sieht, der von wehenden Pulverschwaden noch halb verdeckt ist. Und auf einmal wird es ihm auch klar, daß das mörderische Jaulen in der Luft verstummt ist und die anderen irgendwo weiter im Norden den Beschuß eingestellt haben. Er weiß nicht, warum sie es taten, und er hat auch nicht die Kraft, darüber nachzudenken. Mit fahrigen Bewegungen verbreitert er den Schlitz in der Lederjacke und erkennt eine längliche Wunde im Oberarm, aus der ein feiner Blutstrom herausquillt. In jenem Moment, als er mit der Linken in die Knietasche greift und eines der Verbandspäckchen hervorzieht, hört er hinter sich ein seltsames, schleifendes Geräusch. Entsetzt läßt er die Hand sinken und lauscht. Der Gedanke, daß jetzt vielleicht Engländer oder Kanadier kommen könnten, um ihn zu holen, ist schlimmer als alles andere, was bisher geschah. Doch da hörte er eine leise Stimme, und er sackte erleichtert in sich zusammen. Noch einmal vernimmt er deutsche Worte und dann klar und deutlich den Satz: »Da muß er sein, hinter dem Wall!« Er möchte rufen, etwas hinausschreien, aber er kann es nicht. 17
Es wäre auch nicht nötig gewesen, denn sie sind schon da. Dicht am Boden taucht ein dreckverschmiertes Gesicht unter einem deutschen Stahlhelm neben ihm auf. Dunkle Augen huschen über ihn hinweg, dann lichtet ein schnelles Lächeln die angespannten Züge des Soldaten. »Lebst ja noch, Kumpel. Dich haben sie aber schön eingedeckt, was?« Arme heben sich, und an einem Ärmel der zerschlissenen Feldbluse leuchtet die Armbinde des Roten Kreuzes. »Mensch!« stammelt Jakobs. »Wo – wo kommt denn ihr her?« Der andere sagt nichts. Er preßt das Mullstück eines Verbandpäckchens auf die Wunde und hebt den Kopf. Eine andere Gestalt schiebt sich heran, rollt sich neben Jakobs halb auf die Seite. Es ist ein Obergefreiter, mit mächtigen Schultern und riesigen Händen. »Fertig?« sagt er zu seinem Kameraden. »Ja, nichts Besonderes. Packen wir es?« »Meinetwegen!« »Hör mal«, sagt jetzt der Sanitäter, »wir ziehen dich zurück. Unsere Villa ist nicht weit entfernt. Mit dem gesunden Arm kannst du ein bißchen nachhelfen. Wenn es wieder knallt, verschwinden wir in einem Trichter.« * Der Lichtschein einer halb niedergebrannten Kerze flackert gegen das Verdunkelungspapier an dem kleinen Kellerfenster. Der trübe Schein beleuchtet auch den Oberkörper Hauptmann Kempas. Er liegt halb über dem einfachen Tisch, die Stirn gegen die Arme gestützt. Er schläft. Draußen klingen manchmal die Schritte der Posten durch die Stille, die sich nach Einbruch der Dunkelheit über den Flugplatz gesenkt hatte. 18
Im Osten steigt bereits ein heller Schein über den Horizont. Das erste Licht des neuen Tages breitet sich aus, eine Erscheinung, die innerhalb kurzer Zeit die Vormarschstraßen leerfegt und die Fahrzeugkolonnen in den Wäldern verschwinden läßt. Denn der Tag gehört der alliierten Luftwaffe, und jede Bewegung auf den Chauseen ist für sie ein Grund, sofort nachzusehen. Die Folgen dieser Sorgfalt sind meistens furchtbar. Fahrzeugtrümmer auf den Straßen, ausgebrannte Wagen und frische Gräber an den Waldrändern künden davon. Das Klappern von Stiefeln auf dem schmalen Kellerflur läßt Hauptmann Kempa in die Höhe fahren. Er reibt sich die Augen, dreht sich um und sieht Leutnant Gerstner entgegen, der gerade hereinkommt. »Oh«, sagt Gerstner. »Sie sind noch hier, Herr Hauptmann?« Kempa schiebt sich ächzend hoch, reckt die Glieder und läßt den Blick über den rohen Verputz des Kellerraumes gleiten. Von einer Sekunde zur anderen scheint ihm die Armseligkeit des Raumes, in dem er seinen Gefechtsstand eingerichtet hatte, wieder zu Bewußtsein zu kommen; Er gähnt, zerquetscht einen Fluch zwischen den Zähnen, fährt sich durch sein langes dunkles Haar und fischt eine Zigarette aus der Tasche der Lederjacke. Nachdem er sie angezündet hat, deutet er auf das Telefon. »Ich war so verrückt zu glauben, daß von Jakobs noch etwas zu hören sei«, sagte er dann, und ein grimmiges Lächeln umspielt seine Mundwinkel. Er macht einige hastige Züge, schiebt das Verdunkelungspapier in die Höhe und blinzelt gegen den Lichtbalken, der das schmale Geviert durchbricht. Gerstner sagt nichts. Er nickt nur, zieht einen Stuhl vom Tisch und setzt sich. Draußen bleibt es still. Kein Aufbrüllen von Motoren, kein Lärm von Fahrzeugen, nichts. Die Ruinen der Flugplatzgebäude scheinen ohne Leben. Und sicherlich wird es noch eine gute Stunde dauern, bis die ersten 19
amerikanischen oder englischen Jabos aufkreuzen. Wahrscheinlich nehmen die Herren jetzt gerade ihr opulentes Frühstück ein, denkt Gerstner, während er das düstere, stoppelbärtige Gesicht des Hauptmanns betrachtet. Wir hocken hier wie ein Seeräuberhaufen in einem Versteck und nehmen die Köpfe weg, wenn draußen etwas vorbeikommt. Kempas helle Stimme schwingt wieder durch den Raum. »Was macht unser Haufen?« Gerstner hebt den Kopf und zuckt die Schultern. »Fünf Maschinen im Wald, drei Verluste von gestern, ohne Jakobs, mit Ihnen und mir noch drei Alte und fünf Neue.« »Wunderbar!« knurrt Kempa mit beißender Ironie. »Das genügt, um droben an der Küste Ordnung zu schaffen.« Er setzt sich und schlägt mit beiden Fäusten auf den Tisch. »Gerstner, was wir hier machen ist doch heller Wahnsinn. Kein strategisches Konzept, keine Erfolgsaussichten, nur ein langsames Verheiztwerden. Glauben Sie mir, ich komme mir jedesmal wie ein Schuft vor, wenn ich einen neuen Einsatzbefehl weitergebe.« Er starrt gegen die Wand, zündet eine neue Zigarette an und bläst den Rauch nervös von sich. »Wie, um Himmels willen, soll das denn weitergehen? Ist das denn noch zu verantworten, daß wir uns mit ein paar Krähen in diese Riesenhaufen von Amis und Engländern hineinstürzen und…« Er verstummt, als draußen Schrittgeräusche zu hören sind. Es sind langsame, müde Schritte, die sich jetzt der Tür nähern. Ein kurzes Klopfen. »Ja?« Die Tür öffnet sich. Kempa und Gerstner springen von ihren Stühlen, als ob der Leibhaftige vor ihnen aufgetaucht wäre. Er ist es aber nicht, sondern lediglich eine Gestalt in einer völlig zerfetzten Lederjacke, mit einem weißen Verband um die eine Schulter und einem großen Heftpflaster auf der Stirn. Über das mit Bartstoppeln bedeckte Gesicht huscht ein 20
Grinsen. Der Mann hebt die Hand und sagt dann mit rauher, leiser Stimme: »Oberfeldwebel Jakobs vom Feindflug zurück!« Kempa wischt sich über die Augen, als ob er fürchte, von einer Erscheinung genarrt zu werden. Dann geht er auf Jakobs zu, legt ihm die Hände auf die Schultern und schüttelt den Kopf. Auch Gerstner ist herangetreten, den Blick auf das Gesicht gerichtet, in dem sich die Spuren schwerster Strapazen noch überdeutlich abzeichnen. »Jakobs, alter Junge!« erklingt jetzt Kempas Stimme. »Sind Sie es wirklich?« »Jawohl, ich bin es, Herr Hauptmann!« »Du lieber Gott!« murmelt Kempa fassungslos, während er den Oberfeldwebel auf einen Stuhl zuzieht. »Setzen Sie sich, und wenn Sie noch die Kraft haben, dann erzählen Sie…!« Sie geben dem Oberfeldwebel eine Zigarette, setzen sich vor ihn wie Augenärzte vor einen interessanten Fall und vergessen das Elend, das draußen auf sie wartet; allerdings nur, um es in einer anderen Form wieder serviert zu bekommen. Jakobs sieht meistens an ihnen vorbei, während er spricht. Er erzählt von dem Bombardement der Artillerie auf ihn oder die bauchgelandete »190«, von den zwei Landsern, die ihn in ihre Stellung gezogen hatten, von einem Kompaniegefechtsstand im Keller eines Gutshauses, wo ein junger Hauptmann mit einer Holzhand und dem Eichenlaub sich bei ihm erkundigt hatte, ob die Luftwaffe geschlossen auf Urlaub gegangen sei, und schließlich von der nächtlichen Heimfahrt in einer endlosen Kolonne in Richtung Südwesten. Bei dem Bericht über die Rückfahrt hält er sich etwas länger auf, denn das, was er dabei alles erlebt hatte, war wirklich erwähnenswert. Es war eigentlich mehr ein sprungweises Vorarbeiten als eine zügige Fahrt gewesen, mit dauernden Stockungen, Ausweichmanövern und all den anderen Begleiterscheinungen auf einer völlig verstopften 21
Nachschubstraße. »Heiliger Himmel«, sagte Kempa, als Jakobs schweigt, »das sind ja herrliche Aussichten! Wie, bei allen Teufeln, soll da genügend Zeug nach droben kommen?« Keiner gibt ihm eine Antwort, und möglicherweise hätten ihm nicht einmal hochgestellte militärische Fachleute darauf eine geben können. Sie schweigen, rauchen und starren vor sich hin. Es ist schließlich der Hauptmann, der die lastende Stille wieder unterbricht: »Wie viele Abschüsse haben Sie eigentlich schon, Jakobs?« Der Oberfeldwebel zieht die Augenbrauen zusammen und denkt nach. »So um die fünfunddreißig herum!« »Was? Und da haben Sie nicht einmal das EK I?« »Hat er«, wirft Gerstner ein, der aus der gleichen Staffel wie Jakobs stammt, während Kempa erst vor einigen Tagen den gesamten Restverein auf dem Flugplatz übernommen hatte. »Meistens sieht man es nur nicht an ihm.« Kempa hätte gern festgestellt, daß so etwas gegen die Dienstvorschriften verstoße. Aber er bringt die faden Worte einfach nicht heraus. Sie erscheinen ihm in dieser Situation außerdem so unangebracht wie sonst etwas. Daher knurrt er: »So ist das also? Und was sonst noch?« Jakobs greift in die Seitentasche der amerikanischen Lederjacke, die er sich einmal in Oberursel bei einem Kleiderkämmerer des Lagers für alliierte Luftwaffengefangene hatte geben lassen. Die Amerikaner hinter den Drahtkäfigen brauchten keine Jacken dieser Art mehr, und am eigenen Körper waren sie sehr wertvoll als Brandschutz. Er zieht eine rundliche Metallscheibe heraus, dreht sie um und zeigt dem Hauptmann die Vorderseite des Deutschen Kreuzes in Gold. Gerstner schnauft und zeigt ein genießerisches Grinsen, während Jakobs jetzt erläutert: »Es drückt immer so unter der 22
Schwimmweste.« »Zum Henker!« brummt Kempa. »Das stimmt zwar, aber trotzdem – ich weiß nicht, was ich sagen soll.« Er steht auf, geht an das Fenster, sieht kurz hinaus und lehnt sich dann mit dem Rücken an die kalte Wand. »Irgendwie sind Sie mir unheimlich, Jakobs. Wie bringen Sie es eigentlich fertig, so zu tun, als ob dieses ganze Höllentheater hier Ihnen Höchstens ein müdes Lächeln entlocken könnte?« Der Oberfeldwebel hebt eine Schulter und dann den Kopf. »Das stimmt nicht ganz, Herr Hauptmann«, meint er, über den Armverband tastend. »Mir geht ebenso die Muffe wie allen anderen. Nur hab’ ich vielleicht eine besondere Art, es zu zeigen oder nicht. Außerdem…« Er stockt und betrachtet seine schmutzigen Hände. »Was außerdem?« bohrt der Major. Ein düsterer Ausdruck liegt jetzt auf Jakobs’ Gesicht. »Außerdem«, fährt er fort, »ist es gleichgültig, ob und wann es mich erwischt. Nach mir fragt niemand, und auf mich wartet auch keiner.« »Ach – Sie sind…?« Jakobs nickt. »Ja, ich bin allein. Vater und Mutter sind tot, Geschwister hatte ich nicht, und für Mädchen war keine Zeit.« Er produziert jetzt ein Lächeln, das vielleicht wie eine Entschuldigung erscheinen könnte, sucht nach einer Zigarette und zündet sie an. Kempa blickt wie hilfesuchend auf Gerstner. Das Geräusch eines Motors, der irgendwo anspringt, reißt den Hauptmann aus seinen Gedanken. Sein Blick richtet sich wieder auf Jakobs. »Was sollen wir jetzt mit Ihnen tun?« »Mit mir? Wieso?« Jakobs sieht ihn ziemlich erstaunt an. »Ich würde gern ein bißchen schlafen und dann …« Kempa beugt den Kopf vor. »… und dann wollen Sie vielleicht wieder fliegen?« 23
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»Warum nicht?« sagt Jakobs. »Das, was ich unter den Verbänden habe, hat nicht einmal die Sanis droben beeindruckt. Es sind Kratzer, sonst nichts.« »Mann«, sagt Kempa kopfschüttelnd, »dann in Gottes Namen. Suchen Sie sich eine Matratze und pennen Sie, wenn unsere Freunde von drüben das zulassen. Im übrigen bin ich froh und glücklich, daß Sie wieder da sind.« Er streckt ihm die Hand hin. Jakobs steht auf und ergreift sie. »Jawohl, Herr Hauptmann«, murmelt er. Dann schlurft er auf die Tür zu. Es ist noch die gleiche abgewetzte Lederjacke, auf die englische Kanoniere in der Normandie gezielt hatten. Nur ist sie mittlerweile zwei Tage älter geworden. Sie bedeckt auch noch den gleichen muskulösen Oberkörper und trägt daher in ihrer Innentasche einen roten Frontflugausweis auf den Namen »Jakobs«. Die Jacke, die einmal einem abgeschossenen amerikanischen »Mustang«-Piloten gehörte – man erkennt das an dem Staffelabzeichen, das auch jetzt noch auf der Rückenpartie zu sehen ist –, war seit dem Artilleriescheibenschießen deshalb zwei Tage älter geworden, weil der Stabsarzt der Gruppe naturgemäß mehr zu sagen hat als ein Oberfeldwebel, auch wenn dieser im Besitz des »Spiegeleis« (Deutsches Kreuz in Gold) sein sollte. Überdies waren die Tage Schonzeit nur deshalb so kurz befristet worden, weil Jakobs sich bei dem Medizinmann der Staffel erkundigt hatte, ob er eigentlich wisse, über wie viele Schwarmführer die Staffel noch verfüge. Der Doktor hatte es gewußt, nach kurzem Grübeln kundgetan, daß es sich bei Jakobs’ Zustand um eine bisher noch nicht erforschte Art von Verrücktheit handeln müsse und ihm dann seufzend erklärt, daß es ihm freistehe, sich irgendwo den Hals zu brechen. Jakobs denkt wieder an dieses Zwiegespräch, als er im 25
Morgengrauen zu der Ruine geht, in der Hauptmann Kempa die Nächte manchmal auf einem Stuhl vor dem sogenannten Schreibtisch verbringt. Vor einigen Minuten hatte ihn ein Lastwagen zusammen mit den anderen Piloten der Kampfgruppe zum Flugplatz gebracht. Dies deshalb, weil am Tag zuvor Unterkünfte in einem nahegelegenen Schloß bezogen worden waren. Das war auf Befehl des Hauptmanns nach einem vorausgegangenen nächtlichen Bombardement geschehen. Kempa hatte sich dabei von der Ansicht leiten lassen, daß es sicher nicht im Sinne irgendeiner Vorschrift sei, die letzten Flugzeugführer von den Alliierten in den zerbombten Häusern sozusagen am Boden zerstören zu lassen. Ein weiteres Argument in dieser Richtung war recht interessant und auch einleuchtend gewesen, obwohl 150prozentige Herren sicher sauer geworden wären, hätten sie die Worte gehört: »In einem Schloß sind wir so sicher wie in Adams Schoß, da die Amis bestimmt nicht so blöde sind, solch einen vornehmen Kasten zusammenzuwerfen. Denn immerhin denken sie sicherlich daran, einmal selbst in den Prunkgemächern ihren Feierabend zu verbringen.« Auch diese Worte fallen Jakobs wieder ein, und sie erzeugen seltsamerweise einen faden Geschmack in seinem Mund. Denn schließlich konnte man daraus auch entnehmen, daß nicht einmal ein Mann wie Kempa überzeugt war, an dieser neuen Front noch eine Mustervorstellung mit entscheidenden Konsequenzen geben zu können. Erst jetzt registriert Jakobs die schlurfenden Schritte in seiner Nähe. Er wendet den Kopf, sieht auf die bleichen, unruhigen Gesichter der Neuen und dann dicht neben sich die lange Gestalt von Feldwebel Schading. Er hält eine erloschene Zigarettenkippe zwischen den zusammengepreßten Lippen, schaukelt seine Kopfhaube in der Hand herum und wirft dem Kameraden einen schnellen Blick zu. »Na, verrücktes Huhn«, sagt er mit seiner ewig heiseren 26
Raucherstimme, »wie ist die Stimmung?« »Der blödeste Spruch, den ich seit Jahren gehört habe«, gibt Jakobs zurück. Sein Blick streift die schmale Frontseite des anderen, über der eine leichte Fliegerbluse hängt. Ziemlich weit unten schimmert ein EK I. Die Pelzstiefelschäfte des Feldwebels hängen beinahe auf den Knöcheln. Krummbeinig stapft er dahin, ein schmales Grinsen auf dem Gesicht, mehr einer Vogelscheuche ähnelnd als einem Mann, der einmal in einer Woche fünf Viermotorige (Bomber) abgeschossen hatte und dem es bis jetzt immer gelungen war, selbst aus den dicksten Haufen feindlicher Begleitjäger ungeschoren und meistens noch unter Hinterlassung eines Totalverlustes auf der anderen Seite herauszukommen. Schading gehört zu jenen Flugzeugführern, die Leutnant Gerstner vor Tagen Kempa gegenüber als die »Alten« bezeichnet hatte; mit Jakobs und Gerstner übrigens der letzten einer. Er stammt aus dem Kohlenpott, hat meistens mehr Durst als Illusionen, redet wenig vom Vaterland, noch weniger von seinem Obersten Befehlshaber, scheint seine Aversion gegen den Krieg und »das ganze Affentheater« aber jeweils vollkommen vergessen zu haben, wenn es bei einem Luftkampf »zum erstenmal geklingelt hat«, wie er manchmal zu sagen pflegt. Er und Jakobs kennen sich nun schon über zwei Jahre, und sie kennen sich nicht nur rein äußerlich. Sie wissen auch, wie es in ihnen aussieht, und beiden ist zumindest eines gemeinsam: das Fehlen jeglichen Pathos, die stumme Erfüllung ihrer schweren Pflicht und ein außerordentliches fliegerisches Können. Beide begannen mit der Jagdfliegerei schon im Jahre 1940. Sie hatten die Zeit der triumphalen Siege erlebt, aber auch die Epoche der schwerwiegenden Niederlagen. Und beide sind überzeugt, daß es keinen Sinn hat, sich noch etwas vorzumachen. Denn auch darin sind sie sich einig: Nur ein Wunder kann noch eine Wendung herbeiführen. 27
Wenn sie das alles einem Kriegsberichter erzählt hätten, wären sie von diesem möglicherweise erstaunt gefragt worden, warum sie dann noch aushielten, warum sie sich weiterhin in die Gefahrenwelt des Luftkampfes wagten und sogar noch stetig weitere Erfolge errängen? Es ist ziemlich sicher, daß sie darauf keine Antwort gegeben hätten. Inzwischen haben sie die Ruine erreicht und poltern in den Keller hinab. Der niedrige Raum wirkt wie vernebelt, so dicht hängen die Tabakswolken unter der Decke. Zwischen den bläulichen Schwaden kommen die Gestalten von Hauptmann Kempa und Leutnant Gerstner zum Vorschein. Beide lehnen an der Wand neben dem Kellerfenster, schweigend, mit ernsten, düsteren Gesichtern. Kempa wartet, bis sich alle durch die Türöffnung geschoben haben. Sie scharen sich um ihn herum, und die Jungen sehen ihn aus großen Augen an. Der Hauptmann räuspert sich, blickt kurz auf das Telefon und beginnt dann: »Von der Division kam vorhin der Befehl, die Kameraden der Infanterie droben im Landungsraum nach Kräften zu entlasten. Die Männer lägen im pausenlosen Beschuß von Tieffliegern …« Er stockt, räuspert sich und wirft Gerstner einen hilflosen Blick zu. Dann geht es weiter: »Im Prinzip ist das für uns ja so neu wie die Erfindung des Flugzeugs, aber schließlich mußte es gesagt werden.« Seine Stimme bekommt einen giftigen, ironischen Klang. »Wir werden also nach Kräften unser möglichstes tun und zunächst einmal mit einem Schwarm losziehen, wenn die Leute von drüben rings um den Platz ein Loch zum Starten freilassen.« Sein Blick fällt auf die Gesichter der jungen Piloten, die ihn teils entsetzt, teils fassungslos anstarren, als ob sie glaubten, nicht richtig zu hören. Der harte Gesichtsausdruck Kempas lichtet sich, und etwas wie ein Lächeln huscht über seine Züge. 28
»Nicht so tragisch nehmen, meine jungen Herrschaften, was ich hier sage«, fährt er fort. »Für Sie hat diese Besprechung auch nur mehr informatorischen Charakter. Denn bei diesem Feindflug wird keiner von Ihnen mit von der Partie sein. Oberfähnrich Kulke ist für den nächsten Einsatz vorgesehen.« »Jawohl!« kommt es aus dem Mund des hochgewachsenen Offiziersanwärters. Mit seiner mächtigen Statur und seinen bemerkenswert breitflächigen Händen sieht er eher wie ein Schmied aus als ein vom Gymnasium zur Luftwaffe gekommener Jüngling, der später einmal Flugzeuge konstruieren möchte. »Schön!« nickt Kempa. »Dann weiter. Wir werden also einen Schwarm in die Luft bringen. Fliegen werden Schading, Jakobs, Sie, Herr Gerstner, und ich. Warum ich diese Entscheidung getroffen habe, ist meine Sache. Die nicht eingeteilten Flugzeugführer können in die Unterkunft gehen oder sonst etwas machen. Sie bleiben hier, Kulke.« Leises Hakengeklapper, kurze Wendungen, das Scharren von Schritten, die droben auf der Kellertreppe verklingen. »Nun zu uns!« sagt Kempa. »Wir treten heute also sozusagen in stärkster Besetzung an, und ich will uns wünschen, daß wir uns durchsetzen können. Was uns droben erwartet, dürfte ja klar sein. Zunächst dreht es sich bei diesem Einsatz lediglich um die Ausführung eines Befehls und zweitens darum, einmal festzustellen, wo unsere Chancen noch liegen könnten. Das übrige ergibt sich, wenn der Teufel los ist. Wir haben eine Wolkenfront in rund 2.000 Meter über dem Zielraum, die wir ausnutzen werden. Sie, Jakobs, fliegen mit mir, Schading mit Herrn Gerstner.« Kempa äugte auf den Verband, der unter dem halb herabhängenden Ärmel von Jakobs’ Lederjacke durchschimmert. »Wird es denn gehen?« »Sicher doch, Herr Hauptmann!« Sekundenlang sieht es so aus, als ob der Hauptmann den 29
Kopf schütteln wollte. Er tut es aber nicht, blickt auf das schwarze Zifferblatt seiner Fliegeruhr und sagt dann: »Wir gehen jetzt zu den Maschinen, bzw. fahren hin, wenn die Luft sauber ist. Jeder macht sich startfertig, bleibt aber in der Deckung. Wenn ich eine grüne Leuchtkugel schräg über den Platz jage, kommt ihr heraus, querbeet, wie gehabt. Gleich die Pulle (Gas) rein, raus aus dem Platz und dann hinter mir her. Klar?« »Klar!« erwidern Schading und Jakobs wie aus einem Mund. Gerstner erspart sich das Wort, nickt und zündet sich eine neue Zigarette an. »Gut!« sagt Kempa. »Dann los! Und Hals- und Beinbruch…« Sie sind alle gut aus dem Platz herausgekommen, was vielleicht auch heute darauf zurückzuführen war, daß das Frühstück der »Mustang«-, »Thunderbolt«-, »Lightning«-, Spitfire«- und »Tempest«-Piloten noch nicht beendet gewesen sein mochte. Den vier Männern ist es allerdings gleichgültig, welchem segensreichen Umstand sie den geglückten Start zu verdanken haben, und sie beschäftigen sich auch bereits mit anderen Problemen. Die Straße, die sich von Le Mans nach Mayenne hinüberzieht, haben sie bereits hinter sich. In Gefechtsformation, etwa zwanzig Meter Raum zwischen den einzelnen Maschinen, fliegen sie nordostwärts, der nicht sehr fernen Front entgegen. Kempa führt sie, und er tut das vorsichtig wie ein Mann, der Bescheid weiß. Schon auf der Höhe von Beaumont zieht er leicht nach links, und auch Jakobs erkennt selbst ohne entsprechende Erläuterung, daß sie einen Achtungsbogen fliegen. Dies ist auch der Fall. Weit voraus taucht jetzt die von Kempa anvisierte Wolkendecke auf. Sie steigen, und die Landschaft unter den Tragflächen entfernt sich. 30
Die Sonne blinzelt von Osten her über den Horizont, dem sie vor etwa einer Stunde entstiegen war. Sie hat schon ziemliche Kraft, hüllt die Kabinen in einen glutroten Schein und gleicht einem runden, tückischen Auge, das erwartungsvoll auf die vier Focke-Wulf-Jäger gerichtet ist. Jakobs hat indessen alles andere als ein Gefühl von Vorerwartung in sich, eher eine fatalistische Gleichgültigkeit, jene karge Bescheidenheit, die eigentlich nur aus dem Fünkchen Hoffnung auf ein bißchen Einsatzglück zusammengesetzt ist. Die Höhenmessernadel klettert, und der Oberfeldwebel denkt unwillkürlich an den makabren Witz, der hier schon so alltäglich ist wie Angriffe feindlicher Jabos, das nächtliche Donnern von Bombenexplosionen und der spärliche eigene Mut, der sich von Tag zu Tag mehr unter den Schlägen des Gegners zusammenkrümmt: »Einen Meter über dem Boden beginnt das alliierte Lufthoheitsgebiet!« Noch weiß aber keiner von ihnen, daß die Alliierten rund 13.000 Flugzeuge für diesen neuen Krieg in der Normandie zusammengezogen hatten, ehe sie den Sprung über das Meer wagten. Ihnen genügen schon die Hunderte von feindlichen Maschinen, denen sie bei jedem Einsatz begegnen konnten und deren Piloten ihr Handwerk trefflich zu verstehen schienen. Im FT (Funktelefon) herrscht eine Totenstille, als ob jeder von ihnen den Atem anhielte. Sie haben inzwischen eine Höhe von 1.800 Meter erreicht, steigen noch ein Stück und kurven dann auf die Wolkenfront zu, die wie ein heller Teppich vor ihnen am Himmel hängt. Kempa hat sein »Umgehungsmanöver« inzwischen anscheinend beendet. Er fliegt jetzt genau in Richtung Caen, und die anderen fliegen mit ihm. Noch ist nichts geschehen, und noch ist nichts zu sehen. Keine Punkte am Himmel, winzigen Flöhen ähnlich, die sich durch das blaue Meer der Himmelsschale schaufeln. Keine 31
Spur also von den Gegnern, die meistens wie Mückenschwärme über dem Landungsraum herumschwirren und alles anfallen, was sich in ihr Revier wagt. In Jakobs herrscht wieder jene eigenartige Ruhe, die er sich selbst nicht hätte erklären können. Er blickt unverwandt in die Flugrichtung. Manchmal ruhen seine Augen sekundenlang auf den Konturen der anderen Maschinen, die unbeweglich links und rechts neben ihm in der Luft zu stehen scheinen. Der Hauptmann beugt den Oberkörper jetzt etwas weiter nach vorn, und Jakobs ahnt nichts Gutes. Weit voraus ziehen Pünktchen durch den Himmel, dunkel im Widerschein der Sonne, manchmal wie silberne Kreuzchen, aus denen sich Sonnenreflexe lösen. Da sind sie also! denkt Jakobs nur, während sein Blick über die weite Wolkenwand huscht, über der sie dahinziehen. Es ist ein Anblick von unvergeßlicher Schönheit, diese leicht gewellten, manchmal auch bizarr gezackten Wolkenfirne, aber im Augenblick sind sie eher mit einer weißen Straße vergleichbar, die direkt in die Landschaft des Todes führt. Jakobs läßt einige Atemzüge aus, als er erkennt, daß der Hauptmann wieder zum Steigflug übergeht. Doch das kurze Wundern verschwindet so schnell, wie es gekommen war. So zieht auch Jakobs den Knüppel leicht nach hinten und läßt die Focke-Wulf klettern, den Blick unverwandt auf die Feindmaschinen gerichtet, deren Flughöhe sie bereits Überstiegen haben. Dreitausend Meter – viertausend! Der Hauptmann wackelt kurz mit den Tragflächen und deutet auf die Atemmaske neben seinem Gesicht. Jakobs stülpt die Gummimuschel vor die Nase und gibt das Zeichen weiter. Sein Körper spannt sich, denn es geschieht auch für ihn an dieser Front zum erstenmal, daß er sich mit einem Gefechtsverband in solche Höhe wagt. Meistens attackierten sie irgendein Ziel aus dem Tiefflug heraus, besser gesagt: aus 32
dem Tiefstflug. Sie feuerten, zogen noch eine oder zwei Runden und verschwanden wieder. Über das »amerikanische Hoheitsgebiet« jenseits der »Ein-Meter-Grenze« kamen sie meistens nur dann hinaus, wenn sie triftige Gründe dazu zwangen. 4.500 – 5.000 Meter! In Jakobs glimmt ein Gefühl von Bewunderung für den Mann in der anderen Maschine auf. Er hat mittlerweile erkannt, daß der Hauptmann eine einzigartige Chance sofort nutzte, denn außer den zehn oder zwanzig Feindjägern, die jetzt, schon gut zweitausend Meter unter ihnen und immer noch zahlreiche Kilometer entfernt, durch den Luftraum ziehen, ist keine andere Jägerpatrouille zu sehen. Kempa wackelt wieder mit den Tragflächen und geht dann zum Horizontalflug über. Jakobs und die anderen folgen sofort seinem Beispiel. Sie liegen jetzt in einer leichten Rechtskurve und schwenken weiter nach Osten ein. In Jakobs’ Brust hämmert das Herz. Wie fasziniert blickt er auf die feindliche Jägerpatrouille, die immer noch gemächlich ihre Kreise zieht. Sollten sie tatsächlich…? Der Oberfeldwebel weiß, daß es jetzt losgeht, auch den anderen ist das klar. Sie reagieren blitzschnell wie ein gut eingespieltes Team. Fast gleichzeitig neigen sie die Motorpartien nach unten, immer noch in Gefechtsformation fliegend. Die Amerikaner verschwinden jetzt in der Wolkendecke, einer nach dem anderen. Zwei Maschinen sind noch über der weißlichen Wand, als Kempa den Sturzwinkel verstärkt. Die Entfernung nimmt mit enormer Geschwindigkeit ab. Voraus werden die Konturen der beiden letzten Feindjäger immer deutlicher. Es sind Mustangs. Ihre Piloten scheinen es nicht besonders eilig zu haben, in die Wolken hineinzukommen. Mitten im Sturz dreht Kempa nach Osten. Jakobs drückt leicht an und schert unter ihm hindurch. Auch die anderen 33
beiden Focke-Wulf drehen nach links. Schon Sekunden später turnt der Hauptmann wieder herum. Es war ein blitzschnelles Manöver mit dem Ziel, sich in die Sonne zu setzen. Und dann rasen sie in steilem Sturz weiter nach unten. Die Tachometernadel nähert sich dem Anschlag. Im FT bleibt es still. Jedes Wort wäre unnötig gewesen, denn alle wissen, was zu tun ist. Jakobs hält den Atem an und blinzelt einige Male. Er kann es nicht fassen, daß die beiden Mustang-Piloten dort unten immer noch nichts gemerkt haben sollten. Im übrigen wäre es jetzt auch schon zu spät dazu, denn Kempa feuert bereits. Die Kanonengarben, aus vier 2-cm-Waffen abgefeuert, züngeln der letzten Feindmaschine entgegen, fressen sich in den hellen Leib und wirken wie eine brennende Lunte in einem Pulverfaß. Innerhalb von Sekunden verwandelt sich die P-51 in einen grellen Feuerball. Der zweite Mustang-Pilot reißt seine Maschine entsetzt zur Seite. Er zieht durch Jakobs’ Leuchtvisier, und die rötlichen Linien des Fadenkreuzes folgen ihm. Ein Tritt ins linke Seitenruder, ein jähes Herausdrehen aus dem Kurs, eine halbe Rolle, und die Focke-Wulf des Oberfeldwebels rast in engem Bogen auf das Leitwerk der P-51 zu. Die mit schwarz-weißen Streifen bemalten Tragflächen werden immer größer, wachsen über das hin und her’ ruckende Visier hinaus, aber Jakobs bleibt auf der Spur. Er feuert in den Vorhalt, als die Mustang einige hundert Meter vor ihm steil nach oben zieht. Der untere Rand des Visiers sitzt auf der Oberkante der langen Motorpartie. Die Zerlegergeschosse zucken in kleinen Blitzen darüber hinweg, neue Feuerschlangen zischen heran, und dann ist es, als ob ein gewaltiger, unsichtbarer Hammer auf die Feindmaschine herabgesaust wäre. Blech teile lösen sich aus der Motorverkleidung, die linke Tragfläche knickt nach hinten weg, Flammenzungen schießen aus dem Rumpf hervor. In 34
einer langen Rollbewegung dreht die Mustang auf den Rücken, schüttelt sich und kippt dann trudelnd nach unten weg. Während Jakobs daran vorbeirast, fällt das lichterloh brennende Flugzeug bereits den Wolken entgegen, in denen es Sekunden später verschwindet. Ein Druck am Knüppel, und die Focke-Wulf legt sich in eine Linkskurve. Jakobs’ Blick irrt ununterbrochen zwischen Kempas »190«, der Wolkenwand und den anderen beiden Maschinen hin und her, die jetzt in engem Formationsflug von rechts herangeflitzt kommen. Kein Zuruf über das FT, keine erregten Stimmen, nichts. Die Funkbrücke zwischen den einzelnen Jagdmaschinen wird auch jetzt noch nicht benutzt. Acht Augenpaare starren auf die Wolkenwand, jeden Augenblick des Auftauchens der anderen Amerikaner gewärtig. Und da sind sie auch schon! Dicht hintereinander schnellen sie aus der weißen Dunstschicht heraus, jagen an den Wolkenbergen vorbei, die langen Motorschnäbel in steilem Winkel nach oben gerichtet. Wie wütende Rieseninsekten sehen sie aus, die ihre Fühler jetzt witternd in die Höhe recken. Kempa hat den Fahrtüberschuß ausgenutzt. Sie steigen wieder und entfernen sich immer mehr von der Schar der Gegner, die sich mit jeder weiteren Sekunde vergrößert. Die vier Deutschen fliegen wieder in Gefechtsformation, die gedrungenen Bugpartien der im Osten stehenden Sonne entgegengerichtet. Jeder von ihnen weiß, was ihnen jetzt blüht, wenn die Amerikaner ihre Position ausgemacht haben. Aber seltsamerweise scheint das bis jetzt noch nicht der Fall gewesen zu sein. Doch! Auf einmal geht ein Ruck durch die Spitzenmaschine. Kleine Kondensfähnchen stäuben von den Tragflächenspitzen nach hinten. Die Mustang wird auf Gegenkurs gezogen, steigt sekundenlang, bleibt aber dann wieder im Horizontalflug. 35
Jakobs starrt auf die zebragestreiften Flugzeuge hinab wie ein Unbeteiligter. Die Angst hat sich irgendwo in ihm verkrochen. Sie wird im Augenblick auch nicht benötigt, da sie eine absolut bessere Position innehaben. Auch diese Tatsache ist für den Oberfeldwebel so unfaßbar wie das Verhalten der beiden Mustang-Piloten, von denen mindestens einer vorhin den Tod gefunden hatte. Der zweite mag zu diesem Zeitpunkt unterhalb der Wolken am Fallschirm hängen. Sekunden vergehen noch, bis Jakobs entsetzt erkennt, warum der Führer des Mustang-Verbandes soeben den begonnenen Steigflug abgebrochen hatte. Für Sekunden lahmt noch der Schock die Kehle des Oberfeldwebels, doch dann schreit er den Warnruf hinaus: »Achtung, von oben – viele Indianer (Feindjäger)!« Er sieht, wie Kempa in der anderen Maschine den Kopf herumreißt. Eine, zwei Sekunden vergehen. Dann bewegen sich die Tragflächen der benachbarten Maschine, und im gleichen Augenblick erklingt Kempas Stimme ruhig, monoton fast: »Wir hauen ab. Mitten durch die anderen. In die Wolken und dann Tiefstflug. Los!« Die Motorspitze seiner Focke-Wulf kippt nach vorn. Während der Fahrtwind mit hohem Singen um die stürzende Maschine heult, hat er das Gefühl, zu einem Besuch der Hölle aufgebrochen zu sein. Denn das, was jetzt geschehen wird, ist so eindeutig und klar wie sonst etwas. Unten spritzen die Mustangs auseinander, denn immerhin könnten sie einen neuerlichen Angriff befürchten. Ihre Umrisse werden größer und größer, dann ist ihre Flughöhe bereits erreicht. Dicht neben dem Hauptmann jagt Jakobs an ihnen vorbei. Irgendwo weiter rechts müssen Gerstner und Schading fliegen. Für Sekunden sieht Jakobs die Kabinen der Feindmaschinen wie große, gläserne Augen. Darunter die weißblauen Sterne, die Zahlen am Rumpf, die bizarre 36
Bemalung. Doch dann kommt die Wolkendecke auf die Frontscheibe zu. Fetzen huschen vorbei wie Gespensterarme. Ein trübes Zwielicht erfüllt die Kabine. Zur Linken ein großer Schatten: die Focke-Wulf des Hauptmanns. Das Herz flattert wie verrückt, Schweiß löst sich aus den Poren. Was werden die Amerikaner über den Wolken tun? Jakobs krümmt den Oberkörper zusammen, unbewußt, wie in der Erwartung einer tödlichen Gefahr. Es wird heller vor der Kabine, und dann liegt das sonnenschillernde Land wieder unter der erdwärts rasenden Maschine. Der Hauptmann dreht im Sturz nach links ein. Jakobs tut es ebenfalls. Von rechts her sieht er über sich die beiden anderen herabjagen. Kempa sitzt weit nach vorn gebeugt in der Kabine. Die Erde kommt mit enormer Geschwindigkeit näher. Mit stockendem Atem sitzt Jakobs hinter dem Knüppel. Er wagt es kaum, nach hinten zu sehen, aber dann tut er es doch. * Der Oberfeldwebel auf der Flugleitung von Dreux, etwa 70 Kilometer südwestlich von Paris, blickt durch das löchrige Glasfenster auf die Betonpisten des Flugplatzes, dorthin, wo vor einigen Tagen eine Ju 52 von einer Schar Thunderbolts für immer in einen Schrotthaufen verwandelt wurde. In silbernen Wellen löst sich die Wärme vom Asphalt der Startbahn. Die Ruhe, die zur Zeit herrscht, ist fast noch schlimmer als all das, was sich Tag für Tag hier zu ereignen pflegt. Denn sie ist eine einzige Lüge, ein Trugschluß ohnegleichen. Es dauert allerdings nicht lange, bis es wieder anders wird. Ein dumpfes Dröhnen von Nordosten her läßt den Oberfeldwebel zusammenzucken, und auch der ihm gegenüberliegende Gefreite zeigt sofort Wirkung. Sie haben allen Grund für die jähe Unruhe, denn die hauptsächlichsten Interessenten für den 37
Platz in der weiteren Nachbarschaft von Versailles sind sehr schnelle und ebenso gefährliche Jagdmaschinen mit amerikanischen Kennzeichen, die immer wieder nachsehen, ob es rings um das Rollfeld nicht etwas zusammenzuschießen gibt. Seufzend richtet der Oberfeldwebel sich auf, bewegt seine dünne Gestalt in Richtung Fenster und kann es kaum glauben. Fassungslos blickt er der einzelnen Focke-Wulf 190 nach, die gerade eine Schleife zieht und dann zur Landung anschwebt. Es ist eine äußerst gekonnte, aus einem beachtlichen Slip heraus angesetzt, dann ein Bremsen der Fahrt durch Seitenruderbewegungen kurz vor dem Landekreuz und schließlich ein haarsträubendes Hinunterplumpsen. Dieses wird aber kurz über dem Erdboden durch rasches Gasgeben sekundenschnell beendet, und die Musterlandung ist fertig. Der Pilot rollt aus und tuckert mit einem Höllentempo auf das Flugleitungsgebäude zu, dessen mit vielen Löchern versehene Fassade von der Schießfreudigkeit alliierter Jäger zeugt. Die Maschine stoppt in der Nähe, ein in Leder gekleideter Mensch, der immer länger wird, schiebt sich aus der Kabine, verharrt kurz auf der Tragfläche, rutscht dann hinunter und stapft auf die Flugleitung zu. Er bleibt nach wenigen Schritten wieder stehen, als ein Traktor mit einigen dunklen Figuren darauf heranknattert, und sieht offenbar ohne jedes Erstaunen zu, wie die Männer in aller Eile eine Zugstange am Sporn der »190« befestigen und diese dann von dannen ziehen. Der Oberfeldwebel aus der Flugleitung steht jetzt in der Tür. Der andere in der Lederjacke steigt gemächlich die Treppen herauf, grinst und tippt an seine speckige Schirmmütze. »Tag«, sagt er, »habt ihr ’n bißchen Sprit für ’nen armen Landstreicher?« »Mann«, erwidert der Oberfeldwebel anstelle einer Antwort, »du mußt lebensmüde sein. Bist du wirklich ganz allein?« 38
»Sicher!« nickt der aus der Focke-Wulf. Sein Grinsen vertieft sich. »Das Geschwader, das mich begleiten sollte, wird von Hermann (Göring) erst zu Weihnachten geliefert.« Kopfschüttelnd nimmt der Flugleiter diese Rede zur Kenntnis. Sein Blick huscht über das hagere Gesicht mit den dunklen Bartstoppeln, über die abgewetzte Lederjacke, die jeglicher Dekoration ermangelt, an der Lederhose herab und dann wieder hinauf zum oberen Ende des gut einsneunzig großen Flugzeugführers. »Was bist du eigentlich? Gefreiter Arsch oder General? Und was willst du hier?« Der Lange zündet sich eine Zigarette an und zuckt die Schultern, ehe er sagt: »Zwischendrin, mein Alter, Oberfeldwebel nämlich. Was ich hier will? Nun, das habe ich schon gesagt. Um es kurz zu machen: Ich arbeite zur Zeit für einen Überführungshaufen und soll diese Krähe, mit der ich gekommen bin, zu einem Verein bei Le Mans bringen.« »Du lieber Gott«, stöhnt der Oberfeldwebel, »und ganz allein?« »Warum nicht?« meint der andere. »Man kann schlecht mit zwanzig Kisten kommen, wenn nur eine da ist.« Er zerrt an seinem Seidenschal herum und bringt dabei etwas zum Vorschein, das den Oberfeldwebel erneut in Verwirrung versetzt: ein Stück des Ritterkreuzes. Er scheint aber nicht geneigt, die Bewunderung im Blick des Kameraden zur Kenntnis zu nehmen. Nach einem hastigen Zug aus der Zigarette sagt er: »Wie sieht es hier denn aus? Offenbar recht beschissen, wie?« »Das kann man ohne Übertreibung behaupten«, nickt der Flugleiter mit einem mißtrauischen Blick auf das Rollfeld. »Schätze, du hast so ziemlich die einzigen Minuten erwischt, wo hier die Luft sauber ist.« »Hab’ das schon einmal gehört heute«, entgegnet der andere. 39
»Heiße übrigens Krautschneider.« »Sebald«, stellt sich der Mann aus der Flugleitung vor. Unter seiner Mütze ragen graue Haare hervor, und der Focke-WulfPilot bekommt den Eindruck, daß sein Gegenüber bedeutend älter ist als er selbst. Ein Mechaniker kommt herbei und wirft dem Oberfeldwebel einen fragenden Blick zu. »Was soll mit dem Kahn passieren?« »Tanken«, sagt Krautschneider, »und möglichst voll!« »Ja, macht das!« sekundiert Sebald. Der Flugzeugwart, es ist ein Unteroffizier, nimmt die Anweisung ohne Kommentar entgegen und dreht sich um. »Komm!« Sebald zieht den Flugzeugführer in den Flur hinein. »Ein bißchen wird es schon dauern. Willst du gleich wieder weiter?« »Das will ich«, nickt Krautschneider, während er auf einen Sessel in der Nähe des Flugleiter-Schreibtisches zusteuert und sich darauf niederläßt. Sebald wirft zuerst einen Blick nach draußen, ehe er sich ebenfalls setzt. »Wo kommst du eigentlich her?« »Von Köln-Ostheim!« Wieder ein Blick über das Rollfeld, dann die Frage: »Und du bist bei einem Überführungshaufen, mit – mit dem da am Hals?« »Im Augenblick«, erläutert Krautschneider, »nur für einige Zeit. Manchmal machen sie das mit uns, wenn du wieder ein Loch in der Pelle hast und noch nicht frontuntauglich bist. Entweder geht es dann zur Ergänzungsgruppe oder zu so was. Die Überführerei war mir aber lieber. Wird sowieso nicht mehr lange dauern, bis ich meinen Club in der Reichsverteidigung wiedersehe.« »Reichsverteidigung?« schnappt der Oberfeldwebel. »Bei was denn?« 40
»JG11!« »Ah, das ist…« Die nächsten Worte bleiben unausgesprochen. Sebald fährt vom Stuhl hoch, rennt an das Fenster und spreizt die Hände vom Körper. Der andere ist sitzengeblieben. Er kann die fünf oder zehn Mustangs, die am westlichen Platzrand in etwa hundert Meter Höhe vorbeiziehen, auch so erkennen. Dafür sind die nächsten Worte des Kameraden am Fenster nicht mehr zu verstehen, da draußen ein ohrenbetäubendes Hämmern eingesetzt hat, Feuerschlangen von Fla-Geschützen züngeln auf den Mustang-Verband zu, der sofort im Tiefstflug verschwindet. »Ein verdammt gutes Orchester scheint ihr hier zu haben«, stellt Krautschneider lobend fest. Er steht jetzt neben dem Oberfeldwebel am Fenster und sucht die Feindmaschinen, die aber nirgendwo mehr zu sehen sind. »So ziemlich das einzige, was wir hier noch haben«, knurrt der andere, während seine Augen pausenlos hin und her irren. Aber die Mustangs bleiben verschwunden. Auch das Flakfeuer wird schwächer und ebbt schließlich ganz ab. »Vernünftige Leute«, meint Krautschneider, während er sich eine neue Zigarette anzündet. »Flak ist etwas Übles. Läßt sich schlecht berechnen.« Sebald sieht ihn mit schiefgeneigtem Kopf an. »Sag einmal«, schnauft er, »dich kann wohl überhaupt nichts erschüttern. Kannst du mir nicht verraten, wo es die Nerven zu kaufen gibt, die du trägst?« »Hab’ den Laden vergessen«, erwidert Krautschneider, ohne eine Miene zu verziehen. Er stopft die Zigarette in einen Aschenbecher und wendet sich dann wieder dem Flugleiter zu. »Zittern, Heulen oder Zähneklappern käme schließlich auf das gleiche raus, oder nicht? Glaub nur nicht, daß es mir so wohl ist, wie ich tue. Uns saust genauso der Frack wie dir und allen anderen, denn schließlich schiebt jeder nur einmal ab. Aber 41
vielleicht haben wir uns bereits daran gewöhnt, an dieses verdammte Theater. So ungefähr wird es wohl sein.« Der Oberfeldwebel will etwas erwidern, unterläßt es aber, weil der Unteroffizier von der technischen Kompanie gerade wieder hereinkommt. »Die Maschine ist betankt!« sagt er. Ohne eine Antwort abzuwarten, geht er wieder hinaus. Krautschneider zerrt eine verdrückte Karte aus der Knietasche seiner Lederhose. Er hält, sie in die Höhe, fährt mit dem Zeigefinger unter der Markierung von Paris entlang und murmelt dabei: »… kein Problem, schöne Straße dorthin… Dann steckt er die Karte wieder weg. »Willst du schon abhauen?« »Ja! Mal sehen, wie es draußen aussieht. Hauptsache, ich bin weg, wenn die Herren wieder zurückkommen sollten.« Der Flugleitungs-Oberfeldwebel atmet erst auf, als die »190« in südwestlicher Richtung mit dem Horizont verschmilzt. * Wie von einem Katapult geschleudert, fallen die Mustangs aus der Wolkenwand heraus. Jakobs gibt es auf, sie zu zählen, denn es werden immer mehr. Er hat keine Zeit mehr, eine Bilanz zu ziehen, auch keine Bereitschaft dazu. Es gibt nur noch eine Alternative: den Kampf um das nackte Leben. Trotzdem bleibt noch ein letztes Quentchen Hoffnung übrig, ein winziges Fünkchen nur. Die anderen mit den buntbemalten Maschinen sind noch nicht sehr nahe, vielleicht sogar noch tausend Meter entfernt. Denn immerhin hatten sie den Verfolgungssturz etwas später angesetzt, und dann auch nicht sofort in diesem Winkel. Die Focke-Wulf stürzen immer noch. Zwei sind es nur, denn von Schading und dem Leutnant ist nichts mehr zu sehen. Beim nächsten Blick nach hinten wird es Jakobs sofort klar, 42
daß die Kameraden vorhin wahrscheinlich nach Nordwesten abgeschwenkt waren. Er erkennt es daran, daß die Mustangs sich jetzt teilen. Es ist ein schwacher Trost; denn die »Zebras« hinter ihnen sind auch so noch beträchtlich in der Überzahl. Der Hauptmann fliegt weiterhin auf die schnell heranrasende Erde zu. Die Höhenmessernadel fällt, als ob die Feder gesprungen wäre. Sie zeigt aber richtig an, denn es sind höchstens noch zweihundert Meter bis zu der grünen Wipfelfläche eines Waldes. Eine unerklärliche Gleichgültigkeit hält in Jakobs Einzug. Es ist aber bei weitem nicht jene Gelassenheit, die man den sogenannten Helden in brandgefährlichen Situationen manchmal gern zuschreibt – wenn alles vorbei ist. Es ist mehr Resignation, das Wissen um die Sinnlosigkeit des Kampfes, die aber auch diesmal sehr schnell wieder eine andere Empfindung im Gefolge hat: jäh aufwallenden Trotz, wütende Entschlossenheit und den Willen, es noch einmal zu versuchen. Kempa tut das bereits. Ohne vorheriges Zeichen reißt er die »190« jetzt aus dem Sturz heraus; ein Manöver, das sich mit der Focke-Wulf großartig und blitzschnell durchführen läßt. Jakobs sieht nur die nach oben ruckende Motorpartie, und schon hat auch er den Knüppel nach hinten gezogen. Die Maschine bäumt sich auf, sinkt aber noch ein Stück weiter nach unten, hinabgerissen von ihrem tonnenschweren Gewicht. Doch dann schwingt sie aus, bäumt sich hoch und schnellt mit nahezu achthundert Stundenkilometern wieder der Wolkenschicht entgegen. Das Abfangen erfolgte so schnell, daß sie schon auf Gegenkurs an den ersten Mustangs vorbeijagen, als diese noch nicht einmal in der Horizontalen liegen. Die Wolkendecke kommt näher und näher, dann ist sie da. Die hellen Fetzen werden von den Motoren durchstoßen, einige Sekunden trübes Zwielicht in der Kabine, dann umfängt sie der blaue Himmel 43
wieder. Jakobs erkennt mit einem Blick, daß die anderen Feindmaschinen, die vorhin hoch über ihnen aufgetaucht waren, weit im Norden durch den Himmel ziehen, gut zweitausend Meter höher. Es dünkt ihm wie ein Wunder, daß es so ist und daß wenigstens für diese Sekunden nichts hinter und um sie herum ist als der weite Himmel. Der Oberfeldwebel machte bis jetzt jede Flugbewegung des Hauptmanns mit, meistens schon in der gleichen Sekunde. Im Augenblick ist das nicht mehr nötig, weil Kempa keine mehr ausführt. Er läßt seine Maschine weiter steigen, geht jetzt zur Rückenlage über, zieht die »190« in einen Looping-Bogen hinein, und Jakobs ahnt, was jetzt kommen wird. Die Genugtuung über den Plan des Hauptmanns, den er bereits erfaßt zu haben glaubt, ist groß. Sie liegen nun beide auf dem Rücken, etwa zwanzig Meter voneinander entfernt, und heulen erneut der Wolkendecke entgegen. Jakobs sieht, wie Kempas Focke-Wulf in die Normallage rollt. Ein Knüppeldruck, und er dreht ebenfalls in die Horizontale. Eine enge Messerkurve folgt, aus der sie wie ein Fahrstuhl der weißen Dunstwand entgegensinken. Es ist ein Spiel mit dem Tod, mit ihrer letzten Chance. Jakobs weiß das nur zu gut. Aber er spürt weder den Schweiß, der ihm aus allen Poren läuft, noch den Druck im Magen – nichts mehr. Nur noch eine spannungsgeladene Erwartung ist in ihm. Sie fallen weiterhin auf die Wolken zu, die eine Tragfläche immer noch der nun wieder gut tausend Meter entfernten Erde entgegenstreckt. Dann aber zieht der Hauptmann dicht über der Wolkenwand um 180 Grad herum. Jakobs schert über ihn hinweg, mit stockendem Atem. Denn wenn es gelingen sollte, dieses verrückte Wagnis, dann jetzt… Ein dumpfer Laut dringt aus seiner Kehle, als die erste Mustang aus den Wolken herausschießt. Sie jagt ein Stück nach oben, wird dann in die Horizontale gelegt und fliegt nach 44
Süden weiter – dorthin, wo nach menschlichem Ermessen die beiden Deutschen eigentlich zu suchen sein müßten. Der Hauptmann feuert aus allen Bordwaffen, als die dritte oder vierte Mustang kaum hundert Meter vor ihm aus der Dunstwand herauskommt. Die Maschine wird voll getroffen. Sekundenlang scheint wie sich wie unter Schmerzen aufzubäumen, rote Brandfahnen über dem Motor. Während sie zur Seite kippt, legt Kempas »190« sich bereits in eine rasante Gegenkurve, und schon wenige Augenblicke später donnern sie mit aufbrüllenden Motoren wieder in die Wolken hinein. Sie durchstoßen die vielleicht hundert Meter dichte Dunstdecke und fliegen dicht an der Untergrenze nach Südosten weiter. * Krautschneider fliegt kaum zehn Meter hoch. Er lenkt die Focke-Wulf an der Straße entlang, die von Nogent-le-Rotrou nach Le Mans führt. Sein Blick wandert pausenlos in die Runde, und lediglich dann, wenn er über Hochspannungsleitungen hinwegzischt oder sonstige Hindernisse überwindet, konzentriert er sich völlig auf die Flugrichtung. Die Spannung beginnt sich langsam in ihm zu lösen, denn der Platz, auf dem er die neue Maschine abliefern soll, ist nicht mehr fern. Die Focke-Wulf zischt gerade über einen großen Bauernhof, als Krautschneider links voraus einige Flugzeuge über den Horizont huschen sieht. An der Art, wie das geschieht, erkennt er sofort, daß da vorn kein Spaß im Spiel ist. Von einer Sekunde zur anderen kehrt die volle Konzentration wieder zurück. Wenige Augenblicke später zeigen einige der noch recht klein wirkenden Flugzeuge die Breitseite. Krautschneider kennt diese Silhouetten so gut wie den Inhalt seiner Taschen, und er weiß sofort, daß es sich um Mustangs handelt. In vielen Situationen ähnlicher Art hatte Krautschneider eine 45
Menge diesbezüglicher Erfahrungen gewonnen. So läßt er seiner Überraschung auch nur wenige Sekunden Zeit und legt die »190« um einige Grad nach Süden. Es ist ihm schon jetzt klar, daß voraus das gleiche geschieht, was er in der Reichsverteidigung schon unzählige Male erlebt hatte: Mustangs verfolgen eigene Maschinen, die landen wollen. Die Focke-Wulf dreht weiter nach Süden, und die Entfernung zu den immer wieder hochschnellenden Jagdflugzeugen verringert sich nur wenig. Während er den Luftraum hinter sich und das scheinbar spielerische Herumjagen der Jäger vor der Frontscheibe abwechselnd beobachtet, überrechnet er kurz die zurückgelegte Flugstrecke und kommt zu der Erkenntnis, daß es mit dem Sprit in den Tanks noch recht gut aussehen muß. Eine Pappelreihe zieht auf die Focke-Wulf zu. In schnellem Entschluß zieht Krautschneider im Messerflug zwischen zwei hohen Bäumen durch und bleibt unten. Sein Instinkt sagt ihm, daß er es sich jetzt keinesfalls erlauben kann, über dem Horizont zu erscheinen. Er weiß noch nicht, was er tun soll. Doch das wußte er bei gleichartigen Gelegenheiten schon des öfteren nicht, und diesmal ist es nicht viel anders. Rechts vom Kurs sieht er jetzt seltsam verzackte Gebäude vor einem länglichen Oval, und er registriert sofort die Tatsache, daß dies der Flugplatz sein muß, zu dem er beordert wurde. Die Häuser sind offenbar halb zerstört, und dann bemerkt er auch den hektischen Reigen der einander verfolgenden Flugzeuge wieder. Krautschneider schätzt, daß sie noch etwa zweitausend Meter entfernt sind. Auf einmal erkennt er auch, daß es sich um zwei Focke-Wulf handelt, die von vier Mustangs verfolgt werden. Die wie eine Perlenkette anmutende Versammlung von hintereinander durch die Luft ziehenden Flugzeugen schlängelt sich gerade wieder in die Höhe. Sie kurven nun nach Südosten, und die letzten Maschinen schwenken genau auf den 46
Kurs der einzelnen Focke-Wulf. Da schaltet Krautschneider das Reflexvisier ein … * Oberfähnrich Kulke steht bei einigen Mechanikern, die soeben aus einer Splitterbox herausgekommen waren. Die anderen Flugzeugführer, die Kempa für diesen Tag praktisch von weiteren Einsätzen ausgeschlossen hatte, waren zu den Unterkünften gefahren. Einer der Warte, ein hagerer Obergefreiter mit einem ölverschmierten Gesicht, wirft jetzt dem Oberfähnrich einen schiefen Blick zu. Es ist nicht viel Respekt darin. Auch in den Worten nicht, die jetzt folgen: »Hat man Sie allein übriggelassen, Herr Oberfähnrich?« Kulke will gerade etwas sagen, als in einiger Entfernung Motorengeräusch aufklingt. Er fährt herum, blickt nach Nordwesten, wo das soeben noch dünne Brummen mit jeder weiteren Sekunde mehr und mehr anschwillt. Weder er noch die Warte brauchen lange an der Ursache dieses Geräusches herumzurätseln. Zunächst kommen zwei Focke-Wulf 190 in Sicht, tief wie immer in diesen Tagen, und offenbar in ziemlicher Eile. Die Maschinen liegen in einer engen Messerkurve und drehen jetzt auf den Platz ein. Schon einige Sekunden später wird ersichtlich, daß die beiden »190« nicht ohne Begleitung vom Einsatz zurückgekommen sind. Ein ganzer Rattenschwanz von Mustangs schnellt plötzlich über den Horizont, und die Warte ziehen sich unwillkürlich weiter in Richtung Splitterbox zurück. Auch der Oberfähnrich tut es. Aber das Schauspiel am Himmel fasziniert und erregt ihn dermaßen, daß er jegliche weitere Vorsicht vergißt. Er zuckt zusammen, als jetzt ein wahrer Donnerschlag durch die Luft hallt. Die zahlreichen, in Platznähe postierten Fla-Geschütze hatten schlagartig das 47
Feuer eröffnet. Ihre Leuchtspurschnüre bewirken, daß die Mustangs respektvoll auseinanderschwirren. Doch selbst Kulke, der an der neuen Front bis jetzt zwei Feindflüge hinter sich gebracht hatte, ahnt sofort, daß dieses Abschwenken noch lange nicht das Ende der Hatz auf die beiden Kameraden bedeuten muß. Sie kommen jetzt wieder zum Vorschein, fliegen dicht über die zerstörten Gebäude hinweg, drehen nach Süden und zeigen dabei kurz die Breitseiten. »Gerstner und Schading!« stößt einer der Warte hervor. »Menschenskind, wenn das man gutgeht!« Die Flak hat das Feuer eingestellt, und die beiden FockeWulf verschwinden aus dem Gesichtskreis. In das charakteristisch tiefe Brummen ihrer Motoren mischt sich jetzt wieder das andere Geräusch der Mustang-Triebwerke. Sie kommen diesmal von Süden her. Zu sehen sind sie noch nicht, dafür um so besser zu hören. Plötzlich huschen sie in die Höhe, senken blitzschnell die Schnauzen und überschütten die am Südrand des Flugfeldes stehenden Flak (Flugabwehrkanonen) mit einem schweren Geschoßhagel. Die Kanoniere halten sich aber unvorstellbar gut und erwidern das Feuer. Ein Vierling hämmert seine Flammenschnüre in die Höhe. Die zweite Mustang wird voll getroffen, kommt ins Wanken und dreht mit einer müden Bewegung nach Süden ab. Die anderen donnern nacheinander über den Platz, ohne jedoch zu feuern. Weiter nördlich tauchen jetzt die zwei »190« wieder auf. Kulke beobachtet sie mit starren, schreckgeweiteten Augen. Er sieht, wie die Mustangs von Nordosten her auf sie einschwenken, steigen und dann wieder nach unten stoßen. »Die armen Kerle!« seufzt einer der Warte … *
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Krautschneiders »190« dreht nach Norden ein, kaum fünf Meter über der Erde. Er jagt über einsame Fermes (franz. Bauernhöfe) hinweg, über Wasserläufe, Felder, Weidezäune, zwischen denen verschreckte Kühe herumrennen. Sein Blick ist dorthin gerichtet, wo er vorhin die Mustangs verschwinden sah. Er weiß jetzt, daß es sieben Maschinen sind. Links von ihm, einige hundert Meter entfernt, wälzt sich eine Rauchwolke über die Erde, und Krautschneider hat das Gefühl, daß sich dort eine Bauchlandung abspielt. Doch dann sieht er die beiden Focke-Wulf wieder und ein Stück darüber die Mustangs. Er zählt sie erneut und stellt fest, daß es nur noch sechs sind. Die Flak! denkt er, denn die Leuchtspurgarben, die vorhin in den Himmel gezischt waren, hatten sich wie eine feurige Gitterwand vor sein Blickfeld geschoben. Krautschneiders Gedanken arbeiten jetzt mit jener Präzision, die selbst der beste Lehrer nicht vermitteln könnte. Sie setzt sich aus einem gewissen Maß an entsprechender Veranlagung, hauptsächlich aber aus einer Fülle von oft schmerzlichen Erfahrungen zusammen. Trotzdem weiß er immer noch nicht, was er wirklich tun will. Bis jetzt ist ihm nur eines klar, daß er nämlich unter diesen Umständen alles ins Auge fassen kann, nur keine Landung. Der Platzrand kommt auf ihn zu, und der Oberfeldwebel kurvt dicht über der Grasnarbe nach Westen ein. Er tut das vor allem wegen der Flak, die in solchen Fällen meistens auch mit eigenen Maschinen nicht viel Federlesens macht. Aus der Messerlage heraus sieht er wieder nach Nordwesten, und auf einmal weiß er, was er tun muß. Eine Stimme in seinem Unterbewußtsein warnt ihn allerdings vor dem tödlichen Risiko, das in seinem Vorhaben liegt, aber der Oberfeldwebel hat diese Bedenken bereits hinter sich. Er sieht nur noch die Maschinen der beiden Kameraden, die dahinter einkurvenden Mustangs und kann sich vorstellen, daß die zwei 49
in den »190« offenbar landen wollen. Wieder ein Blick nach hinten, dann legt Krautschneider die Jagdmaschine in die Horizontale. Er prescht jetzt im Tiefstflug – fast auf Gegenkurs zu der etwa tausend Meter entfernten Mahalla (Ansammlung) aus zwei Focke-Wulf und sechs Mustangs – über die Erde. Ein Druck am Gashebel, und der Motor röhrt auf der Notleistung. Die Tachometernadel schnellt mit kleinen Rucken nach oben. Unten zischt Wiesenland vorbei, scheinbar zum Greifen nahe. Ein Waldstück rast auf die Frontscheibe zu. Dicht über den Wipfeln beschreibt der Oberfeldwebel eine leichte Kurve. Die Motorpartie dreht nach Norden, nach Nordosten und dann nach Südwesten. Sekunden später liegt sie in jener Richtung, wo zu diesem Zeitpunkt die letzte Mustang des Feindverbandes gerade ihrem Vordermann folgt. Ein schnelles Atemholen noch, dann ist Krautschneider bereit für das Duell um Tod oder Leben. Der Steuerknüppel ruckt nach hinten, und die Maschine richtet sich auf. Wie ein Pfeil jagt sie vom Boden weg. In Sekundenschnelle ist die Flughöhe der anderen erreicht und überflogen. Dann ein blitzschneller Tritt ins rechte Seitenruder, ein neuerlicher Zug am Knüppel. Die Focke-Wulf kippt zur Seite, dreht, und die letzte Mustang wandert ins Visier. Schon in diesem Moment weiß Krautschneider, daß der andere vor ihm keine Chance mehr hat. Es ist so! Aus der linken Tragfläche der Mustang flackern Flammenzungen heraus. Einige Augenblicke noch, dann fegt Krautschneiders Maschine über die nach unten absackende Mustang hinweg. Das nagelneue Jagdflugzeug rast bereits wieder der Erde entgegen. Was Krautschneider erwartet hatte, tritt jetzt ein: Der Notruf des getroffenen Piloten hat die anderen alarmiert. Sie rucken herum nach verschiedenen Seiten, und scheren ebenfalls nach unten weg. 50
Krautschneider jagt an einem von ihnen so dicht vorbei, daß die Druckwelle ihn aus dem Kurs wirft. Einige schnelle Knüppelbewegungen, dann ist es wieder vorbei. Voraus kommen die Hallen heran und die beiden anderen Focke-Wulf, die in engen Messerkurven liegen. Der Oberfeldwebel fliegt an ihnen vorüber und donnert kaum meterhoch über das mit vielen aufgefüllten Bombentrichtern bedeckte Rollfeld. Erst einige Kilometer jenseits des Platzes geht er in eine leichte Kurve, um zurücksehen zu können. Ein mattes Lächeln huscht über sein Gesicht, als er erkennt, daß die Mustangs einige Kilometer vom Platz entfernt einen Abwehrkreis fliegen… * Leutnant Gerstner sieht der einzelnen Focke-Wulf nach wie einer Erscheinung aus einer anderen Welt. Er ist noch unfähig, sich über das blitzschnelle Auftauchen dieser Maschine und ihre Herkunft Gedanken zu machen. Dafür ging alles viel zu schnell. Der Platz liegt wieder einmal direkt vor ihnen, davor allerdings noch die zerstörten Gebäude. Gerstners Blick hetzt zu den Mustangs hinüber. Sie kreisen wahrhaftig immer noch, als ob sie von irgendwoher einen neuen Angriff erwarteten. Unter ihnen steht eine Flammensäule über der Erde. Gerstner überlegt nicht mehr. Denn dies ist jetzt ihre Chance. Wenn sie nicht in der nächsten Minute unten sind, dann… »Runter!« schreit er ins Mikrophon. »Gleich jetzt!« Er neigt die »190« in eine starke Sliplage und schert auf die Flugplatzgebäude zu. Neben ihm rutscht die andere FockeWulf nach unten. Schading kann so etwas. Es ist nicht das erste Mal, daß er sich in einer solch höllischen Situation befindet. Er slipt fast in Verbandsformation neben der Maschine des Leutnants her. Schräg zur Landerichtung gehen sie wie auf ein 51
Kommando wieder in die Horizontale über. Die Fahrwerke sind schon draußen, die Landeklappen auch. Noch einige Meter fehlen bis zum Aufsetzen. Trotz der riskanten Landeart sieht Gerstner noch einmal zu den Mustangs hinüber. Sie haben ihre Kreiserei inzwischen eingestellt und kurven ein, direkt auf den Platz zu. Dem Leutnant rieselt der Schweiß aus allen Poren. Er kann sich denken, was jetzt geschehen wird. Aber es gibt keine Möglichkeit mehr, noch etwas zu unternehmen. Die Räder berühren bereits den Boden. Holpernd und schwankend rollt die Maschine über die Piste. Sie erreicht das erste aufgefüllte Bombenloch, neigt sich gefährlich weit nach vorn, durchpflügt die weiche Erdmasse und schnellt weiter. Mit mechanischen Seitenruderbewegungen hält Gerstner sie auf dem Kurs. Sein Blick wandert immer wieder dort hin, von wo das Unheil kommen muß. Die Flak-Garben, die jetzt wieder zum Himmel hinaufzischen, sind nur ein schwacher Trost. Denn auch dagegen gibt es ein Mittel, wenn man sein Handwerk versteht. Und Gerstner zweifelt nicht daran, daß das bei den Amerikanern über ihm der Fall ist. Die Maschine wird langsamer. Ein Stück weiter hinten kommt Schadings Focke-Wulf angeholpert. Ein Tritt auf die linke Bremse, und die »190« dreht aus der Rollrichtung. Gerstner gibt einen Schuß Gas. Durch die Leuchtspurgitter hindurch sieht er die Amerikaner ankommen, tief über der Erde. Er rollt jetzt fast rechtwinklig zu der Spitzenmaschine, vor deren Tragflächenprofilen bereits die Flammen der Mündungsfeuer wabern. Gerstner hat das Gefühl, in einem Topf mit siedendheißem Wasser zu sitzen. Er sieht, wie die Geschoßgarben über die Erde spritzen, aber hinter der davonrollenden Maschine vorbeifetzen und nur kleine Erdwölkchen aus dem Boden reißen. 52
Doch da sind noch die anderen! Die zweite Maschine rast heran, durchbricht das Sperrgitter der Flak und schießt. Der Leutnant sieht noch, wie die Mustang plötzlich Feuer auszuspucken scheint. Es sind viele kleine Flämmchen, die aus der Motorverkleidung hervorbrechen. Wenig später taucht der Wall der ersten Splitterbox vor ihm auf. Er läßt das Leitwerk herumkreisen, schnallt sich los, öffnet die Kabine und springt heraus. Keuchend hastet er auf die schreckensbleichen Gestalten vor dem Erdwall zu. Hinter sich hört er das Hämmern der Bordwaffen und dann einen gewaltigen Donnerschlag. Er wirft sich auf die Erde und dreht das Gesicht zur Seite. Schadings Focke-Wulf ist etwa zwanzig Meter entfernt, als der Feldwebel aus der Kabine springt. Er fällt auf den Boden, rollt ein Stück weiter, schnellt sich wieder hoch und hastet einige Meter vorwärts. In diesem Moment prasseln die Kugeln aus den Kanonen einer Mustang wie ein Steinschlag auf das Jagdflugzeug herab. Flammen spritzen aus der Zelle, eine Qualmwolke steigt hoch, und dann kommen die restlichen Feindmaschinen herangeprescht. Aber seltsamerweise schießen sie nicht mehr auf die Feuerwolke rings um Schadings FockeWulf. Ein dunkles Etwas kugelt jetzt durch den Rauch, wird größer und verwandelt sich in eine heranhastende Gestalt. Mit rudernden Armen kommt Schading angerannt, macht vor dem Leutnant noch einen Satz und plumpst dann neben ihm auf den Boden. Die Flak feuert immer noch. Aber allmählich wird der Beschuß schwächer, um schließlich ganz zu verstummen. Schadings Focke-Wulf brennt lichterloh. Die ersten Patronen explodieren und sprühen wie Feuerwerkskörper durch den dunklen Qualm. Die Warte springen auf und rennen hinter den Splitterwall. Sie haben es kaum getan, da brüllt die Explosion auf. Einzelteile der zerfetzten Maschine schwirren herum, 53
fallen zischend ins Gras. Als Gerstner wieder hochsieht, ist nur noch das Knistern der Flammen zu vernehmen. Fassungslos betrachtet er seine Maschine, die anscheinend nicht einen einzigen Treffer abbekommen hatte. Sekundenlang lauscht er noch zum Himmel hinauf, dann stemmt er sich ächzend und fluchend hoch. Schadings rußgeschwärztes, dreckverschmiertes Gesicht taucht neben ihm auf. Es wirkt wie eine bemalte Maske. »Äh«, stöhnt er, »das war was, verdammt noch mal!« Es vergehen nur noch einige Sekunden, bis sie alle erstarren und die Köpfe heben. Von Norden her ist wieder Motorenlärm zu hören … * Jakobs weiß es so gut wie der Hauptmann in der anderen Maschine: Das Katz-und-Mausspiel, dieses wahnwitzige Kurbeln mit dem Mustang-Verband ist zu Ende. Ihre letzte Chance ist vertan, geschwunden wie das erbärmlichste Hoffnungsfünkchen. Die unerbittliche Revanche der anderen wird jetzt erfolgen, und es wird keinen Pardon mehr geben. Es sei denn, der liebe Gott hält noch einmal seinen Daumen dazwischen. Aber so viele Daumen kann selbst er nicht haben, wie er in diesen Tagen nötig hätte. Sie jagen jetzt auf die Erde zu, kaum zehn Meter voneinander entfernt, und hinter sich einen Haufen von Feindjägern. Es wird nicht mehr lange dauern, dann sind sie mit ihrem Sprit so weit, daß die rote Warnlampe flackert. Aber es hat keinen Sinn, daran zu denken, was jetzt noch geschehen wird. Doch auf einmal ist wieder dieses innerliche Aufbäumen gegen ein scheinbar aussichtsloses Schicksal da, der Wille, noch irgend etwas zu versuchen, und vor allem: vielleicht zu überleben. 54
Die Erde Nordfrankreichs ist jetzt dicht unter ihnen. Weiter hinten, vielleicht tausend Meter entfernt, folgen die Mustangs wie eine Meute. Ihre Kabinen und die bunt bemalten Luftschraubennaben funkeln in der Sonne. Sie sprechen nichts miteinander, obwohl das vielleicht guttun würde. Denn es wäre sinnlos, jetzt gar noch einen Plan zu erwägen. Es gibt kein taktisches Manöver mehr, höchstens noch den Tiefstflug mit der Hoffnung, daß einer in den Mustangs am Boden zerschellen könnte. Aber auch damit wäre nicht viel gewonnen, denn sicher würde das die Wut der anderen nur noch steigern. Plötzlich merkt Jakobs, daß der Hauptmann offenbar die Notleistung hineingeschoben hat. Seine Maschine wird schneller und ist schon ein ganzes Stück voraus. Da drückt auch er den Gashebel um die Raste herum. Der Motor heult auf, und der Tachozeiger ruckt nach oben. Unten flitzt die Erde dahin, kaum drei oder vier Meter entfernt. Das Gelände steigt an, Baumwipfel huschen auf die Focke-Wulf zu. Ein Zug am Knüppel, die »190« wippt nach oben und streicht dicht über das Blätterdach hinweg. Wieder einmal ein Blick nach hinten. Die Mustangs scheinen noch nichts aufgeholt zu haben. Es ist ein lächerlicher Trost, der berühmte Strohhalm, an den sich Ertrinkende klammern. Sind sie selbst nicht auch mit Ertrinkenden vergleichbar? Jakobs merkt, daß er müde wird, gleichgültig, schicksalsergeben. Die Wolkenwand ist nicht mehr über ihnen, nur noch der blaue Himmel. Links vom Kurs eine Stadt. Es könnte Alenson sein. Gedanken entstehen, im Unterbewußtsein bildet sich eine kurze Rechnung. Ihr Ergebnis: Vielleicht noch fünf Minuten bis zum Platz. Dort steht Flak, aber das ist auch alles. Keine Kameraden, die man herbeirufen könnte. Dünne Striche stehen über der Erde: eine Hochspannungsleitung! Der Hauptmann drückt darunter hindurch, Jakobs 55
ebenfalls. Voraus ein Bauernhof, ein friedliches Bild. Sekunden noch, vorbei! Kempas’ »190« dreht leicht nach Südosten. Der Motor rotiert auf höchsten Touren. Wie lange wird er es noch durchhalten? Die Rechte bewegt den Knüppel mit kurzen, kaum merklichen Bewegungen. Blitzschnell erfolgen die Reaktionen der Ruder. Der Platz! Er kann jetzt nicht mehr weit sein. Jeden Moment muß er vor der Frontscheibe auftauchen. Aber die Mustangs sind immer noch da. Wie an einem unsichtbaren Schleppseil ziehen sie auf der Fährte der beiden Focke-Wulf im Tiefflug dahin; allerdings einige Dutzend Meter höher. Sie wollen offenbar nichts riskieren. Warum auch? Denn die Beute vor ihnen ist sicher. Irgendwo werden die beiden Deutschen landen müssen, und dann ist ihre Zeit gekommen. Sie werden sie herunterholen, in Feuer und Schrott verwandeln. Das werden sie tun, so sicher wie sonst etwas. Sie haben sogar Zeit, denn ihre Tanks enthalten genügend Treibstoff, um noch längere Zeit am Himmel zu bleiben. Da kommt der Flugplatz in Sicht, die zerstörten Gebäude, das Oval des Rollfeldes. Kempa fliegt direkt darauf zu. Jakobs sieht es rein zufällig, mehr aus den Augenwinkeln heraus. Ein Schatten schießt von links her über den Horizont, und er erkennt sofort, daß es eine Jagdmaschine ist. Und dann rast sie heran, wie ein Phantom, nahezu aus rechtem Winkel. Es ist eine Focke-Wulf! * Am Armaturenbrett von Krautschneiders Maschine flackert noch keine rote Lampe. Es ist also noch genügend Sprit in den Tanks, um notfalls eine ganze Weile in der Nähe des Flugplatzes herumzufliegen. Nach der Begegnung mit den Mustangs war er, ohne den 56
Kurs zu ändern, nach Osten weitergeflogen. Einige Zeit später hatte er die Feindmaschinen wieder am Himmel gesehen, etwa fünf oder sechs Kilometer weiter nördlich. Sie waren in langen Schleifen herumgezogen, und Krautschneider hatte sich denken können, wen sie suchten. Dann waren ihre Silhouetten kleiner geworden, und sie hatten sich nach Norden verzogen. Da war auch er eingekurvt und hatte die Gegenrichtung eingeschlagen. Er hatte genug und wollte landen. Trotzdem flog er den Platz nicht direkt an, sondern beschrieb einen weiten Bogen, wobei er einige Kilometer nach Norden ausholte. Sein Blick wandert immer wieder über den Himmel, aber von Feindmaschinen ist nichts zu sehen. Erleichtert zieht er den Knüppel ein Stück nach hinten und läßt die Focke-Wulf etwas steigen. Doch da zuckt er zusammen wie unter einem Peitschenschlag. Sekundenlang sitzt er wie erstarrt hinter dem Steuer und betrachtet den Jägerverband, auf den er aus spitzem Winkel zurast. Die Mustangs scheinen förmlich aus dem Horizont herauszuschnellen: zwei – drei – vier – sechs… Krautschneider zählt schon nicht mehr. Er weiß, daß hier nichts mehr zu machen ist. Die beiden ersten Flugzeuge sind Focke-Wulf 190, das sieht er noch. Für die Identifizierung der anderen braucht er ebenfalls nur eine Sekunde, denn er kennt sie. Und blitzschnell, während er haarscharf über die eine »190« hinwegzischt, schießt in ihm die Erkenntnis hoch, daß es aus dieser Falle kein Entrinnen mehr geben wird. Der Gedanke, noch irgend etwas zu tun, bevor alles zu Ende sein wird, ist praktisch so schnell da wie vorhin das Entsetzen. Er läßt die Maschine weitersteigen, ohne es eigentlich bewußt zu tun. Die Focke-Wulf dröhnt dem Himmel entgegen, und die Motorpartie richtet sich auf die Lücke zwischen zwei Mustangs. Im nächsten Moment feuern bereits die Kanonen. 57
Die »190« huscht den Feuerschlangen nach, die sie soeben in den Himmel züngeln ließ, und schneidet den Flugweg einer P-51 so haarscharf, daß eine gewaltige Druckwelle entsteht. Alles, was Krautschneider jetzt noch tut, wird ihm praktisch von seinem Unterbewußtsein diktiert. Er zieht die Jagdmaschine auf den Rücken, läßt sie in den negativen Sturzwinkel kommen und dreht eine halbe Rolle. Die Motorpartie zeigt auf die Schlange von Feindjägern, die jetzt unter ihm in einer engen Kurve liegen. Wieder feuert Krautschneider, irgendwohin, ohne gezielt zu haben, diesmal auch mit den zwei Maschinengewehren über dem Motorblock. Er sieht noch, wie die Mustangs auseinanderspritzen, sich teilen und nach zwei Seiten davonziehen. Doch dann kommen sie auch schon nach oben. Krautschneider registriert das ohne jede Beklemmung. Niemand wird ihm mehr helfen können, und er hofft auch gar nicht darauf. Er erkennt jetzt, wie sie von beiden Seiten zur Umklammerung ansetzen, und er tut vorläufig nichts dagegen. Er stürzt wieder der Erde entgegen, sieht weit voraus zwei Schatten über dem Rand des Flugplatzes und wechselt die Kurvenlage. Mit heulendem Motor dreht die Focke-Wulf nach rechts, und als er wieder zurücksieht, bemerkt er sofort, daß jetzt der Augenblick gekommen ist. Er tritt nur noch ins Seitenruder, um die Garbe der auf ihn herabstechenden Mustang nicht voll zu erwischen. Und dann ist es soweit! Er hört das Klatschen der Einschläge in der linken Tragfläche, spürt das Schütteln in der Zelle und schiebt weiter nach unten, wie in einem Slip. Die nächsten Garben prasseln über ihn hinweg, und einige Kugeln zerfetzen die Oberseite der Kabine. Aber der Motor läuft noch, es ist wie ein Wunder. Voraus kommt ein Waldstück auf die Maschine zu, durchzogen von einer schmalen Schneise. Noch ein Blick in die Runde. Sie sind jetzt, leicht gestaffelt, alle hinter ihm. 58
Mit einem verbissenen Ausdruck auf dem schweißüberströmten Gesicht beschließt der Oberfeldwebel, keinem von ihnen den endgültigen Triumph zu gönnen. Ruckartig legt er die Maschine gerade, geht zu einem Linksslip über und schert auf die Waldschneise zu. Neue Kugelserien streichen über ihn hinweg, ein feuriges Geflimmer, das irgendwo voraus in den Baumwipfeln verschwindet. Die Erde ist schon sehr nahe, dann berührt der Rumpf den weichen Waldboden. Ein polterndes Schleifen und Knirschen setzt ein. Erdbrocken wirbeln über die Kabine. Voraus kommen die hohen Bäume näher und näher, Krautschneiders Körper krümmt sich zusammen. Über ihm huschen große Schatten dahin, und trotz der tödlichen Mauer der Bäume vor der Frontscheibe denkt er noch daran, daß sie jetzt nicht einmal mehr schießen können, wollen sie nicht in die Baumkronen hereinkrachen. Der Tachometer funktioniert noch. Er zeigt beinahe hundert Kilometer an. Wie ein Torpedo rutscht die Focke-Wulf weiter auf die Bäume zu. Dann sind sie da! Noch ein schneller Tritt ins Seitenruder, der Rumpf ruckt ein winziges Stück zur Seite. Er zeigt jetzt genau auf einen Raum zwischen zwei mächtigen Tannen. In der nächsten Sekunde scheint eine unsichtbare Wand die Maschine zu bremsen. Krautschneiders Oberkörper wird nach vorn geschleudert. Automatisch legt sich die Rechte vor die Stirn. Ein jäher Schmerz in der Hand, draußen ein infernalisches Bersten und Krachen. Dunkle Stücke flitzen um die Kabine, dann erneut ein furchtbarer Stoß. Aber Krautschneider ist noch bei Besinnung und Herr seiner Gedanken. Die rechte Hand klatscht auf die kleine Platte der Kabinensprengung. Ein Knall, und das Plexidach hebt sich. Brandgeruch strömt in die Kabine. Die Linke reißt den Zündschlüssel heraus. Und dann kommt der mächtige Baumstamm wie eine dicke Säule auf den verbeulten Motor zu. Aber die Geschwindigkeit 59
ist nur noch mäßig, nachdem die wegreißenden Tragflächen die Vorwärtsbewegung so jäh gebremst hatten. Ein letzter dumpfer Aufschlag, dann wird es still. Schon im nächsten Moment zerrt Krautschneider die Gurte vom Oberkörper. Ein Schlag auf den runden Sicherungsknopf des Fallschirms, und er kann sich hochstemmen. Die verklemmte Kabine gibt dem Druck seiner Schulter nach und kippt nach hinten. Über dem Wald heulen die Mustangs herum. Keuchend zwängt sich Krautschneider aus der Kabine. Seine Beine berühren den Waldboden. Der Motor ist eine einzige Qualmwolke, aber er brennt noch nicht. Trotzdem hastet Krautschneider davon, immer tiefer in den Wald hinein. Von oben her hört er sie herabheulen. Und dann rattern die Bordwaffen. Er wirft sich hinter einen dicken Stamm und rollt sich zusammen Ringsum scheint eine Felslawine auf den Waldboden herabzufallen Kugeln fetzen die Erde auf, Querschläger zirpen mit höllischem Sirren durch den Wald. Nacheinander donnern die Mustangs über die Schneise, das nervenzermürbende Stakkato ihrer Bordwaffen wie ein teuflisches Echo hinter sich lassend. Krautschneider hastet weiter, bestrebt, aus der Nähe der Maschine wegzukommen. Die Mustangs scheinen wieder einzukurven. Sie tun das auch, aber sie kommen nicht mehr zurück. Ihr Motorengeräusch verklingt allmählich in südlicher Richtung. * Kempa und Jakobs haben die erste Zigarette bereits hinter sich. Sie stehen am Wall der Splitterbox, in der Nähe der anderen, ohne seit der Landung auch nur ein Wort miteinander gewechselt zu haben. Das wütende Feuer der Platzflak, das die 60
letzten noch um den Platz herumkurvenden Mustangs vor einer Exekution der einlandenden Maschinen abgehalten hatte, hätte eine Unterhaltung ohnehin unmöglich gemacht. Das Peitschen der Abschüsse ist mittlerweile zwar verstummt, aber sie reden immer noch nichts. Der Hauptmann löst jetzt den Blick von den weiter nordwestlich auf die Erde herabstechenden Mustangs und sieht mit banger Sorge zu den Maschinen hinüber, die sie in der Nähe des runden Erdwalls hatten stehen lassen. Schading schiebt sich neben ihn, bizarre Schweißornamente im Gesicht. Er deutet dorthin, wo die Mustangs gerade wieder auf irgend etwas feuern, und sagt: »Da war vorhin wieder die Focke-Wulf…!« Kempa schluckt einige Male, ehe er fragt: »Vorhin, was heißt das?« »Uns ging es ähnlich wie Ihnen«, ächzt der Feldwebel und wischt mit einem Zipfel seines Fliegerschals über das Gesicht. »Auch hinter uns waren sie her. Und dann war plötzlich die ›190‹ dazwischen, hängte sich hinten an und schoß eine von den Mustangs ab. Nachher hat es gerade zum Landen gereicht.« »Verdammt«, sagte Kempa fassungslos, »ob das der gleiche Vogel war?« Schading zuckt die Schultern. »Ich weiß es nicht!« In der Nähe gellt ein Schrei. Kempa fährt herum. Ein Wart deutet erregt zum Himmel hinauf. »Zurück!« brüllt Kempa. »Hinter die Box!« Sie kommen jetzt im Tiefstflug an. Die Flak feuert bereits wieder. Aber diesmal durchbrechen sie den Feuervorhang. Sie fegen direkt auf die Splitterbox zu, hinter der Kempas und Jakob’s Maschinen stehen. Dicht an den Boden gepreßt, hören die Männer die heranheulenden Mustangs und dann das Hämmern der Bordwaffen. Geschosse pfeifen über die Erde, 61
und dann rasen sie auch von Süden heran. Offenbar hatten sie sich vorher geteilt, um die Flak zu verwirren. Es ist ihnen auch gelungen. Als Kempa den Kopf hebt, sieht er direkt in die MGMündungen zweiter Mustangs, die quer über den Platz fliegen. Mit höllischem Dröhnen zischen sie feuernd über die Abstellplätze, und gleichzeitig hat Kempa das Gefühl, als ob sich der Himmel immer mehr mit den Geräuschen von Flugmotoren fülle. Eine Minute später weiß er, daß er sich nicht getäuscht hatte. Wie schon so oft zuvor waren anscheinend andere Feindpatrouillen über Funk herbeigeholt worden, und nun waren sie da, um eine vollkommene Rache zu nehmen. In das Rattern der Bordwaffen mischt sich bereits das Prasseln von Flammen. Eine Hitzewelle kriecht über die Erde. Pausenlos hämmert es in der Luft. Dazwischen ein tückisches Rauschen. Ein Krach, und die Erde erbebt unter dem Einschlag der ersten Bomben. Fast eine Viertelstunde lang tobt der Vernichtungsorkan über den Flugplatz, bis die Motorengeräusche sich allmählich in nördlicher Richtung verlieren. Kempa richtet sich auf. Jakobs liegt dicht neben ihm, die Hände in das Gras gekrallt. Auch er hebt jetzt den Kopf. Über ihnen schwirren Funken der Brände durch die Luft. Sie sehen sich an, und Kempa starrt mit zuckendem Gesicht auf seine ausbrennende Maschine. Einige Zeit später laufen sie zu den Ruinen hinüber, Kempa den anderen einige Schritte voraus. Kulke, der Oberfähnrich, schiebt sich neben ihn. Der Hauptmann bemerkt ihn zuerst gar nicht. Mit gesenktem Kopf und hängenden Schultern stapft er dahin, den Blick ins Leere gerichtet. Doch dann sieht er die Gestalt neben sich, und ein sarkastisches Lächeln lichtet den düsteren Ernst auf seinen Zügen. 62
»Den nächsten Einsatz brauchen Sie natürlich nicht mitzufliegen«, sagt er, »mangels Masse, sozusagen.« Es ist Abend geworden, und ein leichter Wind spielt mit den Schilfhalmen, die den Teich des Schloßparks begrenzen. Frösche quaken, und Schnaken summen durch die Luft. Es riecht nach Blumen und Sommer, und der Krieg scheint fern zu sein. Eine trügerische Ruhe hat sich über den alten Landsitz irgendeines französischen Adelsgeschlechtes gebreitet. Keine Flugzeuggeräusche zerschneiden die Luft. Die Schatten werden dichter, und dann senkt sich die Nacht herab. Sie sitzen in einem der prunkvoll ausgestatteten Räume und schweigen zunächst. Kempa, Schading, Gerstner, Jakobs und Kulke haben sich auf zierlichen Stühlen niedergelassen, die manchmal leise ächzen, als ob sie mit den fremden Benutzern nicht einverstanden wären. Auf einem Tischchen mit goldlackierten, geschwungenen Beinen flackert eine Kerze. Zuweilen sehen sie sich an, versuchen ihre Gesichter zu entspannen, aber es gelingt ihnen nicht. Die Ereignisse des vergangenen Tages hocken noch wie eine Last in ihnen, und sie wissen, daß sie auch noch im Schlaf von ihnen verfolgt sein werden. Der Hauptmann stellt das Glas auf das antike Tischchen und räuspert sich. Er versucht, seiner Stimme einen heiteren Klang zu verleihen, aber auch dieses Vorhaben mißlingt: »Hiermit erkläre ich die Beisetzungsfeier für beendet.« Der Oberfähnrich gibt ein kurzes Kichern von sich, verstummt aber sofort wieder. Die bedrückende, lastende Stille, die so an den Nerven zerrt, senkt sich wieder über sie. Schading sagt etwas Belangloses, Worte, die an Jakobs vorbeiziehen. Er greift in seine Jackentasche und tastet nach dem Zigarettenpaket. Dabei berührt er das Metall des Ordens mit dem großen Hakenkreuz. Ein resignierender, nachdenklicher Ausdruck breitet sich über sein Gesicht, in das 63
der Krieg schon manche Furchen gezeichnet hat. Gerstner sagt: »Wie soll es weitergehen?« Kempa starrt auf die Decke, die mit einem Gemälde bedeckt ist. Wohlgenährte Knaben scharen sich darauf um eine stattliche Nymphe, die gerade aus dem Bade steigt. »Wir haben noch Maschinen, wie Sie wissen«, klingt Kempas Stimme in die Stille, »und man wird uns einen neuen Befehl geben, darauf können Sie sich verlassen.« Gerstner schluckt und schweigt. Draußen entstehen Geräusche. Jemand sagt etwas. Die Stimmen kommen aus der großen Halle im Parterre. Dann wird es wieder ruhig. Wahrscheinlich waren es die Ordonnanzen. Draußen im Schloßhof erklingt das Knattern eines Motorrades. Das Krad stoppt offenbar in der Nähe des Portals. Stimmen klingen auf, dann entfernt sich das Geräusch wieder. Sie heben die Köpfe und sehen sich an. Was das wohl gewesen sein mag? Wer mochte jetzt noch gekommen sein? Ein Kurier vielleicht, der irgendeinen Befehl brachte? Kempa tritt ans Fenster und zieht den Verdunkelungsvorhang zur Seite. Aber er sieht nichts mehr, nur den kaum erkenntlichen, abgeblendeten Scheinwerferstrahl des Motorrades, das die Allee vor dem Schloß entlangfährt. »Wer da wohl war?« sagt Gerstner. Der Hauptmann zuckt die Schultern. Doch dann hört auch er die Stimme, die ihm fremd und unbekannt ist. Das dunkle Organ des Küchengefreiten ist jetzt zu vernehmen. Schritte werden laut, die sich der mit Teppichen belegten Treppe nähern. Ein schlurfendes Geräusch, dann langsame Tritte. Kempa geht auf die Tür zu. Draußen steht eine hochgewachsene Gestalt in einer Lederjacke. »Wollen Sie zu uns? Was führt Sie her?« erkundigt sich der Hauptmann. Der andere kommt näher und gerät in den Widerschein der Kerze. Er hebt die Hand zum Gruß. 64
»Oberfeldwebel Krautschneider…« Er hat die Worte kaum ausgesprochen, als drinnen zwei Stühle zurückgestoßen werden. Gerstner und Jakobs stürzen herbei, rennen Kempa beinahe um. Dann stehen sie vor dem anderen und sehen an ihm hinauf. »Krautschneider!« schreit Jakobs. »Es ist nicht zu fassen! Mensch, alte Pflaume, wo kommst denn du her? « »Krautschneider!« echot jetzt auch Gerstner. »Ich werd’ verrückt!« Sie zerren den Riesen in den Salon des geflüchteten Schloßherrn. Gerstner zündet eine weitere Kerze an und hält sie dem Oberfeldwebel vor das Gesicht. Dann stellt er sie wieder hin und haut dem Kameraden beide Hände auf die Schultern. Jakobs starrt den Langen immer noch an wie ein Weltwunder. Doch dann begreift er, daß hier wirklich der Kamerad vieler Kriegsjahre vor ihm steht, Krautschneider, der Kumpel von der III. JG/11. Erst jetzt bekommt Kempa wieder Gelegenheit, etwas zu sagen. Er kennt zwar die Zusammenhänge noch nicht, kann sich aber bereits denken, daß sich hier eine der nicht gerade seltenen Wiedersehenszeremonien abspielt. »Nun mal langsam!« stoppt er die Freudenausbrüche Gerstners und Jakobs’. »Darf ich, bei allen Teufeln, auch mal erfahren, woher dieser Herr kommt und was ihn zu uns führt?« Das Stimmengewirr ist verebbt. Krautschneider setzt zum zweitenmal zu einer Meldung an, diesmal alle Anzeichen von Freude auf dem erschöpft wirkenden Gesicht. »Oberfeldwebel Krautschneider vom Überführungskommando 17 mit dem Auftrag abkommandiert, eine FockeWulf zum …« Diesmal ist es Kempa selbst, der ihn unterbricht, von einer bestimmten Ahnung dazu getrieben. »Sie? Sagen Sie bloß, daß Sie es waren, der vor Stunden mit der einzelnen Focke-Wulf am Platz herumkrebste und dann 65
von den Mustangs gejagt wurde.« »Jawohl, Herr Hauptmann«, erwiderte Krautschneider, »das war ich!« »Und vorher?« japst Gerstner erregt. »Als wir landen wollten und die ›Zebras‹ hinter uns her waren, hast du da auch die Hände im Spiel gehabt?« »Ich glaube schon« nickt der Oberfeldwebel mit einem sehnsüchtigen Blick auf den nächsten Stuhl. »Dürfte ich mich vielleicht setzen, Herr Hauptmann? Ich habe nämlich einiges hinter mir, und dann noch die Fahrt auf dieser Schüttelmühle.« »Mann«, sagt Kempa, »tun Sie das!« Er greift nach oben, erreicht Krautschneiders Schultern und drückt ihn auf eines der Stühlchen. »Kulke«, befiehlt er anschließend, »bringen Sie den Küchenbullen in Schwung. Er soll etwas zu essen und noch ein Glas bringen. – Und nun erzählen Sie mal!« Der Oberfeldwebel lächelt vor sich hin und lehnt den Kopf gegen die Wand. Jakobs steckt ihm eine Zigarette zwischen die Lippen und reicht ihm Feuer. Krautschneider macht einige Züge und sammelt offenbar seine Gedanken. Es vergeht eine Weile, bis er damit fertig ist. Die anderen sehen ihn an wie ein Prediger einer alten Weisheit, denn das, was er jetzt erzählen wird, haben sie in ähnlichen Varianten sicherlich ebenfalls schon hinter sich. Sie täuschen sich nicht. Der Oberfeldwebel spricht langsam, als ob er Zeit hätte. Die vornehmen Herren an der Wand, zwischen dicken Goldrahmen hervorblickend, sehen auf ihn herab; einige auch über ihn hinweg, je nach Lage. Niemand unterbricht den unerwarteten Besucher, der mit Gerstner und Jakobs im selben Geschwader der »Reichsverteidigung« geflogen war, bis es ihn wieder einmal erwischt hatte. Ihr Interesse wächst merklich, als er von dem ersten Angriff auf die Mustangs berichtet. Gerstner und Schading werfen sich dabei bedeutungsvolle Blicke zu. Dann kommt das erwartete Ende seines Berichts. Er hätte es nicht zu erzählen brauchen, 66
denn jeder konnte sich den Ausgang auch so sehr gut vorstellen. Kempa ist der erste, der etwas sagt: »Ich glaube, daß das ein recht einmaliger Überführungsflug war.« Krautschneider schnauft und versucht ein Grinsen. »Den Eindruck hatte ich auch, Herr Hauptmann.« Durch den Schlitz zwischen Vorhang und Fensterrahmen zuckt etwas herein. Sie löschen die Kerze und gehen an das Fenster. Weit im Nordwesten blitzt es am Himmel. Ein winziger Feuerschein ist zu sehen, der sich aber rasch vergrößert, eine sichelförmige Bahn beschreibt und dann der Erde entgegenwandert. »Nachtjäger!« sagt einer. Der Widerhall einer fernen Detonation klingt durch die Nacht. Sekunden später zeigt sich das gleiche noch einmal. Dann geschieht nichts mehr. Sie gehen zurück und setzen sich. Die Erscheinung am Himmel, die sie soeben beobachtet hatten, scheint ihre Gedanken in eine bestimmte Bahn zu lenken. Gerstner kleidet sie in Worte: »Sie sind die einzigen, die hier wirklich noch etwas tun können.« Krautschneider läßt ein zorniges Grunzen hören und hebt das Glas, das eine Ordonnanz vorhin neben ihn hingestellt hatte. Seine Frage ist an alle gerichtet, aber Kempa fühlt sich offenbar angesprochen: »Geht es hier eigentlich immer so zu?« »Wir haben noch nichts anderes erlebt«, scheppert Kempas Stimme durch den hohen Raum. »Vom ersten Tag an nicht.« »Verdammt, verdammt!« murmelt der Oberfeldwebel, »in Dreuz habe ich schon ’ne Ahnung davon gekriegt. Lauter Käsegesichter hocken dort, und jeden Moment scheinen sie darauf gefaßt zu sein, daß die Amis ihnen ihre Bude über dem Kopf wegbomben.« Der Hauptmann trommelt auf die Lehnen des Sessels. Sein Gesicht ist seltsam starr geworden. Er verwendet jetzt Worte, die in jedem Kasino mit großem Erstaunen zur Kenntnis 67
genommen worden wären: »Es ist zum Kotzen! Wahrhaftig! Was Sie heute hier erlebt haben, Krautschneider, ist unser normaler Alltag. Kaum hat man die Schnauze aus dem Platz, da geht es schon los. Will man wieder hinein, ist es noch nicht zu Ende.« Er verstummt und macht einige hastige Züge an seiner Zigarette. »Der Teufel war schon am 8. Juni los, als wir ankamen. Gleich am ersten Tag unfaßbare Verluste. Und dann nur noch ein müdes Geklecker. Keine Maschinen mehr, viel neue Flugzeugführer. Die ›Alten‹ starben weg wie die Fliegen. Und es wird…« Er spricht den Satz nicht zu Ende, sondern schwenkt auf ein anderes Thema um. »Was wir hier haben, ist ein reiner Witz. Droben in Alencon sollen noch ein paar Maschinen liegen, und dann drüben in Guyancourt bei Versailles eine Gruppe vom JG 26. An das, was von diesen Haufen täglich in die Luft gebracht wird, wage ich nicht zu denken. Sicher sieht es überall nicht besser aus als bei uns.« (Erst Mitte Juni belief sich die tägliche Einsatzstärke an der gesamten Invasionsfront auf etwa 250 Maschinen. Die Alliierten hatten rund 13.000 Flugzeuge zur Verfügung, davon über 5.000 Jäger.) Krautschneider nickt und schüttelt dann den Kopf, Er will gerade etwas sagen, als am Himmel ein immer stärker werdendes Brummen zu hören ist. »Bomber!« sagt Gerstner. »Hoffentlich meinen sie nicht uns …« Der neue Tag zieht herauf, von einem grauen Streifen über dem östlichen Horizont angekündigt. Die Finsternis weicht fahlem Licht und erster Helligkeit. Wie ein Stück aus einem Märchen hebt sich die Fassade des Schlosses aus dem Dunst. Die Aufbauten des alten Lastwagens wirken wie ein Fremdkörper in einer romantischen Kulisse, die nur Frieden zu kennen scheint, Wohlstand und ein Leben ohne Furcht. Die Gestalten, die jetzt nacheinander das Portal mit den steinernen Reliefs über dem Spitzbogen des Eingangs 68
verlassen, kennen keinen Frieden und keinen Wohlstand, noch weniger jegliche Art von Romantik. Sie sind Sklaven des Krieges, der ihnen ihre Jugend stahl, Untertanen eines Mannes, der schon Hundertausende von ihnen mit einem Federstrich oder einem Befehl unter die unzähligen Kreuze brachte, die am Rand der zerstampften Schlachtfelder wie eine stumme Klage das Land bedecken. Doch auch an diesem Morgen denken sie weder an den Krieg, noch an den Mann, auf den diese Landung der Alliierten in der Normandie wie ein Faustschlag gewirkt haben mußte. Vielleicht beschäftigen sie sich in ihren Gedanken nicht einmal mit ihrem eigenen Geschick, sondern höchstens mit dem, was an diesem Tag wieder auf sie zukommen wird. Die »Alten«, die mit mürrischen Gesichtern, die Hände in den Hosentaschen, auf den Lkw zugehen, fühlen schon jetzt den Widerwillen gegen das bald aufsteigende Licht des Tages in sich, das den Himmel wieder zur großen Arena machen wird, vielleicht sogar zu ihrer eigenen Hinrichtungsstätte. Sie sind ohne Hoffnung, und sie versuchen schon gar nicht mehr, sich in dieser Beziehung etwas vorzumachen. Was an der neuen Front im Norden wirklich geschieht, hatte man ihnen bis jetzt praktisch vorenthalten, nur in großen Umrissen angedeutet, oder aber es war so, daß diejenigen, die es ihnen hätten sagen können, selbst noch nichts Genaues wußten. Bei ihren ersten Feindflügen hatten sie den Eindruck erhalten, als ob alles durcheinandergeraten sei. Eine Frontlinie schien nicht zu existieren, und sie hatten es sich bald angewöhnt, bei Tiefangriffen zuerst die Form der Stahlhelme zu betrachten, um erkennen zu können, wo in diesem Gewirr von Schützenlöchern, Granat- und Bombentrichtern ihre Feinde eigentlich lagen. Die jungen Flugzeugführer haben noch verhältnismäßig frische Gesichter und den Glauben in sich, der den anderen fehlt, die schon viele Höllen gesehen hatten: die von 69
Stalingrad, die sterbenden Städte in der Heimat, die Schneewüsten Rußlands oder die Verlassenheit der nordafrikanischen Wüste – und jetzt das Schlachtfeld in der Normandie. Doch trotz allem werden sie wieder fliegen, wenn es ihnen befohlen wird, obwohl keiner von ihnen darauf hofft, daß es anders sein könnte als gestern oder an den Tagen zuvor. Sie haben noch einige Maschinen, fernab vom Platz in versteckten Boxen und mit Tarnplanen bedeckt, und sie werden so lange mit ihnen aufsteigen und damit fliegen, bis irgendwo ihr Schicksal sich erfüllen sollte. Nur an eines denken sie nicht: daran, daß dieser Tag vielleicht der letzte ihres jungen Lebens sein könnte, daß es ein Stück Erde geben sollte, auf dem sie zerschellen werden – ausgelöscht für immer. Der Gedanke daran ist ihnen seltsamerweise fern, vielleicht deshalb, weil der Tod ihnen schon so lange so nahe ist. Jakobs bleibt stehen, als Krautschneider neben ihm auftaucht. »Was willst du denn eigentlich bei uns?« »Mitkommen«, erwidert der Oberfeldwebel mit rauher Stimme, »in diesem vornehmen Kasten kriege ich keine Luft.« Der andere schüttelt den Kopf. Kempa kommt heran, steifbeinig, mit gebeugtem Oberkörper, die verdrückte Mütze schräg auf dem linken Ohr. »Los, einsteigen!« Sie klettern auf die Pritsche. Der Motor brummt auf, und der Wagen rollt auf das eiserne Tor am Ende der hohen Pappelreihe zu. Schweigend lassen sie sich vom Rhythmus der krächzenden Wagenfedern schaukeln, Zigaretten in den Händen. Draußen zieht der Dunst vorbei, wie ein großes Leichentuch über die Wiesenlandschaft gebreitet. Die Fahrt zu dem, was von einem schönen Flugplatz übriggeblieben war, währt nicht lange. Sie steigen vor dem zerstörten Gebäude, in dessen Keller Kempa manchmal seine 70
Nächte verbringt, von dem Wagen und gehen die Treppenstufen hinunter. Der Hauptmann läßt sich auf einen Stuhl nieder und erkundigt sich bei einem Gefreiten, der die Telefonwache übernommen hatte, ob etwas anliege. Der Schreiber mit dem pickelübersäten Gesicht verneint die Frage. Er trägt eine Schießbrille mit dünnen Blechrändern um die Gläser und klappt die Haken zusammen, als Kempa ihm bedeutet, daß er sich verziehen könne. Mit schnellen Schritten geht er an den Flugzeugführern vorbei, die sich an den Wänden nebeneinander gereiht haben. Kempa hebt den Hörer ab und läßt sich eine Dienststelle geben. Irgendein Stabsgehilfe meldet sich, bedeutet dem Hauptmann, noch etwas zu warten und sagt dann: »Ein klarer Einsatzbefehl liegt nicht vor. Sie können aber starten, wenn dies die Lage erlaubt.« Jakobs steht in der Nähe und kann jedes Wort verstehen. Es geht jetzt weiter: »Das muß ja gestern eine tolle Sache gewesen sein bei Ihnen!« Kempas Gesicht verzieht sich. »Es ist hier jeden Tag toll, Herr Braunagel!« Sekundenlanges Schweigen, dann erklingt die hohe, laute Stimme wieder: »Wie viele Maschinen bringen Sie heute in die Luft?« Die Stimme des Hauptmanns hat einen bissigen Unterton, als er erwidert: »Vier, falls ich keine übersehen haben sollte.« Wieder eine kurze Pause, als ob der Mann am anderen Ende der Leitung über die wenigen Worte nachdenke. Einem kurzen Räuspern folgt der Rest der Rede: »Wie gesagt, Herr Hauptmann, Sie haben völlig freie Hand hinsichtlich der Einsatzplanung.« »Dafür bedanke ich mich recht herzlich!« knurrt Kempa. 71
»Ende!« Er zieht den Hörer vom Ohr und knallt ihn auf den Fernsprechkasten. Eine Zigarette wandert in seinen rechten Mundwinkel. Einer der Jungen springt herbei und reicht ihm Feuer. Mit finsterem Gesicht starrt Kempa eine Weile auf die leere Tischplatte. Seine Gedanken scheinen sich immer weiter zu entfernen, und sicherlich sind es keine angenehmen Überlegungen. Die Männer an den Wänden rühren sich nicht. Starr und stumm stehen sie da, wie Menschen, die ein Urteil erwarten. Kempa wischt sich jetzt über die Augen, lauscht kurz nach draußen und richtet den Blick dann auf Jakobs. »Wir wollen etwas tun, bevor am Himmel wieder die Hölle los ist. Jakobs, Sie nehmen Kulke mit und fliegen hinauf. Es ist ein erbärmlicher Auftrag, den ich Ihnen da erteile, aber…« Er springt auf, drückt die Zigarette im Aschenbecher aus und läuft einige Male zwischen dem Tisch und der Tür hin und her. »Fliegen Sie hin, und wenn es Ihnen möglich ist, dann greifen Sie irgend etwas an. Sie wissen schon, wie ich es meine, oder?« »Ich weiß es, Herr Hauptmann!« »Gut!« Ein Blick auf das dunkle Leuchtzifferblatt der Fliegeruhr. »Am besten, ihr rauscht gleich los. Wir werden uns bei der Funkbude aufhalten. Wenn es bei euch stinken sollte, auf dem Rückflug, meine ich, dann geben Sie es durch. Vielleicht können wir in diesem Fall was machen.« Er streckt Jakobs und anschließend dem Oberfähnrich die Hand hin. »Hals- und Beinbruch!« Und dann zu den anderen: »Für die nächste Zeit brauche ich euch nicht. Jeder kann tun, was er will. In zwei Stunden ist alles wieder hier. Das war’s!« Kannengießer, der Oberwerkmeister, begegnet Jakobs, Kempa, Gerstner, Kulke, Schading und Krautschneider an der einen 72
Ecke der zerstörten Halle. Sein Gesicht wirkt grau und übernächtigt, sein Lächeln säuerlich und gezwungen. Das hagere Gesicht mit den dunklen Bartstoppeln wendet sich Kempa zu. »Melde…« »Lassen Sie die Förmlichkeiten!« sagt Kempa. »Sind die letzten Maschinen klar?« »Jawohl, Herr Hauptmann!« »Gut! Dann lassen Sie zwei aus den Boxen holen und hierherbringen!« Der Oberwerkmeister erschrickt. »Hierher?« »Wohin denn sonst, verdammt noch mal? Was haben Sie denn?« »Na ja«, seufzt der Oberfeldwebel, »ich denke nur an die schönen Flugzeuge.« Ein schneller Blick streift die nördliche Himmelspartie. »Wenn die verdammten Burschen jetzt ankommen, dann gute Nacht!« »Lassen Sie das meine Sorge sein, Kannengießer«, sagt Kempa, dem anderen eine Hand auf die Schulter legend, »im Moment rieche ich noch kein feindliches Metall in der Luft.« Ein heiseres Lachen löst sich aus dem Mund des breitschultrigen Mannes. Der magere Scherz scheint ihm gut getan zu haben, und er revanchiert sich auch sogleich. Seine Hand reckt sich den weiter entfernten Abstellplätzen entgegen. »Könnten wir nicht einen kleinen Panzer bekommen?« Kempa reißt die Augenbrauen in die Höhe. »Was ist das?« »Nun«, entgegnet der Oberwerkmeister, »die Idee ist nicht von mir. Bruns, der alte Stabsschnäpser (Stabsgefreiter), redete gestern davon, als die Amis hier herumflitzten und er mit dem Traktor die Maschinen wegziehen mußte. Da meinte er, mit ’nem Panzer wäre das doch eine flotte Sache.« »Großartig!« schnauft Kempa. »Ich werde den Einfall an 73
Hermann (Göring) weitergeben. Sicher kriegt dann Bruns ’nen Orden dafür.« »Oder ein paar Tage Bau!« seufzt der Oberwerkmeister. »Eine verfluchte Ecke ist das.« Er dreht sich um, pfeift einen seiner Männer herbei und trägt ihm auf, Bruns solle zwei der neuen Maschinen herüberziehen. Der Oberwerkmeister salutiert mit schmerzlichem Gesicht, wirft den Flugzeugführern noch einen schnellen Blick zu und geht dann in Richtung einer Hallenruine davon. Krautschneider und Jakobs sehen ihm nach. »Auch einer von diesen großartigen Bastlern, die aus einem Schrotthaufen eine Rennmaschine machen«, sinniert Krautschneider, während er den Himmel mit unruhigen Blicken bedenkt. »Teufel, Teufel«, setzt er seine Überlegungen fort, »ich hab’ ja gewiß nicht grundsätzlich die Hosen voll, aber diese Gegend ist doch verflucht windig. Wie fühlt man sich denn so, Alter, wenn man hier in die Mühle klettert und rauf muß?« Jakobs sieht ihn an, als ob in seinem Kopf eine Sicherung durchgebrannt sei. »Tolle Frage!« schnauft er. »Wie hast du dich denn gestern gefühlt, als sie dich geschaßt haben?« »Nicht gerade edel«, seufzte der Oberfeldwebel. »Lassen wir’s. Ich weiß es jetzt.« Schading und Gerstner kommen angeschlurft. Auch sie haben die Augen mehr am Himmel als sonstwo. Der Leutnant streckt Jakobs die Hand hin. »Mach’s gut, alter Junge!« Er dreht sich um, als er hinter sich Schritte hört. »Und Sie auch, Kulke. Bleiben Sie hinter Jakobs, und wenn es im Rückenflug einen Meter über dem Boden ist. So was kann mehr wert sein als die Bewaffnung eines Schlachtschiffes in der Mühle.« »Jawohl, Herr Leutnant!« sagt der Oberfähnrich mit dumpfer, hohler Stimme. 74
In einiger Entfernung naht der Schleppzug mit der ersten Focke-Wulf. Der Stabsgefreite hinter dem Steuer des Traktors schwenkt ein, seine auf den Kotflügeln sitzenden Kumpels springen ab und lösen die Zugstange vom Sporn der Jagdmaschine. Dies ist kaum geschehen, da läßt der Stabsgefreite Bruns das Vehikel mit einem Satz davonhüpfen, um die nächste »190« zu holen. Die Warte springen während des Fahrens auf. Kempa kommt herbei. Er versucht, einen fröhlichen, ungezwungenen Eindruck zu erwecken, wirkt aber dennoch reichlich nervös, als er sagt: »Alle Unklarheiten beseitigt, Jakobs?« »Alle, wie immer, Herr Hauptmann!« Hauptmann Kempa nickt. Ein Blick folgt, wie auf einen Menschen gerichtet, von dem man möglicherweise für immer Abschied nimmt. »Dann Hals und Bein.« Er denkt kurz nach. »Und lassen Sie sich nicht von Ihrem Temperament hinreißen, wenn der Teufel los sein sollte. Ich kenne Sie. Keine allzu großen Risiken, ja?« Diesmal beläßt es Jakobs bei einer bejahenden Kopfbewegung. Noch ein Händedruck. Der Oberwerkmeister streicht in der Nähe vorbei, mit verkniffenem Gesicht, gesenktem Kopf. Trotzdem scheint es, als ob er andauernd auf irgend etwas lausche und von unten her den Luftraum beobachte. Aber es geschieht nichts, wenigstens vorläufig noch nicht. Die Amerikaner sind fair und lassen die wenigen deutschen Jäger zumindest in die Luft kommen. Jakobs denkt daran, daß sie über eine solche Möglichkeit einmal einen ihrer makabren Scherze gemacht hatten. Schading war der Ansicht gewesen, daß die Amis sicher nicht so blöde seien, schon beim Start eines deutschen Haufens Theater zu machen. Denn schließlich brauchten sie ja ein paar Balkenkreuze in der Luft, um Abschüsse zu erzielen. Vielleicht wurde es ihnen sonst zu 75
langweilig, stundenlang am Himmel über der Front herumzuziehen und keine Unterhaltung zu haben. Der Oberfeldwebel spuckt aus, dicht neben Gerstners Füße. Die zweite Maschine steht ebenfalls in der Nähe. Noch ein kurzes Winken, dann nimmt Jakobs den Oberfähnrich beiseite und geht mit ihm auf die zwei »190« zu. »Der Leutnant hatte recht«, sagt er zu ihm. »Dranbleiben ist alles. Was weiter geschieht, werden wir sehen. Und jetzt los, bevor die da hinten zu heulen anfangen.« Dem Oberfähnrich gelingt tatsächlich ein Grinsen, das zu seinem aschfahlen Gesicht allerdings nicht so richtig passen will. Jakobs zwingt verschiedene unangenehme Vorstellungen aus seinem Kopf, die ausschließlich mit Kulke, diesem prächtigen jungen Kerl, zu tun haben. Neben ihm taucht der lange Oberwerkmeister auf. »Alles klar, Sepp«, sagt er, »betankt und munitioniert. Auch der Badeofen (Zusatztank von rund 180 Liter Fassungsvermögen hinter dem Pilotensitz) ist voll. Ihr könnt also schon ’ne Weile oben bleiben.« Ein kurzes Zögern. »Mach’s gut, alter Haudegen, und bring mir nach Möglichkeit die zwei Mühlen wieder heim. Wir kriegen sicher nicht so schnell wieder was rein.« »Ja, verdammt!« murmelt Jakobs. »Halt jetzt die Klappe und verschwinde!« Ohne sich noch einmal umzusehen, geht er auf die FockeWulf zu. Sie riecht noch nach Lack, so neu ist sie. Auf der linken Tragfläche steht der Obergefreite Maier, ein Berliner mit einem Pferdegebiß und mächtigen Ohren. Er fletscht die Zähne, als Jakobs sich an ihm vorbeischiebt und in die Kabine steigt. Kurz darauf kurbelt der Oberfeldwebel die Kabine zu. Die Welt scheint zurückzubleiben, alles: das Stück Erde mit dem Flugplatz, die zerstörten Gebäude, die Mechaniker, die Kameraden, das Schloß, das seine Fassade ein Stück über den 76
östlichen Horizont reckt. Und da ist es, wie schon so unzählige Male zuvor: Die Angst kriecht in die Glieder, scheint sie lähmen zu wollen. Im Magen entsteht ein seltsamer Druck, der Atem geht schwerer, die Hände werden unruhig. Vor den Augen schimmern die Instrumente wie Roboteraugen, während die Gedanken sich bereits entfernen und zur Küste der Normandie hinaufwandern. Bilder entstehen, Visionen gleich: Flugzeuge ziehen durch die großen Höhen, kleine, silberne Kreuzchen. Sie werden größer, preschen heran, blau-weiße Sterne auf den Tragflächen. Der Herzschlag wird schneller, der Blick erfaßt die züngelnden Flammen vor den Bordwaffen der Feindjäger. Unten dreht sich die Erde, ein mit vielen Narben bedeckter Leib, über dem ein Gewitter zu toben scheint. Die Rechte hatte den Anlasser gedrückt. Mechanisch, unbewußt. Ein Blick zu der Maschine des Oberfähnrichs. Er sieht herüber. Die Luftschraube vor dem Motor seiner »190« dreht sich bereits. Und dann verwandelt sich das Singen des Anlassers in der eigenen Kabine zu einem tuckernden Poltern. Die ersten Zylinder kommen, dann andere, bis das kraftvolle Hämmern und Rauschen des BMW-801-Motors die Kabine erfüllt. Noch ein Blick zu Kulke hinüber, ein automatischer Tritt auf die Bremse. Der Gashebel wandert nach vorn, die Ladedruck-Nadel springt auf ein Atü. Ein Griff nach dem Zündschlüssel – Magnet I, Magnet II – kein Tourenabfall … Der Krampf in den Gliedern ist gewichen, als ob das mächtige, heulende Singen des Triebwerkes den Körper mit einer geheimnisvollen Kraft erfüllt habe. Jakobs hebt die Rechte, der Oberfähnrich gibt das Zeichen zurück. Ein nochmaliger prüfender Blick zum Himmel, in alle Richtungen. Nichts ist zu sehen. Ein neues Zeichen zu dem Obergefreiten vor der Tragfläche. Die Bremsklötze werden weggenommen, die Maschine ruckt nach vorn. Unten zieht die Erde vorbei, drüben die Kameraden. Sie winken herüber, dann bleiben sie zurück, verwandeln sich in winzige dunkle Gebilde. 77
In hoher Fahrt rollt Jakobs über die Ringstraße. Ein Tritt ins linke Seitenruder, das Leitwerk schwingt herum. Kulke ist da. Rechts taucht seine »190« auf, stoppt jetzt ebenfalls. Noch eine Kopfbewegung von Jakobs, dann brüllt der Motor auf. Die Maschine rollt an, die Tachonadel ruckt nach oben. Immer schneller wird die Fahrt. Ein Tänzeln setzt ein, die Räder kommen frei, der Motor reißt das Flugzeug von der Erde fort. Unter dem Gashebel leuchten die Lampen der Fahrwerksanzeige. Ein Druck auf einen Knopf, die Federbeine kommen hoch und klappen sich in die Tragflächen. Sie jagen im Tiefflug am nördlichen Platzrand entlang und bleiben auch in dieser Höhe. Jakobs’ Blick kreist in die Runde. Sie sind allein am Himmel, aber wie lange noch? Ein bitteres Gefühl entsteht, während die Rechte den Knüppel bewegt und die Maschine über Bäume, Häuser, Telefonleitungen reißt. Über den Wiesen liegen weite Dunstflächen, und irgendwo im Inneren ist plötzlich wieder eine Stimme, die drängt und bohrt: Was wollt ihr zwei armseligen Kreaturen denn dort, wo sie euch hingeschickt haben? Wißt ihr nicht, was euch erwartet? Glaubt ihr, ihr könntet noch was ändern? Jakobs wischt sich über die Augen und zerquetscht einen Fluch zwischen den zusammengepreßten Lippen. Wenig später dröhnen sie an Mamers, südostwärts von Alengon, vorbei. Zwei Jagdflugzeuge, auf deren Rümpfen die Balkenkreuze im Licht der Morgensonne schimmern. Tausende von Soldaten sehen sie von den Waldverstecken aus nach Norden brausen, und vielleicht wundern sie sich nur. Die Straßen unter den zwei Focke-Wulf sind wie leergefegt. Die »190« des Oberfeldwebels dreht leicht nach rechts. Kulke fliegt das Manöver sofort mit. Sie brausen jetzt nach Nordosten, und es ist auch diesmal jener achtungsvolle Bogen, den sie beim Anflug zur Front meistens einlegen. Es wäre reiner Selbstmord, von Süden her direkt in den Luftraum 78
vorzustoßen, der sich zu dieser Stunde sicherlich bereits mit den ersten alliierten Jägerpulks füllen wird. Ein Dorf rast auf die Frontscheibe zu, eine Straße, von niedrigen Bauernhäusern flankiert. Unten einige Punkte auf dem hellen Band: Menschen, Franzosen, die sich beim Auftauchen der beiden deutschen Jäger vielleicht ebenfalls nur wundern. Denn das große Jagdrevier von der Küste bis weit hinunter nach Süden gehört den Alliierten, deren Jäger Tag für Tag in dichten Schwärmen durch die Luft summen. Deutsche Flugzeuge? Es ist wirklich ein Wunder. Denn die Besatzer des Landes scheinen zur Zeit nicht mehr viel auf die Beine zu bringen. Die Zeiten von 1940 sind vorbei, alles hat sich geändert. Bald werden andere Panzer durch die Dörfer rollen. Man wird befreit werden … Jakobs und Kulke zischen weiter auf ihrem Kurs dahin. Sie nähern sich dem Waldgebiet bei Mortagne und drehen auf der Höhe von Argentan nach Nordwesten ein. Die Straßen, die sie überfliegen, sind immer noch leer, das beste Zeichen dafür, daß sie sich noch diesseits der Front befinden. Einmal sieht Jakobs wieder auf den Höhenmesser. Die Nadel steht bei fünf Metern. Mit jeder weiteren Sekunde wird aber die Zone näherkommen, wo unzählige Blitze, nach oben züngelnde Leuchtspurgeschosse und die Sprenglöcher der Granaten und Bomben den Herrschaftsbereich des tausendfachen Todes ankündigen werden, der seit dem 6. Juni 1944 in dieser Landschaft schon eine furchtbare Ernte gehalten haben muß. Und dann ist es soweit! Jakobs duckt den Oberkörper unwillkürlich ein Stück nach vorn. Der flirrende Kreis der rasend rotierenden Luftschraube ist genau auf die Feuerwand gerichtet, die vielleicht zehn Kilometer voraus in vielfältigen Flammenmustern vor dem Horizont steht. Kulkes Focke-Wulf schießt ein Stück nach vorn. Jakobs sieht es mehr aus den Augenwinkeln heraus. Die 79
typischen Steinwälle, mit denen die Bauern der Normandie ihre Felder und Wiesen abgegrenzt haben, scheinen zum Greifen nahe. Dazwischen große, runde Löcher: Bomben- und Granattrichter, in denen graue, runde Gebilde zu sehen sind – Stahlhelme, auf den Köpfen von Soldaten. Unwillkürlich schiebt Jakobs den Gashebel noch ein Stück nach vorn. Ein leichter Tritt ins Seitenruder. Die Maschine dreht um einige Grade nach Nordwesten. Es gibt jetzt keine gefährlichen Hindernisse mehr. Alles ist in die Erde gestampft: Telefonmasten, Hochspannungsleitungen. Einsame Höfe sind nur noch niedrige Trümmerhaufen, auf die bereits das nächste Geschoß herabheult. Ein Zug am Knüppel, und die »190« schwingt sich um wenige Meter nach oben. Jakobs’ Blick wandert blitzschnell durch den Luftraum. Weit im Norden ziehen Flugzeuge durch den Himmel. Sie sind keine Gefahr. Weiter! Manchmal recken sich drunten auf der Erde Arme in die Höhe und winken. Vorbei! Wieder eine leergefegte Straße, von unzähligen Geschossen zerwühlt. Doch dann wird es anders. Die Stahlhelme auf den Köpfen der olivgrün gekleideten Gestalten, die jetzt hinter Steinhaufen oder in den Kratern zu sehen sind, haben eine flache, tellerähnliche Form. Weiter, vorbei! Die zwei Jäger zischen dicht über die ersten englischen Stellungen hinweg, der Küste entgegen. Ein Waldstück kommt heran, baut sich in Sekundenschnelle vor der Frontscheibe wie ein dunkler Wall auf. Davor seltsame Gebilde, bizarr bemalt: Panzer! Ihre Kanonen ähneln dünnen, feuerspeienden Rüsseln. Die ersten Flak-Garben sprühen von der Erde wie gewundene Feuerschnüre, die weit hinter den beiden Jagdflugzeugen im Himmel verzischen. Da ist eine Straße, von Osten nach Westen verlaufend. Fahrzeuge rollen darauf. Der Daumen des Oberfeldwebels senkt sich gegen den Auslöseknopf der Bordkanonen. Noch ein 80
schneller Blick nach hinten. Sie sind noch nicht da, die anderen mit den zebragestreiften Tragflächen. Eine kurze Schwenkung in die Richtung der britischen Kolonne. Dann bellen die Kanonen, hämmern die Maschinengewehre. Drunten spritzen Soldaten aus den Lastern, rennen zum Rand der Straße. Jakobs’ Focke-Wulf wippt pausenlos auf und ab, und jedesmal, wenn sich der Bug wieder nach unten senkt, prasseln Geschoßgarben aus den Bordwaffen. Als er nach hinten sieht, erkennt er den Feuerschein. Kulke ist noch da, er fliegt einige Dutzend Meter weiter hinten. Jakobs zieht die Maschine von der Straße weg. Soeben hatte er die große Chaussee erkannt. Es ist die Landstraße zur Halbinsel Cotentin, nach Carentan und Cherbourg. Es hätte keinen Sinn, ihr weiter zu folgen. So läßt er die »190« in der Kurve und schwenkt nach Süden ein. Kulke schert über ihn hinweg, dann setzt er sich in linke Position. Jetzt werden sie drüben auf der Straße die Funkgeräte betätigen, denkt Jakobs. Bald werden sie dasein, die Mustangs oder Thunderbolts, Lightnings oder Spitfires. Es wird sicher nicht lange dauern. Die Kompaßnadel steht auf 170 Grad. Die Erdoberfläche, die unter den Tragflächen weghuscht, gleicht einer Totenlandschaft. Nirgendwo die Spur menschlichen Lebens. Die großen Sprenglöcher haben eine Ähnlichkeit mit tiefen Wunden in einem entstellten Gesicht. Die Maschine frißt die Distanzen nur so in sich hinein. Bald ist das Gezüngel der Abschüsse und Einschläge wieder in der Flugrichtung. Ist das die Front? Es muß so sein. Jakobs drückt die Focke-Wulf wieder tiefer an die Erde. Voraus kommt ein Waldstück in Sicht, von einer breiten Schneise durchzogen. Das Gras ist gesprenkelt mit dunklen Gevierten. Breite Spuren sind in den Boden gedrückt. Panzer, eine Bereitstellung! Ein schneller Ruck am Steuer läßt die Maschine in die Höhe 81
schnellen. Dicht über den Wipfeln kurvt Jakobs ein. Ein Blick zu Kulke hinüber. Er fliegt wunderbar. Selbst Schading, Gerstner oder Krautschneider hätten es nicht besser machen können. Von Norden her ziehen helle Punkte durch den Himmel: Flugzeuge, die offenbar im flachen Sturz liegen. Sie sind noch weit entfernt, und sie bedeuten noch immer keine Gefahr. Die Motorpartie hat den Kreis beendet, sie zeigt jetzt genau auf die Schneise. Noch ist kein Abwehrfeuer zu erkennen, nur ein Gewimmel von menschlichen Gestalten, die jetzt nach allen Seiten auseinanderspringen. Das Leuchtvisier ruckt über den grünen Grasteppich auf die ersten Panzer zu. Dann ratfern die Waffen. Die Leuchtspurgarben ziehen eine Spur aus hochspritzenden Erdwölkchen gegen die graugrünen Stahlkästen. Zwei stehen mit dem Heck zur Anflugrichtung. Die Kanonengeschosse nähern sich ihnen, erfassen die Ziele, breit gefächert, Blitze zucken aus den Kühllamellen, dann schiebt sich die Motorpartie darüber. Jakobs geht mit der Focke-Wulf so tief herab, daß die Bäume rechts und links von der Kabine in die Höhe ragen. Sie kommen jetzt gefährlich nahe heran. Ein Druck auf den Knüppel, die Maschine wirbelt in die Messerlage. Durch eine Seitenruderbewegung läßt Jakobs sie in die Höhe scheren. Die Baumwipfel entfernen sich, freies Land breitet sich vor dem Motor aus. Jetzt erst spürt er den Schweiß im Gesicht und am ganzen Körper. Sein Kopf dreht sich. Kulke ist dicht hinter ihm. Über dem Waldstück steigen Feuersäulen in die Höhe. Die silbernen Pünktchen, die er vorhin am nördlichen Himmel sah, sind verschwunden. Sekunden reihen sich aneinander. Kulkes »190« schiebt sich von rechts heran und bleibt kaum fünf Meter entfernt auf Position. Für Augenblicke sieht Jakobs das verzerrte Gesicht 82
des Oberfähnrichs. Er nickt ihm zu und blickt dann wieder nach vorn. Doch schon im nächsten Moment beobachtet er erneut den Luftraum hinter dem Leitwerk. Die Feindjäger sind immer noch nicht zu sehen. Es ist nicht zu fassen. Unten reiht sich jetzt Bild an Bild: eine Geschützstellung, dann wieder eine Wiesenfläche. Granattrichter, hochsteigende Erdfontänen, Blitze, Feuerschlangen von Leuchtspurgarben, zerstörte Fermes, ein Schlößchen mit einem eingestürzten Gipfel in einem großen Park. Vorbei! Immer wieder wandert Jakobs Blick nach hinten. Noch keine Gefahr. Auch voraus, in der Flugrichtung, ist der Himmel frei. Die Mondlandschaft bleibt hinter den beiden Focke-Wulf zurück. Kleine Dörfer huschen vorbei, vom Morgenlicht bestrahlt. Leere Straßen kreuzen den Kurs. Der Oberfeldwebel behält die Flugrichtung bei. Er will die einmalige Chance nutzen und zurückfliegen. Die Worte des Hauptmanns ziehen durch seine Erinnerung, auch die des Oberwerkmeisters. Weiter drüben kommt die Silhouette von Falaise in Sicht. Und immer noch keine feindliche Jagdmaschine auf der eigenen Fährte. Es ist so unfaßbar, daß es fast einer Sensation gleichkommt. Eine Viertelstunde noch, dann säumen die verzackten Umrisse der zerstörten Flugplatzgebäude den Horizont. Ein kurzes Wackeln mit den Tragflächen, ein Blick zu Kulke hinüber. Dann kippen die Fahrwerke aus den Tragflächen, die Landeklappen fahren aus. Ein Slip, ein letzter Tritt ins Seitenruder, und die Laufräder nähern sich dem Boden. Holpernde Stöße, die Füße bewegen die Seitenruderpedale, drücken die Bremsen. Die Vorwärtsbewegung wird langsamer. Drüben stehen Gestalten, die Arme hochgereckt. Warte winken. Jakobs gibt Gas und rollt auf die Menschengruppe zu. Der Oberfähnrich ist dicht hinter ihm. Das Leitwerk schwenkt in der Nähe der einen Splitterbox herum, der Motor verstummt. Von der Halle her kommt der 83
Stabsgefreite Bruns mit dem kleinen Traktor angetuckert. Er fährt so schnell, daß die Zugmaschine groteske Sprünge macht. Das Kabinendach gleitet zurück, das Gesicht des Obergefreiten Maier taucht auf der Tragfläche auf, hochrot vor Freude. Die Gurte klatschen nach hinten. Jakobs stemmt sich hoch und steigt auf die Tragfläche. Unten stehen sie alle: der Hauptmann, Gerstner, Schading, Krautschneider und einige von den jungen Flugzeugführern. Erregung, Staunen und Freude auf den Gesichtern. Kempa kommt angerannt, mit ausgebreiteten Armen. Seine Hände umklammern Jakobs’ Schultern. »Jakobs, Menschenskind, ihr seid da?« »Ja!« Das ist vorläufig alles, was Jakobs herausbringt. Er wendet sich ab, geht dem Oberfähnrich entgegen und drückt ihm wortlos die Hand. Der Hauptmann hat sich inzwischen offenbar wieder etwas gefaßt. »Die Maschinen in die Deckung!« brüllt er. Der Stabsgefreite Bruns, der bereits den Traktor an Jakobs’ »190« heranmanövriert, sieht Kempa vorwurfsvoll an, denn die Zugstange hängt bereits am Sporn. Kurz darauf gibt er Gas und verschwindet mit dem Jagdflugzeug in Richtung der Halle. Kempa fummelt an einem Zigarettenpaket herum, steckt Jakobs eine in den Mund und dann auch dem Oberfähnrich. Schadings Sturmfeuerzeug nähert sich mit mächtiger Flamme. Der Hauptmann scheint nach den ersten hastigen Zügen endlich wieder in die Wirklichkeit zurückzufinden. Er dreht sich um und betrachtet sekundenlang die nördliche Himmelspartie. »Los!« sagt er dann. »Alles in den Gefechtsstand! Himmel noch mal, Jakobs, als ihr ankamt, habe ich gedacht, ich sehe nicht richtig. Und ohne jede Begleitung.« Er schüttelt den Kopf, holt Luft und kommt dann wieder mit einem jener Scherze heraus, mit denen sie zuweilen ihr riskantes Dasein 84
würzen: »Habt ihr denn ohne die Lotsen von drüben keine Schwierigkeiten gehabt, den Platz zu finden?« Jakobs zeigt ein schwächliches Grinsen und zerteilt die Schweißspuren auf seinem Gesicht. »Es war reiner Zufall, Herr Hauptmann, daß wir es geschafft haben.« Die anderen haben sich um Kempa, Jakobs und Kulke geschart. Noch weiß keiner, was während des Feindfluges eigentlich geschehen war. Trotzdem gleicht alles einem kleinen Triumphzug. Denn eine solche Rückkehr von einem Einsatz darf in diesen Tagen nahezu einem bemerkenswerten Sieg gleichgesetzt werden. Vor den Gebäuden kommt der Spieß in Sicht, Hauptfeldwebel Meiersbach. Er ist ein vorsichtiger Mann, sehr dienstbeflissen, und hält sich meistens in seiner provisorischen Schreibstube auf, um dort für Ordnung zu sorgen. Die gelungene Heimkehr zweier Maschinen scheint aber auch ihn beeindruckt und aus seinem Verlies gelockt zu haben. Er hält sich in gebührender Entfernung und beläßt es bei einem zackigen Gruß. Am Himmel rings um den Flugplatz ist immer noch nichts los. Im Norden und Süden ziehen Wolken auf. Da kommt der Gefreite Melchior, das Bleichgesicht, aus dem Gefechtsstand, angelaufen. Er hat ein beachtliches Tempo drauf und hält seine Schießbrille fest. Ziemlich atemlos bleibt er vor Kempa stehen. »Herr Hauptmann«, verkündet er mit flatternden Nasenflügeln, »soeben durchgekommen von der Division: Startverbot, bis neuer Befehl!« Er trompetet die Nachricht hinaus wie eine Glücksbotschaft. Kempa sieht ihn an, als ob er nicht richtig gehört habe. Doch dann nickt er. Sein hageres Gesicht überzieht sich mit einem listigen Lächeln. »Und deswegen sind Sie wie der Teufel aus Ihrer Bude 85
gerannt?« »Jawohl, ich dachte …« »Schon gut«, winkt Kempa ab, »wir haben es zur Kenntnis genommen.« Sie betreten den Keller und postieren sich an den Wänden. Jakobs und Kulke bekommen einen Stuhl; die einzigen übrigens, die vorhanden sind. Auch Kempa bleibt stehen. »Nun mal los!« wendet er sich an Jakobs. Dieser beginnt zu berichten. Er tut es in einfachen, unpathetischen Worten. Keiner muckst sich, während er spricht. Es dauert nicht lange, bis er sagt: »Das war es, Herr Hauptmann.« Und dann, mit einem Blick auf den jungen Oberfähnrich: »Höchstens noch das: Kulke ist großartig geflogen.« »Ja?« Kempa geht auf den 20jährigen zu. »Dann meinen Glückwunsch, Kulke!« Der Oberwerkmeister poltert die Treppe herunter und baut sich vor Kempa auf. »Es sieht nach Regen aus, Herr Hauptmann«, meldet er. »Die Wolken rutschen immer mehr herunter. Liegt für die nächste Zeit noch etwas an?« »Nein!« erwidert Kempa. »Startverbot. Vorläufig wenigstens. Gehen Sie mit Ihren Leuten in Deckung, Kannengießer!« Der Oberfeldwebel versteht sofort. Ein zufriedenes Lächeln geistert über sein Gesicht. »Jawohl, in Deckung«, wiederholt er, um dann ziemlich schnell aus dem Raum zu verschwinden. Das mit dem Regen stimmte. Es dauerte nicht mehr lange, bis sich eine zusammenhängende Wolkenfront über den Platz schob, die auch ohne Flugverbot jeden Start unmöglich gemacht hätte. Regen rieselte hernieder, und das Land rings um den Flugplatz begann zu dampfen. Gegen Mittag hatte der klapprige Laster die Flugzeugführer 86
zu dem alten Schloß gebracht. Jakobs und Kulke waren sofort in ihre fürstlichen Gemächer mit den einfachen Kommißbetten gegangen und hatten sich niedergelegt. Sie waren erst wieder in der Halle erschienen, als die Dämmerung unter den tief hängenden Wolken das letzte Tageslicht in sich aufsog. Auf der Straße weiter nördlich sind jetzt die Geräusche vieler Fahrzeuge zu hören. Die Kolonnen, für die sonst erst bei Einbruch der Nacht die Stunde des Aufbruchs schlägt, haben sich angesichts der Wetterlage offenbar schon jetzt in Bewegung gesetzt. Krautschneider, Jakobs und Schading laufen über die gepflegten Parkwege und lassen den Regen auf ihre Lederjacken rinnen. Die Erde duftet nach Feuchtigkeit und dem Geruch von Blumen. Die Frösche im Teich sind Verstummt. Von den Zweigen der Trauerweiden rieseln Regentropfen und bilden kleine Ringmuster auf der still und geheimnisvoll daliegenden Oberfläche des künstlichen Sees. Die zeitferne Romantik des großen Parkgartens mit seinen exotischen Bäumen und fremdartigen Pflanzen umgibt die langsam dahinlaufenden Flieger wie die Traumwelt eines Märchens. Sie vergessen den Krieg, die Drohung des Todes und die Gedanken an das Ende, das ihnen jeden Tag sicher zu sein schien. Ihre harten Gesichter lockern sich, und Gespräche klingen auf, die nichts mehr kennen von der Düsternis ihres Schicksals. »Daß es so was noch gibt«, sagt Krautschneider. »Hättest du dir das vorstellen können, Sepp, drüben in Rußland, vor Stalingrad?« Jakobs schüttelt den Kopf. Er bleibt stehen, und die anderen tun es auch. Sie lauschen in die Ferne, aber sie hören kein Flugzeuggeräusch. Nur das Brummen der Fahrzeuge klingt in die Einsamkeit des Parkes und das Klatschen der Regentropfen auf den Blätterdächern der Bäume. Nach einer Viertelstunde gehen sie wieder zurück und setzen 87
sich an einen langen Tisch. Sie nehmen ihr Abendbrot ein, und es fallen nicht viele Worte. Der Ordonnanzgefreite gießt Wein in fein geschliffene Gläser. Kerzen brennen auf dem Tisch. Krautschneider zündet sich eine Zigarette an und stößt Jakobs in die Seite. »Ich komme mir hier vor wie’n General, verflucht noch mal!« Jakobs nickt. »Könnte sein.« Das leichte Lächeln verschwindet sofort wieder von seinen Zügen. »Man darf nur nicht an die Kumpels droben an der Front denken, sonst schmeckt es einem nicht.« Er schüttelt den Kopf und zieht einige Male an seiner Zigarette. »Es sieht aus wie über einer Mondlandschaft. Ein Loch neben dem anderen. Fehlen nur die Ruinen, und Stalingrad wäre fertig.« »Verflucht!« murmelt Krautschneider. »Mal den Teufel nicht an die Wand. Ein Stalingrad hat uns gereicht, meine ich!« »Uns schon!« mischt sich jetzt Gerstner ein. Er scheint noch etwas sagen zu wollen, tut es aber nicht. Der Hauptmann sieht herüber. Sein Blick streift die Gesichter der Jungen, die an dem einen Ende des Tisches sitzen und bleibt dann auf dem Fenster haften, vor dem die Regentropfen herabrinnen. Er wirkt nachdenklich, als er zur Tür sieht, wo gerade der Ordonnanzgefreite aufgetaucht ist. »Zwei von den Panzern sind draußen, Herr Hauptmann«, sagt er, »ein Oberleutnant und ein Feldwebel. Sie fragen, ob sie sich hier ein bißchen aufhalten dürfen, bis der Regen nachgelassen hat.« »Von den Panzern? Mensch«, sagt Kempa, »aber nichts wie rein mit ihnen! Los, dalli!« Der Gefreite geht hinaus. Der dicke Teppich in der Halle schluckt seine Schritte. Stimmen werden laut, dann tauchen zwei Gestalten im Eingang auf. Hinter ihnen steht die Ordonnanz. Der Gefreite verschwindet fast unter den 88
tropfnassen Kradmänteln, die er den beiden Besuchern soeben abgenommen hatte. Kempa geht den Männern entgegen, deren Blicke erstaunt über die festliche Kulisse gewandert waren. Das Schlurfen von Pelzstiefelsohlen erklingt. Nacheinander stehen die Flieger auf. »Oberleutnant Krusius«, sagt der eine der beiden Besucher. »Wir kommen von der Front und sind nach Paris unterwegs. Dürfen wir hier ein bißchen…?« »Herr Kamerad, ich bitte Sie«, unterbricht ihn Kempa, »nehmen Sie Platz. Wir freuen uns – bitte!« »Danke sehr. Das ist Feldwebel Knappe!« Sie reichen sich die Hände, dann deutet Kempa auf zwei freie Stühle am Kopfende des Tisches. »Müller!« Der Gefreite kommt sofort in Sicht. »Herr Hauptmann?« »Zweimal etwas zu essen und zwei Gläser, aber schnell, ja?« »Jawohl!« Der Oberleutnant und der Feldwebel tragen die schwarzen Panzeruniformen, die mit Auszeichnungen übersät sind. Beide haben das Deutsche Kreuz in Gold, der Oberleutnant das Ritterkreuz. Ehrfürchtig hängen die Blicke der jungen Flugzeugführer auf den hohen Dekorationen. Aber auch die anderen sind nicht unbeeindruckt geblieben. Nicht so sehr der Orden wegen, sondern vielleicht deshalb, weil sie jetzt jene Männer zwischen sich haben, von denen in den vergangenen Wochen immer wieder die Rede war. Kameraden, über die sie bis jetzt nur mit Hunderten von Stundenkilometern weggebraust waren, die ihnen dabei aus den Wäldern oder sonstigen Verstecken nachgeblickt hatten und deren schweres Schicksal sie nur ahnen konnten. Der Oberleutnant betrachtet die im Licht der Kerzen schimmernden Gläser, die Porzellanteller, die silbernen Bestecke, die der Gefreite jetzt gerade auf den Tisch legt, und der Blick, den er seinem Begleiter zuwirft, spricht Bände. Auch 89
Kempa muß die stumme Verwunderung darin gelesen haben. »Bitte!« sagt er, nachdem der Gefreite eine Platte mit Wurst, Brot und Butter vor den beiden Panzermännern aufgebaut hatte. »Tun Sie gerade, als ob Sie bei uns zu Hause wären.« »Wir bedanken uns«, erwidert der Oberleutnant, den Blick jetzt auf die Platte mit den zahlreichen Köstlichkeiten gerichtet, und seine Stimme klingt reichlich unsicher. Sie griffen zu, zögernd zuerst, doch dann scheint der Hunger selbst das große Wundern in ihnen zu verdrängen. Rings um sie herum klingen leise Gespräche auf, als ob niemand die beiden Kameraden beim Essen stören wolle. Erst als der Oberleutnant und kurz nach ihm auch der Feldwebel die Teller von sich schieben, wendet Kempa sich mit den Worten an den Offizier: »Man konnte Ihnen vorhin direkt ansehen, was Sie dachten, als Sie uns hier sitzen sahen, Herr Krusius. Etwa das: Ist denn so was möglich? Gibt es denn in dieser verdammten Gegend noch einen Haufen wie diesen hier, der in einem piekfeinen Schloß sitzt, tafelt wie ein Adelsklub und den lieben Gott einen guten Mann sein läßt. War es nicht so?« »So ungefähr schon«, nickt der Oberleutnant, »und ich bitte meine Überraschung zu verzeihen. Aber für uns ist so was wirklich wie eine Begegnung mit einer anderen Welt, die es gar nicht mehr zu geben schien.« »Ich kann es mir denken«, nickt Kempa, den beiden Besuchern eine Zigarettenschachtel hinhaltend, »und um von vornherein keine falschen Eindrücke aufkommen zu lassen, habe ich soeben auch diese Frage an Sie gerichtet.« Einer reicht dem Oberleutnant und dem Feldwebel Feuer. Sie rauchen in langsamen, genußvollen Zügen, als ob es die erste Zigarette seit einer Ewigkeit sei. Ihre Blicke huschen dabei über die Gesichter der Männer rings um den Tisch, und wieder ist es Kempa, dessen Stimme das Schweigen durchbricht. 90
»Dieser Tag, Herr Krusius, ist auch für uns wie ein Geschenk. Davor lagen seit Beginn der Invasion Wochen, die für uns ein einziges Himmelfahrtskommando bedeuteten. Nicht alle, die hier sind, waren damals dabei, an jenem 8. Juni, als wir hier zum erstenmal starteten. Wir waren rund 70 FockeWulf 190, jede eine 500-kg-Bombe unter dem Rumpf, und sie schickten uns hinauf zum Landekopf. Sieben von diesen siebzig sind zurückgekommen. Wo die anderen sind, die nicht in den Flakexplosionen zerrissen wurden, wissen wir heute noch nicht. Vielleicht sind sie jenseits der Front bruchgelandet, mit dem Fallschirm abgesprungen oder sonstwie heruntergekommen, tot oder lebendig.« Kempa machte einige hastige Züge aus seiner Zigarette. Ein bleiernes Schweigen hat sich über den Raum gesenkt. Nur der schnelle Atem der Männer vermischt sich mit dem Klatschen des Regens vor den hohen Terrassenfenstern. Nach einem tiefen Atemzug spricht Kempa weiter, und keiner der Männer rings um ihn herum hat das Gefühl, als ob er sich und sie vor den Männern in den dunklen Panzeruniformen entschuldigen wolle. Es scheint eher, daß er sich eine Last von der Seele reden will, die er gemeinsam mit den anderen trägt. Die Erregung ist immer noch in seinen nächsten Worten, als er fortfährt: »Wir waren also praktisch schon am ersten Einsatztag gezwungen, neu anzufangen. Wie es zu dieser Katastrophe kommen konnte, das zu erläutern, ist nicht meine Sache. Vielleicht lag es daran, daß niemand in den höheren Kommandostellen wirklich wußte, welche Hölle uns in der Normandie erwarten würde; einmal diese flakgespickte Armada vor der Küste, zum anderen der feindliche Jägerschirm, dessen Dichte unvorstellbar war und es bis jetzt auch geblieben ist. Was dann kam, in den nächsten Tagen und Wochen, war ein mühsames Aufbegehren. Aus den kompakten Verbänden der ersten Tage wurden kleine Haufen, bunt zusammengewürfelt, 91
wie bei uns hier. Wir flogen wieder und stellten uns sogar auf die neue Situation ein. Tägliches Versteckspielen und hundertprozentige Tarnung vom Morgengrauen bis zur Abenddämmerung wurden oberstes Gebot. Trotzdem errangen wir sogar noch Erfolge, obwohl sie fast jedesmal schwer bezahlt werden mußten. Jeder Start und jede Landung vollzogen sich praktisch unter alliierter Aufsicht, und so ist es auch heute noch, Herr Krusius. Vielleicht sind das alles nur Übergangserscheinungen, und wir wollen hoffen, daß es so ist. Wir kennen nicht einmal die exakte Lage an der Front, und schließlich wäre noch zu sagen, daß wir augenblicklich vier klare Maschinen besitzen.« Der Oberleutnant von den Panzern wirkt weder betroffen noch alarmiert. Fast sieht es so aus, als ob er eine ähnliche Darstellung erwartet hätte. Er lehnt sich jetzt zurück, sieht zu Kempa hinüber und sagt: »Obwohl mir die Kampfesweise Ihrer Waffengattung naturgemäß fremd ist, konnte ich mir vorstellen, daß es ungefähr so sein mußte. Bei uns ist es übrigens ähnlich, wenn auch die Voraussetzungen anders beschaffen sind. Im übrigen saßen wir gestern in einem Wald ein Stückchen nördlich von hier und beobachteten einen Luftkampf zwischen Focke-WulfJägern und einer beträchtlichen Menge Mustangs. Glauben Sie mir, wir haben im stillen den Hut abgenommen, als wir sahen, daß es zwei von Ihnen sogar gelungen war, Amerikaner abzuschießen.« »Das haben Sie beobachtet?« stößt Kempa erregt hervor. »Welch ein Zufall! Bei diesen Maschinen kann es sich nur um den Schwarm von uns gehandelt haben, den wir gestern gegen Mittag in die Luft brachten.« »Ach!« sagt der Oberleutnant. »Dann kann ich meine Hochachtung ja noch persönlich an der richtigen Stelle abliefern.« »Danke für die Blumen!« knurrt Kempa. »Wenn Sie aber 92
gesehen hätten, was nach diesem Luftkampf los war, dann hätte ich mir meine Rede von vorhin ersparen können.« Er drückt seine Zigarette mit einer zornigen Bewegung in einen Aschenbecher. »Da reihte sich nämlich ein Wunder an das andere. Normalerweise hätten sie uns alle als Schrott nach unten schicken müssen. Aber wie Sie sehen, leben wir noch!« Die Hand des Ordonnanzgefreiten ist ziemlich unruhig, als er die Gläser der beiden Gäste neu füllt. Der Regen trommelt immer noch gegen die Scheiben. Sie trinken einander zu, schweigen und suchen offenbar nach den richtigen Worten. Diesmal ist es der Oberleutnant, der das Schweigen durchbricht. »Da droben«, sagt er, »das ist wirklich eine lausige Sache. Wir waren nur drei Tage dort mit unserem ›Tiger‹, dann hatten sie uns. Ein Haufen von Typhoons hat uns in einer Waldbereitstellung entdeckt. Als sie wieder abzogen, blieb von meinen vier Wagen nicht einer übrig. Sie schossen mit Raketen. Es ging wie der Blitz. Wir lagen im Wald und sahen zu, wie sie einen nach dem anderen in ein glosendes Wrack verwandelten.« Der Oberleutnant zündete sich eine neue Zigarette an. »Und nun sind wir unterwegs in die Heimat, um neue Fahrzeuge zu holen. Wie weit…« Er macht eine resignierende Handbewegung und starrt vor sich hin. »Bitte«, sagt Gerstner, »erzählen Sie weiter!« Krusius sieht ihn an und zuckt die Schultern. »Man tut es nicht gern!« erwidert er, mit einem schnellen Blick die starren, unbeweglichen Gesichter der jungen Flugzeugführer streifend. »Denn man könnte dabei Worte verlieren, die man sich besser erspart hätte.« Er zieht einige Male an seiner Zigarette und setzt dann das Weinglas an die Lippen. »Ich sagte es schon, daß es uns nicht viel anders geht als Ihnen. Angriffe sind praktisch nur nachts möglich oder vor dem Morgengrauen. Im Tageslicht ist jegliche kämpferische Aktivität von vornherein ein Spiel mit dem Tod. Überall 93
schwirren Jabos herum, und sie haben Waffen, die auch uns zur Strecke bringen. Daß die Front noch steht, ist eine einmalige Angelegenheit; meiner Ansicht nach. Was bis jetzt von den Kameraden der Infanterie in diesem Höllenkessel geleistet worden sein muß, kann auch ich nur erahnen, denn wir haben kaum Kontakt mit ihnen. Was wir aber zu sehen bekamen, war in jeder Beziehung genug.« Der Oberleutnant blickt auf das Fenster. Dann steht er auf und schiebt seinen Stuhl zurück. »Der Regen hat nachgelassen, Herr Hauptmann«, sagt er, »nehmen Sie meinen herzlichsten Dank für Ihre Gastfreundschaft entgegen. Wir fahren weiter. Und viel Soldatenglück für Sie und Ihre Männer. Hoffentlich sehen wir uns bald wieder – möglichst von unten nach oben oder umgekehrt.« »Das ist auch mein Wunsch!« nickt Kempa, als er dem Oberleutnant die Hand reicht und dann dem Feldwebel die Rechte entgegenstreckt. Sie sind alle wieder aufgestanden und sehen den beiden Männern nach, die jetzt auf den Ordonnanzgefreiten zugehen. Er hilft ihnen in die Mäntel, ein letzter Gruß noch von der Halle her, dann öffnet sich ein Flügel des hohen Portals, und ein Windzug läßt die Flammen der Kerzen flackern… Die Focke-Wulf donnert mit heulendem Motor über die Piste, gefolgt von einer zweiten, in der Kulke sitzt. Die anderen sind schon aus dem Platz heraus, drei an der Zahl: Kempa, Schading, Gerstner. Der Leutnant fliegt eine Maschine, die ein waghalsiger Überführungspilot am Vorabend unter den niedrig hängenden Wolken entlanggeschaukelt und sicher gelandet hatte. Jakobs legt die »190« in eine scharfe Rechtskurve und wendet den Blick nach Norden. Die Regenwolken, die zwei Tage lang über dem Platz gehängt waren, sind verschwunden. 94
Aber nicht nur das Wetter hatte sich verändert, auch die eigene Situation scheint sich irgendwie verwandelt zu haben. Zum erstenmal fliegen sie an diesem Tag nämlich mit einem klaren Befehl an die Front und – wie man hörte – nicht allein. Verbände des JG 2 und des JG 26 sollen ebenfalls unterwegs sein, und es sieht ganz danach aus, als ob es zum erstenmal seit jenem verhängnisvollen 8. Juni wieder eine Begegnung mit dem alliierten Luftschirm geben könnte, bei der zumindest einige Chancen bestehen. Seltsamerweise waren bis zum Start keine alliierten Jäger in Platznähe gewesen, obwohl es schon auf neun Uhr zugeht. Ein gutes Omen? Sollten tatsächlich schon Kameraden von anderen Geschwadern droben an der Front aufgetaucht sein? Wenn es nur so wäre … Sie reihen sich zur Gefechtsformation aneinander und – steigen. Sie tun es tatsächlich, und auch diese Tatsache kommt Jakobs dermaßen neuartig vor, daß er sich sekundenlang damit beschäftigt. Die vertraute Landschaft nördlich des Flugplatzes zieht unter den Tragflächen der fünf Focke-Wulf dahin. Die Umrisse der Flugplatzgebäude und das Oval der Landebahn verschwinden am Horizont. In den Kopfhörern bleibt es still, wie immer beim Anflug. Die Höhenmessernadeln klettern, und die Jagdmaschinen steigen einer fernen Wolkenschicht entgegen, die weit voraus in etwa zweitausend Meter Höhe wie ein langer, heller Teppich am Himmel hängt. Von feindlichen Jägern ist noch nichts zu sehen, weder oben oder unten, voraus oder im Süden. Eine merkwürdige Zuversicht schleicht sich in Jakobs hinein und er hat das Gefühl, daß es nicht ihm allein so geht. Denn es muß auch den anderen wie ein unvermutetes Geschenk vorgekommen sein, einmal ohne Feindeinwirkung starten zu können, nicht im Tiefflug bleiben zu müssen und wieder einmal dort zu fliegen, 95
wo sie eigentlich hingehören: in die Höhen des Himmels. Rechts kommt Falaise in Sicht, zusammen mit der nach Norden führenden Straße, die in Richtung Caen verläuft. Die breitflächige Wolkenschicht kommt näher. Hohe Kumulustürme bauschen sich darüber in die Höhe, sonnenschillernden Burgen gleich, über denen sich das satte Blau der Himmelsglocke wölbt. Kempa läßt seine Maschine weitersteigen. Die anderen liegen neben ihm, die gedrungenen Motorpartien leicht nach oben gereckt. Gerstner fliegt neben Kulke. Der Leutnant wackelt jetzt kurz mit den Tragflächen und deutet in die Flugrichtung. Jakobs bemerkt die schnelle Bewegung. Es hätte ihrer nicht bedurft, denn sie hieß soviel wie: Dort vorn sind sie! Auch Kempa hebt und senkt jetzt die Flügelspitzen seiner Maschine. Das Zeichen wird weitergegeben, und nun wissen sie es alle: Bald wird das ruhige Dahinziehen zu Ende sein, bald wird der Tanz beginnen. Wie wird er an diesem Tag ausgehen? Werden tatsächlich Kameraden am Himmel auftauchen? Jakobs zuckt unwillkürlich zusammen, als einer die Funkstille durchbricht und die jäh hervorgestoßenen Worte an sein Gehör dringen: »In drei Uhr eigene Maschinen!« »Viktor!« (verstanden) erklingt jetzt Kempas Stimme. Sie fliegen immer noch auf die südlichen Ausläufer der Wolkendecke zu, übersteigen sie und klettern weiter in das weite Nichts hinein. Ihre Sinne sind angespannt wie immer, wenn eine Entscheidung kurz bevorsteht. Pausenlos wandern die Blicke durch den Himmel, der Atem geht flach, das Herz trommelt schneller. Die Bordwaffen sind bereits eingeschaltet, und am Armaturenbrett leuchten die schwarzweißen Schauzeichen der Waffenkontrolle wie gescheckte Augen. 96
Weit rechts, in nordöstlicher Richtung, sind die Maschinen, deren Herannahen vorhin einer über Funk angekündigt hatte, jetzt schon deutlich zu sehen. Es sind mindestens zwölf FockeWulf. Sie fliegen in leichter Rückwärtsstaffelung, die Bugs auf die große Wolkenfront gerichtet. Voraus züngeln Blitze über die Erde, wie kleine Elmsfeuer. Aber keine Flak-Garbe zischt in die Höhe, ein Zeichen dafür, daß die Flugzeuge mit dem Balkenkreuz nicht allein sind. Und da schießen sie plötzlich aus den Wolken heraus, einer hinter dem anderen, wie von der Sehne eines Bogens nach oben geschnellt. Es sind Mustangs, die noch ein Stück steigen und sich dann zu einem langen Kreis hintereinander setzen. Jakobs zählt sie sogar. Es sind etwa zwanzig Maschinen, und er denkt sofort daran, daß es zum erstenmal wieder zu einem Kampf in fast gleicher Stärke kommen wird. Die fremden Focke-Wulf eröffnen ihn bereits. Sie stürzen aus leichter Überhöhung herab, dem Kreis der Feindmaschinen entgegen. Feuerschnüre ziehen vor dem Blau des Himmels in die Tiefe, silberne Pfeile rasen nach unten, bäumen sich auf, wirbeln umeinander herum. Kempas Stimme ist für Sekunden zu hören: »Weitersteigen, auflösen in Rotten!« Sie befolgen den Befehl und schwirren auseinander. Die Entfernung zum Schauplatz des Luftkampfes schmilzt immer mehr in sich zusammen. Und dann sind sie heran. Einige hundert Meter unter ihnen dreht sich das Karussell aus vielen Flugzeugen. Ein Mustang-Schwarm löst sich jetzt aus dem Kreis, geht zur Rückenlage über und sticht auf die Wolkenwand herab. Die andern kurven weiter in enger Messerlage. »Los! Pauke-Pauke (Angriff)!« kommt jetzt Kempas Befehl über den Äther. Schon im nächsten Augenblick drückt Jakobs den Knüppel nach vorn. Er dreht auf die letzten Maschinen des Mustang97
Verbandes ein, die schon in der Nähe des Wolkenteppichs angekommen sind. Die Sturzgeschwindigkeit wird immer höher. Rechts, ein Stück nach hinten abgesetzt, rast Kulkes »190« in die Tiefe. Die Mustangs verschwinden in der Wolkenschicht. Jakobs jagt hinterher. Weiße Fetzen quirlen um die Kabine, aber nur für wenige Sekunden. Dann sieht er sie wieder. Die Spitzenmaschine hat bereits abgefangen und kommt in einem flachen Bogen hoch. Die anderen fliegen den Bogen nach, wie durch eine unsichtbare Kette miteinander verbunden. Das Steuer wandert nach hinten. Die Fliehkraft nagelt Jakobs gegen den Sitz. Sein rechter Fuß drückt das Seitenruder durch. Die Motorpartie kommt hoch, und die »190« schießt in steiler Flächenlage nach oben. Alles ist jetzt vergessen: die beschämenden Ereignisse der vergangenen Tage, das Wissen um die feindliche Übermacht, selbst die Kameraden, die in näherer oder weiterer Entfernung durch das Blau des Himmels dröhnen. Nur der Kampf hat noch Bedeutung, der sich jetzt bereits seiner ersten, entscheidenden Phase nähert. Denn die Mustang voraus wird jeden Augenblick im Vorhalt erscheinen. Nur Sekunden kann es noch dauern. Jakobs krümmt bereits den Daumen über dem Kanonenkopf. Vor ihm schillert der rötliche Kreis des Reflexvisiers. Sein Körper hängt immer noch wie festgeleimt im Sitz, der Atem stockt, eine unheimliche Macht scheint ihn in die Lungen zurückzupressen. Dann ist es soweit. Die Mustang kommt in steiler Flächenlage vor der Motorpartie herauf. Jakobs zieht den Knüppel ganz nach hinten. Die Focke-Wulf ruckt noch mehr nach innen, Zentimeter für Zentimeter. Jetzt! dröhnt eine Stimme. Schieß! Die Bordkanonen brüllen auf, Leuchtspurgarben prasseln aus den Tragflächenprofilen. Es gibt keine Chance mehr für den Mann in der Mustang, gleich muß die Maschine brennend vor 98
dem Luftschraubenkreis auftauchen: Aber es geschieht nicht. Einer jähen Ahnung folgend, wirbelt Jakobs den Knüppel herum. Da sieht er, daß der feindliche Pilot die P-51 aus der Links- in eine Rechtskurve gerissen hatte – vielleicht einen Sekundenbruchteil vor dem Augenblick, wo es zu spät gewesen wäre. Und dann tut er etwas, was Jakobs einige Augenblicke lang fassungslos zur Kenntnis nimmt: Er zieht senkrecht in die Höhe und leitet praktisch aus dem Normalflug heraus eine Art von Looping ein. Mit nach hinten gerecktem Kopf sieht Jakobs die Feindmaschine dicht voraus nach oben jagen, die Motorpartie neigt sich jetzt zur Rückenlage. Da knallt Jakobs die Notleistung hinein. Fast im gleichen Moment zerrt er den Knüppel nach hinten. Mit aufbrüllendem Motor sticht die Focke-Wulf nach oben. Alles geschah in einer blitzschnellen Reaktion, für die es keine Erklärung gibt. Er spürt, wie die Fahrt trotz des auf Höchsttouren laufenden Motors immer geringer wird. Aber der Luftschraubenkreis zeigt jetzt genau auf die scheinbar reglos in der Rückenlage verharrende Mustang. Die Garben aus den vier Bordkanonen benötigen keinen Vorhalt mehr. Die 2-cm-Granaten fressen sich aus höchstens zweihundert Meter Entfernung in die der Erde zugewandte Kabinenseite der Feindmaschine. Jakobs sieht noch die vielen Blitze der Einschläge, als er das Schütteln in der Zelle seiner »190« bemerkt. Sekunden später reißt die Strömung ab. Die Focke-Wulf kommt ins Wanken, kippt über das Leitwerk nach unten und geht in einen taumelnden Sturz über. Von oben her sprüht ein dunkler Regen herab, vermischt mit grellem Feuerschein. Einzelteile der explodierten Mustang zischen in geringer Entfernung vorbei. Entsetzt drückt Jakobs den Knüppel nach vorn und tritt ins Seitenruder. Slipartig schert das Jagdflugzeug nach unten – direkt auf eine andere 99
amerikanische Maschine zu, die höchstens hundert Meter entfernt gerade auf den Kollisionspunkt zujagt. Sie rasen so nahe aneinander vorbei, daß Jakobs glaubt, der Luftdruck reiße alles in ihm auseinander. Die »190« gerät in eine wilde Trudelbewegung, und Jakobs tut nichts, um sie schnell wieder zu beenden. Erst etwa 1.000 Meter tiefer nimmt er die Füße von den Seitenrudern und läßt den Knüppel los. Die Maschine holt Fahrt auf und geht in einen flachen Sturz über. Wenige Augenblicke später huscht ein großer Schatten vorbei. Jakobs reißt den Kopf herum. Er hätte schreien können vor Freude und Erleichterung, als er Kulkes Maschine vorbeirasen sieht… Sie sitzen wieder an dem langen Tisch und blicken stumm vor sich hin. Der alte Wein aus dem Schloßkeller schmeckt ihnen nicht, und die flackernden Kerzen scheinen eine Gruft zu beleuchten. Draußen hat sich bereits die Nacht hernieder gesenkt, Kempas Blick bleibt auf dem nervösen, fahlen Gesicht des Oberfähnrichs haften, das um Jahre gealtert zu sein scheint. Kurz vor Einbruch der Dämmerung war er mit seiner Maschine zurückgekommen. Er allein! Er hatte nicht erzählen können, was mit Jakobs geschehen war. Seinen wirren Worten war zunächst nur zu entnehmen gewesen, daß der Oberfeldwebel kurz hintereinander zwei Mustang abgeschossen hatte und das jedesmal nach einem recht seltsamen, völlig unkonventionellen Verfahren: von unten her, während die anderen sich nach loopingartigen Manövern auf dem Gipfelpunkt des Steigfluges befanden. Nach dem zweiten Luftsieg hatte Kulke den Oberfeldwebel aus den Augen verloren. Er war der Erde entgegengestürzt, einige Zeit herumgekurvt und dann von zwei Maschinen eines anderen Geschwaders aufgenommen worden. Sie hatten ihn zu 100
einem Flugplatz mitgenommen, dessen Namen er nicht einmal zu nennen wußte, und ihn in den frühen Abendstunden wieder zurückgeschickt. Für Kempa, Schading und Gerstner, die sich dem Getümmel des Luftkampfes hatten entziehen können, war der erste Feindflug dieses Tages auch der letzte gewesen. Nach dem Auftauchen der verhältnismäßig starken Jägergruppe hatte es, wie von einer Patrouille des JG 26 gemeldet worden war, am Himmel über dem Landeraum von alliierten Jägern nur so gewimmelt. In jeder Höhe waren sie herumgekreist, Hunderte, tausend vielleicht. Krautschneider hebt sein Glas und trinkt es auf einen Zug leer. Kempa sieht zu ihm hinüber. Ein düsterer, fast wütender Ausdruck liegt auf dem Gesicht des Oberfeldwebels. Kempa räuspert sich. Noch bevor er die Worte ausspricht, weiß er, wie armselig sie wirken müssen. »Nehmen Sie es nicht so tragisch, Krautschneider, vielleicht kommt er noch.« Der Kopf des Oberfeldwebels zuckt hoch. Seine Stimme hat einen müden, verzweifelten Klang, als er sagt: »Glauben Sie es denn, Herr Hauptmann?« Kempa zuckt die Schultern und schweigt. Draußen erklingt das Geräusch eines Automotors. Der Wagen hält vor dem Portal. Der Türflügel wird geöffnet, Schritte nähern sich. Der Ordonnanzgefreite kommt herein. »Herr Hauptmann, der Lkw ist da, der Oberfeldwebel Krautschneider mitnehmen soll.« Der Oberfeldwebel steht auf. »Ich komme!« Die anderen erheben sich ebenfalls. Er reicht jedem die Hand, ohne etwas zu sagen. Erst als er Kempas Blick auf sich gerichtet fühlt, ringt er sich die Worte ab: »Hals und Bein, Herr Hauptmann!« »Danke!« 101
Dann dreht er sich um und geht hinaus. Der hagere Gefreite wirkt wie ein Kind neben seiner hohen, mächtigen Gestalt. Sie sehen ihm schweigend nach. Der Türflügel fällt ins Schloß. Draußen heult der Lkw-Motor auf, das Geräusch entfernt sich langsam. Viertausend Meter unter den zwei Me 109-Höhenjägern schimmern die verschneiten Gipfel der Alpen im Licht der Dezembersonne. Der Oberfeldwebel, der die Rotte führt, legt seine Maschine nach einem kurzen Rundblick in eine leichte Kurve. Noch einmal sieht er zu dem B-17-Pulk zurück, den sie vor einigen Minuten aus starker Überhöhung angegriffen hatten. Zwei gegen hundert – und gegen tausend Maschinengewehre. Die überraschend aus der Sonne heraus angesetzte Attacke war sofort gelungen. Eine der »Fliegenden Festungen« war von den Kanonengarben des Oberfeldwebels voll in der linken Tragflächenwurzel getroffen worden. Ihre zerfetzten Überreste liegen jetzt in einem Bergtal, und zwischen den steilen Felswänden züngelt noch eine winzige Flammensäule in die Höhe. Sie hatten es bei diesem einen Angriff belassen, weil schon dieser Anflug eines solch starken Verbandes mörderische Risiken in sich barg. Und jetzt fliegen sie, gut tausend Meter über den anderen, dem kleinen Verband von Focke-Wulf 190 nach, den sie während dieses Einsatzes zu decken hatten. Es war allerdings nicht viel zu decken gewesen, denn seltsamerweise war der Bomberverband ohne jeglichen Geleitschutz nach Süden abgeflogen. Zwei der Viermotorigen waren von Piloten des Focke-Wulf-Verbandes abgeschossen worden, und damit war es auch schon vorbei gewesen. Krautschneider, der Oberfeldwebel und Rottenführer, weiß nicht, warum die anderen keinen zweiten Angriff flogen. Vielleicht wird er es auch nie erfahren, denn die Kameraden in 102
den »190« stammen von einem fremden Verband. Die FW190 verschwinden jetzt in der grauen Dunstschicht, die sich einige tausend Meter tiefer über die verschneite Erde wölbt. Krautschneider wirft erneut einen forschenden Blick durch den Himmel. Doch schon im nächsten Moment zuckt er zusammen, als er vom Motor her ein verdächtiges Tuckern vernimmt. Sein Blick huscht sofort über die Instrumente, und seine Augen weiten sich, als er das leichte Absinken der Drehzahlanzeige bemerkt. Ein kurzes Wackeln mit den Tragflächen, dann ein Druck auf den Steuerknüppel. Der Fähnrich in der anderen Maschine, ein blutjunger Bursche, der an diesem Tag zu seinem ersten Einsatz gestartet war, kommt sofort mit nach unten. Mit pfeifenden Motoren jagen sie über die nördlichen Ausläufer des Gebirges, der weiten Ebene entgegen und auf eine Stadt zu, die einer einzigen Ruinenlandschaft gleicht: München! Das alarmierende Geräusch im Motor war bis jetzt nicht wieder zu hören gewesen, und auch die Nadel des Drehzahlmessers ist nicht weiter abgesunken. Dennoch beschließt Krautschneider, sich auf keine Experimente einzulassen. Der Vogel, den er erst vor wenigen Tagen nach seiner Kommandierung zur Höhenjagdgruppe übernommen hatte, ist noch ziemlich neu, und technische Fehler im Triebwerk sind in einem solchen Fall ebenso an der Tagesordnung wie ein mit Feindbombern gefüllter Tageshimmel. Sie jagen in hundert Meter Höhe am südlichen Rand von München vorbei, schwenken dann leicht nach Norden ein und steuern den Flugplatz von München-Riem an. Die betonierte Startbahn schält sich aus dem Grün der Erde. Krautschneider fährt das Fahrwerk aus und schwebt sofort zur Landung an. Er ist vielleicht noch fünfzig Meter vor dem Landekreuz, als ein gewaltiger Donnerschlag die Maschine schüttelt und sie 103
beinahe gegen die Erde wirft. Instinktiv fährt Krautschneider das Fahrwerk wieder ein und schiebt den Gashebel auf Vollast. Dabei blickt er dem Flugzeug nach, das soeben wie ein Blitz über ihn hinweggedonnert war. Es sieht wie eine zweimotorige Maschine aus, aber dann wird es Krautschneider wieder klar, daß es nur eine Me 262, einer der neuen Turbinenjäger gewesen sein kann, der ihm soeben beinahe ein sehr schnelles Ende beschert hätte. Sodann fällt ihm auch ein, was er gerüchteweise schon des öfteren in letzter Zeit gehört hatte; daß sie hier liegen sollen, die neuen »Wundervögel«, von denen man sich so unendlich viel verspricht. Krautschneider kurvt über eine Halle hinweg, und er atmet auf, als er sieht, daß der Fähnrich mit seiner »Me« noch hinter ihm ist. Beim nächsten Anschweben gibt es keine Überraschungen mehr. Sie setzen auf, rollen aus und dirigieren ihre Maschinen neben die halb zerstörte Halle, in deren Nähe einige Warte mit den Händen über den Köpfen herumrudern und sie einwinken. Ein Stabsfeldwebel vom technischen Personal kommt heran und blickt dem Oberfeldwebel entgegen, als er über die Tragfläche rutscht. »Was verschafft uns die hohe Ehre, Herr General?« knurrt der andere. »Entschuldigen Sie bitte, daß wir keine Ehrenjungfrauen neben der Landebahn aufgestellt hatten.« »Ein Bursche, der was von Zündungen versteht, wäre mir lieber!« gibt Krautschneider zurück. Er steht jetzt vor dem Mann mit dem griesgrämigen Gesicht, zieht die Kopfhaube ab und sucht nach einer Zigarette. Nachdem er sie angezündet hat, deutet er zum Landekreuz hinüber. »Machen die immer solche Scherze, wenn einer landen will?« Der Stabsfeldwebel scheint den Vorfall beobachtet zu haben. Er zuckt die Schultern und erläutert, als ob es sich um die gleichgültigste Sache der Welt handele: »Vielleicht warst du ihm im Weg!« 104
»Mann!« faucht Krautschneider, einen Blick auf den Fähnrich werfend, der in der Nähe herumsteht wie ein Verlorener. »Nun laß aber die Luft ab!« »Ich heiße übrigens Melzer«, sagt der Dicke mit der ölverschmierten dunklen Drillichbluse. Er äugt dabei nach dem Ritterkreuz, das über Krautschneiders verschwitztem Seidenschal hervorragt. Auch diese Entdeckung scheint ihn allerdings nicht im geringsten zu beeindrucken. Denn dieses JG 7, bei dem er seine schwere Pflicht erfüllt, besteht durchweg aus Piloten, bei denen das Ritterkreuz sozusagen zum Dienstanzug gehört. Es sind jene Asse, die vor geraumer Zeit von allen Frontverbänden weggeholt und auf die Düsenjagdmaschinen gesetzt wurden, von denen man sich jetzt noch das große Wunder erhofft. Jedoch der Oberwerkmeister scheint nicht gewillt, darüber zu reden. Sein Blick huscht wieder einmal durch den Himmel über dem Platz, und Krautschneider kann sich sofort denken, was er sucht. Unwillkürlich erinnert er sich an einen Oberwerkmeister auf einem zerbombten Platz in der Normandie. Er und alle, die dort waren, hatten ebenfalls den Blick mehr in der Luft als sonstwo. »Ein Wunder!« murmelte der Oberwerkmeister nachdenklich. »Daß sie noch nicht hier herumschwirren.« »Die Amis?« »Wer denn sonst?« Krautschneider zündet sich eine Zigarette an. »Wo kommt ihr denn her?« »Von einem Feindflug. Wir waren weit über den Alpen. – ›Boeings‹.« Krautschneider deutet jetzt zum Rollfeld hinüber. »Wie geht es denn hier? Ihr habt Turbos, nicht? Bringen sie was fertig?« »Sicher würden sie noch viel mehr fertigbringen«, murmelt der Oberwerkmeister, »wenn die Amis sie wenigstens starten und landen ließen. Aber so…« 105
Er verstummt und wirft seinem Gegenüber einen verwunderten Blick zu. Dann dreht auch er sich um und blickt zu den drei Männern in dunklen Lederjacken hinüber, die gerade um die Hallenecke herumkommen. »Was ist denn …?« Krautschneider gibt ihm keine Antwort mehr. Er schiebt sich an dem anderen vorbei und beginnt zu laufen. Und dann hört der Stabsfeldwebel ihn einen Namen herausschreien, immer wieder: »Jakobs, Mensch, Jakobs!« Die drei Piloten, ihre Dienstgradabzeichen sind nicht zu erkennen, sind stehengeblieben und sehen dem heranrennenden Kameraden erstaunt und ahnungsvoll zugleich entgegen. Der breitschultrige Mann in ihrer Mitte reißt jetzt die Arme in die Höhe und rennt dem anderen entgegen. Und dann erleben sie wieder einmal das, was schon auf vielen Flugplätzen zuweilen geschehen war: Der Zufall hatte zwei von ihnen zusammengeführt, die sich schon lange nicht mehr gesehen und vielleicht nicht einmal gewußt hatten, ob der andere noch am Leben war. So ist es auch jetzt wieder. Sie fallen sich in die Arme, klopfen sich auf den Schultern herum und benötigen eine Menge Zeit, bis sie die Überraschung wenigstens einigermaßen verdaut haben. Die anderen sind näher herangekommen und umringen jetzt die beiden, die sich mit freudestrahlenden Gesichtern anstarren. Die erbarmungslose Gegenwart verliert ihr Gewicht. Die zerstörten Gebäude am Platzrand, das von Bombeneinschlägen zerlöcherte Rollfeld, alles verblaßt vor den Eindrücken dieses Wiedersehens. »Jakobs, du…?« »Krautschneider, ist es denn wahr…?« »Du siehst es doch! Wo bist du denn damals geblieben, an jenem Tag, du weißt schon, drüben an der Invasionsfront?« Der Ausdruck der Freude verschwindet von Jakobs’ Gesicht. 106
»Damals?« sagt er. »Das war nichts Besonderes. Sie hatten mich nicht einmal gejagt. Irgendein verirrter Schuß traf mich am Oberarm. Vielleicht kennst du das. Das Blut fließt und fließt, und man kann nicht viel dagegen machen. Man fliegt wie im Trancezustand, manchmal Schleier vor den Augen. Und dann siehst du noch irgendwo einen Flugplatz und bringst eine Landung fertig. So war es auch bei mir. Sie hoben mich aus dem Kahn und brachten mich später in ein Lazarett. Dann heim nach Deutschland und zu einer Ersatzgruppe. Ich habe auch an den Haufen geschrieben, aber sicher waren sie zu jener Zeit schon gar nicht mehr da.« Er hebt den Kopf, und sein Blick streift die Gesichter der Kameraden an seiner Seite. »Ja, und jetzt sind wir hier …« »Sepp, das ist ja…« Krautschneider bringt den Satz nicht zu Ende, denn ein Motorradfahrer knattert heran. Er sagt nur wenige Worte zu den drei Flugzeugführern: »Sofort zur Einsatzbesprechung!« Jakobs reicht Krautschneider die Hand. »Du hast es gehört, Alter. Mach’s gut. Vielleicht bist du noch da, wenn wir wieder zurückkommen.« Ehe Krautschneider etwas erwidern kann, hat Jakobs sich schon umgedreht. Die drei Gestalten verschwinden hinter der Halle. Der Stabsfeldwebel räuspert sich. Er steht hinter Krautschneider. »Ihr kennt euch also?« »Ja, schon viele Jahre. Bei der Invasion habe ich ihn zum letztenmal getroffen. War damals bei einem Überführungshaufen. Auch ich dachte, es hätte ihn damals erwischt. Aber so ist es eben.« Sie schlendern zu der Me 109 zurück. Der Fähnrich liegt unter einer Tragfläche im Gras. Eine Viertelstunde später erhebt sich am Ostrand des Platzes 107
ein hohes Heulen. Kurz darauf kommen zwei Me 262 zum Vorschein. Grelle Feuersäulen züngeln aus den Rückseiten der Turbinen. Das pfeifende Geräusch wird immer stärker. Die Maschinen schwenken jetzt in die Startrichtung ein, und dann jagen sie nebeneinander über die Piste. Sie schwingen sich mit einem orgelnden Geräusch in die Höhe, werden schneller und schneller, steigen in einem unwahrscheinlich starken Winkel und verschwinden irgendwo in östlicher Richtung. Das Echo ihrer Turbinen hallt wie fernes Donnergrollen zur Erde herab.
ENDE
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Junkers Ju 88 A-4
Die Ju 88, von der es über 50 Versionen gab, war ein »großer Wurf« auf dem Sektor der Mittelstreckenbomber. Der Erstflug des Prototyps erfolgte bereits am 21. Dezember 1936, und schon das 5. Versuchsmodell errang am 19. März und am 30. Juni 1939 mit 517,004 km/h über 1.000 km und mit 500,786 km/h über 2.000 km (mit 2.000 kg Nutzlast) aufsehenerregende Rekorde. Die Maschine, zunächst als unbewaffneter Schnellbomber mit hoher Geschwindigkeit projektiert, wurde später doch bewaffnet und außerdem sturzfähig gemacht. Später, von 1940 ab, als die Ju 88 bei den Frontverbänden geflogen wurde, zeigte es sich, daß man mit dieser Maschine praktisch alles machen konnte. So war sie zu verwenden als: Sturzbomber, Horizontalbomber, Tag- und Nachtjäger, Tiefangriffsflugzeug, Torpedobomber, Aufklärer und einiges mehr. Ihr Einsatzdebüt lieferte die Ju 88 während der Schlacht um England und beim Luftkrieg gegen Seeziele rings um die britischen Inseln. Im übrigen waren Ju-88-Maschinen praktisch an allen Fronten eingesetzt: im hohen Norden, in Rußland, Afrika, im Mittelmeer usw. Im weiteren Verlauf des Krieges wurde die Ju 88 auch als Nachtjagdmaschine eingesetzt. Insgesamt wurden von 1939-1945 rund 15.000 Ju 88 gebaut, wobei an den einzelnen Serien 3.000 Änderungen vorgenommen worden waren. 109
Technische Daten Verwendungszweck: Besatzung: Triebwerke: Spannweite: Länge: Höhe: Gefechtsgewicht: Geschwindigkeit: Reichweite: Gipfelhöhe:
Mittelstreckenbomber, Mehrzeckflugzeug
vier Mann zwei Jumo 211 B-1 mit je 1.200 PS 18,37 m 14,36 m 4,80 m 12.122 kg 472 km/h in 5.300 m 2.730 km 8.235m
Bewaffnung:
1 MG 131, 13 mm, im Bug, vom Beobachter bedient; 1 MG 81 in der Frontscheibe, vom Flugzeugführer bedient; zwei MG 81, 7,9 mm, hinten, vom Bordschützen bedient; 1 MG 81 Z (Zwilling), im hinteren Teil der Bodenlafette (Bola), vom Funker bedient.
Bombenlast:
1.800 kg.
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Deutsche Kriegsflugzeuge
Junkers Ju 88 111