Cover DIE Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen László András Tod am Donauufer
Kriminalroman
Béla Kel...
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Cover DIE Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen László András Tod am Donauufer
Kriminalroman
Béla Kelemen, Leiter der Budapester Mordkommission, durch eine schwere Grippe ans Bett gefesselt, langweilt sich. Ein Anruf seines Kollegen Rauder, der ihm mitteilt, daß am Donauufer in einem Wochenendhaus ein Mann erschlagen vom Streifendienst gefunden wurde, entreißt ihn seinem unfreiwilligen Müßiggang. Mit Feuereifer stürzt sich Kelemen auf diesen Fall, läßt sich alle Einzelheiten berichten; kombiniert, verwirft und nimmt vom Krankenbett aus an den Ermittlungen teil. Bei dem Toten, Jenő Hunyor, hatte man eine Karte in Geheimschrift gefunden, die vielleicht einen Schritt zur Aufklärung bedeuten könnte. Für knifflige Angelegenheiten hatte Kelemen schon immer etwas übrig, und er versucht, diese Karte zu dechiffrieren. Rauder erstattet Kelemen regelmäßig Bericht. Als der Fall ins Stocken zu geraten droht, entdeckt die Polizei auf der Margareteninsel einen weiteren Toten.
László András
Tod am Donauufer
Verlag Das Neue Berlin
Originaltitel: Halál a Dunaparton Aus dem Ungarischen von Hans Skirecki © László András (1971) Originalverlag MAGVETŐ KÖNYVKIADÓ, Budapest
1 „Am Neunundzwanzigsten, sagst du. War das ein Mittwoch?“ „Ja. Ungefähr zwischen Mitternacht und ein Uhr. In der Nacht zum Donnerstag.“ „Teilst du es Jeromos zu?“ „Ja. Und ich habe ihm auch diesen Juristen zugeteilt. Wenn wir ihn schon am Halse haben, soll er wenigstens was von der Praxis sehen.“ „Gut. Ein glatter Mord. Wenigstens scheint es so. Jetzt kannst du meine Arbeit mitmachen.“ „Du hast meine auch schon mitgemacht, Béla. Was meint der Arzt?“ „Eine Woche, zehn Tage. Falls keine Komplikationen auftreten, bin ich in drei oder vier Tagen wieder drin. Das Bett ist mir zuwider. Ich kann nicht mal richtig lesen.“ Auf einem kleinen Tisch neben der Ausziehcouch drei Bücher – zwei englische und ein ungarischer Kriminalroman. „Fachliche Weiterbildung?“ Rauder lachte. „Ja. Aber wie gesagt, ich kann nicht lesen. Ich kriege kaum Luft.“ Er streckte die Hand aus, ertastete ein Papiertaschentuch auf dem Tisch, faltete es umständlich auseinander und schnaubte sich die Nase. Das Taschentuch warf er in den Papierkorb, der neben der Couch stand. Dann hob er ein kleines Fläschchen auf die Brust, schraubte ungeschickt den Deckel ab, saugte mit der Pipette Flüssigkeit aus dem Fläschchen an und drückte ein paar Tropfen erst in das eine, dann in das andere Nasenloch. Er schnüffelte ein bißchen. 6
„Gleich ist es besser“, sagte er. Aber es klang wie goich. Rauder lachte. „Wenn man Grippe hat, kommt einem der Kopf wie ein Faß vor.“ „Wie ein volles Faß. Erzähl mir die Einzelheiten. Was du weißt. Damit ich wenigstens Abwechslung habe.“ „Wir kennen noch nicht viel Einzelheiten. Der Kerl heißt Hunyor. Beziehungsweise hieß. Jenö Hunyor. Aber das habe ich schon gesagt, glaube ich. Als der Streifenpolizist heute früh unten den Donauweg entlangging, drückte er einfach nur so, auf gut Glück, die Klinken an den Gartentoren ’runter, ob sie richtig abgeschlossen waren. Um diese Zeit, im Winter, stehen diese Anglerhütten leer. Nur im oberen Weg, im Waldweg, sind zwei Häuser ständig bewohnt. Diese Gartentür nun war nicht verschlossen, die Tür zum Häuschen aber ja. Zuerst fiel ihm nichts Verdächtiges auf; erst als er näher hinsah, bemerkte er einige bräunliche Flecke um das Schloß herum. Er ging zur Wache und sagte dem Diensthabenden Bescheid. Der ging hin und sah sich die Sache an, und er meinte auch, daß es Blut sein könnte. Er klopfte gleichfalls an, aber drinnen blieb alles still.“ „Wohin geht das Fenster? Zur Donau?“ „Nein. Zum Waldweg. Die Tür geht zur Donauseite. Vom Haus bis hinunter zum Uferweg erstreckt sich der Garten mit ein paar Beeten und Blumenstauden. Vom Uferweg bis zum Wasser steht alles voll Schilf, darin ein Balken bis zum Steg, wo im Sommer das Boot angebunden wird.“ „Ich verstehe, glaube ich. Haben die Polizisten die Tür aufgebrochen?“ „Vermutlich haben sie sich beraten, was zu tun wäre. Immerhin bestand die Möglichkeit, daß derjenige, der zuletzt im Haus war, sich irgendwie die Hand verletzt und dann die Tür abgeschlossen hatte, daher die Flecke. Sie gingen einen Schlosser holen, der hat die Tür geöffnet.“ 7
„Konnte man nicht durch das Fenster sehen?“ „Nein. Blaues Papier war davor, von innen mit Reißzwecken befestigt. Solches Papier, wie es Kinder nehmen, um Schulbücher einzubinden. Der Tote lag in einem graugrünen, billigen Bademantel auf dem Fußboden, unter dem Bademantel hatte er nur eine Unterhose an. Die Kleidungsstücke hingen ordentlich über der Stuhllehne, in der Innentasche des Sakkos zweihundertsiebzig Forint. Im Regal, unter einem Buch, noch weitere neunzig Forint. Und in der Hosentasche noch ein bißchen Kleingeld.“ „Gehörte ihm das Häuschen?“ „Nein. Seiner Schwester, einer verwitweten Frau Balog. Sie hat eine Tochter und einen Sohn.“ „Und das Opfer? Verheiratet?“ „Ja. Eine Tochter. Aber laß mich weitererzählen.“ „Gut. Erzähl weiter.“ „Das Bett ungemacht; aber ob er allein darin gelegen hat, ließ sich nicht feststellen. Im Zimmer – denn das ganze Haus ist ein einziger Raum mit einer kleinen Sommerküche daneben, die aber mit einem Vorhängeschloß versehen und unberührt war – im Zimmer also dem Anschein nach kein Anzeichen dafür, daß er sich nicht allein darin aufgehalten hat. Eine ausführliche Besichtigung haben Jeromos und seine Leute gegen Mittag vorgenommen. Ich weiß noch nicht, was sie gefunden haben. Nach der ersten polizeiärztlichen Untersuchung lag er ungefähr vier Tage dort. Also seit dem Neunundzwanzigsten. Am späten Abend wird das Sektionsprotokoll vorliegen. Gehirnverletzung, er hat einen schweren Metallgegenstand von hinten übern Kopf bekommen. Der Schädelknochen ist gebrochen. Der Tote lag diagonal im Raum, mit dem Kopf zum Bett.“ „Also mit dem Rücken zur Tür?“ „Nicht ganz. Quer zwischen Tür und Fenster. Das Bett steht, wenn du in das Haus trittst, an der rechten Wand, 8
hinten in der Ecke. Kannst du dir ein Bild von dem machen, was ich dir sage?“ „Ja. Was ist noch im Zimmer?“ „In die linke Wand sind Nägel geschlagen, darauf und daran Angelruten und Senknetze, in der Ecke drei vergammelte Ruder. Und noch zwei unterm Bett. Ebenfalls an der linken Wand ein Tisch, darauf eine leere Tasse mit Untertasse, in der Tasse ist Tee gewesen, denn am Boden klebten noch Teeblättchen, und ein wenig Zucker war angetrocknet. Neben dem Tisch ein Hocker, daneben auf dem Fußboden eine Schüssel mit schmutzigem Wasser. Noch zwei Stühle, auf dem ersten hingen, wie ich sagte, die Kleidungsstücke des Opfers.“ „Brannte Licht?“ „Das Haus hat keinen Stromanschluß. Unter dem Fenster steht eine Art Küchenschrank, eine kleine Kommode eher, darin Teller, Besteck und so. Sauber, abgewaschen. Auf diesem Schrank ein Aschenbecher, leer und sauber, daneben eine Petroleumlampe, halb mit Petroleum gefüllt.“ „Demnach ist die Petroleumlampe ausgemacht worden.“ „Stimmt. Jemand hat sie ausgedreht. Vermutlich der Mörder. Wir haben Fingerabdrücke genommen.“ „Das will ich hoffen. Womit hat er geheizt? Gibt es einen Ofen in der Hütte?“ „Einen kleinen Eisenofen. Daneben ein paar Briketts und eine ziemlich große Anglertasche, so eine, wie man sie sich über die Schulter hängen kann, auch darin Briketts, hübsch gestapelt, damit sie hineinpassen.“ „Wo steht der Ofen?“ „Rechts von der Tür, zwischen dem Bett und der Wand zur Donau hin. An dieser Wand außerdem ein Kleiderhaken, und Kleiderhaken und Nägel auch an der Innenseite der Tür. Daran abgetragene Frauenkleider und Morgenröcke. Eine schäbige Männerhose.“ 9
„Nichts Auffälliges, Ungewöhnliches, Überraschendes?“ „Nichts. Höchstens eins. Wie gesagt, ein Regal ist da. Im Regal Bücher, einmal die Fischwelt der Flüsse und Seen, vier ausgefranste Romane, darunter ein ‚Gelbes Heft‘ aus der Vorkriegszeit und unter diesem die neunzig Forint, ganz am Rande des Regals, gut sichtbar, denn der Rand der Scheine hing heraus. Niemand hätte nach dem Geld suchen müssen. Und ein neues Strafgesetzbuch.“ „Strafgesetzbuch?“ „Ja. Das war das einzig Merkwürdige. Weil es nicht in die Umgebung paßte.“ „Kann sein, daß es nichts zu bedeuten hat.“ „Sein kann alles.“ Auf dem Teppich neben der Couch klingelte das Telefon. Rauder streckte instinktiv die Hand aus, um den Hörer aufzunehmen, aber das war nicht nötig. „Hallo. Ja, hier Béla Kelemen.“ (Was so klang: Bilakelebeb.) „Ja, er ist hier. Gleich. – Für dich, von drinnen.“ „Sei so nett und sag ihnen, daß ich in einer halben Stunde dort bin.“ „Er läßt bestellen, daß er in einer halben Stunde dort ist. Gut, in Ordnung. Danke, Jeromos. Wiedersehn.“ Er legte auf. „Sie haben das Material zusammengestellt. Er will referieren.“ „Dachte ich mir schon.“ „Gut, daß du mir das alles so erzählt hast. Jetzt habe ich was zum Spielen, bis ich einschlafe. Eine Menge Detailangaben fehlen natürlich noch. Bevor du gehst, sag mir nur noch, was du über das Opfer weißt.“ „Fünfundvierzig Jahre, technischer Gruppenleiter in einer Mechaniker-PGH. Verheiratet, ständige Wohnung in der Sámuel-Diószeghy-Straße, die Anglerhütte gehört seiner Schwester. Hunyor hat eine siebzehnjährige Tochter.“ „Groß? Klein? Hunyor meine ich.“ „Wie er so dalag, habe ich ihn auf ein Meter fünfund10
siebzig geschätzt. Ein massiger, kräftiger Mann, aber nicht dick.“ „Der Tod? Trat er sofort ein?“ „Sofort, meint der Arzt. Er ist umgestürzt wie ein Sack. Es muß ein mächtiger Schlag gewesen sein. Eine häßliche, offene Wunde.“ „Und von dem Metallgegenstand natürlich keine Spur.“ „Nicht die geringste. Vielleicht hat er sich inzwischen angefunden. Jeromos und seine Leute haben mittags und nachmittags die Umgebung abgesucht. Solange es hell war.“ Kelemen schloß die Augen. „Du hast ihnen doch gesagt, sie sollen auch den Rand des Schilfdickichts und das Wasser am Uferstreifen abgrasen?“ „Hab’ ich.“ „Denn warum sonst wäre die Gartentür zum Uferweg offen gewesen, wenn nicht deshalb, weil der Mörder durch sie hinausgegangen ist. Die obere Gartentür war verschlossen?“ „Ja, mit einem Schlüssel, den wir allerdings nicht finden konnten.“ „Na bitte. Nur noch eine Frage. Wie steht es mit Fußspuren?“ „Eine schwierige Sache. Es hat zehn Tage nicht geregnet, aber wegen der Donau ist der Boden dort immer feucht. Nebel und Dunst. Der Weg vom unteren und oberen Gartentor bis zum Haus ist gepflastert. Und auf dem Uferweg können während der vier Tage viele Leute gegangen sein, wenngleich die Gegend um diese Zeit ziemlich ausgestorben ist. Vielleicht finden sie auf der Bohle und dem Steg etwas. In den letzten Tagen hat es mal ein bißchen gefroren, mal getaut. Ich werde Berbóczy um eine Expertise bitten. Aber jetzt gehe ich. Servus, Béla. Gute Besserung. Und nimm brav deine Medizin, hörst du?“ 11
„Die ist wie Weihwasser für einen Toten. Grippe muß man ausliegen, mein Junge.“ „Dann lieg sie aus.“ „Ich will’s versuchen. Und du komm auf einen Sprung her, wenn du ein bißchen Zeit hast, und erzähl mir, was sich so tut. Dann kann ich wenigstens in Gedanken Schach spielen. Na, geh. Sie warten auf dich. Servus.“ „Servus, Béla.“ Rauder ging. Kelemen lauschte ein Weilchen, dann setzte er sich auf und schälte die Bettdecke von sich. So wie er war, barfuß und im Nachthemd, lief er zum Bücherregal, zog einen großformatigen Kunstatlas heraus, schnappte sich vom Tisch zwei Blatt Papier und einen Kugelschreiber, kehrte auf die Couch zurück, schlang die Bettdecke um sich, keilte das Kopfkissen fest, zog die Knie an, legte den Atlas darauf und auf ihn das Papier, und dann zeichnete er aus dem Gedächtnis den Lageplan, so wie Rauder es ihm berichtet hatte.
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„Nur annähernd“, murmelte er. „Nur ungefähr.“ Oben eine Doppellinie, die Schienen der Vorortbahn. Sie fährt vom öffentlichen Schlachthof ab; wenn ich mich recht erinnere, alle halben Stunden. Die Anglerhütten haben eine eigene Station. Von dieser führt ein Pfad zum oberen, dem Waldweg, aber am Waldweg stehen bereits Häuser, beiderseits, und Frau Balogs Haus befindet sich an der Seite des Waldwegs, die dem Fluß zugewandt ist. In Frau Balogs Haus wurde Hunyor getötet. Kelemen kennt die Gegend gut, noch aus dem Fall Schneider, der beim Angeln rücklings von seiner Frau erschossen wurde; Kelemen hat dort schon gearbeitet, es ist noch gar nicht so lange her, dreiundsechzig vielleicht? Eher vierundsechzig. Also drei Doppellinien: oben die Vorortbahn, in der Mitte der Waldweg, unten, nahe am Ufer, der Donauweg. Oder heißt der untere Weg anders? Daran erinnere ich mich nicht genau. Nun noch eine Skizze des Hauses. Ich habe Rauder nicht gefragt, an welcher Seite sich die Sommerküche befindet. Ist auch nicht wichtig. Vorläufig nicht.
Kelemen zeichnet ein kleines Viereck und trägt die Einrichtung ein, er markiert Fenster, Tür und Körperlage des Opfers. Das alles kann er sich auch ohne Zeich13
nung vorstellen, aber er weiß, ein Lageplan ist immer eine Hilfe. Neben das Viereck schreibt er die wichtigsten Informationen. Lange betrachtet er die Skizze, aber seine Gedanken sind schon woanders. Er legt den zweiten Bogen auf den ersten und beginnt zu. schreiben. Hunyors Familienverhältnisse, seine Arbeitsstelle. Milieustudie. Frau Balog vernehmen. Eventuell auch ihre Kinder. Was sagte Rauder? Daß sie einen Sohn und eine Tochter hat. Und Hunyor eine Tochter. Warum wohnte Hunyor in dieser Anglerhütte? Wenn er nicht ständig dort wohnte, warum war er in der fraglichen Nacht dort? Denn er nahm ja Kohlen mit, um zu heizen. Oder stammen die Kohlen nicht von ihm, sondern von Frau Balog oder ihren Kindern? Wie ist er hinausgefahren? Mit der Vorortbahn? Den Schaffner befragen, die Fahrgäste, diese Linie hat viel Stammpublikum, Leute, die in Budapest arbeiten. Wochentags – es war ein Mittwoch – und noch dazu im Winter fällt es auf, wenn ein Unbekannter mit prall gefüllter Jagdtasche über der Schulter bei den Anglerhütten aussteigt. Irgendwer wird sich wohl erinnern. Falls er mit der Bahn gefahren ist. Trotzdem und für alle Fälle: Die Taxifahrer fragen, ob sie am Mittwoch jemanden dorthin befördert haben. Falls er nicht in einem Privatwagen hinfuhr oder hingefahren wurde. Die Nachbarn hat Jeromos natürlich inzwischen vernommen. Wir werden sehen, mit welchem Ergebnis. Rauder sagt, daß zwei Häuser in der Gegend ständig bewohnt sind, auch im Winter. Vielleicht weiß man dort etwas über diesen Hunyor. Ein neues Papiertaschentuch. Kelemen stöhnt und schnauft. Ihm ist, als müßte er niesen, hechelnd schnappt er nach Luft, aber er kann nicht niesen. Der Reiz vergeht, zwickt ihn nur noch in der Nase. Zum Satan mit diesem verdammten Schnupfen. Wie es scheint, war es kein Raubmord. Unter dem 14
Buch neunzig Forint. Zweihundertsiebzig in der Jackentasche. Und das Kleingeld. Aber so sicher ist das nicht. Warum hätte irgendwer gerade den Anschein erwecken wollen, daß es kein Raubmord war? Das Gegenteil wäre viel naheliegender: daß jemand, der aus persönlichem Motiv mordet, einen Raubmord vortäuschen will, um die Ermittlungen in eine falsche Richtung zu lenken. Eine Weibergeschichte? Möglich. Er hat eine siebzehnjährige Tochter, ist seit mindestens achtzehn Jahren verheiratet. Ein kräftiger, großgewachsener Mann von fünfundvierzig Jahren. In dem Alter beginnen sie durchzudrehen. Oder schon viel eher. Beziehungsweise wir beginnen. Ich bin auch neunundvierzig. Aber wenn eine Frau dahintersteckt, wo ist sie dann? Außerdem, der Schlag auf den Schädel mit einem schweren Metallgegenstand spricht nicht dafür, daß es eine Frau war. Obwohl, bei diesen durchtrainierten Frauen von heute kann man nie wissen. Vielleicht ist die Frau – wenn es sie gibt – Kugelstoßerin oder Diskuswerferin. Oder Basketballerin. Speerwerferin. Aber das ist unwahrscheinlich. „Manci! Manci!“ beginnt er plötzlich zu rufen, und das klingt wie Batzi! Batzi! Seine Frau tritt ein. „Hast du mich gerufen?“ „Was gibt’s im Fernsehen?“ „Heute ist Montag. Heute ist keine Sendung.“ „Was machst du dann?“ „Stricken.“ „Gut. Weißt du, was ich zum Abendbrot essen möchte?“ „Ich dachte mir, daß ich dir Jagdwurst paniere und brate. Was meinst du dazu? Der Junge mag das auch gerne.“ „Ist er schon zu Hause?“ „Nein. Aber er müßte bald kommen.“ „Ich würde lieber zwei weiche Eier im Glas essen.“ 15
„Gut, sollst du bekommen. Jetzt gleich?“ „Ein bißchen später.“ „Wie du willst. Ruf mich dann nur. Ich will heute noch den anderen Ärmel des Pullovers fertigstricken, morgen nehme ich ihn mit, dann kann er zusammengesetzt werden.“ „Recht so, Manci. Geh nur.“ Die Tür hat sich noch nicht hinter ihr geschlossen, als seine Gedanken schon wieder hinaus zu der Anglerhütte wandern. Um die Wahrheit zu sagen, sie sind von dort gar nicht richtig weggegangen. Aber ja, die Unterhose! Ein wesentliches Problem. Der Bademantel weniger. Der kann, wie die anderen abgetragenen Kleidungsstücke, zum Inventar des Häuschens gehören. Aber die Unterhose, die bedeutet etwas. Vor allem bedeutet sie, daß Hunyor weder einen Schlafanzug noch ein Nachthemd bei sich hatte, daß er sich also wirklich nur provisorisch in der Hütte aufhielt, vielleicht, weil es sich irgendwie so ergab. Hätte er einen Koffer, eine Tasche oder andere Kleidungsstücke mitgehabt, dann hätte Rauder nicht vergessen, das zu erwähnen. Natürlich ist es auch möglich, daß er eine Tasche bei sich hatte, aber der Mörder hat sie mitgenommen. Aber warum war er in Unterhosen? Wenn er Damenbesuch hatte, ist es natürlich verständlich. Doch darauf weist nichts hin. Jedenfalls vorläufig nicht. Alles deutet sogar darauf, daß sich Hunyor allein in der Hütte aufhielt. Allerdings ist nicht ausgeschlossen, daß sich diese Hypothese nach der eingehenden Tatortbesichtigung ändern wird. Unverständlich. Warum legt sich im Winter jemand in einer dünnwandigen Anglerhütte mit einem Eisenofen, der rasch auskühlt, wenn nicht ständig nachgelegt wird, schlafen und hat nicht mehr als eine Unterhose am Leibe? Kelemen dreht sich schwerfällig auf die Seite, stützt sich auf den rechten Ellbogen, streckt den linken Arm 16
aus und versucht die Zeitungen zu erreichen, die unten im Bücherregal aufgestapelt sind. Es reicht nicht, ungefähr drei Zentimeter fehlen. Er beugt sich weiter vor, endlich bekommt er zwischen Zeige- und Mittelfinger den Rand einer Zeitung zu fassen. Er zieht vorsichtig daran, mit sanftem Plumpsen kippt der Stoß um. Er hat Glück. Der Stoß kippt auf ihn zu. Nur ein kleines bißchen, aber auf ihn zu. Er erreicht die Zeitungen. Die oberen sechs oder sieben Exemplare zieht er näher heran, hebt sie auf, legt sie sich auf die Bettdecke und wälzt sich wieder auf den Rücken. Schniefend ruht er sich einen Augenblick aus. Die vom Einunddreißigsten. Vom Dreißigsten, vom Neunundzwanzigsten. Die braucht er. Am Dienstag war der Himmel vorwiegend bedeckt. Ich bin blöd. Klar, daß ich in der vom Dreißigsten nachgucken muß. Westlich der Donau zeitweilig starke Winde aus nördlichen … Die Temperatur lag um vierzehn Uhr zwischen plus drei und minus einem Grad … Also hat sie nachts sicherlich unter dem Gefrierpunkt gelegen. Das dachte ich mir gleich. Ich pfeife auf Berbóczys meteorologische Expertise. Mir genügt das voll und ganz. Die Unterhose ist unmotiviert. Für uns. Für Hunyor war sie es sicher nicht, wir kennen nur noch nicht seine Motive. Schade, daß ich zum Schachspielen vorläufig nicht mehr Informationen habe. Nicht zweiunddreißig, sondern nur fünf oder sechs Figuren. Auch das Brett ist noch winzig klein. Und Rauder kommt mir mit diesem Strafgesetzbuch. Daß es etwas Ungewöhnliches sei. Das Strafgesetzbuch ist ein wichtiges Moment oder keins, was wir noch herausfinden werden. Es lag im Regal, bei den anderen Büchern, möglicherweise gehört es zur ständigen Ausrüstung des Hauses. In so einer Anglerhütte tauchen manchmal die unmöglichsten und am wenigsten vermuteten Gegenstände auf, und dann gibt es einen einfachen und natürlichen Grund dafür. Aber die Unterhose, die bedarf einer Erklärung. 17
Er blickt auf seine Uhr. Viertel acht. Rauder ist um halb sechs gegangen. Wenig wahrscheinlich, daß Gyuri schon zu Hause ist, bestimmt hocken sie noch im Büro zusammen. Aber versuchen kann ich es ja. Wenn er nicht zu Hause ist, meldet er sich eben nicht. Oder Janka meldet sich. Wenn Janka zu Hause ist, soll sie Gyuri ausrichten, daß er mich anrufen soll, sobald er heimkommt. Er nimmt den Hörer ab und wählt im Liegen, wobei er blinzelt und zwinkert, weil er zu faul ist, die Brille aufzusetzen. Das Rufzeichen. Anscheinend ist niemand zu Hause. Na, noch ein Weilchen. Da wird abgenommen. Es ist Janka. Das ist ihr „Hallo?“. „Janka? Servus, meine Beste. Hier spricht Béla“, sagt Kelemen. „Du bist es, Béla?“ Jankas scharfe Stimme tut seinen Ohren fast weh. „Von Gyuri hörte ich, du bist krank. Deiner Stimme ist es auch anzuhören. Mach dir Wickel um den Hals. Sag Manci, daß ich das sage. Wickel helfen.“ „Ich möchte Gyuri sprechen, Janka. Ist er schon da?“ „Er ist im Bad und wäscht sich die Hände. Wir essen jetzt Abendbrot, dann geht er ins Büro zurück. Ihr macht mir den armen Jungen noch kaputt. Warte einen Moment, Béla, ich rufe ihn. Gute Besserung. Und vergiß die Wickel nicht. Servus, Béla.“ Er wartet, den Telefonhörer am Ohr. Der kommt ihm glühendheiß vor. Wahrscheinlich habe ich Fieber. Durch Janka werden wir auffliegen. Ich bedaure schon, daß ich mich auf diese Sache eingelassen habe. Warum mußte sich Gyuri für das eine Jahr kriminalistische Praxis ausgerechnet bei meiner Gruppe bewerben! Wegen dieser Kandidatendissertation … Psychologische Motivation vorsätzlicher Tötungen. Ich darf den Jungen jetzt drin im Büro siezen. Genosse Szipek hin, Genosse Szipek her. Damit niemand mitkriegt, daß er mein Neffe ist. Ein 18
Glück noch, daß nicht ich ihn bei der Aufnahme geprüft habe. Seine schriftliche Arbeit ist auch bei Rauder gelandet. Er hatte recht, natürlich, er hat mich überzeugt. Es wäre ungerecht gewesen, wenn er als der beste Prüfling die Stelle nur deshalb nicht bekommen hätte, weil er mit mir verwandt ist. „Hallo, Onkel Béla? Wie geht’s?“ „Miserabel. Sag, gibt es etwas Neues im Fall Hunyor?“ „Das Zimmer war ausgefegt und die Matte vor dem Bett ausgeschüttelt, aber unter dem Toten und an den Fasern des Bademantels haben wir ein wenig Zigarettenasche gefunden. Davon abgesehen aber keine Spur, daß im Zimmer geraucht worden ist. Auch der Aschenbecher war leer und sauber. Hunyor hatte keine Zigaretten in der Tasche, aber er war Raucher, und unten in der Jackentasche haben wir Tabakstaub gefunden.“ „Die Bettwäsche! Habt ihr euch die Bettwäsche angesehen?“ „Ja. Das Laken ist fleckig, aber das ist noch kein Beweis dafür, daß Hunyor in dieser Nacht nicht allein im Bett lag. Wenngleich auch das nicht ausgeschlossen ist.“ „Habt ihr einen Besen gefunden?“ „Haben wir. Einen Handfeger, hinter dem Bett. Alt und abgenutzt, aber er sieht ganz sauber aus. So, als wäre er sorgfältig gereinigt worden. Nichts als negative Beweise.“ „Das macht nichts. Aus dem Sektionsprotokoll werden wir mehr erfahren. Und Hunyors Verhältnisse? Gibt es da etwas Neues?“ „Am Siebzehnten hat er völlig unerwartet nach zwanzigjähriger Ehe seine Familie verlassen. Er hat zu niemandem vorher darüber gesprochen. Er packte die notwendigsten Dinge in einen Koffer; als er ging, war niemand zu Hause. Drei Tage wohnte er bei einem Freund in der Küche, dort schlief er auf einer Matratze, dann ließ er sich von seiner Schwester den Schlüssel zu der Hütte geben und zog dorthin.“ 19
„Er wohnte seit dem Zwanzigsten dort?“ „Zum ersten Mal fuhr er am Einundzwanzigsten hinaus. Aber es fehlt jeder Beweis, daß er dort gewohnt hat. Keine Spur im Zimmer. Auch der Koffer ist weg.“ „Ich verstehe. Und wie standen sie finanziell?“ „Hunyors Frau sagt, er hätte ein Sparbuch im Wert von zweiundvierzigtausend Forint mitgenommen, das auf seinen Namen ausgestellt ist. Außer ihm selbst könnte niemand etwas vom Konto abheben.“ „Und das sagst du erst jetzt? Wo ist das Geld deponiert worden?“ „In der Bezirksfiliale der Sparkasse, aber dahin können wir erst morgen gehen. Als sich das herausstellte, war schon geschlossen. Natürlich fehlt auch das Sparbuch, und sein Gehalt ist auch verschwunden.“ „Wieso sein Gehalt?“ „In dieser Genossenschaft ist am Dreizehnten und am Neunundzwanzigsten Zahltag. Aber er war vom Dreizehnten bis zum Achtundzwanzigsten krank geschrieben. Ganz normal, ohne Hintertürchen. Wegen einer fiebrigen Erkältung.“ „Wie ich.“ „Ja. Am Neunzehnten bekam er sein Gehalt vom Dreizehnten ausgehändigt, er legte es in das Schubfach seines Schreibtisches und nahm nach Aussage eines Mitarbeiters, der im selben Zimmer arbeitet, am Neunundzwanzigsten vormittags das Gehalt für den ganzen Monat an sich. Zweitausendsechshunderteinundzwanzig Forint.“ „Hat er eine Freundin?“ „Angeblich hat er keine. Das behaupten alle, ausgenommen seine Frau, die schwören will, daß er sie wegen irgendeines Weibsbildes verlassen hat. Hunyor hat es auch vor seiner Schwester abgestritten. Seine Kollegen wissen gleichfalls nichts von einer Freundin, ebensowenig seine Tochter.“ 20
„Ist das alles?“ „Das sind die Dinge, die wichtig zu sein scheinen. Die Laboruntersuchungen sind im Gange, das Sektionsprotokoll wird heute nacht fertig. Nach dem Abendessen gehe ich zurück.“ „Paß auf, kein Wort zu Rauder, daß wir miteinander gesprochen haben! Sag auch deiner Mutter, daß sie ihre Zunge im Zaum halten soll. Ich möchte nicht auffliegen, weil du mein Neffe bist.“ „Ist gut, Onkel Béla. Unsere kleine Verschwörung. Alles geht in Ordnung.“ „Na gut. Schönen Dank für die Auskünfte. Rauder rufe ich morgen früh an. Du weißt nichts davon. Servus, Gyuri.“ „Servus, Onkel Béla. Ich melde mich wieder. Heimlich.“ Er legt auf. Zieht hoch und bekommt keine Luft. Er schnaubt sich die Nase und nimmt Nasentropfen, dann ruft er: „Manci! Manci!“ „Ja, mein Lieber?“ Seine Frau steckt den Kopf herein. „Soll ich die Eier aufsetzen?“ „Sei so lieb.“
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2 Das kann man nicht als Zufall ansehen. Und wenn doch, dann wirklich nur als kleinen Zufall. Ein Zufall ist es, wenn einen beim Baden auf der Insel Korčula in der Adria ein Krokodil ins Bein beißt und sich von dem Krokodil, das eifrig um Entschuldigung bittet, herausstellt, daß es Bamberger heißt und eigentlich nur unter dem Wasser die Richtung verfehlt hat, denn es wollte als Krokodil seine Frau ins Bein beißen, die zwei Schritte weiter rechts badet, und wenn sich vom Genossen Bamberger ferner herausstellt, daß er Berufskollege ist, Hauptmann bei der Mordkommission der Leipziger Polizei, daß ich für ihn also ein Herr Kollege bin und obendrein seine Schwägerin die Nichte von Frici Romhányi ist und wir uns vor zwei Jahren im Sommer nur deshalb nicht bei Romhányis begegnet sind, weil ich im Fall Róza Humbrik nach Balatonszentgyörgy fahren mußte. Das ist Zufall. Wenn ich diese Anhäufung von Einzeldingen als Zufall ansehe, die Entfernung von mehreren tausend Kilometern und die Zeitpunkte in ihrer unerwarteten, unberechenbaren Übereinstimmung, dann ist es wirklich nicht als ein Zufall anzusehen, daß Andris Kelemen und Vilma Hunyor sich kennen. Aus mehreren Gründen. Erstens sind sie gleichaltrig, beide siebzehn Jahre alt. Es ist tatsächlich nichts Besonderes daran, wenn in einer Zweimillionenstadt zwei gleichaltrige Oberschüler mit gleichen oder wenigstens ähnlich gelagerten Interessen zum selben Mathematikzirkel gehen. Wieviel mathematisch interessierte Siebzehnjährige mag es in Pest geben? Von Buda einmal ab22
gesehen. Sagen wir, in zwei benachbarten Stadtbezirken. Eher wäre es sonderbar, wenn sie sich nicht kennen würden oder wenn sie nicht voneinander wüßten. Da kommt er herein und kaut auf einem Kaugummi. „Servus, Vater“, sagt er. „Servus. Sei so nett und hol noch eine Papierserviette, der Schnurrbart ist mir ganz mit Eigelb verklebt.“ Er geht die Serviette holen, ich wische mir den Mund ab. „Wie geht’s dir?“ „Miserabel“, sage ich, denn der Mensch wiederholt sich. „Schade. Das tut mir sehr leid.“ „Danke.“ „Es tut mir nicht deshalb leid, weil … beziehungsweise auch deshalb, weil du krank bist. Aber jetzt ist es besonderes Pech, daß du nicht auf dem Posten bist.“ „Stell doch bitte das Tablett auf den Tisch.“ Das ist ein bewußtes Ablenkungsmanöver. Man soll nicht bohren, wenn man sieht, daß der Verdächtigte von sich aus reden wird, denn möglicherweise wird er dann mehr erzählen, als wenn er gefragt wird. „Es handelt sich um den Fall Hunyor“, sagt er, nachdem er das Tablett weggestellt und sich in den Sessel geworfen hat, in dem vorher schon Rauder saß. Ich verabscheue es, wenn er im intimen Berufsjargon spricht, deshalb antworte ich ihm nicht. „Ich habe in der Zeitung gelesen, daß man ihn umgebracht hat. Pech ist es deshalb, daß du ausgerechnet jetzt nicht gesund bist, weil ich dich danach fragen wollte. Ich kenne seine Tochter. Wir gehen zum selben Mathezirkel.“ „Meinst du, daß sie die Mörderin ist?“ Ich weiß, daß das ein Tiefschlag war, aber ich bin auf seine Emotionen neugierig. Ich kenne meinen Sohn. Man muß ihn provozieren, damit seine Emotionen nach oben dringen. 23
„Ich glaube nicht. Ich halte es sogar für ausgeschlossen“, antwortet er erstaunlich gelassen. „Bist du mit ihr gegangen?“ „Leider nicht. Und glaub mir, an mir hat es nicht gelegen.“ „Das glaube ich dir. Demnach geht sie mit einem anderen.“ „Sag mal, Vater, ist dir noch nie in den Sinn gekommen, Kriminalist zu werden? Du hast eine sagenhaft gute Logik. Sie geht mit niemandem.“ „Und ist dir noch nie in den Sinn gekommen, daß du frech zu deinem Vater bist? Ferner, daß du offensichtlich meine sagenhaft gute Logik nicht geerbt hast? Ich habe deine Qualitäten als Frauenheld gelobt.“ „Ich mache dir einen Vorschlag, Vater.“ „Ich höre.“ „Lassen wir die Nebensachen. Konzentrieren wir uns auf das Wesentliche. Stell mir Fragen. Das ist dein Beruf.“ „Vorschlag angenommen. Aber ich frage nicht. Erzähle. Wenn nötig, werde ich zwischendurch fragen. Außerdem habe ich Schnupfen.“ „Gut.“ Und er erzählte. Seit anderthalb Jahren gehen sie gemeinsam zu diesem Zirkel. Vilma ist nicht nur ein hübsches, entwickeltes Mädchen, sondern auch begabt, eine gute Mathematikerin mit viel Phantasie. Andris machte sich sofort an sie heran, aber ohne rechten Erfolg. „Es war mein Fehler. Damals verstand ich noch nichts von Frauen.“ „Und heute?“ „Mehr als damals“, antwortete er zurückhaltend. Im vorigen Sommer, während wir in Jugoslawien waren, lernte Vilma einen jungen Maler kennen; als wir zurückkamen, war die Sache schon wieder zu Ende. Seitdem geht sie mit niemandem. Auch nicht mit Andris. Er 24
ist seither mit Klári Wilheim zusammen, seit über einem halben Jahr, sie kommen gut miteinander aus. Mit Vilma ist er nur auf streng kameradschaftlicher Grundlage befreundet. Und auf mathematischer. Im Zirkel. In der Wohnung der Hunyors war er während der anderthalb Jahre nur zweimal, aber das ist auch schon eine ganze Zeit her. Annähernd ein Jahr. Vilmas Vater kennt er nicht persönlich, er ist nur ihrer Mutter begegnet. „Wie ist ihre Mutter?“ „Dick.“ „Arbeitet sie? Ich meine, ist sie irgendwo angestellt?“ „Als Köchin in irgendeiner Betriebskantine.“ „Wußtest du, daß Hunyor im vergangenen Monat von zu Hause weggezogen ist?“ „Ja. Vilma hatte es mir gesagt.“ „Und wie?“ „Eines Abends, nach dem Zirkel, als ich sie ein Stückchen begleitete.“ „Ich meine, welcher Meinung war sie?“ „Sie war irgendwie bekümmert, aber sie gab ihrem Alten recht. Sie sagte, sie an seiner Stelle hätte das schon längst getan.“ „Soso. Demnach mag sie ihre Mutter nicht?“ „Ich weiß nicht. Vielleicht. Jedenfalls schwärmt sie nicht für ihre Mutter, denn sie sagte, wenn sie ein Mann wäre, sie könnte auch nicht mit ihrer Mutter … also … du verstehst.“ „Ich verstehe. Hat sie nicht erwähnt, ob ihr Vater eine Freundin hatte?“ „Nein. Aber sie hat ihren Vater sehr gemocht.“ „Hat ihr Vater ihr etwas gesagt, daß er seine Familie verlassen wollte?“ „Nein. Aber am nächsten Tag hat er vor der Schule auf sie gewartet und mit ihr gesprochen.“ „Was nannte er als Grund für sein Weggehen?“ „Das weiß ich nicht.“ 25
„Gut. Aber nach dem Gespräch hast du dir doch sicherlich deine Gedanken über den möglichen Grund gemacht.“ „Tja … Ich weiß nicht. Vielleicht, weil sie sich andauernd gestritten haben, ihre Mutter und ihr Vater. Das heißt, die Streitereien gingen mehr von der Mutter aus.“ „War sie eifersüchtig?“ „Was weiß ich … Wahrscheinlich. Ich weiß nicht. Ich will dir nichts vorschwindeln.“ „Recht so. Das ist auch besser. Wen kennst du noch aus der Familie? Die Balogs?“ „Wer sind diese Balogs?“ „Hunyors Schwester. In ihrer Anglerhütte wurde er getötet.“ „Ach ja, ich weiß schon. Die Boris kenne ich. Ich wußte nur nicht, daß sie Balog heißt. Sie ist Modegestalterin, ein prima Mädchen. Einmal habe ich sie gesehen, im Universitätstheater, als ein Jancsó-Film gespielt wurde. Vilma ging zu ihr, und sie unterhielten sich. Sie hatte einen ganz kurzen Minirock an.“ „Deine Beobachtungsgabe ist ausgezeichnet.“ „Bei so was … Behaupte nicht, Vater, daß du so etwas nicht bemerkst.“ „Habe ich das auch nur mit einer Silbe behauptet? Jetzt möchte ich nur noch erfahren, wieso es Pech ist, daß ich gerade jetzt krank bin.“ „Ach ja … wegen Vilma. Sie weiß, daß du mein Vater bist beziehungsweise … Also sie weiß, daß ihr zuständig seid, ich meine, daß ihr euch mit dem Tod ihres Vaters beschäftigt.“ „Und?“ „Sie bat mich, mit dir zu sprechen. Sie möchte einmal zu dir kommen.“ „Sie wird sowieso vernommen. Wahrscheinlich ist sie inzwischen schon vernommen worden.“ „Ja. Aber Vertrauen hat sie nur zu dir.“ 26
„Zu mir?“ „Ja. Ich habe ihr gesagt, daß du ein anständiger Kumpel bist.“ „Danke. Das ist nett von dir. Aber wenn es geht, mach künftig keine Reklame für mich.“ „Versprochen, Vater. Kann sie also kommen?“ „Hierher? Zu uns?“ „Na, wenn du doch jetzt nicht im Büro bist …“ „Wie stellst du dir das vor, Andris? Wenn ich krank bin, kann ich mich nicht in die Ermittlungen einmischen.“ „Ich dachte auch gar nicht, daß ihr es so offiziell macht. Einfach nur ganz privatim.“ „Wieso privatim? Was soll das heißen, privatim?“ „Das ist ein lateinisches Wort. Es heißt: als Privatmann.“ „Ich verstehe. Schönen Dank für die Erklärung. Gut, soll sie kommen. Morgen um fünf Uhr.“ „Wir haben bis halb sechs Zirkel.“ „Dann also danach. Aber dich brauche ich nicht dabei.“ „Du kannst dich auf meine Diskretion verlassen, Vater.“ „Verschwinde, bevor ich dir etwas an den Kopf werfe. Und nimm das Tablett mit, wenn du ’rausgehst!“ Das war am Montagabend gewesen. Kelemens Dienstagvormittag verlief ziemlich turbulent. Der Arzt ging um Viertel zehn. Béla las ein halbes Kapitel aus dem Roman Der Fall des Teppichhändlers aus Aleppo, aber die Lektüre langweilte ihn ein wenig, und er schlief ein. Um Viertel zwölf telefonierte er mit Rauder, um drei Viertel kam Genosse Banga mit einem großen Kuvert, das in zwei Heftern die Kopien des bisherigen Materials enthielt – in dem einen fand er die Berichte, im anderen die Fotos. Seine Frau kochte Banga einen Kaffee, sie unterhielten sich, dann ging Banga 27
wieder, und bis zum Mittagessen – Manci brachte es ihm um Viertel zwei an die Couch – sah er das Material durch. Nach dem Mittagessen nahm er die Medikamente ein und schlief ein Weilchen. Um halb drei wachte er auf, ging ins Bad und wusch sich. Auf dem Tischchen fand er einen Zettel von seiner Frau: Bin mit dem Pullover zur Strickerei gegangen, komme gegen fünf zurück. Er schlüpfte in den weinroten Trainingsanzug, griff sich ein Päckchen Papiertaschentücher und setzte sich in den Lehnstuhl am Ofen, auf seinen Lieblingsplatz, dann schaltete er das Radio ein und sah sich zu den Klängen der Sendung „Nur für die Jugend“ das Material noch einmal an. Man hatte den Schaffner der Vorortbahn vernommen, Hunyor war mit der Bahn um achtzehn Uhr fünfundfünfzig gefahren, der Schaffner erinnerte sich genau, die Anglerhütten sind eine Bedarfshaltestelle, wer dort aussteigen will, muß dem Schaffner rechtzeitig Bescheid sagen. Das hatte Hunyor getan. Der Schaffner hatte ihn auch früher schon einige Male gesehen. Die pralle Jagdtasche stand zu Hunyors Füßen auf dem Fußboden, der Schaffner fragte ihn noch, ob er sie denn nicht ins Gepäcknetz legen wollte, worauf Hunyor antwortete, er wolle nicht, daß ihm oder den anderen Kohlenstaub auf den Kopf riesele. Wie sich der Schaffner erinnerte, hatte er auch eine volle Aktentasche bei sich, aber möglicherweise gehörte sie nicht ihm, er war sich auch nicht sicher, daß er sie an diesem Mittwochnachmittag gesehen hatte. Außer Hunyor stieg an den Anglerhütten niemand aus. Der Schaffner erkannte Hunyor auch auf dem Foto wieder, unter sechs Aufnahmen zeigte er sofort auf sein Bild. Die Schaffner der übrigen Züge wurden ebenfalls befragt, sie sagten übereinstimmend, an den Anglerhütten sei niemand ausgestiegen, wenn doch, dann würden sie sich erinnern, daß der Betreffende sich gemeldet hätte, 28
denn an den Anglerhütten halte die Bahn nicht. Später, aus der Nachtbahn, war dort auch niemand ausgestiegen. Vom Taxibetrieb war zu erfahren, daß an diesem Tag weder zu den Anglerhütten noch in deren Nähe jemand befördert worden war, die Entfernung beträgt rund vierzig Kilometer, es hatte keine Fahrt in diese Gegend gegeben. Jeromos und Gyuri Szipek fuhren mit Frau Balog zum Tatort, in ihr Häuschen. Vorher suchten sie Frau Balogs Tochter auf, denn zu dem Haus gehören zwei Schlüsselbunde, jedes mit fünf Schlüsseln. Je einer der Schlüssel schließt die Gartentüren zum Waldweg und zum Donauweg, einer das Vorhängeschloß am Kreuzband der Tür des Häuschens, einer die Tür selbst und einer die Sommerküche, die nur mit einem Vorhängeschloß gesichert ist und kein Einbauschloß hat. Einen Schlüsselbund hatte Hunyor bei sich, er gehörte Frau Balog, sie selbst hatte ihn ihm gegeben, als er hinausziehen wollte, der andere befand sich ständig bei Frau Balogs Tochter. Hunyors Schlüssel hatten sich nicht angefunden, deshalb war der Weg zu Frau Balogs Tochter notwendig. Frau Balogs Tochter ist achtundzwanzig Jahre alt, Modegestalterin, geschieden, sie bewohnt eine EinZimmer-Vollkomfortwohnung in der Straße der Märtyrer. Demnach kann – theoretisch – auch Frau Balogs Tochter in der Nacht vom Mittwoch zum Donnerstag in dem Häuschen geweilt haben, zumal sie einen eigenen Wagen besitzt, einen cremefarbenen FIAT 500. Dieser Jeromos leistet ordentliche, saubere Arbeit. Vorläufig geht er noch nicht ins Detail, aber als Möglichkeit erwähnt er im Bericht auch Frau Balogs Tochter. Nur in dem Maß, daß zu sehen ist, auch diese Möglichkeit ist seiner Aufmerksamkeit nicht entgangen. Richtig so. Frau Balog sagt, als Hunyor zu ihr kam und berichte29
te, weshalb er von seiner Familie weggezogen sei, habe er einen schwarzen Lackkoffer bei sich gehabt, in dem – wie er sich ausdrückte – seine ganze Habe gewesen sei. Da wußte Frau Balog bereits, daß ihr Bruder seine Familie verlassen hatte, denn zwei Tage vorher hatte sich Frau Hunyor bei ihr ausgeweint. Hunyor erwähnte auch gegenüber Frau Balog nicht, daß er seine Familie wegen einer anderen Frau verlassen wollte, er sagte, er habe niemanden, aber er könne sich nicht an den Gedanken gewöhnen, daß das Leben mit fünfundvierzig Jahren für ihn vollendet sein sollte, er könne seine Frau mit ihren ewigen Eifersüchteleien nicht länger ertragen, er liebe sie auch nicht, die Tochter sei erwachsen und brauche ihn nicht mehr ständig bei sich, er wolle ein neues Leben anfangen, ihm sei es zuwenig, von der Arbeit nach Hause zu gehen, Abendbrot zu essen, sich schlafen zu legen und am Morgen wieder zur Arbeit zu gehen. „Ich habe niemanden“, sagte er zu Frau Balog, „niemanden, aber ich werde jemanden finden. Ich lasse mich scheiden.“ Das wiederholte er mehrmals. Frau Balog gab ihm den Schlüsselbund und erklärte ihm, welcher Schlüssel wo passe. Den Weg zur Hütte kannte er, im Sommer hatte er mit seiner Familie die Balogs manchmal dort besucht. Die Jagdtasche gehörte zum Haus, Frau Balog hatte sie ihrem Bruder gegeben, damit er sich Kohlen mitnehmen konnte, wie auch sie es tat, wenn sie gelegentlich im Winter hinausfuhr. Gut und schön. Kann sein, daß Hunyor seiner Schwester die Wahrheit gesagt hatte, vielleicht aber auch nicht. Oder daß er etwas sagte, das wahr und auch nicht wahr ist. Vielleicht hatte er eine Gelegenheitsbekannte, die er nie im Traum heiraten wollte. In solchen Fällen sagt ein Mann leicht: „Ich habe niemanden.“ Das kennt man. Doch es ist auch nicht unmöglich, daß er sehr wohl jemanden hatte und es nur vor der Familie 30
verheimlichte. Aber momentan lohnt es nicht, sich damit zu beschäftigen. Übrigens sagten auch seine Kollegen, ihres Wissens habe er keine Freundin gehabt. Er hatte nicht einmal Freunde. Er galt als gute Arbeitskraft, als ein intelligenter, brillanter Fachmann, war auch beliebt, freundete sich aber mit niemandem näher an, und niemand suchte seine Freundschaft. Er sei immer am liebsten für sich allein gewesen, sagten seine Kollegen. Wegen Privatgesprächen wurde er nur selten ans Telefon gerufen, und wenn es vorkam, dann rief im allgemeinen einer seiner Angehörigen an. Jahrelang war er wie die vielen anderen Beschäftigten der Genossenschaft in ein nahes Restaurant zum Mittagessen gegangen, sie hatten dort ein Abonnement, aber damit hatte er vor rund einem halben Jahr aufgehört, niemand wußte, wo er aß, nach der halben Stunde Pause war er stets wieder zur Stelle. Zwei Jahre war er Vertrauensmann der Gewerkschaft gewesen, aber nach seiner Ernennung zum Gruppenleiter hatte er diese Funktion niedergelegt. Also lauter Alltäglichkeiten. Nichts Handgreifliches. Im Schubfach seines Schreibtisches wurde außer dienstlichen Dingen nur ein Foto seiner Tochter gefunden, außerdem zwei Schachteln Symphonia und eine Schachtel Streichhölzer. Die eine Schachtel Zigaretten war angefangen. Ganz hinten fand sich unter den Papieren im Schubfach des Schreibtisches in einem weißen Umschlag, der mit Druckbuchstaben an ihn adressiert war, und zwar an die Adresse der Genossenschaft, eine Ansichtskarte aus Balatonfüred, darauf ein kurzer Text in schülerhafter Geheimschrift, Schrift und Adresse summten mit der auf dem weißen Umschlag überein. Jeromos hat die Karte zur Dechiffrierung weitergeleitet und Fotos vom Umschlag und von beiden Seiten der Karte dem Fotomaterial beigelegt. Gut. Das werden wir uns ansehen. Erst einmal weiter: Tatortbesichtigung mit Frau Balog. 31
Der schwarze Lackkoffer wurde auch in der Sommerküche nicht gefunden. Das war zu erwarten. In der Sommerküche kochte sich Hunyor in einem größeren Topf Tee und außerdem in einer Zwei-PersonenKaffeemaschine Kaffee, aber ob für zwei Personen oder nur für sich, konnte nicht festgestellt werden. Frau Balog fand eine Fleischkonserve, die nicht von ihr stammte, zwei Packungen Keks, ungeöffnet, etwa ein halbes Pfund trockenes Brot und im Abfalleimer Fettpapier, das wohl Speck oder Aufschnitt enthalten hatte. Während sie alles eingehend besichtigte, sagte Frau Balog mehrmals, es fehle nichts. Sie brach mehrfach in Tränen aus. „Armer Jenci, wäre er doch lieber zu Hause geblieben, bei seiner Familie, als daß ihm so was zustoßen mußte“, sagte sie. Und sie wiederholte mehrmals: „Wenn ich ihm nicht den verdammten Schlüssel gegeben hätte, dann wäre er vielleicht …“ Die Besichtigung war fast beendet, als Frau Balog rief: „Die Waage! Die Waage mit den Gewichten!“ In der Küche hatte sich auch eine Waage befunden. Ihr Mann hatte die gefangenen Fische immer gewogen. Mit der Waage konnte er bis zu fünf Kilo wiegen, denn zu ihr gehörten eiserne Gewichte zu zwei, einem und einem halben Kilo und in einem Holzkästchen Messinggewichte von zweihundertfünfzig Gramm abwärts bis zu zehn Gramm. Die Waage und die Gewichte waren verschwunden. Frau Balog hatte die Waage und die Gewichte seit dem Tod ihres Mannes nicht mehr benutzt. Jeromos schrieb am Ende seines Berichtes, seiner Ansicht nach könne es als sicher gelten, daß der Metallgegenstand, mit dem Hunyor erschlagen wurde, das Zweikilogewicht war. Darauf deuteten die Stärke des Schlags und die Form der Wunde hin. Die chemische Analyse sei im Gange. Ein Foto des Hauses vom Waldweg und vom Donauweg aus. Ein Foto der Tür mit den Blutflecken. In der 32
Nähe der Klinke sind deutlich die verfärbten Flecke zu sehen. Die Tür zur Sommerküche, verschlossen, geöffnet. Fotos von der Leiche, dem Zimmer, dem Bett. Das Regal. Der Tisch. Der Kopf des Opfers von mehreren Seiten. Die Wunde. Die Kleidungsstücke des Toten. Der Handfeger. Der Garten vor dem Haus, zur Donau hin aufgenommen. Die Hecke rechts. Der Zaun links. Der Balken im Schilf, der Steg. Die Donau vom Steg aus. Sie ist nicht gefroren. Der Boden scheint auf den Bildern trocken. Gefroren. Aber das will nichts bedeuten. Links der Tür zur Sommerküche steht etwas an die Wand gelehnt, es sieht aus wie ein dicker, schwarzer Stock. Kelemen steht auf, geht zu seinem Tisch und nimmt eine starke Lupe aus der Schublade. Er hält die Aufnahme gegen die Hunderterbirne und betrachtet sie durch die Lupe. Eine Rolle Dachpappe. Der untere Zipfel ist flach auf den Boden geglitten. Der Mörder hat nachts gearbeitet, nicht ausgeschlossen, daß er auf diesen Zipfel der Dachpappe getreten ist. Und das ließe sich an der betreffenden Sohle oder dem Absatz nachweisen. Anhand des feinen Splitts, mit dem die Pappe bestreut ist. Das wäre ein Beweis. Natürlich müssen wir den Mörder erst einmal finden. Jeromos erwähnt die Rolle Dachpappe in seinem Bericht nicht, aber es ist möglich, daß er daran gedacht hat. Nachfragen. Denn über den Mörder wissen wir noch nichts. Vermutlich ein Mann, vermutlich großgewachsen, größer als Hunyor oder so groß wie dieser. Das ist nicht sicher, aber wahrscheinlich. So kräftig wie Hunyor oder kräftiger. Wenngleich die Anzeichen darauf hindeuten, daß der Schlag für Hunyor überraschend kam. Es gibt keine Zeichen für ein Handgemenge, und die Sandspuren unter dem Körper lassen eher darauf schließen, daß der Leichnam nicht von der Stelle bewegt wurde. Die Körperstellung scheint natürlich. Außerdem wissen wir, daß der Mörder ein intelligenter Mensch ist. Denn er hat an 33
alles gedacht, um die Spuren zu beseitigen. Sogar daran, die Waage und die Gewichte aus dem Wege zu schaffen. Und den schwarzen Lackkoffer mitzunehmen, der Hunyors ganze Habe enthielt. Mitsamt dem Geld. Denn das hatte Hunyor abgehoben. Mindestens vierundvierzigtausend Forint. Der Kassierer der Sparkassenfiliale sagte aus, daß Hunyor der vorletzte Kunde vor Kassenschluß war. Er kann das Geld nicht mehr in einer anderen Filiale eingezahlt haben. Natürlich aber auf irgendeinem Postamt. Er könnte sich ein Postsparbuch angelegt haben. Auf ein Kennwort oder seinen Namen. Zwischen dem Zeitpunkt, zu dem er die Sparkasse verließ, und der Abfahrt der Vorortbahn lagen fast drei Stunden. Wenn er sich ein Postsparbuch angelegt hatte, dann hatte der Mörder das Sparbuch mitgenommen. Großer Himmel, was für eine Hundearbeit! Sämtliche Postämter und Sparkassen abgrasen, die möglicherweise noch nach sechzehn Uhr geöffnet haben, ob jemand am Nachmittag des Neunundzwanzigsten zwischen vier und halb sechs Uhr einen Betrag von zweiundvierzig- bis vierundvierzigtausend Forint eingezahlt hat. Mit einem Foto. „Können Sie sich an diesen Mann erinnern?“ Und ob das Geld am folgenden Tag abgehoben wurde. Und wenn ja, von wem. Es ist unwahrscheinlich, daß die Schalterbeamten, die nachmittags Dienst hatten, am nächsten Vormittag auch Dienst haben. Falls sich alles so abgespielt hat. Aber es kann auch ganz anders gewesen sein. Die Arbeit muß trotzdem gemacht werden, leider. Armer Jeromos. Kelemen schreibt auf ein Blatt Papier: Dachpappe. Und darunter: Wer war der letzte Kunde auf der Sparkasse? Halb vier. Nase putzen. Tropfen nehmen. Er hat kaum noch Luft bekommen. Er schließt die Augen und schnüffelt. Dabei sieht er einen blauen Himmel, einen 34
klaren blauen Himmel mit kleinen Schäfchenwolken, wie die nackte Frau auf dem einen Gemälde von Szinyei Merse. Darunter junge Birken, die Blätter rascheln und blinken im sanften Wind. Er nickt ein bißchen ein, aber nur für einige Augenblicke. Plötzlich schreckt er auf. Wo ist die Ansichtskarte mit der Geheimschrift? Die hat er noch nicht gesehen. Er durchblättert nochmals den Hefter mit den Fotos, ganz unten findet er einen Umschlag. Das wird es sein. Er öffnet ihn. Drei Fotokopien. Eine vom Kuvert, in dem die Karte geschickt wurde, eine von der Bildseite der Ansichtskarte und eine von der Rückseite. Das Ganze mit einer Büroklammer zusammengeheftet, unter der auch ein Zettel mit Rauders Schrift steckt: „Lieber Béla, das wollte ich Szörényi geben, aber ihn hat auch die Grippe am Wickel – wie dich. Ich weiß, es wird dir Spaß machen, das zu dechiffrieren. Gute Besserung! Feri“. Zehn Minuten nach halb vier, bis fünf kann ich daran tüfteln. Wenn Manci nach Hause kommt, scheucht sie mich sowieso wieder ins Bett. Und nach halb sechs kommt Vilma Hunyor. Da vergeht einem ja das Kranksein. Aber er freut sich auf die Geheimschrift. Er geht in die Küche und stellt die Kaffeemaschine auf. Zwecks Auffrischung der Hirnzellen.
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3 Er steht in Andris’ Zimmer, legt sich eine Kalmopyrintablette auf die Zunge und nimmt einen Schluck aus der Kaffeetasse, dann noch ein Pülverchen und noch ein Schluck, ganz langsam, er hat Glück, er kann das Pulver hinunterschlucken, ohne daß es bitter schmeckt. An der linken Wand ein Hemingway-Foto, ungefähr anderthalb mal ein Meter, Janka hat es dem Jungen aus Paris mitgebracht. Ein schöner, kluger Kopf. Daneben ein anderes: Hemingway und Fidel Castro. Darauf ist Hemingways Bart schon grau, er trägt eine Sonnenbrille und eine Mütze wie die Baseballspieler, mit einem kleinen Schirm. Offenes, kariertes Hemd. Zu Castros dichtem, schwarzem Bart bildet dieser graue Bart einen starken Kontrast. Der Tür gegenüber, neben dem Fenster, das bärtige Bild Che Guevaras. Nur die typischen Konturen der dunklen Teile, die Mütze, der Bart, die Umrisse des Gesichts, die Augen. Unter den hellen, schattenlosen Flecken des Gesichts ein Ausschnitt aus der Karte Südamerikas. Kelemen seufzt. Vatersorgen quälen ihn. Ich müßte öfter mit Andris reden. Diese beiden anderen Bilder habe ich bisher noch nicht gesehen. Sie sind neu. Woher hat er sie? Warum hängt er sie sich an die Wand? Was bedeuten ihm diese Bilder? Einerseits ist das unter den Jugendlichen heute Mode, andererseits hat diese Mode auch politischen Inhalt. Sie sind unzufrieden mit uns. Wir sind auch nicht zufrieden mit uns, aber welchen Grund zur Unzufriedenheit könnten sie haben? In Gedanken notiert er sich: mit Andris sprechen. Jetzt hat er keine Zeit. Er freut sich, daß er Glück hat, an 36
der linken Wandfläche sind nur oben am Rand einige mathematische Berechnungen hingekritzelt, alles andere ist leer. Andris hat sich die Wand mit wischfester Farbe hellgelb gestrichen. Um darauf schreiben zu können. „Das hat er von mir geerbt“, brummelt Kelemen mit ein wenig Stolz. Auch ich muß alles übersichtlich haben. Ich arbeite auch am liebsten an der Tafel. Aus dem Tontöpfchen auf Andris’ Tisch wählt er einen schwarzen Filzstift aus. Er stellt die Kaffeetasse beiseite, tritt zur Wand und beginnt groß und gut voneinander getrennt die Zeichen abzuschreiben, genau so, wie sie auf der Ansichtskarte stehen.
Die vier Zeichen hier unten sind wahrscheinlich die Unterschrift. Vier Buchstaben. Der letzte kommt noch zweimal im Text vor. Vermutlich ein weiblicher Vorname mit vier Buchstaben. Möglicherweise aber auch ein weiblicher Vorname mit drei Buchstaben und der Besitzendung D. Beispielsweise: ÉVID (deine Evi) oder ICÁD (deine Ica). Bestimmt nicht Anna, denn kein Buchstabe in der Unterschrift wiederholt sich. Das dauert zu lange. Mit raschen Schritten geht er hinaus, Augenblicke später kommt er mit einem Taschenkalender in der Hand zurück. Er sucht aus dem Anhang die Namenliste heraus, hinter den Namen stehen die Namenstage. Schon schreibt er: ADÉL, AIDA – was für ein Name, ob außerhalb der Oper noch jemand so heißt? –, ALIZ, das kann sein, ANNA nicht, aus ANTONIÁ die Abkürzung 37
TÓNI, aus ÁGNES ÁGID (deine Agi), das ist möglich. Das gleiche bezieht sich auf ÁGOTÁ. BEÁD (deine Bea), BORI. Bei CECILIÁ geht die Kurzform CILI nicht, weil sich das I wiederholt. EDDA nein, das D kommt zweimal vor. EDIT ja, ELLA nein, ELZA ja. EMMA auch nicht. ERNA ja, ETEL nein, IRÉN, IRMA, FINA aus JOZEFINÁ ja, auch JULI und KATI, aber nicht LILI … Ab und zu lehnt er sich wie ein Maler ein wenig zurück und betrachtet mit zusammengekniffenen Augen die an die Wand geschriebenen Zeichen. Plötzlich stutzt er. Das erste Wort hat fünf Buchstaben. Warum könnte es nicht ein ganz alltäglicher Text sein, wie er auf Ansichtskarten üblich ist? Beispielsweise SOKAT GONDOLOK RÁD (ich denke viel an dich) oder dergleichen? SOKAT ginge, das sind fünf Buchstaben, nein, doch nicht, der eine wiederholt sich, dann käme SOKOT heraus, und das ergibt keinen Sinn. Ganz ruhig bleiben. Immer mit Geduld und Spucke. Wissenschaftlich, systematisch, gründlich. Nichts überstürzen. Auch wenn es leicht zu sein scheint. Ein paar grundlegende, faktenmäßige, auf das Wesentliche beschränkte Feststellungen. Ad eins. Die Geheimschrift ist wirklich nicht kompliziert. Im Gegenteil. Auf den ersten Blick scheint sie zu den einfachsten zu gehören. So korrespondieren Jungen und Mädchen in der Schule miteinander. Kein Trick, kein doppelter Boden. Jedem Buchstaben entspricht ein Zeichen. Ich habe als Kind auch mit einer Geheimschrift geschrieben. Nicht mit dieser hier, aber mit einer ähnlichen. Bei uns zählten nur die Grundbuchstaben, Akzente wurden nicht verwendet. Auch hier sehe ich nirgends welche. Ad zwei. Ja, keines der Zeichen kommt zweimal hintereinander vor. Entweder gibt es also im Text keine Doppelkonsonanten, oder sie sind als einfache Konsonanten geschrieben. Also nicht kettö (zwei), sondern 38
ketö. Ad drei. Der Text besteht aus fünf oder sechs Wörtern. Wenn die waagerechte Linie am Ende der ersten Zeile ein Buchstabenzeichen ist, sind es sechs Wörter. Wenn sie ein Trennstrich ist, dann nur fünf. Hierher gehört auch, daß die vier Zeichen unter dem Text ganz bestimmt die Unterschrift sind. Mit mindestens achtzigprozentiger Wahrscheinlichkeit hat eine Frau die Karte geschrieben, also ist die Unterschrift ein weiblicher Vorname. Das habe ich zwar schon einmal festgestellt, aber nicht wissenschaftlich. Ad vier. Struktur und Logik unserer Sprache. Konsonanten bilden das Skelett der Wörter, Vokale sind das Fleisch an diesem Skelett. Das Fleisch ist gleichmäßig verteilt. Die Vokale wiederholen sich im Ungarischen nach einem bestimmten Rhythmus und in einer bestimmten Harmonie, das erleichtert mir die Arbeit. Die Zeichen, die sich innerhalb eines Wortes wiederholen, sind also vermutlich Vokale. In diesem Text kommt das zweimal vor. Das häufigste Zeichen ist
Es wiederholt sich einmal, zweimal, dreimal … insgesamt fünfmal.
findet sich dreimal, in einem Fall steht es zweimal innerhalb eines Wortes.
erscheint ebenfalls dreimal, jedoch in drei verschiedenen Wörtern beziehungsweise zweimal in Textwörtern und einmal in der Unterschrift. Die häufigsten Vokale sind im Ungarischen das E und das A, etwas seltener ist schon das O. Diese Vokale setzen wir für die Zeichen ein, 39
die sich am häufigsten wiederholen, dann wollen wir mit der Ausschlußmethode experimentieren. Ad fünf. Bevor ich anfange, zur Frage des Inhalts. Drei Möglichkeiten vor allem gibt es: ein Gruß, eine Botschaft, eine Mitteilung. Nun zeichnen wir das Schema auf und setzen die angenommenen Vokale ein. Kelemen vertieft sich in die Arbeit, dabei streckt er die Zungenspitze heraus, wie es Kinder tun, wenn sie mit etwas sehr beschäftigt sind. Er muß sowieso mit offenem Mund atmen, denn durch die Nase bekommt er keine Luft. Das Schema, das er an die Wand schreibt, sieht so aus:
So, das wär’s. Jetzt probieren wir mit den drei Vokalen je einen annähernd übereinstimmenden Blindtext aus. Mit E: VELED LESZEK KEDRE (ich bin Dienstag bei dir) oder VELED LESZEK HÉTRE (ich bin um sieben bei dir), ta-tam-tam, und der Frauenname. Aber ich sehe schon, das geht nicht, denn im zweiten Wort kommt das E nur einmal vor, also LESZEK scheidet aus. Noch aus einem anderen Grund. Wenn der dritte Buchstabe 40
des ersten Wortes L ist, kann nicht auch der erste Buchstabe des zweiten Wortes ein L sein, denn an diesen Stellen stehen zwei verschiedene Zeichen. Nun mit A: SZABAD VAGYOK HATRA (ich bin um sechs frei), ta-tam-tam, und der Frauenname. SZABAD geht nur, wenn für SZ nur ein Zeichen steht, was nicht wahrscheinlich ist. Einigermaßen konsequent wird der Absender schon gewesen sein. Beziehungsweise die Absenderin. Wenn sie für SZ ein Zeichen verwendet, dann hätte auch GY in VAGYOK ein eigenes Zeichen, und der Blindtext geht nicht auf. Was wäre, wenn … hm … der Text so lautete: NÁLAD VAGYOK HATRA (ich bin um sechs bei dir)? Nicht ausgeschlossen. Und er hätte einen Sinn. Ich bin um sechs bei dir, eine ganz normale Botschaft. Mal sehen, was daraus folgt. In erster Linie, daß am Ende des zweiten Wortes das Zeichen
diese umgekehrte römische Sieben, das O wäre. Wenn das wirklich stimmt, dann bedeutet dieses Zeichen auch in der Unterschrift ein O. Was kann es also sein? JÓL (gut). HOL (wo). GÓL (Tor). Was bin ich für ein Rindvieh: CSÓK (Kuß, Küsse)! Natürlich CSÓK, ÁGID (Küsse, deine Ági). Nur als Beispiel. Wenn der letzte Buchstabe des ersten Wortes D ist, kann es ÁGID heißen. Dasselbe Zeichen steht am Ende der Unterschrift. Und dann wäre – nur einmal angenommen – der fehlende Vokal des vierten Wortes,
der im Wort zweimal auftaucht, ein I. Wenn das erste Wort also wirklich NÁLAD (bei dir) heißt, dann kann für das vierte Wort die Formel XILIX stimmen, wobei das X die unbekannten Buchstaben bezeichnet. X-ili-X, Küsse, Unterschrift. 41
Rindvieh. Rindvieh. Rindvieh. Was bin ich für ein Rindvieh. Das sind nicht drei Buchstaben, sondern vier.
ist nicht ein Buchstabe, sondern zwei. S und O. C-S-O-K. CSÓK. Na klar, und da haben wir auch schon das Wort mit dem I: MILIO. MILIÓ CSÓK (eine Million Küsse). Ein Küßchen auf meine Schnupfennase, weil ich so klug bin, nachdem ich vorher so dämlich war. Er läuft ins Bad und kehrt im nächsten Augenblick mit dem nassen Schwamm zurück. Wischt gierig ab. Läßt nur ein Schema stehen und trägt unter den Zeichen die Buchstaben ein, die ihm sicher scheinen.
Das D kann ich nicht eintragen. Leider nicht. Der Blindtext von NÁLAD (bei dir) und HATRA (um sechs) geht nicht auf, das Zeichen
ist entweder D oder T. Wäre es D, könnte das dritte Wort HADRA lauten, aber keinesfalls HATRA. Aber was wäre HADRA? Und noch dazu SOL-HADRA? Völlig sinnlos. Wenn aber dieses Zeichen ein T ist, dann ergibt sich: -ALAT MA-SOL-AT-A MILIÓ CSÓK-IT. 42
Der Name! Der Name. Der ist am wichtigsten. Wer hat die Karte geschrieben? Wie heißt du? Den Kalender. Schnell. Welche weiblichen Vornamen enden auf IT? Er überfliegt die alphabetische Namenliste. Er zittert vor Ungeduld. Da! EDDA, EDE, EDIT. EDIT! Ruhig bleiben. Ganz ruhig. Sehen wir weiter. Zur Kontrolle. Vielleicht gibt es noch mehr außer EDIT. Jawohl! JUDIT. Geht nicht. Fünf Buchstaben. Und das hier sind eindeutig vier. Weiter. MAGDOLNA, MALVIN, MANÓ, MARCELL, MARGIT. Noch einer. Aber der geht auch nicht. Der hat sogar sechs Buchstaben. Weiter. Sogar MÓZES und NAPÓLEON stehen drin. SÁRA, SEBESTYÉN, SIMON, SOMA, STEFÁNIA. Dann TAKSONY, TAMÁS, TARJÁN, TEDA. Schluß. Wenn man den Namenstagen glauben darf und der bisherige Text richtig ist, hat eine gewisse Edit die Karte geschrieben. Falls der bisherige Text richtig ist. Sehen wir uns das Ganze noch einmal von vorn an. Ganz ruhig und gelassen. Nur nicht durchdrehen. Was zum Teufel kann das heißen?
Schreiben wir das Alphabet auf. Er notiert das Alphabet. Dann streicht er sorgsam und systematisch die Buchstaben durch, die er als vorkommend akzeptiert hat. Mit den restlichen wird er Schach spielen. Es sind die Buchstaben: B, F, G, H, J, N, 43
P, R, V, Z. Er setzt sie der Reihe nach an die Stelle des ersten fehlenden Buchstaben. Ein Sinn ergibt sich nur mit F und H: FALAT und HALAT. FALAT-HALAT. FALAT-HALAT. Das Wort FALAT hat zwei Bedeutungen. Es kann „der Bissen, der Happen“ sein, aber auch der Akkusativ von „Wand“. HALAT ist eindeutig der Akkusativ von „Fisch“. In seinem Kopf dreht es sich schon ein bißchen. Edit schreibt die Karte vom Plattensee, „Fisch“ scheint also logischer als „Wand“, denn im Plattensee gibt es Fische, aber keine Wände. So ein Blödsinn. Ich bin müde. Außerdem, bei Frauen kann man nie wissen. Von Frauen kann man Logik nicht erwarten. Noch zwei Wörter stehen aus, beziehungsweise die Mitteilung als Ganzes fehlt noch, denn noch kapiere ich nicht. Also HALAT oder FALATMA-SOL-AT-A, Million Küsse, Edit. Was kann das sein? Und wenn noch ein Trennstrich am Ende der Zeile steht? Dann wären MA-SOL und -AT-A zwei Teile eines einzigen Wortes. Aber! Wenn ich nun annehme, daß HALAT oder FALAT Akkusativformen sind, also „den Fisch“ oder „die Wand“ bedeuten, dann muß das ein Verb sein. Mein Hirn ist wirklich ausgedörrt, darauf hätte ich längst kommen müssen. Also wieder her mit dem Alphabet und der Reihe nach Buchstaben einsetzen. Gehen wir von der Konjunktivform mit dem Infix -HAT- aus. Aber das würde ausschließen, daß das erste Wort HALAT heißt. BATNA, FATNA, GATNA … Jawohl! HALAT MA-SOL GATNA … Nein. Das ist nicht gut. Dabei ähnelt das Zeichen
sogar einem G. Nehmen wir das andere Wort. MAB, MAF, MAG … MÁG? Nein. Weiter. MAH, MAJ … MAJ. MAJ. MAJSZOL. Nein. Das S ist sicher, also geht MAJSZOL nicht, wenn das Wortende SOL lautet. 44
HALAT MAJ-SOL GATNA, Million Küsse, Edit. Nein, bin ich dämlich. Ich hab’s. Klar, ich hab’s. Sie hat sich verschrieben. Edit, wie konntest du mir das antun? Du hast versehentlich das S und das Z vertauscht. Und nicht GATNA, sondern GATVA. HALAT MAJZSOL-GATVA Million Küsse, Edit. Sie schreibt ZS statt SZ. Etwas anderes ist nicht möglich. Nur das. Fertig. Na, endlich! Fisch knabbernd Million Küsse, Edit. Das steht auf der Karte. Edit lehnt sich an ein Stehpult neben der Fischbude, mit der einen Hand zwickt sie das Fleisch vom Bratfisch, und mit der anderen schreibt sie die Karte, dabei lächelt sie hinterlistig und paßt auf, daß die Karte nicht fettig wird. Sie schreibt Hunyor in der Geheimschrift: Ich knabbere Fisch und schicke dir eine Million Küsse, Edit. Kelemen sitzt im Zimmer seines Sohnes auf dem Stuhl, Hemingway von links und Che Guevara von rechts blicken anerkennend auf ihn herab, er schnaubt sich die Nase, seufzt, keucht und schnauft, aber er ist sehr zufrieden. Im Gesicht schwarze Flecke vom Filzstift. Er mustert die Schrift an der Wand. Das war nicht nett von dir, Edit. Da hast du mich ganz schön verklapst. „Béla! Großer Gott! Was machst du hier? Warum bist du nicht im Bett?“ Seine Frau steht an der Tür. Kelemen wendet ihr sein tintenverschmiertes Gesicht langsam und mit einem sanften, einfältigen Lächeln zu. „Ich hab’ eibe Geheibschrift ebrätselt.“ Gehorsam läßt er sich von seiner Frau ins Bad führen, sie wäscht ihm mit warmem Wasser das Gesicht ab, zieht ihn aus dem weinroten Trainingsanzug, steckt ihn in einen sauberen Schlafanzug und drängt ihn ins Zimmer. Er wartet im Stehen, bis sie die Bettwäsche gewechselt hat, dann legt er sich hin. Zehn Minuten vor fünf. 45
„Gib mir das Telefon.“ „Das verbiete ich dir, Béla. Du bist krank!“ „Gib mir das Telefon.“ Manci ist eine wunderbare Frau, eine prächtige Gattin, aber für so was hat sie kein Gefühl. Kelemen wählt. Wartet. „Bitte Genossen Rauder. Hier Bilakelebeb.“ Er schließt einen Augenblick die Augen. Reißt sie aber gleich wieder auf. „Ich habe die Geheibschrift ebträtselt. Ja. Mit primitiveb Mitteln, aber ebträtselt. Ja, schreib mit, ich diktiere. Fisch babberd Million Küsse, Edit. Wie? Knabbernd, ja. Nein, nicht Billion, sondern Million. Das, was weniger ist. Sauberer kann ich nicht sprechen. Das ist alles.“ „Hast du einen Schimmer, wer diese Edit sein kann?“ fragt Rauder. „Keibe Ahbub. Servus.“ Er legt auf und macht die Augen zu. „Jetzt schlafe ich ein bißchen. Weck mich um halb sechs. Dieses Mädchen kommt her.“ „Was für ein Mädchen? Und hierher?“ „Ja. Sie heißt Vilma. Andris kennt sie.“ Auf seinem Gesicht ein selbstzufriedenes, glückliches Lächeln. Er liegt mit geschlossenen Augen da, wie die Heiligen in Sarkophagen. Er mag Edit, denn sie hat ihm Freude bereitet. Dieses Kind hat Humor. Knabbert Fisch und schreibt in Geheimschrift eine Ansichtskarte. Sehr sympathisch, diese Edit. Wer mag diese Edit sein?
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4 Und wenn ich vor die Hunde gehe. Er wendet vorsichtig auf diesem Weg durch die Sahara, den es gar nicht gibt, es gibt nur Sand, lenkt in großem Bogen nach links, betätigt den Blinker, obgleich die Gegend völlig unbewohnt ist, jetzt bekommt der Wagen den Samum von rechts und vorn, ein klappriges Taxi mit grauer Plane als Dach, er weiß, daß er um halb sechs in Aleppo sein muß, aber in der Sahara ist noch Mittag; wenn ich nur erst aus diesem trockenen Sandsturm heraus wäre, was ist, wenn der Sand die Luftkanäle des Kühlers verstopft, wenn das Wasser in dieser drosselnden Hitze zu kochen anfängt; ein dicker Wollschal schützt ihm Mund und Nase vor dem Sand, er gibt Gas, bekommt aber keine Luft; jetzt möchte ich einen Schluck Wasser trinken, doch das geht nicht, ich muß mit dem Wasser sparen, irgendwie werde ich es schon aushalten, Blinker ’rein, ich halte es nicht aus, ich müßte Zeitungspapier vor den Kühler tun, aber ich kann jetzt nicht aussteigen, die Tür geht auch nicht auf, Luft, Luft … „Béla … Béla … Es ist gleich halb sechs.“ Er dreht sich langsam um, atmet hastig und aussetzend durch den Mund, alles ist trocken, heiße, ermattende Trockenheit im Mund, die Luft kratzt ihm in der Kehle, die Zunge will sich kaum bewegen. „Ich bin schon munter … Gib mir einen Schluck Wasser.“ Er bekommt lauwarmen Tee mit Zitrone. Trinkt gierig. „Ich dachte, ich ersticke.“ „Weil du dir die Bettdecke vor den Mund gezogen hast.“ 47
„Ich habe Fieber. Ich glaube, ich hab’ Fieber.“ Er beugt den Kopf zurück, seine Hand, die die Pipette hält, bleibt über seiner Nase in der Luft stehen. „Dieses Mädchen … Ist sie schon hier?“ „Nein. Ich werde ihr sagen, sie soll lieber ein anderes Mal kommen, Béla.“ Er hält sich das eine Nasenloch zu und zieht die Nasentropfen hoch, dann kommt das andere an die Reihe. Er schnappt nach Luft und schnauft ein wenig. „Sag ihr gar nichts. Wenn sie kommt, schick sie herein. Es geht mir schon besser. Koch lieber noch ein bißchen Tee.“ „Dort steht eine ganze Thermosflasche voll.“ „Gut.“ Die Tropfen machen seine Nasengänge frei, und das stimmt ihn gleich heiterer. Seine Frau geht hinaus und kommt mit einem feuchten Schwamm und einem Handtuch zurück, sie wäscht ihm das Gesicht und trocknet es ab. Kelemen läßt es wie ein Kind über sich ergehen. „Mein Kamm …“ „Hier liegt er.“ Er kämmt sich. „Laß mich jetzt ein Weilchen allein. Ich will nachdenken. Danke, Manci. Du bist meine Beste.“ Sie nickt. „Ich weiß, ich weiß.“ Dann geht sie hinaus. Wenn ich ein bißchen Glück habe, kommt sie. Wahrscheinlich kommt sie. Ich bin im Zugvorteil. Jeromos hatte sicherlich noch keine Zeit, sie zu erreichen. Und wenn sie zu Frau Hunyor gehen? Ich kann jetzt nichts mehr machen. Sie gehen zu Frau Hunyor und fragen sie, ob sie eine Edit kennt. Das wäre schade. Das hätte vermieden werden sollen. Ich habe Rauder nichts gesagt. Was hätte ich ihm sagen können? Daß die Tochter des Opfers heute nachmittag zu. mir kommt? Privatim. Jetzt kann ich mich nur noch darauf verlassen, daß sie von 48
sich aus soviel Takt aufbringen und Frau Hunyor nicht ausfragen, ob ihr Mann irgendeine Edit gekannt hat. Am logischsten wäre es, wenn sie morgen in seinem Betrieb herumhorchten, ob es unter seinen Kolleginnen eine Edit gibt. Oder unter seinen ehemaligen Kolleginnen. Das würde der nüchterne Verstand anraten. Ich täte es, wenn ich nicht krank geschrieben wäre. Daß dieses Mädchen heute herkommt – wenn sie kommt –, ist ein Zufall. Privatsache. Vielleicht gehen sie erst morgen zu Frau Hunyor. Das wäre am besten. Aber jetzt ist es sowieso egal. Eigentlich ist das keine ganz saubere Sache, was ich mache. Ich liege im Bett mit einem Rüssel wie ein Tapir und spiele den Privatdetektiv. Wozu, großer Schöpfer? Aus Eitelkeit? Damit ich es bin, der den Täter ermittelt? Nicht ich ermittle ihn. Das ist Kollektivarbeit. Ich mag die neunmalklugen Privatdetektive nicht. Es gibt kaum einen Kriminalroman, in dem sich die großen Detektive herablassen, Kleinarbeit zu verrichten. Die Läden und die Fabriken abzuklappern und nachzuforschen, wo der Jackenstoff des Opfers herstammt. Oder des Mörders. Oder sämtliche Budapester Postämter abzugrasen, ob ein Betrag von zweiundvierzig- bis vierundvierzigtausend Forint am Mittwoch eingezahlt und am Donnerstag abgehoben wurde, eine Personenbeschreibung zu verlangen, Fotos vorzulegen, ob die Person bekannt vorkommt, wann es war, um wieviel Uhr, die Poststempel zu kontrollieren und dergleichen. Die geniale Beweisführung. Alle sind so klug. Eigentlich haben wir noch Glück, daß die meisten Morde von primitiven Menschen begangen werden. Von Leuten, die gar nicht auf die Idee kommen, Spuren zu beseitigen oder die Umstände der Tat vorher auszuarbeiten. Bei uns ist diese Branche, Gott sei Dank, noch nicht industrialisiert. Und trotzdem, trotz unseres großen Apparates, dauert es oftmals Jahre, bis wir den Mörder finden. Und dennoch macht es Spaß, 49
so eine schülerhafte Geheimschrift zu dechiffrieren. Das trainiert die Gehirnmuskulatur. Denken muß man auch kollektiv. Die halbe Stunde Schlaf in der Sahara hat Kelemen anscheinend wohlgetan. Insgeheim plant er, morgen aufzustehen und ins Büro zu gehen. Oder doch nicht ins Büro zu gehen. Oder ins Büro zu gehen, aber nicht lange zu bleiben. Natürlich hängt das auch noch davon ab, wie das Wetter wird. „Kochst du uns einen Kaffee?“ fragt er seine Frau, als sie das Mädchen hereinläßt. Dann wendet er sich Vilma zu. „Sie trinken doch einen mit, nicht wahr?“ „Ja. Danke.“ Vilma muß sich drei Schritt von der Couch entfernt hinsetzen. Damit sie nicht auch noch Schnupfen bekommt. Vilma ist ein sehr hübsches Mädchen. Sie hat sich nicht extra für diesen Besuch angezogen. Sie trägt einen dunkelblauen Schulkittel, darunter einen grünen Pullover, der Kragen des Kittels ist weiß und sauber. An den Beinen schwarze Kunstlederstiefel, darüber braune Florstrümpfe. Sie ist nicht ganz in Schwarz. In Trauer. Ein auffallend schönes Mädchen. Nicht bloß hübsch. Eher eine aufregende Erscheinung. Und honigblond. Wie Lindenblütenhonig. Pagenfrisur. Großer Mund. Ein auffällig großer, breiter, dicker und fleischiger Mund. Kartoffelnase. Ja, eine Kartoffelnase, wie sie im Buche steht. Zwei riesengroße Augen. Soweit ich sehen kann, sind sie grün. Mit Sicherheit nicht blau. Grau oder grün. Bei Lampenlicht läßt sich das schwer feststellen. Ist aber auch nicht wichtig. In dem Schulkittel und den Stiefeln wirkt sie ein bißchen plump, aber ihrem Gang nach zu urteilen, ist sie gertenschlank, sie mag so groß sein wie Andris, vielleicht eine Winzigkeit kleiner. Ich kann Andris verstehen. Nur für dieses Gewisse hat der Junge noch keinen Blick. Dieses Mädchen ist, wenn sie auch gleichaltrig sind, bereits eine erwachsene Frau. Auch im 50
Schulkittel. Und Andris ist noch ein Halbwüchsiger. Natürlich kann es auch sein, daß ich voreingenommen bin. Daß das väterliche Auge sich weigert, wahrzunehmen, daß der Sohn schon erwachsen ist. Kelemen kann Vilma nicht sagen, warum ihr Vater getötet wurde. Das Mädchen hat sich offensichtlich auf das Gespräch nicht vorbereitet, hat keine fertigen Fragen, weiß in Wirklichkeit nicht einmal genau, was sie will. Sie ist in Verlegenheit. Kelemen kann das verstehen. Vilma steht ohne festen Halt genau in der Mitte der plötzlichen Tragödie. An ihre Mutter kann sie sich nicht wenden, und wer käme sonst in Betracht? Andris, der ihr ein guter Freund ist, hat ja seinen Vater, und dieser Vater ist der, der den Mörder ihres Vaters sucht. Beziehungsweise suchen würde, von Berufs wegen, wenn er nicht gerade krank wäre. Vilma muß mit jemandem reden, deshalb ist sie jetzt hier. Einen Liebhaber hat sie nicht, sie geht mit niemandem. Es ist vollauf begründet, daß sie sich an mich wendet. Das alles leuchtet in Kelemens Hirn während der ersten zwei oder drei Minuten so auf, als ginge eine Lampe an. „Es ist möglich, daß er des Geldes wegen getötet wurde. Vilma. Er hat die zweiundvierzigtausend Forint abgehoben. Und er hatte an jenem Nachmittag auch noch sein Monatsgehalt bei sich. Vorläufig wissen wir überhaupt noch nichts, jedenfalls nichts Konkretes. Wir kennen eine Menge Kleinigkeiten, Zeichen, Spuren und Möglichkeiten, aber alles ist noch eine formlose Masse. Sie ergeben noch kein Gesamtbild.“ „Ja.“ Lange Pause. Kelemen weiß, er muß reden. Auch er ist verlegen. Was soll er sagen? „Ich kann Sie nicht trösten, Vilma“, sagt er schließlich, „das wissen Sie auch. Wenn ich gestorben wäre, könnte man auch Andris nicht trösten. Worte haben in solchen Situationen keinen Sinn.“ 51
„Ich weiß. Sie sollen mich auch nicht trösten. Ich bin hergekommen, weil ich Sie fragen möchte, ob ich Ihnen irgendwie behilflich sein kann. Ich möchte wissen, wer meinen Vater getötet hat und warum. Und es wäre gut, wenn sich das Geld wieder anfände. Wir hätten es sehr nötig.“ „Natürlich können Sie mir behilflich sein. Sind Sie schon vernommen worden?“ „Ja. Aber das war etwas anderes. Sie wissen, wie das ist. Mit Andris’ Vater läßt es sich anders sprechen als auf der Polizei.“ Im letzten Augenblick verschluckt er, was er sagen wollte. Fast hätte er angefangen, erzieherisch auf das Mädchen einzuwirken, daß man der Polizei vertrauen soll und so weiter. Aber nein. Das ist jetzt unzulässig. Dieses personengebundene Vertrauen muß geschätzt werden. Ich muß mich darüber freuen. Und er tut das auch. Innerlich jedoch ist er ein bißchen traurig, denn in Vilmas Worten liegt auch eine Kritik. Na gut. „Danke, Vilma. Kann ich fragen?“ „Bitte, fragen Sie.“ „Wer ist Edit?“ „Was für eine Edit?“ „Ihr Vater hat eine Frau oder ein Mädchen gekannt, die Edit heißt. Wissen Sie, wer das ist?“ „In unserer Klasse haben wir zwei Edits, die Edit Vezér und die Edit Kovács. Mein Vater hat beide gekannt, die Kovács besser als die andere Edit, weil sie öfter bei uns zu Hause war.“ „Und …“ „Ach, entschuldigen Sie, wenn ich Sie unterbreche. Und die Edit Csausz hat er gekannt.“ „Wer ist das?“ „Sie haben jahrelang in derselben Etage wie wir gewohnt, sie und ihr Onkel, dann ist der Onkel gestorben, Edit hat die Wohnung verkauft und sich ein Zimmer 52
genommen. Auch sie hat Vater gut gekannt. Ich weiß nur von diesen drei Edits.“ „Hat Ihr Vater zu einer von ihnen in einem vertraulichen Verhältnis gestanden?“ „Das weiß ich nicht. Ich weiß es nicht mit Sicherheit. Vielleicht zu der Edit Kovács. Voriges Jahr, als der Sommer anfing, war ich einmal mit Vater im Széchenyibad, dort sind wir Jungen und Mädchen aus der Schule begegnet. Auch die Kovács war dabei. Von ihr weiß ich, daß sie danach zwei- oder dreimal bei uns in der Wohnung war, als ich nicht zu Hause war.“ „Und Ihre Mutter? War sie zu Hause?“ „Mutter ist nachmittags nie zu Hause. Nur sonnabends und sonntags, aber dann auch nur, wenn sie nicht zum Pferderennen geht. Die Woche über ist sie immer bis acht in der Fabrik.“ „Ihre Mutter ist Köchin?“ „Ja. Sie leitet die Betriebsküche in der Fabrik. Wir essen das auch zu Hause. Mutter bringt das Essen immer mit.“ „Ihre Eltern führten kein gutes Leben, Vilma. Miteinander, meine ich.“ „Kein gutes Leben ist gar kein Ausdruck. Vater hat es nur meinetwegen ausgehalten. Dabei hatte ich ihm schon lange gesagt, meinetwegen braucht er das nicht durchzustehen.“ „Demnach hatte Ihr Vater, wenn ich recht verstehe, kleinere Frauengeschichten.“ „Bestimmt. Nur – man redet nicht gern davon. Vater war ein sehr guter Mensch. Und auch noch jung. Fünfundvierzig Jahre. Aber das sage ich auch nur hier. Ich will diese Dinge nicht breitreden.“ „Davon haben Sie nichts gesagt, als Sie vernommen wurden?“ „Mich hat man danach nicht gefragt, nur Mutter.“ „Vilma, Sie sind ein intelligentes, erwachsenes Mädchen. Reden wir ganz offen miteinander.“ 53
„Sie sehen doch, daß ich offen rede.“ „Gut. Halten Sie es für möglich, daß Ihr Vater ein Verhältnis mit Edit Kovács hatte?“ „Über so etwas hat er nie gesprochen. Aber ausgeschlossen wäre es nicht.“ „Und das Mädchen? Hat sie vielleicht etwas gesagt, woraus man das schließen könnte?“ „Nur einmal. Zwei Tage nachdem wir im Széchenyibad waren, kam sie im Flur zu mir und sagte: ‚Dein Vater ist Klasse, Hunyor.‘ “ „Und woher wissen Sie, daß sie in Ihrer Wohnung war, als Sie nicht zu Hause waren?“ „Vater sagte: Edit Kovács war hier, sie wollte zu dir.“ „Und Sie haben Edit nicht gefragt, was sie von Ihnen wollte?“ „Nein. Wenn sie gewollt hätte, hätte sie es mir sowieso gesagt.“ „Aber sie hat nichts gesagt?“ „Nein.“ Sie verstellt sich. Oder vielleicht verstellt sie sich gar nicht. Vielleicht muß man nur jedes Wort aus ihr herausziehen. Aber warum? Weil sie sich schämt, darüber zu sprechen? Über die Frauengeschichten ihres Vaters? Oder sie hat Hemmungen. Das kann auch sein. Ein Ödipuskomplex. Auch nicht unmöglich. Trotzdem sieht es nicht so aus. Was könnte es sein? „Und Sie, Vilma? Haben Sie keinen Freund? Hübsch wie Sie sind?“ „Nein. Und machen Sie mir keine Komplimente. Ich weiß, wie ich aussehe.“ „Kein einziger Freund? Niemals?“ „Nein.“ „Das verstehe ich nicht. Warum nicht?“ „Ganz einfach. Mit einem wollte ich gehen, aber das hat nicht geklappt.“ „Eine Enttäuschung?“ 54
„So kann man es auch ausdrücken.“ „Ein Klassenkamerad?“ „Ach wo!“ „Sie sprechen nicht gern darüber?“ „Tja … nicht sehr gern. Aber ich kann ja. Obwohl es kaum hierher gehört.“ „Ich frage nur, weil ich Sie ein bißchen besser kennenlernen möchte.“ „Ein Kadergespräch?“ Kelemen muß laut loslachen. „Das ist mir gar nicht eingefallen. Nur, wissen Sie, das bringt mein dämlicher Beruf so mit sich. Wir sprechen mit vielen Leuten, und da ist es gut, wenn man weiß, was für ein Mensch es ist, mit dem man sich gerade unterhält. Leider haben wir nur selten Zeit, uns auch damit zu befassen.“ „Na schön, wenn wir schon ausgemacht haben, daß wir offen miteinander reden.“ Sie blickt Kelemen an und wartet, daß er fragt. Aber Kelemen fragt nicht. Ein Weilchen schweigen sie verlegen. Vilma senkt den Kopf. Aber dann hebt sie ihn wieder. „Na schön. Ich sag’s Ihnen. Ein Maler. Noch kein berühmter. Vierunddreißig Jahre alt. Sein Name ist nicht wichtig. Oder egal. Er heißt Alfréd Sommer. Mit ihm wäre ich gern gegangen. Er wollte nicht. Er sagte, daß er sich an niemanden binden kann. Daß er nur eine ständige Geliebte hat, die Kunst. Es dauerte fünf Tage, am sechsten warf er mich hinaus. Das heißt, ’rausgeworfen hat er mich nicht, er sagte eben nur, daß Schluß ist. Das ist alles. Fertig.“ „Warum hat denn der Kaffee so lange gedauert?“ fragt Kelemen seine Frau, die in diesem Augenblick mit dem Tablett eintritt. Genau zum richtigen Zeitpunkt. „Ist die Maschine wieder kaputt?“ Manci hat während des fast zwanzigjährigen Zusam55
menlebens mit Kelemen ein spezielles, verfeinertes Gefühl dafür entwickelt, wann sie den Kaffee bringen muß. „Anscheinend war er zu fein gemahlen, denn er wollte und wollte nicht heraustropfen. Ich mußte ihn zweimal kochen. Aber ich hoffe, er schmeckt und ist stark genug.“ Das freundliche Lächeln der Hausfrau. „Zucker?“ „Danke, nein.“ Kelemen schaufelt fünf Mokkalöffel Zucker in seine Tasse und rührt gedankenverloren um. „Wir danken dir schön.“ „Aber gern, laßt ihn euch schmecken.“ Und schon ist sie wieder draußen. Auch verschwinden kann sie prachtvoll. Der Kaffee hat Vilmas Liebesaffäre schon von allein abgeschlossen. „Sagen Sie, Vilma – nicht, als ob es wichtig wäre, aber wie hat sich Ihr Vater zweiundvierzigtausend Forint zusammensparen können?“ „Er hat das Geld nicht gespart, sondern gewonnen. Im Lotto, vor drei Jahren, aber uns hat er nichts davon gesagt, erst jetzt, als er wegzog. Er hatte einen Vierer.“ „Wer wußte von diesem Geld? Außer der Familie, meine ich.“ „Niemand. Oder … Ich weiß nicht. Bis Vater ausgezogen war, haben wir ja auch nichts davon gewußt. Er zog aus, am nächsten Tag wartete er vor der Schule auf mich, da hat er es mir gesagt. Und es stand auch in dem Brief, den er mir für Mutter mitschickte. In dem Brief schrieb er, daß er mit diesem Geld ein neues Leben anfangen will, daß er die Scheidung einreichen wird und er Mutter bittet, ihm dabei keine Schwierigkeiten zu machen, er wird auch weiter etwas zum Haushalt beisteuern und für mich sorgen.“ „Hat er in diesem Monat Geld abgegeben oder geschickt?“ „Nein. An jedem Neunundzwanzigsten, immer wenn 56
er sein Gehalt bekam, legte er Mutter tausendsechshundert Forint hin. Das war der erste Monat, in dem er am Neunundzwanzigsten nicht zu Hause war. Und am Dreißigsten lebte er nicht mehr.“ Jetzt einen Sprung machen. Schnell das Thema wechseln. Zurück zum vorigen. „Wissen Sie zufällig, ob die Edit Kovács voriges Jahr am Plattensee Urlaub gemacht hat?“ „Nein, hat sie nicht. Sie ist den ganzen Sommer lang mit den anderen ins Széchenyibad gegangen.“ „Aber vielleicht hat sie ein paar Tage oder ein Wochenende am Plattensee verbracht?“ „Das weiß ich nicht. Es könnte sein. Ich weiß nichts davon.“ Ein kleiner Stoßseufzer. Was ziemlich schwierig ist, wegen des Atmens. So kommen wir nicht vorwärts. Kelemen legt sich den einen Hefter auf die Bettdecke und nimmt die Ansichtskarte heraus. „Sehen Sie sich das an, Vilma. Haben Sie eine Ahnung, wer Ihrem Vater diese Karte geschrieben haben könnte?“ Vilma hält die Karte in der Hand und betrachtet sie. Dann gibt sie sie Kelemen zurück. „Das hat die Edit Csausz geschrieben. Auf der Karte steht: ‚Fisch knabbernd eine Million Küsse, Edit‘. Diese Geheimschrift kennt außer Vater und mir nur Edit Csausz. Ich habe sie ihr beigebracht. Vater habe ich sie auch beigebracht. So haben wir miteinander korrespondiert, Mutter sollte es nicht lesen können. Aber das ist schon fünf Jahre her. Das war noch in der Grundschule, als wir uns diese Geheimschrift ausdachten. Und Edit hat sie auch damals gelernt.“ Kelemen nimmt das Kuvert aus dem Hefter. „Dem Poststempel nach ist sie im vergangenen Sommer aufgegeben worden. Am achten Juli. An einem Sonnabend.“ 57
„Das kann nur Edit Csausz geschrieben haben. Oder ich. Aber ich habe die Karte nicht geschrieben.“ „Wußten oder ahnten Sie, daß die Beziehungen zwischen Ihrem Vater und Edit Csausz so waren, daß sie ihm, äh, eine Million Küsse schicken konnte?“ „Nein.“ „Aber es überrascht Sie nicht.“ „Doch.“ Sie taut nicht auf. Jetzt wird sie auch nicht mehr auftauen. Kelemen spürt es deutlich. Und auch, daß sich durch die Karte etwas in ihrer Haltung verändert hat. Das macht seine jahrzehntelange Praxis. Er merkt es nur daran, daß Vilma jetzt überlegt. Sie versucht sich über bestimmte Zusammenhänge klarzuwerden. Ihr ist ein Licht aufgegangen. Aber woran denkt sie? Und wird sie darüber sprechen? Hier kann man nur auf den Busch klopfen. Oder sofort konkret fragen. Was ist besser? Kelemen befällt wieder das abscheuliche und schon so oft erlebte Gefühl, wenn er jetzt wüßte, was er fragen muß, dann wäre ein paar Minuten später alles geklärt. Er kennt dieses Gefühl so gut, daß er schon unzählige Male versucht hat, es zu analysieren. Oft merkte er sich den Sachverhalt, später dann überlegte er, ob er recht gehabt und das Gefühl den Kern getroffen hatte. Manchmal war es so, manchmal nicht. So daß er sich auch jetzt nicht recht entscheiden kann. Aber das Gefühl ist da. Es hat sich gemeldet. Ich darf mich nicht darum kümmern. „Woran denken Sie jetzt?“ „An Edit.“ „Was denken Sie in bezug auf Edit?“ „Ach … Ich weiß nicht …“ „Schade.“ Sie will es nicht sagen. Soll ich jetzt in sie dringen? Soll ich es ihr aus der Nase ziehen? Oder soll ich drum ’rumreden? Du brauchst Konkretes, Kelemen. Konkrete Dinge. Lassen wir die Gefühle. Eine Falle. Sie kann dich 58
irreführen wollen. Bring was Konkretes, das ist sicherer. Kann sein, daß es länger dauert, aber es ist sicherer. „Wie alt ist Edit Csausz?“ „Sie wird vierundzwanzig. Sie ist sechs Jahre älter als ich.“ „Ist sie blond? Braun? Schwarz?“ „Schwarz. Weil sie türkischer Abstammung ist. Der Name ist auch türkisch. Das hat mir seinerzeit Onkel Lipi erklärt.“ „Wer ist das?“ „Edits Onkel, der gestorben ist.“ „Wann haben Sie Edit Csausz zum letzten Mal gesehen?“ „Vielleicht vor zwei Wochen. Sie arbeitet in einem Lebensmittelgeschäft am Großen Ring, dort ist bis zehn geöffnet, und ich habe da Zigaretten für Vater gekauft, denn es war schon halb zehn und kein Zigarettenladen in der Nähe. Sie hat eine Fachschule für Lebensmitteltechnik besucht. Edit ist sehr hübsch. Solange wir im selben Haus wohnten, war sie meine beste Freundin. Ich kannte sie schon, als ich noch ganz klein war. Wir besuchten uns andauernd gegenseitig, wir waren wie Geschwister. Ich erinnere mich, als kleines Mädchen habe ich immer gebettelt, daß ich sie kämmen durfte. Sie hat gelacht und es mir erlaubt. Aber das hätte ich nicht gedacht, daß sie mit Vater … Daß sie sich so gut verstehen.“ „Ist sie auch noch zu Ihnen gekommen, nachdem sie ausgezogen war?“ „Nein. Nie mehr. Zumindest weiß ich nichts davon.“ Während Vilma sprach, raste mit Sirenengeheul ein Polizeiwagen durch Kelemens Kopf. In langer Reihe und unruhig von einem Bein aufs andere tretend, standen die Fragen hinter ihm, Kelemen hatte schon die Stimme für sie, eine scharfe, klare Stimme, ein bißchen militärisch, aber doch gutmütig. Der Polizeiwagen hielt mit 59
kreischenden Bremsen neben ihnen an, Kelemen sprang aus dem Wagen und trieb die Menge, die sich angesammelt hatte, energisch, aber nicht unhöflich auseinander. Privatim. Das ist keine Vernehmung. Ich kann es nicht tun. Ich möchte es sehr, aber ich darf nicht. Berufliche Gier und menschliche Neugier. Das ist das Schöne an diesem Beruf. Daß beides zusammen ist. Wenn nicht, ist es schlimm. Ich kann es nicht tun. Er sah nicht auf seine eigene Uhr. Das wäre unhöflich gewesen. Vilma hielt die Hände im Schoß, der Ärmel des Schulkittels war über das linke Handgelenk hochgerutscht, auf ihrer Armbanduhr war es zehn Minuten nach sieben. Stille trat ein. Kelemen umfaßte wie ein Arzt sein eigenes Handgelenk und zählte den Puls. Vilma sah verlegen aus, sie traf Anstalten aufzustehen, aber Kelemen bedeutete ihr, noch sitzen zu bleiben. „Eine letzte Frage noch, Vilma. Entschuldigen Sie, wenn ich so aufdringlich bin …“ „Aber nein, nicht doch … Eher muß ich mich …“ „Welche Zigarettensorte hat Ihr Vater geraucht?“ „Kossuth.“ „Und Edit Csausz?“ „Als wir noch im selben Haus wohnten, hat sie Symphonia geraucht. Was sie jetzt raucht, weiß ich nicht.“ „Danke, Vilma. Mehr frage ich heute nicht. Übrigens waren auch das keine offiziellen Fragen. Falls mir noch etwas einfällt, werde ich es Ihnen über Andris mitteilen. Die Geheimschrift habe ich übrigens auch entziffert.“ Er konnte nicht anders, er mußte ein bißchen prahlen. „Ja? Es ist ganz leicht, nicht wahr? Auf mathematischer Grundlage schafft man es in zehn, zwölf Minuten. Das haben wir im Zirkel schon gelernt.“ „Natürlich. Es ist nicht schwer. Ein Kinderspiel.“ Aber ein wenig enttäuscht war Kelemen doch. 60
5 „Berci?“ „Ja.“ „Hamdulillah.“ „Hamdulillah. Was gibt’s, Béla?“ „Tust du mir einen Gefallen?“ „Das dachte ich mir. Geht’s dir gut?“ „Verschnupft. Sonst geht’s.“ „Und Manci?“ „Danke, gut. Und ihr?“ „Uns auch. Einigermaßen. Sag, was du willst. Wir wollen ins Kino.“ „Tut mir leid, Berci, aber du wirst die Wochenschau verpassen. Im Telegrammstil: In irgendeinem Geschäft am Großen Ring arbeitet bei euch ein Mädchen namens Edit Csausz. Erstens: In welchem Geschäft? Zweitens: Wie heißt der Verkaufsstellenleiter, bei dem ich mich auf dich berufen kann? Drittens: Hat das Mädchen zur Zeit Vormittags- oder Nachmittagsschicht? Und wenn ich auch noch ihre Wohnanschrift erfahren könnte, wäre das eine große Hilfe. Das war viertens.“ „Hat es nicht bis morgen Zeit?“ „Nein.“ „Daß dich der Satan hole.“ „Er ist schon unterwegs. Ich habe Schnupfen, wie gesagt. Und Fieber. Ich bin krank geschrieben.“ „Na gut. Wenn du zu Hause bist, wird dich in einer halben Stunde jemand anrufen. Entweder Kulin oder Göröncsér. Dann bekommst du die Angaben. Stimmt was nicht mit dem Mädchen?“ „Ich weiß nicht. Es kann sein, aber Sicheres weiß ich nicht.“ 61
„Mir schwant etwas, daß sie im sechsten Bezirk arbeitet. Ein hübsches, schwarzhaariges Mädchen. Voriges Jahr hat sie zum vierten April zweihundert Forint Prämie bekommen. Aber ich bin mir nicht sicher. Die mit der Prämie hieß vielleicht Tausz. Ich lege jetzt auf. Hamdulillah.“ „Hamdulillah. Danke, Berci.“ „Keine Ursache. Servus.“ Kelemen läßt sich wohlig von dem Schiff wiegen, während er den Hörer auflegt, aber schon nimmt er ihn wieder ab und wählt. Über dem Meer scheint die Sonne. Es ist früher Morgen, in einer halben Stunde werden sie in Oran anlegen. Berci lehnt neben ihm an der Reling, sie betrachten die sonnenbestrahlte Stadt vor sich. Berci hat auf diese Dreiwochenreise durch das Mittelmeer gespart, Kelemen hat sie als Sonderprämie bekommen, so sind sie gemeinsam auf dieses DDR-Schiff geraten, daher rührt ihre Freundschaft, dort haben sie sich auf arabisch gegrüßt, und das tun sie auch jetzt noch. Das war vor vier Jahren. Im April werden es vier Jahre. Berci ist ein guter Schachspieler. Kelemen hat noch kein einziges Mal gegen ihn gewinnen können. Das ärgert ihn ein bißchen, denn er ist überzeugt, daß jemand, der als Kriminalist arbeitet, gut Schach spielen können muß. Schach ist Hirngymnastik. Es verlangt Kombinationsfertigkeiten. Wieso, die Leitung eines Verkaufsstellennetzes etwa nicht? „Den Genossen Rauder bitte.“ „Er ist nicht hier, Genosse Kelemen. Er ist vorhin nach Hause gegangen.“ „Und Jeromos?“ „Jeromos ist da. Ich verbinde.“ Das war Somfai. Ein netter Junge. Geht zur Abenduniversität, Ungarisch und Geschichte. Ein begabter Kriminalist. „Jeromos.“ 62
„Servus, Tibi. Ich möchte nur nachfragen, ob es im Fall Hunyor etwas Neues gibt.“ „Nicht viel. Ich habe Zsengellér losgeschickt, damit er sich diese Edit Csausz einmal ansieht. Das Mädchen, weißt du, das Hunyor wahrscheinlich die Ansichtskarte geschrieben hat.“ Für einen Augenblick verschlägt es Kelemen die Sprache. Er ist es nicht gewohnt, daß seine Kollegen so schnell arbeiten. Ein bißchen verstößt das gegen seine Eitelkeit. Andererseits gefällt es ihm. Das habe ich verdient. Ich spiele hier den großen Detektiv, den Meister, im Bett. Mit meinem blöden Kopf. Der so groß wie ein Faß ist. Krank und mit Fieber. „Wo habt ihr sie entdeckt?“ „Durch einen Zufall. Als wir in Hunyors Wohnung waren, um mit seiner Frau zu sprechen, war Somfai zum Hausmeister gegangen und hatte das Hausbuch eingesehen. Er hat ein gutes Namengedächtnis, er erinnerte sich, daß in derselben Etage wie Hunyors ein Lipót Csausz und eine Edit Csausz gewohnt hatten. Das war die einzige Edit, die in dem Fall bisher auftauchte. So setzte er sich ins Auto und fuhr noch einmal hin, um mit dem Hausmeister zu sprechen. Er erfuhr ihre Adresse und wo sie damals gearbeitet hat. Der alte Csausz lebt nicht mehr.“ „Er war der Onkel des Mädchens.“ „Du weißt das auch?“ „Ja. Ebenfalls durch einen Zufall. Hunyors Tochter und mein Sohn sind Schulkameraden. Sie ist hier gewesen, bei uns. Habt ihr schon mit Frau Hunyor gesprochen?“ „Darüber noch nicht. Ich dachte mir, Zsengellér soll sich vorher ein bißchen an Edit Csausz’ Arbeitsstelle umsehen.“ „Sehr richtig. Laßt Frau Hunyor vorläufig aus dem Spiel. Auch das Mädchen.“ 63
„Hunyors Tochter?“ „Ja. Und auf diese Edit solltet ihr, glaube ich, ein bißchen aufpassen. Es wäre ganz gut, wenn wir wüßten, wohin sie geht, mit wem sie sich trifft, was sie macht.“ „Meinst du, daß sie etwas mit dem Mord zu tun hat?“ „Ich weiß es nicht. Mir kommt es nur so sonderbar vor, daß es bisher so still um sie war. Immerhin hat sie Hunyor vor ein paar Monaten eine Million Küsse geschickt. Vielleicht hat das nichts zu bedeuten, aber ein bißchen sonderbar ist es doch.“ „Ich verstehe. Ich glaube, du hast recht.“ „Gebt aber gut acht, Tibi, daß es nicht auffällt. Sie soll nicht erschrecken. Sie soll das Gefühl haben, daß sie sich frei bewegt. Morgen beschäftigen wir uns dann mit ihr. Wenn ich den Arzt überreden kann, bin ich auch wieder dabei.“ „Bleib du lieber im Bett und kurier dich aus.“ „Gut, gut. Wir werden sehen. Ein Schnupfen ist so arg ja nicht. Ich muß jetzt auflegen, ich erwarte einen Anruf. Servus, Tibi. Und gebt mir Zsengellérs Bericht telefonisch durch.“ „Auch nachts?“ „Auch nachts. Ihr stört nicht. Ich schlafe allein im Zimmer. Der Apparat steht neben mir.“ „Na gut.“ So. Das wäre erledigt. Aus der Thermosflasche gießt er sich Zitronentee ein und trinkt. Er nimmt zwei Germicid, zwei Kalmopyrin und Nasentropfen, dann legt er sich auf den Rücken. Aber er muß sich gleich wieder aufsetzen, denn das Telefon klingelt. Er nimmt ab, notiert sich die Angaben, bedankt sich und legt auf. Dann schließt er die Augen und schläft ein. Die kleine Leselampe bleibt brennen. Aber er schläft noch nicht ganz. Im Halbschlaf nimmt er zur Kenntnis, daß sich die Tür öffnet und jemand leise hereinspäht, er weiß, daß es sein Sohn ist, aber er tut, als 64
schliefe er bereits tief. Behutsam schließt sich die Tür. Stille. Glück gehabt, er braucht nicht mit ihm über Vilma zu sprechen. Er ist wirklich müde. Sehr müde. Die Germicidtabletten werden meinen Magen kaputtmachen. Wennschon. Er denkt an Jeromos, sieht ihn vor den geschlossenen Augen mit Somfai sprechen, Somfai nimmt seinen Mantel und geht los, um Zsengellér im Geschäft oder in der Nähe des Geschäftes abzupassen und ihm die Anweisung mitzuteilen. Oder um ihm die Aufgabe, das Mädchen zu beobachten, abzunehmen. Bleibt Jeromos allein? Wahrscheinlich. Aber möglicherweise ist auch noch Genosse Szipek da. Jeromos sieht die Meldungen der übrigen Gruppen durch, vor allem auf eventuelle Zusammenhänge mit dem Fall Hunyor. Raubgruppe, Sittenpolizei, Verkehrspolizei, Rauschmittel, vielleicht befindet sich unter den Festgenommenen jemand, der mit dem Fall Hunyor in Verbindung zu bringen ist. Das Licht der Schreibtischlampe fällt auf Jeromos’ Kinn, der obere Teil seines Gesichts bleibt im Schatten. Auch seine Hände sind im Licht, im Aschenbecher brennt eine Zigarette. So schläft Kelemen ein. Er schläft tief und traumlos und merkt nicht, wie seine Frau hereinkommt, um die Leselampe neben der Couch auszuknipsen. Um zwölf Uhr zwanzig weckt ihn das Klingeln des Telefons. Oder eher das Brummen. Denn er hat ein kleines Kissen auf das Telefon gelegt, damit es nicht zuviel Lärm verursacht. Somfai erstattet Bericht. Edit Csausz hat Nachmittagsschicht gehabt. Sie ist sehr hübsch. Das Geschäft schloß um zehn Uhr. Die Angestellten kamen durch die Haustür auf die Straße. Edit Csausz bestieg um halb elf einen Autobus der Linie 12 A, Somfai stieg in denselben Bus. Edit Csausz fuhr bis zur Endstation, sie stieg am Borárosplatz aus, ging in die Liliomstraße, bog in die Gabonastraße ein, ging dann durch die Tinódystraße zur 65
Mesterstraße und versuchte dort aus einer Telefonzelle zu telefonieren, die Telefonnummer wußte sie auswendig, sie brauchte nicht im Fernsprechbuch nachzusehen, aber sie sprach mit niemandem, der oder die Angerufene war anscheinend nicht zu Hause. Sie wartete eine Weile, dann warf sie die Telefonmünze nochmals ein und wählte erneut, wieder ohne Erfolg. Sie verließ die Telefonzelle, ging bis zum Ring und weiter bis zur Üllőer Straße, dort wartete sie auf einen Bus der Linie 12 und fuhr bis zum Szénaplatz, dort stieg sie aus und betrat in der Lövőházstraße das Haus, in das sie nach Auskunft des Hausmeisters gezogen war, als sie sich endgültig abgemeldet hatte. Somfai wartete auf dem Gehweg gegenüber dem Haus und beobachtete, ob eines der Fenster hell würde, was hätte bedeuten können, daß Edit Csausz ihr Zimmer betreten hatte. Und so geschah es auch. Eine Gestalt, vermutlich Edit Csausz selbst, trat an das hell gewordene Fenster in der ersten Etage und zog die Vorhänge zu. Zwanzig Minuten vor Mitternacht ging das Licht wieder aus. Somfai wartete noch acht Minuten, und als niemand das Haus verließ, kehrte er ins Büro zurück. Von dort rief er jetzt an. Kelemen bedankte sich für den Bericht und erkundigte sich, ob sich in der Zwischenzeit etwas Neues ergeben hätte. Somfai verneinte. Kelemen verabschiedete sich und legte auf. Er goß sich ein Glas Zitronentee ein, trank ihn gierig, legte sich wieder hin und schlief weiter. Am nächsten Morgen, zehn Minuten nach neun, kam der Arzt. Kelemen teilte ihm mit, er werde aufstehen und zur Arbeit gehen. Nach kurzer, aber erfolgreicher Debatte erreichte Kelemen, daß ihm der Arzt drei bis vier Stunden Ausgang zugestand. Kelemen hatte Glück, draußen regnete und schneite es nicht, den Worten des Arztes war zu entnehmen, daß die Erlaubnis einzig und allein darauf zurückzuführen war. Er zog lange Unterhosen und ein dickes Unterhemd an, dann, um überflüssigen Diskussi66
onen und Wehklagen auszuweichen, wartete er, bis seine Frau einkaufen ging, um selbst loszugehen, wobei er darauf achtete, daß er ihr nicht versehentlich in die Arme lief. Auf dem Tisch in seinem Zimmer ließ er einen Zettel zurück, auf dem stand, er sei weggegangen. Ihm war übel, er fühlte sich sehr unwohl, wahrscheinlich von dem Germicid, in einer Apotheke kaufte er Askorbinsäuretabletten, in einem Espresso trank er einen dreifach starken Kaffee, gleich im Stehen, dann ging er in die Garage, setzte sich in seinen Wartburg und fuhr zum Büro. Da er noch von der Wohnung aus Rauder angerufen hatte, der um halb neun gekommen war, saß Edit Csausz bereits im Vorzimmer auf einer Bank. Zsengellér hatte sie im Wagen von ihrer Wohnung abgeholt, er hatte sich ausgewiesen und sie gebeten, mit zum Präsidium zu kommen, man wünsche ein paar Auskünfte von ihr. Zsengellér berichtete, sie sei gelassen geblieben beziehungsweise um nichts nervöser gewesen als irgendwer sonst an ihrer Stelle, bei dem sich morgens die Polizei einstellt, um ihn zum Präsidium mitzunehmen. Kelemen ging in sein Zimmer und verhandelte mit Rauder, ziemlich lange; nein, er übernimmt noch nichts, der Arzt hat ihn nur für drei oder vier Stunden ’rausgelassen, kann sein, daß er sich wieder langlegen muß, er fühlt sich nicht sonderlich, aber vorläufig geht es, die frische Luft hat ihm anscheinend gutgetan. Rauder gab ihm die seit gestern eingegangenen Berichte und referierte auch selbst, kurz und knapp. Man hatte sich die Postämter vorgenommen, die Sparkassenfilialen und -leitstellen, die Banken, alle Einrichtungen, in denen Hunyor das Geld wieder hätte einzahlen können. Erfolglos. An zwei Stellen waren Beträge zwischen vierzig- und fünfundvierzigtausend Forint eingezahlt worden, doch das konnte nicht Hunyor gewesen sein, die Personenbeschreibungen stimmten nicht überein, die eine Person war eine ältere Frau. In beiden Fäl67
len wurden die Einzahler überprüft, sie hatten nichts mit Hunyor zu tun. „Wer war der letzte Kunde in der Filiale, in der Hunyor das Geld abhob? Wie ich mich erinnere, war Hunyor dem Kassierer zufolge der vorletzte. Habt ihr euch darum gekümmert?“ „Ja. Ein in der Nähe wohnender Polsterer, ein Privathandwerker, zahlte zweitausend Forint ein. Er war der letzte Kunde. Man kennt ihn in der Filiale.“ „Ist der Kassenraum von der Straße her einzusehen? Vielleicht hat jemand Hunyor beobachtet und gesehen, daß er eine größere Summe entgegennahm.“ „Hunyor stand mit dem Rücken zum Straßenfenster, das vergittert ist. Der graue Stoffvorhang vor dem Schaufenster war zwar ein Stückchen beiseite gezogen, aber wenn Hunyor vor der Kasse stand, verdeckte er mit seinem Körper das Kassenfenster. Er steckte die vierhundertzwanzig Hundertforintscheine in eine Aktentasche. Wenn ihn jemand von draußen beobachtet hat, konnte er nur die Bewegungen sehen, mit denen er die Geldbündel in die Tasche steckte. In diesem Fall konnte er annehmen, daß es sich um einen größeren Betrag handelte, er konnte aber nicht wissen, um wieviel.“ „Das hätte als Motiv auch schon genügt, Hunyor auszurauben. Die Person verfolgte ihn, bestieg gleichfalls die Vorortbahn …“ „Nein. Das geht nicht auf, Béla. An den Anglerhütten ist niemand außer Hunyor ausgestiegen.“ „Stimmt.“ Kelemen spazierte nachdenklich auf und ab. Er trat zu dem Lautsprecher, der an der Wand befestigt war, und schaltete ihn ein. Sie hörten Jeromos’ Stimme. „Welche Beziehung bestand zwischen Ihnen und Hunyor?“ „Wir waren verlobt“, sagte eine Frauenstimme, vermutlich Edit Csausz. 68
„Da hast du gerade rechtzeitig eingeschaltet“, meinte Rauder. „Es wird ganz interessant werden.“ „Aber Hunyor war doch verheiratet?“ fragte Jeromos. „Er war von seiner Familie weggegangen, und nach seiner Scheidung wollten wir heiraten.“ „Erzählen Sie jetzt genau, was geschah, als Sie Hunyor heute vor einer Woche zum letzten Mal begegneten.“ „Er kam nachmittags in unser Geschäft und kaufte ein. Ich habe ihn bedient.“ „Was kaufte er?“ „Aufschnitt und Brot für das Abendessen. Eine Flasche Wein. Die aber in einer anderen Abteilung.“ „Haben Sie sich mit ihm unterhalten?“ „Ja.“ „Worüber? Sprechen Sie doch. Lassen Sie sich nicht jedes Wort abringen.“ „Wir besprachen, daß ich am Abend, nach Ladenschluß, zu ihm in die Anglerhütte fahren sollte.“ „Und? Sind Sie gefahren?“ „Nein.“ „Warum nicht? Es war doch ausgemacht.“ Schweigen. „Antworten Sie bitte. Und warum haben Sie das nicht der Polizei gemeldet? Sie sind ein erwachsener, intelligenter Mensch, Ihr Verlobter wird getötet, Sie suchen ihn nicht auf, Sie melden sich tagelang nicht bei ihm, dann lesen Sie in der Zeitung, daß er ermordet worden ist, und Sie schweigen. Warum?“ „So war es nicht. Nein. So war es nicht. Ich dachte, er meldet sich deshalb nicht bei mir, weil er mir böse ist, daß ich an jenem Abend nicht zu ihm gefahren bin. Und außerdem, wir hatten vereinbart, daß ich mich niemals bei ihm melde, nur er bei mir. Es war schon immer mal vorgekommen, daß er eine Woche lang nichts von sich hören ließ. Er sagte, daß das für uns beide besser wäre, wenn unsere Beziehung geheim bliebe, er wollte nicht, 69
daß seine Frau es erfuhr und etwas gegen mich unternahm.“ Rauder und Kelemen standen bewegungslos in ihrem Zimmer und verfolgten aufmerksam die Vernehmung. Da klingelt auf Kelemens Tisch das Telefon. Mit einer knappen, ungeduldigen, gereizten Bewegung nimmt er den Hörer ab. Zsengellér meldet, von der Inspektion Tevestraße sei angerufen worden. Eine Funkwagenbesatzung aus dem XIII. Bezirk ist am Pester Donauufer entlanggefahren und sah auf einer Stufe der Margareteninsel, unmittelbar in Höhe des Wasserspiegels, eine menschliche Gestalt liegen. Die Männer fuhren auf die Insel und fanden die Leiche eines Mannes von etwa fünfunddreißig Jahren. Sein Kopf hing ins Wasser, er war erstickt, seine Taschen waren völlig leer, offenbar sei er ausgeraubt worden. Sie wüßten nicht, ob es sich um Mord oder einen Unfall handle, und bäten um einen Experten für die Tatbestandaufnahme. „Gut. Danke“, sagte Kelemen. Er blickte Rauder an, der den Anruf mitgehört hatte. „Gólig und Jaszter sollen einen Wagen nehmen und hinfahren.“ Rauder nickt zustimmend. Kelemen legt auf. „Ich verstehe, daß Sie Angst hatten.“ Das war wieder Jeromos’ Stimme. „Dazu haben Sie allen Grund. Aber wenn Sie behaupten, Sie seien nicht in der Anglerhütte gewesen, müssen Sie das irgendwie beweisen. Wo haben Sie die Nacht vom Neunundzwanzigsten zum Dreißigsten verbracht? Wo waren Sie in dieser Nacht vom Mittwoch zum Donnerstag?“ „Ja. Jetzt ist es sowieso egal. Hunyor lebt nicht mehr. Ich habe bei einem ehemaligen Freund von mir geschlafen. Er wartete auf der Straße, als ich aus dem Geschäft kam, und bat mich, mit zu ihm zu gehen. Ich sagte: ‚Ich habe keine Zeit.‘ – ‚Was hast du denn zu tun?‘ fragte er. 70
Ich sagte erst: ‚Das geht dich nichts an‘, dann: ‚Ich fahre zu Hunyor.‘ “ „Kannte Ihr Freund Hunyor?“ „Er wußte von mir, daß wir verlobt waren. Daß wir heiraten wollten.“ „Und? Er überredete Sie, doch mit ihm zu gehen.“ „Ja, Ich sagte ihm, ich würde die Bahn verpassen, Hunyor würde umsonst an der Haltestelle auf mich warten, wie wir es abgesprochen hatten. Er sagte, dann fährst du halt eine Bahn später. Ich sollte nur kurz mit zu ihm kommen. Auf eine Stunde.“ „Und, sind Sie zu ihm gegangen?“ „Ja. Und habe bei ihm geschlafen. Ich habe die ganze Nacht dort verbracht.“ „Wo wohnt Ihr Freund, und wie heißt er? Sie verstehen, daß wir Ihre Aussage überprüfen müssen.“ „Natürlich. Jetzt ist es sowieso egal. Jetzt ist es sicher, daß ich Hunyor nicht heiraten werde. Er lebt ja nicht mehr.“ „Der Name! Den Namen bitte.“ „Alfréd Sommer. Er ist Maler und hat ein Atelier in der Gabonastraße.“ „In Ordnung. Sagen Sie bitte auf die Stunde genau, wann Sie von Hunyors Tod erfahren haben.“ „Gestern früh. Nein, eher am Vormittag. Es mag gegen halb zwölf gewesen sein. Meine Schicht begann um zwei Uhr. Ich frühstückte zu Hause, das war zugleich mein Mittagessen. Ich saß in der Küche und blätterte beim Essen in der Zeitung. Meine Zimmerwirtin hat die Magyar Nemzet abonniert. Darin habe ich es gelesen. Ich war sehr erschrocken. Da hatte ich noch meinen Morgenrock an. Ich lief ins Badezimmer, zog mich an und rannte zur ersten besten Telefonzelle, um Alfréd anzurufen. Er war nicht zu Hause. Später versuchte ich es noch mal. Nachmittags dann auch aus dem Geschäft, mehrere Male. Aber er meldete sich nicht. Nach Ge71
schäftsschluß fuhr ich mit dem Autobus zur Gabonastraße, hinter dem Atelierfenster war Licht. Ich sah, daß oben Licht war. Aber ich wagte nicht hinaufzugehen, denn vielleicht war er nicht allein. Ich versuchte ihn noch einmal anzurufen, aber er nahm den Hörer nicht ab. Daran merkte ich, daß er nicht allein war. Dann fuhr ich mit dem Bus nach Hause. Heute früh, gegen sieben oder halb acht, habe ich ihn wieder angerufen, aber er meldete sich wieder nicht. Vielleicht war er nicht zu Hause. Ich ging von der Telefonzelle nach Hause, ich war sehr nervös. Eine Stunde später sind Sie gekommen.“ Kelemen tritt zum Lautsprecher und schaltet ihn aus. Rauder blättert im Telefonbuch. „Somló, Somlyai, Sommer … Einen Alfréd Sommer gibt es im Telefonbuch nicht. In der Gabonastraße wohnt gar kein Sommer.“ „Vielleicht hat er eine geheime Nummer.“ Rauder ruft die Zentrale an. „Eigentlich ist es unwichtig. Jeromos wird sich von ihr die genaue Adresse geben lassen.“ Rauder spricht mit der Zentrale, dann legt er auf. „Kein Alfréd Sommer, kein Maler und auch keiner sonst hat in der Gabonastraße einen Anschluß mit einer geheimen Nummer.“ „Sonderbar. Aber das macht nichts. Wir fahren zu der Adresse hin. Behaltet das Mädchen hier. Ruft ihre Arbeitsstelle an, daß sie heute nicht oder erst später zur Arbeit kommt. Wenn dieser Sommer bestätigt, daß er die Nacht vom Mittwoch zum Donnerstag bei ihr verbracht hat, müssen wir sie laufenlassen. Wenigstens vorläufig. Jeromos und Szipek sollen mit uns kommen. Zsengellér bleibt hier. Paßt auf das Mädchen auf.“ Kelemen geht mit Rauder hinaus. An der Tür bleibt er stehen. „Die Sache wird dadurch kompliziert, daß dieser 72
Sommer die erste große Liebe für Hunyors Tochter war. Sie hatten ein Verhältnis miteinander.“ Rauder bleibt stehen. „Und das sagst du erst jetzt, Béla?“ „Ja. Das sage ich erst jetzt. Wann hätte ich es sagen sollen? Laß aber für alle Fälle einen Durchsuchungsbefehl ausschreiben. Falls wir ihn brauchen.“
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6 Überraschungen. Unvermutete Wendungen. Eine Flut von Überraschungen. Eine Sturzflut. Der Hausmeister des Hauses in der Gabonastraße wohnt zwei Häuser weiter, er hat vier Gebäude zu betreuen. Die Mieter haben eigene Schlüssel zur Haustür. Jeromos geht zu ihm, Kelemen, Rauder und Szipek warten im Wagen. Sommer bewohnt die Wohnung mit einer zeitweiligen Anmeldung, die Wohnung ist eine ehemalige Waschküche unterm Dach, zu einem Atelier umgebaut. Gemietet hat sie ein Maler namens Endre Csorbán, er weilt zu einem zweijährigen Studienaufenthalt im Ausland und hat seine Wohnung Sommer zur Nutzung überlassen, Sommer hat in der Aurorastraße eine ständige Wohnung, aber er ist nicht Maler, sondern dem Hausbuch zufolge Fotograf und Fotoreporter. Auf das Klingeln hin wird nicht geöffnet, obgleich durch das Schlüsselloch zu sehen ist, daß drinnen Licht brennt. Der Hausmeister geht schon, um einen Schlosser zu holen, aber Jeromos kann die Tür mit einem Dietrich relativ leicht öffnen. Sie war nicht verschlossen, nur zugeschlagen. Die Wohnung ist leer, niemand hält sich in ihr auf. „Jemand war schon vor uns hier“, sagt Rauder. Kelemen nickt, den Eindruck hat auch er. „Man hat etwas gesucht, nur was?“ rätselt Jeromos. In der Mitte des Zimmers steht eine riesige, quadratische Liege mit einer tigerstreifigen Decke, darauf Aktfotos von Frauen in den unterschiedlichsten Posen. Zwischen den Fotos hier und da Arbeitsgeräte eines Fotoreporters, Objektive, Blitzgeräte, zwei Kameras, leere Fut74
terale. An einer Ecke der Liege ist die Decke hochgeschlagen, der Holzrahmen reicht bis zum Fußboden, darunter kann sich nichts befinden. Eine gedrechselte Kommode, die beiden Türen stehen weit offen, die Schubkästen sind herausgezogen, auf dem Boden Papier und Spulen. Auch die Schranktür steht offen, im Schrank auf einem Bügel ein Anzug, zwei weitere unten im Schrank. Aus den Fächern ist die Wäsche auf den Fußboden geworfen, Hemden, Unterhosen, Socken, Unterhemden, Pullover, Taschentücher. Drei Atelierscheinwerfer stehen in der Ecke, an der Wand dicht unter der Decke sind zwei weitere installiert. Ebenfalls unter der Decke rundum eine gekräuselte Draperie, Szipek blickt hinauf, geht ein Stück beiseite, um daruntersehen zu können, und ruft: „Eine verborgene Kamera! Hier noch eine!“ Insgesamt drei, in drei Ecken des Zimmers hinter der Draperie versteckt. Die Bücher aus dem Regal auf den Fußboden geworfen. Im Badezimmer ein großer, geflochtener Korb für die Schmutzwäsche, der Inhalt umhergestreut. Niemand kümmert sich um Szipeks Entdeckung. Kelemen, Rauder und Jeromos stehen neben der Liege, Jeromos legt vorsichtig mit seinem weißen Taschentuch die bereits betrachteten Fotos beiseite. Es mögen hundert bis hundertzwanzig Bilder sein. Ausnahmslos junge, schöne, nackte oder halbnackte Frauen. Von keinem Modell mehr als zwei oder drei Aufnahmen. Zwei bekannte junge Schauspielerinnen. Jeromos nennt ihre Namen. Rauder nickt. Nur ein Bild von Edit Csausz. Von Vilma Hunyor zwei. „Das hier ist Frau Balogs Tochter. Die Modegestalterin“, sagt Jeromos. Sie erkennen drei Tänzerinnen der Oper. Und sie identifizieren eine bekannte Nachtbartänzerin. Jetzt steht auch Szipek neben ihnen. Eigentlich herrscht tiefe Stille. Nur die Fotos rascheln in Jeromos’ Hand. 75
Bei dem einen Foto sagt Rauder etwas. Seine Stimme ist farblos. Er muß schlucken. „Das hier ist meine Nichte.“ Niemand antwortet ihm. Jeromos schiebt das Bild mit langsamer Geste unter die anderen. Er hebt den Kopf und sieht sich um. Dann nickt er, und sie sehen sich weiter die Bilder an. „Was hast du gesucht?“ fragt Szipek. „Das Werkzeug des Malers. Dort.“ Auf einem kleinen Tisch stehen wirklich einige Töpfchen mit Pinseln darin. Palette, Schaber, Tuben mit Ölfarbe. Daneben eine mit Leinen verhängte Malstaffelei. Szipek geht hin und hebt das Tuch an. Auch die drei anderen Männer werfen einen Blick auf die Staffelei. „Figürlich“, stellt Szipek fest. Auf der Staffelei Leinwand auf einen Rahmen gespannt. Ein halbfertiger weiblicher Akt, das Gesicht nicht herausgearbeitet, das Haar erst in Konturen angedeutet. Das Ganze in einem grünen Grundton. Szipek läßt das Tuch über das Bild zurückfallen. Aber vorher berührt er die Leinwand noch mit dem Zeigefinger. „Trocken“, sagt er. „Völlig trocken.“ „Das hatten wir schon. Mit dem haben wir angefangen“, sagt Jeromos. Er meint die Fotos. Vorsichtig nimmt er den dicken Stapel mit dem Taschentuch, wickelt ihn ein und versenkt ihn in der großen Aktentasche, die er mitgebracht hat. In Szipek meldet sich der Jurist zu Wort. „Keine strafbare Handlung.“ „Nein. Keine, Genosse Szipek. Wir wissen.“ Kelemens Stimme klingt gelassen und gleichgültig, weder belehrend noch ablehnend. „Strafbare Handlungen gibt es immer“, meint Rauder lachend, „höchstens wissen wir vorläufig noch nichts davon.“ 76
Für Rauder muß es peinlich sein, denkt Kelemen, er glaubt, wir denken alle an seine Nichte, deshalb tut er so, als würde es ihn nicht kratzen. Um ehrlich zu sein, ich glaube, wir sind alle ein bißchen verlegen. Zumindest ich und fast so wie Rauder. Es kann natürlich sein, daß ich altmodisch bin. Ich habe mich gefreut, daß Andris ein Junge ist. Darüber habe ich mich gefreut, als ich Hunyors Tochter vorhin nackt auf dem Foto sah. Wahrscheinlich ist mir das als Reflex anerzogen. Die jungen Leute heutzutage denken bereits anders. Und ich weiß nicht, ob unbedingt mein Reflex recht hat. „Ich wäre eher darauf neugierig“, meldet sich Jeromos, „was dieser Sommer mit dem Mord an Hunyor zu tun haben kann.“ Mein Kopf ist nicht klar. Dieser Schnupfen. Ich verliere die Fäden, sie fallen mir nicht ein, so kann ich nicht kombinieren. Jeromos hat recht, er hat einen klaren Kopf. Das denkt Kelemen, bevor er spricht. „Hat jemand eine Lupe mit?“ Rauder zieht das kleine, hübsche Lederetui aus der Tasche, öffnet es und reicht Kelemen das Vergrößerungsglas. Kelemen geht ins Bad, wo er zwei Paar Schuhe gesehen hat. Er hält die Sohlen aller vier Schuhe sorgsam ins Licht und untersucht mit der Lupe peinlich genau ihre Beschaffenheit. Das eine Paar, ein schwarzes, italienisches Modell, hat Gummisohlen. Es kommt ihm verdächtig vor. Sind nicht ein paar Körnchen im Gummi der Sohle hängengeblieben? Er nimmt sein Taschenmesser und kratzt, zwei dunkle Körnchen fallen in seine Hand. Vorsichtig hält er die Hand unter die Hunderterbirne und betrachtet die Beute durch die Lupe. „Die Dachpappe?“ fragt Jeromos. „Ja. Ich möchte wissen, ob sie von der Dachpappe stammen. Aber ich glaube, das läßt sich erst im Labor feststellen. Steinchen sind es jedenfalls. Aber ob Teer 77
daran klebt, kann ich so nicht beurteilen. Und es könnte ja ein Zufall sein.“ Er verspürt ein zwiespältiges Gefühl in sich. Einerseits ist er stolz auf Jeromos, denn er hat ihn ja herangebildet, und Jeromos wußte gleich, wonach er mit der Lupe suchte. Andererseits ärgert er sich ein bißchen. Vielleicht hätte er sich mehr gefreut, wenn Jeromos gefragt hätte, was er mit der Lupe will. Das wäre wirkungsvoller gewesen. Kelemen packt die Körnchen in ein Blatt, das er aus seinem Notizbuch reißt, und steckt sie ein. „Ich glaube, wir können gehen. Wenn Edit Csausz die Wahrheit gesagt hat, und bisher stimmen noch alle ihre Angaben mit Somfais Bericht überein, dann steht diese Wohnung seit gestern abend leer, jemand hat sie durchsucht und das Licht brennen lassen. Sommer hat diese Nacht nicht hier geschlafen. Wenn derjenige, der die Wohnung durchsucht hat, das Licht nicht ausgeschaltet hat, hat er die Wohnung wahrscheinlich schon vor zweiundzwanzig Uhr verlassen.“ „Ja, das ist wahrscheinlich“, sagt Rauder, während er sorgsam seine Lupe ins Etui steckt. „Wenn die Steinchen von der Dachpappe stammen, die neben der Tür der Anglerhütte steht, dann besteht der begründete Verdacht, daß Sommer und Edit Csausz Hunyor ermordet haben. Wenn nicht, müssen wir weitersuchen. Und ich dachte, daß es sich um einen glatten Mord handelt. Es wird immer komplizierter.“ Kelemen bemerkt fast nicht, daß er die Leitung der Ermittlungen übernommen hat. Verschnupft und krank geschrieben. Rauder ist nicht im geringsten anzumerken, daß ihn das kränkt. Dabei ist von Amts wegen er es, der jetzt die Untersuchungen leitet. Gewohnheitssache. Ich bin sein Vorgesetzter. Als ihm dieser Gedanke kommt, tritt er auch schon den Rückzug an. Behutsam spielt er Rauder den Fall wieder zu. 78
„Ich nehme an, du wirst veranlassen, daß Fingerabdrücke genommen werden.“ „Ja. Das hatte ich vor. Genosse Szipek, Sie kommen bitte mit zum Präsidium, ich nehme die Fotos mit und sehe nach, ob welche davon im Verkehr oder gedruckt worden sind oder ob er sie nur zum Privatgebrauch hergestellt hat. Dich und Jeromos möchte ich bitten, fahrt zur Aurorastraße, zu Sommers ständiger Wohnung. Vorausgesetzt, du fühlst dich nicht zu miserabel. Denn Jeromos kann das auch allein machen. Dein Platz wäre eigentlich im Bett.“ „Ich fühle mich jetzt ausgezeichnet. Wenn ich arbeite, vergesse ich auch den Schnupfen. Aber wenn ihr zum Präsidium fahrt, nimm das mit und laß es untersuchen“, sagt Kelemen und reicht Rauder die beiden eingewickelten Körnchen. Rauder nickt und steckt sie ein. „Interessant, daß es in der ganzen Wohnung kein Bild gibt, auf dem Sommer selbst zu sehen wäre. Überhaupt gibt es keine einzige Aufnahme eines Mannes. Lauter Frauen. Dabei würde ich gern wissen, wie so ein Casanova aussieht“, sagt Szipek und lacht. „Du hast recht“, sagt Jeromos. „Das ist wirklich ein bißchen merkwürdig. Wir wissen nicht einmal, wie dieser Sommer aussieht. Wenn er uns auf der Straße entgegenkäme, wüßten wir nicht, daß er es ist.“ Darüber lachen alle vier. Kelemen muß sich plötzlich auf die tigerstreifige Liege setzen. „Was ist los, Béla?“ „Mir ist schwindlig geworden. Ich glaube, ich fahre doch lieber nach Hause. Ich möchte keinen Rückfall bekommen.“ Und nach einer kleinen Pause: „Mir will scheinen, der Fall Hunyor beginnt mich zu interessieren.“ Natürlich interessiert ihn der Fall Hunyor. Er interes79
siert ihn brennend. Er interessiert ihn wahnsinnig. Er denkt sozusagen an gar nichts anderes mehr. Daran kann man sich nicht gewöhnen, dabei kann man nicht abgestumpft werden, diese Arbeit kann man nicht routinemäßig verrichten. Oder doch. Natürlich kann man. Nur – Béla Kelemen ist unfähig dazu. Eins hat er gelernt im Laufe der Jahre, und auch das nicht ohne Mühe: daß sich diese gierige, geistige Erregtheit der kriminalistischen Ermittlungsarbeit nicht in seinem Gesicht und in seinen Gesten widerspiegeln darf. Stille. Ein warmes Zimmer, ein warmes Bett, Mancis vorwurfsvolles Gejammer, daß er ausgerissen ist; endlich hört sie auf zu spektakeln und bringt ihm das Mittagessen, eine leichte Mahlzeit, Schnitzel naturell, dazu Spinat mit saurer Sahne, zwei Apfelsinen, zwei Germicid mit ein paar Schlucken Zitronentee, dann wird er bis zur Nasenspitze zugedeckt, er soll schlafen, geduldig läßt er alles über sich ergehen, er schläft ein und wacht ab und zu auf, schläft wieder ein; das Telefon klingelt, Jeromos ruft zweimal an, Ränder einmal, Janka will mit Manci sprechen, aber ihm sagt sie vorher, daß Gyuri Szipek am Abend zu ihm kommen wird, die beiden Körnchen stammen nicht von der Dachpappe, die Fotos sind nirgendwo veröffentlicht worden, Fotofachleute haben noch keine dieser Aufnahmen irgendwo gesehen. Also sind sie nur zum Privatgebrauch angefertigt worden? Die Großmama Sommer. Dieser Jeromos hat sogar Humor, er kann deftig und plastisch berichten, und trotzdem läßt er nichts Wichtiges unter den Tisch fallen. Mein Frédi, hat die Großmama gesagt, ist ein sehr braver Junge, Vater und Mutter hat er nicht mehr, die haben die Pfeilkreuzler verschleppt, ich habe ihn erzogen, vor zwei Jahren ist er zu seinem Freund gezogen, dem Maler, aber er ist regelmäßig hergekommen, er hat hier zu Hause im Labor gewerkelt. Im Labor. Die Dienstbotenkammer ist als Labor eingerichtet, dort entwickelte 80
er die Filme, die Tür war zugeschlossen, Jeromos öffnete sie mit dem Dietrich, von den Aktaufnahmen fand sich kein einziges Negativ, die Negative werden anscheinend anderswo verwahrt, damit nicht zufällig die Großmama … Nichts als Landschaftsaufnahmen, Reportagefotos, Theaterbilder. Ausländische Berühmtheiten, die Ungarn besuchten, eine grüne Wertheim-Kassette, die Jeromos nicht aufbekam und auch nicht mitnehmen wollte, er ließ sie stehen, morgen wollen sie noch mal hingehen, und während sich jemand mit der Großmama beschäftigt, werden sie die Kassette öffnen und nachsehen, was darin ist. Das ungefähr war Jeromos’ erster Anruf. Ach ja, und es gibt ein Foto von ihm, beziehungsweise die Großmama hat ihnen ihren Frédi gezeigt, sogar mehrere Aufnahmen, gute Bilder, auf dem einen ist er in Tennishose und Polohemd und winkt jemandem zu, ein anderes ist eine Porträtaufnahme, schwarzes, welliges Haar, ein markantes, kräftiges Gesicht, weiße Zähne. Auf dem Bild lacht Sommer. Jeromos sagt, er kann verstehen, daß die Frauen auf ihn fliegen. Rauder berichtet telefonisch, bevor er nach Hause geht, von den Ereignissen des Tages, vor allem über die männliche Leiche, die an der Donau auf der Margareteninsel gefunden wurde. Tod durch Ersticken, eine kleine, unbedeutende Verletzung am Kopf stammt wahrscheinlich von einer treibenden Eisscholle, bei der Sektion wurden aber im Schleimhautgewebe des Gesichts und der Nase Ätherspuren festgestellt, vermutlich wurde er betäubt und dann auf die Treppe gelegt, ob mit Mordabsichten oder aus einem anderen Grund, ist unklar. Seine Identität konnte bisher noch nicht bestimmt werden, seine Taschen waren leer, in den Kleidungsstücken kein Monogramm, vielleicht handelt es sich um Raubmord. Rauder sagt ferner, daß zum nächsten Tag Bori Balog, die Modegestalterin, vorgeladen ist. Außer Vilma Huny81
or und Edit Csausz ist sie unter den Frauen und Mädchen auf den Aktfotos die einzige, die unmittelbar etwas mit dem Mord an Hunyor zu tun hat, wenn auch nur durch ihre verwandtschaftliche Beziehung. Rauder erkundigt sich nach Kelemens Befinden, es freue ihn, sagt er, daß es ihm besser gehe, aber er solle sich in acht nehmen und nicht leichtsinnig werden, dann gäbe es nur eine Verschlimmerung. Kelemen antwortet, um sechs wolle der Arzt kommen, also werde er gleich hier sein. Hiernach schlief Kelemen mit rund siebenunddreißig Grad Fieber wieder ein. Der Arzt kam erst nach halb sieben. Er klopfte ihm Rücken und Brustkorb ab, sah ihm in den Hals und drückte dazu Kelemens Zunge mit einem Löffelstiel herunter. „Mies“, sagte der Arzt, „aber schon besser.“ Auf Kelemens Frage, ob er morgen ins Büro dürfe, brummelte er etwas wie: „Das werden wir morgen sehen, ich komme früh vorbei, weil Sie es sind, besonders früh, noch vor der Sprechstunde, dann werden wir entscheiden.“ Das beruhigte Kelemen. Er fühlte sich verhältnismäßig gut, seine Nase war auch nicht mehr so verquollen wie am Vortag, er konnte durch sie fast schon wieder atmen. Er löffelte gerade seinen Joghurt, das ist Mancis Spezialität, sie vermischt ihn mit Aprikosenmarmelade und gibt ein paar Tropfen Rum dazu und einen Zwieback. Er saß also gerade beim Abendbrot, es war fünf Minuten nach halb acht, da klingelte das Telefon, Jeromos meldete sich so aufgeregt, wie Kelemen es von ihm gar nicht gewohnt war, und teilte mit, Gólig habe zufällig Alfréd Sommers Foto auf dem Tisch gesehen und ihn auf der Stelle mit dem Toten von der Margareteninsel identifiziert. Ein Irrtum sei ausgeschlossen. „Das hatte ich befürchtet“, seufzte Kelemen ins Telefon. „Ich hatte so ein Gefühl, aber seinen Gefühlen darf man nicht nachgeben. Habt ihr Edit Csausz laufenlassen?“ „Ja“, antwortete Jeromos. „Gleich mittags, als wir aus 82
Sommers Wohnung zurückkamen. Aber Somfai läßt sie nicht aus den Augen. Sie ist arbeiten gegangen. Jetzt können wir sicher sein, daß sie mit Sommer keinen Kontakt aufnehmen wird.“ „Nein. Mit Sommer nicht mehr. Der einzige Zeuge, der Edit Csausz ein Alibi geben könnte, lebt nicht mehr. Er lebte schon nicht mehr, als sie sich darauf berief, in der Mordnacht bei ihm in der Gabonastraße geschlafen zu haben. Rauder sagte, daß der Tod durch Ersticken gestern abend zwischen sieben und acht eingetreten sein dürfte. Wir haben weder einen Beweis, daß sie bei Sommer geschlafen hat, noch, daß sie nicht bei ihm geschlafen hat. Habt ihr in Sommers Wohnung Fingerabdrücke gefunden?“ „Jede Menge. Aber wir konnten in der Registratur keine identifizieren. Zumindest keine der frischen Abdrücke.“ „Wir hatten einen Mord, jetzt haben wir zwei. Sommer ist vermutlich von der Person getötet worden, die nach irgendwas in seiner Wohnung suchte und das Licht brennen ließ.“ „Das meine ich auch“, sagte Jeromos. „Aber vorläufig besitzen wir diesbezüglich keinerlei Anhaltspunkte.“ „Nein“, sagte Kelemen. Unwillkürlich fiel sein Blick auf den Teller mit dem Joghurt. „Es wird immer komplizierter. Ich komme morgen. Servus.“ „Servus, Genosse Kelemen.“ Er legte auf, tauchte nachdenklich den Löffel in den Joghurt, hob ihn zum Mund und leckte ihn ab. Er verspürte leichte Gewissensbisse, daß es ihm jetzt auch nicht schlechter schmeckte als vorher. Später nahm er noch zwei Germicid ein, schaltete das Licht aus und schlief ruhig und gleichmäßig bis zum Morgen durch. Aber vorher bat er Manci noch, bei Szipeks anzurufen und Gyuri auszurichten, er solle nicht kommen, es gehe ihm nicht gut, er wolle schlafen. 83
7 Als er aufwachte, war es noch dunkel, durch die Lücke im Vorhang sickerte keinerlei Helligkeit ins Zimmer. Er horchte in sich hinein. „Es geht mir ganz gut“, murmelte er halblaut, um auch zu hören, wie seine Stimme klang, „nur meinem Magen nicht. Von diesen verflixten Germicid. Immer schlagen sie mir auf den Magen. Es wird schon vorbeigehen.“ Er legte sich den Kunstatlas mit den Papierbögen auf die Knie, nahm den Kugelschreiber und begann zu schreiben. Eigentlich bin ich ein Systematiker, überlegte er. Immer fange ich damit an, daß ich die Unordnung durch Ordnung zu ersetzen versuche. Das hierhin, jenes dorthin. Wenn Ordnung herrscht, entwickeln sich die Dinge von selbst, sie nehmen Gestalt an und finden ihren Platz in Raum und Zeit. Bisher hatte ich eine ziemlich schwierige, aber im Aufbau einfache Gleichung mit einer Unbekannten, jetzt hat diese Gleichung auf einmal zwei Unbekannte. Wenn ich so was in einem Kriminalroman lese, verziehe ich säuerlich den Mund. Mitten im Roman taucht ein neuer, bisher nicht in Erscheinung getretener Mörder auf. Die Geschlossenheit der Aufgabe platzt, das innere Gleichgewicht der Form kippt um, die Ästhetik des zu lösenden Problems wird plötzlich verzerrt und plump, ich habe das Gefühl, daß man mich übers Ohr hauen will. Ich war schon drauf und dran, mir eine Theorie für den Mord an Hunyor zurechtzubasteln, und nun kommt das. Jetzt kann ich alles von vorn anfangen. Sackgasse und totes Gleis. Fachjargon, Nicht, daß ich der Lösung nahe gewesen wäre, keineswegs. Aber die 84
Fäden entwirrten sich schon. Hunyor hat seine Familie nicht deshalb verlassen, weil das Maß plötzlich voll war. Er hatte eine Freundin, ein hübsches junges Mädchen, er wollte sie heiraten, und auch sie war nicht abgeneigt. Für Edit Csausz war Hunyor natürlich nicht die alles hinwegfegende große Liebe, wenn sie auf einen Wink Sommers hin bereit war … War sie wirklich bereit? Oder wäre sie es gewesen? Und wenn sie es vorher verabredet hatten? Edit Csausz konnte von dem Geld wissen, von den zweiundvierzigtausend Forint, sie konnte die Sache mit Sommer besprechen … Doch dafür gibt es keinen Beweis. Edit Csausz muß noch gründlich vernommen werden. Wahrscheinlich sogar mehrmals. Sie wirkt nicht so gerissen, daß sie sich, wenn sie lügt, nicht in Widersprüche verwickelt. In Sommers Nähe wimmelte es von Frauen. Nehmen wir an, er war es, der Hunyor tötete. Auch dann muß Sommer von einem anderen getötet worden sein. Und beide Morde sehen so aus, als ob sie von Männerhänden begangen worden wären. Beide Morde geschahen am Donauufer oder wenigstens in der Nähe des Wassers. Liegt darin irgendeine Logik? Mag sein. Ist es möglich, daß beide, Hunyor und Sommer, von ein und derselben Person getötet worden sind? Dem einen wurde der Kopf eingeschlagen, der andere wurde mit Äther betäubt und so auf die Stufen gelegt, daß sein Kopf ins Wasser hing und er ersticken mußte. Wenn ich nur wüßte, warum in mir etwas gegen eine solche Annahme protestiert! Kelemen sitzt im Bett, den Kunstatlas auf den Knien und den Kugelschreiber in der Hand, es herrscht tiefe Stille, er ist wach und frisch, fühlt sich wohl, atmet. Er versucht, ob er auch durch die Nase atmen kann. Es geht. Eins steht fest, das ist kein Kriminalroman. Der Fall Schneider. Das war ein Krimi, wie er im Buche steht. Schneider wurde ebenfalls an der Donau getö85
tet, im Schilfdickicht, beim Angeln. Ein Polsterer aus der Josephstadt war dieser Schneider. Die Kugel riß den linken hinteren Schädelknochen auf, verletzte das Hirn und trat wieder aus. Sie wurde nie gefunden. Schneiders Körper stürzte ins Wasser, vier Tage später wurde er herausgefischt, weit unten, in der Nähe der Schleuse. An der Stelle, wo er angelte, wäre er vom gegenüberliegenden Ufer selbst mit Hilfe eines Zielfernrohrs nur zufällig zu treffen gewesen. Vom diesseitigen Ufer her verdeckte ihn das Schilf. Die Waffenexperten behaupteten übereinstimmend, der Schuß sei aus dreißig oder fünfunddreißig, höchstens aus vierzig Meter Entfernung abgegeben worden. Lange nahmen wir an, daß er von einem Kahn aus erschossen wurde. Von dem Anlegesteg aus, auf dem er beim Angeln stand und von dem er ins Wasser stürzte, war nur ein Taubenschlag zu sehen, beziehungsweise nur vom Taubenschlag aus war er zu sehen. Es konnte nicht geklärt werden, in welcher Körperhaltung er gerade saß oder stand, als er getroffen wurde, ob also vom Wasser her oder vom Ufer her auf ihn geschossen wurde. Schneider war achtundvierzig Jahre, seine Frau sechsundzwanzig. Ein halbes Jahr später heiratete sie wieder. Anderthalb Jahre nach dem Verbrechen, die Frau war im achten Monat schwanger, kam durch Zufall heraus, daß sie mit siebzehn Jugendmeisterin im Scheibenschießen gewesen war. Dann verheiratete sich ihre Mutter wieder, der Stiefvater adoptierte das Mädchen, es nahm den Namen des Stiefvaters an und heiratete unter diesem Namen drei Jahre später Schneider. Als wir sie fragten, gestand sie ohne Umschweife, sie hätte ihren Mann erschossen. Sie hatte eine Leiter an den Taubenschlag gelehnt, war mit dem Gewehr hinaufgestiegen, hatte gezielt, geschossen und getroffen. Schneider stürzte ins Wasser. Das war an einem Wochentag, weit und breit keine Menschenseele. Sie waren hinausgefahren, weil die Polstererwerkstatt an diesem Tag ge86
strichen wurde. Das Gewehr, eine Mannlicher aus dem ersten Weltkrieg, hatte Schneider neunzehnhundertsechsundfünfzig in der Anglerhütte versteckt. Nach dem Mord war die Frau in einen Kahn gestiegen und auf die Donau hinausgerudert, dort hatte sie die Waffe im Wasser versenkt. Auch die Waffe wurde nicht gefunden. Das war ein regelrechter Kriminalroman. Aber auch hier war es Zufall, daß wir auf die Mörderin stießen. Ein gesetzmäßiger Zufall natürlich. Die ehemalige Frau Schneider sagte noch, ihr Mann habe sie vom Steg her auf der Leiter stehen und auf ihn zielen sehen. Er habe gewinkt. Vermutlich habe er angenommen, sie mache sich einen Spaß. Lassen wir das. Es hat keinen Sinn. Konzentrieren wir uns auf die Aufgaben. Die Angelegenheit wird immer komplizierter. Zu viele Fäden, zu viele Personen. Wie um des Himmels willen sollen wir hundert, hundertzwanzig Frauen überprüfen, deren Identität uns nur zum Teil bekannt ist und die nackt oder halbnackt sind? Und wenn gerade die Aufnahme der Frau fehlt, die wir benötigen? Eigentlich hat auch die Annahme etwas für sich, daß Sommers Wohnung von einer Frau aufgesucht wurde, die ihr Foto, ihr eigenes Foto, suchte, weil sie es zurückhaben wollte, damit Sommer sie nicht kompromittierte oder erpreßte. Oder ein eifersüchtiger Ehemann, eventuell ein Liebhaber, ein Vater, der irgendwie erfahren hatte, daß es in Sommers Wohnung ein Aktfoto von seiner Tochter gab, und der es nun holen wollte. Und warum sollte diese Person, ob Frau oder Mann, nicht ausgerechnet das Bild mitgenommen haben, das uns die Lösung bieten würde? Oder auch nicht. Wie zum Teufel soll man das wissen. Versteigen wir uns nicht zu Hypothesen. Es sind zu viele möglich. Was machte Edit Csausz zwischen Donnerstag, dem dreißigsten Januar, und Mittwoch, dem fünften Februar, und was machte Sommer in derselben 87
Zeit? Beziehungsweise nicht bis Mittwoch, sondern nur bis Dienstag abend. Da wurde er ermordet. Hängen die beiden Morde, der an Hunyor und der an Sommer, auf irgendeine Weise zusammen? Aber wie? Die Personen, die in beiden Fällen auftauchen, sind Edit Csausz, Vilma Hunyor und Frau Balogs Tochter. Wie heißt sie gleich? Ja, Bori Balog. Hat Hunyor Sommer gekannt? Er kann ihn gekannt haben. Aber das werden wir noch erfahren. Vielleicht weiß es Jeromos schon. Oder Rauder. Was hat Sommer am Dienstag gegen Abend auf der Margareteninsel zu suchen? Am vierten Februar in strenger Kälte an einem Punkt der Insel, der als verlassen bezeichnet werden kann? Oder wurde er schon vorher betäubt und in betäubtem Zustand hingebracht? Bodenuntersuchung und Tatortbesichtigung deuten nicht darauf hin. Ein Raubüberfall? Bei uns und so? Mit amerikanischer Methode? Der oder die Räuber sollen sich gerade Sommer auserwählt haben, um ihn auszurauben? Sind sie ihm womöglich gefolgt? Warum ausgerechnet er? Woher konnten sie wissen, daß er einen verlassenen Ort aufsuchen würde, wo sie ihn leicht mit Äther betäuben und dann ausrauben könnten? Das ist äußerst unwahrscheinlich. Also: Sommers Verhältnisse und Wege aufklären, möglichst bis zum Augenblick seines Todes. Wir sind wieder da, wo wir vorhin waren. Bei den hundertzwanzig Nackedeien. Oder bei der Großmama. Was enthält die grüne Kassette? Es war dumm, daß sie die grüne Kassette nicht gleich mitgenommen haben. Aber warum hätten sie sie mitnehmen sollen? Zu diesem Zeitpunkt war die auf der Margareteninsel gefundene Leiche noch nicht als Sommer identifiziert. Was sagt die Kriminalregistratur? War Sommer vorbestraft? Gut. Das ist eine improvisierte Zusammenfassung der Aufgaben und Probleme. Bori Balog ist für heute vorgeladen. Auf eine Menge kleiner Detailfragen wissen mei88
ne Kollegen wahrscheinlich schon eine Antwort. Heute nacht war es eine Woche her, daß Hunyor umgebracht wurde. Und wir wissen noch immer nichts. Außer daß alles immer verwickelter wird. Ein glatter Mord? Daß ich nicht lache. Das habe ich zu Rauder gesagt, als er meinte, es handle sich um einen glatten Mord. Von wegen glatt! Und wie hat Sommers Mörder sich Äther verschafft? Das ist sowieso sonderbar. Von Raubüberfällen mit Betäubung durch Äther oder Chloroform steht seit den dreißiger Jahren nichts mehr in der ungarischen Kriminalchronik. Insgesamt hat es nur zwei oder drei solcher Fälle gegeben. Und außerdem wird Äther heutzutage in der chirurgischen Praxis nicht mehr verwendet. Aber war es wirklich Äther, oder hat nur jemand mit unsachgemäßem Wortgebrauch Äthylchlorid als Äther bezeichnet? Mit welchem Grad an Sachkenntnis erfolgte die Betäubung? Auch daraus läßt sich gegebenenfalls etwas schließen. Meines Wissens wird Äther heute nur selten verwendet, vielleicht noch in der Gynäkologie, zur Kurznarkose. Lauter Fragen. Und was wollte man Sommer rauben? Ließ sich der Mörder wirklich von Raubabsichten leiten? Oder bezweckten die geleerten Taschen und die Entwendung aller persönlichen Gegenstände nur, daß wir das Opfer möglichst spät als Sommer identifizieren sollten? Warum komme ich in Gedanken immer und gegen meinen Willen darauf zurück, daß der Täter ein eifersüchtiger Ehemann, ein Liebhaber oder ein um seine Tochter besorgter Vater ist? Wenn ich davon ausgehe, hätte Hunyor einen Grund gehabt, Sommer zu töten. Einen doppelten Grund sogar. Erstens wegen Edit Csausz, zweitens wegen seiner Tochter. Oder erstens wegen seiner Tochter und zweitens … Unsinn. Hunyor war schon lange tot, als Sommer ermordet wurde. Unter hundertzwanzig 89
Frauen dürfte es natürlich nicht nur eine geben, deren Mann, Liebhaber oder Vater … Eins ist sicher. Der Schwerpunkt des Mordes an Hunyor hat sich auf den Mord an Sommer verlagert. Der ermordete Sommer ist irgendwie auch eine Schlüsselfigur im Fall Hunyor. Nein, das ist nicht sicher. Möglicherweise handelt es sich nur um einen zufälligen Zusammenhang. Oder es besteht ein Zusammenhang zwischen beiden, aber er ist nur locker und oberflächlich, und die Ermordung Sommers an sich ist unabhängig vom Fall Hunyor. Auch das ist möglich. Vieles ist möglich. Allzu vieles. Bedauerlicherweise. Hingegen: kein Fieber, keine erhöhte Temperatur, freie Atemwege, auch in der Nase, Allgemeinbefinden gut, nein, wir wollen nicht übertreiben, unberufen: zufriedenstellend. Das ist auch schon allerhand. Mit dieser Diagnose war im großen und ganzen auch der Arzt einverstanden, er knurrte zwar etwas von ein oder zwei Tagen, die es nicht schade wäre, noch … Aber wer hört da schon hin. Die Berichte gaben auf mehrere Detailfragen eine Antwort, wodurch sich natürlich auch im Gesamtbild einige Veränderungen einstellten, so war Sommer zwar nicht vorbestraft, aber im Ministerium lag sein Foto vor: Er hatte einen Reisepaß für Europa beantragt und erhalten, der Paß war am dreiundzwanzigsten Januar ausgestellt, demnach wurde er Sommer an einem der Tage vor der Ermordung Hunyors ausgehändigt. Ein späterer Bericht – der über den Inhalt der grünen Kassette – meldete, daß der Paß in der Kassette lag und ein österreichisches Visum für zwei Wochen enthielt. Sommer wollte also mit einem Touristenpaß ins Ausland reisen. Bedeutete das etwas? Auf jeden Fall eine Absicht. Vielleicht die, nicht mehr nach Ungarn zurückzukehren. Aber dafür gibt es keinen Beweis. In der Kassette befanden sich übrigens auch fünftau90
send Forint, in Hundertern, leider besagt auch das nichts, das Geld, das Hunyor auf der Sparkasse abhob, wurde aus den Tageseinnahmen ausgezahlt, aus den Nummern der Banknoten läßt sich nicht feststellen, ob diese Hunderter von Hunyors Geld stammen oder nicht. Einige Dokumente, Zeugnisse, Ausweise, ein Diplom, ein Auszug aus dem Personenstandsbuch – mehr enthielt die grüne Wertheim-Kassette nicht. In einem Schrank wurden unten, hinter den Hemden, auch Briefe gefunden, zwei Bündel, mit Bindfaden umwickelt, Gólig sieht sie zur Zeit durch, anscheinend handelt es sich hauptsächlich um Liebesbriefe, auch einige Briefe aus dem Ausland sind darunter, ausführlicher Bericht folgt. Die Sparkassenzentrale teilte auf Grund der Meldungen ihrer Filialen mit, wo zwischen dem dreißigsten Januar und dem zweiten Februar von wem und auf welchen Namen oder welches Kennwort Beträge zwischen zwanzigtausend und zweiundvierzigtausend Forint eingezahlt wurden. Auf Pkw-Verlosungssparbücher oder andere verzinsbare oder unverzinsbare Sparkonten, Scheckkonten und laufende Konten. Die Aufstellung enthält nur Privatpersonen, und sie nennt auch die Nummern der einzelnen Sparbücher oder Einlagen. Die Ärmsten, denkt Kelemen, jetzt hängen wir ihnen noch zusätzlich Arbeit an den Hals. Ihm fällt ein, daß demnach auch Sommers Großmutter mitgeteilt werden muß, daß ihr Enkel nicht mehr lebe. Ja, da ist der Bericht. Die alte Frau bekam einen Herzanfall. Einen scheußlichen Beruf haben wir, durchzuckt es Kelemen, und er seufzt. Ein Arzt mußte geholt werden, die alte Frau kam wieder zu Bewußtsein, aber auch als es ihr besser ging, untersagte der Arzt ihre Vernehmung, vielleicht heute oder morgen. Na bitte. Das wußte ich gleich. Hier ist der ärztliche Bericht, Sommer wurde mit Halothan narkotisiert, er bekam keine intravenöse Injektion, sondern es wurde 91
ihm entweder ins Gesicht gespritzt, oder er mußte es einatmen; mittels einer chemischen Spezialmethode wurde das Mittel in der Leber nachgewiesen. Ich dachte mir gleich, daß es kein Äther sein konnte. Der Expertise zufolge löst es für zehn bis fünfzehn Minuten eine Betäubung aus, das reicht bei weitem, daß er ersticken mußte, wenn sein Kopf im Wasser lag. Tod durch Ersticken. Woher hatte der Mörder das Halothan? Verwendet wird es in der Chirurgie, der Gynäkologie, den HNOAbteilungen und der Urologie. Das Vernehmungsprotokoll der Edit Csausz, das vollständige, nicht nur die paar Teile, die Kelemen über den Lautsprecher mitgehört hat. Sehr schön, sie geht auch auf die Zeiteinteilung ein, wo sie nach der Nacht vom Neunundzwanzigsten zum Dreißigsten, also von Donnerstag früh bis Dienstag abend war und was sie machte. Dienstag abend und Mittwoch morgen sind bekannt. Ist sie in der Zwischenzeit mit Sommer zusammengetroffen? Ja. Sie ging am Sonntagnachmittag um drei Uhr zu Sommer in die Wohnung, dort blieb sie bis fünf; sie bat Sommer, mit ihr ins Kino zu gehen, er wollte nicht, er sagte, er habe keine Zeit, um fünf Uhr warf er sie quasi hinaus. Sommer habe mit ihr kein dauerhaftes Verhältnis haben wollen, sagte Edit Csausz, aber hin und wieder habe er sie getroffen. Er sei irgendwie gewalttätig, sagte Edit Csausz, ein Draufgänger; wenn er etwas wolle, sei Widerstand unmöglich gewesen. – Wußten Sie, daß das Atelier nicht Sommer gehört, daß er es vielmehr nur von einem Freund geliehen hat? – Nein, das wußte ich nicht. – Was wissen Sie über sonstige Frauengeschichten Sommers? – Daß er immer eine Menge Freundinnen hat, ein Maler sucht immer Modelle, hat er einmal gesagt, er sucht immer die ideale Frau, auch wenn er sie vielleicht nie entdeckt, aber damit darf er sich nicht abfinden. – Und waren Sie nie eifersüchtig? – Doch. Anfangs sehr, aber dann habe ich mich damit abgefunden. Frédi konn92
te Eifersuchtsszenen nicht leiden. Entweder du nimmst mich, wie ich bin, hat er gesagt, oder du kannst dorthin gehen, wo der Pfeffer wächst. Nein, seine Freunde habe ich nie kennengelernt, ein- oder zweimal waren wir in einem Klub, zum Tanz, dort kannten ihn viele Leute, aber mir hat er niemanden vorgestellt. – Wußten Sie, daß sich Sommer und Vilma Hunyor kennen? – Ja. Letzten August, als ich vom Plattensee zurückkam, ging ich mit Kolleginnen aus dem Geschäft in den Jugendpark, dort sah ich Vilma mit einem jungen Mann am Tisch sitzen, ich ging hin und setzte mich für einen Moment zu ihnen, Vilma ging zur Toilette, als sie zurückkam, hatte ich mich mit ihm schon für den nächsten Tag verabredet, so schnell geht das bei Alfréd. Er hat mir sehr gefallen. – Aber zu jener Zeit hatten Sie doch schon ein Verhältnis mit Hunyor, nicht wahr? – Ja. – Wußte Vilma Hunyor von Ihrer Beziehung zu ihrem Vater? – Nein, davon wußte sie nichts. Von mir jedenfalls hat sie kein Wort erfahren. Hunyor hatte mir streng verboten, mit seinen Angehörigen Verbindung aufzunehmen. Er sorgte sich, darunter könnte unser Verhältnis leiden. Er hatte Angst, seine Frau könnte etwas erfahren. Nun folgt eine kleine Moralpredigt seitens Jeromos, gerichtet an Edit Csausz, ganz überflüssigerweise, ich werde es ihm sagen, aber es ist schon schwer, sich zurückzuhalten, man fragt, man vernimmt jemanden, und dann fängt man plötzlich, ohne daß man es will, den Betreffenden zu belehren an. Wozu? Also das Wesentliche: Edit Csausz war am Sonntag von fünfzehn bis siebzehn Uhr bei Sommer. Wir können annehmen, daß er danach eine weitere Verabredung hatte. Mit wem? Mit einem Mann? Mit einer Frau? Edit Csausz’ Vernehmung von gestern abend. Die zweite. Wieder Jeromos. Ob sie jemanden von Sommers Modellen und weiblichen Bekannten kenne. – Nein. Nur Vilma Hunyor. Die ja. – Hat Ihnen Sommer die Aktfo93
tos, die er von Ihnen gemacht hat, gezeigt? – Ja, er hat sie mir gezeigt. – Und was haben Sie dazu gesagt? – Was soll ich schon gesagt haben. Es waren sehr gute Aufnahmen. – Wieviel Aufnahmen hat Sommer von Ihnen gemacht? – Viele. – Trotzdem, wie viele ungefähr? – Vierzig, fünfzig. – Aber Sommer hat Ihnen doch gesagt, er sei Maler. Haben Sie ihn jemals malen sehen? – Nein. Er braucht die Fotos doch zum Malen. Er kann nur nach Fotos malen. Manchmal findet er unter hundert oder hundertfünfzig Aufnahmen nur eine einzige, auf der die Bewegungen so ausdrucksvoll sind, wie er es eben braucht, hat er gesagt. Ein lebendiges Modell ist immer steif und leblos, es posiert, auch wenn es nicht will. Er braucht die innersten Schwingungen in der Seele des Modells, nur die interessieren ihn, wenn er jemanden malen will. – Wußten Sie, daß Sommer einen Reisepaß beantragt hat? – Ach, er will ins Ausland reisen? Nein, das habe ich nicht gewußt. – Hat er Ihnen gegenüber nie von einer solchen Absicht gesprochen? – Nein, nie. – Wußten Sie, daß in Sommers Atelier drei versteckte Kameras montiert sind? – Ja. Jeromos kehrt mehrfach, unerwartet und aus unterschiedlichen Richtungen zu der Nacht vom neunundzwanzigsten auf den dreißigsten Januar zurück. Wann erreichten Sie mit Sommer sein Atelier? Sah Sie jemand hinaufgehen? Sind Sie jemandem begegnet? Vielleicht einem Mieter aus dem Haus? – Nein. – Wie ein genüßlicher Beichtvater läßt sich Jeromos die Ereignisse der Nacht erzählen. Fragt zurück und geht zu einem anderen Thema über. Erkundigt sich wieder nach Einzelheiten jener Nacht. Läßt sich später das Ganze noch einmal erzählen. Nein, keine Widersprüche in ihren Worten. Ob Sommer in der betreffenden Nacht fotografiert habe. Nein, in dieser Nacht nicht. Und noch immer hat er Edit Csausz nicht mitgeteilt, daß Sommer nicht mehr am Leben ist, daß Sommer ermordet wurde. 94
Edit Csausz spricht über Sommer durchweg so, als lebte er noch. Im bisherigen Material zeigen sich keine Widersprüche, aus Edit Csausz’ Antworten ist keine besondere Nervosität oder Unruhe herauszuhören. Jeder, der von der Polizei vernommen wird, ist nervös und unruhig. Das ist etwas Natürliches. Dieses Mädchen ist eher verstockt, ihren Worten ist etwas wie Halsstarrigkeit anzumerken, das Vernehmungsprotokoll, das mitstenografierte Protokoll gibt das ziemlich deutlich wieder. Sie will nicht die Arbeit der Polizei unterstützen, nein, keine Rede davon, sie beantwortet die Fragen, weil sie weiß, daß sie antworten muß. Sie ist intelligent und dumm in einem, selbstverständlich liebte sie diesen Sommer, liebt ihn noch immer, denn sie weiß ja nicht, daß er tot ist. Sie liebt ihn und verzeiht ihm und ist dabei so primitiv, nicht zu sehen, daß sie von Sommer hintergangen und ausgenutzt wird. Sogar am Ende der Vernehmung noch, als ihr Jeromos mitteilt, sie sei festgenommen, da der begründete Verdacht bestehe, sie sei an der Ermordung Jenő Hunyors beteiligt gewesen, auch dann noch setzt sie sich für Sommer ein, nein, das ist nicht wahr, ich bin darin nicht beteiligt gewesen, Sie wollen mich hinters Licht führen, Alfréd kann so etwas nicht gesagt haben, weil es nicht wahr ist. Ein kleiner hysterischer Auftritt, aber aufrichtig, sie bricht nicht ein, sie gesteht nichts, sie weint nicht, langsam beruhigt sie sich. Jeromos läßt sie abführen. Ich verstehe ihn nicht, brummt Kelemen bei sich, ich verstehe Jeromos nicht. Er blufft nie, warum tut er es jetzt? Im Vernehmungsmaterial deutet nichts darauf hin, daß er zu dieser Schlußfolgerung gekommen wäre. Die Vernehmung endete um halb drei Uhr morgens, was mag ihn veranlaßt haben, Edit Csausz mit dieser Begründung in Haft zu nehmen? 95
Er sucht in dem Material, den weiteren Berichten, findet aber nichts, schließlich entdeckt er einen kleinen Zettel, handgeschrieben, das ist Jeromos’ Handschrift, fast nur eine Notiz, sie bezieht sich auf einen Anruf, den er um zwei Uhr vier bekam. Frau Aranka Haupt geborene Ferenci, die Großmutter Sommers, wurde um neunzehn Uhr mit einem neuen Herzanfall in das UzsokiKrankenhaus eingeliefert, wo sie zwei Minuten nach Mitternacht verstarb. Unter ihrem Nachthemd trug sie, um den Hals gehängt, ein handgenähtes Leinwandsäckchen bei sich, das ein verzinsliches Sparbuch über dreißigtausend Forint enthielt. Das Sparbuch war zwar anderthalb Jahre vorher angelegt worden, lautete aber bis zum einunddreißigsten Januar nur auf zehn Forint. Die dreißigtausend wurden an diesem Tag eingezahlt. Ausgestellt war das Sparbuch in der Sparkassenfiliale Barossstraße. Übrigens ist es auch in der Liste der Sparkassenzentrale verzeichnet, ein Sparbuch mit dem Kennwort: Omi. Jetzt kann ich Jeromos verstehen, denkt Kelemen. Nachdenklich blättert er Jeromos’ Notizblock durch. Eine Frage, die er sich notiert hat: Mit wem sprach Sommer am Sonntagnachmittag um halb fünf per Telefon in Anwesenheit Edit Csausz’ in deutsch? Ja, das ist Kelemen schon aufgefallen, als er das Protokoll las, aber jetzt, als er es in Jeromos’ Block liest, scheint dieser Umstand noch mehr Bedeutung zu gewinnen. Edit Csausz kann nicht Deutsch, sie weiß nicht, worüber Sommer redete, auch nicht, mit wem. Kelemen lächelt. Es kommt selten vor, daß er die Teilberichte so ungeordnet und zusammenhanglos erhält und durchsieht. Meistens ist das Material bereits aufgearbeitet, wenn es ihm vorgelegt wird, es enthält die exakten Schlußfolgerungen und konzentriert sich auf das Wesentliche. Das hier erinnert ihn jetzt ein wenig an seine Anfängerzeit. Jeromos muß mächtig müde gewe96
sen sein, er ist auch noch nicht hier, sicher schläft er noch. Also schläft er doch manchmal. Neun Uhr. Donnerstag, der sechste Februar, neun Uhr morgens. Demnach steht der am Dienstagnachmittag ermordete Alfréd Sommer in dem dringenden Verdacht, in der Nacht vom neunundzwanzigsten zum dreißigsten Januar Jenő Hunyor ermordet zu haben. Und Edit Csausz, an der Ermordung Hunyors beteiligt gewesen zu sein oder sie begünstigt zu haben. Das werden wir nun klären. Eine große Menge Teilfragen steht noch offen, aber wir werden sie jetzt klären. Das ist polizeiliche Routinearbeit. Wer hat Sommer getötet? Und warum?
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8 Die methodische Reihenfolge ist natürlich umgekehrt. Wichtiger ist das Warum. Wenn wir wüßten, warum Sommer umgebracht wurde, kämen wir auch der Person des Mörders näher. Edit Csausz käme am ehesten in Frage, aber sie entfällt. Sie hat am Dienstagnachmittag gearbeitet und hielt sich im Geschäft auf, das wissen wir. Sie kann nicht auf der Margareteninsel gewesen sein. Im Interesse der Ermittlungen haben wir der Presse noch nicht mitgeteilt, daß es sich bei dem Toten, der auf den Stufen zum Wasser gefunden wurde, um Alfréd Sommer handelt. Deshalb stellt Jeromos der für zehn Uhr vorgeladenen Bori Balog – Modegestalterin, geboren neunzehnhundertvierzig, wohnhaft in der Straße der Märtyrer, Familienstand: geschieden – die ersten Fragen im Präsens. „Kennen Sie Alfréd Sommer?“ „Wie ist die Beziehung zwischen ihm und Ihnen?“ „Freundschaftlich.“ „Wann haben Sie zuletzt mit Sommer gesprochen?“ „Entschuldigen Sie, ich dachte, daß ich wegen meines Onkels …“ „Verzeihung, wenn ich Sie unterbreche. Es ist sehr wichtig, daß Sie meine Fragen beantworten. Wann haben Sie zuletzt mit Sommer gesprochen?“ „Einen Augenblick. Heute ist Donnerstag. Ich glaube … ja, vorgestern früh. Am Dienstag hat er mich angerufen. Er weckte mich so gegen halb neun. Ich war ein bißchen überrascht, als er mich fragte, ob ich mit jemandem darüber gesprochen hätte, daß er sich in der vergangenen Woche meinen Wagen geliehen hat. Ich antwortete: 98
‚Nein, warum auch.‘ Darauf meinte er, ich solle vorläufig mit niemandem darüber reden, zumindest diese Woche noch nicht, denn er hätte sich für irgendeine Redaktion eine Taxirechnung besorgt, und ihm würden die Taxikosten erstattet werden, er wollte nicht, daß er deswegen Unannehmlichkeiten bekäme. Irgend so etwas hat er gesagt. Darauf ich: ‚Bist du verrückt geworden? Wegen solcher Kindereien weckst du mich so früh am Morgen?‘ Er lachte nur und sagte: ‚Schon gut, schlaf nur weiter, aber über diese Taxisache halt den Mund.‘ Ist ihm etwas passiert?“ „Jetzt haben Sie trotzdem über diese Taxisache gesprochen. Warum?“ „Sie sagten vorhin, daß es sehr wichtig ist, daß ich Ihre Fragen beantworte. Oder nicht?“ „Doch. Wann und unter welchen Umständen hat sich Sommer Ihren Wagen ausgeliehen?“ „Ich sag’s Ihnen gleich, wenn Sie einen Moment Geduld haben. Letzte Woche, am Dienstag, nein, am Mittwoch, nein, Mittwoch war ich im Künstlerklub, aber um zehn war ich wieder zu Hause, also doch am Mittwoch. Mittwoch nacht. Es mag gegen elf gewesen sein, aber vielleicht auch später. Er rief mich an und sagte: ‚Ich muß heute nacht eine Reportage in Tatabánya machen, und der Redaktionswagen ist kaputt, kannst du mir deinen Wagen borgen, ich stelle ihn morgen früh vor dem Haus wieder ab und lege den Zündschlüssel unter die Gummimatte.‘ Ich sagte zu. Zwanzig Minuten später klingelte er, er kam gar nicht erst in die Wohnung, ich gab ihm nur den Schlüssel, und schon war er wieder weg. Am Morgen stand der Wagen wirklich wieder an der Stelle, wo er vorher gestanden hatte. Der Schlüssel lag unter der Fußmatte, wie vereinbart, und im Handschuhfach fand ich einen Briefumschlag, darin einen Hunderter und einen Zettel, worauf stand: ‚Für Benzinkosten und Wagenwäsche, vielen Dank.‘ Das war alles.“ 99
„Sind Sie seitdem mit Sommer zusammengetroffen? Oder haben Sie mit ihm gesprochen?“ „Nur, was ich vorhin schon sagte. Daß er mich Dienstag früh anrief. Er hat sich weder vorher noch nachher gemeldet.“ „War das normal in den Beziehungen zwischen ihm und Ihnen? Daß Sommer sich nur hin und wieder meldete?“ „Völlig normal. Wir waren gute Freunde, aber wir hockten nicht andauernd zusammen.“ „Seit wann kennen Sie Sommer?“ „Könnten Sie mir bitte nicht doch sagen, warum ich auf diese Fragen antworten muß?“ „Vorläufig leider nicht. Sie müssen schon entschuldigen. Beantworten Sie bitte meine Frage. Seit wann kennen Sie Sommer?“ „Seit vorigem Sommer. Im Palatinus-Bad traf ich meine Kusine, und er war bei ihr. Ich nahm beide in meinem Wagen mit in die Stadt zurück. Das war an einem Freitag. Ich setzte sie an der Barossstraße ab, ich hatte in der Innenstadt noch etwas zu erledigen. Eine Stunde später fuhr ich nach Hause. Als ich in die Wohnung trat, klingelte das Telefon. Es war Sommer, er fragte mich, ob ich etwas dagegen hätte, wenn er eine Fotoserie von mir aufnähme, er brauchte gerade so ein Modell wie mich. Ich hatte schon im Bad gemerkt, daß ich ihm gefiel.“ „Sie sind in sein Atelier gegangen?“ „Nein, da noch nicht. Hat Alfréd etwas mit der Ermordung meines Onkels zu tun?“ „Wie kommen Sie zu dieser Vermutung?“ „Großer Gott! Ich sagte zu ihm, daß ich vielleicht in der darauffolgenden Woche Zeit hätte, worauf er mich fragte, was ich am Wochenende vorhätte, ‚Ich fahre an die Donau‘, sagte ich. ‚Allein?‘ wollte er wissen. ‚Ja‘, sagte ich, ‚allein, ich will arbeiten.‘ Ob er nicht mitkommen 100
könnte, er würde mich nicht stören, er würde nur fotografieren. ‚Meinetwegen‘, sagte ich, ‚aber ich habe zu arbeiten.‘ Und am nächsten Vormittag fuhren wir in unsere Anglerhütte, dorthin, wo mein Onkel ermordet worden ist. Am Montagmorgen kamen wir zurück. Sie wollen doch wohl nicht sagen, daß Alfréd …“ „Wir haben allen Grund zu der Annahme, daß Ihr Onkel von Alfréd Sommer getötet wurde. Vermutlich ist er vorige Woche in Ihrem Wagen zu der Anglerhütte gefahren, und zwar in der Nacht vom Mittwoch zum Donnerstag, als der Mord begangen wurde.“ „In meinem Wagen … Das ist ja entsetzlich! Haben Sie ihn verhaftet?“ „Das war leider nicht mehr möglich. Alfréd Sommer ist Dienstag nachmittag von einem oder mehreren Unbekannten auf der Margareteninsel ermordet worden.“ „Erm …? Nein, das ist ja furchtbar!“ „Bitte, beruhigen Sie sich. Und betrachten Sie meine Mitteilung als Amtsgeheimnis, über das Sie vorläufig mit niemandem reden dürfen. Sie haben für Dienstag ein Alibi, wir wissen, daß Sie von achtzehn bis zwanzig Uhr im Kino waren. Deshalb habe ich es Ihnen gesagt. Ihren Wagen können Sie vorläufig nicht benutzen. Wir werden ihn untersuchen. Haben Sie uns noch etwas mitzuteilen?“ „Die Gewichte … Meine Mutter rief mich an und sagte, daß sie der Polizei gemeldet hätte, daß aus unserer Hütte die Gewichte verschwunden sind. Sie sind nicht verschwunden. Ich habe sie hier in der Tasche. Ich hatte sie neulich, vor ungefähr zwei Wochen, mitgenommen, als ich draußen war, weil ich sie zu Hause benötigte.“ Die Gewichte liegen auf dem Tisch. In dem Holzkästchen die kleinen aus Messing, daneben die zu fünfhundert Gramm, zu einem Kilo und zu zwei Kilo aus Eisen. Demzufolge ist Hunyor doch nicht mit dem Zweikilogewicht erschlagen worden. 101
„Einen Augenblick noch“, wirft Kelemen ein. „Das Strafgesetzbuch in der Anglerhütte, im Bücherregal, wie kommt es dorthin?“ „Strafgesetzbuch? Was für ein Strafgesetzbuch? Ach so, ja, das Strafgesetzbuch. Voriges Frühjahr hat sich eine Freundin von mir, die Jura studiert, dort auf das Rigorosum vorbereitet. Sie hat es liegenlassen.“ „Danke“, sagt Kelemen. „Wir danken Ihnen für Ihre Auskünfte.“ Bori Balog geht. Ein kleines, sehr wohlproportioniertes Persönchen, keine ausgesprochene Schönheit, kurzes blondes Haar, runder Kopf, lange schlanke Beine in den schwarzen Stiefeln, der Bursche hat einen Blick für Frauen, denkt Kelemen, denn sein Sohn war der erste, der Bori Balog für ihn begutachtet hat. Was sie sagt, klingt glaubwürdig und aufrichtig, offenbar verschweigt sie nichts. Kelemen hat ein gutes Ohr für so etwas. Klar, irren kann auch er sich. Das muß man immer einkalkulieren. Aber diesmal ist es unwahrscheinlich. Kelemen hielt es methodisch für richtig, vor einer weiteren Vernehmung der Edit Csausz eine kleine Konferenz einzuberufen, um das neueste Material zusammenzufassen und auszuwerten, Verdächtigte haben ein unerhört feines Gehör und einen siebenten Sinn dafür, was bei der Vernehmung faktenmäßig abgesichert und mit Beweisen abgestützt ist. Für eine schnelle Auswertung sprach auch, daß um Viertel zwölf fast alle anwesend waren, nur Jaszter war wegen des Malers Csorbán, in dessen Atelier Sommer gewohnt hatte, ins Ministerium gefahren. Gólig berichtete über Sommers Korrespondenz. Liebesbriefe, hauptsächlich Liebesbriefe, zumindest stammen die meisten Briefe von Frauen, so gut wie nichts Konkretes für die Ermittlungsarbeit. Sieben oder acht Ansichtskarten aus dem Ausland, mit Grüßen, auch sie von Frauen, zwei von Männern, die eine Karte von ei102
nem Károly Hendrik aus Stockholm, Gólig hat nachgesehen, Hendrik ist neunzehnhundertsechsundfünfzig ins Ausland gegangen, in Ungarn war er gleichfalls Fotograf. Von Hendrik auch ein Brief, mehr als zwei Jahre alt, sein Chef, Herr Olafson, werde nach Budapest fahren, Sommer solle ihn aufsuchen, denn er wolle ihm ein kleines Geschenk mitschicken. Ein Brief aus Uruguay, von einem ehemaligen Klassenkameraden, der sich nach irgendeinem Abituriententreffen erkundigt, er werde sich in Europa aufhalten und vielleicht auch die alte Heimat besuchen. Gólig hat auch Sommers Notizbuch gefunden, nicht nur den Taschenkalender von diesem Jahr, auch den vom vorigen, in beiden steht unter M die Telefonnummer des Grand-Hotels auf der Margareteninsel im Register. Das hat Gólig auf die Idee gebracht, im Grand-Hotel nachzufragen, ob dieser Olafson dort gewohnt hat, und sich auch nach dem ehemaligen Klassenkameraden zu erkundigen, der jetzt in Uruguay lebt. Sig Olafson war bisher viermal Gast im Grand-Hotel, vor zwei Jahren im September (dieses Datum stimmt mit dem überein, das in Hendriks Brief angekündigt ist), im darauffolgenden Februar, dann wieder im September und schließlich eben jetzt. Gestern früh ist er mit dem Zug nach Wien abgereist. Er hat Geschäftsverhandlungen mit einem Außenhandelsunternehmen geführt, für das er ständiger Lieferant ist, wir importieren Fotospezialausrüstungen von ihm, in relativ geringen Mengen. Gólig hat auch mit Olafsons Verhandlungspartner gesprochen und von ihm erfahren, daß Olafson in Stockholm drei oder vier Magazine herausgibt, die weibliche Akte veröffentlichen. Der Verhandlungspartner weiß das, weil er auf einer Geschäftsreise in Schweden war und in Malmö auch mit Olafson verhandelte. Die Aktmagazine spielen in seinen geschäftlichen Beziehungen mit Ungarn natürlich keine Rolle. „Es besteht also Klarheit über die Margareteninsel 103
und über das am Sonntagnachmittag in deutscher Sprache geführte Telefongespräch, vermutlich hat Sommer mit dem Schweden ein Zusammentreffen für Dienstag verabredet. Deshalb wohl ist Sommer auf die Insel gefahren“, faßt Kelemen zusammen. „Wahrscheinlich brachte er Olafson die Negative der Aktaufnahmen hin. Ein illegales Geschäft. Devisenvergehen. Wir wissen, daß Sommer nach Wien fahren wollte, er hatte einen gültigen Reisepaß und darin ein österreichisches Visum. Die Annahme, daß Sommer illegal im Ausland bleiben wollte, scheint fast sicher, und Hunyor hat er getötet, um das geraubte Geld seiner Großmutter hierzulassen, bis er sich draußen eine neue Existenz aufgebaut hätte. Darauf deutet das Sparbuch hin, das bei der Großmutter gefunden wurde. Die Motive des Mordes an Hunyor werden immer klarer. Dieser Sommer war ein braver Junge, ein besorgter Enkel. Aber wer am Dienstagnachmittag ihn getötet hat – dafür haben wir noch keinerlei Anhaltspunkte.“ Da kommt Jaszter aus dem Ministerium zurück, Csorbáns Stipendium laufe über zwei Jahre, im März sei seine Zeit um, außer dem Atelier habe er keine Wohnung, Sommer hätte vermutlich im März zu seiner Großmutter zurückziehen, zumindest aber aus dem Atelier ausziehen müssen. „Ein weiterer Beweggrund für ihn, das Land zu verlassen. Zumindest ein weiterer Umstand, der dafür spricht, daß er das vorhatte“, meint Jeromos. „Versetz du dich mal in Sommers Lage, Béla …“ „Muß ich das?“ Alle lachen. „Ich meine es nur bildlich. Dieser Job mit den Aktfotos ist bei uns kein Geschäft, im Westen kann er prächtig davon leben, wenn wir bedenken, daß er die Gabe hat, Frauen anzulocken wie eine Kerze die Nachtfalter. Drei verborgene Fotokameras unter einer Draperie, das hätte 104
sich dort für ihn bestimmt rentiert. Hier bei uns kann er die fertigen Fotos kaum richtig verkaufen. Er kann sie höchstens zu Erpressungen benutzen, aber das ist kein Geschäft, das ist gefährlich, dabei fliegt man leicht auf. Übrigens waren zwei der von uns im Atelier gefundenen Kameras und Zubehör als gestohlen registriert. Beide wurden aus Autos entwendet, die eine im letzten Sommer aus dem Chrysler eines kanadischen Staatsbürgers in den Budaer Bergen, zusammen mit einem Scheckheft und siebenhundertzwanzig Dollar, die andere bereits im vergangenen März aus dem Volkswagen eines ungarischen Fotoreporters in der Dózsastraße. In beiden Fällen wurden auch die Autos gestohlen, aber einige Stunden später an anderen Punkten der Stadt stehengelassen.“ „Meinst du denn, Sommer hat auch Autos geklaut? Oder Autos aufgebrochen?“ „Nein, ich halte das auch nicht für wahrscheinlich. Aber daß die beiden Objektive aus gestohlenen Autos stammen, ist Tatsache. Die Nummern stimmen überein.“ „Gut. Auf alle Fälle wollen wir das auch berücksichtigen. Ich glaube aber trotzdem, wir haben sie irgendwo bei den Modellen der Aktaufnahmen zu suchen, die gewisse Nadel im Heuhaufen. Leider. Das ist aufwendige Kleinarbeit. Euch werden die Nieren schwitzen.“ Rauder meldete sich zu Wort. „Ich habe mit meiner Nichte gesprochen. Anfang Oktober, an einem Sonnabendabend, war sie zu einer Fete eingeladen, gegen halb elf stellte sich Sommer ein, er war allein und hielt Umschau, dann machte er sich an meine Nichte heran, sie tanzten und gingen zusammen weg, schnurstracks in Sommers Atelier. Dort blieben sie bis Sonntag abend. ‚Richtig meisterhaft, wie mich Frédi abschleppte‘, sagte sie wortwörtlich. Was diese jungen Leute für Ausdrücke haben! Sie wußte nichts davon, daß 105
Sommer sie fotografierte. Anscheinend hat er sie mit den versteckten Kameras aufgenommen.“ „Ja, ich verstehe“, sagt Kelemen. „Dann wollen wir jetzt gehen und Jeromos arbeiten lassen. Es wäre eine große Hilfe, wenn du Edit Csausz ein ausführliches Geständnis ablocken könntest. Ich glaube, du kannst ihr jetzt sagen, daß Sommer nicht mehr am Leben ist. Dann wird alles viel leichter. Vielleicht weiß sie sogar etwas darüber, vielleicht hat sie jemanden im Verdacht, der Sommer getötet haben könnte.“ „Das glaube ich kaum, aber es wird sich bei der Vernehmung schon herausstellen.“ „Wie auch immer, eigentlich ist es egal. Wesentlich ist, daß wir den Fall Hunyor heute im großen und ganzen abschließen können. Was im Zusammenhang damit noch zu tun bleibt, ist hauptsächlich polizeiliche Routinearbeit. Die Frage wird nur dadurch kompliziert, daß auch Hunyors Mörder getötet worden ist. Teils deswegen und teils wegen der einzigen Frage, die bei dem Mord an Hunyor noch offensteht, ist es jetzt notwendig, daß wir alle unsere Kräfte darauf konzentrieren, den oder die Mörder Sommers zu fassen. Das sind die nächsten Aufgaben, Genossen. Ich danke euch, wir sind fertig. Ich geh’ jetzt essen.“
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9 Ich beginne mit Montesquieu. Mit seinen Thesen. Die Polizei ist die Hilfsorganisation der von der exekutiven Macht unabhängigen Rechtspflege und dient vor allem dem Schutz der Staatsbürger. So sagt Montesquieu. Im Geist der Gesetze – L’esprit des Lois. Was verstehen wir unter einer Rechtspflege, die von der exekutiven Macht unabhängig ist? Nichts. Eine Fiktion. Ein Ideal. Eine Absicht, die das Ideal – wie auch die internationale Praxis beweist – in seiner reinen Form noch nie und nirgendwo realisieren konnte und eigentlich erst nach dem Absterben des Staates auch praktisch vorstellbar ist. Westliche Beispiele, um das zu beweisen. Allein aus der jüngsten Vergangenheit. Zum Beispiel in Montesquieus Vaterland der Fall Ben Barka. In den Vereinigten Staaten: der Kennedy-Mord, besser die Kennedy-Morde, der Warren-Bericht. Die ideale Formulierung des Prinzips und die Praxis weichen scharf voneinander ab. Das alles bedeutet natürlich nicht … Ja, den Gedankengang so weiter, dann die Bedeutung dieses Ausdrucks darlegen: Schutz der Staatsbürger. Von da aus gehen wir auf die kriminalistischen Probleme der modernen Gesellschaft ein, Kriminalstatistik in den kapitalistischen und sozialistischen Staaten, in Ungarn. Das aufschlüsseln, anschließend die Hauptfragen der Strafverfolgungspraxis unter besonderer Berücksichtigung der Problematik der gegen das menschliche Leben gerichteten Strafhandlungen. Hauptarten, Einteilung, Übersichtlichkeit. Tötung, Mord. Die größeren Zusammenhänge erläutern, Wechselwirkung zwischen krimineller Neigung und gesellschaftlichen Spannungen, Rolle der Chromosomen eben107
so wie das im Mittelpunkt jedes Verbrechens anzutreffende individuelle Drama, das in seiner Ausstrahlung – in unterschiedlichem Maße, je nach dem gegebenen Fall – immer auch gesellschaftliche Auswirkungen hat und in irgendeiner Hinsicht, nicht nur konkret, sondern auch im allgemeinen Sinn, die Sicherheit der Staatsbürger gefährdet. Kelemen ruht aus. Das ist seine Art auszuruhen. Er konzentriert sich auf etwas anderes. Jetzt legt er sich gerade den Gedankengang für einen Vortrag zurecht, den er an der Akademie für Innere Angelegenheiten halten soll. Er schaltet sich aus dem Hunyor-Mord aus, löscht langsam die Scheinwerfer, die in seinem Innern ihr blendend scharfes Licht auf die Umstände des Todes Alfréd Sommers werfen. Währenddessen ißt er zu Mittag. Er ißt langsam und umständlich, kaut den Schweinebraten gründlich durch, löffelt den Linseneintopf dazu, wischt sich den Mund ab, nimmt einen Schluck Mineralwasser, zieht den Teller mit der Quarktasche heran, nimmt sie in die Hand, betrachtet sie, beißt hinein, vorsichtig, damit ihm der Puderzucker nicht auf die Jacke stäubt, von dem Zucker werden seine Finger ein wenig klebrig, er blickt auf, aber er sieht nicht die essenden Kollegen in der Kantine, sondern den Saal, in dem er seinen Vortrag halten wird. Einige Gedanken verwirft er, formuliert sie unter einem anderen Aspekt von neuem, ebnet seinem Gedankengang die Bahn, er weiß genau, worauf er hinauswill, er darf nicht lässig formulieren, jeder Satz muß logisch an den vorangegangenen und den darauffolgenden anschließen und ebenso an den Gedankengang als Ganzes. Irgendwo muß es einen Taxifahrer geben. Die Hand, die das letzte Stückchen der Quarktasche hält, erstarrt in der Luft, schafft es nicht mehr bis zum Mund. Die Scheinwerfer des Falles Sommer sind von allein angegangen in seinem Kopf. 108
Wie sonst hätte Sommer in ungefähr zwanzig Minuten aus der Gabonastraße zur Straße der Märtyrer kommen können. Denn er fuhr ja zu Bori Balog, um sich ihren Wagen zu leihen. Mit dem Autobus? Mit einem Zwölfer oder einem 12 A? Das ist nicht ausgeschlossen, aber auch nicht wahrscheinlich. Die nächstgelegene Haltestelle am Ring ist mindestens fünf Minuten von seiner Wohnung entfernt. Wenn er zufällig Glück hat, und es kommt gerade ein Bus, und wenn er wieder Glück hat, und der Bus braucht an keiner einzigen Ampel anzuhalten, und wenn außerdem an den Haltestellen nur wenige Fahrgäste ein- und aussteigen, dann mögen zwanzig oder fünfundzwanzig Minuten ausreichen. Der Taxifahrer muß trotzdem gesucht werden. Wenn es keinen solchen Taxifahrer gibt, dann gibt es halt keinen. Aber wenn es ihn gibt, und er erinnert sich an Sommer, wenn er ihn sogar anhand des Fotos erkennt, dann … Und wenn Edit Csausz nicht die Wahrheit gesagt hat? Wenn sie gar nicht mit Sommer in das Atelier in der Gabonastraße gegangen ist? Wenn sie nur irgendwo gewartet hat, bis er mit dem Zündschlüssel von Bori Balog zurückkam? Das letzte Stück der Quarktasche verschwindet in Kelemens Mund. Er wischt ihn sich mit einer Papierserviette ab, dann folgen die Hände, jeder Finger einzeln, nun noch einen Schluck Mineralwasser, er blickt zum Ausschank, sein Blick und Irmuskas Blick begegnen sich, Irmuska zwinkert und zeigt mit dem Finger auf den dampfenden Kaffee neben ihrer Kaffeemaschine, Kelemen steht auf und geht lächelnd zum Ausschank, Irmuska hat auch schon die vier Stückchen Zucker in den Kaffee getan und umgerührt, ein Glück, daß sie ihn nicht auch noch an seiner Stelle austrinkt. Natürlich kann es sein, daß Jeromos auch an den Taxifahrer gedacht hat. Oder Rauder. Bis fünf wird wahr109
scheinlich ein ausführliches Geständnis von Edit Csausz vorliegen, nach Bori Balogs Aussage wird sie wohl nicht länger leugnen, das wäre sinnlos, erst recht, wenn Jeromos ihr mitteilt, daß Sommer tot ist. Unter solchen Umständen gestehen alle. Sie wird höchstens versuchen, ihre eigene Rolle in ein günstigeres Licht zu rücken. Aber das ist normal. Wie es auch normal ist, daß wir versuchen, das Geschehene so genau wie möglich, so wirklichkeitsgetreu wie möglich zu rekonstruieren. Dem Staatsanwalt gutes, zuverlässiges Material in die Hand zu geben. Beweise. Der Rest ist Sache des Gerichts, des anderen Organs der Rechtspflege. Um fünf gehe ich nach Hause, um sieben komme ich zurück, wir schließen den Fall Hunyor ab, dann konzentrieren wir alle Kräfte darauf, den Mord an Sommer zu klären. Morgen früh wird die nächste Seite aufgeschlagen. Er schließt sich in sein Zimmer ein und arbeitet bis vier Uhr. Seit dem vergangenen Sonnabend haben sich eine Menge Rückstände angesammelt. Er steht auf und rekelt sich, schnieft ein paarmal, in Ordnung, die Nase ist frei, sein Kopf klar. Es klopft. Er läßt Jeromos herein. „Sie gesteht nicht. Sie will und will nicht zugeben, daß sie das Atelier verlassen haben, daß sie mit Sommer zu der Anglerhütte gefahren ist.“ „Hast du ihr gesagt, daß Sommer tot ist?“ „Ja. Damit habe ich angefangen. Sie wollte es nicht glauben. Ich ließ ihr Sommers Kleidung bringen. Zerknautscht und mit Wasserflecken, den Wintermantel, seine Hose, sein Sakko. ‚Erkennen Sie das wieder?‘ fragte ich. ‚Ja‘, sagte sie, ‚aber das beweist noch nicht, daß Frédi nicht mehr lebt.‘ Ich kam in Rage, nahm sie mit hinunter, setzte sie in einen Wagen und fuhr mit ihr zum Anatomischen Institut. Dort zeigte ich ihr seine Leiche. Sie stand da und sah ihn an. Weinte nicht, sprach kein Wort. ‚Glauben Sie mir jetzt?‘ fragte ich sie. ‚Ja‘, antwor110
tete sie. Auf dem Rückweg zum Wagen redete ich auf sie ein: ‚Sie sehen doch, es hat keinen Sinn, daß Sie sich so stur stellen. Wir wissen, daß sich Sommer Mittwoch nacht Bori Balogs Auto geborgt hat. Mit diesem sind Sie und er zu der Anglerhütte gefahren.‘ Darauf schwieg sie eine Weile. ‚Hat das Bori Balog gesagt?‘ fragte sie dann. ‚Ja‘, sagte ich. Sie schwieg wieder. ‚Dann lügt sie‘, meinte sie schließlich, ‚oder sie irrt sich.‘ Als wir zurückkamen, zog sie ihren Mantel aus, setzte sich auf den Stuhl, saß nur da, dann fing sie zu weinen an. Eine Weile weinte sie still vor sich hin. Inzwischen lag schon der Bericht über die Untersuchung des Wagens aus dem Labor auf meinem Tisch, am Wagenheber im Kofferraum von Bori Balogs Fiat hatte man verdächtige Flecke bemerkt, die Laboruntersuchung klärte sehr schnell, worum es sich handelte, Blutflecke und Hirnteilchen, das Blut stimmt mit dem Hunyors überein.“ „Wie hat es Sommer innerhalb von zwanzig Minuten aus der Gabonastraße zur Straße der Märtyrer geschafft, zu Bori Balogs Wohnung?“ „Diese Frage hat heute früh schon Genosse Szipek aufgeworfen, nach der Besprechung hat er sich mit Jaszter auf den Weg gemacht. Keiner der Taxifahrer, die Mittwoch nacht Dienst hatten, hat einen Fahrgast aus der Mesterstraße oder der Nähe zur Straße der Märtyrer oder in deren Nähe gefahren. Einer hat eine ältere Dame aus der Közraktárstraße zu dem Haus in der Straße der Märtyrer gebracht, in dem sich das Restaurant Europa befindet. Sie zeigten den Fahrern auch Sommers Foto. Sie haben ihn in der betreffenden Nacht nicht befördert. Nur mit einem Fahrer konnten wir nicht sprechen, der damals Dienst hatte, er ist krank geschrieben und wohnt draußen in Erzsébet. Dort waren sie noch nicht. Heute abend wollen sie es nachholen. Aber es ist wenig wahrscheinlich, daß gerade er es ist.“ „Sie leugnet also.“ 111
„Sie leugnet. Beziehungsweise sie leugnet nicht. Sie bleibt bei ihrer bisherigen Aussage.“ „Hast du sie gefragt, ob es möglich ist, daß sie mit Sommer in das Atelier gefahren, daß sie eingeschlafen und Sommer weggegangen und zurückgekommen ist, ohne daß sie es bemerkte?“ „Danach habe ich sie gefragt. Sommer blieb die ganze Nacht bei ihr, sie waren wach und sind erst gegen Morgen, etwa um halb fünf, eingeschlafen. Das hat sie auch bei den ersten Vernehmungen angegeben. Sie hörten Radio. Ich fragte, was sie gehört hätten. Eine Weile Radio Luxemburg, dann irgendeinen deutschen Sender, der die ganze Nacht über Musik bringt. Ich fragte, an welche Schlager sie sich erinnern könnte. Zwei sagte sie sofort, das ‚Gelbe Unterseeboot‘ mit den Beatles und ‚Dilajla‘ mit Tom Jones. Daran könne sie sich erinnern, denn diese beiden Lieder möge sie sehr.“ „Hat Bori Balog ein Radio in ihrem Wagen?“ „Ja. Du hast es bei Sommer gesehen, ein ziemlich großes Transistorgerät, irgendeine westliche Marke. Edit Csausz hat zu Hause gleichfalls ein Transistorgerät, ein ungarisches.“ „Im Atelier steht auch ein Tonbandgerät. Warum haben sie keine Bänder gehört?“ „Ich habe sie gefragt. Sie sagte, das Tonbandgerät sei defekt. Es ist wirklich defekt. Ich zeigte ihr Sommers gültigen Reisepaß und das österreichische Visum darin. Ich sagte ihr, daß wir Beweise dafür haben, daß Sommer im Ausland bleiben wollte. Nichts. Sie zuckte nur mit den Schultern. Ich sagte ihr, daß wir bei der Großmutter das Sparbuch über dreißigtausend Forint gefunden haben und Sommer das Geld am Freitag auf der Sparkasse eingezahlt hat. Davon will sie nichts gewußt haben. Sie wisse nur, was sie schon gesagt hat. Ich habe sie auch nach dem Tabakstaub gefragt.“ „Nach welchem Tabakstaub? Davon weiß ich nichts.“ 112
„Du erinnerst dich vielleicht, daß sie bei der zweiten Vernehmung aussagte, sie hätte an jenem Tag einen ölgrünen Wintermantel, hohe, grüne Wildlederstiefel und eine Pelzmütze getragen. Das Labor hat in der Tasche des Wintermantels, zwischen den Nähten, eine geringe Menge Tabakstaub nachgewiesen. Brösel von der Zigarettensorte Kossuth. Hunyor hat Kossuth geraucht, Edit Csausz raucht Symphonia. Ich fragte sie, wie der Kossuth-Staub in ihre Tasche gekommen wäre. Sie antwortete, sie hätte keine Ahnung. Später dann, ohne daß ich sie fragte, erzählte sie, zwischen Weihnachten und Neujahr habe Hunyor sie an einem Abend nach Hause begleitet, sie hätte keine Zigaretten bei sich gehabt, da habe ihr Hunyor seine angefangene Packung Kossuth gegeben, und sie habe sie eingesteckt. Daher stamme wahrscheinlich der Tabakstaub.“ „Das ist eine wesentliche Frage. Hat Sommer geraucht?“ „Nein.“ „In der Anglerhütte wurden keine Zigaretten gefunden, nur an Hunyors Bademantel ein wenig Zigarettenasche, die Aschenbecher waren sauber, und wenn ich mich richtig erinnere, fand sich auch im Abfall keine weggeworfene Zigarettenschachtel.“ „So ist es.“ „Habt ihr die grünen Wildlederstiefel untersucht? Wo sind sie?“ „Beim Schuster. Sie hat sie zum Besohlen gebracht. Wir waren bei dem Schuster, leider hat er sie schon besohlt. Die alten Sohlen waren so durchlöchert, daß er sie weggeworfen hat.“ „Was ein Krimiautor daraus alles machen könnte!“ Kelemen lacht laut auf. „Er braucht nur das Wetter in der betreffenden Nacht zu ändern, und schon hat der Meisterdetektiv exakt identifizierbare Fußspuren. Die Spuren von Frauenstiefeln mit Löchern in den Sohlen! 113
Weißt du, was für ein Schatz das ist? Wir haben leider keine andere Wahl, als mit der Realität zu arbeiten. Boden und Witterungsverhältnisse waren so, daß es keine Fußspuren gibt, die Stiefel sind besohlt worden, und die löchrigen Sohlen, zwischen deren Schichten sicherlich ein paar kleine Bodenproben zu entdecken gewesen wären, liegen irgendwo auf einer Müllkippe. Ich nehme an, du hast dich auch nach dem Mittwochnachmittag erkundigt?“ „]a. Sie bleibt dabei, daß Hunyor zwischen fünf und halb sechs bei ihnen im Geschäft einkaufen war. Ihr habe er nichts davon erzählt, daß er Geld abgehoben hatte, er habe auch nicht gesagt, wieviel Geld er bei sich gehabt hätte, er habe eingekauft und ein paar Worte mit ihr gewechselt, sie habe ihm versprochen, nach Ladenschluß zu ihm hinauszufahren, dann sei Hunyor gegangen. Sie habe hinter dem Ladentisch gestanden und ihn nicht einmal zur Kasse begleiten können, wo sie eventuell hätte sehen können, wieviel Geld er bei sich hatte. Der Laden ist ein Selbstbedienungsgeschäft, mit Körben, das Eingekaufte konnte er also erst hinter der Kasse in seine Tasche packen. In dieser Tasche befand sich vermutlich auch das Geld.“ „Teufel noch eins!“ brummte Kelemen verärgert. „Und ich dachte, es wäre ein glatter Mord!“ „Das ist es nicht. Wir haben keinerlei direkte Beweise, wir konnten nicht einmal am Wagenheber Fingerspuren nachweisen, der Mörder hat den Heber wahrscheinlich mit Handschuhen angefaßt und dabei noch die meisten Fingerspuren, die vorher daran waren, verschmiert. Bori Balogs Aussage, daß Sommer sich in der Mittwochnacht ihren Wagen geliehen hat, bezieht sich auf einen Toten. Auch das Sparbuch über dreißigtausend Forint ist nur ein indirektes Beweisstück, ein Wahrscheinlichkeitsbeweis. Nirgends gibt es einen Zeugen, der die beiden irgendwo zwischen der Gabonastraße und der Anglerhütte 114
oder dem Geschäft und der Anglerhütte gesehen hätte. Wenn Edit Csausz nur ein einziges falsches Wort spräche, wenn sie nur einmal in Verlegenheit geriete, wenn nur ein Widerspruch in ihren Aussagen bestünde, würde das genügen, daß diese indirekten Beweise zu direkten würden. Aber es gibt kein falsches Wort, und es gibt keinen Widerspruch. Im übrigen ist das Mädchen viel intelligenter, als wir anfangs angenommen haben.“ „Das bemerke ich. Du, Tibi …“ „Ja, Béla?“ „Hältst du es für möglich, daß wir eine falsche Spur verfolgen? Daß unsere Hypothese nicht stimmt? Zum Beispiel, daß diese Bori Balog … Zur Anglerhütte hatte auch sie einen Schlüssel. Und wenn in der fraglichen Nacht sie mit jemandem dort war? Vielleicht mit Sommer?“ „Das ist unwahrscheinlich, aber wir können uns darum kümmern. Es bedeutet neue Momente und Tatumstände, eine neue Einstellung zu allem. Mag sein, daß du recht hast. Ich bin so schrecklich müde.“ „Ich weiß. Du hast kaum geschlafen. Hast du wenigstens zu Mittag gegessen?“ „Zwei belegte Brote. Aber ich werde gleich essen gehen.“ „Tu das. Bori Balog allerdings konnte nicht wissen und wußte nicht, daß Sommer tot ist. Wenn sie es wußte und uns hier nur vorgespielt hat, daß sie es nicht weiß, und wenn sie erst Dienstag früh zum letzten Mal mit ihm telefoniert hat, dann muß sie auch etwas über Sommers Ermordung wissen. Wenn nicht stimmt, was sie uns erzählt hat, dann mußte sie bereits einkalkulieren, daß Sommer nicht mehr das Gegenteil behaupten kann.“ „Stimmt.“ „Das bedeutet also … Ach, lassen wir’s. Geh nach Hause und leg dich schlafen. Iß zu Abend. Ruh dich aus. 115
Es ist schlimm, daß ich dir im Handumdrehen eine akzeptable Theorie aufbauen kann, daß nicht Edit Csausz, sondern Bori Balog Mittäterin beim Mord an Hunyor war. Was das betrifft, haben wir absolut nichts erreicht. Ich gehe auch nach Hause. Ich komme dann wieder her. Diese Unmenge Rückstände.“ „Gut, Béla.“ „Servus, Tibi. Morgen machen wir weiter.“ „Servus, Béla. Ich werde Jaszter noch sagen, sie sollen zu dem letzten Taxifahrer nach Erzsébet fahren, und vielleicht können sie auch überprüfen, was Bori Balog in der Nacht vom Mittwoch zum Donnerstag gemacht hat.“ „In Ordnung.“
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10 Die gewisse Stecknadel im Heuhaufen, die zu finden so gut wie unmöglich ist. Was natürlich nicht stimmt. Nur der Zufall macht sich lustig über einen. Der Taxifahrer aus Pest-Erzsébet – der einzige, der allerletzte unter den Taxifahrern, der noch nicht befragt worden ist – erkennt auf dem ihm gezeigten Foto Sommer wieder. Ja, er habe ihn von der Mesterstraße, Ecke Ring zur Straße der Märtyrer gefahren. Das sei so gegen elf, Viertel zwölf gewesen, anschließend habe er sofort eine neue Fuhre bekommen, ein Pärchen, das in die Nagymezőstraße wollte, zum Nachtlokal Budapest. Kelemen sitzt am nächsten Morgen hinter seinem Tisch und sieht die Berichte durch. Auch er ist am Abend nicht mehr zurückgekommen, er hat sich zu Hause auf eine halbe Stunde hingelegt, dann ist er eine Stunde vor Mitternacht aufgewacht. Manci, die fürsorgliche Gattin, hat ihn nicht geweckt. „Du bist noch krank, Béla“, sagte sie. Kelemen hat gewütet. Aber egal, so ist er jetzt wenigstens ausgeschlafen. Hier ist etwas faul. Entweder Edit Csausz lügt oder Bori Balog. Denn jetzt hat er nun mal den Floh im Ohr. Und wenn es doch Bori Balog war, die mit Sommer im Fiat zur Anglerhütte fuhr? Denn noch liegt kein Bericht vor, wo Bori Balog die Mittwochnacht zugebracht hat. Noch ist alles offen. Wir arbeiten wie die Kümmeltürken. Vielleicht fehlt dieser Edit Csausz nur eins: zwei wohlgezielte Ohrfeigen, damit sie gesteht, damit sie redet wie ein Wasserfall. Das geht leider nicht. Die Gesetze verbieten es. Es kann schon vorkommen, daß jemand die Beherrschung 117
verliert, aber das ist selten. Béla Kelemen ist so etwas nicht bekannt geworden. Der Staatsanwalt hat es leicht. Er bekommt fertiges Material vorgelegt, aber dieses Material muß hier erstellt werden. Mit genauen Beweisen. Mit handfesten, konkreten Beweisen. Die müssen hier erbracht werden, und wenn wir sie aus der Erde stampfen müssen. Aber Beweise lassen sich kaum aus der Erde stampfen. Das ist schwer. In den meisten Fällen geradezu unmöglich. Im allgemeinen befinden sich die Beweise über der Erde. Falls es sich nicht um vergrabenes Geld oder vergrabene Wertgegenstände handelt. Denn das kommt auch vor. Na schön. Was gibt es sonst noch? Die Meldungen der Bezirksinspektionen vom Vortag, der zusammenfassende Bericht der zentralen Inspektion. Eine Serie von Taschendiebstählen auf der Straßenbahnlinie sechs und danach auch noch im Warenhaus Corvin, sechs Personen wurden ihre Geldbörsen los, das spräche für die Dame Csabai, wenn sie nicht gerade säße, vielleicht war es der Gulifa, unwichtig, wir schnappen ihn, ein Einbruchsdiebstahl in der Attila-József-Wohnsiedlung, eine taubstumme Betrunkene wurde aus Eifersucht auf offener Straße mit einem Beil erschlagen, ein Betrunkener in der Nähe des Népstadions ausgeraubt und der Täter sofort gefaßt, zwei Schlägereien gab es, eine in der Böszörményer Straße, die andere in der Hársfastraße, im ersten Fall außerdem eine Messerstecherei, eine Person wurde mit lebensgefährlichen Verletzungen in das nächstgelegene Hospital gebracht. Artúr Goldberg … Der Name kommt mir irgendwie bekannt vor … Kelemen muß lachen. So hat ein UNO-Delegierter der Vereinigten Staaten geheißen, Artur Goldberg, stand in den Zeitungen. Wollen mal sehen, was dieser Goldberg wieder angestellt hat. Nichts hat er angestellt. Anzeige hat er erstattet. Gestern um achtzehn Uhr meldete er der zentralen Inspektion, er habe aus dem Fenster seines 118
Zimmers mittels eines Theaterglases einen Autodiebstahl beobachtet … Kelemen blättert weiter, um zwanzig Uhr dreißig erneut dieser Goldberg, er wurde geholt, die Person des gefaßten Autodiebes zu identifizieren, bei dem es sich um einen gewissen Antal Schmidt handelt. Antal Schmidt. Auch dieser Name ist ihm bekannt. Ja, jetzt erinnert er sich, er war vor zwei Jahren Drittangeklagter in der Sache der Bande vom Mátyásplatz, als so eine Art korrespondierendes Mitglied, jetzt fällt es ihm ein, er hat ihn am Morgen mit Handschellen neben einem Polizisten auf der Bank vor dem Verhandlungssaal sitzen sehen; als er kam, hat er mich sogar gegrüßt, und ich habe zurückgegrüßt. Ein Kintoppkrimi. Jawoll. Ein Hitchcock. Goldberg ist Junggeselle, sechsundfünfzig Jahre alt, leitender Techniker einer Genossenschaft, die elektronische Geräte herstellt, er hat ein Verhältnis mit einer Untergebenen, einer jungen, verheirateten Frau, sie erwartete er um halb sechs in seiner Wohnung. Die Wohnung liegt in der Vörösmarty-, Ecke Szófiastraße, aus dem Fenster überschaut er den ganzen Hunyadiplatz, die junge Frau verspätet sich, gewöhnlich kommt sie von der Straße der Volksrepublik her quer über den Platz, Goldberg hielt mit dem Theaterglas Ausschau nach ihr, das tut er immer, und sobald er sie erblickt, schaltet er die Kaffeemaschine ein; wenn sie in die Wohnung tritt, tropft der Kaffee bereits heraus. Goldberg ist nervös, weil sie sich verspätet. Zehn Minuten vor sechs will ein schwarzer Mercedes 220 Diesel aus der Szófiastraße einbiegen, kann aber nicht, weil dieser Abschnitt zur Zeit wegen Kanalisationsarbeiten gesperrt ist, er wendet und parkt an der Ecke Hunyadiplatz, ein großgewachsener Mann mit einem Eden-Hut steigt aus und geht zu Fuß in die Szófiastraße. Drei oder vier Minuten später bleibt ein junger Mann neben dem Wagen stehen, er ist 119
eher klein als groß, barhäuptig und trägt einen grauen Mantel mit Pelzkragen, bei ihm ist ein Mädchen in rotem Mantel. Sie verabschieden sich, der junge Mann zieht ein Schlüsselbund hervor, beim dritten Versuch kann er das Türschloß des Mercedes öffnen, er setzt sich hinein, wendet und fährt in Richtung Straße der Volksrepublik davon. Goldberg kann mit seinem Theaterglas noch beobachten, daß er zur György-Dózsa-Straße abbiegt, dann ruft er die Polizei an. Oberleutnant Szombolya leitet sofort die notwendigen Maßnahmen ein, die Funkwagen erhalten das Kennzeichen und eine Beschreibung des westdeutschen Wagens sowie die eingeschlagene Richtung, und um achtzehn Uhr fünfunddreißig, das ist phantastisch schnell, können drei Funkwagen den Mercedes in der Lumumbastraße, nahe der Thökölystraße, stellen und den jungen Mann, einen gewissen Antal Schmidt, festnehmen. Muffel. Muffel. Auch daran erinnert sich Kelemen jetzt. Diesen Spitznamen hatte Antal Schmidt in der Bande. Ja, und den einen nannten sie Estegebeh, einen anderen Kaktus. Das Telefon läutet. Er nimmt den Hörer ab. „Ja, ich bin’s.“ Bakócz ruft an. Kelemen hört aufmerksam zu, schließlich sagt er: „Schönen Dank, Lexi. Ich rufe Somfai an, wir kommen gleich und bringen es mit.“ Er geht zu Somfai ins andere Zimmer, Somfai nimmt ein kleines, mit Papier umwickeltes, verschnürtes, nummeriertes Päckchen aus dem Schrank, schon gehen sie, unterwegs erzählt Kelemen, worum es sich handelt, was ihm Bakócz berichtet hat, er öffnet die Tür, im sechsten Zimmer sitzt Bakócz am Tisch, vor ihm, auf der Tischplatte, eine Menge Gegenstände ausgebreitet, sie wurden bei der Leibesvisitation sichergestellt. Somfai beugt sich über den Tisch, betrachtet etwas 120
sehr aufmerksam, richtet sich wieder auf. Blickt Kelemen an, dann Bakócz, nickt zweimal. Er reicht Bakócz das Päckchen, der öffnet es und steckt es in seine Schublade. „Bleibt ihr hier?“ fragt Bakócz. „Wir gehen in Nátráns Zimmer und schalten uns den Lautsprecher ein.“ Sie begeben sich durch ein leeres Bürozimmer in ein drittes Zimmer. Dort setzen sie sich. Kelemen schaltet den Lautsprecher ein. Vorläufig ist noch alles still. Kelemen schaltet ihn wieder aus. „Ein ungeheurer Massel“, meint Somfai, während er die Ellbogen auf den Tisch stützt. „Was meinst du?“ „Na, das.“ Er nickt mit dem Kopf zu Bakócz’ Zimmer hin. „Hast du die Liste aufgestellt?“ „Ja.“ „Und Bakócz hat sie auch bekommen?“ „Demnach ja.“ „Dann ist das kein ungeheurer Massel, sondern fachliches Können. Bakócz ist ein erfahrener Spezialist.“ „Aber daß es so schnell …“ „Mal geht eine Sache schneller ihrem Ende zu, mal langsamer. Manchmal braucht es Jahre. Aber das fachliche Können trägt auch dann Früchte.“ Kelemen schaltet den Lautsprecher wieder ein. Sie hören Bakócz sprechen. „Dieses Taschenmesser?“ „Das interessiert Sie, Herr Hauptmann? Ein ganz gewöhnliches Taschenmesser. Ich hab’s dem Janko abgewonnen, also dem János Kovács, beim ‚Siebzehn und vier‘, voriges Jahr im Sommer auf dem Platz der Republik. Er hat es für einen Zehner gesetzt.“ „Deine Uhr?“ „Regulär gekauft. Ich habe eine Rechnung darüber.“ 121
„Die Manschettenknöpfe? Gold?“ „Ach wo, Herr Hauptmann. Die habe ich im Ramschladen gekauft, für sechzig Forint.“ „Was gibt es noch? Der Gürtel, die Krawatte … Das ist eine ausländische Krawatte, Muffel. Stammt das auch aus irgendeinem Wagen? Du kannst es mir sagen, jetzt spielt es sowieso keine Rolle mehr.“ „Geschenk von einer Dame. Hab’ ich zu meinem Namenstag bekommen. Ich kann es beweisen.“ „Gut. Ich glaube dir. Dieses Taschentuch. Es gehört dir, wie ich sehe, denn da steht dein Monogramm: A. S.“ „Es ist meins.“ „Die Geldbörse? Sieht hübsch aus. Wo ist sie her? Das ist auch keine ungarische Ware.“ „Auch ein Geschenk, Herr Hauptmann. Aber von einer anderen Dame.“ „Das ist übrigens nur eine Formalität, Muffel.“ „Ja, Herr Hauptmann. Ich verstehe.“ „Demnach ist das auch dein Taschentuch, Muffel. Das gleiche wie das hier auf dem Tisch. Mit deinem Monogramm: A. S. – Antal Schmidt.“ „Das … das verstehe ich nicht, Herr Hauptmann.“ „Und dieses. Das ist auch dein Taschentuch, Muffel. Das gleiche Material, weißer Schweizer Batist, die gleiche Musterung, gleiches Monogramm. Alle elf Stück. Das zwölfte hast du bei dir. Ein rundes Dutzend Taschentücher mit Monogramm.“ „Das sind nicht meine Taschentücher, Herr Hauptmann! Ehrenwort, die gehören nicht mir! Das ist reiner Zufall!“ „Natürlich, ein Zufall. Die übrigen elf, die fehlenden, liegen bei dir zu Hause im Schrank. Das sind deine. Du hast dir doch wenigstens ein halbes Dutzend machen lassen? Man läßt sich nicht ein Einzelstück mit Monogramm machen. Oder doch?“ „Ich habe nur dieses eine, Herr Hauptmann. Ich 122
schwöre, daß ich nur dieses eine habe. Die übrigen gehören nicht mir!“ „Natürlich gehören sie nicht dir. Kein einziges gehört dir. Auch dieses nicht, Muffel. Soll ich dir sagen, wem sie gehören? Oder sagst du es mir von selbst? Du hast es dir behalten, Muffel, wegen des passenden Monogramms.“ „Herr Hauptmann, ich … ich habe nichts …“ „Brenn dir eine Zigarette an, Muffel, und dann pack aus. Warum hast du Sommer getötet? Du siehst, wir wissen alles. Rette, was zu retten ist.“ „Ich schwöre Ihnen, Herr Hauptmann, ich war es nicht!“ „Muffel, das wäre ein Meineid. Warte einen Moment.“ In Bakócz’ Zimmer klingelt das Telefon. Er nimmt ab, spricht. „Ja. Ja. Gut. Danke. In Ordnung.“ Er legt auf und wendet sich wieder Muffel zu. „Also, es wäre ein Meineid, Muffel. Bei der Autopsie wurde in Sommers Leber Halothan nachgewiesen. In der linken Tasche deines Mantels haben wir mikroskopisch kleine Splitter einer zerbrochenen Ampulle gefunden. Ich habe es eben aus dem Labor erfahren. Meinst du nicht auch, daß zwischen beidem ein Zusammenhang besteht? Weißt du, Muffel, das Leugnen hat keinen Zweck. Gib zu, daß du ihn getötet hast.“ „Ich habe ihn nicht getötet! Ich habe ihn nicht getötet! Ich habe ihn nur betäubt. Ich dachte, von dem kalten Wasser würde er schon zu sich kommen. Ich schwöre Ihnen, ich habe ihn nicht umgebracht! Er hatte mich übers Ohr gehauen, der Halunke. Ich wollte mir nur das japanische Objektiv von ihm zurückbeschaffen …“ Kelemen knipst den Lautsprecher aus. Er steht langsam auf. Auch Somfai erhebt sich. Kelemen legt ihm die Hand auf die Schulter. „Vielleicht hast du recht. Vielleicht ist es wirklich … Wie hast du gleich gesagt? Ja, ungeheurer Massel. Aber 123
ohne Bakócz’ fachliches Können wäre dieser ungeheure Massel keinen Pfifferling wert. Mann, wenn die Freundin dieses Goldberg pünktlich zum Rendezvous erschienen wäre, dann hätten sie dagesessen und ihren Kaffee getrunken und … Antal Schmidt wäre möglicherweise erst nach Monaten aufgeflogen, vielleicht erst im Frühjahr oder im Sommer, er hätte das Taschentuch gerade in die Wäscherei gegeben haben können und den Mantel in die Pfandleihe … Verstehst du die Zusammenhänge, Somfai, mein Junge?“ „Nein, Genosse Kelemen. Wer ist dieser Goldberg?“ „Ach, das ist jetzt unwichtig. Ich werde es dir gelegentlich erklären.“ Sie gingen durch den Korridor in Kelemens Zimmer zurück. Inzwischen war Jeromos gekommen. „Hast du dich ausgeschlafen?“ fragte Kelemen. „Ich habe ein bißchen geschlafen. Manchmal reicht mir schon ein kleines bißchen Schlaf.“ „Übrigens, herzlichen Glückwunsch!“ „Wozu, Béla?“ „Zu deiner Nase. Zu den Taschentüchern.“ „Hat sich das zwölfte angefunden?“ „Ja. Mitsamt Sommers Mörder. Infolge eines Autodiebstahls. Er heißt Antal Schmidt. Er hat ihn wegen irgendeines japanischen Fotoobjektivs umgebracht. Wie bist du auf die Idee gekommen, diese elf Taschentücher von Sommer mitzubringen?“ „Vor zwei oder drei Jahren hast du einmal gesagt, wenn von einem Paar Schuhe oder Handschuhe der eine fehlt, wenn irgendwo nur fünf statt sechs Tennisbällen herumliegen, wenn es von irgend etwas nur neun Stück statt zehn, nur elf statt eines Dutzends gibt, dann soll ich das Fehlende suchen, denn das kann die Spur zum Täter sein. Das habe ich mir genau eingeprägt. In Sommers Wohnung fanden wir elf Taschentücher mit dem gleichen Monogramm, ich dachte mir, wahrscheinlich hat er 124
das zwölfte bei sich gehabt, als er getötet wurde, vielleicht brauchen wir die restlichen elf. Ich nahm sie mit und schrieb das zwölfte Taschentuch in die Liste der Gegenstände, die im Fall Sommer gesucht werden.“ Kelemen schwillt die Brust. Kelemen ist stolz. Im Zimmer stehen und sitzen die meisten vom Stab. Alle hören Jeromos’ Erklärung, beobachten seine stolze übertriebene Bescheidenheit. Kelemen kann sich nicht erinnern, das irgendwann gesagt zu haben, vielleicht war es ein plötzlicher Einfall. Ein warmes, wohliges Gefühl durchflutet ihn. Mein Schüler, dieser Tibi Jeromos. Ein intelligenter, kluger, guter Polizist. Mein Schüler. Wenn auch nur indirekt, so haben wir den Antal Schmidt doch dank meiner Ausbildung geschnappt. Den Muffel. Kelemen ist richtiggehend gerührt. Aber er zeigt es nicht und spielt den Erfolgsball wieder Jeromos zu. „Das war ausgezeichnete Polizeiarbeit, Genosse Jeromos. Das muß ich schon sagen.“ „Demnach war Sommer nur der Hehler Schmidts.“ „So irgendwie muß es gewesen sein. Aber er wird es uns schon noch erzählen. Er ist über ein Taschentuch mit Monogramm gestolpert.“ „Aber wer ist dieser Goldberg, Genosse Kelemen?“ Das war natürlich Somfai. Kelemen ist so ausgefüllt von seinem Glück, daß er schon zu einem Kurzvortrag darüber ansetzt, daß die Polizeiarbeit nichts wäre ohne die Hilfe der anständigen Staatsbürger, daß die Polizei ohne solche Goldbergs vom echten Leben isoliert wäre, aber plötzlich fällt ihm ein, daß dieser Goldberg ein Verhältnis mit einer verheirateten Frau hat, mit einer ihm unterstellten Kollegin, daß die Frau zu spät zum Rendezvous gekommen ist, daß demnach also auch sie gelobt werden müßte, denn wenn sie pünktlich zu Goldberg gegangen wäre, um ihren Mann zu betrügen … Nein, das geht nicht. So sagt er also einfach: „Dieser Goldberg hat zufällig 125
von seinem Fenster aus den Autodiebstahl beobachtet und uns telefonisch benachrichtigt. So haben wir Schmidt gefaßt. Aber das beeinträchtigt in keiner Weise Jeromos’ Verdienst in dieser Sache und ebensowenig die hervorragende Arbeit und die großartige fachliche Sicherheit des Genossen Bakócz.“ „Es war also ein Zufall, daß wir Sommers Mörder erwischt haben.“ Das war natürlich wieder Somfai. Diese jungen Männer haben kein Gespür dafür, daß man fachliches Können achten muß. Für ihn ist es nicht mehr als ein Zufall. Ungeheurer Massel. „Ohne Zweifel, Genosse Somfai. Auch der Zufall hat dabei eine Rolle gespielt. Aber in der logischen Kette der Ereignisse war der Zufall nur der Ausgangspunkt. Die übrigen Kettenglieder hat die gute polizeiliche Arbeit hinzugefügt. Wir haben einen Autodieb gefaßt, und es gelang uns, damit den Mörder Sommers zu finden. Aber wir wollen diese Frage jetzt abschließen. Wir haben noch viel zu tun.“ Um fünfzehn Uhr führten Gyuri Szipek und Jaszter den unter dem Beinamen Tschitschek bekannten Ferenc Fekete vor, um fünfzehn Uhr János Dolgovits, den Antal Schmidt nur Zecker genannt hatte. Der eine neunzehn Jahre alt, der andere dreiundzwanzig. Schon bei der ersten Vernehmung zeigte sich, daß Schmidt Gold wert war. Eine regelrechte Goldgrube. Schmidt, Fekete und Dolgovits hatten Sommer ab Dienstag der vorangegangenen Woche pausenlos beobachtet. Am siebenundzwanzigsten Januar, montags, hatte Schmidt am Nachmittag in einem Fotogeschäft in der Vácer Straße das japanische Objektiv im Schaufenster wiederentdeckt, das er zwei Monate vorher an Sommer verkauft hatte. Sommer hatte Schmidt für das Objektiv fünfhundert Forint gezahlt. Im Schaufenster wurde es 126
für zwölftausend Forint angeboten. Schmidt ging in das Geschäft, erkundigte sich und erfuhr, daß es sich um ein fabrikneues, ungebrauchtes Objektiv handelte, er bedankte sich für die Auskunft, verließ das Geschäft und rief aus der nächsten Telefonzelle Sommer an. Sommer war jedoch nicht zu Hause. Die Geschäftsbeziehungen zwischen Sommer und Schmidt reichten in das Frühjahr des vorangegangenen Jahres zurück. Schmidt amüsierte sich eines Abends mit einem Mädchen in der Olympia-Bar, als Sommer zu ihnen trat, sich lächelnd bei Schmidt entschuldigte, seinen Namen nannte und dann Schmidts Begleiterin, die er von früher kannte, mitteilte, er benötige sie in der nächsten Woche für eine Aufnahmeserie, mit der ihn eine auswärtige Konfektionsgenossenschaft beauftragt habe. Er gab ihr seine Telefonnummer, grüßte und ging. Schmidt fragte das Mädchen nach Sommer aus, am nächsten Tag rief er ihn an, dann suchte er ihn in seinem Atelier auf und sagte, er habe ein paar Fotoapparate und Belichtungsmesser zu verkaufen, beste ausländische Ware. Er wolle sie ihm preisgünstig überlassen. Sommer sagte nicht nein und antwortete, zuerst wolle er sie sehen. Sie verabredeten sich für den nächsten Tag. Schmidt brachte die Geräte zu Sommer, der sie Stück für Stück untersuchte und sagte, es handle sich ausnahmslos um gestohlene Dinge, er als Fotograf und Fotoreporter erhalte von der Polizei laufend die Nummern der entwendeten Fotoapparate und Zubehöre, das sei jedoch kein Hindernis. Er wählte sich drei der sieben Geräte aus und zahlte tausendsechshundert Forint für sie. Das war das Doppelte der Summe, die jemand anders Schmidt bereits zugesagt hatte. Er ließ zwei Objektive und einen Belichtungsmesser bei Sommer zurück. Sommer zahlte bar, das sind unverkäufliche Stücke, sagte er, egal, wo du sie anbietest, du gehst sofort hoch. Für 127
mich sind sie zum Eigengebrauch gut. Mehr kann ich nicht geben, wenn du wieder mal was hast, ruf an, wir reden darüber. Schmidt prüfte hinterher den Preis, Sommer hatte etwas weniger als ein Viertel gezahlt. Im großen ganzen war das in Ordnung. Sommer kaufte ihm noch zwei- oder dreimal verschiedene Kameras und Zubehörteile ab, es gab nie Meinungsverschiedenheiten zwischen ihnen, bis Schmidt im Schaufenster den Preis des japanischen Objektivs sah. Dafür hätte er seiner Meinung nach von Sommer mindestens drei-, viertausend Forint bekommen müssen, aber er hatte nur fünfhundert erhalten, er fühlte sich betrogen, deshalb rief er Sommer Montag nachmittag an, erreichte ihn aber nicht. Das glückte ihm erst am nächsten Morgen, am achtundzwanzigsten Januar. Er sagte Sommer, er wolle mit ihm sprechen. Sommer antwortete, er sei gerade dabei wegzugehen, diese Woche habe er auch gar keine Zeit, Schmidt solle Mitte nächster Woche wieder anrufen. Schmidt, der aus einer nahe gelegenen Zelle telefoniert hatte, hastete zur Gabonastraße. Dort trat wirklich Sommer aus dem Haus. Schmidt wollte schon zu ihm gehen, doch Sommer stieg eilig in ein Taxi, das vor dem Haus wartete, und fuhr weg. Schmidt sah noch, wie Sommer ihm aus dem Taxi lachend zuwinkte. Das brachte Schmidt so in Wut, daß er beschloß, entweder Sommer das ihm zustehende Geld abzuknöpfen oder sich das japanische Objektiv zurückzubeschaffen. Bis zum Mittag blieb er vor dem Haus in der Gabonastraße stehen, da kam Sommer zurück, aber er war nicht allein, er war in Begleitung einer Frau, beide gingen in das Atelier. Schmidt begann zu ahnen, daß er kein leichtes Spiel haben würde. Abends fuhr er nach Rákosliget, dort hatte er einen Freund, der gerade drei Monate absaß; dieser Freund besaß einen ungenutzten Trabant, Schmidt öffnete ihn, 128
fuhr zu Ferenc Fekete, dann zu Dolgovits. Schmidt erklärte den beiden, was Sache war. Am Mittwochmorgen, dem Neunundzwanzigsten, zeigte er ihnen von weitem Sommer, und sie verabredeten, daß Fekete und Dolgovits, abwechselnd oder gemeinsam, Sommer Tag und Nacht nicht mehr aus den Augen lassen und ihn, Schmidt, sofort informieren sollten, wenn Sommer allein ins Atelier ginge. Dolgovits sagte aus, Sommer sei den ganzen Tag durch die Stadt gestiefelt, am Nachmittag habe er sich ziemlich lange in einem Haus in der Aurorastraße aufgehalten, ein paar Minuten vor zehn Uhr abends habe er es verlassen und sei auf den Ring gegangen, dann habe er bis kurz vor halb elf vor einer Haustür gewartet, ein paar Leute seien herausgekommen, Sommer sei mit einer jungen Frau aus dieser Gruppe zur Bushaltestelle gegangen und sie hätten einen Zwölfer in Richtung Borárosplatz bestiegen; eine Haltestelle nach der Üllőer Straße seien sie ausgestiegen und durch die Mesterstraße zur Gabonastraße gegangen. Hier konnte ihnen Dolgovits wegen des Einbahnverkehrs nicht unmittelbar folgen; als er in die Gabonastraße fuhr, sah er sie nicht mehr, aber wenig später wurde das Fenster des Ateliers hell, und jemand, vermutlich Sommer, zog die Vorhänge zu. Dolgovits stellte den Trabant in der Gabonastraße ab und begab sich in das Restaurant „Zur Lilie“, wo er mit Schmidt und Fekete verabredet war; sie waren wirklich dort, mit zwei Mädchen. Dolgovits ging mit Schmidt zur Toilette, dort berichtete er ihm, Schmidt schickte dann Fekete los, er solle sich in den Trabant setzen und das Haus beobachten. Wenn die beiden ausgingen, solle er ihnen folgen. Er dürfe Sommer nicht aus den Augen verlieren und solle ihn, Schmidt, sofort informieren, wenn Sommer allein zurückkomme. Dolgovits gab Fekete den Trabantschlüssel, und Fekete ging. Sommer verließ das Haus um Viertel zwölf, er war al129
lein, an der Ecke Mesterstraße, Ring nahm er ein Taxi und fuhr zur Straße der Märtyrer; er schickte das Taxi weg, klingelte und trat in das Haus. Fekete konnte in einiger Entfernung parken, er hatte gerade den Motor abgeschaltet, als Sommer zurückkam und in einen kleinen Fiat stieg, der vor dem Haus parkte; mit dem Wagen fuhr er nach Pest zurück, Fekete hätte ihn um ein Haar aus den Augen verloren, denn er hatte nicht damit gerechnet, daß Sommer einen Privatwagen benutzen würde. Auf dem Ring, in der Nähe der Majakowskistraße, hielt Sommer an, ging in eine Telefonzelle, telefonierte, kam zurück und fuhr weiter; er fuhr an Fekete vorbei, Fekete folgte ihm. Als Fekete in die Gabonastraße einbog, sah er Sommer bereits über die Straße gehen. Er hielt rasch an. Sommer öffnete die Haustür, eine Frau trat heraus, Sommer schloß ab, beide stiegen in den Fiat und fuhren los. „Haben Sie die Frau auch aus der Nähe gesehen? Würden Sie sie wiedererkennen?“ fragt Jeromos. „Bestimmt nicht. Es war dunkle Nacht, zwischen uns lagen mindestens fünfzig Meter, bei Straßenbeleuchtung. Ich habe gesehen, daß es eine Frau war.“ „Aber wie die Frau bekleidet war, haben Sie doch wohl gesehen.“ „Sie hatte einen Mantel an. Und eine Mütze auf dem Kopf.“ „Und was an den Beinen? Was für Schuhe?“ „Keine Schuhe. Sie hatte Stiefel an.“ „Einen Moment“, sagt Jeromos. Mit flinker Hand zeichnet er drei Gestalten auf ein Blatt Papier. „Welcher Figur ähnelte die Frau am ehesten?“ „Dieser.“ Fekete zeigt auf die mittlere Gestalt, die einen taillierten, unten breiter werdenden Mantel, hohe Stiefel und auf dem Kopf eine Pelzmütze trägt. „Sind Sie sicher?“ fragt Jeromos. 130
„Klar bin ich sicher! Am Morgen habe ich sie noch mal gesehen, als die beiden zurückkamen.“ „Wann war das?“ „Kurz nach vier Uhr. Ich konnte ihnen nur bis Csepel folgen, weil der Trabant streikte. Das Benzin war alle. Das heißt, alle war es nicht, aber ich fand den Benzinhahn nicht gleich, und bis ich spitzgekriegt hatte, wie man auf Reserve schaltet, waren die beiden längst über alle Berge. Ich überlegte, wenn ich noch sechzig, siebzig Kilometer fahre, ist der Tank endgültig leer, und woher nachts Benzin besorgen? Und falls ich welches bekomme – während ich tanke, geht wieder Zeit verloren. Also gar nicht erst hinterherfahren. Ich machte kehrt, fuhr in die Gabonastraße und beguckte mich von innen. Kurz nach vier kam der kleine Fiat angebrummt, die beiden stiegen aus und gingen hinauf. Ich fuhr zu Antal Schmidt und sagte ihm, was Sache ist; er sagte, fahr zurück, um acht löst dich Dolgovits ab, aus dem Ding zwinkern mindestens drei Tausender ’raus, mach man, du wirst es nicht bereuen.“ Jeromos winkt Gólig, der geht zur Tür und ruft den diensthabenden Polizisten herein. „Bringen Sie den Verdächtigen bitte ins Nebenzimmer und bleiben Sie mit ihm dort, bis ich Bescheid sage.“ Kurze Absprache, Szipek und Somfai nehmen ihre Mäntel und gehen. Drei Viertelstunden später klingelt auf Jeromos’ Schreibtisch das Telefon. „Ja, ich“, spricht Jeromos in den Hörer. „In Ordnung. Bringt sie herauf, sie soll sich am Ende des Korridors hinstellen, unter der Lampe. Niemand soll neben ihr stehen. Sorgt dafür, daß der Korridor leer ist. Gut.“ Er legt auf und ruft in das Nachbarzimmer: „Kommen Sie bitte, Fekete. Sie gehen jetzt durch diese Tür in den Korridor und blicken nach links. Am Ende des Korridors 131
wird jemand stehen. Betrachten Sie die Person gründlich, ob sie Ihnen bekannt vorkommt, ob Sie sie bereits irgendwo einmal gesehen haben, und wenn Sie meinen, daß Sie sie gesehen haben, versuchen Sie sich zu erinnern, wo und unter welchen Umständen. Haben Sie alles verstanden?“ „Ja, ich verstehe. Und wenn ich die Person noch nicht gesehen habe? Wenn ich sie nicht kenne?“ „Dann kennen Sie sie halt nicht.“ Jeromos zählt bis vierzig, dann öffnet er die Tür. „Gehen Sie jetzt bitte hinaus.“ Fekete geht hinaus, blickt nach links, zum Ende des Korridors, macht auch schon kehrt, schaut in das Zimmer und sagt zu Jeromos: „Das ist die aus der Gabonastraße. Nur hatte sie dort die Mütze nicht so schief auf, sondern gerade. So …“ Er hebt beide Hände mit gespreizten Fingern über den Kopf. „Danke, es ist gut. Kommen Sie herein.“ Jeromos schließt die Tür hinter Fekete. Fekete steht da und hat ein dümmliches Lächeln auf dem Gesicht, als warte er darauf, jetzt gleich gelobt zu werden. Aber Jeromos wendet sich Kelemen zu, der an dem anderen Schreibtisch sitzt und bisher kein Wort gesagt hat. „Bearbeiten wir den Fall Sommer weiter, Genosse Kelemen, oder schließen wir vorher den Fall Hunyor ab?“ „Ich glaube, wir sollten vorher den Fall Hunyor abschließen“, antwortet Kelemen leise. „Er war zeitlich der erste. Halten wir die Reihenfolge ein.“ „Führen Sie Fekete ab, und bringen Sie Edit Csausz herein“, sagt Jeromos zu dem diensthabenden Polizisten, der neben Fekete steht.
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11 Ein trauriger Triumph – oder wie soll man das nennen? Kelemen hat schon oft versucht, sich über die Stimmung dieser fast feierlichen Minuten klarzuwerden, über die Stimmung des Endspiels, wenn sich der Jagdinstinkt legt, wenn sich mit runden Bewegungen wie von selbst die Details zueinanderfügen, die bisher nirgendwie zusammenpassen wollten, wenn Verhaltensweisen aufleuchten, nur für einen Augenblick, und gleich wieder alltäglich grau und gewöhnlich werden, wenn für den Bruchteil von Sekunden selbst der bestialische Mörder zu einem bedauernswerten Menschen wird, wenn sich die Spreu zwar schon vom Weizen gesondert hat, aber das Recht des Stärkeren vorerst nicht mehr ist als ein Naturgesetz und erst später, bei der Gerichtsverhandlung, zu Moral und Rechtsprechung, zu formulierter Rechtsnorm wird. Traurigkeit des Triumphes, ja, das ist vielleicht der richtige Ausdruck, der Grenzpunkt zwischen Schuld und Sühne, der Mord, der abgeschlossene, unabänderliche, endgültige, irreversible Prozeß stellt sich geradezu in chemisch reiner Form dar, und der Prozeß der Sühne nimmt seinen Anfang, vielleicht lebenslänglich oder noch länger, bis zur Todesstrafe andauernd, und zwischen beiden diese Minuten, die Traurigkeit des Triumphes. Edit Csausz leugnet in der Tat nicht länger. Jeromos hat recht, dieses Mädchen ist intelligenter, als wir anfangs dachten. Kelemen will sie fast schon fragen, ob sie logisch durchdacht hat, daß das Leugnen nun völlig sinnlos sei, oder ob sie es nur gefühlt habe, aber er läßt 133
es sein, er gibt sich damit zufrieden, daß sie nicht leugnet; sie spricht leise und ein wenig traurig; jetzt, als sie wieder den grünen Wintermantel anhat und die neubesohlten Stiefel, sieht man ihr die Ungepflegtheit und Zerzaustheit Vernommener nicht an, der Mantel steht offen, sie hat sich ihr langes schwarzes Haar gekämmt, das Haar glitzert, wenn sie im Licht der Schreibtischlampe den Kopf bewegt, sie wirkt ein wenig mitgenommen, aber sie ist sehr hübsch. Hunyor ist am Mittwochnachmittag bei ihr im Geschäft gewesen, er beugte sich über den Ladentisch und flüsterte ihr zu: „Ich habe das Geld abgehoben, hier ist es, fünfundvierzigtausend Forint, morgen reiche ich die Scheidung ein und besorge mir eine Wohnung.“ Er konnte das noch so sagen, daß niemand sonst es hörte, aber dann kam ein Kunde, sie konnten sich nicht weiter unterhalten. Hunyor wartete; als niemand mehr in der Nähe war, sagte er: „Nimm dir frei, sag, daß du krank bist, daß du dich nicht wohl fühlst, ich warte vor dem Geschäft auf dich.“ Edit Csausz wollte das nicht. „Fahr nur ruhig schon hin, ich komme nach, wenn wir schließen“, sagte sie. Hunyor antwortete: „Die Bahn um zweiundzwanzig Uhr zwanzig erreichst du nicht, komm mit der um zweiundzwanzig Uhr fünfzig, ich hole dich von der Station ab.“ Dann ging er einkaufen, von der Kasse blickte er noch einmal zurück, danach verließ er den Laden. Er kaufte nur Wein woanders, sonst alles bei Edit Csausz, auch das Brot dazu. Nach Geschäftsschluß wartete Sommer auf sie, unvermutet, sie hatten nichts verabredet, sie hatte es nicht gewußt und war überrascht. Sommer wurde auch von ihren Kolleginnen und Kollegen gesehen, mit denen sie aus der Haustür kam. Das stimmte, Zsengellér hatte mit den meisten von ihnen gesprochen, sie erinnerten sich an Sommer, vor allem die Mädchen und Frauen. Sie hätte die Bahn um zweiundzwanzig Uhr fünfzig noch errei134
chen können, sie wollte auf jeden Fall zum Borárosplatz fahren, Sommer nach Hause. Bevor sie in den Bus stiegen, schlug Sommer ihr vor, mit zu ihm zu kommen; das wollte sie nicht, aber sie hatten sowieso dieselbe Richtung. Als sie ausstiegen, war sie schon entschlossen, mit zu Sommer zu gehen, dann würde sie halt mit einer späteren Bahn fahren, mit der um dreiundzwanzig Uhr vierzig; sie wußte, Hunyor hatte erwähnt, das sei die letzte; sie würde Hunyor sagen, die um zweiundzwanzig Uhr fünfzig habe sie verpaßt, sie habe länger im Geschäft bleiben müssen und sei erst nach halb elf fertig geworden. Sie konnte Sommer nicht widerstehen, das ging einfach nicht, er war so draufgängerisch, aber wozu drum ’rumreden, sie ging gerne mit; schön, sie rechtfertigte sich und erklärte, warum es so wichtig sei für sie, zu der Anglerhütte zu fahren, Hunyor wolle morgen die Scheidung einreichen, er habe alles Geld abgehoben und werde sich von dem Geld eine Wohnung besorgen, dann würden sie zusammenziehen, er habe fünfundvierzigtausend Forint bei sich, auch damit argumentierte sie gegen Sommers Vorschlag, zu ihm zu kommen. Sommer sah das ein, er sagte nicht, sie solle bei ihm schlafen, er sagte nur: „Dann fährst du eben eine Bahn später.“ Sie wußte, daß für sie am nächsten Tag ein neues Leben anfangen würde, sie ließ sich auch davon leiten, Abschied von Sommer zu nehmen. Einmal noch, ein letztes Mal. „Zieh dich, an, Kätzchen, du schaffst die Bahn noch“, sagte Sommer und schaltete das Radio ein, im PetőfiSender waren gerade die Elfuhrnachrichten zu Ende, dreiundzwanzig Uhr zehn, sie saß noch auf dem Rand der Couch, in Unterwäsche, sie wurde nervös, weil sie sich beeilen mußte. Sommer sagte mitleidig: „Warte, ich versuche was, vielleicht kann ich dich rausfahren.“ Er telefonierte, aber gleichzeitig zog er sich schon an. „Hast du eine Telefonmünze?“ fragte er nach dem Telefonat. 135
„Auf dem Rückweg rufe ich dich an, du kommst dann schon ’runter, in einer halben Stunde bin ich wieder hier, warte im Hausflur, auf einer Zwischenstation kannst du noch in die Bahn umsteigen, wir schaffen es schon.“ Dann, schon im Auto, hinter Csepel: „Ich bringe dich bis zu dem Haus, der Tank ist voll, das Fahren macht Spaß. Es ist erholsam“, sagte Sommer. „Ich kenne den Weg, ich bin ein paarmal dort gewesen.“ Mit wem, sagte er nicht, aber das war auch nicht nötig. Im Fiat spielte das Radio, dann kamen sie an. „Fahr mich nicht bis zum Haus, ich steige vorher aus, ich werde ihm sagen, daß ich versehentlich eine Station zu früh ausgestiegen und zu Fuß gegangen bin.“ Er setzte sie in der Kurve ab, fuhr aber nicht los, Edit Csausz hörte den Motor im Leerlauf. Es war ziemlich dunkel, und nicht alle Lampen brannten. Schließlich erreichte sie die Hütte, sie sah Licht hinter dem Fenster, die obere Gartentür war nicht verschlossen, sie ging hindurch, um das Haus herum und klopfte an. „Ich bin es, Edit“, sagte sie. „Wo warst du nur so lange?“ fragte Hunyor. „Ich dachte schon, du kommst nicht mehr. Die letzte Bahn ist vorhin gekommen, ich war an der Station. Ich wollte gerade Schlafengehen.“ Er war in Unterhosen und hatte sich nur den Bademantel umgehängt, um zu öffnen. Als Edit Csausz im Zimmer war, schloß er die Tür. Sie trug ihm die vorbereitete Ausrede vor, sie habe die Stationen verwechselt, sei zu früh ausgestiegen und zu Fuß gekommen. Da klopfte es. Es war ein energisches, lautes Klopfen. Draußen sagte jemand: „Öffnen Sie! Polizei.“ Edit Csausz sagte: „Großer Gott!“ „Was fehlt dir nun schon wieder?“ fragte Hunyor. „Hab doch keinen Schiß, wir sind doch keine Einbrecher hier.“ Er zog sich den Bademantel an und band sich auch den Gürtel um. „Ich komme ja schon“, sagte er, dann schloß er die Tür auf. Edit Csausz erkannte Som136
mer sofort, obwohl er sich den Schal vor den Mund gebunden hatte, als wäre es draußen sehr kalt. „Polizei. Bitte die Personalausweise“, sagte Sommer. Da dachte Edit Csausz noch, das Ganze sei ein Witz, ein Ulk. Sommer war ja so verspielt. Hunyor trat zwei Schritt zurück, Sommer anderthalb vor. „Weisen Sie sich erst mal aus“, sagte Hunyor und sah dabei Edit Csausz an, als wollte er ihr sagen: So macht man das, keine Bange, nicht erschrecken. Da schlug Sommer zu, er hatte den Wagenheber in der Hand gehalten, hatte ihn nicht hinter dem Rücken versteckt, nur unter den Mantelschoß geschoben, es war nicht zu sehen gewesen, daß er etwas in der Hand hielt. Hunyor schrie auf und stürzte, er zuckte noch ein wenig, dann lag er still. Edit Csausz stand daneben, in Mantel und Pelzmütze, auch Handschuhe hatte sie noch an, sie hatte nicht einmal Zeit gefunden, sich auszuziehen. „Frédi!“ rief sie, aber Sommer beachtete sie nicht, auf dem Bett stand der schwarze Lackkoffer, er war offen, aber das Geld war nicht darin, er erblickte schließlich die Aktentasche auf dem Stuhl, sprang hin, und dort war das Geld, er nahm es heraus, ein Bündel Hunderter in die linke, eins in die rechte Manteltasche, je eins in die Innentaschen des Sakkos, den Rest zusammengefaltet in die Hosentasche, dann legte er vorsichtig den Wagenheber auf das Zeitungspapier vor dem Ofen; in dem offenen schwarzen Lackkoffer lag obenauf Hunyors Schlafanzug, er hob ihn hoch, sah flüchtig nach, was noch im Koffer war, wandte sich dem Tisch zu, nahm Hunyors Uhr und Kamm und warf beides in den Koffer. Nun sah er Edit Csausz an. „Kein Wort! Beweg dich nicht, rühr nichts an“, sagte er und ließ den Blick durchs Zimmer streifen, einen Augenblick herrschte tiefe Stille, das alles hatte keine zwei Minuten gedauert. Zumindest meint das Edit Csausz. „Gut, in Ordnung“, sagte Sommer dann, „geh hinaus.“ Die Tür stand noch offen, der Schlüssel 137
steckte im Schloß, an dem Schlüssel hing das Schlüsselbund. Sommer hockte sich zu Hunyor nieder und ergriff seine Schulter, dann stand er auf, Edit Csausz ging mit abgewandtem Kopf durch die Tür hinaus, sie sah noch, wie Sommer den Lackkoffer schloß und ihn vom Bett hob. Er kam heraus, stellte den Koffer vor die Tür und ging zurück, Edit Csausz sah von der Tür aus, daß er neben der Petroleumlampe die Schachtel Streichhölzer aufhob, ein Streichholz anbrannte, die Petroleumlampe herunterschraubte und mit dem brennenden Streichholz in der Hand herauskam. Als es abgebrannt war, zerdrückte er mit zwei Fingern die Glut und steckte das Streichholz ein. „Das hätte ich fast vergessen“, sagte er und kramte im Dunkeln, dann trat er aus der Tür, in der einen Hand den Wagenheber, mit der anderen zog er den Schlüssel aus dem Schloß, er machte die Tür zu und verschloß sie von draußen, in der anderen Hand hielt er den Wagenheber. „Nimm den Koffer und komm“, sagte er. Sie gingen durch das obere Gartentor. „Geh schon zum Wagen, ich komme auch gleich, ich will nur zuschließen.“ Da sagte Edit Csausz zum ersten Mal etwas. „Ich traue mich nicht, ich habe Angst“, sagte sie. Sommer fummelte mit den Schlüsseln herum, der zweite paßte, er schloß die Gartentür von draußen, dabei hielt er den Wagenheber vorsichtig von sich weg. „Wir können gehen. Schnell“, sagte er, „aber renn nicht, du Schaf!“ fauchte er wütend, dann kamen sie zum Auto, er warf den Wagenheber in den Kofferraum, nahm Edit Csausz den Koffer ab und stieg ein. „Steig ein!“ Sommer startete, sie fuhren los. Auch die Chaussee war leer, nur bei Tököl kam ihnen ein Wagen entgegen, sonst begegneten sie keiner Menschenseele. Irgendwo bog Sommer zur Donau ab, stieg mit dem Koffer aus und ging eine Weile am Ufer hin und her, dann warf er ihn ins Wasser, so weit er konnte, danach kam er zurück, stieg ein und startete; er bog auf die Chaussee ein, und sie fuhren nach Budapest zurück. 138
„Und Sie haben stumm nebeneinander im Wagen gesessen? Die ganze Zeit über kein Wort gesprochen?“ fragte Jeromos ungläubig. „Doch. Frédi hat geredet, andauernd, ohne Pause, er war keine Minute still. Wir waren kaum losgefahren, da fing er an: ‚Ich glaube, du bist dir darüber im klaren, daß wir beide dafür am Galgen enden, wenn sie uns erwischen. Aber macht nichts, sie werden uns nicht erwischen, wenn du vernünftig bist und machst, was ich dir sage. Jetzt brauchen wir nur noch glücklich heimzukommen‘, sagte er. ‚Warum hast du das getan, Frédi‘, sagte ich, ‚wegen des verdammten Geldes?‘ – ‚Ja, du wirst lachen, deshalb‘, antwortete er, und dann sagte er noch: ‚Und deinetwegen. Und in erster Linie deinetwegen, in zweiter des Geldes wegen.‘ Aber mir grauste so, und ich hatte so entsetzliche Angst, daß ich immerzu nur weinte und weinte, dabei wollte ich nicht weinen, er drohte mir eine Ohrfeige an, aber ich konnte nicht aufhören, da schlug er mir mit der rechten Hand ins Gesicht, damit ich aufhörte, und da hörte ich langsam auf zu weinen, und er redete weiter, redete auf mich ein, daß er mich liebt, daß er erkannt hat, er kann ohne mich nicht leben, deshalb hat er es getan, und ich soll mich beruhigen, es wird schon nicht schiefgehen; wenn sich alles beruhigt hat, wird er mich heiraten. ‚Jetzt sind wir unser Leben lang aneinander gebunden‘, sagte er, ‚auch wenn einer von uns stirbt, über das Grab hinaus, jetzt hör endlich auf zu heulen, es ist nichts mehr dran zu ändern, wenn sie mich schnappen, hängen sie dich mit auf, und wenn sie dich schnappen, muß ich mit hängen.‘ Er redete und redete, sein Mund stand nicht mehr still, so hatte ich ihn noch nie erlebt. Und immer wieder sagte er: ‚Jetzt müssen wir nur noch glücklich heimkommen, dann ist alles in Butter.‘ Ich hatte eine fürchterliche Angst, ich war unheimlich müde und zerschlagen. Und er redete und redete.“ 139
„Und dachten Sie nicht daran, daß die Polizei Sie im Zusammenhang mit dem Mord an Hunyor befragen würde?“ „Ich habe an gar nichts anderes gedacht. Sie finden uns und hängen uns auf, sie finden uns und hängen uns auf, das habe ich in einem fort gedacht, und ich sagte es auch Frédi. ‚Du bist blöd‘, antwortete er, ‚das sind genau solche Menschen wie du und ich. Außerdem, du wirst ihnen die Wahrheit sagen. In allem nichts als die Wahrheit, mit einer kleinen Ausnahme. Du bist mit zu mir gekommen und hast bei mir geschlafen, du warst die ganze Nacht bei mir und bist nicht zu Hunyor gefahren. Wenn wir glücklich nach Hause kommen, ist alles gelaufen.‘ Wir kamen auch glatt nach Hause, die Straße war wie ausgestorben, wir gingen hinauf, Frédi ging dann wieder hinunter, er wollte den Wagen zurückbringen, da drehte ich durch: ‚Nein, ich fahre mit, laß mich nicht allein hier.‘ Er ohrfeigte mich wieder. ‚Sollen wir jetzt etwa hochgehen, wo wir glücklich zurückgekommen sind?‘ So fuhr er also los, es mag fünf Uhr gewesen sein, vielleicht nicht einmal, drei Viertelstunden später kam er wieder. Ich saß nur da und zitterte am ganzen Körper, ich fror, mir wurde einfach nicht warm, da stellte er mich unter die heiße Dusche, das warme Wasser floß auf mich herunter, so wurde mir wärmer, er kochte inzwischen einen Kaffee, den trank ich.“ „Bei den vorangegangenen Vernehmungen haben Sie peinlich genau erzählt, was Sie in jener Nacht im Atelier gemacht haben. Das alles war also Ihre Erfindung?“ „Nein. Ach wo. Frédi sprach ununterbrochen, er sagte, daß es sehr wahrscheinlich ist, daß die Polizei mich vernehmen wird. Ich soll nur sagen, daß Hunyor bei uns im Geschäft war, daß wir vereinbart hätten, ich würde zu ihm fahren, daß mich dann aber er, Frédi, abgeholt und mit zu sich genommen hätte, wo ich die ganze Nacht hindurch war. Dann würde er auch verhört werden, und 140
er würde das gleiche sagen. ‚Jetzt steht fest, daß uns niemand gesehen hat‘, sagte er, ‚wir sind zu Hause und haben die ganze Nacht lang keinen Fuß aus der Tür gesetzt. Wenn ich verhört werde, bezeuge ich auf der Polizei, daß du bei mir warst.‘ Er fragte mich, ob ich mich genau erinnerte, was wir gemacht haben, als ich das letzte Mal bei ihm schlief. Ich sagte: ‚Ja, ich erinnere mich‘. –‚Na, dann sagst du genau das‘, meinte er. Ich mußte ihm zweimal aufsagen, was wir in jener Nacht gemacht hatten, wie alles gewesen war. Nach manchen Dingen fragte er mich noch extra, so als wäre er der Polizeioffizier. ‚Ich muß das wissen‘, sagte er, ‚damit wir uns nicht in Widersprüche verwickeln.‘ Damit ich weiß, was ich zu sagen habe. Und so kam es dann auch, Sie haben mich ausgefragt, und ich habe gesagt, was mit Frédi vereinbart war. Alles stimmt, nur ist es nicht in der fraglichen Nacht passiert, sondern zwei Wochen vorher. Frédi sagte noch, wir würden getrennt vernommen werden, und Sie würden mir möglicherweise vorschwindeln, er hätte etwas anderes gesagt. ‚Aber wenn sie dich in Stücke hauen‘, sagte er, ‚du darfst nichts anderes sagen als das, was wir abgesprochen haben. Wenn mich eine Straßenbahn überfährt, wenn mir ein Ziegel auf den Kopf fällt, wenn ich sterbe und längst unter der Erde bin, dann sagst du auch nur das, nichts anderes. Wenn dir etwas zustößt, mache ich es ebenso. Wir sind über das Grab hinaus aneinander gebunden, Kätzchen, du an mich, ich an dich.‘ Das sagte er, und dann hat er mich geküßt.“ „Ich habe Ihnen gesagt, daß Sommer im Ausland bleiben wollte. Sie waren nur ein Werkzeug in seinen Händen. Ich habe Ihnen seinen gültigen Reisepaß mit dem österreichischen Visum gezeigt.“ „Ich glaubte es nicht. Dann glaubte ich es, aber ich dachte mir, wenn er draußen bliebe, im Westen, würde er mich später nachholen, denn mich wird er nicht los, 141
solange er lebt, wir sind aneinandergekettet. Übrigens habe ich Ihnen gar nichts geglaubt. Auch nicht, als Sie sagten, daß er tot ist. Frédi hatte mir das eingepaukt. Aber ich glaubte es dann, als ich seine Leiche sah. Doch das änderte auch nichts mehr. Frédi hatte gesagt, ich dürfte dann auch nichts anderes sagen. Und weil alles so, wie vorausgesagt, gekommen war, mußte ich tun, was ich mit ihm ausgemacht hatte. Und das habe ich auch getan. Aber jetzt ist es egal. Schlimmstenfalls werde ich aufgehängt.“ Du arme, arme, dumme Gans, denkt Kelemen, aber dieses dumme Gänschen hat genug Verstand gehabt, uns eine Woche lang an der Nase herumzuführen. Sich nirgendwo in Widersprüche zu verwickeln, in ihre Aussagen keinen Punkt einzubauen, an dem wir hätten ansetzen können. Auf ihre klug-primitive Weise hat sie alle ihre Möglichkeiten genutzt, und sie blieb sogar störrisch und konsequent in dieser mit albernen Schlagertexten beschreibbaren Situation, als das ganze Bauwerk durch Bori Balogs Aussage schon ins Wanken geriet. Irgendwo im Unterbewußtsein kannte sie die uralte Rechtsnorm, daß ein Zeuge kein Zeuge ist, aber sie sagte alles unumwunden, als wir ihr den zweiten Zeugen brachten, der sie mit Sommer gesehen hatte, der den Wintermantel, die Pelzmütze und die Stiefel wiedererkannte, die sie an dem fraglichen Tag getragen hat. Ich will um Gottes willen nicht den gesamten Fall Hunyor und Sommer analysieren, die Zusammenhänge zwischen den Zufällen und der Ermittlungstätigkeit, ich habe keine Ahnung, wohin wir kämen, wenn ich das täte. Letztlich ist es nicht einmal unmöglich, daß ich Somfai zustimmen müßte. Wenn auch nicht in allem, aber in vielem hat er recht. „Wir sind fertig“, sagt Jeromos. „Führen Sie sie ab.“ Fertig, denkt Kelemen, fertig. Der Fall Hunyor ist abgeschlossen, wir werden auch den Fall Sommer abschließen. 142
Edit Csausz steht auf, sie weiß nicht, was in solchen Situationen zu tun ist, sie ist verwirrt. „Auf Wiedersehen“, sagt sie unbeholfen, dann geht sie mit dem Diensthabenden zur Tür. An der Tür wendet sie sich noch einmal um. „Sagen Sie mir bitte noch eins. Nicht wahr, man wird mich nicht aufhängen?“ „Darüber wird das Gericht entscheiden. Aber wenn Sie auf meine Meinung neugierig sind – nein, man wird Sie nicht aufhängen. Das Gesetz läßt die Todesstrafe für Dummheit nicht zu.“ Na endlich, seufzt Kelemen innerlich auf, endlich verliert auch Jeromos mal die Fassung. Ich hatte es allmählich schon satt, daß er immer so förmlich und unerschütterlich ruhig ist.
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12 Ak-bana-amaraka-talabakata, ramana-tana-kama-bakalatana pitz. Zweiundzwanzig Uhr siebenundzwanzig Minuten. Jetzt hat er sich also den Zauberspruch aufgesagt. Den Zauberspruch hat in einem Märchen aus seiner Kindheit die gute Hexe Kitraputta dem kleinen Simon geschenkt, und mit dem Zauberspruch konnte man sich drei Wünsche erfüllen. Der Zauberspruch entsprach drei unterschriebenen, nicht ausgefüllten Schecks. Kelemen hat den Zauberspruch schon damals gelernt, von seinen drei ersten Wünschen ging der mittlere tatsächlich in Erfüllung, zum Geburtstag bekam er die aufziehbare Lokomotive aus Messing und die Schienen dazu, die beiden anderen Wünsche erfüllten sich nicht, wahrscheinlich wegen technischer Schwierigkeiten. Aber das nahm Kelemen nicht den Spaß am Zauberspruch, mit der Zeit lernte er ihn richtig anzuwenden, als Realist wünschte er sich nichts Unmögliches, Zaubersprüche darf man nicht mißbrauchen, Zaubersprüche sind nützlich, man muß sie nur klug einsetzen. Kelemen wuchs mit dem Zauberspruch auf, mit ihm wurde er Kriminalist, wenngleich er auch schwere Konflikte mit dem Zauberspruch auszustehen hatte, besonders in der Zeit, als sich Kelemens wissenschaftliches Weltbild formte: Läßt sich ein Zauberspruch mit der materialistischen Philosophie vereinbaren? Ist es nicht Aberglaube, Zaubersprüche zu bemühen? Nach reiflichem Überlegen entschied er: Nein. Der Zauberspruch blieb, zwischen der materialistischen Weltanschauung und dem Zauberspruch bildete sich ein Modus vivendi heraus, Kelemen wandte den Zauberspruch zunehmend nur bei Gelegen144
heiten an, wenn er sicher war, daß sein Wunsch in Erfüllung gehen würde, denn inzwischen war er längst bescheiden geworden, und er wünschte sich niemals mehr drei Dinge, sondern immer nur eins auf einmal. Ja, weil ich ein Opportunist und ein Konformist bin, warf er sich hin und wieder selbstanklägerisch vor, denn was nützt ein Zauberspruch, wenn man mit ihm auf Nummer Sicher geht? Nichts nützt er, wie sich im Fall der Falschspielerbande Kuttman-Csollek-Horváth herausgestellt hatte. Beziehungsweise sehr viel. Wir machten sie im Kanizsaer Schnellzug dingfest, beschlagnahmten die Spielkarten und entdeckten auf der Rückseite der Karten die Zinken, das heißt, wir glaubten, daß wir sie entdeckt hätten, aber bei der Verhandlung bewies Csollek, daß sie mit fabrikneuen Karten gespielt hatten, einem gerade erst geöffneten Päckchen, er hatte nicht einmal selbst gemischt, und auch nach den Spielen ließen sich keine Zinken nachweisen, bei der staatsanwaltlichen Vernehmung knöpfte er dem Staatsanwalt innerhalb von zwei Stunden – zumindest theoretisch – siebzehntausend Forint ab. Die Anklage mußte fallengelassen werden, aber Kelemen gab sich damit nicht zufrieden, er hatte bereits seinen Zauberspruch aufgesagt, und der durfte ihn nicht im Stich lassen. Er untersuchte vierzig fabrikneue Kartenpäckchen, beziehungsweise ließ er sie im Labor untersuchen, und dabei entdeckte er auf ihnen die winzigen, nur für einen Sachkundigen sichtbaren Druckfehler, mit deren Hilfe man vom dritten Spiel an unfehlbar gewinnen kann. Die Bande Kuttman-Csollek-Horváth wurde zu drei Jahren verurteilt, die Aufklärungsmethode ging unter dem Namen Kelemen-Methode in die Geschichte der Kriminalistik ein. Der Zauberspruch hatte genützt. Kelemen mußte sich von der Beschuldigung des Opportunismus und Konformismus freisprechen. Der Zauberspruch wirkte, aber in jedem Fall mußte er hart arbeiten, ehe er wirkte. 145
Nach halb sieben hat er Manci angerufen, sie solle mit dem Abendbrot nicht auf ihn warten. Manci hat gejammert, sie habe für acht Uhr Kinokarten besorgt, wie verabredet. Nimm Andris mit, sagte Kelemen, oder ruf Janka an, Janka wird auch allein sein, denn Gyuri Szipek bleibt heute abend auch hier. Wir wollen den Fall Hunyor–Sommer abschließen. Übrigens ist Manci die einzige, der er in einem schwachen Augenblick mit durch die Liebe vernebeltem Kopf am Abend vor der Hochzeit erzählte, bevor er um ihre Hand angehalten habe, habe er sich den Zauberspruch aufgesagt. „Du hättest es verdient, daß ich nein sage“, antwortete Manci lachend, dann begannen sie sich zu küssen, und Kelemen brachte ihr den Zauberspruch bei, aber ob sie sich an den Spruch erinnert, weiß er nicht, denn während der achtzehn Ehejahre hat ihn keiner von beiden laut ausgesprochen. Ein Zauberspruch ist kein Spielzeug. Beziehungsweise doch. Aber man muß maßhaltend mit ihm spielen. Also der siebente Februar, Freitag, abends um zehn Uhr neunundzwanzig. Am Donnerstag, dem dreißigsten Januar, wurde Fekete von Dolgovits bei der Beobachtung Sommers abgelöst. Sommer verließ das Haus wenige Minuten nach zehn, er war allein – das stimmt mit Edit Csausz’ Aussage überein, sie sei um halb zwölf aufgewacht, aber Sommer sei nicht mehr im Atelier gewesen, sie habe sich angezogen, sei nach Hause gegangen, habe sich umgezogen und sei, wie mit Sommer verabredet, um zwei Uhr, wie gewöhnlich, zur Arbeit erschienen –, er fuhr zur Benczúrstraße in die österreichische Botschaft, von dort zum Lujza-Blaha-Platz und ging in das Haus Leninring Ecke Dohánystraße, in dem sich das Café Hungaria sowie viele Zeitungsredaktionen befinden, später kam er heraus und setzte sich in das Café, er verließ es um drei und fuhr zum Filmstudio in der Lumumbastraße; aus 146
dem Studio kam er mit einer Frau zurück, sie stiegen in einen NSU Prinz, die Frau setzte sich ans Steuer, sie fuhren zur Gabonastraße, dort wartete bereits Fekete an der Ecke, er löste Dolgovits wieder ab. Die beiden verließen das Haus abends um neun, die Frau fuhr Sommer zur Aurorastraße, Sommer stieg aus und ging in das schon bekannte Haus, dort blieb er bis zum nächsten Morgen. Im Atelier in der Gabonastraße hielt er sich keine einzige Minute allein auf, so daß Schmidt nicht zu ihm gehen konnte. Am Freitag, dem einunddreißigsten Januar, suchte Sommer erneut die österreichische Botschaft auf; diesmal dauerte sein Besuch nicht lange, am Körönd nahm er ein Taxi und fuhr zum Reisebüro am Platz der Befreiung, er ließ das Taxi warten; im Reisebüro hielt er sich ziemlich lange auf, danach ließ er sich zur Bank in der Ferenc-Deák-Straße fahren, dort wartete das Taxi ebenfalls, um diese Zeit hatte gerade Dolgovits Dienst; aus eigenem Antrieb und weil Sommer ihn nicht kannte, ging er hinterher und sah, wie ihm an der Kasse ausländisches Geld gegen Forint ausgezahlt wurde. Sommer kam heraus und stieg wieder in das Taxi, Dolgovits folgte ihm im Trabant, an einer Kreuzung erwischte das Taxi gerade noch knapp grünes Licht, aber Dolgovits mußte mit dem Trabant anhalten. Er glaubte schon, er hätte Sommer aus den Augen verloren. Er folgte dem Taxi mit den Augen, so weit er konnte, und als er endlich Grün bekam, fuhr er ihm auf gut Glück in die Barossstraße hinterher; es klappte, dort hielt das Taxi, Sommer zahlte, dann betrat er eine Sparkassenfiliale, Dolgovits folgte ihm; Sommer zog ein Sparbuch heraus und zahlte einen großen Packen Hunderter ein – nein, um die Hunderter war keine Banderole geklebt, er nahm sie mit der Hand aus seiner Aktentasche, es war eine eckige, schwarze Diplomatentasche mit Metallbeschlägen. Er verließ die Sparkasse und ging Richtung Mátyásplaţz, da kam ein 147
leeres Taxi vorbei, Sommer winkte und stieg ein, er ließ sich zur Gabonastraße fahren und ging in das Atelier, allein, aber Dolgovits wagte nicht zur Telefonzelle zu gehen, denn vor der Haustür wartete das Taxi, er befürchtete, Sommer könnte verschwinden, während er Schmidt anrief. Diese Überlegung erwies sich als richtig, Sommer kam gleich zurück, stieg ein und fuhr zur Aurorastraße, dort zahlte er und schickte das Taxi weg. Übereinstimmend sagen Fekete und Dolgovits etwas, das der polizeilichen Ermittlungspraxis längst bekannt ist: daß es ungeheuer schwierig, ja fast unmöglich ist, in Budapest mit dem Auto jemanden zu verfolgen, der zu Fuß geht. Das so zu tun, daß der Betreffende es nicht bemerkt, ist fast ausgeschlossen. Das Haupthindernis bilden Verkehrsverbotsschilder, Einbahnstraßen und Einordnungspfeile. Das Parken ist schwierig, besonders auf Hauptverkehrsstraßen, und sehr langsames Fahren fällt unbedingt auf. Die beiden brauchten eine große Portion Glück, um Sommer nicht aus den Augen zu verlieren. So merkwürdig es ist, Sommer bemerkte nicht, daß er verfolgt wurde. Er traf keinerlei Anstalten, seine Verfolger abzuschütteln. Wenn er diese Absicht gehabt hätte, wäre es ihm nicht schwergefallen. Aber er tat es nicht. Fekete und Dolgovits beklagten sich wegen dieser Schwierigkeiten mehrmals bei Schmidt, der ihnen dreihundert Forint pro Kopf und Tag für die Dauer der Beobachtung versprach. Ein Autobus, ein Trolleybus oder eine Straßenbahn läßt sich viel leichter verfolgen, nur an den Haltestellen hat man Schwierigkeiten, festzustellen, ob der Betreffende aussteigt, und es ist nicht leicht, so anzuhalten, daß man ihm folgen kann, falls er aussteigt. Ein Auto mit einem anderen zu verfolgen ist dagegen ein Kinderspiel, abgesehen von den Fällen, wenn der verfolgte Wagen gerade noch Grün erwischt und der verfolgende Wagen dann bei Gelb oder Rot stoppen muß. Dolgovits rief vom Mátyásplatz aus einer Telefonzelle 148
Schmidt an, der sich zu dieser Stunde im Café Baross aufhielt. Schmidt traf fünfundzwanzig Minuten später in der Aurorastraße ein, er stieg in den Trabant und ließ sich von Dolgovits über Sommers Wege am Vormittag berichten. Er wies Dolgovits an, Sommer weiter im Auge zu behalten, und kehrte dann ins Baross zurück. Um zwanzig Uhr kam Fekete in die Aurorastraße, um Dolgovits abzulösen, aber Sommer ließ sich die ganze Nacht hindurch nicht sehen. Schmidt zog aus Dolgovits’ Bericht die eindeutige Schlußfolgerung, daß Sommer ins Ausland reisen wollte, und zwar sehr bald. Und daß Sommer voll mit Geld war. Dolgovits zufolge hatte er in der Sparkasse mindestens zwanzigtausend eingepackt, wahrscheinlich aber noch mehr … „Dreißigtausend“, unterbrach ihn Jeromos. „Weiter. Muffel.“ „Na bitte. Nur ein Blinder hätte nicht gesehen, daß er mich über den Löffel barbieren wollte. Er verdrückt sich mit dem japanischen Objektiv, und mich kostet die Beobachtung allein schon mehr als tausendachthundert Forint. Was verdiene ich an diesem Geschäft? Und außerdem kann ich es nicht leiden, wenn man mich anschmieren will. Ich bin butterweich, Herr Hauptmann, für ein gutes Wort können Sie mich aufs Brot streichen, aber wenn man mich anschmieren will, dann sehe ich rot, dann siede ich, und da kann ich manchmal sehr unangenehm werden. Aber ich bin doch nicht auf den Kopf gefallen. Kann sein, daß ich hochgehe, aber ich werde doch meine beiden Hände nicht von allein hinhalten, bitte höflichst um die Handschellen. Das nicht. Dem Sommer hängen die Hunderter aus Nase und Ohren, und mich will er mit schäbigen fünfhundert aufs Kreuz legen; wenn ich ihm die Visage poliere, läßt er mich hochgehen, das kostet ihn einen Telefonanruf, nullsieben, und schon winkt der Knast. Er will mir was vor149
machen, ich soll ihn Mitte nächster Woche anrufen, er hat eine Menge zu tun. Hat keine Zeit. Dann österreichische Botschaft, Reisebüro, Geldwechsel, ich finde nicht mal Zeit zum Husten, und weg ist er. Soll ich ihn im letzten Moment aus dem Orient-Expreß ziehen? Ich lande im Knast, und er reist zwei Tage später. Und lacht sich ins Fäustchen. Aber ich habe ein Herz, Herr Hauptmann, sogar bei solchen Dreckskerlen wie diesem Sommer. Mir soll niemand sagen, Muffel, du bist kein Gentleman.“ „Kommen wir zur Sache, Muffel. Was geschah am Sonnabend?“ „Ich erzähle ja schon, Herr Hauptmann. Ich wollte gerade anfangen. Um Viertel zehn kam er aus dem Haus in der Aurorastraße. Er muß da ein Weib haben, das auch für ihn kocht. Ich saß ab acht mit im Trabant, den Schal hatte ich mir ein bißchen vors Gesicht gezogen, er sollte mich nicht erkennen, falls er mich sah. Er geht zur Bushaltestelle, steigt in einen Neuner und fährt zum Vörösmartyplatz. Ich mit Zecker hinterher. Er steigt aus, kauft sich eine Zeitung und geht in die Konditorei. Bleib ganz ruhig, Muffel, sag’ ich mir, nur nichts überstürzen. Ich sehe auf meine Uhr, zwei Minuten nach drei Viertel zehn. Sommer spaziert ganz gemütlich, er hat es nicht eilig. Bestimmt hat er um zehn ein Rendezvous, denke ich, denn mit Zecker rede ich über so was nicht, da habe ich noch gut zehn Minuten, mit ihm zu sprechen. Denn ich hab’ ein Herz. Zecker findet eine Parklücke, ich springe aus dem Wagen und gehe hinter Sommer her in die Konditorei. Er liest schon seine Zeitung. Ich bleibe am Tisch stehen. ‚Hallo, Frédi‘, sage ich. Er blickt auf und sagt: ‚Hallo.‘ – ‚Kann ich mich setzen?‘ frage ich. Er antwortet: ‚Weder Zeitpunkt noch Ort passen mir, ich bin verabredet, sie kann jeden Augenblick kommen.‘ – ‚Nur für einen Augenblick‘, sage ich. ‚ich habe dringend mit dir zu reden, jemand bietet mir fünftausend für das, 150
wofür du mir fünfhundert gegeben hast.‘ – ‚In Ordnung‘, meint er, ‚das war sowieso nur ein Vorschuß, wir werden es besprechen, ruf mich Mittwoch früh an, aber jetzt geh.‘ Ich sage: ‚Aber für mich ist es dringend.‘ – ‚Wir verhandeln jetzt nicht, Muffel‘, sagt er, ‚verschwinde, gedulde dich bis Mittwoch.‘ – ‚Frédi‘, sage ich. ‚du willst mich doch nicht einwickeln, wir sind Kumpel!‘ – ‚Klar sind wir Kumpel‘, sagt er und lacht, ‚ich will dich nicht einwickeln, hau jetzt ab, bis dann.‘ – ‚Bis dann‘, sage ich auch, stehe auf und gehe. Mit einer gewaltigen Wut im Bauch. Er will mich einwickeln. Er stinkt vor Geld, aber er zahlt nicht, bis Mittwoch hat er sich abgesetzt.“ Kelemen gähnt. Er ist müde. Schmidts Geschichte ödet ihn an. Zu Hause, auf dem kleinen Tisch neben der Couch, liegt, mit dem farbigen Umschlag nach oben, aufgeschlagen der Fall des Teppichhändlers aus Aleppo. Er ist beim letzten Kapitel, aber er weiß immer noch nicht, wer der Mörder ist. Hier weiß er es. Hier weiß er alles. In dem Augenblick, als Somfai auf Bakócz’ Tisch das fehlende, das zwölfte Taschentuch identifizierte, konnte es nichts Neues mehr geben. Inzwischen weiß er auch, daß Muffel, also Antal Schmidt, von Mitte September bis Anfang Dezember als Operationswärter in einem Krankenhaus gearbeitet hat, also weiß er, woher er sich das Halothan zur Betäubung Sommers besorgt hat. Aber Kelemen ist nicht voreingenommen für den Teppichhändler aus Aleppo. Natürlich nicht, denn er weiß, das alles ist auch eine Frage des Systematisierens. Man braucht nur ein wenig zu mogeln und alle Figuren tatverdächtig bleiben zu lassen, damit die Spannung bis zur letzten Seite anhält. Gladys kann den Mord ebenso begangen haben wie Henderson, der Butler, der behauptet, er habe die Nacht bei dem Zimmermädchen verbracht, dem verschwundenen Zimmermädchen, von dem wir bereits wissen, daß es vor ihrer Anstellung im 151
Hause des Vizegouverneurs Stripteasetänzerin im Stern des Orients war und von Ed, dem Mixer, wegen der Juwelen der Lady Hiccough erpreßt wurde. Und verdächtig ist auch der kleine Sam, der in die Wohnung des Teppichhändlers ging, um dort Opium zu rauchen, und der insgeheim in das Zimmermädchen verliebt war. Er ist verdächtig, weil er der einzige Erbe des Vizegouverneurs ist, alle sind verdächtig, am wenigsten vielleicht Maria, die dicke spanische Köchin, andererseits ist sie gerade deswegen verdächtig. Aber nicht ganz unverdächtig ist auch Chick Maugham, der heruntergekommene, durch die Welt stromernde Privatdetektiv, der die Ermittlungen führt und gemeinsam mit dem kleinen Sam in Eton zur Schule gegangen ist. Alle sind verdächtig, sogar der Vizegouverneur selbst, das Opfer, der mit einem Beduinendolch im Rücken tot im Strandbad aufgefunden wurde, in einer fensterlosen Kabine aus Kunststoff, die von innen verschlossen war. Alle sind verdächtig, nur Schmidt nicht, er steht schon lange außerhalb jeden Verdachts. Mit ihm wird der Staatsanwalt große Probleme haben. Wegen der Einstufung der Straftat. Ein juristisches Problem. Ob Schmidts Tat als vorsätzliche Tötung einzustufen ist. Sie ist es, und sie ist es nicht. Eher nein als ja. Vielleicht kommt am ehesten noch eine Beurteilung als fahrlässige Tötung mit Raubabsicht in Betracht. Oder doch nicht? Deshalb müssen wir uns Schmidts endlose und eingehende Erklärungen über das anhören, was vor Sommers Tod geschah. Aus juristischer Sicht, in bezug auf das zumeßbare Urteil, kann jedes Wort wichtig sein. Zum einen. Zum anderen war Sommer im Augenblick seines Todes der Ausführende einer vorsätzlichen Tötung aus niedrigen Beweggründen. Deshalb ist jeder Schritt Sommers, jede Handlung Sommers ein wichtiges Moment bei der Motivierung des Mordes an Hunyor. Diese Schritte und 152
Handlungen aber kennt niemand außer Antal Schmidt, genannt Muffel. Und János Dolgovits, genannt Zecker, der Schmidt am Dienstag, dem vierten Februar, nachmittags auf die Margareteninsel begleitete – er fuhr den Trabant –, er machte Schmidt darauf aufmerksam, daß Sommer an der Haltestelle in der Nähe des Restaurants Casino aus dem Sechsundzwanziger-Bus stieg und an das Pester Ufer der Insel ging, auf der Promenade dann den Weg zum Grand-Hotel einschlug und diese Richtung beibehielt. Ein wichtiges Moment ist, daß Schmidt, nachdem er die Konditorei verlassen hatte, Dolgovits hineinschickte, er solle beobachten, mit wem Sommer verabredet sei. Dolgovits ging hinein, sah sich um, tat, als suchte er jemanden, da trat ein großgewachsener, eher blond- als grauhaariger, elegant gekleideter Herr an Sommers Tisch, offensichtlich ein Ausländer namens Olasson oder Ofaslon oder so ähnlich. Dolgovits wußte natürlich nicht, daß der Herr vermutlich Olafson hieß. Für den Fall Hunyor ist das jedoch ein wichtiger Umstand, der die bisherigen Annahmen unterstützt. Sommer traf sich also in der Konditorei am Vörösmartyplatz mit Herrn Olafson. Dolgovits geht zum Trabant zurück, und da hat Schmidt eine Idee, die der größten Meisterdetektive würdig wäre. Wenn Sommer auf der österreichischen Botschaft war, dann will er nach Wien fahren. Aber wann? Man bemühe sich ins Reisebüro, in dem Sommer war, und erkundige sich. Nein, das geht nicht. Sie würden es einem nicht sagen. So geht er in das Reisebüro und bittet um eine Auskunft. Sein Bruder habe gestern eine Fahrkarte nach Wien gekauft, aber möglicherweise müsse er die Reise verschieben, wie in einem solchen Fall zu verfahren sei, den Tag wisse er leider nicht genau. Sommer, Alfréd Sommer. Die junge Dame sieht ihre Listen durch, da ist es, ja, auf den Namen Alfréd Som153
mer ist ein Platz im Orient-Expreß für Mittwoch früh bestellt. Bringen Sie die Karte spätestens vierundzwanzig Stunden vorher zu uns, dann tauschen wir sie um, falls für den gewünschten Tag noch ein Platz frei ist. Also möglichst bis Dienstag abend. In dringenden Fällen können Sie sich auch an die Reisebürovertretung auf dem Bahnhof wenden. – Schmidt bedankt sich und geht. Das ist für Schmidt ein neuerlicher Beweis dafür, daß Sommer ihn übers Ohr hauen will, klare Sache, er sagt, ruf mich Mittwoch früh an, dann vereinbaren wir was, sagen wir, für Mittag, und gerade da fährt Sommer bei Hegyeshalom über die Grenze. Nee, nicht mit mir. Auch für Jeromos ist es ein weiterer Beweis dafür, daß Sommer seine Ausreise mit Olafson kombiniert hat, Olafson nämlich ist wirklich am Mittwochmorgen nach Wien gefahren. Sie hätten denselben Zug benutzt. Wären sie gemeinsam gefahren? Wahrscheinlich getrennt. Schmidt wirft nicht unnötigerweise mit Geld um sich, er schickt Dolgovits weg und zahlt ihm für den halben Tag hundertfünfzig Forint, am Montag, morgens um sieben Uhr, soll er sich mit Fekete bei ihm melden. Er selbst setzt sich in den Trabant und fährt zum Café Baross. Er hat Zeit. Zwar nicht viel, aber er hat. Er muß irgendeinen guten Plan ausarbeiten, damit Sommer zahlt. Noch vor Mittwoch. „Danke, Herr Hauptmann“, sagt Schmidt und schlürft gierig den heißen Kaffee. Kelemen hat vier Kaffee bringen lassen, denn sie sind zu viert, Kelemen, Jeromos, Gyuri Szipek und Schmidt. Im Nebenzimmer beschäftigen sich Jaszter und Zsengellér mit Fekete und Dolgovits. Hin und wieder kommt einer von ihnen herüber, teilt Jeromos flüsternd etwas mit und geht wieder. Bis Sonnabend abend hat Schmidt noch immer keine ordentliche Idee. Er hat dies und das versucht, es geht 154
nicht, keiner seiner Einfälle taugt etwas, er sitzt mit zwei Puppen in der Schönen Ilonka, und noch immer hat es nicht gefunkt. Da tritt mit einer ganzen Gesellschaft Samu ein. „Den vollen Namen, die genaue Adresse!“ „Die weiß ich nicht, Herr Hauptmann, so wahr ich lebe, ich weiß sie nicht. Der Samu. Alle nennen ihn Samu, ein rotes Gesicht, Sommersprossen, fettwanstig, er hat seinen Stammplatz im Erkel, in der Lutherstraße. In der Nacht, als ich letzten Sommer diesen Westwagen geknackt habe, in dem die japanische Gummilinse war, komme ich gerade aus den Bergen zurück und sehe den Samu vor dem Südbahnhof stehen. Ich halte an und frage: ‚Kann ich dich irgendwohin mitnehmen, Samu?‘ Ich habe ihn Rákóczi-, Ecke Lutherstraße abgesetzt. Unterwegs guckte er sich die Kamera und das Objektiv an, beides lag im Wagen. Jetzt kam er also mit den anderen in die Schöne Ilonka, sie setzen sich, ich sehe, wie mir Samu mit dem Kopf zunickt, ich soll mal ’rausgehen. Wir gingen beide auf die Straße. ‚Hast du das Zeug absetzen können‘, fragte er mich, denn wir waren uns seither nicht mehr begegnet. ‚Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste‘, sag’ ich ihm, ich mag es nicht, wenn mir jemand in die Suppe spuckt. ‚Warum fragst du?‘ Er steht da und sieht mich an, er gehört auch zu den Vorsichtigen. ‚Ich hätte einen Kunden‘, sagt er. Ich lass’ mich noch immer auf nichts ein und frage nach dem Preis. Ich sehe ihm an der Nasenspitze an, daß er daran verdienen will, das beruhigt mich ein bißchen. ‚Drei für die Kamera‘, sagt er, ‚sieben für das Objektiv, das sind zusammen zehn, davon zwei für mich und einen für den Zubringer. Ein Fußballspieler braucht das Zeug, er geht mit seiner Truppe in einer Woche auf Tournee, da will er es mitnehmen.‘ Das sagt Samu. Die Kamera hat inzwischen Sommer bekommen, für einen Tausender, die Linse auch, bei der hatte er die Stirn, mich mit fünfhundert 155
abzuwimmeln. Fußballspieler, überlege ich, das ist prima, bei denen reißt sich der Zoll kein Bein aus, die können so was leicht mitnehmen. Ich sage zu Samu: ‚Das Objektiv ist noch zu haben, in der Vácer Straße steht es für zwölftausend im Schaufenster.‘ Er überlegt, er weiß nicht, ob der Kunde das Objektiv auch ohne Kamera nehmen würde, aber dann sagt er: ‚Komm trotzdem mal nachmittags ins Erkel und bring es mit; wenn er es braucht, nehme ich es dir ab, wir werden uns schon einig werden.‘ Wie Sie sehen, Herr Hauptmann, packe ich alles aus, ich rede mit Ihnen wie mit meiner eigenen Mutter, Herr Hauptmann, das sind schäbige Sachen, aber den Sommer, Ehrenwort, den wollte ich nicht erledigen, das gebe ich nie zu.“ „Wie heißt der Fußballspieler?“ „Gott ist mein Zeuge, Herr Hauptmann, daß ich den Samu danach gar nicht gefragt habe. Ich bin für den FTC, und der fährt morgen nicht auf Tournee. Warum sollte ich einen Spieler aus einer anderen Mannschaft schützen? Ich weiß es nicht.“ „Weiter.“ „Da hatte ich noch siebenhundert Forint. Am Sonntag steckte ich das Geld in die Tasche und ging zu Sommer, zum Atelier. Ich klingle, er kommt und macht auf, barfuß und im Bademantel. ‚Was ist, Muffel‘, fragt er, ‚wir haben ausgemacht, daß du mich am Mittwoch anrufst, außerdem habe ich Besuch.‘ Ich sehe, daß mit Sommer nicht zu reden ist, ich flehe ihn fast an: ‚Frédi, ich habe einen Kunden für das Objektiv, ich bekomme siebentausend, hier hast du die fünfhundert, gib es mir zurück, wir kommen schon wieder ins Geschäft, dann räume ich dir einen Rabatt ein, gib mir das Objektiv zurück, Frédi.‘ Aber dieser Ganove ließ nicht mit sich reden. ‚Hau ab‘, sagte er, ‚das Objektiv brauche ich selber, am Mittwoch reden wir weiter, wir werden uns schon einigen. Und jetzt verdufte.‘ Damit knallte er mir die Tür vor der Nase 156
zu. Herr Hauptmann, Sie können wirklich nicht sagen, daß ich nicht alles für Sommer getan habe.“ „Du hast ihn getötet, Muffel.“ „Nein, ich habe ihn nicht getötet, so wahr ich lebe, ich wollte ihn nur aus dem Verkehr ziehen, bis ich das Objektiv hatte, glauben Sie mir, Herr Hauptmann, ich habe ihn nicht getötet.“ Schmidt weint. Es ist ein dünnes, winselndes Flennen, er senkt den Kopf und schnüffelt, seine Schultern zucken, sein Mund verzieht sich, er hebt den Kopf, zieht ein Taschentuch hervor, putzt sich die Nase, wischt sich die Augen aus. „Das Halothan hast du aus dem Krankenhaus gestohlen, in dem du Operationswärter warst.“ „Ja, aber nur aus Spaß. Ich hatte drei Ampullen davon zu Hause, in einer Schachtel. Sonntag abend habe ich sie mir in die Tasche gesteckt. Montag früh hängte ich Tschitschek mit dem Trabant wieder an Sommer, nachmittags oder abends wollte ich ihn an einem geeigneten Ort ein bißchen einschläfern, ihm die Schlüssel abnehmen, mir das Objektiv aus dem Atelier holen und die fünfhundert Forint dortlassen, er würde schon wieder aufwachen, dann sollte er sehen, wie er zurechtkommt. Aber ich hatte mich verkalkuliert, am Vormittag kaufte er ein, am Nachmittag, um drei Uhr, ging er zu dem Haus in der Aurorastraße, und bis zum nächsten Morgen kam er nicht mehr heraus. Den ganzen Dienstag über fuhr er mit einem Taxi herum. Ich ließ Dolgovits mit dem Trabant auf der Straße warten und lief zum Atelier hinauf, aber mit meinen Dietrichen bekam ich die Tür nicht auf, da sind zwei Schlösser dran, das obere ist ein Sicherheitsschloß und war auch abgeschlossen, aufbrechen wollte ich die Tür nicht, also ging ich wieder hinunter, ich wollte schon zur Aurorastraße zurückfahren, da kommt das Taxi, es hält vor dem Haus, Sommer steigt aus, zahlt und schickt es weg, dann geht er in das 157
Atelier. Am anderen Ende der Straße stand schon unser Trabant. Ich ging zu Zecker, ich wollte ja wissen, was es Neues gibt, ich war fest entschlossen, zu Sommer zu gehen und ihm das Objektiv abzunehmen. Aber ich habe den Trabant kaum erreicht, da ruft Zecker: ‚Steig schnell ein, Tempo!‘ Ich sitze kaum im Wagen, den Schal bis unter die Nase hochgezogen, da flitzt draußen Sommer vorbei, in der Hand eine schwarze Diplomatentasche. Er hat uns nicht bemerkt. Er bog in die Mesterstraße ein, sicher nimmt er sich ein Taxi, dachte ich, aber nein, er ging auf den Ring hinaus, da kam gerade ein ZwölferBus, in den stieg er ein. ‚Hinterher‘, sagte ich zu Zecker. Am Lustspieltheater stieg er aus. Wir sahen noch, daß er nicht auf die Margaretenbrücke zuging, sondern auf den Ring zurück. Aber wir konnten nicht anhalten und wegen des Verkehrs auch nicht wenden. ‚Fahr um den Häuserblock ’rum‘, sagte ich zu Zecker, ‚Tempo.‘ Wir kommen durch die Pannoniastraße zurück, da ruft Zecker: ‚Dort steht er, an der Haltestelle zum Sechsundzwanziger!‘ Und da kam auch schon der Bus. Wir hielten an, aber im Halteverbot. Sommer stieg ein, und es dauerte eine Ewigkeit, bis der Bus losfuhr. ‚Der fährt auf die Insel‘, sagte ich zu Zecker, ‚gerade zur besten Zeit. Jetzt werden wir uns den jungen Herrn vorknöpfen!‘ “ „Das hast du ja dann auch gründlich getan, Muffel.“ „Ich habe es nicht gewollt, wirklich und wahrhaftig, das habe ich nicht gewollt. Ich habe nur das Objektiv gewollt. Er stieg am Casino aus und ging auf das Pester Donauufer zu. Wir stellten den Trabant ab und folgten ihm. Nirgends eine Menschenseele, aber man kann ja nie wissen, lassen wir ihn also noch ein Stück gehen. Auf der Promenade steuert er schnurstracks auf das GrandHotel zu. ‚Überholen wir ihn‘, sage ich zu Zecker; wir legen einen Schritt zu und machen einen Umweg, dann bleiben wir stehen, dort, wo ein Weg in die Promenade mündet. Wir setzten uns auf eine Bank. Aber da kommt 158
Sommer schon. Zecker und ich, wir drehen die Köpfe weg, alles ist ganz still, nur Sommers Schritte, er geht an uns vorbei, ich weiß nicht, ob er uns gesehen hat. Ich stehe auf, die linke Hand habe ich in der Manteltasche, da sind die Ampullen und mein Taschentuch, im nächsten Moment haben wir ihn eingeholt, jeder von einer Seite, ich schnappe mir von rechts seinen linken Arm, Zecker von links seinen rechten Arm, halten ihn fest. ‚Du bist verrückt, Muffel‘, sagte er zu mir, irgendwie ganz ruhig. ‚Was willst du?‘ Ich verdrehe ihm ein bißchen den Arm. Er wehrt sich nicht, er läßt auch die Aktentasche nicht los. ‚Ich brauche das Objektiv‘, sage ich. Darauf er: ‚Das kriegst du nicht!‘ Das sagt er wieder völlig ruhig. Da habe ich rot gesehen. Aber wie. ‚Du gehst hops, Frédi‘, sage ich, aber da war ich schon sehr auf der Palme, ‚Dann gehe ich eben hops‘, sagt er, ‚aber das glaube ich nicht, du bist doch nicht so dämlich, daß du dich für zwei- oder dreitausend am Strick hochziehen läßt.‘ Und dazu lacht er. ‚Genug gequatscht, Herr Sommer‘, sage ich und breche mit der linken Hand die Ampulle auf, die Flüssigkeit fließt in mein Taschentuch, das alles noch in der Manteltasche. ‚Jetzt wirst du ein Nickerchen machen‘, sage ich und drücke ihm das Taschentuch unter die Nase. Da fängt er nun doch zu zappeln an. ‚Mach keinen Blödsinn, Muffel, du kriegst zehntausend, wenn du jetzt –‘ Aber weiter kann er nicht sprechen, ich merke am Griff, daß er schlapp wird. Er hat immer noch das Taschentuch vorm Gesicht. Dann ist sein Kopf zur Seite gekippt, und wir haben ihn hingelegt. ‚Räum ihm die Taschen aus‘, sagte ich zu Zecker, ‚nimm ihm alles ab, auch die Papiere, die Schlüssel, los doch!‘ Dann räumten wir ihm die Taschen aus, Zecker auf seiner, ich auf meiner Seite, aber das auch nur, damit er es schwerer hat, nach Hause zu kommen, damit ich mehr Zeit im Atelier habe. Nicht mal einen Forint für die Straßenbahn darf er behalten, habe ich zu Zecker gesagt.“ 159
„Auch das hat geklappt. Ihr habt gründliche Arbeit geleistet.“ „Ich wollte ihn nur zur Seite ziehen, damit niemand über ihn stolpert, aber Zecker, das Rindvieh, fragt mich doch: ‚Weißt du sicher, daß er nicht herzkrank ist? Herzkranke vertragen die Betäubung nicht, ich weiß es, bei meinem Vater war es auch so.‘ Da sah ich die Steintreppe hinunter zur Donau. ‚Faß mit an‘, sagte ich zu Zecker, ‚wir ziehen ihn dort hinunter, wir hängen seinen Kopf ins Wasser, dann kommt er schneller zu sich.‘ Und dieses Rindvieh gibt mir auch noch recht. ‚Sehr gut‘, sagt er, ‚denn falls er herzkrank ist …‘ Wir schleppten ihn zum Wasser hinunter und tunkten seinen Kopf ins Wasser, aber nur so, daß seine Haare naß wurden und die Kopfhaut.“ „Es ist möglich, daß er später weiter abgerutscht ist. Von selbst. Daß er sich in seiner Benommenheit ein wenig bewegt hat.“ „Na bitte, das sag’ ich doch! Ich sage doch, ich habe ihn nicht töten wollen! Und ans Wasser haben wir ihn auch nur gebracht, damit ihm nichts passiert.“ „Weiter, Muffel.“ „Jawohl, ich erzähle ja schon. Die Aktentasche hatte er anscheinend fallen lassen, denn wir hätten sie fast vergessen, wir dachten erst später daran. Ich ging zurück, hob sie auf, und dann im Eiltempo zurück zum Trabant, wir sind eingestiegen und dann auf dem kürzesten Weg zum Atelier gefahren; den Wagen stellten wir in der Tinódystraße ab, die Aktentasche ließen wir drin, ich hatte die Schlüssel, wir gingen langsam ins Atelier hinauf, Zecker, das Rindvieh, wollte die Handschuhe ausziehen …“ „Ihr habt in Handschuhen gearbeitet?“ „Das ist eine Frage, Herr Hauptmann! Ich sehe doch auch fern. Ich werde doch keine Prints zurücklassen, wenn ich weiß, daß meine registriert sind.“ 160
„Was läßt du nicht zurück?“ „Prints. Fingerabdrücke. Das ist englisch. Ich dachte, das wüßten Sie. Jemand hat mir gesagt, daß die Fingerabdrücke auf englisch Prints heißen.“ „Du hast das Objektiv gefunden und mitgenommen?“ „Herr Hauptmann, Sie werden lachen … Pardon. Entschuldigung. Wir haben alles durchwühlt, die Kamera haben wir gefunden, aber das Objektiv nicht. Ich habe allein gesucht, mit Zecker war nichts anzufangen, der hatte nur Augen für die nackten Puppen auf den Bildern. Ein paar Fotos wollte er mitnehmen, aber ich habe ihm was auf die Finger gegeben. Ohne Objektiv brauchte ich auch die Kamera nicht, also ließ ich sie dort. Ich wußte, daß wir wenig Zeit hatten, wir ließen alles stehen und liegen. Als wir aus dem Haus kamen, sah ich mich um, niemand weit und breit, wir gingen zum Trabant, Zecker habe ich am Platz des siebenten November abgesetzt, ich bin zu einer Freundin gefahren und habe dort geschlafen.“ „Wieviel Geld hatte Sommer bei sich?“ „Zweitausendsiebenhundert. Tausendzweihundert davon habe ich Zecker gegeben und gesagt: Hau ab und halt die Schnauze. Und daß er mich gar nicht kennt.“ „Was war in der Aktentasche?“ „Gut, daß Sie fragen. Die Tasche hatte ich auf den Rücksitz geworfen, als wir von der Insel wegfuhren, aber sie rutschte ’runter, und ich vergaß sie in meiner Fahrigkeit anscheinend. Am nächsten Tag, am Mittwoch, sah ich sie beim Einsteigen daliegen. Ich habe sie aufgemacht, und Sie erraten nicht, Herr Hauptmann, was drin war.“ „Das japanische Objektiv.“ „Donnerwetter! Stimmt. Und in länglichen kleinen Zellophantäschchen an die zweihundert Negative, hauptsächlich von Farbfotos. Lauter nackte Weiber. Und seine Fahrkarte für den Zug, dazu die Platzkartenbestel161
lung für den Orient-Expreß am Mittwoch. Aber da war es schon halb elf und Essig mit dem Zug, den hat er nicht nehmen können, dachte ich, denn daß er nicht mehr lebte, daran dachte ich nicht im Traum. Bitte, Herr Hauptmann, tun Sie was für mich, damit ich nicht aufgehängt werde, ich gebe alles zu, aber ich habe ihn nicht umgebracht, ich wollte ihn nicht töten, mir ging es nur um dieses verdammte Objektiv.“ Halb vier Uhr morgens, Kelemen steht zu Hause in seinem Zimmer, alle schlafen. Es ist schön warm und ganz still. Auf dem Tisch wartet sein Abendbrot, vorsichtig hebt er die Papierserviette hoch, die Manci über den Teller gelegt hat: belegte Brote, in Häppchen geschnitten. Mit Salami und Knoblauchwurst. Daneben eine Flasche Joghurt, der Verschluß schon abgenommen, aber sorgfältig auf die Öffnung gelegt, damit kein Staub hineinfällt, daneben ein Kaffeelöffel und in einem Glastellerchen Staubzucker. Er fragt sich, ob er Hunger hat. Nicht sonderlich. Aber er kennt sich. Er wird essen. Mit vor Müdigkeit halbgeschlossenen Augen greift er sich mit blinden Fingern das Buch von dem kleinen Tisch. Alles an ihm ist aus geschmolzenem Gummi. Die Rache ist süß. Er weiß bereits, daß er jetzt einen Verrat begehen wird, er liest die restlichen achtzehn oder zwanzig Seiten nicht, sondern sieht gleich nach, wer der Mörder ist. Er lehnt das Buch an die Joghurtflasche und stellt den Teller mit dem Staubzucker davor, damit es nicht wegrutscht, schiebt sich mit der rechten Hand ein Häppchen in den Mund und blättert mit der rechten, kaut, schluckt. Herrje, nicht der Vizegouverneur ist das Opfer, sondern der Teppichhändler, der sich am Mordnachmittag den Bart hat abrasieren lassen und der der Zwillingsbruder des Vizegouverneurs und der Resident des britischen Geheimdienstes in Aleppo ist, und der Mörder ist 162
der Butler, ein Agent einer fremden Großmacht, er hat den Mord gemeinsam mit dem Mixer Ed begangen, der für Geld zu allem bereit ist. Schrecklich. Jetzt interessiert ihn nur noch, was das Buch Neues darüber zu sagen weiß, wie in der von innen verschlossenen Kabine der Mord begangen werden konnte beziehungsweise wie man die Kabine wieder verlassen konnte. Gar nicht. „Ich hatte schon lange den Verdacht“, sagt der trocken-geistreiche Chick Maugham, „daß es keine Wunder gibt.“ Natürlich gibt es keine. Der Teppichhändler aus Aleppo ist in unmittelbarer Nähe der Kabine am Strand niedergestochen worden. Dann haben der Butler und der Mixer – große Anstrengungen waren nicht nötig – die leichte Kunststoffkabine gelockert, hochgehoben, über die Leiche gestellt, einige Zentimeter tief in den Sand eingegraben und die alte Stelle mit Sand bestreut. Huhu. Das ist jammervoll. Bei der Entlarvung zückt der Butler den Revolver, aber Chick hat damit gerechnet und kommt ihm zuvor. Auch der Mixer wird gefesselt. Gladys hat ein zartes, gequältes Lächeln auf den Lippen, als sie zu Chick tritt und ihm die Hand auf den Arm legt. Weiter lese ich nicht. Aber er liest weiter. Das letzte Häppchen. Was ist aus dem Vize geworden, wenn er nicht das Opfer war? Der Vizegouverneur ist im Morgengrauen in einem schwarzen Buick entführt worden. Chick Maugham hat keine Zeit, sich mit Gladys abzugeben. Aber das ist bereits eine andere Geschichte. Der Fall des geraubten Vizegouverneurs, und den hat Kelemen schon vor einiger Zeit gelesen. Leider kommt man an diese verdammten englischen Krimis nicht der Reihe nach ’ran. Er ist so müde, daß er den Joghurt nicht mehr kostet. Er läßt ihn mit dem daran gelehnten Buch auf dem Tisch stehen. Langsam knöpft er sein Hemd auf, tritt zu der Couch, trinkt ein halbes Glas Zitronentee aus der Thermosfla163
sche. Es gibt nur eine Mutter. Und nur eine Ehefrau. Er hält das Glas noch am Mund, als er einen Zettel auf dem Kopfkissen bemerkt.
Er kann es nicht lesen. An das A erinnert er sich noch, auch an das T und das I, aber dort stehen mindestens fünf neue, bisher unbekannte Buchstaben. Die Unterschrift fängt mit einem A an, außerdem kann das sowieso nur von meinem albernen Herrn Sohn stammen. Ich habe vergessen, diese dämliche Geheimschrift von der Wand abzuwischen. Jetzt macht er sich seinen Spaß. Aber mich soll er aus dem Spiel lassen. Er legt den Zettel beiseite. Inzwischen hat er sich den Schlafanzug angezogen, ist ins Bett geschlüpft und hat sich zugedeckt. Er knipst die Leselampe aus und liegt im Dunkeln, auf dem Rücken, die Arme über der Brust gekreuzt, wie die Heiligen in Sarkophagen. Halb schläft er schon. Ein glatter Mord. Natürlich war es das. Nicht bloß einer. Zwei. Recht hat er, dieser Chick Maugham. Es gibt wirklich keine Wunder. Arbeit gibt es. Und manchmal ein kleines bißchen Glück. Aber auch das braucht man zu guter Arbeit.
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Werner Toelcke Die Chance Kriminalroman DIE-Reihe 272 Seiten, Taschenbuch, 3,– Mark erscheint im Verlag Das Neue Berlin
Leseprobe Die Frau war inzwischen mit dem einen Koffer fertig. Sie drückte den Deckel nieder und ließ die Schlösser einschnappen. Dann zerrte sie den Lederriemen fest, der dem Koffer Halt gab, und kam aus ihrer gebeugten Stellung. Sie reckte den Kopf in die Höhe, wobei sich der Körper bis in die Fußzehen straffte und einige Rundungen erkennen ließ. Und dann wandte sie sich um, blickte durch den Raum zur Terrassentür und mir direkt ins Gesicht. Ich erschrak tief. Sie stand ohne erkennbaren Ausdruck da und starrte mich an. Ich war nicht sicher, ob sie mich wirklich sah. Eigentlich konnte sie es nicht, denn sie war durch das Licht im Zimmer geblendet, aber dieser Blick von ihr machte mich ganz kribbelig. In einem Bogen schlich ich, mich außerhalb des erhellten Teils der Terrasse haltend, zur Hauswand. Schon im selben Augenblick bereute ich, daß ich diese Richtung genommen hatte. Ich hätte im Garten verschwinden sollen; denn nun hörte ich, wie die Fenstertür geöffnet wurde. Sie trat heraus. Ich preßte mich gegen das Mauerwerk und rührte mich nicht. Sie stand nur wenige Schritte von mir entfernt, so nah, daß ich ihren Atem hörte. Sie hätte nur ihren Kopf drehen müssen, um mich zu sehen, aber sie tat es nicht. Sie starrte geradeaus in die Dunkelheit. Ich weiß nicht mehr, wie lange das Ganze dauerte, wie lange wir so auf Tuchfühlung nebeneinander standen. Eine Minute oder zwei? Vielleicht nur 165
Sekunden? Manchmal können einem Sekunden zur Ewigkeit werden, wie man so sagt. Jedenfalls trat sie, ohne mich bemerkt zu haben, ins Zimmer zurück und schloß die Tür. Ich hörte, wie sie die Vorhänge vorzog. Draußen wurde es dunkel. Ich atmete auf. Eine Weile später schlich ich zum Rand der Terrasse und schaute zur Straße. Das Gelände fiel ein wenig ab, und so konnte ich die Straße gut überblicken. Ich sah den Volvo unten stehen, und ich erkannte nun auch Kommissar Schnabel und den Steuerfahnder Sieg, die sich die Beine vertraten. Sie gingen zur nächsten Straßenlaterne, wendeten und schlenderten zum Wagen zurück, wobei die Glatze des Kommissars weithin leuchtete. Schnabel lehnte sich, seine Pfeife stopfend, gegen die Tür zum Fahrersitz, und Sieg reichte ihm eine Schachtel Zündhölzer. Der Kommissar strich eins davon an und hielt es gegen die Pfeife. Es war mucksmäuschenstill in der Gegend, und so hörte ich ihre Stimmen klar und deutlich. „Wie lange noch?“ fragte Sieg. „Von mir aus die ganze Nacht“, antwortete Schnabel. Ein Seufzen schwebte durch die Dunkelheit zu mir, das mußte vom Steuerfahnder kommen. Der Kommissar qualmte ungerührt und schaute zur Terrasse herüber, auf der ich stand, aber er konnte mich nicht erkennen. Außerdem glaubte er mich zu Hause, dort sollte ich sitzen und warten, bis er mich morgen früh anrufen würde. Um nichts in der Welt hätte ich das getan. Ich schlich zurück zur Fenstertür. Vorsichtig, ohne einen Laut, drückte ich die Klinke nieder; ebenso vorsichtig schob ich die Tür auf. Zwischen Tür und Vorhang gab es einen Zwischenraum, gerade so breit, daß ich darin stehen konnte. Durch einen Spalt sah ich sie. Sie lehnte gegen einen Konsoltisch, der sich an der Wand zwischen einer Flügeltür und dem Durchgang zum Flur befand. Das Wandtischchen war eine reichverzierte und 166
reichvergoldete Angelegenheit. Zwischen den geschwungenen Beinen lag eine Putte, die wiederum zwischen ihren Beinen ein kleines Fäßchen trug. Daraus ergoß sich Wein, in goldenem Überfluß erstarrt. Der Tisch diente als Bar, wie die zahlreichen Flaschen, Karaffen und Gläser darauf auswiesen. Darüber befand sich, mit vergoldeten Blumenornamenten an den Rahmenseiten verziert, ein mächtiger Spiegel. Beeindruckend das Ganze – und sie davor nicht minder! Sie musterte sich im Spiegel und schien mit ihrem Äußeren nicht so zufrieden zu sein, wie ich es war. Etwas Kritisches lag in ihrem Blick. Mit einer Bürste fuhr sie durch ihr halblanges schwarzes Haar, zupfte auch ein wenig an dem Pony, der ihr in die Stirn fiel und fast das rechte Auge abdeckte. Dabei glitt ihr Blick zu einem Fahrscheinheft der Bundesbahn, das gegen eine Flasche Remy Martin gelehnt war. Sie warf die Bürste zwischen die Gläser, nahm statt dessen das Heft zur Hand und schlug es auf. Unter der Lasche auf der rechten Seite steckte eine Fahrkarte, auf der linken waren die Abfahrts- und Ankunftszeit des Zuges sowie seine Anschlüsse angegeben. Sie verglich die Abfahrtszeit in dem Heft mit der Zeit auf der winzigen goldenen Uhr an ihrem Arm. Natürlich konnte ich die Angaben in dem Fahrscheinheft aus dieser Entfernung nicht erkennen, aber ich wußte. wann der Zug abfuhr, und ich wußte auch, wohin. Er ging um 1 Uhr 48 ab Altona, und er sollte nach Straßburg fahren. Zumindest war dies ihr Zielbahnhof. Schnabel hatte es mir gesagt. Einer seiner Leute hatte direkt neben dem Makler Ofterdinger gestanden, als der die Fahrkarte in einem Reisebüro am Jungfernstieg gekauft hatte. Die Polizei war eben gut unterrichtet, und ich, der ich bis vor wenigen Tagen niemals etwas mit der Polizei zu tun gehabt hatte, war es auch. Wir wußten eine Menge über den Makler Ofterdinger. Wußten, was er alles getan hatte und was er in den 167
nächsten Stunden zu tun beabsichtigte. Nur über eines waren wir nicht informiert. Wo steckte Lore Pohl? Ofterdinger hatte sie vor Tagen in seine Gewalt gebracht, und wir nahmen an, daß er sie zunächst in seinem Haus verborgen hielt. Tat er das noch? Das herauszufinden – einzig und allein aus diesem Grund –, war ich durch die Gärten geschlichen und schließlich in dieses Zimmer eingedrungen. Ich machte so etwas zum ersten Mal, und ich konnte nicht behaupten, daß ich es gern tat. Ich fühlte mich unsicher, verdammt unsicher.
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1. Auflage © Verlag Das Neue Berlin, Berlin · 1978 (deutschsprachige Ausgabe) Lizenz-Nr.: 409-160/114/78 · LSV 7264 Umschlagentwurf: Erhard Grüttner Zeichnungen: Wilhelm Kaufmann Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden Scan & Ebook by *MM* 622 360 5 DDR 2,– M